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Hermann Winner
Stephan Hakuli
Felix Lotz
Christina Singer Hrsg.
Handbuch
Fahrer-
assistenzsysteme
Grundlagen, Komponenten und Systeme
für aktive Sicherheit und Komfort
3. Auflage
ATZ / MTZ-Fachbuch
Die komplexe Technik heutiger Kraftfahrzeuge und Motoren macht einen immer größer werdenden Fundus
an Informationen notwendig, um die Funktion und die Arbeitsweise von Komponenten oder Systemen zu
verstehen. Den raschen und sicheren Zugriff auf diese Informationen bietet die regelmäßig aktualisierte Reihe
ATZ/MTZ-Fachbuch, welche die zum Verständnis erforderlichen Grundlagen, Daten und Erklärungen anschau-
lich, systematisch und anwendungsorientiert zusammenstellt.
Die Reihe wendet sich an Fahrzeug- und Motoreningenieure sowie Studierende, die Nachschlagebedarf ha-
ben und im Zusammenhang Fragestellungen ihres Arbeitsfeldes verstehen müssen und an Professoren und
Dozenten an Universitäten und Hochschulen mit Schwerpunkt Kraftfahrzeug- und Motorentechnik. Sie liefert
gleichzeitig das theoretische Rüstzeug für das Verständnis wie auch die Anwendungen, wie sie für Gutachter,
Forscher und Entwicklungsingenieure in der Automobil- und Zulieferindustrie sowie bei Dienstleistern benö-
tigt werden.
Hermann Winner
Stephan Hakuli
Felix Lotz
Christina Singer
(Hrsg.)
Handbuch Fahrer
assistenzsysteme
Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive
Sicherheit und Komfort
3., überarbeitete und ergänzte Auflage
Herausgeber
Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner Dipl.-Ing. Felix Lotz
Technische Universität Darmstadt Technische Universität Darmstadt
Fachgebiet Fahrzeugtechnik Fachgebiet Fahrzeugtechnik
Darmstadt, Deutschland Darmstadt, Deutschland
ISBN 978-3-658-05733-6 ISBN 978-3-658-05734-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-05734-3
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anlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes
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V
Einleitung
Ausgangspunkt der Betrachtungen ist der Fahrer, der durch die Assistenzsysteme unterstützt
werden soll. In Teil I: Grundlagen der Fahrerassistenzsystem-Entwicklung wird daher die
Leistungsfähigkeit des Menschen und sein Verhalten bei der Fahrzeugführung beschrieben
sowie dargelegt, welche Auswirkungen auf die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen sich
daraus ergeben. Weitere Grundlagen, die im ersten Teil behandelt werden, sind rechtliche
Rahmenbedingungen sowie verkehrssicherheitstechnische und verhaltenswissenschaftliche
Aspekte von FAS sowie die Themen funktionale Sicherheit und AUTOSAR.
Teile II und III betrachten virtuelle Entwicklungs- und Testumgebungen für FAS sowie Test-
verfahren, die bei der Entwicklung und Bewertung von FAS zum Einsatz kommen.
Teil IV des Buches behandelt Sensorik für FAS und beschreibt die Herausforderungen, die sich
auf dem Gebiet des maschinellen Sehens stellen, während Teil V Konzepte für Datenfusion
und Umfeldrepräsentation vorstellt.
Brems- und Lenkstellsysteme bilden wesentliche Teile der Aktorik für Fahrerassistenzsys-
teme. Sie werden in Teil VI beschrieben.
Aufbauend auf Teil I beschäftigt sich Teil VII: Mensch-Maschine-Schnittstelle für Fahrer
assistenzsysteme mit den Anforderungen an eine nutzergerechte Gestaltung der Mensch-
Maschine-Schnittstelle sowie der Anzeigetechnologien, die dabei zum Einsatz kommen.
Die Teile VIII und IX: Fahrerassistenz auf Stabilisierungsebene bzw. Fahrerassistenz auf
Bahnführungs- und Navigationsebene enthalten eine detaillierte Darstellung von Systemen,
wie sie derzeit im Pkw- und Lkw-Bereich sowie bei Motorrädern und in der Landtechnik zum
Einsatz kommen.
VI Einleitung
Wir wünschen allen Lesern viel Freude mit diesem Handbuch und hoffen, dass es sich für all
jene als nützlich erweisen wird, die es als Nachschlagewerk nutzen oder sich mit seiner Hilfe
in das spannende Thema der Fahrerassistenzsysteme einarbeiten wollen.
Darmstadt im März 2015
Zwischen dieser dritten Auflage und der ersten liegen gerade erst etwas mehr als fünf Jahre.
Trotzdem wurde in der ersten Besprechung im umgebildeten Herausgeberteam schnell deut-
lich, dass die dritte Auflage weitaus mehr als eine inkrementelle Weiterentwicklung ist. Die
hohe Dynamik der Fahrerassistenzentwicklung lässt vormals wichtig erscheinende Aspekte in
den Hintergrund treten, während sich viele neue Themen aufdrängen. So haben wir viele der
bisherigen Autoren gebeten, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und zum Teil größere
Änderungen durchzuführen. Dies reichte aber noch nicht aus: Es gab schlichtweg zu viele
Fortschritte in diesem Bereich, die in die neue Auflage ebenfalls einfließen mussten. Daher
freute es uns, noch weitere Autoren gewinnen zu können, die die Gebiete genauso hervorra-
gend vertreten können wie die bisherigen im Fall der beibehaltenen Themen. Leider standen
wir aber auch vor der Herausforderung, die neue Auflage nicht im gleichen Umfang wachsen
zu lassen, wie neue Themen hinzukamen. Wir mussten uns daher entschließen, Kapitel her-
auszunehmen oder erheblich zu kürzen, wenn wir den Eindruck hatten, dass die Inhalte nach
Jahren der dynamischen Entwicklung nicht mehr im Fokus stehen. Wir danken den Autoren
dieser Kapitel für das Verständnis hierfür, ebenso wie für die Beiträge in den beiden ersten
Auflagen, die auch weiterhin ihren eigenständigen Wert behalten.
Auch das Herausgeberteam wurde umgebildet und erweitert, um die vielfältigen administ-
rativen und qualitätssichernden Arbeiten zu schultern. Gabriele Wolf ist seit Längerem nicht
mehr im Themengebiet tätig und schied folglich auf eigenen Wunsch aus dem Team aus. Ich
danke ihr sehr für die große Unterstützung bei den ersten Auflagen und insbesondere für die
Initiative, das Wagnis des Handbuchs anzugehen. Stephan Hakuli hat trotz starker Einbindung
in seine aktuelle berufliche Tätigkeit die Kontinuität gehalten. Christina Singer und Felix Lotz
danke ich im Besonderen für die oft in den Abend- und Wochenendstunden durchgeführten,
unglaublich umfangreichen Arbeiten zur Koordination und Qualitätssicherung, um auch die
dritte Auflage mit dem gleichen Anspruch wie zuvor herauszugeben. Dabei konnten sich beide
auf die Zuverlässigkeit und Tatkraft von Herrn Yannick Ryma verlassen, der als studentische
Hilfskraft sowohl die Autoren als auch die Herausgeber in erheblichem Maße unterstützt hat.
Ganz besonders zu Dank verpflichtet bin ich den vielen Autoren, die bei der Erstellung dieser
Auflage mitgewirkt haben.
Dem Verlag Springer Vieweg danke ich für die Bereitschaft, dieses Handbuch herauszugeben
und den gewachsenen Umfang mitzutragen. Für die angenehme Zusammenarbeit und kom-
petente Betreuung in allen organisatorischen Fragen seien insbesondere Frau Elisabeth Lange,
Frau Gabriele McLemore und Herrn Ewald Schmitt gedankt. Das Lektorat für dieses Buch
wurde von Susanne Mitteldorf durchgeführt. Ihre sorgfältige und aufmerksame Prüfung hat
die hohe sprachliche Qualität der Texte ermöglicht, dafür sowie für die angenehme Zusam-
menarbeit bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen.
VIII Vorwort zur dritten Auflage
Abschließend möchte ich mich bei allen FZD-Mitarbeitern bedanken, die durch Korrektur
lesen, fachliche Diskussionen oder sonstige hilfreiche Beiträge an der Entstehung dieses Buchs
mitgewirkt haben.
Darmstadt im August 2014
Ich danke allen Autoren für die kritische Durchsicht ihrer Texte und meinen Mit-Herausge-
bern Herrn Stephan Hakuli und Frau Dr.-Ing. Gabriele Wolf, in deren Händen auch dieses
Mal die organisatorischen und operativen Aufgaben lagen.
Darmstadt im März 2011
Der Umfang der Thematik machte es erforderlich, die inhaltliche Arbeit auf viele Schultern
zu verteilen, und so halten Sie nun ein Werk in Händen, dessen 44 Kapitel von insgesamt
96 Experten aus Industrie und Wissenschaft geschrieben wurden. Diese Autoren sind es,
denen ich in erster Linie zu Dank verpflichtet bin, denn ohne ihre Bereitschaft, Zeit und
Mühen in die Erstellung der Manuskripte zu investieren, hätte dieses Buch nicht entstehen
können.
IX
Vorwort zur ersten Auflage
An einem solchen Projekt sind jedoch noch mehr Menschen beteiligt, und ich möchte es nicht
versäumen, allen in diesem Vorwort für ihren Beitrag zu danken.
Ganz besonders zu Dank verpflichtet bin ich meinen beiden Mit-Herausgebern Herrn Stephan
Hakuli und Frau Gabriele Wolf, in deren Händen die Organisation und alle operativen Auf-
gaben dieses Projekts von der Autorenbetreuung über die Zusammenarbeit mit dem Verlag
bis zur Erstellung des Gesamtmanuskripts lagen. Für ihr ausgezeichnetes Projektmanagement
und ihre Bereitschaft, diese zusätzlichen Aufgaben neben ihrer Arbeit als wissenschaftliche
Mitarbeiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik auf sich zu nehmen, danke ich ihnen sehr herz-
lich. Frau Wolf danke ich darüber hinaus, dass sie den Anstoß dazu gab, dieses von mir in
Gedanken schon länger gehegte Projekt in die Tat umzusetzen.
Dem Verlag Vieweg+Teubner danke ich für die Bereitschaft, dieses Handbuch herauszugeben.
Für die angenehme Zusammenarbeit und kompetente Betreuung in allen organisatorischen
Fragen sei insbesondere sei Frau Elisabeth Lange gedankt.
Das Lektorat für dieses Buch wurde von Susanne und Katharina Mitteldorf durchgeführt. Ihre
sorgfältige und aufmerksame Prüfung hat die hohe sprachliche Qualität der Texte ermöglicht,
und dafür sowie die angenehme Zusammenarbeit bedanke ich mich sehr herzlich bei ihnen.
Herrn Danijel Pusic danke ich für seine Mitarbeit bei der Konzeption des Buches und der Er-
arbeitung der Gliederung. Unterstützt wurden die Arbeiten an diesem Handbuch in vielfältiger
Weise durch die studentischen Hilfskräfte Herrn Johannes Götzelmann, Herrn Richard Hurst,
Frau Hyuliya Rashidova und Herrn Philip Weickgenannt. Auch ihnen sei gedankt.
Ich bedanke mich außerdem bei allen FZD-Mitarbeitern, die durch Korrekturlesen, fachliche
Diskussionen oder sonstige hilfreiche Beiträge an der Entstehung dieses Buchs mitgewirkt
haben.
Darmstadt im August 2008
Die Herausgeber
Herausgeber, vlnr.: Stephan Hakuli, Hermann Winner, Christina Singer, Felix Lotz
Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner wurde 1955 in Bersenbrück, Niedersachsen, geboren.
Von 1976 bis 1981 studierte er Physik an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU)
in Münster/Westfalen. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut
für Angewandte Physik der WWU Münster, wo er 1987 zum Thema Dynamik der Domänen-
wände in metallischen Ferromagnetika promovierte.
Von 1987 bis 1994 arbeitete Hermann Winner bei der Robert Bosch GmbH in Karlsruhe,
Ettlingen und Schwieberdingen in der Vorentwicklung von Mess- und Informationstechnik
und dabei u. a. verantwortlich für die Projekte PROMETHEUS-Drive-by-Wire, die Elekt-
rohydraulische Bremse und Adaptive Cruise Control. In seiner Funktion als Leiter der Se-
rienentwicklung von Adaptive Cruise Control lag sein Schwerpunkt auf Systementwicklung
und Applikation und er führte das System schließlich zur Serienreife. In den Jahren 1993 bis
2001 war Hermann Winner außerdem Experte bei der ISO/TC204/WG14 – Vehicle/Road-
way Warning and Control Systems – davon fünf Jahre als Leiter der deutschen Spiegelgruppe
AK I.14 des FAKRA.
Seit 2002 ist Hermann Winner Inhaber des Lehrstuhls für Fahrzeugtechnik an der Tech-
nischen Universität Darmstadt und Leiter des gleichnamigen Fachgebiets (FZD). Er baute
dort die Forschung auf dem Gebiet der Fahrerassistenzsysteme aus, das heute eine der Kern-
kompetenzen von FZD darstellt. In zahlreichen Forschungsprojekten mit der Automobil- und
Zulieferindustrie zu den Themen Sensorik, Funktionsbewertungen von Notbrems-, Notaus-
weich- und Einbiege-/Kreuzen-Assistenz sowie zur Systemarchitektur von FAS konnte diese
Expertise unter Beweis gestellt werden. 2012 erhielt er von der IEEE ITS den Award for Ins-
titutional Leadership für seine Leistungen im Bereich der Fahrerassistenzsystementwicklung
und aktiver Sicherheit.
Stephan Hakuli studierte Physik an der TU Darmstadt und schloss 2005 als Diplomingenieur
der Physik ab. In seiner Diplomarbeit konzipierte und realisierte er ein Verfahren zur gescann-
ten Belichtung und Vermessung holographischer Head-up-Displays. Seit Dezember 2005 ar-
beitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik und koordinierte
zwei Jahre lang die Lehraktivitäten des Fachgebiets. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit
beschäftigt er sich mit Conduct-by-Wire, einem integrierten Fahrerassistenzkonzept für ma-
növerbasierte Fahrzeugführung. Seit 2011 ist er als Produktmanager für Engineering Services
bei der IPG Automotive GmbH tätig und befasst sich neben seiner Funktion als Fachreferent
für Fahrerassistenzthemen mit Verbesserungspotenzialen im Fahrzeugentwicklungsprozess,
die aus der Nutzung virtueller Prototypen und des virtuellen Fahrversuchs resultieren.
XII Die Herausgeber
Felix Lotz studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt sowie an der Virginia Polytechnic
Institute and State University. Seit 2007 war er bei FZD als Student in verschiedenen Projek-
ten im Bereich von Fahr- und Probandenversuchen eingebunden. Nach seinem Abschluss
als Diplomingenieur ist er seit Januar 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Ko-
operationsprojekt PRORETA 3 tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen dabei auf der
Entwicklung einer Systemarchitektur sowie der Verhaltensplanung und Test von automati-
sierten Fahrzeugen.
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIV
2 Fahrerverhaltensmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Edmund Donges
2.1 Drei-Ebenen-Modell für zielgerichtete Tätigkeiten des Menschen nach
Rasmussen, 1983. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe nach Donges, 1982. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Beispiel eines regelungstechnischen Modellansatzesfür die Führungs-
und Stabilisierungsebene der Fahraufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.4 Zeitkriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.5 Neuer Ansatz zur Quantifizierungvon fertigkeits-, regel- und wissensbasiertem
Verhalten im Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.6 Folgerungen für Fahrerassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
7 AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Simon Fürst, Stefan Bunzel
7.1 Motivation für AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.2 Organisation der Partnerschaft AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.3 Die neun Projektziele von AUTOSAR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7.4 Die drei Bereiche der Standardisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.4.1 Softwarearchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.4.2 Entwurfsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7.4.3 Anwendungsschnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7.5 Systemarchitektur – der virtuelle Funktionsbus (VFB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6 Softwarearchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6.1 Anwendungssoftware. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6.2 Laufzeitumgebung (RTE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.6.3 Basissoftware (BSW). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.6.4 Systemkonfiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.7 Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.7.1 Entwicklung verteilter Echtzeitsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.7.2 AUTOSAR-Mechanismen für funktionale Sicherheit (ISO 26262). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
7.7.3 Virtualisierung in der Funktionsabsicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
7.7.4 Beherrschung von Komplexität und Entwicklungszeitverkürzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.7.5 Flexibilisierung von kooperativer und verteilter Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
III Testverfahren
16 Ultraschallsensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Martin Noll, Peter Rapps
16.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2 Grundlagen der Ultraschallwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2.1 Piezoelektrischer Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2.2 Piezoelektrische Keramiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.3 Ultraschallwandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
16.3.1 Ersatzschaltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
16.4.1 Sensorbaugruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
16.5 Antennen und Strahlgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
16.5.1 Simulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
16.6 Entfernungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
16.6.1 Trilateration und Objektlokalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
16.7 Halter- und Befestigungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
16.8 Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
16.9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
17 Radarsensorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Hermann Winner
17.1 Ausbreitung und Reflektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
17.2 Abstands- und Geschwindigkeitsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
17.2.1 Grundprinzip Modulation und Demodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
17.2.2 Doppler-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
17.2.3 Mischen von Signalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
17.2.4 Pulsmodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
17.2.5 Frequenzmodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
17.3 Winkelmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
17.3.1 Antennen-theoretische Vorbetrachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
17.3.2 Scanning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
17.3.3 Monopuls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
17.3.4 Mehrstrahler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
17.3.5 Dual-Sensor-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
17.3.6 Planar-Antennen-Arrays:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
17.4 Hauptparameter der Leistungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.1 Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.2 Relativgeschwindigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.3 Azimutwinkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.4 Leistungsfähigkeit und Mehrzielfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
17.4.5 24 GHz vs. 77 GHz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
17.5 Signalverarbeitung und Tracking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
17.6 Einbau und Justage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
17.7 Elektromagnetische Verträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
XX Inhaltsverzeichnis
18 LIDAR-Sensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Heinrich Gotzig, Georg Geduld
18.1 Funktion, Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.1 Begrifflichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.2 Messverfahren Distanzsensor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.3 Weitere Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
18.1.4 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
18.1.5 Transmissions- und Reflexionseigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
18.1.6 Geschwindigkeitsbewegungsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
18.1.7 Tracking-Verfahren und Auswahl relevanter Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
18.2 Applikation im Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
18.2.1 Laserschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
18.2.2 Integration für nach vorne gerichtete Sensoren (zum Beispiel für ACC). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3 Zusatzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.1 Sichtweitenmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.2 Tag/Nacht-Erkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.3 Verschmutzungserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.4 Geschwindigkeitsermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.5 Fahrerverhalten/-zustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.6 Objektausdehnung/-erkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.4 Aktuelle Serienbeispiele:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
18.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
20 Kamera-Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen, Nicolaj Stache, Maximilian Höpfl
20.1 Einsatzgebiete und Beispielanwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
20.1.1 Fahrer- und Innenraumüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
20.1.2 Umfelderfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
20.2 Kameras für Fahrerassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
20.2.1 Kriterien für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
20.3 Kameramodul. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
20.3.1 Aufbau eines Kameramoduls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
20.3.2 Optik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
20.3.3 Bildsensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
20.4 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
20.4.1 Systemübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
20.4.2 Monokamera-Architektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
20.4.3 Stereokamera-Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
20.5 Kalibrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
20.5.1 Kalibrierparameter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
20.5.2 Orte der Kalibrierung und Kalibrierverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
20.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
22 Stereosehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Uwe Franke, Stefan Gehrig
22.1 Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
22.1.1 Lokale Korrelationsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
22.1.2 Globale Stereoverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
XXII Inhaltsverzeichnis
28 Car-2-X. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf
28.1 Motivation und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2 Datenkommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2.1 Funkkanal und Übertragungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2.2 Frequenzallokation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
28.2.3 Standardisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.3 Systemübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.3.1 ITS Station. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.4 Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.1 Sicherheitsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.2 Aspekte der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.3 Schutzziele und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
28.4.4 Lösungsansätze und -mechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
28.4.5 Stand von Technik und Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5 Car-2-X Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5.1 Anforderungen und grundsätzliche Funktionsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5.2 Anwendungsbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
28.5.3 Umsetzung und Erprobung im Projekt simTD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
XXV
Inhaltsverzeichnis
32 Lenkstellsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring
32.1 Allgemeine Anforderungen an Lenksysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2 Basislösungen der Lenkunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2.1 Die hydraulische Hilfskraftlenkung (HPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2.2 Die parametrierbare hydraulische Hilfskraftlenkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
32.2.3 Die elektrohydraulische Hilfskraftlenkung (EHPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
32.2.4 Die elektromechanische Hilfskraftlenkung (EPS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594
32.2.5 Elektrische Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
32.3 Lösungen zur Überlagerung von Momenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
32.3.1 Zusatzaktor für hydraulische Lenksysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
32.3.2 Elektrische Lenksysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
32.4 Lösungen zur Überlagerung von Winkeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.2 Funktionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.3 Stellervarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
32.4.4 Einsatzbeispiel BMW E60 – ZFLS-Aktor am Lenkgetriebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
32.4.5 Einsatzbeispiel Audi A4 – ZFLS-Aktor in der Lenksäule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
32.4.6 Einsatzbeispiel Lexus – koaxialer Lenksäulenaktor lenkwellenfest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
32.5 Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
32.5.1 Systemkonzept und Bauteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
32.5.2 Technik, Vorteile und Chancen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
32.6 Hinterachslenksysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
32.6.1 Grundfunktionen und Kundennutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
32.6.2 Funktionsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
32.6.3 Systemgestaltung / Aufbau des Systems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
32.6.4 Vernetzung / erweiterte Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
35 Bedienelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder
35.1 Anforderungen an Bedienelemente für Fahrerassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
35.2 Bestimmung des Handlungsorgans, der Körperhaltung und der Greifart . . . . . . . . . . . . . . 649
35.3 Festlegung der Bedienteilart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
35.4 Vermeiden von unbeabsichtigtem und unbefugtem Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
35.5 Festlegung der räumlichen Anordnung und geometrische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . 652
35.6 Festlegung von Rückmeldung, Bedienrichtung, -weg und -widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . 652
35.7 Kennzeichnung der Stellteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
XXVIII Inhaltsverzeichnis
37 Fahrerwarnelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
Norbert Fecher, Jens Hoffmann
37.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
37.2 Menschliche Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
37.3 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
37.4 Anforderungen an Warnelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678
37.5 Beispiele für Warnelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
37.5.1 Warnelemente für die Längsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
37.5.2 Warnelemente der Querführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
37.6 Voreinteilung von Warnelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
38 Fahrerzustandserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder
38.1 Einleitung und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.1 Definition des Begriffs „Fahrerzustand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.2 Einfluss eines kritischen Fahrerzustands auf das Unfallrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.3 Potenziale und Herausforderungen einer Fahrerzustandserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.2 Unaufmerksamkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
38.2.1 Definition von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
38.2.2 Messgrößen und Messverfahren zur Unaufmerksamkeitserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690
38.2.3 Anwendungsfälle einer Unaufmerksamkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
XXIX
Inhaltsverzeichnis
43.3 Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw. . . . . . . . . 805
43.3.1 Nkw-spezifische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
43.3.2 Regelungsziele und -prioritäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
43.3.3 Fahrdynamikregelung für Gliederzüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808
43.3.4 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
43.3.5 Sonderfunktionen für Nkw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
43.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.1 Fahrdynamikregelung für Allradfahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.2 Weitergehende Adaptionsalgorithmen in der Fahrdynamikregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.3 Nutzung weiterer Steller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
44 Sichtverbesserungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn
44.1 Häufigkeit von Verkehrsunfällen bei Nachtoder ungünstigen
Witterungsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816
44.2 Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzenfür
Sichtverbesserungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
44.3 Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung . . . . . . . . . . . . . . 822
44.3.1 Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der Lichtquellenentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
44.3.2 Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der adaptiven Lichtverteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
44.3.3. Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der assistierenden Lichtverteilung. . . . . . . . . . . . . . . 829
44.4 Nachtsichtsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832
44.4.1 Sensorik für Nachtsichtsysteme im Kraftfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833
44.4.2 Anzeigen für Nachtsichtsysteme im Kraftfahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
44.4.3 Bildverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837
44.4.4 Vergleich der Systemansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
45 Einparkassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank Schroven, Richard Auer,
Michael Rohlfs, Gerald Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters
45.1 Abstufungen der Einparkassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
45.2 Anforderungen an Einparkassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
45.3 Technische Realisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
45.3.1 Informierende Einparkassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
45.3.2 Geführte Einparkassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844
45.3.3 Semiautomatisches Einparken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
45.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
XXXII Inhaltsverzeichnis
49 Querführungsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel, Falko Saust, Lars Kristian Klauske
49.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
49.2 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
49.3 Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
49.4 Vorschriften, Normen und Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
49.5 Systemkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
49.5.1 Umfeldsensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
49.5.2 Signalverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
XXXIV Inhaltsverzeichnis
50 Fahrstreifenwechselassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer
50.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
50.2 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
50.3 Klassifikation der Systemfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
50.3.1 Klassifikation nach Leistung der Umfelderfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
50.3.2 Systemzustandsdiagramm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
50.4 Beispielhafte Umsetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
50.4.1 „Toter Winkel Assistent“ von Citroën. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965
50.4.2 „Blind Spot Information System“ (BLIS) von Volvo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965
50.4.3 „Blind Spot Information System“ von Ford . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966
50.4.4 „Aktiver Totwinkel-Assistent“ von Mercedes Benz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967
50.4.5 „Audi Side Assist“/„Side Assist„von VW. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
50.4.6 „Side Assist Plus“ von VW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
50.4.7 Nutzfahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
50.5 Systembewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972
50.7 Weiterentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
51 Kreuzungsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975
Mark Mages, Alexander Stoff, Felix Klanner
51.1 Unfallgeschehen an Kreuzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2 Kreuzungsassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2.1 STOP-Schild-Assistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2.2 Ampelassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978
51.2.3 Einbiege-/Kreuzenassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980
51.2.4 Linksabbiegeassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
51.2.5 Kreuzungsassistenz für vorfahrtberechtigte Verkehrsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
51.3 Situationsbewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
51.4 Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
51.4.1 Assistenzmaßnahmen für den wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
51.4.2 Kreuzungsassistenz für vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988
XXXV
Inhaltsverzeichnis
59 Conduct-by-Wire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111
Benjamin Franz, Michaela Kauer, Sebastian Geyer, Stephan Hakuli
59.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112
59.2 Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112
59.3 Manöver und Fahrfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113
59.3.1 Entwicklung und Evaluation der Fahrfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114
59.3.2 Entwicklung und Evaluation der Manöverschnittstelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117
59.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121
XXXVIII Inhaltsverzeichnis
60 H-Mode 2D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123
Eugen Altendorf, Marcel Baltzer, Martin Kienle, Sonja Meier,
Thomas Weißgerber, Matthias Heesen, Frank Flemisch
60.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124
60.2 Von der H-Metapher zum H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124
60.3 Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125
60.3.1 Exemplarische Anwendungsfälle für den H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126
60.4 Systemarchitektur und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129
60.4.1 Kognitive Automation im H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130
60.4.2 Interaktionsmediation und Arbitrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131
60.4.3 Zusammenwirken der Interaktionsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133
60.5 Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1134
60.6 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1136
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1136
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1187
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201
XL
Firmen
Audi AG Dr. Wolfgang Huhn
Bosch Engineering GmbH Dipl.-Ing. Matthias Mörbe
Bosch SoftTec GmbH Dipl.-Ing. Torsten Mlasko
Bundesanstalt für Straßenwesen Ass. jur. Tom Michael Gasser
DirProf. Andre Seeck
Dr.-Ing. Patrick Seiniger
BMW Group Dr.-Ing. Guy Berg
Dr.-Ing. Edmund Donges (vormals)
Dipl.-Ing. Simon Fürst
Dr.-Ing. Felix Klanner
Dipl.-Ing. Martin Liebner
M.Sc. Christian Ruhhammer
Dr.-Ing. Thomas Schaller
Carmeq GmbH Dr.-Ing. Lars Kristian Klauske
Continental AG Dr.-Ing. Alexander Bachmann
Dr.-Ing. Bernward Bayer
Dr.-Ing. Stefan Bunzel
Dipl.-Ing. Axel Büse
Dr.-Ing. Michael Darms
Dr. phil. nat. Oliver Fochler
Dipl.-Ing. Steffen Gruber
Dr.-Ing. Jens Hoffmann
Dr.-Ing. Andree Hohm
Dipl.-Ing. Maximilian Höpfl
Dipl.-Ing. Paul Linhoff
Dr.-Ing. Stefan Lüke
Dr.-Ing. Mark Mages
Dipl.-Ing. Roman Mannale
Dr. rer. nat. Stefan Menzel
Dipl.-Ing. Norbert Ocvirk
Dipl.-Ing. Bernd Piller
Dr.-Ing. Martin Punke
Dr.-Ing. Thomas Raste
Dipl.-Ing. James Remfrey
Dr.-Ing. Peter E. Rieth
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Ken Schmitt
Dipl.-Ing. Stefan Schmitt
Dipl.-Ing. Bernhard Schmittner
Dr.-Ing. Nicolaj Stache
Dipl.-Ing. Jürgen Völkel
Dipl.-Ing. Boris Werthessen
Daimler AG Dr.-Ing. Jörg Breuer
Dr.-Ing. Uwe Franke
Dr. Stefan Gehrig
Dr.-Ing. Sebastian Geyer
Dipl.-Ing. Wolfgang Hurich
Dr. Bernhard Morys
XLI
Firmen- und Hochschulverzeichnis
Hochschulen
Hochschule München Prof. Dr. rer. nat. Markus Krug
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Prof. Dr.-Ing. Peter Knoll
Prof. Dr.-Ing. Christoph Stiller
RWTH Aachen Dipl.-Ing. Eugen Altendorf
Dipl.-Wirt.-Ing. Marcel Baltzer
Prof. Dr.-Ing. Frank Flemisch
M.A. Sonja Meier
Technische Universität Braunschweig Dipl.-Ing. Frank Dierkes
Dipl.-Ing. Richard Matthaei
Prof. Dr.-Ing. Markus Maurer
M.Sc. Andreas Reschka
M.Sc. Jens Rieken
Dipl.-Wirtsch.-Ing., MSIE (Georgia Tech) Simon Ulbrich
Technische Universität Darmstadt Dr.-Ing. Bettina Abendroth
Prof. Dr.-Ing. Ralph Bruder
Dr.-Ing. Norbert Fecher
Dr.-Ing. Benjamin Franz
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Rolf Isermann
Dr. phil. Michaela Kauer
Prof. Dr.-Ing. Tran Quoc Khanh
M.Sc. Ingmar Langer
Dr.-Ing. Stefan Leinen
Dipl.-Ing. Matthias Pfromm
M.Sc. Raphael Pleß
Dipl.-Ing. Kai Schröter (vormals)
Dipl.-Ing. Nico Steinhardt (vormals)
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Alexander Stoff (vormals)
Dr.-Ing. Alexander Weitzel (vormals)
Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner
Technische Universität Dresden Dr.-Ing. Lars Hannawald
Prof. Dr. Bernhard Schlag
Dr. rer. nat. Gert Weller
Technische Universität München Prof. Dr. phil Klaus Bengler
Dipl.-Ing. Martin Kienle
Dipl.-Ing. Thomas Weißgerber
XLIII
Firmen- und Hochschulverzeichnis
Kapitel 2 Fahrerverhaltensmodelle – 17
Edmund Donges
Kapitel 7 AUTOSAR – 105
Simon Fürst, Stefan Bunzel
3 1
Die Leistungsfähigkeit
des Menschen
für die Fahrzeugführung
Bettina Abendroth, Ralph Bruder
Die Arbeitsaufgabe Kraftfahrzeugführen zählt zu Frei von Interferenz wäre demnach die gleichzeitige
1 den vorwiegend informatorischen Tätigkeiten mit Verarbeitung visueller, räumlicher Bildinformatio-
dem Arbeitsinhalt, Informationen in Reaktionen nen (z. B. Zielführungsanzeige) und auditiver, ver-
2 umzusetzen. Der Fahrer führt hierbei in der Regel baler Informationen (Telefongespräch, Nachrichten
eine Steuerungstätigkeit mit kontinuierlicher Infor- im Radio), da diese unterschiedliche Sinneskanäle
mationsverarbeitung aus. und unterschiedliche Bereiche im Arbeitsgedächt-
3 Dementsprechend sind für die Fahrzeugfüh- nis nutzen. Experimentelle Untersuchungen haben
rung vor allem der Prozess der Informationsver- jedoch gezeigt, dass diese Freiheit von Interferenz
4 arbeitung sowie mit diesem in Wechselwirkung nicht uneingeschränkt gilt.
stehende Faktoren der individuellen Charakteristik Die menschliche Informationsverarbeitung wird
5 des Fahrers von Bedeutung. hier anhand eines kombinierten Stufen- und Res-
Zur Beschreibung der Zusammenhänge zwi- sourcenmodells erklärt (siehe . Abb. 1.1). Dieses
schen Fahrer, Fahrzeug und Umgebung dient das basiert auf den Verarbeitungsstufen Informations-
6 im Folgenden dargestellte einfache Systemmodell aufnahme (Perzeption), Informationsverarbeitung
(vgl. [1]). Dieses besteht aus den Elementen Fahrer i. e. S. (Kognition) und Informationsabgabe (Moto-
7 und Fahrzeug. Die Eingangsgröße Fahrzeugfüh- rik) [3]. Darüber hinaus wird berücksichtigt, dass
rungsaufgabe, die auch von den Umgebungsfakto- die zur Verfügung stehende Ressourcenkapazität
ren beeinflusst wird, wirkt auf diese zwei Systemele- beschränkt ist.
8 mente. Darüber hinaus können Störgrößen wie z. B. Die Effizienz der drei Verarbeitungsstufen des
Ablenkungen durch den Beifahrer auftreten. Die Informationsverarbeitungsprozesses wird durch
9 Ausgangsgröße aus diesem System kann durch die die zur Verfügung stehenden Verarbeitungsres-
Systemleistungen Mobilität, Sicherheit und Komfort sourcen beeinflusst und benötigt die Zuwendung
10 beschrieben werden. von Aufmerksamkeit. Diese bewirkt die gezielte
Selektion von Informationen, die zu Inhalten der
bewussten Verarbeitung werden sollen. Denn das
11 1.1 Menschlicher Informations ständige Überangebot an Informationen übersteigt
verarbeitungsprozess die menschliche Verarbeitungskapazität, sodass der
12 Mensch bei Weitem nicht alles bewusst wahrneh-
Zur Erklärung der menschlichen Informationsver- men kann, was ihn auf der Ebene der Sinnesrezep-
arbeitung gibt es eine Vielzahl von Modellen, diese toren erreicht.
13 spezifizieren die allgemeine Annahme, dass das in Der Mensch kann seine gesamte Aufmerksam-
einem Rezeptor eintreffende Signal (Stimulus) in keit unterschiedlich auf die drei Stufen des Informa-
14 eine kognitive Repräsentation und in eine Reaktion tionsverarbeitungsprozesses verteilen, um relevante
des Menschen (Response) umgesetzt wird. Zu den Informationsquellen auszuwählen und diese Infor-
15 bekanntesten Modellen im Ingenieurbereich zäh- mationen weiter zu verarbeiten. Für jede Arbeitstä-
len die sequenziellen sowie die Ressourcenmodelle. tigkeit kann eine günstige Aufmerksamkeitsvertei-
Sequenzielle Modelle unterstellen, dass die Trans- lung vom Menschen erlernt werden, im Extremfall
16 formation von Stimulus in Response streng sequen- kann eine schlechte Aufmerksamkeitsverteilung
ziell abläuft, d. h. die nächste Stufe kann erst durch- menschliche Fehlhandlungen verursachen.
17 laufen werden, wenn die vorige abgeschlossen ist. Auf theoretischer Ebene können verschiedene
Ressourcenmodelle stützen sich auf die Annahme, Formen der Aufmerksamkeit in den Dimensionen
dass die Kapazität, die für verschiedene Aktivitäten Selektivität und Intensität unterschieden werden.
18 zur Verfügung steht, beschränkt ist und zwischen Mit der selektiven Aufmerksamkeitszuwendung
allen gleichzeitig ausgeführten Aufgaben aufgeteilt wird die Tatsache beschrieben, dass der Mensch
19 werden muss. Die Theorie der multiplen Ressourcen sich zwischen verschiedenen, miteinander konkur-
erweitert diese Sichtweise; gemäß dieser hängt das rierenden Informationsquellen entscheiden muss.
20 Ausmaß an Interferenz zweier Aufgaben davon ab, Im Rahmen der geteilten Aufmerksamkeit muss der
ob diese die gleichen Ressourcen beanspruchen [2]. Mensch verschiedene Reize simultan wahrnehmen,
1.1 • Menschlicher Informationsverarbeitungsprozess
5 1
während er sich bei einem Aufmerksamkeitswech- onen parallel über alle Sinneskanäle aufnehmen,
sel von einem Reiz abwendet, um sich anschließend allerdings kann die gleichzeitige Verarbeitung ver-
einem anderen zuzuwenden. Die Intensität der Auf- schiedener Informationen die Leistung verschlech-
merksamkeit betrifft das Aktivierungsniveau, hier- tern. Die spezifischen Leistungsbereiche der Sin-
bei sind die herabgesetzte Vigilanz (niedriger Anteil nesorgane beeinflussen Quantität und Qualität der
relevanter Stimuli) und die Daueraufmerksamkeit aufgenommenen Informationen und somit auch alle
(hoher Anteil relevanter Stimuli) von Bedeutung. folgenden Informationsverarbeitungsschritte. Für
die Fahrzeugführung sind vor allem visuelle, akus-
tische, haptische und vestibulare Wahrnehmungen
1.1.1 Informationsaufnahme von Bedeutung. Auch der sensorische Speicher
(auch Ultrakurzzeitgedächtnis genannt) wird dem
Der Informationsaufnahme werden alle Prozesse Bereich der Informationsaufnahme zugeordnet. Im
zugeordnet, die das Entdecken und Erkennen von sensorischen Speicher werden ausschließlich physi-
Informationen betreffen. Dabei wird der Vorgang kalisch kodierte Informationen gespeichert. Visuelle
der internen Repräsentation der Umwelt als Wahr- Informationen werden im ikonischen, akustische im
nehmung bezeichnet. Dieses innere Abbild der Um- echoischen Speicher für einen Zeitraum zwischen
welt wird beeinflusst von der aktuellen Situation, in 0,2 s (ikonisch) und 1,5 s (echoisch) abgelegt [3].
der sich der Mensch befindet, und den Erfahrungen, Bei der visuellen Informationsaufnahme hat
über die dieser verfügt. Die Informationsaufnahme das Auge folgende drei Grundaufgaben: Adaptation
erfolgt über die Sinnesorgane. Der Mensch kann (Anpassung der Empfindlichkeit des Auges an die
eine Vielzahl gleichzeitig übermittelter Informati- jeweils herrschende Leuchtdichte), Akkommoda-
6 Kapitel 1 • Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung
reaktionsfordernde Signale pro Zeiteinheit dargebo- onen aus Lang- und Kurzzeitgedächtnis abgerufen
ten werden. Diese Regel gilt bis zu einer optimalen und mit den sensorisch aufgenommenen Merkmal-
Signalhäufigkeit von ca. 120 bis 300 Signalen pro strägern verglichen.
Stunde. Bei einer wesentlichen Überschreitung Die Unfallgefahr eines Autofahrers wird sowohl
dieser Signalhäufigkeit gerät der Beobachter in von der individuellen Akzeptanz als auch von Fehl-
eine Überforderungssituation mit dem Ergebnis, wahrnehmungen bezüglich Risiken im Straßen-
dass immer mehr Signale unbeantwortet bleiben. verkehr beeinflusst. Ein wesentlicher Aspekt des
[8] gehen mit ihrer „Theory of Pathway Inhibition“ Entscheidungsvorgangs innerhalb des Informati-
davon aus, dass sich gleichartige Reize behindern onsverarbeitungsprozesses ist die Tatsache, dass die
und somit durch heterogene Reize eine bessere Auf- Handlung ausgewählt wird, die unter Variation der
merksamkeitsleistung erreicht wird. äußeren Umstände den größten Nutzen unter Be-
achtung des damit verbundenen Risikos verspricht.
Der Begriff Risiko wird unterschiedlich definiert.
1.1.2 Informationsverarbeitung Oftmals wird er als Wahrscheinlichkeit, dass ein
nicht gewünschtes Ereignis eintritt, interpretiert.
Signale aus der Umgebung (z. B. Charakteristik So definieren z. B. [10] Risiko als das Verhältnis
der Fahrstrecke, andere Verkehrsteilnehmer, Wet- zwischen Größen, die negative Konsequenzen
ter- und Sichtbedingungen) sowie vom Fahrzeug von Ereignissen beschreiben, und Größen, die die
(z. B. Anzeigen, Stell- und Bedienelemente und die Wahrscheinlichkeit eines Eintreffens der Bedingun-
Fahrzeugdynamik) werden von den menschlichen gen charakterisieren, unter denen diese Konsequen-
Rezeptoren aufgenommen, aufbereitet und auf der zen möglich sind. Diese Sichtweise schließt jedoch
Stufe der Informationsverarbeitung i. e. S. (Kogni- das Risikobewusstsein nicht mit ein. [11] sieht das
tion) weiterverarbeitet. Hier wird entschieden, ob Risiko deshalb als eine multidimensionale Charak-
eine Information zu einer Handlung führt (aktiver terisierung einer negativen Erwartung an, die sich
Fall) oder erduldet wird (passiver Fall). Diese Ent- aus einem probabilistischen Entscheidungsprozess
scheidung wird maßgeblich von der individuellen ergibt.
Charakteristik des Fahrers beeinflusst. Die Ent- Zur Erklärung der Risikowahrnehmung von
scheidungs- und Handlungsauswahl kann durch Autofahrern wurden zahlreiche Modelle entwickelt.
die drei aufeinander aufbauenden Verhaltensebe- Zu den bekanntesten zählen das ‚Zero Risk‘-Modell
nen, die gemäß [9] als fertigkeitsbasiert, regelba- [12] und das Modell der ‚Risikohomöostase‘ [13].
siert und wissensbasiert bezeichnet werden, erklärt Gemäß dem ‚Zero Risk‘-Modell handeln Menschen
werden (siehe ▶ Abschn. 2.1). Auf welcher Verhal- so, dass ihr subjektives Risiko null beträgt; dieses
tensebene die Informationsverarbeitung abläuft, ist Modell basiert auf der individuellen Motivation, die
von der Art der auszuführenden Aufgabe sowie der das Fahrerverhalten beeinflusst, und der Adaptation
individuellen Charakteristik des Fahrers, insbeson- an das im Straßenverkehr wahrgenommene Risiko.
dere seinen Erfahrungen im Bereich der gegebenen Die Theorie der ‚Risikohomöostase‘ geht davon aus,
Anforderungen, abhängig. dass der Mensch bei einer Reduzierung des objek-
Bei der kognitiven Verarbeitung von Informati- tiven Risikos (z. B. durch technische Maßnahmen)
onen spielt das Gedächtnis eine zentrale Rolle. Mit sein Verhalten soweit in Richtung „gefährlicher“
dessen Hilfe werden die Sinneseindrücke mit er- verändert, dass die subjektive Schätzung des Risi-
lernten und gespeicherten Strukturen des Denkens kos wieder die gleiche Distanz zum persönlich ak-
und Urteilens verglichen. Nach dem klassischen zeptierten Risiko erhält wie vor der Einführung der
Drei-Speicher-Modell besteht das Gedächtnis aus Maßnahme [13].
sensorischem Speicher (Ultrakurzzeitspeicher), Das ‚Modell der subjektiven und objektiven
Kurzzeitspeicher und Langzeitspeicher. Im Kurz- Sicherheit‘ stellt der subjektiv erlebten Sicherheit
und Langzeitgedächtnis werden die Informationen solche Formen der Sicherheit gegenüber, die phy-
aktiv bearbeitet. Während eines kontinuierlichen sikalisch messbar sind [14]. Das Gefahren-Vermei-
Prozesses werden die abgespeicherten Informati- dungs-Modell (Threat-Avoidance Model) [15] geht
8 Kapitel 1 • Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung
davon aus, dass die Handlungen eines Fahrers bei Auswirkungen auf die Fahrleistung und -sicherheit
1 Wahrnehmung eines potenziell gefährlichen Ereig- erläutert. Es erfolgt eine Systematisierung in Eigen-
nisses vorrangig durch Abwägung des Nutzens und schaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten.
2 der Kosten aller Alternativen ausgewählt werden.
Als Hauptkomponenten bei der Risikowahr- Eigenschaften Als Eigenschaften werden intrain-
nehmung sehen [10] einerseits Informationen über dividuell weitgehend zeitunabhängige (oder sich
3 potenzielle Gefahren in der Verkehrsumgebung und nur innerhalb sehr großer Zeiträume ändernde)
andererseits Informationen über die Fähigkeiten des Einflussgrößen verstanden. Als wichtigste für das
4 Systems Fahrer-Fahrzeug, die verhindern, dass das Autofahren relevante Eigenschaften werden häufig
Gefahrenpotenzial zu einem Unfall führt. Geschlecht, Alter und Persönlichkeitsmerkmale
5 genannt.
Während in einigen Untersuchungen ge-
1.1.3 Informationsabgabe schlechtsspezifische Unterschiede im Fahrerver-
6 halten festgestellt wurden, konnten in anderen Un-
In der dritten Stufe des Informationsverarbeitungs- tersuchungen keine Unterschiede im Hinblick auf
7 prozesses werden die auf der Stufe der Informati- das Risikoverhalten sowie das Geschwindigkeitsver-
onsverarbeitung i. e. S. getroffenen Entscheidungen halten bestätigt werden. Unterschiede sind aber in
in Handlungen umgesetzt. Diese Handlungen um- der Wahrnehmung des Unfallrisikos bei Männern
8 fassen beim Fahrzeugführen motorische Bewe- und Frauen festzustellen: Männer schätzen ihr Fahr-
gungen des Hand-Arm-Systems sowie des Fuß- können besser ein als Frauen, dabei neigen Frauen
9 Bein-Systems. Die physische Belastung im Sinne eher zu einer Unterschätzung ihrer Leistungsfähig-
einer arbeitsphysiologisch zu leistenden Arbeit ist keit, während Männer eher zu einer Überschätzung
10 im Vergleich zu den sich aus der Informationsauf- tendieren. Außerdem beurteilten männliche Fahrer
nahme und -verarbeitung ergebenden Belastungen bestimmte Verhaltensweisen als weniger gefährlich
gering und wird durch technische Unterstützungs- und weniger unfallträchtig als weibliche.
11 systeme im Fahrzeug (z. B. Servolenkung) immer Die Fähigkeiten des Menschen, sich sensorisch
weiter reduziert. zu orientieren, aufgenommene Informationen zu
12 verarbeiten und motorische Handlungen auszufüh-
ren, wandeln sich im Zuge des Alterungsprozesses,
1.2 Fahrercharakteristik innerhalb dessen die menschlichen Organe einer
13 und die Grenzen menschlicher Veränderung unterliegen. Die zunehmenden funk-
Leistungsfähigkeit tionalen Defizite können aufgrund der bei älteren
14 Fahrern in der Regel vorhandenen großen Fahrer-
Die menschliche Leistung ist allgemein charakte- fahrung zumindest teilweise kompensiert werden.
15 risiert durch die Arbeitsergebnisse und die Bean- Für die Definition des Begriffs „Ältere“ existieren
spruchung des arbeitsausführenden Individuums. verschiedene Ansätze. Oftmals orientiert man sich
Sowohl die Arbeitsergebnisse als auch die Bean- am kalendarischen bzw. chronologischen Alter;
16 spruchungen unterliegen inter- und intraindividu- demnach werden Menschen ab dem 60. oder 65.
ellen Streuungen: Nicht alle Personen erfüllen die- Lebensjahr zu den Älteren gezählt, obwohl die mit
17 selbe Aufgabe gleich gut, aber auch eine einzelne dem Alterungsprozess verbundenen funktionalen
Person kann Leistungsvariabilitäten aufweisen, Veränderungen mit erheblichen interindividuellen
wenn die Leistungserfüllung derselben Aufgabe zu Varianzen behaftet sind.
18 unterschiedlichen Zeitpunkten gemessen wird. Zu- Auch verschiedene Persönlichkeitsmerkmale des
rückzuführen sind diese Variabilitäten auf die indi- Fahrers beeinflussen sein Verhalten. So wurden Zu-
19 viduelle Charakteristik des Menschen und somit auf sammenhänge zwischen der Risikobereitschaft von
die unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen. Fahrern und der von ihnen gefahrenen Geschwin-
20 Im Folgenden werden für das Autofahren relevante digkeit sowie der Kraftschlussnutzung festgestellt.
menschliche Leistungsvoraussetzungen und ihre Fahrer, die emotional instabil, impulsiv und nicht
1.2 • Fahrercharakteristik und die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit
9 1
.. Tab. 1.1 Mit dem Alter eintretende Veränderungen des visuellen Systems (↑ Zunahme; ↓ Abnahme)
↑ Adaptationszeit
↓ Kontrastsehen
teamfähig sind, unterliegen einem höheren Unfall- Mit zunehmendem Alter verschlechtern sich
risiko als Menschen, die anpassungsfähig und emo- die Fähigkeiten der Rezeptoren, was insgesamt zu
tional stabil sind. Außerdem werden die selektive Einschränkungen im Bereich der Informationsauf-
Aufmerksamkeit, der Wahrnehmungsstil und die nahme führt.
Reaktionszeit als individuelle Merkmale genannt, So verändern sich die Augenbestandteile auf-
die als Indikatoren für die Unfallbeteiligung gelten. grund eines Flüssigkeitsentzugs im Gewebe durch
den Alterungsprozess. Die sich daraus ergebenden
Fähigkeiten Als Fähigkeiten werden die verfügba- Wirkungen auf die visuellen Fähigkeiten sind in
ren intraindividuell zeitabhängig kurz- bzw. lang- . Tab. 1.1 zusammengefasst.
fristigen Änderungen verstanden; sie betreffen Die mit dem Alter fortschreitende Einschrän-
physiologische Organ- oder so genannte Grund- kung des Gesichtsfeldes verschärft die Problematik
funktionen des Menschen. des Bewegungssehens beim Autofahren, da die Be-
Durch die als Intelligenz bezeichneten geistigen wegung relevanter Objekte zunächst im peripheren
Fähigkeiten werden die Handlungen eines Fahrers Gesichtsfeld beobachtbar ist.
insbesondere auf der wissensbasierten Ebene be- Altersveränderungen des Hörvermögens beste-
einflusst. Der Begriff Intelligenz ist in der Literatur hen in einer Abnahme der Hörschwelle, vor allem
umstritten und wird dementsprechend auch nicht im Bereich hoher Frequenzen. Schwierigkeiten bei
einheitlich definiert. Nach einer weit gefassten der Frequenz- und auch der Intensitätsdiskrimina-
Definition wird unter Intelligenz die hierarchisch tion von Tönen sowie bei der Erkennung komple-
strukturierte Gesamtheit jener allgemeinen geisti- xer Geräusche wie z. B. Sprache unter schwierigen
gen Fähigkeiten verstanden, die das Niveau und die Wahrnehmungsbedingungen (z. B. Störgeräusche,
Qualität der Denkprozesse einer Persönlichkeit be- Verzerrungen) und teilweise erschwertes Rich-
stimmen. Mit Hilfe dieser Fähigkeiten können die tungshören sind weitere Altersveränderungen des
für das Handeln wesentlichen Eigenschaften einer Hörvermögens.
Problemsituation in ihren Zusammenhängen er- Mit zunehmendem Alter nimmt auch die taktile
kannt werden, so dass die Situation entsprechend be- Wahrnehmungsempfindlichkeit ab.
stimmter Zielvorstellungen verändert werden kann. Der Gleichgewichtssinn ist bei 20- bis 30-Jähri-
Aber auch die kognitiven und sensumotori- gen am besten ausgebildet und nimmt ab dem 40.
schen Fähigkeiten des Menschen sowie das Reakti- Lebensjahr stark ab, sodass sich dieser im Alter von
onsvermögen beeinflussen das Autofahren indirekt 60 bis 70 Jahren auf die Hälfte reduziert hat.
über die Auswirkungen dieser Merkmale auf den Der sensorische Speicher arbeitet mit zuneh-
Informationsverarbeitungsprozess. mendem Alter weniger effizient. Akustische Signale
10 Kapitel 1 • Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung
weisen im echoischen Speicher eine höhere Zerfalls- von Handlungsroutinen ermöglicht wird. Während
1 geschwindigkeit auf, während visuelle Signale länger die Kontrolle über das Fahrzeug mit zunehmender
im ikonischen Speicher verbleiben. Dies führt bei Fahrerfahrung besser wird, führt die Erfahrung in
2 der Bereitstellung verkehrsrelevanter Informationen anderen Bereichen zur Ausbildung von Fehlern und
dazu, dass akustische Informationen nur in zeitlich schlechten Gewohnheiten, wie z. B. dem Nichtbe-
verkürztem Umfang zur Bearbeitung zur Verfügung achten der Spiegel, spätem Bremsen und dichtem
3 stehen und visuelle Reize wegen der Blockierung Auffahren. Bei Fertigkeiten, die die Kontrolle über
des ikonischen Speichers nur in beschränktem Um- das Fahrzeug widerspiegeln, haben sich Anfänger
4 fang aufgenommen werden können. als schlechter erwiesen als erfahrene Fahrer. Dies
In den einzelnen Bereichen der Aufmerksamkeit zeigt sich durch spätes Beschleunigen, schlechte
5 gibt es bei älteren Menschen Leistungsreduktionen, und inkonsistente Lenkbewegungen und langsame
diese ergeben in ihrer additiven Wirkung eine ins- Gangwechsel. Auch haben die Lenkbewegungen un-
gesamt schlechtere Aufmerksamkeitsleistung. Dies erfahrener Fahrer eine höhere Frequenz als die er-
6 führt dazu, dass Ältere ihre Handlungsentscheidung fahrener Fahrer. Das Blickverhalten unerfahrenerer
auf einer relativ kleineren Basis von Umgebungsin- Fahrer wird häufig als ineffizienter bezeichnet, da sie
7 formationen treffen müssen als jüngere Verkehrs- zu häufig Punkte im Nahbereich fixieren. So werden
teilnehmer, da sie nicht über alle potenziell wichti- entfernte Unfallgefahren von jungen, unerfahrenen
gen Informationen verfügen. Fahrern im Vergleich zu erfahrenen Fahrern relativ
8 Insgesamt zeigt sich, dass für ältere Fahrer vor schlecht erkannt, bei der Erkennung naher Gefah-
allem in komplexen und neuartigen Situationen, die ren bestehen jedoch keine Unterschiede zwischen
9 schnelles Handeln erfordern, Schwierigkeiten auf- diesen beiden Gruppen. Mit zunehmender Erfah-
treten können. Zusätzlich erschwerend wirken die rung lernen Fahrer, gefährliche Objekte und Ereig-
10 Einschränkungen bei der Informationsaufnahme, nisse anhand bestimmter Teile des Verkehrssystems
die zu einer teilweise verzögerten sensorischen Be- zu erkennen. Dies entspricht auch der Tatsache, dass
reitstellung relevanter Informationen führen, womit sich die visuellen Fixations- und Suchmuster von
11 für ältere Fahrer eine geringere Zeit für die Verar- unerfahrenen und erfahrenen Fahrern unterschei-
beitung verkehrsrelevanter Informationen und ent- den. Unterschiedliches Geschwindigkeitsverhalten
12 sprechender Handlungen bleibt. ergibt sich bei Kurvenfahrten in Abhängigkeit von
der Fahrerfahrung. Erfahrene Fahrer fahren schnel-
Fertigkeiten Unter Fertigkeiten werden Arbeits- ler in Kurven ein und verzögern in der Kurve stär-
13 funktionen des Menschen verstanden, die sowohl ker als unerfahrene.
durch mensch liche Grundfunktionen als auch Der Fahrstil wird sowohl durch die Fahrerfah-
14 durch den konkreten Gestaltungszustand der Ar- rung als auch durch die Persönlichkeit des Fahrers
beitsaufgabe und der Arbeitsumgebung bedingt geprägt. Unterschiedliche Formen des Fahrstils
15 sind. In Zusammenhang mit dem Autofahren haben wurden festgestellt. So kann dieser bei Führern von
die Fahrerfahrung und der Fahrstil (Klassifizierung Nutzfahrzeugen als „lahm-lasch“, „eckig-abrupt“
anhand der vom Fahrer gewählten Fahrzeuggrößen) oder „zügig-flott“ bezeichnet werden. Bei Pkw-
16 bzw. Fahrertyp (Klassifizierung anhand der beob- Fahrern wurden anhand von Kenngrößen für Ge-
achteten Verhaltensweisen des Fahrers) eine große schwindigkeit, Längsbeschleunigung, Abstand zum
17 Bedeutung. Vorausfahrenden die Fahrstile „eher langsam und
Die Fahrerfahrung kann unterschiedliche Aus- komfortbewusst“, „durchschnittlich mit hohem
wirkungen auf das Unfallrisiko haben. Mit wach- Sicherheitsbewusstsein“ und „schnell und sport-
18 sender Fahrerfahrung verbessern sich die Fahrfer- lich“ identifiziert. Auf Basis von Verhaltensbeob-
tigkeiten und das Erkennen sowie die Einschätzung achtungen wurden ähnliche Fahrertypen gefunden,
19 von Risiken. Eine Verbesserung der Fahrfertigkeit die als „unauffällige Durchschnittsfahrer“, „wenig
ist darauf zurückzuführen, dass mit zunehmender routinierte-unentschlossene Fahrer“, „sportlich-
20 Kilometerzahl die Anzahl erlebter unterschiedlicher ambitionierte Fahrer“ und „risikofreudig-aggres-
Fahrsituationen wächst und dadurch die Ausbildung sive Fahrer“ bezeichnet wurden.
1.3 • Anforderungen an den Fahrzeugführer im System Fahrer-Fahrzeug-Umgebung
11 1
1.3 Anforderungen Scheibenwischers oder Einschalten des Fernlichts,
an den Fahrzeugführer charakterisiert. Tertiäre Handlungen stehen nicht
im System Fahrer-Fahrzeug- in direktem Zusammenhang mit der eigentlichen
Umgebung Fahrzeugführung, sie dienen eher dem Fahrkomfort
und umfassen z. B. die Regelung der Lüftung sowie
Die Anforderungen an den Fahrer ergeben sich aus der Klimaanlage oder die Bedienung des Radios.
der Fahrzeugführungsaufgabe, die von Faktoren aus Das 3-Ebenen-Modell von [17] (siehe ▶ Ab-
der Umgebung mitbestimmt werden. Hier steht die schn. 2.2) beschreibt eine Hierarchie der primären
Komplexität der vom Fahrer zu bewältigenden Si- Fahraufgaben auf oberster Ebene mit den Tätigkeiten
tuation im Vordergrund. Diese ergibt sich aus der Navigieren (Auswahl der Fahrtroute), Bahnführen
Charakteristik der Fahrstrecke und dem dynami- (Festlegung von Sollspur und Sollgeschwindigkeit)
schen Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer. und Stabilisieren (Anpassung der Fahrzeugbewe-
Wie der Fahrer diese Anforderungen bewältigt, ist gung an die festgelegten Führungsgrößen).
einerseits von seiner individuellen Charakteristik
und andererseits von der durch das Fahrzeug an- Diese Hierarchie spiegelt auch den zeitlichen Spiel-
gebotenen Fahrerunterstützung (Assistenzsysteme) raum, der zur Erledigung der jeweiligen Aufgaben
abhängig. In Abhängigkeit von Belastungshöhe und zur Verfügung steht, sowie die Fehlertoleranz wi-
-dauer treten Engpässe im Informationsverarbei- der. Während eine verspätete Entscheidung oder
tungsprozess des Fahrers auf, die entsprechend des ein Fehler auf der Navigationsebene in der Regel zu
Kontinuums des Verkehrsverhaltens nach [14] zu keiner kritischen Situation führt, können auf der
einer Abweichung vom so genannten „Normalver- Stabilisierungsebene durchaus kritische Fahrsitua-
halten“ bis hin zu kritischen Verkehrssituationen tionen oder sogar Unfälle entstehen.
und auch zu Unfällen führen können. Um diese
Engpässe zu identifizieren, werden im Folgenden Anforderungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe
die Teilaufgaben der Fahrzeugführung und die sich Generell ergeben sich für den Menschen die An-
aus diesen ergebenden Anforderungen zusammen- forderungen einer Tätigkeit aus den Arbeitsaufga-
gestellt. ben. Unter Berücksichtigung der aufgabenunspe-
zifischen, situativen Arbeitsbedingungen entstehen
Teilaufgaben der Fahrzeugführung Ansätze zur Be- objektiv beschreibbare Belastungen. Zu diesen situ-
schreibung der Fahrzeugführungsaufgabe durch ativen Faktoren zählen Dauer und zeitliche Zusam-
Teilaufgaben existieren auf unterschiedlicher De- mensetzung der Anforderungen einerseits sowie
taillierungsebene, zum Teil wurden sie für spezi- Einflüsse aus der Arbeitsumgebung andererseits.
elle Erklärungszwecke oder einzelne Aspekte der Um Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe zu
Fahrzeugführungsaufgabe abgeleitet. Im Folgenden ermitteln, wurden verschiedene Tätigkeitsanaly-
werden nur zwei häufig genannte Klassifizierungen severfahren entwickelt. Zur Analyse der Anforde-
aufgeführt. rungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe wurde
Eine Einteilung der Fahreraufgaben nach ihrer von [18] für den Straßenverkehr eine modifizierte
Bedeutung für die Erfüllung des Fahrtzwecks wird Version des Fragebogens zur Arbeitsanalyse (FAA,
von [16] vorgeschlagen. Primäre Tätigkeiten um- [19]) erstellt. Diese modifizierte Version berück-
fassen für die Durchführung der Fahrt unbedingt sichtigt die Bereiche Informationsverarbeitung
notwendige Tätigkeiten wie z. B. Lenken und Gas und Fahrzeugbedienung, ersterer wird weiter un-
Geben und werden maßgeblich durch den Stra- terteilt in Quellen der Information, Sinnes- und
ßenverlauf, andere Verkehrsteilnehmer und die Wahrnehmungsprozesse, Beurteilungsleistungen
Umgebungsbedingungen bestimmt. Sekundäre sowie Denk- und Entscheidungsprozesse. Insge-
Tätigkeiten sind durch die Informationsabgabe samt werden 32 Arbeitselemente für den Bereich
an die Umgebung – hierzu gehören beispielsweise Informationsverarbeitung und 7 Arbeitselemente
Blinken oder Hupen – sowie durch eine Reaktion für den Bereich der Fahrzeugbedienung ange
auf die aktuelle Situation, wie z. B. Einschalten des geben.
12 Kapitel 1 • Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung
1
Auf Grundlage des von [18] modifizierten FAA
sowie anhand des Teils erforderliche kognitive Leis- -- Verkehrsschilder
z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen,
2
3
tungen des Tätigkeitsbewertungssystem (TBS, [20])
werden die sich aus der Fahrzeugführungsaufgabe
ergebenden Anforderungen abgeleitet.
Bei der im Folgenden aufgeführten Liste von
-- Vorfahrtsregelungen, Wegweiser
Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche, Wetter
und Sichtbedingungen
z. B. Nässe, Verschmutzung, Schnee, Glatteis;
Anforderungen umfasst der Bereich Informations- Gegenlicht, Regen- bzw. Schneefall, Nebel
quellen, Sinnes- und Wahrnehmungsprozesse die
4
--
Orientierungsleistungen im Umgebungsbereich. B Beurteilungsleistungen
Dazu werden wahrgenommene Sachverhalte als Längsabstände zu oder zwischen anderen
5 Signale erfasst und aufbereitet. Signale sind Reize, Verkehrsteilnehmern bzw. Objekten
die unterschieden und identifiziert werden, bei z. B. zum vorausfahrenden Fahrzeug, zwi-
einer bestimmten Ausprägung eine bestimmte schen zwei Fahrzeugen auf dem Nebenfahr-
6 Bedeutung für die Arbeitstätigkeit haben und ein streifen, zu Fußgängern, Radfahrern und
7
spezifisches Handeln als notwendig anzeigen. Die
Beurteilungsleistungen werden durch das Ableiten
von Diagnosen über Zustände erbracht, um geeig-
nete Maßnahmen zu finden. Dazu werden Reize
-- Hindernissen auf dem eigenen Fahrstreifen
Querabstände zu oder zwischen anderen Ver-
kehrsteilnehmern bzw. Objekten
z. B. zu Fahrzeugen auf „gleicher Höhe“, zu
-
8 ausgesondert, verglichen und Signalausprägungen Fahrzeugen am Fahrbahnrand
kombiniert. Die Entscheidungs- und Denkanfor- Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs und
9
10
derungen können einerseits aus diagnostischen
Leistungen, die die Ermittlung möglicher Varian-
ten umfassen, und andererseits aus prognostischen
Leistungen, die zur Auswahl zweckmäßiger Vari-
-- anderer Fahrzeuge bzw. Verkehrsteilnehmer
Antizipation kritischer Verkehrssituationen
Knappes Einscheren eines Fahrzeugs, Miss-
achtung der Vorfahrtsregelungen durch
anten dienen, bestehen. Die Fahrzeugbedienung andere, Kind läuft auf die Straße
11 geschieht im Rahmen von Verarbeitungsleistun-
--
gen. E Entscheidungs- und Denkprozesse
12 Auswahl geeigneter Handlungen zur Naviga-
I Informationsquellen, Sinnes- tion des Fahrzeugs
--
und Wahrnehmungsprozesse z. B. Entscheidung, welche Fahrtroute
13 Optische Anzeigen im Fahrzeug gewählt wird, Richtungsentscheidung an
14
z. B. Instrumente (z. B. Geschwindigkeitsan-
zeige), Stellung von Bedienelementen (z. B.
heizbare Heckscheibe), Informationen des -- Knotenpunkten
Auswahl geeigneter Handlungen zur Bahnfüh-
rung des Fahrzeugs
15
16
-- Bordcomputers (z. B. Außentemperatur)
Akustische Informationen
z. B. Sprachausgabe des Navigationssystems,
Martinshorn von Einsatz- und Rettungs-
z. B. Entscheidung über zu fahrende Ge-
schwindigkeit und einzuhaltenden Längsab-
stand, Überholmanöver, Wahl des Fahrstrei-
fens und der Querposition auf diesem
17
-- fahrzeugen
Akustische Nebeninformationen
z. B. Radio, Gespräche mit Beifahrer oder
--
F Fahrzeugbedienung
Regelung der Fahrzeug-Längsbewegung zur
18
-- über Telefon
Andere Verkehrsteilnehmer
--
Stabilisierung des Fahrzeugs
z. B. Gas Geben, Bremsen, Schalten
19
-- z. B. Fahrzeuge, Fußgänger
Charakteristik der Fahrstrecke
Regelung der Fahrzeug-Querbewegung zur
Stabilisierung des Fahrzeugs
20
z. B. Quer- und Längsverlauf der Strecke,
Knotenpunkte, Fahrbahnbreite, Anzahl der
Fahrstreifen -- z. B. Lenken
Bedienung weiterer Funktionen
z. B. Licht, Scheibenwischer, Radio
1.4 • Bewertung der Anforderungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe
13 1
1.4 Bewertung der Anforderungen Tag und in der Nacht können von großer Hellig-
aus der Fahrzeug keit, starker Blendung bis hin zu starker Dunkelheit
führungsaufgabeim Hinblick variieren, ebenso groß können die Unterschiede in
auf die menschliche der akustischen Umgebung sein: So gibt es Situati-
Leistungsfähigkeit onen im Fahrzeug ohne Nebengeräusche über Au-
ßengeräusche, die in das Fahrzeug dringen, bis hin
Abschließend werden die oben aufgeführten Anfor- zu Unterhaltungen oder lauter Musik im Fahrzeug.
derungsbereiche im Hinblick auf die Leistungsfä- Auch haptische Informationen im Fahrzeug sind
higkeit des Menschen mit dem Ziel bewertet, sinn- an mögliche Vibrationen, die vom Fahrzeug oder
volle Bereiche für eine technische Unterstützung des der Fahrbahn übertragen werden können, anzupas-
Fahrers aufzuzeigen. sen. Insbesondere bei der Gestaltung von visuellen
Informationen im Fahrzeug ist zu beachten, dass
Informationsquellen, Sinnes- und Wahrnehmungs- der Mensch Objekte nur bei Abbildung in der
prozesse Die Wahrnehmung der für die Erfüllung Netzhautgrube (Fovea) bis zu einem Öffnungswin-
der Fahrzeugführungsaufgabe relevanten Informa- kel von 2° scharf sehen kann. Somit muss er für die
tionsquellen ist für den Fahrer von großer Wich- Aufnahme komplexer Informationen im Fahrzeug,
tigkeit: Er erstellt anhand dieser Informationen ein die über sehr einfach kodierte Signale hinausgehen,
internes Bild des aktuellen Zustands der Umgebung den Blick von der äußeren Fahrzeugumgebung weg
sowie seines Fahrzeugs, das Grundlage für seine bewegen, was mit einer visuellen Ablenkung des
Entscheidungen und Handlungen ist. Fahrers von der eigentlichen Fahrzeugführungs-
Daraus ergibt sich die Anforderung, dass die aufgabe einhergeht.
situationsabhängig relevanten Informationen im Ob relevante Informationen vom Fahrer wahr-
Fahrzeug sowie in der Umgebung auch vom Fahrer genommen werden oder nicht, hängt auch maß-
wahrnehmbar sein müssen. Dies betrifft zum einen geblich davon ab, ob er diesen Informationen
die durch den Einsatz von Fahrerunterstützungs- Aufmerksamkeit schenkt. Diese Zuwendung von
systemen neu hinzukommenden Informationen Aufmerksamkeit wird stark von der Gesamtsitu-
für den Fahrer und zum anderen den Bedarf für ation Fahrer-Fahrzeug-Umgebung geprägt. Hier
Systeme, die versuchen, Informationsdefizite des spielen z. B. die Anzahl und Art der miteinander
Fahrers aus der Umgebung zu kompensieren. konkurrierenden Informationen im Fahrzeug und
Menschliche Wahrnehmungsprozesse werden in der Umgebung, die mentale und/oder emotionale
durch Wahrnehmungsschwellen sowie die notwen- Beschäftigung des Fahrers mit nicht fahrtrelevanten
dige Zuwendung von Aufmerksamkeit begrenzt. Belangen sowie persönliche Erfahrungen des Fah-
Wahrnehmungsschwellen sind zum einen indivi- rers eine Rolle. Generell hat sich gezeigt, dass Fahrer
duell unterschiedlich, so ist z. B. das Alter auch ein eine bessere Aufmerksamkeitsleistung in Bezug auf
maßgeblicher Einflussfaktor, zum anderen sind sie nähere Objekte zeigen und dass Wechsel in der Auf-
von der Umgebung abhängig. Da Autofahren in merksamkeitszuwendung sich rascher und effizien-
sehr unterschiedlichen Umgebungen erfolgt, ist da- ter in „von fern nach nah“ als umgekehrt vollziehen.
rauf zu achten, dass im Fahrzeug dargebotene Infor-
mationen oberhalb der Wahrnehmungsschwellen Beurteilungsleistungen Beurteilungsleistungen
liegen bzw. relevante Informationen aus der Um- werden vom Fahrer zur Einschätzung von Abstän-
gebung, falls diese unter bestimmten Umständen den, Geschwindigkeiten sowie potenziell kritischer
nicht wahrgenommen werden können, technisch Situationen gefordert.
unterstützt werden (z. B. Nachtsichtsystem mit Da die Beurteilung absoluter Abstände für den
Markierung relevanter Informationen wie Fußgän- Menschen schwierig ist, nutzt der Fahrer unter-
ger). Insbesondere die visuellen, akustischen und schiedliche Informationen als Beurteilungsgröße
haptischen Informationen spielen bei der Fahrzeug- für Längsabstände. Die Blickwinkelgeschwindig-
führung eine große Rolle und sind ihrer Umgebung keit, die sich aus der Größe des vorausfahrenden
entsprechend zu gestalten. Die Lichtverhältnisse am Fahrzeugs sowie der Geschwindigkeitsdifferenz
14 Kapitel 1 • Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung
und dem absoluten Abstand zu diesem Fahrzeug eine aufgrund der äußeren Verkehrssituation not-
1 berechnet, liefert dem Fahrer eine Aussage darü- wendigen Entscheidung gegeben ist, gelingt ihm
ber, wie sich der Abstand zu einem vorausfahren- diese besser als einem technischen System. Dies
2 den Fahrzeug verändert. Ebenso wird die Zeit bis liegt daran, dass dem Fahrer eine vollständigere,
zum Auftreten einer Kollision, Time to Collision wenn auch in einzelnen Aspekten unpräzisere Re-
(TTC), in die der absolute Abstand zum vorausfah- präsentation der Fahrumgebung zugänglich ist und
3 renden Fahrzeug sowie die Geschwindigkeitsdif- er mit zunehmender Fahrleistung auf immer mehr
ferenz eingeht, häufig als für den Fahrer relevante Erfahrungen mit solchen und ähnlichen Situationen
4 Beurteilungsgröße genannt. Es wird davon ausge- zurückgreifen kann.
gangen, dass die TTC die Aktionen des Fahrers Fahrer-Reaktionszeiten liegen im Bereich von
5 bestimmt [21]. 0,7 s bei erwarteten Situationen wie z. B. einer
Für die Blickwinkelgeschwindigkeit wird die Annäherungsfahrt, 1,25 s bei unerwarteten, aber
menschliche Wahrnehmungsschwelle für Bewe- gewöhnlichen Situationen (z. B. Bremsen des Vor-
6 gungen beim Fahren unter idealen Sichtbedingun- ausfahrenden) und bis zu 1,5 s bei überraschenden
gen zwischen 3 und 10 · 10–4 rad/s angegeben. Aber Situationen [23]. Je kritischer die Situation ist, desto
7 auch die Beobachtungsdauer hat einen Einfluss auf schneller erfolgt die Fahrerreaktion. Trägheit und
die Wahrnehmungsschwelle von Abständen sowie Reaktionsdauer des Menschen variieren in Abhän-
Geschwindigkeitsdifferenzen bei Folgefahrten [22]. gigkeit von Fahrsituation und Aufmerksamkeit. Der
8 Mit abnehmender Geschwindigkeitsdifferenz und Fahrer reagiert bei Kolonnenfahrt schneller und
abnehmender Beobachtungsdauer sinkt die Dis- wählt kleinerer Abstände.
9 tanz, ab der eine Geschwindigkeitsdifferenz erkannt
wird. Generell zeigt sich, dass Fahrer bei geringe- Fahrzeugbedienung Die Bedienung des Fahrzeugs
10 ren Geschwindigkeiten tendenziell einen größeren zur Erfüllung der primären und sekundären Fahr-
als den notwendigen Sicherheitsabstand lassen, bei aufgaben stellt für den Fahrer gewöhnlich kein Pro-
höheren Geschwindigkeiten diesen allerdings un- blem dar. Die Regelung der Längs- und Querbewe-
11 terschreiten. gung läuft für den Fahrer auf der fertigkeitsbasierten
Auch akustische Informationen können zur Ebene ab, d. h. es handelt sich um automatische
12 Beurteilung der Entfernung anderer Fahrzeuge Prozesse, die kaum Aufmerksamkeit beanspruchen.
beitragen; allerdings kann es hier zu subjektiven Somit kann der Fahrer rasch und flexibel auf situ-
Fehleinschätzungen kommen, wenn beispielsweise ative Veränderungen reagieren. Ebenso verhält es
13 die Entfernung eines sehr leisen Lkw überschätzt, sich mit den sekundären Tätigkeiten, sofern diese
oder die eines sehr lauten Pkw unterschätzt wird. häufig vorkommen und vom Fahrer entsprechend
14 Die Antizipation kritischer Situationen wird gut geübt sind.
durch die Erfahrungen des Fahrers mit den je- Allerdings kann möglicherweise eine Über-
15 weiligen potenziell kritischen Situationen geprägt. forderung des Fahrers im Bereich der tertiären
Je nachdem welche Situationen der Fahrer bereits Fahraufgaben auftreten, insbesondere dann, wenn
erlebt und zum Inhalt seines Langzeitgedächtnis- Funktionen nur selten genutzt werden, komplexe
16 ses hinzugefügt hat, wird er eine kritische Situation Menüstrukturen für die Bedienung durchlaufen
auch anhand für diese Situation relevanter Merk- werden müssen oder der Fahrer mit selten auftre-
17 male als kritisch einstufen und entsprechend re- tenden Warnhinweisen konfrontiert wird.
agieren.
18 Entscheidungs- und Denkprozesse Bei der Erfüllung
der Navigations- sowie der Bahnführungsaufgabe Literatur
19 muss der Fahrer auf Basis von Entscheidungs- und
Denkprozessen die für die jeweilige Situation ge- [1] Abendroth, B.: Gestaltungspotentiale für ein PKW‐Ab-
standsregelsystem unter Berücksichtigung verschiedener
20 eignete Handlung auswählen. Unter der Voraus-
Fahrertypen. Ergonomia, Stuttgart (2001)
setzung, dass dem Menschen ausreichend Zeit für
Literatur
15 1
[2] Wickens, C.D.: Engeneering Psychology and Human Perfor- [22] Todosiev, E.P.: The Action Point Model of the Driver‐Vehicle‐
mance. HarperCollins Publishers Inc., New York (1992) System. Ph. D. Dissertation. Ohio State University (1963)
[3] Schlick, C., Bruder, R., Luczak, H.: Arbeitswissenschaft. [23] Green, M.: “How Long Does It Take to Stop?” Methodologi-
Springer, Berlin u. a. (2010) cal Analysis of Driver Perception‐Brake Times. Transporta-
[4] Rockwell, T.: Skills, Judgment and Information Acquisition tion Human Factors 2(3), 195–216 (2000)
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way Traffic Safety Research. John Wiley & Sons, New York
(1972)
[5] Cohen, A.S., Hirsig, R., et al.: The Role of Foveal Vision in the
Process of Information Input. In: Gale, A.G. (Hrsg.) Vision in
Vehicles – III. Elsevier, Amsterdam u.a. (1991)
[6] Färber, B.: Geteilte Aufmerksamkeit: Grundlagen und An-
wendung im motorisierten Straßenverkehr. TÜV Rheinland,
Köln (1987)
[7] Schmidtke, H.: Wachsamkeitsprobleme. In: Schmidtke, H.
(Hrsg.) Ergonomie. Hanser, München, Wien (1993)
[8] Galinsky, T., Warm, J., Dember, W., Weiler, E., Scerbo, M.: Sen-
sory Alternation and Vigilance Performance: The Role of
Pathway Inhibition. Human Factors 32(6), 717–728 (1990)
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and Symbols, and Other Distinctions in Human Perfor-
mance Models. IEE Transactions on Systems, Man, and
Cybernetics, SMC‐13 (1983) 3, 257–266
[10] Brown, I.D., Groeger, J.A.: Risk Perception and Decision
Taking during the Transition between Novice and Experi-
enced Driver Status. Ergonomics 31(4), 585–597 (1988)
[11] Wagenaar, W.A.: Risk Taking and Accident Causation. In: Ya-
tes, J.F. (Hrsg.) Risk‐Taking Behaviour. John Wiley & Sons,
Chichester (1992)
[12] Näätänen, R., Summala, H.: Road‐user behaviour and traffic
accidents. North‐Holland Publishing, Amsterdam, Oxford
(1976)
[13] Wilde, G.J.S.: The Theory of Risk Homeostasis: Implications
for Safety and Health. Risk Analysis 2, 209–225 (1982)
[14] von Klebelsberg, D.: Verkehrspsychologie. Springer, Berlin
u. a. (1982)
[15] Fuller, R.: A Conceptualization of Driving Behaviour as Th-
reat Avoidance. Ergonomics 27(11), 1139–1155 (1984)
[16] Bubb, H.: Fahrerassistenz primär ein Beitrag zum Komfort
oder für die Sicherheit? VDI‐Bericht, Bd. 1768. VDI, Düssel-
dorf, S. 257–268 (2003)
[17] Donges, E.: Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Führung
von Personenkraftwagen. Automobil‐Industrie (1982),
183–190
[18] Fastenmeier, W.: Die Verkehrssituation als Analyseeinheit
im Verkehrssystem. In: Fastenmeier, (Hrsg.) Autofahrer und
Verkehrssituation. Neue Wege zur Bewertung von Sicher-
heit und Zuverlässigkeit moderner Straßenverkehrssys-
teme. TÜV Rheinland, Köln (1995)
[19] Frieling, E., Graf Hoyos, C.: Fragebogen zur Arbeitsanalyse
– FAA. Huber, Bern u. a. (1978)
[20] Hacker, W., Iwanowa, A., Richter, P.: Tätigkeitsbewertungs-
system – TBS. Handanweisung. Psychodiagnostisches Zen-
trum, Berlin (1983)
[21] Färber, B.: Abstandswahrnehmung und Bremsverhalten
von Kraftfahrern im fließenden Verkehr. Zeitschrift für Ver-
kehrssicherheit 32(1), 9–13 (1986)
17 2
Fahrerverhaltensmodelle
Edmund Donges
Die aktive Teilnahme am Straßenverkehr als Fahrer bung unterschiedlicher Phasen des menschlichen
1 eines Kraftfahrzeugs ist eine komplexe Überwa- Lernverhaltens geeignet.
chungs- und Regelungsaufgabe, für deren Gelingen Die Führung von Kraftfahrzeugen im Straßen-
2 der Fahrer bei heutiger Rechtslage und heutigem verkehr gehört – im wahrsten Sinne des Wortes – zu
Stand der Technik voll verantwortlich ist. Um ihm den zielgerichteten sensumotorischen Tätigkeiten
für diese Aufgabenstellung die bestmöglichen Ar- des Menschen: Es gilt, das Fahrzeug mit seinen Pas-
3 beitsbedingungen zu verschaffen, muss die Aus- sagieren oder seinem Transportgut unter Nutzung
legung der technisch gestaltbaren Komponenten der verfügbaren sensorischen Informationen mit
4 des Straßenverkehrssystems die Anpassung an die Hilfe motorischer Eingriffe über die Betätigungsein-
besondere Leistungsfähigkeit des Menschen, aber richtungen des Fahrzeugs von einem Ausgangsort
5 auch an seine inhärenten Leistungsgrenzen zum zu einem Zielort zu bringen.
Ziel haben. Dies gilt in vollem Umfang auch für Komplexe Anforderungssituationen, die den
Fahrerassistenzsysteme. Menschen unvorbereitet treffen und ihm bisher
6 Um für eine derartige Anpassung geeignete untrainierte Handlungsweisen abverlangen, führen
Grundlagen zu schaffen, begann man in der den Menschen auf eine Ebene des „wissensbasierten
7 zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts [1] damit, Verhaltens“ (knowledge-based behaviour). Diese
Erkenntnisse über das Verhalten von Fahrern wäh- Verhaltensform ist im Kern dadurch gekennzeich-
rend der Fahraufgabe in Form von Fahrermodellen net, dass auf der Basis bereits vorhandenen oder
8 zusammenzufassen. Wegbereiter entsprechender noch zu erwerbenden Wissens in einem menta-
Forschungen im deutschsprachigen Raum war len Prozess verschiedene Handlungsalternativen
9 Fiala [2]. Fundierte Übersichten über derartige durchgespielt und auf ihre Brauchbarkeit für das
Ansätze sind beispielsweise in [3] und [4] zu angestrebte Ziel geprüft werden, bevor die best
10 finden. Im Folgenden werden zwei Ansätze aus eingeschätzte Alternative eventuell als Regel für
unterschiedlichen Disziplinen beschrieben, die in zukünftige Fälle gespeichert und über motorische
den letzten drei Jahrzehnten Beachtung gefunden Reaktionen umgesetzt wird.
11 und eine Reihe von Folgeentwicklungen angesto- Die nächste Ebene des „regelbasierten Verhal-
ßen haben. tens“ (rule-based behaviour) unterscheidet sich
12 dadurch von der zuvor beschriebenen, dass die zu-
gehörigen situativen Gegebenheiten bei früheren
2.1 Drei-Ebenen-Modell Gelegenheiten schon häufiger aufgetreten sind und
13 für zielgerichtete Tätigkeiten der betreffende Mensch bereits über ein Repertoire
des Menschen nach Rasmussen, von gespeicherten Verhaltensmustern (Regeln) ver-
14 1983 fügt, dessen nach subjektiver Erfahrung effektivste
Variante abgerufen wird.
15 Zunächst soll an dieser Stelle ein aus der Ingeni- Die dritte Ebene wird als „fertigkeitsbasier-
eurpsychologie stammendes qualitatives, sehr allge- tes Verhalten“ (skill-based behaviour) bezeichnet.
mein auf menschliche Arbeit anwendbares Modell Sie ist durch reflexartige Reiz-Reaktions-Mecha-
16 für zielgerichtete Tätigkeiten behandelt werden. Es nismen charakterisiert, die in einem mehr oder
wurde 1983 von Rasmussen vorgestellt [5]. Das Mo- weniger lang dauernden Lernprozess eintrainiert
17 dell unterscheidet drei Kategorien unterschiedlich werden und dann in einem selbsttätigen, nicht
starker kognitiver Inanspruchnahme des Menschen mehr bewusste Kontrolle erfordernden stetigen
im Arbeitsprozess, deren Spannweite sich von all- Fluss ablaufen. Derartige eingespielte Fertigkeiten
18 täglichen Routinesituationen über unerwartete sind die zeitlich effektivsten Formen menschlichen
Herausforderungen bis hin zu seltenen kritischen Verhaltens. Sie sind typisch für routinemäßig wie-
19 Störfällen erstreckt. Diese Drei-Ebenen-Struktur ist derkehrende Handlungsabläufe, und sie lassen im
in . Abb. 2.1 links dargestellt. Zunächst für erfahre- Allgemeinen sogar einen gewissen Spielraum für
20 nes Personal im ausgelernten Zustand konzipiert, nicht unbedingt aufgabenbezogene Nebenbeschäf-
erwies es sich in der Folge auch als für die Beschrei- tigungen.
2.2 • Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe nach Donges, 1982
19 2
Transportaufgabe
Koordinator
Wissensbasiertes Verhalten Fahrer Umwelt
Entschei-
Identifikation dungs- Planung Navigation Straßennetz
findung
Gewählte
Fahrtroute,
KoordinatorRegelbasiertes Verhalten zeitlicher Ablauf
Repertoire
Erkennung Assoziative Führung
von Verhal- Fahrraum
Zuordnung
tensregeln (Straße und
Verkehr)
Gewählte Führungs-
größen: Sollspur,
Koordinator Sollgeschwindigkeit Koordinator
Fertigkeitsbasiertes Verhalten Fahrzeug
Herausfiltern Reiz-
Reaktions- Stabilisierung Längs- und Fahrbahn-
von
Merkmalen Automatismen Querdynamik oberfläche
.. Abb. 2.1 Drei-Ebenen-Modell für zielgerichtete Tätigkeiten des Menschen nach Rasmussen und Drei-Ebenen-Hierarchie der
Fahraufgabe nach Donges
Für diese beiden Ebenen der Fahraufgabe hat benhierarchie bringt der Mensch die hervorragende
1 sich die Abbildung in Form kontinuierlicher quan- Fähigkeit der vorausschauenden (antizipatorischen)
titativer Modelle auf regelungstechnischer bzw. sys- Wahrnehmung des Verkehrsraums mit, die ihn –
2 temtheoretischer Basis bewährt. Ein Beispiel hierfür wie in [10] experimentell nachgewiesen wurde – in
folgt im nächsten Abschnitt. die Lage versetzt, auch antizipatorisch zu handeln
Inwieweit sich die Teilaufgaben Führung und und damit systemimmanente Verzögerungszeiten
3 Stabilisierung in den unterschiedlichen Verhaltens- zu kompensieren.
kategorien aus [5] abspielen, hängt entscheidend In der Stabilisierungsebene bilden der Fahrer
4 von der individuellen Erfahrung des betreffenden als Regler und das Fahrzeug als Regelstrecke das
Fahrers und von der bereits erlebten Häufigkeit der bekannte, eng miteinander gekoppelte dynamische
5 jeweiligen Verkehrssituation ab. Ein Fahrerneuling System, dessen Stabilisierungsfunktion vom erfah-
wird seine Fahraktivität anfänglich sehr stark auf renen Fahrer auf der Ebene des fertigkeitsbasierten
der Ebene des wissensbasierten Verhaltens ausüben Verhaltens abgearbeitet wird.
6 und erst nach und nach mit wachsender Routine ein In . Abb. 2.1 sind die vorangehenden Überle-
Repertoire für Verhaltensregeln und die Fähigkeit gungen andeutungsweise durch die Dicke der grau
7 unbewusst ablaufender Fertigkeiten entwickeln. unterlegten Verbindungspfeile zwischen den drei
Sobald sich die entsprechende Erfahrung he- Ebenen der beiden Modellansätze dargestellt.
rausgebildet hat, wird die Teilnahme am Straßen- Die Aussagekraft der Kombination der beiden
8 verkehr zur alltäglichen Routine, die sich praktisch Modellansätze in . Abb. 2.1 geht deutlich über inge-
vollständig auf der Ebene des fertigkeitsbasierten nieurmäßige Ansätze zur Anpassung von Fahrzeug-
9 Verhaltens abwickeln lässt. Ein Eindruck über die und Verkehrstechnik an die Bedürfnisse des Men-
Dauer dieses Lernvorgangs lässt sich aus der Unfall- schen hinaus. Beispielsweise befruchten sie aktuell
10 beteiligung von Fahranfängern ableiten: Demnach in der Verkehrspsychologie die Entwicklung neuer
vergehen etwa 7 Jahre bzw. 100 000 km Fahrleistung Methoden für die Fahrschulausbildung [11, 12].
[7, 8], bis ein Fahrer den ausgelernten Zustand er-
11 reicht hat.
Erst das unerwartete Eintreten kritischer Bedin- 2.3 Beispiel
12 gungen zwingt den Fahrer aus dem störungsfreien, eines regelungstechnischen
subkortikal abarbeitbaren Verkehrsgeschehen Modellansatzes
heraus in die anspruchsvolleren Ebenen des re- für die Führungs-
13 gel- oder sogar wissensbasierten Verhaltens hinein. und Stabilisierungsebene
Die Ebene des wissensbasierten Verhaltens ist im der Fahraufgabe
14 Straßenverkehr immer dann als kritisch und unfall-
trächtig einzustufen, wenn die Fahrgeschwindigkeit Zur Nachbildung des Fahrerverhaltens im dynami-
15 und der Abstand zur Gefahrenstelle für das men- schen Kernprozess der Fahrzeugführung werden
tale Durchspielen von Handlungsalternativen nicht vor allem regelungstechnische Modelle entwickelt,
mehr genügend Zeit lassen. Entsprechend wird in z. B. [1, 2, 13, 14]. Das besondere Leistungsvermö-
16 [9] gefordert: „Im Straßenverkehr ist der Bedarf für gen dieses Ansatzes ermöglicht, ohne Kenntnis der
bewusstes Handeln zu minimieren!“ inneren Struktur der menschlichen Informations-
17 Wie die vorangehenden Überlegungen zeigen, aufnahme, -verarbeitung und -ausgabe kausale Zu-
kommt der Führungsebene der Fahraufgabe im sammenhänge zwischen den Eingangs- und Aus-
Hinblick auf die Sicherheit des Fahrtablaufs eine gangsgrößen des Menschen zu identifizieren. Eine
18 enorme Bedeutung zu, weil sich in ihr entscheidet, derart vereinfachende Beschreibung ist von vornhe-
ob die vom Fahrer ausgewählten Führungsgrößen rein mit der Einschränkung verbunden, dass sie nur
19 im objektiv sicheren oder unsicheren Bereich lie- die mit diesen Größen beobachtbaren Phänomene
gen, und ob der Fahrer aus den sensorischen Ein- erfassen kann und somit zwangsläufig unvollständig
20 gangsinformationen rechtzeitig die notwendigen ist. Sie hat dennoch wichtige, vor allem quantitative
Schlüsse ableiten kann. Für diese Ebene der Aufga- Erkenntnisse hervorgebracht, die das menschliche
2.3 • Beispiel eines regelungstechnischen Modellansatzes
21 2
KoordinatorAntizipatorische Steuerung
Führungs-
Sollkrümmung
ebene TA
Koordinator +
Restgrösse + Lenk-
winkel
+
Kompensatorische Regelung
+ h1
0
τ
-
+
Stabilisierungs- + h2
0 +
τ
ebene -
+
h3
0 +
τ
-
Querabweichung
Gierwinkelfehler
Krümmungsdifferenz
Übertragungsverhalten in den Dimensionen von nen Führung und Stabilisierung der Fahraufgabe in
Amplitude und Zeit beschreiben und klare Hin- zwei Teilmodelle: Die Führungsebene wird in Form
weise auf die Adaptationsfähigkeit des Menschen, einer „Antizipatorischen Steuerung“ (open loop
aber auch seine Leistungsgrenzen liefern. control) und die Stabilisierungsebene als „Kom-
Der früheste Ansatz eines Fahrermodells pensatorische Regelung“ (closed loop control) ab-
stammt aus Japan [1] (zitiert nach [3]) und be- gebildet, . Abb. 2.2. Daneben gibt es einen Beitrag
schreibt das Lenkverhalten bei Seitenwindstö- „Restgröße“, der die von den beiden Teilmodellen
rungen. Er beinhaltet bereits ein Prinzip zur nicht reproduzierten Anteile der Fahrerreaktion
Nachbildung der menschlichen Fähigkeit zur vor beinhaltet.
ausschauenden Wahrnehmung des Fahrraums in Dieses Fahrermodell beschreibt zunächst nur
Form einer Vorausschaulänge (preview distance). In den querdynamischen Anteil der Fahraufgabe, ist
Höhe dieser Vorausschaulänge versucht der Fahrer jedoch in seiner Grundstruktur auch für die Nach-
die Querabweichung zwischen Sollkurs und Fahr- bildung der Längsdynamik geeignet. Die experimen-
zeuglängsachse zu kompensieren. Im deutschspra- telle Datenbasis für dieses Modell stammt aus Simu-
chigen Raum wurde später für diesen Ansatz der latorversuchen auf einem kurvenreichen Rundkurs
Begriff „Deichselmodell“ gebräuchlich. ohne sonstigen Verkehr. Es umgeht die Ableitung
Im Unterschied dazu separiert das Fahrermo- einer Solltrajektorie und einer Sollgeschwindigkeit,
dell in [10] (Kurzfassung in [15]) die beiden Ebe- indem es die Testfahrer in der Versuchsanweisung
22 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle
Navigation
Führung
Stabilisierung
optische Wahrnehmung der Straßengeometrie und können deshalb nur durch technische Regelsysteme
der Verkehrssituation mit der Ableitung der Füh- dargestellt werden, wie dies z. B. im ABS, ASR und
rungsgrößen und der antizipatorischen Einleitung ESP realisiert ist. Reaktionszeiten auf unerwartete
von Stelleingriffen ein. Geschwindigkeitskorrekturen Ereignisse liegen im Bereich von etwa 2 bis 3 s, je
durch Lastwechsel oder Bremsbetätigung haben übli- nach Komplexität der Situation möglicherweise
cherweise einen größeren Vorlauf als Lenkaktionen. deutlich darüber. Wie wichtig frühzeitige Aktionen/
Wenn typische Antizipationszeiten für Stelleingriffe Reaktionen des Fahrers für die Unfallvermeidung
am Lenkrad im Bereich von 1 s liegen, muss die sind, schätzt Enke ab [19]: Etwa die Hälfte aller
Wahrnehmung der entsprechenden Gegebenheiten Kollisionsunfälle könnte durch Vorverlegung der
bereits deutlich früher beginnen, insbesondere bei Fahrerreaktion um eine halbe Sekunde vermieden
unerwarteten Ereignissen. D. h.: Informationssys- werden. Eine Beschleunigung der Fahrerreaktion
teme oder Warnsysteme, die eine kognitive Verar- um einen Zeitvorhalt in dieser Größenordnung
beitung erfordern, sollten eine Antizipationszeit scheint nur durch eine Stärkung von antizipatori-
von 2 bis 3 s möglichst überschreiten. Einer Arbeit schen Reaktionen erreichbar, also auf der Führungs-
neueren Datums entsprechend müssen beispiels- ebene der Fahraufgabe.
weise Warnsignale für Spurwechselentscheidungen
spätestens 2 Sekunden zuvor gegeben werden [18].
Wenn dies nicht realisierbar ist (z. B. aufgrund der 2.5 Neuer Ansatz
begrenzten Reichweite von Umfeldsensoren), kann zur Quantifizierung
nur eine spontan angeregte Reaktion durch eine intu- von fertigkeits-, regel-
itiv wirkende Handlungsempfehlung, beispielsweise und wissensbasiertem
in Form einer haptischen Anzeige wie beim Aktiven Verhalten im Straßenverkehr
Fahrpedal oder Lenkrad, helfen.
Typische Stelleingriffe zur Kompensation von Die Drei-Ebenen-Hierarchie des menschlichen Reak-
Regelabweichungen auf der Stabilisierungsebene tionsverhaltens von Rasmussen, wie in Abschnitt 2.1
erfolgen wie beschrieben mit einer Nacheilung von beschrieben, ist zunächst ein qualitatives Modell. In
einigen 100 ms, wobei Fahrertotzeiten im geschlos- [20] wird ein neuer, zugegebenermaßen gewagter
senen Regelkreis als Kennzahl für fertigkeitsbasier- Ansatz zur Annäherung an eine Quantifizierung
tes Handeln eher eine Untergrenze darstellen. Takt- der Begriffe fertigkeits-, regel- und wissensbasiertes
zeiten im ms-Bereich (schwarze Zone in . Abb. 2.3) Verhalten im Straßenverkehr eingeführt. Angeregt
24 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle
1
2
0
ax [m/s2]
3
-1
4 -2
5 -3
-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5
6 ay [m/s2]
7 wurde dieser Vorschlag durch die messtechnische der Verkehrskompetenz des betreffenden Fahrers
Erfassung von Fahrverhaltenskollektiven, die bisher ermitteln.
in der deutschsprachigen Fachliteratur eher selten
8 dokumentiert worden sind [21, 22, 23]. Dieses Bild soll dazu dienen, in einem pragmati-
9
10
Zur Erläuterung dieses Ansatzes soll als Beispiel
. Abb. 2.4 aus [23] dienen.
Dieses Diagramm zeigt den Bereich von Quer-
und Längsbeschleunigungen, die zwölf Fahrer vom
-
schen Ansatz zu definieren:
Der fertigkeitsbasierte Bereich umfasst die
80-Perzentil-Einhüllende des Längs- und
Querbeschleunigungskollektivs eines individu-
Fahrertyp „normal“ während jeweils ca. zweiein-
halbstündiger Fahrten im öffentlichen Verkehr auf
- ellen Fahrers,
der regelbasierte Bereich reicht bis zum 95.
-
11 einer Versuchsstrecke mit kurvigen Landstraßen Perzentil, und
und Autobahnen genutzt haben. Die einhüllende Li- die darüber hinausgehenden Fahrzustände als
12 nie stellt dabei eine 85-Perzentil-Linie dar, d. h. alle seltene Ereignisse sind vor allem dem wissens-
Fahrer bleiben in 85 % der Fahrzeit unterhalb die- basierten Bereich zuzuordnen.
ser Hüllkurve. Die Hüllkurve selbst weist eine etwas
13 ausgerundete Kreuzform auf. Dies besagt, dass das (Die Zahlenwerte 80. und 95. Perzentil, die nicht im
untersuchte Fahrerkollektiv nur bedingt in der Lage Bild gezeigt werden, sind als willkürlich gewählte
14 ist, kombinierte Lenk-Brems- oder Lenk-Beschleu- Anhaltswerte zu verstehen, die gegebenenfalls expe-
nigungsmanöver auszuführen, sondern bevorzugt rimentell genauer abzusichern sind.)
15 entweder lenkt oder bremst oder beschleunigt. Für unterschiedliche Fahrertypen wird der je-
Diese Beobachtung wird durch andere Messergeb- weils individuelle Erfahrungshorizont vom eher
nisse von Fahrverhaltenskollektiven erhärtet. kleinen Umfang beim zurückhaltenden, vorsich-
16 Man stelle sich nun vor, dass in analoger Weise tigen Fahrer bis zum sehr ausgedehnten Fahrver-
die Häufigkeitsverteilung und die Hüllkurve des haltensrepertoire beim sportlich ambitionierten,
17 Verhaltenskollektivs für einen individuellen Fahrer dynamischen Fahrer reichen, . Abb. 2.5. Auch
registriert werden, und zwar nicht nur für Längs- intraindividuell kann der Fahrstil des Fahrers je
und Querbeschleunigung, sondern auch für andere nach Gemütslage in einer Spannweite von defen-
18 relevante, das Fahrerverhalten charakterisierende siv (innerhalb der 80-Perzentil-Einhüllenden) über
Messgrößen, wie z. B. inverser Abstand und Dif- offensiv (innerhalb der 95-Perzentil-Einhüllenden)
19 ferenzgeschwindigkeit gegenüber einem voraus- bis hin zu aggressiv (die 95-Perzentil-Einhüllende
fahrenden Fahrzeug. Auf diese Weise lässt sich überschreitend) variieren.
20 ein mehr oder weniger umfangreiches Abbild des Die bisher bekannten Messungen zeigen durch-
personalisierten Erfahrungshorizonts und somit gängig, dass auf trockener Fahrbahn die entspre-
2.6 • Literatur
25 2
2.6 Folgerungen
für Fahrerassistenzsysteme
Trockene Fahrbahn
Die Anwendung des Drei-Ebenen-Modells von Ras-
mussen und der oben beschriebene Versuch seiner
Dynamischer Quantifizierung fördern zwei wesentliche Erkennt-
-
Fahrer
nisse zutage:
Fahrerassistenzsysteme sollten mithelfen, eine
Sicherheitsreserve einerseits gegenüber der
Vorsichtiger Kraftschlussgrenze, andererseits aber insbe-
Schnee/Eis Fahrer sondere gegenüber dem Erfahrungshorizont
[2] Fiala, E.: Lenken von Kraftfahrzeugen als kybernetische echte Verbesserungen? 2. Tagung „Aktive Sicherheit durch
1 Aufgabe. Automobiltechnische Zeitschrift 68, 156–162 Fahrerassistenz“, TU München, Garching bei München,
(1966) 4.–5. April 2006. (2006)
[3] Jürgensohn, T.: Hybride Fahrermodelle. Pro Universitate [21] Burckhardt, M.: Fahrer, Fahrzeug, Verkehrsfluß und Ver-
2 Verlag, Sinzheim (1997) kehrssicherheit – Folgerungen aus den Bewegungsgeset-
[4] Johannsen, G.: Fahrzeugführung und Assistenzsysteme. In: zen für Fahrzeug, Straße und Fahrer. In: Interfakultative
Zimolong, B., Konradt, U. (Hrsg.) Ingenieurpsychologie, Bd. Zusammenarbeit bei der Aufklärung von Verkehrsunfällen,
3 2, Hogrefe, Göttingen (2006) Bd. XXX, AFO, Köln (1977)
[5] Rasmussen, J.: Skills, Rules and Knowledge; Signals, Signs [22] Hackenberg, U., Heißing, B.: Die fahrdynamischen Leis-
and Symbols and other Distinctions in Human Perfor- tungen des Fahrer‐Fahrzeug‐Systems im Straßenverkehr.
4 mance Models. IEEE Trans. on Systems, Man and Cyberne- Automobiltechnische Zeitschrift 84, 341–345 (1982)
tics, Vol. SMC 13(3), 257–266 (1983) [23] Wegscheider, M.; Prokop, G.: Modellbasierte Komfortbe-
5 [6] Donges, E.: Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Füh-
rung von Personenkraftwagen. Automobil‐Industrie 27,
wertung von Fahrer‐Assistenzsystemen. VDI‐Ber. Nr. 1900,
17–36 (2005)
183–190 (1982)
Der Begriff der Fahrerassistenzsysteme im Sinn henden Unterscheidungen können für das techni-
1 der Kapitelbezeichnung wie auch des vorliegenden sche Systemverständnis wie auch für die rechtliche
Handbuches insgesamt soll hier die Fahrzeugau- Bewertung im Einzelfall von Bedeutung sein, [3] sie
2 tomatisierung mit erfassen. Für ein einheitliches richten den Blick aber bereits auf weitere oder an-
Verständnis wird im vorliegenden Kapitel zu- dere Elemente als die Fahrzeugsteuerung. Hier soll
nächst eine Kategorisierung von Systemen un- vorgeschlagen werden, für ein umfassendes Ver-
3 ter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf die ständnis von Fahrerassistenzsystemen und Fahr-
Fahrzeugführung vorgeschlagen. Die von der zeugautomatisierung die Aufgabenteilung zwischen
4 BASt-Projektgruppe „Rechtsfolgen zunehmen- Mensch und Maschine bei der Fahrzeugführung als
der Fahrzeugautomatisierung“ [1] entwickelte einzigen, zentralen Gesichtspunkt in den Fokus zu
5 Nomenklatur von Automatisierungsgraden wird nehmen.
darunter eingeordnet und dargestellt. Auf dieser Unter dem Aspekt der Fahrzeugführung lässt
Basis werden im Anschluss wichtige rechtliche sich die unterschiedliche Wirkweise von Systemen
6 Rahmenbedingungen, vor allem das Verhaltens- nämlich in einer für die rechtliche Kategorisierung
recht und das Haftungsrecht nach deutschem relevanten Hinsicht beschreiben und unterschei-
7 Recht dargestellt und die Bedeutung für die un- den:
terschiedlichen Kategorien erläutert. In einem
weiteren Abschnitt wird ein Überblick über den Kategorie A: Informierende Funktionen
8 aktuellen Stand der Gesetzgebung in bestimmten Informierende Funktionen wirken „mittelbar“,
Bundesstaaten der USA (Stand: Anfang 2014) nämlich über den Fahrer auf die Fahrzeugführung
9 gegeben, der zumeist den Einsatz von automati- ein und nehmen regelmäßig die gleichen Aufgaben
sierten Fahrzeugen mindestens zu Forschungs-, bei der Informationsaufnahme im Rahmen der
10 Entwicklungs- und Erprobungszwecken erlaubt. Fahrzeugführung wahr, die auch der Fahrer wahr-
Das vorliegende Kapitel wendet sich sodann den nehmen kann. Die Information wird dem Fahrer
übergreifenden Rahmenbedingungen des Ver- über die sog. Mensch-Maschine-Schnittstelle ver-
11 braucherschutzes in Europa zu. Das im Rahmen fügbar gemacht.
von Euro NCAP geschaffene Bewertungssystem
12 berücksichtigt zunehmend auch Fahrerassistenz- Kategorie B: Kontinuierlich wirkende automatisie-
systeme bei der Bewertung von Fahrzeugsicher- rende Funktionen
heit und entwickelt die Anforderungen beständig Kontinuierlich wirkende automatisierende Funk-
13 weiter. tionen lassen sich als unmittelbar eingreifend cha-
rakterisieren: Sie nehmen über längere Zeiträume
14 bzw. Fahrtabschnitte unmittelbaren Einfluss auf die
3.1 Kategorisierung Fahrzeugsteuerung; in ihrer Ausprägung als Assis-
und Nomenklatur der Systeme
15 tenz werden sie als „redundant-parallele“ Form der
Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine
Bereits von der Wortbedeutung ausgehend ist bei beschrieben [4]. Sowohl der Status des Systems
16 einem „Fahrerassistenzsystem“ auf das Zusammen- als auch Eingriffe in die Fahrzeugführung werden
wirken des Systems mit dem menschlichen Fahrer regelmäßig zugleich über eine Mensch-Maschi-
17 zu schließen. Allgemeingültiger und spezifischer ne-Schnittstelle als Information bereitgestellt, um
ist es, grundlegend auf verschiedene Formen der das arbeitsteilige Zusammenwirken von Mensch
Arbeitsteilung zwischen Mensch und Automatik und Maschine zu verbessern. Die Fahrzeugsteue-
18 abzustellen, vgl. [2]. Weitergehend wird häufig rung und jede Veränderung in der Fahrzeugsteu-
etwa die Abgrenzung von „autonomer Assistenz“ erung ist für den Fahrer aber zugleich unmittelbar
19 gegenüber der „Telematik“ beschrieben [3] oder es wahrnehmbar, teilweise über eine Rückkoppelung
erfolgt eine weitere Unterscheidung von konventi- der Bedienelemente (bspw. am Lenkrad), regelmä-
20 onellen Fahrerassistenzsystemen und solchen mit ßig aber zugleich durch die für den Fahrer spürbare
maschineller Wahrnehmung [4]. Solche weiterge- Fahrdynamik.
3.1 • Kategorisierung und Nomenklatur der Systeme
29 3
.. Abb. 3.2 Vereinfachte
1 bast Nomenklatur kontinuier-
licher Fahrzeugautomati-
Vereinfachte Nomenklatur der BASt-Projektgruppe: sierung der BASt-Projekt-
2 • Vollautomatisierung: System übernimmt Quer- und
gruppe
Längsführung vollständig und dauerhaft, bei Ausbleiben
Automatisierungsgrad
3 der Fahrerübernahme wird das System selbsttätig in den
risikominimalen Zustand zurückkehren.
• Hochautomatisierung: System übernimmt Längs- und
4 Querführung, der Fahrer muss nicht mehr dauerhaft
überwachen. Der Fahrer muss die Steuerung erst nach
Aufforderung mit gewisser Zeitreserve übernehmen.
5 • Teilautomatisierung: System übernimmt Quer- und
Längsführung, der Fahrer muss weiterhin dauernd
6 überwachen und die Steuerung ggf. jederzeit übernehmen.
• Assistenz: Fahrer führt dauerhaft entweder die Quer-
oder die Längsführung aus. Die andere Fahraufgabe wird
7 in Grenzen vom System ausgeführt.
• Driver only: Fahrer führt Quer- und Längsführung aus.
8
9 Kategorie B der kontinuierlich automatisierenden Stufe 0 In dieser untersten Stufe des „driver only“
Systeme unterzogen. Im Rahmen und zum Zweck fehlt jedwede Automatisierung – hier steuert alleine
10 der Durchführung einer BASt-Projektgruppe der Fahrer die Längs- und Querführung des Fahr-
„Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisie- zeugs.
rung“ [1] wurden vier verschiedene Automatisie-
11 rungsgrade (zuzüglich Stufe „0“ bei Abwesenheit Stufe 1 Unter Fahrerassistenz als niedrigstem Auto-
von Automatisierung) beschrieben. Diese Eintei- matisierungsgrad werden Systeme verstanden, die
12 lung betrifft ausschließlich die zuvor dargestellte kontinuierlich eine Fahraufgabe automatisieren.
Kategorie B der kontinuierlich wirkenden automa- Der Fahrer führt dabei entweder die Längs- oder
tisierten Systeme. Die Darstellung, . Abb. 3.2, gibt Querführung des Fahrzeugs selbst aus, während die
13 die in der Projektgruppe gemeinsam entwickelte jeweils andere Fahraufgabe in Grenzen automati-
Nomenklatur vereinfacht wieder. siert wird.
14 Der kontinuierliche Anstieg des Automati-
sierungsgrades wurde im Rahmen der BASt-Pro- Stufe 2 Der niedrigste der drei ausdrücklich schon
15 jektgruppe unter Berücksichtigung der jeweils nach der Nomenklatur als „Automatisierung“
eintretenden Veränderung in der Fahraufgabe bezeichneten Automatisierungsgrade ist die Tei-
des Fahrers beschrieben. Die Klassifizierung er- lautomatisierung, wobei das System sowohl die
16 folgte damit zugleich unter dem Gesichtspunkt Längs- als auch die Querführung des Fahrzeugs für
der Aufgabenteilung zwischen Fahrer und System bestimmte Zeiträume oder Situationen übernimmt.
17 bei der Fahrzeugsteuerung und legt damit das be- Dem Fahrer kommt die Aufgabe zu, den umgeben-
reits zur Einteilung in die vorgeschlagenen drei den Verkehr und sein Fahrzeug unverändert und
(übergeordneten) Automatisierungskategorien fortlaufend weiter zu überwachen, um jederzeit
18 angewandte Verständnis nachfolgend zugrunde. zur sofortigen Übernahme der Fahrzeugsteuerung
Dieses wird für die kontinuierlich wirkenden au- – bspw. in Form korrigierender Eingriffe oder voll-
19 tomatisierenden Systeme in verschiedenen Stufen ständiger Übernahme – bereit zu sein. Die höchste
oder Level wie nachfolgend dargestellt weiter un- Ausbaustufe einer Teilautomatisierung fordert vom
20 terschieden: Fahrer daher keinerlei aktive Fahrzeugsteuerung
mehr, sondern nur Beobachtung, mentale Kontrolle
3.2 • Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
31 3
und unmittelbare bedarfsabhängige Korrektur bzw. besondere das von der amerikanischen „National
Übernahme der Fahrzeugsteuerung an den System- Highway Safety Administration“ (NHTSA) veröf-
grenzen sowie im Fehlerfall. fentlichte „Preliminary Statement of Policy Con-
cerning Automated Vehicles“ [5] sowie der von der
Stufe 3 Im Fall des höheren Automatisierungsgrades SAE-International durch das „On-Road Automated
der Hochautomatisierung muss der Fahrer erstmals Vehicle Standards Committee“ (einem Normie-
auch den umgebenden Verkehr und sein Fahrzeug rungsgremium) im Januar 2014 veröffentlichte Stan-
nicht mehr fortlaufend beobachten, sondern braucht dard J3016 „Taxonomy and Definitions for Terms
erst im Falle einer Übernahmeaufforderung durch Related to On-Road Motor Vehicle Automated Dri-
das System zur Übernahme der Fahrzeugsteuerung ving Systems“ [6]. Die Abstufung der Automatisie-
nach einer noch zu bestimmenden, relativ kurzen rungsgrade in die genannten Stufen bzw. Level wird
Vorlaufzeit bereit sein. Systemgrenzen werden in darin verwendet, jedoch ist einschränkend darauf
Stufe 3 alle vom System erkannt, jedoch ist die- hinzuweisen, dass die Begriffsverwendung in den
ses nicht in der Lage, aus jeder Ausgangssituation Stufen bzw. Level 3 und 4 abweicht und eine fünfte
selbsttätig in den risikominimalen Zustand zurück- Stufe (bzw. Level) beschrieben wird. Zur Orientie-
zukehren. Insoweit ist die Rückübernahme der Fahr- rung auf internationaler Ebene wird deshalb emp-
zeugsteuerung durch den Fahrer erforderlich. Dem fohlen, die zuvor beschriebene Nummerierung der
Fahrer ist es jederzeit möglich, die Fahrzeugsteue- Stufen besonders zu berücksichtigen, da diese im
rung unmittelbar wieder selbst zu übernehmen. Unterschied zu der Begriffsverwendung deckungs-
gleich ist und Missverständnisse vermeidet.
Stufe 4 Die Vollautomatisierung stellt den letzten
durch die BASt-Projektgruppe beschriebenen Auto-
matisierungsgrad dar: Auch bei diesem Automati- 3.2 Rechtliche
sierungsgrad muss der Fahrer die Ausführung der Rahmenbedingungen
Fahraufgabe nicht mehr überwachen. Charakteris- und Bewertung
tisch ist hier, dass im Unterschied zur Hochautoma-
tisierung auch bei Ausbleiben der Fahrerübernahme Hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingun-
das System aus jeder Ausgangssituation heraus in der gen hat sich bislang vor allem die BASt-Projekt-
Lage ist, selbsttätig wieder in den risikominimalen gruppe „Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugau-
Zustand zurückzukehren. Auch im Fall der Vollauto- tomatisierung“ [1] mit Systemen der Kategorie B in
matisierung ist dem Fahrer die Übernahme der Fahr- rechtlicher Hinsicht nach deutschem Recht ausei-
zeugsteuerung unmittelbar und jederzeit möglich. nandergesetzt und einige wichtige rechtliche Kon-
sequenzen aufgezeigt, ohne damit einen Anspruch
Nach oben – hinsichtlich eines nochmals höheren auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Darin wurde
Automatisierungsgrades – wurde die Nomenkla- zugleich auf Systeme der eingreifenden Notfallassis-
tur zum Zeitpunkt ihrer Erstellung bewusst offen tenz eingegangen – jedoch teilweise in Widerspruch
gelassen. Hintergrund war das Ziel, nur Automati- zu dem hier vorgeschlagenen Verständnis, wonach
sierungsgrade zu beschreiben, die in der beschrie- diese Systeme der Kategorie C zuzuordnen sind.
benen Ausprägung noch realistisch abzusehen sind. Nachfolgend wird der Versuch einer umfassenden
Der andauernden Diskussion ist zu entnehmen, Beschreibung des aktuellen Wissenstandes über alle
dass voraussichtlich in einer weiteren Stufe (dann: Kategorien unternommen; die rechtliche Bewertung
Stufe 5) ein nochmals höherer Grad an technischer erfolgt dabei unter Konzentration auf Aspekte des
Eigenständigkeit anzunehmen ist, der auch in Abwe- Verhaltens- und Haftungsrechts. Auf die Darstel-
senheit eines Fahrers zum Ausdruck kommen kann. lung weiterer Aspekte wird aufgrund der hier gebo-
Es ist weiterhin festzustellen, dass die interna- tenen Kürze und Übersichtlichkeit der Darstellung
tionale Entwicklung im Bereich der Klassifizierung weitgehend verzichtet; so wird bspw. nicht auf As-
ein gemeinsames Verständnis derzeit im Großen pekte des Strafrechts, des Grundgesetzes etc. ein-
und Ganzen erwarten lässt. Zu nennen sind ins- gegangen.
32 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
Das hier behandelte Verhaltensrecht umfasst Verkehrseinrichtungen) den Weg in das Fahrzeug
1 Vorschriften, die ein menschliches Verhalten (der findet. In rechtlicher Hinsicht kann eine solche Ver-
Verkehrsteilnehmer) anordnen. Verhaltensrechtli- netzung des Fahrzeugs den Kreis der haftungsrecht-
2 che Vorschriften im Bereich des Straßenverkehrs lich Verantwortlichen potenziell erweitern. Auch
bestimmen das verkehrsgerechte Verhalten auch dann behält das nachfolgend beschriebene Wirk-
von Fahrern; Haftungsrecht wird hier im weiteren prinzip informierender Systeme aber Gültigkeit.
3 Sinn verstanden als die Pflicht zum Schadensersatz
aufgrund verschiedener Tatbestände. Nachfolgend 3.2.1.1 Verhaltensrechtliche
4 werden vor allem Tatbestände der Schadenser- Betrachtung
satzpflicht im Straßenverkehr und speziell im Fall Verhaltensrechtliche Gesichtspunkte sind für infor-
5 von Produktfehlern betrachtet: Dieser Fokus auf mierende Systeme von vergleichsweise untergeord-
das Verhaltens- und Haftungsrecht erscheint sinn- neter Bedeutung; da die bereitgestellte Information
voll, da Fahrerassistenzsysteme im hier zugrunde für eine kausale Wirkung auf den Geschehensablauf
6 gelegten weiteren Sinn mit unterschiedlicher Ar- stets ein Eingreifen des Fahrers erfordert, entspricht
beitsteilung indirekt oder direkt auf den Regelkreis dies uneingeschränkt dem Leitgedanken der Stra-
7 des Fahrer-Fahrzeugs einwirken. Die auf die Fahr- ßenverkehrsordnung. Dieser besagt, dass die zent-
zeugsteuerung bezogenen Vorschriften sind von rale Rolle der Fahrzeugsteuerung beim Fahrer liegt,
besonderem Interesse, weil sich in einigen Fällen der in dieser Aufgabe durch die Information, die das
8 grundlegende Veränderungen und Widersprüche System bereitstellt, unterstützt wird. Dem Fahrer
– abhängig von der Wirkweise des Systems – aus obliegt aber stets weiterhin die Entscheidung, ob er
9 rechtlicher Sicht aufzeigen lassen. überhaupt und in welcher Weise auf eine Informa-
tion oder Warnung reagiert.
10 3.2.1 Informierende Systeme
Unter dem Blickwinkel des Verhaltensrechts
sind die Ausgestaltung der sog. Mensch-Maschi-
(Kategorie A) ne-Schnittstelle des Systems sowie ihre Verwen-
11 dung durch den Fahrer von Bedeutung, womit
Für die rechtliche Würdigung ist zunächst die cha- ein Bezug zu Vorschriften der Straßenverkehrs-
12 rakteristische Funktionsweise informierender Sys- ordnung (StVO) besteht. So beschreibt etwa § 23
teme zu rekapitulieren: Wie dargelegt, wirken die Abs. 1 StVO die Pflicht der Fahrzeugführenden,
Systeme – da sie fahrerinformierend sind – aus- Sicht und Gehör unter anderem nicht durch „Ge-
13 schließlich mittelbar auf die Fahrzeugsteuerung räte“ zu beeinträchtigen. Die sich hieraus ergeben-
ein, indem sie den Fahrer informieren und warnen; den Anforderungen sind aber im Wesentlichen auf
14 dem Fahrer bleibt die geeignete Handlung überlas- Fälle beschränkt, die deutlich erkennbar nachteili-
sen. Ergänzend ist die Redundanz der Informations- gen Einfluss nehmen. Eine sichtbehindernde An-
15 bereitstellung zu berücksichtigen: Damit soll um- bringung von nachträglich in das Fahrzeug einge-
schrieben werden, inwieweit das System dem Fahrer brachten Systemen – wie sie beispielsweise im Fall
Informationen bereitstellt, die er ohne das System von mobilen Navigationsgeräten vorkommen kann
16 ebenso selbst hätte wahrnehmen können (was den – wird (im Rahmen des fallspezifischen Beurtei-
Regelfall darstellen wird) oder ob die Information lungsspielraums) in diesen Regelungsbereich fallen.
17 den Wahrnehmungshorizont des Fahrers in einem Grundsätzlich lässt die StVO nach aktuellem Stand
Bereich erweitert, der sich seiner unmittelbaren die Verwendung informierender Systeme in Eigen-
Wahrnehmung entzieht. verantwortung des Fahrers jedoch weitgehend zu –
18 Hier wird nicht darauf eingegangen, wo Infor- jedenfalls solange diese nicht dazu bestimmt sind,
mationen oder Warnungen erzeugt werden, ob sie Verkehrsüberwachungsmaßnahmen anzuzeigen
19 also fahrzeugautonom sind (bspw. auf fahrzeugeige- oder zu stören (§ 23 Abs. 1b StVO) oder die Geräte
ner Sensorik basieren) oder ob die Information über eine Telekommunikationsfunktion aufweisen und
20 eine Kommunikation mit anderen Einrichtungen diese zur Benutzung in der Hand gehalten werden
(in dritten Fahrzeugen oder in hierfür ausgerüsteten (§ 23 Abs. 1a StVO).
3.2 • Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
33 3
Hinsichtlich einer Ausgestaltung der Mensch- nicht unbemerkt geblieben sein kann, und keine
Maschine-Schnittstelle existieren Vorschriften nur Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Funktion
in Form einer rechtlich unverbindlichen EU-Emp- im Einzelfall gestört war.
fehlung, dem Europäischen Grundsatzkatalog zur
Mensch-Maschine-Schnittstelle (bzw. „European 3.2.1.2 Haftungsrechtliche
Statement of Principles“ (ESoP)) [7]. Die Empfeh- Betrachtung
lungen darin sind allgemein gehalten und lassen In haftungsrechtlicher Hinsicht ist die Mittelbarkeit
den Herstellern von informierenden Systemen die der Wirkung informierender und warnender Assis-
notwendigen Freiheiten bei der Gestaltung (i. S. tenzsysteme ebenso von zentraler Bedeutung wie
einer Berücksichtigung wirtschaftlich notwendiger schon für die verhaltensrechtlichen Aspekte. Haf-
Differenzierungsmerkmale gegenüber anderen Her- tungsrechtlich ist sowohl unter dem Gesichtspunkt
stellern). Die Empfehlungen formulieren abstrakt, der Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB als
welche Gestaltungsziele unter dem Gesichtspunkt auch nach dem Produkthaftungsgesetz zunächst ent-
der Verkehrssicherheit zu berücksichtigen sind. Wie scheidend, ob ein Produkt als fehlerhaft einzuordnen
im Grundsatzkatalog zur Mensch-Maschine-Schnitt- ist. Heranzuziehen ist dabei die (objektiv zu ermit-
stelle einleitend formuliert, handelt es sich um Min- telnde) Darbietung des Produkts, die die berechtigte
destanforderungen, die ergänzend der Berücksichti- produktbezogene Erwartung bestimmt (vgl. § 3 Abs. 1
gung von – dort zumeist zitierten – Normen sowie lit. a) Produkthaftungsgesetz). Hierzu gehört unter
der nationalen Gesetzgebung bedürfen. Zu den weni- anderem die Bedienungsanleitung, die das System be-
gen darin enthaltenen Gesichtspunkten, die eine ver- schreibt (ebenso wie Werbeaussagen etc.). Wird – wie
bindliche Regelung möglich erscheinen lassen, und regelmäßig zu erwarten – im Fall informierender und
den damit verbundenen Herausforderungen, vgl. [8]. warnender Systeme beschrieben, dass dem Fahrer die
Hinsichtlich der Bußgeldbewehrung einzelner Aufgabe zukommt, bei Systemausfall, im Fehlerfall
Vorschriften der StVO ist auf eine Besonderheit hin- etc. geeignet zu reagieren, ist sehr fraglich, inwieweit
zuweisen, die sich letztlich aus der Redundanz der ausbleibende und fehlerhafte Warnungen und Infor-
Informationsbereitstellung ergibt; beispielsweise bei mationen überhaupt einen produkthaftungsrechtlich
einer Geschwindigkeitsübertretung im Fall von in- relevanten Anspruch begründen können. Die Inst-
formierenden Systemen – wenngleich eher theore- ruktion bestimmt dann nämlich in hohem Maße,
tisch. Wird der Fahrer auf eine aktuelle Übertretung welche Sicherheitserwartungen berechtigt sind. Im
verhaltensrechtlicher Vorgaben (etwa der geltenden Fall von Redundanz durch parallele Informationsauf-
Höchstgeschwindigkeit) durch ein informierendes nahme durch Fahrer und Assistenzsystem ist nicht
System aufmerksam gemacht (zusätzlich zu der für erkennbar, weshalb es dem Fahrer nicht möglich sein
ihn bereits wahrnehmbaren oder gesetzlich vorge- sollte, aufgrund eigener Informationen Fehler des As-
schriebenen Anordnung), sprechen die Indizien sistenzsystems auszugleichen.
zunächst dafür, dass eine vorsätzliche Übertretung Dies ist jedenfalls im Fall redundant-parallel
vorliegt (jedenfalls, wenn die Übertretung nach wirkender Assistenzsysteme plausibel, also dann,
der Warnung fortdauert). Da die Bußgeldkatalog- wenn dem Fahrer nur Informationen bereitgestellt
verordnung (BKatV) in vielen Fällen von fahrlässi- werden, die er ebenso selbst wahrnehmen kann.
ger Begehungsweise ausgeht, wären die Regelsätze Anders könnten insoweit Systeme zu bewerten
gemäß § 1 BKatV i. V. m. der Anlage, Abschnitt I sein, die die Informationslage des Fahrers in Berei-
gemäß § 3 Abs. 4a BKatV wegen vorsätzlicher Be- chen erweitern, die sich im relevanten Zeitpunkt
gehungsweise grundsätzlich zu verdoppeln. Dies der Informationsaufnahme und Handlungsaus-
entspricht insoweit auch der Vorgabe aus § 17 Abs. 2 führung der Wahrnehmung entziehen. In diesem
des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG). Fall ist nicht mehr in gleicher Weise von redun-
Hierfür könnte ausreichen, dass die Existenz eines dant-paralleler Aufgabenausführung auszugehen,
solchen Systems im Fahrzeug bekannt ist, die Funk- vielmehr bekommt die Information oder Warnung
tion so ausgestaltet ist, dass die Information vom als Grundlage für eine Steuerungshandlung eine an-
gewöhnlichen Fahrer in einer solchen Situation dere Qualität. Die zuvor beschriebenen berechtigten
34 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
Bezug wird in nationalen Gesetzen bspw. in der fluss auf die Fahrzeugsteuerung nehmen. Insoweit
Anerkennung internationaler Führerscheine nach werden Aufgaben von technischen Systemen aus-
Art. 41 und Anhang 7 des Wiener Übereinkom- geführt, die nach zugrunde liegenden Annahmen
mens durch § 29 Abs. 2 Fahrerlaubnisverordnung sowohl der deutschen Straßenverkehrsordnung
(FeV) deutlich). In Artikel 13 Abs. 1 des Wiener wie auch des Wiener Übereinkommens (ohne dies
Übereinkommens wird gefordert, dass der Fahrer allerdings ausdrücklich festzustellen) allein dem
„unter allen Umständen sein Fahrzeug beherrschen“ Fahrer zugeordnet sind. Die Systeme übernehmen
können soll, „um den Sorgfaltspflichten genügen zu folglich – mit sehr unterschiedlicher Reichweite und
können und um ständig in der Lage zu sein, alle ihm abhängig vom Automatisierungsgrad – Aufgaben
obliegenden Fahrbewegungen auszuführen“. Die hier bei der Fahrzeugsteuerung, die nach den Vorstel-
gewählte Formulierung erfasst – insoweit § 3 StVO lungen des Gesetzgebers bzw. der Vertragsparteien
vergleichbar – das Geschwindigkeits- und Ab- allein dem Fahrer obliegen. Insoweit ist nach dem
standsverhalten des Fahrers als eine an ihn gerich- hier vertretenen Standpunkt zu untersuchen, inwie-
tete Verpflichtung. Im Anwendungsbereich weiter weit Systeme, welche solche steuerungsrelevanten
ist folglich Art. 8 des Wiener Übereinkommens rele- Aufgaben des Fahrers übernehmen, dem gesetzli-
vant, der in Absatz 1 bestimmt, dass jedes Fahrzeug chen bzw. vertraglichen Leitbild noch entsprechen.
einen „Führer“ haben muss und in Absatz 5 vorgibt, Dieses Vorgehen erscheint sinnvoll, weil die tech-
dass „jeder Führer (…) dauernd sein Fahrzeug be- nischen Vorschriften sich (bislang mit sehr weni-
herrschen (…) können [muss]“. Der „Führer“ wird in gen, eng umgrenzten und nur vereinzelt geregelten
Art. 1 lit. v) des Wiener Übereinkommens definiert, Ausnahmen im Bereich elektronischer Brems- und
als „(…) jede Person, die ein Kraftfahrzeug oder ein Lenksysteme) nicht auf steuerungsrelevante Vor-
anderes Fahrzeug (Fahrräder eingeschlossen) lenkt gänge beziehen.
(…)“. Sowohl Art. 8 als auch Art. 13 des Wiener
Übereinkommens befinden sich im „Kapitel II Ver- Fahrerassistenzsysteme (Stufe 1)
kehrsregeln“ und richten sich somit an diejenigen, Nach den zuvor dargestellten Begriffsbestimmun-
die Fahrzeuge führen. gen übernehmen Fahrerassistenzsysteme der Ka-
Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der tegorie B entweder nur Längs- oder Querführung
Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen wurde des Fahrzeuges, während der Fahrer den jeweils
auf Folgendes hingewiesen: Wenn nicht übersteu- anderen Teil der Fahraufgabe ausführt. Es ist
erbare Systeme zugelassen würden, die es dem wichtig zu verstehen, dass hier selbst die automa-
Fahrer unmöglich machen, sich pflichtgemäß zu tisierte Fahraufgabe nur eingeschränkt durch das
verhalten [3, 13] würde dies einen Widerspruch Fahrerassistenzsystem ausgeführt wird („in Gren-
zur Fahrzeugbeherrschung darstellen. Die hier be- zen“). Als Beispiel zur Veranschaulichung mag in-
trachteten Systeme der kontinuierlich automatisie- soweit die eingeschränkte maximale Beschleuni-
renden Systeme (Kategorie B) werden und können gungs- oder Verzögerungsleistung einer adaptiven
jederzeit übersteuerbar ausgelegt werden, so dass Geschwindigkeitsregelung (ACC; vgl. ▶ Kap. 46)
unter diesem Gesichtspunkt kein Widerspruch zur dienen oder die aufgebrachten Lenkmomente eines
Fahrzeugbeherrschung durch den Fahrzeugführer Spurhalteassistenten (vgl. ▶ Kap. 49), die begrenzt
entsteht. sind.
Zunächst ist auch grundlegend zu hinterfragen, Systeme der ersten Stufe, Fahrerassistenz, über-
inwieweit diese Vorschriften der Straßenverkehrs- lassen die Fahrzeugführung somit sehr weitgehend
ordnung und des Wiener Übereinkommens über- dem Fahrzeugführer und sind zudem jederzeit
haupt Wirkung für Fahrerassistenzsysteme und die übersteuerbar. Macht ein Fahrer von diesen Sys-
Fahrzeugautomatisierung ausüben können. Geht temen, die zumeist seinen Komfort erhöhen, be-
man vom Anwendungsbereich der Systeme aus, stimmungsgemäß Gebrauch, muss er einerseits
wird man feststellen, dass die vorliegenden Systeme die jeweils nicht automatisierte Fahraufgabe weiter
der kontinuierlichen Fahrzeugautomatisierung ausführen. Andererseits obliegt ihm die Aufgabe,
„eingreifend“ ausgelegt sind und unmittelbaren Ein- das System ständig in seinem Steuerungsverhalten
36 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
bezogen auf die automatisierte Fahraufgabe (Längs- lich wird. Wie im Fall von Fahrerassistenz ist ihm
1 oder Querführung) zu überwachen und zu korrigie- dies technisch jederzeit möglich. Dass im Fall der
ren. Fahrerassistenzsysteme weisen Systemgrenzen Teilautomatisierung die Steuerung des Fahrzeugs
2 auf, die erst im Zusammenwirken mit dem Fahrer nur im Fall der Korrektur oder Übernahme durch
eine sichere Fahrzeugsteuerung erlauben. Hinzu ein aktives Tun erfolgt und im Übrigen durch ein
kommt, dass der Fahrer nach der heute gewählten Unterlassen, schadet nicht: Letztlich handelt es sich
3 Auslegung von Fahrerassistenzsystemen als Rück- bei aktivem Tun wie bei einem Unterlassen nur „um
fallebene im Fall eines Systemfehlers dient. Die kon- unterschiedliche Erscheinungsformen willensgetra-
4 kret erforderliche Aufgabenausführung des Fahrers genen Verhaltens“ [15]. Da der Fahrer aufgrund
bei der Fahrzeugsteuerung verändert sich bei der fortlaufender Überwachung die Kontrolle über das
5 Nutzung von Fahrerassistenzsystemen hinsichtlich Fahrzeug nicht verliert, lässt sich der bestimmungs-
der aktiven Ausführung der vom System übernom- gemäße Gebrauch von Systemen der Teilautomati-
menen Aufgabe. Unverändert bleibt die Pflicht des sierung ebenfalls widerspruchsfrei mit seinen Fah-
6 Fahrers, alle steuerungsrelevanten Informationen rerpflichten gemäß der Straßenverkehrsordnung
parallel zum System aufzunehmen: Dem Fahrer vereinbaren.
7 ist es dadurch jederzeit möglich, die Steuerung des
Fahrzeugs zu übernehmen, da er im Übrigen auch Hochautomatisierung (Stufe 3)
technisch eine übergeordnete Rolle gegenüber dem Im Fall der Hochautomatisierung könnte der Fah-
8 System einnimmt. Steuerungsvorgänge durch den rer nach den getroffenen Begriffsbestimmungen
Fahrer „übersteuern“ stets das System, was sich wi- auch ohne fortlaufende Überwachung des Steue-
9 derspruchsfrei mit den Pflichten des Fahrers aus der rungsverhaltens das System bestimmungsgemäß
Straßenverkehrsordnung vereinbaren lässt. verwenden. Der Fahrer ist allerdings gefordert, die
10 Teilautomatisierung (Stufe 2)
Fahrzeugsteuerung nach Übernahmeaufforderung
durch das System innerhalb einer bestimmten Vor-
Der Begriff der Teilautomatisierung bezeichnet laufzeit zu übernehmen, weil das Fahrzeug zwar
11 nach den zuvor dargestellten Begriffsbestimmungen die Systemgrenze erkennt und den Fahrer dann zur
Systeme, die sowohl Längs- als auch Querführung Übernahme auffordert, jedoch nicht in der Lage ist,
12 des Fahrzeugs übernehmen, während der Fahrer aus jeder Ausgangssituation selbsttätig in den risi-
das Steuerungsverhalten des Systems fortlaufend kominimalen Zustand zurückzukehren.
überwacht. Soweit die Steuerung durch das System Der technische Aufwand für die Realisierung ei-
13 nicht mehr dem Fahrerwillen entspricht, korrigiert ner Hochautomatisierung ist groß. Ein Nutzen für
oder übernimmt der Fahrer. den Fahrzeugführer (als Komfortgewinn) resultiert
14 Die Veränderung der Fahraufgabe des Fahrers nur dann, wenn es dem Fahrer möglich ist, die für
ist insoweit erheblich, als der Fahrer in der höchs- die Bewertung des Steuerungsverhaltens des Systems
15 ten Ausbaustufe von Systemen dieses Automati- notwendige Informationsaufnahme einzustellen.
sierungsgrades bereits nicht mehr aktiv die Fahr- Die Straßenverkehrsordnung sieht keinen Fall vor,
zeugsteuerung ausführen muss. Das System ist der einem Fahrer erlaubt, sich während der Fahrt
16 aber – insofern den Fahrerassistenzsystemen gut von der Fahrzeugführung abzuwenden. Erfolgt dies
vergleichbar – noch so ausgelegt, dass dem Fahrer dennoch, entfällt die Fahrzeugbeherrschung durch
17 die Aufgabe zukommt, das Steuerungsverhalten den Fahrer mindestens vorübergehend: Es ist nicht
des Systems an Systemgrenzen und als Rückfal- davon auszugehen, dass der Fahrer dann weiterhin
lebene im Fehlerfall zu ergänzen. Dazu muss der unmittelbar in der Lage ist, die Fahrzeugsteuerung
18 Fahrer – wie im Fall von Fahrerassistenz, Stufe 1 zu übernehmen; erste Untersuchungen belegen dies
– alle für die Steuerung des Systems relevanten In- [15]. Es ist daher unter tatsächlichen Gesichtspunk-
19 formationen parallel aufnehmen. Nur dadurch ist ten nicht mehr von einer Fahrzeugbeherrschung
es ihm möglich, bestimmungsgemäß vom System durch den Fahrer auszugehen, wenn dieser sich ab-
20 Gebrauch zu machen und die Steuerung zu über- wendet (und diese Abwendung sich zeitlich nicht
nehmen oder zu korrigieren, wenn dies erforder- als völlig untergeordnet darstellt und gegebenenfalls
3.2 • Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
37 3
ausdrücklich vorgesehen ist – wie bspw. im Fall der mehr für eine Übernahme der Fahrzeugsteuerung
Rückschau zum nachfolgenden Verkehr im Rahmen zur Verfügung zu stehen braucht, da das System
des Abbiegens gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO). von sich aus in der Lage ist, in den risikominimalen
Aus rechtlicher Sicht liegt bei relevanter Abwen- Zustand zurückzukehren. Wie bei der Hochautoma-
dungszeit des Fahrers keine willensgetragene Hand- tisierung kann sich der Fahrer anderen Tätigkeiten
lung mehr in der Fahrzeugsteuerung. Im Unter- zuwenden, die noch nicht näher bestimmt worden
schied zur Teilautomatisierung handelt es sich hier sind. Dem Fahrer ist jedoch weiterhin möglich, die
nicht mehr ausschließlich um ein Unterlassen akti- Fahrzeugsteuerung jederzeit zu übernehmen.
ven Handelns, sondern um ein Verhalten des Fah- Aus rechtlicher Sicht entfällt – wie schon im Fall
rers, welches keinen Bezug mehr zu der Fahrzeug- der Hochautomatisierung – die Fahrzeugbeherr-
steuerung aufweist und sich somit nicht mehr als schung durch den Fahrer, soweit sich der Fahrer
menschliches Steuerungsverhalten einordnen lässt. bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Systems
Vielmehr handelt es sich während einer hochauto- von der Fahrzeugsteuerung abwendet. Auch im Fall
matisierten Fahrt um eine ausschließlich maschi- der Hochautomatisierung liegt dann in der Fahr-
nelle Fahrzeugführung: Sobald der Fahrzeugfüh- zeugsteuerung keinerlei willensgetragene Hand-
rer seine Aufmerksamkeit von der Fahrbahn- und lung des Fahrers mehr, sondern eine ausschließlich
Verkehrsbeobachtung abwendet, kann er das Steu- maschinelle Fahrzeugsteuerung, die ebenfalls nicht
erungsverhalten des Systems (das möglicherweise mehr als (menschlich) „redundant-parallele“ Form
durch andere Sinne teilweise wahrnehmbar bleibt) der Arbeitsteilung eingeordnet werden kann. Ge-
nicht mehr mit der konkreten Weiterentwicklung mäß der Straßenverkehrsordnung ergibt sich auch
der Verkehrssituation auf der Straße abgleichen. hier eine grundlegende Unvereinbarkeit mit den
Der menschliche Wille ist gerade nicht mehr mit Pflichten des Fahrzeugführers.
konkretem Bezug zur Fahrzeugsteuerung auf der
Straße versehen: Dies spricht sehr klar für ein voll- Pflicht des Fahrers zu beidhändiger
ständiges Fehlen der menschlichen Handlung in Lenkung
der konkreten Steuerungssituation (jedenfalls bei Ausdrücklich geregelt ist in der Straßenverkehrs-
bestimmungsgemäßem Gebrauch der Hochauto- ordnung nur, dass Fahrer einspuriger Fahrzeuge –
matisierung durch den Fahrer ohne fortlaufende Fahrradfahrer und Kraftradfahrer – nicht freihändig
Überwachung der Steuerung durch das System). Bei fahren dürfen, vgl. § 23 Abs. 3 S. 2 Straßenverkehrs-
einer derartigen Nutzung des Systems ist auch nicht ordnung. Eine vergleichbare Anordnung erfolgte
mehr von einer „redundant-parallelen“ Form der für Fahrer zweispuriger Fahrzeuge nicht, so dass
Arbeitsteilung auszugehen. Der Fahrer beobachtet es für die analoge Anwendung dieses Verbots an
das Steuerungsverhalten des Systems nicht mehr, es der Planwidrigkeit der Regelungslücke fehlt (§ 23
fehlt an der Ausführung einer auf die Fahrzeugfüh- Straßenverkehrsordnung regelt die sonstigen Pflich-
rung bezogenen Aufgabe. Die Fahrzeugführung ist ten, u. a. auch die von Fahrern mehrspuriger Fahr-
dann nicht mehr – durch den Fahrer – redundant zeuge, während das Verbot freihändigen Fahrens
oder in der konkreten Situation als parallel zu be- ausdrücklich auf die genannten Fahrer einspuriger
schreiben, da der Fahrer als Regler entfällt. Fahrzeuge beschränkt ist).
Bei Betrachtung unter verhaltensrechtlichen As- Eine Pflichtwidrigkeit freihändigen Fahrens im
pekten ergibt sich deshalb eine grundlegende Un- Fall eines mehrspurigen Fahrzeugs ergibt sich viel-
vereinbarkeit in rechtlicher Hinsicht; dies betrifft mehr aus § 1 Abs. 1 StVO: Dem liegt die Annahme
auch die Pflichten des Fahrers gemäß der Straßen- zugrunde, dass ein Verstoß gegen das Gebot ständi-
verkehrsordnung. ger Vorsicht und Rücksichtnahme auch darin liegen
kann, nicht beidhändig zu lenken. Diese Pflichtwid-
Vollautomatisierung (Stufe 4) rigkeit ist allerdings – ohne Hinzutreten einer kon-
Im Fall der Vollautomatisierung kommt gegenüber kreten Gefährdung gemäß § 1 Abs. 2 StVO – nicht
der Hochautomatisierung hinzu, dass der Fahrer verboten (und auch nicht ordnungswidrig i. S. v.
selbst nach einer Übernahmeaufforderung nicht § 24 StVG) [11].
38 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
Hier eine Pflichtwidrigkeit anzunehmen, ist zwei Aspekte zu berücksichtigen: die Haftung (vor
1 folgerichtig, wenn man Fahrzeuge zugrunde legt, allem) nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und
die heutzutage im Straßenverkehr verwendet wer- die Haftung des Herstellers für fehlerhafte Produkte.
2 den: Es handelt sich in aller Regel um Fahrzeuge,
die Lenksysteme der Stufen 0 und 1 („driver only“ Haftung nach dem StVG
und assistiert) aufweisen. Bereits aufgrund der zu- Die zivilrechtliche Haftung des Fahrzeughalters
3 vor getroffenen Begriffsbestimmung wird deutlich, nach § 7 Abs. 1 StVG ordnet die haftungsrechtliche
dass selbst im Fall eines Fahrerassistenzsystems die Verantwortung für die Betriebsgefahr eines Kraft-
4 Automatisierung nur „in Grenzen“ erfolgt, so dass fahrzeugs dem Halter zu; die Betriebsgefahr umfasst
der Fahrer an Systemgrenzen und bei Systemausfall dabei sowohl Fahrfehler des Fahrzeugführers als
5 korrigierend eingreifen muss. Somit liegt die An- auch technische Defekte. Es ist anzunehmen, dass
nahme einer Pflichtwidrigkeit im Fall freihändigen auch der technische Defekt einer automatischen
Fahrens nahe, soweit Systeme Verwendung finden, Steuerung des Fahrzeugs – unabhängig vom Au-
6 die zur Bewältigung von Systemgrenzen und bei tomatisierungsgrad – ohne weiteres zur Betriebs-
Systemausfall ein Eingreifen des Fahrers ohne jeden gefahr zu rechnen ist, denn § 7 Abs. 1 StVG fasst
7 zeitlichen Verzug erfordern. Finden solche Systeme den „Fahrzeugbetrieb“ weit [3]. Letztlich sind die
Verwendung, ist das Fahren „Hands-off “ voraus- Anforderungen an den vom Geschädigten zu füh-
sichtlich ebenso pflichtwidrig wie das freihändige renden Beweis im Rahmen der Halterhaftung am
8 Fahren ohne Verwendung eines automatisierenden niedrigsten, weil nur der Betrieb des Fahrzeugs und
Lenksystems der Kategorie B. die kausale Schadensverursachung durch den Ge-
9 Fraglich bleibt jedoch, inwieweit eine Pflicht- schädigten bewiesen werden muss.
widrigkeit des Fahrens „Hands-off “ dann anzuneh- Neben dem Fahrzeughalter haftet in Fällen des
10 men ist, wenn ein Lenksystem alle sehr kurzfristig § 7 Abs. 1 StVG auch der Fahrzeugführer nach
wirkenden Störungen selbsttätig bewältigen kann § 18 StVG – wie im Übrigen auch gemäß § 823
oder die Auswirkungen in der konkreten Situation Abs. 1 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB zumeist i. V. m.
11 geringfügig bleiben. der StVO als Schutzgesetz, was hier nicht weiter
Wenn sich daher im Einzelfall eines höher au- vertieft wird. Nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG wird da-
12 tomatisierten Lenksystems im Zusammenwirken bei gegen den Fahrzeugführer gesetzlich vermutet,
mit einem Fahrer, der „Hands-off “ fährt, ergibt, schuldhaft bei der Fahrzeugführung gehandelt zu
dass alle Situationen ebenso gut beherrscht wer- haben. Das lässt sich bis einschließlich Automa-
13 den, wie dies im Fall des Fahrens „Hands-on“ der tisierungsgrad der Stufe 2 (Teilautomatisierung)
Fall ist, wäre nicht erkennbar, worin dann eine widerspruchsfrei anwenden. Bezüglich höherer
14 Pflichtwidrigkeit liegt. Eine vergleichbare Situation Automatisierungsgrade der Stufen 3 oder höher
kann dann eintreten, wenn die konkrete Fahrsitu- (ab Hochautomatisierung) erscheint die Verschul-
15 ation durch den Fahrer an Systemgrenzen und im densvermutung gegen den Fahrzeugführer jedoch
Fehlerfall „Hands-off “ noch ebenso gut bewältigt nicht mehr in allen Fällen sachgerecht: Bei einem
wird, wie dies „Hands-on“ möglich wäre – bspw. bei allein unfallursächlichen Fehlverhalten Dritter
16 sehr niedriger Geschwindigkeit (wie dies heute bei kann dem Fahrzeugführer bei konventioneller
Gebrauch von Systemen der Parklenkassistenz der Fahrzeugführung der Stufe 0 („driver only“) bis
17 Fall ist) oder erheblicher Fahrstreifenbreite und der einschließlich teilautomatisierter Fahrzeugführung
Abwesenheit anderer Verkehrsteilnehmer, die durch der Stufe 2 („teilautomatisiert“) zugemutet werden,
eine Systemgrenze oder den Systemausfall gefährdet sich von der Verschuldensvermutung durch den
18 werden könnten. Nachweis des Fehlverhaltens zu entlasten. Diese
Automatisierungsgrade erfordern seitens des
19 3.2.2.2 Haftungsrechtliche Fahrzeugführers laufende Verkehrsbeobachtung
Bewertung und (in den Stufen 1 und 2) eine Überwachung
20 In haftungsrechtlicher Hinsicht sind im Fall kon- der Systemregelung und gegebenenfalls eine sofor-
tinuierlich automatisierender Systeme vor allem tige Fehlerkorrektur bzw. Übersteuerung. Damit
3.2 • Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
39 3
kann vom Fahrer aber jederzeit erwartet werden, verträgen – auch zukünftige automatische Systeme,
ein unfallursächliches Fehlverhalten eines Dritten die von der Fahrzeug-Typgenehmigung (sodann)
zu beobachten und er wird hierzu Angaben ma- erfasst werden, mitversichert sein. Auch hierfür
chen können. wäre Grundvoraussetzung, dass die Rahmenbedin-
Grundlegend anders ist die Situation bei den gungen für den intendierten Gebrauch von Syste-
höheren Automatisierungsgraden ab der Hochau- men ab dem Automatisierungsgrad der Hochauto-
tomatisierung (Stufen 3 und höher), da der Fah- matisierung (Stufe 3 und höher) geschaffen werden.
rer – unter der Annahme, diese Nutzung wäre
überhaupt verhaltensrechtlich zulässig, vgl. zuvor Haftung des Herstellers für fehlerhafte
▶ Abschn. 3.2.2.1 – nicht in allen Fahrabschnitten Produkte
zu aufmerksamer Verkehrsbeobachtung verpflichtet Abgesehen von Ansprüchen gegen den Hersteller
ist. Die Aufgaben des Fahrers beschränken sich bei aufgrund von vertraglicher Haftung, die hier nicht
Nutzung einer Hochautomatisierung (Stufe 3) auf näher behandelt werden sollen, existiert eine Haf-
die Bereitschaft zur Rückübernahme der Fahrzeug- tung des Herstellers auch gegenüber jedem Dritten
steuerung nach einer angemessenen Vorlaufzeit. für Schäden, die kausal auf einem Produktfehler
Der Fahrer ist somit von jeder aktiven Fahrzeug- beruhen. Als relevante Anspruchsgrundlagen kom-
steuerung befreit und kann – solange er nicht aktiv men hier entweder die (verschuldensunabhängige)
das System übersteuert oder die Rückübernahme Gefährdungshaftung nach dem Produkthaftungs-
unterlässt – von vornherein während automatisier- gesetz oder die Produzentenhaftung nach § 823
ter Phasen nicht schuldhaft handeln. Hinzu kommt, Abs. 1 BGB (bzw. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem
dass der Fahrer, der sich bei bestimmungsgemäßer Schutzgesetz) in Betracht. Letztere löst eine Haftung
Verwendung des hochautomatisierten Systems wegen schuldhafter Verletzung einer Verkehrssiche-
(Stufe 3) abwendet, das Fehlverhalten eines Dritten rungspflicht bei In-Verkehr-Bringen des fehlerhaf-
nicht beobachten kann und somit mit dem Nach- ten Produkts aus, wenn der Schaden kausal auf der
weis belastet ist, dass zum Zeitpunkt des Zustande- Fehlerhaftigkeit beruht. Beide Anspruchsgrundla-
kommens des Unfalls eine automatische Steuerung gen haben sich inzwischen – auch aufgrund einer
aktiviert war. Beweislastumkehr im Rahmen des Verschuldenser-
Diese Situation ist aufgrund der nicht mehr fordernisses der Produzentenhaftung – weitgehend
gerechtfertigten gesetzlichen Vermutung wider- angenähert, so dass es sich erübrigt, hier auf die
sprüchlich, aber nicht untragbar, weil dem Fahrer Besonderheiten im Detail einzugehen.
der Entlastungsbeweis – gegebenenfalls unter Zu- Die Fehlerhaftigkeit ist der zentrale Begriff
hilfenahme technischer Mittel – zivilrechtlich ge- der Produkthaftung und muss vom Geschädigten
lingen kann. Zudem ist die Situation nicht grund- nachgewiesen werden. Automatisierende Systeme
legend anders zu bewerten als bei konventioneller setzen ab Stufe 1, assistiert, bis zu Stufe 3, hochau-
Fahrzeugführung („driver only“, Stufe 0), wenn tomatisiert, ein Zusammenwirken mit dem Fahrer
ein unfallursächliches Verschulden eines Dritten voraus, damit es zu einer sicheren Fahrzeugführung
zivilrechtlich nicht beweisbar ist. Durch die Mit- kommt. Dies ist notwendige Folge der Arbeitstei-
versicherung des Fahrzeugführers in der Kraftfahr- lung in der Fahrzeugführung bei den kontinuierlich
zeug-Haftpflichtversicherung (§ 2 Abs. 2 Ziff. 2 der automatisierenden Systemen dieser Automatisie-
Verordnung über den Versicherungsschutz in der rungsstufen. Seitens des Fahrers ist dafür Kenntnis
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (KfzPflVV)) und Bewusstsein hinsichtlich der Leistungsfähigkeit
kommt es letztlich nicht zu einer wirtschaftlich un- des jeweiligen Systems (vor allem hinsichtlich der
tragbaren Situation. Systemgrenzen) unabdingbar, um die notwendige
Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung um- Überwachung des Systems, korrigierende Eingriffe
fasst heute vor allem solche Systeme, die von der oder die Übernahme von Fahrzeugsteuerung zu
Fahrzeug-Typgenehmigung erfasst werden. In- erkennen und in die jeweils geforderte Bedien-
soweit dürften – unter Beibehaltung der heutigen handlung umzusetzen. In diesem Bereich ist die
Reichweite von Fahrzeug-Haftpflichtversicherungs- Instruktion des Fahrers entscheidend, um auf die
40 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
rungsgrad der Hochautomatisierung (Stufe 3) mit die Verwendung nicht übersteuerbarer Systeme im
dem Ergebnis eines Unfalls nicht einwandfrei in Straßenverkehr verbieten, weil diese den Fahrer im
Phasen bestimmungsgemäßer Fahrerabwendung, Einzelfall in unzulässiger Weise an der Erfüllung
wäre dies stets – soweit prozessual beweisbar – ge- seiner Pflichten im Straßenverkehr hindern kön-
eignet, Schadensersatzansprüche gegen den Her- nen [3, 13]. Die andere Auffassung bezweifelt von
steller auszulösen. vornherein die Anwendbarkeit dieser Verhaltens-
Ab dem Automatisierungsgrad der Hochauto- vorschriften auf Fahrerassistenzsysteme, da sie sich
matisierung (Stufe 3) ergibt sich die weitere wichtige im zweiten Kapitel des Wiener Übereinkommens
Fragestellung daraus, inwieweit solche Systeme noch über den Straßenverkehr befinden und demzufolge
Systemgrenzen aufweisen können. Auch hier lässt allein an den Fahrer richten, ohne eine Bedeutung
die getroffene Begriffsbestimmung den Rückschluss für Fahrerassistenzsysteme zu entfalten. Weiterhin
zu, dass Systemgrenzen in Form der beschriebenen findet sich – unbestritten – keine vergleichbare An-
Rückübernahme „nach ausreichender Zeitreserve“ ordnung im dritten Kapitel des Wiener Überein-
möglich sind. Jedoch sind Systemgrenzen, die eine kommens, das (technische) Fragen der Zulassung
unmittelbare Abschaltung, Fehlerkorrektur oder zum grenzüberschreitenden Verkehr beschreibt,
Rückübernahme durch den Fahrer bedingen, nicht vgl. [18].
denkbar oder jedenfalls nur sehr eingeschränkt Eine Entscheidung für eine dieser streitigen
möglich. Rechtsansichten wird aus heutiger Sicht für eingrei-
fende Notfallsysteme wohl dahinstehen, da ein rele-
vanter Anwendungsbereich derzeit nicht erkennbar
3.2.3 Eingreifende Notfallsysteme ist: Die im vorliegenden Abschnitt behandelten Sys-
(Kategorie C) teme, auch solche der eingreifenden Notfallsysteme,
werden heute alle übersteuerbar ausgelegt. Und
Eingreifende Notfallsysteme der Kategorie C wer- soweit bislang unklar war, ob Eingriffe von Not-
den zumeist ebenfalls als „Fahrerassistenzsysteme“ fallsystemen in zeitkritischen Situationen möglich
bezeichnet. Dem Wortsinn nach besteht hier kein sind, in denen ein Fahrer nur zeitverzögert zu einer
Widerspruch, da diese Systeme den Fahrer ebenfalls Übersteuerungshandlung in der Lage ist, wurde
unterstützen. Tatsächlich erfolgt die Unterstützung durch die sog. „General Safety Regulation“ (EG-Ver-
aber in Situationen, die eine besondere Qualität auf- ordnung 661/2009 v. 13. Juli 2009) ein wichtiges
weisen, da der Fahrer in bestimmten Situationen nur Indiz hinzugefügt: Vorgeschrieben werden darin
zeitverzögert (oder bei krankhaft bedingter Hand- u. a. Systeme der Notbremsassistenz für Busse und
lungsunfähigkeit gegebenenfalls überhaupt nicht) auf Nutzfahrzeuge der Klassen M2, M3, N2 und N3, vgl.
einen konkreten Handlungsanlass im Straßenverkehr Art. 10 Abs. 1 EG-VO 661/2009. Zwar wird nicht
hin reagieren kann. Es ist deshalb gerade nicht von danach unterschieden, ob diese Eingriffe systemi-
einem arbeitsteilig wirkenden System auszugehen. nitiiert oder fahrerinitiiert erfolgen, doch spricht
seither vieles dafür, dass auch die weiterreichenden
3.2.3.1 Bedeutung der systeminitiierten Eingriffe jedenfalls nicht in Wi-
Übersteuerbarkeit derspruch zu den zitierten Vorschriften des Wiener
Die rechtliche Diskussion um diese Systeme wurde Übereinkommens über den Straßenverkehr stehen.
bislang vor allem in Bezug auf die Anforderung von Es ließe sich hieraus verallgemeinernd ablei-
Übersteuerbarkeit geführt, die aus Art. 8 Abs. 1 und ten, dass es auch in anderen Fällen fehlender fah-
Abs. 5 sowie Art. 13 Abs. 1 des Wiener Übereinkom- rerischer Handlungsfähigkeit möglich sein müsste,
mens über den Straßenverkehr (WÜ) hergeleitet zur Vermeidung eines Unfalls oder zur Minderung
wurde. Die in diesen Vorschriften formulierte An- der Unfallfolgen einzugreifen. Ein Widerspruch zu
forderung ständiger Kontrolle (Art. 8 Abs. 5 WÜ) verhaltensrechtlichen Vorgaben in diesen Sondersi-
und Fahrzeugbeherrschung (Art. 13 Abs. 1 WÜ) des tuationen wäre dann nicht zu erkennen, sofern der
Fahrers (Art. 8 Abs. 1 WÜ) wurde so ausgelegt, dass Fahrer – wenn auch nur theoretisch – die Möglich-
die getroffenen Vorschriften in technischer Hinsicht keit zur Übersteuerung hätte.
42 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
nehmigung des Fahrzeugs für den Straßenverkehr in rechtlicher Hinsicht zugleich auf die rechtliche
zugelassen wäre). Versichert wird im Rahmen der Situation anderer Systeme der Kategorie C über-
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung allerdings tragbar sind: Die Ausgangslage, fehlende Hand-
der „Fahrzeuggebrauch“. Ein bewusster Gebrauch lungsfähigkeit des Fahrers und der daraus folgende
liegt in der Regelung des zuvor beschriebenen Not Charakter als nicht arbeitsteilig wirkende Systeme,
halteassistenten sicherlich nicht vor. Gleichwohl ist ist in beiden Fällen gleich. Eine wichtige Differen-
der Fahrzustand, der durch das System in den risi- zierung ist jedoch im Fall anderer Notfallsysteme
kominimalen Zustand zurückgeführt werden soll, (als Nothalteassistenzsysteme) zu machen: Der
offensichtlich durch den vorangegangenen Fahr- Fahrer ist in diesen Fällen an sich noch verfügbar,
zeuggebrauch unmittelbar ausgelöst. Der Zustand kann aufgrund der Randbedingungen aber nicht
wäre insoweit dem völlig unkontrollierten Schleu- mehr geeignet reagieren. Im Anwendungsfall der
dern eines Fahrzeugs aufgrund zu hoher Fahrge- Notfallsysteme hat der Fahrer die Situation ent-
schwindigkeit vergleichbar, wobei das Schleudern weder verkannt oder der Handlungsanlass wird
für den Fahrer ebenso unkontrollierbar sein kann sehr plötzlich erkennbar, so dass der Fahrer auf-
und gleichfalls auf den vorangegangenen Fahrzeug- grund der im Vergleich zum System geringeren
gebrauch (Fahren mit höherer Geschwindigkeit) menschlichen Leistungsfähigkeit nur verzögert
zurückgeht. Somit ist davon auszugehen, dass Steu- auf die Situation reagieren kann. Dies führt daher
erungsvorgänge von Nothalteassistenzen vom heu- zu einem weiteren wichtigen Gesichtspunkt: Die
tigen Versicherungsumfang umfasst sein würden. Fahrzeugsteuerung muss im Anschluss an den
In produkthaftungsrechtlicher Hinsicht wirkt Eingriff des Notfallsystems, möglicherweise be-
sich aus, dass Nothalteassistenten jenseits der reits nach Ablauf der Reaktionszeit, wieder auf den
fahrerischen Kontrolle bei physiologisch beding- Fahrer rückübertragen werden. Diese Rücküber-
ter Handlungsunfähigkeit des Fahrers wirken. tragung stellt eine weitere Herausforderung der
Die Steuerung des Fahrzeugs muss sich deshalb Mensch-Maschine-Interaktion dar: Zudem bedarf
in haftungsrechtlicher Hinsicht voraussichtlich der Gesichtspunkt der Übersteuerbarkeit in den
nicht – wie aber bei kontinuierlich wirkender Au- Fällen fehlerhafter Eingriffe durch das System be-
tomatisierung – dem Gefahrvermeidungsmaßstab sonderer Aufmerksamkeit, da eine Übersteuerung
unterwerfen, der für eine Hoch- oder Vollauto- des Fahrers sehr risikobehaftet sein kann und sei-
matisierung (Stufen 3 und 4) anzuwenden ist (vgl. tens des Systemherstellers die Aufrechterhaltung
▶ Abschn. 3.2.2.2). Vielmehr ist anzunehmen, dass der Letztentscheidungsbefugnis des verantwortli-
ein solches Produkt, sofern es zum Zeitpunkt des chen Fahrzeugführers regelmäßig beabsichtigt ist.
In-Verkehr-Bringens eine einsatzfähige Lösung
nach dem Stand von Wissenschaft und Technik
darstellt, dem anzulegenden Gefahrvermeidungs- 3.3 Gesetzgebung in den USA
maßstab entspricht – auch wenn es in Einzelfällen
aufgrund von fortbestehenden Systemgrenzen zu Während die Automatisierung von Fahrzeugen
Unfallschäden während eines Nothaltevorgangs überall auf der Welt diskutiert wird, wurden bislang
kommt. Dieses Ergebnis ist auch sachgerecht, da nur in einigen Bundesstaaten der USA die rechtli-
aus heutiger Sicht selbst lediglich noch ausreichend chen Rahmenbedingungen hierfür teilweise ange-
wirkende Nothalteassistenten zu einer Verbesse- passt. Im vorliegenden Abschnitt wird das grundle-
rung der Verkehrssicherheit beitragen können, um gende Verständnis dieser Entwicklung hinsichtlich
nicht die andernfalls zwangsläufig in diesen Fällen organisatorischer Zuständigkeiten und inhaltlicher
eintretende, stark risikobehaftete, völlige Steue- Wirkung der entsprechenden Rechtsakte beschrie-
rungslosigkeit in Kauf nehmen zu müssen. ben.
Die Gesetzgebung in Bezug auf das automa-
3.2.3.3 Übrige Notfallsysteme tisierte Fahren in den USA lässt sich nicht ohne
Abschließend bleibt anzumerken, dass die zuvor Einordnung in die rechtliche Gesamtsituation be-
gemachten Ausführungen zu Nothalteassistenten schreiben. Das Rechtssystem hat die Aufgabe, ei-
44 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
Public .. Abb. 3.3 Taxonomie
1 einer Regulierung
4 Ex ante Ex post
7 Private
8 nerseits Schäden durch präventive Maßnahmen, ßerachtlassung von Sorgfaltspflichten sowie Image-
die der Verkehrssicherheit dienen, zu vermeiden, schäden beim Hersteller, seinen Zulieferern und
9 andererseits entstandene Schäden, soweit möglich anderen Firmen. Diese Maßnahmen stehen selbst
zu ersetzen. Die Verantwortlichkeit im juristischen wiederum in Wechselwirkung zu den anderen Sek-
10 Sinn befasst sich mit Pflichten – unter anderem den toren: So können bspw. gesetzliche Versicherungs-
Vertrags- und Sorgfaltspflichten – sowie mit Folgen, anforderungen die Stellung der Versicherungsge-
unter anderem der Schuldfähigkeit und der zivil- sellschaft gegenüber den Versicherungsnehmern
11 rechtlichen Haftung. Die Verantwortlichkeit in die- stärken, Industrienormen Einfluss auf den Ausgang
sem Sinn ist auf der anderen Seite jedoch weder mit von Zivilprozessen nehmen und Anhörungen die
12 technischem Bedarf noch mit moralischer Pflicht Konsumnachfrage schwächen.
gleichzusetzen. Die formellen Parlamentsgesetze auf US-Bun-
. Abbildung 3.3 veranschaulicht dieses Ver- desebene sowie in den einzelnen Bundesstaaten
13 ständnis von „Regeln“ im Rahmen des Fahrzeug- sind nur ein – wenngleich bedeutender – Teil die-
baus in den USA und ordnet sie vier verschiedenen ser Regeln. . Abbildung 3.4 gibt eine Stufenord-
14 Sektoren zu [20]. Regeln können öffentlich (von den nung rechtlicher Normen in den USA wieder [21].
Behörden) oder privat (von einer natürlichen oder Die Bundesverfassung, die das Staatsorganisations-
15 juristischen Person) aufgestellt werden und pros- recht sowie Grundrechte von Einzelnen gegenüber
pektiv (vor einem Unfall) oder retrospektiv (nach dem Staat enthält, stellt dabei die höchste Ebene
einem Unfall) wirken. Öffentliche und prospektive dar. Auf zweithöchster Ebene stehen die vom
16 Maßnahmen schließen etwa gesetzliche Leistungs-, US-Kongress verabschiedeten Parlamentsgesetze,
Verfahrens- und Markteintrittsstandards ein. Öf- wie etwa das Verkehrs- und Kraftfahrzeugsicher-
17 fentliche und retrospektive Maßnahmen hingegen heitsgesetz von 1966, und bestimmte vom Senat
umfassen Strafen, gesetzlich angeordnete Rückruf- bestätigte Staatsverträge, darunter wohl auch die
maßnahmen und eventuelle Anhörungen (bspw. Genfer Konvention für Straßenverkehr von 1949.
18 „Congressional hearings“, „NHTSA investigations“ Aufgrund solcher Parlamentsgesetze wurden
usw.). Private und prospektive Maßnahmen bein- Bundesbehörden gegründet, unter anderem die
19 halten Verträge, Industrienormen und vom Versi- für Kraftfahrzeugsicherheit zuständige National
cherer vorgegebene Vertragspflichten. Private und Highway Traffic Safety Administration (NHTSA).
20 retrospektive Maßnahmen umfassen Zivilprozesse Diese Bundesbehörden führen ihre parlamentsge-
im Fall von Produktfehlern oder fahrlässiger Au- setzlichen Aufgaben aus, indem sie Verordnungen
3.3 • Gesetzgebung in den USA
45 3
Bundesverfassung • Rechtsstaatsprinzip
(Industrienormen und
• (ISO / SAE / ANSI Standards)
private Standards)
und Verwaltungsakte erlassen, die die nächsten Fast in jedem Bundesstaat existiert zudem eine noch
zwei Gesetzebenen darstellen. Die NHTSA erlässt niedrigere Ebene des Gesetzes: ein bundesstaatsspe-
bspw. die Bundessicherheitsstandards für Kraft- zifisches, nicht kodifiziertes und durch die Gerichte
fahrzeuge (FMVSSs), nach denen Fahrzeugherstel- weiterentwickeltes Gewohnheitsrecht, welches für
ler ihre neu verkauften Produkte selbst zertifizieren Fragen der zivilrechtlichen Haftung sehr wichtig ist
(anstatt die Genehmigung der Behörde zu erhalten, [22]. So war die eindeutige Urteilsfindung durch das
vgl. ▶ Abschn. 3.4.1), und leitet Untersuchungen Oberste Bundesgericht dahingehend bedeutungs-
möglicher Defekte ein, die in gesetzlich verpflich- voll, wie das Zusammenwirken von Bundessicher-
tend durchzuführende Rückrufaktionen münden heitsstandards und Gewohnheitsrecht hinsichtlich
könnten. Diese Regeln werden allesamt von den der Feststellung eines Produktfehlers in einer Pro-
Bundesgerichten als auch den bundesstaatlichen dukthaftungsverhandlung im Einzelnen zu bewer-
Gerichten unter Berücksichtigung ihres Stellen- ten ist [23, 24]. Weiterhin kommt hinzu, dass die
wertes angewendet und ausgelegt. Gemeinschaftsnormen und privaten Standards die-
Gegenüber den Bundesgesetzen nachrangig ses Gewohnheitsrecht beeinflussen können. Zuletzt
sind die jeweiligen Gesetze des Bundesstaates: Die muss ein wichtiger Grundsatz genannt werden, der
dort typischerweise umfassendere Verfassung, die sich durch das gesamte Rechtssystem (in den USA
Parlamentsgesetze und die Verordnungen und Ver- sowie in Deutschland) zieht: Alles, was nicht unter-
waltungsakte seiner Behörden sind auf dieser Ebene sagt ist, bleibt erlaubt [25].
von Bedeutung. Die Genehmigung, die Versiche- Die aktuelle Regulierung des automatisierten
rung sowie das Verhalten des nichtgewerblichen Fahrens erfolgt vor diesem Hintergrund. Im Fe-
Fahrers und seines Fahrzeugs sind üblicherweise bruar 2014 kündigte die NHTSA zurückhaltend
Fragen, die von den Bundesstaaten geregelt werden. an, sie „werde damit beginnen, Schritte zu unter-
Diese Gesetze werden verbindlich von den Gerich- nehmen, um die Fahrzeug-Fahrzeug-Kommuni-
ten des jeweiligen Bundesstaates, aber auch vorläu- kationstechnologie für Personenkraftwagen zu er-
fig von anderen Gerichten ausgelegt und angewandt. möglichen“ [26], die eventuell von Bedeutung für
46 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
verboten und kontextabhängig wohl erlaubt [25]. UN-Regelungen (z. B. UN R 13-H), erstellt von der
Die entsprechenden Behörden in diesen Bundes- UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE)
staaten haben wahrscheinlich bereits die Berech- in Genf [29].
tigung, ähnliche Regeln ohne eine fahrzeugau- Welche Rolle die Typgenehmigungsbestimmun-
tomatisierungsspezifische parlamentsgesetzliche gen bei der Einführung von neuen Fahrerassistenz-
Basis zu schaffen und einige bemühen sich um eine systemen spielen, hängt davon ab, ob die Funktio-
Zusammenarbeit mit Schlüsselfirmen. Außerdem nen eines Fahrerassistenzsystems in einen von der
bleiben wichtige Fragen in den jüngsten Gesetzen Typgenehmigung geregelten Bereich fallen oder
offen, insbesondere das erforderliche Verhalten nicht. Beispielsweise gibt es im Bereich der Licht-
des menschlichen Fahrers während des automa- technik eine Vielzahl von Anforderungen, die bei
tisierten Betriebs. Denn rechtliche Unklarheiten der Typgenehmigung einzuhalten ist, so dass inno-
bestehen überall fort, so dass die Grundprinzipien vative Lichtsysteme meist erst dann (ohne Ausnah-
der Vernunft und Vorsicht, die dem Gewohnheits- megenehmigung) genehmigt werden können, wenn
recht sowie den bundesstaatlichen Verkehrsregeln die jeweiligen genehmigungsrechtlichen Randbe-
zugrunde liegen, sich in diesen Bereichen mit den dingungen entsprechend angepasst wurden. Andere
Technologien allmählich weiterentwickeln. Zu- Fahrerassistenzsysteme (z. B. aus dem Bereich der
dem werden sicherlich Gesetzgeber, Behörden und informierenden oder warnenden Systeme, wie die
Gerichte sowohl auf Bundesebene als auch in den Anzeige der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im
Bundesstaaten an der fortdauernden Klarstellung Fahrzeug oder ein Totwinkel-Assistent) können
von rechtlicher Verantwortlichkeit im weiteren Sinn ohne weiteres eingeführt werden, weil deren Funk-
mitwirken. tionen nicht oder nur zu einem geringen Teil in den
von Typgenehmigungsbestimmungen geregelten
Bereich fallen.
3.4 Anforderungen Damit elektronisch gesteuerte Assistenzsysteme,
an Fahrerassistenzsysteme die in sicherheitsrelevante und durch die Typgeneh-
vor dem Hintergrund migungsbestimmungen geregelten Fahrzeugkom-
von „Ratings“ und gesetzlichen ponenten und -funktionen eingreifen, genehmigt
Vorschriften werden können, wurde u. a. bei den Vorschriften zur
Fahrzeugbremse und zur Lenkanlage ein neuer Weg
Die Anforderungen an die Sicherheit von Fahrzeu- eingeschlagen. In Anhang 8 der UNECE-Regelung
gen, die sich in den Lastenheften für die Entwick- 13-H (Bremse) und in Anhang 6 der UNECE-Re-
lung neuer Fahrzeuge widerspiegeln, lassen sich in gelung 79 (Lenkanlage) wurden eher generische
-
folgende drei Gruppen einteilen:
Anforderungen aufgrund von Typgenehmi-
Anforderungen statt reiner Performance-Anfor-
derungen zu Sicherheitsaspekten definiert, die von
- gungsbestimmungen,
Anforderungen der Verbraucherorganisatio-
komplexen elektronischen Fahrzeugsteuerungssys-
temen im Rahmen der Typgenehmigung einzuhal-
entsprechender Vorschriften kann aber über die tung auf Basis des Testergebnisses errechnet wird.
1 Typgenehmigungsbestimmungen das Sicherheits- Siehe hierzu auch ▶ Kap. 11.
niveau nahezu aller neuen Fahrzeuge beeinflusst Strategisches Ziel von Verbraucherorganisatio-
2 werden. nen ist, die herstellerinternen Anforderungen um
weitere aus Sicht der Verbraucher für sinnvoll er-
achtete Anforderungen zu ergänzen: Hierzu dient
3 3.4.2 Anforderungen durch Euro die Vergabe von Bewertungen, die den Wert eines
NCAP Fahrzeugs in den Augen der Verbraucher steigern
4 können. Eine schlechte Bewertung oder sogar das
Der Gesetzgeber definiert mit den Anforderungen Nichtvorhandensein einer Bewertung kann dazu
5 der Typgenehmigung lediglich Mindeststandards, führen, dass das Fahrzeug bspw. für Flottenkun-
die erfüllt werden müssen, um mit einem neuen den aufgrund interner Standards gar nicht beschafft
Fahrzeugmodell den Zugang zum Markt zu erhalten. werden kann. Damit verleihen diese Bewertungen
6 Entsprechend müssen alle in den Markt gebrachten dem abstrakten Gut „Verkehrssicherheit“ einen
Neufahrzeuge die gesetzlichen Anforderungen er- realen Marktwert, der Investitionen seitens des
7 füllen. Diese Tests für die Typprüfung sagen jedoch Fahrzeugherstellers rechtfertigt. Da dieser Prozess
zunächst nichts über die Unterschiede im Sicher- eine starke wirtschaftliche Bedeutung hat, ist ein
heitsniveau der verschiedenen typgenehmigten transparentes Bewertungsverfahren zwingend er-
8 Fahrzeugmodelle aus, die den Zugang zum Markt forderlich.
durch Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen Die Anforderungen an die Sicherheit von Fahr-
9 erlangt haben. An diesem Punkt setzt die Aufgabe zeugen, die vom Gesetzgeber und von Verbraucher-
der Verbraucherorganisationen an: Durch eigene organisationen aufgestellt werden, waren und sind
10 (Crash-)Tests soll das unterschiedliche Sicherheits- damit eine treibende Kraft für viele Innovationen in
niveau bereits genehmigter Fahrzeugmodelle ermit- der Fahrzeugtechnik. Beispielsweise sind in der Ver-
telt und als Verbraucherinformation differenziert gangenheit viele technische Innovationen zum passi-
11 publiziert werden. Aufgrund dieser Zielsetzung der ven Fußgängerschutz auf die entsprechenden neuen
Verbraucherorganisationen wird deutlich, dass es Anforderungen in der europäischen Gesetzgebung
12 wenig Sinn ergeben würde, wenn bei einem Ver- zurückzuführen. Dieses Beispiel zeigt jedoch auch,
braucherschutztest lediglich die Typgenehmigungs- dass die Anforderungen des Gesetzgebers und der
tests mit ihren Anforderungen wiederholt würden, Verbraucherorganisationen in der Vergangenheit
13 da das wenig differenzierende Ergebnis eines sol- maßgeblich auf den Bereich der passiven Fahrzeug
chen Ansatzes für die Testfahrzeuge die Bewertung sicherheit bezogen waren. Innovationen im Bereich
14 „Test bestanden“ wäre. Eine brauchbare Differen- der aktiven Sicherheit und der Fahrerassistenzsys-
zierung der Produkte hinsichtlich ihrer Sicherheit teme, wie beispielsweise ESC, das nachweislich einen
15 wird häufig dadurch ermöglicht, dass sowohl die sehr großen Sicherheitsgewinn im realen Unfallge-
Testbedingungen als auch die Bewertungskriterien schehen hat, sind aufgrund der Kreativität und Leis-
verglichen mit dem Genehmigungstest verschärft tungsfähigkeit der Automobil- und Zulieferindustrie
16 werden. Ferner muss ein Verbrauchertest eine gra- entstanden. Obwohl in diesem Beispiel auch sichtbar
duelle Differenzierung der Produkte ermöglichen, wird, dass die Verbraucherinformation zu einer sehr
17 während der Test in der Gesetzgebung lediglich eine schnellen Verbreitung des ESC-Systems in fast allen
binäre Differenzierung in „bestanden“ oder „nicht Fahrzeugklassen geführt hat.
bestanden“ erlaubt. Im vergangenen Jahrzehnt gewannen Not-
18 Beim European New Car Assessment Pro- bremssysteme, die bestimmte Unfalltypen durch
gramme (Euro NCAP) [30] wird die graduelle Dif- automatisches Abbremsen beeinflussen oder den
19 ferenzierung der Testergebnisse dadurch erreicht, Fahrer durch geeignete Warnungen zum Bremsen
dass eine obere und untere Performance-Grenze animieren, stark an Bedeutung. Diese Dynamik
20 festgelegt wird und in diesen Grenzen mittels einer nahm Euro NCAP auf und verabschiedete im Jahr
linearen Interpolation („sliding scale“) die Bewer- 2014 ein Testverfahren für erste Notbremssysteme,
3.4 • Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme
49 3
tung liefert. Hiermit werden ferner die Anforde- Mit den Instrumenten Beyond NCAP, „Fitment
rungen für eine sehr gute Bewertung weiter erhöht. Rates“ und ab 2016 „Dual Rating“ hat Euro NCAP
So fällt ein Fahrzeughersteller, der zukünftig nicht eine Lösung gefunden, mit der die Bewertung dem
in die neue Sicherheitstechnik investiert, im Ster- technischen Fortschritt kontinuierlich angepasst
ne-Rating hinter die Konkurrenz zurück. werden kann. Hierdurch soll das Ziel einer grö-
ßeren und schnelleren Marktdurchdringung von
Da die Einführung von neuen Sicherheitsfunktio- neuartigen Sicherheitssystemen (durch stimulierte
nen in der Regel vom Premium-Segment hinunter Nachfrage und damit höheren Produktionszahlen
zu den Fahrzeugen des Massenmarktes verläuft und einhergehend geringeren Fertigungskosten)
und dafür einige Jahre benötigt, kann eine für die erreicht werden.
Bewertung verpflichtende Einführung Hersteller
des Massenmarktes systematisch benachteiligen.
Zur Abfederung dieser Benachteiligung hat Euro 3.5 Fazit
NCAP das Konzept der „Fitment Rates“ eingeführt:
Für neu in die Bewertung eingeführte Funktionen Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass mit
wird innerhalb der ersten Jahre kein serienmäßi- der systematischen Unterscheidung von Fahreras-
ger Einsatz gefordert, sondern eine Ausstattungs- sistenzsystemen nach ihrer Wirkweise hier eine
rate, die sich in der Größenordnung zwischen 50 % umfassende Gliederung vorgeschlagen wird, die
und 70 % bewegt. Ab 2016 wird das Prinzip der sowohl technische, rechtliche und verhaltenswis-
„Fitment Rate“ durch ein „Dual Rating“ abgelöst: senschaftliche Aspekte der Systemwirkung berück-
Beim Dual Rating werden in der Basis-Bewertung sichtigt. Nach diesem Verständnis zeigt sich bei
nur die Sicherheitssysteme eines Fahrzeugmodells der im vorliegenden Kapitel vertieft betrachteten
berücksichtigt, die serienmäßig zu 100 % in Eu- rechtlichen Sicht auf kontinuierlich wirkende Sys-
ropa (EU-28) angeboten werden. Zusätzlich hat teme (Kategorie B), dass es zu Unstimmigkeiten
jedoch der Hersteller die Möglichkeit, eine zweite kommt, sobald ein Automatisierungsgrad erreicht
Bewertung für sein Fahrzeugmodell inklusive der ist, der vorsieht, den Fahrer auch aus der mental
Sicherheitssysteme zu erhalten, die lediglich über überwachenden Funktion im Fahrer-Fahrzeug-Re-
die Mehrausstattung und damit aufpreispflichtig gelkreis – ggf. auch nur zeitweise – zu entlassen.
angeboten werden. Hiermit eröffnet Euro NCAP Für die entsprechenden Automatisierungsgrade
der Fahrzeugindustrie die Möglichkeit für preis- (ab Stufe 3, Hochautomatisierung) ergeben sich
sensitive Modelle und/oder Märkte neue und teure Widersprüche mit geltendem Recht. Bislang wur-
Sicherheitsausstattung gegen einen Mehrpreis zu den – soweit erkennbar – ausschließlich in einigen
vermarkten und dafür das zweite, sogenannte Euro Bundesstaaten der USA Gesetze erlassen, die den
NCAP „Safety-Pack“-Rating zu verwenden. Die Betrieb solcher Fahrzeuge mit jeweils spezifischen
Verwendung des „Safety-Pack“-Ratings unterliegt Einschränkungen und Unterschieden erlauben.
jedoch folgenden Anforderungen, die ein Fahrzeug- Fahrzeugsysteme, die sich positiv auf die Fahr-
hersteller einzuhalten hat: zeugsicherheit auswirken, können aufgrund von
1. Die möglichen Sicherheitssysteme, die beim Typgenehmigungsbestimmungen im Bereich der
einem „Safety-Pack“-Rating Berücksichtigung UNECE als verpflichtend erklärt werden und finden
finden, legt Euro NCAP fest. so Eingang in nahezu alle Neufahrzeuge. Allerdings
2. Der Fahrzeughersteller verpflichtet sich, beide Be- ist das Instrument der Typgenehmigung vergleichs-
wertungen (Basis-Rating und „Safety-Pack“-Ra- weise unflexibel und die Verabschiedung neuer
ting) immer in der Werbung zu verwenden. oder geänderter Vorschriften ein langwieriger Pro-
3. Auch für das Sicherheitspaket wird von Euro zess, so dass nur unzureichend auf den schnellen
NCAP eine Mindestausstattungsrate gefordert, technischen Fortschritt im Bereich von Fahreras-
die der Fahrzeughersteller durch geeignete Mar- sistenzsystemen reagiert werden kann. Hier weisen
ketingmaßnahmen über die Produktionszeit des Bewertungssysteme unter dem Gesichtspunkt des
Fahrzeugmodells erreichen muss. Verbraucherschutzes – wie Euro NCAP – Stärken
52 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
risiko in den Straßenverkehr tragen. Dieses maschi- 6 SAE International, „On‐Road Automated Vehicles Standards
Committee”: „Taxonomy and Definitions for Terms Related
nelle Steuerungsrisiko mag zwar deutlich geringer
to On‐Road Motor Vehicle Automated Driving Systems” Do-
sein als der Nutzen für die Verkehrssicherheit, al- kument Nr. J3016_201401 in Erarbeitung seit 16.07.2012,
lerdings stellt sich diesbezüglich die Frage, ob die- Kurzdarstellung im Internet veröffentlicht unter: http://
ses neuartige Risiko von der Gesellschaft akzeptiert www.sae.org/works/documentHome.do?comtID=TE-
wird. Die Analyse der heute bestehenden rechtli- VAVS&docID=J3016_201401&inputPage=wIpSdOcDe-
TaIlS (abgerufen am 21.01.2014) und Bryant Walker Smith:
chen Situation nach deutschem Recht zeigt, dass das
SAE Levels of Driving Automation. Im Internet verfügbar
bisherige Rechtssystem in einigen konkreten Fällen unter: http://cyberlaw.stanford.edu/loda (abgerufen am
nicht dafür ausgelegt ist, diese neuartige Form der 21.01.2014)
maschinellen Fahrzeugsteuerung sachgerecht zu 7 Empfehlung der Kommission vom 22. Dezember 2006
erfassen (vgl. zuvor ▶ Abschn. 3.2.2.1 und ▶ Ab- über sichere und effiziente bordeigene Informations‐
und Kommunikationssysteme: Neufassung des europäi-
schn. 3.2.2.2). Auch die in einigen Bundesstaaten
schen Grundsatzkatalogs zur Mensch‐Maschine‐Schnitt-
der Vereinigten Staaten derzeit vorgenommenen stelle, Amtsblatt der Europäischen Union, 2007, L 32/200
rechtlichen Änderungen schaffen – wenngleich (2007/78/EG)
teilweise deutlich eingeschränkt – einen rechtli- 8 Gasser, T.: Die Belastbarkeit des Fahrzeugführers – Rechts-
chen Rahmen für solche Systeme. Sie vertrauen lage und Lösungsvorschlag angesichts zunehmender elek-
tronischer Möglichkeiten. Straßenverkehrsrecht (SVR) Heft
dabei aber zugleich möglicherweise zu Unrecht auf
6, 201–206 (2008)
eine unerreichbare technische Perfektion, also die 9 Kanz, C., Marth, C., von Coelln, C.: Haftung bei kooperati-
Abwesenheit eines maschinellen Steuerungsrisikos. ven Verkehrs‐ und Fahrerassistenzsystemen, Forschungs-
Die Frage nach der Akzeptanz dieses maschinellen bericht zum Projekt FE 89.0251/2010. BASt (2013). http://
Steuerungsrisikos ist deshalb von Bedeutung und www.bast.de/cln_032/nn_42642/DE/Publikationen/
Download-Berichte/downloads/haftung-assistenzsys-
bedarf parallel der Aufarbeitung.
teme.html, (Abgerufen 29.01.2014)
10 Bouska, W., Leue, A.: Straßenverkehrs‐Ordnung
Textausgabe mit Erläuterungen, Allgemeiner Verwal-
Literatur tungsvorschrift zur Straßenverkehrs‐Ordnung sowie
verkehrsrechtlichen Bestimmungen des Bundes‐Immis-
sionsschutzgesetzes, 23. Aufl. Jehle Verlag, Heidelberg
Verwendete Literatur (2009)
1 Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J., 11 König, P.: In: Hentschel, König, Dauer, (Hrsg.) Straßenver-
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer, kehrsrecht‐Kommentar, 42. Aufl. C. H. Beck‐Verlag, Mün-
M., Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., Vogt, W.: Rechtsfolgen chen (2013)
zunehmender Fahrzeugautomatisierung. Gemeinsamer 12 Deutsches Zustimmungsgesetz zum Wiener Übereinkom-
Schlussbericht der BASt‐Projektgruppe „Rechtsfolgen zu- men über den Straßenverkehr findet sich in BGBl II, 1977,
nehmender Fahrzeugautomatisierung“ Dokumentteil 1 Bd. S. 810 ff. Dort ist der Vertragstext in den Sprachen Englisch,
F 83. Wirtschaftsverlag NW, Bergisch Gladbach (2012) Französisch und Deutsch abgedruckt. Der Vertragstext ist
2 Kraiss, K.-F.: Benutzergerechte Automatisierung – Grund- in der ursprünglichen Fassung in allen authentischen Spra-
lagen und Realisierungskonzepte. In: at – Automatisie- chen (Chinesisch, Französisch, Russisch, Spanisch) in der
rungstechnik 46, Bd. 10, S. 457–467. Oldenbourg Verlag, United Nations Treaty Collection „B Road Traffic“ unter Zif-
München (1998) fer 19 abrufbar: https://treaties.un.org/pages/CTCTreaties.
3 Albrecht, F.: Fahrerassistenzsysteme zur Geschwindigkeits- aspx?id=11&subid=B&lang=en (abgerufen am 01.02.2014)
beeinflussung. Deutsches Autorecht (DAR) Heft 4, 186–198 13 Gasser, T.: Rechtliche Aspekte bei der Einführung von Fah-
(2005) rerassistenz‐ und Fahrerinformationssystemen. Verkehrs-
4 Maurer, M.: Entwurf und Test von Fahrerassistenzsystemen. unfall und Fahrzeugtechnik (VKU) Heft 4, 224–231 (2009)
In: Handbuch Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl. Vieweg+- 14 Wessels, J., Beulke, W.: Strafrecht Allgemeiner Teil (Rn. 93),
Teubner, Wiesbaden (2009). Kapitel 5 42. Aufl. C. F. Müller Verlag, Heidelberg (2012)
5 National Highway Traffic Administration (NHTSA): Prelimi- 15 Gold, C., Damböck, D., Lorenz, L., Bengler, K.: “Take over!”
nary Statement of Policy Concerning Automated Vehicles How long does it take to get the driver back into the loop?
(2013). http://www.nhtsa.gov/About+NHTSA/Press+Relea- Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society
ses/U.S.+Department+of+Transportation+Releases+Po- Annual Meeting 57(1), 1938–1942 (2013)
licy+on+Automated+Vehicle+Development (Erstellt: 30. 16 BGH Urteil v. 16.06.2009, AZ: VI ZR 107/08. „Zur Haftung
Mai 2013), (Abgerufen: 21.01.2014) eines Fahrzeugherstellers für die Fehlauslösung von Air-
bags“. Abrufbar unter der Entscheidungsdatenbank des
54 Kapitel 3 • Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung
Bundesgerichtshofes unter Verwendung von Aktenzei- 31 Seeck, A.: Die Zukunft der Fahrzeugsicherheitsbewertung
1 chen oder Entscheidungsdatum: http://juris.bundesge- für Typzulassung und Euro NCAP 6. Internationale VDI‐Ta-
richtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/list.py?Gericht=b- gung Fahrzeugsicherheit – Innovativer Kfz‐Insassen‐ und
gh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288 (abgerufen am Partnerschutz, Berlin, 18.‐19. Oktober 2007. (2007)
2 01.02.2014)
17 Lenz, T.: Zur Herstellerhaftung für die Fehlauslösung von
Airbags. Zeitschrift: Produkthaftung International (PHi)
3 198, 196 (2009)
18 Bewersdorf, C.: Zulassung und Haftung bei Fahrerassistenz-
systemen im Straßenverkehr. Duncker & Humblot, Berlin
4 (2005)
19 Bartels, A.: Grundlagen, technische Ausgestaltung und An-
13 hicles-are-probably-legal-united-states,
07.04.2014)
(Abgerufen:
Verkehrssicherheit
und Potenziale
von Fahrerassistenzsystemen
Matthias Kühn, Lars Hannawald
4.1 Unfallstatistik – 56
4.2 Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen – 65
Literatur – 70
.. Abb. 4.6 Anteil Hauptverursacher (Pkw-Fahrer) von Unfällen mit Personenschaden nach Altersgruppen [3]
60 Kapitel 4 • Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen
4
5
87 Ländern dagegen stieg die Zahl der Getöteten im
gleichen Zeitraum. 2010 gab es ca. 1,24 Mio. Verkehr-
stote weltweit [7]. Der Report der World Health Orga-
nisation (WHO) stützt seine Auswertungen dabei auf
-
teten weltweit vor [7]:
Sicherheitsgurt – Die Benutzung des Sicher-
heitsgurtes würde das Risiko tödlicher Verlet-
zungen von Frontinsassen um 50 % und von
6
Angaben, die von jedem Land geliefert werden. Da
nicht alle Ergebnisse und Zahlen vergleichbar sind,
existieren noch eine Reihe von Umrechnungsmetho-
den. Im aktuellen WHO-Report konnten so 175 Län-
- Fondinsassen sogar um 75 % reduzieren.
Geschwindigkeit – Eine Reduzierung der
Durchschnittsgeschwindigkeit um 5 % hätte
eine Reduzierung der Zahl Getöteter von über
7
8
der weltweit in die Analyse einbezogen werden [7].
Schwierig dabei gestaltet sich zunächst die welt-
weit einheitliche Anwendung der 30-Tage-Defini-
tion: Diese besagt, dass als Getöteter klassifiziert
- 30 % zur Folge.
Alkoholkonsum – Eine strikte Einführung
einer Grenze von maximal 0,5 Promille
Blutalkoholkonzentration könnte bei strikter
wird, wer innerhalb der ersten 30 Tage an den Fol- Kontrolle die Zahl der Getöteten um 20 %
9
10
gen des Verkehrsunfalls verstirbt. Nur als Verletzter
wird statistisch erfasst, wer nach diesen 30 Tagen
verstirbt. Nur 51 % aller Länder nutzen dieses Kri-
terium bisher, andere Länder liefern teilweise nur
- reduzieren.
Motorradhelm – Eine verbindliche Vorschrift
zur Nutzung von Motorradhelmen reduziert
das Risiko, bei einem Unfall zu versterben, um
Zahlen von Getöteten, die direkt an der Unfallstelle 40 %, das Risiko schwerer Kopfverletzungen
-
11 verstorben sind. Für diese Länder wird die verein- um 70 %.
heitlichte Zahl an Getöteten, die innerhalb von Kinderrückhaltesysteme – Die Wahrschein-
12 30 Tagen an den Folgen des Unfalls verstorben sind, lichkeit tödlicher Verletzungen kann bei Nut-
durch Umrechnungsmethoden prognostiziert. zung von Kinderrückhaltesystemen um rund
Der Tod durch Verkehrsunfälle rangiert der- 70 % bei Babys und zwischen 54 und 80 % bei
13 zeit an achter Stelle der Todesursachen und in der Kindern reduziert werden.
Gruppe der 15- bis 29-Jährigen sogar an erster Stelle;
14 rund drei von vier Getöteten sind dabei Männer [7]. Diese Maßnahmen sollen in der aktuellen „Decade
Obwohl nur die Hälfte aller Fahrzeuge weltweit in for Action on Road Safety“ forciert werden. Bei
15 Ländern mit mittleren Einkommen zugelassen ist, gleichbleibender und nicht steigender Verkehrssi-
beläuft sich der Anteil an Getöteten hingegen auf cherheit prognostiziert man für das Jahr 2020 auf-
80 % [7]. Nahezu 23 % aller getöteten Verkehrsteil- grund des zunehmenden Verkehrs – insbesondere
16 nehmer weltweit sind Motorradfahrer, 22 % Fuß- in den Entwicklungsländern – einen Anstieg um
gänger und ca. 5 % Radfahrer. Diese ungeschützten mehr als 50 % auf dann weltweit 1,9 Mio. Verkehrs
17 Verkehrsteilnehmer machen somit insgesamt die tote jährlich.
Hälfte aller weltweit Getöteten im Straßenverkehr
aus [7]. In Ländern mit durchschnittlich niedrigeren
18 Einkommen ist das Risiko, an einem Verkehrsunfall 4.1.3 Unfallgeschehen
zu sterben, mehr als doppelt so hoch wie in Län- nach Fahrzeugart
19 dern mit starker wirtschaftlicher Leistung. Auch in
Ländern mit hohen Durchschnittseinkommen sind Zum weiteren Verständnis des Unfallgeschehens
20 sozial schwächer gestellte Menschen stärker gefähr- der einzelnen Fahrzeugarten trägt ein Wechsel
det, im Straßenverkehr ums Leben zu kommen [7]. der Betrachtungsebene und das Heranziehen von
4.1 • Unfallstatistik
61 4
.. Tab. 4.1 Verteilung der Unfallarten in Abhängigkeit der Fahrzeugart auf Basis einer GIDAS-Auswertung [3]
Unfälle unter Beteiligung von: Pkw Lkw Bus Tram Motorrad Fahrrad
Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das anfährt, 4,1 % 5,0 % 3,7 % 3,7 % 5,0 %
anhält oder im ruhenden Verkehr steht
Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das voraus- 16,1 % 27,4 % 5,7 % 11,7 % 2,9 %
fährt oder wartet
Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das seitlich 4,7 % 10,6 % 7,6 % 7,4 % 5,3 %
in gleicher Richtung fährt
Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das entge- 7,5 % 9,4 % 5,1 % 6,8 % 5,5 %
genkommt
Zusammenstoß zwischen Fahrzeug und Fußgänger 11,0 % 6,9 % 23,1 % 2,6 % 4,3 %
Aufprall auf ein Hindernis auf der Fahrbahn 0,2 % 0,3 % 0,2 % 1,2 % 1,0 %
Abkommen von der Fahrbahn nach rechts 7,9 % 6,1 % 0,8 % 8,2 % 1,6 %
Abkommen von der Fahrbahn nach links 6,4 % 3,9 % 0,3 % 4,0 % 1,0 %
(2)
Abbiegen, Wenden, Rückwärts- und Anfahren 18 %
Zusammenstoß
4 mit anderem
Fahrzeug, das andere Fehler 16 %
vorausfährt oder 22,2
5 wartet
anfährt, anhält oder
0% 5% 10 % 15 % 20 %
im ruhenden
6 Verkehr steht
.. Abb. 4.8 Die häufigsten Unfallursachen bei Pkw-Unfällen
(3) mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
Zusammenstoß mit
7 anderem Fahrzeug,
das entgegenkommt
15,5
bilden das zweite typische Unfallmuster. Für diese
Analyse wurden 443 Schadenfälle mit Lkw-Be-
8 (4)
teiligung detailliert untersucht [8]. Bei den Ursa-
Zusammenstoß
zwischen Fahrzeug 12,1 chen der Unfälle dominieren der ungenügende
9 und Fußgänger Sicherheitsabstand und Fehler beim Abbiegen etc.
(s. . Abb. 4.10).
(5)
10 Zusammenstoß mit
4.1.3.3 Busse
anderem Fahrzeug, 6,9
das seitlich in glei- Die Analyse der Unfälle mit Beteiligung von
-
11 cher Richtung fährt
Kraftomnibussen ergab, dass es sich in etwa 30 %
(6) um Unfälle im Längsverkehr handelte, in 18 % um
12 Abkommen von
6,3
einen Abbiegeunfall und in 17 % um einen Fah-
der Fahrbahn nach runfall, bei dem der Fahrer die Kontrolle über sein
rechts/links
Fahrzeug verlor. Bezieht man den Einbiegen/Kreu-
13 zen-Unfall mit einem Anteil von etwa 15 % in die
(7)
Betrachtungen mit ein, so dominiert der Unfall an
14 Aufprall auf ein
Hindernis auf 0,1 Einmündungen und Kreuzungen mit etwa 33 %.
der Fahrbahn Die häufigsten Unfallursachen sind in Abbil-
15 dung . Abb. 4.11 dargestellt. Wie bereits erwähnt,
.. Abb. 4.7 Die häufigsten Pkw-Unfallszenarien entspre-
kann die Kenntnis der Ursachen in der dominieren-
den Gruppe der „anderen Fehler“ das Bild und da-
16 chend der Unfalldatenbank der Versicherer [8]
mit die Maßnahmenfindung erheblich beeinflussen.
Zusammenstoß
mit anderem Fahr- 22,3
zeug, das einbiegt 0% 5% 10 % 15 % 20 %
oder kreuzt
.. Abb. 4.10 Die häufigsten Unfallursachen bei Lkw-Unfällen
(3) mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
Zusammenstoß mit
anderem Fahrzeug, 18,5
das seitlich in glei-
cher Richtung fährt
(4) 13 % ungenügender Sicherheitsabstand
Zusammenstoß mit
anderem Fahrzeug, 14,3
Abbiegen, Wenden,
das entgegenkommt 12 %
Rückwärts- und Anfahren
(5) 11 %
falsches Verhalten
gegenüber Fußgängern
Abkommen von
der Fahrbahn nach 5,1
rechts/links 36 % andere Fehler
(6)
Zusammenstoß 0% 10 % 20 % 30 % 40 %
zwischen Fahrzeug 4,4
und Fußgänger .. Abb. 4.11 Die häufigsten Unfallursachen bei Bus-Unfällen
mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
(7)
Aufprall auf ein chung unterteilt und mit Auswertungen der Un-
Hindernis auf 0,4
der Fahrbahn falldatenbank der Versicherer (UDB) angereichert
[8]. Das dafür zugrunde liegende Unfallmaterial
umfasst 880 Unfälle mit MZR.
.. Abb. 4.9 Die häufigsten Lkw-Unfallszenarien entspre-
chend der Unfalldatenbank der Versicherer [8] Die Analysen der Alleinunfälle (siehe
. Abb. 4.13) zeigen, dass 56 % aller Alleinunfälle
durch einen Sturz aus Geradeausfahrt entstehen, an
Hauptverursacher und Beteiligte zu unterschei- zweiter und dritter Stelle folgen das Abkommen von
den (s. . Abb. 4.12). Addiert man die Alleinunfälle der Fahrbahn nach rechts mit 26 % und das Abkom-
und die Unfälle mit zwei Beteiligten, die durch men von der Fahrbahn nach links mit 12 %. Diese
den MZR-Fahrer verursacht wurden, so lässt sich beiden Szenarien werden geprägt durch nicht ange-
die Aussage ableiten, dass 51 % aller Unfälle durch passte Geschwindigkeit in Kurven und ungünstige
MZR-Fahrer verursacht wurden. Witterungsbedingungen.
Um die typischen Unfallszenarien zu erkennen, Bei den Unfällen mit zwei Beteiligten, bei de-
wurden im Folgenden die Alleinunfälle sowie die nen der MZR-Fahrer als Hauptverursacher einzu-
Unfälle mit zwei Beteiligten nach Hauptverursa- stufen war (siehe . Abb. 4.14), ist das Szenario des
64 Kapitel 4 • Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen
n = 44.066 .. Abb. 4.12 Unfallbetei-
1 Unfälle mit mehr
als zwei Beteiligen
ligung bei Unfällen mit
6%, n = 2.540
motorisierten Zwei
rädern in Deutschland
2 mot. Zweirad im Jahr 2012 [2]
als Unfall-
verursacher*
3 33%, n = 9.931
4 Alleinunfälle
26%, n = 11.312
mot. Zweirad
5 Unfälle mit zwei Beteiligten
als Beteiligter*
67%, n = 20.283
68%, n = 30.214
6
7
*: ohne Mehrfachnennungen
8
9 .. Abb. 4.13 Unfallszena-
rien bei Alleinunfällen von
n = 61
motorisierten Zweirädern
10 [8]
11
12 Abkommen von der
Fahrbahn nach rechts
26%, n = 20
14 Abkommen von
der Fahrbahn
nach links
15 12%, n = 9
16
17 Sturz beim
Fahrstrefienwechsel
Sturz beim nach rechts
18 Fahrstreifenwechsel 6%, n = 2
nach links
2%, n = 2
19
20
4.2 • Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen
65 4
.. Abb. 4.14 Unfallszena-
rien bei Unfällen mit zwei
Beteiligten und dem moto-
risierten Zweiradfahrer als
Hauptverursacher [8]
Zusammenstoß mit
seitlich in gleicher
Richtung fahrendem
Fahrzeug
Zusammenstoß mit
24%, n = 43
stehendem, parkendem
oder verkehrsbedingt
haltendem Fahrzeug
8%, n = 15
Zusammenstoß mit
entgegenkommendem
Fahrzeug
41%, n = 74 Zusammenstoß mit einem
von rechts kommendem
Fahrzeug
16%, n = 30
Zusammenstoß mit
einem von links
kommendem Fahrzeug
16%, n = 30
n = 181
Zusammenstoßes mit einem entgegenkommenden Zusammenstoß mit einem in gleicher Richtung fah-
Fahrzeug mit 41 % am häufigsten vertreten, gefolgt renden MZR mit 20 % und dem Zusammenstoß mit
vom Zusammenstoß mit einem in gleicher Richtung einem von rechts kommenden MZR mit 17 %.
fahrenden Fahrzeug mit 24 % und vom Zusammen-
stoß mit einem von rechts kommenden Fahrzeug
mit 16 %. Weitere Szenarien sind der Zusammen- 4.2 Sicherheitspotenzial
stoß mit einem stehenden, parkenden oder ver- von Fahrerassistenzsystemen
kehrsbedingt haltenden Fahrzeug mit 8 % sowie der
Zusammenstoß mit einem von links kommenden Fahrerassistenzsysteme sind elektronische Systeme
Fahrzeug mit ebenfalls 8 %. im Fahrzeug, die den Fahrer bei seiner Fahraufgabe
Die Auswertung der Unfälle mit zwei Betei- unterstützen sollen. Diese enthalten häufig die Prä-
ligten, bei denen der MZR-Fahrer als Unfallbetei- missen einer Steigerung des Fahrkomforts, der Si-
ligter hervorging (siehe . Abb. 4.15), zeigen den cherheit oder der Ökonomie des Fahrens. In diesem
Zusammenstoß mit einem von links kommenden Kapitel wird ausschließlich auf den Aspekt der Si-
MZR mit 32 % und den Zusammenstoß mit einem cherheit von Fahrerassistenzsystemen eingegangen.
entgegenkommenden MZR mit 29 % als die domi- In engem Zusammenhang mit der Sicher-
nierenden Unfallszenarien. Sie werden gefolgt vom heit von Fahrzeugen stehen Unfallsituationen. In
66 Kapitel 4 • Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen
n = 378 .. Abb. 4.15 Unfallsze-
1 narien bei Unfällen mit
zwei Beteiligten und dem
motorisierten Zweiradfah-
2 rer als Beteiligten [8]
Zusammenstoß mit
3 entgegenkommendem
Motorrad Zusammenstoß mit
29%, n = 111 in gleicher Richtung
4 fahrendem Motorrad
20%, n = 75
5 Zusammenstoß mit
von rechts
Zusammenstoß mit
6 von links kommendem
kommendem
Motorrad
Motorrad 17%, n = 66
32%, n = 120
7
8
Zusammenstoß mit
stehendem oder
9 parkendem Motorrad
2%, n = 6
10
das zu späte Erkennen eines Bremsmanövers des
vorausfahrenden Fahrzeugs oder auch ein auf die
11 Straße rennendes Kind sein. Nach Eintreten die-
ser Situation folgt die Phase der Gefahr. Diese zwei
12 Phasen treten im täglichen Verkehrsgeschehen re-
lativ häufig auf, ohne dass dies jedes Mal zwingend
zu einem Unfall führt. Die kritische Schwelle eines
13 Unfalls wird erst mit dem Erreichen des Zeitpunkts
.. Abb. 4.16 Unfallablaufphasen nach dem ACEA-Modell
der Unvermeidbarkeit, besser bekannt als „point of
14 und Einordnung der Bereiche aktiver, passiver und tertiärer
Sicherheit und Fahrerassistenz no return“, überschritten. Im Anschluss folgt die
Phase vor der Kollision die je nach Unfall relativ
15 der folgenden Abbildung ist ein Unfallablauf mit kurz ist. Nach dem Anprall folgt die Phase wäh-
seinen einzelnen Phasen schematisch dargestellt rend der Kollision und endet mit dem Stillstand
(s. . Abb. 4.16). Diese Darstellung wurde vom aller Beteiligten in Unfallendlage – in dieser Phase
16 europäischen Dachverband der Automobilindu- entstehen üblicherweise die höchsten Belastungen
strie entwickelt (Association des Constructeurs und damit auch die Verletzungen der Beteiligten.
17 Européens d’Automobiles – ACEA). Demgemäß Die Phase nach der Kollision betrifft dann even-
durchläuft jeder Unfall verschiedene Phasen, be- tuelle Rettungsmaßnahmen, beispielsweise mit der
ginnend mit der Phase „Normalfahrt“, in der der Absetzung eines Notrufs.
18 Unfall für den Fahrer zwar noch nicht absehbar Man erkennt, dass sich der Bereich von aktiven
ist, jedoch bereits konditionelle Aspekte wie bei- Sicherheits- und Fahrerassistenzsystemen in den
19 spielsweise die bisherige Fahrtdauer schon auf vorkollisionären Phasen 1 bis 3 befindet und mit
den Fahrer einwirken. Diese Phase endet mit der dem ersten Anprall endet. Je nach Wirkbereich des
20 unfallauslösenden kritischen Situation, die jedem Systems kann erreicht werden, dass keine kritische
Unfall voransteht. Diese kritische Situation kann Situation mehr entsteht (z. B. das Navigationssys-
4.2 • Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen
67 4
tem, das die Ablenkung des Fahrers von der Fahr- Einfluss eines FAS nicht mehr stattgefunden hätte.
aufgabe minimiert; Adaptive Cruise Control, die Zeigt die Analyse aber, dass er dennoch passiert
für die Einhaltung eines ausreichenden Abstands wäre, jedoch möglicherweise mit leichteren Unfall-
sorgt) oder die bereits eingetretene kritische Situa- folgen, so gilt dieser als positiv beeinflussbar.
tion entschärft (z. B. ESC) oder aber zumindest die Wesentlich genauer kann die Darstellung mit-
Aufprallenergie reduziert wird, wenn der Zeitpunkt tels Simulation durchgeführt werden: Auch hierbei
der Unvermeidbarkeit bereits überschritten ist (z. B. werden die Unfälle in einer prospektiven Betrach-
Bremsassistent). Durch diese Vielfalt und das breite tungsweise nach der Methode „Was wäre wenn …“
Wirkspektrum von Fahrerassistenzsystemen bedarf untersucht. Durch die mittlerweile sehr detailgetreu
es spezieller Methoden bei der Bestimmung des Si- abbildbare Unfallsituation in der Simulationsumge-
cherheitspotenzials. bung können auch Systeme in Hinblick auf Ihren
Nutzen bewertet werden, die in Ihrer Funktiona-
lität deutlich komplexer agieren. In Hinblick auf
4.2.1 Methoden zur Bewertung warnende und informierende Systeme ist zudem
des Sicherheitspotenzials noch die menschliche Reaktion in Form eines Fah-
von FAS rermodells abzubilden. Die Definition dieses Fah-
rermodells stellt dabei eine große Herausforderung
Das Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsys- dar, da nicht immer von einer adäquaten Reaktion
temen (FAS) kann auf unterschiedliche Art und des Fahrers ausgegangen werden kann. In der Stu-
Weise bestimmt werden. So kann beispielsweise ein die „Equal Effectivness for Pedestrian Safety“ [10]
retrospektiver Vergleich zwischen zwei Unfallgrup- wurde beispielsweise der Nutzen eines Bremsassis-
pen durchgeführt werden: „Fahrzeuge mit FAS“ vs. tenten in Bezug auf alle Fußgängerunfälle in GIDAS
„Fahrzeuge ohne FAS“. Lie et al. haben diesen An- untersucht. Dabei wurden in allen Unfallszenarien
satz für den Wirksamkeitsnachweis der „Electronic mit Pkws untersucht, welche positiven Auswirkun-
Stability Control“ (ESC) auf Basis von schwedischen gen ein Notbremsassistent durch die zu erwartende
Unfalldaten angewendet [9]. geringere Anprallgeschwindigkeit des Fahrzeugs
Für die im Folgenden dargestellten Ergebnisse am Fußgänger hat. Im Anschluss an diese Einzel-
wurde die alternative Methode „Was wäre wenn…“ fallbetrachtung von über 700 realen Fußgängerun-
verwendet [8]. Hierbei wird der Unfallablauf be- fallszenarien wurden die Reduzierungen der Zahl
trachtet – so wie er in der Realität stattfand – und schwerverletzter und getöteter Fußgänger mit den
dem errechneten Unfallablauf ein generisches Fah- bekannten Reduktionspotenzialen anderer Fußgän-
rerassistenzsystem gegenübergestellt. Generisch be- gerschutzmaßnahmen verglichen [10].
deutet in diesem Zusammenhang ein System, das Alternativ kann auch der Field Operational
frei zusammengestellte Systemeigenschaften besitzt Test (FOT) zur Analyse des Sicherheitspotenzials
und damit kein Produkt auf dem Markt abbildet. zum Einsatz kommen. Dieser wird hauptsächlich
Auf diese Weise kann ermittelt werden, welchen zur Evaluierung von neuen Technologien, z. B. auch
Einfluss ein bestimmtes Fahrerassistenzsystem auf FAS, eingesetzt [11]. Dazu wird das Fahrzeug mit
das Unfallgeschehen hätte, wenn alle Fahrzeuge umfangreicher Messtechnik ausgestattet, der Fahrer
mit dem betrachteten System ausgestattet wären. wird dann instruiert, beispielsweise einen Zeitraum
Zur Umsetzung dieser Methode müssen sowohl die mit eingeschaltetem bzw. ausgeschaltetem FAS zu
Unfallumstände als auch die Eigenschaften (Funkti- fahren. Möglich wurde diese Art der Verhaltensbe-
onalitäten) des zu untersuchenden Systems bekannt obachtung durch den rasanten technischen Fort-
sein bzw. für ein generisches System festgelegt wer- schritt in Bezug auf die Sammlung, Speicherung und
den. Das angewendete Mehrstufenverfahren im Analyse von großen Datenmengen und den immer
Rahmen dieser Methode unterschied hierbei nach kleiner werdenden Messinstrumenten. Aufgezeich-
zwei Aspekten: ob der Unfall vermeidbar oder nur net wird all das, was notwendig ist, um das Fahrver-
positiv beeinflussbar gewesen wäre. Ein Unfall gilt halten und die Funktionalität des FAS zu erklären
als theoretisch vermeidbar, wenn dieser durch den und zu beschreiben: beginnend beim Umfeld über
68 Kapitel 4 • Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen
.. Tab. 4.4 Sicherheitspotenzial von FAS für Lkws in Abhängigkeit der Aufbauart [8]
v = vermeidbar, a = adressierbar
.. Tab. 4.5 Sicherheitspotenzial von FAS für Busse .. Tab. 4.6 Sicherheitspotenzial von FAS für Busse
bezogen auf alle Bus-Unfälle [8] in Abhängigkeit vom Einsatzzweck [8]
tivität von reinen Notbremssystemen in bestimmten 6 Auerbach, K.: Schwer‐ und schwerstverletzte Straßenver-
1 unfallkritischen Situationen erhöht werden, da rein
kehrsunfallopfer BASt‐Newsletter, Bd. 2. Bergisch Glad-
bach, Bergisch Gladbach (2014)
fahrdynamisch betrachtet ein Ausweichen noch zu 7 Global status report on road safety 2013 supporting a
2 einem späteren Zeitpunkt im Vergleich zum Brem- decade of action, © world health organization, 2013
sen erfolgen kann. Die Bewertung solcher Funktio- 8 Hummel, T., Kühn, M., Bende, J., Lang, A.: Fahrerassistenz-
nalitäten vor dem Hintergrund ihres Einflusses auf systeme – Ermittlung des Sicherheitspotentials auf Basis
3 die Erhöhung der Verkehrssicherheit steht noch aus,
des Schadengeschehens der Deutschen Versicherer For-
schungsbericht FS, Bd. 03. Gesamtverband der Deutschen
muss aber unbedingt erfolgen. Diese Aufgabe stellt Versicherungswirtschaft e. V., Berlin (2011)
4 allerdings noch höhere Anforderungen an die Qua- 9 Lie, A., Tingvall, C., Krafft, M., Kullgren, A.: The effective-
lität von Analysemethoden und die Unfalldaten. ness of ESC (Electronic Stability Control) in reducing real
5 Allgemein wird die Entwicklung der FAS vom life crashes and injuries 19th International technical Con-
ference on the Enhanced Safety of Vehicles Conference
Megatrend des hochautomatisierten Fahrens profi-
(ESV). International, Washington D. C. (2005)
tieren: Wir werden zukünftig Systeme in den Fahr-
6 zeugen finden, die die Grenze zwischen Komfort-
10 Hannawald, L., Kauer, F.: Equal Effectivness Study on Pe-
destrian Protection. TU Dresden, Dresden (2003)
und reinem Sicherheitssystem auf der einen und der 11 Benmimoun, M., Kessler, C., Zlocki, A., Etemad, A.: euroFOT:
7 Unterscheidung zwischen einzelnen FAS-Funktio- Feldversuch und Wirkungsanalyse von Fahrerassistenzsys-
temen – erste Ergebnisse 20. Aachener Kolloqium „Fahr-
nalitäten auf der anderen Seite verschwimmen las-
zeug‐ und Motorentechnik”, Aachen. (2011)
sen. Die Verkehrssicherheit wird davon profitieren,
8 wenn es nicht mehr nötig sein wird, als Fahrer ein
Verständnis der einzelnen FAS-Funktionalitäten zu
9 entwickeln, um Warnungen etc. richtig interpretie-
ren zu können. Vielmehr ist eine fließende Schutz-
10 zone um das Fahrzeug sinnvoll, die das natürliche
Verhalten des Fahrers in kritischen Situationen un-
terstützt. Dies alles muss mit der Weiterentwicklung
11 der Mensch-Maschine-Schnittstelle einhergehen,
um Warnungen oder Eingriffe so an den Fahrer an-
12 zupassen, dass eine Fehlinterpretation ausgeschlos-
sen ist. Die Unfallanalysen zeigen, dass heutige Sys-
teme noch über deutliche Schwachstellen verfügen.
13
14 Literatur
16 3
Wiesbaden (2012)
Hannawald, L.: Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden
GmbH, Analyse GIDAS Stand 31.12.2013, unveröffentlicht,
17 4
Dresden, 2014
Meyer, R., Ahrens, G.-A., Aurich, A.P., Bartz, C., Schiller, C.,
Winkler, C., Wittwer, R.: Entwicklung der Verkehrssicherheit
18 und ihrer Rahmenbedingungen bis 2015/2022 Berichte
der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bd. 224. Wirtschafts-
verlag NW, Bergisch Gladbach (2012)
19 5 Malczyk, A.: Schwerstverletzungen bei Verkehrsunfällen
Fortschritt‐Berichte VDI‐Reihe 12, Bd. 722. VDI‐Verlag,
Düsseldorf (2010)
20
71 5
Verhaltenswissenschaftliche
Aspekte von
Fahrerassistenzsystemen
Bernhard Schlag, Gert Weller
Um verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fah- Anstrengung wieder, den es erfordert, eine Aufgabe
1 rerassistenzsystemen beurteilen zu können, muss auszuführen. Der Schweregrad dieser Aufgabe bil-
der Begriff Fahrerassistenzsystem verhaltenswis- det die Belastung durch diese Aufgabe ab: Die Ge-
2 senschaftlich relevant definiert werden: Moderne samtbelastung ist die Summe der Belastungen durch
Fahrerassistenzsysteme sind solche Systeme, bei alle Aufgaben und Umgebungsbedingungen. Belas-
denen entscheidende Komponenten der mensch- tung und Beanspruchung können nicht gleichge-
3 lichen Kognition von den Systemen übernommen setzt werden – auch wenn es zunächst den Anschein
werden. Für Engeln und Wittig (2005, zitiert in [1]) hat. Dies liegt daran, dass die gleiche Belastung zu
4 sind diese entscheidenden Komponenten die Wahr- unterschiedlichen Beanspruchungen führen kann –
nehmung und die Evaluation – also die Bewertung je nachdem, über welche Ressourcen die betroffene
5 des Wahrgenommenen. Die reine Ausführung einer Person aktuell verfügt. Das Ausmaß bzw. die Ver-
Handlung zählt somit nicht zum Begriff der Fah- fügbarkeit der Ressourcen variiert innerhalb eines
rerassistenz. Menschen und unterscheidet sich auch zwischen
6 Die Übernahme oder Automatisierung dieser Menschen untereinander. So kann die gleiche Auf-
zentralen Komponenten der menschlichen Infor- gabe, zu unterschiedlichen Tageszeiten ausgeführt,
7 mationsverarbeitung durch ein technisches System zu unterschiedlicher Beanspruchung führen. Dies
verändert zwangsläufig die Fahraufgabe des Fahrers. gilt ebenso, wenn sich die Anzahl der gleichzeitig
Im Folgenden sollen positive und negative Aspekte ausgeführten Aufgaben ändert.
8 dieser Veränderung dargestellt werden. Hierzu wer- Eine formale Definition psychischer Belastung
den folgende Faktoren als relevant erachtet und im und Beanspruchung findet sich in der DIN Norm
9
--
Folgenden näher definiert:
visuelle und kognitive Beanspruchung,
-
EN ISO 10075-1 [2]:
Psychische Belastung: die Gesamtheit aller
10
- Situationsbewusstsein,
mentale Modelle.
erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den
Menschen zukommen und psychisch auf ihn
11
12
Veränderungen dieser Faktoren sind die Grundlage
für messbare Veränderungen des Fahrer- und Fahr-
verhaltens; diese Veränderungen werden als Verhal-
- einwirken.
Psychische Beanspruchung: die unmittelbare
(nicht die langfristige) Auswirkung der psychi-
schen Belastung im Individuum in Abhängig-
tensadaptation bezeichnet. keit von seinen jeweiligen überdauernden und
Eine Besonderheit ergibt sich aufgrund von augenblicklichen Voraussetzungen, einschließ-
13 Automatisierung durch den Wechsel zwischen ver- lich der individuellen Bewältigungsstrategien.
schiedenen Stufen der Automatisierung. In diesem
14 Zusammenhang spricht man von der Übernahme- Mit Blick auf Fahrerassistenzsysteme ist entschei-
problematik. dend, dass der Zusammenhang zwischen Belastung,
15 Das Kapitel gibt einen Überblick über die zu- Beanspruchung und Leistung nicht linear, sondern
vor genannten Punkte und stellt sie im Kontext der U-förmig (Belastung – Beanspruchung) bzw. um-
Unterstützung des Fahrers durch Fahrerassistenz- gekehrt U-förmig (Belastung – Leistung) ist (siehe
16 systeme (FAS) dar. . Abb. 5.1).
Dies bedeutet, dass sowohl Unterforderung als
17 auch Überforderung zu einer Leistungsabnahme
5.1 Visuelle und kognitive führen und der Mensch nur bei einem mittle-
Beanspruchung ren Belastungsniveau seine optimale Leistung er-
18 reicht. Die Leistung allein ist jedoch kein valider
Die Beanspruchung ist möglicherweise dasjenige Indikator für ungünstige Belastungen: Eine solche
19 verhaltenswissenschaftliche Konstrukt in Zusam- liegt bereits dann vor, wenn zusätzlicher Aufwand
menhang mit Fahrerassistenzsystemen, welches sich (englisch: effort) investiert werden muss, um ein
20 auch einem Laien am ehesten erschließt. Verein- hohes Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Dies
facht gesagt, gibt die Beanspruchung den Grad an ist in den Bereichen A1 und A3 in . Abb. 5.1 ver-
5.1 • Visuelle und kognitive Beanspruchung
73 5
1
2
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 5.2 Rahmenmodell von Situation Awareness [18] nach [17]
9 Unabhängig von der Art der Beanspruchung » „Situational Awareness is the perception of the
können die Maße zu deren Erhebung in drei Kate-
--
elements in the environment within a volume
10 gorien unterteilt werden [3]: of time and space, the comprehension of their
Leistungsmaße,
-
meaning, and the projection of their status in
physiologische Maße, the near future.“
11 subjektive Maße.
Nach dieser Definition gibt es drei hierarchische
12 Ein Überblick über einzelne Verfahren findet sich Ebenen des Situationsbewusstseins: die Wahrneh-
bei [15]. In der DIN EN ISO 17287 [16] findet mung der Situation (Ebene 1), deren Verständnis
sich ebenfalls eine Übersicht über einzelne Erhe- (Ebene 2) und die Vorhersage der zukünftigen Si-
13 bungsmethoden. Maße zur Erhebung der visuellen tuation (Ebene 3). Diese drei Ebenen sind im Kon-
Aufmerksamkeit werden dort als eigene Kategorie text der Handlungsregulation im von Endsley [17]
14 aufgeführt. entwickelten Rahmenmodell des Situationsbewusst-
seins in . Abb. 5.2 dargestellt.
15 5.2 Situationsbewusstsein
Der hierarchische Aufbau von Situationsbe-
wusstsein bedeutet, dass eine höhere Ebene von
Situationsbewusstsein nicht erreicht werden kann,
16 Situationsbewusstsein im Sinne von „man muss ohne dass Situationsbewusstsein auf den niedrige-
wissen, was um einen herum passiert“ ist unzwei- ren Ebenen vorliegt. Ausgegangen wird bei dieser
17 felhaft zum sicheren Fahren eines Autos notwendig. hierarchischen Definition davon, dass alle Stufen
Obwohl der Begriff Situationsbewusstsein (englisch: des Situationsbewusstseins beim Menschen vorlie-
Situation Awareness) zunächst selbsterklärend gen müssen.
18 scheint, offenbaren gängige Definitionen doch eine Fahrerassistenzsysteme können den Fahrer auf
Vielschichtigkeit des Konstruktes, die über die All- allen drei Ebenen des Situationsbewusstseins unter-
19 tagsbedeutung hinausgeht. So definiert Mica Ends- stützen, sie können jedoch auch dazu führen, dass
ley Situation Awareness wie folgt (1988, zitiert aus Situationsbewusstsein verringert wird. Dies ist der
20 [17]): Fall, wenn fehlerhafte, ungenaue oder zu wenig bzw.
zu viele Informationen dargeboten werden oder
5.2 • Situationsbewusstsein
75 5
wenn die Informationen zum falschen Zeitpunkt auf die Auswirkungen auf die Situation Awareness
oder am falschen Ort dargestellt werden. geachtet werden. Wichtig ist, dass der Fahrer Rück-
In diesen Fällen wirken Fahrerassistenzsysteme meldung zum Systemzustand erhält und – sofern
zunächst unmittelbar auf die Aufmerksamkeit und keine vollständige Automatisierung vorliegt – aktiv
in der Folge mittelbar auf das Situationsbewusstsein. im Regelkreis gehalten wird.
Nach einem Modell von Wickens [19] ist Aufmerk- Die Messung von Situation Awareness kann
samkeit sowohl Filter als auch Ressource: Als Filter
wirkt die selektive Aufmerksamkeit, welche man
--
über drei Arten erfolgen [24]:
subjektive Maße,
sich am ehesten als Lichtkegel eines Scheinwer-
fers vorstellen könnte, der eben nicht gleichzeitig
alle notwendigen Objekte beleuchten kann. Wird
Aufmerksamkeit auf irrelevante Informationen
- situationsspezifische Fragen,
Leistungsmaße.
-
onsbewusstsein führen können:
Annahme eines falschen Rollenverständnisses
(weg vom aktiven Bediener hin zum Überwa-
rekten Methoden gehören Leistungsmaße, aus denen
dann das Ausmaß an Situation Awareness erschlos-
sen werden muss. Als Leistungsmaße können Reak-
- cher),
Wechsel von aktiver Informationsverarbeitung
tionszeiten, aber auch alle anderen Fahr- und Fah-
rerverhaltensmaße verwendet werden, sofern diese
verwendet wird. Für die Verwendung von Blickma- Mentale Modelle sind wichtig, weil sie Erwartun-
1 ßen in Zusammenhang mit Situation Awareness ra- gen steuern und diese Erwartungen wiederum das
ten Durso et al. [24] allerdings zur Vorsicht. Verhalten der Fahrer beeinflussen [31]. Sie haben
2 Insgesamt betrachtet kann das Ausmaß an Si- zusammen mit anderen Formen interner Repräsen-
tuation Awareness des Fahrers eine erhebliche Aus- tationen wie Schemata und Skripten verschiedene
wirkung auf die Leistung des Gesamtsystems haben. Vorteile, die die Effektivität und Effizienz im Um-
-
3 Es stellt eine wichtige Voraussetzung bei der Inter- gang mit Systemen positiv beeinflussen können [32]:
pretation von Situationen und für die Auswahl von Sie sind im Regelfall einfacher aufgebaut als
4
5
Handlungen dar. Fahrerassistenzsysteme können zu
einer positiven aber auch negativen Veränderung
der Situation Awareness beitragen. - die Realität.
Ihr Gebrauch findet eher automatisch als
bewusst statt und erfolgt somit schneller bei
gleichzeitig geringerem Verbrauch an menta-
6
7
5.3 Mentale Modelle
berücksichtigt wird oder in einem unerwarteten Für die Bewertung der Verhaltensadaptation auf die
Umfang auftritt. Bevor einzelne Aspekte zur Erklä- Sicherheit ist das Verhältnis der intendierten Ver-
rung von Verhaltensadaptation dargestellt werden, haltensänderung (z. B. Entlastung des Fahrers) zu
soll Verhaltensadaptation definiert werden. Als all- den nicht intendierten Verhaltensänderungen rele-
gemein anerkannte Definition hat sich die folgende vant (siehe [45]): Nur wenn die Auswirkungen der
der OECD [40] durchgesetzt: intendierten Verhaltensadaptation absolut größer
sind als die Auswirkungen der nicht intendierten
» „Behavioural adaptations are those behaviours Verhaltensänderungen, ist die Maßnahme erfolg-
which may occur following the introduction of reich. Rothengatter [46] geht davon aus, dass diese
78 Kapitel 5 • Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen
nicht intendierten Effekte normalerweise nicht aus- Risiko zu minimieren, sondern das angestrebte Aus-
1 reichen, um die positiven Effekte aufzuheben. Zu maß an Risiko zu erreichen. Während die Theorie
beachten ist aber auch, dass der Einfluss nicht inten- ursprünglich auf aggregierter Ebene für eine ganze
2 dierter Verhaltensadaptation eher unterschätzt wird Gesellschaft entwickelt wurde, wandte man sie bald
[47]. Methodisch betrachtet ist es nicht nur schwie- auf individueller Ebene an. Demnach vergleicht ein
rig, die jeweiligen Anteile aufzuschlüsseln, es ist Fahrer sein momentan empfundenes Risiko mit
3 ebenso schwierig, die Wirkung einzelner Maßnah- seinem individuellen Zielrisiko. Durch Anpassung
men von anderen Einflüssen zu trennen. Ansätze des eigenen Verhaltens (z. B. Erhöhung oder Verrin-
4 hierzu finden sich bei Noland [48]. gerung der Geschwindigkeit), versucht der Fahrer
Gerade weil es schwierig ist, Änderungen des Diskrepanzen zwischen diesen beiden Größen zu
5 Verhaltens in eine intendierte versus eine nicht-in- minimieren. Da das Zielrisiko als stabil angesehen
tendierte Komponente zu trennen, ist es notwendig wird, bedeutet eine Verringerung des subjektiven
zu verstehen, welche Faktoren zu Verhaltensadapta- Risikos – beispielsweise durch den Einsatz von
6 tion führen und wie diese beeinflusst werden kön- Fahrerassistenzsystemen – dass der Fahrer diesen
nen. Fahrerassistenzsysteme können einen Einfluss vermeintlichen Sicherheitsgewinn durch riskanteres
7 auf die Beanspruchung und das Situationsbewusst- Verhalten ausgleicht, um sich wieder seinem Zielri-
sein haben und diese Veränderungen können ihre siko anzunähern.
Ursache in falschen mentalen Modellen zur Funk- Eine zweite einflussreiche Theorie, die das sub-
8 tionsweise oder den Einsatzgrenzen von Fahreras- jektive Risiko als eine der relevanten Verhaltens-
sistenzsystemen haben. Erreichen diese Verände- determinanten annimmt, ist die Zero-Risk-Theo-
9 rungen eine kritische Grenze, resultiert daraus eine rie von Näätänen und Summala. Entgegen Wildes
Veränderung – oder Anpassung – des Verhaltens. Theorie postulieren die Autoren, dass der Fahrer
10 Diese Art der Anpassung wurde in den vorangegan- keineswegs ein bestimmtes Risikoniveau aufsucht.
genen Kapiteln beschrieben. Vielmehr erfolgt eine Steuerung und Regelung des
Neben der Verhaltensanpassung nach vorigem Verhaltens über Sicherheitsspielräume („safety mar-
11 Muster kann es auch zur Verhaltensanpassung auf- gins“, siehe [55]), während das subjektive Risiko
grund einer Veränderung motivationaler Größen normalerweise bei null liegt. Wie bei Wilde wird
12 kommen. Hier werden in erster Linie das erlebte Ri- das subjektive Risiko als Produkt der subjektiven
siko als relevante Variable genannt und das Streben Wahrscheinlichkeit und des subjektiven Wertes
danach, die Beanspruchung auf einem optimalen (SEU, „subjective expected utility“) eines unange-
13 Niveau zu halten. Folgende drei Theorien werden nehmen Ereignisses bestimmt. Im Gegensatz zu
14
-
dabei als besonders einflussreich angesehen:
Risikohomöostasetheorie (RHT) nach Wilde
Wildes Annahmen ist der Fahrer bestrebt, das Ri-
siko gering zu halten. Unfälle entstehen gemäß der
15 - [49, 50],
Zero-Risk-Theorie von Näätänen und Sum-
Theorie aufgrund von Wahrnehmungs- und Inter-
pretationsfehlern bei der Bestimmung des Risikos.
Fuller [54] nennt als Beispiel das Fahren mit Blau- tensadaptation auf motivationaler Basis über den
licht, währenddessen die Fahrer bereit sind, ein von subjektiven Nutzen, der sich aus einer Verhalten-
der normalerweise akzeptierten Aufgabenschwie- sänderung ergibt. Ausgangspunkt ist eine Verän-
rigkeit abweichendes Niveau anzustreben. Im Mo- derung der Fahrzeug- oder Fahrumwelt. Nur wenn
dell von de Waard (siehe . Abb. 5.1) würde dies diese Veränderung eine objektive Erweiterung des
etwa dem Bereich A3 entsprechen, d. h. kurzzeitig Handlungsspielraums erlaubt, kann es zu einer
wird bewusst eine gegenüber der optimalen Auf- Verhaltensanpassung kommen. Bei der Bewertung,
gabenschwierigkeit höhere Aufgabenschwierigkeit ob eine objektive Erweiterung des Handlungsspiel-
angestrebt. Dies ist kurzfristig ohne negative Aus- raums vorliegt, wird die Wahrscheinlichkeit eines
wirkungen möglich, führt aber langfristig zu nega- Unfalls als Grundlage gewählt. Hintergrund ist die
tiven Folgen. Auch wenn Fuller [54] wie die beiden Annahme, dass Fahrer bestrebt sind, in erster Linie
vorangegangenen Autoren schließlich ebenfalls zum bereits Kollisionen zu vermeiden, nicht nur die Ver-
Risiko als Verhaltensdeterminante zurückkehrt letzungsschwere zu verringern. Mit dieser Annahme
(„risk allostasis theory“, RAT), stellt sein anfäng- lässt sich erklären, warum passive Sicherheitssysteme
liches Konzept der Verhaltensanpassung über die im Regelfall zu weniger Verhaltensadaptation führen.
Aufgabenschwierigkeit einen wichtigen Beitrag zur Diese objektive Erweiterung des Handlungs-
Erklärung der Verhaltensadaptation nach Einfüh- spielraums muss wahrgenommen werden. Denkbar
rung von Fahrerassistenzsystemen dar. ist, dass Systeme, die nur sehr selten im tatsächlichen
Weller und Schlag [56] haben die zuvor darge- Notfall eingreifen, zu weniger Verhaltensadaptation
stellten Ansätze zur Erklärung von Verhaltensad- führen, weil sie dem Fahrer weniger bewusst sind.
aptation in einem Prozessmodell zusammengefasst Extern beeinflusst wird diese Wahrnehmung durch
(siehe . Abb. 5.4). Dieses Modell erklärt Verhal- Werbung, Systemeigenschaften wie Art und Um-
80 Kapitel 5 • Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen
fang der Rückmeldungen durch das System und von sich der Fahrer auf die Assistenz, wird er seine
1 denjenigen Fahrereigenschaften, die bestimmen, ob aktive Suche nach Informationen verringern.
der Fahrer den Spielraum wahrnimmt. Schließlich Bei Ausfall der Assistenz oder in Situationen,
2 muss der Fahrer auch einen Nutzen aus einer Ver- die nicht vom Funktionsumfang abgedeckt
haltensanpassung antizipieren, was beispielsweise sind, führt dies zu Problemen aufgrund man-
3
4
dann der Fall ist, wenn der Fahrer bei gleichen Aus-
gangsbedingungen schneller fahren kann. Keinen
Nutzen erlebt der Fahrer möglicherweise, wenn er
zwar schneller fahren kann, dies aber mit abneh-
- gelnder Situation Awareness.
Längerfristig kann es bei ständigem Gebrauch
der Automatisierung zu einem Verlust von Fer-
tigkeiten, also zur Dequalifizierung kommen
mendem Komfort verbunden ist. Welche Maßstäbe (siehe . Abb. 5.3). Ist dies der Fall und stehen
5 der Fahrer hier anlegt, ist abhängig von Personen- notwendige Fertigkeiten nicht mehr zur Verfü-
merkmalen (zum Einfluss von Sensation Seeking gung, führt dies bei Übernahme zu Problemen.
auf Verhaltensadaptation, siehe [57]), Fahrmotive
6 (z. B. Zeitdruck, siehe [58]) und den Auswirkun- Die zuvor genannten Punkte sind eng mit den so-
gen der Fahrerassistenzsysteme auf psychologische genannten Ironien der Automatisierung verknüpft,
7 Merkmale, wie sie zuvor dargestellt wurden (siehe wie sie Bainbridge [60] definiert hat. Diese lassen
8
hierzu auch [59]). Der subjektive Nutzen ist defi-
niert als Möglichkeit zur Erreichung von Zielen,
wie sie sich aus den vorangegangen geschilderten
motivationalen Theorien zur Erklärung von Verhal-
-
sich wie folgt zusammenfassen:
Der Zweck der Automatisierung ist es, den
fehlerhaften Menschen zu ersetzen, doch
ist genau dieser fehlerhafte Mensch für die
9 tensadaptation ergeben. Entwicklung, Gestaltung und Umsetzung der
10 - Automatisierung zuständig.
Obwohl der Mensch als fehlerhaft gilt, soll er
-
5.5 Übernahmeproblematik die Automatisierung überwachen.
Gerade dann, wenn die Automatisierung ver-
11 Von Übernahmeproblematik spricht man, wenn sagt – also wahrscheinlich in hochkomplexen
der Mensch die Kontrolle über ein automatisiertes Situationen – soll der Mensch die Kontrolle
12 System übernimmt oder übernehmen muss. Dieser übernehmen.
Übergang ist aus verschiedenen Gründen problema-
tisch, die eng mit den bisher besprochenen Themen Lösen lassen sich diese Ironien nur durch eine
-
13 verknüpft sind: menschzentrierte Automation, wie sie etwa von Bil-
Die Unterstützung durch Fahrerassistenz- lings [61] beschrieben wird. Auch Bainbridge [60]
14 systeme als auch Automatisierung sollen die selbst schlägt Maßnahmen zur Vermeidung nega-
Belastung des Fahrers reduzieren. Diese Ent- tiver Effekte von Automatisierung vor, obschon er
15 lastung kann jedoch zu Unterforderung und darauf hinweist, dass es keine einfachen Lösungen
Deaktivierung führen (vgl. . Abb. 5.1). Soll geben kann.
der Fahrer unerwartet die Kontrolle überneh- Notwendig ist es, den Nutzer über den System-
16 men, kann es einige Zeit in Anspruch nehmen, zustand zu informieren und insbesondere Ausfälle
17
18
- bis er hierfür ausreichend aktiviert ist.
Je mehr die Fahraufgabe oder Teile der Fahr-
aufgabe automatisiert werden, desto weniger
muss sich der Fahrer selbst über die Fahrsi-
zu kommunizieren („automatic systems should fail
obviously“, [60], S. 777). Des Weiteren muss Auto-
matisierung konsistent und vorhersagbar sein: Ne-
ben der Information kann auch durch aktive Teil-
tuation informieren, da das Wissen über die habe des Menschen sichergestellt werden, dass der
gegenwärtige Fahrsituation extern abgebildet Fahrer „in the loop“ gehalten wird, einer zentralen
19 oder gespeichert wird. Als Beispiel kann hier Forderung von Endsley und Kiris [22] an eine feh-
ein Überholassistent dienen, der den Fahrer lervermeidende Automatisierung. Verschiedentlich
20 bei angedachtem Fahrstreifenwechsel vor wird auch der Einsatz adaptiver und adaptierbarer
Fahrzeugen im toten Winkel warnt: Verlässt Automation gefordert [62].
Literatur
81 5
Aus vorigen Ausführungen wird ersichtlich, nik zukommen. Hierbei ist es notwendig, die zuvor
dass das Auftreten der Übernahmeproblematik dargestellten Sachverhalte zu berücksichtigen und
stark vom Ausmaß und der Gestaltung der Auto- den Nutzer frühzeitig in den Entwicklungsprozess
matisierung abhängt. mit einzubeziehen.
Zu niedrige Beanspruchung und niedrige Situ-
ation Awareness führen gerade bei Überwachungs-
tätigkeiten zu Schwierigkeiten, wenn der Mensch Literatur
wieder die Kontrolle übernehmen soll. Besonders
problematisch ist dies, wenn die Automatisierung 1 Engeln, A., Vratil, B.: Fahrkomfort und Fahrgenuss durch
den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen. In: Schade, J.,
in verschiedenen Stufen ausgelegt ist: In diesem Fall
Engeln, A. (Hrsg.) Fortschritte der Verkehrspsychologie, S.
kommt zu der Schwierigkeit der einfachen Über- 275–288. VS Research, Wiesbaden (2008)
nahme das Problem der sogenannten Mode Awa- 2 DIN EN ISO 10075‐1: Ergonomische Grundlagen bezüglich
reness [63, 64] hinzu. Fehlende Mode Awareness psychischer Arbeitsbelastung. Teil 1: Allgemeines und Be-
oder Mode Errors liegen vor, wenn eine Automa- griffe. Beuth Verlag, Berlin (2000)
3 de Waard, D.: The Measurement of Drivers' Mental
tisierungsstufe angenommen wurde, die nicht vor-
Workload. The Traffic Research Centre VSC, University of
liegt. Kritisch wird die Übernahme dann, wenn sich Groningen, The Netherlands (1996). http://home.zonnet.
der Fahrer in hoch automatisiertem Zustand einer nl/waard2/dewaard1996.pdf [April, 2012]
anderen Aufgabe zuwendet und dann im Notfall die 4 Young, M.S., Stanton, N.A.: Attention and automation: New
Kontrolle übernehmen muss [65]. perspectives on mental underload and performance. The-
oretical Issues in Ergonomics Science 3(2), 178–194 (2002)
Um Probleme bei der Übernahme zu vermin-
5 Wickens, C.D., Hollands, J.G., Banburry, S., Parasuraman, R.:
dern und den Fahrer „in the loop“ zu halten, schla- Engineering psychology and human performance, 4. Aufl.
gen Parasuraman, Sheridan und Wickens [66] und Pearson, Boston (2013)
Parasuraman [67] eine differenzierte Automatisie- 6 DIN EN ISO 15006: Straßenfahrzeuge – Ergonomische
rung vor. Nach diesem Konzept soll der Grad der Aspekte von Verkehrsinformations‐ und Assistenzsyste-
men – Anforderungen und Konformitätsverfahren für
Automatisierung variieren, je nachdem, welche
die Ausgabe auditiver Informationen im Fahrzeug (ISO
Auswirkungen auf die Beanspruchung, die Situa- 15006:2011); Deutsche Fassung EN ISO 15006:2011. Beuth
tion Awareness, die Nachlässigkeit („complacency“) Verlag, Berlin (2002)
und die Dequalifizierung zu erwarten sind. Diese 7 ISO 15623: Intelligent transport systems – Forward vehicle
Auswirkungen werden für jede zu automatisierende collision warning systems – Performance requirements
and test procedures (ISO 15623:2013(E)). International Or-
Tätigkeit und getrennt für die einzelnen Stufen
ganization for Standardization, Geneve (2013)
der Handlungsausführung („information acquisi- 8 Sivak, M.: The information that drivers use: Is it indeed 90 %
tion“, „information analysis“, „decision and action visual? Perception 25(9), 1081–1089 (1996)
selection“, „action implementation“) betrachtet. 9 DIN EN ISO 15005: Ergonomische Aspekte von Fahrerinfor-
Als Entscheidungshilfen können sogenannte MA- mations‐ und ‐assistenzsystemen. Grundsätze und Prüf-
verfahren des Dialogmanagements. Beuth Verlag, Berlin
BA-MABA-Listen („Men Are Better At – Machines
(2003)
Are Better At“) oder Fitts-Listen dienen (Fitts, 1951, 10 Taylor, G.S., Reinerman-Jones, L.E., Szalma, J.L., Mouloua,
zitiert in [68]). So kann verhindert werden, dass M., Hancock, P.A.: What to automate: Addressing the mul-
Automatisierung undifferenziert erfolgt und nur tidimensionality of cognitive resources through system
diejenigen Teile einer Tätigkeit nicht automatisiert design. Journal of Cognitive Engineering and Decision
Making 7(4), 311–329 (2013)
werden, für die es noch keine technischen Möglich-
11 Wickens, C.D., McCarley, J.S.: Applied Attention Theory. CRC
keiten gibt (siehe Ironien der Automatisierung). Press, Boca Raton, FL (2008)
Gerade mit der Entwicklung hin zum hoch- 12 Piechulla, W., Mayser Gehrke, C.H., König, W.: Reducing
automatisierten Fahren – bei dem der Fahrer sich drivers’ mental workload by means of an adaptive man‐
in Grenzen anderen Aufgaben widmen kann und machine interface. Transportation Research Part F 6(4),
233–248 (2003)
der Übergang in den manuellen Modus mit einer
13 Hajek, W., Gaponova, I., Fleischer, K.-H., Krems, J.: Workload‐
Zeitreserve erfolgt – wird der Gestaltung der Über- adaptive cruise control – A new generation of advanced
nahmeaufforderung eine entscheidende Rolle bei driver assistance systems. Transportation Research Part F
der Akzeptanz und damit dem Erfolg dieser Tech- 20, 108–120 (2013)
82 Kapitel 5 • Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen
14 Liu, D., Guarino, S.L., Roth, E., Harper, K., Vincenzi, D.: Ef- 30 Wilson, J.R., Rutherford, A.: Mental models: Theory and ap-
1 fect of novel adaptive displays on pilot performance and plication in human factors. Human Factors 31(6), 617–634
workload. The International Journal of Aviation Psychology (1989)
22(3), 242–265 (2012) 31 Weller, G.: The Psychology of Driving on Rural Roads. De-
2 15 Gawron, V.J.: Human performance, workload, and situatio- velopment and Testing of a Model. VS‐Verlag, Wiesbaden
nal awareness measures handbook, 2. Aufl. CRC Press, Boca (2010)
Raton (2008) 32 Weller, G., Schlag, B., Gatti, G., Jorna, R., van de Leur, M.:
3 16 DIN EN ISO 17287: Ergonomische Aspekte von Fahrerinfor- Internal report D8.1. Human factors in road design. State
mations‐ und Assistenzsystemen, Verfahren zur Bewertung of the art and empirical evidence (EC: Contract no.: 50 61
der Gebrauchstauglichkeit beim Führen eines Kraftfahr- 84, 6th Framework Programme) (2006). http://ripcord.bast.
4 zeugs. Beuth Verlag, Berlin (2003) de/pdf/RI-TUD-WP8-R1-Human_Factors.pdf, Zugegriffen:
17 Endsley, M.R.: Toward a theory of situation awareness in Juli, 2008
Funktionale Sicherheit
und ISO 26262
Ulf Wilhelm, Susanne Ebel, Alexander Weitzel
.. Abb. 6.1 Entwicklungsprozess nach ISO 26262 mit Originalüberschriften und mit Fokus auf die Systementwicklung
für die Risikoermittlung. Die Quantifizierung der Durch die funktionsübergreifende Formu-
einzelnen Einflussfaktoren des Risikos bestimmt je- lierung ist die ISO 26262 auch zu funktionsspe-
doch direkt die Gefährdungsbewertung und damit zifischen Normen zu Fahrerassistenzsystemen
die an das System bzw. die Funktion anzulegenden abgegrenzt. Diese Normen, wie beispielsweise die
Sicherheitsmaßstäbe. Folglich ist auch der jeweilige ISO 15622 für Adaptive Cruise Control (ACC),
Stand der Technik zu objektiven, allgemein aner- definieren die Funktionsbereiche, -umfänge und
kannten Bewertungsmethoden und -metriken zur Mindestanforderungen bezogen auf die jeweilige
Beurteilung von Fahrsituationshäufigkeit, Kontrol- Fahrerassistenzfunktion. Dabei werden auch Test-
lierbarkeit und Schadensschwere für eine Risikobe- methoden beschrieben, mit denen die Anforde-
urteilung zu beachten. Im Bereich von Fahrerassis- rungserfüllung überprüft werden kann.
tenzsystemen mit Umfeldwahrnehmung liefert hier
beispielsweise der „Code of Practice“ [12] aus dem
Projekt PReVENT einen Anhaltspunkt, der den 6.1.4 Abgrenzung zur Behandlung
Stand der Technik zu Bewertungsmethoden und von anderen Fehlerquellen
-metriken für diese Kategorie zusammenfasst und
dabei auch Vorgehensweisen zu Betrachtungen an Bei der Betrachtung der funktionalen Sicherheit von
der Mensch-Maschine-Schnittstelle liefert. In diesem Systemen nach den Vorgaben der ISO 26262 ist eine
Code of Practice sind beispielsweise umfangreiche Abgrenzung zu anders gearteten Fehlern vorzuneh-
Fragebögen enthalten, nach denen das Zusammen- men. Eine Grenze ist die Beschränkung auf elektri-
wirken von Assistenzsystem und Fahrer situations- sche/elektronische und programmierbare Systeme
abhängig und in 18 Kategorien (bspw. Vorherseh- (E/E-Systeme), so dass beispielsweise mechanische
barkeit, Vertrauen, Nachvollziehbarkeit) unterteilt, Fehler als Ursache für Risiken nicht berücksichtigt
bewertet werden kann. Der darin dokumentierte werden.
Stand der Technik, sei er auch schon einige Jahre alt, Ebenso betrachtet die Norm nur die funktiona-
bietet durch die Konkretisierung einen Bezugspunkt len Fehler (im Sinne einer Abweichung von einer
und Beispiele für die praktische Umsetzung der Ge- expliziten Spezifikation) eines Fahrerassistenzsys-
fährdungsanalyse und Risikobewertung. tems. Dies setzt voraus, dass eindeutig zwischen ei-
88 Kapitel 6 • Funktionale Sicherheit und ISO 26262
nem spezifikationsgerechten Zustand, der korrekten solange die Auswirkungen auf die Situation gleich
1 Funktion, und einem nichtspezifikationsgerechten oder zumindest ähnlich sind. In [14] wird dies als
Zustand, einem Fehler/Ausfall oder einem Versa- ganzheitlicher Ansatz bezeichnet, der eine verglei-
2 gen, differenziert werden kann. Diese Fehler sind chende Bewertung der Auswirkungen sowohl von
als solche identifizierbar und können z. B. durch technischen Fehlern als auch von funktionalen
eine Fehlererkennung mit sehr hoher Diagnoseab- Unzulänglichkeiten zulässt. Inwiefern allerdings
3 deckung und Abschalt- und Degradationsmaßnah- das zugrunde liegende akzeptierte Grenzrisiko und
men auf ein Minimum reduziert werden. damit die nach ISO 26262 anzuwendende Bewer-
4 Als fehlerhaft empfundene Eingriffe von Fah- tungsmetrik der resultierenden erlaubten Fehler-
rerassistenzsystemen mit Umfeldwahrnehmung raten in beiden Fällen gleichgesetzt werden darf,
5 entstehen jedoch nicht nur durch Versagen von wird aktuell noch diskutiert. So wird in [15] ein
E/E-Bauteilen oder eine fehlerhafte Software. Eine akzeptiertes Grenzrisiko auf Systemebene für beide
andere Art von Fehler tritt auf, obwohl alle Bauteile Fehlerarten gefordert, während [16] die funktiona-
6 sowie die Software innerhalb der Spezifikation funk- len Unzulänglichkeiten eindeutig der Gebrauchssi-
tionieren: Dabei reagiert das System in einer der cherheit zuordnet.
7 Situation nicht angemessenen Weise, weil die Sys-
temspezifikation nicht alle theoretisch möglichen
Fälle abdeckt, die im Fahrzeugbetrieb auftreten kön- 6.2 Sicherheitsanforderungen
8 nen. Die der Fahrsituation nicht angemessene Reak- an Fahrerassistenzsysteme
tion des Systems resultiert dabei beispielsweise aus
9 einer unvollständigen Situationswahrnehmung oder ISO 26262 fordert während der Konzeptionsphase
aus nicht eintretenden Prädiktions- bzw. Modellan- die Identifikation der von einem E/E-System ausge-
10 nahmen. Aufgrund der großen Anzahl möglicher henden Risiken und die Bewertung des Risikopoten-
Fahrsituationen können umfeldsensorbasierte Fah- zials. Dies erfolgt auf Basis der Gefährdungsanalyse
rerassistenzsysteme nach aktuellem Wissensstand und Risikobewertung (G&R), einer Methode, deren
11 aber weder so eindeutig spezifiziert noch so getestet Anwendung in Teil 3 der ISO 26262 normativ vor-
werden, dass fehlerhafte Eingriffe nur außerhalb der geschrieben ist (3–7 in . Abb. 6.1). Im Rahmen der
12 Spezifikation auftreten [13]. Eine abstraktere For- G&R werden auf Fahrzeugebene potenzielle Gefähr-
mulierung der Systemspezifikation verschiebt diese dungen ohne Berücksichtigung der Ursachen analy-
Problematik nur, da spätestens bei der technischen siert und die erkannten Risiken klassifiziert. Dabei
13 Umsetzung konkrete Systemreaktionen auf Basis bedeutet Fahrzeugebene nach [16] die Realisierung
vorliegender Umfeldinformationen festgelegt wer- ein oder mehrerer Systeme, auf die die ISO 26262
14 den müssen. Die weiterführende Diskussion dieser angewendet wird, und bezeichnet somit die oberste
Problematik findet sich in ▶ Abschn. 6.4 dieses Ka- Abstraktionsebene im Gesamtsystem „Fahrzeug“.
15 pitels. Zur Vermeidung der im Rahmen der G&R bestimm-
Auch wenn sich die technischen Ursachen für ten Gefährdungen fordert die ISO 26262 die Spe-
die beiden Fehlerarten unterscheiden, sind die für zifikation von Sicherheitszielen (3–5 in . Abb. 6.1).
16 den Fahrer wahrnehmbaren Effekte auf das Fahr- Diese geben den Rahmen für die Entwicklung des
zeug gegebenenfalls ähnlich (bspw. eine Fahrzeug- Sicherheitskonzepts vor. Die daraus abgeleitete hie
17 verzögerung ohne ersichtlichen Grund). rarchische Struktur von Sicherheitsanforderungen
Das in der ISO 26262 definierte Vorgehen der ist in . Abb. 6.2 dargestellt. Die Sicherheitsziele wer-
Festlegung von Sicherheitsanforderungen anhand den auf Fahrzeugebene unter Berücksichtigung der
18 einer objektiven Risikobewertung kann für beide Einflüsse und Situationen aus der Umwelt bestimmt
Fehlerarten angewendet werden. Aus Sicht des und anschließend im Fahrzeugsystem an die an der
19 Fahrers und weiterer beteiligter Personen ist es in Gefährdung beteiligten Funktionen als funktionale
der jeweiligen Situation unerheblich, ob die Ursa- Sicherheitsanforderungen (3–8 in . Abb. 6.1) abge-
20 che einer Gefährdung in funktionalen Fehlern oder leitet. Diese Ableitung ist noch „lösungsfrei“ und
in Unzulänglichkeiten des Systems begründet ist, somit unabhängig von der konkreten Implemen-
6.2 • Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme
89 6
.. Abb. 6.2 Hierarchische
Struktur von Sicherheits-
anforderungen
.. Abb. 6.3 Risikodia-
1 gramm
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Tab. 6.1 ASIL-Bestimmungsmatrix
E3 (mittel) QM QM A
13 E4 (hoch) QM A B
S2 E1 (sehr niedrig) QM QM QM
14 (schwer,
Überleben wahrscheinlich)
E2 (niedrig) QM QM A
E3 (mittel) QM A B
15 E4 (hoch) A B C
S3 E1 (sehr niedrig) QM QM A
16 (lebensgefährlich, Überleben
E2 (niedrig) QM A B
unwahrscheinlich)
E3 (mittel) A B C
17 E4 (hoch) B C D
18 Ergebnis der Risikobewertung ist das Risiko- ten Risikopotenzial. Ausgehend vom ASIL werden
potenzial, das mit einem ASIL (Sicherheitsinteg- normativ die Maßnahmen zur Vermeidung und
19 ritätslevel, engl. „Automotive Safety Integrity Le- Beherrschung von systematischen und zufälligen
vel“) in den Klassen QM, ASIL A, ASIL B, ASIL Fehlern festgelegt, um das Risikopotenzial so weit
20 C und ASIL D bewertet wird. Dabei entspricht zu reduzieren, dass das verbleibende Risiko un-
ASIL A dem niedrigsten und ASIL D dem höchs- terhalb des tolerierbaren Risikos liegt. Bei ASIL D
6.2 • Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme
91 6
sind mehr Methoden und Maßnahmen anzuwen- nördlichen Regionen Europas sicherlich mit einer
den, um die Sicherheit zu gewährleisten, als bei höheren Aufenthaltsdauer bewertet werden als in
einem ASIL A. Wird eine Gefährdung jedoch nur den südlichen Regionen.
mit QM (Qualitätsmanagement) eingestuft, dann
reicht die Anwendung eines zertifizierten Quali- 6.2.1.2 Sicherheitsziele am Beispiel
tätsmanagementsystems aus und die Anwendung ANB
der ISO 26262 auf den weiteren Entwicklungspro- Die ANB-Funktion steuert den Aktor „Bremse“ an.
zess ist nicht erforderlich. Ausgehend von der Aktorfunktion „Bremsen“ kön-
Die ASIL-Einstufung wird konkret anhand der nen folgende Fehlfunktionen als potenzielle Gefähr-
Bewertung der einzelnen Risikoparameter nach dungen bestimmt werden:
. Tab. 6.1 bestimmt. Dabei ist jeder Risikopara- a) ungewollte automatische Bremsung,
meter in drei bis vier Klassen eingeteilt, wobei jede b) ungewollte Bremsverstärkung bei Fahrerbrem-
Klasse einer anderen Bedeutung entspricht. Im An- sung,
hang von Teil 3 der ISO 26262 gibt es informative c) keine Bremsung trotz Bremsanforderung,
Tabellen mit Hinweisen und Beispielen, mit wel- d) zu geringe Bremsung trotz Bremsanforderung,
chen Risikoparametern die Schadensschwere von e) Fahrzeug im Stillstand festgebremst.
Unfällen, Fahrsituationen und Kontrollierbarkeit
vom Fahrer zu bewerten sind. So werden Fahrsitu- Im ersten Schritt wird das Risikopotenzial der Ge-
ationen, die bei fast jeder Autofahrt auftreten (z. B. fährdungen der „Bremsfunktion“ unabhängig von
Fahrt auf Landstraße), mit E4 eingestuft und Fahrsi- der Fahrerassistenzfunktion bestimmt. Dies erfolgt
tuationen, die mindestens einmal im Monat auftre- auf Basis der G&R mit den Risikoparametern Scha-
ten (z. B. Fahren mit Anhänger, Stau), mit E3 – noch densschwere (S), Häufigkeit Fahrsituation (E) und
seltenere Fahrsituationen dann entsprechend mit E2 Kontrollierbarkeit (C) nach . Tab. 6.2. Dort werden
(z. B. Fahren auf Eis und Schnee) bzw. mit E1 bei für die Gefährdungen a) und b) ein ASIL C bestimmt,
sehr seltenen Situationen (Fahrzeug auf Rollenprüf- die Bewertung erfolgt ohne Berücksichtigung von Si-
stand). Allein schon dieses Beispiel zeigt, dass eine cherheitsmaßnahmen (z. B. Deaktivierung Bremsung
objektive Bewertung nicht immer möglich ist, da durch Fahrer oder Begrenzung des Bremseingriffs).
Fahrsituationen je nach betrachteter Umwelt auch Der ermittelte ASIL dient für die weitere Ent-
unterschiedlich bewertet werden können. So wird wicklung des Produkts als Maßstab für die Risiko-
beispielsweise eine Fahrt auf Eis und Schnee in den reduktion, wobei zur Vermeidung der Gefährdung
1
2
3
4
5
.. Abb. 6.5 Anwendung Dekomposition am Beispiel ANB
6
vor), sondern durch eine Neubewertung des Risi- Diese Spezifikation auf allen Detaillierungsebenen
7 kopotenzials mit eingeschränkter Bremsfunktion. dient als Basis für den rechten Ast des V-Modells,
Aufgrund der Tatsache, dass der Sicherheitsmecha- der Verifikation und Validierung der Produkteigen-
nismus zur Absicherung der spezifizierten Grenzen schaften.
8 in einem unabhängigen Steuergerät umgesetzt wird,
ist es nach ISO 26262 durchaus zulässig, den ASIL
9 im System FAS auf das eigentliche Risikopotenzial 6.3.1 Rückverfolgbarkeit
zu reduzieren. Sollte aber rein hypothetisch im Sys- der Anforderungsebenen
(„Traceability“)
10 tem ESC kein ASIL C umgesetzt werden können, so
ist es denkbar, das ASIL C auf beide Systeme zu ver-
teilen, indem auch im System FAS die spezifizierten Geht man davon aus, dass die Sicherheitsziele va-
11 Grenzen abgesichert werden. Die ISO 26262 bietet lidiert wurden, ist laut ISO 26262 ein Produkt ge-
in Teil 9, Kapitel 5 verschiedene Möglichkeiten der nau dann sicher, wenn nachgewiesen werden kann,
12 Reduktion der ASIL-Einstufung an. Dabei soll aber dass die Lösung in Form der Spezifikation auf Im-
immer der initiale ASIL noch in Klammern mit an- plementierungsebene die Sicherheitsziele erfüllt.
gegeben werden. So kann beispielsweise ein ASIL Dementsprechend reicht es also nicht, genau zu
13 C dekomponiert werden in ein ASIL A (C) und ein beschreiben, welche Algorithmen implementiert
ASIL B (C). Für die Sicherheitsanforderungen an werden oder welche Hardware verwendet wird und
14 die ANB-Funktion würde sich dann die Änderung wie diese beschaffen ist. Diese Lösung muss zu Va-
in . Abb. 6.5 ergeben. lidierungszwecken mit den abstrakter spezifizierten
15 Eigenschaften, insbesondere den Sicherheitszielen,
eindeutig verknüpft werden. Eine solche lückenlose
6.3 Erfüllung Dokumentation zu erstellen, ist für komplexe Sys-
16 der Sicherheitsanforderungen teme durchaus herausfordernd.
Bei einem ersten Versuch, ein radarbasiertes
17 Nachdem die von einem Produkt ausgehenden Ri- ANB-System zu spezifizieren, könnten beispiels-
siken mithilfe einer G&R (3–7 in . Abb. 6.1) sys- weise folgende Anforderungen in ein Pflichtenheft
tematisch erarbeitet und aus den Sicherheitszielen eingehen:
18 Sicherheitsanforderungen abgeleitet wurden, muss a) Der Innenwiderstand des Heizdrahtes der Lin-
der ISO 26262 folgend die Produktentwicklung si- senheizung soll xx Ohm betragen.
19 cherstellen, dass diese auch umgesetzt werden. b) Der Radarsensor muss über eine "Fixed-be-
Dem zugrunde liegenden V-Modell [11] nach am-Antenne" Reflexpunkte detektieren.
20 muss dazu zunächst ein vollständiger Anforde- c) ANB darf in Situationen ohne Unfallgefahr
rungsbaum die Produkteigenschaften spezifizieren. nicht verzögern.
6.3 • Erfüllung der Sicherheitsanforderungen
95 6
Implementierung,
g) Bei Auslösung des Bremslichtschalters
System muss eine automatische Notbremsregelung
e) Für das Objekttracking muss
b) Der Radarsensor muss über
eine "Fixed-beam-Antenne"
unterbrochen und die durch den Fahrer
angeforderte Verzögerung eingestellt werden. ein Kalmanfilter verwendet Reflexpunkte detektieren.
werden.
Elemente der
a) Der Innenwiderstand des Heizdrahtes
Implementierungsebene der Linsenheizung soll xx Ohm betragen.
.. Abb. 6.6 Die Anforderungen lassen sich in einem Anforderungsbaum strukturieren: Dies ist die Basis der Rückverfolgbarkeit
d) Der Fahrer muss das ANB Verhalten jederzeit die konkreteste Anforderung, die sich direkt auf
übersteuern können. eine HW-Implementierung bezieht.
e) Für das Objekttracking muss ein Kalmanfilter Nach Ableitung des funktionalen Sicherheits-
verwendet werden. konzepts (3–8 in . Abb. 6.1) wurde beispielsweise
f) Das Fahrzeug darf durch unberechtigte Brem- Anforderung d) als Sicherheitsanforderung einge-
seingriffe keine Unfälle verursachen. führt. Die sich stellende Kernfrage lautet hier, ob
g) Bei Auslösung des Bremslichtschalters (BLS) Einhaltung des Innenwiderstands nach Anforde-
muss eine automatische Notbremsregelung un- rung a) sicherheitsrelevant ist oder „nur“ durch
terbrochen und die durch den Fahrer angefor- Qualitätsaspekte motiviert ist. Hierzu ist es hilf-
derte Verzögerung eingestellt werden. reich, die Anforderungen in einem hierarchischen
h) … Anforderungsbaum rückverfolgbar zu sortieren.
Die Knoten des Baumes verbinden dabei all-
Alle Beispielanforderungen sind valide Produktan- gemeine Anforderungen mit Anforderungen, die
forderungen, die sich aber auf sehr unterschiedli- diese konkretisieren: . Abb. 6.6.
chen Abstraktionsebenen befinden. Anforderung Mit jeder Konkretisierung wird der Lösungs-
f) entspricht einem generellen Sicherheitsziel. An- raum weiter eingeschränkt. Der Baum kann auch
forderungen c) und d) sind abstrakte Verhaltensbe- als Darstellung ineinander verschachtelter Lösungs-
schreibungen, die die konkreten HW- und SW-Lö- räume verstanden werden: . Abb. 6.7.
sungen noch nicht vorwegnehmen. Anforderung b) In dieser Darstellung wird der Nutzen der Tra-
und e) beschreiben HW-Komponenten und SW-Al- ceability besonders deutlich: Alle Methoden der
gorithmen, ohne Implementierungsdetails vorweg- ISO 26262 sind darauf ausgerichtet nachzuweisen,
zunehmen. Anforderung a) ist in diesem Beispiel dass die Konkretisierung und ihre Implementierung
96 Kapitel 6 • Funktionale Sicherheit und ISO 26262
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 .. Abb. 6.7 Der Anforderungsbaum als ineinander verschachtelte Lösungsräume. Die Anforderung „Das System darf keine
Unfälle verursachen“ definiert einen Lösungsraum, der durch die konkrete Lösung „Der Fahrer muss das System jederzeit über-
steuern können“ eingeschränkt wird.
11
Teilmenge der abstrakteren Spezifikationen sind. Im Ein vollständiger Satz solcher Anforderungen wird
12 Bild der Teilmenge ist eine Lösung genau dann nicht auch als Modell bezeichnet: Es ordnet jeweils einem
erlaubt, wenn sie den durch die abstrakte Anforde- „Eingang“ (engl. „input“) (Fahreraktivität, Umge-
rung aufgespannten Lösungsraum verlässt. bungssituation) einen „Ausgang“ (engl. „output“)
13 In der Praxis kommt es sehr oft vor, dass Hi- (Systemreaktion) zu.
erarchieebenen versehentlich vermischt werden: In der ISO 26262 sind grob vier Hierarchie
14 Beispielsweise fordert der Entwickler auf der Ebene ebenen mit den entsprechenden Modellen definiert:
der Verhaltensbeschreibung des FAS-Systems schon 1. abstrakte Systemebene spezifiziert über die Si-
15 einen konkreten Algorithmus an. Dies führt zu frü- cherheitsziele (Anforderung f)),
hen, unnötigen Einschränkungen im Systemdesign 2. lösungsfreie Produktbeschreibung bestehend
und macht es auch schwerer, die Rückverfolgbar- aus funktionalen Sicherheitsanforderungen
16 keit sicherzustellen, ist aber für die Einhaltung der (Anforderung c), d)),
ISO 26262 unerheblich. Die ISO 26262 konzentriert 3. Anforderungen auf Implementierungsebene, die
17 sich auf die lückenlose Durchgängigkeit des Anfor- noch mehrere Module betreffen können, sich
derungsbaums bezüglich der Sicherheitsanforde- also noch nicht auf das kleinste architektonische
rungen. Element beziehen: technische Sicherheitsanfor-
18 Es bietet sich an, alle zu einem Lösungsraum derungen (Anforderungen b), e), g)),
gehörenden Anforderungen zu einer System- oder 4. eine das kleinste Strukturelement betreffende
19 Subsystembeschreibung zusammenzufassen. Bei- Implementierungsanforderung: HW-/SW-Si-
spielsweise befinden sich die Anforderungen c) und cherheitsanforderungen (Anforderung a) in
20 d) auf der gleichen Beschreibungsebene und be- diesem Beispiel nur auf HW-Ebene).
schreiben beide das Verhalten des „Features“ ANB.
6.3 • Erfüllung der Sicherheitsanforderungen
97 6
Der hier beispielhaft skizzierte Anforderungsbaum Nicht mehr durchhalten lässt sich diese Tren-
ist natürlich insofern unvollständig, als sich mit- nung, falls das Sicherheitskonzept auch System-
hilfe dieser einfachen „Spezifikation“ kein System grenzen berücksichtigt, die sich beispielsweise auf
entwickeln lässt. Darüber hinaus sind aber auch Anforderung c) (ANB darf in Situationen ohne Un-
die Ableitungssprünge zu groß: Ist die Eigenschaft fallgefahr nicht verzögern) auswirken. Eine Falsch-
des Heizdrahtes wirklich nicht mit Anforderung f) detektion könnte trotz korrekter Implementierung
(keine unberechtigten Bremseingriffe) verlinkt? Das in HW und SW zu einem Fehlverhalten mit Sicher-
lässt sich aus den wenigen Textzeilen nicht eindeutig heitsrelevanz führen. In diesem Fall sind alle sich
beantworten. aus dem Sicherheitsziel ergebenden Anforderungen
Dieses Beispiel zeigt, wie groß die Herausfor- sicherheitsrelevant – explizit eben auch solche, die
derung eines vollständigen, eindeutig nachvollzieh- die Funktion der Teilsysteme spezifizieren.
baren Anforderungsbaumes gerade für komplexe In der aktuellen Version der ISO 26262 sind
Fahrerassistenzsysteme ist. Daher muss bei der Er- solche Systemgrenzen explizit aus dem Scope der
arbeitung des Anforderungsbaumes grundsätzlich Norm ausgenommen: „ISO 26262 does not address
großer Wert auf die strukturierende Systemarchi- the nominal performance of E/E Systems, even if de-
tektur gelegt werden. Bis auf die in der ISO 26262 dicated functional performance standards exist for
geforderten Hierarchieebenen ist es generell dem these systems.“ Die Herausforderungen, die sich
Systementwickler überlassen, wie viele Ableitungs- daraus an die Anwendung der ISO 26262 für Fah-
schritte auf dem Weg zum kleinsten Strukturele- rerassistenzsysteme ergeben, sind in [15] ausführ-
ment seiner Architektur vorzusehen sind. Kleine lich beschrieben. In dieser Veröffentlichung wird
Schritte machen den Einzelschritt leichter nachvoll- darauf hingewiesen, dass trotz einer vollständigen
ziehbar, lassen aber den Umfang der Spezifikation Einhaltung der ISO 26262 das verbleibende Rest-
sehr schnell anwachsen. risiko von Fahrerassistenzsystemen immer noch
Die ISO 26262 verlangt die lückenlose Rückver- oberhalb des tolerierbaren Risikos (vgl. . Abb. 6.3)
folgbarkeit nur bezüglich der in der G&R abgelei- liegen kann. Dies resultiert aus der funktionalen
teten Sicherheitsziele. Da ein gut dokumentierter Unzulänglichkeit und noch heute wird bei jedem
Anforderungsbaum aber nicht nur die Einhaltung Projekt für die Absicherung von Fahrerassistenzsys-
der Sicherheitsziele nachvollziehbar macht, sondern temen die gleiche Gretchenfrage gestellt: „Wie sicher
auch generell der Produktqualität hilft, ist die Forde- ist sicher genug?“ [17].
rung nach Rückverfolgbarkeit im Automobilbereich
auch ohne Sicherheitsbezug üblich.
Im hier dargestellten Beispiel entsteht ein funkti- 6.3.2 Verifikation
onaler Anforderungsbaum über die Performanzan-
forderungen der ANB-Funktion und ein getrennter Voraussetzung für eine belastbare Verifikation ist
Anforderungsbaum aus der Sicherheitsanforderung. die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene
Die ISO 26262 nimmt an vielen Stellen implizit an, vollständige Systemspezifikation auf den definierten
dass eine Fehlfunktion (engl. „malfunction“) auf Abstraktionsebenen.
Systemebene grundsätzlich immer durch einen Die Verifikation hat zum Ziel, die in den Mo-
Fehler (engl. „fault“), also eine Abweichung von dellen spezifizierte Input/Output-Relation an den
Implementierungsanforderungen verursacht wird. korrespondierenden Elementen des Produkts nach-
In diesem Fall lässt sich die Trennung zwischen Si- zuweisen. Dies ist die Domäne des anforderungsba-
cherheitsarchitektur und funktionaler Architektur sierten Tests.
besonders gut darstellen, da sich die Sicherheits- Ein abgeleitetes Modell, beispielsweise die Kon-
anforderungen im Kern auf die Überwachung der kretisierung von Anforderungen auf Implemen-
spezifizierten Implementierung und Reaktionen tierungsebene, ist äquivalent zu der abstrakteren
auf diese Überwachungen beschränkt. Die Sicher- Systemspezifikation. Dementsprechend würde es
heitsarchitektur schützt den funktionalen Teil des eigentlich ausreichen, nur das Modell auf Syste-
Systems vor Implementierungsfehlern. mebene am Produkt zu verifizieren. In der Praxis
98 Kapitel 6 • Funktionale Sicherheit und ISO 26262
1
2
3
4
5
6
.. Abb. 6.8 Darstellung der hier gewählten Begriffsdefinition Validierung und Verifikation. Die Validierung fokussiert auf die
7 Korrektheit des Designschritts: im V-Modell vertikal. Die Verifikation stellt die Äquivalenz von Implementierung und Implemen-
tierungsmodell sicher: im V-Modell horizontal.
ler sind besonders schwer auszumachen, weil alle ten ein solches Ableitungsmodell im Rahmen des
folgenden Designschritte und die generell vollstän- Stands der Technik zugänglich ist. Auch wenn die-
digeren Tests der Implementierungsebenen einen ses nicht explizit in Form von Dokumenten gefor-
solchen Fehler nicht aufdecken können. dert ist, kann nur mit der Referenz auf ein solches
Die ISO 26262 stützt sich zur Entdeckung sol- Ableitungsmodell ein vollständiger Anforderungs-
cher Fehler besonders auf Reviews durch Experten. baum entstehen.
Ein nach Stand der Technik 100%iges Verständnis
des Designschritts durch die Experten ist dabei Vor-
aussetzung. Dementsprechend betont die ISO 26262 6.4 Grenzen der ISO 26262
auch den Wert einfacher Designs als Grundlage si-
cherer Systeme. Im vorangegangenen Beispiel konnte das Sicher-
Einem Designschritt, der ein abstraktes System- heitsziel „Der Fahrer soll die ANB-Regelung jeder-
modell in ein konkretes technisches Modell über- zeit übersteuern können“ mit einer vergleichsweise
führt, liegt immer ein Ableitungsmodell zugrunde. einfachen Lösung mithilfe des Bremslichtschalters
Nur mithilfe eines solchen Ableitungsmodells ist es erreicht werden.
möglich zu begründen, dass das konkrete Modell Wie verhält es sich aber, falls ein Notbremssys-
im Lösungsraum des abstrakten Modells liegt. Diese tem mit dem Ziel, Fußgänger zu schützen, das
Begründung ist die Basis der Validierung des kon- Sicherheitsziel „Nie in einer Situation ohne Un-
kreten Modells, s. . Abb. 6.9. fallgefahr auszulösen“ hat? In diesem Fall ist das
Wählt der Designer beispielsweise zur Erfüllung Sicherheitsziel gleich einer Systemanforderung, die
der Anforderung d) (Übersteuern) einen elektro- die eigentliche Funktion des Systems beschreibt.
mechanischen Bremslichtschalter, der über einen Eine von der Kernfunktion getrennte „Sicherheits-
A/D-Wandler in ein Steuergerät eingelesen wird, architektur“ ist deutlich schwieriger, wenn nicht un-
liegen dieser Entscheidung physikalische Modelle möglich. Die Rückverfolgbarkeit muss dementspre-
des Wirkprinzips des Schalters und des A/D-Wand- chend entlang des funktionalen Pfades sichergestellt
lers zugrunde. Diese Komponenten sind mithilfe werden, was in komplexen, interpretierenden und
der zugrunde liegenden Ableitungsmodelle so aus- prädizierenden Systemen zu intrinsischen Lücken
gelegt, dass diese, solange die zugrunde liegenden führen kann.
Hardwarebestandteile ihre Spezifikationen erfüllen,
ihre Aufgabe per Design immer erfüllen.
Die ISO 26262 nimmt implizit an, dass den das
System entwerfenden und den reviewenden Exper-
100 Kapitel 6 • Funktionale Sicherheit und ISO 26262
.. Abb. 6.10 Erkennungsleistung eines Klassifikators, durch Parameter einstellbar. Bei Reduktion der Fehlklassifikationen,
d. h. „false positive“-Wahrscheinlichkeit, reduziert sich die Erkennungsleistung, d. h. die „true positive“-Wahrscheinlichkeit.
Umgekehrt geht eine erhöhte Erkennungsleistung immer mit einer erhöhten Fehlklassifikationswahrscheinlichkeit einher. Der
Abstand zur Ursprungsgeraden entspricht der Selektivität und damit der Leistung des Klassifikators. Die maximale Selektivität
stellt einen Kompromiss zwischen Erkennungsleistung und Fehlklassifikationswahrscheinlichkeit dar
Tree Analysis, FTA) oder qualitativ (Failure Mode nachgewiesen werden. Leider gibt die ISO 26262
and Effect Analysis, FMEA). hier keine konkreten Hinweise zur Ableitung sol-
Die hier beschriebene Lücke in der Rückverfolg- cher Restfehlerraten. Für kritischere Funktionen
barkeit des Designs bezeichnet man häufig auch als kann der „Black-Box-Test“ schnell teurer als die
„funktionale Unzulänglichkeit“. gesamte Entwicklung werden oder im Zeitrahmen
einer Produktentwicklung nicht realistisch durch-
führbar sein. Eine besondere Herausforderung ist
6.4.3 Validierung von Systemen es auch nachzuweisen, dass die gefahrenen Testki-
mit funktionaler lometer ausreichend repräsentativ für die im Feld zu
Unzulänglichkeit erwartenden Situationen sind: Welche Fahrprofile,
unter welchen Witterungsbedingungen, in welchen
Für Systeme mit funktionaler Unzulänglichkeit Ländern, mit welchen Fahrern sind durchzuführen
muss die Einhaltung einer Obergrenze [17] für das [13]? Nicht immer sind statistische Modelle über
systemimmanente Restrisiko nachgewiesen wer- das Fahrerverhalten verfügbar, so dass hier häufig
den. Im einfachsten Fall kann hier ein statistischer auf plausible Experteneinschätzungen zurückgegrif-
„Black-Box-Test“ auf Systemebene durchgeführt fen werden muss.
werden, welcher die Fehlerwahrscheinlichkeit ohne Die statistischen Systemtests sind dementspre-
Wissen über Implementierungsdetails durch Ver- chend kein Ersatz für ein gut verstandenes und
suche auf einer statistischen repräsentativen Stich- möglichst aus belastbaren Modellen abgeleitetes De-
probe misst. Für Fahrerassistenzsysteme bedeutet sign. Während der Entwicklung muss darauf geach-
dies sehr viele Absicherungsstunden unter für die tet werden, Elemente, die sich vollständig ableiten
Funktion repräsentativen Fahrbedingungen. lassen, von Elementen zu trennen, bei denen Lücken
Bereits für vergleichsweise „unkritische“ Funk- im Ableitungsmodell nicht zu vermeiden sind. Im
tionen müssen, je nach Herleitung des akzeptablen Fußgängerschutzbeispiel müssen Abbildungseigen-
Restrisikos, schon Restfehlerraten von < 10−5/h schaften einer Kamera, die den Fußgänger erkennen
102 Kapitel 6 • Funktionale Sicherheit und ISO 26262
soll, nicht statistisch modelliert werden. Eindeutige die Norm zulässt. Diese Einschätzung bestätigen
1 physikalische Modelle berechnen aus der Pixelzu- auch die Beiträge auf den speziell auf das Thema
ordnung einen Winkel zum Fahrzeug. Anders sieht „Funktionale Sicherheit“ ausgerichteten Tagungen
2 es aus, wenn das Verhalten des individuellen Fuß- in Deutschland, Nordamerika und Asien. So wird
gängers prädiziert werden muss: Hier ist es notwen- beispielsweise das Risikopotenzial gleicher Gefähr-
dig, das Unwissen über die Absicht des Fußgängers dungen noch verschieden eingestuft. Des Weiteren
3 statistisch zu modellieren. Der resultierende Algo- ist bis heute nicht klar, wie manche Anforderungen
rithmus wird die Absicht nicht in jeder Situation und Methoden konkret umzusetzen bzw. anzu-
4 korrekt einschätzen, so dass Restfehlerwahrschein- wenden sind (z. B. Durchführung einer SW-Sicher-
lichkeiten die unvermeidbare Konsequenz sind. heitsanalyse). Es bleibt eine Herausforderung für
5 die 2nd Edition der ISO 26262, deren Bearbeitung
Anfang 2015 begonnen hat, diesen Interpretations-
6.5 Zusammenfassung spielraum ein Stück weit einzugrenzen.
6 und Ausblick Für die Absicherung von Fahrerassistenzsys-
temen sollte in jedem Fall darauf geachtet werden,
7 Im ersten Teil dieses Kapitels wurde dargestellt, dass ein neuer Standard – sei es im Rahmen der
wie die ISO 26262 wichtige Vorgehensweisen zur 2nd Edition der ISO 26262 oder separat – Entwick-
Erreichung der funktionalen Sicherheit im Auto- lungsziele und nicht Lösungen standardisiert. Die
8 mobilbereich standardisiert. Dabei liegt der Fokus Fahrerassistenz steht erst am Anfang einer Entwick-
auf der Vermeidung von unerwünschtem oder ge- lung, die notwendig ist, um das volle Potenzial der
9 fährlichem Systemverhalten durch Hardware- und Möglichkeiten auszuschöpfen. Eine von Sicherheits-
Softwarefehler. bedenken motivierte frühe Erstarrung in definier-
10 Bei den immer komplexer werdenden Fahreras- ten „betriebsbewährten“ Lösungen hätte zur Folge,
sistenzsystemen gewinnen „funktionale Unzuläng- dass sich auch der Nutzen des betroffenen Systems
lichkeiten“ als Ursache für das Fehlverhalten von nicht weiterentwickeln kann. Dieser Versuch, mehr
11 Systemen jedoch immer mehr an Bedeutung. In Sicherheit zu gewährleisten, hätte das Gegenteil zur
diesem Fall liegt die Ursache in den Beschränkun- Folge: Weniger Unfallschutz und Sicherheit im Stra-
12 gen des Systemdesigns, den verwendeten Konzepten ßenverkehr.
selbst.
Eine der Voraussetzungen für die Validierung
13 von solchen Systemen mit funktionaler Unzuläng- Literatur
lichkeit ist die Vorgabe von Freigabezielen – in
14 Form von akzeptierten Restwahrscheinlichkeiten 1 Börcsök, J.: Funktionale Sicherheit, 3. Aufl. VDE‐Verlag, Of-
fenbach (2011)
für fehlerhafte Einschätzungen des Systems. Dies
2 DIN ISO 31000: Richtlinien und Prinzipien zur Implemen-
15 erfordert eine breite Unterstützung der akzeptierten tierung des Risikomanagements, 2009
Werte in der Gesellschaft. 3 Weitzel, A. (2013): Objektive Bewertung der Kontrollierbar-
Für die Hardware haben sich hier entweder er- keit nicht situationsgerechter Reaktionen umfeldsensorba-
16 probte Auslegungen oder akzeptierte Ziele etabliert. sierter Fahrerassistenzsysteme. Dissertation, TU Darmstadt
4 ProdHaftG § 3 Abs. 3 Gesetz über die Haftung für fehler-
Im Bereich der Auslegung der relativ neuen prädi-
hafte Produkte; Ausfertigungsdatum: 15.12.1989, zuletzt
17 zierenden Systeme im Bereich der Fahrerassistenz geändert durch Art. 9 Abs. 3 G v. 19.07.2002 I 2674; vgl.
muss sich ein solcher Standard noch herausbilden. auch BGH Urteil 16. Juni 2009 – VI ZR 107/08
Es ist schwer vorauszusagen, ob dies durch eine
18 Erweiterung der ISO 26262 oder gar in Form einer
5 IEC/EN 61508: Functional Safety of Electrical/Electronic/
Programmable Electronic Safety‐Related Systems (E/E/
PES), 2nd edition, 2010
separaten Initiative erreicht wird.
19 Nach aktueller Einschätzung wird selbst die
6 ISO 26262: International Standard Road vehicles – Functi-
onal safety, 2011
Anwendung der ISO 26262 in den einzelnen Un- 7 Dardar, R., Gallina, B., Johnsen, A., et al.: Industrial Experien-
20 ternehmen noch unterschiedlich interpretiert: ces of Building a Safety Case in Compliance with ISO 26262
IEEE 23rd International Symposium on Software Reliability
Dies liegt am hohen Interpretationsspielraum, den
Literatur
103 6
Engineering Workshops (ISSREW), Dallas, USA, 27.–30. No-
vember 2012., S. 349–354 (2012)
8 Teuchert, S.: ISO 26262 – Fluch oder Segen? ATZelektronik
7(6), 410–415 (2012)
9 Bachmann, V.; Zauchner, H.: Erste Erfahrungen mit dem Au-
tomotive‐Standard ISO 26262 und Ausblick auf die Adap-
tierung für Motorräder, Vortrag TU Darmstadt, 23.05.2013
10 Werkmeister, K., Englisch, H.: Die ISO 26262 für Motorrad
Erfahrungen bei der Umsetzung bei BMW Motorrad 9. In-
ternationale Motorradkonferenz Institut für Zweiradsicher-
heit e. V., Köln, 1.‐2. Oktober 2012. (2012)
11 V‐Modell: Verfügbar unter: http://www.cio.bund.de/DE/
Architekturen-und-Standards/V-Modell-XT/vmodell_xt_
node.html, Abruf am 16.06.2013
12 PReVENT: Code of Practice for the Design and Evaluation
of ADAS, 13.08.2009
13 Weitzel, A., Winner, H., Cao, P., Geyer, S., Lotz, F., Sefati, M.:
Absicherungsstrategien für Fahrerassistenzsysteme mit
Umfeldwahrnehmung. Forschungsbericht der Bundesan-
stalt für Straßenwesen, Bereich Fahrzeugtechnik. Verlag
neue Wissenschaft, Bremerhaven (2014). in Druck
14 Ebel, S., Wilhelm, U., Grimm, A., et al.: Ganzheitliche Ab-
sicherung von Fahrerassistenzsystemen in Anlehnung
an ISO 26262, Integrierte Sicherheit und Fahrerassistenz-
systeme 26. VDI/VW‐Gemeinschaftstagung, Wolfsburg,
06.‐07.10.2010., S. 393–405 (2010)
15 Spanfelner, B., Richter, D., Ebel, S., et al.: Challenges in ap-
plying the ISO 26262 for driver assistance systems, 5. Ta-
gung Fahrerassistenz, München, 15.‐16. Mai 2012. (2012)
16 Ross, H.-L.: Funktionale Sicherheit im Automobil. Carl‐Han-
ser Verlag, München Wien (2014)
17 Ebel, S., Wilhelm, U., Grimm, A., et al.: Wie sicher ist sicher
genug? Anforderungen an die funktionale Unzulänglich-
keit von Fahrerassistenzsystemen in Anlehnung an das
gesellschaftlich akzeptierte Risiko 6. Workshop Fahrerassis-
tenzsysteme, Löwenstein, 28.–30. September 2009. (2009)
18 Balzert, H.: Lehrbuch der Softwaretechnik – Softwarema-
nagement, 2. Aufl. Spektrum Verlag, Heidelberg, S. 487
(2008)
105 7
AUTOSAR
Simon Fürst, Stefan Bunzel
7.1 Motivation für AUTOSAR wagen die Core Partner von AUTOSAR. Sie sind
1 verantwortlich für die Steuerung von AUTOSAR
Softwareentwicklung im Fahrzeugbau gewann in sowie für seine Verwaltung und Organisation. Da-
2 den letzten Jahrzehnten mehr und mehr an Be- rüber hinaus lädt AUTOSAR andere Firmen ein,
deutung. Immer anspruchsvollere Anforderungen sich zu beteiligen, ihre Erfahrung und ihr Wissen
an Sicherheit, Umweltschutz und Komfort führten einzubringen und im Gegenzug von AUTOSAR
3 zu einem massiven Anstieg der Anzahl elektroni- und damit vom Wissen und der Erfahrung aller
scher Systeme im Fahrzeug. Neben immer strik- Beteiligten zu profitieren. Es gibt verschiedene
4 teren gesetzlichen Auflagen, z. B. zu Emissionen Partnertypen: Core-Partner als auch Premium-,
und Sicherheit, untermauert die rasante Zunahme Development- und Associate-Partner sowie At-
5 von Fahrerassistenzsystemen den Trend zu im- tendees wie in . Abb. 7.1 dargestellt.
mer komplexeren elektronischen Systemen. Die Premium- und Development-Partner tragen
Funktionen von Fahrerassistenzsystemen setzen durch Wissen und aktive Teilnahme zur Entwick-
6 verlässliche simultane Interaktionen zwischen den lung von Konzepten und Spezifikationen bei und
vielfältigen Sensoren, Aktoren und Kontrollsyste- bestimmen dadurch den technischen Standard mit.
7 men voraus. Kaum verwunderlich ist, dass mitt- Associate-Partner profitieren, wie Premium- und
lerweile für mehr als 90 % aller Innovationen im Development-Partner auch, von der kommerziellen
Fahrzeug Elektronik und Software verantwortlich Nutzung des Standards. Forschungsinstitute und
8 sind (vgl. [1]). Firmen, die als Dienstleister von AUTOSAR beauf-
Diese rasante Entwicklung und die zuneh- tragt werden, können sich als Attendee engagieren.
9 mende Integration von Funktionen und Regelsys- Attendees beteiligen sich an der Entwicklung von
temen stellen eine Herausforderung für alle Fahr- AUTOSAR, haben aber keine Rechte an der kom-
10 zeughersteller dar. Um die wachsende Komplexität merziellen Nutzung der AUTOSAR-Spezifikationen.
und die steigende Anzahl der Abhängigkeiten auf Zwei Gremien der Core-Partner steuern die Or-
der einen Seite zu beherrschen, die Kosten auf der ganisation: das Executive Board und das Steering
11 anderen Seite aber im akzeptablen Rahmen zu hal- Committee. Das Executive Board ist das höchste
ten, müssen die Schnittstellen zwischen Hardware Entscheidungsgremium von AUTOSAR und legt
12 und Basissoftware sowie zwischen Anwendungs- die Strategie und den übergeordneten Zeitplan fest.
software und Systemdiensten standardisiert wer- Das Steering Committee koordiniert die täglichen,
den. nicht-technischen Unternehmungen und ist für die
13 AUTOSAR (AUTomotive Open System AR- langfristigen Ziele verantwortlich.
chitecture) arbeitet genau an dieser Standardisie- Für technische Angelegenheiten und für die Ko-
14 rung und hat mittlerweile mehrere Versionen des ordination der technischen Work Packages ist das
AUTOSAR Standards veröffentlicht, die in Serien- Project Leader Team verantwortlich. Ebenso wie das
15 projekten zum Einsatz kommen. Im Vordergrund Executive Board und das Steering Committee ist das
steht das Beherrschen der Komplexität durch Aus- Project Leader Team ein Core-Partner-Gremium.
tauschbarkeit und Wiederverwendung von Soft- Die Arbeit an den AUTOSAR-Spezifikationen
16 warekomponenten – wie beispielsweise bei Fah- findet in Work Packages statt, die je nach Bedarf
rerassistenzsystemen. in Untergruppen aufgeteilt sind. Hieran nehmen
17 Core-, Premium- und Development-Partner sowie
Attendees teil. . Abbildung 7.2 verdeutlicht die Ein-
7.2 Organisation der Partnerschaft ordnung der verschiedenen Gremien und Arbeits-
18 AUTOSAR gruppen zueinander.
Die AUTOSAR Support Functions unterstützen
19 Im Juli 2003 wurde AUTOSAR von führenden die Partner bei der Administration, dem Projekt-
Automobilherstellern und Zulieferern gegründet. und Qualitätsmanagement, dem Spezifikationsma-
20 Heute sind BMW, Bosch, Continental, Daimler, nagement und bei der technischen Entwicklung des
Ford, General Motors, PSA, Toyota und Volks- Standards.
7.3 • Die neun Projektziele von AUTOSAR
107 7
.. Abb. 7.1 Struktur der
Core Partners
AUTOSAR-Partnerschaft [2] Organizational control Associate Partners
Users of the AUTOSAR
Administrative control
standard
Leadership of Working
Groups
Attendee
Involvement in Working
Involvement in Working
Groups
Groups
Project Management
Technical
Executive Management
Board
Quality
Management
Support Functions
Steering
Committee Specification Management
Administration
Change
Management
Project Leader Communication
Legal Team Release
Team Team
Management
Engineering
… … … … …
Technical
Office
Project Organization
Core-Partner
Sub-Contractors
Die technische Arbeit war zunächst zeitlich be- 7.3 Die neun Projektziele
grenzt und in Phasen untergliedert. Durch den gro- von AUTOSAR
ßen Erfolg und das weitere zukünftige Potenzial ar-
beitet die AUTOSAR Partnerschaft seit 2013 – nach Inhaltlich leitet sich die Arbeit der Partnerschaft aus
AUTOSAR Phase I, II und III – bis auf Widerruf dem übergeordneten Ziel ab, die Komplexität durch
zeitlich unbegrenzt. Wiederverwendung und Austauschbarkeit von Soft-
warekomponenten, wie beispielsweise Fahrerassis-
108 Kapitel 7 • AUTOSAR
tenzsystemen, zwischen Fahrzeugherstellern und Partnern. Durch die Definition von Datenaus-
1 Zulieferern zu beherrschen. tauschformaten und einer Architektur, die die
Dies führt zur Definition von neun Top-Zielen, Integration von Basis- und Anwendungssoft-
2 die als „Project Objectives“ bezeichnet werden: ware von verschiedenen Partnern erlaubt, soll
1. Übertragbarkeit von Software. AUTOSAR dies unterstützen.
OEM und Zulieferer sollen Software innerhalb 8. Standardisierung von Basissoftwarefunktionali-
3 der Fahrzeugnetzwerke wiederverwenden kön- tät von Steuergeräten (ECU) im Automobilbe-
nen. Dadurch ist es z. B. möglich, die gleiche reich.
4 Software auf unterschiedlichen Fahrzeugplatt- Die Basissoftware soll für unterschiedliche
formen und bei unterschiedlichen Automobil- Funktionsdomänen, Fahrzeughersteller und
5 herstellern zu verwenden. Zulieferer wiederverwendbar sein. So kann die
2. Skalierbarkeit für unterschiedliche Fahrzeuge Basissoftware als Produkt am Markt angeboten
und Plattformvarianten. werden.
6 AUTOSAR soll Mechanismen bereitstellen, da- 9. Unterstützung von relevanten internationalen
mit Softwaresysteme entwickelt werden können, Automobilstandards und etablierten techni-
7 die auf unterschiedliche Fahrzeuge, Fahrzeug- schen Lösungen.
plattformen und Hardware angepasst werden AUTOSAR soll mit existierenden und relevan-
können. Das heißt, AUTOSAR soll konfigurier- ten internationalen Standards kompatibel sein.
8 bar sein, so dass AUTOSAR-Systeme in unter- Dies ermöglicht den Einsatz von AUTOSAR in
schiedliche Fahrzeuge integriert werden können. heutigen und zukünftigen Fahrzeugsystemen.
9 3. Unterstützung einer Vielzahl von Funktions- Ein Beispiel ist die Unterstützung existierender
domänen. und zukünftiger Bussysteme wie FlexRay, CAN,
10 AUTOSAR soll die Verwendung von Soft- Ethernet etc.
warekomponenten in möglichst vielen Funktions-
domänen im Fahrzeug ermöglichen. Dies schließt Diese Projektziele werden in der „AUTOSAR Main
11 den Datenaustausch zu Nicht-AUTOSAR-Syste- Requirements Specification“ in übergeordnete An-
men mit ein, wie z. B. die Kommunikation mit forderungen an das System detailliert. Ein Beispiel
12 dem Infotainmentsystem eines Fahrzeugs. verdeutlicht das:
4. Definition einer offenen Architektur. Das Projektziel „Übertragbarkeit von Software“
Die AUTOSAR-Architektur soll gewartet, an- wird auf die folgenden Hauptanforderungen her-
-
13 gepasst und erweitert werden können. So kön- untergebrochen:
nen Fehler kontinuierlich behoben, zukünftige Die Softwarearchitektur von AUTOSAR soll in
-
14 Anforderungen und individuelle Erweiterungen funktionale Schichten gegliedert werden.
realisiert werden. AUTOSAR soll eine Entkopplungsschicht
15 5. Unterstützung der Entwicklung von zuverlässi- von der Hardware bereitstellen, um möglichst
gen Systemen. große Teile der Software hardwareunabhängig
16
17
Verfügbarkeit, Verlässlichkeit, Betriebssicher-
heit, Integrität, Wartbarkeit und Security sollen
durch AUTOSAR umsetzbar sein. So werden
beispielsweise Anforderungen an die funktio-
- zu gestalten.
AUTOSAR soll die freie Verteilung von An-
wendungssoftware im Bordnetz erlauben.
Specification of Software
...
...
Concretization
PO 4 ... ...
SRS SWS
PO 5 ... ...
SRS SWS
PO 6 ... ...
bilden schließlich die Grundlage für die Implemen- schiedene Fahrzeugproduktlinien und -varianten,
tierung des AUTOSAR-Standards in Software. die Möglichkeit, Anwendungen auf mehrere ECUs
zu verteilen und Softwarekomponenten aus unter-
schiedlichen Quellen zu integrieren, wie in ▶ Ab-
7.4 Die drei Bereiche schn. 7.6.4 dargelegt.
der Standardisierung Die BSW innerhalb der AUTOSAR-Software-
architektur ist weiter unterteilt in die Schichten
Die Standardisierung von AUTOSAR unterteilt sich „Services“, „ECU Abstraction“ und „Microcontrol-
in die drei Bereiche Softwarearchitektur, Entwurfs- ler Abstraction“, die in ▶ Abschn. 7.6.3 ausführlich
methodik und Anwendungsschnittstellen. beschrieben werden. Die Separation der Anwen-
dungsschicht von der BSW ist durch die RTE re-
alisiert, die Kontrollmechanismen zum Datenaus-
7.4.1 Softwarearchitektur tausch zwischen diesen Schichten enthält. Dies
bildet die Grundlage für eine komponentenorien-
Das Hauptkonzept der standardisierten ECU-Soft- tierte, hardwareunabhängige Softwarestruktur auf
warearchitektur, siehe . Abb. 7.4, besteht aus der Anwendungsebene mit Softwarekomponenten als
Trennung von hardwareunabhängiger Anwendungs- eigenständigen Einheiten.
software und hardwareorientierter Basic Software Beispielsweise wird die Funktion eines Fah-
(BSW). Dies wird erreicht durch die Software-Abs- rerassistenzsystems durch Softwarekomponenten
traktionsschicht Runtime Environment (RTE). umgesetzt, welche die Anwendung bilden. Die
Auf der einen Seite ermöglicht diese Abstrakti- einzelnen Softwarekomponenten kommunizieren
onsschicht die Entwicklung von OEM-spezifischen direkt nur mit der RTE. Damit gestaltet sich die
und wettbewerbsrelevanten Software-Anwendun- Kommunikation transparent, unabhängig davon, ob
gen wie Fahrerassistenzsystemen. Auf der anderen sie innerhalb eines Steuergerätes oder über Steuer-
Seite erlaubt sie die Standardisierung von OEM-un- gerätegrenzen hinweg stattfindet.
abhängiger BSW. Sie ist ferner die Voraussetzung Durch diese Unabhängigkeit wird es ermög-
für die Skalierbarkeit der ECU-Software für ver- licht, Softwarekomponenten ohne spezifisches
110 Kapitel 7 • AUTOSAR
Software
1 Components
Application Layer
2
Middle Ware Runtime Environment
3 Basic Software System Services Memory Communication I/O Hardware Complex
Services Services Abstraction Drivers
4
Services
7 ECU
Resources Microcontroller
9 Wissen über die verwendete oder geplante Hard- (AUTOSAR-Schema) mit entsprechenden seman-
ware zu entwickeln bzw. die bestehenden Soft- tischen Randbedingungen definiert. Die Informa-
10 warekomponenten flexibel zwischen den ECUs zu tionen werden dann als formale Beschreibungen
verteilen. in AUTOSAR XML (.arxml)-Dateien gespeichert.
Zahlreiche Tools verwenden diese Beschreibungen
11 für die Konfiguration und Generierung von RTE
7.4.2 Entwurfsmethodik und BSW. Beispielsweise bietet die Softwarekom-
12 ponentenbeschreibung ein standardisiertes Kom-
Neben der Softwarearchitektur standardisiert ponentenmodell für Anwendungssoftware. Ein
AUTOSAR auch die Methodik der Softwareentwick- anderes Beispiel ist die Systembeschreibung. Sie
13 lung im Automobilbereich, vor allem, um die Zu- definiert die Beziehung zwischen der reinen Soft-
sammenarbeit der beteiligten Partner zu erleichtern. waresicht auf das System und der physikalischen
14 Die AUTOSAR-Entwurfsmethodik adressiert Systemarchitektur mit vernetzten ECU-Instanzen.
besonders Aspekte, die notwendig sind, um Soft- Sie beschreibt die Netzwerktopologie, die Kom-
15 warekomponenten in eine ECU und verschiedene munikation für jeden Kanal und die Zuteilung
ECUs in die gesamte Netzwerkskommunikation mit der Softwarekomponenten auf die verschiedenen
unterschiedlichsten Bussystemen zu integrieren. ECUs.
16 Sie definiert die Abhängigkeiten von Aktivitäten Das Prinzip der AUTOSAR-Entwurfsmethodik
für Arbeitsprodukte und unterstützt Aktivitäten, ist in . Abb. 7.5 dargestellt.
17 Beschreibungen und Nutzung von Werkzeugen in Neben der Grundfähigkeit, E/E-Systeme im
AUTOSAR. Die Methodik wird in der Entwicklung Automobilbereich zu beschreiben, gibt es viele
der Anwendungssoftware, siehe ▶ Abschn. 7.6.1, der Aspekte, die durch praktische Austauschformate
18 Laufzeitumgebung, siehe ▶ Abschn. 7.6.2, sowie in unterstützt werden müssen, wie Dokumentation,
der Systemkonfiguration, siehe ▶ Abschn. 7.6.4, an- Anforderungsverfolgung und Lebenszyklen ver-
19 gewandt. schiedener Artefakte.
Für Informationen, die in der AUTOSAR-Ent- Das integrierte Variantenmanagement erlaubt
20 wurfsmethodik entstehen oder verwendet werden, OEMs und Zulieferern darüber hinaus, grundle-
hat AUTOSAR ein formales Datenaustauschformat gende AUTOSAR-Produktlinien zu formulieren
7.4 • Die drei Bereiche der Standardisierung
111 7
Component SWC
Component API Implementation
API e.g. app.h
Generator
ECU Configuration
Description
Basic SW
Basic SW Other Basic
ModuleBasic
A extract
SW
System – Module A extract SW Generator
ECU extract of ECUA Extract
Module
Constraint of ECU
of System configuration
of ECU
Description Decisions Decisions configuration
Configuration (e.g. scheduling) Configuration
(e.g. mapping)
List of MCAL –
Implementations Generator
Information / Database of SW
Components
Generation step: System per ECU
complex algorithm or engineering work
Middle Ware
Runtime Environment
und diese Informationen, wann immer notwen- dungsschnittstellen in den Fahrzeugbereichen Ka-
dig, mit ihren Partnern auszutauschen. Denn das rosserie, Innenraum und Komfort, Antriebsstrang,
gemeinsame Verständnis und die abgestimmte In- Fahrwerk, sowie Insassen- und Fußgängerschutz.
terpretation über diese Varianten sind ein Schlüs- Dabei liegt der Fokus auf den Schnittstellenspezifi-
selelement für die erfolgreiche Zusammenarbeit in kationen für allgemein eingeführte Applikationen,
gemeinsamen Projekten. um die Wiederverwendung und den Austausch von
Softwarekomponenten zu ermöglichen. Schließlich
ist der Einsatz von standardisierten Anwendungs-
7.4.3 Anwendungsschnittstellen schnittstellen für die Wiederverwendung von An-
wendungen von entscheidender Bedeutung.
Die Anbindung der Anwendungskomponenten Die Schnittstellenspezifikationen werden von
an die RTE wird durch Anwendungsschnittstel- Experten aller AUTOSAR-Partner standardisiert.
len sichergestellt, wie in . Abb. 7.6 dargestellt. Dies umfasst beispielsweise verwendete Datenty-
AUTOSAR standardisiert zum einen den grundsätz- pen, Einheiten und Skalierungsfaktoren. Sie ermög-
lichen Schnittstellenmechanismus mit der Syntax lichen Software-Architekten und -Entwicklern, sie
und zum anderen auch die Semantik der Anwen- im Falle von Erweiterungen oder Wiederverwen-
112 Kapitel 7 • AUTOSAR
System Gateway
9 dungen von Softwarekomponenten unabhängig von ten sowohl die Mechanismen für die Kommunika-
einer spezifischen Hardware bzw. ECU zu nutzen. tion untereinander als auch die Mechanismen für
10 Anwendungen wie Fahrerassistenzsysteme die Nutzung der Dienste der Basissoftware zur Ver-
enthalten wettbewerbsdifferenzierende Merkmale. fügung, siehe . Abb. 7.7, oberer Teil. Die verschie-
Daher standardisiert AUTOSAR nicht das interne denen Mechanismen werden durch sogenannte
11 funktionale Verhalten einer Anwendung, wie z. B. Ports dargestellt (vgl. ▶ Abschn. 7.6.1).
Algorithmen, sondern die Informationen, die zwi- Die funktionale Systemarchitektur wird im
12 schen den Anwendungen ausgetauscht werden. Ty- weiteren Verlauf der Entwicklung auf eine physika-
pische Beispiele für Anwendungen sind Fahrerassis- lische Architektur, d. h. auf eine Steuergeräte- und
tenzsysteme, wie sie in ▶ Teil I beschrieben werden. Netzwerktopologie, abgebildet. Hierbei werden die
13 Softwarekomponenten den Steuergeräten zugewie-
sen; auf jedem Steuergerät wird die Funktion des
14 7.5 Systemarchitektur – VFB durch die RTE und die darunterliegende Ba-
der virtuelle Funktionsbus sissoftware realisiert, siehe . Abb. 7.7, unterer Teil.
(VFB)
15 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei
explizit darauf hingewiesen: AUTOSAR hat das
Zur Entwicklung der funktionalen Systemarchitek- VFB-Konzept spezifiziert. Für Entwickler anwend-
16 tur hat AUTOSAR das Konzept des virtuellen Funk- bar umgesetzt ist dieses Konzept in diversen auf
tionsbusses, des VFB, eingeführt. Der VFB erlaubt dem Markt verfügbaren Werkzeugen zur System-
17 es, die funktionale Interaktion von Anwendungs- architekturentwicklung.
komponenten systemweit – also bis hin zu einem
Gesamtfahrzeug – zu beschreiben. Diese Beschrei-
18 bung ist unabhängig von der tatsächlichen Steuer- 7.6 Softwarearchitektur
gerätearchitektur sowie dem realisierten Netzwerk.
19 Damit abstrahiert der VFB die Anwendungen von 7.6.1 Anwendungssoftware
der Hardware. Einzelne Anwendungen werden bei
20 AUTOSAR als Softwarekomponenten (SWC) be- Das Schichtenmodell der AUTOSAR-Softwarear-
schrieben. Der VFB stellt den Softwarekomponen- chitektur platziert Anwendungssoftware in Form
7.6 • Softwarearchitektur
113 7
.. Abb. 7.8 Kommuni-
kationspfade innerhalb ECU I ECU II
eines Steuergerätes und
SWC SWC SWC
zwischen mehreren Steu- Application
A B C
ergeräten [2]
Ports
Hardware
Communication Bus
Sensor
Communication Path
.. Abb. 7.9 AUTOSAR-
1
SWC PPort, provides a Sender-Receiver Interface
Description Softwarekomponenten
RPort, requires a Sender-Receiver Interface beschreibung [2]
Ports
2 Interfaces
Internal Behavior PPort, provides a Client-Server Interface, i.e. implements service
Runnable Entities
Events RPort, requires a Client-Server Interface, i.e. client of a service
7
ware-Komponenten vorgesehen, bei denen derar- 7.6.3 Basissoftware (BSW)
tige Randbedingungen in der Softwarekomponen-
8 tenbeschreibung vermerkt werden können. Die Basissoftware stellt den Anwendungen über
die RTE alle Systemdienste und -funktionen zur
9 Verfügung. Die Funktionen der Basissoftware sind
7.6.2 Laufzeitumgebung (RTE) für die Anwendungen zwar essenziell, werden aber
10 typischerweise von einem Fahrzeugnutzer nicht
Die AUTOSAR-Laufzeitumgebung (Runtime En- wahrgenommen. Die Basissoftware gliedert sich
vironment, RTE) abstrahiert die Anwendungen weiter in Schichten mit zunehmender Abhängigkeit
11 von jeglichen Implementierungsdetails der Basis- von der Hardware: Service- bzw. Diensteschicht,
software und von der Hardware eines Steuergerätes. ECU-Abstraktionsschicht, Mikrocontroller-Ab-
12 Es stellt die Laufzeitimplementierung des VFB (vgl. straktionsschicht. Jede dieser Schichten enthält
▶ Abschn. 7.5) auf einer spezifischen ECU dar. Die wiederum einzelne Module, die jeweils einen von
RTE bietet allen Anwendungen eines Steuergerätes AUTOSAR genau spezifizierten Funktionsumfang
13 die Mechanismen für die Kommunikation unterei- abbilden. Insgesamt enthält die AUTOSAR-Basis-
nander sowie die Mechanismen für den Zugriff auf software rund 80 verschiedene Module, für die der
14 Dienste der Basissoftware. Dazu gehört auch die Be- Standard jeweils eine Anforderungs- und eine Soft-
reitstellung von Datenpuffern und Warteschlangen warespezifikation enthält. Darin sind das funktio-
15 für die Kommunikation. nale Verhalten des Moduls und seine Schnittstellen
Der tatsächliche Programmcode der RTE ist in C definiert. Somit sind zwei verschiedene, aber
von den Anwendungen, deren Kommunikation, standardkonforme Implementierungen eines Mo-
16 den verwendeten Basissoftwarediensten und dem duls direkt austauschbar. Die Parametrierung des
Scheduling abhängig. Der Code wird in der Praxis funktionalen Verhaltens eines Basissoftwaremoduls
17 vom RTE-Generator entsprechend den Informatio- bzw. seine Konfiguration verwendet den gleichen
nen aus den Softwarekomponentenbeschreibungen formalen Beschreibungsmechanismus wie Anwen-
erzeugt. dungskomponenten. Die Konfigurationsbeschrei-
18 Genau genommen ist die RTE eine „Middle- bungen der Basissoftwaremodule eines Steuergerä-
ware“-Schichttechnologie, die die Verschiebbarkeit tes werden in der ECU-Konfigurationsbeschreibung
19 von Komponenten der Anwendungsschicht über zusammengefasst.
ein dezentralisiertes Netzwerk ermöglicht.
20
7.6 • Softwarearchitektur
115 7
7.6.3.1 Services ger Signale in digitale Werte. Damit wird standar-
Die Schicht der Services umfasst Systemdienste disierte Hardware direkt vom AUTOSAR-Standard
wie Kommunikationsdienste, Diagnoseprotokolle, unterstützt.
Speicherdienste, Management der ECU-Betriebs- Die Schicht der komplexen Treiber dient zur
modi, aber auch das AUTOSAR-Betriebssystem Behandlung von Spezialfällen, z. B. zur Ansteue-
(OS) als ein eigenständiges Modul. Das AUTOSAR rung von komplexen Sensoren oder Aktoren mit
OS basiert auf dem Echtzeitbetriebssystemstandard besonderen Echtzeitanforderungen oder mit spe-
OSEK/VDX und wurde in einigen Bereichen erwei- zifischen elektromechanischen Hardwareanforde-
tert, in anderen auch eingeschränkt. Es wird statisch rungen. Solche Module werden von AUTOSAR
konfiguriert und skaliert und bietet prioritätsbasier- nicht als Basissoftwaremodule standardisiert, da
tes Echtzeitverhalten sowie die Behandlung von In- hierzu spezifisches Fachwissen und geistiges Ei-
terrupts. Zur Laufzeit sind diverse Schutzmechanis- gentum der Automobilhersteller oder der Zulie-
men für Speicherzugriffe bzw. für das Zeitverhalten ferer erforderlich wäre. Allerdings müssen die
verfügbar. Das AUTOSAR OS eignet sich auch für komplexen Treiber ebenso wie die standardisier-
kleine, leistungsschwächere Mikrocontroller, unter- ten Module den Anforderungen für Schnittstel-
stützt aber inzwischen auch den Multicore-Einsatz lenmechanismen in der AUTOSAR-Basissoftware
und die Verwendung mehrerer Speicherpartitionen genügen.
sowohl für Code als auch für Daten.
Die Module der Services sind – abgesehen vom
Betriebssystem – hardwareunabhängig. Diese Sys- 7.6.4 Systemkonfiguration
temdienste stehen den Anwendungen über die
RTE zur Verfügung. Auf darunterliegende Basis- Im AUTOSAR-Kontext bezieht sich „System“ auf
softwaremodule können Anwendungen nicht di- einen Verbund vernetzter Steuergeräte, der auch
rekt zugreifen. Dies ist den Services vorbehalten, sämtliche Steuergeräte eines Fahrzeugs umfassen
um im Rahmen ihrer Funktion auf ECU- oder kann. Die Systemkonfiguration schließt sich an die
Mikrocontroller-Ressourcen zuzugreifen. Ein Ser- Entwicklung der funktionalen Systemarchitektur
vicemodul und seine darunterliegenden Module auf der VFB-Ebene an, siehe . Abb. 7.10. Mit der
werden auch als funktionale Stacks bezeichnet, bei- Systemkonfiguration werden Designentscheidun-
spielsweise der Kommunikationsstack für FlexRay. gen zur tatsächlichen, physikalischen Architektur
Solche Stacks werden oft als Einheit implementiert des Systems getroffen. Diese Entscheidungen be-
und integriert. Dies unterläuft zwar das Abstrakti- treffen vor allem die Systemtopologie, d. h. welche
onsprinzip und reduziert die Flexibilität, ermög- Steuergeräte vorhanden und wie diese vernetzt
licht aber eine höhere Effizienz und Leistung einer sind. Zu den einzelnen Steuergeräten kommt eine
Implementierung. Beschreibung der verfügbaren Ressourcen bezüg-
lich Prozessorarchitektur, Prozessorkapazitäten,
7.6.3.2 Hardwareabstraktion Speicher, Schnittstellen, Peripherien oder Signa-
Die Schichten unterhalb der Services dienen lisierungsmethoden hinzu. Die Beschreibung der
der Hardwareabstraktion. Zunächst trennt die Netzwerktopologie reicht von den Bussystemen
ECU-Abstraktionsschicht das ECU-Layout (d. h. bis zur Kommunikationsmatrix einzelner Ka-
wie die Peripheriemodule mit dem Mikrocont- näle. Hinzu kommt auch die Festlegung, welche
roller verbunden sind) von den oberen Schich- Anwendungssoftwarekomponenten auf welchem
ten. Obwohl diese Schicht ECU-spezifisch ist, ist Steuergerät laufen sollen. All diese Informationen
sie unabhängig vom Mikrocontroller. Die nächste werden in der Systembeschreibung eingetragen: In
Abstraktionsstufe wird durch die Mikrocontrol- der Praxis erfolgt dies entweder mittels Systemar-
ler-Abstraktionsschicht erreicht, die mikrocontrol- chitekturdesigntools wie auch für das VFB-Design
lerspezifische Treiber umfasst. Diese Treiber sind – dann spricht man auch vom Systemgenerator –
beispielsweise I/O-Treiber für digitale Ein- und oder aber mittels der Konfigurationstools für die
Ausgänge oder ADC-Treiber zur Wandlung analo- Basissoftwaremodule.
116 Kapitel 7 • AUTOSAR
• Component modeling
Functional
1 architecture
• Data model development
• VFB Timing
VFB level Develop
2
VFB System Description
Regelalgorithmus auf einem anderen Steuergerät von einer Systembeschreibung und einer daraus
abgearbeitet wird oder weil Überwachungs- oder abgeleiteten Gefahrenanalyse und Risikobewer-
Diagnosefunktionen auf einem separaten Steuerge- tung – prozessorale und technische Anforderun-
rät implementiert sind. AUTOSAR vereinfacht die gen an die Entwicklung und die technischen Maß-
Entwicklung verteilter Echtzeitsysteme hinsichtlich nahmen eines elektrischen/elektronischen Systems
-
verschiedener Aspekte:
Die Implementierung von Anwendungssoft-
ware – die Codierung – ist entkoppelt vom
Entwurf der funktionalen und physikalischen
im Fahrzeug stellt (siehe ▶ Kap. 6). Diese werden in
einem funktionalen und daraus abgeleiteten, tech-
nischen Sicherheitskonzept im Rahmen der Ent-
wicklung des Systems spezifiziert. Aus dem techni-
- werden.
Für Softwarekomponenten können Anfor-
derungen an Lauf- und Ausführungszeiten
berücksichtigt werden. So können Vorausset-
gemäß der Nomenklatur der ISO 26262 auch als
„Safety Element out of Context“ (SEooC) bezeich-
net werden (siehe [3], Part 10, Chapter 9). Dies
bedeutet, dass die konkreten Sicherheitsanforde-
zungen für einzelne Steuergeräte oder für das rungen in einem Entwicklungsprojekt mit den im
Gesamtsystem definiert werden, aber auch AUTOSAR-Standard getroffenen Annahmen zum
für andere verfügbaren Ressourcen. Diese technischen Sicherheitskonzept zur Deckung ge-
Informationen sind während des gesamten bracht werden müssen.
Entwicklungsprozesses verfügbar und werden Bei der Entwicklung von AUTOSAR wurden
durch geeignete Softwareentwicklungswerk- typische technische Sicherheitskonzepte sowie die
zeuge berücksichtigt. Beispielsweise kann für technischen Anforderungen aus der ISO 26262
einen Spurhalteassistenten nun eine maximale analysiert und daraus abgeleitet eine Reihe von
Laufzeitverzögerung von 200 ms vorgegeben Mechanismen für die funktionale Sicherheit in den
und auf einzelne Ressourcen heruntergebro- AUTOSAR-Standard integriert. Besonders hervor-
- chen werden.
Die standardisierten Austauschformate für
Beschreibungen vereinfachen die Entwicklung --
zuheben sind hierbei:
Speicherpartitionierung,
Absicherung der Kommunikation von End- zu
eines verteilten Systems durch mehrere Ent-
wicklungspartner.
-- Endpunkt,
Überwachung der Ablaufprogramme,
defensives Verhalten.
3 AUTOSAR
Interface
AUTOSAR
Interface
AUTOSAR
Interface ..............
AUTOSAR
Interface
4 Runtime Environment
Complex
Operating
8 System
Device
Drivers
Standardized
Interface
9 Basic Software
Microcontroller
Partition 5 Abstraction
10 ECU-Hardware
12 7.7.2.1 Speicherpartitionierung hat, wird durch das Betriebssystem und die RTE
Die Speicherpartitionierung ermöglicht die kontrolliert beendet. Falls entsprechend konfigu-
Schaffung von Schutzgrenzen um eine Gruppe riert, werden alle Softwarekomponenten in dieser
13 von Softwarekomponenten. Gruppen von Soft- Partition neu gestartet. Dieselben Mechanismen tre-
warekomponenten werden hierbei in logische An- ten auch in Kraft, falls eine Softwarekomponente in
14 wendungspartitionen organisiert, wie in . Abb. 7.11 einer Anwendungspartition versucht, auf CPU-Re-
dargestellt. Sie haben begrenzten Schreibzugriff auf gister zuzugreifen, die nur im Überwachungsmodus
15 Speicher – einschließlich des Hauptspeichers und verändert werden dürfen.
nichtflüchtigen Speichers – und speicherbezogene
Hardware. Darüber hinaus laufen Anwendungen in 7.7.2.2 Absicherung
16 der Anwendungspartition im Anwendungsmodus der Kommunikation
der CPU, was bedeutet, dass sie begrenzten Zugriff von End- zu Endpunkt
17 auf spezielle Funktionsregister der CPU und auf Be- Das Konzept der Absicherung der Kommunika-
fehle im Überwachungsmodus haben. tion von End- zu Endpunkt geht davon aus, dass
Wenn eine Softwarekomponente, die in einer sicherheitsrelevanter Datenaustausch während
18 Anwendungspartition läuft, versucht, unberechtigt der Laufzeit gegen Auswirkungen von Fehlern
auf Speicher zu schreiben, entdeckt dies die Hard- im Kommunikationspfad zwischen zwei Soft-
19 ware-Speicherschutzeinheit (Memory Protection warekomponenten, die über einen physischen Bus
Unit, MPU) und verhindert den Zugriff. Dies führt kommunizieren, abgesichert werden soll. Dies sind
20 zu einer Unterbrechung der Ausführung und die beispielsweise zufällige Hardwarefehler wie beschä-
Anwendungspartition, die diesen Fehler verursacht digte Register im sendenden oder empfangenden
7.7 • Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung
119 7
SWC 1 SWC 2
Sender Receiver
Application Application
1: Produce 9: Consume
Logic safe data elements Logic safe data elements
3: Call E2E protect 4: Invoke RTE 7: Invoke RTE read 8: Call E2E check
on array RTE_Write_<p>_<o>() RTE_Read_<p>_<o>() on array
E2E_P0x_Protect() to transmit the data element to get the data element E2E_P0xCheck()
E2E E2E
5: RTE communication (intra or inter ECU),
Lib Lib
either through COM, IOC, or local in RTE
Libraries Libraries
Netzwerkcontroller, Interferenzen durch elektroma- fen der Anwendungssoftware ab. Ein fehlerhafter
gnetische Wellen und systematische Fehler in der Programmablauf findet statt, wenn ein oder meh-
Softwareimplementierung der Kommunikation rere Programmbefehle entweder in der falschen
des virtuellen Funktionsbusses, z. B. in der RTE, im Reihenfolge, nicht zeitgerecht oder überhaupt nicht
Kommunikationssystem oder im Netzwerkstack. ausgeführt werden. Fehler in den Kontrollabläufen
Die Absicherung der Kommunikation von End- können aus systematischen Softwarefehlern oder
zu Endpunkt kann diese Fehler im Kommunikati- aus zufälligen bzw. systematischen Hardwarefeh-
onspfad entdecken und sie während der Laufzeit lern entstehen. Sie können zu Datenverfälschung,
handhaben: Die End- zu-Endpunkt-Bibliothek Programmabbrüchen und in letzter Konsequenz
von AUTOSAR stellt hierbei die Mechanismen zu Verletzungen von Sicherheitszielen führen.
zur Verfügung, welche die Anforderungen an eine Die Überwachung des Programmablaufs bein-
sicherheitsrelevante Kommunikation bis zur Auto- haltet grundsätzlich zwei Arten des Überwachens:
motive-Sicherheitsintegritätsstufe D (ASIL) erfüllen erstens die Überwachung des zeitlichen Verhaltens
können. Dazu werden Mechanismen wie Prüfsum- und zweitens die Überwachung der logischen Aus-
men (CRC), Nachrichten-IDs und Alive-Counter führungsreihenfolge von Programmblöcken.
verwendet. Die Kernfunktion zur Überwachung des Pro-
Diese Algorithmen der Absicherungsmecha- grammablaufs wird durch das AUTOSAR-Basis-
nismen sind in der Spezifikation der sogenannten softwaremodul Watchdog-Manager zur Verfügung
End- zu-Endpunkt-Bibliothek von AUTOSAR de- gestellt. Abhängig von der Sicherheitsrelevanz der
finiert und werden von den Softwarekomponenten Softwareeinheiten und den Sicherheitsanforderun-
bei Bedarf aufgerufen. . Abbildung 7.12 stellt die gen des Gesamtsystems kann eine überwachte Ein-
Funktionsweise in der Kommunikation zwischen heit eine Gruppe von Softwarekomponenten oder
zwei Anwendungssoftwarekomponenten vor. nur eine ausführbare Softwareeinheit innerhalb ei-
ner Komponente sein. Die überwachten Software-
7.7.2.3 Überwachung einheiten rufen an zuvor festgelegten Stellen den
des Programmablaufs Watchdog-Manager mit einem Kontrollcode auf.
Die Überwachung des Programmablaufs zielt auf Daraus kann dieser ermitteln, ob die überwachten
die Entdeckung von Fehlern in den Kontrollabläu- Softwareeinheiten in der richtigen Reihenfolge und
120 Kapitel 7 • AUTOSAR
in den zulässigen Zeitfenstern ausgeführt wurden. Beispiele von Mechanismen und Funktionen, die
1 Kommt es dabei zu einer Verletzung der Vorgaben, zum frühestmöglichen Zeitpunkt validiert werden
werden zuvor festgelegte Sicherheitsmechanismen müssen. Je später Fehler gefunden werden, desto auf-
2 ausgeführt, was bis zu einem sofortigen Reset des wendiger wird ihre Behebung, und desto größer das
Steuergerätes gehen kann. Risiko für das Entwicklungsprojekt. Es geht im Kern
um die Fragestellung: Wie können Funktionen, bei-
3 7.7.2.4 Defensives Verhalten spielsweise die eines Spurhalteassistenten, in der ver-
Defensives Verhalten von Software zielt darauf ab, wendeten Umgebung frühzeitig abgesichert werden?
4 Fehlerübertragung bzw. Fehlerausbreitung in der Eine wirksame Möglichkeit bietet die virtu-
Software zu verhindern. Es handelt sich dabei um eine elle Absicherung. In einer PC-Umgebung wird die
5 nicht-funktionale Eigenschaft der Software und wird AUTOSAR-Basissoftware integriert. Hierbei können
im Allgemeinen durch entsprechende Programmier- die Implementierungen verschiedener Hersteller in-
richtlinien und Code-Muster erreicht. Damit ist de- klusive kundenspezifischer Anpassungen integriert
6 fensives Verhalten der Basissoftware von AUTOSAR werden. Mithilfe von speziellen Anpassungen in der
eine Eigenschaft, die nicht der Standard selbst fest- Hardwareabstraktion ist das Verhalten der Basis-
7 legt, sondern die vom Implementierer des Standards und Anwendungssoftware vergleichbar mit dem im
sichergestellt wird. Eine typische Maßnahme ist Steuergerät und dessen integrierten Mikroprozessor.
beispielsweise die Absicherung gegen Verfälschung Die gesamte virtuelle Absicherungsplattform
8 von sicherheitsrelevanten Daten eines Moduls der kann entweder rein durch Software oder mit ver-
Basissoftware. Hierbei werden die entsprechenden bundenen Hardwarekomponenten realisiert wer-
9 Daten direkt vor dem Verlassen des entsprechenden den. Im letzteren Fall werden am PC Schnittstel-
Softwaremoduls mit einem Sicherheitscode versehen. lenkonverter angeschlossen, die die Verbindung mit
10 Beim erneuten Aufruf dieses Softwaremoduls wird den Fahrzeugschnittstellen sicherstellen. Des Weite-
der Sicherheitscode zu den Daten erneut ermittelt. ren enthält die Basissoftware die für die Hardware
Ist er nicht identisch zu dem zuvor abgespeicherten, kompatible „Microcontroller Abstraction“-Schicht
11 wurden die Daten in der Zwischenzeit unberechtigt mit den entsprechenden Hardwaretreibern.
verändert und das Softwaremodul kann eine entspre- Während der Entwicklung von Softwarekom-
12 chende Fehlerbehandlung auslösen. ponenten können auf der einen Seite deren Funk-
tionen noch vor der Integration in das Steuergerät
getestet und abgesichert werden. Auf der anderen
13 7.7.3 Virtualisierung Seite können die direkt auf dem PC-Betriebssystem
in der Funktionsabsicherung verfügbaren Entwicklungswerkzeuge, wie z. B. De-
14 bugger, benutzt werden, wodurch die Arbeitsabläufe
Der Aufwand für Tests zur Absicherung der Funk- effizienter gestaltet werden. Die standardisierte Ba-
15 tionsweise aller Komponenten steigt rapide an: Ver- sissoftware ermöglicht die Verwendung der Werk-
teilte Entwicklung der Softwarekomponenten durch zeuge für die AUTOSAR-Entwurfsmethodik, wie
Zulieferer und durch den Automobilhersteller, das unter ▶ Abschn. 7.4.2 beschrieben.
16 Parallelisieren der Entwicklung von Basissoftware Dieses System sichert die Funktionen von Soft-
und Softwarekomponenten sowie die anschlie- warekomponenten in einer frühen Entwicklungs-
17 ßende Integration auf mehrere Steuergeräte durch phase ab und kann dabei bestehende Software bzw.
den Automobilhersteller oder durch einen anderen Steuergeräte aus Serienfahrzeugen und neue Tech-
Zulieferer erfordert neue Wege in der Absicherung. nologien von beispielsweise Sensoren mit einbezie-
18 Die Funktion der Softwarekomponente an sich, ihr hen. Die vorgesehene Steuergerätehardware muss
Zusammenspiel mit der RTE und der Basissoftware, dabei noch gar nicht verfügbar sein.
19 die Wirksamkeit von Sicherheitsmechanismen, wie Sicherlich ist dies auch mit fahrzeughersteller-
in ▶ Abschn. 7.7.2 beschrieben, oder die Einhaltung spezifischer Software möglich. Doch nur AUTOSAR
20 von Anforderungen an die Laufzeit von Fahreras- ermöglicht die durchgängige Portierung und somit
sistenzsystemen, vgl. ▶ Abschn. 7.7.1, sind einige Wiederverwendung der Testfälle herstellerübergrei-
7.7 • Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung
121 7
fend für andere Projekte. Durch die standardisierten scher Softwarearchitekturen sind extensive multi-
Anwendungsschnittstellen, vgl. ▶ Abschn. 7.4.3, ist laterale Diskussionen und Verhandlungen nötig,
die Implementierung einer virtuellen Absicherungs- um die technischen Schnittstellen zwischen den
plattform zudem modular und strukturiert, so dass Liefergegenständen und den projektspezifischen
sie effizient realisierbar ist. Schnittstellen zwischen den Lieferanten zu klären.
Essenzielle Vorteile bietet die virtuelle Absiche- Die AUTOSAR-Entwurfsmethodik hilft, dies zu
rung bei der Einführung agiler Softwareentwick- vereinfachen. Aufgrund der standardisierten Aus-
lungsmethoden (vgl. [4]): Hierbei werden Funkti- tauschformate auf XML-Basis sowie der standardi-
onen in relativ kurzen Iterationen entwickelt und sierten Anwendungsschnittstellen sind Inhalte und
im Idealfall wird nach jeder Iteration eine getestete Zusammenspiel definiert.
und funktionsfähige Software geliefert. Für kom- Darüber hinaus ergibt sich die Möglichkeit,
plexe Systeme, die mit verschiedenen Partnern ent- durchgängige Toolketten zu nutzen. Die Elemente
wickelt werden, ist dies mit vertretbarem Aufwand der Entwurfsmethodik und die AUTOSAR-Spezifi-
nur durch eine virtuelle Absicherung zu erreichen. kationen an sich werden von Toolherstellern aufge-
Auch die im Rahmen agiler Entwicklung fast immer griffen. Zurzeit sind diverse Entwicklungstools auf
eingesetzte kontinuierliche Integration, verbunden dem Markt, die es ermöglichen, eine durchgängige
mit kontinuierlicher Validierung und Softwareliefe- Entwicklungslandschaft zu schaffen (vgl. [5]).
rung zwischen den Partnern, lässt sich mittels einer
virtuellen Absicherungsplattform wesentlich effizi-
enter realisieren. 7.7.5 Flexibilisierung
von kooperativer und verteilter
Entwicklung
7.7.4 Beherrschung
von Komplexität und Mit der Einführung einer standardisierten Basis-
Entwicklungszeitverkürzung software geht auch ein fundamentaler Wandel in
den Geschäfts- und Arbeitsmodellen einher: Auto-
Aus technischer Sicht stehen wir durch die steigende mobilhersteller verwenden nicht länger ihre eigene,
Zahl von Fahrerassistenzsystemen und dem steigen- meist proprietäre ECU-Basissoftware, sondern Mi-
den Grad der Vernetzung immer komplexeren Sys- kroprozessorhersteller, Zulieferer bzw. Softwarelie-
temen gegenüber. Dies birgt nicht nur Risiken in feranten entwickeln und testen die AUTOSAR-Ba-
der Entwicklung, sondern auch in der Absicherung sissoftware.
von Softwaresystemen. Der beschriebene modulare Die Anwendungen kommunizieren mit der Ba-
Aufbau von AUTOSAR ermöglicht es, wesentliche sissoftware über standardisierte Schnittstellen. Auf
Teile der Software wiederzuverwenden. Des Wei- diese Art und Weise werden viele Anwendungen ge-
teren bieten die in ▶ Abschn. 7.7.1 beschriebenen meinsam von vielen Automobilherstellern verwen-
strukturierten Entwicklungsmechanismen die det. Als Beispiel seien an dieser Stelle Anwendun-
Möglichkeit, eine hohe Anzahl von Anwendungen gen für Fensterheber oder Zentralverriegelungen
zu integrieren. Ein Steuergerät wird für neue An- erwähnt. Dies bedeutet, dass der Lieferant für eine
wendungen nicht neu entwickelt, sondern durch dieser Anwendungen nicht mehr kundenspezifische
Generierung und Konfiguration können vielmehr Produkte entwickelt, sondern mehrere Kunden mit
neue Anwendungen in eine bestehende Architektur dem gleichen Produkt anspricht. Diese Software-
integriert werden. Dies hat positive Auswirkungen anwendungen sind somit wiederverwendbar und
auf Qualität und Entwicklungszeit. durch ihre weitere Verbreitung auch stabiler.
Aus organisatorischer Sicht entsteht nun eine Wettbewerbsrelevante Anwendungen werden
neue Komplexität. Entwicklungsprojekte beziehen weiterhin herstellerspezifisch sein. Sie können
eine Vielzahl von Lieferanten ein und adressieren durch die Nutzung der bereits erwähnten standar-
eine große Anzahl an Schnittstellen zwischen den disierten Schnittstellen für verschiedene Modelle
Funktionsbereichen. In der Entwicklung spezifi- eines Herstellers verwendet werden.
122 Kapitel 7 • AUTOSAR
19 » Cooperate on standardization,
compete on implementation.
20
123 II
Simulation für
Entwicklung und Test
von FAS / Virtuelle
Entwicklungs- und
Testumgebung für FAS
Kapitel 8 Virtuelle Integration – 125
Stephan Hakuli, Markus Krug
Virtuelle Integration
Stephan Hakuli, Markus Krug
Funktions-Code V R R R R R R
Steuergerät V V R R R R R
System V V V R R R R
Fahrzeug V V V V R R R
Fahrdynamik V V V V V R R
Erlebbarkeit V V V V V R R
Fahrbahn V V V V V R R
Verkehr/Umfeld V V V V V V R
V: virtuell, R: real
ein schrittweiser Austausch von virtuellen gegen nen so bereits früh Designentscheidungen im rein
die zugehörigen realen Versuchsbestandteile, bis im virtuellen Versuch auf ihre Eignung zur Erfüllung
vollständig realen Fahrversuch auf der Straße mit der Gesamtfahrzeugeigenschaftsziele überprüft
realem Fahrer und echten Verkehrsteilnehmern die werden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung trägt
Simulationsanteile komplett der Realität gewichen diese Vorgehensweise dazu bei, dass zwischen den
sind. Integrationsstufen kein unnötiger Bruch in der Test-
Der virtuelle Fahrversuch umfasst jedoch nicht und Bewertungskette entsteht und Testergebnisse
nur die Abbildung einer Versuchskonfiguration in stufenübergreifend vergleichbar bleiben.
die virtuelle Welt, sondern auch die Übertragung Die Nutzung von virtuellen Fahrzeugprototy-
der Auswertungs- und Bewertungsmethodik aus pen im virtuellen Fahrversuch macht somit bereits
dem realen Fahrversuch in die Simulation. Die früh im Entwicklungsprozess Designentscheidun-
kontinuierliche Erfüllung von Spezifikationen auf gen im Gesamtfahrzeugkontext bewertbar und
Systemebene und darunter garantiert nicht für das trägt dazu bei, dass Spezifikationen für Systeme
erwünschte Verhalten des Gesamtfahrzeugs und und Komponenten wie im folgenden ▶ Abschn. 8.2
damit nicht für die Validität eines Produkts im beschrieben schon vor der Entstehung des ersten
Sinne von Tauglichkeit gemäß den Produktzielen, realen Prototypen auf ihre Eignung zur Erreichung
deren Erreichung erst im Freigabeversuch überprüft der Gesamtfahrzeugziele überprüft werden können.
wird. Ziel muss daher sein, entwicklungsbegleitend ▶ Abschn. 8.4 beleuchtet diesen Aspekt am Beispiel
Teillösungen sowohl gegen die zugehörigen Spezi- einer Funktionsentwicklung entlang des V-Modells
fikationen zu testen als auch im gleichen Kontext durch alle Integrationsschritte.
im Gesamtfahrzeugkonzept auf die Erfüllung der
gewünschten Eigenschaften für die Gesamtlösung
überprüfen zu können. Der wirkliche Mehrwert 8.2 Effiziente Zusammenarbeit
des virtuellen Fahrversuchs besteht deshalb darin, zwischen Hersteller
die im realen Fahrzeug bei der Freigabe gefahrenen und Zulieferermittels einer
Manöver und die zugehörigen Bewertungskriterien Integrations- und Testplattform
durchgängig durch die in ▶ Abschn. 8.3 am Beispiel
des V-Modells diskutierten Integrationsschritte bis Der virtuelle Fahrversuch auf Basis von virtuel-
zum Beginn der Konzeptphase zu überführen und len Fahrzeugprototypen sowie in der Simulation
schon dort verfügbar zu machen. Im Idealfall kön- abgebildeten Freigabemanöverkatalogen samt
128 Kapitel 8 • Virtuelle Integration
Validierungsvorschrift
Kunden- Akzeptanztest
anforderungen
Validierung
Verifikationsvorschrift
Logische Kalibrierung
Architektur
Verifikation
Verifikationsvorschrift
Technische
Architektur Integrationstest
Verifikation
Verifikationsvorschrift
System-
Design Systemtest
Verifikation
Verifikationsvorschrift
Komponenten-
Design Komponententest
Verifikation
Implementierung
Das V-Modell zeichnet sich durch eine leichte sichere Aussage über die Qualität der Entwicklung
Verständlichkeit und die Verbindung von Entwick- treffen zu können [5, 6]. Diese Aussage muss be-
lung und Qualitätsmanagement aus. Diese Verbin- gleitend zur Entwicklung immer weiter konkreti-
dung wird durch die Verwendung der Testfälle aus siert werden, um zunehmend zu einer stabilen Be-
der Spezifikationsphase in der Integrationsphase er- wertung zu gelangen. Um ausreichend Flexibilität
reicht. Ein nicht unerheblicher Nachteil des V-Mo- zu erhalten, sollte ferner eine kontinuierliche An-
dells ist allerdings, dass sich erst beim entsprechen- passung der Spezifikationen möglich sein, ohne die
den Schritt der Integration feststellen lässt, ob die zuvor erstellten Inhalte maßgeblich zu verändern.
zugehörige Spezifikation korrekt ist. Am markan- Die für dieses Vorgehen verwendeten Methoden
testen wird dies in Bezug auf Fahrerassistenzfunkti- stammen überwiegend aus dem Repertoire der
onen bei der Validierung der Gesamtfunktionalität, Entwicklung von eingebetteten mechatronischen
die aus der initialen Kundenanforderung entwickelt Systemen. In Frage kommen hier SiL, MiL- und
wurde. Erst im letzten Schritt des Entwicklungspro- HiL-Methoden [7].
zesses ist hierzu eine Validierung möglich. Sollte Der systematische Ansatz dieser Methoden
die Spezifikation der Kundenanforderung unvoll- entspricht der Ankopplung der zum jeweiligen Ent-
ständig oder gar fehlerhaft sein, sind alle nachfol- wicklungsschritt vorhandenen Modelle oder realen
genden Spezifikationen und deren Realisierung Komponenten an eine Nachbildung deren realer
davon betroffen. Dies kann formal erst im letzten Umgebung mit dem Ziel, ein bewertbares Gesamt-
Entwicklungsschritt nach dem V-Modell festgestellt system zu erhalten. Diese Nachbildung wird durch
werden. Dazwischen liegen in der Automobilindu- eine Simulationsumgebung in virtueller Form zur
strie typischerweise drei Jahre Entwicklungszeit Verfügung gestellt, in welche die real verfügbaren
und nicht selten Entwicklungskosten in Höhe von Modelle oder mechatronischen Systeme eingebettet
mehreren Millionen Euro. Eine notwendige Ände- sind. Da es bis zum Prozessschritt der Implemen-
rung bedeutet sehr wahrscheinlich eine Erhöhung tierung keine realen Komponenten gibt, muss die
der Entwicklungskosten und eine Verlängerung der Simulationsumgebung in der Lage sein, eine virtu-
Entwicklungszeit. elle Integration anzubieten. . Abbildung 8.2 zeigt
Um dieses Risiko zu verringern, müssen ent- die Verortung der jeweiligen Methode im V-Modell.
sprechende methodische Ergänzungen im Ent- Mit der Model-in-the-Loop-Methode (MiL)
wicklungsprozess vorgenommen werden mit dem lässt sich die Spezifikation der Kundenanforde-
Ziel, zu einem frühen Zeitpunkt eine ausreichend rung bis zum Schritt der logischen Architektur
130 Kapitel 8 • Virtuelle Integration
1
Kunden- Akzeptanztest
2 anforderungen
Logische Ka
Kalibrierung
3
Architekturr
4 Technische
Architektur
Integrationste
Integrationstest
System- Systemtest
5 Design
Komponenten-
6 Design Komponententest
Implementierung
7
.. Abb. 8.2 In-the-Loop-Methoden im V-Modell
8
bestätigen. In dieser Methodik werden Algorith- Die Software-in-the-Loop-Methode (SiL) er-
9 men erstellt, die funktional dem Entwicklungsziel laubt eine Absicherung bis auf die Ebenen der
entsprechen. Sie haben allerdings noch keinen Be- einzelnen Komponenten. Erreicht wird dies durch
10 zug zur Hardware im Zielsystem. Diese Algorith- Übertragung der bereits erstellten Modelle in eine
men werden meist in Form von modellbasierter Simulationsumgebung, die den technischen Gege-
Software erstellt. Um diese Modelle zu validieren, benheiten des Zielsystems in Bezug auf Rechenleis-
11 werden sie in eine entsprechende Simulationsum- tung, Echtzeitverhalten oder Auflösungsgenauigkeit
gebung integriert und im virtuellen Fahrversuch sehr nahe kommt, aber noch zielhardwareunabhän-
12 getestet. Das bedeutet, dass alle dafür notwendigen gig ist [8]. Somit stellt die SiL-Methode eine Mög-
Komponenten (Umwelt, Fahrstrecke, Fahrdyna- lichkeit dar, die Spezifikationen der Einzelkompo-
mik, Antriebsstrang, Sensoren, Fahrermodell etc.) nenten eines Systems vor deren Implementierung zu
13 modular zur Verfügung stehen. Das erstellte Mo- prüfen und gegebenenfalls anzupassen.
dell wird zur Simulationsumgebung hinzugefügt, Wird der Entwicklungsprozess nach dem
14 um die neue Funktion erlebbar zu machen. Aus V-Modell durch die MiL- und Sil-Methoden in ei-
der Einbindung von Modellen in einen virtuellen ner leistungsfähigen Simulationsumgebung ergänzt,
15 Prototyp und damit in den Gesamtfahrzeugkontext entsteht im absteigenden Ast eine virtuelle Integ-
resultieren konkretere Anforderungsspezifikationen ration des Gesamtsystems. Es liegt zum Abschluss
und damit konkretere Testvorschriften, was mögli- des absteigenden Astes ein virtueller Prototyp vor,
16 che Überraschungen bei der Validierung vermeiden bei dem sowohl jede einzelne Komponente als auch
kann. Idealerweise ist die Simulationsumgebung mit die Gesamtfunktionalität in ihrer Wirkung und be-
17 einem Fahrsimulator gekoppelt, in dem die neu zu züglich ihrer Schnittstellen vollständig getestet und
entwickelnde Fahrerassistenzfunktion bereits von verifiziert werden können. Mit diesem virtuellen
Probanden bewertet werden kann. Abhängig vom Prototyp ist auch ein virtueller Fahrversuch wie in
18 Grad der Detaillierung dieser Methode ist bereits ▶ Abschn. 8.1 möglich. Daraus ergibt sich wiederum
eine weitreichende Aussage in Bezug auf die Kun- die Möglichkeit, die Auswirkungen von Toleranzen
19 denakzeptanz möglich. Zeitlich liegt dieser Schritt jeder einzelnen Komponente auf die Kundenfunk-
deutlich vor dem entsprechenden Schritt im klassi- tion zu testen. Da dies automatisiert und oftmals
20 schen V-Modell und ermöglicht damit eine deutli- schneller als in der tatsächlichen Zeit durchgeführt
che Senkung des Entwicklungsrisikos. werden kann, ist dieser virtuelle Prototyp ein sehr
8.3 • In-the-Loop-Methoden und virtuelle Integration im V-Modell
131 8
leistungsfähiges Werkzeug zur Überprüfung der szenarien erneut angewendet werden können. Zum
einzelnen Spezifikationen und des Gesamtsystems. einen senkt das die Kosten, zum anderen können
Zudem lassen sich bei entsprechender Konfigura- die Ergebnisse zwischen den realen und virtuellen
tion des virtuellen Prototyps der Ausfall oder der Komponenten direkt verglichen werden. Im Falle
Missbrauch einzelner Komponenten im Hinblick von Abweichungen wird die Fehlersuche erleich-
auf das Gesamtsystem und dessen Funktionalität tert. Falls die Fehlersuche eine Änderung an einem
testen. Diese Möglichkeit macht ähnliche Tests an Modell des virtuellen Prototyps notwendig macht,
den später zur Verfügung stehenden realen Kompo- können die Auswirkungen zunächst erneut durch
nenten nicht überflüssig. Allerdings ist diese Mög- einen virtuellen Fahrversuch beurteilt werden.
lichkeit wesentlich flexibler, schneller und günstiger. Vehicle-in-the-Loop (ViL) steht für eine neuere
Zudem lassen sich daraus gewonnene Erkenntnisse Methode zur sinnvollen Ergänzung und Verbesse-
in die Spezifikation der Einzelkomponenten inte- rung der Entwicklung im V-Modell für Fahreras-
grieren. sistenzsysteme. Sie adressiert den Bedarf vieler
Das beschriebene Vorgehen ist nicht auf den Fahrerassistenzfunktionen an einen aufwendigen
Funktionsbereich der Fahrerassistenz beschränkt. Fahrversuch und einen hohen Anspruch an die
Allerdings ist diese Domäne für ein solches Vorge- funktionale Sicherheit. Diese Gruppe von Fah-
-
hen aus folgenden Gründen prädestiniert:
hohe Interaktion mit den Domänen
Mensch-Maschine-Schnittstelle, Antriebs-
rerassistenzfunktionen wird zunehmend an Be-
deutung und Umfang gewinnen. Ein wesentlicher
Grund dafür ist die ständig wachsende Anzahl von
- strang, Fahrdynamik,
hohe Anforderungen an die funktionale
Sicherheit und deren Nachweis mit zunehmen-
Fahrzeugderivaten, in denen Fahrerassistenzfunk-
tionen angeboten werden und damit auch bei im-
mer weiter zunehmendem Automatisierungs- und
- dem Automatisierungsgrad,
hohes Entwicklungsrisiko aufgrund neuartiger
Vernetzungsgrad abzusichern bleiben müssen. Die
ViL-Methode erlaubt den Betrieb des realen Ver-
durch verschiedene Toleranzen entstehen würden. beziehungsweise deren Applikation. Die Entwick-
1 Dadurch ergibt sich mit dieser Methode die Mög- lungsprozesse der einzelnen Domänen im Fahrzeug
lichkeit, mit einem Versuchsträger entsprechende können sich durchaus unterscheiden, was den Ablauf
2 Derivate oder Toleranzen zu testen. Neben dem bis zu einem Synchronisationspunkt betrifft. Auch
wesentlich sicheren Versuchsbetrieb erlaubt dies die Menge der realisierten Teilfunktionalität kann
ein effektives Testen und Applizieren von Fahreras- sich durchaus von Domäne zu Domäne unterschei-
3 sistenzfunktionen. Daraus leitet sich ein erhebliches den. In Zukunft ist dieses Prinzip auch für den Ent-
wirtschaftliches Potential für den Fahrversuch im wicklungsprozess im absteigenden Ast des V-Modells
4 Bereich der Fahrerassistenz ab. zu erwarten. Gerade die gezeigte virtuelle Integration
Selten werden Fahrerassistenzfunktionen völ- ermöglicht die Verfügbarkeit eines virtuellen Proto-
5 lig neu entwickelt. Typischerweise existiert bereits typs zu jedem Zeitpunkt im Entwicklungsprozess.
eine Funktionalität, die verschiedene Komponenten Nur die Detaillierung unterscheidet sich zu den ver-
nutzt. Auf dieser Basis wird eine neue Funktion hin- schiedenen Zeitpunkten. Daher ist eine Koordina-
6 zugefügt. In derartigen Fällen ist es sehr hilfreich, tion der Integration von Funktionen auch schon im
wenn die bestehende Basis bereits in der beschrie- absteigenden Ast des V-Modells sinnvoll.
7 benen Form als virtueller Prototyp vorliegt. Die Die großen Potentiale der virtuellen Entwick-
Spezifikation der neuen Funktionalität kann darauf lung und Integration bei Fahrerassistenzfunktionen
basierend effizient in die vorhandene Struktur des wird den realen Fahrversuch nicht vollständig erset-
8 virtuellen Prototyps aus MiL- und SiL-Komponenten zen können. Das liegt zum einen daran, dass einige
integriert und getestet werden. Auch kann die neue Testszenarien erstmals im realen Fahrversuch ent-
9 reale Komponente die bestehende HiL-Infrastruk- deckt werden, da hier beliebige Situationen entste-
tur nutzen. Dieses Vorgehen stellt eine sehr hilfreiche hen können. Bei entsprechender Relevanz können
10 Qualitätsmaßnahme dar, da die Änderungen zum diese Testszenarien dann in den virtuellen Fahrver-
bereits getesteten System leicht nachvollziehbar und such übernommen werden, sofern die Abbildung
überprüfbar sind. Die existierenden Testfälle können der relevanten Ereignisse und Mechanismen auf-
11 bei entsprechender Interaktion der neuen Funktion wandsmäßig sinnvoll ist. Zum anderen ist die sub-
mit der existierenden Basis weiter verwendet wer- jektive Beurteilung von Fahrerassistenzfunktionen
12 den. Darüber hinaus erschließt sich daraus ein wirt- ein Aspekt, der nicht vollständig im virtuellen Fahr-
schaftliches Potential, da mit der vorhandenen Infra- versuch übernommen werden kann.
struktur einige Entwicklungsumfänge übernommen
13 werden können. Die Wiederverwendung dieser Inf-
rastruktur ist zudem ein Investitionsschutz. 8.4 Virtuelle Integration
14 Für komplexe Fahrerassistenzfunktionen kann im Entwicklungsprozess
der zugehörige Entwicklungsprozess nach dem
15 V-Modell nicht als alleiniger Prozess betrachtet Im Folgenden wird ein Beispiel angeführt, das zei-
werden. Fahrerassistenzfunktionen haben eine er- gen soll, wie die virtuelle Integration Teil des Ent-
hebliche Interaktion mit Funktionen aus anderen wicklungsprozesses nach dem V-Modell ist. Die
16 Domänen im Fahrzeug. Diese Interaktion erfordert Betrachtung wird unterteilt in die Spezifikations-
ein Domänen-übergreifendes Konzept bezüglich In- und die Integrationsphase. Dies entspricht einer
17 tegration und Test. Typischerweise wird dies heut- Aufteilung in den absteigenden und aufsteigenden
zutage damit erreicht, dass im aufsteigenden Ast Ast des V-Modells.
des V-Modells sogenannte Synchronisationspunkte
18 zwischen den Entwicklern aus den verschiedenen
Domänen vereinbart werden. Diese Synchronisati- 8.4.1 Spezifizieren mit Hilfe
19 onspunkte stellen die Integration aller Funktionen der virtuellen Integration
im Fahrzeug mit einer vereinbarten Teilfunktionali-
20 tät dar. Typische Teilfunktionalitäten sind dabei die Das folgende Beispiel zu einer Kundenanforderung
Verfügbarkeit aller System- oder Kundenfunktionen im Funktionsbereich Parken/Rangieren zeigt die
8.4 • Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess
133 8
Erweiterung des Entwicklungsprozesses nach dem der benötigten Teilkomponenten und deren Rea-
V-Modell durch die virtuelle Integration auf. Es lisierbarkeit. Am wesentlichsten in diesem Schritt
wird zunächst für jeden Schritt im Entwicklungs- ist, dass die Kundenfunktion mindestens visualisiert
prozess nach dem V-Modell eine entsprechende Be- werden kann und so der Kunde und der Entwickler
schreibung angegeben. Die Beschreibung ist stark über eine gemeinsame Diskussionsbasis verfügen.
verkürzt und dient ausschließlich dem Verständnis Dies reduziert die Gefahr von Missverständnissen
der Methode. Als Ergänzung wird zu jedem Schritt und daraus resultierenden Versäumnissen im Ent-
die jeweilige Aktivität zur virtuellen Integration wicklungsprozess erheblich.
und deren Ergebnis als Mehrwert im Vergleich zum
klassischen Prozess nach dem V-Modell in jeweils 8.4.1.2 Logische Architektur
drei getrennten Abschnitten angeführt. V-Modell Die logische Architektur könnte folgen-
dermaßen formuliert werden: Erfassung von fest-
8.4.1.1 Kundenanforderung stehenden Objekten mit Hilfe der im vorderen und
V-Modell Die Kundenanforderung wird formuliert hinteren Stoßfänger angebrachten Ultraschallsenso-
als: Vermeidung von Beschädigungen an den Fahr- ren. Nach der Erfassung werden die Objekte beim
zeugseiten durch Kollision mit einem feststehenden Verlassen des seitlichen Sichtbereichs der jeweils äu-
Objekt während eines Parkmanövers. Die maximale ßeren Sensoren über eine Objektverfolgung weiter
Fahrgeschwindigkeit liegt bei 10 km/h. Darüber ist lokalisiert, die auf der Fahrzeugbewegung basiert.
die Funktion inaktiv. Typische Fahrmanöver werden Ergibt die Lokalisierung bezogen auf die aktuelle
verbal formuliert und als Testfälle für die weitere Fahrgeschwindigkeit und den aktuellen Lenk-
Entwicklung festgelegt. winkel eine zu große Annäherung eines Objekts
an der Fahrzeugseite, so erfolgt die Ausgabe eines
Virtuelle Integration Es werden in der Simulati- Warnhinweises. Dieser Warnhinweis wird über ein
onsumgebung die zuvor als Testfälle definierten akustisches Signal realisiert. Entsprechende Testfälle
Fahrmanöver im virtuellen Fahrversuch konfigu- werden formuliert, die dieses Ereignis stimulieren.
riert, um die Kundenanforderung transparenter zu
gestalten. Die Sensoren des virtuellen Testfahrzeugs Virtuelle Integration In der virtuellen Integration
haben ein ideales Verhalten in Bezug auf die Um- werden in diesem Schritt die zuvor simulierten Sze-
welterfassung. Die Simulation der Fahrmanöver narien konkretisiert und erweitert. Dies betrifft zum
gibt den Entwicklern einen wichtigen Hinweis auf Beispiel die Anpassung der simulierten Sensoren
die Vollständigkeit der Kundenanforderungen und entsprechend der Charakteristik eines Ultraschall-
auf beachtenswerte Details der Funktion. Steht ein sensors und die Integration eines Algorithmus zur
Fahrsimulator zur Verfügung, hat der Kunde die Objektverfolgung inklusive Ausgabe des Warnhin-
Möglichkeit, seine zunächst nur verbal formulierte weises in die Simulation. Die zu diesem Schritt im
Anforderung zu erleben und gegebenenfalls zu de- V-Modell entwickelten Testfälle werden simuliert.
taillieren. Steht kein Fahrsimulator zur Verfügung,
gibt dennoch die übliche idealerweise fotorealisti- Ergebnis Zum Abschluss dieses Entwicklungs-
sche Animation der Simulation dem Kunden einen schritts liegt durch die Verwendung der virtuellen
ersten Eindruck und die Möglichkeit, seine Anfor- Integration eine getestete logische Architektur der
derungen auf dieser Basis anzupassen. Kundenanforderung vor. Dies ermöglicht eine Aus-
sage, ob die Kundenanforderung in Bezug auf den
Ergebnis Die virtuelle Integration ermöglicht in die- Datenfluss und die Funktionslogik im Rahmen der
sem Schritt eine wesentlich transparentere Diskus- vorhandenen Möglichkeiten realisierbar ist.
sion über die Formulierung der Anforderungen des
Kunden. Die Entwickler bekommen dadurch einen 8.4.1.3 Technische Architektur
ersten Eindruck von den Funktionsumfängen, die V-Modell Die technische Architektur besteht grund-
eine besondere Beachtung benötigen. Dies erlaubt sätzlich aus den Funktionsteilen Erfassen, Verarbei-
auch eine erste Abschätzung über die Spezifikation ten und Ausgeben. Der Umfang des Erfassens be-
134 Kapitel 8 • Virtuelle Integration
zieht sich auf die Detektion von Objekten. Hier soll nenten. Die Schnittstellen können sowohl Steuerge-
1 auf die vorhandenen Ultraschallsensoren und de- räte-intern, über einen Fahrzeugbus oder über eine
ren Schnittstelle zum Fahrzeugbus zurückgegriffen direkte Hardware-Anbindung gestaltet sein.
2 werden. Für die Verarbeitung wird ein zusätzliches
Steuergerät in ein vorhandenes Steuergerätenetz- Virtuelle Integration In der virtuellen Integration
werk integriert. Der Umfang der Ausgabe der In- wird in diesem Schritt die bereits in der Simulation
3 formation wird über eine entsprechende Nachricht vorhandene Gesamtfunktionalität in Teilumfänge
auf dem gleichen Fahrzeugbus realisiert, auf dem gegliedert. Die Teilumfänge entsprechen den im
4 auch die Sensorinformationen empfangen werden. System-Design festgelegten Tasks beziehungsweise
Die Verarbeitung der Nachricht erfolgt als akusti- der Modellverfeinerung von Sensoren und Aktoren
5 sche Warnmeldung über das Infotainment-System von einem idealen in Richtung eines realen Verhal-
des Fahrzeuges. Die hierfür genutzten und im Fol- tens. Dies geschieht durch eine entsprechende Mo-
genden nicht veränderbaren Schnittstellen werden dellierung in der Simulationsumgebung. Ist im Wei-
6 in ihren technischen Details beschrieben. Auch teren eine automatische Codegenerierung geplant,
in diesem Entwicklungsschritt werden Testfälle richtet sich diese für die Tasks nach den Vorgaben,
7 formuliert, die im Wesentlichen die Schnittstellen die sich aus dem verwendeten Programm ergeben.
zwischen den festgelegten Funktionsteilen prüfen. In der Simulation werden die zuvor formulierten
Tests der Schnittstellen durchgeführt.
8 Virtuelle Integration Basierend auf den zuvor er-
stellten Simulationsmodellen resultiert aus der Ergebnis Das System-Design ist auf der Ebene der
9 Aufteilung der bisher modellierten Kundenfunk- Komponentenschnittstelle mit Hilfe der virtuellen
tion in die beschriebenen Funktionsteile eine wei- Integration verifiziert. Dies ist ein wesentlicher
10 tere Detaillierung der Spezifikationen. Die Schnitt- Vorteil gegenüber dem klassischen Vorgehen im
stellen zwischen den Funktionsteilen werden den V-Modell, in dem dies zu diesem Zeitpunkt noch
tatsächlichen technischen Gegebenheiten in Bezug nicht möglich ist. Eine spätere Änderung der Kom-
11 auf zeitliches Verhalten und verfügbare Bandbreite ponentenschnittstelle bringt eine erhebliche Än-
angepasst und die zu diesem Schritt formulierten derung in ihrem Design mit sich. Diese Änderung
12 Testfälle erneut in der Simulation durchgeführt. kann zusätzlich zu Änderungen im System-Design
führen.
Ergebnis Als Ergebnis aus diesem Schritt ist durch
13 die virtuelle Integration die Beurteilung der Auswir- 8.4.1.5 Komponenten-Design
kungen auf die Kundenfunktion möglich geworden, V-Modell In diesem Schritt werden die Black-
14 die sich durch deren Integration in ein vorhandenes box-Beschreibungen aus dem System-Design in
Steuergerätenetzwerk ergeben. eine detaillierte Komponentenspezifikation über-
15 8.4.1.4 System-Design
führt. In dieser Spezifikation ist der interne Daten-
und Kontrollfluss der jeweiligen Tasks beschrieben.
V-Modell Das System-Design konzentriert sich in Es liegt zum Abschluss eine Whitebox-Beschrei-
16 diesem Beispiel auf die Festlegung der Software- bung für jeden Task vor. Die dazu formulierten
architektur zur Realisierung der Kundenfunktion. Testfälle konzentrieren sich auf den Test der zu den
17 Hierbei wird die erforderliche Funktionalität in ver- jeweiligen Tasks gehörenden Algorithmen.
schiedene Tasks aufgeteilt und deren Schnittstellen
festgelegt. Es erfolgt eine Partitionierung der Tasks Virtuelle Integration Gegebenenfalls wird in der vir-
18 auf die beteiligten Steuergeräte. Die Beschreibung tuellen Integration eine Anpassung der zuvor bereits
der Tasks wird als Blackbox-Beschreibung formu- auf Systemebene erstellten Funktionalität durchge-
19 liert. Benötigte Sensoren oder Aktoren werden in führt. Oftmals ist hier keine wesentliche Anpassung
ähnlicher Form spezifiziert. Die in diesem Schritt mehr notwendig, da das Komponenten-Design das
20 festgelegten Testfälle beziehen sich im Wesentlichen Resultat aus den vorherigen Entwicklungsschritten
auf den Test der Schnittstelle der einzelnen Kompo- ist, die alle bereits in der virtuellen Integration um-
8.4 • Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess
135 8
gesetzt wurden. Die formulierten Testfälle werden ergeben sich erhebliche Vorteile in Bezug auf die
auch hier in der Simulation durchgeführt. Qualität und Wirtschaftlichkeit dieses Prozess-
schritts.
Ergebnis Durch die virtuelle Integration liegen als
Ergebnis der Funktionsspezifikation nun getestete
virtuelle Komponenten vor. Für die folgende Im- 8.4.2 Integrieren mit Hilfe
plementierung ergibt sich daraus der Vorteil, dass der virtuellen Integration
schon eine hinreichende Sicherheit über die Kor-
rektheit der Spezifikation zur Implementierung Es folgt nun die Beschreibung, wie die betrachtete
vorliegt. Kundenfunktion schrittweise nach dem V-Modell
integriert wird. Die Integration profitiert von der
Zwischenfazit Die im Beispiel verwendete Kun- entsprechenden Vorarbeit in Form der Vereinfa-
denfunktion wurde vom Autor mit Hilfe der be- chung des Ablaufs bei erhöhter Qualität.
schriebenen virtuellen Integration entwickelt. Zum
Einsatz kam dabei eine Integrations- und Test- 8.4.2.1 Komponententest
plattform [10] und ein Autorenwerkzeug [11] zur V-Modell Die einzelne Komponente wird mit Hilfe
eigentlichen Funktionsentwicklung. Tatsächlich der HiL-Methode in einem Whitebox-Ansatz auf
wurden dadurch eine Vielzahl von kleineren und ihr Verhalten gemäß der Spezifikation verifiziert.
größeren Spezifikationsfehlern entdeckt und damit
frühzeitig behoben. Die Fehler betrafen überwie- Virtuelle Integration Es werden die identischen
gend fehlende Festlegungen oder fehlerhafte An- Testfälle wie im Schritt des Komponenten-Designs
nahmen. So wurde zum Beispiel die geometrische verwendet. Dazu ist es notwendig, dass die Simu-
Ausdehnung der verfolgten Objekte, das erforderli- lationsumgebung entsprechende I/O-Messtechnik
che zeitliche Verhalten zwischen der Objekterken- ansprechen kann. Im Unterschied zum Testen des
nung und Objektverfolgung oder das Verhalten bei Komponenten-Designs wird die Schnittstelle zur
zeitgleicher Mehrfachwarnung zunächst nicht fest- Komponente in diesem Schritt mit realen Signalen
gelegt beziehungsweise nicht korrekt angenommen. stimuliert beziehungsweise ausgelesen. Dieses Vor-
Diese Fehler dürfen als durchaus typisch gelten und gehen führt zu einer direkten Vergleichbarkeit der
können im klassischen Entwicklungsprozess nach Ergebnisse des Komponententests aus dem ab- und
dem V-Modell erst in den letzten beiden Schritten aufsteigenden Ast des V-Modells.
festgestellt werden. Die Vorteile der virtuellen In-
tegration konnten hier deutlich im realen Projekt Ergebnis Die Wiederverwendbarkeit der Testfälle
gezeigt werden. und die Vergleichbarkeit der Testergebnisse zwi-
schen der virtuellen und realen Implementierung
8.4.1.6 Implementierung der einzelnen Komponenten ermöglicht die effizi-
V-Modell Abhängig von der Komponente erfolgt ente Untersuchung und Bewertung von beobachte-
deren Implementierung. ten Abweichungen auf deren Ursache.
Entwicklungsprojekt angewendet. Der hauptsächli- entweder noch die nötige Vollständigkeit oder eine
che Grund dafür ist die benötigte Realitätsnähe und anwenderübergreifende Akzeptanz fehlt.
Echtzeitfähigkeit der verwendeten Simulationsmo- Die Komplexität der simulierten Umwelt wird
delle. Dies betrifft vor allem die Simulation der Um- durch die Anzahl der darin enthaltenen Merkmale
feldsensorik und das eigentliche Umfeld. und der Anforderung an deren Abbildungsgüte ge-
trieben. Statische und dynamische Objekte im simu-
lierten Umfeld können in nahezu beliebiger Kombi-
8.5.1 Simulation von Umfeldsensorik nation und in beliebiger Interaktion auftreten. Die
daraus entstehende Menge an Szenarien ist genauso
Eine Voraussetzung zum sinnvollen Einsatz der unendlich wie die Anzahl von alltäglichen Szenen
virtuellen Integration ist die valide Abbildung des im Straßenverkehr. Für die Entwicklung einer Kun-
Umfelds und der Umfeldsensorik in der Simula- denfunktion und für die dazu verwendete Simula-
tion. Zu starke Vereinfachungen verletzen die Va- tion gibt es allerdings ressourcenbedingte Grenzen,
liditätsanforderung, was dazu führt, dass sich die die zu einer Reduktion auf eine endliche Anzahl von
Ergebnisse vom absteigenden nicht auf den aufstei- Szenarien hinausläuft. Daher wird es unter Umstän-
genden Ast des V-Modells übertragen lassen. Dies den notwendig sein, zu einer standardisierten und
entspricht der einleitend in ▶ Abschn. 8.1 erwähn- den Anforderungen genügenden Beschreibung
ten Optimierungsaufgabe. Ist die Abbildung von für der Umwelt für eine Simulation einen Katalog von
die Funktion benötigten komplexen physikalischen Szenarien zu definieren, die für typische Fahreras-
Effekten in der Simulationsumgebung zu aufwändig sistenzfunktionen relevant sind. Die Auswahl der
oder im Echtzeitkontext nicht möglich, kann das ein Szenarien für den Katalog muss so gewählt werden,
Ausschlusskriterium für die Anwendung der virtu- dass mit ihnen möglichst viele ähnliche Szenarien
ellen Integration sein. Ansätze zur Verbesserung abgedeckt werden. Die Reduktion auf eine endli-
befinden sich in Diskussion und Entwicklung [12, che Anzahl von Szenarien erscheint zunächst als
13, 14]. Bisher hat sich jedoch noch kein Ansatz als sehr starke Einschränkung und ist bedenklich im
vollständig zielführend in Bezug auf die Validität Hinblick auf die funktionale Sicherheit. Allerdings
des Umfeldmodells herausgestellt, da entweder die haben andere Industriebereiche oder Domänen im
Detaillierung oder der Rechenzeitbedarf nicht auf Fahrzeug bereits gezeigt, dass dieses Vorgehen zu
die Anforderungen passen. einer Effizienzsteigerung führen kann.
Parallel mit der Anforderung, die Umfeldsensorik Die virtuelle Integration ist grundsätzlich kein
valide zu simulieren, entsteht die Anforderung, die vollständig neuer Prozess in der Entwicklung von
Umwelt gleichermaßen realistisch in der Simula- Funktionen im Fahrzeug. Sie nutzt etablierte Pro-
tion abzubilden. Dies ist notwendig, um überhaupt zessmodelle und Methoden und erweitert sie unter
das Zusammenspiel aus Sensoren und Umwelt in Verwendung der Metapher des in ▶ Abschn. 8.1
der virtuellen Integration entsprechend abdecken beschriebenen virtuellen Fahrversuchs. Damit
zu können. Im Gegensatz zur Simulation von Um- bietet die virtuelle Integration ein Instrument, um
feldsensorik ist die Simulation der Umwelt auch komplexe, sicherheitskritische und hoch vernetzte
für andere Industriebereiche von Interesse. Daher Funktionalitäten für das Fahrzeug zu entwickeln.
existieren hier schon seit längerem Ideen und In- Fahrerassistenzsysteme besitzen zumeist diese Ei-
itiativen, die sich dem Ziel verschrieben haben, genschaften und profitieren damit in hohem Maße
eine einheitliche und ausreichende Spezifikation zu von der virtuellen Integration.
erstellen [15, 16]. Ein einheitlicher Standard oder Um die virtuelle Integration anwenden zu kön-
ein de-facto Standard hat sich bisher noch nicht nen, ist eine leistungsfähige und flexible Simulati-
herauskristallisiert, da den derzeitigen Aktivitäten onsumgebung notwendig. Die nötigen Eigenschaf-
138 Kapitel 8 • Virtuelle Integration
5 der effizienteren Zusammenarbeit von Fahrzeug- ring, 5. Aufl. Springer Vieweg, Wiesbaden (2013)
herstellern und Systemzulieferern (▶ Abschn. 8.2).
8 Martinus, M., Deicke, M., Folie, M.: Virtual test driving –
Hardware independant integration of series software. ATZ
Grenzen der virtuellen Integration sind im We-
6 sentlichen bei der Simulation der Umfeldsensorik
Elektronik 8(05), 16–21 (2013)
9 Miquet, C., et al.: New test method for reproducible re-
und der Umwelt zu finden. Hier existiert derzeit al-time tests of ADAS ECUs: “Vehicle-in-the-Loop” connects
7 eine Detaillierung, die vor allem wegen aktueller real-world vehicles with the virtual world. In: Pfeffer, P.: “5th
International Munich Chassis Symposium 2014”. Springer,
Grenzen in der zur Verfügung stehenden Rechen-
Wiesbaden (2014)
leistung noch nicht für alle Anwendungen ausrei-
8 chend die reale Welt und die verwendeten Senso-
10 IPG Automotive GmbH: CarMaker. (2014). 05/2014
11 MathWorks: MATLAB (2014). 05/2014
ren abbildet. Trotz dieser Beschränkungen können 12 Schick, B., Schmidt, S.: Evaluation of video-based driver as-
9 Fahrerassistenzsysteme mittels der virtuellen Integ- sistance systems with sensor data fusion by using virtual
ration und unter Verwendung der in ▶ Abschn. 8.3
test driving FISITA World Automotive Congress, Beijing,
China. (2012)
10 dargestellten in-the-Loop-Methoden wesentlich 13 Roth, E., et al.: ADAS Testing using OptiX NVIDIA GTC, San
effizienter und risikoärmer entwickelt werden, wie Jose, USA. (2012)
es beispielhaft für die in ▶ Abschn. 8.4 entwickelte 14 Roth, E., Dirndorfer, T., Knoll, A., et al.: Analysis and valida-
11 Funktion dargestellt wurde. tion of perception sensor models in an integrated vehicle
and environment simulation. TUM Paper, 11–0301, 11–31.
Eine vollständige Virtualisierung der Funkti-
http://www6.in.tum.de/Main/Publications/Roth2011a.pdf
12 onsentwicklung in der Domäne der Fahrerassistenz 15 OpenDrive: http://www.opendrive.org/ (07/2014)
ist trotz aller Vorteile der virtuellen Integration auf 16 Infrastructure for Spatial Information in Europe: http://ins-
Basis des virtuellen Fahrversuchs jedoch auch in
13 ferner Zukunft nicht zu erwarten. Die notwendige
pire.ec.europa.eu (08/2014)
18 Verwendete Literatur
1 FMI Development Group: FMI – The Functional Mock-up
19 Interface (2014)
2 Schneider, S.-A., Frimberger, J., Folie, M.: Reduced valida-
tion effort for dynamic light functions. ATZ Elektronik 9(2),
20 16–20 (2014)
3 V-Modell: http://de.wikipedia.org/wiki/V-Modell (09/2014)
139 9
Dynamische Fahrsimulatoren
Hans-Peter Schöner, Bernhard Morys
6
- maßnahmen mit Erlebnischarakter;
Untersuchung von Kabinen-, Anzeige- und
Bedienkonzepten (Erreichbarkeit, Übersicht-
effiziente und umfassende Absicherung von Assis-
tenzsystemen dar.
7
- lichkeit, Verständlichkeit, …);
Training für Fahrzeugführer (verbrauchsarme 9.1.2 Beispiele für dynamische
9
10
- rekonstruktionen, Verhaltensanalyse, …);
Erforschung des Fahrerverhaltens und
Erstellung von Fahrermodellen (Müdigkeit,
Aufmerksamkeit, Reaktionsvermögen, …) als
Einen Überblick über die historische Entwicklung
von Fahrsimulatoren findet man in [1]. Ein ers-
ter automobiler Fahrsimulator wurde in den 70er
Jahren von Volkswagen mit den drei Bewegungs-
12
13
- statistische Nutzenanalyse, …);
Entwicklung von Fahrwerken und Fahrdy-
namik-Regelsystemen (Variantenanalyse,
Parameter-Abstimmung, …).
schränkte sich ebenfalls auf ein Bewegungssystem
mit drei Freiheitsgraden, allerdings für Wanken,
Nicken und Querbewegung (s. . Abb. 9.1a), er-
gänzt um Vibrationen in Wank-, Nick-, Längs-
und Hubrichtung. Daimler-Benz nahm 1985 in
Der Fokus aller dieser Anwendungen liegt auf der Berlin [3] ein in Anlehnung an Flugsimulatoren
14 Wechselwirkung des Menschen in der Aufgabe als konzipiertes System in Betrieb; es war mit ei-
Fahrer mit dem technischen System „Fahrzeug“, nem hydraulischen Hexapod (Stewart-Plattform
15 insbesondere in schwierigen Verkehrsszenarien mit allen sechs Freiheitsgraden) ausgestattet, das
(Fremdverkehr, Hindernisse, Gefährdungen, …) und seinerzeit den weltweit größten Bewegungsraum
unter Einbeziehung von variablen Umfeldsituationen ermöglichte (s. . Abb. 9.1b). Inzwischen besitzt
16 (Fahrbahn, Wetter, Licht, …). Je nach Anwendung fast jeder große Automobilhersteller, ebenso wie
gibt es eine Vielzahl von technischen Realisierungen einige große Forschungsinstitute, einen eigenen
17 der Fahrsimulatoren, angefangen bei einer statischen dynamischen Fahrsimulator. Je nach Anwen-
Bildschirm-Lenkrad-Pedalerie-Kombination auf dungsschwerpunkt und Budgetrahmen wurden
PC-Basis bis hin zu dynamischen Großsimulatoren unterschiedliche Systemkonzepte ausgewählt, je-
18 mit perfektionierten Immersionstechnologien zur doch ist ein Hexapod, ergänzt um Linearachsen,
Vorspiegelung einer virtuellen Welt, sowohl bezüglich die häufigste Bauform.
19 Bewegungssystem als auch bezüglich der auditiven, Für eine Anwendung des Fahrsimulators
haptischen und visuellen Umgebungssimulation. als Entwicklungshilfsmittel für fahrdynamische
20 Bezogen auf den hier näher zu betrachtenden Untersuchungen ist die genaue Beurteilung der
Einsatz zur Erprobung und Absicherung von Fah- Querdynamikeigenschaften von größter Bedeu-
9.1 • Allgemeiner Überblick über Fahrsimulatoren
141 9
.. Abb. 9.1 Erste dynamische Fahrsimulator-Konzepte: a VTI in Linköping (mit freundlicher Genehmigung von VTI), b Daim-
ler-Benz in Berlin (Quelle: a VTI Linköping, b Daimler AG)
tung. Aus diesem Grunde wurde bei einer Über- Iowa von 2000, [6]) der bisher größte Fahrsimula-
arbeitung des Daimler-Fahrsimulators in Berlin tor mit einem Bewegungsraum von 20 m × 35 m re-
im Jahre 1993 eine Querachse von 6 m Länge er- alisiert (s. . Abb. 9.2). Das Bildsystem muss zudem
gänzt, welche die Fahrzeugquerdynamik bei einem die schnellen Gierbewegungen ruckelfrei und vor
Spurwechselmanöver exakt abbilden kann [4]. Bei allem verzögerungsfrei darstellen können, um bei
Untersuchungen mit Probanden ist die Vermei- den Probanden ein insgesamt konsistentes Bewe-
dung der Kinetose (Simulatorkrankheit) wichtig; gungsempfinden hervorzurufen.
eine möglichst exakte Koordination von visuel- Die notwendige Größe zur Abbildung der Ab-
lem Erleben und Bewegungseindruck sind dafür biegemanöver geht auf Kosten der Dynamik, wo-
entscheidend. Neue, reibungsarme Hexapod-Ak- durch ein so großes System für die Untersuchung
toren, die Einführung digitaler Regelungen und schneller fahrdynamischer Manöver weniger ge-
ein vergrößertes Ausleuchtungsfeld des Projekti- eignet ist. Aufwand, Kosten und technische Be-
onssystems boten ab 2004 im Daimler-Simulator herrschbarkeit solch großer mechanischer Systeme
die Voraussetzung dafür. Durch die Abstimmung sind zudem für viele Anwender nicht akzeptabel, so
des Bild- und Bewegungssystems konnte die Aus- dass es eine Vielzahl von Lösungsansätzen gibt, mit
fallrate durch Kinetose bei den zahlreichen Pro- einem alternativen Bewegungssystem ähnliche Si-
bandenuntersuchungen auf unter 2 % reduziert mulatoreigenschaften zu erzeugen. Folgende gänz-
werden [5]. lich unterschiedliche Ansätze seien hier beispielhaft
Eine der größten Herausforderungen an das
Bild- und das Bewegungssystem von Fahrsimulato-
ren ist die realistische Darstellung von Abbiegema-
növern in Kreuzungen, die im Allgemeinen beim
-
genannt (s. . Abb. 9.3):
System „Desdemona“ der Fa. AMST mit einer
Realisierung bei TNO [7], welches auf der
Basis einer großen Zentrifuge und mehrerer
Fahren in Innenstadtszenarien auftreten. Dabei ineinander verschachtelter Drehachsen die
muss zunächst für ein exaktes Bewegungsemp- notwendigen Beschleunigungskräfte in sechs
finden ein großer Bewegungsraum bereitgestellt
werden, der in etwa die Größe des bei einer realen
Kreuzung überfahrenen Bereiches besitzt. Aus die-
sem Grund wurde 2006 bei Toyota (Hexapod auf
- Achsen bereitstellt;
Roboter-Arm-System der Fa. Kuka, mit einer
Realisierung beim Max-Planck-Institut in
Tübingen [8]; hier wird ein aus der Produk-
x-y-Schlitten, etwa baugleich mit dem NADS in tionstechnik verfügbares Bewegungssystem
142 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren
1
2
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 9.2 Toyotas Fahrsimulator in Higashi-Fuji [6]
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20 .. Abb. 9.3 Fahrsimulatoren mit alternativen Bewegungskonzepten: a Desdemona [7], b MPI Tübingen [8, Cora Kürner,
Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik], c FZD TU-Darmstadt [9]
9.2 • Aufbau eines dynamischen Fahrsimulators am Beispiel des Daimler-Fahrsimulators
143 9
- nensystem bereitgestellt;
das Konzept des „Wheeled Mobile Driving
Simulator“ wird im Forschungsstadium an der
TU Darmstadt [9] verfolgt; das freifahrende
System verfügt auf einem ausreichend großen
freien Gelände über den notwendigen Bewe-
gungsraum bei relativ geringen Kosten.
Filter, das eine solche Bewegungsumsetzung regelt, Situationen vermieden, die durch das Bewegungs-
1 wird als „Wash-Out“-Filter [13] bezeichnet. system nicht mit hoher Realitätsnähe nachgestellt
Zu beachten ist, dass die Wahrnehmungs- werden können.
2 schwellen gemäß . Tab. 9.1 davon stark abhängig
sind, ob der Proband sich auf das Bewegungsemp-
finden konzentriert, abgelenkt ist oder sogar die 9.2.8 Vorbereitungssimulatoren
3 Bewegung bewusst beeinflusst [14]. Für Bewertun-
gen von Fahrwerkssystemen, die immer von sehr Zur effizienten Vorbereitung neuer Versuche – auch
4 sensiblen und aufmerksamen Testfahrern durch- parallel zu laufenden Untersuchungen im dynami-
geführt werden, wird im Daimler-Fahrsimulator schen Simulator – werden bei Daimler zwei stati-
5 Tilt Coordination und Skalierung möglichst ver- sche Vorbereitungssimulatoren genutzt. Sie basie-
mieden; insbesondere wird die Querbewegung bei ren auf identischer Hard- und Software, verfügen
Spurwechsel- und Slalommanövern realitätsgetreu jedoch über kein Bewegungssystem. Das Umge-
6 nachgestellt. Bei Probandenversuchen für die Un- bungsbild wird hier mit bis zu sechs Kanälen rund
tersuchung von Fahrerassistenzsystemen hat sich um die Fahrzeugkabine projiziert. In diesen Simu-
7 eine Skalierung von 0,8 bewährt. latoren können Szenarien optimiert und in einen
geeigneten Ablauf gebracht werden. Sie sind auch
für Untersuchungen geeignet, bei denen die Bewe-
8 9.2.7 Kinetose (Simulatorkrankheit) gungsdarstellung nur eine geringe Bedeutung hat,
z. B. in bestimmten Bewertungen von Bedien- und
9 Die Simulatorkrankheit ist verwandt mit der Reise- Anzeigekonzepten.
und Seekrankheit und vor allem durch visuelle
10 Symptome sowie Desorientierung, kalten Schweiß
9.3 Versuchskonzeption
und im Extremfall auch durch Übelkeit gekenn-
zeichnet [15]. In der Sensory-conflict-Theorie wird
11 davon ausgegangen, dass die Symptome vor allem 9.3.1 Zielstellung von
dann entstehen, wenn vestibuläre und visuelle Sin- Probandenuntersuchungen
12 nesreize nicht miteinander kompatibel sind [16].
Etwa 5–10 % aller Menschen sind sehr empfindlich Während des Entwicklungsprozesses von Fahreras-
und 5–15 % unempfindlich gegenüber Kinetose. sistenzsystemen testen die Entwicklungsingenieure
13 Erfahrungsgemäß leiden Frauen häufiger als Män- (als „Experten“) regelmäßig neue Funktionen und
ner [17], erfahrene Piloten häufiger als unerfahrene Systeme. Ergänzend werden Versuche mit möglichst
14 oder junge Erwachse häufiger als ältere [18] an der unvoreingenommenen „Normalfahrern“ (Proban-
Simulatorkrankheit. Zur Analyse und Prophylaxe den) zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Prozess
15 der Kinetose siehe [25]. Dabei scheinen psychi- durchgeführt, um Aussagen über Wirksamkeit und
sche Faktoren und die aktive Vorbereitung auf die Akzeptanz dieser Funktionen bzw. Systeme und
Bewegung eine gewisse Rolle zu spielen; die Pla- deren Bedienkonzepten aus Sicht späterer Kunden
16 cebo-Wirksamkeit ist bei Menschen mit Kinetose und Nutzer zu gewinnen. Hieraus ergeben sich fol-
relativ hoch (45 %) [19]. gende Untersuchungszielstellungen von Probanden-
17 Die Kinetose kann nur effektiv vermieden wer-
den, wenn die Sinneseindrücke, insbesondere die
Beschleunigungskräfte und die visuell erlebten Be- -
versuchen in Fahrsimulatoren:
Fahrerverhalten bei Nutzung neuer Fahr-
zeugsysteme, u. a. Fahrerassistenzsysteme, vor
-
18 wegungen, präzise aufeinander abgestimmt sind. allem in kritischen Verkehrssituationen;
Bei den meisten Personen ist im Laufe der Zeit eine Beherrschbarkeit von Systemgrenzen sowie
--
19 gewisse Toleranz für falsch koordinierte Bewe- Ausfallszenarien;
gungsreize zu verzeichnen. Im Daimler-Fahrsimu- Optimierung innovativer Bedienkonzepte;
20 lator werden gerade bei Versuchen mit Fahrsimu- Bewertung des Systemnutzens für den Kun-
lator-unerfahrenen Probanden per Versuchsdesign den;
9.3 • Versuchskonzeption
147 9
--
folgende Vorteile auf:
- stand, …)?
Wie sieht die Strecke aus (Stadt, Landstraße,
kein reales Risiko für Fahrer und Umgebung;
hohe Reproduzierbarkeit der zu untersuchen-
- Autobahn, …)?
Welches Probandenkollektiv soll untersucht
-- den Situation;
Nutzung des Überraschungsmoments;
schnelle Variation von Fahrsituationen sowie
Fahrzeug- und Umgebungsparametern.
werden?
-
ben:
Welchem Ziel dient der Versuch? Welche der
oben genannten Untersuchungszielstellung
Straßenverkehr vorstellbar sein und sich – je nach
Versuchsziel – am Einsatzbereich des zu testenden
Systems, dessen Grenzen bzw. dessen Ausfallsze-
- liegt vor?
Welches System bzw. welche ggf. interagieren-
narien orientieren. Ferner ist die Kritikalität im
Spannungsfeld zwischen zu einfach beherrschbaren
1
2
3
4
5
6
7
8
.. Abb. 9.6 Kritische Situation 1 „Fußgänger rennt auf die Fahrbahn“ (Quelle: Daimler AG)
9
merksamkeit sowie ein Lerneffekt beim Probanden, nen. Das Assistenzsystem erkennt die Situation
10 so dass in weiteren Situationen nicht mit repräsen- in der Regel früher als der Fahrer und leitet den
tativen, auf das Verhalten im realen Straßenverkehr Bremsvorgang selbstständig ein. Es wurden die Un-
übertragbaren Ergebnissen gerechnet werden kann. fallhäufigkeit und -schwere einer Probandengruppe
11 Über eine geeignete Information zum zu un- mit und einer ohne Assistenzsystem miteinander
tersuchenden System vor der Fahrt sowie ein Erle- verglichen.
12 ben und Erlernen des Systems während der Routi- Die kritische Situation 2 in . Abb. 9.7 diente der
ne-Fahrt (Funktion, Bedienung, Grenzen) wird der Untersuchung des Bremsassistenten BAS PLUS mit
Proband vor der kritischen Situation hinreichend Kreuzungsassistent. Der Fahrer fährt auf einer Vor-
13 mit dem System vertraut gemacht, ohne das Über- fahrtstraße in der Stadt. Auch hier wird er durch ein
raschungsmoment in der kritischen Situation zu Ereignis auf der linken Fahrbahnseite (im Bild nicht
14 reduzieren. erkennbar) abgelenkt. Das von rechts kreuzende
In den . Abb. 9.6 und . Abb. 9.7 sind beispiel- Fahrzeug missachtet die Vorfahrt des Probanden
15 haft zwei typische kritische Situationen dargestellt: und fährt in die Kreuzung ein. Auch hier wurden
Die in . Abb. 9.6 dargestellte kritische Situation 1 die Unfallhäufigkeit und -schwere einer Proband-
wurde im Rahmen von Untersuchungen zum engruppe mit und einer ohne Assistenzsystem mit-
16 System PRE-SAFE® Bremse mit Fußgängererken- einander verglichen.
nung verwendet. Der Proband wird während einer Anschließend sind folgende technischen As-
17 Stadtfahrt durch heftig gestikulierende Personen pekte vor dem Hintergrund der Untersuchungs-
am linken Fahrbahnrand (im Bild nicht erkennbar)
abgelenkt. In diesem Moment rennt ein Fußgänger,
-
zielstellung zu definieren:
Wird ein bewegter oder ein stehender Fahrsi-
-
18 der zuvor vom Transporter am rechten Fahrbahn- mulator benötigt?
rand verdeckt war, unerwartet auf die Fahrbahn und Wird beim Einsatz eines bewegten Fahrsi-
19 bleibt dort direkt vor dem eigenen Fahrzeug stehen. mulators die Fahrzeugkabine in Längs- oder
Der Fahrer bremst mit einem gewissen zeitlichen Querausrichtung zur langen Achse des Bewe-
20 Versatz aufgrund der natürlichen Reaktionszeit und
der Ablenkung durch die gestikulierenden Perso-
- gungssystems orientiert?
Welche Kabine (Fahrzeugtyp) wird eingesetzt?
9.3 • Versuchskonzeption
149 9
-
.. Abb. 9.7 Kritische Situation 2 „Kreuzendes Fahrzeug von rechts“ (Quelle: Daimler AG)
- mente, …)?
Kann die Strecke aus bestehenden Strecken
elementen erstellt werden oder sind neue
vorhanden sind. Liegen diese Komponenten ge-
testet vor, findet am Vorbereitungssimulator die
Integration aller Versuchskomponenten inkl.
- Elemente zu entwickeln?
Wie sieht der Verkehr (Fahrzeuge, Fußgän-
möglicher Einbauten in die Kabine (Regelsysteme,
Displays, Bedienelemente, Kameras, Strecke, Ver-
- wickeln?
Welche Messwerte und Videoaufzeichnungen
sind zu erfassen?
ßend hinsichtlich eines geeigneten Ablaufs zur
Beantwortung der Versuchsfragestellung. Hierbei
sind v. a. die Lernphasen und die kritische Situation
während der Routine-Fahrt zu optimieren. Dann
wird der Versuchsablauf für die unterschiedlichen
9.3.3 Versuchsvorbereitung zu testenden Systeme, Systemausprägungen oder
Systemparametrierungen sowie für die Vergleichs-
Grundlage eines jeden Versuchs ist ein strin- basis dupliziert.
gentes Projektmanagement inkl. Festlegung der Nun findet ein Wechsel der Kabine in den dyna-
Verantwortlichkeiten, des Zieltermins für die mischen Simulator statt. In einem Vorversuch mit
Untersuchung, der verfügbaren Simulatornut- einer kleineren Probandenanzahl wird final verifi-
zungszeiträume und die Festlegung eines klaren ziert, dass die Feinabstimmung des Versuchsablaufs
Zeitplans für die Vorbereitungs- und Durchfüh- zur Klärung der Untersuchungsziele geeignet ist,
rungsphasen. ggf. können noch Detailoptimierungen vorgenom-
150 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren
.. Abb. 9.8 Ablenkung
1 des Probanden durch un-
erwartete Tiere am linken
Fahrbahnrand (Quelle:
2 Daimler AG)
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 9.9 Ablenkung
des Probanden durch
einen tieffliegenden
9 Heißluftballon (Quelle:
Daimler AG)
10
11
12
13
14
15
men werden. Abschließend wird der Versuch durch tion eines Fahrers in einer solchen Situation zu
den beauftragenden Bereich abgenommen. bewerten bzw. den Nutzen eines Assistenzsystems
16 Parallel hierzu wird das Befragungskonzept er- zu quantifizieren, ist die Situation im Simulator re-
stellt, geeignete Probanden werden ausgewählt und produzierbar nachzubilden; Teil davon ist der Ein-
17 eingeladen sowie die an der Versuchsdurchführung satz reproduzierbarer Ablenkungen. Hierzu kom-
Beteiligten festgelegt und eingewiesen. men u. a. animierte Grafikelemente zum Einsatz,
die im realen Straßenverkehr vorstellbar sind und
18 die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich ziehen,
9.3.4 Ablenkungen z. B. unerwartete Tiere wie Kühe am Fahrbahn-
19 rand (s. . Abb. 9.8) oder ein Heißluftballon direkt
Unfälle entstehen häufig durch Unaufmerksamkeit über den Häusern auf der linken Fahrbahnseite
20 bzw. Abgelenktheit in einer unerwartet auftreten- (s. . Abb. 9.9). Die Grafikelemente müssen überra-
den kritischen Verkehrssituation. Um die Reak- schend auftreten und der Zeitpunkt des Auftretens
9.3 • Versuchskonzeption
151 9
… …
Besonderes Fahrer mit geringer bis mittlerer Fahrerfahrung, d. h. Fahrleistung ≤ 15 Tkm/Jahr
oder Führerscheinbesitz unter 15 Jahren
mit einer nahezu zeitgleichen kritischen Verkehrs- chungsergebnis haben: eine zu geringe Sensibilisie-
situation – z. B. einem von rechts kommenden, rung des Probanden bildet das Wissen eines realen
ohne Vorfahrtsrecht auf die Kreuzung fahrenden Fahrers ungenügend ab, eine zu deutliche führt zu
Fahrzeug (s. . Abb. 9.7) – präzise aufeinander ab- einer unrealistisch hohen Aufmerksamkeit des Pro-
gestimmt werden. Neben Grafikelementen außer- banden auf das Auftreten eines kritischen System-
halb des Fahrzeugs kommen auch realitätsnahe verhaltens während des Versuchs.
Bedienaufgaben im Fahrzeug (Telefonnummer aus
Verzeichnis heraussuchen, E-Mail schreiben, …)
sowie künstliche Ablenkungen (Taste-Drücken 9.3.6 Probandenauswahl
bei Aufleuchten eines Grafikelements im Sichtbe-
reich, …) zum Einsatz. Die Auswahl und Anzahl der Probanden hat gro-
ßen Einfluss auf die valide Interpretation der Ver-
suchsergebnisse und vor allem auf deren Übertrag-
9.3.5 Lerneffekte barkeit auf die Nutzung eines Systems im realen
Fahrzeug. Die relevanten individuellen Merkmale
In aller Regel haben sich Fahrer mit den Assistenz- der Probanden und deren Verteilung innerhalb
systemen ihres Fahrzeugs gut vertraut gemacht, des Probandenkollektivs (s. . Tab. 9.2) sind des-
bevor sie in eine (selten auftretende) kritische halb vor dem Hintergrund der Zielstellung des
Verkehrssituation geraten. Bei der Bewertung der Versuchs und der definierten Versuchshypothesen
Bedienung eines Systems und dessen Nutzen ist gemeinsam mit dem Auftraggeber abzustimmen.
dies folglich zu berücksichtigen. In Fahrsimula- Die Probandengruppen, die die unterschiedli-
torversuchen hingegen werden die Probanden mit chen Systeme, Systemausprägungen oder Sys-
zukünftigen, ihnen unbekannten Systemen kon- temparametrierungen sowie die Vergleichsbasis
frontiert. Ein wesentlicher Aspekt des Versuchsde- (Kontrollgruppe) erleben, müssen hinsichtlich
signs besteht darin, das Kennenlernen des Systems, der Verteilung der relevanten Merkmale identisch
seiner Funktion, Bedienung und Grenzen in dem und jeweils repräsentativ für die zu untersuchende
zur Verfügung stehenden kurzen Versuchszeitraum Nutzergruppe sein.
nachzubilden. Hierzu werden Systembeschreibun- Zum Vergleich unterschiedlicher Systeme, Sys-
gen und Einweisungen durch den Versuchsleiter vor temausprägungen oder Systemparametrierungen
der Simulatorfahrt sowie das Erleben des Systems untereinander und relativ zu einer Vergleichsbasis
während der Routine-Fahrt und damit außerhalb sind 30 bis 50 Probanden je Gruppe angemessen;
einer kritischen Situation genutzt. Falsch dosierte die Absicherung eines Systems erfordert dagegen
Informationen und Eindrücke zu den Systemgren- deutlich größere Stichproben mit mehr als 100 Teil-
zen können maßgeblichen Einfluss auf das Untersu- nehmern ([20, 21], siehe auch ▶ Kap. 12).
152 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren
16
9.4.1 Verfahren zur Validierung
von Fahrsimulatoren -
Validität von Fahrsimulatoren:
technische Einschränkungen, z. B. im Bewe-
gungsraum oder bei der Umgebungsvisualisie-
18
geschlagene Unterscheidung zwischen absoluter
und relativer Validität etabliert [22]: Unter abso-
luter Validität versteht man das Ausmaß, mit dem
die Daten des Simulators mit Realdaten numerisch
- den;
Versuchsleitereffekte, wie z. B. die Tendenz,
sich dem Versuchsleiter positiv darzustellen
(soziale Erwünschtheit), oder eine Beeinflus-
-
19 exakt übereinstimmen. Relative Validität kenn- sung durch den Versuchsleiter;
zeichnet das Ausmaß, mit dem eine Manipulation andere Konsequenzen als im realen Stra-
20 eines Faktors den gleichen Effekt hat wie in einer ßenverkehr, wie z. B. bei Unfällen oder bei
Realstudie, auch wenn die Daten numerisch nicht Geschwindigkeitsüberschreitungen;
9.5 • Zusammenfassung und Ausblick
153 9
- schwindigkeitsregelung im Simulator;
Kinetose.
Defizite wie in Kurvenfahrten mit großen Gierraten 12 Dupuis, M., Strobl, M., Grezlikowski, H.: OpenDRIVE 2010
1 oder eine beschränkte Einschätzbarkeit im Nach-
and Beyond – Status and Future of the de facto Standard
for the Description of Road Networks. In: Proc. Driving Si-
bereich z. B. durch den Einsatz von 3D-Visualisie- mulation Conference DSC Europe, Paris, S. 231–242. (2010)
2 rungen aber auch auf die weitere Verbesserung der 13 Zacharias, G.L.: Motion cue models for pilot‐vehicle analysis
Realitätstreue des Fahreindrucks konzentrieren. (1978). AMRL‐TR‐78‐2, May
Hierbei ist sowohl mit neuen Simulatorkonzepten 14 Nesti, A., Masone, C., Barnett-Cowan, M., Robuffo Giordano,
3 wie auch Detailoptimierungen bestehender Kon-
P., Bülthoff, H., Pretto, P.: Roll rate thresholds and perceived
realism in driving simulation Driving Simulation Confe-
zepte zu rechnen. Während es weiterhin eine große rence, Paris. (2012)
4 Zahl unterschiedlicher Simulatorkonzepte geben 15 Johnson, D.M.: Introduction to and review of simulator
wird, ist im Bereich der Komponenten wie z. B. sickness research. DTIC Document (2005)
5 Visualisierung oder Verkehrssimulation mit einer 16 Reason, J.: Motion sickness adaptation: a neural mismatch
model. Journal of the Royal Society of Medicine. Royal So-
stärkeren Standardisierung zu rechnen.
ciety of Medicine Press 71, 819 (1978)
13 Loughborough (2010)
6 Murano, T., Yonekawa, T., Aga, M., Nagiri, S.: Development
validity: behaviors observed on the simulator and on the
road. In: Fisher, D.L., Rizzo, M., Caird, J., Lee, J.D. (Hrsg.)
of High‐Performance Driving Simulator. SAE Int. J. Passeng. Handbook of driving simulation for engineering, medicine,
19
Driving Simulation Conference Europe, Paris (2010)
11 Krebber, W., Sottek, R.: Interactive Vehicle Interior Sound
Simulation ISATA '00, Automotive & Transportation Tech-
10.1 Motivation – 156
10.2 Das Vehicle in the Loop – 156
10.3 Meilensteine der VIL-Entwicklung – 159
10.4 Fazit und Ausblick – 161
Literatur – 163
Das Vehicle in the Loop (VIL) schließt die Lü- aufgebaut werden muss. Gleichzeitig erfolgt mit-
1 cke zwischen Fahrsimulation und Realversuchen. hilfe von Fahrsimulatoren (Driver-in-the-Loop, vgl.
Durch die virtuelle visuelle Darstellung auf der ei- ▶ Kap. 9) eine Überprüfung des Fahrerverhaltens
2 nen Seite und der erlebten Haptik, Kinästhetik und sowie der Beherrschbarkeit.
Akustik durch die reale Fahrzeugbewegung auf der Zur endgültigen Absicherung muss das neue
anderen Seite bietet das VIL ein neues Verfahren System in einem realen Fahrzeug implementiert,
3 auf Basis einer erweiterten Realität, um Fahrerassis- getestet und evaluiert werden. Tests mittels Proto-
tenzsysteme effizient und sicher zu entwickeln sowie typen im realen Straßenverkehr mit Probanden sind
4 zu evaluieren. aus rechtlichen und sicherheitstechnischen Grün-
den oft nicht möglich. Die Absicherung zahlreicher
5 10.1 Motivation
sicherheitskritischer Funktionen (z. B. der automa-
tischen Notbremse bei Fußgängern) kann selbst auf
einer Teststrecke durch statische oder dynamische
6 Der Sicherheitsgewinn durch Fahrerassistenzsys- Objekte nur unzureichend nachgestellt werden. Mit
teme ist spätestens seit der Einführung von ESP zunehmender Komplexität der Fahrsituation, in der
7 (vgl. ▶ Kap. 40) unumstritten. Erste Assistenzsys- das zu testende Assistenzsystem eingreift, wird es
teme wie ESC oder ABS griffen allerdings nur auf also immer schwieriger, das Zusammenwirken von
der untersten Regelungsebene des Fahrers, der Systemverhalten sowie Erleben und Verhalten des
8 Stabilisierungsebene, ein (vgl. ▶ Kap. 40). Systeme, Fahrers realistisch und zuverlässig zu bewerten.
die den Fahrer auf der Bahnführungsebene unter- Diese Lücke versucht das Vehicle in the Loop
9 stützen, wurden zunächst nur als Komfortsysteme (VIL) zu schließen. Hierfür wurde eine Test- und
ausgelegt und eingestuft. Aufgrund verbesserter Simulationsumgebung mit einem realen Fahrzeug
10 Umfeldwahrnehmung (vgl. ▶ Kap. 15) und Situati- verknüpft: Der Fahrer sieht über ein Visualisie-
onsinterpretation halten neue Assistenzfunktionen rungsmedium eine erweiterte oder virtuelle Reali-
der aktiven Sicherheit (z. B. ▶ Kap. 47) Einzug ins tät, so dass er eine direkte visuelle Rückmeldung aus
11 Fahrzeug, die in kritischen Verkehrssituationen auf der Simulationsumgebung erhält. Haptische, vesti-
der Manöverebene eingreifen, um einen drohen- buläre, kinästhetische und akustische Rückmeldun-
12 den Unfall zu vermeiden bzw. die Unfallschwere gen erhält er von der Interaktion mit einem realen
zu mindern. Jedoch erfordern entsprechende Sys- Fahrzeug. Das VIL ermöglicht somit ein reales Fah-
teme Absicherungsmethoden, die über den Nach- rerlebnis mit der Sicherheit und Reproduzierbarkeit
13 weis der technischen Funktionsfähigkeit und Zu- eines Fahrsimulators.
verlässigkeit hinausgehen. Die Entwicklung dieser
14 Kategorie von Fahrerassistenzsystemen stellt die
Hersteller vor neue Herausforderungen. Hierbei 10.2 Das Vehicle in the Loop
15 muss neben der Sensorik zur Umfeldwahrnehmung,
10.2.1 Anforderungen
des Regel-Algorithmus und der Aktorik für einen
Eingriff in die Fahrzeugführung auch die Interak-
16 tion mit dem Fahrer stärker als bisher berücksich- Der Betrieb des VIL erfordert eine Teststrecke, von
tigt werden. Für die effiziente und kostengünstige der Position und Verlauf der Fahrbahnen bekannt
17 Entwicklung sowie Absicherung hat sich, über die sind. Auf Grundlage des Streckenverlaufs muss vor
Entwicklung von realen Funktionen im Fahrzeug dem Betrieb des VIL eine virtuelle Welt erstellt wer-
hinaus, ein zweiter Entwicklungsast mit einer vir- den. Dabei müssen befahrbare Straßen in der vir-
18 tuellen Entwicklung etabliert. So werden bereits in tuellen Welt so gestaltet werden, dass diese Straßen
einer frühen Phase neue Algorithmen mithilfe von mit dem realen Streckenverlauf korrespondieren.
19 Software-in-the-Loop prototypisch entwickelt und Für eine exakte Lokalisierung des VIL-Ver-
getestet (vgl. ▶ Kap. 8) oder neue Sensoren sowie suchfahrzeugs wird eine DGPS-Referenzstation
20 Aktoren mithilfe von Hardware-in-the-Loop-Test- benötigt. Verfügt die Teststrecke nicht über eine
ständen evaluiert, ohne dass hierfür ein Fahrzeug DGPS-Referenzstation, können die benötigten
10.2 • Das Vehicle in the Loop
157 10
10.2.2 Funktionsprinzip
1
2
3
4
5
.. Abb. 10.2 Mögliche Visualisierungsformen im VIL: a Fahrer mit HMD Visualisierung, b Bildschirm-Visualisierung
6
von der Kopfdrehung zu gewährleisten, muss che Versuchsaufbauten oder Hilfestellung von
7 der Bildausschnitt abhängig von der aktuellen weiteren Personen benötigt. Da der Entwickler
Kopforientierung angepasst werden. Hierfür durch die Nutzung eines einfachen Monitors
ist bei der Nutzung des HMD zusätzlich ein die reale Umgebung selbstständig überwachen
8 Headtracker im Fahrzeug verbaut, der die Kop- kann und keine Sichteinschränkungen hat, ist
forientierung des Fahrers während der Fahrt zudem die parallele Nutzung der Teststrecke
9 misst und das virtuelle Bild entsprechend der mit anderen Entwicklern möglich. Die redu-
speisen. Hierdurch ist sowohl der Fahrer als auch wicklung. Während Bock das VIL hauptsächlich als
das Fahrzeug in die Simulation eingebunden, so Entwicklungswerkzeug verstand, wurde das VIL an
dass neue Assistenzfunktionen in vielen Verkehrss- der UniBw in erster Linie als Evaluationswerkzeug
zenarien getestet werden können, ohne diese in der für Beherrschbarkeitsfragen von Fahrerassistenzsys-
Realität nachstellen zu müssen. temen gesehen.
Aufgrund der aufgetretenen Probleme bei der
„Augmented Reality“-Darstellung wurde das VIL in
10.3 Meilensteine der VIL- einer zweiten Version auf eine „Virtual Reality“-Vi-
Entwicklung sualisierung umgestellt [5]. Bei dieser Visualisie-
rungsform ist das verwendete HMD nicht trans-
Entwickelt wurde das VIL von Thomas Bock im parent, so dass der Fahrer von der Realität visuell
Rahmen seiner Promotion [3]. Als Verkehrssimu- entkoppelt ist. Stattdessen wird ihm im HMD ein
lation setzte er Virtual Test Drive von Vires [4] ein rein virtuelles Bild dargeboten (vgl. . Abb. 10.3).
und entschied sich bei der Visualisierungsform für Um das VIL für die Evaluation von Fahreras-
ein HMD im „Augmented Reality“-Modus. Hierbei sistenzsystemen zu verwenden, muss sichergestellt
besteht das HMD aus halbtransparenten Displays, sein, dass es ähnliches Fahrerverhalten wie beim re-
so dass der Fahrer die reale Umgebung durch die alen Fahren generiert. In mehreren Fahrversuchen,
Displays weiterhin sieht und sich in der realen Um- bei denen das Fahrerverhalten im VIL mit dem
gebung bewegen kann. Durch die gezielte Darstel- Fahrerverhalten in der Realität verglichen wurde,
lung virtueller Fahrzeuge auf den Displays wird die konnte die relative Validität für Verkehrssituationen
reale, leere Testrecke vor dem Fahrer mit virtuellen mit Längs- und Querverkehr nachgewiesen werden
Fahrzeugen überlagert, wodurch der Eindruck ent- [6, 7, 8, 9].
steht, dass sich die virtuellen Fahrzeuge vor dem Die Umstellung auf eine „Virtual Reality“
Fahrer in der Realität befänden. führte jedoch zu verstärktem Auftreten von Simu-
In einem Fahrversuch wies Bock nach, dass das latorkrankheit, die im „Augmented Reality“-Modus
VIL ein valides Werkzeug für die Entwicklung von noch nicht auftrat. Diese ist ein Phänomen, das sich
Fahrerassistenzsystemen ist [3]. Hierfür verglich er bei allen Fahrsimulationen mit „Virtual Reality“-Vi-
das Fahrerverhalten für unterschiedliche Verkehrss- sualisierung zeigt (vgl. ▶ Kap. 9). Es existieren zwar
zenarien im VIL und in der Realität: Die Ergebnisse viele Theorien zur Entstehung der Simulatorkrank-
belegten, dass die Probanden sich im VIL ähnlich heit, jedoch kann keine dieser Theorien den Verlauf
der Realität verhielten. Zudem war die subjektive und die erlebten Symptome der Simulatorkrankheit
Bewertung der Probanden positiv – so wurde die vollständig erklären. Unter anderem wird aber ver-
Realitätsnähe und die schnelle Gewöhnung an das mutet, dass HMDs und ihre jeweiligen Eigenschaf-
VIL gelobt. ten, wie Öffnungswinkel, Okularität, Auflösung
Allerdings gab es mit dem „Augmented Rea- usw. einen Einfluss auf die Entstehung der Simula-
lity“-Aufbau auch Probleme. So waren zum einen torkrankheit haben. Gleichzeitig beeinflussen diese
die dargestellten virtuellen Objekte bei starker Son- Eigenschaften des HMD auch die visuelle Wahrneh-
neneinstrahlung nur noch schwer erkennbar. Zum mung.
anderen führten kleine Fehler bei der Lokalisie- In einem weiteren Versuch wurde deswegen der
rung des Fahrerkopfes durch den Headtracker zu Einfluss unterschiedlicher HMD-Konfigurationen
Fehlplatzierungen der virtuellen Objekte im HMD, auf die Wahrnehmung und die Simulatorkrankheit
weswegen zum Teil der Eindruck entstand, dass die untersucht [6], um eine optimale Konfiguration
virtuellen Fahrzeuge durch die Straße fuhren oder für die Nutzung im VIL zu ermitteln. Verglichen
über dieser schwebten. wurden das NVIS nVisor SX111 mit einem Öff-
Anschließend übernahm die Carmeq GmbH nungswinkel von 102° horizontal auf 64° vertikal
den kommerziellen Betrieb des VIL und das Insti- und Stereodarstellung sowie das NVIS nVisor ST50
tut für Arbeitswissenschaft (IfA) an der Universität mit einem Öffnungswinkel von 40° horizontal auf
der Bundeswehr München (UniBw) die Weiterent- 32° vertikal. Das ST50 bietet sowohl Mono- als auch
160 Kapitel 10 • Vehicle in the Loop
2
3
4
5
6
7
8
9 Stereodarstellung. Für den Vergleich der drei Konfi- dass die Latenz einerseits durch das verwendete
gurationen mussten die Probanden mit jeweils einer Headtrackingverfahren, das mindestens 70 ms be-
10 HMD-Konfiguration vier verschiedene Verkehrs- nötigt, um eine Kopfbewegung zu detektieren und
szenarien fahren, bei welchen sowohl die Tiefen- anzuzeigen, entsteht. Anderseits benötigt die Ver-
wahrnehmung als auch der Sichtbereich von Bedeu- kehrssimulation noch mal 50 ms, um die Kopfbe-
11 tung waren. Es zeigte sich, dass das Fahrerverhalten wegung in der „Virtual Reality“ darzustellen. Un-
und die Wahrnehmung der Probanden in allen drei ter Berücksichtigung weiterer Latenzen durch die
12 Konfigurationen miteinander vergleichbar waren. Visualisierungseinheit wird eine Gesamtlatenz im
Auch bei der Simulatorkrankheit wurden keine si- VIL von mind. 150 ms identifiziert. Um diese zu
gnifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen reduzieren, wurde das Headtracking, das bis dahin
13 Konfigurationen gefunden, wobei es eine Tendenz aus einem einzelnen, langsamen, optischen Headt-
gibt, die darauf hindeutet, dass die Probanden das racker (~ 70 ms bei 55 Hz) für die Erfassung der
14 System mit Stereodarstellung und großem Öff- Kopfposition und -ausrichtung eingesetzt wurde,
nungswinkel weniger gut vertragen. Dies zeigte sich um einen Drehratensensor erweitert. Im Gegensatz
15 auch bei der Befragung, in welcher das SX111 am zum optischen Tracker bietet der Drehratensensor
schlechtesten abschnitt. Da das große und schwere den Vorteil, die Drehgeschwindigkeit des Objekts,
HMD SX111 keine Vorteile bei der Wahrnehmung an dem er befestigt ist, ohne große Verzögerung und
16 gegenüber dem etwas kleineren ST50 hat, wurde in mit einer hohen Abtastrate (~ 2 ms bei 100–512 Hz)
weiteren Versuchen auf das große HMD verzichtet. zu messen. Da ein Drehratensensor jedoch nur die
17 Die Umstellung auf eine „Virtual Reality“-Dar- Drehgeschwindigkeit misst, fehlt die Information
stellung deckte jedoch eine deutlich wahrnehmbare über die aktuelle absolute Lage des Objekts.
Latenz zwischen einer Kopfbewegung des Fahrers Durch eine Fusion der beiden Datenquellen
18 und der Darstellung dieser im HMD auf. Da La- werden die Nachteile der einzelnen Sensoren kom-
tenz zum einen als Faktor für die Entstehung von pensiert und eine stabile, absolute Kopforientierung
19 Simulatorkrankheit vermutet wird, zum anderen in x-, y- und z-Richtung mit einer Latenz von we-
die Fahrerleistung beeinflusst, sollte diese bei der niger als 10 ms berechnet. Zur Kompensation der
20 Verwendung einer VR-Darstellung möglichst ver- Latenz bedingt durch die Simulationssoftware wird
mieden werden. Eine Analyse des Systems zeigt, zusätzlich auf Basis der aktuellen Kopflage und
10.4 • Fazit und Ausblick
161 10
Drehgeschwindigkeit mithilfe einer gleichförmi- les Cockpit in der Darstellung anzuzeigen, stell-
gen Geschwindigkeitsannahme die Kopfrotation ten sich als wenig zielführend heraus, da es mit
extrapoliert, so dass die Latenz bei der Darstellung sehr viel Aufwand verbunden ist, die Arme und
von Drehbewegungen des Kopfes weiter reduziert Hände des Fahrers, die aktuelle Lenkradstellung
wird. Da beim Fahren Rotationsbewegungen des sowie die richtige Anzeige im Armaturenbrett zu
Kopfes den Hauptanteil der Bewegungen darstellen visualisieren. Diese Detailtreue wird aber benötigt,
und Translationen des Fahrerkopfes nur eine un- um den Immersionsgrad des Fahrers zu sichern.
tergeordnete Rolle bei der Wahrnehmung des Fah- Deswegen wurde in einem neuen Ansatz von „Aug-
rers einnehmen, wird die Position des Kopfes nach mented Reality“ auf Basis von „Video-See-Through“
wie vor nur über den langsamen optischen Tracker versucht, den realen Innenraum in das „Virtual Re-
verfolgt. Eine erste Evaluierung, bei der Probanden ality“-Bild zu integrieren. Hierfür wird am HMD
dieses neue Headtrackingverfahren mit dem alten eine Videokamera befestigt, die die aktuelle Sicht
Verfahren verglichen, zeigte, dass das neue Verfah- des Fahrers filmt. In einem Bildverarbeitungs-
ren von den Probanden bevorzugt wird und zu einer schritt wird im Videobild die Windschutzscheibe
wesentlich besseren Beurteilung der visuellen Dar- segmentiert und diese durch die aktuelle „Virtual
stellung im VIL führt [6]. Reality“-Ansicht aus der Verkehrssimulation er-
Die vorgestellten Erkenntnisse und Verbesserun- setzt. Hierzu wird die Windschutzscheibe mithilfe
gen zur Visualisierung im VIL wurden in weiteren eines 3D-Modells des Fahrzeugs über die aktuelle
Evaluationsstudien untersucht, um mögliche Aus- Kopflage des Fahrers berechnet. Dies hat den Vor-
wirkungen auf das Fahrerverhalten zu identifizieren. teil, dass die Segmentierung unabhängig vom Vi-
Hierfür wurde mithilfe einer Vergleichsstudie mit ei- deobild ist und somit die Verkehrssimulation im-
nem Realfahrzeug und dem VIL das Fahrerverhalten mer anstelle der Windschutzscheibe angezeigt wird.
in städtischen Umgebungen untersucht. Ein Szena- Das zusammengesetzte Bild wird dem Fahrer an-
rio, bei dem der Fahrer Gassen mit verschiedenen schließend im HMD dargestellt (vgl. . Abb. 10.4).
Breiten durchfahren muss, zeigte, dass die Fahrer So erhält der Fahrer die von ihm bekannte Sicht des
im VIL sich ähnlich zu den Fahrern im Realfahr- Fahrzeuginnenraums zurück und sieht neben dem
zeug verhielten. Die Fahrer beurteilten im VIL die realen Innenraum auch wieder seinen Körper und
Gassenbreite tendenziell kritischer und reduzierten die Bewegungen von Armen und Händen. Sobald
ihre Geschwindigkeit stärker als in der Realität. Da er aber aus der Windschutzscheibe blickt sieht er
die Unterschiede bei den subjektiven und objektiven wie im „Virtual Reality“-Modus die aktuelle An-
Daten gleiche Stärke und Richtung aufweisen, konnte sicht der Verkehrssimulation. Erste Versuche, das
jedoch relative Validität für das VIL bezüglich der beschriebene Verfahren umzusetzen, konnten das
Wahrnehmung von Gassenbreiten mit der veränder- Konzept grundsätzlich bestätigen, auch wenn das
ten Konfiguration nachgewiesen werden [10]. augmentierte Bild noch nicht als verzögerungsfrei
Durch die kontinuierliche Verbesserung des erscheint und die Segmentierung der Windschutz-
„Virtual Reality“-Ansatzes hat sich dieser gegenüber scheibe noch nicht fehlerfrei war [6].
der „Augmented Reality“-Visualisierung durchge-
setzt. Vor allem die Abhängigkeit der Darstellung
überlagerter virtueller Objekte von den Beleuch- 10.4 Fazit und Ausblick
tungsverhältnissen in der Realität begrenzt den
Einsatz dieser Technik. Mit dem Aufbau des VIL als Entwicklungswerkzeug
Allerdings hat die Umstellung auf die „Virtual für Fahrerassistenzsysteme stellte Bock ein neues
Reality“-Darstellung einen entscheidenden Nach- Verfahren vor, das die Reproduzierbarkeit und Si-
teil gegenüber dem „Augmented Reality“-Ansatz: cherheit einer Fahrsimulation und gleichzeitig das
So entfällt durch die komplette virtuelle Dar- Fahrerlebnis aus der Realität bietet [1]. Hiermit
stellung die Ansicht des Fahrzeuginnenraums, wurde eine neue Möglichkeit zur kostengünstigen
so dass der Fahrer nur die virtuelle Umgebung und effizienten Entwicklung von sicherheitskriti-
während der Fahrt sieht. Versuche, ein virtuel- schen Fahrerassistenzsystemen geschaffen.
162 Kapitel 10 • Vehicle in the Loop
3
4
5
6
7
8
9 Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Smartphone-Technik, ein Techniksprung bei
und Verbesserung in [6] wurde der Einsatzbereich den HMDs bevor. So zeigte Oculus VR einen ersten
10 des VIL als Methode zur Evaluation von Fahreras- HMD-Prototyp, der viele der bisherigen Visualisie-
sistenzsystemen erweitert, so dass heute eine valide rungsprobleme gelöst hat [11] und das VIL weiter
Absicherungsmethode für Assistenzfunktionen verbessern kann.
11 der aktiven Sicherheit als Ergänzung zur bekann- Gleichzeitig wird die Methode „Augmen-
ten Fahrsimulation sowie Realversuchen zur Ver- ted Reality“ auf „Video-See-Through“-Basis auf
12 fügung steht. Grundlage der erzielten Ergebnisse weiterentwi-
Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung ckelt. Durch eine bessere, stabilere und schnellere
des VIL soll das Fahrerlebnis noch realer und der Darstellung soll das Konzept zur Serienreife ge-
13 Immersionsgrad weiter gesteigert werden. Trotz- bracht werden, so dass zukünftige Nutzer des VIL
dem ist nicht zu übersehen, dass Simulatoren die wieder mit dem Innenraum interagieren können.
14 Wirklichkeit nie perfekt abbilden. Deshalb werden Aufgrund der kontinuierlichen Entwicklung von
in weiteren Vergleichsstudien von VIL und Reali- Darstellungsmedien ist auch eine Abkehr von
15 tät die Unterschiede im Fahrerverhalten analysiert, HMDs nicht ausgeschlossen. So ergeben sich z. B.
um auf Basis der Ergebnisse Transferfunktionen zu durch kontaktanaloge Displays, die von Fahrzeug-
erarbeiten, die im VIL erzeugte Ergebnisse auf die herstellern für eine großflächige Navigationsdarstel-
16 Realität abbilden [10]. lung erforscht werden [12], neue Möglichkeiten für
Während die Fahrdynamik im VIL der Realität die Darstellung im VIL.
17 entspricht, besteht weiterhin großer Entwicklungs-
bedarf bei der Visualisierung. So sind heute erhältli-
che HMDs noch immer zu groß und schwer, was zu
18 einem eingeschränkten Tragekomfort führt. Zudem
sind die verwendeten Displays meist zu träge und
19 entsprechen nicht dem Stand der Technik. Nach
dem großen VR-Boom in den 90er Jahren, seitdem
20 sich die Technik von HMDs nicht mehr signifikant
weiterentwickelt hat, steht nun, angetrieben von
Literatur
163 10
Literatur Weiterführende Literatur
1 Stoner, H., Fisher, D., Mollenhauer, M.: Simulator and Scena-
rio Factors influencing simulator sickness. In: Handbook of
Verwendete Literatur Driving Simulation for Engineering, Medicine and Psycho-
1 Verburg, D., van der Knaap, A., Ploeg, J.: VEHIL: Developing logy. CRC Press, Boca Raton, Florida (2011)
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posium IEEE, Bd. 2, S. 537–544. (2002) rück zur erweiterten Realität mittels video‐see‐through.
2 Schuldt, F., Lichte, B., Maurer, M., Scholz, S.: Systematische In: Tagungsband Fahrer im 21. Jahrhundert, S. 225–236.
Auswertung von Testfällen für Fahrfunktionen im modula- VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
ren virtuellen Testbaukasten 9. Workshop Fahrerassistenz-
systeme. (2014)
3 Bock, T.: Vehicle in the Loop – Test‐ und Simulationsum-
gebung für Fahrerassistenzsysteme. Dissertation an der
Technischen Universität München, Vieweg, 2008
4 Von Neumann-Cosel, K., Dupuis, M., Weiss, C.: Virtual Test
Drive provision of a consistent tool‐set for [D,H,S,V]‐in‐
the‐Loop. In: Proceedings of the Driving Simulation Con-
ference (2009)
5 Starke, A., Hänsel, F.: Vehicle in the Loop ‐ Fahrerassistenz-
systeme mit Virtual Reality im realen Fahrzeug testen, ent-
wickeln und erleben AAET – Automatisierungssysteme,
Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für Trans-
portmittel Symposium. (2011)
6 Berg, G.: Das Vehicle in the Loop – Ein Werkzeug für die
Entwicklung und Evaluation von Fahrerassistenzsystemen.
Dissertation der Universität der Bundeswehr München,
2014
7 Berg, G., Karl, I., Färber, B.: Vehicle in the Loop – Validierung
der virtuellen Realität. In: Tagungsband Fahrer im 21. Jahr-
hundert, S. 143–154. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2011)
8 Karl, I., Berg, G., Rüger, F., Färber, B.: Driving Behavior and
Simulator Sickness While Driving the Vehicle in the Loop:
Validation of Longitudinal Driving Behavior. IEEE Intelligent
Transportation Systems Magazine 5(1), 42–57 (2013)
9 Sieber, M., Berg, G., Karl, I., Siedersberger, K.-H., Siegel, A.,
Färber, B.: Validation of Driving Behavior in the Vehicle
in the Loop: Steering Responses in Critical Situations. In:
16th Intelligent Transportation Systems (ITSC) IEEE. S.
1101–1106. (2013)
10 Rüger, F., Purucker, C., Schneider, N., Neukum, A., Färber, B.:
Validierung von Engstellenszenarien und Querdynamik im
dynamischen Fahrsimulator und Vehicle in the Loop. In: 9.
Workshop Fahrerassistenzsysteme (2014)
11 Kushner, D.: Virtual Reality’s Moment – The Oculus Rift
could finally take VR to mainstream. In: IEEE Spectrum,
Special Report: 2014 Top Tech to Watch (2014)
12 Jansen, A.: Augmented Reality in zukünftigen Head‐Up
Displays – Prototypische kontaktanaloge Navigationsdar-
stellung im Versuchsfahrzeug. In: Tagungsband Fahrer des
21. Jahrhunderts, S. 189–200. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
165 III
Testverfahren
Kapitel 11 Testverfahren für Verbraucherschutz
und Gesetzgebung – 167
Patrick Seiniger, Alexander Weitzel
Testverfahren
für Verbraucherschutz
und Gesetzgebung
Patrick Seiniger, Alexander Weitzel
Der Begriff Testverfahren bezeichnet eine Methode, 11.1 Systematik von Testverfahren
1 nach der ein Test eines Systems auf bestimmte Ei-
genschaften durchzuführen ist. Hierzu sind auch Zur Bewertung von Fahrerassistenzsystemen wird
2 erforderliche Werkzeuge, Hilfsmittel, Randbedin- eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden einge-
gungen und Auswertemethoden festzulegen. setzt. Die Verfahren variieren abhängig von der
Testverfahren sind ein wesentliches Werkzeug, Zielsetzung des Tests, wie beispielsweise welche
3 um zu prüfen, ob gewünschte Produkteigenschaften Systemfunktionalität gegen welche Kriterien geprüft
vorhanden sind, was selbstverständlich auch wäh- werden soll, und dem verfügbaren Entwicklungs-
4 rend der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen stand des jeweiligen Systems, resultierend aus fol-
gilt. Es existieren entwicklungsbegleitende und frei- gendem Ablauf des Entwicklungsprozesses:
5 gebende Tests, die im Wesentlichen in Eigenregie Er beginnt mit der allgemeinen Formulierung
vom Fahrzeug- oder Systemhersteller durchgeführt eines beabsichtigten Systemnutzens, aus dem dann
werden. Ferner gibt es Tests, die im Sinne einer un- Systemfunktionen und damit Anforderungen abge-
6 abhängigen Produktprüfung von externen Testor- leitet werden. Es folgt die Systemspezifikation und
ganisationen vorgenommen werden – sei es für die die Komponentenentwicklung. Die Erfüllung von
7 Genehmigung von Fahrzeugtypen zur Zulassung Anforderungen und die Darstellung des gewünsch-
zum Markt, im Rahmen der Anwendung der Norm ten Nutzens werden anschließend durch die Veri-
zur funktionalen Sicherheit (in beiden Fällen bei- fikation und Validierung des Systems im Rahmen
8 spielsweise durch technische Dienste) oder für die von Tests geprüft.
Kundeninformation, dann durchgeführt von Testin-
9 stituten für Verbraucherschutz.
Den Fokus dieses Kapitels stellen diese „exter- 11.1.1 Testverfahren im
Produktentwicklungsprozess
10 nen“ Testverfahren dar. Das angrenzende Gebiet des
entwicklungsbegleitenden Tests soll an dieser Stelle
lediglich zur Abgrenzung beschrieben werden, die Für den Überblick wird eine Einordnung anhand
11 erforderlichen Tests zum Nachweis der funktiona- des V-Modells der Produktentwicklung [2] vorge-
len Sicherheit (zwar Teil des Entwicklungsprozesses, nommen. Über den Verlauf der Entwicklung eines
12 aber gegebenenfalls auch von externen Organisatio- Systems nimmt der Abstraktionsgrad der mit dem
nen durchgeführt) finden sich in ▶ Kap. 6 sowie in jeweiligen Testverfahren zu prüfenden Systemeigen-
der Norm ISO 26262 [1]. schaften erst ab und dann wieder zu. Gleichzeitig
13 Ausgehend von einer Systematik der Testver- verschiebt sich die Zielsetzung von Fragen der Aus-
fahren werden Anforderungen aus der Entwicklung legung der Systeme zur Validierung der beabsichtig-
14 sowie aus Verbraucherschutz und Gesetzgebung ge- ten Eigenschaften.
nannt. Zur Verdeutlichung der Systematik werden Die Testverfahren sind hierbei in den horizonta-
15 Beispiele für Testverfahren ausgewählt und knapp len Ebenen des V-Modells jeweils durch zu prüfende
beschrieben; detailliertere Informationen hierzu Anforderungen an das jeweilige Fahrerassistenzsys-
finden sich unter anderem in den ▶ Kap. 12, 13, 14. tem definiert. Im linken Ast von . Abb. 11.1, wäh-
16 Neben den Auswertemethoden und Messgrö- rend der Produktdefinition und -auslegung, können
ßen sind die genutzten Testwerkzeuge der Kern Testverfahren zur Detaillierung von Anforderun-
17 eines Testverfahrens, so dass Anforderungen an gen, aber auch zu Machbarkeitsbetrachtungen die-
Werkzeuge genannt und erläutert werden. Abschlie- nen. Im rechten Ast steht dann die Verifikation der
ßend werden die Herausforderungen, die immer Anforderungen im Vordergrund bzw. auf höchster
18 komplexere vernetzte Fahrerassistenzsysteme an Ebene die Validierung der Produkteigenschaften.
zukünftige Testverfahren stellen, erörtert und Lö- Auf gleicher Ebene des V-Modells sind daher die
19 sungsmöglichkeiten skizziert. Anforderungen an die Testverfahren im rechten und
linken Ast unter Umständen ähnlich oder gleich.
20 Auch Anforderungen aus gesetzgeberischen Vorga-
ben oder Normen und Richtlinien können in diese
11.1 • Systematik von Testverfahren
169 11
.. Abb. 11.1 Einordnung von Normen und Richtlinien anhand eines modifizierten V-Modells
Kollisionstoleranz des Zielobjekts keine, eingeschränkt für Notfälle, uneingeschränkt (mit Einschränkung
7 uneingeschränkt (im Bereich der getesteten Geschwindigkeit)
bestimmter Grenzen der Kollisionsge-
schwindigkeit)
8 Steuerung des Ego-Fahrzeugs Probanden, professionelle Testfah- professionelle Testfahrer,
rer, automatisiert mit Überwacher, automatisiert mit Überwacher
9 vollautomatisiert
10 biomechanische Eigenschaften,
Systemeigenschaften (Performance,
teilweise Vermeidung von Fehlaus-
lösungen
False Positives), Gesamtfahrzeugper-
11 formance, Fehlauslösungen bei False
Positives
Gesetzgebung Verbraucherschutz
Zweck des Testverfahrens Sicherstellung von Mindeststandards Förderung von Innovationen (Ver-
(Absicherung nach unten) schieben der Bestmarke nach oben),
Sicherstellen eines guten Niveaus in
der Breite
Verfahren der Verabschiedung Mehrheitsentscheid von Vertragspart- In der Regel Einzel- oder Mehrheitsent-
nern (= Nationen) scheidung eines begrenzten Gremiums
Bestehenskriterien werden zumindest für die Ak- den die Verfahren von den Verbraucherschutzor-
tivitäten der UN während deren Definitionsphase ganisationen (unter Einbeziehung ihrer Mitglieder)
transparent kommuniziert (sämtliche Protokolle im Alleingang festgelegt. Verbraucherschutztests
der Arbeitsgruppen und ein Großteil des in die eignen sich daher insbesondere dafür, technische
Diskussion eingebrachten Arbeitsmaterials ist im Innovationen zu fördern, deren vermuteter Nutzen
Internet unter ▶ www.unece.org verfügbar). noch nicht in der für die Gesetzgebung erforderli-
Gemeinsame Zielsetzung von Gesetzgeber und chen Sicherheit nachgewiesen werden kann.
Verbraucherschutzorganisationen ist es, als notwen- Einen Vergleich der Erstellung von Testverfah-
dig erachtete Anforderungen an die Fahrzeugsicher- ren zeigt . Tab. 11.2.
heit – und gegebenenfalls an den Umweltschutz Für den Test einer Vielzahl von Fahrerassis-
– sowie teilweise auch als wichtig erachtete Sys- tenzsystemen gibt es Normen, die im Rahmen der
temspezifikationen – beispielsweise Nachtfähigkeit International Standardisation Organisation entwi-
von bestimmten Notbremssystemen, Details zur ckelt werden (bspw. die ISO 15622 für ACC [7]). Die
Robustheit – durchzusetzen. Die strategischen As- nationale Zuständigkeit für ISO-Normen ist unter-
pekte dieses Themas werden ebenfalls in ▶ Kap. 3 schiedlich und liegt in Deutschland beispielsweise
behandelt. Grundsätzlich unterscheiden sich beide für fahrzeugtechnische Normen beim Verband der
Herangehensweisen durch den Fokus. Automobilindustrie. Bedingt durch die in vielen
Technische Vorschriften müssen von allen Fahr- Staaten vorhandene Industrienähe der Normungs-
zeugen erfüllt werden, die im relevanten Markt zu- aktivitäten spielen ISO-Normen in Vorschriften und
gelassen werden sollen, und sind somit verpflich- im Verbraucherschutz eine sehr begrenzte Rolle,
tend für alle Fahrzeuge. Entsprechend hoch sind indem beispielsweise in Vorschriften für Testde-
die Hürden für die Einführung der Vorschriften. tails auf die Normen zurückgegriffen wird. Sie sind
Letztere decken daher lediglich Mindeststandards jedoch als Definition des Standes der Technik für
ab. In der Regel sind sichere und von allen Partnern Fragen der Produkthaftung auch für gerichtliche
anerkannte Analysen des Nutzens für den Einfüh- Entscheidungen relevant.
rungsprozess erforderlich. Das ist oftmals nur mög-
lich, wenn technische Systeme bereits zahlreich in
der Flotte vorhanden sind. 11.2.1 Anforderungen
Die Erfüllung von Anforderungen des Verbrau- der Gesetzgebung
cherschutzes ist für den Fahrzeughersteller hinge-
gen grundsätzlich freiwillig und ist mit vergleichs- Die europäische Union und viele andere Länder
weise geringen Hürden für die Einführung neuer sind Vertragspartner des Abkommens über die Har-
Bewertungsverfahren verbunden: In der Regel wer- monisierung der Fahrzeugvorschriften von 1958
172 Kapitel 11 • Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung
UN R 79 einheitliche Bedingungen für die Ge- Anhang 6: Spezielle Vorschriften für die Sicherheitsaspekte
UN R 130 einheitliche Bedingungen für die Ge- Nur für Lastkraftfahrzeuge und Busse der Klassen N2, N3,
nehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich M2 und M3 (Fahrzeugklassen nach R.E.3 der UNECE [9])
7 des Fahrstreifenverlassenswarnsystems
UN R 131 einheitliche Bedingungen für die Ge- Nur für Lastkraftfahrzeuge und Busse der Klassen N2, N3,
8 nehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich M2 und M3 (Fahrzeugklassen nach R.E.3 der UNECE [9])
der fortschrittlichen Notbremssysteme
9
[8], bekannt durch die unter diesem Abkommen Da die Ergebnisse den Verkaufserfolg eines
10 entwickelten UN Regelungen (UN R) (früher: UN Fahrzeugs deutlich beeinflussen können, besteht
ECE-Regelungen). . Tabelle 11.3 gibt eine Über- die Forderung nach einem hochreproduzierbaren
sicht über die für Fahrerassistenzsysteme relevanten Verfahren mit transparenten Bewertungskriterien,
11 Regelungen. das oftmals über die technisch erforderliche Repro-
Dabei fällt auf, dass Notbremssysteme und duzierbarkeit (und damit über die Anforderungen
12 Fahrstreifenverlassenswarnsysteme bisher nur für der Typgenehmigung) hinausgeht.
schwere Nutzfahrzeuge und Busse vorgeschrie- Verbraucherschutztests werden weltweit von
ben sind. Grund hierfür sind die im Vergleich zu den New-Car-Assessment-Programmes (NCAP)
13 Pkw-Unfällen verheerenden Folgen von Auffah- und ihren Mitgliedern nach transparenten Verfah-
runfällen und Abkommensunfällen mit schweren ren durchgeführt und bewertet. Gelegentlich gibt es
14 Nutzfahrzeugen im Zusammenhang mit unauf- aber auch Tests ohne vorherige Information, deren
merksamen Fahrern. Zweck dann ist, einen Missstand medienwirksam
15 Die Anforderungen an die Wiederholbarkeit in aufzuzeigen (Beispiel: ADAC-Test zur Notbremsas-
den genannten Testverfahren sind vergleichsweise sistenz für Fußgänger, 2013 [10]). Eine Übersicht
gering und erlauben es daher in der Regel, Tests der verschiedenen New-Car-Assessment-Program-
16 ohne den Einsatz von Fahrrobotern durchzuführen. mes und deren Planungen für Tests von Fahrerassis-
tenzsystemen findet sich in . Tab. 11.4.
17 Die Testverfahren für Notbremsassistenz Pkw
11.2.2 Anforderungen – Pkw in JNCAP, KNCAP und IIHS basieren auf
aus dem Verbraucherschutz dem Testverfahren von Euro NCAP (siehe [11]);
18 nur Bewertung und teilweise auch die geforderten
Wesentliches Merkmal von Versuchen des Ver- Testgeschwindigkeiten unterscheiden sich. Der Test
19 braucherschutzes ist, dass diese Versuche grund- der Kollisionswarnung im US NCAP unterscheidet
sätzlich ohne fahrzeughersteller- oder system- sich hiervon allerdings deutlich.
20 herstellerspezifisches Wissen durchführbar sein Bewertungskriterium der Tests im Euro NCAP
müssen. für automatische Notbremssysteme und Kollisions-
11.2 • Testverfahren für Gesetzgebung und Verbraucherschutz
173 11
Euro NCAP EU-28 Euro NCAP, Brüssel Notbremsassistenz Pkw – Pkw (seit 2014), Notbremsas-
sistenz Pkw – Fußgänger (in Vorbereitung, geplant für
2016), Fahrstreifenverlassenswarner (seit 2014), Geschwin-
digkeitsbegrenzer in verschiedenen Ausprägungen (seit
2014)
.. Tab. 11.5 Vergleich der Tests für Notbremsassistenz in Euro NCAP und US NCAP
warnung ist die Geschwindigkeitsreduktion, die auf das stehende oder bewegte Zielobjekt gefahren
für verschiedene Testgeschwindigkeiten bestimmt wird. Die Testszenarien und die Charakteristik der
wird (siehe . Tab. 11.5), indem das Fahrzeug unter Bremsbetätigung sind pragmatisch aus verschiede-
reproduzierbaren Bedingungen mit Fahrrobotern nen Unfallanalysen und Studien abgeleitet.
174 Kapitel 11 • Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung
einer Tiefe von etwa 1 m dar und ist daher für zu- Ein weiteres Beispiel eines Bewegungssystems
künftige Tests, etwa in Kreuzungssituationen, nicht ist das von der Daimler AG im Versuchsaufbau Sim-
geeignet. Die Radar- und optischen Eigenschaften City eingesetzte selbstfahrende Vollfahrzeug-Ziel-
sind so abgestimmt, dass das EVT von allen aktuel- objekt (siehe ▶ Kap. 14). Hierbei werden luftgefüllte
len Fahrzeugen sicher als Ziel erkannt wird. Gummiteile um eine fern- oder programmgesteu-
Für Tests mit bewegtem Zielobjekt wird eine erte Zentralbox angeordnet. Die Gummiteile über-
überfahrbare Schiene von 21,4 m Länge als Anhän- nehmen die Kollisionsenergieabsorption und stellen
ger hinter einem Zugfahrzeug geführt. Auf dieser sicher, dass das Zielobjekt von üblicher Sensorik als
Schiene kann das Zielobjekt nach einer Kollision Fahrzeug erkannt wird.
abgebremst werden, siehe . Abb. 11.3.
176 Kapitel 11 • Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung
.. Abb. 11.4 Fahrversuche
1 mit einem ersten Prototyp
eines Bewegungssystems
der BASt und Zielobjekt
2 ASSESSOR
3
4
5
6
7
8
Im von der Europäischen Union geförder- Anhänger ein Fahrzeugheck montiert, das visuell
9 ten Forschungsprojekt ASSESS wurde das Zie- einem realen Fahrzeug entspricht. Da dies aus Mas-
lobjekt ASSESSOR entwickelt. Der ASSESSOR segründen vollständig aus Kunststoff besteht, wird
10 basiert auf dem Zielobjektkonzept von SimCity, der Radarrückstrahlquerschnitt künstlich durch
die RADAR-Rückstrahlung ist an die gemessene Tripelspiegel erhöht. Im Gegensatz zu Sensor- und
Rückstrahlcharakteristik üblicher Kompaktklas- Systemperformancetests hat bei der Gestaltung der
11 senfahrzeuge angepasst. Im Gegensatz zum Sim- Radarrückstrahlcharakteristik die sichere Erken-
City-Konzept kann der ASSESSOR mit einer Viel- nung des Zielobjekts Vorrang gegenüber einer rad-
12 zahl von Bewegungssystemen betrieben werden, artechnisch realistischen Fahrzeugdarstellung (vgl.
beispielsweise mit dem selbstfahrenden Kart der . Abb. 13.1).
Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) [13], siehe
13 . Abb. 11.4.
Das Zielobjekt NHTSA SS_V [14] ist die Re- 11.3.2 Fußgänger-repräsentierende
14 produktion des Hecks eines Ford Fiesta aus CFK, Zielobjekte und
dessen RADAR-Rückstrahlung und sonstige Eigen- Bewegungsvorrichtungen
15 schaften sehr gut einem realen Fahrzeug entspre-
chen. Das Zielobjekt selbst ist nicht kollisionstole- Im Fall von Notbremssystemen, die auf Pkw-Fuß-
rant, aber vergleichsweise leicht. Kollisionstoleranz gänger-Unfälle ausgelegt sind, ist selbst in ferner
16 kann durch ein auf Straßenhöhe am Zielobjekt Zukunft nicht zu erwarten, dass alle Testfälle kol-
angebrachtes Schaumstoffkissen hergestellt wer- lisionsvermeidend geprüft werden können. Aus
17 den. Das Bewegungssystem ist dem des EVT (siehe ethischen Gründen stellt sich hier nicht die Frage
oben) sehr ähnlich. der Verwendung von Menschen als Zielobjekt. Ein
Ebenfalls nicht kollisionstolerant ist das Ziel- Zielobjekt (besser: Dummy) muss für übliche Sen-
18 objekt des EVITA-Verfahrens (siehe ▶ Kap. 13) – sorik als Mensch erscheinen und es erlauben, eine
Versuche sind lediglich bis zu einer TTC von etwa Kollision zu überstehen.
19 1 Sekunde durchführbar. Da das Werkzeug für Pro- Hierzu gibt es bisher zwei verschiedene Ansätze:
bandenversuche eingesetzt wird, muss insbesondere solche, bei denen der Dummy Sekundenbruchteile
20 der reale Bedrohungseindruck für den nachfolgen- vor einem Aufprall entfernt wird, und solche, bei
den Fahrer gewährleistet sein: Hierzu ist auf einem denen er besonders leicht und widerstandsfähig ist,
11.3 • Eigenschaften der Testwerkzeuge
177 11
1
2
3
4
5
6
.. Abb. 11.6 Fußgängerschutz-Testanlage von Applus IDIADA, Spanien [17]
7
.. Abb. 11.7 Fußgänger-
8 schutztestanlage der Firma
Continental [18]
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
11.3 • Eigenschaften der Testwerkzeuge
179 11
.. Abb. 11.8 Bewegungssystem UFO der Fa. DSD, Österreich
(Quelle: B. Damhofer)
.. Abb. 11.9 Bewe-
gungssystem „Surf-
board“ der Fa. 4a [18, C.
Rodarius]
180 Kapitel 11 • Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung
1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 11.10 System Guided Softcrash-Target der Firma Anthony Best Dynamics [20]
8
11.4 Realitätsnähe und Testaufwand Beispiel für solche Relevanzuntersuchungen für
9 RADAR-Sensoren findet sich bei [15].
Die Entwicklung der Fahrerassistenzsysteme in den Erfolgt dieser Nachweis nicht, wird unter Um-
10 vergangenen Jahren zeigt, dass die Systeme immer ständen trotz exzellenter Funktions- und Sicher-
weiter vernetzt werden und immer größere Anteile heitsbewertungen unter künstlichen Bedingungen
der Fahrsituationen unterstützen oder sogar (teil-) nur ein geringer Sicherheitsfortschritt im realen
11 automatisiert bewältigen. Um dies zu ermöglichen, Straßenverkehr erzielt.
steigt die Menge von Informationen, die durch die Ebenso verhält es sich auch mit der Auswahl der
12 Systeme zur Fahrsituation erfasst, verarbeitet und zu testenden Szenarien. Auch deren Relevanz für
bewertet werden muss, beständig. Testverfahren den realen Verkehr muss jeweils nachgewiesen bzw.
für diese Fahrerassistenzsysteme müssen in der sogar quantifiziert werden. Mit steigender Anzahl
13 Lage sein, alle in der jeweiligen Situation benötig- von Sensoren und in die Funktion einbezogener
ten Informationen darzustellen oder zumindest mit Parameter in Fahrerassistenzsysteme mit Umfeld-
14 hinreichender Realitätsnähe zu simulieren. wahrnehmung steigt dadurch der Aufwand für die
Dadurch steigt der Aufwand für die Entwicklung Definition von Szenarien, die Durchführung von
15 und Darstellung von realen und relevanten Prüfsitu- Tests und den Relevanznachweis für das Feld.
ationen für Fahrerassistenzsysteme. Ebenso ist auch Mit zunehmender Anzahl von in die Situations-
der Nachweis notwendig, dass diese Situationen die bewertung eingehenden Parametern, wie beispiels-
16 Realität für eine Systemreaktion ausreichend genau weise Witterung oder Straßenkategorie, ist ebenso
abbilden. Für kollisionstolerante Zielobjekte z. B. hinsichtlich der Erfassung von Objekten nachzuwei-
17 ist dieser Nachweis insbesondere hinsichtlich der sen, welcher Anteil der realen Verkehrs- bzw. Un-
Eignung für die eingesetzte Sensorik und des Be- fallsituationen bei diesen Bedingungen adressiert
drohungseindrucks des Fahrers notwendig. Dabei wird. Bei unfallvermeidenden Systemen kann dies
18 ist beispielsweise die Anforderung zu erfüllen, dass auf Basis von Unfalldatenbanken erfolgen, insofern
die verwendeten Objekte nicht nur durch die Sen- die dort verfügbare Datenlage ausreichend detail-
19 sorik erfasst werden können, sondern auch, dass sie liert ist. Im Fall von teil- oder hochautomatisierten
als repräsentativ für das im Realverkehr anzutref- Systemen müsste hierfür ein als hinreichend zu be-
20 fende Kollektiv von Fahrzeugen, Fußgängern oder wertendes Fahrsituationskollektiv mit allen denkba-
weiteren Verkehrsteilnehmern anzusehen sind. Ein ren Einflussparametern herangezogen werden. Ein
Literatur
181 11
für solche Betrachtungen geeignetes Kollektiv ist ak- dass damit sehr hohe Relativgeschwindigkei-
tuell nicht bekannt. Alternativ wird daher bei diesen ten gefahrlos getestet werden können [20], siehe
Systemen eine hohe Zahl von Testkilometern unter . Abb. 11.10.
unterschiedlichsten Bedingungen absolviert, um Grundsätzlich sind die hier dargestellten Test-
eine ausreichende Abdeckung von Fahrsituations- verfahren eine punktuelle Methode, um wenige Ar-
konstellationen zu erreichen. Der Aufwand hierfür beitspunkte eines komplexen technischen Systems
ist jedoch sehr hoch (vgl. [19]) und die Übertrag- abzuprüfen – oftmals werden die Arbeitspunkte von
barkeit begrenzt. den Einsatzgrenzen der verwendeten Werkzeuge
vorgegeben. Generell wird dabei unterstellt, dass
die Leistung des Systems in den getesteten Arbeits-
11.5 Ausblick – was ist in EuroNCAP punkten auch auf andere Arbeitspunkte übertragbar
an Testverfahren zu erwarten? ist.
Insbesondere bei sehr komplexen, informati-
Testverfahren in Euro NCAP werden immer dann onsverarbeitenden Systemen könnte diese Unter-
entwickelt, wenn für eine Technologie eine Wirkung stellung auch falsch sein. Daher ist es zur Verbes-
auf das Unfallgeschehen erwartet wird und diese serung der Robustheit der Systeme sinnvoll, ein
in naher Zukunft am Markt zur Verfügung steht. deutlich breiteres Spektrum an Arbeitspunkten
Dies war bei Notbremssystemen für Pkw-Pkw- und in der Bewertung zu berücksichtigen. Denkbar ist
Pkw-Fußgänger-Unfällen der Fall. dabei der verstärkte Einsatz von Simulationen, ge-
Da Unfälle zwischen Pkws und Radfahrern und gebenenfalls auch für die Effektivitätsbewertung.
Unfälle im Querverkehr im Unfallgeschehen eben- Um die Zahl der Testfälle zu steigern, gibt es in der
falls stark vertreten sind, stellen passende Assistenz- passiven Sicherheit sogenannte Grid-Verfahren: der
systeme auch Kandidaten für die Einführung in die Fahrzeughersteller liefert eigene Messwerte zu einer
Fahrzeugbewertung dar – sofern sie verfügbar sein großen Anzahl von Testfällen und die Testinstitute
werden. überprüfen dann eine begrenzte, zufällig ausge-
Assistenzsysteme für Fahrradfahrer-Unfälle wählte Zahl dieser Testfälle.
sind aktuell bereits am Markt verfügbar. Die Ent-
wicklung von Testverfahren hierzu hat bereits
begonnen, eine Einführung der Tests in das Euro Literatur
NCAP-Rating ist für das nächste große Update der
Tests der aktiven Sicherheit mit Beginn des Jah- 1 ISO 26262: Road vehicles – Functional safety, 2012
2 V‐Modell: Verfügbar unter: http://www.cio.bund.de/DE/
res 2018 geplant – ebenso wie die Einführung von
Architekturen-und-Standards/V-Modell-XT/vmodell_xt_
Tests zur Nachtfähigkeit von Fußgänger-AEB. node.html, Abruf am 16.06.2013
Im Bereich der Fahrzeug-Fahrzeug-Not- 3 Kobiela, F.: Fahrerintentionserkennung für autonome Not-
bremssysteme werden dann auch Systeme bewer- bremssysteme, 1. Aufl. VS‐Verlag für Sozialwissenschaften,
tet, die Gegenverkehrs- und Querverkehrsunfälle Wiesbaden (2011)
4 Weitzel, A.: Objektive Bewertung der Kontrollierbarkeit
adressieren.
nicht situationsgerechter Reaktionen umfeldsensorba-
Für beide Test-Arten werden neue Werkzeuge sierter Fahrerassistenzsysteme, Dissertation TU Darmstadt,
erforderlich: dass Fußgänger-Dummys nicht für 2013
das Nachstellen von Fahrradfahrerunfällen geeignet 5 PReVENT: Code of Practice for the Design and Evaluation
sind, ist offensichtlich. Aber auch die heute verfüg- of ADAS; 13.08.2009
6 Fach, M., Baumann, F., Breuer, J., May, A.: Bewertung der
baren Zielobjekte für Pkw-Pkw-Notbremssysteme
Beherrschbarkeit von Aktiven Sicherheits‐ und Fahreras-
und die passenden Bewegungssysteme sind für sistenzsystemen an den Funktionsgrenzen. In: Integrierte
Querverkehrssituationen nicht geeignet. Sicherheit und Fahrerassistenzsysteme 26. VDI/VW‐Ge-
In naher Zukunft sind Ansätze zu erwarten, bei meinschaftstagung, Wolfsburg., S. 425–435 (2010)
denen ein Pkw-Zielobjekt aus kleinen Bausteinen 7 ISO 15622: Adaptive Cruise Control— Performance requi-
rements and test procedures (2010)
besteht und mit einer sehr flachen, überfahrbaren
8 United Nations Economic Commission for Europe Inland
Plattform bewegt wird. Prototypen haben gezeigt, Transport Committee: Agreement concerning the adop-
182 Kapitel 11 • Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung
13 19 Weitzel, A., Winner, H., Cao, P., Geyer, S., Lotz, F., Sefati, M.:
Absicherungsstrategien für Fahrerassistenzsysteme mit
Umfeldwahrnehmung Forschungsbericht der Bundesan-
Nutzerorientierte
Bewertungsverfahren
von Fahrerassistenzsystemen
Jörg Breuer, Christoph von Hugo, Stephan Mücke, Simon Tattersall
Assistenzsysteme sollen den Fahrer bei bestimmten Der Response Code of Practice (CoP [2], vgl.
1 Teilen der Fahrzeugführungsaufgabe durch Infor- ▶ Kap. 33) verdeutlicht, in welchen Phasen des
mationen unterstützen (Informationssysteme), von Entwicklungsprozesses Aspekte der Fahrer-Fahr-
2 bestimmten Teilaufgaben entlasten (Komfortsys- zeug-Interaktion (HMI) und der Beherrschbarkeit
teme) oder ihm helfen, kritische Fahrsituationen (Controllability) zu gestalten und zu bewerten sind.
sicherer zu bewältigen (Sicherheitssysteme). Sie Neben umfassenden Checklisten werden grund-
3 sollen und können den Fahrer jedoch nicht erset- sätzliche Anforderungen an Probanden- und Ex-
zen und können ihn auch nicht aus seiner Verant- pertenversuche formuliert, die zur Klärung offener
4 wortung für das sichere Führen eines Fahrzeugs Fragen und der finalen Absicherung erforderlich
entlassen. sind. Ziel ist die Sicherstellung und der Nachweis
5 Diese Definition macht deutlich, dass Assistenz- der Beherrschbarkeit des Fahrerassistenzsystems,
systeme sich in ihrem Zusammenwirken mit dem die als Wahrscheinlichkeit definiert wird, „dass der
Fahrer im realen Straßenverkehr bewähren müs- Fahrer mit einer Fahrsituation umgehen kann, ein-
6 sen, um eine hohe Wirksamkeit und Akzeptanz bei schließlich der Situation des ADAS unterstützten
gleichzeitig minimalen „Nebenwirkungen“ zu ent- Fahrens, an der Systemgrenze und einem System-
7 falten. Es bedarf daher entwicklungsbegleitender, versagen“ [2].
nutzerorientierter Bewertungsverfahren, die – über Fach et al. [3] weisen darauf hin, dass dabei
rein technische Funktionstests auf Komponenten- zwischen dem fehlerhaften Betrieb im Sinne der
8 oder Fahrzeugebene hinaus – die Entwicklung und ISO 26262 [1] und dem fehlerfreien Betrieb eines
Bewertung von Assistenzsystemen aus Kundensicht Systems inklusive seiner sogenannten funktionalen
9 sicherstellen. Dazu zählen neben Gestaltungsemp- Unzulänglichkeiten unterschieden werden muss.
fehlungen, Normen und Checklisten insbesondere Hierunter fallen „Eingriffe, die zwar korrekt im
10 Probanden- und Expertenversuche in unterschiedli- Sinne der technischen Umsetzung der Funktion
chen Testumgebungen. sind, aufgrund von Systemgrenzen wie z. B. der
Das Kapitel erläutert die Eignung, Konzeption, nicht vollständigen Umfelderfassung bzw. der un-
11 Durchführung und Auswertung nutzerorientierter vollständigen Entscheidungskompetenz eines tech-
Probanden- und Expertenversuche in unterschied- nischen Systems in der jeweiligen Verkehrssituation
12 lichen Phasen des Entwicklungsprozesses inklusive jedoch nicht angebracht sind“ [3].
der abschließenden Feldabsicherung zur Serienfrei- Darüber hinaus definieren u. a. Breuer [4] und
13
14
gabe. Praxisbeispiele – auch aus dem Bereich der
Funktionssicherheit (ISO 26262 [1], vgl. ▶ Kap. 6)
– veranschaulichen den Einsatz der vorgestellten
Bewertungsmethoden. Systemtests für Funkti-
--
Eckstein [5] weitere Gestaltungsprinzipien:
schnelle Eingewöhnung,
erwartungskonformes und konsistentes Sys-
temverhalten (vgl. dazu § 3 Produkthaftungs-
15
onsabsicherung oder auch Ratings, die i. d. R. den
Fahrereinfluss bewusst ausschließen („open loop“),
- gesetz),
einfaches „Bedienen“ und klares Anzeigekon-
werden in ▶ Kap. 11 behandelt.
- zept,
Eingriffe von Sicherheitssystemen nur bei
--
16 sicher erkannter Unfallgefahr,
12.1 Zielsetzung Wirksamkeit im realen Straßenverkehr,
17 der nutzerorientierten Vermeidung vorhersehbaren Fehlgebrauchs
Bewertung (Zweckentfremdung).
18 Im Laufe der Entwicklung von Assistenzsystemen
sind eine Reihe nutzerorientierter Anforderungen 12.2 Versuchsdesign
19 zu berücksichtigen und empirisch zu überprüfen,
wobei sich in der Praxis die formale Trennung von Grundsätzlich müssen Messungen die Hauptgüte-
20 Entwicklung und Absicherung („Vier-Augen-Prin- kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität er-
zip“) bewährt hat. füllen [6]. [7] zufolge ergeben sich darüber hinaus
12.2 • Versuchsdesign
185 12
insbesondere in der Feldforschung Nebengütekrite- auf ein handhabbares Maß zu reduzieren (s. ▶ Ab-
rien, die u. a. die Sicherheit, Zumutbarkeit sowie Da- schn. 12.2.2).
tenschutzrechte der Versuchsteilnehmer umfassen.
Ausgangspunkt jeder Versuchsgestaltung ist die
Definition der Versuchsziele und die Erstellung der 12.2.2 Versuchspersonenauswahl
zu prüfenden Versuchshypothesen. Darauf aufbau- und -anzahl
end muss ein geeignetes experimentelles Versuchs-
design gewählt werden. Stichprobenauswahl Die Aussagekraft von Ver-
suchsergebnissen und ihre Übertragbarkeit auf die
Zielgruppe hängen entscheidend von der Größe
12.2.1 Probanden- und der Zusammensetzung der untersuchten Stich-
vs. Expertenversuche proben ab. Stichproben sollten bezüglich der für
die Versuchsfragestellung relevanten individuellen
Probandenversuche Grundsätzlich ist aus Gründen Merkmale repräsentativ sein, d. h. die Häufigkeit
der Validität der Versuchsergebnisse eine Bewer- der Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten und
tung neuer Assistenzsysteme mit dem späteren Nut- Bedürfnisse sollte im untersuchten Kollektiv die
zer anzustreben und für die finale Feldabsicherung gleiche Verteilung wie in der Zielgruppe aufweisen.
unumgänglich. Dies gilt umso mehr, je stärker die Akzeptanz hängt stark von der Erfüllung der
Interaktion zwischen Fahrer und System Auswir- produktbezogenen Erwartungen und Bedürfnisse
kungen beispielsweise auf die Wirksamkeit und die ab und muss für die Zielgruppe der Käufer bewertet
Nutzung eines Systems hat. Auch die Bewertung der werden. Hierzu sind möglichst genau die relevanten
Beherrschbarkeit von Systemeingriffen und System- Merkmale der Kunden in geeigneter Ausprägungs-
grenzen kann valide nur mit Probanden erfolgen, breite im Kollektiv abzubilden.
wobei die Sicherheit der Versuchsdurchführung Bei vielen sicherheitsbezogenen Fragestellungen
Vorrang hat. Die Ermittlung des Nutzungsverhal- geht es dagegen eher um die Anpassung der Technik
tens – auch eines möglichen Fehlgebrauchs – sowie an Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen als
die subjektive Bewertung von Kundennutzen und Autofahrer. Die Zusammenstellung der Kollektive
Akzeptanz können per definitionem nur durch den orientiert sich hier also eher an diesen Dimensio-
„unbedarften“ Endnutzer erfolgen. nen der individuellen Leistungsvoraussetzungen
wie beispielsweise dem Reaktionsvermögen oder
Expertenversuche Expertenversuche – in Abgren- der Fahrerfahrung.
zung zur kontinuierlichen Erprobung durch den
Entwickler – können dagegen insbesondere bei Stichprobenumfang Wenn die relevanten Merk-
Konzeptbewertungen, also sehr früh im Entwick- male noch nicht hinreichend bekannt sind, könnte
lungsprozess, hilfreich und notwendig sein. Ent- man ausreichend große Zufallsstichproben aus der
scheidend ist dabei die Bewertung aus Sicht des Nutzerpopulation ziehen. Wegen versuchsökono-
„Kunden“, die ein Abstraktionsvermögen auf den mischer Beschränkungen wird man jedoch in der
„Normalfahrer“ erfordert. Expertenversuche haben Regel mit kleineren Kollektiven arbeiten, die zudem
auch als Vorstufe bzw. zur Bewertung der Notwen- oft aus einem bestimmten Umfeld (z. B. Werksan-
digkeit von Probandenversuchen ihre Berechtigung. gehörige) zusammengestellt werden. Dabei müssen
Bei sicherheitskritischen Untersuchungen, z. B. die vermutlich relevanten individuellen Merkmale
der Beherrschbarkeitsbewertung fehlerhafter Syste- zumindest mit gleicher Häufigkeit in allen mögli-
meingriffe bei hohen Fahrgeschwindigkeiten, sind chen Kombinationen vertreten sein (Formeln und
Expertenversuche aus Sicherheitsgründen geboten. Beispiele bei [8]).
Gleichzeitig ergibt sich insbesondere in der Funk- Der Response-CoP [2] nennt aus praktischer
tionssicherheit aus versuchsökonomischen Grün- Testerfahrung eine Mindestanzahl von 20 gültigen
den die Notwendigkeit für Expertenversuche, um Datensätzen pro Szenario, um einen „grundlegen-
die Anzahl der notwendigen Versuchsteilnehmer den Hinweis für Validität“ liefern zu können. Wich-
186 Kapitel 12 • Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen
tig ist, dass die Probanden „unbedarft“ sind, d. h. Prüfszenarien für die Bewertung der zu untersu-
1 dass sie nicht mehr Erfahrung und Vorwissen über chenden Aspekte abgeleitet werden. Diese sollten
das System haben als ein späterer Kunde. sich an der Auftretenswahrscheinlichkeit im Stra-
2 Betrachtet man die Controllability-Stufen der ßenverkehr orientieren, wobei eine begründete
ISO 26262 [1], ergibt sich für den Nachweis, dass Reduktion, beispielsweise über einen „worst ca-
90 % der Grundgesamtheit eine untersuchte kriti- se“-Ansatz, zielführend ist. Der Response-CoP [2]
3 sche Situation beherrschen (C = 2), über die Bino- legt dazu eine Systematik relevanter Fahrsituationen
mialverteilung bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung zusätzlicher Einflüsse von
4 von 5 % ein Mindeststichprobenumfang von 29 Pro-
banden, die alle den Versuch „bestehen“ müssen.
-
Fahrer, Fahrzeug und Umgebung nahe:
Use Cases, d. h. Nutzungssituationen des Assis-
5
6
Der Nachweis von C = 1 (99 %) kann wegen der
theoretisch notwendigen Stichprobengröße in der
Praxis nur durch Experten-Ratings erfolgen [9].
Repräsentative Kollektive sind auch angesichts
- tenzsystems,
Non Use Cases, d. h. Situationen, in denen das
Assistenzsystem nicht reagieren soll, dies aber
z. B. aufgrund sensorischer Einschränkungen
7
der bestehenden zeitlichen und finanziellen Rah-
menbedingungen bei der Entwicklung von Fahreras-
sistenzsystemen nur schwer zu erreichen. Man wird - ggf. dennoch tut („false positives“),
Systemgrenzen, entweder spezifiziert, wie z. B.
Geschwindigkeitsbereiche oder funktionale
8 beim Vergleich verschiedener Systemausprägungen
in der Regel mit 30 bis 50 sorgfältig ausgewählten
- Unzulänglichkeiten,
Systemfehler, wie Systemabbrüche, aber auch
9
10
Probanden auskommen, die beispielsweise gezielt
die Altersverteilung und Fahrerfahrung der Grund-
gesamtheit abdecken. Die finale Absicherung eines
Systems erfordert dagegen deutlich größere Stich-
-- Fehler im Sinne der ISO 26262 [1],
vorhersehbarer Fehlgebrauch,
zu ergänzen ist das Ausbleiben einer erwarte-
ten Systemreaktion („false negatives“).
proben mit zwischen 100 und 500 Teilnehmern.
Aufbauend auf einer vollständigen „Liste potenziell
11 Abhängige vs. unabhängige Stichproben Abhän- gefährlicher Situationen“ [2] ist eine Verdichtung
gige Stichproben, bei der jeder Teilnehmer mehrere auf die kritischsten Situationen vorzunehmen, um
12 Versuchsbedingungen durchläuft („within subject die Untersuchungen zu fokussieren.
design“), eignen sich besonders für den Vergleich Bei Versuchen auf Testgeländen kann aus Grün-
verschiedener Systemauslegungen. Eine Ausnahme den der Sicherheit und Reproduzierbarkeit eine Ab-
13 bildet die Untersuchung kritischer Fahrsituationen, straktion der Prüfszenarien erforderlich sein, auch
da nur im ersten Versuch ein unvorbereitetes Ver- wenn dies u. U. Rückwirkungen auf die Übertrag-
14 halten beobachtet werden kann. barkeit der Ergebnisse hat, z. B. Verwendung eines
Soll dagegen die Eignung einer Auslegung für „Crash targets“ (wie EVITA, vgl. ▶ Kap. 13) anstelle
15 bestimmte Teile der Nutzerpopulation ermittelt eines bremsenden Vorausfahrzeugs. Die Auswahl
werden, so sind unabhängige Stichproben („bet- und Ausgestaltung konkreter Versuchsszenarien er-
ween subject design“) zu wählen. Da hier neben der fordert – unter Berücksichtigung der allgemeinen
16 intraindividuellen auch die interindividuelle Streu- Anforderungen wie z. B. Sicherheit der Teilnehmer
ung zum Tragen kommt, erfordern sie grundsätzlich – Erfahrungen in der Absicherung und sollte durch
17 größere Stichproben, um statistisch signifikante Er- Vorversuche mit Experten und unbedarften Pro-
gebnisse zu erreichen. banden überprüft werden.
18
12.2.3 Prüfszenarien 12.2.4 Bewertungsparameter
19 und -kriterien
Während die Feldabsicherung gerade das Nutzer-
20 verhalten im realen Umfeld erfassen soll, müssen Aufbauend auf den Versuchshypothesen und den
für Probanden- und Expertenversuche zumeist gewählten Versuchsszenarien müssen – i. d.
R.
12.3 • Versuchsumgebung
187 12
Kenngröße z. B. für die Kritikalität einer Fahrsitu- In der Feldabsicherung hat es sich bewährt, dem
--
ation darstellen.
Fahrzeugreaktionen in Relation zur Umwelt;
Längsdynamik: z. B. Kollisionen im Längs-
verkehr, Kollisionsgeschwindigkeiten,
Probanden die Möglichkeit einer direkten Situati-
onsbewertung über Auslösung einer kurzen Mes-
sung inklusive Sprachaufzeichnung zu geben.
-
Abstandsverhalten im Folgeverkehr, 12.3 Versuchsumgebung
Querdynamik: z. B. seitliche Kollisionser-
eignisse, Abstand und TTC, Anzahl und Im Folgenden werden Vor- und Nachteile unter-
Größe von Fahrstreifenmarkierungsüber- schiedlicher Versuchsumgebungen genannt und
schreitungen, geworfene Pylonen, Streu- abschließend in . Tab. 12.1 gegenübergestellt. Sie
- und Pedalen;
Systemleistung im Zusammenspiel mit Fahrer
und Umwelt (Feldabsicherung), wie beispiels-
keit der Randbedingungen ab.
Versuche im Fahrsimulator Fahrsimulatorversuche
--
weise: eignen sich insbesondere zur frühen Konzeptbewer-
Verfügbarkeit und Nutzungsdauer, tung von Assistenzsystemen und zur gefahrfreien
Häufigkeit und Wirksamkeit von Warnun- Untersuchung der Wirksamkeit von Sicherheitssys-
-
gen und Eingriffen (Use Case), temen in unfallkritischen Fahrsituationen. Gleich-
Falsch-Positiv-Warn- und -Eingriffsraten. zeitig erlauben sie ein Höchstmaß an Reproduzier-
barkeit und Kontrolle der Versuchsbedingungen.
Subjektive Bewertung Bei Experten- und Proban- Hauptnachteile liegen in der ggf. eingeschränkten
denversuchen lassen sich manche Aspekte nur Übertragbarkeit, z. B. durch die begrenzte Bewe-
durch Selbstauskunft der probandeneigenen Wahr- gungs- und Sichtdarstellung, reduzierte Gefahren-
nehmung bzw. des Empfindens erheben, wozu vor wahrnehmung, Rückwirkungen auf das Fahrerver-
188 Kapitel 12 • Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen
Versuchsumgebung Vorteile
2 Fahrsimulator – genaue Einstellbarkeit und hohe Reproduzierbarkeit zu bewertender Szenarien
– bereits in frühen Entwicklungsphasen, insbesondere zur Konzeptbewertung einsetzbar
3 – große Variationsbreite von Umgebungsbedingungen (Fahrsituationen) und Systempara-
metern
– effektiv gefahrlose Darstellung kritischer Fahrsituationen
4 Testgelände (kont- – realitätsnahe Umgebung: echtes Fahrzeug ohne Einschränkungen bei Sicht und Fahrzeug-
rolliertes Feld) dynamik
8 realen Bedingungen
11
tenzsysteme unter realen Bedingungen ohne Versuchsleitereinfluss
12 halten sowie Simulatorkrankheit und eine begrenzte Nutzungsumfeld untersuchen. Bei einem hohen
Versuchsdauer (vgl. auch ▶ Kap. 9). Realitätsgrad lassen sich die Randbedingungen
über Versuchskonzeption und -durchführung nur
13 Versuche auf Testgeländen (kontrolliertes Feld) Ver- bedingt kontrollieren. Die Darstellung im Fahrzeug
suche auf dem Testgelände haben ihre Stärken in ist oft erst in späten Entwicklungsphasen möglich
14 der Untersuchung von Fahrsituationen, in denen bei und erfordert ggf. spezielle Sicherheitsvorrichtun-
weitgehender Kontrolle der Randbedingungen das gen beim Einsatz von Vorserienfahrzeugen.
15 Zusammenspiel des Fahrers mit der tatsächlichen
Fahrzeugreaktion von entscheidender Bedeutung Feldabsicherung des Serienstandes mit Proban-
für die Validität der Ergebnisse ist, gleichzeitig aber den Während die intendierte Wirkung von Sicher-
16 eine Gefährdung der Teilnehmer oder Dritter wei- heitssystemen zunächst in Fahrsimulatorversuchen
testgehend ausgeschlossen werden soll. Komplexe und ggf. später anhand von realen Unfalldaten
17 Verkehrssituationen lassen sich jedoch kaum dar- bewertet werden kann, müssen Tests auf mögli-
stellen. Beispiele sind Beherrschbarkeitsuntersu- che Nebenwirkungen unter möglichst praxisnahen
chungen im Rahmen der Funktionssicherheit. Bedingungen im Feld stattfinden. So kann z. B. die
18 Minimierung der Falschalarm-Rate von Sicher-
Versuche im realen Straßenverkehr Assistenzsys- heitssystemen nur mit geeigneten Daten der Feld-
19 teme mit geringem Gefährdungspotenzial, wie absicherung erfolgen. Die Variabilität der Fahrer,
beispielsweise reine Warnsysteme, oder mit einem Verkehrssituationen und Umgebungsbedingungen
20 bereits hohen Reife- und Absicherungsgrad lassen soll – neben dem Nachweis der Beherrschbarkeit
sich in – zumeist begleiteten – Versuchen im realen – gleichzeitig sicherstellen, dass keine potenziell
12.4 • Durchführung und Auswertung von Feldabsicherungen
189 12
kritischen Situationen unberücksichtigt bleiben. die aus der Analyse potenziell gefährlicher Situa-
Feldabsicherungen, die in der Regel unbegleitet tionen abgeleitet werden. Ein Taster für eine ma-
durchgeführt werden, erlauben außerdem eine ge- nuelle Auslösung („Fahrertrigger“) ermöglicht
naue Analyse des Nutzungsverhaltens sowie der Ak- darüber hinaus die Erfassung fehlender Systemein-
zeptanz neuer Systeme. Sie bilden eine wesentliche griffe und eine unmittelbare Situationsbewertun-
Grundlage für die finale Systemfreigabe. gen durch den Fahrer. Triggermessungen nutzen
typischerweise einen Ringspeicher, der es erlaubt,
Nachteilig ist u. a. der hohe Aufwand zur Erzielung Daten vor und nach dem relevanten Triggerereignis
einer aussagekräftigen Laufleistung sowie zur Aus- aufzuzeichnen, z. B. mit 40 s Vor- und 20 s Nachlauf.
wertung der großen Datenmengen. Sie können mehrere zehntausend Messkanäle, Vi-
deobilder zusätzlicher „Situationskameras“ sowie
Radar- und Kamerarohdaten beinhalten. Letzteres
12.4 Durchführung und Auswertung erlaubt die Nachsimulation des Systemverhaltens
von Feldabsicherungen mit modifizierten Funktionssoftwareständen, um
z. B. die Wirksamkeit einer Entwicklungsmaß-
Vor Beginn einer Feldabsicherung werden die an- nahme nachzuweisen.
gestrebte Gesamtlaufleistung und die erforderliche Feldabsicherungen, insbesondere von mehre-
geografische Streuung festgelegt. Entsprechend wird ren Systemen parallel, mit Laufleistungen von z. T.
eine Fahrzeugflotte mit den zu testenden, serien- über einer Million Kilometer, können mehrere
nahen Systemen, einer umfangreichen Messtechnik 10 Terabyte an Messdaten produzieren. Um solche
zur Aufnahme von Bus-, Steuergerät-Daten, Sen- Datenmengen erfolgreich zu verwalten und für das
sor-Rohdaten sowie zusätzlichen Messtechnik-Ka- Absicherungsteam und die Systementwickler in ge-
meras ausgestattet. Anschließend werden die Fahr- eigneter Weise aufzubereiten, wurde in der Merce-
zeuge im realen Straßenverkehr betrieben. des-Benz-Pkw-Entwicklung ein datenbankbasier-
Eine Möglichkeit besteht in einer sogenannten tes Messdatenmanagementsystem entwickelt [17].
„Kundennahen Fahrerprobung“ (KNFE) – hierbei Die Messdaten aus den Fahrzeugen werden durch
werden interessierte Unternehmensmitarbeiter einen automatisierten Verarbeitungsprozess auf ei-
per Los ausgewählt und ihnen beispielsweise für nem zentralen Server gesichert und Metainforma-
eine Woche ein Erprobungsfahrzeug zur Verfü- tionen in einer Datenbank abgelegt. Der Zugriff auf
gung gestellt. Ein Erprobungsdauerlauf, in dem die die Datenbank und die Messdaten erfolgt über eine
Fahrzeuge im Schichtbetrieb von professionellen spezielle Benutzeroberfläche.
Fahrern gefahren werden, eignet sich dagegen, um Bei der Auswertung liegt der Fokus auf zeit-
gezielt bestimmte Fahrsituationen wie z. B. im Stadt- lich punktuellen „Ereignissen“, wie beispielsweise
verkehr intensiv zu erproben. Systemwarnungen oder -eingriffen, Fahrerhand-
Bei der Konfiguration der Messtechnik hat es lungen wie starkes Bremsen oder Systembewertun-
sich bewährt, zwei Arten von Messungen im Paral- gen durch den Fahrer. Zu jedem Ereignis wird ein
lelbetrieb aufzuzeichnen: „Kurzvideo“ der Fahrzeugumgebung von ca. 10 s
Dauermessungen zeichnen einige hundert der Länge generiert, das auch Zusatzinformationen zu
wichtigsten Messsignale kontinuierlich über die Systemzuständen und Signalverläufen beinhaltet.
komplette Fahrt auf. Sie erlauben statistische Aus- So kann der Auswerter schnell und bequem die re-
wertungen wie z. B. die Erstellung von Geschwin- levanten Messungen und Ereignisse identifizieren
digkeitsprofilen, Warnraten etc. Insbesondere die und analysieren sowie seine Auswertungen in die
Bewertung von Komfortsystemen, die i. d. R. über Datenbank dokumentieren. Gleichzeitig dient die
längere Zeiträume kontinuierlich assistieren, erfor- Datenbank der Organisation des Arbeitsablaufes
dert Dauermessungen. und der Dokumentation der Absicherungsergeb-
Triggermessungen sind dagegen zeitlich be- nisse, die – neben den technischen Funktionsfrei-
grenzt und werden automatisch ausgelöst, wenn gaben – eine Grundlage der finalen Serienfreigabe
zuvor definierte Triggerbedingungen erfüllt sind, bilden.
190 Kapitel 12 • Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen
1
2
3
4
5
.. Abb. 12.1 Zeitlicher Ablauf der Unterstützung in einer Situation mit Auffahrunfallgefahr durch COLLISION PREVENTION
6 ASSIST PLUS
2 Auto- 130 km/h 1,45–1,55 s Folgefahrt: Vorausfahrer bremst 0,7 s lang mit 1 m/s² und
bahn erhöht dann die Verzögerung auf 8,5 m/s²
3 Land- 80 km/h 1,45–1,55 s Folgefahrt: Vorausfahrer bremst 1,0 s lang mit 1 m/s² und
straße erhöht dann die Verzögerung auf 9,0 m/s²
.. Abb. 12.2 Versuchsse-
1 tup für die Untersuchung
fehlerhafter Bremseingriffe
mit Probanden auf einem
2 Testgelände [3]
3
4
5
6
7
8
9
10 Vermeidung des kritischen Ereignisses der Risiko- Reaktionszeit zwischen der Ansteuerung der Brems-
analyse (Auffahrunfall). Untersuchungen zur Be- leuchten des Vorausfahrzeugs und der Bremspedal-
herrschbarkeit von Gierstörungen durch einseitige betätigung der Probanden telemetrisch ermittelt.
11 Bremseingriffe finden sich in [3] sowie [20]. Um den Einfluss der interindividuellen Streuung
zu eliminieren, wurden die Reaktionszeiten auf das
12 individuelle Reaktionsvermögen jedes Probanden
12.5.3 Bewertung der Wirksamkeit bezogen, das in fünf analogen Bremsreaktionstests
einer Sicherheitsfunktion bei stehenden Fahrzeugen ermittelt wurde.
13 auf dem Testgelände . Abbildung 12.3 zeigt, dass blinkende Brems-
leuchten zu signifikant schnelleren Reaktionen
14 Auch das rückwärtige Signalbild beim Bremsen (≈ 0,2 s) als konventionelle Bremsleuchten oder
kann die Gefahr von Auffahrunfällen reduzieren, Warnblinker führen. Aus der Testgeschwindigkeit
15 indem es die Erkennung von Notbremsungen für von 80 km/h verkürzt sich dadurch der Anhalteweg
den Folgeverkehr verbessert und dessen Reaktions- rechnerisch um 4,40 m.
zeit verkürzt. Zur vergleichenden Bewertung unter- Basierend auf diesen Ergebnissen wurde bei
16 schiedlicher Ansätze wurden, unter so realitätsna- Mercedes-Benz-Pkws das sogenannte „Adaptive
hen Bedingungen wie versuchstechnisch möglich, Bremslicht“ serienmäßig eingeführt. Die geschwin-
17 Probandenversuche auf einem Testgelände durch- digkeitsabhängige Aktivierungsschwelle wurde aus
geführt [21]. Daten von Feldabsicherungen abgeleitet und be-
Die Aufgabe der 40 Probanden bestand darin, rücksichtigt das reale Verzögerungsverhalten von
18 mit 80 km/h einem vorausfahrenden Fahrzeug in Autofahrern.
einem Abstand von etwa 40 m zu folgen, was in ei-
19 ner Eingewöhnungsphase ausreichend geübt wurde.
Nach mehreren unkritischen Fahrmanövern löste
20 der Experte im vorausfahrenden Fahrzeug eine
Vollbremsung aus. Als Bewertungsgröße wurde die
12.5 • Exemplarische Anwendungen
193 12
2 Potenziell
gefährliche
Sicherheitssysteme: BAS PLUS inkl. Kolli-
sionswarnung, PRE-SAFE®-Bremse
Komfortsystem:
DISTRONIC PLUS
Situation
3 Use Cases Überschreitung vorgelagerter Kritikalitäts- Kontinuierliche Daten, z. B. zu Abstandsverhalten,
schwellen (TTC < x s) Beschleunigungen
4 Auslösung Kollisionswarnung
Auslösung adaptive Bremsunterstützung
Über-/Unterschreitung von Schwellen der Situati-
onsbewertung, z. B. zeitlicher Folgeabstand < x s
Auslösung automatischer Bremseingriff ggf. Fahrerübersteuerung,
5 übernahme-
Fehlende Use „Fahrertrigger“ bei vermisster Kollisions- „Fahrertrigger“, z. B. bei fehlender Verfügbarkeit,
6 Cases
(false negatives)
warnung
Überschreitung vorgelagerter Kritikalitäts-
später Reaktion …
schwellen (TTC < x)
Non Use Cases Bewertung der Use Cases „Fahrertrigger“, z. B. bei Verzögerung auf Fahrzeug in
(false positives) „Fahrertrigger“ bei falscher Kollisionswar- Nachbarspur
8 nung oder Eingriff
Systemgrenzen Bewertung der Use Cases, z. B. funktional Erreichen definierter Systemgrenzen, wie maximale
9 und Funktio- berechtigte, aber vom Fahrer „ungewollte“ Verzögerung
nale Unzuläng- Warnungen Übernahmewarnungen
lichkeiten Fahrerübersteuerung
10 „Fahrertrigger“
13 100
90
14
80
15
km travelled [%]
70
60
16 50
40
17 30
20
18
10
19 0
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 2 2,2 2,4 2,6 2,8
Following Distance [s]
20
.. Abb. 12.4 Abstandsverhalten bei Nutzung eines ACC-Systems zweiter Generation [23]
Literatur
195 12
.. Abb. 12.5 Anzahl und 70
Art der Systemauslösung Warning
60
über der Ausgangsge-
Warning with BASplus
schwindigkeit (318 Situati- 50
Warning with BASplus & AEB
onen) [23]
40 Warning with AEB
30
20
10
10 00
90 90
60 0
16 160
40 0
30 0
50 0
15 150
80 0
14 140
70 0
13 130
17 170
20 0
80
11 110
0
12 120
-4
-6
-7
-5
-3
-8
-2
-1
-1
-1
-
-
-
-
-
-
-
10
0
0
0
0
0
0
0
0
Speed [km/h]
6 19
918d-76c7496ba833.pdf
Schöneburg, R., Baumann, K.-H., Fehring, M.: The efficiency
of PRE‐SAFE®‐systems in pre‐braked frontal collision situ-
7 ations Paper 11‐0207 22nd International Technical Confe-
rence on the Enhanced Safety of Vehicles, Washington, DC,
June 13–16. (2011)
8 20 Simmermacher, D.: Objektive Beherrschbarkeit von Gier-
störungen in Bremsmanövern. Dissertation TU Darmstadt,
2013
9 21 Unselt, T., Beier, G.: Safety Benefits of Advanced Brake
Light Design. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA)
(Hrsg.) International Society for Occupational Ergonomics
10 and Safety (ISOES), Federation of European Ergonomics
Societies (FEES) International Ergonomics Conference,
Munich, May 7th ‐ 9th. (2003)
11 22 Breuer, J.: Sicherheitsprognosen für neue Assistenzsysteme
– Stand und Herausforderungen. In: Bruder, R., Winner, H.
(Hrsg.) 4. Kolloquium Mensch & Fahrzeug. ergonomia Ver-
12 lag, Darmstadt (2009)
23 Breuer, J., Feldmann, M.: Safety Potential of Advanced
13.1 Das Dummy Target EVITA davon, ob der Proband auf das Manöver rechtzeitig
1 reagiert oder nicht, wird der Anhänger aktiv aus
Für in kritischen Situationen agierende FAS ist kein dem Kollisionsbereich gezogen. Im Frühjahr 2014
2 universell einsetzbares, einfaches Testverfahren für wurde der Anhänger grundlegend überarbeitet.
Realfahrten bekannt, bei dem Probanden ohne Ein- . Abbildung 13.1 zeigt EVITA 2.0.
schränkungen eingesetzt werden können.
3 In zwei Forschungsprojekten in Kooperation
mit Honda R&D Deutschland und der Forschungs- 13.1.3 Aufbau
4 initiative „Aktiv“ wurden verschiedene Ausprä-
gungen von Antikollisionssystemen entwickelt und Im Heck des Zugfahrzeugs befindet sich eine Seil-
5 bewertet. Für die Durchführung des Entwicklungs- winde mit einer reibkraftschlüssigen Windenbremse
prozesses ist eine eigene Bewertungsmethode mit und einem Elektromotor. Der Anhänger ist mit dem
einem top-down-Ansatz abgeleitet worden. Zugfahrzeug nur über das Seil der Winde verbun-
6 den. Das andere Ende des Seils ist an der Achsschen-
kellenkung der Vorderachse des Anhängers befes-
7 13.1.1 Ziele tigt. Die Scheibenbremsen des Anhängers werden
hydraulisch via Handbremshebel von einem Elektro-
Das Ziel der Entwicklung war eine Methode und ein motor betätigt. Im hinteren Bereich des Anhängers
8 Werkzeug für die Bewertung von Antikollisionssys- befindet sich das Heck eines Opel Adam. An diesem
temen im Längsverkehr. Die Anforderungsliste sah Heck ist ein Radarsensor befestigt. Im Zugfahrzeug
9 vor, die Bewegungsgrößen eines vorausfahrenden und im Anhänger befinden sich Rechner, die durch
Fahrzeugs aus der stationären Kolonnenfahrt mit Funkmodems miteinander verbunden sind. Als
10 einem unerwarteten Bremsmanöver darstellen zu Grundgerüst für das Dummy Target kommt ein Alu-
können. Das Risiko für die Probanden durfte bei dem minium-Fachwerkrahmen aus der Bühnentechnik
zu entwickelnden Testverfahren nicht höher ausfal- mit vier Einzelradaufhängungen eines Quads zum
11 len als bei anderen üblichen Fahrversuchsverfahren. Einsatz. Der große Nachlauf der Vorderachse sorgt
Weiteres Ziel bei der Entwicklung von EVITA (Ex- für einen ruhigen Geradeauslauf. In einem feuchtig-
12 perimental Vehicle for Unexpected Target Approach) keitsgeschützten Gehäuse befindet sich der lüfter-
war es, die minimale Beeinflussung der Probanden lose Rechner zusammen mit dem Funkmodem, der
durch das Werkzeug zu erreichen, weshalb Wert auf Energieversorgung und der Bremsensteuerung. Die
13 eine größtmögliche Übereinstimmung der Heckan- Bremsleuchten der Heckansicht sind funktionstüch-
sicht mit einem herkömmlichen Personenkraftwagen tig. Die Gesamtmasse des Dummy Target beträgt
14 gelegt wurde. Die Forderung nach der größtmögli- ca. 200 kg. . Abbildung 13.2 zeigt eine Übersicht
chen Übereinstimmung der Heckansicht mit einem über die Komponenten des Dummy Target.
15 bekannten Fahrzeug eröffnet neben der Durchfüh-
rung von Probandenversuchen auch die Möglichkeit
zur Nutzung für die Entwicklung und Bewertung von 13.1.4 Versuchsablauf
16 Sensorkonzepten für Antikollisionssysteme.
Im Ausgangszustand ist der Anhänger hinter dem
17 Zugfahrzeug kurzgekoppelt. Wird vom am Anhän-
13.1.2 Konzept gerheck montierten, rückwärtig messenden Radar
ein Fahrzeug (target object) in passendem Ver-
18 Das realisierte Konzept besteht aus der Kombina- suchsabstand detektiert, kann das Gesamtsystem
tion eines Zugfahrzeugs, einem Anhänger und ei- für eine Versuchsdurchführung aktiviert werden.
19 nem auffahrenden Fahrzeug. Während einer stati- Ein Befehl des Bedieners im Zugfahrzeug öffnet die
onären Folgefahrt bremst der Anhänger (Dummy Bremse der Seilwinde und betätigt die Bremsen des
20 Target genannt) für den im Versuchsfahrzeug fah- Anhängers. Das Zugfahrzeug fährt während dieses
renden Probanden überraschend ab. Unabhängig Vorgangs mit konstanter Geschwindigkeit weiter.
13.1 • Das Dummy Target EVITA
199 13
.. Abb. 13.1 EVITA (bestehend
aus Zugfahrzeug und Dummy
Target)
.. Abb. 13.3 Idealisierter Versuchsablauf als Geschwindigkeitsverlauf über der Zeit des Versuchsfahrzeugs
0,8 s erreicht, so muss von einer Fehlfunktion von tikollisionssystem. Neben der objektiven Wirksam-
EVITA ausgegangen werden. Sollte eine Kollision keit wird die von den Probanden beurteilte subjek-
trotz aller Vorkehrungen unvermeidbar sein, wird tive Wirksamkeit definiert. Diese per Fragebogen
aufgrund der geringen Masse des Dummy Target ermittelte Größe wird als Vergleich zwischen ver-
kein Schaden für Versuchspersonen erwartet. schiedenen Ausprägungen von Frontkollisionsge-
genmaßnahmen durch das Bilden einer Rangfolge
definiert.
13.4 Bewertungsmethode
Mit EVITA liegt das Werkzeug zum Erzeugen von 13.4.2 Probandenversuch
kritischen Unfallsituationen vor. Im Folgenden wird
eine der Hauptbewertungsgrößen zur Beurteilung Eine Erkenntnis aus in-depth studies ist, dass viele
der Güte von Antikollisionssystemen beschrieben. Fahrzeugführer vor einem Auffahrunfall abgelenkt
sind [1]. Daher werden die Probanden des auffah-
renden Versuchsfahrzeugs kurz vor einer Abbrem-
13.4.1 Wirksamkeit sung von EVITA mit einer Nebenaufgabe zu einer
eines Antikollisionssystems länger als 2 s dauernden Blickabwendung verleitet.
Durch den im Versuchsfahrzeug sitzenden Bedie-
Als objektive Beurteilungsgröße für die Wirksam- ner wird während der Blickabwendung des Pro-
keit eines Antikollisionssystems (speziell von Front- banden die Erzeugung der kritischen Auffahrsitu-
kollisionsgegenmaßnahmen) wird die Verringerung ation ausgelöst. Der Proband wird anschließend
der Geschwindigkeit des Ego-Fahrzeugs vor dem beim Erreichen einer vordefinierten TTC-Schwelle
Aufprall herangezogen. Dieses Kriterium stimmt beispielsweise von den Warnelementen des An-
mit dem generellen Ziel von Antikollisionssystemen tikollisionssystems alarmiert. . Abbildung 13.3
überein, entweder die Aufprallgeschwindigkeit zu zeigt idealisiert den Geschwindigkeitsverlauf des
reduzieren, oder die vollständige Vermeidung des Versuchsfahrzeugs über der Zeit. Erkennbar sind
Aufpralls zu erreichen. Je höher die Verringerung die Ablenkung des Probanden und die Bremsung
der Geschwindigkeit, desto wirksamer ist das An- des Dummy Target. Beim Erreichen der kritischen
202 Kapitel 13 • EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen
1
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3
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6
7
.. Abb. 13.4 Definitionen der zeitlichen Bewertungskriterien
8 Schwelle wird beispielsweise eine Alarmierung des der Auslöseschwelle in einem ungebremsten Eich-
Fahrers oder ein sonstiger Eingriff ausgelöst. Typi- versuch ohne Proband bestimmt. Für eine typische
9 scherweise folgen dann eine Blickzuwendung durch Warnung mit dem TTC-Algorithmus beträgt der
den Probanden auf die Situation vor dem Ego-Fahr- Beurteilungszeitraum 2 s. Die Warnschwelle wurde
10 zeug und der Bremsbeginn. unter Kenntnis von Warnzeitpunkten bekannter
Aus Gründen der Reproduzierbarkeit wird dem Frontkollisionsgegenmaßnahmen definiert. So
Probanden der zulässige Abstand zur vorausfahren- können Warnelemente sowohl miteinander als
11 den EVITA über eine ampelähnliche Anzeige am auch mit autonomen Bremseingriffen verglichen
Heck von EVITA vorgegeben. Ist der Abstand zu werden.
12 groß, wird dem Fahrer ein blaues, bei zu geringem Als Hauptbewertungsgröße für die Güte von
Abstand ein rotes Signal angezeigt. Liegt der Ab- Frontkollisionsgegenmaßnahmen ist die Verrin-
stand im Bereich von 20 bis 25 m, so leuchtet die gerung der gedachten Aufprallgeschwindigkeit
13 Ampel grün. Nur in diesem Fall wird ein Versuch eingeführt, diese wird Wirksamkeit genannt. Dazu
durch die Abbremsung von EVITA ausgelöst. wird ab dem Zeitpunkt der Warnung durch das
14 Antikollisionssystem bis zum gedachten Aufprall
ein Beurteilungszeitraum definiert, an dessen Ende
13.4.3 Bewertungskriterien
15 für warnende Frontkollisions
die abgebaute Differenzgeschwindigkeit bestimmt
wird. Handelt es sich um ein warnendes Antikolli-
gegenmaßnahmen sionssystem, so sind die Reaktionszeit des Fahrers
16 und die Höhe der eingeleiteten Verzögerung die
Für die Beurteilung der Wirksamkeit wird ein Be- wichtigsten Komponenten für eine hohe abgebaute
17 urteilungszeitraum festgesetzt. Der Zeitraum be- Differenzgeschwindigkeit. Im Beurteilungszeitraum
ginnt mit dem Zeitpunkt des Auslösens einer War- ist die Gesamtreaktionszeit in verschiedene Prozess-
nung oder eines Fahrzeugeingriffs. Er endet zum schritte unterteilt.
18 Zeitpunkt eines gedachten, ungebremsten Aufpralls In der Literatur gibt es zahlreiche Angaben zur
des Versuchsfahrzeugs auf das vorausfahrende, un- Bestimmung des Fahrerverhaltens in Gefahren-
19 unterbrochen bremsende Dummy Target. Dieser situationen, wozu Bäumler und Krause et al. [2,
Aufprall ist „gedacht“, da von EVITA automatisch 3] einen Überblick geben. Die in diesem Kontext
20 eine Kollision vermieden wird. Der Endzeitpunkt verwendete Festlegung lehnt sich an die für die
wird in Abhängigkeit des TTC-Algorithmus und Versuchsverhältnisse allgemeingültige Defini-
13.4 • Bewertungsmethode
203 13
Blickzuwendungszeit Zeitdauer vom Zeitpunkt der Warnung bis zum Blick auf die Straße
Umsetzzeit Zeitdauer von der ersten Bewegung des Fußes vom Gaspedal bis zum ersten Kontakt mit
dem Bremspedal
Betätigungszeit Zeitdauer vom ersten Kontakt des Fußes mit dem Bremspedal bis zum Erreichen eines
Bremspedaldrucks von 60 bar
Subjektive Wirksamkeit Probandenbeurteiltes Maß für die Höhe einer kollisionsvermeidenden Wirkung eines
Warnelements
Subjektive Verzeihlich- Probandenbeurteiltes Maß für die Entschuldbarkeit eines Warnelements bei einer Fehl-
keit warnung/nicht berechtigten Warnung
tion von Burckhardt [4] bzw. Zomotor [5] an. Die Eingriff des Antikollisionssystems mit der kriti-
. Abb. 13.4 zeigt den zeitlichen Zusammenhang schen Situation konfrontiert und beispielsweise die
der Reaktionszeiten, des Beurteilungszeitraums, Geschwindigkeitsdifferenz bestimmt.
des typischen Geschwindigkeitsverlaufs und der Für die Bewertung der Wirksamkeit des Anti-
Wirksamkeit. kollisionssystems ist nur der erste Versuch des Pro-
60 bar entsprechen beim gewählten Versuchs- banden eine unbeeinflusste Basis. Bei allen weiteren
fahrzeug einer Verzögerung von 10 m/s2 und so- Versuchen hat der Proband trotz einer lückenhaften
mit der maximalen Verzögerung bei einem hohen Vorinformation über den eigentlichen Zweck der
Reibwert von 1,0 zwischen Fahrbahnoberfläche und Versuche den Versuchsgegenstand einer überra-
Reifen. Während des Beurteilungszeitraums werden schenden Notsituation verstanden, er gilt als vorein-
die Kriterien der . Tab. 13.2 beurteilt. genommen. Der Bewertung der Akzeptanz durch
den Fahrer kommt bei der Entwicklung von Fah-
rerassistenzsystemen mittlerweile eine große Beach-
13.4.4 Vergleiche tung zu [6]. Die weiteren Versuche nach der ersten
von Antikollisionssystemen Notsituation eignen sich zum Erzeugen weiterer Er-
kenntnisse, wie etwa dem Umgang mit Fehlwarnun-
Das einheitliche Bewertungsverfahren ist Grund- gen oder den vergleichenden Probandeneinschät-
lage für den Vergleich verschiedener Ausprägun- zungen zu Varianten von Antikollisionssystemen.
gen von Frontkollisionsgegenmaßnahmen. Für Die Einschätzung von Probanden zur erlebten Si-
die Bewertung werden mit einem entsprechend tuation und zur Bewertung von Fahrerwarnelemen-
geteilten Kollektiv von Probanden Testfahrten un- ten wird mit Fragebögen erhoben. Der Auswertung
ter Berücksichtigung verschiedener Ausprägungen dieser Fragebögen werden Hinweise zur Gestaltung
durchgeführt. Der Vergleich der über alle Proban- von Fahrerwarnelementen entnommen.
den gemittelten Geschwindigkeitsreduktionen im
Beurteilungszeitraum gibt die Wirksamkeit der Va-
rianten wieder. 13.4.5 Ergebnisse
Eine Beurteilung der absoluten Wirksamkeit ei-
nes Antikollisionssystems ist durch die Verwendung In verschiedenen Forschungsprojekten wurden mit
einer so genannten Baseline zu erreichen. Dabei dem Beurteilungswerkzeug EVITA Fahrerwarnele-
wird ein Teil des Probandenkollektivs ohne einen mente auf ihre Eignung für Antikollisionssysteme
204 Kapitel 13 • EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen
1
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10
11 .. Abb. 13.5 Wirksamkeit der Warnelemente
untersucht. Im Rahmen dieses Kapitels werden die Bremsruck ist als Beschleunigungsrampe über eine
12 Ergebnisse der nachfolgenden Warnelemente vor- Zeitdauer von 0,5 s mit einem Maximum bei 5 m/s2
gestellt: realisiert. Die automatisierte Teilverzögerung wird
1. Reifenquietschen (Sound), mit 6 m/s2 bis zu einer Zeitdauer von 1,3 s aufgebaut.
13 2. Sitzvibration mit Symboldarstellung (Seat Vib- Die . Abb. 13.5 zeigt die im Fahrversuch be-
ration & Symbol), stimmte Wirksamkeit der getesteten Warnelemente
14 3. Bremsruck (Jerk) und im ersten Versuch. Bestimmt wird die Geschwindig-
4. automatisierte Teilverzögerung (Partial). keitsreduktion des Ego-Fahrzeugs im Beurteilungs-
15 zeitraum während der ersten Notbremssituation.
Diese Warnelemente werden einem Versuch ohne Aufgetragen ist die kumulierte Häufigkeit (Cu-
Warnung und ohne Eingriff gegenübergestellt mulative percentage) gegenüber der Wirksamkeit
16 (Baseline). Alle Warnelemente im Versuchsfahr- (Effectiveness). Die Grenzen der mittleren 50 % sind
zeug wurden 2 s vor einer drohenden Kollision ak- als horizontale Hilfslinien angegeben und entspre-
17 tiviert. Das Auditory Icon Reifenquietschen wird chen den Grenzen eines Boxplots (Grenze bei 25 %
über einen mittig im Armaturenbrett angeordneten und 75 %). Der Buchstabe N kennzeichnet die An-
Lautsprecher eingespielt. Die Lautstärke am Kopf zahl der Versuche. Die Sterne beschreiben die Signi-
18 des Fahrers beträgt 90 dB (A), die Dauer 0,95 s. Ein fikanzen (dies ist ein Maß für die Unterscheidbarkeit)
mittig unter dem Fahrersitz angeordneter E-Motor zwischen den Warnelementen. Je weiter rechts eine
19 mit einer Unwucht sorgt für eine Sitzvibration, Kurve liegt, desto wirksamer ist das Warnelement.
ein oberhalb des Kombiinstruments angebrachter Ersichtlich sind die Unterschiede zwischen den
20 Bildschirm stellt das blinkende rote Symbol dar. Gruppen „Seat Vibration & Symbol mit Baseline“
Die Größe des Symbols beträgt 75 × 50 mm. Der gegenüber „Sound und Jerk“ sowie gegenüber „Par-
13.4 • Bewertungsmethode
205 13
.. Abb. 13.6 Merkmaldiagramm der Warnelemente Sound, Jerk, Seat Vibration & Symbol
tial“. Seat Vibration & Symbol weist aus statistischer Aufgetragen sind die Bewertungskriterien
Sicht keinen signifikanten Unterschied gegenüber Wirksamkeit (Objective effectiveness), Blickzu-
einem Vergleichsversuch ohne Warnung auf (Base- wendungszeit (Visual distraction time), subjektive
line). Die Verläufe von Jerk und Sound ähneln sich, Wirksamkeit (Subjective effectiveness), Störungs-
die Hypothese der Gleichheit beider Verteilungen maß (Objective disturbance), Gesamtreaktionszeit
kann mit statistischen Methoden nicht widerlegt (Overall response time) und subjektive Verzeih-
werden. Jerk weist bezüglich der Wirksamkeit einen lichkeit (Subjective forgiveness) in Analogie zu
nahezu signifikanten Unterschied (Irrtumswahr- . Tab. 13.2. Für jedes Warnelement wird der Me-
scheinlichkeit 7 statt 5 %) zur Baseline auf. Partial dian aufgetragen. Je weiter ein Wert vom Zentrum
erreicht die höchste Wirksamkeit mit der gerings- (Schnittpunkt der Achsen) entfernt liegt, desto bes-
ten Streuung. Partial erzielt eine Wirksamkeit von ser ist das Kriterium erfüllt.
37 km/h, eine Erhöhung über diesen Wert hinaus Auf Grundlage des Merkmaldiagramms kön-
wird durch die Übersteuerung des Fahrers möglich. nen gewichtete Bewertungen für das Erzeugen
Ein Merkmaldiagramm eignet sich für die ver- von Empfehlungen festgelegt werden. So können
gleichende Darstellung unterschiedlicher Kriterien, beispielsweise die objektive Wirksamkeit und die
zusammengefasst in . Abb. 13.6 für drei Warnele- subjektive Verzeihlichkeit sehr hoch gewichtet wer-
mente aus der gleichen Versuchsreihe. den. In diesem Sinne erfolgt eine Empfehlung für
206 Kapitel 13 • EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen
das Warnelement Sound, da sowohl die objektive [6] Bubb, H.: Fahrversuche mit Probanden – Nutzwert und Ri-
1 Wirksamkeit als auch die subjektive Verzeihlichkeit
siko, Darmstädter Kolloquium Mensch & Fahrzeug, Darm-
stadt, 2003
größer sind als bei Jerk. Seat Vibration & Symbol [7] Hoffmann, J.: Das Darmstädter Verfahren (EVITA) zum Tes-
2 zeichnet sich durch eine geringere Wirksamkeit, ten und Bewerten von Frontalkollisionsgegenmaßnah-
aber auch eine hohe Verzeihlichkeit aus. men. Fortschritt‐Berichte, VDI Reihe 12, Nr. 693, Düsseldorf,
Zusammenfassend wurde durch die Definition 2008
3 der Bewertungskriterien eine klare Differenzierung
[8] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Die Prüfmethode für An-
tikollisionssysteme, 5. Workshop Fahrerassistenzsysteme,
verschiedener Frontkollisionsgegenmaßnahmen er- Walting, April 2008
4 reicht. Exemplarisch dafür stehen die Ergebnisse der [9] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Das Untersuchungswerk-
drei Warnelemente Sound Jerk und Seat Vibration & zeug für Gefahrensituationen, 3. Tagung aktive Sicherheit
5 Symbol. Es steht damit eine objektive Bewertung un- durch Fahrerassistenz, Garching, April 2008
[10] Winner, H.; Fecher, N.; Hoffmann, J.; Regh, F.: Bewertung
ter Einbeziehung des Fahrers zur Entwicklung von
von Frontalkollisionsgegenmaßnahmen – Status Quo, In-
Antikollisionssystemen zur Verfügung.
6 tegrated Safety, Hanau, Juli 2008.
[11] Fecher, N., Fuchs, K., Hoffmann, J., Abendroth, B., Bruder, R.,
Winner, H.: Fahrerverhalten bei aktiver Gefahrenbremsung.
7 13.5 Einsatz in weiteren Studien Automobiltechnische Zeitschrift 1 1(2), S. 144ff. (2009)
[12] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Thetestingmethod for
collision warning and collision avoidance systems, FISITA
Bis Ende 2013 wurden umfangreiche Versuche mit
8 einer Anzahl von über 800 Probanden durchge-
2008, F2008–12–019
[13] Fecher, N.; Fuchs, K.; Hoffmann, J.; Bruder, R.; Winner, H.:
führt. Für die Übertragung der Erkenntnisse auf Analysis of the driver behavior in autonomous emergency
9 die Realität kommt der Evaluierung des Versuchs- hazard braking situations, FISITA 2008, F2008–02–030
aufbaus eine große Bedeutung zu. Die Auswertung
10 der Versuche zeigt, dass sich bei gewöhnlicher
Folgefahrt keine Auffälligkeiten im Fahrverhalten
der Probanden erkennen lassen, die auf den Ver-
11 suchsaufbau zurück zu führen sind. Bestätigt wird
diese Erkenntnis durch die per Fragebögen erho-
12 bene Einschätzung der Probanden. Somit ist das
Ziel, keine negative Beeinflussung der Probanden
durch den Versuchsaufbau zu erhalten, erreicht.
13 Eine autonome Teilverzögerung ist hochsignifikant
wirksamer, als die Baseline. Ergebnisse aus der An-
14 wendung der Methode finden sich in [7, 8, 9, 10,
11, 12, 13].
15
Literatur
16
[1] NHTSA Report 2001
14.1 Motivation für den Einsatz Die systematische Erprobung solcher Sys-
1 koordinierter automatisierter teme bedeutet technisch, dass die Fahrzustände
Fahrzeuge eines Versuchsfahrzeugs auf einer vorgegebenen
2 Fahrbahn präzise eingestellt werden müssen: Ein
Fahrerassistenzsysteme unterstützen den Fahrer konkreter raumfester Kurs ist mit vorgegebener
einerseits auf langen Fahrten bei Routineaufgaben, Geschwindigkeit einzuhalten. Sind mehrere Fahr-
3 sie helfen dem Fahrer aber auch, in kritischen Si- zeuge involviert, ist die Gleichzeitigkeit ihrer Be-
tuationen rechtzeitig und richtig zu reagieren. Die wegungen einzuhalten. Menschliche Fahrer kön-
4 Assistenzsysteme der neuesten Generation reagie- nen diese Bedingungen in einem Fahrzeug noch
ren sogar selbstständig, wenn der Fahrer vor einem ausreichend präzise erfüllen, bei der gleichzeitigen
5 absehbar unvermeidbaren Unfall nicht rechtzeitig zeitlichen und räumlichen Koordination mehrerer
reagiert. Dazu müssen die Systeme komplexe Ver- Fahrzeuge stößt diese Versuchsmethodik jedoch
kehrssituationen beherrschen und Unfallsituationen schnell an ihre Grenzen. Die statistische Streuung
6 von unkritischen Konstellationen unterscheiden – von Fahrmanövern menschlicher Fahrer kann
dies ist auch eine Herausforderung an die Prüftech- zwar für einen Teil der Erprobung durchaus ge-
7 nik, mit der solche Systeme abgesichert werden. In wollt sein, für die systematische und effiziente
der Daimler-Forschung ist eine Prüfmethodik ent- Überprüfung der Einhaltung von Spezifikatio-
wickelt worden, mit der Assistenzsysteme präzise, nen, für den objektiven Vergleich verschiedener
8 reproduzierbar und sicher erprobt werden können. Systemvarianten oder gar die Durchführung von
Zur Erprobung und Absicherung dieser Sys- sicherheitskritischen Manövern ist eine höhere
9 teme verbleibt trotz der immer stärker zunehmen- Präzision und eine exakte Reproduzierbarkeit der
den virtuellen Entwicklungsmethoden (s. ▶ Kap. 8) Versuche notwendig.
10 ein nicht unerheblicher Bedarf an realen Versuchen Für konkrete einzelne Assistenzsysteme sind Er-
am Gesamtsystem in einer realen Umgebung. Die probungsmethoden entwickelt worden, die die Ver-
quantitative Absicherung erfordert dabei die Über- gleichbarkeit sicherstellen ([2, 3]) bzw. die Genau-
11 streichung eines weiten Parameterraumes: Eine He- igkeit und Wiederholbarkeit verbessern ([4, 5]; s.
rausforderung bei der Erprobung dieser Systeme ist ▶ Kap. 13); auch innovative Ansätze zur Reduktion
12 es, diesen einerseits möglichst vollständig und an- der Gefährdung von Fahrern wurden umgesetzt [6].
dererseits effizient abzudecken. Eine Analyse der generellen Anwendbarkeit auf mit
Im Vergleich zur Erprobung von fahrdynami- kommenden Assistenzsystemen zu adressierende
13 schen Regelsystemen, die auf fahrzeuginterne Zu- Unfallarten zeigte aber, dass einige Aufgabenstel-
standsgrößen reagieren, erfordert die Erprobung lungen ungelöst blieben. Es ergab sich somit die
14 von Assistenzsystemen die zusätzliche Berücksich- Aufgabe, ein Erprobungssystem zu konzipieren, mit
tigung von Zustandsgrößen außerhalb des Fahr- dem auch potenziell gefährliche Manöver mehrerer
15 zeugs. So spielt z. B. die relative Lage des Fahrzeugs Fahrzeuge präzise, koordiniert und sicher durchge-
zu den Fahrstreifenmarkierungen eine bedeutende führt werden können [7].
Rolle bei Fahrstreifenverlassenswarnsystemen. Die Durch die Automatisierung und eine damit
16 relative Geschwindigkeit sowie der Abstand von mögliche präzise Koordination von Fahrzeu-
mehreren Fahrzeugen untereinander sind zudem gen sollen konkrete Verbesserungen bei folgen-
17 maßgebend für adaptive Geschwindigkeitsregelsys- den Fahrmanöver-Kategorien erzielt werden
teme (ACC). Warnen die Systeme nicht nur, son- (s.. Abb. 14.1):
dern greifen sie verstärkend oder gar selbstständig 1. Für menschliche Fahrer schwer reproduzierbar
18 in das Verhalten des Fahrzeugs ein, sind diese Re- zu fahrende Manöver:
gelsysteme umfassend bezüglich einer Vielzahl von Beispiele hierfür sind Einscher- und Ausscher-
19 Fahr- und Umgebungssituationen abzusichern, um manöver bei unterschiedlichen Geschwindig-
spätere Gefährdungen der Fahrzeuginsassen auszu- keiten und Abständen der einzelnen Fahrzeuge.
20 schließen und eine Zertifizierung der Systeme zu 2. Risikoreiche Manöver mit Sachschäden bei
erlangen [1]. schon kleinen Parameter-Schwankungen:
14.2 • Anforderungen an Präzision und Reproduzierbarkeit
209 14
.. Abb. 14.1 Manöver-Kategorien mit Verbesserungen durch automatisiertes Fahren (Quelle: Daimler AG)
Beispiele sind knappe Vorbeifahrten, insbe- Landstraßen) als Referenz herangezogen werden.
sondere zur Einstellung und Absicherung der Das Vorbeifahren an einem Hindernis sollte deswe-
Grenze zwischen gezielt ausbleibendem und gen mit einem Abstand von höchstens 20 cm mög-
gewolltem Eingriff von Kollisionsvermeidungs- lich sein. Für die Spurtreue eines Fahrzeugs ergibt
systemen. sich daraus die Forderung, eine vorgegebene Spur
3. Gefährliche, mit menschlichen Fahrern nicht mit einer Toleranz von +/−10 cm einzuhalten.
verantwortbare Manöver: Die longitudinale Genauigkeitsforderung ist ge-
Beispiele sind Fahrzeuge auf Kollisionskurs mit schwindigkeitsabhängig und damit deutlich schwie-
hohen Differenzgeschwindigkeiten, bei kreu- riger allgemein festzulegen. Für die Spezifikation
zenden Fahrzeugen aber auch schon bei relativ des Erprobungssystems wurde das reproduzierbare
niedrigen Geschwindigkeiten. Erreichen eines Wegpunktes innerhalb eines Zeit-
fensters von +/−20 ms festgelegt. Dies entspricht
zu festgelegten Zeitpunkten der Einhaltung von
14.2 Anforderungen an Präzision Wegpunkten mit einer Genauigkeit von beispiels-
und Reproduzierbarkeit weise 40 cm bei einer Geschwindigkeit von 20 m/s
(72 km/h).
Aus der Analyse der zu erprobenden Assistenz- Durch Einhaltung dieser Spezifikationen lassen
funktionen leiten sich die Spezifikationen für die sich für ein Fahrzeug reproduzierbare Bahnverläufe
zu fordernde Genauigkeit des Erprobungssystems und Fahrgeschwindigkeiten realisieren. Bei der
ab. Dabei ist zwischen der lateralen Genauigkeit Koordination mehrerer Fahrzeuge ist ihre zeitliche
und der longitudinalen Genauigkeit zu unterschei- Koordination essenziell. Eine gemeinsame Zeitbasis
den. Für die zu fordernde laterale Genauigkeit kann mit einer Toleranz in der Größenordnung von 1 ms
die Breite einer Fahrstreifenmarkierung (16 cm auf ist deswegen notwendig.
210 Kapitel 14 • Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen
.. Abb. 14.2 Roboter
1 steuern Gas, Bremse und
Lenkung im Erprobungs-
fahrzeug (Quelle: Daimler
2 AG)
3
4
5
6
7
14.3 Technische Umsetzung die genannten Daten mit einer Wiederholrate von
100 Hz an die Roboter-Steuerung überträgt. Mit den
8 Als flexible Lösung für diese Aufgabe wurde in Zu- Korrekturdaten, die eine lokale GPS-Basisstation im
sammenarbeit mit der Firma Anthony Best Dyna- Abstand von 1 s an das INS per Funk sendet, wird
9 mics Ltd. ein System entwickelt, das folgenderma- die zeitliche Drift des Systems ständig korrigiert,
ßen aufgebaut ist (s. [8]; ähnliche Lösungen gibt es wodurch eine Messgenauigkeit der Fahrzeugposi-
10 mittlerweile auch von anderen Herstellern): tion von typischerweise ± 2 cm bei Messraten von
bis zu 100 Hz erreicht wird. Auch bei Ausfall des
GPS-Signals bleibt durch die hochgenauen Inertial-
11 14.3.1 Im Fahrzeug: sensoren die Fahrzeugposition für ca. 30 s mit einer
Lenk- und Pedalroboter, Genauigkeit von besser als 10 cm verfügbar, was
12 Positionsmessung, beispielsweise eine problemlose Durchfahrt unter
Safety-Controller, Brücken ohne GPS-Empfang ermöglicht.
Notbremseinrichtung Neben der Position liefert das Differential-GPS
13 auch ein hochgenaues Zeitreferenzsignal. Dieses Si-
Als Ersatz für den Fahrer werden in die zu erpro- gnal steht auf allen Fahrzeugen gleichermaßen zur
14 benden Fahrzeuge Aktoren eingebaut, die Fahr- Verfügung und wird für die Synchronisation der Ein-
pedal, Bremspedal und Lenkung analog zu einem zelmanöver genutzt. Insbesondere werden die Ma-
15 menschlichen Fahrer bedienen (s.. Abb. 14.2): Sol- növer aller Fahrzeuge auf dieser Basis zur gleichen
che Roboter sind schon seit einiger Zeit im Einsatz, Zeit bzw. mit einem definierten Zeitversatz gestartet.
um Fahrzeuge auf Rollenprüfständen in Fahrzyklen Die Fahrmanöver werden von einem Echtzeit-
16 zu betreiben (Pedalroboter) oder um bei Fahrdy- rechner, der sich ebenfalls im Fahrzeug befindet,
namikuntersuchungen reproduzierbar komplexe geregelt und überwacht. Beim Betrieb der Roboter-
17 Lenkmanöver (Lenkroboter) zu steuern. fahrzeuge mit Fahrer erfolgt die Bedienung des Sys-
Für eine präzise Regelung der Fahrzeugbewe- tems über einen mit dem Echtzeitrechner verbun-
gung mit der Vorgabe, dass sich ein Fahrzeug zu denen Tablet-PC, auf dem die zu fahrenden Kurse
18 einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten sowie die individuellen Reglereinstellungen für das
Ort mit definierter Geschwindigkeit und Fahrtrich- Fahrzeug gespeichert sind.
19 tung befinden soll, ist die Messung dieser Größen Für den unbemannten Betrieb der Fahrzeuge
von essenzieller Bedeutung. Hierzu kommt ein kommt ein zusätzlicher Safety-Controller zum
20 inertiales Navigationssystem (INS) zum Einsatz, Einsatz, der die ordnungsgemäße Funktion aller
das durch ein Differential-GPS gestützt wird und Komponenten im Fahrzeug sowie die Positionsre-
14.3 • Technische Umsetzung
211 14
1
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5
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10
11
12
.. Abb. 14.4 Konzept des selbstfahrenden Soft-Crash-Targets (Quelle: Daimler AG)
19
- eine dreidimensionale Struktur aufweisen,
ein visuelles Erscheinungsbild aus allen Rich-
Das Crash-Target weist rundherum deformier-
bare Luftkissen auf, die durch einen aufgeblasenen
bunden (s. . Abb. 14.5). Durch diese Konstruktion res Risiko eines Schadens bei einem Crash, kann
zeigen die Kissen bei Kollisionen eine Dämpfercha- das Konzept des selbstfahrenden, überfahrbaren
rakteristik und bauen die Differenzgeschwindigkeit Target-Trägers eingesetzt werden. Dieses Konzept
der Kollision mit einer relativ gleichförmigen Kraft wurde auf Anregung der Daimler AG von der Firma
und mit einer maximalen Knautschzone ab. Auf DSD entwickelt [12], etwa gleichzeitig entstand un-
diese Weise werden die Crashkräfte über die ge- abhängig davon bei der Firma Dynamic Research,
samte Crashdauer möglichst gleichmäßig verteilt Inc. [13, 14] eine sehr ähnliche Lösung.
und damit minimiert. Messungen belegen, dass Der Target-Träger kann bei einer Kollision vom
dies zu deutlich geringeren Crashkräften führt als Systemfahrzeug überfahren werden; ein auf den Trä-
bei einem aufgeblasenen „Balloon-Car“. ger aufgesetztes, leichtes Target wird dann weggesto-
Das selbstfahrende Soft-Crash-Target erlaubt ßen (s. . Abb. 14.6). Hohe Differenzgeschwindigkei-
Erprobungen von realen Systemfahrzeugen mit ten sind insbesondere bei Crashs im Längsverkehr
einem fahrenden Kollisionspartner, der beispiels- zu erwarten. Für solche Manöver ist es ausreichend,
weise auch für Abbiege-Situationen einsetzbar ist. von den beim Soft-Crash-Target eingesetzten vier
Da das Target auf eine fahrzeugähnliche Radarsi- Crash-Kissen nur das Heck- oder Frontkissen auf
gnatur eingestellt wurde und auch das Aussehen den Target-Träger aufzusetzen. Mit diesem Konzept
eines Fahrzeugs hat, ist es für radar- und kamera wurden Differenzgeschwindigkeiten beim Crash
basierte Assistenzsysteme einsetzbar. Durch die von über 100 km/h ohne Schäden am Systemfahr-
freie Programmierbarkeit der Trajektorien und das zeug durchgeführt. Der überfahrbare Target-Träger
rundum fahrzeugäquivalente Erscheinungsbild ist kann auch als Träger für Fußgänger- oder Fahr-
es für Erprobungen in allen denkbaren Verkehrss- rad-Dummys verwendet werden, vgl. ▶ Kap. 11.
zenarien nutzbar. Differenzgeschwindigkeiten beim Aufgrund der niedrigen Bauhöhe sind die Bo-
Crash von bis zu 50 km/h in Längsrichtung und denfreiheit und die Fahrleistung eines überfahr-
30 km/h in Querrichtung sind damit ohne Schä- baren Target-Trägers beschränkt. Der Einsatz ist
den für das Systemfahrzeug realisierbar. Die Steu- diesbezüglich deshalb nicht so flexibel wie beim
erungselektronik für das Fahrzeug und das Target Soft-Crash-Target. Da zudem der Target-Träger
ist crashtauglich aufgebaut und getestet. zwar überfahren werden kann, aber beispielsweise
nicht seitlich unter ein anderes Fahrzeug herun-
terfahren kann, kommt der genauen Koordination
14.5.2 Überfahrbarer Target-Träger des Target-Trägers eine besondere Bedeutung zu.
Insbesondere beim Einsatz des Target-Trägers in
Erfordern die Untersuchungen noch höhere Dif- Verbindung mit von Menschen gefahrenen queren-
ferenzgeschwindigkeiten oder ein noch geringe- den Versuchsfahrzeugen ist eine Korrektur des
216 Kapitel 14 • Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen
.. Abb. 14.6 Überfahr-
1 barer selbstfahrender Tar-
get-Träger mit Heck-Target
(Quelle: Daimler AG)
2
3
4
5
6
7
8
Timing-Fehlers, den der menschliche Fahrer fast sen darf. Dazu müssen Fahrzeuge u. a. mit bis zu
9 zwangsläufig macht, für die Einhaltung des genauen 70 km/h über Rampen springen, Bordsteinkanten
Kollisionspunktes relevant und muss in der Steue- bei einer Vollbremsung überfahren oder simulierte
10 rung vorgesehen werden. Wildschweine rammen. Auch bei Schlechtweg-Er-
probungen zur Absicherung der Betriebsfestigkeit
der Fahrzeuge erleben sowohl Fahrzeug als auch
11 14.6 Beispiele für automatisierte Testfahrer extreme Belastungen. Diese Manöver
Fahrmanöver können nun mit den Roboter-Fahrzeugen automa-
12 tisiert gefahren werden – die Testfahrer werden von
14.6.1 Fahrerlose Manöver einzelner diesen Belastungen verschont.
Fahrzeuge
13
Automatisierte Fahrmanöver finden schon für Er- 14.6.2 Koordinierte Manöver
14 probungen mit einzelnen Fahrzeugen sinnvolle An- mit mehreren fahrerlosen
wendungen: Fahrzeugen
15 Kreis- und Kurvenfahrten: Bestimmte Assis-
tenzsysteme werden beispielsweise bei Erreichen Bei Erprobungen mit mehreren beteiligten Fahr-
einer spezifizierten Querbeschleunigung aktiviert. zeugen kommen die Vorteile des „koordinierten
16 Ein automatisiert gefahrenes Manöver mit festge- automatisierten Fahrens“ umfassend zur Geltung.
legter Geschwindigkeit und Bahnradius kann diese Ein großer Anteil der Erprobung von kollisionsver-
17 Querbeschleunigung höchst reproduzierbar und meidenden oder kollisionsmindernden Systemen
z. B. mit kontinuierlicher Steigerungsrate einstellen. entfällt auf die Absicherung von Situationen ähnlich
Die Durchführung solcher Manöver ist deutlich ef- dem eigentlichen Unfallszenario, in denen aber eine
18 fizienter als mit menschlichen Fahrern. Auslösung des Notbremssystems sicher vermieden
Misuse- und Schlechtweg-Erprobung: Die Absi- werden muss. Für solche Situationen sind meist
19 cherung von Insassenschutzsystemen erfordert die knappe Vorbeifahrten, z. B. mit einem Ausweichen
Erprobung von Situationen mit hoher Längs- und im letzten Moment, durchzuführen.
20 Vertikalbeschleunigung, bei denen die Airbag-Sen- Mit robotergesteuerten Fahrzeugen können
sorik nur unter bestimmten Bedingungen auslö- diese Versuche präzise, reproduzierbar und ge-
14.6 • Beispiele für automatisierte Fahrmanöver
217 14
fahrlos für Testfahrer und Material durchgeführt 14.6.3 Manöver mit Fahrer,
werden. Parameter wie Anfahrgeschwindigkeit, mit getriggerten
kleinster Abstand, Kurswinkel, etc. können leicht beziehungsweise
eingestellt werden. Eine neue Software-Version des synchronisierten Targets
Assistenzsystems oder eine neue Sensorvariante
kann mit exakt den gleichen Manövern erprobt Eine Erprobungsvariante mit koordinierten Fahr-
werden, so dass ein reproduzierbares und aussage- zeugen ist, dass nicht das gesamte Manöver vollau-
kräftiges Erprobungsergebnis erzielt wird. tomatisch mit Fahrrobotern gefahren wird, sondern
„Königsdisziplin“ für die Koordination von nur ein bestimmtes Teilmanöver, das nach einem
Fahrzeugen ist die knappe Vorbeifahrt im Kreu- Trigger-Zeitpunkt eine präzise Steuerung benötigt.
zungsverkehr (in Mercedes-Fahrzeugen mit Intel- Dieses bietet sich insbesondere an für Versuche
ligent Drive ist seit 2013 ein Assistenzsystem zur mit crashbaren Targets, die ein kritisches Manö-
Vermeidung von Unfällen mit querenden Fahr- ver ausführen, aber das Systemfahrzeug von einem
zeugen in Serie). Beim Kreuzungsverkehr werden menschlichen Fahrer gefahren wird. Dazu benö-
die höchsten Anforderungen an räumliche und tigt man im Systemfahrzeug keine Ausstattung mit
zeitliche Präzision gestellt (im Vergleich dazu sind Fahrrobotern, sondern nur die genaue Positions-
Situationen im Längsverkehr, also mit Überholern messung und eine Datenkommunikation mit dem
oder Gegenverkehr, oft allein durch räumliche Prä- anderen Fahrzeug bzw. dem Leitstand. Abhängig
zision beherrschbar). Zudem sind bei fehlerhafter von der relativen Position oder anderen Trigger-Be-
Ausführung des Manövers die Schäden groß; aus dingungen des Systemfahrzeugs wird beispielsweise
Gründen der Arbeitssicherheit werden solch knap- ein Fahrstreifenwechselmanöver des Crash-Targets
pen, schnellen Vorbeifahrten mit menschlichen initiiert, das ansonsten automatisiert eine Trajekto-
Fahrern nicht durchgeführt. Mit koordinierten au- rie abfährt, s. . Abb. 14.8.
tomatisierten Fahrzeugen konnten querende Kreu- Auf diese Weise kann ein selbstfahrendes
zungsfahrten mit bis zu 70 km/h und minimalen Crash-Target mit sehr geringem Planungsaufwand
Abständen von unter einem Meter sicher gefahren für präzise und wiederholbare Manöver eingesetzt
werden, s. . Abb. 14.7. werden.
218 Kapitel 14 • Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 .. Abb. 14.8 Einschermanöver mit koordiniertem Fahrzeug und Target (Quelle: Daimler AG)
Sensorik für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 15 Fahrdynamiksensoren für FAS – 223
Matthias Mörbe
Kapitel 16 Ultraschallsensorik – 243
Martin Noll, Peter Rapps
Kapitel 17 Radarsensorik – 259
Hermann Winner
Kapitel 18 LIDAR-Sensorik – 317
Heinrich Gotzig, Georg Geduld
Kapitel 20 Kamera-Hardware – 347
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen,
Nicolaj Stache, Maximilian Höpfl
Kapitel 22 Stereosehen – 395
Uwe Franke, Stefan Gehrig
15.1 Einleitung – 224
15.2 Allgemeine Auswahlkriterien – 224
15.3 Technische Sensorkenndaten für
Fahrerassistenzsysteme – 228
Literatur – 240
11
wendigste reduziert werden.
Die Auswahl eines Sensors für ein System glie-
--
zeug gliedern sich in vier Hauptgebiete:
Systemanforderungen
12
-
dert sich in zwei Hauptaspekte:
allgemeine Auswahlkriterien, die für jeden
--
Einbauanforderungen/Geometrie
Umweltanforderungen
13 - Sensor gelten
technische Daten für die gesuchte Funktion.
betrachtet wird. Die auftretenden Schwingungen Neben der genannten Vielfältigkeit an Rand-
1 sind sowohl im Frequenzspektrum als auch in den bedingungen des Einbauortes ist die Änderung
Amplituden und Resonanzüberhöhungen abhängig des Fahrzeugs in seinem Entwicklungsablauf zu
2 von der Dynamik der Fahrbedingung. Aber auch nennen. Zum Zeitpunkt der System- und damit
die Handhabung des Fahrzeugs selbst spiegelt sich Sensorentscheidung existiert in der Regel nur ein
in diesem Profil wider. Eine nicht vollständige Liste getarnter Prototyp des Fahrzeugs auf der Basis eines
3 ohne Priorität in der Bedeutung soll verdeutlichen, Vorgängermodells. Für den sicheren Betrieb eines
worauf geachtet werden muss. Sensors sind aber insbesondere die Karosserie- oder
4 Achseneigenschaften der Serienausführung von Be-
5 -
Störungen am Sensoreinbauort:
Luftspaltänderungen am Raddrehzahlsensor
deutung. Eine Auflistung der Einflussfaktoren soll
zeigen, worauf in der Einbauortbewertung zu ach-
--
6 Vibrationen durch Betätigung der Hand- Faktoren zur Bewertung des Einbauortes:
7 -- bremse
Stöße durch Sitzverstellungen
Blechstärken
Sicken, Vertiefung, Spannungszonen von
-
Impulse durch Wasserdurchfahrt bei hohen
Geschwindigkeiten
- Stanz-/Biegeteilen
Massen von weiteren Befestigungs- oder An-
--
8 Überfahren von Fahrbahnbegrenzungen auf bauteilen, z. B. Sitzen
9
-- Rennstrecken
Impulse durch Steinschlag auf Schotterpisten
Schwallwasser im Motorraum bei Wasser-
Durchbrüche
--
Teppiche und Dämmmaterial
Achsabstände und Ausbauvarianten
10
- durchfahrten
Stöße und Schläge durch Werkzeuge in der
--
Zweitürer/Viertürer/Kombiausführungen
Automatik-/Schaltgetriebeausführungen
11
- Fahrzeugmontage
Fahrbahnunebenheiten bei verschiedenen
--
Rechts-/Linkslenkerausführungen
Radlagerauswahl
12
- Fahrmanövern
Fahrbahnoberflächen und Reifeneigenschaf-
--
Achsaufhängungen
Feder-/Dämpferabstimmung des Fahrwerks
- ten,
Stöße/Schläge durch unbefestigte Gegenstände
-
Motorvarianten
Motorvibrationen bei Motorrädern
--
13 im Fußraum
Rechts-/Linkslenkerausführungen Besondere Beachtung ist auch den Anwendungen
14 Zusätzlich eingebaute Audioanlagen hoher von Sensoren zu schenken, bei denen der Fahr-
15 -Leistung
Ablage von Mobiltelefonen an nicht dafür
zeughersteller ein Gleichteilekonzept für mehrere
Plattformen verwirklicht. Die Verantwortung für
16 -vorgesehenen Orten
Temporäre magnetische Fremdfelder
tem auf die Funktion ableiten, und die Anforderun- die Herstellprozesse der verwendeten Bauelemente
gen für die verwendeten Materialien. und Baugruppen erforderlich.
Die Systeme werden in Zukunft nach einer Si- Das Materialdatenblatt muss ein fester Bestand-
cherheitsnorm aus der ISO 26262 eingestuft. Dar- teil eines jeden Angebots einer Sensorkomponente
aus ergeben sich für die Sensoren in den Wirkketten sein. Die Ermittlung der Daten erfolgt mit aufwen-
ebenfalls Anforderungen, die sowohl die Technik digen Verfahren und bestimmt eine Zuliefereraus-
als auch den Entwicklungsprozess betreffen. Diese wahl mit.
Norm ist als ISO 26262 für Kraftfahrzeuge spezi-
fisch angepasst. 15.2.1.4 Umweltanforderungen
Durch die Mehrfachnutzung der Sensorsig- Unter diesem Begriff werden alle klimatischen und
nale von verschiedenen Systemen können sich dynamischen Anforderungen verstanden, die sich
auch Verschiebungen in Sicherheitsforderungen aus dem Betrieb im Kraftfahrzeug ergeben.
ergeben. Wird z. B. ein Lenkradwinkelsensor oder Die ISO-Norm 16750 und die Fahrzeugher-
ein Drehratensensor nicht nur vom ESP-System steller beschreiben in ihren Lastenheften, welche
genutzt, sondern von einer Überlagerungslen- Belastungen für den Sensor am Einbauort gelten.
kung oder einer Hinterachslenkung, steigt der Si- Das Ziel ist es, für die gesamte Betriebs- und Le-
cherheitsanspruch an die Signale dieser Sensoren. benszeit der Systeme einen fehlerfreien Betrieb zu
Dies kann dazu führen, dass die gesamte Signal- gewährleisten. In der Prüfung dieser Lastenhefte
verarbeitung im Sensor redundant erfolgen muss. und der Konvertierung in eine elektronische Schal-
Wenn diese Lenksysteme nicht in einer 100 %-Aus- tung, einer Bauelementeauswahl und elektromecha-
stattung vorgesehen werden, ist eine vereinfachte nischen Konstruktion liegt der höchste Anspruch
kostengünstigere Variante ohne Redundanz für die an den Entwickler. Die Erfüllung jedes Parameters
Baureihe des Fahrzeugs erforderlich. unter allen Bedingungen ist wirtschaftlich nicht
Unter dem Oberbegriff „umweltgerechtes De- vertretbar und auch technisch nicht sinnvoll. Der
sign“ werden die Stoffe mit Risikopotenzial in der Entwickler muss jeden Parameter in realen Bezug
Anwendung der Kraftfahrzeugtechnik zunehmend zum Betrieb des Fahrzeugs stellen. Dabei gelten alle
eingeschränkt oder ganz verboten. Der Hersteller Wechselwirkungen des Einbauortes mit seinen Um-
von Komponenten und seine Lieferanten müssen in weltbedingungen.
Materialdatenblättern gewährleisten, welche Stoffe Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Für einen
und welche Mengen in der Komponente enthalten Raddrehzahlsensor gilt eine maximale Temperatur.
sind. Auch Hilfsstoffe bei der Verarbeitung fallen Dieser Wert wird durch extreme Bremsentempera-
unter diese Regel, sofern die darin enthaltenen turen erzeugt und steigt sogar im Stillstand, in der
Stoffe später auch in dem gelieferten Produkt ent- Nachheizphase, noch an. Ein Temperaturschock
halten sind. kann entstehen, wenn danach eine Durchfahrt durch
Dabei ist es unerheblich, ob die nicht mehr zu- Schmutzwasser erfolgt, wobei dieses Schmutzwasser
gelassenen Stoffe sich so verteilen bzw. verdünnen, zudem noch mit Auftausalzen versetzt sein kann.
dass sie im gelieferten Produkt unter die Nachweis- Wurde diese Bedingung in einem Labortest nicht
grenze fallen. Da die Normen einer jährlichen Än- nachgestellt, sind etliche Randbedingungen nicht
derung unterliegen, muss vor dem in Verkehr Brin- vollständig abgedeckt. Der Sensorkopf ist in einem
gen der Produkte überprüft werden, ob die neuen Achsträger eingebaut und damit vor der Strah-
Gesetze dies noch zulassen. Die Nachweispflicht lungswärme der Bremsscheibe geschützt. Die große
über Schadstofffreiheit liegt beim Lieferanten. Es Masse des Achsträgers erlaubt nur eine langsame
gibt besondere Regelungen z. B. hinsichtlich der Änderung der Temperatur durch seine Wärmeka-
Ersatzteile für ältere Fahrzeuge. pazität. Dies gilt in beiden Richtungen. Ob eine Be-
Für die Prüfung, ob die Anforderungen aus ge- netzung des Sensorkopfes mit Schmutzwasser bei
setzlichen Regelungen und Normen erfüllt werden, der Durchfahrt überhaupt erfolgt, hängt davon ab,
ist sowohl systemübergreifende Kenntnis des Ge- wie der Sensor an der Achse platziert ist. Es bleibt
samtfahrzeugs als auch tiefgehendes Wissen über zum Schluss noch die Frage der Häufigkeit dieses
228 Kapitel 15 • Fahrdynamiksensoren für FAS
Manövers: Wie viele Fahrzeuge werden unter die- international einheitlich definiert, siehe . Abb. 15.2.
1 sen Bedingungen betrieben, und wie häufig erfolgt Damit wird erreicht, dass die Beschriftungen der
eine solche Extrembremsung? Auf eine zahlenmä- Sensoren und die Definition der Parameter nicht
2 ßige Detaillierung wurde in diesem Beispiel bewusst zu unterschiedlichen Bewertungen führen.
verzichtet, weil nur die Komplexität der Zusammen-
hänge angedeutet werden sollte. 15.3.1.1 Raddrehzahl
3 Sonderfälle sind fehlende Abdeckungen, Schä- Für alle Fahrdynamiksysteme ist die Radbewegung
den an Kabeln und Steckerverbindungen, Anzugs- die Größe, mit der Radgeschwindigkeit, Radbe-
4 moment von Schrauben nicht nach Vorgabe, Ersatz- schleunigung und Raddrehrichtung bestimmt wer-
teile mit anderen Spezifikationen und der Einsatz den. Hieraus wird der Reibwert oder Radschlupf
5 im Motorsport. bestimmt und auch die Fahrzeuggeschwindigkeit
errechnet. Die Differenzgeschwindigkeit zwischen
Vorder- und Hinterrad bei Zweirädern ist eine Re-
6 15.2.2 Kommerzielle Ebene gelgröße der Traktionskontrolle. Die Dynamik der
Radbewegung ist die wichtigste Größe zur Regelung
7 In den Liefervereinbarungen wird auf Basis einer der Fahrzeugverzögerung und der Fahrstabilität auf
technischen Dokumentation und eines Zeichnungs- allen Fahrbahnen.
satzes von der Erfüllung aller Anforderungen an die
8 Funktion auf der Technikebene ausgegangen. 15.3.1.2 Lenkradwinkel
Abweichungen sind in Abweichlisten zu doku- Für die Regelung der Fahrzeugstabilität ist der
9 mentieren. Die Abweichungen werden üblicher- Lenkradwinkel als Eingangsinformation des Fah-
weise für eine Baureihe, eine Menge oder einen rerwunsches die Messgröße, auf die alle Fahrdyna-
10 Zeitraum vereinbart. mikmesswerte bezogen und plausibilisiert werden.
Es wird nicht der Lenkwinkel am Rad gemessen.
11
--
Die Hauptthemen auf dieser Ebene sind:
Qualität 15.3.1.3 Drehratensignal
12
--
Liefermengen
internationale Lieferungen
Die Drehbewegungen in allen drei Raumachsen
werden gemessen, um die Dynamik des Fahrzeug-
13 --
Nachlieferung
Verpackung
Änderungswesen.
körpers zu bestimmen. Für ESP-Systeme wird die
Bewegung um die z-Achse gemessen, für Überschla-
gerkennung die Rollbewegung um die x-Achse und
für Fahrwerkregelung die Nickbewegung um die
14 Die Konstruktion und die ausgewählten Technolo- y-Achse.
gien bestimmen die auf dieser Ebene abgeschlos-
15.3.1.4 Beschleunigungssensoren
15 senen Vertragsinhalte wesentlich. Der Entwickler
muss mit dem Einkauf des Kunden die besonderen Zur Erfassung der Beschleunigung und Verzö-
Randbedingungen identifizieren und Vereinbarun- gerung dient der x-Sensor. Damit können auch
16 gen festschreiben. statische Hangabtriebskräfte erfasst werden. Der
Beschleunigungssensor in der y-Achse misst die
17 radiale Beschleunigung in der Kreisfahrt und dient
15.3 Technische Sensorkenndaten statisch zur Messung von Fahrbahnneigungen. Be-
für Fahrerassistenzsysteme schleunigungssensoren in der z-Achse werden zur
18 Erfassung der Fahrzeugaufbaubewegung in Fahr-
15.3.1 Sensoren und Einbauorte werkregelsystemen verwendet.
19
Hauptfunktionen der Signale in den Systemen: Die 15.3.1.5 Bremsdrucksensoren
20 Kennzeichnung der Hauptachsen in Fahrtrichtung Zur Erfassung des vom Fahrer eingesteuerten
als x, Querrichtung als y und Hochachse als z ist Bremskraftwunsches wird der Druck im Haupt-
15.3 • Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
229 15
YRS – Drehrate- u.
Beschleunigungs-
sensor (DRS)
SAS – Lenkradwinkel-
sensor (LWS) Y
X WSS – Raddrehzahl-
sensor (DF)
PS – Bremsdruck-
sensor (DS) TSS – Drehmoment-
sensor (TSS)
.. Abb. 15.3 Raddrehzahl-
1 sensoren
Sensorelement
2
Magnet
Magnet SSN
3 Sensorelement
4
S N
5 N S
Sensorelement
S N
6 N S
7 magnetisierte
Dichtung
8 Die technischen Daten der Raddrehzahlsensoren kleinen Flankenjitter ausgegeben werden. Dieser
9
10
--
beziehen sich auf folgende Teile:
Sensorkopf
Elektrische Leitung einschließlich Tüllen,
Befestigungselementen und einem Stecker
Jitter entsteht aus mechanischen Nebeneffekten in
den Radaufhängungen und dem thermischen Rau-
schen im Analogteil des Sensorelements, sowie der
analog/digital Umsetzung im Auswerteschaltkreis.
--
11 Zonen aufgeteilt: Raddrehzahlsensor
Sensorzone Lagerzeit
12 Kabelzone
Kriterium Wert
Raddrehzahlsensoren werden auch als Drehzahl-
13 fühler bezeichnet. Die genaue Lage der einzelnen
Ab Fertigungsdatum 10 Jahre
Nenndruck
Reifen mit
Druckverlust
Frequenz [Hz]
1
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Abb. 15.5 Mögliche Einbauposition des Lenkradwinkelsensors
15.3.3 Lenkradwinkelsensoren
10 kurzgeschlossenen Steckerpins wird die Prüfspan-
nung für die Zeit der Prüfdauer angelegt. Der Ste-
ckerbereich befindet sich außerhalb der Sole. Eine weitverbreitete Bauform eines Lenkradwinkel-
11 sensors ist in . Abb. 15.5 dargestellt.
Prüfbedingung Wert Als kontaktloses Messprinzip, das eine Abso-
12 Prüfspannung 400 V DC
lutmessung gewährleistet, wird die CVH (Circular
Vertical Hall) oder GMR (Giant Magneto Resistive)
Prüfdauer 2s eingesetzt.
13 Prüfkriterium im Neuzu- ≥ 100 MΩ Die Erfassung des absoluten Winkels wird
stand (RIsol) mittels zweier Messzahnräder erreicht, die ein
14 Prüfkriterium über die ≥ 5 MΩ um zwei Zähne unterschiedliches Übersetzungs-
Lebensdauer (RIsol) verhältnis zur Nabe an der Lenksäule haben. Die
15 Breitbandrauschprüfung
Messzahnräder tragen Magnete, die in den gegen-
überliegenden angeordneten GMR-Elementen eine
dem Winkel proportionale Widerstandsänderung
16 Prüfbedingung Wert bewirken. Die Analogspannungen werden digita-
lisiert, und der phasenverschobene Spannungs-
Prüfbedingungen gemäß IEC 68–2-34
17 Festlegung der Hauptach- Kundendefinition
verlauf erlaubt über das Noniusprinzip eine ein-
deutige Zuordnung der Neubauposition innerhalb
sen
von z. B. drei Umdrehungen nach links oder rechts.
18 Prüfaufnahme Kundendefinition Die Zählweise geht von der Mittelposition, also der
Geradeausfahrt aus. Als Systemschnittstelle wird
19 Die Leitung wird im Abstand von 50 … 120 mm aus Systemsicherheitsbetrachtungen eine CAN-
vom DF-Kopf mit dem ersten Befestigungspunkt Schnittstelle verwendet. Über diese Schnittstelle
20 (Tülle, Blech) am mitschwingenden Teil der Prüf- kann auch die errechnete Lenkwinkelgeschwin-
aufnahme befestigt. digkeit übertragen werden. Durch eine mathema-
15.3 • Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
233 15
360°
Messzahnrad mit
Nabe mit n Zähnen,
Lenkwinkel Winkel
Messzahnrad
mit n+2 Zähnen,
Winkel 360°
360
Zahnradwinkel und [°]
360 720 1080 1420
Absoluter Lenkwinkel °
Nichtlinearität Drehmoment
1 Für alle Komponenten in Lenksystemen ist das zu
Funktion Wert addierende Drehmoment von großer Bedeutung.
2 Winkel (über Messbereich) –2,0° … +2,0°
Werden hohe Momente erzeugt, ist das Rückstell-
moment in die Geradeausfahrt über die Lenkgeo-
metrie nicht ausreichend.
3 Hysterese
Nullpunkt Wiederholgenauigkeit
4 Funktion Wert
Funktion Wert
Winkel (über Messbereich) 0° … 4°
5 Drehmoment (Durchschnitt ≤ 6 Ncm
über Messbereich)
Nullabgleich
6 Die Offset-Kalibrierung des Nullpunkts erfolgt
Temperatur +23 °C
über das CAN Interface, während das Lenkrad und Drehgeschwindigkeit 50 °/s ± 10 °/s
Power-IC
Sensor element Sensor element
5V
UBatt Supply Buffer Voltage z ax,, ay x az,, ay
Rev. Polarity Diode Regulator
GND 5V
ASIC ASIC
Window
CANH
Watchdog
CAN Choke µC CAN SPI µC CAN SPI
CANL
SPI
Micro-
Quartz
controller
(flash)
TxD
CAN_H CAN Master
Transceiver
CAN_L RxD
.. Abb. 15.7 Blockschaltbild eines mehrachsigen Inertialsensors für Motorräder mit CAN-Schnittstelle [11]
.. Abb. 15.8 Drehraten- thermo-
1 messelement in Mikro- Coriolis
Beschleunigung
+ mechanisches
Rauschen
mechanik Blockschaltbild Synchronisations-
Signalauswertung mit demodulation
2 Störgrößen
Dreh-
C/V + TP
rate
3 elektrisches
Rauschen
4 C/V +
PLL
AGC
5 Antriebskreis Detektionskreis
6 den Sensor in einer kurzen Zeit simulieren. Eine ge- nem Fahrzeug tatsächlich auftretenden Beschleuni-
nerelle Beschleunigungsprüfung zur Überprüfung gungen sind nicht konstant und variieren bezüglich
7 der Funktion kann nicht definiert werden. Die in ei- Zeit, Frequenz, Temperatur und Amplitude.
Funktionsdaten
8 Drehrate
14 bei Joperation)
Auflösung, absolut (Quantisierung) 0,1 °/s
15
Zeit bis Verfügbarkeit 0,75 1 s
Querempfindlichkeit –5 ±2,0 +5 %
Filtereckfrequenz (–3 dB) 15 Hz
16 Ausgangsrauschen 0,05 0,2 °/srms
Beschleunigungsempfindlichkeit –0,25 +0,25 °/s/g
17
18
19
20
15.3 • Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
237 15
Beschleunigungssignal (Längs- und Querbeschleunigung)
Kontaktflächen
1 Gehäuse Steckerkontakt
Verstärkerplatine
2 Dichtung
Gehäuse
3 Feder
Messzelle
Verstärkerplatine
4 Dichtung
Distanzring MID Träger
Messzelle
5 Druckstutzen
Gehäuse
Bondbrücke
6
.. Abb. 15.9 Typischer Aufbau eines Drucksensors im Brems-
Kontakt-
7
regelsystem (Schraubversion)
klebung Druckstutzen
Funktionsdaten
Funktionskennwerte
Untere Abschaltfrequenz 0 0 0 Hz
Nominalfrequenz 100 Hz
15.3.6 Bremspedalwegsensoren
2
1
Für die Messung des Bremspedalweges haben sich
magnetische Verfahren durchgesetzt [15]. In dieser
Anwendung ist eine berührungslose Erfassung der
Änderung und eine hohe Signalsicherheit wich-
tig. Die Änderungen können Drehbewegungen
oder Linearbewegungen sein, abhängig von der
Konstruktion der Bremsbetätigungseinheit, siehe
Bx
. Abb. 15.11. Der bewegte Magnet ist spezifisch an By
Magnet-
den zu messenden Weg in seiner Größe und Form feld IC
Funktionsdaten
1 Bremspedalweg
Spannungsversorgung 5,0 V
3 Stromaufnahme <30 mA
6 Genauigkeit
7
Funktionskennwerte
Bremspedalweg
8
Funktion Wert Einheit
9 Spannungsversorgung 5,0 V
10 Stromaufnahme <30 mA
typ. 30 rotatorisch °
12 Auflösung 10 bit
16 [1] Mörbe, M., von Hörsten, C.: Force and Torque Sensors. In:
[5] Welsch, W.: Intelligente Schnittstellen für Raddrehzahlsen-
soren. In: sensor4car‐Tagung „Sensorsystemtechnik und
Hesse, J., Gardner, J.W., Göpel, W. (Hrsg.) Sensors for Au- Sensortechnologie“, Böblingen, 25.–26. 10. 2006
tomotive Technology, Bd. 4, Wiley‐VCH Verlag, Weinheim
17 (2003)
[6] Golderer, W., et al.: Yaw Rate Sensor in Silicon Micromachi-
ning Technology for Automotive Aplications. In: Ricken,
[2] Mörbe, M., Zwiener, G.: Wheel‐Speed Sensors. In: Hesse, D.E., Gessner, W. (Hrsg.) Advanced Microsystems for Auto-
18 J., Gardner, J.W., Göpel, W. (Hrsg.) Sensors for Automotive
Technology, Bd. 4, Wiley‐VCH Verlag, Weinheim (2003)
motive Applications. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg,
New York (1998)
[3] Walter, K.; Arlt, A.: Drahtlose Sensorik – Anforderungen in [7] Willig, R.; Mörbe, M.: New Generation of Inertial Sensor
19 sicherheitskritischen Fahrdynamiksystemen. In: sensor-
4car‐Tagung „Sensorsystemtechnik und Sensortechnolo-
Cluster for ESP‐ and Future Vehicle Stabilizing Systems in
Automative Applications. SAE Permissions, Warrendale,
gie“, Fellbach, 24.–25. 10. 2007 USA 2003
20 [4] Mörbe, M.: Standardisierung von Sensorschnittstellen
– Chance oder Risiko. In: sensor4car‐Tagung „Sensorsys-
[8] Schier, J., Willig, R., Miekley, K.: Mikromechanische Senso-
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[12] Tille, T. et al.: Sensoren im Automobil V, Haus der Technik
Fachbuch Band 132, Expert Verlag, Renningen (2014)
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[14] Carl Hanser Verlag, München: Kleines Teil, große Wirkung.
In: Form+Werkzeug 5/2011 S. 24, 25
[15] Walter, K.: Erfassung des Fahrerbremswunsches in Hybrid‐
und Elektrofahrzeugen. In: VDI‐Fachkonferenz „Innovative
Bremstechnik“, Stuttgart, 12.–13. 12. 2011
243 16
Ultraschallsensorik
Martin Noll, Peter Rapps
16.1 Einleitung – 244
16.2 Grundlagen der Ultraschallwandlung – 244
16.3 Ultraschallwandler – 246
16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz – 248
16.5 Antennen und Strahlgestaltung – 250
16.6 Entfernungsmessung – 252
16.7 Halter- und Befestigungskonzepte – 255
16.8 Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit – 256
16.9 Zusammenfassung und Ausblick – 257
Literatur – 258
2
3
4
5
6
7
Weitere depolarisierende Mechanismen sind zukoppeln bzw. aus ihr wieder einzukoppeln. Die
8 thermischer, elektrischer und mechanischer Natur. mechanische Deformation der Piezokeramik selbst
Durch Erwärmen baut sich die piezoelektrische reicht dafür nicht aus, weswegen eine mechanische
9 Eigenschaft beschleunigt ab. Oberhalb der Curie- Verstärkung des Effekts erforderlich ist. Dies ge-
temperatur, die bei den gebräuchlichen Materialien schieht bei gebräuchlichen Kfz-Ultraschallabstands-
10 im Kfz-Bereich über 300 °C liegt, verschwindet der sensoren, indem ein piezokeramisches Plättchen
Piezoeffekt vollständig und entsteht auch nach dem flächig auf eine metallische Membran geklebt wird.
Abkühlen erst wieder nach erneuter Polarisation. In Wird zwischen die Elektroden eine Wechselspan-
11 der Praxis gilt die Faustformel, dass die Gebrauchs nung angelegt, so verändert es seinen Durchmesser
temperatur maximal die halbe Curie-Temperatur in und seine Dicke (. Abb. 16.3). Da das Plättchen auf
12 °C betragen darf. eine metallische Membran geklebt ist, übertragen
Auch durch Anlegen eines elektrischen Gleich- sich diese Änderungen in eine Biegeschwingung der
feldes entgegengesetzt zur Polarisationsrichtung Membran, die – wenn sie mit Resonanzfrequenz be-
13 entsteht eine Depolarisation. Gleichermaßen wirkt trieben wird – wesentlich größere Schwingungsam-
eine mechanische Kraft, die entgegengesetzt zur plituden erzeugt.
14 mechanischen Deformation, die während des Pola- In umgekehrter Weise führt eine auftreffende
risierens eingetreten ist, anliegt. Durch die mecha- Schallwelle zu einer Biegeschwingung der Memb-
15 nische Konstruktion des Ultraschallwandlers und ran und damit zu einer Durchmesseränderung des
durch seine elektrische Beschaltung muss sicher piezokeramischen Plättchens. Dadurch entsteht
gestellt werden, dass diese depolarisierenden Wir- zwischen den Elektroden eine elektrische Wechsel-
16 kungen über seiner Lebensdauer vernachlässigbar spannung, die verstärkt und elektrisch weiterver-
klein bleiben. arbeitet wird. Meistens werden Ultraschallwandler
17 sowohl zum Senden als auch zum Empfangen von
Ultraschall eingesetzt.
16.3 Ultraschallwandler Die schwingende Membran muss an ihrem
18 Rand fixiert werden. In der Praxis geschieht dies
Ultraschallwandler, die den Schall in Luft abstrahlen dadurch, dass man die piezokeramische Scheibe
19 bzw. aus der Luft wieder empfangen sollen, sind – auf den Boden eines Aluminium-Töpfchens klebt.
im Unterschied zu Anwendungen in Flüssigkeiten Der Boden wirkt als Membran, die stabilen Seiten-
20 und Festkörpern – auf relativ große Amplituden an- wände des Töpfchens fixieren die Membran außen.
gewiesen, um ausreichend Energie in die Luft aus- Die Schwingung konzentriert sich überwiegend auf
16.3 • Ultraschallwandler
247 16
.. Abb. 16.3 Planare Schwingung einer piezoke-
ramischen Scheibe
-
reduziert, doch die Vorteile sind: 16.3.1 Ersatzschaltbild
Die schädliche Schallabstrahlung ins Sensorin-
2
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7
wenn sich die mechanische Deformation ungehin während für das anschließende Ausklingverhalten
8 dert ausbilden kann. Zur Erhöhung der Bandbreite nochmals ca. 700 µs vergehen.
des Systems wird der Wandler parallel oder seriell
9 abgestimmt. . Abbildung 16.5 zeigt eine Parallelab-
stimmung: Der elektrische Parallelkreis muss auf 16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz
10 dieselbe Resonanzfrequenz abgestimmt sein wie
der mechanische Serienkreis. Die Grundfunktion eines Ultraschall-Einparkhilfe-
Da die Kapazität C0 der Piezokeramik eine aus- systems, die wichtigsten Merkmale der zugehörigen
11 geprägte positive Temperaturabhängigkeit aufweist, Komponenten und deren Zusammenwirken sind
ist es zweckmäßig, diesen Effekt durch eine parallele in [5] beispielhaft beschrieben. Im Folgenden wird
12 Kapazität mit negativer Temperaturabhängigkeit zu auf die Eigenschaften der Sensoren nochmals de-
kompensieren. Damit kann die Resonanzfrequenz taillierter eingegangen, da sie den Kern eines jeden
des elektrischen Kreises temperaturstabil gehalten Systems darstellen sowie Funktion und Qualität des
13 werden. Gesamtsystems grundlegend beeinflussen.
Wird ein Ultraschallwandler im Sende- und
14 Empfangsbetrieb eingesetzt, so ist es für die
Abstands messung zu nahe gelegenen Objekten 16.4.1 Sensorbaugruppen
15 notwendig, dass die Membranschwingung nach
dem aktiven Sendesignal in möglichst kurzer Zeit Die Hauptkomponenten des Sensors bestehen aus
zur Ruhe kommt, um das System möglichst rasch dem akustischen Wandlerelement (analog einer
16 wieder empfangsfähig werden zu lassen. Schnelles Kombination aus Lautsprecher und Mikrofon), der
Ausschwing- bzw. Abklingverhalten ist daher insbe- Elektronik und dem Gehäuse mit Steckverbindung.
17 sondere bei Einparkhilfeanwendungen ein wesent- Ein exemplarischer Aufbau ist in . Abb. 16.6 dar-
liches Qualitäts- und Funktionsmerkmal der dafür gestellt.
eingesetzten Ultraschallsensoren.
18 Umgekehrt ist es im Sendebetrieb von Vorteil, 16.4.1.1 Akustisches Wandlerelement
wenn die mechanische Schwingung der Membran Der akustische Teil des Ultraschallsensors wird
19 nach Anlegen der elektrischen Wechselspannung im Wesentlichen aus einem topfförmigen Alumi-
möglichst rasch aufklingt. Damit sind kürzere Ul- niumkörper gebildet, auf dessen Innenboden die
20 traschallimpulse möglich. Praktische Werte für die Piezokeramikscheibe aufgeklebt ist. Beim Verbau
effektive Sendedauer liegen typisch bei ca. 300 µs, im Fahrzeug schließt dieser so genannte Membran-
16.4 • Ultraschallsensoren für das Kfz
249 16
16.4.1.2 Elektronik
Alle im Kfz eingesetzten Ultraschallabstandsen-
soren enthalten Elektronikkomponenten, deren
Umfang abhängig von der Systemauslegung (Parti-
tionierung Sensor und Auswertesteuergerät) stark
variieren kann. Eine grobe Klassifikation kann in
--
folgende drei Typen vorgenommen werden:
Sensoren mit rein analoger Schnittstelle
1
2
3
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5
6
7
8 .. Abb. 16.7 Blockschaltbild Ultraschallsensor mit zeitanaloger Datenschnittstelle
Für die Schallabstrahlung hat sich in den letz- die räumlichen Empfangseigenschaften haben kann.
ten Jahren die Randelementmethode (englisch: Als Beispiel zeigt . Abb. 16.8 den Unterschied eines
Boundary Element Method, BEM) als am besten planaren Sensoreinbaus (links) gegenüber einem
geeignet bewährt. Hierbei wird im Gegensatz zur leicht vertieften Einbau (rechts), der in einer starken
Finite-Elemente-Methode (FEM) bei dreidimensio- Einschnürung der Schallkeule resultiert und somit
nalen Problemstellungen nur die schallabstrahlende eine sehr inhomogene Detektionsleistung nach sich
Oberfläche diskretisiert, nicht aber zusätzlich das ziehen würde. Mithilfe der Simulation können sol-
umgebende Volumen. Der notwendige Rechenauf- che unerwünschten Interferenzeffekte zwar nicht
wand wird dabei wegen der deutlich geringeren An- vollständig vermieden, jedoch weitestgehend mini-
zahl von Stützstellen signifikant reduziert. miert werden, indem die beeinflussende Geometrie
Die Abstrahlungseigenschaften eines im Fahr- gezielt auf eine möglichst homogene Abstrahlvertei-
zeugstoßfänger verbauten Ultraschallwandlers lung optimiert wird.
unterliegen mehreren Einflussgrößen. Zum einen Auf Basis der berechneten Abstrahlung kann
hängen sie wesentlich von der Schwingschnellever- dann unter Berücksichtigung der Luftschalldämp-
teilung auf der durch die Piezokeramik angeregten fung und der Schallreflexion an definierten Hinder-
Membran ab. Diese kann sowohl experimentell als nissen zusätzlich auch das Sichtfeld in Abhängigkeit
auch ebenfalls durch Simulation bestimmt werden von der Hindernisgeometrie bestimmt werden. So-
(siehe . Abb. 16.5). Zusätzlich sind die klimatischen wohl für die Schalldämpfung als Funktion vom Me-
Randbedingungen und dabei vor allem die Tempe- dium (hier: Luft), Temperatur und Feuchte (Was-
ratur zu beachten, da diese über die Schallgeschwin- serdampfgehalt der Luft) als auch für die Reflexion
digkeit Einfluss auf die Wellenlänge in Abhängig- an Objekten können Modelle der einschlägigen
keit der angeregten Frequenz nimmt. Letztendlich Literatur entnommen werden.
fließt noch die Geometrie in der unmittelbaren Da die Simulation, einschließlich Modellbil-
Umgebung des Wandlers ein. Insbesondere diese dung, bestimmten Grenzen und Bedingungen
Geometrie ist es, die je nach Stoßfängerdesign, unterworfen ist, sind regelmäßige Abgleiche der
Einbaukriterien, Halter- und Befestigungskon- Simulationsergebnisse mit realen Messungen zur
zept sehr starke Auswirkung auf die resultierende Validierung und Weiterentwicklung der Methoden
Schallabstrahlung und in gleicher Weise auch auf unerlässlich.
252 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik
.. Abb. 16.10 Veranschaulichung des Trilaterationsprinzips zur Berechnung von Objektposition und Objektabstand D in Bezug
auf die Basislinie der beiden Sensoren S1 und S2 im Abstand d
resultieren in einer starken Überlappung der ef- Wie aus . Abb. 16.10 leicht erkennbar ist, ist diese
fektiven Erfassungsbereiche. Das ermöglicht neben Positions- und Abstandsberechnung zur Ver-
der reinen Entfernungsmessung die zusätzliche meidung von Kollisionsrisiken durch ungenaue
Positionsbestimmung der zu detektierenden Ob- Entfernungsanzeigen insbesondere für kleine
jekte relativ zum Fahrzeug. Das dabei angewandte Hindernisabstände sehr bedeutsam. Die relativen
Grundprinzip der Trilateration (siehe . Abb. 16.10) Abweichungen zwischen gemessenen (DE1, DE2)
errechnet den Schnittpunkt der beiden Kreisbögen und tatsächlichen Entfernungen (D) können gerade
mit den Radien DE1 und DE2 ( @ Laufzeiten der in diesem für den Fahrer interessantesten und nutz-
Direktechos), ausgehend von S1 und S2 im Abstand bringendsten Absicherungsbereich besonders groß
d. Die Höhe D des dabei entstehenden Dreiecks bil- werden.
det die Projektion auf die Basislinie und entspricht Die speziellen Herausforderungen bei der An-
somit dem anzuzeigenden Abstand des detektierten wendung dieses Prinzips im Bereich der Einparkas-
Objekts zum Stoßfänger. Die reale Krümmung des sistenz liegen darin, dass die zuvor gemachte An-
Stoßfängers in der Einbauebene der Sensoren kann nahme eines „punktförmigen“ Hindernisses (runder
dabei in erster Linie vernachlässigt werden oder Pfosten, Verkehrsschild, …) in der Praxis nur in we-
anhand eines Korrekturfaktors – z. B. im Bereich nigen Fällen zutrifft. Stattdessen können die zu de-
der Fahrzeugecken – mit eingerechnet werden. D tektierenden Objekte beliebige Größe, Gestalt oder
errechnet sich mit Hilfe des Satzes von Pythagoras räumliche Orientierung haben. Beispielhaft dafür
nach der Formel sind in . Abb. 16.11 drei einfache „Szenen“ für (a)
ein zylindrisches Objekt, (b) eine parallele Wand
q
.d 2 CDE12 DE22 /
2 und (c) eine schräge Wand dargestellt.
DD DE12 4d 2 Für die Beherrschung dieser Vielfalt an realen
Szenen von unterschiedlichen Objekttypen sorgt
eine algorithmische Verarbeitung aller zur Ver-
254 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik
1
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4
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7
8
9
10
.. Abb. 16.11 Darstellung der kürzesten Echolaufwege für Direktecho (DE) und Kreuzecho (KE) am Beispiel von zwei benach-
11 barten Sensoren und unterschiedlichen Objekttypen / - orientierungen.
fügung stehenden Echosignale, die in erster Linie zusätzlich noch die Schrägstellung „α“ in einfacher
12 lokale („punktförmige“) von ausgedehnten („wand- Weise ermittelt werden.
förmigen“) Hindernissen unterscheidet, auf die Mittels vier bzw. sechs Sensoren im vorderen
dann jeweils speziell angepasste Formeln für die Be- oder hinteren Stoßfänger können auf diese Weise,
13 rechnung des kürzesten Abstands zum Fahrzeug zur trotz der sehr schlechten räumlichen Auflösung
Anwendung kommen. Dabei ist die Einbeziehung eines jeden einzelnen Sensors, komplette Objekt-/
14 des Kreuzechos (KE) von Sensor X nach Sensor Y Umfeldkarten für die Einbauebene der Sensoren er-
und umgekehrt (KE12 / KE21 in . Abb. 16.11) von zeugt werden, in denen Position, Ausdehnung und
15 besonderer Bedeutung. Wie in den Teilabbildungen Orientierung von einem oder mehreren Objekten
von . Abb. 16.11 leicht zu erkennen ist, unterschei- vor bzw. hinter dem Fahrzeug gut wiedergegeben
det sich die Länge des Kreuzecholaufwegs von der werden. In Verbindung mit fortgeschrittenen Tra-
16 Summe der beiden Direktecholaufwege je nach Ob- ckingalgorithmen, die die über Radsensoren und
jekttyp relativ stark und kann daher als Kriterium Lenkwinkel erfasste Eigenbewegung des Fahrzeugs
17 für die Klassifizierung „Punkt / Wand“ herange- ständig mit den aktuellen Messdaten der Sensoren
zogen werden. Der rechnerische Zusammenhang abgleichen, lassen sich so bei ausreichender Rechen-
zwischen Kreuzechos und Direktechos ist für beide leistung genauere und zuverlässigere Einparkassis-
18 Fälle in . Abb. 16.11 mit angegeben. Die „Wandfor- tenzsysteme realisieren.
mel“ gilt dabei sowohl für eine gerade als auch für Bei zunehmender Verbreitung von „advanced
19 eine schräge Orientierung zum Basisabstand d. Ist maneuvering functions“ mit automatischen Lenk-
die Klassifizierung „Wand“ auf Grundlage der ge- und/oder Bremseingriffen sowie räumlich aufgelös-
20 messenen Echolaufzeiten einmal erfolgt, kann aus ten HMI-Darstellungen („Birds-Eye-View“), ist diese
den Laufzeitunterschieden zwischen DE1 und DE2 Methode der Objektlokalisierung nicht nur hinsicht-
16.7 • Halter- und Befestigungskonzepte
255 16
.. Abb. 16.12 Typische Montagebeispiele für das
Sensormodul
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7
16.8 Leistungsfähigkeit per definiert wurde. Ein Beispiel einer solchen FoV-
8 und Zuverlässigkeit Messung zeigt . Abb. 16.13 für ein 4-Kanalsystem,
bei dem die Detektionsbereiche für die Direktechos
9 Die Erfolgsgeschichte der Ultraschallsensoren im der vier Sensoren jeweils durch eine separate Um-
Bereich der Einparkassistenzsysteme beruht auf randung sichtbar gemacht wurden.
10 einer Reihe von Merkmalen, in denen diese Tech- Die Messreichweite in diesem Beispiel ist für die
nologie anderen konkurrierenden Messverfahren beiden mittleren Sensoren auf 150 cm und für die
(z. B. Radar, Infrarot, kapazitive oder induktive äußeren auf 80 cm eingestellt und entspricht damit
11 Messtechnik) überlegen ist, z. B. kostengünstige einem typischen Anwendungsfall.
Herstellung und geringe Witterungsabhängigkei- Die zuverlässige Verfügbarkeit der Sensoren
12 ten. Außerdem ist die Erkennungsqualität in weiten kann in der Praxis durch zwei Faktoren einge-
Bereichen unabhängig von der Art der zu detektie- schränkt sein. Einerseits können starke akustische
renden Hindernisse. Relevante Materialen wie Me- Fremdstrahler im Bereich der Ultraschallarbeits-
13 tall, Kunststoff, Holz, Mauerwerk oder Glas sind an frequenz in unmittelbarer Fahrzeugnähe das Sig-
ihrer Oberfläche „schallhart“ und liefern daher bei nal-/Rauschverhältnis so weit absenken, dass keine
14 gleicher Geometrie annähernd gleich starke Reflexi- Messung mehr möglich ist. Praktische Relevanz
onssignale. Einschränkungen ergeben sich lediglich haben hier vor allem Pressluftgeräusche (z. B. Lkw-
15 bei teilweise schallabsorbierenden Materialien, die Druckluftbremsen) und metallische Reibgeräusche
jedoch in der Praxis kaum eine Rolle spielen (z. B. (z. B. von Schienenfahrzeugen). Andererseits kön-
Schaumstoff). Eine Besonderheit besteht hinsicht- nen eventuell vorhandene Schmutz-, Schnee- oder
16 lich der Erkennung von Personen, bei der je nach Eisschichten auf der Sensormembran eine Schall-
Kleidung mit einer geringfügig reduzierten Mess- brücke zum Stoßfänger bilden, die das Abklingver-
17 reichweite gerechnet werden muss. halten der Sendeanregung undefiniert verlängert.
Die Leistungsfähigkeit eines Sensors oder eines In beiden Fällen reagiert das System in der Regel
Sensorsystems lässt sich am besten mithilfe einer mit einer Störungsanzeige für den Fahrer, oder es
18 Field-of-View (FoV) oder Detektionsfeldvermes- wird ein Pseudohindernis mit einer kürzeren Ent-
sung aufzeigen und vergleichend bewerten. Dazu fernung als potenzielle reale Hindernisse angezeigt.
19 wird typischerweise ein Rohr mit 7,5 cm Durch- Kritische Situationen, in denen der Fahrer über
messer als Referenzobjekt verwendet, das in der so Kollisionsrisiken entweder gar nicht oder zu spät
20 genannten MALSO-Norm für die Auslegung von informiert wird, können somit weitgehend vermie-
Pkw-Einparkhilfesystemen [6] als Standardtestkör- den werden.
16.9 • Zusammenfassung und Ausblick
257 16
16.9 Zusammenfassung der Funktion für Unterstützung zum Einparken in
und Ausblick Querparklücken.
Eine komplett neue Anwendung zeichnet sich
Piezokeramische Ultraschallsensoren für Einpark- im Bereich Side-View-Assist (SVA) ab, die ebenfalls
hilfesysteme wurden seit dem ersten Serieneinsatz mithilfe von Ultraschallsensoren den „Toten-Win-
im Jahr 1992 hinsichtlich ihrer mechanischen, akus- kel“ in einem Bereich von bis zu ca. 3 m unmittelbar
tischen und elektronischen Eigenschaften kontinu- neben und seitlich hinter dem Fahrzeug absichert.
ierlich weiterentwickelt. Heutige Seriensensoren Mitschwimmende oder langsam überholende Fahr-
besitzen einen kompakten und robusten Aufbau, zeuge können so bis zu einer Eigengeschwindigkeit
lassen sich sehr unauffällig in lackierte oder unla- von ca. 140 km/h erkannt und dem Fahrer beim
ckierte Fahrzeugstoßfänger integrieren, sind spezi- Einleiten eines Überholmanövers angezeigt werden.
ell in Bezug auf die optimale Winkelcharakteristik Die notwendige Ausblendung von Gegenverkehr
ihres akustischen Sende-/Empfangsverhaltens ab- und/oder stationären Hindernissen, z. B. Leitplan-
gestimmt und können auf elektronischem Weg in- ken, kann dabei durch geeignete Anbringung von
dividuell an Kundenwünsche und unterschiedliche je einem Sensor in der vorderen und hinteren Stoß-
Einbaubedingungen im Fahrzeug angepasst werden. fängerecke erreicht werden. Dazu werden die Echo-
Zukünftig mögliche Weiterentwicklungen im Hin- signale beider Sensoren in Bezug auf ihr zeitliches
blick auf eine verbesserte und erweiterte Funkti- Auftreten analysiert und plausibilisiert.
onalität sind z. B. bessere Eigendiagnosefähigkeit, Eine andere interessante Anwendung ergibt
Verkürzung der Mindestmessentfernung sowie sich aus einer Weiterentwicklung der Ultraschall-
optimierte Filtermechanismen zur Erhöhung des wandler vom reinen Abstandssensor zum zusätzli-
Signal-/Rauschverhältnisses. chen Winkelgeber. Basierend auf dem Laufzeitun-
Parallel zur Weiterentwicklung der Ultraschall- terschied einer reflektierten Wellenfront zwischen
sensorik sind in jüngster Zeit neue Fahrzeuganwen- zwei unmittelbar benachbarten Wandlerelementen
dungen und Mehrfachnutzungen für erweiterten (Dualsensor, bestehend aus Sender/Empfänger und
Funktionsumfang der „normalen“ Einparkhilfe in reinem Empfänger) kann direkt auf die Richtung
den Blickpunkt des Interesses der Fahrzeugher- des reflektierenden Objekts geschlossen werden
steller geraten. Basis dafür ist das sehr gute Preis-/ [7]. Diese Information lässt sich mit dem Lenkrad-
Leistungsverhältnis der in hoher Stückzahl gefer- einschlag verknüpfen, um so den Fahrer während
tigten Ultraschallsensoren. An erster Stelle ist hier des Einparkens auf Kollisionsgefahr abhängig vom
die genaue Parklückenvermessung von seitlichen Lenkwinkel – insbesondere im Bereich der Fahr-
Längsparklücken zu nennen, auf deren Basis ent- zeugecken – hinzuweisen.
schieden werden kann, ob ausreichend Platz zum Abschließend sei noch erwähnt, dass Nutzen
Einparken zur Verfügung steht. Dazu werden vorne und Akzeptanz aller zuvor beschriebenen Funktio-
in den seitlichen Stoßfängerecken angebrachte Sen- nen neben zuverlässigen und robusten Ultraschall-
soren zum Abtasten des linken und rechten Fahr- sensoren ebenso eine sehr aufwändige algorithmi-
bahnrandes verwendet. Diese erkennen parkende sche Signalverarbeitung sowie eine durchdachte
Fahrzeuge sowie deren seitliche Begrenzungen Anzeigestrategie voraussetzen. Alle drei Faktoren
und Eckenpositionen, vermessen die Parklücke bilden optimal aufeinander abgestimmt die Grund-
in der Tiefe auf mögliche Versperrung und liefern lage für eine weiter ansteigende Marktdurchdrin-
Informationen über den Abstand zum Bordstein. gung und erfolgreiche Einführung von innovativen
Darauf aufbauend sind bereits erste Serienanwen- Zusatzfunktionen ultraschallbasierter Fahrerassis-
dungen für das automatisch gelenkte Einparkma- tenzsysteme.
növer in Längsparklücken am Markt verfügbar. In
den nächsten Jahren wird mit einer ähnlich gro-
ßen Marktdurchdringung gerechnet, wie dies ab ca.
1998 bei den Standard-Einparkhilfesystemen der
Fall war. Ebenso angedacht ist eine Erweiterung
258 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik
Literatur
1
[1] Bergmann, L.: Der Ultraschall und seine Anwendung in
Radarsensorik
Hermann Winner
Radar (Radio Detection and Ranging) hat seine große Anstrengungen unternommen, die Kosten in
1 Ursprünge in der Militärtechnik des Zweiten Welt- den Folgegenerationen zu senken. Erste Tendenzen
kriegs und blieb auch lange an militärische Anwen- zur Technikkonvergenz sind zu erkennen. Trotzdem
2 dungen gebunden. Der erste Einsatz im Verkehrsbe- bleiben noch große Unterschiede bei den einzelnen
reich für ein Geschwindigkeitsüberwachungssystem Lösungsfeldern, sodass in diesem Kapitel auf diese
hatte für viele Autofahrer zu eher negativen Erleb- Breite eingegangen werden muss. Dabei kann auch
3 nissen geführt. Aber auch für den Fahrer als nütz- nicht auf Berechnungen verzichtet werden, da Ra-
lich empfundene Anwendungen wurden schon dar ohne nachrichtentechnische Grundlagen nicht
4 früh angedacht, so wie ein Zeitschriftenartikel [1] verstanden werden kann. Trotzdem wird hier ver-
aus dem Jahre 1955 belegt. In den siebziger Jahren sucht, mit minimalen Vorkenntnissen die theoreti-
5 des 20. Jahrhunderts fand ein großes Forschungs- schen Überlegungen nachvollziehbar darzustellen.
projekt statt, dessen Ziel die Entwicklung von seri- Dadurch kann bei einem/r nachrichtentechnisch
entauglichen Radarsensoren für den Auffahrschutz gut vorgebildeten Leser/in Verwunderung darüber
6 war. Zwar hat dieses vom Bundesforschungsminis- aufkommen, dass die komprimiertere Fachsprache
terium geförderte Projekt die Radar-Entwicklung und Formeldarstellung nicht verwendet wird. Für
7 vorangebracht, für einen Serieneinsatz aber war die die hier verwendeten Radar-Grundlagen und De-
Zeit noch nicht reif. Erst zwanzig Jahre später wa- finitionen wurde auf Standardwerke [2, 3] zurück-
ren die technischen Voraussetzungen gegeben, um gegriffen, in denen sich viel weitgehendere Betrach-
8 Radar für die Fahrerassistenz einzusetzen. Im Jahre tungen zum Radar allgemein finden lassen. Durch
1998 war erstmals ein Fahrzeug mit Radar erhält- die bisherige Domäne des Radars in der militäri-
9 lich. Die Schlüsselfunktion war allerdings nicht die schen wie zivilen Luft- und Schifffahrt wurde der
Auffahrwarnung, sondern die Adaptive Geschwin- Themenbereich „Automotive Radar“ bisher kaum
10 digkeitsregelung ACC (s. ▶ Kap. 46), auch wenn die adressiert, so dass mit diesem Kapitel spezifisch ein
Auffahrwarnung bei diesem System als Funktions- Überblick über die automobile Radartechnik gege-
teil mit integriert war. In kurzen Abständen folgten ben wird, die aufgrund ihrer sich gegenüber den
11 weitere radarbasierte ACC-Systeme. oben genannten Einsatzbereichen stark unterschei-
Einen weiteren Schub erhielt die Radartechnik denden Anforderungen (kleinere Abstände, kleinere
12 etwa fünf Jahre später durch die Entwicklung der Dopplerfrequenzen, hohe Mehrzielfähigkeit, geringe
automatischen Notbremse (s. ▶ Kap. 47, 48) und der Baugröße, erheblich geringere Kosten) mit deutlich
Fahrstreifenwechselassistenz (s. ▶ Kap. 50). unterschiedlichen Lösungen aufwartet.
13 Für die Anwendung im Straßenverkehr stehen
zurzeit vier Bänder (24,0–24,25 GHz, 76–77 GHz
14 und 77–81 GHz sowie ein nur für den Nahbereich 17.1 Ausbreitung und Reflektion
geeignetes UWB-Band (s. ▶ Abschnitt 17.4.2) von
15 21,65–26,65 GHz) zur Verfügung. Bis auf das 77– Wenn Radarstrahlen den Sensor verlassen, ge-
81 GHz-Band werden auch alle genutzt. Derzeit do- schieht dies nicht als Kugelwelle mit in allen Raum-
miniert der 76,5 GHz-Bereich, der explizit für das richtungen gleicher Intensität, sondern in einer
16 Automotive-Radar geregelt wurde und weltweit zur gebündelten Weise. Dafür sorgt die Antenne (s. a.
Verfügung steht. Der 24 GHz-Bereich hat mittler- ▶ Abschnitt 17.3). Der so genannte direktive An-
17 weile auch einen größeren Marktanteil erreicht, vor tennengewinn GD beschreibt das Verhältnis zwi-
allem durch Mid-Range-Sensoren. schen der Intensität P(f, J)max im Raumwinkel der
Die Entwicklung der ersten Radar-Generation stärksten Abstrahlung und dem Wert Ptotal/4p eines
18 für das Auto war wie in vergleichbaren Innovations- homogenen Kugelstrahlers gleicher Gesamtleistung
“
fällen mit viel Lehrgeld verbunden. Aber trotz man- Ptotal D P .˚; #/d˚d# . Dabei sind f der Azimut-
19 cher Enttäuschung im Kampf um niedrige Kosten im winkel in der horizontalen Ebene und J der Eleva-
Laufe der Entwicklung wurde doch Bemerkenswer- tionswinkel in der vertikalen. Der Antennengewinn
20 tes erreicht. Anstatt im fünfstelligen Euro-Bereich ist umso größer, je stärker die Strahlen gebündelt
lagen die Kosten im dreistelligen. Trotzdem wurden werden. Der tatsächliche Antennengewinn G be-
17.1 • Ausbreitung und Reflektion
261 17
.. Abb. 17.1 Beispiele gerichteter Reflektion a 90°-Reflektion an einer Platte, b ≠90°-Reflektion an einer Platte, c 90°-Doppel-
spiegel
.. Abb. 17.2 Geome-
rücksichtigt auch die Antennenverluste, die zumeist trie eines Corner Cube
Leitungsverluste sind. Die sich aus dem Produkt der Reflector
Gesamtsendeleistung und des Antennengewinns
ergebende Equivalent Isotropically Radiated Po-
wer (EIRP) ist für zwei Kriterien die entscheidende
Größe: zum einen für die Funkzulassung, bei der es
auf die Leistung im Raumwinkelbereich des Maxi-
mums ankommt (angegeben in dBm (EIRP), wobei auf. Bei A = 1 m2 und 76,5 GHz (l ≈ 4 mm) ergibt
sich dBm auf die Basis 1 mW bezieht), und zum an- sich ein RCS von σ ≈ 0,8 · 106 m2. Somit kann ein
deren für die maximale Reichweite. Kastenwagen mit planem Heck von 4 m2 zu ei-
Für Letzteres sind aber noch weitere Faktoren ner starken Rückstreuung mit einem RCS von
zu berücksichtigen. Ganz offensichtlich gehört das 12,5 · 106 m2 (im Fernbereich) führen, aber bei Dre-
Reflektionsvermögen des Radarziels dazu. Dieses hung um ein Grad bei einer Entfernung von etwa
wird als so genannter Radarquerschnitt (Radar 60 m völlig einbrechen, vgl. . Abb. 17.1a und 17.1b.
Cross Section RCS) σ angegeben. Im Produkt mit Die verbleibende Rückstreuung stammt dann nur
dem Quadrat der Wellenlänge, also σ l2, wird der noch von den Kanten oder den Achsteilen. Ein ide-
in einen Raumwinkel reflektierte Anteil von der auf aler Retroreflektor wird durch drei rechtwinklige
das Ziel homogen verteilt eingehenden Leistung be- Dreiecksflächen, die zu einander senkrecht stehen,
schrieben. Die Einheit von σ ist eine Fläche. Diese gebildet, ein so genannter Corner (Cube) Reflector.
Fläche entspricht genau der mittigen Querschnitts- Bei einem perfekt orientierten Corner Reflector
fläche pa2 eines Kugelreflektors mit dem Radius a. wird jede eintreffende Strahlung, deren Wellen-
Die für automobile Anwendung relevanten Ziele länge deutlich kleiner als die Abmessungen ist, in
im mittleren und ferneren Abstandsbereich weisen die Richtung zurückreflektiert, aus der die Strah-
Werte von σ = 1…10.000 m² auf. Sollen Fußgänger lung gesendet wurde, so wie es in . Abb. 17.1c für
im Nahbereich detektiert werden, so ist von deutlich den zweidimensionalen Fall dargestellt ist. Für ei-
kleineren Werten (σ = 0,01…0,1 m²) auszugehen. nen dreidimensionalen Corner-Reflektor, der aus
Die Streubreite hängt zum einen von der Art des drei senkrecht zueinander liegenden gleichschenk-
Zieles ab, aber noch stärker von der Geometrie und ligen, rechtwinkligen Dreiecken der Kantenlänge
p
der Orientierung. Eine zur Sende- und Empfangs- a und der Diagonalabmessung L D 2a gemäß
richtung senkrecht orientierte Metallplatte weist bei . Abb. 17.2 besteht, errechnet sich nach [4] ein
großen Abständen einen Rückstreuquerschnitt von RCS von
A2 r
plate D 4 (17.1) L4 4 2 (17.2)
2 CR D 2 , L D 3CR
3
262 Kapitel 17 • Radarsensorik
Mit einer solchen Geometrie kann schon mit klei- Empfangsleistung führt, hat sie den Vorteil, dass
1 nen Abmessungen (L = 35 cm) eine sehr starke Überreichweiten weitaus weniger zu befürchten
Reflektion von sCR ≈ 1000 m2 entsprechend einem sind als bei 76,5 GHz und damit die Radarstrah-
2 stark reflektierenden Lkw simuliert werden. Für len weniger „herumvagabundieren“ würden. Da
einen Pkw gelten 100 m2 (L ≈ 20 cm), für ein Mo- aber die Bänder um 60 GHz in weiten Teilen der
torrad 10 m2 (L ≈ 11 cm) und für einen Menschen Welt für militärische Zwecke genutzt werden, stand
3 1 m2 (L ≈ 6,2 cm) als typische Radarquerschnitte. In diese Option nicht zur Verfügung. Durch starken
den ISO-Normen für ACC [5] und FSRA [6] wird Regen insbesondere mit großen Tropfen, welche die
4 ein Radarquerschnitt von 10 ± 3 m2 für die Detek- Größenordnung der Wellenlänge erreichen, erfolgt
tionsfeldmessungen vorgeschrieben, wobei darauf eine durchaus starke Dämpfung, die zu einer erheb-
5 hingewiesen wird, dass damit 95 % der Fahrzeuge lichen Reichweiteneinbuße führt, wobei die erreich-
abgedeckt sind. Geringe Radarquerschnitte treten bare Sichtweite oft die für den Fahrer verbleibende
vor allem bei Fahrzeugen mit wegreflektierenden überschreitet. Neben der Dämpfungswirkung führt
6 planen oder konkaven Flächen auf. Große Werte starker Regen zu einem erhöhten Störpegel (Clut-
sind vor allem auf Winkelreflektoren zurückzufüh- ter). Zumeist wirkt er wie ein erhöhter Rauschpegel
7 ren. So zeigen die Stützpfosten von Leitplanken mit und senkt auf diese Weise das Signal/Rausch-Ver-
ihrem U-Profil recht hohe Radarquerschnitte, was hältnis (SNR) und damit die Reichweite. Es können
dazu führt, dass in der Objektliste sehr viele dieser aber auch Scheinziele generiert werden, wenn z. B.
8 Ziele auftauchen. Auch die Einstiegstreppen zu den Schwallwasser eines nebendran fahrenden Lkw die
Lkw-Fahrerkabinen sind als Tripelspiegel so stark Radarstrahlen reflektiert. Ein weiterer Störeffekt ei-
9 reflektierend, dass sie auch außerhalb des Radar- ner „Wasserumgebung“ tritt durch die Belegung der
hauptstrahls noch genügend Signalleistung zum Verdeckung (Radom) des Strahlaustrittsbereichs
10 Empfänger bringen. Die hohe Dynamik des Radar- auf. Wegen der hohen Dielektrizitätszahl hat Was-
querschnitts über vier bis fünf Größenordnungen ser eine hohe Brechwirkung auf mm-Wellen, sodass
führt zum einen dazu, dass eine Objektklassifika- eine ungleichmäßige Wasserbelegung zu ungewoll-
11 tion über den Radarquerschnitt ohne Erfolg bleiben ten „Linseneffekten“ führt, wodurch insbesondere
muss. Andererseits erhöht die Dynamik des Radar- die Bestimmung des Azimutwinkels stark verfälscht
12 querschnitts die Dynamikanforderung an den Emp- werden kann.
fangszweig, der daher nicht unter 70 dB liegen sollte Der hier letztgenannte Einflussfaktor auf die
und selbst dann nicht vor Übersteuerung sicher ist. Empfangsleistung ist die Mehrwegeausbreitung. Zum
13 Neben der Dynamik des Radarquerschnitts einen betrifft dies die vertikale Mehrwegeausbrei-
beeinflusst der radiale Abstand r (range) die Si- tung über die Reflektion an der Fahrbahnoberfläche.
14 gnalstärke am Empfänger. Wie schon betrachtet, Durch die bei größeren Entfernungen immer gerin-
bleibt die Leistung in einem Raumwinkelelement gen Streifwinkel erfolgt unabhängig von Polarisation
15 konstant, zumindest wenn Absorptionsverluste und Fahrbahnnässe die Reflektion nahezu vollständig
nicht berücksichtigt werden. Die Fläche dieses Win- [7]. Somit nehmen die Radarstrahlen unterschiedlich
kelsegments vergrößert sich mit dem Abstand zum lange Wege und kommen so mit unterschiedlichen
16 Quadrat, gleiches gilt für den reflektierten Strahl, Phasen beim Empfänger an: Unterscheiden diese
so dass bei Zielen außerhalb des Nahbereichs von sich um ungerade ganzzahlige Vielfache von 180°,
17 einem r–4-Abfall ausgegangen werden kann. Die so handelt es sich um eine destruktive Interferenz,
Absorption k in dB/km ist nur in wenigen Fällen bei Vielfachen von 360° um eine konstruktive Inter-
so hoch, dass sie mit zu berücksichtigen ist. Bei ferenz. Je nach Höhe des Radars und des Reflektions-
18 76,5 GHz liegt die atmosphärische Dämpfung un- schwerpunkts über der Fahrbahn tritt die destruktive
ter 1 dB/km, damit nur 0,3 dB für den Hin- und Interferenz in bestimmten Abständen auf, wodurch
19 Rückweg zu einem 150 m entfernten Ziel. Aller- die Detektionsleistung des Radars merkliche Einbu-
dings liegt bei 60 GHz ein Dämpfungsmaximum ßen zeigt. Dies ist zumeist nicht problematisch, da
20 mit etwa 15 dB/km vor, vgl. ▶ Kap. 18. Obwohl schon Ein- und Ausfedern des Zielfahrzeugs oder des
diese Dämpfung zu einer leichten Abnahme der eigenen Fahrzeugs, Fahrbahnunebenheiten und die
17.2 • Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
263 17
Ausdehnung der Objekte mit der Folge mehrfacher gleich dem für das Empfangen, also G t D Gr und
Reflektionen das Interferenzloch beseitigen und fer- G t Gr D G 2. Damit eine Detektion erfolgen kann,
ner bei endlicher Relativgeschwindigkeit die damit muss das empfangene Signal mit hinreichendem Ab-
verbundene Interferenz-Abstandsbedingung zerstö- stand über dem Rauschen liegen. Je nach sonstiger
ren. Der vertikale Mehrwegeempfang äußert sich Signalauswertung zur Falschzielunterdrückung liegt
somit als Signalleistungs„schüttler“ mit dem Faktor die Schwelle um einen Faktor SNRthreshold von etwa 6
2
Vmp ; 0 Vmp 2 , so dass bei der Detektion grund- bis 10 dB über dem Rauschen (Leistung PN).
sätzlich mit einer stochastisch beschreibbaren Detek- Die erreichbare Reichweite rmax wird bestimmt,
tionsverlust- oder Drop-out-Rate zu rechnen ist. Bei indem die Empfangsleistung von Gl. (17.3) der De-
horizontaler Mehrwegeausbreitung erfolgt eine Spie- tektionsschwelle PN · SNRthreshold gleichgesetzt wird.
gelung an vertikalen, etwa parallel zur Fahrtrichtung Unter Vernachlässigung der Dämpfung, also k = 0,
liegenden Flächen; neben Wänden können vor allem lässt sie sich analytisch berechnen:
Leitplanken die horizontale Mehrwegeausbreitung
ermöglichen. Die Signalauslöschung bei negativer s
2 G t Gr Vmp
2 P
total
Interferenz ist dabei weniger störend als die Verfäl- rmax D
schung der azimutalen Richtungsinformation. Scan- .4/3 PN SNRthreshold (17.4)
ner-Antennen (s. ▶ Abschnitt 17.3.2) mit schmalen
Radarkeulen reagieren darauf weniger empfindlich Bei endlicher Dämpfung muss die Reichweite nu-
als zwei- oder mehrstrahlige Antennen; allerdings merisch bestimmt werden. Trotzdem kann der
gibt es auch Verfahren [8] für Array-Antennen, die Einfluss der Dämpfung einfach abgeschätzt werden:
über die Annahme von zwei Zielen den reflektierten Kann von einer dämpfungsfreien Reichweite von
Pfad als separates (Geister-)Ziel ermitteln und so den 200 m ausgegangen werden, so reduziert sie sich bei
Einfluss auf den Hauptpfad reduzieren können. 21 dB/km auf 140 m ((200/140)4 ≈ 6 dB mal (1 km/
Beobachtet man den Verlauf der Empfangsam- (2 · 140 m)) ≈ 3,5), bei 60 dB/km auf 100 m und bei
plitude über einen längeren Abstandsbereich, so 240 dB/km auf 50 m. Grundsätzlich sind somit alle
lässt sich durch eine Transformation in den rezip- Faktoren, die die theoretische Reichweite des Radars
roken Abstandsbereich (also 1/r) eine harmonische bestimmen, bekannt. Bei der praktischen Anwen-
Periodizität feststellen, deren „Frequenz“ auf das dung sind aber weitere Grenzen durch die Signal-
Produkt von Sensorhöhe und Zielhöhe schließen verarbeitung gesetzt, wie im folgenden Abschnitt
lässt [9, 10], so dass eine unterfahrbare Brücke beschrieben wird.
von einem auf der Fahrbahn stehenden Hinder-
nis unterschieden werden kann. Allerdings kann
das stehende Hindernis über seitliche Reflektoren 17.2 Abstands- und
(z. B. über Leitplanken) ähnliche Muster erzeugen, Geschwindigkeitsmessung
da auch hier das Produkt der Normalabstände zur
Reflektorebene ähnlich groß sein kann. Zum Verständnis der Funktionsweise von Radar
Fasst man die in diesem Abschnitt beschriebe- ist ein Exkurs in die nachrichtentechnische Mathe-
nen Einflussfaktoren zusammen, so lässt sich da- matik nicht vermeidbar. Die in den folgenden Ab-
raus die maximale Reichweite für eine Detektion schnitten abgeleiteten mathematischen Zusammen-
herleiten. Die Leistung PR des empfangenen Signals hänge sind aus Sicht des Autors auf das Minimum
berechnet sich zu beschränkt und in einer eher populären Schreib-
weise dargestellt. Für eine noch tiefer gehende Be-
trachtung der Radartechnik sei auf Standardwerke
PR D 102kr=1000 2 G t Gr Vmp
2
zu Radar, wie z. B. das Buch von Skolnik [2] oder
Ptotal = .4/3 r 4 (17.3) Ludloff [3], verwiesen.
1
2
3
4
5
6
7 .. Abb. 17.3 Idealisierte Modulationsbeispiele; links: aufmodulierter Puls, rechts: aufmoduliertes Sinussignal; oben: Amplitu-
denmodulation, unten: Frequenzmodulation
bei der Reflektion. Bei idealer Totalreflektion, wie So wird aus dem Produkt des gesendeten Signals
sie für Metalle angenommen werden kann, beträgt (Gl. (17.5)) und des empfangenen (Gl. (17.6)) das
diese p, wie bei einer Invertierung. Da aber bei kei- Mischprodukt ut,r(t) :
ner Auswertung die absolute Phase herangezogen
wird, sondern nur Differenzen, spielt dieses Detail
(
2rP
1
praktisch keine Rolle. ut;r .t/ D At Ar cos 2 t
2
Bei einer Trägerfrequenz von 76,5 GHz erhält
man durch die Relativgeschwindigkeit rP in SI-Ein- C '0 ' r
heiten (also in m/s) eine Doppler-Verschiebung (17.9)
von fDoppler D 510 Hz rP bzw. bei der anderen 2rP
C cos 2 2f0 t
für Fahrerassistenz-Anwendungen gebräuchlichen
Frequenz von 24 GHz etwa ein Drittel davon, näm- )
lich fDoppler D 161 Hz rP . Für die Berechnung C '0 C ' r
mit km/h sind die Werte durch 3,6 zu teilen. Mit
einer angenommenen Relativgeschwindigkeit von
–70 m/s (–252 km/h) bei Annäherung betragen die Da das Summensignal (der zweite Term) sehr
maximalen Dopplerfrequenzen 35,7 kHz, so dass hochfrequent ist, wird dieser Anteil allein schon
für eine Messung gemäß dem Nyquist-Theorem durch die nicht für diese Frequenz ausgelegte Elek-
eine Abtastrate von mindestens 71,4 kHz zur ein- tronik (Leitungen, Verstärker) weggedämpft. So
deutigen Bestimmung benötigt wird. bleibt das niederfrequente Differenzsignal
Grundsätzlich lässt sich die Relativgeschwindig-
2rP
1
keitsinformation schon mit einer kontinuierlichen ult;r .t/ D Ar At cos 2 t
2
Welle konstanter Frequenz ermitteln. Allerdings ist
die Trägerfrequenz zu hoch für eine direkte Messung C '0 ' r (17.10)
der Verschiebung im Trägerband, die selbst bei maxi-
maler Relativgeschwindigkeit gerade ein Millionstel
der Trägerfrequenz beträgt. Tatsächlich wird mit dem übrig. Die Information über die Frequenzverschie-
im folgenden Abschnitt beschriebenen Mischen eine bung findet sich im Argument des Cosinus. Aller-
Messung bei viel niedrigeren Frequenzen möglich. dings wird nicht das Argument gemessen, sondern
die Cosinus-Funktion, die keine eindeutige Invers-
Funktion besitzt. So ist insbesondere das Vorzei-
17.2.3 Mischen von Signalen chen nicht zugänglich, da eine Cosinus-Funktion
mit einer positiven Frequenz identisch zu der mit
Mit dem Mischen wird in der Hochfrequenztechnik negativer Frequenz ist. Hier hilft die Mischung
der Vorgang einer Signalmultiplikation bezeichnet. mit einem zum Sendesignal um 90° verschobenen
Das Produkt zweier harmonischer, analog zu Gl. Signal, also eine Multiplikation anstatt mit der ur-
(17.5) mit der Cosinus-Funktion beschriebenen Si- sprünglichen Cosinus-Funktion nun mit der zum
gnale u1(t) und u2(t) der Frequenzen f1 und f2 und Sendesignal zugehörigen Sinus-Funktion.
Phasen j1 und j2 lässt sich per Additionstheorem
von harmonischen Funktionen gemäß Gl. (17.8) 1˚
auch als Summe zweier harmonischer Funktionen sin x cos y D sin.x y/
2 (17.11)
mit jeweils der Differenz- und der Summe der ur-
C sin.x C y/
sprünglichen Argumente beschreiben:
1
cos x cos y D fcos.x y/ C cos.x C y/g Somit steht nach Unterdrückung des Summensig-
2
nals ein auf Sinus-Basis beschriebenes Mischsignal
(17.8)
266 Kapitel 17 • Radarsensorik
(GaAs) oder seit kurzem die kostengünstigere Sili- verarbeitung auch als von-Hann- oder Hanning-
zium-Germanium-Technologie (SiGe) zu verwenden. Fenster bekannt ist.
Gegenüber passiven Mischern sind die beim Mischen
2 t
1
entstehenden Umwandlungsverluste geringer, so dass Fu .t/ D 1 cos
2 P
ein höheres Signal-Rausch-Verhältnis erreicht wird. (17.17)
für jt t0 j < P=2 ; 0 sonst
17.2.4 Pulsmodulation Zwar verliert ein so geformter Puls 5/8 der Leis-
tung gegenüber einer Rechteckeinhüllenden mit
17.2.4.1 Anforderungen an Pulsdauer gleicher Maximalamplitude, die verbleibende kon-
und Bandbreite zentriert sich aber fast vollständig im Arbeitsband
Am einfachsten lässt sich die Pulsmodulation vor- zwischen
stellen, vgl. . Abb. 17.3 links oben. Dabei wird ein
kurzer Wellenzug der Pulslänge τP gebildet. Tech- f0 P1 < f < f0 C P1 I f D 2P1(17.18)
nisch wird dies durch einen schnellen elektroni-
schen Schalter realisiert, der von einem kontinu- Die benötigte Bandbreite 2P1 eines Pulses entspricht
ierlich betriebenen Oszillator gespeist wird. Ein damit dem doppelten Kehrwert der Pulslänge. Ein
derartiger idealer Puls benötigt eine zur Pulslänge weiterer Vorteil der Bandbegrenzung neben dem
reziproke Bandbreite, auch wenn die Schwingung Einhalten von Grenzwerten liegt in der Möglichkeit
innerhalb des Pulses genau der Gl. (17.5) entspricht. einer Bandpassfilterung auf der Empfangsseite, die
Tatsächlich ergibt sich das Signal aus einer Multi- zur Rauschreduktion nützlich ist. Denn die Empfän-
plikation einer ebenen Welle gemäß Gl. (17.5) und gerbandbreite sollte mindestens so groß wie die Ab-
einer Fensterfunktion, die für einen ideal schnell strahlbandbreite sein, damit kein empfangsbedingter
an- und abschaltenden Puls Laufzeitauflösungsverlust auftritt.
Wie kurz, oder besser, wie scharf begrenzt sollte
FRect .t/ D 1für jt t0 j < P=2 ; 0 sonst(17.16) ein Radar-Puls für die Anwendung bei Fahreras-
sistenzsystemen sein? Für ein Long-Range-Radar
als Rechteckfenster um die Pulsmitte t0 beschrie- (LRR) sollten mindestens zwei Fahrzeuge in typi-
ben wird. Dies führt im Frequenzbereich zur schen Abständen getrennt erscheinen. Damit sollte
Faltung der diskreten Frequenzlinie f0 mit der als der Puls eine Länge XP von höchstens 10 m besitzen
Spaltfunktion sinc(p f · tP) = sin(p f · tP) / p f · tP be- oder eine entsprechende Maximaldauer von tP =
kannten Fouriertransformierten der Fensterfunk- XP/c ≈ 33 ns. Bei Einsatz des Radar als Short-Range-
tion (ohne Berücksichtigung des Vorfaktors). Da Radar (SRR) mit der Fähigkeit der Einparkunter-
die Spaltfunktion nur schwach (Amplitude mit stützung ist eine Ortsauflösung von 15 cm gefragt,
f –1) abfällt, fällt ein großer Teil der Pulsleistung weshalb der Puls nicht länger als das Doppelte, also
in Frequenzbänder, die für andere Anwendungen XP ≈ 30 cm, und folglich die Pulsdauer entsprechend
gedacht sind. Zwar lässt sich das Verhältnis In- nicht länger als tP ≈ 1 ns sein sollte. Folglich lie-
Band- zu Außer-Band-Leistung durch eine Ver- gen die Bandbreitenanforderungen bei mindestens
längerung des Pulses verbessern, allerdings senkt 60 MHz für LRR und 2 GHz für SRR. Diese Ab-
diese Maßnahme nicht die in die anderen Bänder schätzungen sind best-case-Überlegungen und für
gestreute Energie pro Puls, sofern der Pulsanstieg die Praxis um etwa den Faktor 2 zu erhöhen, um
bzw. -abfall nicht abgesenkt ist. Andererseits er- eine Bandverletzung auszuschließen.
möglicht gerade die Steilheit bei Beginn und Ende Ein Nachteil der Pulsmodulation ist das ungüns-
die Laufzeitunterscheidung. Die gesamte Leistung tige Verhältnis von Spitzenleistung zur mittlerer
zwischen Anstieg und Abfall ist weitgehend nutzlos Leistung. Zur Verbesserung des Signal/Rausch-Ab-
für eine Entfernungsmessung. Ein guter Kompro- stands und damit zur Erhöhung der Empfindlich-
miss ist eine Form der Pulseinhüllenden gemäß keit werden Pulsfolgen „abgefeuert“, über die dann
einer Cosinus-Glocke, die in der digitalen Signal- gemittelt wird. Zwar lassen sich über sogenannte
268 Kapitel 17 • Radarsensorik
.. Abb. 17.7 Durch
tastfrequenz den ADC verteuert, ohne dass wirk- Dopplerverschiebung
lich eine höhere Informationsqualität erreicht wird. bewirkte Drehung des
Die Wiederholung der Pulse ist aus zwei Grün- Zeigers in der komple-
den erforderlich. Zum einen enthält ein Einzelpuls xen Q/I-Ebene
nur eine geringe Energie, so dass zur Erhöhung des
Signal-Rausch-Verhältnisses eine Wiederholung
sowohl kostengünstiger als auch hinsichtlich der So ist bei 76,5 GHz für rP D 1m=s eine Mess-
Frequenzzulassung unkritischer ist als eine Erhö- zeit von etwa 2 ms erforderlich.
hung der Pulsleistung. Zum anderen soll die Dopp- Bei einer exakt periodischen Pulswiederholung
lerfrequenz eindeutig abgetastet werden, woraus können sowohl Scheinziele durch Überreichweiten
sich nach ▶ Abschnitt 17.2.2 mindestens eine Puls- entstehen als auch Störeinstrahlungen durch andere
wiederholung von 71,4 kHz ergibt. Die Gesamtlänge Radarsensoren. Abhilfe kann hier eine pseudo-zu-
TM der Pulsfolgen führt zur Auflösung der Doppler- fällige Variation der Pulswiederholzeiten schaffen
frequenz von (vgl. [11]), d. h. der Folgepuls variiert gegenüber der
mittleren Zykluszeit um mindestens eine Range-
1 (17.20) Gate-Dauer, damit bei wiederholtem Puls die Stö-
fDoppler D ;
TM rung oder die Überreichweite in ein anderes Range-
und damit zur Relativgeschwindigkeitsauflösung Gate fällt.
von Grundsätzlich lassen sich mit einer kohärenten
Puls-Demodulation auch kleine Abstände unterhalb
c (17.21) der Pulslänge messen, wenn der Empfangszweig
rP D :
2f0 TM auch simultan zur Pulsaussendung bereit steht.
270 Kapitel 17 • Radarsensorik
17.2.5 Frequenzmodulation
1
Bei der Frequenzmodulation wird die Frequenz f0
2 als Funktion der Zeit variiert, wobei klar zu stellen
ist, dass es sich nicht um eine absolute und somit
konstante Frequenz handelt, sondern um eine Mo-
3 mentanfrequenz f0(t) = w0(t)/2p. In diesem Kapitel
wird Frequenzmodulation auf alle Verfahren bezo-
4 gen, bei denen die Information über die Laufzeit
durch Frequenzvariation erreicht wird.
5 Der grundsätzliche Aufbau von FM-Radar ist
in . Abb. 17.8 dargestellt. Für die Funktionsweise
zwingend ist die Variation der Frequenz mittels
6 eines spannungsgesteuerten Oszillators, der direkt
oder über eine Regelschleife (z. B. Phase-Locked-
7 Loop, PLL) die gewünschte Modulation ermöglicht.
Das empfangene Signal wird mit dem aktuell aus-
gesendeten Signal gemischt, gefiltert, abgetastet und
8 gewandelt. Für die Signaltrennung von Sendezweig
.. Abb. 17.8 Blockschaltbild eines Radars mit Frequenz-
und Empfangszweig können wahlweise räumlich
9 modulation. Oben: in einer bistatischen Ausführung mit
getrennten Antennenzuführungen für Sende- und Empfangs- getrennte Zuleitungen (. Abb. 17.8 oben) oder spe-
strahl; unten: in monostatischer Ausführung mit Zirkulator- zielle nicht-reziproke Koppler (. Abb. 17.8 unten)
10 Kopplung verwendet werden, die richtungsselektiv koppeln.
2r
'r;i D '0 'r;i D tof !i D !i ;
c (17.23)
i D 1; 2
.. Abb. 17.9 Prinzip der Frequenzumtastung (Frequency-
und damit in der Differenzbetrachtung Shift-Keying, FSK) mit mehreren Stufen
2r
'r;2 'r;1 D tof ! D !; Damit ergeben sich Stufenhöhen Df von maximal
c (17.24) 188 kHz @ 400 m. Dieser Abstandswert liegt zwar
! D !2 !1 außerhalb der betrachteten Abstandszielbereiche. Es
kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass gut re-
Der Phasenunterschied ist also umso größer, je grö- flektierende Objekte auch aus diesem Entfernungs-
ßer der Abstand r und je höher die Differenzkreis- bereich erfasst werden. Die minimale Anzahl der
frequenz ist. Nun gilt aber auch hier, dass eine Phase Stufen nmin ergibt sich aus dem Verhältnis rmax / rmin
nicht eindeutig bestimmbar ist. Man misst zunächst von maximalem zu minimalem Abstand.
nur die mit der Amplitude multiplizierten Cosinus-
rmax
Werte, in diesem Falle zwei Werte. Eine I/Q-Mi- nmin D (17.27)
schung, wie in ▶ Abschnitt 17.2.3 und 17.2.4.3 ge-
4rmin
zeigt, würde hier Abhilfe leisten, allerdings auch die
Kosten für die Demodulationshardware erheblich Erweitert man die obige Betrachtung auf relativ zum
erhöhen. Alternativ kann mit weiteren Frequenz- FSK-Radar bewegende Objekte, so bleiben alle Aus-
sprüngen analog zu . Abb. 17.9 eine erste Aussage sagen weiter erhalten. Allerdings ist das Signal der
zum Abstand getroffen werden. Damit der Cosinus- einzelnen Stufe kein Gleichsignal, sondern variiert
Bogen als solcher erkannt werden kann, müssen die gemäß Gl. (17.22) mit der Dopplerfrequenz
n Stufen zusammen eine Phasenänderung von min-
fi
destens 45° (p/4) bewirken. Somit bestimmt sich fDoppler;i D 2rP.(17.28)
der Gesamthub der Frequenzstufen n · Df aus der c
minimalen messbaren Entfernung rmin zu
Zwar unterscheidet sich die Dopplerfrequenz jeder
'r;n 'r;1 D tof n! D Stufe wegen der unterschiedlichen Grundfrequenz
(17.25) fi, die Änderungen sind aber so gering (< 10–5), dass
2rmin c
n! D ) nf bei einer Fourieranalyse die Dopplerfrequenzen in
c 4 16rmin
dieselbe Frequenzzelle fallen. Dennoch können sich
durch die Unterschiede Phasenverschiebungen auf-
Dies führt zu einem Hub n · Df von 625 kHz @ summieren, die aber vorherbestimmbar sind und
30 m bzw. 18,75 MHz @ 1 m. Diese Werte können damit auch kompensiert werden können.
als Anhaltspunkt für die minimal benötigte Band- Im Prinzip können die Objekte allein anhand
breite zur Abstandsmessung dienen. Die Zahl der der Dopplerfrequenz detektiert werden, allerdings
Stufen ergibt sich aus dem Eindeutigkeitskriterium ist das Vorzeichen der Dopplerverschiebung nicht
bei maximal anzunehmendem Objektabstand rmax. bekannt. Dieses lässt sich aus der Phasendifferenz
So darf die Phasenänderung zwischen zwei Stufen zwischen den Stufen bei den gefundenen Dopp-
nicht größer als 180° (p) sein. lersignalen ableiten. Vergrößert sich die Phase bei
Erhöhung der Sendefrequenz, dann liegt eine po-
'r;iC1 'r;i D tof ! D sitive Dopplerfrequenz vor, also ein sich näherndes
2rmax c (17.26) Objekt. Verringert sich dagegen die Phase, bleibt
! D ) f
c 4rmax als sinnvolle Erklärung nur eine negative Doppler-
272 Kapitel 17 • Radarsensorik
1
2
3
4
.. Abb. 17.10 FSK mit fünf ineinander geschachtelten Fre-
2
zum Beginn der Stufe gelegt werden, sodass Über- !obj D P (17.33)
.m! r C !0 r/
reichweiten von Objekten mit größeren Laufzei- c
ten als dieser Verzugszeit ausgeschlossen werden
können. eine (komplexe) Amplitude liefert. Die zur Verein-
fachung durchgeführte Näherung des Vorfaktors für
17.2.5.2 FMSK die Dopplerfrequenz, der Trägerfrequenz wi, mit der
Eine ebenfalls auf Frequenztreppen basierende Startfrequenz w0, führt bei Modulationshüben von
Modulation nennt sich Linear Frequency Modu- 100 MHz und der Trägerfrequenz 76,5 GHz nur zu
lation Shift Keying (LFMCW/FSK) [12]. Diese ist Fehlern (wi – w0) / wi im Promillebereich.
in . Abb. 17.11 dargestellt. Einer Frequenztreppe A In beiden Treppen findet sich bei wobj eine Am-
mit nS Stufen folgt zeit- und frequenzversetzt eine plitude gleichen Betrags, aber mit unterschiedlicher
Frequenztreppe B. Für Treppe A ergibt sich analog Phase
zu Gl. (17.22) und Gl. (17.23) ein Mischsignal
2
'BA D P (17.34)
.!BA r C !0 t0 r/;
c
1 2!i
ult;r;i;A .ti;A / D At Ar cos P i;A
rt
2 c
2r
von einem geschwindigkeitsabhängigen Teil wegen
C !i;A ; (17.30) des Zeitversatzes und zusätzlich von einem ab-
c
standsabhängigen Teil wegen des Frequenzversat-
i D 1; : : : ; n: zes. Beide Informationen, die Frequenz des Signals
wobei (Gl. (17.33)) und die Phasendifferenz zwischen den
komplexen Amplituden der beiden Treppen (Gl.
!i;A D !0;A C iA !
(17.34)) sind eine Linearkombination von Relativ-
D !0;A C ii;A m! ; geschwindigkeit und Abstand und lassen sich ent-
ti;A D t0 C 2it0 I(17.31) sprechend in einem rP rDiagramm jeweils als
i D 1; : : : ; nS ; Geraden darstellen (siehe auch . Abb. 17.12).
c !obj; max 2c !0 rP
1 c 'BA
rP D
!BA (17.36)
r:
rmax D
2
m!
2 !0 t0 !0 t0 2 nS 2
c 2T c !0 rP
2 D M
Sofern die zweite Treppe nicht exakt in der Mitte 2 m! (17.41)
der ersten liegt, also mw Dt0 ≠ DwBA, gibt es einen c !0 rP
3 Schnittpunkt beider Geraden, wodurch eine eindeu-
D
4m! t0
m!
;
1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 17.15 FMCW mit einer negativen Rampe bei
8 .. Abb. 17.14 FMCW mit einer positiven Rampe bei einem
sich nähernden Objekt. Links oben: Gesendetes und empfan- einem sich nähernden Objekt. Links oben: Gesendetes und
genes Signal; rechts oben: Spektraldarstellung der Differenz- empfangenes Signal; rechts oben: Spektraldarstellung der
gilt, gibt es trotzdem eine eindeutige Zuordnung res als eine zwei-dimensionale Fouriertransforma-
1 vom Abstand zur Frequenzzelle tion des Datenfelds, bei dem Messdaten einzelner
Chirps die Spalten bilden und die Folgechirps die
2 !obj D
2
c
m! r,(17.49) Zeilen. Das Ergebnis liegt in einem zwei-dimensi-
onalen Spektrum vor, dessen Elementarzelle durch
weil die Rampen so kurz sind, dass eine Doppler- Dr = c / 2fchirp und rP D c=2f0 TM beschrieben wird.
3 verschiebung innerhalb der Rampendauer nicht re- Die Ausdehnung des Feldes wird durch die Abtast-
levant wird und somit eine strenge Korrespondenz frequenz fs und die Chirpfolgefrequenz nR / TM be-
4 zwischen wobj und r herrscht. Diese Beziehung gilt stimmt.
für alle folgenden Rampen, solange das Ziel in der
c
5 Gesamtmesszeit innerhalb der Abstandszellenaus- rmax D
4m!
fs ;
dehnung bleibt. Diese Bedingung kann durchaus
bei einer hohen Relativgeschwindigkeit und einer nR rP nR c (17.51)
6 langen Gesamtmessdauer TM verletzt werden, wenn
jrj
P max D
2
D
TM 4f0
nämlich
7 r c
Die Chirp Sequence Modulation erreicht eine best-
jrj
P > D (17.50) mögliche Ausnutzung der Signalleistung, der Band-
TM 2TM fchirp breite und der Messzeit. Die Qualität der Messung
8 wird neben dem Rauschen des Empfangszweigs
ist. Bei einer hohen Abstandsauflösung von 1 m (ent- nur durch die Qualität der Frequenzerzeugung
9 sprechend fchirp = 150 MHz) und einer Messdauer von bestimmt, denn Nichtlinearität, hohes Phasenrau-
20 ms tritt dies oberhalb jrj
P D 50 m=s auf. Trotz sol- schen und Ungenauigkeiten bei der Rampenwie-
10 cher Grenzen kann davon gesprochen werden, dass derholung (Zeit- und Frequenzfehler) führen zum
die Frequenzzellen Abstandszellen entsprechen, die „Auslaufen“ der Detektion-Peaks und verschlech-
in zur kohärenten Pulsdemodulation (Puls-Doppler) tern die Detektionsfähigkeit, vor allem am Rande
11 ähnlicher Weise als Range-Gates aufgefasst werden. des Detektionsfelds, also bei großen Abständen und
Zu jeder Zelle existiert nach der Fouriertransfor- Relativgeschwindigkeiten.
12 mation wie bei der Puls-Doppler-Auswertung in Der Nachteil der Chirp-Sequence-Modulation
▶ Abschnitt 17.2.4.3 eine komplexe Amplitude. Diese ist die hohe Abtastrate (> 2 rr
max
TnMR ) und die re-
Amplitude beschreibt in den folgenden Rampen in sultierend große Zahl an Messwerten 2 rr
13 nR
max
gleicher Weise wie die Pulsfolgen in der komplexen für die zweidimensionale Fouriertransformation.
Ebene einen Kreis mit der der Dopplerfrequenz zu- So entstehen fast leere Datenfelder mit mehr als
14 gehörigen Kreisgeschwindigkeit wDoppler. Eine Fou- 100.000 Stützpunkten für die maximal 100 Ob-
riertransformation der komplexen Amplituden der jekte, entsprechend besteht hier der Wunsch,
15 Rampenfolge mit derselben Abstandszelle liefert die Datenrate zu senken. Dies ist auf Kosten von
daher direkt die Dopplerfrequenz und zwar sowohl Alias-Effekten möglich, z. B. durch Reduktion der
für mehrere Ziele in derselben Abstandszelle und un- Chirp-Wiederholfrequenz. Die sich damit einge-
16 terschiedlicher Relativgeschwindigkeit als auch mit handelte Relativgeschwindigkeitsmehrdeutigkeit
Vorzeichen, da nun ein komplexer Datensatz trans- lässt sich für Einzelziele durch Vergleich mit der
17 formiert wird. Die Analogie zur Puls-Doppler-Aus- Abstandsableitung beheben. Diese Maßnahme ver-
wertung führt daher auch zur Bezeichnung Pulskom- sagt allerdings, wenn Ziele mit einem Geschwin-
pression, weil nun die gesamte Energie der Rampe auf digkeitsunterschied von einem Vielfachen der zur
18 ein Range-Gate konzentriert wurde und somit gegen- Chirp-Wiederholfrequenz korrespondierenden
n c
über einer ca. tausendfach kleineren Pulsdauer ein Geschwindigkeit vchirp D 2f0RTM verschmelzen –
19 erheblich besseres Signal-Rausch-Verhältnis erreicht wie beispielsweise ein Ziel, das mit vchirp entlang
wird, ohne die Spitzenleistung dafür anzuheben. einer Leitplanke fährt. Die Folgen sind falsch be-
20 Der beschriebene Ansatz mit zwei aufeinander stimmte Beschleunigungen des Zielobjekts und
folgenden Fouriertransformationen ist nichts ande- daraus abgeleitet auch falsche Reaktionen z. B. ei-
17.3 • Winkelmessung
279 17
ner ACC. Abhilfe können variable Chirp-Wieder- der Sende- mit der Empfangscharakteristik. So lange
holfrequenzen leisten, um zumindest über mehrere die Sendeantenne nicht weit von der Empfangsan-
Messzyklen die Eindeutigkeit wiederherzustellen. tenne entfernt ist, kann die Zweiwege-Charakteristik
In jedem Fall muss bei einer reduzierten Chirp- als das (i. A. komplexe) Produkt der Einwege-Cha-
Wiederholfrequenz beachtet werden, dass die rakteristik beschrieben werden. Bei Verwendung ei-
Frequenz-Abstandszuordnung um einen Relativge- nes monostatischen Einstrahl-Konzepts, also wenn
schwindigkeitsanteil korrigiert werden muss, ana- der Sendestrahl durch dieselbe Antenneneinheit
log zum FMCW-Verfahren (vgl. Abb. 17.14). Neben läuft wie das Empfangssignal, ergibt sich das (bei
der Reduktion der Chirp-Wiederholfrequenz kann nicht um Antennenmitte spiegelsymmetrischer Be-
auch bei der Abtastung innerhalb eines Chirps mit legungsfunktion komplexe) Quadrat E2(f, J) .
Unterabtastung eine Reduktion des Datenaufkom- Für drei einfache, symmetrische eindimen-
mens erreicht werden. Natürlich fallen auch dabei sionale Fälle von Belegungsfunktionen ist die
entsprechende Alias-Nebenwirkungen an. sich daraus ergebende Antennencharakteristik in
. Abb. 17.18 dargestellt. Die Abszisse verwendet
die normierte Größe F = (lA / l)sinf und ist somit
17.3 Winkelmessung durch das Verhältnis von Aperturweite lA (Anten-
nenöffnungsweite) und Wellenlänge skaliert.
17.3.1 Antennen-theoretische An diesen Beispielen lässt sich bereits der
Vorbetrachtungen Konflikt zwischen möglichst starker Bündelung
der Hauptkeule und möglichst geringer Höhe der
Vor der Beschreibung der Winkelbestimmung Nebenkeulen ablesen. Wie in einer Tabelle bei [2]
werden benötigte Grundlagen zur Strahlform von aufgeführt ist, kann je nach Belegungsfunktion ein
Radarsensoren eingeführt. Die Strahlcharakteristik zum Winkelauswertungskonzept passender Kom-
der elektrischen Feldstärke E(f, J) im Fernfeld, d. h. promiss gewählt werden, vgl. . Abb. 17.19. Eine
bei Abständen, die viel größer als die Wellenlänge für die Unterdrückung der ersten Nebenkeule op-
sind, ergibt sich (vgl. [2]) als inverse Fouriertrans- timale Charakteristik weist das Hamming-Fenster
formierte der Antennenbelegungsfunktion A(x, y), auf, bei dem am Rand noch 8 % der in der Mitte
wobei der Azimutwinkel f zur Belegung in x-Rich- herrschenden Amplitude verbleibt. Trotz solcher
tung und der Elevationswinkel J zur y-Richtung Optimierungsstrategie müssen die Antennen etwa
korrespondiert. Der nach links positive Azimut- achtzigfach größer als die Wellenlänge mal dem
winkel f liegt in der Sensor-Horizontalebene des Kehrwert der Hauptkeulenbreite pro Grad sein, ein
in ZS-Richtung orientierten Sensors und der Ele- Grad Hauptkeulenbreite verlangt eine etwa lA = 80 l
vationswinkel J beschreibt den Winkel zur ZS-XS- große Aperturweite, entsprechend 32 cm bei 1° und
Ebene (nach oben positiv). Für eine ebene Antenne 77 GHz.
parallel zur XS-YS-Ebene ergibt sich gemäß [2] Als weitere unerwünschte Nebenwirkung ei-
ner hohen Nebenkeulenunterdrückung kommt
“
eine Absenkung des Antennengewinns hinzu (s. a.
E.˚; #/ D A.x; y/
. Abb. 17.18), denn die Unterdrückung wird immer
2 (17.52) durch eine zum Rand der Antenne hin sinkende Be-
ej .sin .x˚ Cy#//
dxdy
legungsfunktion erwirkt. Entsprechend sinkt die ef-
fektive Antennenfläche, die Hauptkeule wird breiter
mit 2 D ˚ 2 C # 2 und somit die Leistung auf einen breiteren Bereich
verteilt, was wiederum zu einer Abnahme der Inten-
Diese Gleichung beschreibt zunächst die Feldstär- sität in der Mitte des Strahls führt.
keverteilung im Fernfeld für eine mit der Belegungs- Für Long-Range-Radaranwendungen wie ACC
funktion A(x, y) abgestrahlten Welle, gilt aber in (s. ▶ Kap. 46) ist für die Gesamtabdeckung ein Win-
gleicher Weise für den Empfang. Somit gilt für die kelbereich ˚max von etwa 10°… 20° Azimut und
Winkelabhängigkeit eines Sensors die Multiplikation 3° Elevation gefordert. Eine Trennfähigkeit hin-
280 Kapitel 17 • Radarsensorik
.. Abb. 17.18 Berech-
1 nete eindimensionale
Antennencharakteristik für
eine Rechteckbelegungs-
2 funktion und eine einfache
sowie eine quadrierte
Cosinus-Halbglocke,
3 normiert auf die Gesamt-
leistung. Die Abszissenva-
riable F = (lA / l)sinf ist der
4 auf das Verhältnis lA / l der
Aperturweite zur Wellen-
6
7
8
9 sichtlich der Elevation wäre zur Unterscheidung
einer Brücke von einem stehenden Fahrzeug – Hö-
10 henunterschied etwa 2 m – wünschenswert. Dafür
aber wäre eine Trennfähigkeit im Fernbereich von
1° (= 2 m/116 m) und folglich eine Antenne von
11 mindestens 30 cm erforderlich, was hinsichtlich des
verfügbaren Bauraums indiskutabel ist. Somit be-
12 schränkt sich die Winkelauswertung im Fernbereich
auf den Azimut. Für die in den letzten Jahren stark
zugenommene Anwendung von Radar im Nahbe-
13 reich, insbesondere für Full Speed Range-ACC (s.
▶ Kap. 46) oder für Kollisionsschutzsysteme, sind
14 auch stehende Hindernisse zu klassifizieren. Daher
wird für diese Funktionen nicht nur ein deutlich
15 ausgeweiteter azimutaler Bereich (30°… 60°) be-
.. Abb. 17.19 Nebenkeulenunterdrückung vs. Breite der
nötigt, sondern auch eine Auflösung in Elevation
Hauptkeule (bei –3 dB, Einweg) nach [2]
gewünscht. Hier kann man insbesondere mit einer
16 Planar-Antenne (s. ▶ Abschnitt 17.3.6) mit vertret-
baren Abmessungen die Messung der Elevation er- Planarantenne mechanisch so schnell geschwenkt,
17 reichen und somit die viel zitierte Cola-Dose von dass innerhalb eines Mess- und Auswertezyklus
höheren Objekten unterscheiden. (50 … 200 ms) der gesamte azimutale Erfassungs-
bereich überstrichen wird. . Abbildung 17.20 zeigt
18 das Prinzip. Die Radarkeule hat wegen der oben be-
17.3.2 Scanning schriebenen Abhängigkeit zur Aperturweite min-
19 destens 2° Hauptkeulenbreite, wenn die Apertur-
Das vom Verständnis einfachste Verfahren zur weite nicht größer als 15 cm werden soll. Die Keule
20 Winkelbestimmung ist das mechanische Scan- wird in etwa 1°-Schritten über den Messbereich „ge-
ning. Dazu wird eine Strahlablenkeinheit oder eine schoben“. Statt einer wirklich diskreten Schrittsteu-
17.3 • Winkelmessung
281 17
(17.55)
.. Abb. 17.22 Mehrstrahl-Prinzip zur Winkelbestimmung. ist in . Abb. 17.22 dargestellt. Die Winkelauswer-
Oben: überlappende Keulen; Mitte: die azimutale Winkelcha-
tung erfolgt durch den Vergleich mit der sensor-
rakteristik der einzelnen Strahlen; unten: von einem Punktre-
flektor resultierende Leistung in den einzelnen Strahlen
spezifischen normierten Antennencharakteristik,
die in einem nicht-flüchtigen Speicher abgelegt ist.
Beispiele realer Winkelcharakteristika sind in den
Werden das Differenz- und das Summensignal . Abb. 17.23 und 17.24 dargestellt.
simultan gemessen und ist eine komplexe Ampli- Nur der mittige Strahl von . Abb. 17.23 zeigt
tudenbestimmung möglich, dann besteht grund- eine starke Nebenkeulenunterdrückung. Die
sätzlich doch die Möglichkeit einer Signalplausi- Nachbarkeulen zeigen jeweils zur Gegenseite ihrer
bilisierung über die Differenzphase zwischen AD Hauptorientierung deutlich erhöhte Nebenzipfel
und AS. Dazu bedient man sich der Trennung der auf, die damit auf eine asymmetrische Belegungs-
Einflüsse (Amplitudencharakteristik und Phasen- funktion hinweist, die von der außermittigen Be-
unterschied). Da unterschiedliche Amplitudencha- strahlung herrührt, vgl. auch ▶ Abschnitt 17.8.3.
rakteristika auch zumeist mit Phasenunterschieden Beim Vierstrahler in . Abb. 17.24 sind alle Strahlen
verbunden sind, ist eine Speicherung der Gesamt- asymmetrisch, die äußeren in besonderem Maße.
charakteristik (Amplitudenverhältnis, Phasenun- Zur Ermittlung der Charakteristik werden am
terschied) in Abhängigkeit vom Azimutwinkel Ende der Sensor-Produktion automatisiert Kenn-
sinnvoll. Ein weiterer Vorteil ist die Verdopplung felder mittels Zielsimulatoren bestimmt. Die ge-
des Eindeutigkeitsbereichs der Phasenauswertung messenen Signalleistungen |Ai|2 des i-ten Strahls
auf ±p, da bei arctan-Berechnung auch die Vorzei- (i = 1 … n) werden auf die Summe der Leistungen
chen der komplexen Amplituden genutzt werden aller Strahlen normiert
können.
jAi j2
ai D
P
n
jAj j2
17.3.4 Mehrstrahler j D1
Die Verwendung von Mehrstrahlern ermöglicht so dass bei einem Punktziel, das sich im Azimutwin-
die Verbesserung des Monopulsverfahrens. Zum kel f0 befindet, die Kreuzkorrelation
einen wird bei gegebener Einzelstrahlbreite der
Messbereich ausgedehnt. Zum anderen kann in den n
X
meisten Fällen eine wie oben beschriebene Mehr- K.˚ / D ai anorm;i .˚ /(17.56)
zielverfälschung erkannt werden. Das Grundprinzip i D1
284 Kapitel 17 • Radarsensorik
.. Abb. 17.24 Zwei-Wege-
1 Antennendiagramm eines
Vierstrahl-FMCW-Radars,
Beispiel Bosch-LRR2 [13]
2
3
4
5
6
7
mit dem entsprechend normierten Winkeldia- zuvor beschriebenen Weise (Gl. (17.56)) ausgewer-
8 gramm anorm,i bei einer Verschiebung ft = f0 ma- tet werden können.
ximal und einen Wert von nahe 1 annimmt. Ist der Simultaner Empfang bei Mehrstrahlern heißt,
9 Maximalwert deutlich kleiner als 1, dann kann da- dass zunächst nur die Empfängerseite mehrstrahlig
von ausgegangen werden, dass die Voraussetzung ist, während der Sendestrahl entweder aus einem
10 eines Einzelreflektors nicht gegeben ist und somit separaten Sendezweig kommt oder sich wie im Bei-
dem ermittelten Winkel nicht vertraut werden darf. spiel aus ▶ Abschnitt 17.8.1 aus der Überlagerung
Allerdings kann eine Auswertung gemäß Gl. (17.56) von mehreren Sendezweigen ergibt. Grundsätzlich
11 auch bei K(f0) ≈ 1 zu Verfälschungen führen, wenn lassen sich auch die Sendezweige verändern, z. B.
praktisch nur eine Keule eine hohe relative Emp- durch Schalter, allerdings werden damit zumeist
12 fangsleistung aufweist. Daher kann alternativ das auch die Mischer der entsprechenden Zweige
sogenannte Antennenmatching auf dB bezogen log- lahmgelegt, die für die Auswertung der empfange-
arithmisch ausgeführt werden und dann daraus der nen Signale benötigt werden. Außerdem muss für
13 Korrelationskoeffizient bewertet werden. Dies ver- eine solche sendeseitige Veränderung analog zum
langt jedoch einen hinreichenden Signal-Rausch- Scanning-Verfahren Messzeit zur Verfügung gestellt
14 Abstand aller Werte. werden, wodurch entweder länger gemessen oder
Auch bei Mehrstrahlkonzepten kann man von die Messzeit auf verschiedenen Strahlkonfiguratio-
15 den Phasenunterschieden gemäß Gl. (17.53) pro- nen aufgeteilt wird, wobei dies zu einer Verschlech-
fitieren, wenn das reflektierte Signal simultan auf terung der Relativgeschwindigkeitsmessung führt.
mehreren Kanälen empfangen wird. So erhält man Der simultane Betrieb von Mehrstrahlern mit
16 bei einem n-Strahler n–1 zusätzliche Informationen. Phasenauswertung kann auch als eine (einfache)
Eine Möglichkeit, diese auszuwerten, besteht darin, Form des digitalen Beamforming bezeichnet wer-
17 dass einem Strahl k, z. B. dem Mittenstrahl oder bei den, da die sequentielle Suche nach der höchsten
gerader Strahlanzahl einem der beiden mittleren, Korrelation abläuft, wie wenn nacheinander die An-
die Referenzphase zugeordnet wird. Dann lassen tenne mit ihrer Phasen- und Amplitudenkennung
18 sich aus der Differenzphase ' zu jedem der an- virtuell in die Suchrichtung gelenkt wird. Allerdings
deren Strahlen jeweils Real- und Imaginärteile bleibt die Sendecharakteristik unverändert, solange
19 AQ;i D jAi j cos '=2 und AI;i D jAi j sin '=2 nicht auch die Sendezweige verändert werden. Dies
bestimmen. So stehen bei simultanem Empfang ei- kann neben dem Schalten der Sendezweige auch
20 nes n-Strahlers insgesamt 2n–1 Informationen für durch gezielte Phasenverschiebungen zwischen
die Winkelbestimmung zur Verfügung, die in der den Einzelantennen der Sendezweige geschehen.
17.3 • Winkelmessung
285 17
.. Abb. 17.25 Doppel-Radar-Anordnung mit asymmetri-
schen Vierstrahl-Radarsensoren [14]
.. Abb. 17.26 Detektions-
abdeckung der Doppel-
Radar-Anordnung mit
asymmetrischen Vierstrahl-
Radarsensoren [14]
Solche meist als planare Phased-Arrays ausgeführte zeugaußen gerichtet sind, während die leistungs-
Antennen ermöglichen eine Vielzahl an Auswerte- stärkeren zentralen Keulen weitgehend parallel nach
methoden, auf die in ▶ Abschnitt 17.3.6 weiter ein- vorn ausgerichtet sind, vgl. . Abb. 17.25. Es ergeben
gegangen wird. sich vor allem drei Vorteile: eine breite Abdeckung
von Beginn an (d. h. nach der ersten Abstandszelle),
etwa ± 20° Sicht im Nahbereich und eine Überlap-
17.3.5 Dual-Sensor-Konzept pung im Hauptbereich, vgl. . Abb. 17.26. Die Über-
lappung kann sowohl zur Fehlererkennung als auch
Das in der Veröffentlichung [14] vorgestellte, mitt- zur Verbesserung der Signalverarbeitung, vorrangig
lerweile auch in Serie befindliche Konzept bündelt der Azimutwinkelbestimmung, eingesetzt werden.
zwei Radarsensoren zu einem integralen Dual-Sen- Dass für eine solche Anordnung nun zwei Einbau-
sor-Konzept. Dabei kommen zwei fast spiegelbild- plätze gefunden werden müssen, kann sowohl nega-
lich asymmetrische Antennencharakteristika zum tiv als auch positiv bewertet werden, insbesondere
Einsatz, bei denen die für eine breite Nahbereichs- positiv, wenn bei sichtbarem Einbau die „Radar-
ausleuchtung zuständigen Nebenkeulen nach fahr- Augen-Symmetrie“ erreicht werden soll. Nachteilig
286 Kapitel 17 • Radarsensorik
sind die doppelten Kosten gegenüber einem Einzel- nen. Auf die gesteuerte Phasenverschiebung wird
1 sensor, wobei der Verzicht auf zusätzliche Nahbe- beim Digital Beam Forming verzichtet und parallel
reichssensorik die Bilanz aufbessern kann. oder seriell der Datenstrom zu den Einzelanten-
2 nenelementen gespeichert und erst in der digitalen
Nachverarbeitung hinsichtlich der Phasendifferenz
17.3.6 Planar-Antennen-Arrays: ausgewertet.
3 Aus der Anzahl und dem Abstand der Einzel-
Planar-Antennen besitzen zwei für die Praxis rele- antennen lassen sich die Grenzen ableiten: Mit der
4
5 -
vante positive Eigenschaften:
Die Bautiefe der Sensoren wird erheblich
verkleinert. Sie wird nicht mehr wesentlich
von der Antenne dominiert, sondern vom Tie-
Schrittweite ist der maximale eindeutige Bereich
festgelegt (sin ˚ zwischen ˙1=2 ) und mit der
auf λ bezogenen Gesamtbreite (n , Anzahl n der
Empfangsarrayelemente) die Breite der Winkelzelle
fenbedarf für die anderen elektronischen und sin ˚ D 1=n . Eine komplexe Fouriertransfor-
6 mechanischen (wie Stecker) Komponenten, so mation über die Empfangsamplituden, die zu den
7
8
- dass Bautiefen von 15…30 mm resultieren.
Es lassen sich Arrays bilden, mit denen sich
Sende- und oder Empfangscharakteristik der
Antenne steuern lassen.
einzelnen Antennenelementen bei gleicher Ab-
stands- und Geschwindigkeitszelle vorliegen, liefert
somit ein Winkelspektrum (genau genommen muss
hierfür noch die arcsin-Funktion darauf angewen-
det werden). Für eine Antenne mit 1° Winkelzelle
Die häufigste Anordnung ist eine einzelne Sende- würde sich selbst bei λ = 4 mm (entspricht 77 GHz)
9 antennenfläche, die aus gemeinsam gespeisten, der eine Gesamtbreite von 23 cm ergeben. Diese Abmes-
Wellenlängendimension angepassten „Patches“ be- sungen übersteigen das tolerierte Einbaumaß erheb-
10 steht, und mehreren (≥ 4) Empfangsantennenflächen lich. Legt man zwei Sendeantennen jeweils an die
(ebenfalls aus einer Vielzahl von „Patches“ beste- linke und rechte Seite mit halbem Abstand zu den
hend). Aufgrund der wiederholten Flächenform der Empfangsantennen, so kann die Zahl der benötig-
11 Empfangsantennen ist die Empfangscharakteristik ten Empfangsantennen halbiert werden – also statt
für Ziele im Fernfeld gleich. Bei einem Einzelziel (in 1 Tx + 8 Rx nun 2 Tx + 4 Rx. Natürlich erfordert
12 derselben Abstands- und Relativgeschwindigkeits- dies einen Multiplex bei der Demodulation, da ent-
zelle) ergibt sich zwischen den einzelnen Empfangs- weder nur jeweils eine Tx-Antenne aktiv sein darf
antennen (Index i 2 Z, Versatz ) wie beim Mo- oder diese in einen wechselweisen Summen- und
13 nopuls-Prinzip (vgl. ▶ Abschnitt 17.3.3) eine Phase Differenzbetrieb versetzt werden. Bei Letzterem
von ' D i2 sin ˚ zzgl. eines bei allen gleichen wird eine Tx-Antenne mal mit dem zur anderen
14 willkürlichen Phasenoffsets, der deshalb vernachläs- Tx-Antenne phasengleichen Sendesignal angesteu-
sigt werden kann. Kommt ein weiteres Ziel hinzu, so ert und mal mit einem invertierten. Setzt man ein
15 überlagern sich die komplexen Amplituden, die von bistatisches Element an den Rand des Rx-Arrays, so
den beiden Zielen erzeugt werden, so dass nun auch reicht eine Tx-Antenne an der gegenüberliegenden
die Amplituden der einzelnen Array-Elemente nicht Seite (im gleichen Abstand wie zwischen den einzel-
16 mehr betragsmäßig gleich sind. Es entspricht einer nen Rx-Antennen), wie im Anwendungsbeispiel in
linearen Superposition eines komplexen Signals, das ▶ Abschnitt 17.8.2 ausgeführt.
17 von den Einzelantennen diskret mit der Schrittweite Die Breite des eindeutigen Sichtfeldes kann
„abgetastet“ wird, mit sin ˚ als korrespondierende durch eine hohe Zahl an Antennenelementen
Variable im Fourierraum. vergrößert werden, wobei neben den Kosten für
18 Bei Anpassung der Phasendifferenz durch vari- jeden neuen Signalkanal auch Platzprobleme für
able Phasenschieber lassen sich Antennenelemente die Empfangsfläche entstehen, die allerdings durch
19 zu elektronisch gesteuerten Antennen (ähnlich „ineinandergreifende“ oder schräg gestellte Felder
Phased-Array) mit hoher Richtwirkung zusammen- nur teilweise ausgeglichen werden können. Prak-
20 schalten. Werden diese Phasenschieber kontinuier- tisch bleibt die Zahl der Arrays auf Werte von
lich angesteuert, ergibt sich ein elektronisches Scan- vier bis acht beschränkt. Wenn die Antennenele-
17.3 • Winkelmessung
287 17
mente auch in vertikaler Richtung versetzt wer- trächtigt ist: Die systematischen Fehler bestehen im
den, ist auch eine Winkelmessfähigkeit in Eleva- Wesentlichen aus Unterschieden der Kanäle in Ver-
tion möglich. Dem Nonius-Prinzip ähnlich kann stärkung (Betrag) und Phase sowie Kopplungen der
mithilfe eines zusätzlichen kleinen Versatzes für Antennenelemente. Diese können durch Kalibra-
eine Teilmenge der Rx-Antennen der Eindeutig- tion am Bandende der Fertigung durch Laborgeräte
keitsbereich erweitert werden, so dass sowohl mit oder per Auto-Kalibrierung im Feld über die Rück-
hoher Richtwirkung im engen Winkelbereich eine führung statistischer Größen kompensiert werden
Fernbereichsmessung durchgeführt werden kann (z. B. wie in [8] oder [16] beschrieben). Der Einfluss
als auch eine Nahbereichsmessung in einem wei- von Rauschen lässt sich nur verringern, indem An-
ten Winkelbereich. In [15] sind viele der oben ge- nahmen über das Zielverhalten herangezogen wer-
nannten Ansätze dargestellt und weiter im Detail den, sei es über die maximale Zahl der Ziele, die in
beschrieben. der Abstand- und Geschwindigkeitszelle betrachtet
Jede „Ortsfrequenz“ des Fourierspektrums ent- werden müssen, oder über deren zeitliche Konstanz,
spricht einer virtuellen Antenne, so dass aus acht so dass über mehrere Messungen der Winkel ge-
diskreten Antennenelementen nach der diskreten schätzt werden kann.
Fouriertransformation acht virtuelle „Antennen- Durch die geringe Grundauflösung (große Win-
Keulen“ geformt werden. Allerdings darf nicht kelzelle) bedingt ist oft schon das Auftreten eines
vergessen werden, dass eine diskrete Fouriertrans- zweiten Ziels für die Bestimmung der Winkellage
formation bestimmte Annahmen voraussetzt: Dazu problematisch. Auswege bieten hier parametrische
gehört neben dem Abtasttheorem (Eindeutigkeits- Auswerteverfahren, die auf Basis der Hypothese
bereich) auch die Annahme der periodischen einer bestimmten Zielanzahl eine beste Schätzung
Fortsetzung der Signale, die transformiert werden. für diese angibt. Als bekannte Verfahren sind hier
Diese Annahme ist hier sicherlich nicht gegeben. MUSIC (Multiple Signal Classification) und ESPRIT
Somit erhält man eine Unschärfe im Spektrum (Estimation of Signal Parameters via Rotational In-
durch Auslaufen (Leckage) des Signals, das sich variance Techniques) zu nennen, die dafür allerdings
wie nur schwach abfallende Nebenkeulen äußert. mehrere Datensätze zur Berechnung benötigen,
Das übliche Gegenmittel, die Fensterung mit am dann aber auch die zuvor genannte Auflösungs-
Rande abnehmenden Fenstern wie das van Hann- grenze unterschreiten können. Nonlinear-Least-
Fenster, führt nur zu einer Absenkung der (effekti- Square (NLS)-Methoden können bereits mit einem
ven) Verstärkung der äußeren Antennenelemente, Datensatz sehr leistungsfähig Winkel der Ziele be-
womit die effektive Breite und die Auflösung sinkt. stimmen, sofern die Ziele nicht innerhalb der Auf-
Neben den nachfolgend beschriebenen Methoden lösungsgrenze liegen. Diese und weitere Methoden
der Trennung von mehreren Objekten lassen sich werden in [17] beschrieben und verglichen. In [18]
aus den Originalinformationen (komplexe Ampli- wird ein Multiple Target Identification (MUTI)-
tuden zu jedem Antennenelement) einfacher inter- Verfahren vorgestellt, das zunächst ermittelt, ob in
pretierbare Winkelinterpretationen ableiten, wenn der Elementarzelle (vgl. ▶ Abschnitt 17.4.4) mit glei-
man den Kunstgriff des „Zero-Padding“ einsetzt, chem Abstand und Relativgeschwindigkeit mehrere
bei dem die gleiche oder eine ganzzahlig vielfache Targets vorliegen. In den meisten Fällen wird dies
Zahl an Null-Elementen hinzugefügt wird. Diese nicht der Fall sein, so dass für diese Vielzahl ein we-
wirkt wie eine spektrale Interpolation, so dass bei nig rechenaufwendiges Bestimmungsverfahren für
gleicher Zahl an Nullen doppelt so viele virtu- die Winkellage genutzt werden kann, z. B. nach dem
elle Keulen zur Verfügung stehen, wobei sich die einfachen Phasen-Mono-Puls-Prinzip. Erst wenn die
tatsächliche Auflösung nicht verändert hat (jede Ein-Ziel-Bedingung nicht erfüllt ist, werden rechen-
zweite Keule entspricht exakt der Originalkeule aufwendigere Verfahren wie das schon genannte
ohne Zero-Padding). NLS-Verfahren genutzt.
Alle Mehrfachantennenanordnungen besitzen Für sendeseitige Arrays müssen die Phasen-
eine hohe Empfindlichkeit, wenn der Signalpfad zentren zwischen den Antennenelementen defi-
durch systematische oder zufällige Fehler beein- niert gesteuert werden; Phasennetzwerke können
288 Kapitel 17 • Radarsensorik
dies abhängig von den Einspeisestellen leisten. Die Zehnerpotenzen schwankt und zudem Mehrwege-
1 Butler-Matrix ist so ein Netzwerk, das in einer qua- Interferenzen diese Grenze alles andere als scharf
dratischen Anordnung mit zumeist 2n Eingängen wirken lassen.
2 und genauso vielen Ausgängen es ermöglicht, eine Der minimale Abstand kann nur dann klei-
definierte Phasendifferenz zwischen den benach- ner als das Trennfähigkeitsintervall sein, wenn auf
barten Antennenelementen (=Ausgänge) zu erzeu- die Mehrzielfähigkeit im Abstand verzichtet wird.
3 gen, wenn genau einer der Eingänge mit Leistung „Umklapp-Effekte“, wie in ▶ Abschnitt 17.2.5.2 (Gl.
beaufschlagt wird. Damit kann durch Umschalten (17.42)) und 17.2.5.3 beschrieben, können zu einer
4 des Sendezweigs auf einen der Eingänge der Sen- von der Relativgeschwindigkeit abhängigen Ver-
destrahl neu ausgerichtet werden, wie ein Scanner größerung des Minimalabstands führen. Bei Puls-
5 mit diskreten Winkelstufen. Radar-Systemen, die für Senden und Empfangen
dieselben Antennenzweige verwenden, kann erst
nach Abklingen des Sendepulses gemessen werden,
6 17.4 Hauptparameter woraus ein etwa der Pulslänge entsprechender Be-
der Leistungsfähigkeit reich resultiert, in dem der Abstand nicht korrekt
7 bestimmt werden kann, wohl aber ab ca. 25 % der
Auch wenn sich aus dem Funktionsverständnis, ins- Pulslänge ein Ziel detektiert wird.
besondere der Modulation und der Winkelauswer-
8 tung, die wichtigsten Größen der Leistungsfähigkeit
ergeben, so sind sie hier in einer kurzen Übersicht 17.4.2 Relativgeschwindigkeit
9 zusammengefasst.
Für die Zellengröße rP und damit für die Trennfä-
10 17.4.1 Abstand
higkeit wie auch für die Genauigkeit der Relativge-
schwindigkeit ist die ununterbrochene Messzeit TM
entscheidend, vgl. z. B. Gl. (17.21) und (17.39). Für
11 Die Leistungsfähigkeit der Abstandsmessung ist die maximale und minimale Relativgeschwindigkeit
hauptsächlich durch die Frequenzbandbreite fBw ist die Abtastung des Dopplereffekts maßgeblich.
12 der Modulation gegeben, vgl. z. B. Gl. (17.18) und Allerdings ist eine Mehrdeutigkeit durch eine zu
(17.40) und bestimmt die Abstandszellengröße niedrige Abtastfrequenz durchaus kompensierbar,
wenn über die Abstandsdifferentiation eine Zuord-
13 c (17.57) nung zu den Mehrdeutigkeitsbereichen gelingt.
r
2fBw
14
und damit die Trennfähigkeit. 17.4.3 Azimutwinkel
15 Die Messgrenze für den maximalen Abstand
wird bei Radar mit Frequenzmodulation im We- Für die Leistungsfähigkeit der Azimutwinkelbestim-
sentlichen durch die Abtastrate (vgl. Gl. (17.51) mung ist keine einfache Relation anzugeben. Ideal
16 bestimmt, während sie bei Puls-Doppler-Radar wäre zwar ein azimutal schmaler Strahl, der elektro-
durch die Länge des abgetasteten Empfangssignals nisch oder mechanisch einen möglichst breiten azi-
17 gegeben ist. mutalen Sektor abtastet. Bei Monopuls- und Mehr-
Die maximale Entfernung bezogen auf ein Stan- strahlkonzepten ist eine breite Ausleuchtung nur
dardziel hängt neben den Modulationsparametern durch ebenfalls breite Einzelstrahlen möglich. Als
18 auch von der Sendeleistung, der Antennengüte Qualitätsmerkmal wird hier der Gesamtmessbereich
(Verstärkung 0°) und dem Signal/Rausch-Abstand
19 der Empfängerelektronik ab, vgl. Gl. (17.4), ▶ Ab- ˚max D ˚max ˚min(17.58)
schnitt 17.1. Dabei ist zu bedenken, dass in der
20 Praxis die Reflektivität der Objekte um mehrere
17.4 • Hauptparameter der Leistungsfähigkeit
289 17
˚max (17.59)
˚min D
Nazimut 1
umso höher ist, je größer das Bereichsvolumen und 17.4.5 24 GHz vs. 77 GHz
1 je kleiner das Zellvolumen ist.
Allerdings ist zu beachten, dass neben den prin- Das Frequenzband von 24,0–24,25 GHz erlaubt ne-
2 zipbedingten Grenzen weitere Verschlechterungs- ben dem 76–77 GHz-Band ebenfalls eine Radarnut-
gründe existieren. Insbesondere kann die Frequenz- zung im Straßenverkehr. Vorteile dieses Bandes sind
erzeugung und -modulation zur Verschlechterung die verlustärmere Leitungsführung und die kosten-
3 beitragen. Sowohl eine nichtkonstante Amplitude günstigeren Komponenten, auch wenn der Abstand
über die ununterbrochene Messzeit als auch Pha- mit zunehmendem Einsatz von SiGe-Komponenten
4 senrauschen oder Nichtlinearitäten führen zur Ver- bei 77 GHz zurückgehen wird. Nachteilig ist die
breiterung der Frequenzpeaks und reduzieren die Zunahme der Relativgeschwindigkeitszelle anzuse-
5 Trennfähigkeit. hen, weil die Dopplerfrequenz proportional mit der
Neben der Trennfähigkeit spielt die Auflösung Trägerfrequenz skaliert. Der größte Unterschied aus
für die Qualität eine große Rolle. Hierzu werden der niedrigeren Frequenz resultiert aus der höheren
6 benachbarte Zellen zu einer Peak-Schwerpunkt- Wellenlänge (λ ≈ 12 mm), die wiederum zu einer
bestimmung herangezogen, wodurch Auflösungen Verbreiterung der Strahlcharakteristik führt, wenn
7 von etwa 1/10 der Zellenbreite möglich werden. die Antennengröße beibehalten werden soll. Der
Allerdings gilt dies wiederum nur für Punktziele. Antennengewinn ist kleiner und die Winkelauflö-
Reale Ziele verursachen dagegen erheblich über sung verschlechtert sich. Daher ist der Einsatz von
8 diesem Wert liegende Streuungen. Wechselnde Re- 24 GHz für den Mid-Range bis 100 m prädestiniert.
flektionsschwerpunkte führen sowohl longitudinal Auch für den Nahbereich ist es gut geeignet, wenn
9 als auch lateral zu Sprüngen von mehreren Metern, eine breite Strahlcharakteristik gewünscht ist. Aller-
aber auch in der Relativgeschwindigkeit entstehen dings ist durch die Bandbegrenzung unterhalb von
10 Streuungen, wenn Relativbewegungen detektiert 0,5 m die Detektion kaum möglich, so dass ein im
werden wie bewegliche Teile oder Transportgut mit Band bleibendes 24 GHz-Radar die Einparkhilfe-
einem relativen Freiheitgrad, z. B. Autos auf Auto- sensoren nicht überflüssig machen kann.
11 anhängern. Diese Streuungen können so stark sein, Einen nur temporär geduldeten Ausweg bot
dass ein Objekt in mehreren Zellen detektiert wird. die Ultra-Wide-Band-(UWB) Technik. Bei dieser
12 Durch zumeist heuristische Ansätze müssen dann Technik wird zwar auch mit einer Trägerfrequenz
diese Zellen wieder zu einem gemeinsamen Objekt von 24,15 GHz gearbeitet. Allerdings werden sehr
gebündelt werden. kurze energiearme Pulse ausgesendet. Die nur
13 Neben der Leistungsfähigkeit, Objekte zu de- etwa 0,5 ns langen Pulse führen zu einer effektiven
tektieren, spielt die Robustheit gegenüber Artefak- Nutzbandbreite von 5 GHz (→ UWB Band 21,65–
14 ten eine wichtige Rolle. So sind weder sogenannte 26,65 GHz). Zwar bleiben sie mit der auf diese
Geisterziele gewünscht – also Objekterkennungen Gesamtbreite verteilten Energie unterhalb der Zu-
15 ohne existierendes Objekt – noch verfälschte Werte lassungsschwellen der benachbarten Bänder, aller-
zu existierenden Objekten. Nichtlinearitäten in der dings findet dies noch keine Akzeptanz. So ist in der
Signalkette können zu Vertretern der ersten Gruppe Nähe von Radioastronomiestationen UWB-Radar
16 führen, nicht aufgelöste Mehrdeutigkeiten und In- abzustellen, woraus sich eine Zwangskopplung mit
terferenzen zur zweiten Gruppe. Eine weitere er- einem Ortungssystem ergibt.
17 wartete Fähigkeit ist die Unterdrückung von Zielen, Seit dem 1. 7. 2013 ist die Indienststellung eines
die über- oder unterfahrbar sind, wie beispielsweise 24 GHz-UWB-Radars nur noch im reduzierten Fre-
Gully-Deckel oder Brücken, zumindest im Bereich, quenzbereich 24,25 – 26,65 GHz, ab 1.1.2018 über-
18 in dem die Auslösung einer Notbremsung auf ein haupt nicht mehr in Europa erlaubt. Daher steht nur
stehendes Ziel nicht mehr ausgeschlossen ist, vgl. noch der 77–81 GHz-Bereich zur Verfügung, auch
19 ▶ Kap. 47. Die angesprochene Robustheit lässt sich wenn dies mit zunächst noch höheren Kosten ver-
leider nicht durch Angabe von Design-Parametern bunden und ebenfalls nicht in allen Ländern dieses
20 vorhersagen, da die Bekämpfungsmaßnahmen Band zugelassen ist. Dieses neue Band ist bezüg-
„tief “ in den Auswertealgorithmen vergraben sind. lich der anderen Grenzwerte so großzügig bedacht,
17.5 • Signalverarbeitung und Tracking
291 17
Verarbeitungsschritt Erläuterung
Spektralanalyse Zumeist ein- oder zweidimensionale (Fast-) Fouriertransformation der digitalen Daten,
dabei enthalten die Frequenzlage und die komplexen Amplituden die Information über
Abstand, Geschwindigkeit und Azimutwinkel.
Detektion Erkennen von Peaks im Spektrum, zumeist mittels Vergleich mit einer adaptiven
Schwelle.
Azimutwinkelbestim- Ermittlung des Azimutwinkels über den Vergleich der Amplituden verschiedener Emp-
mung fangszweige mit Antennencharakteristik
Bündelung (Clustering) Zusammenfassung von Detektionen, die vermutlich zu einem Objekt gehören.
dass auch andere Modulationsverfahren als UWB . Abb. 17.10, . Abb. 17.11 und . Abb. 17.13 oder
möglich sind, um eine geringe Abstandszelle zu er- die Rampengenerierung gemäß . Abb. 17.14 bis
reichen. Details dazu finden sich in der Schnittstel- . Abb. 17.17. Wird auch die Antennencharakteristik
lenbeschreibung [19] der Bundesnetzagentur. dynamisch verändert (z. B. durch Scanning gemäß
Einen Zwischenweg bietet das 24 GHz-Band mit . Abb. 17.20), so ist auch dies zur Signalformung
dem sogenannten Wideband Low Activity Mode zu rechnen.
(WLAM), vgl. [20]. Hiermit werden von 24,05 Der erste Verarbeitungsschritt mit empfangenen
bis 24,50 GHz insgesamt 450 MHz Bandbreite zur Signalen besteht in der Vorverarbeitung und digi-
Verfügung gestellt, um für kurze Zeit für die Au- talen Datenerfassung. Dieser Schritt kombiniert die
tokalibrierung, für Notbremssituationen und für Demodulation und die digitale Datenerfassung und
Rückwärtsparken eine bessere Funktionalität zu enthält oftmals Anpassungsfilter, um z. B. die mit
bieten als mit den dauerhaft gebotenen 200 MHz- dem Abstand verbundene Empfangsleistungsabsen-
Schmalband-Radargeräten. kung zu kompensieren. Die analogen Signale wer-
den nach Demodulation und Verstärkung abgetastet
und in digitale Werte gewandelt. Dabei können so-
17.5 Signalverarbeitung wohl klassische Parallelwandler als auch S-D-Wand-
und Tracking ler Verwendung finden. Letztere sind 1-Bit-Wandler
mit Oversampling und nachgelagertem Digitalfilter.
Die Signalverarbeitung erfolgt auch für verschie- Diese sind allerdings nicht geeignet, wenn während
dene Modulations- und Antennenkonzepte weit- der Messung der Eingangskanal umgeschaltet wird
gehend in gleicher Abfolge, die in . Tabelle 17.1 (Multiplexbetrieb).
aufgeführt sind. Die Datenmenge entspricht der Zellenzahl ge-
Am Beginn steht die Signalformung. In allen mäß . Abb. 17.27, also ein Messwert pro Zelle. Sie
Konzepten fällt darunter die Signalmodulation, kann je nach Konzept zwischen tausend und einer
z. B. die Treppengenerierung gemäß . Abb. 17.9, Million Werten liegen.
292 Kapitel 17 • Radarsensorik
Unter Tracking versteht man die Bildung des ist, dass eine oder mehrere Übereinstimmungen in
zeitlichen Zusammenhangs einzelner Messereig- nachfolgenden Messungen benötigt werden, bevor
nisse zu quasikontinuierlichen „Spuren“ einzelner dieses Objekt für eine Anwendung (z. B. ACC) als
Objekte. Die Detektion und die nachfolgende Bün- Zielobjekt infrage kommt.
delung führen zunächst zu einzelnen Objekthypo- Kann für ein bestehendes Objekt keine Hypo-
thesen, die vorläufig nur für diesen einen Zyklus gel- these aus der aktuellen Messung zugeordnet wer-
ten. Im Tracking wird als nächstes die Zuordnung den, so sinkt die Objektqualität. Nach mehrmali-
zu Hypothesen vorheriger Zyklen versucht (Assozi- gem Ausfall fällt die Qualität unter einen definierten
ation). Üblicherweise sind diese Objekthypothesen Schwellwert, woraufhin dieses Objekt aus der Ob-
in Listen organisiert und haben Object Identifier als jektliste entfernt wird. Neben diesen grundsätzli-
„individuelles“ Kennzeichen. Für die Assoziation chen Fällen müssen mögliche Mehrdeutigkeiten
werden die Zustandsgrößen der bisher bekannten berücksichtigt werden wie beispielsweise dass ein
Objekte (z. B. Abstand oder laterale Lage) auf den aktuelles Objekt in das Suchfenster anderer Objekte
Zeitpunkt der aktuellen Messung prädiziert. Dann fällt oder dass mehrere Einzelobjekte der Liste zu
erfolgt die Zuordnung der aktuellen Objekthypothe- einem einzigen realen Objekt gehören.
sen zu den bisherigen, wobei ein Suchfenster um die Neben der Assoziation erfolgt mit dem Tra-
prädizierten Werte gelegt wird, da sowohl Mess- als cking eine zumeist sehr anwendungsspezifische
auch Prädiktionsfehler anzunehmen sind. Lässt sich Zustandsdatenfilterung, oftmals mit der Assozia-
zu einem bisherigen Objekt in diesem Suchfenster tion verbindbar als Kalman-Filter, der den für die
ein aktuell erkanntes Objekt zuordnen, so wird die Assoziation notwendigen Schritt der Prädiktion
Spur fortgesetzt. Gleichzeitig wird die Objektqua- schon implizit enthält. Die Zustandsgrößen von
lität erhöht oder bleibt auf hohem Niveau. Bleiben mit aktiven Sensoren erfassten Objekten enthalten
Objekte der aktuellen Messung übrig, so werden immer den Abstand in x- und y-Richtung, die Re-
neue Objekte in der Objektliste generiert und mit lativgeschwindigkeit, die Beschleunigung in Längs-
den Messdaten der aktuellen Messung initialisiert. richtung und manchmal die Quergeschwindigkeit.
Allerdings beginnt dieses Objekt seine Spur mit Werden die Zustandsgrößen des Egofahrzeugs hin-
einer niedrigen Objektqualität, die i. A. so gering zugezogen, so lassen sich auch die absoluten Ob-
294 Kapitel 17 • Radarsensorik
jektgrößen für Geschwindigkeiten und Beschleu- Radom genannt, dass die Radarstrahlen nur we-
1 nigungen bilden und in der Objektliste mitführen. nig abgeschwächt werden und dass die Winkel-
Damit lässt sich auch die Unterscheidung zwischen charakteristik zu keiner unerwarteten Änderung
2 (mit)fahrendem, stehendem oder entgegenkom- führt. Kunststoffe als Abdeckung sind eher un-
mendem Objekt durchführen. Da durch das Tra- problematisch. Wenn die Dicke ein Vielfaches
0 0 p
cking den Objekten eine Historie zugrunde liegt, der Wellenlängenhälfte =2I . D = r "r
3 kann diese auch zur Unterscheidung von stehenden ; bei 77 GHz =2 2 mm , für Kunststoff ist
und „angehaltenen“ Objekten erfolgen. Diese ge- r D 1I "r ≈ 2…2,5) beträgt, verstärken sich die
4 nannten Unterscheidungen stellen die Hauptklas- bei der Austrittsfläche reflektierten Anteile, wenn
sen einer, wenn auch einfachen, Klassifikation dar. sie ebenfalls auch von der Eintrittsfläche wieder
5 Die Nichtreaktion herkömmlicher ACC-Systeme zurückgeworfen werden. Bei größeren Winkeln
auf stehende Objekte beruht gerade auf dieser verringert sich aber die Differenz der Laufzeiten
Klassifizierung und nicht auf der oftmals genann- zwischen direktem und zweifach reflektiertem Si-
6 ten, aber dennoch falschen Behauptung, dass mit gnal, so dass die Überlagerung zu Veränderungen
Radar keine stehenden Objekte detektiert werden der resultierenden Phase führen kann. Weiterhin
7 könnten. hängen die Transmissions- und die Reflektions-
In modernen Radarsensoren reicht die genannte rate an den Grenzflächen selbst von dem Winkel
Grobklassifikation längst nicht mehr aus. Auch (und der Polarisation) ab, so dass die durch die
8 wenn die Empfangsamplituden einer Einzelmes- Abdeckung bedingten Veränderungen in der Sig-
sung kaum Aussagekraft besitzen, so liefert die Be- nalverarbeitung zumindest bei größeren Winkeln
9 obachtung der Rückstreuamplituden über der Zeit, berücksichtigt werden müssen. Nichtmetallischer
insbesondere wenn sich der Abstand dabei stark än- Lack ist unproblematisch, Metallic-Lack kann da-
10 dert, hilfreiche Information zur Klassifikation der gegen zu erheblichen Problemen führen. Dabei
Ziele. Wie in ▶ Abschnitt 17.1 erwähnt, kann die ist die Nachlackierspezifikation, die dreimaliges
durch die Mehrwegereflektion entstehende Schwan- Lackieren erlaubt, besonders problematisch. Na-
11 kung gezielt genutzt werden, um auf die Höhe des türlich ist eine metallische Verdeckung völlig un-
Ziels zu schließen. geeignet, solange die Eindringtiefe kleiner als die
12 Im Anschluss an die genannten Signalverarbei- Materialdicke ist. Sehr dünne Schichten (< 1 µm)
tungsschritte beginnt die Situationsinterpretation, können aber wieder transparent für mm-Wellen
die in einfachster Weise die Selektion eines Radar- sein, ohne ihre metallisch spiegelnde Eigenschaft
13 ziels aus der Objektliste übernimmt. Die Zielaus- für optische Wellen zu verlieren. Dies wird aus-
wahl wie auch eine weitergehende Situationsinter- genutzt, um metallische Strukturen (Kühlergrill,
14 pretation hängen stark von der Anwendung ab und Markenlogo) auf Kunststoffflächen nachzubilden.
sind als Teil dieser zu beschreiben. Die Zielauswahl Somit kann eine optisch nur noch schwer erkenn-
15 für ACC ist entsprechend in ▶ Kap. 46 unter ▶ Ab- bare Radar-Abdeckung konstruiert werden.
schn. 46.7 zu finden. Üblicherweise sind die Radarsensoren an drei
Punkten befestigt, gut sichtbar am Beispiel von
16 . Abb. 17.29. Ein Halter fungiert dabei als Kopp-
17.6 Einbau und Justage lungselement zur Karosserie oder dem Fahrwerk.
17 Über die Verschraubung mit dem Halter lässt sich
Für den Einbau des Radarsensors kommen grund- der Sensor sowohl in Azimut φ als auch in Elevation
sätzlich zwei Konzepte infrage: mit oder ohne ϑ drehen, womit am Ende des Fahrzeugprodukti-
18 optische Abdeckung der Antenne. Eine optische onsprozesses oder in der Werkstatt die Ausrichtung
Abdeckung ist sicherlich designfreundlicher als erfolgen kann.
19 eine direkte Sichtbarkeit des Radarsensors, auch Insgesamt sind drei Fehlerquellen für Azimut
20
wenn argumentiert werden kann, dass nur so das
„Statussymbol Radarsensor“ zur Geltung kom-
men kann. Wichtig ist für die Abdeckung, auch -
φerr und Elevation ϑerr zu betrachten:
Fehler in der sensorinternen Ausrichtung
(φerr,intern, ϑerr,intern)
17.6 • Einbau und Justage
295 17
.. Abb. 17.29 Bosch Fernbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation (LRR3, LRR4, MRR) [Quelle: Bosch]
- Fehler bei der Ausrichtung des Sensors am direkten Methode der Messung des Azimutnullwin-
die Zielobjekte im Mittel ohne lateralen Querversatz tig. Schon normale Quarz-Zeitbasen können die
1 zum ACC-Fahrzeug fahren, können hinzugenom- dafür notwendige hohe relative Genauigkeit (Dt / t
men werden. Sie leiden aber unter der starken Ver- = 2 · 10–7, Df /f = 1,2 · 10–8) kaum leisten. Wenn dann
2 einfachung dieser Annahmen. noch die Zykluszeit durch gewollte Streuung oder
Besitzt der Radarsensor eine breite Azimutab- durch asynchrone Zyklen schwankt, dann sinkt die
deckung, so kann eventuell auf eine Feinjustage ab Wahrscheinlichkeit für wiederholte Fehler auf so
3 Werk oder Werkstatt verzichtet werden. Die mit- niedrige Werte, dass solche Störungen in der Praxis
laufende Azimutoffsetschätzung müsste dann aber nicht zu „Geisterzielen“ führen. Allerdings können
4 schnell und sicher konvergieren. andere Radarsensoren mit ihrer Strahlung rausch-
Eine Online-Elevationsoffsetschätzung ist vom ähnlich interferieren und somit zu einem Verlust
5 Continental ARS 300 bekannt, ▶ Abschnitt 17.8.3. der Empfindlichkeit beitragen.
Dabei wird gezielt die gemessene Entfernung des Die hier genannte Aussage findet sich auch
Bodenechos ausgenutzt. Eine verstellbare Elevati- als Ergebnis des 2010 bis 2012 durchgeführten
6 onsschwenkvorrichtung kippt kurzzeitig die Radar- europäischen MOSARIM-Projektes [21] wieder,
strahlen 7° gen Boden und misst die Entfernung der in dem sowohl experimentell als auch per Simu-
7 Bodenechos. Bei bekannter Einbauhöhe lässt sich lation die Sensitivität gegenüber der Einstrahlung
daraus die Elevation ermitteln und somit korrigie- anderer Radarsensoren untersucht wurde. Da
ren. Allerdings wird auch hier angegeben, dass nur mittlerweile Radarsensoren eine hohe Verbrei-
8 ein Elevationsfehlwinkel von 0,5° toleriert wird. tung erreicht haben und sowohl vorwärts als auch
rückwärts zur Fahrzeugrichtung gerichtet sind,
9 hat die Wahrscheinlichkeit von Interferenzstörung
17.7 Elektromagnetische ebenso zugenommen, weshalb Gegenmaßnah-
Verträglichkeit
10 men notwendig erscheinen (vgl. Work Package 5.1
von [21]). Besonders effektiv – allerdings nur für
Grundsätzlich gelten für einen Radarsensor die frequenzmodulierende Radarsensoren geeignet –
11 Anforderungen, die für Steuergeräte im Kfz gelten. sind Subbänder innerhalb heutiger Bandbreiten,
Neben der Konformität zur Frequenzregulierung ist die entweder dynamisch angesprungen oder nach
12 auf eine Unempfindlichkeit gegenüber Störungen Ausrichtung separiert werden. Letzteres adressiert
durch andere Radarsensoren zu achten. den besonders kritischen Fall der gegenseitigen
Die Störung durch andere Sensoren kann die Störung hintereinanderfahrender Fahrzeuge, die
13 Eingangsstufe übersteuern. Daher sind diese so sich anders als entgegenkommende über lange Zeit
auszulegen, dass diese Störung sich nicht auswirkt stören können. Auch die Polarisationswahl könnte
14 oder zumindest erkannt wird und ggf. als Störungs- zur Interferenzvermeidung herangezogen werden,
anzeige dem Fahrer angezeigt wird. Eine Falschmes- allerdings käme eine entsprechende Normung für
15 sung mit der Folge von Geisterzielen ist kaum zu be- die schon im Markt vertretenden Lösungen zu spät.
fürchten, da kein Ziel als relevante Ausgangsgröße Für gepulste Verfahren, zu denen auch die Chirp-
gewählt wird, das nur einmal detektiert wurde (s. Sequence-Modulation und FSK-Varianten mit
16 Abschnitt 17.5 über Tracking). wiederholten Treppen gerechnet werden können,
Die Wahrscheinlichkeit, synchron von einem bietet ein zeitlicher Jitter in der Wiederholung eine
17 anderen Radarsensor gestört zu werden, ist äußerst Unterdrückungsmöglichkeit (s. a. [16]), da schon
gering und wird mit dem nächsten Beispiel belegt. eine Verschiebung von 100 ns bei einem anderen
Bei im zeitlichen Abstand von ca. 100 ms wieder- System die Ziellage um 15 m ändert, aber für die
18 holten Messungen müssten die Relativgeschwin- Abtastung der Frequenz bei 77 GHz nur einen re-
digkeit und der Abstand sich für eine erfolgreiche lativen Fehler von 5 ∙ 10–3 m/s bewirkt.
19 Assoziation nur wenig von den prädizierten Werten
unterscheiden (max. 5 m bzw. 2 m/s). Dafür wäre
20 eine Reproduktionsgenauigkeit der Störung von
etwa 20 ns in der Zeit und 1 kHz der Frequenz nö-
17.8 • Ausführungsbeispiele
297 17
.. Abb. 17.30 Einsatzgebiete von Radarsensoren in der Fahrzeugumfeldsensorik (5R1V) [Quelle: Bosch]
2
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18
19
20
.. Abb. 17.32 Hardware-Architektur des Bosch LRR3-Sensors [Quelle: Bosch]
17.8 • Ausführungsbeispiele
299 17
Entfernungsbereich (30–100 m) sind damit insge- alisiert werden. Die technischen Kenngrößen der
samt 20°, im Nahbereich unterhalb 30 m sogar 30° Produktvarianten sind im Vergleich zu den Werten
messbar. Weitere Kenngrößen dieses Sensors kön- der Vorgängergeneration in . Tab. 17.2 dargestellt.
nen . Tab. 17.2 entnommen werden. Als weitere In . Abb. 17.31 sind die einzelnen Baugruppen
Hardware-Neuerung ist ein FlexRay-Transceiver und das Gehäusekonzept des MRR dargestellt. Of-
zu nennen, womit nun neben CAN eine weitere fensichtlich ist im Vergleich mit dem LRR3-Sensor
Busschnittstelle vorhanden ist. das geänderte Antennensystem mit planaren Pat-
charrays ohne Linse. Das Blockschaltbild des MRR
ist in . Abb. 17.33 zu sehen. Auf der Unterseite der
17.8.2 Bosch Radarsensoren vergrößerten HF-Platine ist nun neben dem Radar-
der vierten Generation ASIC auch der µ-Controller untergebracht.
Weiterhin wurden die in der vierten Genera-
Um die stark gestiegene Anzahl unterschiedlicher tion eingesetzten Technologien und Fertigungs-
Anwendungsgebiete sowie die zunehmende Funkti- verfahren entsprechend den stark gestiegenen
onsvielfalt abdecken zu können, wurde ein Baukas- Produktionszahlen weiterentwickelt: Dazu zählt
tensystem entwickelt [22]. Neben den rein sensori- beispielsweise auch der Übergang zu Standardlöt-
schen Aspekten ist hierbei auch ein hohes Maß an prozessen für die SiGe-MMICs. . Abbildung 17.35
Flexibilität bezüglich der Integration in eine umfas- zeigt die HF-Platine mit der Antennenstruktur und
sende Systemarchitektur zu berücksichtigen [23]. In den gelöteten Sende- und Empfangs-MMICs. Die
. Abb. 17.30 ist beispielhaft eine Konfiguration zur in der Abbildung rechts zu sehenden Empfangs-
Fahrzeugumfelderfassung mit fünf Radarsensoren antennenfelder (insgesamt vier Spalten) bilden
dargestellt. Dazu werden in der vierten Radargene- ein „ausgedünntes“ Array mit den Abständen von
ration die Produktvarianten LRR4, MRR sowie ein dem 0,5-, 2,0- und 3,0-Fachen der Wellenlänge
MRR Dualmode (rear/corner) angeboten. Entspre- (jeweils auf die linksseitige Spalte bezogen). Somit
chende Produktabbildungen sind in . Abb. 17.29 wird trotz der Beschränkungen auf vier Spalten
zu sehen. eine Winkeleindeutigkeit von ±90° und eine Be-
Der LRR4 ist dabei die konsequente Weiter- ambreite (Trennfähigkeit) von arcsin(1/3) ≈ 20°
entwicklung des Fernbereichsradars LRR3 mit erreicht, wie es ansonsten von sieben gleichmäßig
Linsenantenne und sehr hoher Reichweite. Um im Abstand von λ/2 angeordneten Spalten erreicht
der zunehmenden Verbreitung radarbasierter As- würde. Zur Winkelschätzung wird das paramet-
sistenzsysteme Rechnung zu tragen, wurde zusätz- rische Deterministic Maximum Likelihood-Ver-
lich die Variante MRR mit einem planaren Anten- fahren verwendet, so dass die Trennfähigkeit von
nensystem und reduzierter Reichweite entwickelt. zwei Zielen auf deutlich kleinere Winkelbereiche
Zur Realisierung zukünftiger Anforderungen im verbessert werden kann – in diesem Fall auf 7°.
Bereich Fußgängerschutz [24] kann dabei nach Die unterschiedliche Größe der Patches in der ver-
Bedarf auf eine alternative Sendeantenne mit brei- tikalen Anordnung (Taperung) dient zur Reduktion
tem Öffnungswinkel umgeschaltet werden (siehe von Nebenkeulen in der Elevation.
. Abb. 17.34 links). Das Prinzip zweier geschalteter Für die Fernbereichsanwendung werden insge-
Sendeantennen wurde auch beim MRR rear um- samt zehn Sendespalten eingesetzt, für den Nahbe-
gesetzt, wobei in diesem Fall die Hauptstrahlrich- reich zwei, jeweils im λ/2-Abstand. Beim MRR rear
tungen in unterschiedliche Richtungen ausgebildet werden jeweils fünf Sendespalten eingesetzt, die von
werden. Damit kann beispielsweise ein Hecksensor phasenversetzten Sendesignalen gespeist werden, so
mit erweitertem Sichtbereich realisiert werden, der dass sich dadurch eine Hauptabstrahlrichtung von
einerseits rückwärtig annähernden Verkehr bis ca. –45° für die eine und ca. +45° für die andere
etwa 80 m Entfernung und andererseits querende Antenne ergibt.
Objekte mit derselben Reichweite detektieren kann Bei der Realisierung erweiterter Sicherheitssys-
(. Abb. 17.34, rechts). Weitere Einsatzgebiete kön- teme (vgl. ▶ Kap. 47 und 48) spielt die Klassifizie-
nen durch Variationen des Antennenlayouts re- rung stationärer Objekte eine zentrale Rolle. Eine
300 Kapitel 17 • Radarsensorik
1 .. Tab. 17.2 Technische Daten der Bosch Weitbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation
Generation 3 Generation 4
2 Bosch Produktvariante LRR3 LRR4 MRR MRR rear/corner
Allgemeine Eigenschaften
4 Abmessungen (B × H × T)/ 74 × 77 × 58 78 × 81 × 62 60 × 70 × 28
mm³ Maße inkl. Befesti-
gungsohren
5 Masse 285 g 240 g 190 g
7 Frequenzerzeugung MMIC/SiGe,
bonded
SiGe-MMIC, eWLB Package Standardlötprozess
18,9 GHz-Referenzoszillator, PLL
18,9 GHz-Referenz-
8 oszillator, PLL
9 trische Linse,
monostatisch
trische Linse,
monostatisch
inkl. Digital Beam Forming
Abgestrahlte Leistung 33 dBm (EIRP) < 29 dBm < 34 dBm < 18 dBm
10 (EIRPpeak)
Signaleigenschaften
11 Frequenzbereich 76–77 GHz 76–77 GHz
14 Anzahl Messbereiche 1 1 2 2
.. Tab. 17.2 (Fortsetzung) Technische Daten der Bosch Weitbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation
Generation 3 Generation 4
1
2
3
4
5
6
.. Abb. 17.34 Typische Detektionsbereiche des MRR-Sensors als Frontsensor (links) bzw. Hecksensor (rechts). Es sind jeweils
beide Antennenschaltzustände dargestellt. [Quelle: Bosch]
7
.. Abb. 17.35 HF-Leiterplatte des Bosch MRR-Sensors mit
9
10
11
12
.. Abb. 17.36 Elevations-
13 winkelmessung auf Roh-
signalebene bei Zufahrt
auf ein Bodenobjekt (rot)
14 bzw. auf ein Ziel etwas
unterhalb der Sensorhöhe
(blau). Die Messungen
15 wurden mit einem MRR-
Sensor durchgeführt.
[Quelle: Bosch]
16
17
18
19
20
17.8 • Ausführungsbeispiele
303 17
Möglichkeit stellt die Messung des Objektwinkels .. Abb. 17.38 Antennenkonzept des Radarsensors ARS 300
auch in Elevationsrichtung dar. Dazu kann in den von Continental, oben: Seitenansicht (Elevation), unten Wal-
Varianten LRR4 und MRR die zweite Sendean- zenanordnung für azimutales Scanning [Quelle: Continental]
tenne verwendet werden, wenn deren Elevations-
hauptrichtung dazu von der der anderen abweicht somit auch in Elevationsrichtung schwenken, was
(Amplituden-Mono-Puls). In . Abb. 17.36 sind zur Elevationsoffsetidentifikation und-korrektur
diesbezüglich die Rohmesswerte bei Zufahrt auf genutzt wird. Diese Reflektoranordnung wird nicht
zwei Objekte unterschiedlicher Höhe dargestellt, von einzelnen Feeds gespeist, sondern von einem
wobei die Entfernung jeweils auf das betreffende dielektrischen Leck-Wellenleiter. Dieser Wellenlei-
Objekt bezogen ist. Die roten Messpunkte stellen ter führt die Mikrowellen ohne Austritt, sofern sie
den Elevationswinkel eines Zieles dar, das am Bo- nicht an der Unterseite durch die Rillen der Walze
den liegt und als überfahrbar klassifiziert werden eine Streuung erfahren. Die Streuamplituden al-
soll. Die blauen Messwerte gehören zu einem Ziel, ler Rillen, die den Wellenleiter verlassen, bilden
das sich leicht unterhalb der Sensorhöhe befindet zusammen eine ebene Wellenfront, die durch den
und somit als Hindernis gesehen werden soll. In Rillenabstand ausgerichtet wird. Ist der Abstand der
dieser Messung kann damit zumindest im Nahbe- Rillen kleiner als die Wellenlänge im Wellenleiter,
reich anhand des Elevationswinkels klar zwischen dann wird die ausgeleitete Welle bei einer Speisung
den beiden Objektklassen getrennt werden. Zu be- von der linken Seite nach links weisen, bei größeren
achten ist hierbei, dass die Messung erhöhter Ziele Abständen dreht sich die Abstrahlung nach rechts.
den in ▶ Abschn. 17.1 beschriebenen systematischen Daher variieren die Rillenabstände in Umfangsrich-
Einflüssen durch Bodenreflexionen unterworfen ist. tung. Diese Art des Scannings erfordert keine Rück-
drehung wie beim Schwenken einer Antennenfläche
und erzeugt vernachlässigbar geringe Massenkräfte.
17.8.3 Continental ARS 300 Neben dem Scanning für den zentralen Sichtbe-
reich (17°) werden die seitlichen Bereiche ebenfalls
Beim ARS 300 (. Abb. 17.37) wird ein mechani- per Scanning erfasst; dazu sind auf der Trommel (s.
sches Scanning-Prinzip eingesetzt, das mit einer . Abb. 17.38 unten) asymmetrisch weitere Rillenbe-
Walze und Trans- sowie Twistreflektor arbeitet. reiche hineingefräst. Der Versatz auf der Trommel
Letzteres wird, wie . Abb. 17.38 zeigt, auch zur berücksichtigt den Versatz, der bei seitlicher Aus-
Bündelung wie eine Offsetparabolantenne ver- leuchtung für einen in etwa mittigen Strahlengang
wendet. Der Twistreflektor ist beweglich und kann nötig ist, d. h. der Bereich ist zur Gegenseite des
304 Kapitel 17 • Radarsensorik
Hochfrequenzmodul
6 Frequenzerzeugung GaAs-MMIC (ARS300) bzw. SiGe-MMIC
SiGe-MMIC (ARS301),
Detektionseigenschaften
13
Entfernungsbereich 1…200 m FRS 0.3…100 m @ ± 40°
1…60 m NRS 0.3…65 m @ ± 60°
14 (0,25…50 m @low speed) 0.3…35 m @ ± 90°
Entfernungszelle 1m 1m
15 (0,25 m @low speed)
16 bereich
20
17.8 • Ausführungsbeispiele
305 17
Besonderheiten
Ausleuchtbereichs verschoben. Die Strahlbreite be- kleiner. Im Nahbereich erfolgt eine gröbere Seg-
trägt im Azimut 2,5° (im Nahbereichsscan 8°), in mentierung von 3,125°, so dass trotz der geringeren
der Elevation 4,3°. Durch den schwenkbaren Twist- Gesamtmessdauer von 16 ms eine Geschwindigkeits-
reflektor kann der ARS300 bezüglich der Elevation zelle von 1,5 m/s gehalten werden kann.
optimal ausgerichtet werden und stationäre Nick- Bei niedrigen Geschwindigkeiten wird eine
winkel oder Dejustagen ausgleichen. Reichweite von weniger als 50 m benötigt. Folge-
Die Modulation ist im Gegensatz zu früheren richtig kann eine Fokussierung auf den Nahbereich
Generationen eine Chirp-Sequence-Modulation, erfolgen und durch Erhöhung des Modulationshubs
die auch als Pulskompression bezeichnet wird, vgl. (hier Vervierfachung) eine bessere Abstandsauflö-
▶ Abschn. 17.2.5.4. Dieser Ansatz nutzt optimal die sung und -trennfähigkeit erreicht werden.
Messzeit aus, auch wenn dafür die Kosten für eine Mit dem ARS300 wird ein leistungsfähiges
hohe Abtastrate (≈ 40 MHz) getragen werden müs- Radar angeboten, das durch eine sehr breite Aus-
sen, wobei dieser Ansatz für den ARS200 auch schon leuchtung zusätzliche Nahbereichssensoren für
benötigt wurde. Wie in . Tab. 17.3 angegeben, wird Stop&Go oder Notbremsfunktionen überflüssig
zwischen einem Near-Range-Scan (bis 60 m) und macht. Durch das Scannen wird eine gute laterale
einem Far-Range-Scan (bis 200 m) unterschieden. Auflösung erreicht und eine sogar bis 80…100 m
Dabei wird beim Near-Range-Scan nur bis zu 60 m reichende laterale Objekttrennfähigkeit möglich.
ausgewertet, wodurch die Abtastrate nur noch ein Diese Leistung kann selbstredend nicht ohne den
Drittel betragen muss. Der zentrale Bereich wird von Preis einer breiteren Apertur und folglich breiterem
beiden Scans überfahren, wodurch eine Zuordnung Gehäuse (s. . Abb. 17.37) erzielt werden, wobei an-
der beiden Messreihen erleichtert wird. Die Ge- dererseits die Kompaktheit angesichts der Funktion
schwindigkeitszelle ist beim zentralen Sichtbereich – als hoch anzusehen ist.
also im Far-Range – kleiner, da eine längere Messzeit Der ARS300 wurde hinsichtlich Kosten und
für diese Messung zur Verfügung steht. Prinzipbe- Performance weiterentwickelt, ohne das Grund-
dingt muss für die Winkelbestimmung mit Scanning prinzip der Antenne und der Frequenzmodulation
die Messzeit auf die einzelnen Winkelsegmente – hier zu ändern. Für die seit 2012 produzierte Variante
auf 17 Winkelschritte – aufgeteilt werden. Daher er- ARS301 wurden die Hochfrequenzerzeugung von
gibt sich eine Messzeit von 35 ms/17 ≈ 2 ms pro Seg- GaAs auf SiGe umgestellt und die Umfelderfas-
ment. Allerdings ist die Radarkeule breiter, so dass sungsalgorithmen weiter optimiert.
für die Relativgeschwindigkeit eine größere Messzeit
zur Verfügung steht. Daher ist die angegebene Zel-
lengröße von 0,8 m/s (entsprechend 2,56 ms) auch
306 Kapitel 17 • Radarsensorik
1
2
3
4
5
6
7 .. Abb. 17.39 Gehäuse und Abmessungen des Continental
SRR 200 [Quelle: Continental]
-25
-30
Power of digital beams [dB] (unscaled)
-35
-40
-45
-50
-55
-60
-65
-70
-90 -80 -70 -60 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Azimuth angle [°]
.. Abb. 17.41 Antennendiagramm für die 16 virtuellen Keulen nach dem Digital Beam Forming aus den acht realen Kanälen
und den acht mit Null aufgefüllten Datensätzen, Continental SRR 200 [Quelle: Continental]
Power Car
IF
Driver Interface
HF
/P A
D
MCU
1/2
Chirp Modulation
A
MUX MUX FPGA
D
LF
RAM
4 Zyklusdauer 50 ms
Messdauer im Zyklus 36 ms
5 Hochfrequenzmodul
Signaleigenschaften
7 Frequenzbereich 24,05 GHz–24,25 GHz
10 Detektionseigenschaften
15
der Rear-Cross-Traffic Alert für die Erkennung von Die in . Abb. 17.43 und . Abb. 17.44 (jeweils
Querverkehr beim Rückwärtsausparken. links) gezeigte Generation 2 gibt den prinzipiellen
16 Als Modulationsprinzip wird das in ▶ Abschn. Aufbau des Radarsensors wieder. Ein hinsichtlich
17.2.5.2 dargestellte Linear Frequency Modulation des Strahlengangs neutrales Radom deckt die pla-
17 Shift Keying (LFMSK/FSK)-Verfahren ab der Gene- nare Antenne ab. Diese besteht aus Sende- und
ration 3 in einer modifizierten Variante mit nicht- Empfangszweig und ist in Mikrostreifenleitertech-
zeitkonstanten Sende-Bursts verwendet. Für einen nik realisiert. Die Antenne befindet sich als Teil der
18 hinsichtlich Frequenzregulierung problemlosen Leiterplattenstruktur auf der Oberseite der Radar-
und weltweiten Einsatz ist die Modulationsband- Front-End-Platine (RFE) und besteht aus 1 Tx-
19 breite auf maximal 200 MHz beschränkt (24,05- und 3 Rx-Elementen. Auf der Unterseite befindet
24,25 GHz bei einer Sendeleistung < 13 dBm avg. sich der Rest der HF-Elektronik – zum Teil noch
20 EIRP). Zur Winkelbestimmung wird auf das simul- in diskreter Ausführung, zum Teil bereits in hoch-
tane Monopulsverfahren gesetzt. integrierter Form als GaAs-MMIC. Im Wesentli-
17.8 • Ausführungsbeispiele
309 17
.. Abb. 17.43 Explosionsdarstellung Hella Radar 24 GHz – zweite (links) und dritte Generation (rechts) [Quelle: Hella]
.. Abb. 17.44 Hella Radar 24 GHz – Vergleich zweite und dritte Generation. links: zweite Gen., sichtbar: Radom, RFE-Board
(Antennenseite), DSP-Board. rechts: dritte Gen., sichtbar: Radom, Leiterkarte (Antennenseite), Abschirmung [Quelle: Hella]
chen befinden sich hier die LNAs, die komplexen Schaltung, inklusive Schaltnetzteil, Kommunikation,
Mischer und Bandpass-Filter. Die HF-Schirmung Auswerteelektronik und HF-Schaltung auf nur einer
sorgt dafür, dass HF-Strahlung wie gewünscht nur Leiterkarte platziert. Die Radarantenne ist dabei, wie
zur Radom-Seite emittiert wird. Die Auswerteein- bereits bei Generation 2 gezeigt, als Mikrostreifenlei-
heit mit Steckerleiste ist darunter angebracht. Auf terstruktur auf der Oberseite der Leiterkarte unter-
dieser Signalverarbeitungsplatine realisiert ein DSP gebracht. Dieser kompakte Aufbau wurde durch den
die Radar-Signalverarbeitungsschritte wie Rohsig- Einsatz hochintegrierter HF-Komponenten (SiGe-
nalverarbeitung, Winkelbestimmung und Tracking MMICs) sowie durch entsprechende Gestaltung
sowie die Überwachung und Diagnose des RFE. des Layouts und der Platzierung der Komponenten
Weiterhin setzt ein Mikrocontroller Basissoft- auf der Leiterkarte ermöglicht. Um der wachsen-
wareanteile und -funktionen um. Ein Schaltnetzteil den Bedeutung von Funktionen, die im seitlichen
liefert die benötigten Betriebsspannungen. Bereich der Fahrzeugumgebung messen, gerecht zu
Die Generation 3, gezeigt in . Abb. 17.43 und werden, wurde die Sendeantennencharakteristik in
. Abb. 17.44 (jeweils rechts), basiert auf dem glei- Richtung Rundumsicht entsprechend neu ausgelegt,
chen Radarverfahren. Im Gegensatz zur Generation siehe . Abb. 17.45. Damit lassen sich nicht nur im
2 wurde hier konsequent das Gerätedesign in Rich- longitudinalen und lateralen Fahrzeugbereich Ob-
tung Baugrößenverkleinerung und Kostenoptimie- jekte detektieren, sondern auch unter 45°. Mit ei-
rung vorangetrieben. So ist die gesamte elektronische ner solchen Antennencharakteristik lassen sich bei
310 Kapitel 17 • Radarsensorik
.. Abb. 17.45 Gegenüber-
1 stellung der Detektionsbe-
reiche (Beispiel: Erfassung
von rückwärtigem
2 Querverkehr). Integra-
tion von jeweils zwei
Radarsensoren im Heck
3 des Ego-Fahrzeugs (rechts/
links) und Sensorausrich-
tung nach schräg hinten
4 [Quelle: Hella]
5
6
7
8
9
10
11
12 .. Abb. 17.46 AC1000 von TRW [Quelle: TRW] .. Abb. 17.47 3D-Explosionsdarstellung des AC1000 von
TRW [Quelle: TRW]
Allgemeine Eigenschaften
Zyklusdauer 40 ms
Messdauer im Zyklus 39 ms
Signaleigenschaften
Modulationsverfahren FMFSK
Anzahl Messbereiche 3
Detektionseigenschaften
Entfernungsbereich 0,5…180 m
1
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Abb. 17.52 Explosionsdarstellung Valeo MBH-Sensor [Quelle: Valeo]
10 Danksagung
Wetterrobustheit. Demgegenüber ermöglicht Radar
nur eine geringe Raumwinkelauflösung bei akzep-
11 tabler Antennengröße. Eine Verbesserung dieser Si- Der Autor dankt den Herren Dr. Hermann Budden-
tuation verspricht die Terahertz-Technik, die aber dick von Bosch, Dr. Markus Wintermantel von Con-
12 technologisch noch in den Kinderschuhen steckt. tinental, Martin Mühlenberg von Hella, Dr. Alois
Mit halber Wellenlänge könnten Keulenbreiten von Seewald von TRW und Dr. Urs Lübbert von Valeo
1° erreicht werden, womit sich die Objektbegren- für die fachliche Unterstützung und die Bereitstel-
13 zungen in durchaus befriedigender Qualität bestim- lung der technischen Abbildungen.
men ließen.
14 Vielleicht geht die Technik auch einen ande-
ren Weg, wenn das Ein-Sensor-Konzept verlassen
15 wird und sich der diversitären Multi-Sensorik mit
Sensordatenfusion genähert wird. Hier könnte die
Kombination Radar plus Kamera ein „Dreamteam“
16 werden, das kaum noch Wünsche offen lässt, die
z. B. von einem Lidar erfüllt werden könnten. In ei-
17 ner Kombinationslösung können sich die Anforde-
rungen an das Radar ändern und eventuell zu einer
„Abrüstung“ des Radars bei einer Kostengesamtop-
18 timierung führen.
19
20
Literatur
315 17
Valeo MBH
Allgemeine Eigenschaften
Masse 240 g
Zyklusdauer 70 ms
Messdauer im Zyklus 39 ms
Signaleigenschaften
Modulationsverfahren FMCW
Anzahl Messbereiche 1
Detektionseigenschaften
Entfernungsbereich > 70 m
Entfernungszelle Δr 0,8 m
Relativgeschwindigkeitsbereich 95 m/s
LIDAR-Sensorik
Heinrich Gotzig, Georg Geduld
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
.. Abb. 18.1 Frequenzspektrum
18.1 • Funktion, Prinzip
319 18
.. Abb. 18.2 Laufzeitmessung
.. Abb. 18.5 „Weiches“
1 Objekt (Nebel)
2
3
4
Qv: vertikale Strahldivergenz (rad)
5 Qh: horizontale Strahldivergenz (rad)
At: Empfangslinsenfläche (m²)
Pt: Laser Leistung (W).
6
7 18.1.3 Weitere Funktionalität
18.1.5 Transmissions-
und Reflexionseigenschaften
.. Abb. 18.14 Totalreflexion
1
2
3
4
5
6
7
8
.. Abb. 18.15 Vergleich von unterschiedlichen Tracking-Verfahren, a z. B. Multibeam starr (Anzahl bzw. Wert des Öffnungswinkels
9 kann variieren), b z. B. Multibeam SWEEP (Gesamtöffnungswinkel, Anzahl bzw. Wert des Einzelöffnungswinkels können variieren)
Diskriminierung Informationen
bestimmt. Dies setzt eine leistungsfähige Fahrtra- der Ziele anhand über Abstand
14 jektorienbestimmung voraus (siehe ▶ Kap. 46). Das des ermittelten und Richtung
Tracking lässt sich grundsätzlich in folgende Verar- Fahrschlauches der Messung nur
In diesem Verarbeitungsschritt erfolgt die (rech- Nachteil Rechen- und Erfassung abhän-
17 nerische) Vorhersage der Lage- und Bewegungs- Speicheraufwand
auch für nicht
gig von der Güte
der Blickwinke-
informationen zum einen anhand der bekannten
relevante Objekte lermittlung
Vergangenheit in Abhängigkeit physikalischer
18 Eigenschaften des relevanten Objekts (Dynamik)
und zum anderen auch durch Annahmen, wie sich bahnbegrenzungen etc.). Für die Prädiktion ist
19 die Objekte in Zukunft verhalten werden. Grund- wichtig, dass die Lage- und Bewegungsinformati-
sätzlich interessieren hier sowohl andere aktive onen je nach Umgebung (Autobahn, urbanes Um-
20 Verkehrsteilnehmer (Fahrzeuge, Personen etc.) als feld etc.) und Ego-Geschwindigkeit hinreichend
auch statische Objekte (stehende Fahrzeuge, Fahr- genau sind, um eine entsprechende Applikation
18.1 • Funktion, Prinzip
327 18
.. Abb. 18.16 Kalman-Fil-
ter-Prinzip lnitialisierung des
Zustandsvektors
und der
Kofaktormatrix
bestanden
Prädiktion Signifikanztest
nicht bestanden
-
13 anschließend für den Innovationsschritt des Kal- Kriterien, welche die Augensicherheit beeinflussen:
man-Filters verwendet. Wellenlänge (typisch für den automobilen
-
14 Messwerte außerhalb des Messbereichs werden Einsatz sind 850 nm bis ca. 1 µm),
direkt verworfen, ebenfalls werden nur einmal ge- Ausgangspulsspitzenleistung (typisch zwischen
15 fundene Objekte als Fehlmessung vom Tracking
ausgenommen. Kann dem erstmals detektierten
- 10 W und 75 W),
Ausgangsdurchschnittsleistung (typisch zwi-
16
17
Objekt hingegen im nächsten Messschritt ein Mess-
wert zugeordnet werden, wird ein neuer Pfad initia-
lisiert. Wird einem bestehenden Track kein Objekt
zugeordnet, erfolgt die Prädizierung über weitere
-- schen 2 mW und 5 mW),
Dutycycle (Puls/Pausen Verhältnis),
refokussierbare Austrittsfläche (typisch bei
Verwendung von Lichtleitern sind Bruchteile
Messschritte. Der Track wird beendet, falls sich zu- von mm2, beim Laser selbst sind dies nur
künftig keine weiteren Messungen mehr zuweisen einige µm2).
18 lassen; mehrere eng benachbarte Objekte mit ähn-
licher Relativgeschwindigkeit können zusammen- Details hängen stark von der jeweiligen Auslegung
19 gefasst werden (Clustering). Eine Fehlinterpretation des Sensors ab. Insbesondere sind die Dutycycles,
lässt sich allerdings erst rückwirkend ausschließen, Ausgangspulsleistungen und die refokussierbaren
20 weshalb die zwei Messwerte zunächst getrennt ge- Austrittsflächen bei den einzelnen etablierten Pro-
halten werden. dukten stark unterschiedlich.
18.3 • Zusatzfunktionen
329 18
18.2.2 Integration für nach vorne und Nacht, nachdem die Sonne um mehrere Grö-
gerichtete Sensoren (zum ßenordnungen höhere Infrarotstrahlung aussendet
Beispiel für ACC) als die vom LIDAR aktiv emittierte.
Dieses Signal, geeignet aufbereitet, ist als Zu-
Generell stellt die Integration ins Fahrzeug bezüglich satznutzen zur Steuerung von Fahrlicht einsetzbar
der Position keine nennenswerten Schwierigkeiten (vgl. Tag/Nacht- bzw. tunnelabhängiges Steuern des
dar: Grundsätzlich kann ein LIDAR überall in der Fahrlichtes).
Front platziert werden. Bevorzugt sind jedoch Po-
sitionen in der Horizontalen zwischen den Schein-
werfern und in der Vertikalen zwischen der oberen 18.3.3 Verschmutzungserkennung
Dachkante bis zur Stoßstange (vgl. . Abb. 18.17).
Dabei spielt es keine Rolle, ob der Sensor im Zu den Grundfunktionen der Selbstdiagnose eines
Außenbereich oder hinter der Windschutzscheibe Abstandssensors gehört die Erkennung des Ver-
platziert ist. Bedingt durch die Erkennung von Ver- schmutzungsgrades des Sensors an dessen Sender
schmutzung können ggf. der Fahrer informiert oder und Empfänger. Zwar führt dieses Signal in den
aber direkt Reinigungsmaßnahmen eingeleitet wer- meisten aller Fälle nicht zu einer Aufforderung den
den. Im Gegensatz zu einer Kamera wird jedoch „nur“ Sensor zu reinigen, das Signal kann jedoch einfach
Energie übertragen und kein Wert auf ein „klares“ zu einer automatischen Triggerung der Reinigung
Bild gelegt, was die Anforderungen an eine saubere der Scheinwerfer oder der Windschutzscheibe ge-
Sensoroberfläche erheblich verringert. Je nach Ein- nutzt werden.
bauort bzw. der Integration unter aerodynamischen
Gesichtspunkten kann eine geringe Beeinträchtigung
der Sensorperformance durch sehr dunkle Verunrei- 18.3.4 Geschwindigkeitsermittlung
nigungen (z. B. Insekten) auf dem Sensor erfolgen.
Heutige LIDAR-Sensoren haben ein ausgeklügeltes
Tracking und verfolgen bis zu 20 und mehr Objekte
18.3 Zusatzfunktionen auf und neben der Fahrbahn. Die Vermessung von
Abstand und Relativgeschwindigkeit von Objekten
Mit dem LIDAR ist es möglich, weitere Sensorfunk- neben der Fahrbahn wie bspw. Begrenzungspfosten
tionen zu realisieren. lassen die Ermittlung der Eigengeschwindigkeit des
Fahrzeuges mittels Abstandssensors zu.
18.3.1 Sichtweitenmessung
18.3.5 Fahrerverhalten/-zustand
So ist die zuvor erwähnte „Weichziel“-Erkennung
relativ einfach dafür zu verwenden, in Abhängig- Wird das LIDAR im aktuellen Fahrzustand nicht
keit der Absorption eine der Sichtweite analoge Ge- als aktives Regelsystem genutzt, kann über das
schwindigkeitsempfehlung zu berechnen. Bedingt Abstandsverhalten in Kombination mit dem Lenk-
durch die Wellenlänge, die nahe der des für den verhalten auf den Fahrerzustand rückgeschlossen
Menschen sichtbaren Lichts liegt, ist die gemessene werden und dieser dem Fahrer geeignet mitgeteilt
Reflexion und Absorption in der Atmosphäre der werden (Müdigkeit, Unaufmerksamkeit etc.).
menschlichen Sichtbehinderung vergleichbar.
18.3.6 Objektausdehnung/-
18.3.2 Tag/Nacht-Erkennung erkennung
Die im Empfänger messbare Hintergrundbeleuch- Werden Daten eines scannenden LIDAR mit sehr
tung unterscheidet sich signifikant zwischen Tag hoher Winkelauflösung aufgenommen, kann durch
330 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik
1
2
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4
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7
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10
11
12
13
14
15 .. Abb. 18.17 Beispiele verschiedener Strahlsensorik: a Multibeam starr, b Multibeam SWEEP, c Multibeam verteilt, d Single
beam SCAN
16 eine weitere mathematische Analyse der ermittelten rung, bspw. der optischen Eigenschaften, ist jedoch
Entfernungspunkte teilweise eine räumliche Aus- grundsätzlich verschieden (s. . Abb. 18.18 und
17 dehnung von realen Objekten erfolgen sowie eine . Abb. 18.19 bzw. . Tab. 18.2 und . Tab. 18.3).
Erkennung der Art des Objekts. Hella setzt auf ein Mehrstrahlprinzip, was durch
mehrere unabhängige Sende- und Empfangskanäle
18 dargestellt wird. Dabei wird ein Array von Laserdi-
18.4 Aktuelle Serienbeispiele: oden im Mulitplexverfahren angesteuert, über die
19 Empfangsoptik werden die Informationen über ein
Die zuvor gezeigten Sensoren erfüllen allesamt PIN-Dioden-Array erfasst. Die Winkelauflösung
20 die geforderten Ansprüche für moderne ACC, entspricht dabei mehr oder weniger der Strahlbreite
FSRA oder sogar Pre-Crash-Systeme. Die Realisie- der einzelnen Sende-/ Empfangskanäle. Bis zu 16
18.4 • Aktuelle Serienbeispiele:
331 18
.. Tab. 18.2 Serienbeispiele I
Abgestrahlte Leistung 40 W (Peak) 3,5 mW 12 W (Peak) 5 mW 12 W (Peak) 5 mW
(Average) (Average) (Average)
Besonderheiten Winkelauflösung 0,01°
.. Tab. 18.3 Serienbeispiele II
SWEEP mehrstrahlig
Auto Alignment x
1
2
3
4
a b c
6
7
8
9 a b c
Literatur
1
Verwendete Literatur
2 1 OSRAM SPL LL90 – Treiberstufe im Gehäuse des Halbleiter-
lasers – Internet Recherche/Produktinformation Fa. OSRAM
3 2
„APN_Operating_SPL_LLxx_041104.pdf“
Impulslaserdioden – Informationen der Fa. Laser COMPO-
NENTS über Impulslaserdioden http://www.lasercompo-
4 3
nents.com/de/produkt/impulslaserdioden-bei-905-nm/
Information über die Detektion kleinster Lichtmengen mit
Avalanche Photodioden http://www.lasercomponents.
5 com/fileadmin/user_upload/home/Datasheets/lc/veroef-
fentlichung/opt_apd_receiver_module.pdf; http://catalog.
osram-os.com
6 4 Wikipedia – die freie Enzyklopädie – Internetrecherche:
Kalmanfilter, http://de.wikipedia.org
5 Schetler, D.: Kalman Filter zur Rekonstruktion von Mess-
7 signalen (2007). http://users.informatik.haw-hamburg.
de/~ubicomp/projekte/master06-07/schetler/report.pdf
6 Berges, A., Cathala, T., Mametsa, H., Rouas, F., Lamiscarre,
8 B.: Apport de la simulation aux études de radar pour ap-
plications en vision renforcée. Revue de l’électricité et de
9
l’électronique: REE; revue de la Société des Électriciens et
des Électroniciens 4, 35–38 (2002)
7 Luo, R., Kay, M.: Multisensor Integration and Fusion in In-
17
13 Verfügbar unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Google_
driverless_car – Internetrecherche über Google Self Dri-
ving car
Weiterführende Literatur
3D Time-of-Flight (ToF)
Bernd Buxbaum, Robert Lange, Thorsten Ringbeck
--
ten Applikationen:
Fahrerassistenzsystem
berührungslosen 3D-Entfernungsmessverfahren.
Mikrowellensensoren eignen sich insbesondere
-- Fußgängerschutz
PreCrash
für die Vermessung relativ weit entfernter Objekte
in Szenen mit einer vergleichsweise geringen Orts-
--
ACC Stop&Go
Automatische Notbremse
frequenz. Für eine hoch aufgelöste dreidimensio-
nale Objektdetektion reicht im Allgemeinen die
-
Gestikbedienung HMI
Occupant Crash Protection (FMVSS 208,
OOP), Smart Airbag
beugungsbegrenzte Winkelauflösung nicht aus.
Eine runde Antenne mit dem Durchmesser D er-
zeugt bei gleichmäßiger Anregung eine Strahlungs-
keule („Airy Pattern“) mit dem Öffnungswinkel 2α,
Während Robustheit, Kompaktheit und ein günsti- wobei gilt: sin α = 1,22 l/D. Selbst bei extrem kurzer
ger Preis typische Anforderungen an heutige Systeme Wellenlänge l = 3 mm (f = 100 GHz) und relativ
sind, kommt insbesondere in der Fahrzeugsicherheit großer Strahlungsapertur z. B. D = 12,2 cm beträgt
der Erfassung von dynamischen Verkehrsszenen eine mit α = 30 mrad der minimale Strahldurchmesser
große Bedeutung zu. Dabei ist eine hohe Bildwieder- schon in einem Meter Abstand 60 mm, ähnlich wie
holfrequenz essentiell für den Einsatz im automoti- in ▶ Abschnitt 12.3 beschrieben. Radarsysteme sind
ven Umfeld. PMD-Kameraeinheiten erzeugen einen damit für eine lateral hoch aufgelöste Objektdetek-
permanenten Datenstrom mit derzeit bis zu 100 3D- tion schon in Entfernungen von einigen wenigen
Bildern pro Sekunde und ermöglichen somit eine Metern ungeeignet [1].
schnelle und sichere Interpretation auch bei hohen Gleiches gilt grundsätzlich für die Strahlungs-
Eigengeschwindigkeiten und dynamischen Szenen. keule eines Ultraschallsenders; hier kommt zusätz-
Systemanforderungen wie Reichweite und Öffnungs- lich die Druck- und Temperaturempfindlichkeit der
338 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)
6
7
r
-
Verhältnis zum Messbereich) von Verfahren der optischen
Arrays.
8 Formerfassung
Bei der CW-Laufzeitmessung interferiert
Schallgeschwindigkeit und die hohe Reflexivität die Hochfrequenz-Modulation zeitlich mit
9 bzw. Spiegelung technischer Oberflächen erschwe- dem HF-Mischsignal des Detektors. Beim so
rend hinzu. genannten Homodynempfang einer 3D-Szene
10 Durch die sehr viel kleinere Wellenlänge der mit 2D-Mischer ergibt dieser Korrelationspro-
11
Lichtwellen, selbst bis in den fernen Infrarotbereich
hinein, besitzen optische 3D-Messsysteme eine hohe
Lateral- bzw. Winkelauflösung. Die Gewinnung der
Tiefeninformation beruht hier im Wesentlichen auf
- zess ein HF-Modulationsinterferogramm.
In der Interferometrie entsteht dieser Misch-
und Korrelationsprozess von Objekt- und Refe-
renzwelle durch zeitlich kohärente Überlagerung
12 dem Triangulations- oder Laufzeitprinzip. Die in und Quadrierung der Objekt- und Referenzfeld-
Sonderfällen auswertbare quadratische Abnahme stärke, weil die Lichtenergie für den quanten-
der Strahlungsintensität und andere radiometrische elektronisch erzeugten Fotostrom verantwortlich
13 Verfahren werden im Folgenden außer Acht gelas- ist. Mischung und Korrelation finden je nach
sen [1]. Detektorart in den CCD-Pixeln, in einem Film
14 oder in der Retina des Auges statt.
Wie in . Abb. 19.1 dargestellt, werden in der op-
15 tischen Formerfassung vor allem drei Prinzipien
-
unterschieden: 19.3.1 Formerfassung mit optisch
Triangulation: Der Abstand eines rückstreu- inkohärenter
16 enden Oberflächenpunktes wird mittels der Modulationslaufzeitmessung
anliegenden Winkel einer bekannten optischen
17 Basis über die geometrischen Zusammenhänge Der Abstand oder die Tiefe r (r = Range) kann über
18 - bestimmt.
CW- und Puls-Laufzeitmessung: Die Grup-
penlaufzeit der Einhüllenden des modulierten
optischen Signals, also die Modulationslaufzeit
die Echolaufzeit tof eines vom Sensor gerichtet abge-
strahlten und empfangenen Lichtsignals mit
r = c ⋅ tof / 2
19 des Echos zwischen Messsystem und rück-
streuendem Oberflächenpunkt, wird be- ermittelt werden. Dieser Zusammenhang gilt glei-
20 stimmt. Dabei sollten die optischen Trägerwel- chermaßen für die so genannte Laufzeitmessung als
len vorzugsweise inkohärent sein. auch für die klassische Interferometrie.
19.3 • Grundsätzliche Lösungen zur 3D-Erfassung
339 19
.. Abb. 19.3 Hierarchie der
wichtigsten Messprinzipien auf der
Basis der optischen HF-Modulations-
Interferometrie
Im ersten Fall wird die Laufzeit des Modulationssi- Formerfassung zusätzlich einen 2D-Spiegelscanner.
gnals, d. h. die Gruppenlaufzeit der Lichtwelle, ge- Bei einer modulierten Lichtebene (s. . Abb. 19.3,
messen, was im Allgemeinen durch die Korrelation 2.2) genügt ein 1D-Scanner. Durch 3D-Beleuchtung
mit einem geeigneten Referenzsignal geschieht. Da- (s. . Abb. 19.3, 2.3) mit einem modulierten Licht-
her unterscheidet die Aufgliederung in . Abb. 19.3 volumen, das einen 2D-Empfangsmischer voraus-
--
nach den entsprechenden Modulationssignalen die
Pulsmodulation (1), die
CW (continuous wave)-Modulation (2) und
setzt, wird kein Scanner mehr benötigt. Ein solches
Verfahren erzeugt ein HF-Modulations-Interfero-
gramm, das die 3D-Tiefeninformation enthält.
- die
Pseudo-Rausch-Modulation (3).
2
3
4
5
6
7
8 Aktiv-Pixel-Matrix in CMOS-Technik auf dem
gleichen Chip durchgeführt werden, wie mit dem
9 PMD-Einzelelement in . Abb. 19.6 angedeutet. Eine
entsprechende PMD-Matrix mit x × y-Pixeln liefert
10 so neben der xy-Grauwertinformation pixelweise
zusätzlich die r-Information. Eine nähere Erläute-
rung des Funktionsprinzips folgt in ▶ Abschn. 19.4.1.
11 Diese vergleichsweise junge 3D-Technologie
ermöglicht daher eine neue Generation leistungs-
12 .. Abb. 19.5 3D-Bildaufnahme mit optischem 2D-Mischpro- fähiger optischer 3D-Sensoren und flexibler, preis-
zess (EOM = Elektro-Optischer Modulator) in der Empfangsa- günstiger, robuster und extrem schneller 3D-Lauf-
pertur zeitkameras.
13
19.3.2 Das PMD-Prinzip
14 19.4 Module eines PMD-Systems
. Abbildung 19.5 zeigt den Empfangsteil einer 3D-
15 Kamera mit einem optischen 2D-Mischer, z. B. einer Ein PMD-Sensorsystem besteht aus einer PMD-
Pockels-Zelle, der in der Empfangsapertur ein pha- Empfangseinheit (PMD-Chip mit der dazuge-
senabhängiges quasistationäres Intensitäts-Interfe- hörigen Peripherie-Elektronik, Empfangsoptik,
16 rogramm erzeugt. Die Mischung des reflektierten Auswerteeinheit und Netzteil) und einer aktiven
Messsignals mit dem Referenzsignal findet hier Beleuchtungseinheit.
17 durch die Transmissionsmodulation der Pockels- Mit jedem dieser Komponenten können die
Zelle bereits im optischen Bereich statt. Das Misch- Sensorparameter wie der Messbereich, das Sicht-
ergebnis wird von der nachfolgenden CCD-Matrix feld FoV (Field-of-View), die Bildwiederholrate,
18 pixelweise aufintegriert, wodurch letztlich die Kor- die Lateral- und die Tiefenauflösung applikations-
relation zwischen dem Mess- und dem Referenzsi- spezifisch angepasst werden. Eine Kamera für vo-
19 gnal entsteht. rausschauende Sicherheitsapplikationen erfordert
Die Intensitätsdetektion und die Mischung bzw. beispielsweise eine höhere Reichweite und aufgrund
20 die Korrelation können auch parallel durch Modi- hoher Geschwindigkeiten ebenfalls eine hohe Bild-
fikation eines CCD-Chips oder vorzugsweise einer wiederholrate.
19.4 • Module eines PMD-Systems
341 19
1
2
3
4
.. Abb. 19.8 Komponenten eines modularen PMD-Kamerasystems. Die gelben Blöcke symbolisieren den von Fremdlicht
5 generierten Ladungsanteil, die roten Blöcke den Signalanteil des aktiven Lichts. Die SBI-Schaltung eliminiert einen Großteil der
Fremdlicht-Ladungspakete (b). a) Dynamikbereich ohne SBI. b) Dynamikbereich mit SBI
6 zwischen dem modulierten Lichtsignal und dem In . Abb. 19.8a sind die Speicherbereiche im Pi-
Gegentakt-Modulationssignal an den PMD-Gates xel fast völlig durch Fremdlicht generierte Ladungs-
7 (. Abb. 19.7c). Betrachtet man nun für diesen Fall träger gefüllt. Der für die Entfernungsmessung rele-
die Differenz der links und rechts aufintegrierten vante Signalanteil ist folglich sehr klein. Durch diesen
Signale, so hängt diese direkt von der Phasenlage geringen Signalhub werden die Messergebnisse unge-
8 des empfangenen optischen Signals ab. Die Entfer- nauer bzw. das Entfernungsrauschen größer.
nung vom Sensor zum Objekt kann über diese Pha- Da das Fremdlicht im Gegensatz zum aktiven
9 seninformation berechnet werden. Die Leistungs- Signal jedoch unkorreliert ist, werden durch die
fähigkeit bzw. die physikalischen Grenzen dieser PMD-spezifische Korrelationseigenschaft an bei-
10 Entfernungsmessung werden in ▶ Abschn. 19.5 den Auslesedioden annähernd gleiche Fremdlicht-
eingehend betrachtet. anteile an Ladungsträgern generiert, d. h. es entsteht
Der Standard-CMOS-Prozess, in dem die heu- ein Gleichanteil, der auf beiden Ausgangskanälen
11 tigen PMD-Chips gefertigt werden, bietet neben identisch ist. Die SBI-Schaltung erkennt diesen
der hochgenauen Zeit- bzw. Phasenmessung von Gleichanteil des Ausgangssignals und entfernt ihn,
12 optischen Signalen zudem die Möglichkeit, zusätz- was eine deutliche Erhöhung der Sensordynamik
liche Funktionen im Chip oder sogar pro Pixel zu zur Folge hat (. Abb. 19.8b).
realisieren. Ein Beispiel ist die Unterdrückung von Da auch hohe Temperaturen in erster Linie
13 Stör- bzw. Fremdlicht, die so genannte SBI-Schal- nur den Dunkelstrom bei CMOS-Bildsensoren an-
tung (Suppression of Background Illumination), die heben, erlaubt die SBI-Funktionalität gleichzeitig
14 3D-Messungen auch unter härtesten Sonnenlicht- den Einsatz der PMD-Sensorik unter erschwerten
bedingungen bis zu 150 klux ermöglicht. Temperaturbedingungen. Der Dunkelstrom erzeugt
15 Vor allem das bei Außenraumanwendungen nämlich, genau wie Fremdlicht, nur Signalanteile,
vorhandene Sonnenlicht stellt an Systeme mit ak- die unkorreliert sind und daher von der SBI-Schal-
tiver Beleuchtung hohe technische Anforderungen, tung eliminiert werden.
16 denn dieses kann in vielen Fällen ein sehr viel hö- Zusammen mit weiteren Maßnahmen wie einer
heres Signal als die aktive Beleuchtung im Sensor spektralen optischen Filterung des aktiven Signals
17 generieren und so durch eine Verringerung der aus dem Umgebungslicht, einer Burst-Überhöhung
Dynamik für das aktive Licht zu einer Verschlech- der Lichtquelle und einer Integrationszeitsteuerung
terung der Sensorperformance und im schlimmsten ist eine PMD-Kamera unempfindlich auch gegen
18 Fall zur Sättigung führen. extreme Fremdlichtverhältnisse, wie z. B. Sonnen-
Durch das integrierte SBI-Verfahren ist es in ei- licht.
19 nem PMD möglich, die aktive modulierte Beleuch-
tung vom übrigen Umgebungslicht zu unterschei-
20 den. . Abbildung 19.8 veranschaulicht das Prinzip
dieses Verfahrens.
19.4 • Module eines PMD-Systems
343 19
.. Abb. 19.9 Aktuelle PMD-Beleuchtung für
Außenraumanwendungen
3
4
.. Abb. 19.11 Erfassung eines Rollschuhläufers
5
(umrandet) als Objekt ab seinem Eintritt in den
Erfassungsbereich der Kamera. Im rechten,
konventionellen Videobild wird das im 3D-Bild
7
8 tierten Objekte im 3D-Raum und kann aus den mitliefert, der für die Objekterkennung genutzt
Änderungen die Bewegungsvektoren im Raum werden kann.
9 eindeutig extrahieren. In . Abb. 19.10 wird der
Schritt vom Entfernungsbild zur Interpretation
19.5 Leistungsfähigkeit
10 des relevanten Objekts dargestellt, indem drei
und Leistungsgrenzen
Fußgänger als Objekte erkannt und deren Position
bestimmt wird. des Gesamtsystems
11 Aufgrund der beim PMD inhärent vorhandenen
3D-Information sind die oben dargestellten Bildver- Bei jedem Entfernungsmesssystem, das nach dem
12 arbeitungsschritte mit sehr einfachen Algorithmen Lichtlaufzeitverfahren funktioniert, wird die erziel-
darstellbar, wodurch auch mit wenig Rechenleistung bare Messgenauigkeit (Reproduzierbarkeit) maß-
ein sehr schnelles Objekttracking möglich ist. Die geblich durch die Menge des empfangenen Lichts
13 folgenden Abbildungen zeigen einen Rollschuh- beeinflusst. Folglich sind bei der Systemauslegung
läufer als relevantes Objekt, das über einen Entfer- die nachfolgend aufgelisteten Parameter für die
-
14 nungsbereich von 3 m getrackt wird (. Abb. 19.12). Leistungsfähigkeit entscheidend:
Die Entscheidung, ob es sich um ein relevantes Empfindlichkeit des Empfängers (Quanteneffi-
15
16
Objekt handelt oder nicht, wird direkt nach Eintritt
des Objekts in das Sichtfeld des Sensors getroffen
(. Abb. 19.11). Dies belegt die Schnelligkeit der
Bildverarbeitung.
-- zienz und Fläche),
Lichtstärke der Empfangsoptik,
effiziente, lichtstarke aktive Beleuchtung (ent-
scheidend ist vor allem die optische Leistung
Das gleiche Tracking funktioniert auch bei der verwendeten Beleuchtung. Damit sind
17 höheren Relativgeschwindigkeiten, z. B. bei einer kleine Blick-/Öffnungswinkel vorteilhaft für
Autobahnfahrt (. Abb. 19.13). Bemerkenswert eine höhere Reproduzierbarkeit).
ist hierbei, dass das Tracking auch noch funktio-
18 niert, obwohl die Objekte in 50 m Entfernung nur Zwangsläufig lässt sich in der Regel auch eine deutlich
noch mit wenigen Pixeln erfasst werden, wie im bessere Reproduzierbarkeit für Ziele hoher Reflexivi-
19 Videobild zu erkennen ist. Möglich wird diese tät erzielen. Da die Reichweite (nicht zu verwechseln
Genauigkeit dadurch, dass jedes Pixel neben der mit dem 2π- Eindeutigkeitsbereich der Phasenmes-
20 Helligkeitsinformation auch einen Entfernungwert sung) durch ein festzulegendes Reproduzierbarkeits-
limit definiert wird, hängt sie ebenfalls maßgeblich
19.5 • Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen des Gesamtsystems
345 19
.. Abb. 19.12 Verfolgung der Position des
Rollschuhfahrers (umrandet, Entfernung von
30 m). Wie in . Abb. 19.11 werden die im 3D-
Raum erfassten Objekte auch im 2D-Kamerabild
markiert.
mit den beschriebenen Einflussgrößen zusammen. ßen können daher sehr oft vernachlässigt werden.
So kann beispielsweise ein und dasselbe System mit Nphase zeigt die Anzahl der Rohwertmessungen bei
einem Retroreflektor 10- bis 100-mal höhere Reich- sequentiellem Phasenshift an, und λmod ist die Wel-
weiten erzielen als auf diffus reflektierende Ziele. lenlänge der Modulationsfrequenz.
Da in einem PMD-System mit jeder Messung Bei der Auslegung bildgebender 3D-ToF-Ka-
neben der Distanz gleichzeitig auch die Modula- meras gilt es stets, einen Kompromiss zwischen
tionsamplitude der aktiven Beleuchtung und der erzielbarer Tiefengenauigkeit und lateraler Auflö-
Grauwert (Maß für Umgebungslicht und aktives sug zu finden. Die Realisierung immer kleinerer
Licht auf dem Ziel) eines jeden Pixels geliefert wer- Pixel ermöglicht zwar höhere Lateralauflösungen,
den, ist zu jedem ermittelten Entfernungswert auch reduziert aber gleichzeitig die Empfindlichkeit der
das zugrunde liegende Signal- zu Rausch-Verhältnis Pixel und somit auch die Tiefenreproduzierbarkeit.
(SNR) bekannt. Da ein fester Zusammenhang zwi- Typische Pixelgrößen liegen heute, anders als bei
schen SNR und der statistischen Messunsicherheit Dr 2D-Imagern, bei Kantenlängen zwischen 40 µm und
besteht, liefert jeder Entfernungswert quasi gleich- 500 µm. Damit lassen sich ToF-Bildempfänger von
zeitig eine Art Konfidenzinformation mit. Dies ist einigen wenigen 1000 Bildpunkten bis zu wenigen
ein großer Vorteil, vor allem für die Entscheidungs- 100 000 Bildpunkten realisieren. Diese verhältnis-
findung einer nachfolgenden Algorithmik. mäßig großen Pixel eröffnen umgekehrt ungewöhn-
Wie in [1] und [2] näher beschrieben, lässt sich liche Freiheitsgrade im Design der Empfangsoptik.
die Messunsicherheit Dr eines PMD-Laufzeitsys- Hier ist es oftmals möglich, sehr lichtstarke Optiken
tems mit folgender Gleichung berechnen: großer Apertur zu realisieren, da die Abbildungs-
qualität eine untergeordnete Rolle spielt.
1 1 mod
r D p S
p (19.1) Neben dem Leistungsbudget, das oben quali-
Nphase ktot N 8 tativ und in [2] quantitativ beschrieben ist, spielt
bei der CW-Laufzeitmessung mit Phaseshift-Ver-
Darin ist ktot der gesamte Mischkontrast nach der fahren vor allem die Modulationsfrequenz fmod eine
Demodulation. ktot entsteht aus dem Produkt des entscheidende Rolle für die Messauflösung. Sie ist
(De-)Modulationskontrastes des PMD-Empfängers sozusagen der Übersetzungsfaktor, mit dem eine
mit dem Modulationskontrast der aktiven Beleuch- – durch die empfangene Leistung und die System-
tung. S ist die Anzahl der Signalelektronen des ak- empfindlichkeit bestimmte – Phasengenauigkeit in
tiven Lichts, und N repräsentiert die Anzahl der eine Entfernungsgenauigkeit transformiert wird.
Rauschelektronen. N beinhaltet neben dem Schro- Dieser Sachverhalt drückt sich in Gleichung (5.2)
trauschen aller im PMD empfangenen, optisch im Parameter λmod aus. Es gilt:
und thermisch generierten Ladungsträger auch c
eine äquivalente Rauschelektronenzahl der übrigen mod D (19.2)
fmod
Rauschquellen des Systems (u. a. Reset-, Verstärker-
und Quantisierungsrauschen). Für sehr viele Appli- Bei der bislang beschriebenen Betrachtung wurde
kationen, vor allem auch im Automotivebereich, ist jeweils nur auf die erzielbare Genauigkeit eines ein-
aber das Schrotrauschen der Sonnenstrahlung die zelnen Pixels eingegangen. Diese Betrachtungsweise
dominante Rauschquelle. Die anderen Rauschgrö- ist sicherlich dann angemessen, wenn eine genaue
346 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)
2
3
4
Profilvermessung gefragt ist. Sehr oft geht es aber Literatur
Kamera-Hardware
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen, Nicolaj Stache,
Maximilian Höpfl
Heutige Verkehrsumgebungen wie Verkehrs- und Funktionen, z. B. mittels Gesten- und Blicksteue-
1 Hinweiszeichen, Fahrbahnmarkierungen und Fahr- rung.
zeuge sind für die Wahrnehmung mit dem mensch-
2 lichen Auge ausgelegt (auch wenn erste Ansätze
zur automatischen Beurteilung durch elektroni- 20.1.1 Fahrer-
sche Sensorsysteme im Fahrzeug existieren, siehe und Innenraumüberwachung
3 ▶ Kap. 51). Dies geschieht beispielsweise durch un-
terschiedliche Formen, Farben oder eine temporale Zur Anwendung von Kameras im Fahrzeuginnen-
4 Änderung der Signale. raum gibt es spezielle Anforderungen, die sich von
Es liegt daher nahe, auch für die maschi- denen der Umfelderfassung unterscheiden. Der
5 nelle Wahrnehmung die Umwelt ähnlich wie das Fahrer als Objekt, das mit der Kamera erfasst wird,
menschliche Auge zu erkunden. Hierzu sind Kame- befindet sich sehr viel näher an der Kamera als
rasysteme imstande, da sie eine vergleichbare spek- Objekte im Umfeld des Fahrzeugs. Um eine Funk-
6 trale, räumliche und temporale Auflösung bieten. tion in allen Fahrsituationen sicherzustellen, z. B.
Zusätzlich zur „Nachbildung“ des menschlichen bei Nacht oder schnellen Lichtwechseln, wird eine
7 Sehens können bestimmte Kamerasysteme Zu- künstliche Beleuchtung eingesetzt. Diese wird im
satzfunktionen bieten, u. a. Aufnahmen in anderen nahinfraroten Wellenlängenbereich gewählt, der für
Spektralbereichen für Nachtsichtfunktionen oder den Fahrer unsichtbar ist.
8 eine Entfernungsmessung.
20.1.1.1 Fahrerüberwachung
9 und Blicksteuerung
20.1 Einsatzgebiete Fahrerassistenzsysteme sind hilfreich und entlasten
und Beispielanwendungen
10 den Fahrer. Gleichzeitig verändern sie aber auch die
Rolle des Fahrers: Der Mensch wird vom klassischen
Aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten „Macher“ vielfach zum „Überwacher“, der Fahrer
11 werden Kamerasysteme im Automobil sowohl zur kann in einer Art Moderator-Rolle gesehen werden.
Innenraumüberwachung als auch zur Umfelderfas- In dieser Rolle überwacht er die Rückmeldungen
12 sung verwendet [1]. Im folgenden Abschnitt wird der verschiedenen (Assistenz-)Systeme und greift
auf diese Einsatzgebiete eingegangen und die Be- zum Start, zur Anpassung der Funktion oder auch
sonderheiten der Umsetzung mittels Kameraerfas- bei der Funktionsübergabe zwischen Fahrer/Fahr-
13 sung aufgezeigt. zeug ein. Das Ziel der Entwicklung ist eine ganzheit-
Ein erstes Fahrerassistenzsystem, das mit Kame- liche Mensch-Maschine-Schnittstelle (engl. human
14 ras realisiert wurde, war die sogenannte Rückfahr- machine interface – HMI), bei der Informationen
kamera. Der Fahrer wird dabei durch die Anzeige über den Fahrer, dessen Zustand und Intention in
15 des Echtzeitvideos auf einem Monitorsystem in sei- das situationsangepasste Interaktionskonzept inte-
nem Fahrverhalten unterstützt. Erweiterte Funkti- griert werden.
onen mittels maschinellen Sehens werden u. a. bei Ausgehend von der Müdigkeitserkennung ha-
16 der automatischen Fernlichtfunktion eingesetzt. ben sich die Anwendungsfelder für eine auf den
Bei diesen Systemen wird nicht mehr das Videobild Fahrerkopf orientierte Innenraumkamera stark er-
17 dargestellt, sondern eine Funktion direkt aus dem weitert. Es lassen sich Funktionen, wie die Identifi-
Kamerabild abgeleitet. kation des Fahrers – z. B. zum Aufruf individueller
Zusätzlich werden auch Kameras im Innenraum Profile oder Präferenzen – adaptive Warnungen in
18 des Fahrzeugs eingesetzt, wobei vor allem zwei Abhängigkeit von Kopfposition und Blickverhalten
Funktionen von Bedeutung sind: Erstens die Fah- sowie eine Augmentierung des HMIs (Augmentie-
19 rerüberwachung zur Erkennung des Fahrerzustands rung: Eine Überlagerung von HMI-Informationen
und der Fahrerintention, zweitens die Nutzung von mit Objekten aus dem Fahrzeugumfeld), z. B. im
20 Kamerasystemen im Rahmen einer erweiterten Augmented Reality-Head-up-Display, verwirkli-
Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Steuerung von chen.
20.1 • Einsatzgebiete und Beispielanwendungen
349 20
.. Abb. 20.1 Blickwinkel von Innenraumkameras zur a) Fahrerüberwachung und b) Handgestenerkennung (Quelle: Continen-
tal)
20.1.2.1 Frontview-Kameras
Frontview-Kameras werden meist hinter der Wind-
schutzscheibe des Automobils in Höhe des Rück-
350 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 .. Abb. 20.2 Umfelderfassung durch verschiedene Sensorsysteme (Quelle: Continental)
lichts. In weiterentwickelten Systemen sind zudem Autobahnen, ist eine hohe Auflösung des Systems
eine stufenlose Leuchtweitenregelung sowie das notwendig. Bei der Fußgängerdetektion hingegen
gezielte Ausblenden bestimmter Bereiche – z. B. kommt es eher auf ein möglichst großes Blickfeld
mittels segmentierter LED-Scheinwerfer (engl. light an. Für alle Aspekte ist eine hohe Empfindlichkeit
emitting diodes) – möglich. Für die verschiedenen des Kamerasystems äußerst wichtig.
Lichtregulierungsfunktionen werden mit der Ka- Insbesondere bei der Objekterkennung haben
mera der vorausfahrende sowie der entgegenkom- Stereokamerasysteme viele Vorteile: Durch die
mende Verkehr analysiert. Wichtig für die Funktion Generierung einer Tiefenkarte können verschie-
ist die Fähigkeit der Kamera – zumindest die Farbe denste Objekte detektiert und die Entfernung zum
der Rücklichter und der Frontscheinwerfer eines Fahrzeug direkt gemessen werden; außerdem ist
Fahrzeugs – zu unterscheiden: Daher kommen hier so eine Freiraumerkennung möglich, die befahr-
farbsensitive Kamerasysteme zum Einsatz (Details bare Bereiche ausweist. Eine zusätzliche Funktion,
in ▶ Abschn. 20.3.3). Eine weitere Voraussetzung für die mit einer Stereokamera umsetzbar ist, stellt die
diese Funktion ist die Notwendigkeit eines hohen Fahrbahnzustandserkennung dar. Auf diese Weise
Dynamikbereichs des Kamerasystems, da bei der kann sich das Fahrzeug frühzeitig auf Schlaglöcher
Anwendung bei Nacht extreme Unterschiede in etc. einstellen [7].
den Lichtintensitäten auftreten (siehe auch ▶ Ab-
schn. 20.2.1). Kameras im infraroten Spektralbereich
Bei der Verkehrszeichenerkennung werden Ein Nachteil von Kameras, die im sichtbaren Spekt-
relevante Verkehrszeichen (z. B. Geschwindigkeits- ralbereich arbeiten, ist die noch unzureichende Emp-
beschränkungen, Einbahnstraßenkennzeichnung) findlichkeit bei sehr schlechten Lichtverhältnissen.
aufgenommen, ausgewertet und die Information Eine mögliche Alternative bzw. Ergänzung ist der
dem Fahrer zur Verfügung gestellt. Die Verkehrs- Einsatz von Kameras, die im infraroten Spektralbe-
zeichenerkennung erfordert eine hohe Leistungsfä- reich arbeiten (siehe auch ▶ Kap. 44). Hier kommen
higkeit des Kamerasystems [5]. Die Verkehrszeichen derzeit vor allem zwei Ansätze zum Einsatz: Im ers-
müssen mit einer hohen Auflösung (> 15 Pixel/°) ten wird mittels spezieller Scheinwerfer (LED oder
aufgenommen werden, damit die Zeichenerken- Halogen) mit infrarotem Licht die Verkehrsszenerie
nung optimal funktioniert. Da die Verkehrszeichen beleuchtet; das Kamerasystem ist mit Filtern verse-
am Rand der Straße stehen und sich das Automobil hen, so dass das Kamerabild nur für diese Wellen-
dazu mit einer hohen Geschwindigkeit bewegt, ist länge empfindlich ist. Eine weitere Möglichkeit ist
eine kurze (< 30 ms) Belichtungszeit notwendig, um der Einsatz von Spezialkameras, die im fernen Infra-
eine Bewegungsunschärfe zu vermeiden. rotbereich (FIR) empfindlich sind. Mit diesen Kame-
Um die Sicherheit zu erhöhen, werden viele ras kann direkt das Wärmestrahlungsbild von Fuß-
Fahrzeuge mit einer Fahrstreifenerkennung aus- gängern und Tieren erfasst und somit eine gezielte
gestattet (siehe auch ▶ Kap. 49): Wichtig ist hierbei Assistenzfunktion ausgelöst werden. Nachteilig sind
eine sehr hohe Erkennungsrate auch bei Dunkel- allerdings die hohen Kosten, da diese Kamerasysteme
heit und schlechten Straßenverhältnissen. Auch für nicht auf herkömmlichen Bildsensoren basieren [4].
diese Funktion ist es von Vorteil, wenn das Kame-
rasystem Farben unterscheiden kann, da so eine 20.1.2.2 Umfeldkameras
Detektion von verschiedenfarbigen Markierungen Im Vergleich zu den Frontview-Kameras besitzt die
auf einer Straße, z. B. im Baustellenbereich, möglich Klasse der Umfeldkamerasysteme andere Zielset-
ist (siehe auch ▶ Abschn. 20.2.1). zungen: Umfeldkamerasysteme decken oft einen
Für Funktionen, die auf andere Verkehrsteilneh- großen Blickwinkel ab und stellen zudem dem Fah-
mer (z. B. Kraftfahrzeuge, Fußgänger, Radfahrer) rer das aufgenommene Bild zur Verfügung.
reagieren, ist eine robuste Objekterkennung not-
wendig. Hier sind verschiedenste Aspekte für das Rückfahrkameras
Kamerasystem relevant [6]: Für eine große Reich- Das Kameramodul von Rückfahrkameras ist zu-
weite, beispielsweise für die Fahrzeugdetektion auf meist in der Heckklappe in der Höhe des Num-
352 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
.. Abb. 20.4 Schema
1 Bildverarbeitung
einer prinzipiellen Kamera-
architektur (Quelle: Martin
Punke)
2
Optik Bildsensor
3 Bildausgabe
4
mernschilds integriert, der Videostrom wird dann 20.2 Kameras
für Fahrerassistenzsysteme
5 auf einem Monitor im Armaturenbrett dargestellt.
Zum einen werden durch diese Systeme Unfälle
durch das Übersehen von Personen vermieden, zum Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt, ist die
6 anderen unterstützen erweiterte Systeme den Fah- Einsatzbreite von Kamerasystemen in Fahrzeugen
rer beim Parkvorgang durch die Einblendung eines sehr vielfältig. Daher gibt es auch die unterschied-
7 Rückfahrkorridors (siehe ▶ Kap. 45). lichsten Varianten von Kamerasystemen. Im folgen-
den Abschnitt werden einige Aspekte für die Ausle-
Surround View-Kamerasysteme gung näher behandelt.
8 Surround View-Systeme sind mit vier oder mehr Eine prinzipielle Kameraarchitektur ist in
Kameras rund um das Fahrzeug ausgestattet; die . Abb. 20.4 dargestellt. Ein Gegenstand bzw. eine
9 Videoinformationen der Kameras werden zu einer Szene wird durch eine Abbildungsoptik auf den
zentralen Verarbeitungseinheit übertragen und pro- Bildsensor projiziert, die Pixel des Bildsensors wan-
10 zessiert. Kameramodule für diese Systeme werden deln die Photonen in ein elektronisches Ausgangssi-
üblicherweise mit sogenannten Fisheye-Objektiven gnal um, das durch eine Prozessoreinheit verarbeitet
ausgestattet, die ein horizontales Blickfeld von mehr wird. Im Falle einer bildlichen Darstellung für den
11 als 180° erlauben. Aus den Kamerabildern wird eine Benutzer erfolgt dann die Ausgabe auf einem Dis-
360°-Ansicht der Umgebung generiert und dem play.
12 Fahrer als Einparkhilfe auf einem Monitor zur Ver-
fügung gestellt. In Zukunft wird hier nicht nur das
vereinfachte Parken im Fokus stehen, sondern auch 20.2.1 Kriterien für die Auslegung
13 die Nutzung der Kamerabilder zur Objektdetektion
und allgemeinen Umfelderfassung in Ergänzung zur Zur Auslegung eines Kamerasystems ist sowohl die
14 Frontview-Kamera. Betrachtung der einzelnen Teile als auch des Ge-
samtsystems notwendig. Viele Leistungsparameter
Spiegelersatz
15 werden dabei von mehreren Teilen des Systems be-
Der Ersatz von normalen Außenspiegeln durch einflusst.
Kamerasysteme ist ein Ansatz, der in Zukunft Die Optik des Kamerasystems ist äußerst wich-
16 eine größere Rolle spielen dürfte. Dieser Ansatz ist tig für eine gute Gesamtleistung: Sie beeinflusst u. a.
vorteilhaft für den Kraftstoffverbrauch – weniger die mögliche Auflösung, das Blickfeld, die Schär-
17 Luftwiderstand – und eröffnet ganz neue Desig- fentiefe, die Farbwiedergabe und auch die Empfind-
nmöglichkeiten. Ähnlich wie bei den Surround lichkeit des Systems. Da ein optisches System nie
View-Systemen ist auch hier eine hochdynami- perfekt abbildet (siehe ▶ Abschn. 20.3.2), müssen
18 sche und farbtreue Wiedergabe des Kamerabildes mögliche Fehler, wie z. B. eine Verzeichnung, kor-
auf innenliegenden Displays notwendig. Diese rigiert werden.
19 Einsatzmöglichkeit von Kamerasystemen wird im Die optische Abbildung wird durch den Bild
internationalen Standard ISO/DIS16505 behandelt sensor in digitale Werte umgewandelt. Daher ist
20 [8]. die Auslegung und Anpassung der Optik zum Bild
sensor entscheidend für die Bildqualität: Der Sen-
20.2 • Kameras für Fahrerassistenzsysteme
353 20
Horizont dungen sind Werte von mehr als 40° sinnvoll (vgl.
VFOV . Abb. 20.5 a).
Ein weiterer Aspekt bei der Wahl des Blickfelds
ist der Einfluss von Bewegungsunschärfe im Bild.
a Bei großen Feldwinkeln ändert sich die Position
des Objekts im Bild während der Belichtungszeit
stark, was sich in einer unscharfen Abbildung in den
Randbereichen bei längeren Belichtungszeiten aus-
drückt. Somit wird der maximal nutzbare Öffnungs-
winkel auch durch diesen Effekt eingeschränkt.
HFOV Das vertikale Blickfeld wird vor allem durch
die Einbauhöhe und die minimale Detektionsent-
fernung im Nahbereich bestimmt: In einer beispiel-
haften Rechnung für einen Pkw ergibt sich so ein
Winkel α von 18° unterhalb des Horizonts bei einer
Höhe h von 1,3 m und einer Entfernung d von 4 m
100
sor beeinflusst vor allem die Auflösung – über die In Surround View-Systemen kommen fast aus-
Pixelanzahl – das Blickfeld – über die Anzahl und schließlich Kameramodule mit einem horizonta-
Anordnung der Pixel – den Dynamikumfang, die len Blickfeld von > 180° zum Einsatz. Dies ist be-
Farbwiedergabe und ganz entscheidend die Emp- dingt durch die erwünschte 360°-Darstellung des
findlichkeit (siehe ▶ Abschn. 20.3.3). Fahrzeugumfelds. Um aus den Einzelbildern ein
Im nächsten Schritt der Verarbeitungskette wird Gesamtbild zu berechnen, ist eine Überlappung
die Bildqualität durch die Bildverarbeitung im Pro- zwischen den Blickfeldern der Kameras notwen-
zessor geprägt. Außerdem hängt die Performance dig.
der Bildverarbeitung des maschinellen Sehens ganz Im Bereich der Fahrerüberwachung ist die Ab-
entscheidend von der Leistung der Verarbeitungs- bildung des Kopfes wichtig: Unter Berücksichtigung
einheit ab. von unterschiedlichen anatomischen Vorgaben und
Einbausituationen ergibt sich ein Blickfeld von ca.
20.2.1.1 Blickfeld 40°–50°. Für eine Gestenerkennung, beispielsweise
Das Blickfeld eines Kamerasystems (engl. Field of über ein Kameramodul in der Dachfunktionsein-
View – FOV) spielt eine wichtige Rolle für die An- heit, werden meist größere (> 50°) Blickfelder ge-
wendung und wird im Wesentlichen durch die Op- wählt, um dem Fahrer mehr Freiheit bei der Ges-
tik und den Bildsensor definiert. Man unterscheidet tenbedienung zu ermöglichen.
dabei das Blickfeld in horizontaler und vertikaler
Richtung (HFOV, VFOV). 20.2.1.2 Auflösung
Bei Frontview-Kamerasystemen spielt meist Die mögliche Auflösung eines Kamerasystems ist
das horizontale Blickfeld die größere Rolle. Die ein komplexes Zusammenspiel aus der Auflösung
verschiedenen Assistenzfunktionen benötigen al- der Optik und des Bildsensors sowie der Bildver-
lerdings unterschiedlich breite horizontale Blick- arbeitung. Für die Auslegung eines Kamerasystems
felder: Relativ große HFOV-Werte werden von der ist eine rein theoretische Betrachtung als erster
Fahrstreifenerkennung – bei engen Kurvenradien Schritt nötig: Dabei wird das aufzulösende Objekt
– und der Objektdetektion benötigt – z. B. zur De- betrachtet (z. B. ein Fahrzeug in 100 m Entfernung),
tektion von einscherenden Fahrzeugen oder auf die die notwendige Auflösung für die Bildverarbeitung
Fahrbahn laufenden Fußgängern. Für diese Anwen- (z. B. 10 Pixel pro Fahrzeugbreite) und dann über
354 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
1
2
3
4 .. Abb. 20.6 Effekt einer abnehmenden Auflösung am Beispiel eines Verkehrszeichens (480 × 650/72 × 96/36 × 48/24 × 32/18 × 24/
12 × 16) (Quelle: Boris Werthessen)
5
Auflösung ist neben den geometrischen Anforde-
rungen die zur Verfügung stehende Rechenleistung
6 zur Bildverarbeitung.
7 20.2.1.3 Farbempfindlichkeit
Betrachtet man die im ADAS-Bereich (engl. Advan-
ced Driver Assistance Systems) überwiegend einge-
8 setzten CMOS-Bildsensoren werden vor allem der
sichtbare (engl. visible – VIS) und der nahe Infrarot
9 (engl. near infrared – NIR)-Spektralbereich genutzt.
Eine Trennung in verschiedene Farbkanäle erfolgt
10 über entsprechende Farbfilter auf dem Bildsensor
(siehe ▶ Abschn. 20.3.3).
Wie in ▶ Abschn. 20.1 Beispielanwendungen
11 beschrieben, ist die Farbwiedergabe von großem
Vorteil bei Anwendungen im Bereich der Frontview-
12 und Umfeldkameras. Während es im Bereich Um-
feldkameras auf die möglichst realitätsnahe Darstel-
lung des Kamerabildes auf einem Monitor ankommt,
13 .. Abb. 20.7 Bedeutung der Farbtrennung für die Erkennung ist es bei den Frontview-Anwendungen nützlich,
von Farbbahnmarkierungen (Quelle: Continental) einzelne Farbkanäle unterscheiden zu können.
14 Ein Beispiel zur Bedeutung der Farbtrennung ist
die geometrischen Beziehungen eine notwendige in . Abb. 20.7 dargestellt: Während ein Kamerasys-
15 Auflösung in Pixel pro Grad definiert. Übliche tem mit Farbinformationen (a) eindeutig zwischen
Werte liegen bei > 15 Pixeln pro Grad, um die As- gelben und weißen Fahrbahnmarkierungen unter-
sistenzfunktionen im Bereich Umfelderfassung ab- scheiden kann, ist dies im monochromen Bild (b)
16 zubilden. Insbesondere die Verkehrszeichenerken- nicht mehr möglich.
nung stellt hohe Anforderungen an die Auflösung,
17 um z. B. auch Zusatzzeichen erkennen zu können. 20.2.1.4 Dynamikumfang
In . Abb. 20.6 ist der Effekt einer unterschiedlichen Der Dynamikumfang (engl. dynamic range – DR) ei-
Auflösung dargestellt: Während Form und Warn- nes Kamerasystems beschreibt die Fähigkeit, sowohl
18 symbol aus den rechten Bildern noch zu extrahieren dunkle als auch helle Bereiche im Bild wiederzuge-
sind, wird dies mit Piktogramm und Schrift im Zu- ben. Begrenzt wird die Dynamik in dunklen Bild-
19 satzzeichen nicht mehr gelingen. Im Bereich Fahrer- bereichen von der Rauschgrenze des Bildsensors, in
überwachung können z. T. höhere Auflösungen not- hellen Bildbereichen von der Sättigungsgrenze des
20 wendig sein, um z. B. ein Eyetracking zu realisieren. Bildsensors. Neben dem Bildsensor definiert auch
Ein wichtiger Aspekt bei der Wahl der optimalen die Dynamik der Kameraoptik und des optischen
20.3 • Kameramodul
355 20
.. Abb. 20.8 Darstellung
einer Verkehrsszene mit
hohem Dynamikumfang
(Quelle: Continental)
dungstechnik (AVT) zu einem kompakten Modul Als Träger für den Bildsensor und andere Elek-
1 zusammengefügt. tronikkomponenten kommen Leiterplatten aus or-
Die Optik besteht dabei aus verschiedenen Lin- ganischem Material, flexible Leiterkarten oder auch
2 sen, die in einem Objektiv verbaut sind. Teil des Keramikträger in Frage. Auf den Träger werden
optischen Systems ist oft ein Infrarotfilter (engl. in- Bildsensoren in gehäuster oder ungehäuster Form
frared cut-off filter – IRCF), der nur die sichtbaren montiert.
3 Anteile des Lichtspektrums passieren lässt. Den un- Die Ausrichtung der Optik zum Bildsensor
teren Teil des Kameramoduls bilden der Bildsensor, bzw. der mechanischen Konstruktion des Kame-
4 die Leiterplatte und die elektronischen Bauteile. ramoduls kann über eine Vielzahl von Mechanis-
Für das grundlegende Design eines Moduls sind men erfolgen. Verbreitet sind Ansätze, die mittels
5 natürlich die Auslegungsparameter wie Auflösung einer aktiven Mehrachsen-Justage die Optik opti-
und Dynamikbereich entscheidend. Für ein robus- mal zum Bildsensor ausrichten und dann mit einer
tes Design sind insbesondere die Umwelteinflüsse Klebeverbindung fixieren. Von Vorteil ist hier die
6 während der Lebensdauer wie Temperaturwechsel exakte Justage; als Alternative kommt eine Justage
und Luftfeuchtigkeit zu beachten. Die unterschied- nur in Richtung der optischen Achse in Frage, die
7 lichen Anwendungen führen zu verschiedenen An- mittels eines Schraubgewindes einfach realisierbar
forderungen an das Moduldesign, da eine Kamera ist. Jedoch wird bei dieser Methode eine mögliche
im Bereich Surround View direkten Kontakt mit Verkippung der optischen Achse zum Bildsensor
8 der äußeren Umgebung hat, während Module für nicht korrigiert.
Frontview und Innenraumüberwachung nur im
9 Fahrgastraum eingesetzt werden.
20.3.2 Optik
20.3.1.1 Elektronik
10
Bildsensoren verfügen über eine Vielzahl von analo- Die Optik für Kameramodule besteht im Allge-
gen sowie digitalen Ein- und Ausgängen. Die wich- meinen aus einem an die Anwendung angepassten
11 tigsten sind die Spannungsversorgung für die analo- Objektiv, Filterelementen und dem Objektivge-
gen und digitalen Teile des Bildsensors, das externe häuse. Das Objektivdesign im Fahrassistenzsektor
12 Zeitgebersignal (Takt), digitale Steuerungsein- und unterliegt neben den eigentlichen Objektivanforde-
-ausgänge, die Schnittstellen für die Konfiguration rungen hauptsächlich den beiden Kriterien Kosten
und die Bilddatenübertragung zur Recheneinheit. und Robustheit, was sich sowohl in der Wahl der
13 Die Übertragung von Einstellungen (z. B. Inte- Materialien für Linsen und Gehäuse als auch in Art
grationszeit) erfolgt über ein Konfigurationsbus- und Anzahl der Einzellinsen äußert. So muss die
14 system mit einer geringen Bandbreite. Über eine Konstruktion sicherstellen, dass die Abbildungsei-
parallele oder serielle Schnittstelle kann die Über- genschaften wie Bildschärfe über den Temperatur-
15 tragung der Bilddaten erfolgen. Da die Datenraten bereich möglichst konstant bleiben.
mit größerer Pixelanzahl und höherer Bildwieder-
holrate stark zunehmen, wird verstärkt auf schnelle 20.3.2.1 Herstellung und Aufbau
16 serielle Schnittstellen, wie z. B. dem Camera Serial Als optische Materialien für Kameraobjektive wer-
Interface (CSI) [10], zurückgegriffen. den bevorzugt Flint- und Krongläser verwendet;
17 auch Kunststofflinsen werden eingesetzt, allerdings
20.3.1.2 Aufbau- nicht für die Gesamtheit der Linsen im Objektiv.
und Verbindungstechnik Grund hierfür ist die höhere Temperaturabhängig-
18 Um die Anforderungen an die Einhaltung der op- keit der Materialeigenschaften der Kunststoffe.
tischen Parameter über die Lebenszeit des Kamera- Glaslinsen mit sphärischen Oberflächen werden
19 moduls zu gewährleisten, ist die Wahl der geeigne- üblicherweise durch Schleifmethoden hergestellt.
ten Aufbau- und Verbindungstechnik sehr wichtig: Mittels alternativer Verfahren wie dem Linsenpres-
20 Zum einen ist hier die Verbindung des Bildsensors sen können auch Glasasphären realisiert werden.
zur Leiterplatte von Bedeutung, zum anderen die Kunststofflinsen werden durch Spritzgießen in sphä-
Ausrichtung der Optik zum Bildsensor. rischen und asphärischen Formen hergestellt [11].
20.3 • Kameramodul
357 20
Ein Kameraobjektiv für Fahrerassistenzsysteme weit entferntes Abblendlicht bei Nacht, wird nicht
besteht im Allgemeinen aus einem Metall- oder als Punkt, sondern als Intensitätsverteilung (engl.
Kunststoffgehäuse, das gegen eindringende Feuch- point spread function – PSF) über einige Mikrome-
tigkeit versiegelt ist. Das Gehäuse besteht üblicher- ter abgebildet [12]. Ein weiterer Einfluss ist durch
weise aus schwarzem Material oder ist schwarz die Aufteilung des Bildes in Pixel gegeben, die die
beschichtet, um Streulichteinflüsse zu minimieren. PSF bzw. das Gesamtbild diskretisieren (Sampling).
Des Weiteren kommt ein Filter zur Unterdrückung Typischerweise achtet man daher bei einem Kame-
von UV- und Infrarot-Strahlung für Kameras im radesign darauf, dass die oben erwähnte Intensitäts-
sichtbaren Spektralbereich zum Einsatz. Kameras verteilung ungefähr die Fläche eines Pixels abdeckt.
für die Nutzung im Nahinfraroten sind oft mit ei- Eine Abbildung durch ein Objektiv hat immer
nem Bandpassfilter ausgestattet, der nur die Strah- einen bestimmten Bereich entlang der optischen
lung der aktiven NIR-Beleuchtung passieren lässt. Achse, in dem die Bildschärfe den Anforderungen
Alle optischen Oberflächen sind mit Antireflexi- der Funktion entspricht. Diese sogenannte Schär-
onsbeschichtungen versehen, um störende Bildar- fentiefe ist entsprechend der geringen F-Zahl im-
tefakte zu verhindern. mer eingeschränkt. Durch eine Justage nahe dem
Hyperfokalabstand bei der Modulherstellung erzielt
20.3.2.2 Merkmale man dennoch scharfe Abbildungen im gewünsch-
Die Auslegung der Optik wird durch die Anwen- ten Bereich. Allerdings ist darauf zu achten, dass
dung bestimmt, wobei insbesondere die Merkmale ein ausreichend großer bildseitiger Schärfebereich
wie Blickfeld, Lichtempfindlichkeit, Verzeichnung vorhanden ist, um Temperatureinflüsse auf den Fo-
und Schärfe eine Rolle spielen. Das Blickfeld der kuspunkt zu kompensieren.
Optik ist durch die effektive Brennweite vorgegeben. Die Merkmale eines Objektivs werden durch
Im automobilen Umfeld kommen nur Objektive mit Abbildungsfehler negativ beeinflusst: So führen
festen Brennweiten zum Einsatz. sphärische und chromatische Aberrationen, Koma,
Astigmatismus und Bildfeldwölbung zu geringerer
Optiken für Frontview-Kameras Bildschärfe, da sie kombiniert die PSF vergrößern
Meist ist eine hohe Lichtempfindlichkeit des Kame- [13]. Chromatische Aberrationen wie ein Farbquer-
rasystems notwendig, daher werden Objektive mit fehler beeinflussen die Farbwiedergabe. Die Abbil-
einer kleinen F-Zahl – d. h. großer Blendenöffnung dungsfehler in der Optik können durch ein opti-
– eingesetzt, um schlechten Beleuchtungsbedingun- miertes Design und den Einsatz von asphärischen
gen gerecht zu werden und kurze Belichtungszeiten Linsenelementen minimiert werden [12]. Zusätzlich
zu erzielen. F-Zahlen kleiner 2 sind typisch. Um zu den Abbildungsfehlern können Reflexionen und
eine hohe Lichtempfindlichkeit des Objektivs bei Streuung an optischen und mechanischen Ober-
gleichzeitig guter Abbildungsqualität zu erzielen, flächen in der Optik Streulicht oder Geisterbilder
sind allerdings aufwendigere Objektivkonstruktio- hervorrufen [14].
nen (z. B. mit mehr Linsen) notwendig. Bildverzeichnungen im Bereich von einigen
Die Schärfe eines Objektivs wird über die Mo- Prozent können toleriert werden, da diese nicht re-
dulationstransferfunktion (MTF) beschrieben. Die levant oder einfach per Software korrigiert werden
MTF beschreibt die Kontrastwiedergabe bei ver- können und daher eine verzeichnungsfreie (und
schiedenen Ortsfrequenzen im Bild. Generell gilt, teure) Optik nicht nötig ist. Bildverzeichnungen
dass die Detektion von Objekten gewährleistet sein müssen allerdings bei der Anwendung in einer Ste-
muss, ohne einen zu hohen Überschuss an Schärfe reokamera sorgfältig kompensiert werden (siehe
bereitzustellen, da dieser mit zusätzlichen Linse- ▶ Abschn. 20.5).
nelementen und damit Kosten verbunden ist. Die
Abbildung der Umgebung wird im Ausgabebild auf- Optiken für Surround View-Kameras
grund verschiedener Einflüsse nicht perfekt wieder- In diesem Bereich wird typischerweise ein sehr
gegeben: Zum einen beschränken Abbildungsfehler großes Blickfeld benötigt. Damit einhergehend tritt
der Linsen im Objektiv die mögliche Bildschärfe, insbesondere zum Bildrand eine größere Bildver-
d. h. selbst eine ideale Punktlichtquelle, wie z. B. ein zeichnung auf, die korrigiert werden muss. Diese
358 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
Korrektur ist wichtig, weil üblicherweise zwei oder Da die Bildinformation dem Sensor bereits di-
1 mehrere Kameras zusammenarbeiten, um eine gital zur Verfügung steht, kann diese sowohl extern
Rundumsicht zu generieren: Für diese Rundum- als auch intern verwendet werden, um zum Beispiel
2 sicht müssen Korrespondenzen in den einzelnen ein Histogramm der aufgenommenen Szene zu er-
Kamerabildern gefunden werden, um sie richtig stellen, eine automatische Belichtungssteuerung zu
zusammenzufügen. Auch der Helligkeitsabfall zum realisieren, hochdynamische Aufnahmen zu gene-
3 Bildrand hin (Vignettierung) muss beachtet und rieren oder die Funktionssicherheit zu garantieren.
kompensiert werden. Typischerweise ist die erste Eine gute Basis zur Charakterisierung eines
4 Linse im Objektiv direkten Umwelteinflüssen ausge- Bildsensors bieten Standards wie EMVA 1288 und
setzt und muss entsprechend robust ausgelegt sein. ISO-Standards (12232, 12233, 14524, 15739, 16067).
5 Optiken für Innenraumkameras 20.3.3.1 Empfindlichkeit und Rauschen
Optische Parameter für Kameras zur Fahrerbeob- Die Empfindlichkeit des Bildsensors wird im We-
6 achtung sind dafür ausgelegt, den Kopf des Fahrers sentlichen von seinem Rauschverhalten beeinflusst.
mit einem Abstand von ca. 40 cm bis 100 cm zur Daher ist ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl
7 Kamera abzubilden. Da mit einer aktiven Beleuch- eines Sensors dessen Rauschverhalten über den ge-
tung gearbeitet wird und eine hohe Schärfentiefe im forderten Temperaturbereich.
Nahbereich notwendig ist, werden typischerweise Das Rauschen eines Bildsensors setzt sich aus
8 Objektive mit einer F-Zahl größer 2 genutzt. dem temporären, signalbasierten und räumlichen
Rauschen (engl. temporal, photon shot und spatial
9 noise) zusammen [17, 18, 19].
20.3.3 Bildsensor Bei sehr geringen Signalhöhen dominiert tem-
10 poräres Rauschen, das sich u. a. aus Reset-, ther-
Es gibt zwei grundsätzliche Ansätze digitaler Bild mischem Rauschen und Quantisierungsrauschen
sensoren – CCD (engl. Charge Coupled Device) und zusammensetzt.
11 CMOS (engl. Complimentary Metal-Oxid Semicon- Reset-Rauschen beschreibt Unterschiede in der
ductor). CCD-Sensoren, die bis Ende des letzten Menge der Ladungen beim Start der Integration
12 Jahrhunderts über große Vorteile in ihrem Rausch- und kann mittels Correlated Double Sampling (CDS)
verhalten gegenüber CMOS-Sensoren verfügten, kompensiert werden. Hierbei wird zusätzlich der
kommen im Fahrerassistenzbereich heute kaum Reset-Level beim Beginn der Integration gemessen
13 noch zum Einsatz. Die Vorteile der CMOS-Senso- und vom tatsächlich generierten Signal subtrahiert.
ren überwiegen heute und Nachteile beim Rausch- Dunkelstromrauschen wird durch Ladungen,
14 verhalten wurden kompensiert [15, 16]. die durch Wärmeenergie entstehen, erzeugt. Mit
APS (engl. Active Pixel Sensor) sind in steigender Temperatur steigt diese Rauschkompo-
15 CMOS-Technik aufgebaut, die Begriffe APS und nente nicht-linear an.
CMOS-Sensor werden hier gleichbedeutend verwen- Bei mittleren und hohen Signalpegeln domi-
det. Im Folgenden werden die Merkmale Empfind- niert Photon Shot Noise, das die statistische Vertei-
16 lichkeit, Auflösung, Erhöhung des Dynamikumfangs lung der Anzahl einfallender Photonen beschreibt:
sowie die Reproduktion von Farbe mittels Farbfiltern Photon Shot Noise berechnet sich aus der Wurzel des
17 und Verschlusskonzepte von APS erläutert. generierten Signals und bestimmt damit auch das
Während bei CCD-Sensoren und PPS (engl. maximale Signal-zu-Rausch-Verhältnis (engl. signal
Passive Pixel Sensor) Ladungen für die Wandlung to noise ratio – SNR). Es entsteht bereits außerhalb
18 in eine Spannung zu einem gemeinsamen Knoten des Sensors und kann daher nicht korrigiert werden.
geführt werden müssen, haben APS aktive Pixel Quantisierungsrauschen entsteht durch die Un-
19 im Sinne der pixelindividuellen Ladungswandlung genauigkeit bei der Wandlung des elektrischen Sig-
in eine Spannung sowie integrierte Analog-Digi- nals in ein diskretes digitales Signal und kann durch
20 tal-Wandler, welche die Spannung in ein digitales eine höhere Bittiefe des Analog-Digital-Wandlers
Signal umsetzt. reduziert werden.
20.3 • Kameramodul
359 20
Räumliches Rauschen (engl. spatial noise) be- helligkeiten vorteilhaft, um zum Beispiel eine dunkel
schreibt relativ statische Unterschiede im Offset bekleidete Person auch nachts zu detektieren. Dies
und in der Verstärkung einzelner Pixel (engl. fixed wird durch eine A/D-Wandlung des Signals mit ei-
pattern noise – FPN), die durch Variationen in der ner Bittiefe von 8–10 bit bei einfacheren und 12 bit
Strom-Spannungswandlung der aktiven Pixel ent- und mehr bei höherwertigen Systemen erreicht.
stehen bzw. als Spalten-FPN in der Verstärker- und HDR-Sensoren (engl. High Dynamic Range) arbeiten
A/D-Wandlerschaltungen der jeweiligen Spalten. intern oftmals mit weit höheren Bittiefen, die dann
Ebenso wie beim Dunkelstromrauschen besteht hier zur vereinfachten Übertragung auf eine Bittiefe von
eine nicht-lineare Abhängigkeit zur Temperatur des typischerweise 10–14 bit komprimiert werden.
Sensors [18, 19, 20].
Zeitliche Auflösung Die Bildwiederholrate be-
20.3.3.2 Auflösung zeichnet das Zeitintervall zwischen zwei Aufnah-
Die Güte eines digitalen Videos ergibt sich neben men. Eine niedrige Bildwiederholrate birgt die
der räumlichen Auflösung aus der Kontrastauflö- Gefahr, dass auf Ereignisse nicht oder zu spät re-
sung und der zeitlichen Auflösung. Diese beschrei- agiert werden kann, und erschwert das Tracking von
ben die Anzahl der Pixel, auf die ein Objekt abge- Objekten. Eine hohe Bildwiederholrate erhöht die
bildet wird, die Anzahl der Grauwerte, in die eine Anforderungen an die Schnittstelle und die weitere
Szene aufgelöst werden kann, und den zeitlichen Bildverarbeitung. Typische Werte liegen bei etwa
Abstand zweier Bilder [19]. 30 Bildern pro Sekunde.
.. Abb. 20.11 Unterschied Electronic Rolling Shutter (ERS) und Global Shutter (GS) am Beispiel eines Quaders mit Bewegungs-
richtung nach rechts. ERS nimmt Bewegung in verschiedenen Zeilen an verschiedenen Zeitpunkten auf, GS alle Zeilen an einem
Zeitpunkt. (Quelle: Boris Werthessen)
aufgelöstes Grauwertbild. Die Reproduktion von Nachteil des Global Shutters ist die Notwen-
Farbe erfolgt aber lediglich im Sinne „Nicht-Rot“. digkeit, die Bildinformation zwischenzuspeichern,
Je weniger Signal das rote Pixel im Vergleich zu den bis sie ausgelesen wird. Hieraus ergibt sich die
Pixeln ohne Farbfilter liefert, als desto blauer wird Notwendigkeit zusätzlicher Transistoren je Pixel
die Farbe angenommen. Ausreichend ist dies in der und analoger Speicherbereiche (engl. Sample and
automobilen Anwendung zur Unterscheidung von Hold). Dies führt zu parasitären Effekten und man
Frontlichtern (Weiß) und Rücklichtern (Rot) [5]. benötigt außerdem zusätzliche Chipfläche. Der da-
raus folgende schlechtere Füllfaktor führt zu einem
20.3.3.5 Elektronischer Verschluss höheren Rauschpegel im Vergleich zum Electronic
Bei digitalen Kameras gibt es üblicherweise kei- Rolling Shutter, bei dem die Information direkt aus-
nen mechanischen Verschluss, der die Integrati- gegeben wird [18].
onszeit bestimmt. Es kommt ein elektronischer Beim Electronic Rolling Shutter (ERS) wird die
„Verschluss“ zum Einsatz, bei dem das Pixel zu Integration jedes Pixels einzeln, im Abstand eines
Beginn der gewünschten Integrationszeit in seine Arbeitstaktes, gestartet und nach der Integrations-
Ausgangslage zurückgesetzt und am Ende der In- zeit auch einzeln wieder gestoppt und direkt ausge-
tegrationszeit das erzeugte Signal ausgelesen wird. lesen [18, 25]. Der Verschluss „rollt“ über die ein-
Verwendet werden heute Global und Rolling Shut- zelnen Pixel hinweg, wodurch zu jedem Takt nur die
ter, die sich im zeitlichen Ablauf unterscheiden Information eines einzelnen Pixels zur Verfügung
[18, 19]. steht, das direkt ausgelesen werden kann. Dadurch
Beim Global Shutter (GS) wird die Aufnahme kann auf die Sample and Hold-Schaltung verzichtet
aller Pixel eines Pixelarrays gleichzeitig gestartet werden, was dem ERS große Vorteile beim SNR ge-
und gestoppt. Vorteil dieser Technologie: Bewegte genüber dem GS bringt. Weiterhin ist CDS bei ERS
Objekte behalten dadurch, abgesehen von Bewe- einfacher integrierbar [18].
gungsunschärfe, ihre Form im aufgenommenen Nachteil des sequenziellen Integrierens der Pixel
Bild bei (siehe . Abb. 20.11, untere Darstellung). ist die zeitliche Differenz zwischen den Bildzeilen:
Auch zufällig gepulste Lichtquellen wie LED-Fahr- So wird bei einem Objekt, das sich horizontal durch
zeugbeleuchtungen oder aktive Wechselverkehrs- das Bild bewegt, der obere Teil des Objekts zu einem
zeichen erzeugen beim GS ein homogenes Resul- früheren Zeitpunkt aufgenommen als der untere
tat, solange die Pulse während der Integrationszeit Teil, was zu dem bekannten Effekt von verzerrten
auftreten. oder „schiefen“ Objekten führt. Bei der Aufnahme
362 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
.. Abb. 20.12 System-
1 komponenten eines
Bild- Bild- Kommunikations FAS-Kamerasystems (Quel-
aufnahme verarbeitung -schnittstelle le: Martin Punke)
2
Bild-
3 aufnahme-
regelung
Optik Elektronik
4 Mechanik
5
gepulster Lichtquellen (aktive Wechselverkehrszei- zum Fahrzeug. Dies ist in . Abb. 20.12 schematisch
chen) kommt es zu dem Effekt, dass einzelne Pulse dargestellt. Kamerasysteme können sowohl als ein-
6 nur von einigen Zeilen gesehen werden. zelne Einheit, die alle Komponenten enthält, aus-
. Abbildung 20.11 zeigt die Position eines be- gelegt sein, als auch als Systeme, die Komponenten
7 wegten Quaders sowie die Zeile (hellgrau), deren getrennt verwenden (z. B. eine Kameramodul mit
Integration zu verschiedenen Zeitpunkten während einer externen Bildverarbeitungseinheit).
der ERS-Aufnahme gestartet wurde (oben). Fügt
8 man aus den Aufnahmen der einzelnen Zeilen ein 20.4.1.1 Bildaufnahme
Bild zusammen, ergibt sich eine verzerrte Darstel- Die Bildaufnahme erfolgt durch ein oder mehrere
9 lung des Quaders. Beim GS (unten) erfolgt die Inte- Kameramodule im Fahrzeug. Die Bilddaten des Ka-
gration aller Pixel zu einem Zeitpunkt, der Quader meramoduls werden durch die Bildaufnahmerege-
10 wird unverzerrt dargestellt. lung beeinflusst und dann an die Bildverarbeitung
weitergeleitet. Es können auch zusätzliche bild(vor)
verarbeitende Funktionen direkt auf dem Bildsensor
11 20.4 Systemarchitektur integriert werden. Man spricht dann von einem Sys-
tem on Chip (SOC)-Sensor. Hierbei muss allerdings
12 Um die Ansprüche an alle geforderten Funktionen abgewogen werden, ob der Mehrbedarf an Leistung
zu erfüllen, erfordert die Systemarchitektur die kor- sowie damit verbundener Wärmeentwicklung – und
rekte Auslegung der Hardware- und Software-Kom- somit Erhöhung des Bildsensorrauschens – die In-
13 ponenten sowie der Bildverarbeitungsalgorithmen; tegration sinnvoll macht.
hinzu kommen die mechanische Auslegung des Im Falle der Vorverarbeitung auf dem Bildsen-
14 Systems und die mechanische und elektronische sor oder bei Kameramodulen mit einer externen
Verbindung mit dem Fahrzeug. Verarbeitungseinheit werden die Bilddaten u. a.
15 Da Kamerasysteme für Fahrerassistenzfunk- über spezielle Schnittstellen basierend auf dem
tionen sicherheitsrelevante Bauteile im Fahrzeug LVDS-Standard (engl. low-voltage differential sig-
darstellen (z. B. durch Bremseingriff) muss das naling) oder über Ethernet in komprimierter Form
16 System auch die ISO-Norm 26262 („Road vehicles – (z. B. als Mjpeg oder im H.264-Standard) übertra-
Functional safety“) erfüllen [26]. Dabei sind je nach gen.
17 Funktion verschiedene ASIL-Stufen (engl. automo-
tive safety integrity level) umzusetzen. 20.4.1.2 Bildaufnahme-Regelung
Die Regelung des Kamerabildsensors ist notwendig,
18 um in allen Umgebungssituationen die optimalen
20.4.1 Systemübersicht Bildparameter einzustellen. Die zwei wichtigsten
19 Regelungssysteme sind die Belichtungssteuerung
Ein Kamerasystem besteht aus den Komponenten und der Weißabgleich.
20 zur Bildaufnahme, der Bildaufnahme-Regelung, Zur Anpassung an unterschiedliche Beleuch-
der Bildverarbeitung und der Kommunikation tungssituationen ist die Belichtungssteuerung so
20.4 • Systemarchitektur
363 20
ausgelegt, dass sowohl in den dunklen Bildberei- Datenraten auch eine gleichzeitige Übertragung von
chen noch Strukturen zu erkennen sind als auch Bilddaten möglich.
die hellen Bildbereiche nicht gesättigt sind. Vor-
aussetzung ist natürlich ein entsprechend großer 20.4.1.5 Elektronik
Dynamikumfang des Kameramoduls. Die Auslegung der Elektronik folgt den allgemein
Die Kontrolle des Weißabgleichs erfolgt, um bei hohen Anforderungen in der Automobilindustrie
unterschiedlichen Farbtemperaturen der Beleuch- u. a. hinsichtlich Lebensdauer und elektromagne-
tung der Szene eine konstante Farbwiedergabe zu tischer Störfestigkeit/Verträglichkeit. Die großen
erreichen. So müssen beispielsweise weiße Fahr- Datenmengen, die mit komplexen Algorithmen in
bahnmarkierungen sowohl im Tageslicht als auch Echtzeit zu bearbeiten sind, führen zu einer Sys-
bei Tunnelfahrten mit zum Teil gelblicher Beleuch- temauslegung, bei der meist mehrere Prozessoren
tung als weiß erkannt werden. oder Multikernprozessoren zum Einsatz kommen
[5]. Die Abführung der daraus resultierenden Ver-
20.4.1.3 Bildverarbeitung lustleistung bildet eine Herausforderung für den
In der Bildvorverarbeitung erfolgen die Aufberei- Wärmeabtransport im Fahrzeugeinbauraum und
tung des Kamerabildes und erste Verarbeitungs- muss schon bei der Elektronikauslegung und dem
schritte. Bei Einsatz eines RGB-Bildsensors wird Gehäusedesign berücksichtigt werden.
ein Farbbild durch ein sogenanntes Demosaicing
-Verfahren rekonstruiert. Als weiterer Schritt er- 20.4.1.6 Mechanik
folgt eine Gammakorrektur, d. h. Eingangswerte Das Gehäuse des Kamerasystems bildet die
im Bild werden über einen Transformationsschritt Schnittstelle zwischen Elektronik und Kamera-
in andere Ausgangswerte überführt. Hintergrund modul zum Fahrzeug; es muss thermisch stabil
dieser Operation ist entweder die Anpassung an und leicht zu verbauen sein. Außerdem bildet das
ein bestimmtes Wiedergabesystem oder auch Gehäuse meist die Schirmung der Elektronik zur
die verbesserte Bildverarbeitung. Im Falle einer besseren elektromagnetischen Verträglichkeit. Im
Anzeige auf einem Display wird außerdem übli- Falle der Frontview-Kamera sitzt das Gehäuse
cherweise eine Rauschreduzierung, eine Kanten- hinter der Windschutzscheibe. Um Reflexionen
verstärkung und eine Farbkorrektur durchgeführt an den Scheibengrenzflächen und am Gehäuse
[14, 27]. zu vermeiden, wird oft eine Streulichtblende zwi-
Werden die Bilddaten für Aufgaben des maschi- schen Kameramodul und Windschutzscheibe ein-
nellen Sehens herangezogen, erfolgen oft eine Ver- gesetzt. Bei den Kamerasystemen, bei denen das
zeichnungskorrektur, die Berechnung des optischen Kameramodul direkten Kontakt zur Umwelt hat
Flusses und im Falle einer Stereokamera die Rekti- (z. B. Surround View) muss das Gehäuse außer-
fizierung sowie die Erstellung der Disparitätskarte. dem gegen eindringende Feuchtigkeit versiegelt
Aus den vorverarbeiteten Bildern werden in der sein.
Bildverarbeitung die gewünschten Informationen
extrahiert (vgl. auch ▶ Kap. 21 und 22).
20.4.2 Monokamera-Architektur
20.4.1.4 Kommunikation
Über die Kommunikationsschnittstellen des Kame- Eine exemplarische Monokamera-Architektur für
rasystems erfolgt der Datenaustausch zu anderen ein Frontview-Kamerasystem ist in . Abb. 20.13
Steuergeräten im Fahrzeug. Als Fahrzeugbussysteme dargestellt. Der Bildaufnehmer wird über einen
sind vor allem der CAN-Bus (engl. Controller Area Kommunikationsbus geregelt und die Bilddaten
Network), der Flexray-Bus und der Ethernet-Stan- werden über eine parallele Schnittstelle zur Bild-
dard verbreitet. Während CAN- und Flexray-Busse verarbeitungseinheit übertragen. Eingesetzt wird
nur zur Kontrolle des Kamerasystems und Ausgabe hier ein digitaler Signalprozessor (engl. Digital Sig-
von beispielsweise Objektlisten verwendet werden, nal Processor – DSP), der die Videoverarbeitung in
ist beim Einsatz von Ethernet aufgrund der höheren Echtzeit durchführen kann. In anderen Systemen
364 Kapitel 20 • Kamera-Hardware
Daten- .. Abb. 20.13 Architektur
1 schnittstelle eines Monokamerasystems
Kamera- (Quelle: Martin Punke)
DSP
modul
2
3
Kontrollbus
IPC
4 Fahrzeugbus
Mikrocontroller Heizung
5
6 Daten- .. Abb. 20.14 Architektur
schnittstelle eines Stereokamerasys-
7 Kamera-
modul
DSP tems (Quelle: Martin
Punke)
Kontrollbus
8
IPC
9 Fahrzeugbus
Mikrocontroller
10
Heizung
Kamera- Kontroll-
modul bus
IPC
11
IPC
schnittstelle
Daten-
12 IPC
FPGA DSP
13
14 werden auch FPGAs (engl. Field programmable gate 20.4.3 Stereokamera-Architektur
arrays) oder dedizierte ASICs (engl. Application Spe-
15 cific Integrated Circuit) verwendet [27]. Unterstützt Ein Stereokamerasystem unterscheidet sich von ei-
wird die Bildverarbeitungseinheit durch schnelle nem Monokamerasystem im Wesentlichen durch
Speicherbausteine, die einerseits zur Zwischenspei- ein weiteres Kameramodul und zusätzliche Re-
16 cherung von prozessierten Daten als auch zur Spei- cheneinheiten. Die komplexen Stereofunktionen
cherung von mehreren Bildern beim Einsatz von machen eine deutliche höhere Rechenleistung not-
17 Tracking-Algorithmen genutzt werden. wendig.
Der Mikrocontroller übernimmt die Belich-
tungssteuerung, die Steuerung der Windschutzschei- 20.4.3.1 Aufbau einer Stereokamera
18 benheizung, die Kommunikation am Fahrzeugbus Der grundsätzliche Aufbau einer Stereokamera ist
und weitere Steuerungs- und Überwachungsfunkti- in . Abb. 20.14 zu sehen. Die beiden Bildsensoren
19 onen. Zwischen Mikrocontroller und DSP erfolgt die werden hier wiederum von einem Mikrocontroller
Kommunikation durch eine IPC-Schnittstelle (engl. angesteuert, die Bildsignale werden im Vorverarbei-
20 Inter Processor Communication). tungsschritt zu einem DSP und einem FPGA über-
tragen. Im FPGA gehen die Rektifizierung, die Be-
20.5 • Kalibrierung
365 20
rechnung der Disparitätskarte und die Berechnung Mit der Größe eines Bildpunkts auf dem Bild
des optischen Flusses vonstatten. Auf einem DSP sensor sP ergibt sich der Abstand zum Objekt zC zu:
erfolgt dann die Objektbildung, d. h. Identifizierung bf
von Fußgängern, Fahrzeugen etc. zC D d sP
:
Ein zweiter DSP dient zur Umsetzung der
ADAS-Funktionen wie Fahrspurerkennung und Nach Ableitung ist der absolute Entfernungsfehler
Verkehrszeichendetektion. Die Kommunikation dann:
zum Fahrzeug läuft mittels eines Mikrocontrollers
ab. Auch hier stehen den Bildverarbeitungseinhei- d sP zC2
z D :
ten jeweils schnelle Speicher zur Verfügung. bf
9
-
Kameramodulcharakterisierung
OECF (engl. opto electronic conversion func-
mit Schachbrettmuster-Targets verwendet. Anhand
des bekannten Setups und der Auswertung der in
10 - tion, Sensorkennlinie)
Dunkelstromrauschen, defekte Pixel
der Kameraaufnahme detektierten Schachbrettecken
können Modellparameter bestimmt werden, mit de-
nen sich die Kamera beschreiben lässt. In den meisten
Fällen reichen hier ein einfaches Lochkameramodell
--
Geometrische Kamerakalibrierung
11 Intrinsische Kameraparameter und ein Verzeichnungsmodell niedriger Ordnung
Kamerahauptpunkt aus. Eine bekannte Methode zur Bestimmung dieser
12
13
-- Brennweite
Verzeichnung
Pixelskalierung
intrinsischen (und auch extrinsischen) Parameter ist
beispielsweise das Verfahren nach Tsai [28].
14
15
--
Extrinsische Kameraparameter
Kameraposition
Kameraorientierung
Kameras intrinsisch kalibriert sowie die Lage und
Orientierung der Kameras relativ zueinander be-
rechnet.
wandsgründen nicht immer erwünscht. Darüber größeren Auflösungen der Bildsensoren. Höhere
hinaus ist die Kameraorientierung relativ zur Welt Bildwiederholraten und verbesserte Empfindlich-
im Fahrzeug nicht konstant. Wechselnde Beladungs- keiten sind zusätzliche Entwicklungen im Bereich
zustände des Fahrzeugs können die Orientierung der Kamerasensorik. Durch diese technologischen
beeinflussen. Die Kameraparameter müssen aber Verbesserungen werden sich Kamerasysteme in
auch in diesem Fall exakt vorliegen, daher wird die verschiedensten Anwendungsgebieten im Fahrzeug
Kameraorientierung auch während des laufenden Be- fest etablieren.
triebs kalibriert. Je nach Fangbereich des verwendeten
Verfahrens und nach Einbautoleranz kann damit auf
die extrinsische Kalibrierung in der Produktionsli- Literatur
nie komplett verzichtet werden. Um die Kalibrierung
online zu bestimmen, gibt es eine Reihe von Mög- 1 Loce, R., Berna, I., Wu, W., Bala, R.: Computer vision in road-
way transportation systems: a survey. J. Electron. Imaging
lichkeiten: Günstig ist es beispielsweise, auf die Er-
22(4), 041121 (2013)
gebnisse von ohnehin auf dem Fahrerassistenzsystem 2 Homepage der Firma Delphi: http://delphi.com/manufac-
laufenden Funktionen zurückzugreifen und daraus turers/auto/safety/active/racam/, Zugriff am 10.01.2014
die Kalibrierwerte zu berechnen. Ein Beispiel, mit ei- 3 Homepage der Firma Gentex: http://www.gentex.com/
nem Structure From Motion-Ansatz zu kalibrieren, ist automotive/products/forward-driving-assist, Zugriff am
10.01.2014
in [29] beschrieben.
4 Källhammer, J.: Night Vision: Requirements and possible
roadmap for FIR and NIR systems. Proc. SPIE 6198, 61980 F
Stereokamerakalibrierung – im Fahrbetrieb Bei Ste- (2006)
reokameras kommt es besonders auf eine genaue 5 Stein, G., Gat, I., Hayon, G.: Challenges and Solutions for
Kalibrierung der Orientierung und Lage der Ka- Bundling Multiple DAS Applications on a Single Hardware
platform. Israel Computer Vision Day (2008)
meras zueinander an: Auch wenn diese Parameter
6 Raphael, E., Kiefer, R., Reisman, P., Hayon, G.: Development
in der Kameraproduktion bereits bestimmt wur- of a camera‐based forward collision alert system. SAE Int.
den, so ist im laufenden Betrieb eine Nachjustage J. Passeng. Cars – Mech. Syst. 4(1), 467 (2011)
erforderlich, da mechanische Einflüsse und Tem- 7 Homepage der Firma Daimler: http://www.mercedes-benz.
peraturschwankungen sonst die Messgenauigkeit zu com/de/, Zugriff am 10.01.2014
8 ISO/DIS 16505: Road vehicles – Ergonomic and perfor-
stark herabsetzen können. Neben den erwähnten
mance aspects of Camera‐Monitor Systems – Require-
Monokalibrierverfahren können auch speziell auf ments and test procedures
Stereokameras abgestimmte Verfahren eingesetzt 9 Hertel, D.: Extended use of incremental signal‐to‐noise
werden: Diese stellen die Transformationsmatrix ratio as reliability criterion for multiple‐slope wide‐dyna-
von der rechten Kamera zur linken Kamera iterativ mic‐range image capture. Journal of Electronic Imaging
19(1), 011007 (2010)
so ein, dass in den Aufnahmen extrahierte Merk-
10 Homepage der MIPI‐Alliance: http://www.mipi.org/speci-
malskorrespondenzen die sogenannte Epipolarbe- fications/camera-interface, Zugriff am 10.01.2014
dingung erfüllen [30]. 11 Fischer, R.: Optical System Design. McGraw‐Hill, New York
(2008)
12 Sinha, P.K.: Image Aquisition and Preprocessing for Ma-
20.6 Ausblick chine Vision Systems. SPIE Press, Washington (2012)
13 Hecht, E.: Optics. Addison Wesley Longman, New York
(1998)
Die Technologie im Bereich Kamerasysteme entwi- 14 Reinhard, E., Khan, E., Akyüz, A., Johnson, G.: Color Imaging.
ckelt sich rasant. Ein Grund dafür ist der Bereich A. K. Peters, Wellesley (2008)
der Unterhaltungselektronik mit seiner Forderung 15 Miller, J., Murphey, Y., Khairallah, F.: Camera performance
considerations for automotive applications. Proc. SPIE
nach immer leistungsfähigeren und kostengüns-
5265, 163 (2004)
tigeren Bildsensoren, Optiken und Rechnerplatt- 16 El Gamal, A., Eltoukhy, H.: CMOS image sensors. IEEE Cir-
formen. Dieses Potenzial wird in Zukunft auch im cuits and Devices Magazine 21(3), 6 (2005)
Fahrzeugumfeld verstärkt genutzt werden. Höhere 17 Holst, G., Lomheim, T.: CMOS/CCD Sensors and Camera
Rechenleistungen ermöglichen sowohl Fortschritte Systems. SPIE Press, Washington (2011)
5 tes, D., Datar, S., Smith, S., Jiang, L., Wing, D., Chilumula, A.: A
1280×960 3.75um pixel CMOS imager with Triple Exposure
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23 Solhusvik, J., Kuang, J., Lin, Z., Manabe, S., Lyu, J., Rhodes,
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25 Baxter, D.: A Line Based HDR Sensor Simulator for Motion
9 Artifact Prediction. Proc. of SPIE 8653, 86530 F (2013)
26 ISO 26262: Road vehicles – Functional safety
27 Nakamura, J.: Image Sensors and Signal Processing for Di-
10 gital Still Cameras. CRC Press, Boca Raton (2006)
28 Tsai, R.: A versatile camera calibration technique for high‐
accuracy 3D machine vision metrology using off‐the‐shelf
11 TV cameras and lenses. IEEE Journal of Robotics and Auto-
mation 3(4), 323 (1987)
29 Civera, J., Bueno, D., Davison, A., Montiel, J.: Camera Self‐Ca-
12 libration for Sequential Bayesian Structure From Motion. In:
Camera Self‐Calibration for Sequential Bayesian Structure
15
16
17
18
19
20
369 21
Maschinelles Sehen
Christoph Stiller, Alexander Bachmann, Andreas Geiger
21.1 Bildentstehung – 370
21.2 Bildverarbeitung – 372
21.3 3d Rekonstruktion der Szenengeometrie – 378
21.4 Zeitliche Verfolgung – 383
21.5 Anwendungsbeispiele – 385
21.6 Zusammenfassung und Ausblick – 391
Literatur – 392
Eine Kamera bildet die dreidimensionale (3d) bezeichneter Ursprung in der Blendenöffnung
21 Welt auf einen zweidimensionalen Bildaufnehmer platziert wird, dessen Z-Achse – im Weiteren
ab. Somit entsteht bei der Bildaufnahme ein In- auch als optische Achse bezeichnet – senkrecht
22 formationsverlust um eine ganze Dimension. Für zur Bildebene und die X- und Y-Achse senkrecht
eine Reihe von Messaufgaben, vornehmlich in der dazu parallel zur Zeilen- bzw. Spaltenrichtung des
Klassifikation von Objekten, ist eine zweidimensio- Strahlungsaufnehmers orientiert sind. Anstelle
23 nale (2d) Information bereits ausreichend. In einer der Bildkoordinaten in der Ebene des Aufnehmers
Vielzahl anderer Aufgaben der Fahrerassistenz ist wählt man mathematisch eleganter eine dazu par-
24 hingegen die 3d Information unverzichtbar, um bei- allele Bildebene im Abstand 1 vor der Lochblende.
spielsweise Sicherheitsabstände zielgenau zu regeln. Das Bild in dieser Ebene unterscheidet sich vom
Entsprechend wird in oft rechenintensiven Bildaus- realen Kamerabild nur um eine Skalierung mit der
25 werteverfahren die 3d Szenengeometrie und Dyna- negativen Brennweite –f, so dass das Bild nicht mehr
mik rekonstruiert. Begünstigt durch den anhalten- um 180° gedreht erscheint. Man bezeichnet dieses in
26 den Preisverfall von Kamera und Auswertehardware den Bildkoordinaten x D .x; y/T definierte virtu-
einerseits und der vielfältigen aus Bildfolgen extra- elle Bild als das Bild einer kalibrierten Kamera. Aus
27 hierbaren Information andererseits, werden Bild- dem Bild kann man die Projektionsgleichung
sensoren in einer beständig wachsenden Vielzahl
0 1 0 1
von Anwendungen eingesetzt.
28
x X
Während höhere Lebewesen auch zuvor un- R ein 2 IR(21.1)
@y A D @ Y A fur
bekannte Umgebungen nahezu ausnahmslos und 1 Z
29 mit verblüffender Leichtigkeit visuell wahrnehmen
und diese Wahrnehmung erfolgreich zur Naviga- ersehen, die – wie in der Systemtheorie üblich
30 tion nutzen, ist das Wahrnehmungsvermögen ma-
schineller Bildsensoren bislang auf eng begrenzte
– als von physikalischen Einheiten befreite Zahlen-
wertgleichung formuliert wird. Als wichtigste Kon-
Domänen beschränkt. Selbst mit dem dadurch for- sequenz dieser Projektion kann eine Kamera nur
31 mulierbaren Vorwissen ist maschinelles Sehen der Verhältnisse (d. h. Winkel) zwischen 3d Koordina-
menschlichen Leistungsfähigkeit derzeit noch weit ten bestimmen. Absolute Entfernungsangeben lassen
32 unterlegen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über sich hingegen aus Kamerabildern nur dann bestim-
grundlegende Methoden der Bildinterpretation, so- men, wenn zusätzlich die Skale bekannt ist. Man
wie über das Potenzial und die Grenzen von Bild- bezeichnet Kameras deshalb als maßstabsblind. Im
33 sensoren. Die theoretischen Grundlagen werden Umfeld des Automobils sind zur Maßstabsrekonst-
dabei durch zahlreiche Praxisbeispiele illustriert. ruktion häufig die Einbauhöhe der bewegten Kamera
34 oder der Abstand in einer Stereoanordnung bekannt.
Nach Einführung homogener Koordinaten
21.1 Bildentstehung
T
35 xQ D x y 1 reduziert sich die Projektions-
x' Z
x
X
y
X
y (21.3)
f f
fx D I fy D I y
x
Y
skaliert und um den Bildhauptpunkt .. Abb. 21.2 Geometrisches Kameramodell mit projektiver
.x0 ; y0 /T verschoben. Eine solche Abbildung Abbildung
wird in homogenen Koordinaten linear, d. h. mit
xQ R D .xR ; yR ; 1/T gilt Zusammengefasst ergibt sich die Abbildung eines
0 1 Punktes in 3d Weltkoordinaten XW auf 2d Rech-
fx 0 x0 nerkoordinaten xR als, in homogenen Koordinaten,
B C
xQ R D CQx mit C D B C
@ 0 fy y0 A ;(21.4) lineare Abbildung
0 0 1
QW
xQ R Š PX mit P D CM;(21.6)
wobei die intrinsische Kalibriermatrix C die
intrinsischen Kameraparameter, das sind der Bild- wobei M D R t die ersten drei Zeilen der
hauptpunkt und die Brennweiten, beinhaltet. extrinsischen Kalibriermatrix MQ umfasst. P stellt so-
Schließlich mag das Weltkoordinatensystem mit eine 3 × 4 Matrix dar, die als Projektionsmatrix
nicht an der Kamera orientiert sein, sondern an- bezeichnet wird [1]. An der ungleichen Dimension
wendungsorientiert um die Rotationsmatrix R ge- der Matrix in Zeilen- bzw. Spaltenrichtung wird
dreht und um den Translationsvektor t verschoben der Informationsverlust der projektiven Abbildung
sein, X D RXW C t. In homogenen Koordinaten deutlich.
XQ D .X; Y; Z; 1/T , X
Q W D .XW ; YW ; ZW ; 1/T
wird auch diese Gleichung linear
21.1.2 Bildrepräsentation
Q D R t ;(21.5)
XQ ŠM QX QW mit M
0 1
Während die im vorherigen Abschnitt beschrie-
Q die sechs
wobei die extrinsische Kalibriermatrix M bene Projektion ein in Ort, Zeit und Amplitude
Freiheitsgrade einer starren Bewegung im 3d Raum kontinuierliches Signal erzeugt, werden Bilder
beinhaltet. durch Abtastung und Quantisierung digitalisiert.
372 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
(x0, y0)T
23 x
yR
24
25
y
26
27 Dabei erfolgt die Ortsdiskretisierung bereits durch Gleichziehen mit den rund 120 Megarezeptoren auf
das Pixelraster auf dem Bildaufnehmer. Da natür- der menschlichen Retina im Wege stünde. Zur Ver-
liche Bilder an scharfen Kanten unbegrenzt hohe arbeitung dieser wachsenden Datenmengen wer-
28 Ortsfrequenzen beinhalten, wird dabei streng ge- den neben programmierbaren Prozessoren digitale
nommen das Abtasttheorem verletzt. Jedoch wir- Logikbausteine mit hohem Parallelisierungsgrad an
29 ken die sensitiven Flächen der einzelnen Pixel, die Bedeutung gewinnen.
Optik und häufig der A/D-Wandler als Tiefpass,
30 so dass Aliasingeffekte weitestgehend unterdrückt
werden. 21.2 Bildverarbeitung
Grauwerte werden i. Allg. mit 8 bit linear quan-
31 tisiert, jedoch sind im Fahrzeugumfeld höhere Dy- Unter dem Begriff Bildverarbeitung versteht man
namiken wünschenswert, weshalb es neben nicht- die Aufbereitung, Analyse und Interpretation von
32 linearen Kennlinien auch bereits lineare 14 bit visuellen Informationen. Da die Komplexität hö-
Darstellungen von Grauwerten gibt. Der Wert eines herer Bildverarbeitungsprozesse, wie zum Beispiel
Bildpunktes kann neben dem Grauwert auch andere Fahrstreifen- oder Objekterkennungsalgorithmen,
33 Information, wie Farbe, repräsentieren. Allerdings jedoch überproportional mit der Menge eingehen-
haben sich derartige Kameras im Automotive Be- der Daten steigt, werden diesen höheren Prozessen
34 reich noch nicht durchgesetzt. eine meist großflächige Bildvorverarbeitung und
Das Moore’sche Gesetz, nach dem sich die eine Merkmalsextraktion vorgeschaltet. Die Bild-
35 Rechenleistung von Steuergeräten bei gleichblei-
bender Komplexität etwa alle zwei Jahre verdop-
vorverarbeitung reduziert die bei der Bildaufnahme
unvermeidlichen Fehler und bereitet anschließend
pelt, scheint analog auch für die Pixelanzahl von die Bildsignale anwendungsspezifisch auf. Die
36 Bildaufnehmern zu gelten. Entsprechend würde Bildsignale können dabei durch unterschiedlichste
die Kostenrelation zwischen Kamera und Steu- Filteroperationen oder mit Hilfe von Transformati-
37 ergerät etwa konstant bleiben. In jedem Falle er- onen gezielt manipuliert werden. Irrelevante oder
zeugen Kameras bereits in heutigen Automobilen sogar störende Information soll dabei weitestge-
den höchsten Datenstrom. So verursacht ein mo- hend eliminiert werden. Nach einer erfolgreichen
38 nochromes VGA Bildsignal mit 640 × 480 Pixeln, Vorverarbeitung der Bilddaten können dann re-
einer Bildrate von 25 Hz und 8 bit pro Pixel Grau- levante Merkmale extrahiert und dem jeweiligen
39 wertquantisierung bereits eine Datenrate von über höheren Auswerteprozess zugeführt werden. In
60 Mbit/sec. Die Tendenz geht deutlich in Richtung ▶ Abschn. 21.2.2 wird eine Auswahl der in heutigen
40 von Megapixel Kameras. Es gibt aus heutiger Sicht
keine physikalische Grenze, die dem langfristigen
Fahrerassistenzsystemen angewendeten Bildmerk-
male vorgestellt.
21.2 • Bildverarbeitung
373 21
.. Abb. 21.4 Einige Beispiele für Bildoperatoren. Links: Originalbild; Rechts: a) Binarisierungsoperator (Punktoperator); b) Bino-
mialfilter (lokaler Operator); c) Fouriertransformation (globaler Operator); d) Rotation (geometrischer Operator);
gy .x;y/
˛ D arctan (21.9)
XX
gx .x;y/ S.x; y/ D w.u; v/
u v
und auf Vielfache von 45° quantisiert. Ferner "
.gx .x C u; y C v//2
wird ein Maß für die Kantenstärke berechnet. Die-
ses Maß kann z. B. der Betrag des Gradienten sein. gx .x C u; y C v/gy .x C u; y C v/
Als Zwischenschritt wird nun eine Suche nach lo- #
gx .x C u; y C v/gy .x C u; y C v/
kalen Maxima durchgeführt. Pixel bekommen die 2
gy .x C u; y C v/
Kantenstärke Null zugewiesen, falls ein nicht in (21.10)
Kantenrichtung liegendes Nachbarpixel existiert,
das eine höhere Kantenstärke besitzt. Damit ist wobei w.u; v/ eine um .0;0/ zentrierte Ge-
sichergestellt, dass bei der folgenden Verarbeitung wichtungsfunktion darstellt. Der zum größeren
nur Kanten gefunden werden, die nicht breiter als Eigenwert des Strukturtensors gehörende Ei-
ein Pixel und somit präzise lokalisiert sind. Die genvektor zeigt in Richtung der lokalen Orien-
berechnete Kantenstärke der übrigen Bildpunkte tierung und der Eigenwert stellt ein Maß für die
wird dann mit zwei gegebenen Schwellwerten ver- Ausprägung dieser Orientierung dar. Der zum
glichen. Liegt die Kantenstärke höher als der höhere kleineren Eigenwert gehörende Eigenvektor
Schwellwert, so wird der entsprechende Bildpunkt zeigt entsprechend in die dazu senkrechte Rich-
als Kante markiert. Liegt die Kantenstärke niedriger tung der minimalen Orientierung. Auch hier
als der niedrigere Schwellwert, so wird er als Kante stellt der Eigenwert ein Maß für die Ausprägung
abgelehnt. Liegt die Kantenstärke zwischen den der Orientierung in dieser Richtung dar. Mit-
beiden Schwellwerten, dann wird der Bildpunkt als hilfe des Strukturtensors können entsprechend
Kante detektiert, wenn es in Kantenrichtung mit die Bildpunkte als Ecken detektiert werden, de-
einem zuvor als Kantenpixel klassifizierten Pixel ren Strukturtensor zwei große Eigenwerte auf-
benachbart ist. Auf diese Weise wird eine Hyste- weist. Zur Berechnung wird die Eckenstärke
rese bei der Kantendetektion realisiert, die zu einer E.x; y/ D det.S.x; y// .spur.S.x; y//2
stabileren Detektion kontinuierlicher Kantenzüge mit 2 Œ0;04I 0;15 gebildet. Pixel mit einer ho-
führt. Die gefundenen Kanten können in einem hen Eckenstärke werden als Ecken erkannt. Al-
nächsten Schritt z. B. auf bestimmte Formen un- ternativ zur Berechnung der Eckenstärke können
tersucht werden. auch direkt die Eigenwerte von S.x; y/ untersucht
Weitere wichtige primitive Bildmerkmale sind werden. Eine Ecke liegt dann vor, wenn beide Ei-
Ecken, deren Lokalisierung exemplarisch an- genwerte hinreichend groß sind. Die gefundenen
hand des Harris-Eckendetektors aufgezeigt wird. Ecken können in einem weiteren Verarbeitungs-
Zunächst wird der Gradient des Eingabebildes schritt z. B. zur Korrespondenzsuche zwischen
bestimmt. Es folgt die Berechnung des Struktur- Bildern verwendet werden. Eine detailliertere
tensors Diskussion zur Kantendetektion und zum Struk-
turtensor ist in [4] und [2] zu finden.
376 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
und beschreibt man die Korrespondenz durch die ten Fahrzeugs immer einen unbestimmbaren Frei-
21 Verschiebung d D .d1 ; d2 /T, so bewertet beispiels- heitsgrad einer vollständigen Dimension aufweist.
weise das SAD-Abstandsmaß (sum of absolute dif- Wenngleich zur Bestimmung dieser verbleibenden
22 ferences) den absoluten Fehler zweier Bildblöcke Unsicherheit verschiedene Heuristiken einsetzbar
sind (z. B. Fahrt über Ebene mit bekannter Kame-
P
SAD.d/ D jg1 .xR / g2 .xR C d/j:(21.12) rahöhe), bieten diese für sicherheitskritische Fahr-
23 xR 2B funktionen kaum die notwendige Verlässlichkeit.
Im Gegensatz dazu liefert ein Stereokamerasys-
24 Das SAD-Abstandsmaß bildet somit die tem1 unmittelbar die Tiefeninformation zu fast allen
L1-Norm der Grauwertdifferenzen. Andere Nor- Bildpunkten und kombiniert somit Informationen
men sind ebenfalls als Abstandsmaß gebräuchlich. über Geometrie und Textur einer Szene in einem
25 Der Korrelationskoeffizient zwischen den Grauwer- Sensor. Zur Beschreibung eines Stereokamerasys-
ten beider Bildblöcke kann als einfaches Ähnlich- tems wird das in ▶ Abschn. 21.1.1 eingeführte ma-
26 keitsmaß verwendet werden: thematische Modell einer monokularen Lochka-
mera um eine zweite Kamera erweitert. Für beide
(21.15)
.d/ D
27 P
.g1 .xR / bN1 /.g2 .xR C d/ bN2 /
Kameras wird die oben beschriebene intrinsische
xR 2B
und extrinsische Kalibrierung als bekannt voraus-
D s s : gesetzt. In ▶ Abschn. 21.3.1 werden die Grundlagen
28 P 2
.g1 .xR / bN1 /
P 2
.g2 .xR C d/ bN2 / zur Stereoskopie beschrieben. Im Falle statischer
xR 2B xR 2B
Szenen kann die Stereoauswertung auch aus zwei
29 zeitlich nacheinander aufgenommenen Bildern ei-
Dabei bezeichnet bNi den mittleren Grauwert im ner bewegten Kamera erfolgen. Die Erweiterung der
30 betrachteten Bildblock. Der Korrelationskoeffizient
bildet somit ein gegen Skalierung mit einem kon-
Stereoauswertung für allgemeine zeitlich nacheinan-
der aufgenommene Bilder wird in ▶ Abschn. 21.3.2
stanten Faktor und Summation eines konstanten vorgestellt. Eine Verallgemeinerung auf drei Kame-
31 Offsets invariantes Ähnlichkeitsmaß zwischen Bild- ras, bei der Korrespondenztripel untersucht werden,
regionen. Durch Maximierung dieses Ähnlichkeits- führt zum Trifokal-Tensor in ▶ Abschn. 21.3.3.
32 maßes gewonnene Korrespondenzen sind gegen Be-
leuchtungsänderungen weitgehend unempfindlich.
21.3.1 Stereoskopie
33
21.3 3d Rekonstruktion Die Stereoskopie gehört zu den passiven Verfahren
34 der Szenengeometrie der 3d Szenenrekonstruktion. Hierbei werden zwei
oder mehr Bilder der gleichen Szene von verschiede-
35 In vielen Anwendungen zielen Kameras in Fah-
rerassistenzsystemen auf die 3d Rekonstruktion des
nen Kamerapositionen aus aufgenommen. Aus der
Lage eines bestimmten Szenenpunktes in mindes-
Fahrzeugumfelds. Bei Monokameras ist dies jedoch tens zwei Bildern, lässt sich seine räumliche Position
36 infolge der bekannten bearings-only Ambiguität nur bei Kenntnis der intrinsischen und extrinsischen
begrenzt möglich. Diese fundamentale Eigenschaft Kalibrierungsparameter der Kameras bestimmen.
37 projektiv abbildender Sensoren besagt, dass es durch Für die Korrespondenzanalyse selbst wurden im
ausschließliche Messung von Richtungen aus mit letzten Abschnitt bereits einige Verfahren erläutert.
einem bewegten Sensor nur möglich ist, eine ver- In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass mit
38 gleichbare Bewegung eines verfolgten Objekts bis auf Informationen über die Kalibrierung und bekannter
einen verbleibenden Freiheitsgrad zu bestimmen. Lage der Kameras zueinander weitere Korrespon-
39 Für ein mit konstanter Geschwindigkeit fahrendes denzbedingungen formuliert werden können, die
Automobil bedeutet dies beispielsweise, dass die mit eine effiziente Stereoauswertung erlauben.
40 einer monoskopischen Kamera gemessene Position
und Geschwindigkeit eines ebenfalls unbeschleunig- 1 von griechisch stereós: hart, fest, körperlich, räumlich
21.3 • 3d Rekonstruktion der Szenengeometrie
379 21
Ein Stereosystem besteht aus zwei Kameras mit Basisbreiten und einer damit zunehmend schwieri-
optischen Zentren Cl und Cr, die in ihrem Erfas- ger werdenden Korrespondenzsuche, da bei großer
sungsbereich denselben Szenenpunkt XW abbilden. Basisbreite Verdeckungen häufiger auftreten und
Die Indizes l für links und r für rechts werden zur Verzerrungseffekte bei der Abbildung stärker aus-
Unterscheidung der beiden Kameras in der Stereo- geprägt sind.
anordnung verwendet. Aus praktischen Gründen Die Schnittpunkte von t mit den beiden Bild-
wird das Weltkoordinatensystem oft so gewählt, ebenen werden als Epipole el und er bezeichnet.
dass es mit einem der beiden Kamerakoordinaten- Die optischen Zentren Cl und Cr spannen somit
systeme zusammenfällt. Im weiteren Verlauf soll mit XW eine Ebene auf, die als Epiploarebene be-
angenommen werden, dass das Weltkoordinaten- zeichnet wird und in der beide Bildpunkte xl und
system mit dem Kamerakoordinatensystem der xrliegen, vgl. . Abb. 21.7. Durch diese geometrische
rechten Kamera übereinstimmt, d. h. die extrinsi- Anordnung kann die sogenannte Epipolarbedingung
schen Parameter der rechten Kamera ergeben sich formuliert werden die den Suchaufwand für Stereo-
zu Rr D I, tr D 0 und die der linken Kamera zu korrespondenzen von der gesamten Bildebene auf
Rl D R, tl D t. Die jeweiligen Projektionsmatrizen eine (Halb-)Gerade reduziert.
lauten somit Sind xl und xr Abbildungen des selben Raum-
punktes XW , dann liegt xl auf der Halbgeraden, wel-
Pr D Cr ŒI; 0 che durch die von xr bestimmten Epipolarlinie durch
Pl D Cl ŒR; t D Cl M:(21.14) den Epipol im gleichen Bild gegeben ist.
Mathematisch lautet die Epipolarbedingung
Die Positions- und Orientierungsänderung der
linken Kamera, relativ zur weltfesten, rechten Ka- xQ T
l
E xQ r D 0 mit E D t R(21.17)
mera kann somit durch eine starre Transformation
ausgedrückt werden. Die Transformation beschreibt worin der Operator t die Abbildung des Vektors t
eine Überführung des Raumpunktes XW hinsicht- auf folgende antisymmetrische Matrix darstellt.
lich des Kamerakoordinatensystems des rechten
2 3 2 3
Kamerakoordinatensystems in das linke Kamer- tx 0 tz ty
akoordinatensystem t D 4ty 5 D 4 tz 0 tx 5(21.18)
tz ty tx 0
Ql Š M
X QXQr
mit X Q W D .XW ; YW ; ZW ; 1/T :(21.15)
Qr D X Die Matrix E wird Essentielle Matrix genannt und
ist bei kalibrierten Kameras vollständig durch die
Die Abbildung eines Punktes in 3d Weltkoordi- Position und Orientierung der beiden Kameras be-
naten XW auf 2d Rechnerkoordinaten der linken, stimmt. Die Essentielle Matrix wurde erstmals von
bzw. rechten Kamera xR;l, xR;r wird in homoge- Longuet-Higgins [13] vorgestellt. Sie beschreibt die
nen Koordinaten durch folgende lineare Abbildung geometrische Beziehung zweier korrespondierender
beschrieben: Punkte in den beiden Ansichten des Stereokame-
rasystems in Bildkoordinaten.
QW
xQ R;r Š Pr X Für Rechnerkoordinaten ergibt sich die Epipo-
Q W :(21.16)
xQ R;l Š Pl X larbedingung in ähnlicher Form mit Hilfe der Fun-
damentalmatrix F
Für den dreidimensionalen Verschiebungsvek-
tor t der Kameras gilt t D Cl Cr. Er wird oft auch T
xQ R;l F xQ R;r D 0
als Basis mit der Basisbreite b D jtj bezeichnet und
drückt den Abstand zwischen den optischen Zen- mit F D CT 1
l t RCr :(21.19)
tren der beiden Kameras aus. Bei der Wahl von b
muss ein Kompromiss gefunden werden zwischen F enthält somit die intrinsischen und extrinsi-
einer möglichst hohen Tiefenauflösung bei großen schen Parameter der euklidischen Transformatio-
380 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
.. Abb. 21.7 Epipolargeo-
21 metrie einer Stereokamera
Xw
22
xl xr
23 Cl
eL eR
Cr
CL cR
24
25 [R|T]
26 nen beider Kameras. Zur Bestimmung von F und einem rektifizierten Stereosystem. Eine detaillierte
E aus gegebenen Korrespondenzpaaren gibt es in Beschreibung gängiger Rektifizierungsverfahren ist
27 der Fachliteratur eine Fülle linearer und nichtline- in [6] beschrieben.
arer Ansätze. Zu den linearen Verfahren gehört der Da Korrespondenzen bei einem achsparallelen
8-Punkt-Algorithmus, der für hinreichend genaue Stereosystem in derselben Bildzeile liegen, führt die
28 Punktkorrespondenzen zufriedenstellende Ergeb- unterschiedliche Perspektive der Kameras hinsicht-
nisse liefert. Es zeigt sich jedoch in der Literatur, lich des Szenenpunktes zu einer rein horizontalen
29 dass durch Verwendung von klassischen nichtline- Verschiebung in der Abbildung. Dies kann durch
aren Verfahren aus der numerischen Mathematik folgende Umformung von Gleichung (21.2) für
den Raumpunkt X D .X; Y; Z/T in den jeweiligen
30 bessere Ergebnisse zu erzielen sind. Zur nichtline-
aren Schätzung können etwa das Gauß-Newton- Bildkoordinaten unmittelbar erkannt werden2.
Verfahren oder die Levenberg-Marquardt-Optimie- ! ! !
31 rung genannt werden [14]. Die Essentielle Matrix x
D
f Xl
D
f Xr C b
besitzt fünf Freiheitsgrade. Diese ergeben sich aus y Zl Yl Zr Yr
32
l
3 Drehwinkeln in R und 3 Translationen in t, wobei ! ! (21.20)
die Skale jtj für die homogene Matrix E irrelevant x f Xr
D
und auch nicht beobachtbar ist. Entsprechend sind Zr Yr
33
y
r
minimal fünf Punktkorrespondenzen zu ihrer Be-
stimmung erforderlich [15]. Da die vertikale Koordinate y in beiden Abbil-
34 Gleichung (21.17) bzw. (1.19) stellen eine Bedin- dungen identisch ist, ergibt sich folgende Beziehung
gungsgleichung für korrespondierende Bildpunkt- für die Verschiebung der Abbildung
35 paare dar, welche den Suchraum auf eine Dimension
entlang der Epipolarlinie reduziert. Jedoch stellen D xl xr
die i. Allg. schräg verlaufenden Epipolarlinien in f b (21.21)
f Xr fb f Xr
36 der Bildebene eine für die Suche ungünstige Struk- D
Zr
C
Zr
Zr
D
Zr
:
tur dar. Durch eine Transformation, Rektifikation
37 genannt, in der die zueinander verdrehten Stereo- Die Verschiebung wird als Disparität be-
bildebenen und Kamerakoordinatensysteme virtu- zeichnet und in der Einheit Pixel angegeben. Die
ell komplanar ausgerichtet werden, kann erreicht
38 werden, dass korrespondierende Epipolarlinien
horizontal und auf gleicher Höhe verlaufen. Nach 2 Streng genommen wird hier das Bild einer kalibrierten
39 der Rektifikation erhält man also die Bilder, die Kamera betrachtet, deren Bildenbene den Abstand f zum
optischen Zentrum aufweist. Diese zusätzliche Skalierung
eine Stereoanordnung mit Rr D I, tr D 0, Rl D I, der Bildkoordinaten mit der Brennweite ist üblich, um
40 tl D .b; 0;0/Taufgenommen hätte. Man spricht dann Bildkoordinaten in Pixel und metrische Entfernungen in
von einer achsparallelen Stereogeometrie bzw. von Meter auszudrücken.
21.3 • 3d Rekonstruktion der Szenengeometrie
381 21
.. Abb. 21.8 Rektifiziertes Stereosystem Xw
xl xr
f f
Cl Cr
3d Rekonstruktion entsteht durch Umstellen der wegung zumindest eine Mehrdeutigkeit in einem
Gleichungen (21.20) und (21.21) Freiheitsgrad.
Wir gehen im Folgenden von einem objektfesten
Z
f
D b
,ZD bf
:(21.22) Koordinatensystem aus. Durch die Eigenbewegung
der Kamera verändert ein als statisch anzunehmen-
Damit stellt die Disparität ein Maß für die der Raumpunkt seine Position X.t / über der Zeit t.
Raumtiefe des Punktes X dar und verhält sich um- Vom Zeitpunkt t zum Zeitpunkt t C 1 verschiebe
gekehrt proportional zu ihr. Für Punkte im Unend- sich der Raumpunkt um
lichen verschwindet insbesondere die Disparität.
Durch lineare Fehlerfortpflanzungsrechnung lässt D.t C 1/ D X.t C 1/ X.t /:(21.24)
sich die Auswirkung kleiner Fehler in der Dispari-
tätsschätzung d auf den resultierenden Fehler in Die durch die Kamerabewegung entstehende 2d
der Entfernungsschätzung abschätzen Verschiebung des entsprechenden Bildpunktes auf
der Bildebene ist gegeben durch
d:(21.23)
dZ 2
dZ D d
d D Z
bf
d.t C 1/ D x.t C 1/ x.t/
Der Betrag der Entfernungsschätzung wächst D .X.t C 1/ .X.t///:(21.25)
somit quadratisch mit der Entfernung an. Entspre-
chend ist die 3d Rekonstruktion aus der Disparität d bezeichnet den Verschiebungsvektor an der
im Nahbereich hochgenau, während sie für große Stelle x im Bild, verursacht durch die Bewegung der
Entfernungen unbrauchbar wird. Kamera relativ zu Raumpunkt X. Die Projektion
eines Raumpunktes auf die Bildebene, wie in Glei-
chung (21.6) beschrieben, wird hier abgekürzt aus-
21.3.2 Motion-Stereo gedrückt mit ./. Bei einem Kamerasystem, dessen
Bewegung im Raum durch die Rotationsmatrix R
Im Unterschied zur klassischen Stereogeometrie, und den Translationsvektor t beschrieben wird, ist
bei der zwei Kameras lateral zueinander verscho- die Trajektorie des Raumpunktes X.t / gegeben durch
ben sind, wird beim sogenannten Motion-Stereo
Verfahren eine einzelne, bewegte Kamera verwen- X.t C 1/ D R.t C 1/X.t / C t.t C 1/:(21.26)
det. Für unbewegte Umgebungen lässt sich die 3d
Position der entsprechenden Raumpunkte eindeu- Die Epipolarbedingung (1.17) beschränkt mög-
tig aus Korrespondenzen bestimmen. Ist die Vor- liche 2d Verschiebungsvektoren eines starren Ob-
aussetzung unbewegter Umgebungen jedoch nicht jekts auf eine Dimension. . Abbildung 21.9 zeigt
erfüllt, so verbleibt beim Motion-Stereo Verfahren den für Automotive Anwendungen typischen Son-
in der 3d Rekonstruktion von Position und Be- derfall, bei dem die Rotationsbewegung vernach-
382 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
23
D(t+2) D(t+1)
24
lässigt wird, womit die Rotationsmatrix zur Iden- realen Welt stammen können. Sie ist jedoch nicht
titätsmatrix wird: R.t C 1/ D I . Weiterhin wird hinreichend, d. h. es sind Korrespondenztupel über
25 angenommen, dass sich die Kamera nur entlang der mehrere Bilder möglich, die sämtliche Epipolarbe-
optischen Achse bewegt dingungen zwischen beliebigen Bildpaaren erfüllen,
26 Für starre Objekte mit unbekannter Bewegung aber dennoch nicht von einem Punkt der realen
kann die Epipolarbedingung erst nach Schätzung der Welt stammen können.
27 Epipolarmatrix zur Einschränkung des Suchraums Eine hinreichende Bedingung wird erst mit den
wirksam genutzt werden. Dies hat zur Folge, dass Trifokaltensor erreicht, der die Anordnung von
korrespondierende Punkte zunächst im gesamten drei Kameras beschreibt. Anschaulich betrachtet,
28 Bildraum gesucht werden müssen, was mit kosten- beinhaltet die durch den Trifokaltensor aufgestellte
aufwändigen Operationen verbunden ist. Darüber trilineare Bedingung folgende Teilbedingungen, vgl.
29
30
hinaus ist an vielen Bildpunkten kein eindeutiger
Verschiebungsvektor d bestimmbar, da durch den
Apertureffekt entstehende Mehrdeutigkeiten bei der -
. Abb. 21.10:
Die Einhaltung der Epipolarbedingungen
zwischen dem ersten und zweiten Bild nach
31
projektiven Abbildung auf der Bildebene nicht auf-
gelöst werden können. Ein entscheidender Vorteil
von Motion-Stereo im Vergleich zur Standard-Ste-
reoskopie ist die mit zunehmender Zeit wachsende
- Rotation R12 und Translation t12 der Kamera
Die Einhaltung der Epipolarbedingungen
zwischen dem zweiten und dritten Bild nach
erneuter Rotation R23 und Translation t23 der
32
33
Basislänge. Die Basislänge von Stereoanordnungen
ist aus baulichen Gründen beschränkt. Beim Mo-
tion-Stereo akkumuliert sich die Basislänge aus der
Relativbewegung der Kamera über der Zeit. Dies
- Kamera
Die identische Rekonstruktion der Entfernung
aller Punkte X von der zweiten Kamera, unab-
hängig davon, ob die Entfernung aus den ersten
steigert die Genauigkeit und Reichweite des Sensor- oder letzten beiden Bildern rekonstruiert wurde.
34 systems mit zunehmender Zeit. Besonders attraktiv
für Anwendungen im Fahrerassistenzbereich ist die Formal werden diese Bedingungen symmetrisch
35 gleichzeitige Auswertung von stereoskopischer Dis-
parität und Motion-Stereo. Während stereoskopisch
ausgedrückt, wodurch sich ein System redundanter
Forderungen an die Korrespondenzen in drei Bil-
instantan eine 3d Rekonstruktion im Nahbereich dern x1 ; x2 ; x3 ergibt:
36 möglich ist, akkumuliert das Motion-Stereo Ver-
fahren mit zunehmender Zeit Verschiebungsinfor- f .T; x1 ; x2 ; x3 / D 0:(21.27)
37 mation und erreicht so eine hohe Reichweite [16].
Der Trifokaltensor T umfasst 27 Elemente von
denen jedoch nur 18 unabhängig sind. In der Praxis
38 21.3.3 Trifokal-Tensor zeigen sich die trilinearen Bedingungen der bloßen
bildpaarweisen Auswertung gemäß der Epipolar-
39 Die Erfüllung der Epipolarbedingung (1.17) bzw. bedingung deutlich überlegen. Ihre inhärente Re-
(1.19) zwischen Korrespondenzen in beliebigen dundanz verbunden mit der Beschränkung auf die
40 Bildpaaren stellt eine notwendige Bedingung dafür
dar, dass die Korrespondenzen von einem Punkt der
gleichzeitige Einschränkung der Auswertung auf
Bildtripel lassen darauf basierende Verfahren aber
21.4 • Zeitliche Verfolgung
383 21
.. Abb. 21.10 Trilineare Bedingungen
in der Regel trotz der formalen Vollständigkeit hin- zeugt Beobachtungen entsprechend der Beobach-
ter Bündelausgleichsverfahren zurückstehen [17]. tungsgleichung
Yk D gk .Xk ; vk /:(21.29)
21.4 Zeitliche Verfolgung
Darin ist vk die Realisation des stochastischen
Der mit der projektiven Abbildung einhergehende Beobachtungsrauschens V. Die Aufgabe besteht in
Informationsverlust kann durch zeitliche Verfol- der schritthaltenden Schätzung der Wahrschein-
gung von Bildmerkmalen in 2d oder 3d zum Teil lichkeitsdichte p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / für den aktuel-
kompensiert werden. Ausgehend vom Bayes-Filter, len Zustand unter Berücksichtigung aller bisheriger
welches das allgemeingültigste Verfolgungsverfah- Beobachtungen bis zum aktuellen Zeitpunkt k. Aus
ren darstellt, werden in diesem Kapitel als prakti- dieser Wahrscheinlichkeitsdichte wird dann eine
kable Approximationen das Partikelfilter und das ausgezeichnete Realisation (z. B. das Maximum oder
Kalman-Filter beschrieben. der Mittelwert) als optimale Schätzung X O k gewählt.
Die Aufgabe der zeitlichen Verfolgung besteht
darin, aus Beobachtungen Yk die interessierenden
Größen Xk zu schätzen. Dabei sind sowohl die Be- 21.4.1 Bayes-Filter
obachtungen als auch die zu schätzenden Größen im
Allgemeinen vektorwertig. Beobachtungen und zu Schreibt man zunächst aufgrund der Definition
schätzende Größen sind zeitlich veränderlich und der bedingten Wahrscheinlichkeit (Satz von Bayes)
werden zu diskreten Zeitschritten k D 0; 1; 2; : : : formal
erfasst. Der Zusammenhang der zu schätzenden
p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / (21.30)
Größen Xk mit den gegebenen Beobachtungen Yk
wird im Zustandsraum modelliert. Die Dynamik p.Yk jXk ; Y0 ; : : : ; Yk1 /p.Xk jY0 ; : : : ; Yk1 /
D
des Zustands Xk wird durch eine allgemeine Sys- p.Yk jY0 ; : : : ; Yk1 /
temgleichung
so erhält man unter der Annahme, dass die ak-
Xk D fk .Xk1 ; sk /(21.28) tuelle Beobachtung Yk bei gegebenem Zustand Xk
von früheren Beobachtungen unabhängig ist3
beschrieben. Dabei ist sk die Realisation des
stochastischen Systemrauschens S. Das System er- 3 Diese Annahme ist äquivalent zur Abgeschlossenheit des
Zustands im Wiener’schen Sinne.
384 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
Markow-Prozess entspringt, und die Beobach- tionsschritt sind dann die Gewichte unter Berück-
tungen bei gegebenem Zustand unabhängig von sichtigung der neuesten Beobachtung zu aktualisie-
28 vorherigen Beobachtungen sind (vgl. Fußnote 3), ren
erhält man die rekursive Gleichung des Bayes- p.Yk jXik /p.Xik jXik1 / i
29 Filters wki /
q.Xik jXik1 ; Yk /
wk1
X
p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / mit wki D 1: (21.34)
30 Dc p.Yk jXk /
(21.33) i
Z
p.Xk jXk1 /p.Xk1 jY0 ; : : : ; Yk1 /d Xk1 : Die Importancedichte muss beim Entwurf des
31 Partikelfilters gewählt werden. Eine übliche Wahl ist
q.Xik jXik1 ; Yk / D p.Xik jXik1 /, wodurch Gleichung
P i
32 (21.34) zu wki / p.Yk jXik /wk1 mit
i
Das Bayes-Filter stellt damit einen sequentiel- wk D 1
i
len Zustandsschätzer dar, der in jedem Zeitpunkt wird. Der Zustand bzw. die Unsicherheit der
die folgenden beiden Schritte umfasst. Im Prädikti- Schätzung lassen sich dann wie folgt ermitteln
33 onsschritt wird die Schätzung X O k1 des vorherigen Ok D
X
X wki Xik und
Zeitpunkts auf den aktuellen Zeitpunkt k prädi-
34
i
ziert. Dazu wird das Integral in Gleichung (21.33) X h ih iT
ausgewertet. Zur Unsicherheit der vorherigen PO k D O k Xik X
wki Xik X O k :(21.35)
nen, lässt sich Gleichung (21.33) einfach und effizi- Umformung der Gleichungen (21.37) und (21.38)
ent im sogenannten Kalman-Filter implementieren. die implizit enthaltenen Matrixinversionen effizi-
Zu jedem Zeitpunkt k wird die Normalverteilung ent umsetzt. Auf parallelisierbaren Signalprozesso-
vollständig durch ihren Mittelwert X O k und die Ko- ren lässt sich diese Variante mit deterministischem
varianzmatrix Pk beschrieben. Laufzeitverhalten besonders effizient implemen-
Im Prädiktionsschritt des Kalman-Filters wird tieren. Eine weit verbreitete Filtervariante basiert
die Schätzung des vorherigen Zeitschritts X O k1, auf dem Bierman-Thornton-UD Algorithmus, der
Pk1 anhand des linearen Systemmodells auf den deutlich niedrigere Laufzeiten aufweist, da keine
aktuellen Zeitschritt projiziert Wurzelfunktion berechnet wird [22, 23]. Das Ver-
fahren ist aufgrund der niedrigeren numerischen
O
X O
k D FXk1 Dynamik auch robuster bzgl. Rundungsfehlern
und PO O T
k D FPk1 F C PS
(21.36) bzw. der Gefahr von indefiniten Kovarianzschät-
zungen. Durch den vermehrten Einsatz von Pro-
mit der Dynamikmatrix F und der Kovarianz- zessoren mit Fließkommaarithmetik rücken diese
matrix des Systemrauschens PS. Im nachfolgenden weit verbreiteten Verfahren jedoch zunehmend in
Innovationsschritt wird schließlich die neueste Be- den Hintergrund.
obachtung Yk berücksichtigt.
X O
Ok D X O T O T 1
k C Pk G .PV C GPk G / 21.5 Anwendungsbeispiele
O k1 /
.Yk GFX (21.37)
War die Anzahl an kamerabasierten Fahrerassis-
tenzsystemen (kFAS) bis vor wenigen Jahren noch
PO k D PO O T
k Pk G überschaubar und vorrangig auf das Fahrzeug-
1
.PV C GPO k GT / GPO k (21.38) Premiumsegment ausgerichtet, haben die meisten
Fahrzeughersteller heute ausgewählte Funktionen
mit der Beobachtungsmatrix G und Kovarianz- je nach Modell selbst in kleineren Fahrzeugklas-
matrix des Beobachtungsrauschens PV. sen im Programm. Der Premiumbereich wird
Die Voraussetzungen in der oben gezeigten hier auch in Zukunft eine wichtige Rolle bei der
Herleitung können in der Praxis bestenfalls nä- Entwicklung neuer und innovativer FAS hin zum
herungsweise garantiert werden. Eine nahelie- hochautomatisierten Fahren einnehmen, jedoch
gende Einschränkung ist die Beschreibungskraft haben gesetzliche Regelungen und ein verändertes
der verwendeten System- und Beobachtungsmo- Sicherheitsverständnis bei Kunden und Behör-
delle, welche aus Gründen der rechentechnischen den zu einer neuen Marktsituation geführt. Als
Handhabbarkeit die reale Welt meist nur appro- Beispiel sei hier das neue Bewertungsschema des
ximativ abbilden. Die daraus resultierenden Un- Europäischen Neuwagen-Bewertungs-Programms
genauigkeiten führen oft zu einem divergierenden Euro NCAP (European New Car Assessment Pro-
Verhalten des Filters, welches in der Praxis durch gramme) für die Jahre 2013 bis 2017 genannt, wo-
sog. Parameter-Tuning verhindert werden kann. rin Notbremsassistenten und Spurassistent stärker
Bei der konkreten Auslegung eines Filters gehört bei den Prüf- und Bewertungsprotokollen berück-
dieser Schritt zu einem festen Bestandteil des sichtigt werden. In . Abb. 21.11 wird der Markt
Entwicklungsprozesses. Eine weitere Einschrän- für kFAS anhand der Indikatoren Kosten und
kung bei der Implementierung des Filters sind Performanz beispielhaft gegliedert. Es zeigt sich,
die Rundungsfehler von digitalen Rechenwerken, dass neben der eigentlichen Leistungsfähigkeit ei-
welche wiederum zu einer drastischen Divergenz nes Systems zunehmend auch die Flexibilität und
des Filters führen können. Eine numerisch stabile Applizierbarkeit eine wichtige Rolle spielen wird.
und effiziente Variante des Kalman-Filters für Pro- Um angemessen auf mögliche Marktentwicklun-
zessoren mit Fixpunktarithmetik basiert auf der gen reagieren zu können, muss auch die Entwick-
Cholesky Zerlegung, welche durch algebraische lung neuer Erkennungs- und Detektionsalgorith-
386 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
21 eingeschränkte
Verfügbarkeit Innovation Komfort
kFAS gegliedert nach den Indi-
katoren Kosten und Performanz
Single-Sensor kleines
22 Konzept Marktvolumen
23 fragil
Risiko Premium
Längs-/
visual ACC Querführung
24 hohe Verfügbarkeit
25 kostengetrieben Sicherheit/
Komfort
26 großes
Marktvolumen
Fusionssysteme
ACC+
27 Standard Sicherheit
NCAP hohe Verfügbarkeit
28 Serienausstattung Redundanz
Minimalanforderung
Robust
29
Kosten
30
men dies berücksichtigen. In der Vergangenheit welches in den weiterverarbeitenden Schichten
31 wurden einzelne FAS-Funktionen vom Sensor bis Szeneninterpretation und Verhaltensentscheidung
hin zur Aktorik als in sich abgeschlossene Systeme auf die jeweilige Funktion abgestimmt wird [24,
32 verstanden und entwickelt. Mit zunehmender 25].
Marktdurchdringung kann eine solche Strategie Neben der Datenfusion unterschiedlicher Sen-
jedoch nicht erfolgreich sein, da neben der stetig soren, die heute bereits eine wichtige Rolle spielt,
33 ansteigenden Zahl neuer FAS, der jeweilige Zugang bietet ein Kamerasystem selbst – aufgrund der
zu dem entsprechenden Marktsegment auf diese Auslegung des Verkehrsraums auf die mensch-
34 Weise nicht mehr beherrschbar ist. liche Wahrnehmung – eine ideale Plattform für
Durch die Trennung von funktionsübergrei- die Bereitstellung und Fusion bzw. Interpretation
35 fender Umfeldwahrnehmung und spezifischer
Auslegung der jeweiligen Funktion kann die Ska-
unterschiedlicher Erkennungsergebnisse hin zu ei-
ner konsistenten Abbildung der Szene im Umfeld
lierbarkeit des Gesamtsystems wesentlich erhöht des Fahrzeugs. Dieses an die Szeneninterpretation
36 werden. Weiterhin erlaubt diese Architektur eine gereichte Szenenmodell kann in sechs logische
Partitionierung der Algorithmen auf dem Steu- Gruppen unterteilt werden [26] und fungiert als
37 ergerät und über verschiedene Steuergeräte ver- zentrale Instanz für Umfelddaten im gesamten
teilt. Auch sollte die Absicherungskomplexität Fahrzeug, was auch als Single Point of Truth be-
einer modernen FAS-Funktion nicht unterschätzt zeichnet wird.
38 werden, die durch die Entkopplung von Wahr- Das befahrbare Fahrzeugumfeld wird explizit
nehmung und Funktion deutlich reduziert wird. durch den sog. Freiraum beschrieben. Hierfür exis-
39 Die Umfeldwahrnehmung, bestehend aus Sensor, tieren unterschiedliche Modelle, die sich von der
sensornaher Signalverarbeitung und Datenfusion klassischen Objekterkennung dadurch unterschei-
40 hat die Aufgabe, ein generisches und in sich kon-
sistentes Abbild der Verkehrsszene bereitzustellen,
den, dass sie vorrangig die statische Umgebung des
Fahrzeugs beschreiben [27, 28, 29]. Weiterhin ist in
21.5 • Anwendungsbeispiele
387 21
dem Modell Information über die Fahrbahngeo- Fluss genutzt, um Objekthypothesen zu generie-
metrie (z. B. Bordsteine), Bodenmarkierungen, ren. Dabei wird für jeden Bildpunkt der Flussvek-
Verkehrszeichen und prädiktive Streckendaten tor bestimmt, der die Bewegung des projizierten
(z. B. Navigationsdaten) enthalten, worauf hier Szenepunktes in der Bildebene beschreibt. In der
nicht näher eingegangen werden soll. Zuletzt sei anschließenden Bewegungssegmentierung erfolgt
noch die wichtige Kategorie der beweglichen bzw. die Gruppierung von Punkten, die ähnliche Be-
bewegten Objekte wie Fußgänger oder Fahrzeuge wegungsvektoren aufweisen. Meist wird nur dann
genannt, die im Folgenden näher beschrieben wer- ein Bewegungssegment in die Liste der Objekthy-
den soll. pothesen aufgenommen, wenn sich seine Form in
der Bildebene über einen längeren Beobachtungs-
zeitraum als stabil erweist. Die Falschdetektions-
21.5.1 Objektdetektion rate kann dadurch zwar reduziert werden, ist aber
weiterhin sehr hoch.
Prinzipiell können Verfahren zur Objektdetektion Erscheinungsbasierte Verfahren erfassen im Ge-
in die Teilschritte Detektion und Verifikation ein- gensatz dazu die Charakteristik eines Objekttyps
geteilt werden. auf der Basis eines Trainingsdatensatzes. Dieser
Ziel der Detektion ist es, in einem datengetrie- Datensatz beinhaltet unterschiedliche Ausprägun-
benen Prozess nach aktuell im Bild vorkommenden, gen eines einzelnen Objekttyps und drückt die un-
stabilen Gruppen von Merkmalen zu suchen, die terschiedlichen Erscheinungen eines Objektes aus.
mögliche zu erkennende Objekte beschreiben. Auf- In einem Trainingsschritt werden aus den Trai-
grund des oft geringen Abstraktionsgrades der Da- ningsbildern charakteristische Merkmale erzeugt.
ten und der Beschränkung der Betrachtung auf nur Eine Sammlung von solchen Merkmalen wird
einen bestimmten Zeitpunkt ergibt sich hier meist dann zusammengefasst zu einer Gesamtbeschrei-
eine hohe Fehldetektionsrate, welche in den meis- bung des Objekttyps. Um einen Merkmalsvektor
ten Fällen akzeptabel ist, da fehlerhafte Objekthy- eindeutig einem Objekttyp zuordnen zu können,
pothesen in der anschließenden Verifikation durch muss entweder ein Klassifikator trainiert oder die
zeitliche Integration bzw. höher abstrahierte Daten Wahrscheinlichkeitsverteilung der Merkmale mo-
eliminiert werden. Bestimmte Objekteigenschaften delliert werden. In [32] wird eine Sammlung von
wie z. B. die Symmetrieeigenschaft von Fahrzeugen, Haar-Merkmalen verwendet, welche die Erschei-
der Schatten unterhalb eines Fahrzeugs oder cha- nung eines Objekts in der Bildebene beschreiben.
rakteristische Grauwert- bzw. Farbverläufe können Als Klassifikator wurde hier der AdaBoost-Algo-
ebenfalls zur Einschränkung des Suchbereichs ge- rithmus gewählt. Um die Charakteristik eines Fahr-
nutzt werden [30, 31]. zeugs zu beschreiben, werden in [33] Gabor-Filter
Bei disparitätsbasierten Verfahren zur Hypothe- verwendet. Die bei Fahrzeugen stark ausgeprägten
sengenerierung können beliebig geformte Objekte Kanten und Linien in einer bestimmten Anordnung
detektiert und deren Position und Lage in der Szene können durch richtungssensitive Gabor-Filter effizi-
bestimmt werden. Infolge der quadratisch mit der ent bestimmt werden. Als Klassifikator wurde hier
Entfernung anwachsenden Standardunsicherheit eine Support-Vector-Machine (SVM) benutzt. In
der Entfernungsmessung liefern disparitätsbasierte [34] und [35] werden Verkehrsteilnehmer durch
Verfahren im Nahbereich zuverlässige Hypothesen eine Sammlung von Bildfragmenten beschrieben,
und sind im Fernbereich kaum anwendbar. Außer- die Teile der jeweiligen Objektklasse enthalten. Ein
dem wird die Gruppierung einzelner Objektpunkte großer Vorteil dieser Beschreibung ist die kompo-
im Disparitätsbild meist durch Lücken im Dispari- nentenbasierte Architektur, welche eine Teilverde-
tätsbild erschwert. ckung des Objekts zulässt. Der wesentliche Nachteil
Bewegungsbasierte Verfahren nutzen die in erscheinungsbasierter Verfahren ist das aufwändige
einer monokularen Bildfolge vorhandenen In- Anlegen einer repräsentativen Datenbank für jeden
formationen, um Objekte zu detektieren. Meist Objekttyp und das teilweise zeitintensive Training
wird der in ▶ Abschn. 21.2.2 vorgestellte optische des Klassifikators selbst.
388 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
Durch die Kombination der oben vorgestellten Bildung einer konsistenten und einheitlichen Sze-
21 Verfahren kann die Beschreibungskraft hinsichtlich nenrepräsentation, wie in . Abb. 21.12 beispielhaft
der Hypothesengenerierung immens gesteigert wer- gezeigt. Durch Plausibilisierung erfolgt ein Abgleich
22 den. Durch die Verzahnung von Klassifikation und von Umfeldmodellen, welche die gleichen Aspekte
sensornaher Signalverarbeitung kann so z. B. die der realen Welt beschreiben, jedoch aus unter-
stereobasierte Schätzung der Objektgeometrie und schiedlichen Wahrnehmungskategorien stammen.
23 -ausdehnung für bestimmte Objektklassen verbes- Hierdurch erfolgt eine Eigendiagnose der geschätz-
sert werden, da die Genauigkeit eines Klassifikators ten Szene auf deren Basis eine verbesserte Zustands-
24 hier meist höher ist. schätzung der einzelnen Modelle erreicht werden
Aufgabe der Verifikation ist es, die fehlerhaften kann. So können Objekte mit erkannten Fahrstrei-
und ungenauen Objekthypothesen aus dem ersten fen in Bezug gesetzt werden, um deren Richtigkeit
25 Schritt zu plausibilisieren und durch zeitliche Inte- und Sinnhaftigkeit bzgl. Dynamik, Geometrie und
gration, wie in ▶ Abschn. 21.4 beschrieben, zu ver- Klasse zu überprüfen. Im Gegenzug kann die ent-
26 bessern. Zur Plausibilisierung können vordefinierte, sprechende Objekthypothese auch genutzt werden,
meist parametrisierbare Modelle verwendet werden. um das Fahrstreifenerkennungsmodul selbst zu
27 Diese Modelle oder Schablonen werden dann mit stützen. Auch ist es denkbar, über die Fußpunkte
den Bilddaten verglichen und auf ihre Ähnlichkeit der Objekte in der Objektliste die Schätzung der
hin überprüft. Beispielsweise lassen sich für Fahr- Straßengeometrie zu stützen und umgekehrt. Für
28 zeuge 3d Drahtgittermodelle erstellen, deren Pro- die Absichts- bzw. Handlungserkennung bei Fuß-
jektion in die Bildebene zu Kantenmustern führt. gängern kann es hilfreich sein, wo in der Szene und
29 Dieses Muster wird dann im kantensegmentierten in welchem Kontext der Fußgänger sich befindet.
Grauwertbild der Szene gesucht. Modellbasierte Auch steht die Bewegung eines Fahrzeugs mit dem
30 Verfahren haben sich in einfachen Verkehrssze-
narien, in denen die Vielfalt der Objekte und der
geschätzten Fahrstreifenverlauf in gegenseitigem
Bezug zueinander, da davon ausgegangen kann,
Betrachtungswinkel der Kamera eingeschränkt dass sich Fahrzeugführer an Verkehrsregeln halten.
31 sind, vielfach bewährt. Als weitere Möglichkeiten Naheliegend erscheint auch die Plausibilisierung
zur Verifikation von Objekthypothesen können z. B. von Freiraumerkennung und Objekterkennung ge-
32 das Vorhandensein von Nummerntafeln, Lichtern geneinander.
und Scheiben [32] oder der umschließenden Kontur
gleich bewegter Punkte [36] benutzt werden.
33 In dem für die zeitliche Integration benötigten 21.5.2 Kreuzungserkennung
Prädiktionsschritt ist die Unterscheidung zwischen
34 nicht-lebenden physischen Objekten und Subjekten, Neben der Detektion und Verfolgung anderer
die zu eigenständigen Verhaltensentscheidungen in Verkehrsobjekte, die durch Verfahren wie den in
35 der Lage sind, hilfreich. Während bei nicht-leben- ▶ Abschn. 21.5.1 beschriebenen erfolgen, sind für
den physischen Objekten die Prädiktion durch Ex- Fahrerassistenzfunktionen vor allem strukturelle
trapolation auf Basis physikalischer Gesetze erfolgt, Informationen, wie Geometrie und Topologie des
36 kann es bei Subjekten erforderlich sein, Intentionen, zu befahrenden Streckenabschnittes von Bedeu-
Handlungen und Handlungsalternativen zu iden- tung. Die Gewinnung solcher Informationen ohne
37 tifizieren [37]. So kann je nach Objektklasse das weitreichende bauliche Eingriffe in die Straßenin-
Bewegungsmodell der Objekthypothese angepasst frastruktur ausschließlich durch die am Fahrzeug
werden, um dessen spezifische Bewegungscharakte- befindlichen Sensoren erfordert insbesondere in
38 ristik abzubilden. Anwendung findet dies heute u. a. komplexen Szenarien die Bewältigung einiger
bei der Unterscheidung von Fußgängern, Fahrrad- Herausforderungen. Straßenkreuzungen, beispiels-
39 fahrern, Motorrädern und Pkws bzw. Lkws. weise, können komplexe Geometrien annehmen
Die Bündelung der Information im Szenenmo- und oft werden wichtige Hinweise auf die Geo-
40 dell über eine spezifische Funktion bzw. Wahrneh-
mungskategorie hinweg ermöglicht weiterhin die
metrie, wie zum Beispiel Fahrbahnmarkierungen
oder andere Verkehrsteilnehmer, durch Objekte im
21.5 • Anwendungsbeispiele
389 21
Ergebnis der bildweisen Berücksichtigung des Berücksichtigung des Berücksichtigung der
Objektdetektion 3d Szenenmodells 3d Trackingmodells 3d Verdeckungsanalyse
.. Abb. 21.12 Entnommen aus [38]. Gelb umrahmt sind die detektierten Objekte der Kategorien Fahrzeug (oben) und Fuss-
gänger (unten) gezeigt. Durch die von links nach rechts zunehmende Plausibilisierung der Eingangsdaten des Szenenmodells
können widersprüchliche Eingangsgrößen identifiziert und das Modell insgesamt robuster gemacht werden
Sichtfeld verdeckt. Während automatisches Fahren Ziel der probabilistischen Inferenz ist es, die
auf Schnellstraßen [39, 40] sowie das Überqueren wahrscheinlichste Topologie (Anzahl der Kreu-
einfacher in digitalen Karten annotierten Kreu- zungsarme) sowie Geometrie (Position, Orientie-
zungen (DARPA Urban Challenge) basierend auf rung und Breite von Straßen) zu schätzen und dabei
Fahrbahnmarkierungserkennungsverfahren sowie gleichzeitig alle Verkehrsteilnehmer ihrem jeweili-
unter Zuhilfenahme von Laserscannern bereits er- gen Fahrstreifen zuzuordnen. Die ganzheitliche Be-
folgreich gezeigt wurden, bleibt die Behandlung des trachtung spielt hierbei eine entscheidende Rolle:
allgemeinen innerstädtischen Falls trotz verschie- Während die Position von Fahrbahnmarkierungen
dener erfolgreicher wiederum kartenunterstützter und Gebäuden am Fahrbahnrand Rückschlüsse auf
Experimente, wie der von Daimler und dem KIT/ die mögliche Position von Verkehrsteilnehmern
FZI ausgeführten Bertha-Benz Fahrt [41], nach wie zulässt, erlaubt im Umkehrschluss die Verfolgung
vor ein schweres Problem. Einfache Farb-, Textur- dynamischer Objekten Aussagen über die mögliche
und Fahrbahnmarkierungsmerkmale reichen nicht Kreuzungstopologie und -geometrie. Diese Merk-
mehr aus, da diese oftmals hochgradig verdeckt, male sind komplementär. Während in verkehrsrei-
beschädigt oder schlicht nicht vorhanden sind. Die chen Szenen oft die Sicht auf Fahrbahnmerkmale
Komplexität und Vielfalt der möglichen Szenarien verdeckt ist, liefern diese in verkehrsarmen Szena-
erfordert somit eine ganzheitliche Modellierung rien wichtige Informationen. Weitere Merkmale wie
unter Berücksichtigung aller dynamischer und sta- Fluchtpunkte oder Belegungsgitter der Umgebung
tischer Objekte sowie deren Zusammenspiels. können den Inferenzprozess zusätzlich unterstüt-
Ein solch ganzheitliches Modell zur Interpreta- zen.
tion von Kreuzungsszenarien basierend auf Stereo- Konkret werden in [42, 43] folgende in
Videosequenzen wird in [42, 43] vorgestellt. Ein . Abb. 21.13 illustrierten Merkmale in ein Ge-
auf dem Dach des Versuchsträgers AnnieWAY [44] samtmodell integriert und auf ihre Nützlichkeit hin-
angebrachtes Kamerasystem liefert die zur Auswer- sichtlich der Schätzung der Kreuzungsgeometrie,
tung benötigten Sensorinformationen. Durch eine -topologie sowie der Zuordnung von Verkehrsteil-
probabilistisch generative Modellierung, welche die nehmern zu einzelnen mitgeschätzten Fahrstreifen
3d Szenengeometrie sowie die Position und Orien- in 113 repräsentativ ausgewählten und herausfor-
tierung von Objekten in der Szene beschreibt, kön- dernden Kreuzungsszenarien untersucht. Als Merk-
nen Unsicherheiten der Kamerasensoren (wie zum male kommen zum Einsatz:
Beispiel Erkennungsfehler oder Unsicherheiten in Fahrzeugtrajektorien: Die Bewegungen von an-
der Tiefe) angemessen berücksichtigt werden. deren Verkehrsteilnehmern in der Szene bilden ein
starkes Merkmal, welches Hinweise auf die Position
390 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen
21
22
23
24
25 .. Abb. 21.13 Monokulare Merkmale wie Fahrzeugtrajektorien, Fluchtpunkte, Semantische Bildsegmentierung sowie Stereo-
Merkmale wie 3d Szenenfluss und Belegungsgitter erlauben eine ganzheitliche Szenenanalyse im Kreuzungsbereich und Rück-
schlüsse über die zu befahrende Geometrie, Topologie sowie die Position und Bewegung der anderen Verkehrsteilnehmer.
26
von Straßen, Fahrstreifen, Abbiegestreifen und den Fluchtlinien ins Bild mit Hilfe eines Voting- oder
27 aktuellen Status von Lichtsignalanlagen liefert. Mit- RANSAC-Verfahrens. Die in 3d parallel verlaufen-
hilfe einer Stereokamera können Fahrzeuge detek- den Fluchtlinien begünstigen im probabilistischen
tiert und unter Zuhilfenahme der in ▶ Abschn. 21.4 Modell eine ähnliche Orientierung der nächstgele-
28 vorgestellten Verfahren in 3d verfolgt werden. Ne- genen Straßenarme, während ein Ausreißermodell
ben Tiefeninformationen können zur Verifizierung dafür sorgt, das Fehldetektionen entsprechend be-
29 von Objekthypothesen ansichtsbasierte Verfahren handelt werden können.
herangezogen werden. Sowohl die Kameraposition Semantische Bildsegmentierung: Weitere Hin-
30 in Kombination mit der Fahrbahnebene als auch
Stereodaten liefern hierbei Rückschlüsse auf die
weise auf die Kreuzungsgeometrie werden durch
die Ansichtsbasierte Klassifizierung des Bildes in
Entfernung des Objektes zur Kamera. Die Objek- die drei Kategorien Straße, Hintergrund (Gebäude,
31 torientierung kann aus der Ansicht sowie aus der Vegetation) sowie Himmel gewonnen. Ein Vergleich
Bewegung gewonnen werden. Bei gegebener Kreu- einer virtuell erzeugten Segmentierung mit der ge-
32 zungstopologie und -geometrie werden Fahrzeug- gebenen Bildevidenz liefert somit einen weiteren
trajektorien genau dann als wahrscheinlich model- Beobachtungsterm des probabilistischen Gesamt-
liert, wenn Sie ihre Bahn und Orientierung in einem modells. Insbesondere gut sichtbare und segmen-
33 Fahrstreifen liegen. Zudem können die Fahrtrich- tierbare Himmelsbereiche lassen Rückschlüsse über
tung und die Fahrzeugdynamik berücksichtigt wer- die Position von “Straßenschluchten” zu. Dies ge-
34 den. Parkende Fahrzeuge am Straßenrand werden schieht unter Hinzunahme vereinfachender Annah-
durch ein entsprechendes Modell abgedeckt. men wie etwa einer durchschnittlichen Häuserhöhe
35 Fluchtpunkte: Die Erkennung von Fluchtlinien
und Fluchtpunkten erleichtert die präzise Orientie-
von etwa 4 Stockwerken.
Szenenfluss: Während die zuvor genannten
rungsschätzung der einmündenden Straßen einer Merkmale auch ausschließlich aus monokularen
36 Kreuzung, da viele Kanten im Bild (beispielsweise Sequenzen gewonnen werden können, liefern Ste-
Fahrbahnmarkierungen, Fassadenbegrenzungen, reokameras wertvolle Tiefeninformationen wie
37 Mauerwerk und Fenster) 3d Linien entsprechen, die in ▶ Abschn. 21.3 beschrieben. Diese können bei-
mit den Straßenrichtungen übereinstimmen. Dabei spielsweise zur Berechnung von Szenenfluss genutzt
werden Linien im Bild durch Ballung von Kanten- werden. Hierbei wird eine Korrespondenz zwischen
38 pixeln erkannt. Anhand ihrer Grauwerteigenschaf- linkem und rechtem Kamerabild jeweils für das zeit-
ten können diese in strukturtragende Kanten und lich aktuelle und nächste Bild hergestellt. Dadurch
39 Ausreißer klassifiziert werden, um den Einfluss von ergibt sich für einen physikalischen Weltpunkt die
Fehlern durch Schlagschattenwurf einzudämmen. 3d Position zu zwei aufeinanderfolgenden Zeit-
40 Die Verifikation von Fluchtpunkthypothesen erfolgt
anschließend durch die Rückprojektion möglicher
punkten und somit ein 3d Verschiebungsvektor (im
Gegensatz zu den in Kapitel 1.2.2 beschriebenen 2D
21.6 • Zusammenfassung und Ausblick
391 21
Für die Interpretation und Analyse der visuellen 4 Harris, C.G., Stephens, M.: A Combined Corner and Edge
21 Information gibt es eine Reihe anwendungsspezi-
5
Detector, 4th Alvey Vision Conference, S. 147–151 (1988)
Stiller, C., Konrad, J.: Estimating Motion in Image Sequen-
fischer Bildverarbeitungsverfahren. Diese werden ces – A tutorial on modeling and computation in 2D mo-
22 meist modular ausgeführt, wobei erste Vorverar- tion. IEEE Signal Processing Magazine 7, 70–91 (1999). 9,
beitungsstufen das Bildsignal selbst aufbereiten und 116–117
korrigieren. Schließlich werden durch geeignete 6 Trucco, E., Verri, A.: Introductory Techniques for 3–D Com-
23 Operatoren aufgabenspezifische Merkmale extra-
puter Vision. Prentice Hall, New York (1998)
7 Lowe, D.G.: Distinctive Image Features from Scale-Invariant
hiert und übergeordneten Verarbeitungsschritten Keypoints. International Journal of Computer Vision 60(2),
24 bereitgestellt. Diese arbeiten dann auf der stark 91–110 (2004)
verdichteten Merkmalsinformation. Als für die 3d 8 Bay, H., Tuytelaars, T., van Gool, L.: SURF: Speeded up robust
Rekonstruktion besonders aussagekräftige Merk- Features, European Conference on Computer Vision (2006)
25 male wurden hierbei Punktkorrespondenzen vor-
9 Calonder, M., Lepetit, V., Ozuysal, M., Trzcinski, T., Stretcha,
C., Fua, P.: BRIEF: Computing a Local Binary Descriptor Very
gestellt. Durch zeitliche Verfolgungsverfahren lässt
26 sich Bildinformation schritthaltend akkumulieren
Fast. IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine
Intelligence 34(5), 1281–1298 (2012)
und stabilisieren, ohne vergangene Bilder langfristig 10 Tola, E., Lepetit, V., Fua, P.: DAISY: An Efficient Dense De-
27 speichern oder gar verarbeiten zu müssen. Ausge- scriptor Applied to Wide-Baseline Stereo,". IEEE Transac-
tions on Pattern Analysis and Machine Intelligence 32(5),
hend vom Bayes-Filter wurden hier als praktikable
815–830 (2010)
Realisationen das Partikelfilter und das Kalman-
28 Filter beschrieben und um Implementierungshin-
11 Lategahn, H., Beck, J., Kitt, B., Stiller, C.: How to Learn an
Illumination Robust Image Feature for Place Recognition
weise ergänzt. IEEE Intelligent Vehicles Symposium. (2013)
29 Praxisnahe Anwendungsbeispiele und eine 12 Shi, J.; Tomasi, C.: Good features to track. IEEE Conf on Com-
puter Vision and Pattern Recognition, 1994, Seattle
Übersicht aktueller Forschungsarbeiten zur Ob-
13 Longuet-Higgins, H.C.: A computer algorithm for reconst-
30 jekt- und Kreuzungserkennung zeigen das Zu-
sammenwirken und die Leistungsfähigkeit der
ructing a scene from two projections. Nature 293, 133–135
(1981)
beschriebenen Verfahren. Um gleichzeitig die An- 14 Scheer, O.: Stereoanalyse und Bildsynthese. Springer, Hei-
31 forderungen und die Komplexität zukünftiger FAS delberg (2005)
15 Nistér, D.: An Efficient Solution to the Five-Point Relative
zu beherrschen, erscheint es notwendig, die klas-
Pose Problem. IEEE Trans. Pattern Anal. Mach. Intell. 26(6),
32 sische Bildverarbeitung in eine Gesamtarchitektur 756–777 (2004)
einzubetten, mit deren Hilfe Information innerhalb 16 Dang, T., Hoffmann, C., Stiller, C.: Visuelle mobile Wahrneh-
einer Wahrnehmungskategorie verdichtet und über mung durch Fusion von Disparität und Verschiebung. In:
33 die einzelne Erkennungsfunktion hinweg plausibili- Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit
maschineller Wahrnehmung, S. 21–42. Springer, Heidel-
siert werden kann.
34 17
berg (2005)
Dang, T., Hoffmann, C., Stiller, C.: Continuous stereo self-ca-
libration by camera parameter tracking. IEEE Transactions
Danksagung
35 18
on Image Processing 18(7), 1536–1550 (2009)
Barker A.; Brown D.E; Martin W.N.: Bayesian Estimation and
the Kalman Filter, Technischer Bericht IPC-94-002, 5, 1994
Die Autoren danken Dr. Christian Duchow für
36 wertvolle Beiträge zu einer frühen Version dieses
19 Chen Z.: Bayesian Filtering: From Kalman Filters to Particle
Filters, and Beyond. Technischer Bericht, 2003
Kapitels. 20 Meinhold, R.J., Singpurwalla, N.D.: Understanding the Kal-
37 21
man Filter. The American Statistician 37(2), 123–127 (1983)
Welch, G., Bishop, G.: An Introduction to the Kalman Filter.
Literatur Technischer Bericht. http://www.cs.unc.edu/~welch/kal-
38 man/kalmanIntro.html
22 Ghanbarpour Asl, H., Pourtakdoust, S.H.: UD Covariance
1 Faugeras, O.: Three dimensional computer vision: A geo-
Factorization for Unscented Kalman Filter using Sequential
39 2
metric viewpoint. MIT Press, Cambridge, MA (1993)
Jähne, B.: Digitale Bildverarbeitung. Springer Verlag, Hei-
Measurements Update, International Journal of Enginee-
ring and Natural. Sciences 1, 4 (2007)
delberg (1997)
23 Liu, Y., Bougani, C.S., Cheung, P.Y.K.: Efficient mapping of
40 3 Canny, J.: A computational approach to edge detection.
IEEE Trans. Pattern Anal. Mach. Intell. 8(6), 679–698 (1986)
a Kalman Filter into an FPGA using Taylor Expansion In-
Literatur
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25 Stiller, C., Puente Leon, F., Kruse, M.: Information fusion for 41 Ziegler, J.; Bender, P.; Lategahn, H.; Schreiber, M.; Strauß,
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sion 12(4), 244–252 (2011) der Bertha-Benz-Route von Mannheim nach Pforzheim,
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Architekturen. ATZ Elektronik 6(4), 8–15 (2011) 42 Geiger, A., Lauer, M., Wojek, C., Stiller, C., Urtasun, R.: 3D
27 Saarinen, J., Andreasson, H., Stoyanov, T., Luhtala, A.J.: Nor- Traffic Scene Understanding from Movable Platforms IEEE
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to large-scale online 3d mapping IEEE International Con- (2014)
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39 Dickmanns E.D.: The 4D-approach to visual control of au-
tonomous systems. IAA NASA Conference on Intelligent
395 22
Stereosehen
Uwe Franke, Stefan Gehrig
Als in den frühen 90er Jahren im Rahmen des mit zwei „Augen“ eine vollständige dreidimensionale
21 europäischen Projekts PROMETHEUS die ersten Erfassung der Umgebung anhand eines einzelnen
Gehversuche zu kamerabasierten Fahrerassistenz- Bildpaares, unabhängig vom Bewegungszustand
22 systemen unternommen wurden, konnten sich nur des Beobachters und auch in Szenen, in denen sich
sehr wenige Optimisten vorstellen, dass diese Tech- andere Verkehrsteilnehmer bewegen. Dies ermög-
nologie keine 25 Jahre später eine wichtige Rolle in licht sehr anspruchsvolle Fahrerassistenzsysteme
3 der Praxis spielen würde, ja sogar manche ambitio- wie das bereits erwähnte automatische Bremsen
nierten Systeme wie das vollautomatische Bremsen auf Fußgänger, aber auch die Unfallvermeidung bei
4 auf Fußgänger erst ermöglichen würde. Doch kein querenden Objekten und teilautomatisierte Fahr-
anderer Sensor konnte so sehr vom allgemeinen funktionen im Stau. Darüber hinaus ermöglicht die
5 Fortschritt profitieren wie Kameras mit der dazu- Stereobildverarbeitung die präzise Vermessung der
gehörigen Auswerteelektronik. dreidimensionalen Fahrbahnoberfläche und damit
Die Kosten für eine Kamera sind von anfangs die situationsgerechte Ansteuerung aktiver Federsys-
6 2000 DM und mehr auf wenige 10 € gefallen. Die teme. Aus diesen Gründen kommen Stereokameras
Dynamikprobleme der in der Anfangsphase ver- seit 2013, beginnend mit den Mercedes Ober- und
7 wendeten CCD-Sensoren, die bei Gegenlicht kaum Mittelklassefahrzeugen, zum Einsatz.
verwertbare Bilder lieferten und daher jede Prä- In der Literatur wird die Stereoanalyse allge-
sentation von Forschungsergebnissen gefährdeten, mein als weitgehend gelöstes Problem betrachtet.
8 gehören dank der für moderne Consumer-Kameras Der „Outdoor“-Bereich Straße und der Einsatz in
entwickelten CMOS-Imager der Vergangenheit an. sicherheitskritischen Fahrerassistenzsystemen stellt
9 Gleichzeitig hat sich die verfügbare Rechenleistung jedoch besondere Anforderungen an praxistaugli-
in dieser Zeit um mehr als fünf Größenordnungen che Verfahren. Zu nennen sind hierbei vor allem
10
11
erhöht, wie dies vom Moore'schen Gesetz prognos-
tiziert wurde. Entscheidend dazu beigetragen hat
die FPGA-Technologie, auf die sich die in vielen Fäl-
len sehr aufwändigen, frühen Verarbeitungsstufen
-
folgende Punkte:
Robustheit: In Straßenszenen kommt es
aufgrund von Beleuchtungs- und Witterungs-
einflüssen zu vielfältigen Störungen der Bilder,
eines bildverstehenden Systems gut abbilden lassen. die von den meisten in der Literatur beschrie-
12 Die enormen Fortschritte auf der Hardwareseite benen Ansätzen nicht behandelt werden.
gehen mit Innovationen auf der Seite der Algorith- Hierzu zählen u. a. Blendungen und Reflektio-
13
-
men einher. Aus Sicht der Autoren zählen hierzu:
die Einführung des Kalman-Filters in die Se-
quenzbildverarbeitung durch Dickmanns (vgl.
nen, Unschärfe durch Wasser auf der Scheibe
oder Gischt, die teilweise Abdeckung durch
Scheibenwischer, Schnee, Dunkelheit usw.
-
14 z. B. [1]), wodurch dynamische Randbedin- . Abb. 22.1 zeigt vier Beispiele.
gungen optimal in die Verarbeitung einfließen Präzision: Der angestrebte (relative) Messbe-
15
16
- können,
die Fortschritte im Bereich des maschinellen
Lernens (vgl. ▶ Kap. 23), wodurch Bildsta-
tistiken und große Bilddatenbanken nutzbar
reich ist ungewöhnlich groß und bewegt sich
meistens ab der Stoßstange (weniger als 2 m)
bis 50…80 m. Dies erfordert eine sehr hohe
Genauigkeit der Disparitätsschätzung, die von
17
- werden,
der Schritt von lokalen Ad-hoc-Verfahren
zu global optimierenden Ansätzen, die mit
mathematisch fundierten Methoden optimale
- den üblichen Benchmarks nicht gefordert wird.
Echtzeitfähigkeit: Nur hohe Abtastraten erlau-
ben schnelle Reaktionen. Deshalb wird eine
Verarbeitung mit 25–30 Hz angestrebt. Viele
-
18 Lösungen finden und der in der Literatur publizierten Verfahren
die Einführung der stereoskopischen Bildverar- benötigen aber auch heute noch Rechenzei-
19 beitung als Basis für ein robustes Bildverstehen. ten von mehreren Sekunden bis Minuten auf
.. Abb. 22.1 Sicherheitskritische Applikationen der Fahrerassistenz stellen hohe Anforderungen an die Robustheit der Algo-
rithmen. a Bei Regen kommt es zu Blendungen und Schmiereffekten aufgrund von Wasser auf der Scheibe. b Bei Nacht können
durch die Scheibenwischer generierte Schlieren zu typischen Störungen führen. c Schneefall und nasse Straßen erschweren die
Schätzung der Stereo-Disparitäten. Abbildungen entnommen aus dem HCI-Benchmark von D. Kondermann, Uni Heidelberg
[2] d Die tiefstehende Sonne kann massive Reflexe in der Scheibe generieren, die nicht zu fehlerhaften Hindernisdetektionen
führen dürfen
bedingt das u. a. die Fähigkeit der Online-Kali- Die Gliederung des vorliegenden Kapitels orien-
brierung in unbekannten Szenen, um Parame- tiert sich an der Verarbeitungskette von in der
teränderungen infolge von Temperatur- und Praxis erfolgreich eingesetzten Verfahren der ste-
liche Resultate liefern, wird in der Literatur häufig Verfahren die im Automobilbereich auftretenden
21 vernachlässigt. Ein wesentlicher Grund liegt in der großen Verschiebungen nur mit hohem Aufwand zu
Tatsache, dass sich die Forschung an Benchmarks messen sind. Zum Vergleich der publizierten Stereo-
22 orientiert, die mangels Ground-Truth Messtechnik verfahren wurde die Middlebury-Webseite (▶ http://
bei widrigen Verhältnissen im Outdoor-Bereich vision.middlebury.edu/stereo/) eingerichtet, auf der
fehlen. man 2014 über 150 Stereoverfahren vergleichen
3 Die Stereoanalyse liefert zu jedem (vermesse- konnte. 2012 wurde auch solch ein Benchmark für
nen) Bildpunkt eine 3D-Koordinate. Verfolgt man das Fahrzeugumfeld publiziert [4]. Dieser Datensatz
4 solche Punkte zeitlich, kann man zusätzlich ihre enthält Bilder mit typischen in Straßenszenen auftre-
Bewegung in der Welt schätzen. Dies führt auf das tenden Problemen wie z. B. Reflektionen. Da manche
5 in ▶ Abschn. 22.3 „6D-Vision“ beschriebene Prin- der führenden Verfahren empfindlich auf solche Stö-
zip einer raumzeitlichen Bildanalyse, das eine leis- rungen reagieren, ergeben sich bei den Rankings in
tungsfähige Grundlage für die sichere und schnelle den genannten Benchmarks Unterschiede.
6 Erkennung bewegter Objekte darstellt. Vor allem Für den automobilen Einsatz der Disparitäts-
querbewegte Objekte wie Autos oder auf die Straße schätzung ist immer die Berechnung in Echtzeit
7 laufende Kinder können so zuverlässig detektiert von entscheidender Bedeutung, was dazu führt,
werden. dass bis vor kurzem nur sogenannte lokale Verfah-
In den letzten Jahren zeigt sich im Bereich der ren betrachtet wurden.
8 Forschung ein zunehmender Trend zu Superpixeln.
Mit dem Ziel, die Szene trotz ständig steigender
9 Auflösung der Imager kompakt dreidimensional 22.1.1 Lokale Korrelationsverfahren
zu repräsentieren und eine robuste Basis für eine
10 rechenzeiteffiziente Weiterverarbeitung zu schaffen, Wie in ▶ Kap. 21 gezeigt, arbeitet die bekannteste
wurde die sog. Stixel-Welt entwickelt. Diese reguläre Methode der Disparitätsschätzung mit Korrelatio-
und den Straßenszenen angepasste Repräsentation nen unabhängig für jeden Bildpunkt. Unabhängig
11 wird in ▶ Abschn. 22.4 vorgestellt und darauf auf- bezieht sich hierbei auf „unabhängig von den Ergeb-
bauende Schritte zur finalen Objektdetektion be- nissen benachbarter Punkte“. Dabei wird zu jedem
12 schrieben. Damit schließt sich der Kreis vom ein- Bildpunkt im Referenzbild (hier das linke Bild) der
zelnen Pixel bis zum Objekt. Das Kapitel endet mit korrespondierende Bildpunkt im Suchbild (rechtes
einer Zusammenfassung und Hinweisen zu weiter- Bild) ermittelt, der den gleichen Punkt in der Welt
13 führenden Forschungen. abbildet. Dafür muss eine Ähnlichkeit zweier Bild-
punkte bestimmt werden.
14 Zur Bestimmung der Ähnlichkeit zweier Bild-
22.1 Lokale und globale Verfahren punkte gibt es eine Vielzahl an Ansätzen, von denen
der Disparitätsschätzung
15 hier nur die Ähnlichkeitsmaße basierend auf Grau-
werten aufgeführt werden. Das einfachste Ähn-
In ▶ Kap. 21 wurden die Grundlagen der Ste- lichkeitsmaß ist die Differenz zweier Grauwerte im
16 reo-Disparitätsschätzung eingeführt. In diesem Ab- linken (gl) und rechten (gr) Bild:
schnitt werden weitere Ähnlichkeitskriterien, die
17 im automobilen Umfeld verbreitet sind, diskutiert ABS.d / D jgl .x/ gr .x d /j : (22.1)
und Optionen zur klassischen Disparitätsoptimie-
rung via Korrelation aufgezeigt. Entsprechend der Diese Differenz wird Zeile für Zeile für alle Dispari-
18 in [3] eingeführten Taxonomie unterscheiden wir tätshypothesen im rektifizierten Bild (s. ▶ Kap. 21)
zwischen den Aspekten Ähnlichkeitsmaße, Dispari- berechnet. Nach der Rektifizierung sind die Bilder
19 tätsoptimierung und Subpixel-Disparitätsschätzung. in der Standard-Stereogeometrie ausgerichtet, d. h.
Wir beschränken uns auf ortsdiskrete Stereoverfah- korrespondierende Punkte liegen auf derselben
20 ren, die den Disparitätsraum in diskreten Dispa- Bildzeile, daher verzichten wir auf den Zeilenindex
ritätsstufen abtasten, da bei ortskontinuierlichen y, wenn alle Daten in der gleichen Zeile ausgewer-
22.1 • Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung
399 22
21
22
3
4
5
6
7 .. Abb. 22.2 Farbcodiertes Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) überlagert auf dem Originalbild. Das Disparitätsbild liefert
nicht für jeden Bildpunkt ein Ergebnis (kein farbiges Overlay). Einzelne Ausreißer (rote Punkte im Hintergrund) sind zu sehen
8 Durch Verzicht auf die konkrete Grauwertin- neare Transformationen der Grauwerte im linken
formation und Nutzung von Rangstatistiken kann und rechten Bild zu sein, was in der Praxis durch
9 man robuster gegen kleine Fehler in der Rektifi- Streuungen bei der Empfindlichkeit der Kameras
zierung werden [5]. Die Hamming-Distanz der häufig vorkommt. In [6] wird die Überlegenheit
10 Census-Transformation ist ein beliebtes Ähnlich- des Ähnlichkeitsmaßes v. a. bei Nutzung in globalen
keitsmaß, das etwas toleranter gegenüber kleinen Stereoverfahren aufgezeigt.
Rektifizierungsfehlern und darüber hinaus sehr Konsistenz-Checks: Die vorgestellten lokalen
11 effizient zu berechnen ist. Hierbei werden für je- Verfahren können in texturlosen Bereichen keine
den Punkt in einer Umgebung Bits generiert, die eindeutigen Ergebnisse liefern. Durch Vorschalten
12 codieren, ob der Grauwert des Zentralbildpunkts eines sogenannten Interest-Operators, oft durch
in der Mitte größer ist (1) oder nicht (0) im Ver- ein Kantenfilter realisiert (z. B. Canny-Filter aus
gleich zum aktuell betrachteten Bildpunkt. Diese ▶ Kap. 21), kann man die Stereoanalyse auf Be-
13 Transformation ordnet so jedem Bildpunkt einen reiche mit ausreichendem Kontrast beschränken.
Bitstring zu, dessen Länge durch die Anzahl der be- Außerdem kann man durch zweimaliges Berech-
14 trachteten Bildpunkte in der Nachbarschaft gegeben nen der Disparität mit wechselndem Referenzbild
ist. Durch Vergleich dieser Bitstrings kann man die unzuverlässige Korrespondenzen herausfiltern:
15 Ähnlichkeit von Bildpunkten bestimmen, am ein- Wenn der Bildpunkt (x) im linken Bild die Dispa-
fachsten durch die Hamming-Distanz (Anzahl der rität d als Ergebnis hat, muss der Bildpunkt (x-d)
verschiedenen Bits im Bitstring): im rechten Bild die Disparität –d haben, wenn es
16 sich um eine korrekte Korrespondenz handelt. Die-
CENSUS .d / sen sogenannten Rechts-Links-Check (RL-Check)
17
D HAM TC .gl ;x / TC .gr ;xd /
kann man auch ohne doppelte Durchführung der
(22.5) Disparitätssuche durchführen [7]. Bei Anwendung
im Auto muss man immer mit Verdeckungen durch
18 den Scheibenwischer rechnen, da die Kamera in
Dabei repräsentiert TC .gl ;x / das Census-transfor- der Regel im gewischten Bereich der Windschutz-
19 mierte Bild an der Stelle x auf Basis der Grauwerte scheibe angeordnet ist. Ein Scheibenwischer ist auf-
des linken Bildes gl. Die geringste Hamming-Dis- grund der Nähe immer nur in einem Bild zu sehen
20 tanz ergibt die beste Disparitätsschätzung. Census und die daraus resultierenden (fehlerhaften) Dispa-
hat zusätzlich die Eigenschaft, invariant gegen li- ritäten werden im RL-Check eliminiert.
22.1 • Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung
401 22
. Abb. 22.2 zeigt ein Beispielergebnis eines lo- Für die Modellierung der Glattheitsenergie hat sich
kalen Korrelationsverfahrens, wobei als Ähnlich- folgendes Prinzip bewährt: Große Tiefensprünge
keitskriterium ZSAD mit einer 7 × 7-Maske ver- werden mit einer konstanten Energie P2 bestraft,
wendet wurde. Unzuverlässige Ergebnisse wurden kleine Änderungen der Disparität mit einer gerin-
mittels des RL-Checks entfernt. Trotz des Checks geren Energie P1:
bleiben rote (nahe) Punkte in texturlosen Regionen
erhalten, die eindeutig fehlerhaft sind. 8̂
<0; if jd1 d2 j D 0
Esmoot hness D P1 ; if jd1 d2 j D 1
:̂
22.1.2 Globale Stereoverfahren P2 ; if jd1 d2 j > 1
Die Korrelationsverfahren sind auf ausreichende Hierbei sind d1 und d2 die Disparitäten benachbar-
Kontraste im Bild angewiesen, um Ergebnisse mit ter Bildpunkte. Die geringere Energie P1 soll schräge
möglichst wenigen Falschmessungen zu liefern. Dies Flächen, die eine langsam veränderliche Disparität
ist in Straßenszenen auf der Fahrbahn, im Himmel aufweisen, korrekt rekonstruieren. Das einfachere
und auf homogenen Fahrzeugflächen kaum gege- Gibbs-Potenzial, das häufig in globalen Stereover-
ben. Diesem Problem versuchen globale Stereover- fahren eingesetzt wird, lässt sich durch Setzen von
fahren zu begegnen. P1 D P2 auf obige Formel zurückführen. Solch eine
In typischen Szenen ändert sich die Tiefe nur Energieoptimierung kann effizient in einer Richtung
langsam und stetig an schrägen Ebenen oder bleibt (z. B. entlang einer Zeile) durchgeführt werden. Diese
konstant auf Flächen, die parallel zum Kamerasys- Methode betrachtet jede Zeile unabhängig und ist
tem stehen (fronto-parallel). Die einzigen sprung- als „Scanline-Optimization“ in der Literatur bekannt.
haften Tiefenänderungen entstehen an Objektgren- Wenn man den optimalen Disparitätswert am Ende
zen. Mit dieser Annahme, dass sich die Tiefe in der der Zeile ermittelt, wird mittels Backtracking die
Szene nur selten ändert, kann man eine weitere optimale Disparität für jede Spalte bis zum Zeilen-
Bedingung neben der Ähnlichkeit formulieren, um anfang ermittelt. Dieses Verfahren nutzt damit das
auch für texturschwache Regionen eine korrekte Prinzip der dynamischen Programmierung und ist
Disparität zu ermitteln. Die Klasse der sogenann- unter „Dynamic-Programming-Stereo“ bekannt [8].
ten globalen Stereoverfahren kann man in 1D-opti- Sowohl „Scanline-Optimization“ als auch „Dyna-
mierende entlang einer Zeile und 2D-optimierende mic-Programming-Stereo“ lassen sich effizient in
Verfahren über das gesamte Bild einteilen. Steuergeräten umsetzen, allerdings entstehen bei den
Resultaten Streifen-Artefakte, da unabhängig Zeile
22.1.2.1 1D-Optimierung für Zeile optimiert wird. Bei dem in . Abb. 22.3 ge-
Durch die Annahme der abschnittsweise konstan- zeigten Resultat wurde Census mit einer Fenstergröße
ten Tiefe kommt zum sogenannten Datenterm des von 9 × 7 Bildpunkten als Datenterm verwendet.
Ähnlichkeitsmaßes ein Glattheitsterm hinzu, der
Abweichungen von der konstanten Tiefe bestraft. 22.1.2.2 2D-Optimierung
Die Disparitätsoptimierung wird als Energieopti- Die störenden Streifeneffekte können vermieden
mierung interpretiert, bei der eine Energieminimie- werden, wenn die Optimierung die Disparitätsun-
rung durchgeführt wird. Die Gesamtenergie E t ot al terschiede aller benachbarten Bildpunkte berück-
besteht aus der Ähnlichkeit Edat a und einer Glatt- sichtigt, also eine zweidimensionale Optimierung
heitsenergie Esmoot hness, die für alle Bildpunkte im durchgeführt wird. Es gibt mehrere Ansätze, das
Bild aufsummiert wird. Energieminimum zu finden, die beiden gängigsten
X Verfahren sind im Folgenden skizziert.
E t ot al D .Edat a C Esmoot hness / GraphCut: Die Optimierungsmethode GraphCut
x;y führt eine Optimierung (Energieminimierung) auf
einem Graph durch. Dabei werden die Bildpunkte als
Knoten interpretiert und die Verbindungen zwischen
402 Kapitel 22 • Stereosehen
21
22
3
4
5
6
7 .. Abb. 22.3 Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels Dynamic-Programming, überlagert
auf dem Originalbild. Wegen der zeilenweise unabhängigen Optimierung weist das Disparitätsbild Streifen-Artefakte auf, wel-
che in gering texturierten Bereichen noch stärker ausgeprägt sind
8
9
10
11
12
13
14
.. Abb. 22.4 Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels GraphCut, überlagert auf dem Origi-
15 nalbild. Ein visuell fehlerfreies Disparitätsbild wird geliefert, jedoch beträgt die Rechenzeit über 10 s pro Bildpaar (Stand 2014)
benachbarten Punkten als Kanten. GraphCut wird als Datenterm verwendet. Die Rechenzeit ist von der
16 häufig für die Vordergrund-Hintergrund-Segmen- Anzahl der Bildpunkte und der Anzahl der Dispari-
tierung eingesetzt. Für dieses binäre Problem (2 La- tätshypothesen abhängig. Für in der Fahrerassistenz
17 bels) findet GraphCut immer die optimale Lösung, übliche Bildgrößen und 128 Disparitätsstufen ergibt
d. h. das globale Energieminimum. Die Erweiterung sich eine Rechenzeit, die den Einsatz dieses sehr ele-
auf mehr als 2 Labels führt zu einem iterativen Lö- ganten Verfahrens in der Praxis (noch) verbietet. Die
18 sungsverfahren mittels GraphCut ohne Optimali- Optimierungsmethode „Belief-Propagation“ löst die
tätsgarantie, liefert aber in der Praxis sehr gute Er- gleiche Aufgabenstellung wie GraphCut und liefert
19 gebnisse. Die Interpretation der Labels im Stereofall bei vergleichbaren Parametern ähnliche Ergebnisse
sind diskrete Disparitäten [9]. Ein Beispielergebnis [10] bei vergleichbarem Rechenaufwand.
20 zeigt . Abb. 22.4. In diesem Beispiel wurde wie oben Semi-Global-Matching: Mit Semi-Global-
Census mit einer Fenstergröße von 9 × 7 Bildpunkten Matching (SGM) werden die Streifen-Artefakte der
22.2 • Genauigkeit der Stereoanalyse
403 22
.. Abb. 22.5 Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels SGM, überlagert auf dem Originalbild.
SGM liefert in Echtzeit ein visuell fehlerfreies Disparitätsbild, das dem Resultat von GraphCut ähnlich ist
.. Abb. 22.6 3D-Rekonst-
21 ruktion auf Basis von SGM
zu der Disparitätskarte
aus . Abb. 22.5. a ist das
22 triangulierte Ergebnis
ohne Subpixelschätzung
gezeigt, b das Ergebnis mit
3 Subpixelschätzung. Wenn
keine Subpixelschätzung
durchgeführt wird, „zerfällt
4 das entgegenkommende
Auto“ in zwei Teile
5
6
7
8
9
10
11
12
Der einfache Ausweg, durch eine große Brenn- 22.2.1 Subpixelgenaue Schätzung
13 weite und/oder eine entsprechend große Basisbreite
diesem Problem zu begegnen, widerspricht den Zie- Leitet man die Disparitätsentfernungsbeziehung
14 len großer Blickwinkel und designverträglicher (ge- (vgl. Gl. 22.6) ab, erhält man:
ringer) Basisbreiten. Alternativ kann man die Auf-
f B Z2
15 lösung des Imagers erhöhen. Damit steigt jedoch @Z
D 2 D :
f B (22.7)
der Rechenzeit- und Speicheraufwand und die für @d d
Nachtfunktionen wichtige Sensitivität des Imagers
16 sinkt, wenn man aus Kostengründen die Fläche des Man sieht, dass bei triangulierenden Verfahren die
Imagers konstant hält. durch kleine Unsicherheiten in der Disparität her-
17 Da in der Fahrerassistenz gleichzeitig hohe vorgerufene Entfernungsunsicherheit quadratisch
Reichweiten und hohe Messgenauigkeiten ange- mit der Entfernung zunimmt. Diese Unsicherheit
strebt werden, ist eine subpixelgenaue Schätzung als Funktion des Abstands für ein Stereokame-
18 der Disparität erforderlich. Gleichzeitig induzieren rasystem mit f B D 250m px , was ungefähr
in der Praxis nicht vermeidbare geringe Dekalibrie- der Situation der von Daimler eingesetzten Kamera
19 rungen zusätzliche, systematische Fehler. Diesen (1024 Bildpunkte horizontal, Blickwinkel ca. 50°,
Problemen widmet sich der folgende Abschnitt. Basisbreite B ca. 20 cm) entspricht, führt zu Ent-
20 fernungsunsicherheiten von mehreren Metern in
Bereichen oberhalb 50 m.
22.2 • Genauigkeit der Stereoanalyse
405 22
.. Abb. 22.7 Disparitätsverlauf bei Zufahrt auf ein Hindernis. Dargestellt sind die Referenzdisparität einer künstlichen Szene
und die mittels SGM gemessenen Disparitäten. Dabei treten Abweichungen von bis zu 0,3px Disparitäten auf, da aufgrund des
Glattheitsterms ganzzahlige Disparitäten überproportional bevorzugt werden
Unabhängig vom Stereoverfahren kann mit gerin- Die erzielbare Genauigkeit der Subpixel-Dispa-
gem Aufwand eine bildpunktweise Subpixelschätzung ritätsschätzung ist unabhängig von der Kalibrierung
durchgeführt werden. Die bekannteste Form der Sub- beschränkt. Während theoretische Publikationen
pixelschätzung führt eine Taylor-Entwicklung zweiter für optimale Bedingungen Disparitätsgenauigkei-
Ordnung am Ort des Minimums der Ähnlichkeits- ten auf 0,05 Bildpunkte voraussagen, haben auch
funktion durch. Das Minimum dieses quadratischen perfekt kalibrierte Systeme im Mittel für alle ver-
Polynoms markiert die verbesserte Schätzung der messenen Punkte einer Szene eine Genauigkeit von
Disparität. Für lineare Ähnlichkeitsfunktionen, wie ungefähr 0,25 Bildpunkten bei Verwendung von
z. B. SAD und Census, hat sich der sogenannte Equi- ortsdiskreten Stereo-Verfahren.
angular-Fit bewährt [16]. Die optimale Disparität ist Wenn bessere Schätzungen benötigt werden,
hierbei der Schnittpunkt zweier Geraden, die durch ist dies mit erhöhtem Rechenaufwand möglich.
die Ähnlichkeitswerte des gefundenen Minimums In [17] wird die Energieoptimierung auch auf
und der benachbarten Stützstellen gegeben sind. Subpixelebene durchgeführt (z. B. in Viertel-Bild-
2001 hat Shimizu in [16] beschrieben, dass die punkt-Schritten).
skizzierte subpixelgenaue Schätzung der Disparität
die Tendenz hat, ganzzahlige Disparitäten zu bevor-
zugen. Der Effekt hängt vom Ähnlichkeitsmaß und 22.2.2 Effekte einer Dekalibrierung
vom Kontrast der betrachteten Pixelumgebung ab.
Im ungünstigsten Fall kann bei hohem Kontrast der Die vorangegangenen Aussagen zur Varianz der
Fehler bis zu 0,15px Disparitäten betragen. Mit der Disparitätsschätzung gehen von einem idealen Ka-
richtigen Wahl der Interpolationstechnik kann der merasystem aus, bei dem sowohl alle Linsenfehler
Effekt unter 0,1px Disparitäten gehalten werden. als auch die nie ideale Ausrichtung der beiden Ka-
Gravierender ist dieser Pixel-Locking-Effekt bei meras zueinander (äußere Orientierung) perfekt
global optimierenden Verfahren, die bei der Subpi- korrigiert worden sind (Rektifizierung). Verfahren
xelinterpolation nicht nur die Ähnlichkeitskosten, zur Schätzung der relevanten Parameter sind in
sondern auch die Glattheitskosten interpolieren. ▶ Kap. 21 beschrieben.
Dort entstehen Abweichungen bis zu 0,3px Dispa- Da die verwendeten Linsenmodelle die Rea-
ritäten (s. . Abb. 22.7). lität nur annähernd genau wiedergeben und die
406 Kapitel 22 • Stereosehen
21
22
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13 .. Abb. 22.8 Disparitätskarte einer parallelen Wand mit horizontalen Strukturen bei guter Kalibrierung (a) und bei leichter
Dekalibrierung (b), wodurch die Wand als sehr weit entferntes Hindernis wahrgenommen wird
14 eingesetzten Kalibrierverfahren Restfehler haben, Kalibrierung, . Abb. 22.8b das Ergebnis mit einem
verbleiben auch bei sorgfältiger Systemauslegung Epipolarfehler von nur 0,2 Bildpunkten. Die Wand
15 systematische Restfehler. Fehlerhafte Nick- und steht plötzlich wesentlich weiter weg als vorher.
Rollwinkel beeinträchtigen direkt die Korrespon- Schielwinkelfehler: Gravierender sind die Aus-
denzanalyse. wirkungen kleiner Fehler des relativen Schielwinkels
16 Nick- und Wankwinkelfehler: Sobald die kor- beider Kameras, die sich in einem Disparitätsoffset
respondierenden Punkte nach Rektifzierung nicht d äußern. Befindet sich ein Objekt in der Entfer-
17 mehr exakt auf der gleichen Bildzeile zu liegen nung Z mit Disparität d, gilt für den Schätzwert ZO :
kommen, wird die Korrespondenzsuche gestört. Für
Z
Strukturen mit überwiegend vertikaler Struktur fällt ZO D
18 das Problem nicht auf. Der Effekt tritt verstärkt an .1 C d
d
/
:
(22.8)
zunehmend horizontalen Strukturen auf und führt
19 zu ungültigen – oder schlimmer noch – zu falschen Wie . Abb. 22.9 verdeutlicht, ist dieser Effekt bei
Disparitäten. Ein extremes Beispiel mit viel horizon- größeren Entfernungen nicht zu vernachlässigen.
20 taler Struktur ist in . Abb. 22.8 dargestellt. . Ab- Die gezeigten Kurven gelten für die bereits oben
bildung 22.8a das korrekte Ergebnis bei perfekter beschriebene Stereokamera. Unterschätzt man bei-
22.3 • 6D-Vision
407 22
.. Abb. 22.9 Geschätzte
Entfernung aufgetragen
über der wahren Entfer-
nung als Funktion des
Disparitätsfehlers d
spielsweise bei einem Objektabstand von 60 m die Fahrzeugs – abhängig von der Entfernung, wenn
Disparität um nur einen Bildpunkt, überschätzt sich beide Fahrzeuge mit jeweils 50 km/h nähern.
man die Entfernung um ca. 20 m! Bleiben diese Feh- Beträgt der Disparitätsoffset einen Bildpunkt, kann
ler unerkannt, können sie bei der Sensordatenfusion man für Lkw innerorts eine Geschwindigkeit jen-
zu Problemen führen. seits der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen
Noch gravierender wirken sich kleine Dispa- messen.
ritätsoffsets aus, wenn man aus einer Abstandsän- Die Betrachtungen zeigen, dass sehr sorgfältig
derung eines Objekts (vgl. ▶ Abschn. 22.3) auf die mit Schielwinkelfehlern in Stereokamerasystemen
Geschwindigkeit schließen will. Beträgt die Relati- umgegangen werden muss, spätestens wenn die Ge-
vgeschwindigkeit vrel, so resultiert für die Schätzung schwindigkeit bewegter Objekte gemessen werden
vrel
vO rel :D 2 : soll. Da sich die äußeren Parameter einer Stereoan-
1 C d d ordnung durch Alterung, vor allem aber infolge von
vrel
vO rel D 2 : Temperaturschwankungen verändern, ist im Fahr-
1 C dd (22.9) zeug eine Online-Kalibrierung zwingend erforder-
lich. Durch Vergleich mit einem Referenzsensor ist es
Meist wird man an der absoluten Geschwindigkeit in der Praxis möglich, den Disparitätsfehler kleiner
vf des beobachteten Objekts interessiert sein. Zieht als 0,1 Bildpunkte zu halten, was auch in kritischen
vO rel
vOman
f D vego deshalb
1 2 die (exakt)
: bekannte Eigenge- Konstellationen zu tolerierbaren Schätzfehlern führt.
vrel
schwindigkeit ab, erhält man
.. Abb. 22.10 Geschätzte
21 Geschwindigkeit eines
sich mit 50 km/h dem
gleich schnell fahrenden
22 Beobachter nähernden
Fahrzeugs in Abhängigkeit
vom Disparitätsfehler d.
3 In größeren Entfernungen
sind die Fehler extrem
4
5
6
7
8
.. Abb. 22.11 Kritische
Kreuzungssituation, die
9 Zeit bis zur Kollision mit
dem hinter dem parken-
den Auto auf die Straße
10 laufenden Kind beträgt
ca. 1 s
11
12
13
14
15
um die Kritikalität einer Situation bewerten zu Daher ist es nötig, die dreidimensionale Bewe-
können. Der naheliegende Ansatz, zunächst in den gung einzelner Bildpunkte direkt zu messen, um so
16 Disparitätsbildern „relevante“ Objekte zu finden bewegte Objekte ohne kritische Segmentierungs-
und diese dann zu tracken, hat sich in der Praxis schritte detektieren zu können. Geeignete Schätz-
17 als nicht tauglich erwiesen. Die mit zunehmen- verfahren sind Inhalt dieses Abschnitts.
der Entfernung quadratisch anwachsende Ent-
fernungsunsicherheit macht die Objekttrennung
18 bereits in mittleren Entfernungen problematisch 22.3.1 Das Prinzip
und führt in vielen Fällen zu einem Verschmelzen
19 von Objekten. Wenn aber in der in . Abb. 22.11 Ein großer Vorteil des Sensors „Kamera“ liegt in der
gezeigten Situation Auto und Kind als ein Objekt Tatsache, dass zu nahezu jedem beobachteten Bild-
20 wahrgenommen werden, kann die drohende Ge- punkt der korrespondierende Bildpunkt im nächs-
fahr nicht erkannt werden. ten Frame gefunden werden kann. Verfahren des
22.3 • 6D-Vision
409 22
optischen Flusses bzw. des Feature-Trackings sind mit dem mittelwertfreien Gauß'schen Rauschterm
seit vielen Jahren Gegenstand intensiver Forschun- !E, der Zustandstransitionsmatrix
gen und werden entsprechend gut verstanden. Für
jedes zeitlich korrespondierende Bildpunktpaar, für " #
Rk tk Rk
das man die 3D-Positionen kennt, kann man durch Ak D
033 Rk
Differenzieren prinzipiell den Bewegungsvektor (22.14)
ermitteln. Angesichts der großen Entfernungsunsi-
cherheit der einzelnen Messungen und den kleinen und der Kontrollmatrix
Zeitabständen von typischerweise 40 ms sind die so
erzielten Schätzungen nur bedingt aussagekräftig. 2 3
Dies kann durch eine Vergrößerung des zeitlichen TE
6 k7
Abstands der betrachteten Bildpaare verbessert 607
6 7
Bk D 6 7 :
werden, was aber nicht im Sinne einer schnellen 607
Reaktion bei plötzlich auftauchenden Objekten ist. 4 5
0
Die zentrale Idee des 6D-Vision-Verfahrens [18] (22.15)
besteht darin, im Sinne des „länger Hinsehens“ in-
teressante Bildpunkte über mehrere Frames zu ver- Der Messvektor z D .u; v; d /T setzt sich aus der
folgen und die beschriebene Unsicherheit durch vom Tracker bestimmten aktuellen Bildposition
zeitliche Integration kontinuierlich zu verringern, .u; v/T und der vom Stereosystem gemessenen
gleichzeitig aber, zu jedem Zeitpunkt eine optimale Disparität d zusammen. Das einfach zu linearisie-
Schätzung bereitzustellen. Hierzu wird angenom- rende nichtlineare Messmodell lautet dann:
men, dass sich die Punkte als Teile massebehafteter 2 3 2 3
Körper kurzfristig geradlinig im Raum bewegen. u Xf
Mathematisch elegant lässt sich diese Auf- 6 7 1 6 7
6 7
z D 4v 5 D 6 Yf 7
gabenstellung mithilfe des Kalman-Filters lösen Z 4 5 C vE:
(vgl. ▶ Kap. 21). Dazu werden die 3D-Position d bF (22.16)
pE D .X; Y; Z/T eines beobachteten Bildpunkts
und sein Geschwindigkeitsvektor vE D .XP ; YP ; Z/
P T Die Kompensation der Eigenbewegung bewirkt,
zu einem sechsdimensionalen
T Zustandsvektor dass für stationäre Punkte eine korrekte Geschwin-
xE D X; Y; Z; XP ; YP ; ZP zusammengefasst. Nach digkeit v D 0 gemessen wird. Verfügt das Fahrzeug
einem Zeitintervall t lautet die Position zum Zeit- über eine geeignete Inertialsensorik, können die für
schritt k C 1: die Kompensation der Eigenbewegung erforderli-
chen Größen der Translation und Rotation direkt
pEkC1 D RpEk C TE C tRE
vk ;(22.11) verwendet werden. Eine vereinfachende Annahme
einer reinen planaren Kreisbewegung und die Ver-
wobei R die Rotation und T die Translation der wendung des in nahezu jedem Fahrzeug verbauten
Szene, d. h. die inverse Kamerabewegung darstel- Gierratensensors birgt das Problem, dass Nickbe-
len. Für den Geschwindigkeitsvektor ergibt sich bei wegungen des Fahrzeugs vom Algorithmus als mit
angenommener konstanter Bewegung: der Entfernung zunehmende Auf-Ab-Bewegung
der getrackten Bildpunkte fehlinterpretiert werden.
vEkC1 D RE
vk :(22.12) Alternativ können diese Parameter mittels geeigne-
ter Verfahren der Ego-Motion-Schätzung ermittelt
Damit resultiert das zeitdiskrete lineare Systemmo- werden. Die Autoren setzen seit vielen Jahren er-
dell des Kalman-Filters folgreich das von Badino [19] entwickelte Verfahren
ein.
xEk D Ak xEk1 C Bk C !E(22.13) Für das Tracken der Bildpunkte stellt die Lite-
ratur verschiedene Verfahren bereit. Infrage kom-
men für 6D-Vision vor allem Deskriptor-basierte
410 Kapitel 22 • Stereosehen
21
22
3
4
.. Abb. 22.12 Die vier stark vergrößerten Bildausschnitte zeigen das Resultat der 6D-Vision Schätzung für die Situation
5 aus . Abb. 22.11. Die Pfeile deuten jeweils auf die entsprechend der geschätzten Bewegung erwartete Position in 500 ms
Feature-Tracker (vgl. ▶ Kap. 21). Die Autoren ver- Orientierung der geschätzten Bewegung sehr gut
6 wenden eine bereits 2004 publizierte Variante von mit der Realität überein.
Stein [20], die beliebig große Verschiebungen in Das beschriebene Kalman-Filter schätzt die Po-
7 konstanter Zeit liefert und in der Echtzeitvariante sition und Geschwindigkeit des jeweils verfolgten
eine Dichte von 10 % der Bildpunkte erreicht. In der Bildpunkts. Zu Beginn der Track-Kette stellt sich die
Praxis ist entscheidend, dass der eingesetzte Tracker Frage der Initialisierung des Filters. Die initiale Po-
8 mit den oft schwankenden Bildhelligkeiten und den sition ist direkt über die Stereo-Messung verfügbar.
auftretenden großen Bildverschiebungen zurecht- Die initiale Geschwindigkeit kann jedoch nicht aus
9 kommt. Bei Kurvenfahrten und entgegenkommen- einer einzelnen Positionsmessung ermittelt werden,
den Fahrzeugen treten durchaus Verschiebungen sondern muss über geeignete initiale Geschwindig-
10 von mehr als 100 Pixeln/Frame auf. Nutzt man aus, keitshypothesen und -varianzen ermittelt werden.
dass das Kalman-Filter im Prädiktionsschritt eine Dieser Aspekt wird in [18] detailliert beschrieben.
relativ gute Vorhersage des erwarteten Ortes eines
11 Bildpunkts bereitstellt, kann man sogar sehr erfolg-
reich mit robusten Varianten des beliebten Kana- 22.3.2 Dense6D
12 de-Lukas-Tomasi-Trackers [21] arbeiten.
. Abb. 22.12 illustriert die Leistungsfähigkeit des Im vorangegangenen Abschnitt wurde 6D-Vision
skizzierten Ansatzes. Die Pfeile zeigen die zu einzel- für einzelne Bildpunkte formuliert, die in Raum
13 nen getrackten Punkten geschätzten Bewegungszu- und Zeit lokalisiert werden können. Aus Grün-
stände, dabei deuten sie jeweils auf die entsprechend den der Robustheit und Präzision nachfolgender
14 der geschätzten Bewegung erwartete Position in Schritte der Szeneninterpretation ist eine möglichst
500 ms. Aus Darstellungsgründen wurde auf die Wie- hohe Dichte vermessener Bildpunkte anzustreben;
15 dergabe jedes zweiten Bildes der Sequenz verzichtet, idealerweise liegt für jeden Bildpunkt der vollstän-
deshalb liegen zwischen den einzelnen gezeigten dige Orts- und Bewegungsvektor vor. Dazu ist es
Bildern jeweils 80 ms. In vielen Versuchen konnte notwendig, für möglichst jeden Bildpunkt sowohl
16 nachgewiesen werden, dass in der Praxis 200 ms aus- den optischen Fluss (vgl. ▶ Kap. 21) als auch die
reichen, um kritische Situationen sicher zu erkennen. Stereo-Information zu ermitteln. Das beschriebene
17 In dem dargestellten Fall fuhr das eigene Fahrzeug SGM-Verfahren liefert bereits für nahezu jeden
mit ca. 30 km/h und wäre ohne Eingriff mit der auf Bildpunkt die essenzielle Tiefeninformation in
die Straße laufenden Person kollidiert. Echtzeit. Auch dichte optische Flussverfahren sind
18 Ein weiteres Beispiel gibt . Abb. 22.13. Darge- in der Literatur schon länger bekannt, wurden je-
stellt ist eine Situation, in der eine Fahrradfahrerin doch lange aufgrund der notwendigen Rechenzeit
19 unvorsichtig vor dem sich nähernden Fahrzeug ab- sowie mangelnder Robustheit nicht eingesetzt.
biegt. Es zeigt sich, dass die Annahme einer gerad- Klassische Verfahren zur Bestimmung des
20 linigen Bewegung in der Praxis erlaubt ist – obwohl dichten optischen Flusses nutzen die sogenannte
das Fahrrad noch in der Kurvenfahrt ist, stimmt die „Constant Brightness-Assumption“, d. h. die Inten-
22.3 • 6D-Vision
411 22
.. Abb. 22.13 Bild b eines 3D-Viewers zeigt die 6D-Vision-Interpretation für die in a wiedergegebene Situation einer abbiegen-
den Fahrradfahrerin. Auch hier deuten die Pfeile auf die in 500 ms erwarteten Positionen der getrackten Bildpunkte. Die Farben
codieren wieder die Entfernung von Rot (nah) nach Grün (fern)
talen Variation und bestraft Abweichungen nicht Geschwindigkeitsfeld bei verrauschten Daten deut-
21 quadratisch, sondern mit dem Absolutbetrag. Dies lich schlechter als das Dense6D-Ergebnis.
führt zu einem deutlich verbesserten Flussfeld, ist Einen Eindruck der erzielbaren Dichte gibt
22 jedoch aufgrund der Annahme konstanter Intensi- . Abb. 22.14.
tätswerte anfällig für wechselnde Belichtungs- und
Beleuchtungsverhältnisse. Müller et al. [23] zeigten
3 jedoch, dass durch die Nutzung des Census-Opera- 22.4 Stixel-Welt
tors die Bestimmung des dichten optischen Flusses
4 selbst in Szenen mit großen Belichtungsänderungen Dank der Echtzeitfähigkeit dichter Stereoverfahren
robust möglich ist. stehen den nachfolgenden Verarbeitungsschritten
5 Trotzdem neigt selbst das TV-L1-Verfahren in heute ca. 500.000 3D-Punkte pro Frame zur Ver-
der Praxis zu einem Überglätten und weist Schwie- fügung (Stand: 2014). In den kommenden Jahren
rigkeiten bei großen Flussvektoren auf. Müller [24] ist eine Steigerung auf 1 bis 2 Mio. Punkte zu er-
6 hat daher zwei wichtige Änderungen am Flussalgo- warten. Gleichzeitig wird diese Information von
rithmus vorgeschlagen: Zur Schätzung von großen immer mehr Erkennungsmodulen (Fußgänger,
7 Flussvektoren werden die Messungen eines lokalen Radfahrer, Autos, stationäre Hindernisse, befahr-
Flussschätzverfahrens [20] als weiterer Kostenterm barer Freiraum, Spurerkennung, Ampelerkennung,
einbezogen. Zudem wird in der Glattheitsbedin- Höhenprofil der Fahrbahn etc.) zur Steigerung der
8 gung nicht ein konstantes Flussfeld gefordert, son- Performance verwendet. Ohne weitere Maßnahmen
dern die Abweichung zu dem erwarteten Flussfeld- führen diese Trends zu extremen Anforderungen an
9 verlauf bestraft. Dieser lässt sich bei Annahme einer Rechenleistung und Bandbreite.
stationären Welt einfach anhand der aktuellen Tie- Dieses Problem lässt sich durch die Einführung
10 feninformation und der bekannten Eigenbewegung einer kompakteren Repräsentation umgehen, die
errechnen. Bildpunkte zu Superpixeln zusammenfasst. Eine
Sind der optische Fluss und die Stereo-Infor- für Straßenszenen sehr gut geeignete Repräsenta-
11 mation für nahezu jeden Bildpunkt verfügbar, so tion ist die bereits 2009 von Badino et al. [26] vor-
lässt sich auch das beschriebene 6D-Vision-Ver- geschlagene „Stixel-Welt“, eine sehr kompakte und
12 fahren anwenden. Rabe et al. [25] haben 2010 aussagekräftige Repräsentation der dreidimensio-
unter dem Namen Dense6D eine echtzeitfähige nalen Welt. Wie in . Abb. 22.15 gezeigt, wird die
Variante präsentiert, die für jeden Bildpunkt den komplette 3D-Information der Szene durch wenige
13 6D-Zustandsvektor bestimmt. Die einzelnen Kal- hundert schmale rechteckige Stäbe approximiert,
man-Filter werden hierbei in einer zweidimensio- die durch Fußpunkt, Entfernung und Höhe be-
14 nalen Struktur organisiert, die dem jeweiligen Bild schrieben sind. Trackt man diese Stixel über die
entspricht. Durch die Berechnung des Flussfeldes Zeit, lässt sich wie oben skizziert ihr Bewegungszu-
15 vom aktuellen zum vorherigen Bild kann für je- stand ermitteln. Dank der geringen Zahl von Stixeln
den Bildpunkt der entsprechende Vorgänger iden- können anschließend bewegte Objekte mit global
tifiziert und somit die Track-Kette fortgeschrieben optimierenden Verfahren segmentiert werden (Stix-
16 werden. mentation). Die einzelnen Schritte bis zu den ge-
Alternativ zu obigem Verfahren können auch suchten Objekten werden im Folgenden dargestellt.
17 aus zwei aufeinander folgenden Bildern einer Ste-
reosequenz simultan optischer Fluss und Dispari-
tätsänderung für jeden Bildpunkt ermittelt werden. 22.4.1 Optimale Berechnung
18 Diese Verfahren sind unter dem Begriff „Scene
Flow“ bekannt. Aus der Disparitätsänderung lässt Straßenszenen werden von (annähernd) horizon-
19 sich dann mit der Ursprungsdisparität die Ge- talen und vertikalen Flächen dominiert. Die wich-
schwindigkeit des Bildpunkts relativ zum Beobach- tigste horizontale Fläche ist die Fahrbahn bzw. Bo-
20 ter berechnen. Wie Rabe et al. [25] in ihrer Unter- denebene, auf der Objekte wie Autos, Fußgänger,
suchung zeigen, ist das auf diese Weise ermittelte Gebäude und Büsche mit annähernd vertikalen
22.3 • 6D-Vision
413 22
.. Abb. 22.14 Resultat der Dense6D-Berechnung für die eingeblendete Kreuzungssituation. Die Farben kodieren den Betrag
der Bewegung, Grün steht für statisch, Gelb für geringe (Mutter mit Kinderwagen) und Rot (abbiegendes Fahrzeug) für höhere
Geschwindigkeiten. Die Vektoren zeigen wieder die in 500 ms erwartete Position der getrackten Bildpunkte
.. Abb. 22.15 Repräsentation der Szene aus . Abb. 22.5 durch Stixel. Die Entfernungen sind farbig kodiert, weiße horizontale
Balken definieren die Oberkante der Stixel. Die Pfeile auf dem Boden deuten Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der
Stixel an
414 Kapitel 22 • Stereosehen
5
6 Flächen stehen. Nur in Ausnahmefällen, wie z. B. zu finden. Das bedeutet, unter allen denkbaren Lö-
bei Brücken, berühren diese Objekte nicht den Bo- sungen L wird das wahrscheinlichste Labeling L
7 den. Die Stixel-Welt hat das Ziel, genau diese Eigen- gesucht, formal:
schaften zu nutzen, um eine kompakte und robuste
Beschreibung zu generieren.
8 Das leistungsfähigste derzeit bekannte Verfah-
L D argmaxP .LjD/:
L (22.17)
ren zur Berechnung dieser Repräsentation wurde
9 von Pfeiffer et al. in [27] vorgestellt. Er formuliert Mit der Bayes'schen Regel lässt sich die A-posteri-
die Berechnung als klassisches Maximum-a-poste- ori-Wahrscheinlichkeitsdichte umformulieren zu
10 riori-Problem, das er mittels dynamischer Program- P .LjD/ D P .DjL/P .L/=P .D/: Damit lässt sich
mierung löst. Dazu betrachtet er einzelne schmale das Optimierungsproblem in
Streifen von typischerweise 5–9 Bildpunkten un-
11 abhängig von den Nachbarn, wodurch sich unab- L D argmaxP .DjL/P .L/:
hängige, eindimensionale Optimierungsprobleme L (22.18)
12 ergeben.
. Abb. 22.16 illustriert an zwei Beispielen den umschreiben. Dabei ist P .DjL/ die Wahrschein-
Grundgedanken der Stixel-Welt. Die blaue Linie lichkeitsdichte des beobachteten Disparitätsvektors
13 markiert in beiden betrachteten Bildausschnit- für ein beliebiges Labeling L und repräsentiert so
ten die betrachtete Spalte bzw. den betrachteten den Datenterm der Optimierung. Der zweite Term
14 Streifen. Die in dieser Spalte gemessenen Dispa- P .L/ trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle
ritäten sind violett dargestellt. Angestrebt wird denkbaren Objektanordnungen gleich wahrschein-
15 eine Segmentierung in die Klassen „Objekt“ und lich sind und ermöglicht so, Vorwissen bzw. Statis-
„Fahrbahn“. Pixel einzelner Objekte haben in der tik über den typischen Aufbau von Straßenszenen
Approximation eine konstante Disparität, wäh- elegant bei der Optimierung zu berücksichtigen.
16 rend Pixel der Klasse „Fahrbahn“ einem durch Dies entspricht dem Glattheitsterm globaler Ste-
die Kamerageometrie gegebenen linearen Dispa- reo- und Flussschätzverfahren, ohne sich dabei aber
17 ritätsverlauf gehorchen. Das linke Beispiel zeigt ausschließlich auf die Forderung nach glatten Lö-
den Standardfall eines dominanten Vordergrund- sungen zu beschränken. Vielmehr können in dieser
objekts vor einem Hintergrundobjekt. Im rechten Verteilungsdichte weitere Randbedingungen (engl.:
18 Beispiel erwarten wir eine Repräsentation durch constraints) berücksichtigt werden. Als besonders
19
20
drei Objekte und zwei als „Fahrbahn“ gelabelte
Abschnitte.
Aufgabe der Optimierung ist, bei gegebenem
Disparitätsbild D die „wahrscheinlichste“ modell-
-
wichtig erweisen sich:
Bayes'sches Informationskriterium: innerhalb
einer Spalte werden meist nur sehr wenige Ob-
jekte gefunden, Lösungen mit einer geringen
konforme Approximation des Disparitätsverlaufs Anzahl von Objekten sind zu favorisieren.
22.4 • Stixel-Welt
415 22
- auch berühren.
Ordering-Constraint: Je höher ein Objekt (Sti-
xel) im Bild angeordnet ist, desto weiter ent-
fernt ist es in der Regel. Für vertikal übereinan-
gibt. In der Praxis weist sie mehrere positive Eigen-
-
schaften auf:
Robustheit: Die implizit stattfindende Mitte-
lung aller Disparitäten unter einem Stixel führt
der angeordnete Stixel bedeutet dies, dass diese zu einer deutlichen Reduktion des Disparitäts-
entfernungsmäßig gestaffelt sind. Brücken, rauschens. Dank der robusten Formulierung
Bäume und andere Objekte, die diese Randbe- des Disparitätsrauschens können lokale Fehler
dingung verletzen, können selbstverständlich der Disparitätsanalyse automatisch erkannt und
trotzdem korrekt approximiert werden, wenn eliminiert werden. Größere spontan auftretende
der Datenterm hinreichend aussagekräftig ist. Fehler, die zeitlich nicht konsistent sind, werden
21
22
3
4
5
6 .. Abb. 22.17 Segmentierung der dynamischen Stixel-Welt in einzelne, unabhängig bewegte Objekte
7 c) Ermittlung des freien Fahrraums und Barth hat bereits 2009 in [29] gezeigt, wie damit der
d) Erkennung der Absichten anderer Verkehrsteil- vollständige Bewegungszustand einschließlich der
nehmer. Gierrate entgegenkommender Fahrzeuge geschätzt
8 werden kann.
Die vorgestellten Prinzipien sind die Basis für die
9 Sehsysteme der nächsten Generation, die darauf 22.4.2.2 Objektklassifikation
aufbauend die genannten Aufgaben sehr effizient Eine Stärke des Sensors Kamera ist, dass interessie-
10 lösen können. rende Objekte wie Fußgänger und Fahrzeuge auch
in sehr komplexen Szenen anhand ihres Aussehens
22.4.2.1 Stixmentation (engl.: „appearance“) erkannt werden können. An-
11 Die erste Aufgabe erfordert eine Segmentierung der gesichts der Bedeutung der Fußgängererkennung
dynamischen Stixel-Welt in bewegte Objekte vor ei- ist ihr ein separates Kapitel (▶ Kap. 23) gewidmet.
12 nem stationären Hintergrund. Eine einfache lokale Problematisch ist, dass der Aufwand für diese Klassi-
Schwellwertoperation, die die Geschwindigkeit ein- fikation linear mit der Anzahl der zu prüfenden Hy-
zelner Stixel betrachtet, ignoriert die Tatsache, dass pothesen steigt. Deshalb sind leistungsfähige Mecha-
13 Objekte aus einer Gruppe von Stixeln mit ähnlichen nismen einer Aufmerksamkeitssteuerung wichtig.
Eigenschaften bestehen. Analog zur Disparitätsana- Die Stixel-Welt ermöglicht eine besonders ef-
14 lyse liefern auch hier global optimierende Verfahren fiziente Reduktion der Hypothesen. Dabei wird
bessere Resultate. für jedes Stixel angenommen, dass es das mittlere
15 Dazu fasst Erbs in [28] die Stixel als die Knoten Stixel eines gesuchten Objekttyps, z. B. eines Autos,
eines „Conditional Random Field“ (CRF) auf und ist. Abstand und Position des Stixels legen dann die
formuliert darauf ein Optimierungsproblem, das er Größe der zu klassifizierenden „Region-of-Interest“
16 mithilfe der GraphCut Methode löst. Ist man nur an (ROI) fest. Passt die Stixelhöhe zur Hypothese, wird
der Trennung vom stationären Hintergrund inter- eine Klassifikation durchgeführt. In . Abb. 22.18
17 essiert, kann dieses binäre Problem optimal gelöst sind die so gefundenen ROIs dargestellt. Ihre An-
werden. Erbs beschreibt ein iteratives Vorgehen, das zahl liegt typischerweise in der Größenordnung von
auch bei unbekannter Anzahl bewegter Verkehr- einigen hundert ROIs. Enzweiler zeigt in [30], dass
18 steilnehmer diese schrittweise findet und einzeln dieser Ansatz nicht nur extrem effizient ist, sondern
annotiert. sogar bessere Resultate als eine ungesteuerte Suche
19 Wie in . Abb. 22.17 zu sehen, können so die liefert. Der Grund liegt in der Tatsache, dass alle re-
bewegten Fahrzeuge sicher segmentiert werden. Es levanten Hypothesen generiert werden, gleichzeitig
20 ist empfohlen, auf den so gefundenen Stixel-Grup- aber weniger Anfragen an den Klassifikator gestellt
pen einen objektspezifischen Tracker aufzusetzen. werden, der in der Regel eine nicht verschwindende
22.4 • Stixel-Welt
417 22
.. Abb. 22.18 a Anhand der Stixel-Welt gebildete Regions-of-Interest für die Klassifikation von Fahrzeugen. b zeigt die erkann-
ten Fahrzeuge nach einer lokalen Filterung, bei der weitere positive Antworten eliminiert wurden
Falsch-Positiv-Rate hat. Damit erhält man ein Sys- Der aktuelle Trend in der Bildverarbeitung be-
tem mit gleicher Detektionsleistung bei reduzierter steht darin, ein Bild in sogenannte „Superpixel“ zu
Wahrscheinlichkeit von Falschdetektionen. zerlegen, denen anschließend Attribute wie z. B.
Das Resultat der Klassifikation ist in Fahrbahn, Fahrzeug, Gebäude, Vegetation etc. zu-
. Abb. 22.18b wiedergegeben. Der skizzierte An- geordnet werden. Diese Verfahren werden in der
satz lässt sich einfach auf viele Objektklassen wie neueren Literatur als „Scene-Labeling“ bezeichnet.
die bereits erwähnten Fußgänger, aber auch Zwei- Die Zuordnung von Attributen zu den Superpixeln
radfahrer, Leitpfosten, Baken usw. übertragen. beruht im Allgemeinen auf einem geeigneten Klas-
sifikator, der Farb- und Texturinformationen ana-
22.4.2.3 Scene Labeling lysiert.
Klassifikationsverfahren, die rechteckförmige, die Scharwächter zeigt in [31], dass die Stixel-Welt
Objekte umschreibende ROIs auswerten, sind in der eine effiziente Basis für das Scene-Labeling darstellt.
Literatur intensiv untersucht und bei Systemen wie Die Gruppierung von Stixeln liefert Bildsegmente,
Gesichtserkennung oder Verkehrszeichenerkennung die im Vergleich zu Grauwert-basierten Superpixeln
im Einsatz. Sie sind auf solche Fälle beschränkt, in stärker mit tatsächlichen Objektgrenzen überein-
denen das gesuchte Objekt sauber von einem sol- stimmen und in vielen Fällen größere Segmente for-
chen Bereich eingeschlossen wird. Bei Verdeckun- men. Bei der Klassifikation verwendet er zusätzlich
gen (Fußgänger hinter einem parkenden Auto nur die Stereo-Höheninformation. Für eine möglichst
teilweise zu sehen), einer dichten Anordnung von robuste und effiziente Kodierung der Merkmale
Objekten (Reihe eng parkender Autos am Straßen- wird auf sogenannte Random Forests [32] zurück-
rand) oder ausgedehnten Objekten (Häusern, Leit- gegriffen. Die auf diese Art für innerstädtische
planken) sind diesem Ansatz Grenzen gesetzt. Straßenszenen generierten Ergebnisse waren zum
418 Kapitel 22 • Stereosehen
21
22
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6
7 .. Abb. 22.19 Beispiel einer automatisch gelabelten Verkehrsszene. Die Farben kodieren Fahrzeuge in Grün, Personen in Rot,
Gebäude in Violett, Himmel in Blau und Fahrbahn in Braun
8 Zeitpunkt der Publikation den bekannten Verfahren Auch die Stixel-Welt und die darauf aufbauende
deutlich überlegen. Bildinterpretation hat ihre Leistungsfähigkeit in der
9 . Abb. 22.19 zeigt das Resultat für eine typische Praxis unter Beweis gestellt. Sie war die Basis des
Innenstadtszene. Die hier verwendeten Attribute Bildverstehens im Rahmen der Bertha-Benz-Fahrt
10 sind: Fahrbahn, Fahrzeuge, Person, Gebäude und im August 2013, bei der ein Mercedes Benz S500 In-
Himmel. Die Wahl der Klassen ist anwendungs- telligent Drive die bekannte Route von Mannheim
spezifisch. Im Autobahnumfeld wäre eine Klasse nach Pforzheim mit seriennaher Sensorik vollauto-
11 „Leitplanke“ sicher relevanter als die Klasse „Ge- matisch zurückgelegt hat. Dank der extrem kompak-
bäude“. ten Repräsentation der Umgebung konnten auch auf-
12 wendige Analyseverfahren ohne zeitliche Probleme
durchgeführt werden [34]. Das Thema „Autonomes
22.5 Zusammenfassung Fahren“ wird in ▶ Kap. 61 vertieft.
13 Die Vision vom automatischen Fahren und
Die im vorliegenden Kapitel beschriebenen Verfah- der Wunsch nach noch leistungsfähigeren Fah-
14 ren der Stereo-Bildverarbeitung sind das Resultat rerassistenzsystemen führen zu weiter steigenden
langjähriger Forschungen und haben sich in der Anforderungen an die Genauigkeit und Robust-
15 Praxis bestens bewährt. Semi-Global-Matching heit der Stereoanalyse. Neue Ansätze zur Dispari-
und das Prinzip der 6D-Vision kommen seit 2013 tätsanalyse [35] bzw. für den Scene Flow [36] sind
in den Intelligent-Drive-Paketen der Ober- und noch nicht echtzeitfähig, können sich aber in den
16 Mittelklassefahrzeugen von Mercedes Benz zum KITTI-Benchmarks deutlich an eine führende Po-
Einsatz. Die für den effizienten, vollautomatischen sition setzen.
17 Fußgängerschutz eingesetzten Klassifikatoren Eine Alternative ist die in [37] vorgeschlagene
profitieren dabei massiv von der dichten Stereoin- zeitliche Kopplung der Disparitätsanalyse, die vor
formation. Bei gleicher Erkennungsrate führt die allem in Fällen starker Störungen (vgl. . Abb. 22.1)
18 Fusion von Grauwertinformation und Disparitäts- hilft, die Falsch-Positiv-Rate einer Hindernisdetek-
information zu einer Reduktion der Falschalarm- tion zu reduzieren. . Abbildung 22.20 zeigt in der
19 rate um mehr als den Faktor 5 [33]. An diesem oberen Reihe das aktuelle Stereobildpaar sowie das
Beispiel wird der Vorteil einer stereobasierten Bild- ohne (dritte Spalte) und mit (vierte Spalte) zeitli-
20 verarbeitung gegenüber einer monokularen Lösung cher Kopplung gewonnene Disparitätsbild. Leichte
besonders deutlich. Unterschiede sind nur in der linken unteren Ecke
Literatur
419 22
.. Abb. 22.20 Die obere Reihe zeigt von links nach rechts: ein bei Regenwetter aufgenommenes Stereobildpaar, die Dispa-
ritätsanalyse im Einzelbild und das Resultat der zeitlich gekoppelten Schätzung. Die untere Reihe zeigt die Situation einen
Zeitschritt später, wenn der Scheibenwischer einen großen Teil des linken Bildes bedeckt. Die Verbesserungen der Disparitäts-
schätzung mit dem in [37] beschriebenen Verfahren werden deutlich, das gezeigte Resultat ist visuell nahezu fehlerfrei
18 Franke, U., Rabe, C., Badino, H., Gehrig, S.: 6D‐Vision: Fusion
21 of Stereo and Motion for Robust Environment Perception,
DAGM Symposium 2005, Wien (2005)
19 Badino, H., Franke, U., Rabe, C., Gehrig, S.: Stereo Vision‐
22 Based Detection of Moving Objects under Strong Camera
Motion, VisApp, Portugal (2006)
20 Stein, F.: Efficient Computation of OpticaL Flow, DAGM
3 Symposium (2004)
21 Shi, J., Tomasi, C.: Good features to track, Computer Vision
and Pattern Recognition (CVPR), 1994, Seattle (1994)
4 22 Zach, C., Pock, T., Bischof, H.: A Duality Based Approach for
Realtime TV‐L1 Optical Flow, DAGM Symposium (2007)
5 23 Müller, T., Rabe, C., Rannacher, J., Franke, U., Mester, R.: Illu-
mination‐Robust Dense Optical Flow Using Census Signa-
tures, DAGM Symposium (2011)
6 24 Müller, T., Rannacher, J., Rabe, C., Franke, U.: Feature‐ and
Depth‐Supported Modified Total Variation Optical Flow
for 3D Motion Field Estimation in Real Scenes, Computer
7 Vision and Pattern Recognition (CVPR) (2011)
25 Rabe, C., Müller, T., Wedel, A., Franke, U.: Dense, Robust, and
Accurate Motion Field Estimation from Stereo Sequences
8 in Real‐time, European Conference on Computer Vision
(ECCV) (2010)
26 Badino, H., Franke, U., Pfeiffer, D.: The Stixel World ‐ A Com-
9 pact Medium Level Representation of the 3D‐World, DAGM
Symposium (2009)
27 Pfeiffer, D., Franke, U.: Towards a Global Optimal Multi‐Layer
10 Stixel Representation of Dense 3D Data, British Machine
Vision Conference (BMVC) (2011)
28 Erbs, F., Schwarz, B., Franke, U.: From Stixels to Objects, IEEE
11 Intelligent Vehicles Symposium, Brisbane (2013)
29 Barth, A., Franke, U.: Estimating the Driving State of Onco-
ming Vehicles from a Moving Platform Using Stereo Vision,
12 IEEE Transactions on ITS (2009)
30 Enzweiler, M., Hummel, M., Pfeiffer, D., Franke, U.: Efficient
Kamerabasierte
Fußgängerdetektion
Bernt Schiele, Christian Wojek
23.1 Anforderungen – 422
23.2 Mögliche Ansätze – 423
23.3 Beschreibung des Funktionsprinzips – 424
23.4 Beschreibungen der Anforderungen
an Hardware und Software – 432
23.5 Ausblick – 433
Literatur – 434
Die Detektion oder Erkennung von Fußgängern Pose zu bestimmen. Folglich sind für unter-
21 im Straßenverkehr ist eines der wichtigsten, zu- schiedliche Detektionsbereiche und System-
gleich aber auch eines der schwierigsten Probleme funktionen unterschiedliche Verfahren und
22 der Sensorverarbeitung. Um dem Fahrer optimale Modelle vorzuziehen. . Abbildung 23.1 zeigt
Assistenz leisten zu können, sind idealerweise alle eine Szene mit einer Mehrzahl unterschiedlich
Fußgänger unabhängig von Sichtverhältnissen ro- skalierter Fußgänger, die von einer gängigen
-
23 bust zu erkennen. Dies wird jedoch durch verschie- Onboard-Kamera aufgenommen wurden.
denste Umweltfaktoren erschwert. Problematisch Robustheit: Robustheit spielt für alle An-
24 sind insbesondere wechselnde Wetter- und Sicht- wendungsszenarien eine wesentliche Rolle;
verhältnisse, schwierige Beleuchtungssituationen insbesondere ist die Funktionalität für unter-
und Straßenverhältnisse. Des Weiteren erschweren schiedliche Wetter- und Sichtbedingungen
25 individuelle Kleidung und die Verdeckung von Fuß- zu erreichen. Gleichzeitig müssen Systeme
gängern beispielsweise durch parkende Autos die zur Fußgängererkennung unabhängig von
26 Detektionsaufgabe. Weiterhin zeichnen sich Fuß- Kleidung und Artikulation der Fußgänger
gänger im Vergleich zu vielen anderen Objekten in funktionieren. Damit einhergehend ist auch
27 Straßenverkehrsszenen durch einen hohen Grad an die Auswahl des richtigen Sensors: Während
Artikulation aus, die insbesondere die Anwendung Fußgänger bei Tag in sichtbarem Licht gut zu
umrissbasierter Verfahren erschwert. erkennen sind, lässt die Sichtbarkeit bereits
28 bei Dämmerung nach. Im Gegensatz dazu
Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Erken- registrieren Infrarotkameras auch Teile des un-
29 nungsaufgaben abhängig vom eingesetzten Sensor- sichtbaren Lichtspektrums. Während bei Tag
30 --
typ unterscheiden:
videobildbasierte Verfahren – für den Tag,
infrarotkamerabasierte Verfahren – für die
Nacht.
Hintergrundstrukturen oftmals eine ähnliche
Signatur haben wie Fußgänger, sind diese bei
Nacht aufgrund der emittierten Wärmestrah-
lung deutlich zu erkennen und Infrarotkame-
-
31 ras herkömmlichen Kameras vorzuziehen.
Während sich die Sensoren durch das aufgenom- Blickwinkelinvarianz: Fußgänger müssen
32 mene Lichtspektrum unterscheiden, haben sich in unabhängig vom relativen Blickwinkel der Ka-
33
der Praxis jedoch ähnliche grundsätzliche Verfah-
ren für die Bearbeitung bewährt.
- mera zum Fußgänger erkannt werden können.
Teilweise Verdeckung: In realistischen An-
wendungen ist die Verdeckung von Fuß-
gängern kaum zu vermeiden. Insbesondere
34 23.1 Anforderungen in komplexen Innenstadtszenarien ist ein
funktionierendes System auf die Behandlung
35
36
Wie bereits eingehend erwähnt sind an ein System,
das für die robuste Erkennung von Fußgängern im
Straßenverkehr eingesetzt wird, hohe Anforderun-
gen zu stellen. Insbesondere ist die Behandlung der
- entsprechender Situationen auszurichten.
Posenschätzung: Um die Bewegungsrichtung
von Fußgängern besonders schnell zu bestim-
men, ist es notwendig, die Pose zu schätzen.
37 -
folgenden Aspekte von hoher Bedeutung:
Auflösung und Größe der Fußgänger im Vi-
deobild: Die Auflösung des Videobilds und die
Brennweite der verwendeten Kamera beein-
Insbesondere wenn die Zeit bis zum Zusam-
menprall kurz ist, der Fußgänger sich also in
kurzen Entfernungen zum Fahrzeug befindet,
ist dieser Aspekt von großer Wichtigkeit, um
-
38 flussen ganz wesentlich die Menge darstellbarer eine sinnvolle Reaktionsstrategie zu erhalten.
Information (vgl. ▶ Kap. 20). Während auf 2D- vs. 3D-Modellierung: Während 2D-An-
39 niedrigauflösenden Bildern Fußgänger selbst sätze, die die Umwelt in Bildkoordinaten mo-
von Menschen mit Mühe erkannt werden dellieren, gute Ergebnisse für kleine Fußgänger
40 können, ist es möglich, aus hochauflösenden
Bildern neben der Position im Bild auch die
in größerer Entfernung erzielen, geht damit
auch Unsicherheit in Bezug auf die genaue
23.2 • Mögliche Ansätze
423 23
Für die Erkennung von Fußgängern lassen sich in Bei AdaBoost handelt sich es um ein Klassifi-
der Literatur im Wesentlichen drei grundsätzliche kationsverfahren, das einen so genannten „starken“
--
Ansätze unterscheiden. Dies sind:
„Sliding-Window“-Ansätze
Merkmalspunkt- und körperteilbasierte An-
Klassifikator aus einer gewichteten Summe schwa-
cher Klassifikatoren kombiniert. Schwache Klassi-
fikatoren sind oftmals Entscheidungsbaumstümpfe
- sätze
Systemorientierte Ansätze.
[13]. Ein Vergleich verschiedener Deskriptoren ist Ein wesentlicher Unterschied der oben ein-
21 bei Seemann et al. [14] zu finden. geführten Methoden in der Modellierung liegt in
Nahe verwandt hiermit sind die körperteilba- der Verwendung verschiedener Merkmale. Auch
22 sierten Ansätze, mit welchen versucht wird, einzelne variieren die eingesetzten Klassifikationsmethoden
Körperteile wie Gliedmaßen und Torso separat zu oftmals zwischen AdaBoost und SVMs mit un-
erkennen. Diese werden dann mittels probabilisti- terschiedlichen Kernen. . Tabelle 23.1 gibt einen
23 scher Modelle fusioniert. Der Vorteil dieser Ansätze Überblick zu Kombination der Originalarbeiten.
besteht in der Robustheit gegenüber Verdeckung Wie aus dieser Tabelle ersichtlich ist, wurden
24 und einer guten Generalisierung für verschiedene viele der möglichen Kombinationen aus Bildmerk-
Artikulationen. mal und Klassifikator nicht evaluiert. Außerdem
Schließlich sind an dieser Stelle noch die syste- erschwert die Verwendung unterschiedlicher Da-
25 morientierten Ansätze zu nennen. Bei diesen wird tensätze die Vergleichbarkeit zusätzlich. An dieser
im Unterschied zu den bisher genannten Systemen Stelle sollen nun die verschiedenen Kombinationen
26 Vorwissen bezüglich der konkreten Anwendung im erschöpfend auf einem etablierten Datensatz mit
automobilen Umfeld ausgenutzt, um ein System zu einer Detektionsfenstergröße von 64 × 128 Pixel
27 konstruieren. Beispielhaft hierfür ist die Annahme verglichen werden.
einer ebenen Grundfläche, auf der sich sowohl das Zu Beginn sollen die verwendeten Merkmale
Fahrzeug als auch die Fußgänger bewegen. Außer- kurz vorgestellt werden. Haar-Merkmale aus [20]
28 dem wird oftmals ein Vorarbeitungsschritt zur Auf- kodieren lokale Bildintensitätsunterschiede. Die
merksamkeitssteuerung eingesetzt, der interessante verwendeten Größen der Filtermaske sind 16 und
29 Bereiche im Bild automatisch bestimmt. Wichtigster 32 Pixel, wobei die einzelnen Masken jeweils zu 75 %
Vertreter dieser Gruppe ist das PROTECTOR-Sys- überlappen und dadurch eine übervollständige Dar-
30 tem von Gavrila und Munder [15].
Im Bereich der infrarotkamerabasierten Fuß-
stellung ermöglichen. Es werden die in . Abb. 23.3
gezeigten Filter (zweite bis vierte Basisfunktion)
gängererkennung bei Nacht dominieren die Sliding- verwendet; der Gleichanteil (erste Basisfunktion)
31 Window-basierten Verfahren. So adaptieren sowohl wird vernachlässigt. Um Belichtungsunterschiede
Mählisch et al. [16] als auch Suard et al. [17] ähnliche auszugleichen, werden alle Einzelantworten durch
32 Ansätze und Merkmale, die sich für den sichtbaren die mittlere Filterantwort für den entsprechenden
Bereich des Spektrums bereits bewährt haben. Ber- Filtertyp normalisiert. Aufgrund unterschiedlicher
tozzi et al. [18] verwenden außerdem die Wärmeab- Kleidung ist außerdem nur der Betrag der Filterant-
33 strahlcharakteristik zur Detektion von Fußgängern. wort von Bedeutung. Eine weitere Verbesserung
kann durch eine globale L2-Längennormalisierung
34 erzielt werden.
23.3 Beschreibung Haar-ähnliche Merkmale aus [21] stellen eine
des Funktionsprinzips
35 Verallgemeinerung der Haar-Merkmale zu allge-
meinen rechteckigen Merkmalen dar, die an belie-
Wie bereits erwähnt, eigenen sich unterschiedliche biger Stelle in beliebiger Größe im Detektionsfenster
36 Verfahren je nach Auflösung des Videobilds unter- vorkommen können (vgl. . Abb. 23.4).
schiedlich gut, um die eingeführten Anforderungen Diskriminative Merkmale werden beim Er-
37 zu erfüllen. Im Folgenden soll nun je eine Arbeit aus lernen des Modells durch AdaBoost ausgewählt.
jeder Kategorie näher betrachtet werden. Grundlage hierfür ist eine effiziente Berechnung
der Merkmale mithilfe von Integralbildern. Die
38 exponentiell ansteigende Anzahl von möglichen
23.3.1 Sliding-Window-Ansätze Merkmalspositionen und -größen stellt den limi-
39 tierenden Faktor dieses Merkmals dar. Deshalb wer-
Für die Verfahrensgruppe der „Sliding-Window“- den für die nachfolgende Evaluierung Merkmale für
40 Ansätze soll die Performanzanalyse von Wojek und
Schiele [19] vorgestellt werden.
ein Fenster der Größe 24 × 48 Pixel bestimmt und
dann auf die Größe des Detektionsfensters skaliert.
23.3 • Beschreibung des Funktionsprinzips
425 23
Auch hierbei zeigt sich, dass die Vernachlässigung Bei Shapelets handelt es sich um ein weiteres
des Vorzeichens der Filterantworten von Vorteil ist. gradientenbasiertes Merkmal, das für lokale Be-
Außerdem ist eine L2-Längennormalisierung der reiche des Detektionsfensters automatisch erlernt
ausgewählten Merkmalsantworten einer Mittel- und wird. Die Auswahl der Gradienten erfolgt dabei
Varianznormalisierung überlegen. durch AdaBoost, dem auf Bildbereichen der Größe
Als weiteres Merkmal wurden Histogramme 5 × 5 Pixel bis 15 × 15 Pixel die Gradienten in meh-
über Gradientenorientierungen (HOG) von Dalal rere Richtungen (0°, 90°, 180°, 270°) als Eingabe zur
und Triggs vorgeschlagen [2]. Hierfür werden zu- Verfügung stehen. . Abbildung 23.6 veranschau-
nächst die Gradienten in x- und y-Richtung be- licht die ausgewählten, diskriminativen Gradienten.
rechnet und anschließend in so genannte Zellen- Auch hierbei wird Belichtungsinvarianz durch Nor-
histogramme (über 8 × 8 Pixel) eingetragen, wobei malisierung der Gradienten bezüglich der lokalen
sowohl in räumlichen Koordinaten als auch bezüg- Nachbarschaft erreicht; dabei ist stets auf adäquate
lich der Orientierungen interpoliert wird. Anschlie- Regularisierung zu achten, um Rauschen nicht zu
ßend werden alle Zellenhistogramme bezüglich der verstärken.
Nachbarzellen normalisiert, um lokale Belichtungs- Das Shape Context-Merkmal wurde ursprüng-
unterschiede auszugleichen. Um die Dominanz ei- lich als Deskriptor für Merkmalspunkte von [23]
nes einzelnen Histogrammeintrags zu verhindern, vorgeschlagen und mit großem Erfolg im ISM
hat sich ein zusätzlicher Hystereseschritt als nützlich Framework von Seemann et al. [14] eingesetzt.
erwiesen [7]. Der Merkmalsvektor entsteht schließ- Das Merkmal basiert auf Kanten, die mithilfe ei-
lich durch die Konkatenation aller Histogrammein- nes Canny-Kantendetektors extrahiert werden.
träge (siehe . Abb. 23.5). Diese werden dann in einer Log-Polar-Darstellung
426 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion
.. Abb. 23.5 HOG-
21 Merkmale
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
.. Abb. 23.6 Shapelet-Merkmale
Precision ist definiert als Bootstrapping eine deutlich bessere Leistung er-
zielt, ohne eine ähnliche. In Kombination mit einer
#korrekte Detektionen . linearen SVM als Klassifikator ergibt sich ebenfalls
#korrekte Detektionen C #falsche Detektionen
eine zu HOG-linSVM vergleichbare Performanz.
Es ist ersichtlich, dass unabhängig von der Wahl Für die Kombination von Dense Shape Context-
des Klassifikators die gradientenbasierten Merk- Merkmalen mit Haar-Merkmalen ergibt sich ohne
male HOG und Shape Context die besten Ergeb- Bootstrapping für lineare SVMs und AdaBoost
nisse erreichen. Außerdem ist ersichtlich, dass Haar ähnliche Performanz. Allerdings profitiert in dieser
und Haar-ähnliche Merkmale ähnlich gute Perfor- Kombination die lineare SVM stärker von der Boot-
manz liefern, was aufgrund des ähnlichen Designs strappingprozedur und erreicht eine deutlich bes-
der Merkmale wenig überraschend ist. Außerdem sere Gesamtleistung als HOG-linSVM. AdaBoost
bleibt festzuhalten, dass durch die Verwendung ei- hingegen erreicht nur eine ähnlich gute Performanz.
nes RBF-Kerns die Ergebnisse zumeist verbessert
werden können.
Im anschließenden Schritt wird ein so genann- 23.3.2 Merkmalspunkt-
ter „Bootstrapping“-Schritt durchgeführt. Dieser und körperteilbasierte Ansätze
trainiert zunächst ein Initialmodell und testet da-
mit alle Negativbilder, um zusätzliche, schwierig zu Merkmalspunkt-basierte Ansätze eignen sich be-
klassifizierende Negativbeispiele zu finden. Diese sonders für größere Fußgänger. In den hier disku-
werden dann den ursprünglichen Trainingsbeispie- tierten Ansätzen beträgt eine typische Größe z. B.
len hinzugefügt und die Anzahl damit vervielfacht. 100 Pixel und mehr. Im Gegensatz zu Sliding-Win-
Außerdem zeigt die Analyse der Einzeldetektoren, dow-basierten Detektoren findet die Modellierung
dass diese unterschiedlichen Instanzen detektieren der Fußgänger lokal anstatt global statt, weshalb
und somit eine Kombination unterschiedlicher diese Gruppe von Ansätzen wesentlich robuster
Merkmale vielversprechend ist. Die Ergebnisse gegenüber Verdeckung und Artikulation ist. Ei-
hierzu finden sich in . Abb. 23.9. Als Vergleichs- nige der Ansätze erlauben außerdem die Schät-
maßstab dient die Kombination von HOG-Merk- zung der Körperpose [11, 12, 13], sodass gleich-
malen mit einer linearen SVM (HOG-linSVM). zeitig die Bewegungsrichtung des Fußgängers
Es zeigt sich, dass eine Kombination von HOG- mitgeschätzt werden kann. In diesem Abschnitt
und Haar-Merkmalen eine bessere Gesamtleistung soll auf den besonders erfolgreichen Implicit Shape
erzielen kann als HOG-linSVM. Allerdings ist die Model (ISM)-Ansatz von Leibe und Schiele [24]
Performanz von der Wahl des Klassifikators ab- und dessen Erweiterungen [10, 11, 13, 14] einge-
hängig. In Kombination mit AdaBoost wird mit gangen werden.
428 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31 .. Abb. 23.10 Lernverfahren zum Erstellen des visuellen Wörterbuchs
32 Das visuelle Wörterbuch stellt für diese Gruppe große Datenmengen gut geeignet ist. Als nächstes
von Ansätzen den zentralen Bestandteil dar. Es ent- werden die visuellen Wörter zurück in die Trai-
hält eine Ansammlung von Objektbestandteilen, die ningsbilder projiziert und deren räumliche Ver-
33 aus einer Trainingsmenge von Bildern extrahiert wer- teilung relativ zum Objektzentrum in einer nicht
den. Dafür wird zunächst ein Merkmalspunktdetek- parametrischen Form gelernt. Besonders wichtig
34 tor benutzt, um markante Bildpunkte zu bestimmen. ist hierbei, dass es sich um ein sternförmiges Mo-
Prinzipiell kommen dafür Harris-Laplace, dell handelt, sodass die Abhängigkeiten für jeden
35 Hessian-Laplace [25], DOG-Detektor [7] oder eine
beliebige Kombination dieser infrage. Der Detektor
Wörterbucheintrag individuell gelernt werden und
keine Modellierung der Abhängigkeiten zwischen
liefert einerseits die x-y-Position im Bild, aber auch Wörterbucheinträgen stattfindet. Der Verzicht auf
36 eine generische Skala, d. h. Größe des Merkmals. die Modellierung gegenseitiger Abhängigkeiten zwi-
Im nächsten Schritt wird die Größe der Merk- schen Wörterbucheinträgen erlaubt außerdem die
37 male normalisiert und anschließend mittels eines Verwendungen einer sehr kleinen Trainingsmenge
Deskriptors beschrieben. Auch für die Wahl des (210 Instanzen). . Abbildung 23.10 gibt einen Ge-
Deskriptors existieren mehrere Möglichkeiten [9, samtüberblick über das vorgestellte Lernverfahren.
38 14]. Die meistbenutzten sind SIFT [7], Shape Con- Im Folgenden wird die Erkennung von Fußgän-
text [23] oder einfach die Grauwertpixelwerte. Die gern mithilfe des erlernten visuellen Wörterbuchs
39 Deskriptoren werden anschließend zu visuellen beschrieben. . Abbildung 23.11 gibt einen Gesamt-
Wörterbucheinträgen geclustert. Dafür kommt ein überblick zur ISM-Detektionsprozedur.
40 agglomeratives Reciprocal nearest neighbor pairs
(RNN)-Clusteringverfahren zum Einsatz, das für
Auch hier werden zunächst, wie bereits für die
Lernprozedur beschrieben, Merkmalspunkte ext-
23.3 • Beschreibung des Funktionsprinzips
429 23
.. Abb. 23.11 Überblick über die ISM-
Detektionsprozedur
rahiert und mittels Deskriptoren näher charakteri- Für das oben beschriebene allgemeine Detekti-
siert. Anschließend werden diese mit den Einträgen onsverfahren gibt es mehrere, speziell auf Fußgän-
das visuellen Wörterbuchs verglichen und in einen ger zugeschnittene Erweiterungen. In [10] kombi-
probabilistischen Abstimmungsraum eingetragen. nieren Leibe et al. das lokale Detektionsverfahren
Dabei stellen die lokalen Maxima dieses Raums de- mit einem globalen Verifikationsschritt. Bei diesem
tektierte Objektpositionen dar. Um diese effizient wird die abschließend erhaltene Segmentierung
zu bestimmen, wird eine skalen-adaptive Mean- der Hypothesen mit den bekannten Silhouetten
Shiftsuche durchgeführt. der Trainingsmenge mittels Chamfermatching
Schließlich können nun diejenigen Merkmal- verglichen. Durch die Kombination von globalen
spunkte ins Bild zurückprojiziert werden, die die umrissbasierten Silhouettenmerkmalen und der
gefundenen Maxima stützen. Daraus ergibt sich durch lokale Merkmale gestützten ISM-Detektion
neben der Objektposition und -größe auch eine kann eine insgesamt verbesserte Performanz er-
grobe Segmentierung der Fußgänger. Basierend auf reicht werden.
der bekannten Vordergrund/Hintergrundsegmen- In [11] erweitern Seemann et al. den probabilis-
tierung der Trainingsdaten lässt sich pro Pixel nun tischen Abstimmraum um eine zusätzliche diskrete
die Wahrscheinlichkeit bestimmen, dass dieser zum Dimension, die die Artikulation des detektierten
Vordergrund gehört. Dazu werden mit jedem Ein- Fußgängers beschreibt. Dazu wird für jeden Ein-
trag des visuellen Wörterbuchs Segmentierungen trag des visuellen Wörterbuchs zusätzlich vermerkt,
gespeichert, die dann entsprechend ihrem Beitrag mit welcher Artikulation dieser auftreten kann.
zur Detektionshypothese berücksichtigt werden. Dadurch kann im Detektionsschritt das artikulati-
Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für Vordergrund onskonsistente Auftreten von lokalen Merkmalen
gegen Hintergrund entscheidet schließlich über die sichergestellt werden. Merkmale am Kopf sind z. B.
Objektsegmentierung. konsistent mit fast allen Artikulationen, Merkmale
Insbesondere bei Verdeckung und dem Auf- am Fuß nur für ganz spezifische Artikulationen,
treten mehrerer eng beieinander liegenden Hypo- sodass eine weiche Zuweisung von Vorteil ist. Dies
thesen kommt es zu inkonsistenten Beiträgen im wird durch die experimentelle Validierung belegt.
Verlauf des probabilistischen Abstimmverfahrens. Dieser Ansatz übertrifft die Ergebnisse, die mit der
Insbesondere kann dies dazu führen, dass Teile ei- globalen Chamferverifikationsstrategie erzielt wer-
nes Fußgängers Hypothesen stützen, die zu einem den.
anderen Fußgänger gehören, oder dass falsche Hy- In [12] schlagen Seemann und Schiele vor, den
pothesen zwischen eng aneinander liegenden De- Beitrag der lokalen Merkmalspunkte in Abhän-
tektionen entstehen. Es hat sich allerdings gezeigt, gigkeit des lokalen Kontexts zu modellieren. Dazu
dass diese Mehrdeutigkeiten sehr effizient mithilfe wird für jeden Eintrag im visuellen Wörterbuch
der inferierten Segmentierung in einer MDL (Maxi- gespeichert, an welcher Stelle er auf der Silhouette
mum Description Length)-Formulierung aufgelöst der Trainingsinstanz auftritt. Zum Detektionszeit-
werden können. punkt wird dann überprüft, ob innerhalb eines
430 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion
21
22
23
24
25
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27
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29
30
31
32
33 .. Abb. 23.12 Menschlicher Bewegungsablauf im Gaussian Process Latent Variable-Modell
benutzerdefinierten Radius der Kontext, der durch der hohen Korrelation der verschiedenen Posen-
34 andere Wörterbucheinträge beschrieben wird, über- parameter möglich. In dieser Darstellung ist es
einstimmt. Für den Spezialfall, dass der Radius un- sehr gut möglich, ein dynamisches Modell für den
35 endlich gesetzt wird, ist dieser Ansatz mit dem ori-
ginären ISM-Ansatz identisch. Verglichen mit den
menschlichen Bewegungsablauf zu erlernen (siehe
. Abb. 23.12).
beiden vorherigen Ansätzen erreicht dieser Ansatz Dieses wird für das dynamische Modell in ei-
36 eine weiter verbesserte Performanz. nem Tracking-Framework ausgenutzt, das keine
Eine Weiterentwicklung von ISM für dynami- Markov-Annahme macht. Zusätzlich wird ein ins-
37 sche Bildsequenzen wird von Andriluka et al. in tanzenspezifisches Farbmodell erlernt, um Fußgän-
[13] vorgeschlagen. Für diesen Ansatz wird auf ger trotz vollständiger, längerer Verdeckung wieder
die globale Modellierung von Fußgängern als ein zu identifizieren. Selbst ohne zeitliche Integration
38 Objekt verzichtet. Stattdessen werden einzelne ist dieses körperteilbasierte Modell ISM überlegen;
Köperteile wie Füße, Arme, Oberkörper und Kopf unter Hinzunahme der zeitlichen Entwicklung ist
39 einzeln detektiert. Daraus lässt sich die Pose re- eine weitere Steigerung der Erkennungsgenauigkeit
konstruieren, die mithilfe einer nicht-linearen Ab- möglich (siehe Vergleich in . Abb. 23.13). . Abbil-
40 bildung in einen niederdimensionalen 2D-Raum
[26] abgebildet wird. Diese Abbildung ist aufgrund
dung 23.14 zeigt einige Beispieldetektionen für die-
sen Ansatz.
23.3 • Beschreibung des Funktionsprinzips
431 23
.. Abb. 23.13 Performanzvergleich auf Vide-
osequenzdaten der ISM-Varianten [12, 13] und
HOG [2]
--
Es setzt sich aus den Einzelkomponenten
stereobasierte Aufmerksamkeitssteuerung,
ren, wird nur an Bildpositionen detektiert, an de-
nen ein Fußgänger durchschnittlicher Größe in die
-- umrissbasierte Detektion,
texturbasierte Fußgängerklassifikation,
Szenengeometrie passt. Dabei wird angenommen,
dass sowohl Kamera als auch der zu detektierende
- stereobasierte Fußgängerverifikation,
Tracking
zusammen (vgl. . Abb. 23.15).
Um den Verarbeitungsaufwand für weitere
Fußgänger auf der gleichen Ebene stehen.
Anschließend werden die Initialhypothesen
mittels eines Texturverfahrens verifiziert. Die Tex-
tur wird dabei mittels künstlicher neuronaler Netze
Schritte gering zu halten, werden die Stereobilder modelliert [29]; als Klassifikator kommt eine SVM
zunächst rektifiziert und ein dünn besetztes Dispa- zum Einsatz. Dabei werden im Vergleich zu her-
ritätsbild berechnet [27]. Im nächsten Schritt wer- kömmlichen Feed-Forward-Netzen Gewichte in
432 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion
21
22
23 .. Abb. 23.15 Verarbeitungsschritte für das PROTECTOR-System
Literatur [14] Seemann, E., Leibe, B., Mikolajczyk, K., Schiele, B.: An
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437 V
Datenfusion und
Umfeldpräsentation
Kapitel 24 Fusion umfelderfassender Sensoren – 439
Michael Darms
Kapitel 28 Car-2-X – 525
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf
Fusion umfelderfassender
Sensoren
Michael Darms
Es existieren Fahrerassistenzsysteme, die ausschließ- Auf diese Weise ist es möglich, Fehlinterpretationen
21 lich auf Einzelsensorlösungen aufbauen. Als Beispiel zu reduzieren und die Genauigkeit bezüglich der la-
lassen sich die Anwendungen Adaptive Cruise Con- teralen Ablage zu erhöhen. Zudem kann eine robus-
22 trol, die z. B. mit einem Radar- oder einem Lasersen- tere Fahrstreifenzuordnung und damit Bestimmung
sor arbeitet, und Lane Departure Warning nennen, des relevanten Objekts mithilfe der Daten des Vide-
welche zumeist auf Videosensorik basiert. osensors vorgenommen werden.
23 Wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, Die Leistungsfähigkeit derartiger Datenfusions-
haben die jeweiligen Sensortechnologien spezifi- ansätze bestätigen verschiedene Forschungsarbeiten
24 sche Vor- und Nachteile: So lässt sich mit einem (siehe z. B. [1, 2, 3, 4, 5]), in Serienfahrzeugen wird
Radarsensor der longitudinale Abstand und die die Fusion von Umfeldsensordaten eingesetzt (siehe
Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahr- z. B. [6]). Dies trifft sowohl auf das hier aufgeführte
25 zeugs für die Anwendung Adaptive Cruise Control Beispiel von Radar- und Kamerasensor zu, als auch
mit ausreichender Genauigkeit bestimmen (siehe auf weitere Kombinationen, wie z. B. von Nah- und
26 ▶ Kap. 17). Die Auswahl des relevanten Objekts Fernbereichsradar. Die Idee der Fusion lässt sich da-
zum Abstandhalten lässt sich allerdings aufgrund bei auch auf weitere Sensortechnologien erweitern.
27 der lateralen Auflösung, Mehrdeutigkeiten in der Gegenstand der Forschung und Entwicklung sind
Signalsauswertung und einer fehlenden Fahrbahn- z. B. die Fusion von verschiedenen bildgebenden
markierungserkennung nur so präzise durchführen, Sensoren sowie die Fusion der Daten von Umfeld-
28 dass Nebenspurstörungen beim Betrieb des Systems sensoren mit gespeicherten Kartendaten.
in Kauf genommen werden müssen. Zudem ist eine Der folgende Text führt in die Grundlagen der
29 Klassifikation des detektierten Objekts nur einge- Sensordatenfusion für Fahrerassistenzsysteme ein.
schränkt möglich, sodass üblicherweise in die Re- Zunächst wird der Begriff der Sensordatenfusion
30 gelung nur Objekte einbezogen werden, bei welchen
eine Bewegung erkannt wurde.
definiert, und es werden die Ziele der Fusion dar-
gelegt. Danach werden die Hauptkomponenten der
Die fehlende Information kann beispielsweise Umfelddatenverarbeitung mit Blick auf eine Fusion
31 durch die Daten eines Videosensors bereitgestellt der Daten mehrerer Sensoren erläutert. Schließlich
werden (siehe ▶ Kap. 21). Über die Fahrbahnmar- werden etablierte Architekturmuster zur Sensorda-
32 kierungserkennung sind Informationen vorhan- tenfusion vorgestellt. Teile des Texts dieses Kapitels
den, die zur Fahrstreifenzuordnung hinzugezogen orientieren sich dabei an den Ausführungen in [1].
werden können. Über Klassifikationsalgorithmen
33 lassen sich Fahrzeuge im Videobild von übrigen
Objekten unterscheiden, mithilfe von Bildverarbei- 24.1 Definition Sensordatenfusion
34 tungstechniken kann die Position von Fahrzeugen
im Videobild bestimmt werden. Im Gegensatz zur Nach Steinberg et al. wird der Prozess der Datenfu-
35 Radarsensorik lässt sich die Entfernung und Ge-
schwindigkeit nicht messen und muss daher ge-
sion wie folgt definiert:
“Data fusion is the process of combining data or
schätzt werden. Die erreichbare Genauigkeit ist mit information to estimate or predict entity states.” [7]
36 aktueller Sensorik dabei insbesondere im Fernbe- Es wird der allgemeine Begriff der Entität ver-
reich signifikant geringer. Die Funktion eines rein wendet, der ein abstraktes Objekt beschreibt, dem
37 auf Videosensorik basierenden Adaptive Cruise Informationen zugeordnet werden können. Im Be-
Control Systems ist daher im Vergleich auf einen reich der Fahrerassistenzsysteme kann sich dies z. B.
kleineren Geschwindigkeitsbereich eingeschränkt. auf einen realen, im Fahrzeugumfeld befindlichen
38 Durch die Kombination der Informationen Gegenstand wie beispielsweise ein beobachtetes
beider Sensoren können die Vorteile beider Tech- Fahrzeug beziehen oder auch auf eine einzelne Zu-
39 nologien zusammengeführt werden. So kann z. B. standsvariable wie z. B. den Nickwinkel.
die Entfernungsmessung des Radarsensors mit der Der folgende Text bezieht sich hauptsächlich
40 Klassifikationsinformation und der Messung der
Fahrzeugposition im Videobild kombiniert werden.
auf den ersten Fall, sodass direkt der Begriff Ob-
jekt verwendet wird. Der Fokus liegt auf der Track-
24.1 • Definition Sensordatenfusion
441 24
Schätzung, häufig auch als Tracking bezeichnet, gleicher Sensoren mit unterschiedlichen Sichtberei-
sowie der Objekt-Diskriminierung (siehe auch [8]). chen handeln kann. Ein besonderes Augenmerk ist
Unter Track-Schätzung wird dabei die Schätzung hierbei in der Datenverarbeitung auf die Randberei-
der Zustände eines Objekts im regelungstechnischen che des Erfassungsbereichs zu legen (siehe z. B. [3]).
Sinn verstanden (z. B. Position, Geschwindigkeit). Zum anderen kann es sich um Daten handeln,
Die Objekt-Diskriminierung wird wiederum in De- die sich auf das gleiche Objekt beziehen. Hierbei
tektion und Klassifizierung unterschieden [8]. Im kann der Informationsgehalt erhöht werden, indem
Rahmen der Detektion wird entschieden, ob ein Ob- unterschiedliche Eigenschaften detektiert werden.
jekt vorhanden ist, bei der Klassifizierung wird ein Es ist möglich, dass erst die Kombination der Ein-
Objekt einer vordefinierten Klasse zugeordnet (z. B. zelinformationen die gesuchte Information für eine
Fahrzeug, Person). Die vorgestellten Überlegungen Anwendung liefert.
lassen sich aber auch auf abstrakte Objekte verallge- Der Einsatz unterschiedlicher Sensortechnolo-
meinern (siehe hierzu auch die Diskussion in [9]). gien kann zudem die Robustheit des Gesamtsystems
hinsichtlich der Detektion einzelner Objekte, die mit
einer einzelnen Sensortechnologie ggf. nicht zuver-
24.1.1 Ziele der Datenfusion lässig detektiert werden können, erhöhen. Beispiels-
weise durchdringt die Strahlung eines Lasersensors
Oberstes Ziel der Datenfusion ist es, Daten von Glas oder die Strahlung eines Radarsensors verschie-
Einzelsensoren so zusammen zu führen, dass Stär- dene Materialien aus Plastik, ohne dass der jeweilige
ken gewinnbringend kombiniert und/oder einzelne Gegenstand detektiert wird. Durch die Kombination
Schwächen reduziert werden. Die folgenden Aspekte der Sensoren wird die Wahrscheinlichkeit reduziert,
lassen sich dabei unterscheiden (siehe auch [10, 11]): den Gegenstand gar nicht zu detektieren.
generelle Gültigkeit dieser Aussage ist allerdings aus dem Umfeld des Fahrzeugs über Sensoren erfasst
21 nicht möglich, da z. B. auch durch die Entwicklung (siehe . Abb. 24.1). Im ersten Schritt, welcher als Mes-
neuer Algorithmen zur Auswertung der Daten eines sen bezeichnet wird, werden im Empfangselement des
22 Einzelsensors oder durch eine Weiterentwicklung Sensors (Signalaufnahme) Nutzsignale (Energie) über-
der Hardware Verbesserungen erzielt werden kön- lagert durch Störsignale (Rauschen) empfangen und
nen. Die Entscheidung für die Entwicklung eines in Rohsignale (z. B. Spannungen, Ströme) gewandelt.
23 Einzel- oder Mehrsensorsystems wird daher immer Die Rohsignale werden als physikalische Messgrößen
multidimensional sein und die bereits genannten interpretiert (z. B. Intensitäten, Frequenzen etc.), wel-
24 Aspekte mit einbeziehen. che schließlich die Rohdaten des Sensors bilden. Im
Maßgeblich beeinflusst werden die Kosten eines Rahmen der Signalverarbeitung werden dabei (phy-
Sensorfusionssystems durch den Aufbau der Archi- sikalische) Annahmen für die Interpretation getroffen
25 tektur des Systems (siehe z. B. [13, 14]). Bisher ist (z. B. maximaler Empfangspegel, Impulsformen etc.).
dabei keine einheitliche Architektur im Automobil- Werden diese verletzt, entstehen so genannte Arte-
26 bereich festgelegt, die einen verbindlichen Standard fakte, welche eine systembedingte Schwäche darstellen.
oder einen De-facto-Standard darstellt. Dies er- Im zweiten Schritt, der als Wahrnehmen be-
27 schwert die unternehmensübergreifende Zusammen- zeichnet wird, werden aus den Rohdaten auf Ba-
arbeit zwischen Zulieferern und Fahrzeugherstellern, sis von Annahmen bzw. Heuristiken Merkmale
die gezielte Entwicklung von auf eine gemeinsame extrahiert (z. B. Kanten, Extremwerte), aus denen
28 Architektur angepassten Sensoren und Algorithmen Merkmalshypothesen zu einer Objekthypothese,
sowie die Migration zu neuen Assistenzfunktionen einem angenommenem Objekt, abgeleitet werden.
29 und Sensorengenerationen (siehe auch [13]). Aufgrund der Anwendung von Heuristiken kann es
Für die praktische Umsetzbarkeit ist die Mo- hier zu einer Fehlinterpretation kommen.
30 dularität und kostengünstige Erweiterbarkeit des
Systems von Bedeutung. Hiermit soll eine Migra-
Wird die Information mehrerer Sensoren in den
Schätzprozess eingebracht, ist es notwendig, eine ge-
tion zu neuen Assistenzfunktionen kostengünstig meinsame Referenz für die Information zu finden.
31 realisierbar sein und die vor allem aus Sicht der Die Aufgabe wird insbesondere dann erschwert,
Fahrzeughersteller wichtige Möglichkeit gegeben wenn die Informationen nicht orthogonal bzw. un-
32 werden, von verschiedenen Zulieferern Sensoren abhängig voneinander sind.
bzw. Softwaremodule beziehen zu können. Ein Grundproblem ist dabei, die Daten in ein
Koordinatensystem mit einem gemeinsamen Be-
33 zugspunkt zu überführen. Bei einem Einzelsensor
24.2 Hauptkomponenten können sich z. B. Fehler in der Justage nur als ver-
34 der Sensordatenverarbeitung nachlässigbarer Offset auswirken, bei einem Mehr-
sensorsystem kann eine Fehljustage dazu führen,
35 Im Folgenden werden die Hauptkomponenten der
Sensordatenverarbeitung zusammengefasst. Die
dass die Daten verschiedener Sensoren einander
nicht zugeordnet werden können oder systemati-
Aufteilung in Komponenten ist allgemein und gilt sche Fehler bzw. Abweichungen auftreten. Die Qua-
36 zunächst auch für ein Einzelsensorsystem. Die Be- lität der Schätzung kann dadurch abnehmen (siehe
sonderheiten, die bei der Entwicklung eines Mehr- unten). Geeignete Justageprozesse und (Online-)
37 sensorsystems zu beachten sind, werden an den Algorithmen sind daher ein zentrales Entwicklungs-
entsprechenden Stellen herausgestellt. thema eines Multisensorsystems.
Hinzu kommt, dass mit verschiedenen Senso-
38 ren unterschiedliche Attribute vermessen werden
24.2.1 Signalverarbeitung können, ohne dass dies gewollt sein muss. Dies
39 und Merkmalsextraktion tritt insbesondere bei nicht orthogonalen Sensoren
auf. Wird beispielsweise die Entfernung zu einem
40 Im Rahmen der Signalverarbeitung und Merkmals-
extraktion (siehe auch [15]) werden Informationen
Fahrzeug mit einem Laser- und einem Radarsensor
vermessen, kann es sein, dass unterschiedliche Teile
24.2 • Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung
443 24
.. Abb. 24.1 Messen
und Wahrnehmen
[Quelle: [1], S. 9]
erfasst werden: Der Lasersensor erfasst die rücksei- während der Datenassoziation den bereits im Sys-
tigen Reflektoren eines Lkw, der Radarsensor die tem bekannten Objekthypothesen zugeordnet (siehe
Hinterachse. Auch bei identischen Sensoren kann z. B. [12]). Die Qualität der Schätzung wird dabei
dieser Effekt beobachtet werden. Dies resultiert un- durch den Prozess der Datenassoziation maßgeb-
ter anderem daraus, dass ein Objekt aus unterschied- lich beeinflusst. (siehe [12, 2, 3]). Wird eine falsche
lichen Blickwinkeln detektiert wird. Hinzu kommen Zuordnung getroffen, tritt ein Informationsverlust
sensorspezifische Artefakte bei der Messung, die sich ein, oder es werden fehlerhafte Informationen in
auch bei identischen Sensoren auswirken können. den Schätzprozess eingebracht (siehe z. B. [3]).
Auch in der Wahrnehmung sind bei einem
Multisensorsystem Besonderheiten zu beachten. Hall und Llinas teilen den Prozess der Datenasso-
So entsprechen z. B. idealerweise die extrahierten ziation in die folgenden drei Schritte ein (siehe [18]
Merkmalshypothesen verschiedener Sensoren dem- und . Abb. 24.2; spezielle Algorithmen mit Anwen-
selben, realen Objekt. Aufgrund von unterschied- dung in der Fahrzeugtechnik findet man z. B. in [2,
lichen Auflösungen der Sensoren und Fehlinter- 4, 16]):
pretationen beispielsweise bei der Segmentierung 1) Generierung von Zuordnungshypothesen.
der Daten (siehe hierzu z. B. [16, 2]) kann schon die Prinzipiell mögliche Zuordnungen von Merk-
Objekthypothese bei verschiedenen Sensoren un- malshypothesen zu Objekthypothesen werden
terschiedlich ausfallen. Bei einem System mit nicht gefunden. Ergebnis sind eine bzw. mehrere Ma-
synchronisierten Sensoren stammen die extrahier- trizen mit prinzipiell möglichen Zuordnungen
ten Merkmale zudem von unterschiedlichen Zeit- (Zuordnungsmatrizen).
punkten. Um die Daten der verschiedenen Sensoren 2) Evaluierung der Zuordnungshypothesen. Die
kombinieren zu können, sind daher zumindest eine gefundenen Zuordnungshypothesen werden
gemeinsame Zeitbasis und ausreichend genaue Zeit- mit dem Ziel einer quantitativen Bewertung
stempel notwendig (siehe auch [17]). bzw. einer Rangfolge evaluiert. Ergebnis sind
Die Aspekte der zeitlichen und räumlichen Zu- quantitative Werte (z. B. Kosten) in der Zuord-
ordnung der Daten verschiedener Sensoren wird in nungsmatrix bzw. den -matrizen.
der Literatur auch unter dem Punkt „Registrierung 3) Auswahl der Zuordnungshypothesen. Aus den
von Sensoren“ zusammengefasst (siehe z. B. [13]). bewerteten Zuordnungsmöglichkeiten wird eine
Auswahl getroffen, auf der die weitere Datenver-
arbeitung und damit insbesondere die Datenfil-
24.2.2 Datenassoziation terung aufbaut.
Die in der Signalverarbeitung und Merkmalsex- Die drei Verarbeitungsschritte müssen nicht ge-
traktion gewonnenen Merkmalshypothesen werden trennt implementiert werden, vielmehr können sie
444 Kapitel 24 • Fusion umfelderfassender Sensoren
21
22
23
24
25
26
.. Abb. 24.2 Aufteilung des Prozesses Datenassoziation [Quelle: [1], S. 45]
27
voneinander abhängen. Allerdings wird empfohlen, kannt sein, allerdings gestaltet sich die Auswahl der
die Schritte im Entwicklungsprozess voneinander korrekten Zuordnungen hiermit schwieriger.
28 zu entkoppeln (siehe [15]). Bei der Gestaltung der Zur Auswahl der prinzipiell möglichen Hypo-
Algorithmen spielt die Qualität und Leistungsfähig- thesen sind z. B. die folgenden Methoden anwend-
29 keit der zur Verfügung stehenden Ressourcen (wie bar (siehe z. B. [15]):
z. B. Rechenkapazität, Auflösung und verwendbare Mustererkennungsalgorithmen. Unter Ver-
30 Rohdaten des speziellen Sensors, Artefakte und
mögliche Fehlinterpretationen) eine Rolle. Je nach
wendung der Rohsignale und Rohdaten lassen sich
Zuordnungen ausschließen (z. B. über Korrelations-
Randbedingungen sind verschiedene Lösungen techniken).
31 möglich (siehe [13]). Gating-Techniken. Beispielsweise über physika-
Die Hypothesengenerierung selbst lässt sich in lische Modelle kann ein Bereich, in dem sich Ob-
32 zwei Teilschritte untergliedern: Aufstellung der Zu- jekthypothesen bzw. davon abgeleitete Merkmals-
ordnungshypothesen und Auswahl der prinzipiell hypothesen zum aktuellen Messzeitpunkt mit einer
möglichen Hypothesen. Zur Aufstellung der Zuord- bestimmten Wahrscheinlichkeit befinden, berech-
33 nungshypothesen können verschiedene Methoden net werden (Prädiktion). Aus dem aktuellen Mess-
herangezogen werden. Dies sind z. B. (siehe [15]): zyklus stammende Merkmalshypothesen, die außer-
34 Physikalische Modelle. Sichtbereiche und Ver- halb eines solchen Bereichs liegen, werden nicht zur
deckungen des verwendeten Sensors können be- entsprechenden Objekthypothese assoziiert.
35 rechnet werden. Objekthypothesen, die signifikant
außerhalb des Sichtbereichs liegen, werden nicht in
Zur Hypothesenevaluierung können u.
probabilistische Modelle basierend auf der Bayes-
a.
die Hypothesengenerierung mit einbezogen. Theorie, possibilistische Modelle basierend auf der
36 Szenenwissen. Das Verhalten und der poten- Dampster-Shafer-Theorie, neuronale Netze oder
zielle Aufenthaltsort von Objekten auf Basis des auch Ad-hoc-Techniken, wie z. B. eine ungewichtete
37 Wissens über die beobachtete Szene kann genutzt Abstandsberechnung zwischen einer Prädiktion der
werden, wie z. B. Bereiche zum Auffinden von Stra- Merkmale und den Merkmalen selbst, herangezo-
ßenmarkierungen oder Verkehrsschildern. gen werden (siehe z. B. [15]).
38 Probabilistische Modelle. Die erwartete Anzahl Zur Hypothesenauswahl existiert schließlich
an Fehldetektionen kann in den Prozess mit einbe- eine Vielzahl mathematischer Algorithmen (siehe
39 zogen werden. [15]). Mit zunehmender Dimension und insbeson-
Ad-hoc-Methoden. Ein Beispiel hierfür ist das dere dann, wenn Daten aus mehreren Zyklen in die
40 Aufstellen aller möglichen Zuordnungsmöglich-
keiten. Hierzu braucht kein weiteres Vorwissen be-
Auswahl mit einbezogen werden, ist die Lösung be-
sonders rechenaufwendig.
24.2 • Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung
445 24
Von der Komplexität beherrschbar sind Ein- mit dem Wissen über die Entstehung der Daten
fach-Hypothesen-Ansätze, die bei der Hypothesen und damit der Hardware des eingesetzten Sensors
auswahl nur die Daten des aktuellen Zyklus be- zusammen. In einem modularen Aufbau kann es
rücksichtigen. Stüker gibt einen Überblick über daher sinnvoll sein, die Assoziationsalgorithmen in
verschiedene Zuordnungsverfahren (siehe [3]). Eine sensorspezifischen Modulen zu kapseln (siehe z. B.
häufig vorzufindende Problemstellung ist dabei die [1]).
Zuordnung von n Objekthypothesen zu m Merk-
malshypothesen mit m ≥ n, wobei einer Objekthy-
pothese genau eine Merkmalshypothese zugeordnet 24.2.3 Datenfilterung
wird.
Hierzu existieren exakte Verfahren, die die Die extrahierten und einer Objekthypothese zuge-
Summe der Kosten in der Zuordnungsmatrix mini- ordneten Merkmalshypothesen werden in einem
mieren. Ein Beispiel ist der Munkres-Algorithmus, Filter- bzw. Schätzalgorithmus weiterverarbeitet.
der einen Aufwand von O(n2 m) hat (siehe [4]). Da- Dieser wird eingesetzt, um die Informationen zu
neben existieren weniger aufwendige Algorithmen, verbessern oder auch neue Informationen zu ge-
die nur eine Näherungslösung liefern. Ein Beispiel
ist das iterative Nächster-Nachbar-Verfahren, das
sukzessive die Zuordnungen mit den geringsten
Kosten bzw. der höchsten Wahrscheinlichkeit wählt
--
winnen (siehe [20, 21]). Beispiele sind:
Trennung von Signal und Störung;
Rekonstruktion von Zustandsgrößen, die nicht
direkt gemessen werden können.
und einen Aufwand von O(m2 log2 m) hat (siehe
[4]). Je nach Sensortechnologie finden verschiedene Einen Überblick zu Filteralgorithmen für die Sens-
Algorithmen Anwendung (siehe [1]). ordatenfusion geben z. B. [12, 2, 8] (siehe ▶ Kap.
Wie die Ausführungen zeigen, kann die Daten- 25). Die Gestaltung und Anpassung der Parame-
assoziation durch sensorspezifische Algorithmen ter des Filters findet dabei nach für den jeweiligen
optimiert werden. Ohne einen Zugriff auf die Roh- Anwendungsfall festzulegenden Optimierungskri-
daten und eine Berücksichtigung der sensorspezifi- terien statt (siehe [21]). Ist der Filter Teil eines Re-
schen Gegebenheiten kann die Güte der Datenasso- gelkreises, beeinflusst er das dynamische Verhalten
ziation abnehmen (siehe auch [1]). des Gesamtsystems (siehe z. B. [22, 23]). Die Pa-
Die Datenassoziation hängt zudem mit der rameter des Filters müssen in diesem Fall an die
Merkmalsextraktion und Objekthypothesenbildung Anforderungen des Regelkreises angepasst werden
zusammen. Auch hierbei existieren verschiedene (z. B. ACC-Folgeregler). Hierbei muss ein Kompro-
sensorspezifische Möglichkeiten, die einzelnen Pro- miss zwischen der Dynamik des Filters und dem
zesse zu optimieren bzw. aufeinander abzustimmen, erzielbaren Schätzfehler eingegangen werden (siehe
um schließlich zu einer im Sinne der vorhandenen [22]). Wird als Regler ein Zustandsregler eingesetzt,
Ressourcen bestmöglichen Zuordnung von Merk- sichert das Separationstheorem ([22, 23]) zumin-
malshypothesen zu Objekthypothesen zu gelangen. dest die Stabilität des Gesamtsystems, insofern der
Hierbei ist es möglich, Artefakte wie z. B. Doppel- Schätzer stabil ist. Regler und Beobachter können
messungen im Rahmen der Datenassoziation zu dann getrennt voneinander entworfen werden
erkennen und aus dem Fusionsprozess herauszu- (siehe [22, 23]), was Vorteile in der Architektur
halten (siehe z. B. [19]). mit sich bringt.
Wissen über die Entstehung der Daten, wie z. B. Um Kosten zu sparen, können die Daten eines
mögliche Artefakte und typische Fehlinterpretatio- Multisensorsystems verschiedenen Anwendungen
nen, kann damit zur Optimierung der Algorithmen zur Verfügung gestellt werden (siehe z. B. [1, 9]).
eingesetzt werden. Daneben können auch spezielle Hierbei ist darauf zu achten, dass in Abhängigkeit
Ausprägungen einer Sensortechnologie, wie bei- der Sensorgenauigkeit Bereiche existieren können, in
spielsweise das Auflösungsvermögen, beim Entwurf denen verschiedene Anwendungen nicht mit einem
der Algorithmen berücksichtigt werden. Das Design gemeinsamen Filteralgorithmus betrieben werden
der Algorithmen zur Datenassoziation hängt daher können bzw. bei einem gemeinsamen Betrieb der An-
446 Kapitel 24 • Fusion umfelderfassender Sensoren
.. Abb. 24.4a,b Zentrale Architektur a Fusion auf Rohdatenebene, b Fusion auf Merkmalsebene [Quelle: [1], S. 17]
tems [26]. Sie basiert auf dem Grad der Datenver- Praxis selten gegeben sind. Sind zudem die Messzeit-
arbeitung in den Sensoren, den Ergebnissen der punkte der Sensoren unterschiedlich, ergeben sich
Datenverarbeitung in den Sensoren sowie der Stelle wiederum nur näherungsweise optimale Lösungen
der Zusammenführung der Daten im Fusionspro- hinsichtlich der erreichbaren Genauigkeit [12].
zess [8] und wird meist in Zusammenhang mit der . Abb. 24.4 zeigt die zentrale Architektur. Diese
Track-Schätzung verwendet [18]. wird in der Literatur auch als central-level fusion,
. Abbildung 24.3 zeigt eine dezentrale Archi- centralized fusion oder pre-individual sensor proces-
tektur. Dieser Ansatz wird in der Literatur auch sing fusion bezeichnet [8]. Die Daten in den Sen-
als sensor-level fusion, autonomous fusion, distri- sorenmodulen werden nur minimal vorverarbeitet
buted fusion oder post-individual sensor processing (Merkmals- oder Rohdatenebene) und dann in ei-
fusion bezeichnet [8]. In den Sensormodulen wird nem zentralen Baustein zusammengeführt, ggf. mit
individuell die Objekt-Diskriminierung und Track- einer Rückführung zu den Sensormodulen [8].
Schätzung vollzogen. Die Ergebnisse werden in ei- Hinsichtlich der Objekt-Diskriminierung ist
nem zentralen Baustein zusammengeführt, ggf. mit diese Form der Architektur der dezentralen Archi-
einer Rückführung von Ergebnissen der zentralen tektur überlegen, wenn die Sensoren nicht orthogo-
Fusion zu den Sensoren [12]. In diesem Falle kann nal zueinander sind. Sind die Sensoren orthogonal
jeder dezentrale Baustein zusätzlich die Funktionen zueinander, unterscheiden sich die Ergebnisse nicht
des zentralen Bausteins übernehmen, sodass eine [8].
Redundanz erzielt wird [12]. Für die Track-Schätzung ist die zentrale Archi-
In Bezug auf die Objekt-Diskriminierung ist tektur optimal, ohne die einschränkenden Voraus-
diese Form der Architektur optimal, insofern die setzungen bei der dezentralen Architektur. Zudem
Sensoren hinsichtlich dieser Operation orthogo- lassen sich auch Messungen, die nicht vom gleichen
nal zueinander sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn Zeitpunkt herrühren, optimal zusammenführen
Sensorprinzipien auf Basis unterschiedlicher phy- [12].
sikalischer Effekte genutzt werden, die keine Feh- Die Hauptnachteile der zentralen Architektur
lerkennungen aufgrund der gleichen Phänomene sind zum einen Einschränkungen in der Flexibili-
auslösen [27]. Für die Zusammenführung werden tät, da bei Erweiterungen ggf. interne Algorithmen
dabei zwei Informationen benötigt, zum einen die des zentralen Bausteins geändert werden müssen,
Diskriminierungs‑Entscheidung, zum anderen ein zum anderen ein erhöhtes Datenvolumen, das auf
Maß für die Güte der Entscheidung [14]. den Schnittstellen zwischen Sensorbausteinen und
Auch für die Track-Schätzung kann die Ar- Fusionsbaustein anfällt [8].
chitektur optimal im Sinne der Minimierung der Bei der hybriden Architektur werden der zen-
Schätzfehler sein [12]. Dies allerdings nur unter re- trale und der dezentrale Ansatz kombiniert. Dem
lativ einschränkenden Voraussetzungen, die in der zentralen Fusionsbaustein können neben den mini-
448 Kapitel 24 • Fusion umfelderfassender Sensoren
mal vorverarbeiteten Daten (Rohdaten) auch bereits Sensorbausteinen und zentralem Baustein auf Kos-
21 in den Sensoren vorverarbeitete Daten (Tracks) zu- ten eines Informationsverlustes reduziert.
geführt werden. Diese können wiederum zusätzlich Die Fusion auf Entscheidungsebene entspricht
22 Eingang für einen dezentralen Fusionsbaustein im der dezentralen Architektur. Im Gegensatz zur Fu-
gleichen System sein. Die Ergebnisse dieses dezent- sion auf Merkmalsebene wird hier bereits in den
ralen Bausteins können in den Fusionsalgorithmus Sensormodulen die Objekt-Diskriminierung durch-
23 des zentralen Fusionsbausteins mit einfließen [8]. geführt, also eine Entscheidung getroffen. Die Er-
Bar-Shalom und Li geben als Beispiel für den gebnisse werden dann in einem zentralen Baustein
24 Einsatz einer hybriden Architektur ein Szenario an, zusammen mit den Informationen aus der Track-
das in verschiedene Erfassungsbereiche aufgeteilt Schätzung kombiniert [8]. Diese muss dabei nicht
ist, die jeweils von einer Multisensorplattform er- nach dem Prinzip einer dezentralen Architektur
25 fasst werden. Innerhalb einer Plattform kommt eine aufgebaut sein.
zentrale Architektur zum Einsatz, über die Bereiche . Tabelle 24.1 fasst die Architekturprinzipien
26 hinweg wird das Gesamtbild mittels einer dezentra- Dezentral – Zentral – Hybrid und Rohdatenebene
len Architektur ermittelt [12]. – Merkmalsebene – Entscheidungsebene und deren
27 Abhängigkeiten zusammen.
24.3.2 Rohdatenebene –
28 Merkmalsebene – 24.3.3 Synchronisiert –
Entscheidungsebene Unsynchronisiert
29
Die Einteilung in Fusion auf Rohdaten-, Merkmals- Vom dynamischen Zusammenwirken des Systems
30 und Entscheidungsebene bezieht sich auf die Auflö-
sung der in den Fusionsalgorithmus eingebrachten
her kann eine Unterscheidung in synchronisierte
und unsynchronisierte Sensoren getroffen werden.
Daten und den Grad der Vorverarbeitung der Sen Die Unterscheidung bezieht sich auf den zeitlichen
31 sordaten [8]. Sie bezieht sich also auf die Laufzeit- Ablauf, in dem die Daten in den Sensoren aufge-
sicht [25] und wird üblicherweise im Zusammen- zeichnet werden (siehe hierzu z. B. [12, 28, 29, 30]).
32 hang mit Algorithmen zur Objekt-Diskriminierung Bei synchronisierten Sensoren ist die Date-
verwendet [18]. nakquisition zeitlich aufeinander abgestimmt. Ein
Bei der Fusion auf Rohdatenebene werden mi- Spezialfall sind synchrone Sensoren, bei denen die
33 nimal vorverarbeitete und in der Auflösung der be- Datenaufnahme gleichzeitig stattfindet. Bei unsyn-
teiligten Sensoren vorliegende Daten (beispielsweise chronisierten Sensoren findet die Datenaufnahme
34 Pixel in der Bildverarbeitung) in einer zentralen Ar- in einem sensorindividuellen und nicht auf die üb-
chitektur fusioniert. Auf diese Weise können z. B. rigen Sensoren abgestimmten Takt, der nicht not-
35 Informationen aus verschiedenen Spektren (Infra-
rot, sichtbares Licht) vor einer anschließenden Bild-
wendigerweise konstant sein muss, statt.
Nachteil der Synchronisierung ist der zusätzli-
verarbeitung zusammengeführt werden [8]. Vorteil che Aufwand in Hard- und ggf. Software, Vorteil das
36 des Ansatzes ist die Verfügbarkeit der vollständigen bereits im Designprozess bekannte zeitliche Verhal-
Information aus den Sensoren, auf die der Fusions- ten des Systems (siehe auch [17]).
37 algorithmus abgestimmt werden kann. Hauptnach-
teile sind das hohe Datenaufkommen zwischen den
Sensoren und dem zentralen Baustein sowie die 24.3.4 Neue Daten –
38 erschwerte Änderbarkeit und Erweiterbarkeit der Datenkonstellation –
optimierten Algorithmen im zentralen Baustein. Externes Ereignis
39 Bei der Fusion auf Merkmalsebene werden zu-
nächst die Merkmale extrahiert und dann die Fu- Hinsichtlich des Ereignisses, das eintreten muss,
40 sion durchgeführt. In einer zentralen Architektur
wird so die Kommunikationsbandbreite zwischen
damit die Fusion der Daten durchgeführt wird,
kann unterschieden werden in: bei Vorliegen neuer
24.3 • Architekturmuster zur Sensordatenfusion von Umfeldsensoren
449 24
.. Tab. 24.1 Fusionsarchitekturen [Quelle: [1], S. 19, in Anlehnung an [15], S. 360–361; siehe auch [8], S. 73]
Hybrid Kombination von Zent- Kombination aller – Kombiniert die Eigenschaften der zentralen und
ral und Dezentral Ebenen möglich dezentralen Architektur.
– Im Vergleich höhere Komplexität der Architektur.
Daten, bei Vorliegen einer bestimmten Datenkon- ten vorgehalten werden. Zudem stehen die fusio-
stellation und aufgrund eines externen Ereignisses. nierten Daten nicht zum frühest möglichen Zeit-
Wird jeweils bei Vorliegen neuer Daten fusio- punkt zur Verfügung. Werden unsynchronisierte
niert, geht keine Information verloren. Je nachdem, Sensoren verwendet, muss entschieden werden, in
ob mit synchronisierten oder nicht synchronisierten welcher Form die Daten in den Fusionsprozess ein-
Sensoren gearbeitet wird, müssen im Fusionsprozess gebracht werden (siehe ▶ Abschn. 24.3.5).
Lösungen für die Verarbeitung der Daten gefunden Werden die Ergebnisse eines zentralen Fusions-
werden, die nicht in der zeitlichen Reihenfolge der bausteins nicht wieder zu den Sensoren zurückge-
Messungen am Fusionsbaustein eintreffen [31, 3]. In führt, so kann die Fusion zu beliebigen Zeitpunkten
einer dezentralen Struktur können die aktuellsten durch ein externes Ereignis ausgelöst werden. Dies
fusionierten Daten zu den Sensoren zurückgeführt ermöglicht die Anpassung der Datenrate an den
werden, sodass in den Bausteinen jeweils die aktu- weiterverarbeitenden Prozess und damit eine An-
ellste Schätzung, z. B. zur Vorkonditionierung von passung der Ressourcen, stellt aber im Allgemeinen
Algorithmen, vorliegt. hinsichtlich der Genauigkeit der Track-Schätzung
Wird beim Auftreten bestimmter Datenkons- keine optimale Lösung dar [12].
tellationen fusioniert, z. B. immer dann, wenn die
Daten von bestimmten Sensoren vorliegen, müssen
Ressourcen für eine Zwischenspeicherung der Da-
450 Kapitel 24 • Fusion umfelderfassender Sensoren
34 24.3.6 Parallel – Sequenziell Fortschrittberichte VDI: Reihe 12, Bd. 653. (2007). Disser-
tation
[2] Holt, V.v.: Integrale multisensorielle Fahrumgebungs-
Repräsentation fusionierter
Umfelddaten
Klaus Dietmayer, Dominik Nuß, Stephan Reuter
.. Abb. 25.1 Elemente
11 einer Fahrzeugumge-
Wie bewegt sich
das Ego-Fahrzeug?
Um welche Verkehrs-
teilnehmer handelt es sich
In welchem Verkehrsraum
(Kontext) bewegen sich alle?
bungsrepräsentation
und wie bewegen sie sich?
12 • Eigenbewe-
gungsmodell
• Objektdetekon
• Objektklassifikaon
• Straßenmarkierungs-
erkennung
• Fahrerabsichts- • Objektverfolgung • Erkennung frei befahrbarer
13 erkennung Bereiche
• Lokalisaon relav zum
Fahrstreifen bzw. absolut in
14 -
einer digitalen Karte
• Verkehrszeichen / Verkehrs-
signalanlagenerkennung
15 Ego-Fahrzeug Andere Verkehrsteilnehmer Infrastruktur / Kontext
16 .. Abb. 25.2 Funktions
Sensor 1 Vorverarbeitung
Verkehrszeichenerkennung
orientierte, komponenten- (z.B. Kamera Objekt- /
basierte Architektur bei Spurhalteassistent
Frontbereich) Situationserkennung
17 Fahrerassistenzsystemen
Sensor 2 Vorverarbeitung
Notbremsassistent
18 (z.B. Radar
Frontbereich)
Objekt- /
Situationserkennung
Adaptive Cruise Control (ACC) :
19 Sensor 3 Vorverarbeitung
Totwinkel- /
(z.B. zwei Objekt- / :
Überholassistent
Heckradare) Situationserkennung
20 : : :
25.1 • Anforderungen an Fahrzeugumgebungsrepräsentationen
455 25
.. Abb. 25.3 Datenfluss
einer modularen Archi- Sensor 1 Funktion 1
tektur für Fahrerassistenz-
systeme
Funktion 2
Sensor 2
Informations- Situations-
• fusion bewertung
Funktion 3
• •
Fahrumgebungs- Situations-
repräsentation prädiktion
•
Sensor n
• •
Digitale
Funktion m
Karte
mationsfusion vollziehen, die über eine geeignete Zuständen selbst – i. d. R. ausgedrückt durch Va-
Situationsbewertung und -prädiktion möglichst alle rianzen oder Kovarianzen – andererseits aber auch
Fahrerassistenzfunktionen in einem Fahrzeug be- die Existenzwahrscheinlichkeit, d. h. ein Maß dafür,
dienen kann (. Abb. 25.3). Eine wesentliche Anfor- dass das von der Sensorik erfasste Objekt in der Re-
derung an die Architekturen und Datenstrukturen alität überhaupt existiert.
zur Fahrumgebungsrepräsentation ist daher ihre Da die Umgebungserfassung bevorzugt bord-
Adaptierbarkeit an unterschiedliche Funktionsan- autarke Sensorik verwendet, erfolgt die objektba-
forderungen, die nur durch durchgehende Modula- sierte Repräsentation i. d. R. relativ zum eigenen, die
rität und weitgehend generische Schnittstellen zur Szene beobachtenden Fahrzeug, also im mitbewegten
Sensorik sowie den weiterverarbeitenden Stufen der Koordinatensystem. Diese Beschreibung reicht zur
Situationsbewertung gewährleistet werden kann. Lösung aller Fahraufgaben prinzipiell aus. Sie stößt
Hierzu existieren bisher keine allgemeingültigen nur dann an ihre Grenzen, wenn Kontextwissen, bei-
festen Architekturprinzipien, so dass im Rahmen spielsweise aus einer hochgenauen digitalen Karte
dieses Kapitels verschiedene Aspekte möglicher oder durch Car2x-Kommunikation zusätzlich ein-
Ausprägungen der Fahrumgebungsrepräsentation fließen soll. In diesen Fällen ist zusätzlich eine abso-
erörtert werden. Grundsätzlich unterscheidet man lute Referenzierung, d. h. eine hochgenaue Lokalisie-
hierbei zwischen einer objektbasierten und einer rung des eigenen Fahrzeugs in der Welt notwendig.
rasterbasierten Repräsentation. Eine gitterbasierte Darstellung verwendet Ras-
Bei der objektbasierten Repräsentation wer- terkarten, um die Umwelt ortsfest in gleich große
den alle für die Repräsentation relevanten anderen Zellen einzuteilen. Das Fahrzeug bewegt sich über
Verkehrsteilnehmer, die relevanten Infrastruk- dieses Gitter und die bordautonome Sensorik lie-
turelemente sowie das eigene Fahrzeug selbst fert dann Informationen, ob spezifische Zellen frei
jeweils durch ein eigenes dynamisches Objekt- sind und damit frei befahren werden können oder
modell, i. d. R. ein zeitdiskretes Zustandsraummo- ob sich in der Zelle ein Hindernis befindet. Diese
dell, beschrieben. Dessen Zustände wie Position, Art der Darstellung eignet sich vornehmlich zur
Geschwindigkeit oder auch 2D-/3D-Objektaus- Repräsentation statischer Szenarien. Sie benötigt
dehnung werden schritthaltend mit den Sensor- keinerlei Modellhypothesen und ist daher als sehr
messungen unter Nutzung geeigneter Filterverfah- robust gegen Modellfehler einzustufen.
ren (▶ Abschn. 25.2.3) fortlaufend aktualisiert. Da In den folgenden Kapiteln wird auf beide Re-
Messungen grundsätzlich fehlerhaft sind, sollten präsentationsprinzipien sowie die dafür geeigneten
diese Filterverfahren Informationen über die ak- Algorithmen detaillierter eingegangen. Es existie-
tuelle Unsicherheit der Fahrumgebungsrepräsen- ren auch vielversprechende Ansätze, beide Darstel-
tation an die weiterverarbeitenden Stufen liefern. lungsformen zu kombinieren, die am Schluss des
Dies betrifft einerseits die Unsicherheit in den Kapitels kurz vorgestellt werden.
456 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
25.2 Objektbasierte Darstellungen erfolgt deren Formulierung in der Regel als zeitdis-
1 krete Zustandsraummodelle in der Ebene.
25.2.1 Sensorspezifische Grundsätzlich unterscheidet man zwischen
2 Objektmodelle Punktmodellen und räumlich ausgedehnten Mo-
und Koordinatensysteme dellen, bei denen auch die Länge und Breite (2D)
oder zusätzlich auch noch die Höhe (3D) model-
3 Für objektbasierte Repräsentationen ist aufgrund liert wird. Als Grundform für ausgedehnte Modelle
der zur Umgebungserfassung verwendeten bord- dient ein Rechteck (2D) oder ein Quader (3D). Die
4 autarken Sensorik als gemeinsames Bezugssystem Nutzung eines ausgedehnten Modells ist jedoch nur
das mitbewegte Koordinatensystem des eigenen dann sinnvoll, wenn die Kontur des Objekts durch
25 Fahrzeugs zweckmäßig. Gemäß den üblichen Kon- die erfassende Sensorik auch beobachtbar ist, was
ventionen für Fahrzeuge ist ein derartiges Koordi- aber grundsätzlich auch vom Beobachtungswinkel
natensystem rechtshändig zu wählen. Die x-Achse abhängt. Beispielsweise ist die Länge eines voraus-
6 zeigt in Bewegungsrichtung, die z-Achse nach oben. fahrenden Fahrzeugs unabhängig von der verwen-
Die Richtung der y-Achse folgt der Definition des deten Sensorik nicht direkt beobachtbar, sondern
7 rechtshändigen Koordinatensystems. Rotationen lediglich seine Breite und Höhe, und dies auch nur,
um die x-Achse werden als Wanken, um die y-Achse falls entsprechende konturauflösende Sensoren
als Nicken und um die z-Achse als Gieren bezeich- wie (Stereo-)Kameras, Laserscanner oder hoch-
8 net. Als Koordinatenursprung wählt man bei fahr- auflösende Radarsensoren Verwendung finden.
dynamischen Modellen meist den Massenschwer- Aufgrund dieses zeitvarianten Beobachtbarkeits-
9 punkt des Fahrzeugs. problems wird die Ausdehnungsschätzung häufig
Im Bereich der Fahrumgebungserfassung be- parallel zur Zustandsschätzung in einem separaten
10 nötigt man derart komplexe Fahrdynamikmodelle Algorithmus durchgeführt.
allerdings in aller Regel nicht, da hierfür nur eine Hinsichtlich der Zustandsschätzung werden
vergleichsweise einfache Eigenbewegungsschätzung Punktmodelle als sogenannte Freie-Masse-Modelle
11 notwendig ist. Es ist daher zumindest für Fahrsitu- modelliert, was bedeutet, dass bei Beschränkung
ationen außerhalb dynamischer Grenzbereiche üb- auf die ebene Bewegung die translatorischen Bewe-
12 lich, als Modell für die Eigenbewegungsschätzung gungen in x-, y-Richtung sowie die Rotation um die
rein kinematische, lineare Einspurmodelle unter Hochachse P (Gierrate) nicht gekoppelt sind. Aus-
Vernachlässigung von Schlupf und Schräglauf der gedehnte Modelle (2D/3D) können als Freie-Mas-
13 Räder zu verwenden [1]. Ein geeigneter Bezugs- se-Modelle oder als kinematische Einspurmodelle
punkt bei Mehrsensoranwendungen (Fusionssyste- (siehe vorstehend) mit entsprechend gekoppelten
14 men) ist die Mitte der Hinterachse des Ego-Fahr- Bewegungsfreiheitsgraden formuliert werden. Letz-
zeugs, projiziert auf die Straßenebene. Diese Wahl teres ist für alle radgebundenen Objekte wie Fahr-
15 hat den Vorteil, dass unter den obigen Modellan- zeuge oder Radfahrer meist die bessere Wahl.
nahmen der Fahrzeuggeschwindigkeitsvektor v Als Zustandsgrößen werden im Zustandsvektor
am Bezugspunkt immer in Fahrzeuglängsachse minimal pro Objekt die Position in der Ebene, die
16 (x-Achse) zeigt, was Umrechnungen erleichtert. Geschwindigkeit in der Ebene und der Gierwin-
Bei isolierten Fahrerassistenzfunktionen mit nur kel berücksichtigt und relativ zum beobachtenden
17 einem Sensor (z. B. ein rein radarbasiertes ACC, Fahrzeug aufgrund dessen Sensormessungen fort-
siehe . Abb. 25.2) wird häufig aus pragmatischen laufend geschätzt. Ein derartiges Modell wird als
Gründen das Bezugssystem identisch zum Sen- Modell „konstanter Geschwindigkeit, konstanter
18 sorkoordinatensystem gewählt. Gierwinkel“ bezeichnet. Eine Erweiterung dieser
Neben dem Ego-Fahrzeug müssen auch alle an- Modelle auf die Berücksichtigung translatorischer
19 deren Objekte im Fahrzeugumfeld durch Modelle Beschleunigungskomponenten sowie der Gierrate
beschrieben werden. Aufgrund der nachfolgend nä- im Zustandsvektor ist möglich – allerdings nur
20 her erläuterten Algorithmen zur Objektverfolgung dann sinnvoll, wenn Sensoren verfügbar sind, die
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
457 25
wie beispielsweise Radare Geschwindigkeitskom- entspricht. Ein Schätzer mit diesen Eigenschaften
ponenten direkt messen können. Andernfalls führt wird als konsistenter Schätzer bezeichnet.
die zweifache Differenziation von fehlerbehafteten Für die Realisierung sicherheitsrelevanter Fah-
Positionsmessungen im Filter zu so starken Rau- rerassistenzfunktionen ist die Existenzunsicher-
scheffekten in den Beschleunigungsdaten, dass das heit jedoch mindestens genauso relevant wie die
Gesamtschätzergebnis hierdurch eher verschlech- Zustandsunsicherheit. Sie drückt aus, mit welcher
tert wird. Die Wahl des geeigneten Objektmodells Wahrscheinlichkeit das Objekt in der Fahrumge-
hängt somit stark von der verfügbaren Sensorkon- bungsrepräsentation auch wirklich einem realen
figuration und deren Messmöglichkeiten ab (siehe Objekt entspricht. Eine Notbremsung sollte bei-
auch ▶ Kap. 17–21). Details zur Formulierung von spielsweise nur bei einer sehr hohen Existenzwahr-
Objektmodellen findet man beispielsweise unter scheinlichkeit des verfolgten Objekts ausgelöst
[2] oder [1]. Näheres zur Fusion von verschiedenen werden. Während die Schätzung von Zustandsun-
Sensortypen findet sich in ▶ Kap. 24. sicherheiten nach dem Stand der Technik durch
Methoden der rekursiven Bayes-Schätzung (siehe
▶ Abschn. 25.2.3.1) theoretisch fundiert erfolgt, wird
25.2.2 Zustands- in heutigen Systemen meist aufgrund eines heuris-
und Existenzunsicherheiten tischen Qualitätsmaßes einer Objekthypothese auf
die Existenz eines Objekts geschlossen. Ein Objekt
Bei einer objektbasierten Darstellung des Fahr- gilt als bestätigt, wenn das Qualitätsmaß einen sen-
zeugumfelds ist die Angabe von Zustands- so- sor- und anwendungsabhängigen Schwellwert #
wie Existenzunsicherheiten für die individuellen überschreitet. Die Qualitätsmaße basieren beispiels-
Objekte notwendig, um Auslöseentscheidungen weise auf der Anzahl an erfolgreichen Messwert-As-
sicherheitsrelevanter Fahrerassistenzfunktionen soziationen seit der Initialisierung des Objekts oder
anhand der Umgebungsrepräsentation absichern der Zeitspanne zwischen Initialisierung des Objekts
zu können. und dem aktuellen Zeitpunkt. Häufig wird auch die
Die Zustandsunsicherheit eines Objekts wird Zustandsunsicherheit des Objekts oder das Qua-
durch eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion litätsmaß eines weiteren Systems zur Validierung
beschrieben, anhand derer der wahrscheinlichste verwendet.
Gesamt- bzw. Einzelzustand sowie mit gewisser Ein alternativer Ansatz ist die Schätzung einer
Wahrscheinlichkeit auch mögliche Variationen objektspezifischen Existenzwahrscheinlichkeit:
hiervon bestimmt werden können. Im Fall einer Hierfür ist zunächst eine anwendungsabhängige
mehrdimensionalen, normalverteilten Wahrschein- Definition der Objektexistenz notwendig. Wäh-
lichkeitsdichtefunktion ist die Zustandsunsicherheit rend in manchen Anwendungen sämtliche realen
durch die Kovarianzmatrix P vollständig repräsen- Objekte als existent betrachtet werden, kann die
tiert. Bei der Schätzung statischer Parameter kann Objektexistenz auch auf die in der aktuellen An-
die Zustandsunsicherheit durch wiederholte Mes- wendung relevanten Objekte eingeschränkt wer-
sungen immer weiter verringert werden und der den. Des Weiteren ist eine Einschränkung auf die
Schätzwert konvergiert gegen den wahren Wert, mit dem aktuellen Sensor-Set-up detektierbaren
falls kein systematischer Fehler in Form eines Off- Objekte möglich. Im Gegensatz zu dem Schwellwert
sets vorliegt. Bei der Schätzung von dynamischen # des Qualitätsmaßes ermöglicht die Bestimmung
Zuständen ist aufgrund der Bewegung des Objekts der Existenzwahrscheinlichkeit eine wahrschein-
zwischen zwei aufeinanderfolgenden Messzeitpunk- lichkeitsbasierte Interpretationsmöglichkeit. Eine
ten die Konvergenz gegen den wahren Wert nicht Existenzwahrscheinlichkeit von beispielsweise
mehr gegeben. Bei der Bewertung der Zustands- 90 % bedeutet, dass die Messhistorie sowie das Be-
schätzung wird daher gefordert, dass der Erwar- wegungsmuster des Objekts mit einer Wahrschein-
tungswert des Schätzfehlers Null ist und die Vari- lichkeit von 90 % von einem realen Objekt erzeugt
anz des realen Schätzfehlers der geschätzten Varianz wurden. Folglich können Assistenzfunktionen
458 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
diejenigen Objekte verwenden, deren Existenz- liche Unsicherheit durch eine Wahrscheinlichkeits-
1 wahrscheinlichkeit einen anwendungsspezifischen dichtefunktion (engl. probability density function,
Schwellwert überschreiten. PDF)
2
pkC1 .xkC1 / D pkC1 .xkC1 jZ1WkC1 /(25.1)
25.2.3 Grundlegende Verfahren
3 des Multi-Objekt-Trackings repräsentiert, die von allen bis zum Zeitpunkt k C 1
erhaltenenen Messungen Z1WkC1 D fz1 ; : : : ; zkC1 g
4 Das Ziel der Objektverfolgung bzw. des Objekt-Tra- abhängt.
ckings ist es, den zeitvarianten Zustand aller Ob- Das Bewegungsmodell eines Objekts für den
25 jekte, die sich im Erfassungsbereich der Sensoren Zeitraum zwischen zwei aufeinanderfolgenden
befinden, zu schätzen. Die Änderung der Objekt- Messungen ist durch die Bewegungsgleichung
zustände resultiert einerseits aus der Bewegung der
6 Objekte sowie andererseits aus der Eigenbewegung xkC1jk D f .xk / C vk(25.2)
des beobachtenden Fahrzeuges. Das Objekt-Tra-
7 cking basiert nach dem Stand der Technik auf ei- gegeben, wobei vk eine additive Störgröße darstellt,
nem rekursiven Bayes-Filter, der aus zwei Teilen die mögliche Modellfehler repräsentiert. Alterna-
besteht: der Prädiktion und der Innovation. Der tiv kann die Bewegungsgleichung auch durch eine
8 Prädiktionsschritt modelliert die Bewegung des Markov-Übergangsdichte
Objekts zwischen zwei aufeinanderfolgenden Mess-
9 zeitpunkten anhand eines objektspezifischen Bewe- fkC1jk .xkC1 jxk /(25.3)
gungsmodells (vgl. ▶ Abschn. 25.2.1). Des Weiteren
10 muss im Prädiktionsschritt die Eigenbewegung des beschrieben werden. Unter Nutzung der Voraus-
beobachtenden Fahrzeugs kompensiert werden. Die setzung einer Markov-Eigenschaft erster Ordnung
Eigenbewegung führt zu einer Veränderung der re- hängt der prädizierte Zustand xkC1 des Objekts nur
11 lativ zum Ego-Fahrzeug geschätzten Zustände (z. B. vom Zustand xk ab, da dieser implizit die Messhisto-
Position) sowie einer erhöhten Schätzunsicherheit. rie Z1Wk D fz1 ; : : : ; zk g enthält. Die Prädiktion des
12 Im darauffolgenden Innovationsschritt wird der aktuellen Objektzustands xk zum nächsten Mess-
prädizierte Objektzustand mittels der aktuellen zeitpunkt k C 1 erfolgt anhand der Chapman-Kol-
Sensormessung und unter Berücksichtigung der mogorov-Gleichung
13 Messunsicherheit des Sensors aktualisiert.
pkC1jk .xkC1 jxk /
Im Folgenden wird zunächst das Bayes-Fil- Z
14 ter kurz eingeführt. Anschließend wird das D fkC1jk .xkC1 jxk / pk .xk / dxk :
Kalman-Filter, welches eine analytische Imple- (25.4)
15 mentation des Bayes-Filters für lineare Systeme
ermöglicht, erläutert und Möglichkeiten zur An- Anschließend wird mittels der Messung zkC1 die
wendung auf das Multi-Objekt-Tracking vorge- prädizierte PDF des Objektzustands aktualisiert. Der
16 stellt. Hierbei wird insbesondere auf das Joint-In- Messprozess des Sensors ist durch die Messgleichung
tegrated-Probabilistic-Data-Association-Filter
17 zkC1jk D hkC1 xkC1jk C wkC1(25.5)
eingegangen, das eine probabilistische Assoziation
der erhaltenen Messungen zu den aktuell verfolg-
ten Objekten realisiert und außerdem die in ▶ Ab- beschrieben. Die stochastische Störgröße wkC1
18 schn. 25.2.2 geforderte Existenzwahrscheinlichkeit repräsentiert hierbei den Fehler des Messmodells.
für die Objekte schätzt. Die Messgleichung transformiert den Zustand eines
19 Objekts in den Messraum des Sensors und ermög-
25.2.3.1 Rekursives Bayes-Filter licht folglich die Innovation des Objektzustands im
20 Im rekursiven Bayes-Filter [3] werden der geschätzte Messraum. Die Innovation im Messraum ist von
Zustand eines Objekts und die dazugehörige räum- Vorteil, da im Allgemeinen eine Transformation der
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
459 25
.. Abb. 25.4 Ablauf des
Kalman-Filters: Zustands zk +1|k zk +1
prädiktion anhand Differenzbildung
Rk +1|k Rk +1
Messraum
des Prozessmodells,
Zustandsinnovation
durch Transformation in zk +1 − z k + 1| k
den Messraum und das
Kalman-Gain
Messmodell Sk + 1 Kalman-Gain
Zustandsraum H k +1 , Rk +1 K k +1
Prozessmodell
Fk , Qk
xˆ k xˆ k +1|k xˆ k +1
Pk Pk +1|k Pk +1
Messung in den Zustandsraum aufgrund der nicht Gauß-Verteilung durch ihre ersten beiden statis-
invertierbaren Messgleichung nicht möglich ist. tischen Momente, d. h. den Mittelwert xO sowie die
Eine alternative Repräsentation der Messgleichung zugehörige Kovarianzmatrix P, vollständig beschrie-
ist die Likelihood-Funktion ben ist, stellt die zeitliche Filterung der Momente
eine mathematisch exakte Lösung dar. Folglich
g .zkC1 jxkC1 / ; ist das Kalman-Filter unter diesen Annahmen ein
Bayes-optimaler Zustandsschätzer. . Abbildung 25.4
die sich aus der Messgleichung 25.5 ergibt. Die Zu- veranschaulicht den Ablauf des Kalman-Filters, der
standsinnovation erfolgt anschließend anhand der im Folgenden ausführlich beschrieben wird.
Bayes-Formel Der initiale Zustand eines Objekts im Kal-
man-Filter ist durch eine mehrdimensionale
pkC1 .xkC1 jzkC1 / D Gauß-Verteilung
g .zkC1 jxkC1 / pkC1jk .xkC1 jxk /
R
g .zkC1 jxkC1 / pkC1jk .xkC1 jxk / dxkC1
:
1
N .x; xO k ; Pk / D p
det .2Pk /
(25.6)
1
exp .x xO k /T Pk1 .x xO k /
Das durch den Prädiktionsschritt in Gl. 25.4 und 2 (25.7)
den Innovationsschritt in Gl. 25.6 beschriebene
rekursive Schätzverfahren wird als Bayes-Filter be- mit Mittelwert xO k und Kovarianz Pk beschrieben.
zeichnet. Neben den Prozess- und Messgleichungen Im Fall von linearen Prozess- und Messmodellen
benötigt das Verfahren nur eine A-priori-PDF für lassen sich die Gl. 25.2 und 25.5 wie folgt darstellen:
den Objektzustand p0 .x0 / zum Zeitpunkt k D 0.
xkC1jk D Fk xk C vk ;(25.8)
25.2.3.2 Multi-Instanzen-Kalman-
Filter zkC1jk D HkC1 xkC1jk C wkC1 ;(25.9)
Unter der Annahme von normalverteilten Signa-
len sowie linearen Prozess- und Messmodellen wobei Fk und HkC1 die Systemmatrix und die Mess-
ermöglicht das Kalman-Filter [4] eine analytische matrix für den aktuellen Messzeitpunkt darstellen.
Implementation des Bayes’schen Filters. Da eine Für das Prozessrauschen vk sowie das Messrauschen
460 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
T
PkC1jk D Fk Pk FkT C Qk :(25.11) PkC1 D PkC1jk KkC1 SkC1 KkC1
25
:(25.18)
Die Kovarianzmatrix Qk D Efvk vkT g des Prozess Eine Anwendung des Kalman-Filters auf Systeme
6 rauschens stellt hierbei die Unsicherheit des Pro- mit nichtlinearen Prozess- oder Messgleichungen
zessmodells dar, beispielsweise die maximal mögli- lässt sich anhand des Extended-Kalman-Filters
7 chen Beschleunigungen eines Objekts bei Nutzung (EKF) [1] sowie des Unscented-Kalman-Filters
eines Prozessmodells für konstante Geschwindig- (UKF) [5] realisieren. Während der EKF die Pro-
keit. zessmatrix Fk beziehungsweise die Messmatrix
8 Unter Nutzung der Messmatrix HkC1 kann nun HkC1 unter Nutzung einer Taylorreihen-Appro-
aus dem prädizierten Zustand xO kC1jk die prädizierte ximation linearisiert, ist das Ziel des UKF eine
9 Messung stochastische Approximation anhand sogenannter
Sigma-Punkte [5].
10 zkC1jk D HkC1 xO kC1jk(25.12) Das Kalman-Filter stellt einen optimalen Zu-
standsschätzer für ein Objekt und eine Messung
sowie die zugehörige Kovarianzmatrix dar. Im Kontext der Fahrzeugumfelderfassung
11 ist jedoch die gleichzeitige Verfolgung mehrerer
T
RkC1jk D HkC1 PkC1jk HkC1(25.13) Objekte, das sogenannte Multi-Objekt-Tracking,
12 erforderlich. In der Literatur wird das Multi-Ob-
berechnet werden. Im Innovationsschritt wird jekt-Tracking häufig durch die Nutzung des in
anschließend eine Messung zkC1 mit zugehöriger . Abb. 25.5 dargestellten Multi-Instanzen-Kal-
13 Kovarianz RkC1 D EfwkC1 wkC1T } eingebracht. man-Filters realisiert, bei dem jedes Objekt mit
Unter Nutzung des Erwartungswerts der prädi- einem objektspezifischen Kalman-Filter verfolgt
14 zierten Messung zkC1jk sowie des tatsächlichen wird. Da nicht jedes Kalman-Filter ein relevan-
Messwerts zkC1 ergeben sich das Messresiduum tes, beziehungsweise ein tatsächlich existierendes
15 kC1 und die zugehörige Innovationskovarianz- Objekt repräsentiert, ist außerdem eine nachge-
matrix SkC1 zu lagerte Klassifikation und Validierung der ge-
schätzten Tracks notwendig. Um die Menge der
16 kC1 D zkC1 zkC1jk ;(25.14) zu verarbeitenden Daten zu reduzieren, werden
im Detektions- bzw. Segmentierungsschritt Ob-
17 SkC1 D RkC1jk C RkC1 jekthypothesen erzeugt. Ein Beispiel für einen De-
T
tektionsalgorithmus ist die in ▶ Kap. 23 vorgestellte
D HkC1 PkC1jk HkC1 C RkC1 :(25.15) Fußgängerdetektion in Videobildern, während die
18 Objektbildung in ▶ Kap. 19 ein Beispiel für einen
Die Filterverstärkung KkC1 berechnet sich unter Segmentierungsschritt darstellt. Im Datenassozia-
19 Nutzung der Innovationskovarianzmatrix SkC1, tionsschritt werden die erhaltenen Messungen den
der prädizierten Zustandskovarianz PkC1jk sowie vorhandenen Kalman-Filtern zugeordnet und der
20 der Messmatrix HkC1 zu Zustand der Objekte mit den Messungen aktua-
lisiert, wobei aufgrund von Fehldetektionen und
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
461 25
2 m
X
p(∃x) p(∃x)
xO i;kC1 D ˇij xij :
(25.23)
3
j D0
1-pS
Die Innovation der Zustandskovarianz ist gegeben .. Abb. 25.6 Markov-Kette für die Prädiktion der Existenz-
4 durch die gewichtete Akkumulation der Zustandsun- wahrscheinlichkeit
sicherheiten der einzelnen Assoziationshypothesen:
25 m
sche Existenzwahrscheinlichkeit berechnet. Da die
X h Existenz eines Objekts von den Detektions- und
Pi;kC1 D ˇij Pi;kC1jk Kij Sij KijT
Falschalarmwahrscheinlichkeiten des Sensors sowie
6 j D0
der Datenassoziation abhängt, ist die integrierte Exis-
C.xij xO i;kC1 /.xij xO i;kC1 /T :
(25.24) tenzschätzung eine sinnvolle Erweiterung zu den im
7 vorhergehenden Abschnitt vorgestellten probabilis-
Der dritte Summand in Gl. 25.24 repräsentiert tischen Assoziationsverfahren.
anschaulich die zusätzliche Unsicherheit, die Die Innovation der Objektexistenz erfolgt
8 sich durch die Approximation durch eine einzige analog zur Aktualisierung des Zustands in einem
Gauß-Verteilung ergibt. Prädiktions- und einem Innovationsschritt. Die
9 Aufgrund des gewichteten Updates ist das Existenzprädiktion erfolgt anhand eines Mar-
PDA-Verfahren sehr gut dafür geeignet, ein einzel- kov-Modells erster Ordnung (siehe . Abb. 25.6).
10 nes Objekt in Szenarien mit Fehldetektionen und Die prädizierte Existenz eines Objekts ist durch die
einer hohen Anzahl an falsch positiven Detektio- Markov-Kette
nen (Falschalarmen) zu verfolgen. Ein Nachteil des
11 PDA-Verfahrens ist jedoch die Tatsache, dass eine pkC1jk .9x/ D pS pk .9x/ C pB pk .Àx/(25.25)
Messung eine hohe Assoziationswahrscheinlichkeit
12 für mehr als ein Objekt besitzen kann. Dies wider- gegeben, wobei die Wahrscheinlichkeit ps die Per-
spricht jedoch der Annahme des Standard-Messmo- sistenzwahrscheinlichkeit des Objekts darstellt und
dells, dass eine Messung von maximal einem Objekt pB die Wahrscheinlichkeit für das Erscheinen eines
13 stammt. Eine Erweiterung zum PDA-Verfahren ist Objekts repräsentiert. Folglich ist die Wahrschein-
das Joint-Probabilistic-Data-Association- (JPDA-) lichkeit für das Verschwinden eines Objekts gegeben
14 Verfahren, bei dem die Assoziationsgewichte an- durch 1 pS. Im Innovationsschritt wird neben den
hand globaler Assoziationshypothesen berechnet Datenassoziationsgewichten die A-posteriori-Exis-
15 werden [1]. Die Berechnung der benötigten Asso- tenzwahrscheinlichkeit pkC1 .9x/ berechnet. Sie
ziationsgewichte ˇij wird im folgenden Abschnitt hängt davon ab, wie viele Assoziationshypothesen
am Beispiel des Joint-Integrated-Probabilistic-Da- die Existenz des Objekts bestätigen.
16 ta-Association- (JIPDA-) Filters dargelegt, das mit Da die Persistenzwahrscheinlichkeit eines Ob-
dem PDA und JPDA-Filter eng verwandt ist. jekts vom aktuellen Objektzustand abhängt und die
17 A-posteriori-Existenzwahrscheinlichkeit wiederum
25.2.3.3 Joint-Integrated- von den Datenassoziationen, kann das JIPDA-Fil-
Probabilistic-Data- ter als die in . Abb. 25.7 dargestellte Verkopplung
18 Association- (JIPDA-) Filter zweier Markov-Ketten interpretiert werden. Die
Das Joint-Integrated-Probabilistic-Data-Associa obere Markov-Kette stellt die aus dem Kalman-Fil-
19 tion- (JIPDA-) Verfahren [7] stellt einen Multi- ter bekannte Zustandsprädiktion und Innovation
Objekt-Trackingalgorithmus dar, der neben der dar, während die untere Markov-Kette die Prädik-
20 Berechnung von probabilistischen Datenassoziations tion und Innovation der Existenzwahrscheinlichkeit
gewichten einen Schätzwert für die objektspezifi- repräsentiert.
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
463 25
Existenzschätzung
Existenz-
Existenzinnovation
p k ( ∃x ) prädiktion pk +1|k (∃x ) pk +1|k +1 (∃x )
Prädiktion Innovation
.. Abb. 25.8 Assoziations-
1 baum für zwei Objekte und
eine Messung. Das erste
Symbol jedes Knotens
2 1-1 1-∅ 1-∄
repräsentiert ein Element
aus der Menge der Objek-
te, das zweite Symbol ein
3 2-∅ 2-1 2-∅ 2-∄ 2-1 2-∅ 2-∄ Element aus der Menge
der Messungen.
25
thesen nur für eine geringe Anzahl an Messungen wobei pG die Gatingwahrscheinlichkeit darstellt,
und Objekten praktikabel ist. Eine Reduktion der d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass die wahre Mes-
6 möglichen Zuordnungshypothesen kann beispiels- sung eines Objekts innerhalb des Gatingbereichs
weise durch Gatingverfahren erreicht werden, die liegt. Offensichtlich setzt eine hohe Wahrscheinlich-
7 unter Nutzung der Innovationskovarianz S sehr keit für einen richtig positiven Zuordnungsknoten
unwahrscheinliche elementare Zuordnungshypo- sowohl eine hohe prädizierte Existenzwahrschein-
thesen ausschließen. Des Weiteren können zur ef- lichkeit, eine hohe Rückschlusswahrscheinlichkeit
8 fizienten Berechnung des Hypothesenbaumes die als auch eine hohe Likelihood voraus.
Wahrscheinlichkeiten der elementaren Zuordnun- Ein falsch positiver Zuordnungsknoten ent-
9 gen e im Voraus berechnet und in einer Nachschla- spricht der Zuordnung einer Messung zur Falsch
getabelle abgelegt werden. alarmquelle. Die zugehörige Wahrscheinlichkeit
10 Im Folgenden werden die Berechnungsvor- hängt sowohl
von der Rückschlusswahrscheinlich-
schriften für die fünf Kategorien von elementa- keit pTP zj als auch von der räumlichen Falsch
ren Zuordnungshypothesen beschrieben, welche alarmwahrscheinlichkeit pc .zj / ab:
11 messwertspezifische Rückschlusswahrscheinlich-
p e D f©; zj g D 1 pTP zj pc zj :(25.32)
keiten verwenden, um eine Berücksichtigung von
12 sensorspezifischen Evidenzen für die Existenz ei-
nes Objekts im JIPDA-Filter zu ermöglichen. Ein Die dritte Zuordnungskategorie repräsentiert die
richtig positiver Zuordnungsknoten entspricht der Fehldetektionen, also die falsch negativen Zuord-
13 Zuordnung eines Tracks xi zu einer Messung zj. Die nungsknoten, deren Wahrscheinlichkeit wie folgt
Wahrscheinlichkeit für einen richtig positiven Zu- definiert ist:
14 ordnungsknoten ist gegeben durch
p .e D fxi ; ;g/
15 p e D fxi ; zj g D
D .1 pD .xi // pkC1jk .9xi / :(25.33)
20 pG (25.31)
p e D f; zj g D pTP zj p zj :(25.35)
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
465 25
onsbewertung durch Kartenwissen, da erkannte minimal eine gemeinsame globale Systemzeit not-
Objekte im Kontext des Verkehrsraumes bewertet wendig, auf die sich alle Messungen und weitere ein-
werden können. fließende Informationen beziehen. Hierdurch wird
Da digitale Karten absolut referenziert sind, sichergestellt, dass der Messzeitpunkt des jeweiligen
vornehmlich in UTM- oder WGS84-Koordinaten Sensors oder die einfließende externe Information
(siehe ▶ Kap. 27), erfordert die Nutzung der dort anderen Messungen zeitlich zuordenbar ist. Für die
eingetragenen Attribute allerdings eine hochgenaue in ▶ Abschn. 25.2.3 beschriebenen, auf der rekursi-
Eigenlokalisierung des Ego-Fahrzeugs in der Karte. ven Bayes-Filterung basierenden Filterverfahren ist
Die Genauigkeit von Standard-GNSS-Systemen ist beispielsweise eine Grundvoraussetzung, dass Mes-
hierfür nicht immer ausreichend. Zudem ist der sungen chronologisch korrekt eingebracht werden.
Empfang in bewohnten oder bewaldeten Gebie- Um dies sicherzustellen, muss gegebenenfalls auf ei-
ten durch Mehrwegeeffekte und Abschattung der nen langsameren Sensor, d. h. ein Sensor mit höhe-
Satelliten häufig stark beeinträchtigt. Da allerdings rer Latenz, gewartet werden, bevor die Messungen
auch nur die Position in der Karte entscheidend ist, in das Filter eingebracht werden können. Dieses als
lässt sich eine Eigenlokalisation anhand von mit Buffering bezeichnete Verfahren hat allerdings den
maschineller Wahrnehmung wiedererkennbarer Nachteil, dass der „langsamste“ Sensor die Latenz
und in der Karte verzeichneter Landmarken in der der Fahrumgebungsrepräsentation bestimmt. Aus
erforderlichen Genauigkeit erreichen. Ein einfach den Ausführungen wird allerdings auch deutlich,
zu realisierendes Beispiel ist die Bestimmung der dass eine derartige Latenz prinzipbedingt nicht
genauen lateralen Position in einem auch in der vermeidbar ist, die Fahrumgebungsrepräsentation
Karte verzeichneten Fahrstreifen. also der realen Situation immer zeitlich hinterher
Gelingt dieser Abgleich, können alle erkannten sein wird, was je nach Konfiguration im Bereich
dynamischen Objekte aus der objektbasierten Dar- mehrerer 100 ms liegen kann. Diese Latenz ist bei
stellung dem Kontext der Karte zugeordnet werden. der darauf aufbauenden Situationsprädiktion und
Üblich ist hier eine Strukturierung in Schichten Handlungsplanung einer Assistenzfunktion zu
(Layern), in der beispielsweise die untere Schicht berücksichtigen. Weitere Informationen über die
die Straßentopologie, höhere Schichten dann Fahr- Ursachen der auftretenden Latenzen sind beispiels-
streifen und weitere statische Attribute sowie eine weise in ▶ Kap. 24 enthalten.
übergeordnete Schicht die erfassten dynamischen
Objekte enthält. Eine Übersicht mit Schwerpunkt
GNSS gibt [16]. Spezielle Aspekte, insbesondere un- 25.3 Rasterbasierte Verfahren
ter Nutzung verschiedener Ausprägungen digitaler
Karten geben [17, 18, 19] und [20]. 25.3.1 Konzept der Rasterkarten
Für die Posenänderung des Fahrzeugs gilt damit Schwimmrate [24]. Außerdem können diese Grö-
2 3 2 3 ßen mithilfe eines physikalischen Fahrzeugmodells
xP v cos. / geschätzt werden [25].
6 7 6 7
6 yP 7 D 6v sin . /7 ;
4 5 4 5 25.3.2.2 Alternativen zur
P P (25.40) Eigenbewegungsschätzung
mittels Koppelnavigation
womit sich die Fahrzeugpose p2 durch Je nach Anwendungszweck der Rasterkarte bieten
2 3 sich unterschiedliche Methoden zur Schätzung der
Zt2 xP .t/ Eigenbewegung an. Mithilfe der Koppelnavigation
6 7 lassen sich Rasterkarten aufbauen, die eine hohe re-
p2 D p1 C 6 yP .t/ 7 dt
4 5 lative Genauigkeit aufweisen, sofern extreme Fahr-
t1 P .t /
(25.41) manöver ausgeschlossen sind, die die Schwimm-
winkelschätzung beeinträchtigen. Da sich Fehler der
berechnet. Es folgt die Annahme, dass sich das Eigenbewegungsschätzung aufsummieren, weisen
Fahrzeug im Zeitintervall Œt1 ; t2 mit konstanter die entstehenden Rasterkarten allerdings eine Ver-
Geschwindigkeit v und konstanter Gierrate P ¤ 0 zerrung gegenüber dem realen Fahrzeugumfeld auf,
auf einer Kreisbahn bewegt, wobei t WD t2 t1 . die zumeist mit der zurückgelegten Strecke zunimmt.
In diesem Fall kann das Integral von (25.41) gelöst Diese Rasterkarten sind daher vorwiegend zur Ab-
werden und es ergibt sich bildung der Fahrzeugumgebung innerhalb eines
begrenzten räumlichen Bereichs geeignet, z. B. eines
p2 D Straßenabschnitts von wenigen hundert Metern.
2 3 Ein anderer Anwendungszweck ist das Kartie-
v
.sin. 1 C P t/ sin . 1 // ren von Umgebungen, wobei das Fahrzeug eine
6 P 7
6 7 Stelle mehrmals passiert, wie beispielsweise auf ei-
p1 C 6 v . cos. 1 C P t/ C cos. 1 //7:
4P 5 nem Parkplatz. Beim Wiedereintreten in bereits kar-
P t
(25.42) tiertes Gebiet können Verzerrungen in der Raster-
karte störende Auswirkungen haben. Für diese Fälle
Bei einer Geradeausfahrt mit P D 0 gilt eignen sich Verfahren, bei welchen die Schätzung
2 3 der Fahrzeugpose zusätzlich zur Onboard-Sensorik
vt cos . 1/ durch hochgenaue GPS-Messungen gestützt wird.
6 7 Darüber hinaus bieten SLAM-Verfahren (engl.
p2 D p1 C 6
4 vt sin.
7
1/ 5 :
für simultaneous localization and mapping) die
0 (25.43) Möglichkeit, die Messdaten umgebungserfassen-
der Sensoren in die Eigenbewegungsschätzung mit
Die Schätzung der Geschwindigkeit v und der Gier- einzubeziehen. Diese Verfahren sind rechenaufwen-
rate P erfolgt meist durch Messung der Raddreh- diger, wobei auch recheneffiziente Approximationen
zahlen bzw. mittels eines Drehratensensors. existieren [2].
Das Fahrzeug bewegt sich nur näherungsweise
in Richtung des Gierwinkels. Die eigentliche Be-
wegungsrichtung wird durch den Kurswinkel 25.3.3 Algorithmen zur Erzeugung
angegeben, welcher sich um die dynamische Größe von Belegungskarten
des Schwimmwinkels ˇ vom Gierwinkel unter-
scheidet: D ˇ . Sind Schwimmwinkel und Für eine Vielzahl aktueller und zukünftiger Fah-
Schwimmrate des Fahrzeugs bekannt, so kann auf rerassistenzsysteme sind Informationen über den
die Annäherung der Kursrate durch die Gierrate befahrbaren Raum im Fahrzeugumfeld Vorausset-
verzichtet werden. Optische Messverfahren ermög- zung. An dieser Stelle ist mit befahrbarem Raum das
lichen die Schätzung des Schwimmwinkels und der Gebiet gemeint, das vom Fahrzeug befahren werden
470 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
0,5
0
r 0
den Hindernisse nicht erkannt, wenn sie aufgrund ▶ Kap. 17) variieren auch die entsprechenden in-
ihrer Größe oder aufgrund von Nickbewegungen versen Sensormodelle stark. Ein einfaches Sen-
des Fahrzeugs unterhalb der Lidarstrahlen liegen. sormodell kann erstellt werden, indem lediglich
Dies ist ein weiterer Grund für die abnehmende Intensitätsmessungen des Radars als Belegungen
Sicherheit des Freiraums. Die Modellierung in in die Belegungskarte eingetragen werden und auf
Azimutrichtung erfolgt analog. Der rechte Teil der eine Freiraumfunktion verzichtet wird. Dies führt
. Abb. 25.11 zeigt das inverse Sensormodell aus der allerdings dazu, dass Belegungswahrscheinlichkei-
Vogelperspektive. ten grundsätzlich nur erhöht werden können. Dem
In diesem Beispiel eines inversen Sensormo- kann durch einen Vergessensfaktor entgegenge-
dells wird jeder Lidarstrahl einzeln modelliert, was wirkt werden, auf den in ▶ Abschn. 25.3.4 genauer
nicht grundsätzlich der Fall ist. Dies hat Einfluss eingegangen wird.
auf den Kartierungsalgorithmus, der für jede Zelle
die Belegungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Kombination mithilfe des statischen Binary-Bayes-Fil-
gesamten Lidarmessung bestehend aus vielen ein- ters Liegt über die Belegung einer Zelle noch keine
zelnen Strahlen berechnet. Grundsätzlich ist das Information vor, so wird die Belegungswahrschein-
Ziel beim Entwurf des inversen Sensormodells, lichkeit zu p.o/ D 0;5 angenommen. Dies ist der
die Eigenschaften des Sensors möglichst genau Initialwert jeder Zelle. Stehen für eine Zelle mehr als
abzubilden und dabei die Komplexität und den nur eine Informationsquelle über deren Belegung
Rechenaufwand für den Kartierungsalgorithmus zur Verfügung, so werden diese Informationen mit-
gering zu halten. Es sind auch Verfahren bekannt, einander kombiniert. Je nach inversem Sensormo-
mithilfe derer inverse Sensormodelle eingelernt dell kann dies auftreten, wenn Teile der Messung
werden [2]. einzeln verarbeitet werden, wie beim vorangegange-
Inverse Sensormodelle für Radarsensoren un- nen Beispiel die einzelnen Lidarstrahlen. Abhängig
terscheiden sich dadurch, dass Radarreflexionen vom Anwendungszweck werden häufig auch meh-
auch durch Objekte hindurch möglich sind. Frei- rere zeitlich aufeinanderfolgende Messungen in eine
raumfunktionen für Radarsensoren sind daher Belegungskarte eingearbeitet.
komplexer. Unsicherheiten in der Azimutkompo- Unter bestimmten Annahmen lassen sich
nente sind bei Radarsensoren in der Regel größer mehrere Messungen zi mithilfe des statischen
als bei Lidarsensoren. Außerdem liegen Radarmes- Binary-Bayes-Filters kombinieren:
sungen oft selbst in Form einer Rasterkarte vor, die Gegeben seien zwei bedingte Wahrschein-
allerdings sensorlokal und in Polarkoordinaten lichkeiten p .ojz1 / ; p .ojz2/ 2 .0; 1/ . Die Mes-
aufgebaut ist. Aufgrund der unterschiedlichen Ei- sungen z1 ; z2 seien unabhängig. Unter der An-
genschaften verschiedener Radarsensoren (siehe nahme gleicher A-priori-Wahrscheinlichkeit
472 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
p.ojz1 ; z2 / D
2 p.ojz1 /p.ojz2 /
Schätzung der Sensorposition in Rasterkarte
zum Zeitpunkt ti
:
p.ojz1 /p.ojz2 /C.1p.ojz1 //.1p.ojz2 // (25.44)
3 Für jeden Lidarstrahl zh:
kombiniert. Als Prior wird dabei für jede Zelle die Sensor liegen, da es insbesondere im Straßenum-
Belegungswahrscheinlichkeit verwendet, die sich feld vorkommt, dass Lidarstrahlen auf Objekte tref-
im letzten Zeitschritt ergeben hat. fen, ohne dass eine Reflexion gemessen wird. Dies
Eine Belegungskarte, die auf Basis eines ähnli- kann bei schwarzen, matten Lackierungen auftreten
chen inversen Sensormodells erstellt wurde, ist in oder an glatten Oberflächen wie Leitplanken, die in
. Abb. 25.13 dargestellt. Bei dem verwendeten Sen- einem spitzen Winkel getroffen werden. Weitere
sor handelt es sich um einen mehrstrahligen Lidar Hinweise und Beispiele für Kartierungsalgorithmen
von Ibeo (Ibeo LUX3, 4 Scan-Ebenen). finden sich in [2].
Praktische Aspekte zur Erstellung von Belegungskar- 25.3.3.2 Nutzung von Kameradaten
ten Ein grundsätzliches Problem bei der Erstellung Auch Kameradaten lassen sich zur Erstellung von
von Belegungskarten ist die Tatsache, dass sich das Rasterkarten nutzen. Stereoskopische Kameras er-
Fahrzeugumfeld zeitlich verändert. Darauf wird ge- möglichen eine dichte Entfernungsmessung im na-
sondert in ▶ Abschn. 25.3.4 eingegangen. hen Erfassungsbereich des Sensors. Daher eignen
Zweidimensionale Rasterkarten und zweidi- sich diese Sensoren auch zur Erstellung dreidimen-
mensionale inverse Sensormodelle bilden nur ei- sionaler Rasterkarten. Ein verwandter Ansatz, bei
nen Teil des dreidimensionalen Fahrzeugumfelds dem das Fahrzeugumfeld durch sogenannte Stixel
ab. Dies kann zu Widersprüchen führen, wenn zum abgebildet wird, ist in ▶ Kap. 19 beschrieben.
Beispiel die Strahlen eines Lidarsensors zum einen Monoskopische Kameras bieten keine dreidi-
Zeitpunkt unterhalb eines Straßenschildes oder ei- mensionale Information. Jedes Pixel eines Bildes
ner Brücke verlaufen und im nächsten Zeitpunkt wird nach dem Lochkameramodell einem Strahl
das jeweilige Objekt erfassen und reflektiert werden. im dreidimensionalen Raum zugeordnet. Unter
Auch das Höhenprofil der Umgebung selbst kann bestimmten Annahmen lässt sich dennoch eine
die Rasterkarte beeinflussen. Transformation zwischen einem Bildpixel und der
In dem Beispiel für ein inverses Sensormodell Koordinate einer zweidimensionalen Rasterkarte
wurde offen gelassen, wie ein Strahl modelliert wird, herleiten. Die Annahmen sind, dass die Fahr-
der keine Reflexion erzeugt. Oftmals wird in einem bahnoberfläche, auf der sich das Auto befindet, eben
solchen Fall bis zu einer gewissen maximalen Ent- ist, dass die Kamerahöhe über dem Boden konstant
fernung Freiraum für die Zellen berechnet, die vom ist und dass das Fahrzeug keinerlei Nick- und Roll-
Strahl geschnitten werden. Allerdings ist die Frei- bewegungen ausführt. Diese Annahmen werden im
raumwahrscheinlichkeit für solche Zellen geringer Englischen als flat world assumption zusammenge-
als für jene, die zwischen einer Reflexion und dem fasst. Um die Transformation berechnen zu kön-
474 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
1 Videobild
Transformation Kartierung
2
3
Erkennungsbereich
4
Rasterkarte Einzelmessung Rasterkarte
25
.. Abb. 25.14 Straßenmarkierungen als Belegungen in Rasterkarten
6 nen, muss die dreidimensionale Pose der Kamera aufgenommen wurden, trifft diese Annahme nä-
in den um die dritte räumliche Achse erweiterten herungsweise zu, da eine Zelle ihren Belegungszu-
7 Rasterkartenkoordinaten bekannt sein. Diese ergibt stand in diesem kurzen Zeitintervall nicht ändert.
sich aus der Fahrzeugpose und der extrinsischen Im Allgemeinen und unter Betrachtung eines
Kamerakalibrierung. Die intrinsische Kameraka- größeren Zeitintervalls trifft diese Annahme für
8 librierung erlaubt schließlich die Transformation das Fahrzeugumfeld allerdings nicht zu, sondern
aus einem dreidimensionalen, auf die Kamera be- wird durch das Vorhandensein dynamischer Ob-
9 zogenen Raum auf einen Pixel im Bild der Kamera jekte verletzt. In der Literatur werden unterschied-
(siehe ▶ Kap. 21). Insgesamt lässt sich damit jeder liche Ansätze beschrieben, dynamische Objekte in
10 Punkt auf der zweidimensionalen Fahrbahnober- Rasterkarten zu behandeln. Grundsätzlich kann
fläche einem Bildpixel zuordnen, sofern er im Er- dabei zwischen Ansätzen unterschieden werden,
fassungsbereich der Kamera liegt. Dieser Vorgang bei denen dynamische Objekte lediglich gefiltert
11 wird im Englischen als inverse perspective mapping werden sollen, um Fehlabbildungen in der Raster-
(IPM) bezeichnet. karte zu vermeiden, und Ansätzen, bei denen die
12 Durch das IPM lassen sich Kameradaten in Rasterkarte dazu genutzt wird, dynamische Objekte
Rasterkarten einbringen. Beispiele sind Grauwerte zu erkennen und damit vom statischen Umfeld zu
oder im Videobild klassifizierte Objekte. . Abbil- unterscheiden.
13 dung 25.14 zeigt eine Anwendung des IPM für die Eine einfach zu implementierende Methode
Erstellung einer Rasterkarte [20]. Die Belegungs- der ersten Art ist die Einführung eines Vergessens-
14 wahrscheinlichkeit einer Zelle entspricht hier der faktors. Dabei wird der Rückschluss auf die Bele-
Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer gungswahrscheinlichkeit einer Zelle nicht nur von
15 Straßenmarkierung. Ein Klassifikationsalgorithmus räumlichen, sondern auch von zeitlichen Verhält-
detektiert Straßenmarkierungen, die gemäß eines nissen abhängig gemacht. Der Rückschluss auf die
geeigneten inversen Sensormodells in die Raster- Belegungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Mes-
16 karte eingebracht werden. sung ist damit unsicherer, je länger eine Messung
zeitlich zurückliegt. Zeitlich kürzer zurückliegende
17 Messungen gehen also stärker gewichtet in die
25.3.4 Behandlung von bewegten Schätzung der Belegungswahrscheinlichkeit ein als
Objekten Messungen, die zeitlich länger zurückliegen.
18 In vielen Anwendungen werden Rasterkarten
Eine Voraussetzung für die Anwendbarkeit des sta- auch explizit dazu genutzt, dynamische Objekte
19 tischen Binary-Bayes-Filters ist die Annahme, dass zu erkennen. Dies geschieht in der Regel durch die
eine Zelle ihren Belegungszustand nicht ändert, sie Ermittlung der zeitlichen Konsistenz der Belegungs-
20 also entweder belegt oder frei ist. Für die Kombina- wahrscheinlichkeit von Zellen. Zellen, die konsis-
tion einzelner Lidarstrahlen, die alle fast zeitgleich tent belegt oder frei sind, werden dem statischen
25.4 • Architekturen und hybride Darstellungsformen
475 25
Umfeld zugeordnet und Zellen, bei denen die Bele- 25.4 Architekturen und hybride
gungswahrscheinlichkeit stark schwankt, als dyna- Darstellungsformen
misch belegte Bereiche gekennzeichnet. Insbeson-
dere werden häufig Belegungen, die in einem zuvor Objektbasierte Darstellungen und Rasterkarten sind
als frei erkannten Bereich auftreten, als Detektionen Abbildungen des Fahrzeugumfelds, die jeweils le-
dynamischer Objekte behandelt. Dies dient meist als diglich einen Teil des gesamten Umfelds beinhalten.
Vorverarbeitungsschritt für Trackingalgorithmen Objektbasierte Darstellungen repräsentieren unter
[29, 22, 23]. Aufwändigere Systemarchitekturen anderem die Position und Geschwindigkeit einzel-
sehen eine noch stärkere Abhängigkeit zwischen ner Objekte und beruhen auf Prozessmodellen, die
Rasterkarten und Trackingalgorithmen vor, worauf Prädiktionen in die nähere Zukunft erlauben. Die
in ▶ Abschn. 25.4 weiter eingegangen wird. Abbildung des Fahrzeugumfelds erstreckt sich da-
mit auch über einen zeitlichen Bereich. Im Gegen-
satz dazu wird für die Erstellung klassischer Bele-
25.3.5 Effiziente Speicherverwaltung gungskarten ein stationäres Umfeld angenommen.
Dynamische Objekte verletzen diese Annahme.
Die Datenmenge pro Fläche der Umgebung ist Belegungskarten fusionieren und speichern Infor-
durch die Rasterauflösung und die Datenmenge pro mationen nicht objekt- sondern ortsbezogen und
Rasterzelle fest bestimmt. Die Anordnung in Zellen bilden das Umfeld im gesamten räumlichen Erfas-
ermöglicht darüber hinaus den direkten Zugriff auf sungsbereich der Sensoren ab. Als ein dritter Teil der
alle Informationen einen Ort betreffend über dessen Fahrzeugumgebung kann die Straßentopologie an-
Koordinaten. Werden im Vergleich dazu Messda- gesehen werden. Die Straßentopologie kann durch
ten in ihrer Rohdatenform gespeichert, müssen zur Objekte repräsentiert werden. Allerdings handelt es
Auswertung eines Ortes zunächst diejenigen Mess- sich hierbei um einen statischen Teil des Umfelds. Je
daten gesucht werden, die einen Rückschluss auf die nach Anwendung wird die Straßentopologie wäh-
gesuchte Eigenschaft eines Ortes zulassen. rend der Fahrt erkannt. Dies ist insbesondere in stark
Um besonders schnell auf eine Rasterzelle über strukturierten Umgebungen wie Autobahnen mög-
deren Koordinaten zugreifen zu können, bietet es lich. Komplexere Straßentopologien, die nicht online
sich an, die Rasterkarte im Speicher in Form eines erkannt werden können, werden häufig in digitalen
Arrays anzulegen. Eine Zelle kann dann direkt über Karten gespeichert. Ein Lokalisierungsalgorithmus
ihren Index angesprochen werden. Ein Nachteil ermöglicht die Ermittlung der Fahrzeugposition in
hierbei ist jedoch, dass je nach angelegter Größe der digitalen Karte, wodurch die Straßentopologie in
der Karte auch für Zellen Speicher reserviert wird, Bezug zum Fahrzeug zur Verfügung steht.
die zu keinem Zeitpunkt innerhalb der Sensorreich- Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften
weite liegen und daher keine Information enthalten. stellt sich die Frage, wie diese unterschiedlichen
Ein Lösungsansatz für dieses Problem ist die Un- Domänen der Umgebungsrepräsentation gewinn-
terteilung der globalen Rasterkarte in Kacheln, von bringend miteinander kombiniert werden können.
denen nur diejenigen in den Arbeitsspeicher gela- Auf eine Auswahl an Ansätzen wird in diesem Ab-
den werden, die sich in unmittelbarer Umgebung schnitt eingegangen.
des Fahrzeugs befinden [30].
Ein anderer Ansatz sieht die Verwendung von Bayesian-Occupancy-Filter (BOF) Das Bayesian-Oc-
Octrees vor [31]. Diese Datenstruktur erlaubt es, cupancy-Filter (deutsch: Bayes’sches Belegtheitsfil-
eine unterschiedliche Zellgröße für unterschiedli- ter) unterteilt die Umgebung ebenfalls in einzelne
che Bereiche zu verwenden. Dies ermöglicht einen Zellen, verzichtet aber auf die Annahme einer
höheren Detailgrad in wichtigen Bereichen (nahe stationären Umgebung [32]. Stattdessen wird ein
des Fahrzeugs) durch eine kleinere Zellgröße, wäh- vierdimensionaler Raum verwendet, der aus zwei
rend in anderen Bereichen durch größere Zellen räumlichen Koordinaten und zwei Koordinaten für
Speicherplatz eingespart werden kann. die Geschwindigkeit jeweils entlang der räumlichen
Koordinaten besteht. Eine Zelle ist daher einem
476 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
1 Objekt-
verfolgung
Sensor-
daten
Segmen-
tierung
Lidar-Segmente
2 Datenassoziation
Objekt- Objektliste
extraktion
3 Zuordbare Andere
Segmente Segmente
Bayesian- Objekt-
4 Occupancy- verfolgung
Dynamische
Filter
Segmente Erkennung
25 dynamischer
Objekte
Straßen-
topologie Rasterkarte
6 Kartierungs-
algorithmus Statische
Segmente
7 Sensordaten .. Abb. 25.16 Simultaneous-Localization-and-Map-
ping-and-Moving-Object-Tracking: Ablauf
1 2 3
3
Umgebungsmodell
Schätzung der
Prepro-
Vorver- Straßen- Straßen-
Sensor cessing
arbeitung topologie topologie
Kombinaon zu
Sensor-Rohdaten
●●
konsistentem
1 2 Umgebungs- Informaons-
Raw Data
2
modell fluss
●●●●
Prepro- Raster- Modulergebnis
Vorver- Raster-
cessing karerung
arbeitung karte
● Funkonales
Modul
1
1
Prepro- Schätzung
Vorver- Eigen-
cessing der Eigen-
arbeitung bewegung
bewegung
Ein verwandter Ansatz wird in [36] vorgestellt, eines untergeordneten Moduls zurückgreifen. Die
wobei dort Objektverfolgung und Rasterkarte noch Reihenfolge der Module ergibt ein Schema, dem eine
stärker voneinander abhängig sind. Dazu werden Vielzahl der Architekturen folgt, die in der Literatur
Reflexionen dynamischer Objekte ebenfalls in die bekannt sind. Alle bisher vorgestellten Architekturen
Rasterkarte eingetragen, allerdings wird zu jedem und viele mehr beruhen beispielsweise darauf, eine
verfolgten Objekt eine Liste an zugehörigen Zellen Rasterkarte als Basis für das Objekt-Tracking zu ver-
gespeichert. Dadurch kann die Bewegung entspre- wenden, meistens zur Erkennung bewegter Objekte.
chender Zellen anhand ihrer zugehörigen Objekte Ebenso basieren viele Lokalisierungsalgorithmen auf
abgeschätzt werden, was eine Prädiktion der Raster- Rasterkarten [38]. Die Hierarchiereihenfolge ist au-
karte in die Zukunft ermöglicht. ßerdem insofern nachvollziehbar, als sie dem Ab-
Hierarchische Fahrzeugumfelderfassung straktionsgrad der Module folgt. Rückkopplungen
Wie anfangs zu diesem Kapitel erläutert, stellen sind ausgeschlossen, wodurch sich einige Einschrän-
wirtschaftliche und praktische Aspekte Anforderun- kungen ergeben, was jedoch Voraussetzung für die
gen an die Architektur zur Umgebungserfassung. Austauschbarkeit der Module ist. Abschließend wird
Insbesondere der Modularität und den generischen aus den einzelnen Modulen ein konsistentes Umge-
Schnittstellen zwischen einzelnen Modulen kommt bungsmodell erstellt, das konsequenterweise auch
eine zunehmende Bedeutung zu. Dies steht im Wi- einer bestimmten Norm entspricht [37]. Standard-
derspruch zu einer starken Abhängigkeit zwischen architekturen für eine modulare Fahrumgebungs-
objektbasierten Umgebungsmodellen, Rasterkarten repräsentation existieren bislang nicht und sind
und der Straßentopologie. Einen Kompromiss bietet Gegenstand aktueller Forschung und Entwicklung.
eine hierarchische Fahrzeugumfelderfassung [37],
wie in . Abb. 25.17 dargestellt.
In diesem Beispiel erfolgt eine Gliederung in 25.5 Zusammenfassung
vier Module: die Schätzung der Eigenbewegung, die
Rasterkartierung, die Generierung der Straßentopo- Im Rahmen dieses Kapitels sind die Grundlagen ei-
logie und das Objekt-Tracking. Diese Module stehen ner objektbasierten und rasterbasierten Repräsen-
in einem hierarchischen Verhältnis. Dabei entspre- tation von Fahrumgebungen sowie die dafür not-
chen die Ergebnisse dieser vier Module einem be- wendigen Basisalgorithmen beschrieben. Während
stimmten Standard, wodurch sie austauschbar sind. bei der objektbasierten Darstellung jedes relevante
Ein übergeordnetes Modul kann auf jedes Ergebnis Objekt durch ein eigenes dynamisches Zustands-
478 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
raummodell beschrieben wird, sind die rasterba- gewichtet in den Filterschritt einbringen. Eine für
1 sierten Verfahren zunächst modellfrei, d. h. sie be- sicherheitsrelevante Fahrerassistenzsysteme wich-
nötigen keinerlei physikalische Modellhypothesen. tige Größe ist neben dem dynamischen Objektzu-
2 Sie eignen sich damit bevorzugt zur Repräsentation stand auch dessen Existenzwahrscheinlichkeit, also
des statischen Anteils der Umgebungsrepräsenta- ein Vertrauensmaß, mit welcher Wahrscheinlichkeit
tion wie beispielsweise befahrbarer Freiraum und ein in der Fahrumgebungsrepräsentation erschei-
3 Fahrraumbegrenzungen. Bewegte Objekte wirken nendes Modellobjekt auch wirklich von einem real
beim Aufbau derartiger Rasterkarten eher als her- existierenden Objekt stammt. Eine probabilistische
4 auszurechnende Störungen und müssen daher ge- Datenassoziation mit integrierter Existenzschät-
sondert behandelt werden. In verschiedenen Ansät- zung bietet beispielsweise der JIPDA-Algorithmus.
25 zen wurde daher die Erweiterung der Rasterkarten Aktuelle Arbeiten befassen sich auch mit Ver-
auch für dynamische Anteile vorgeschlagen, wobei fahren, die eine in einem Algorithmus integrierte
sich hierbei noch keine Methode durchgesetzt hat. Multi-Objekt-Verfolgung realisieren. Diese auf der
6 Die rasterbasierten Verfahren bieten allerdings zu- Random-Finite-Set-(RFS-)Theorie basierenden Ver-
sätzlich den Vorteil, dass Sensormessungen – bis auf fahren vermeiden nicht nur Datenassoziationsfehler
7 die Entscheidung, ob sie von dynamischen oder sta- vor dem Filterschritt, sondern ermöglichen zudem
tischen Objekten stammen – nicht vorab bewertet eine probabilistische Modellierung der Abhängig-
und assoziiert werden müssen. Zudem erlaubt die keit des Bewegungsverhaltens aller erfassten Objekte
8 Methodik eine implizite Fusion mehrerer Sensoren untereinander, die zwischen Verkehrsteilnehmern
durch einfache Aggregation der Einzelmessungen natürlich gegeben ist. Der vergleichsweise sehr hohe
9 in den Zellen der Rasterkarte. Rechenaufwand dieser Verfahren verhindert heute
Objektbasierte Verfahren haben den Vorteil, allerdings noch deren seriennahe Implementierung.
10 dass durch die individuelle dynamische Modellie- Da sowohl objektbasierte als auch rasterbasierte
rung jedes Objekts auch vergleichsweise einfach auf Repräsentationen spezifische Vorteile aufweisen,
dessen semantische Bedeutung geschlossen werden liegt die Kombination beider Methoden in hybriden
11 kann. Auf die dafür notwendigen Klassifikations- Architekturen für die Fahrumgebungsrepräsenta-
verfahren wurde im Rahmen dieses Kapitels jedoch tion nahe. Hierbei wird aufgrund der wachsenden
12 nicht eingegangen. Die Erfassung des Zustands je- Anforderungen und unterschiedlichen Funktions-
des Objekts erfordert geeignete Filterverfahren, ausprägungen eine modulare Architektur mit mög-
die heute nahezu ausnahmslos auf Approximati- lichst generischen Schnittstellen zur Sensorik und
13 onen des rekursiven Bayes-Filters basieren. Das zur Situationsbewertung bzw. den Funktionen an
Kalman-Filter ist der bekannteste Vertreter dieser Bedeutung gewinnen.
14 Approximationen.
Da in der Regel in Verkehrsszenarien mehr als
15 ein Objekt dynamisch zu erfassen und zu verfol- Literatur
gen ist, verwendet man zur Lösung des Problems
Multi-Instanzen-Ansätze, d. h. jedes Einzelmodell- 1 BarShalom, Y., Fortmann, T.: Tracking and Data Association.
16 objekt wird durch ein Einzelfilter, beispielsweise ein
Academic Press, Boston (1988)
2 Thrun, S.: Probabilistic Robotic. The MIT Press, Cambridge
Kalman-Filter, beschrieben. Diese Vorgehensweise MA 02142-1209, USA (2005)
17 erfordert aber eine fehlerfreie Zuordnung der Sen- 3 Mahler, R.: Multitarget Bayes filtering via first‐order mul-
sormessungen zu den Modellobjekten, was als Da- titarget moments. IEEE Transactions on Aerospace and
tenassoziation bezeichnet wird. Um Fehlentschei- Electronic Systems 39.4, 1152–1178 (2003)
18 dungen bei der Datenassoziation zu vermeiden,
4 Kalman, R.: A new approach to linear filtering and predic-
tion problems. Transactions of the ASME. Journal of Basic
die nach dem Filterschritt nicht mehr rückgängig Engineering 82, 35–45 (1960)
19 gemacht werden können, existieren auch proba- 5 Julier, S., Uhlmann, J., Durrant-Whyte, H.: A new method
bilistische Datenassoziationsverfahren wie PDA for the nonlinear transformation of means and covariances
20 und JPDA, die alle möglichen Zuordnungen mit in filters and estimators. IEEE Transactions on Automatic
Control 45.3, 477–482 (2000)
Wahrscheinlichkeiten belegen und abschließend
Literatur
479 25
6 Bar-Shalom, Y., Tse, E.: Tracking in a cluttered environment 23 Petrovskaya, A., Perrollaz, M., Oliveira, L., Spinello, L.,
with probabilistic data association. Automatica 11, 451– Triebel, R., Makris, A., Yoder, J.-D., Laugier, C., Nunes, U.,
460 (1975) Bessiere, P.: Awareness of road scene participants for au-
7 Musicki, D., Evans, R.: Joint Integrated Probabilistic Data tonomous driving. Handbook of Intelligent Vehicles. Ed.
Association. JIPDA, IEEE Transactions on Aerospace and Springer, London, S. 1383–1432 (2012)
Electronic Systems 40.3, 1093–1099 (2004) 24 Scaramuzza, D., Fraundorfer, F.: Visual odometry [tutorial].
8 Munz, M.: Generisches Sensorfusionsframework zur gleich- Robotics and Automation Magazine, IEEE 18(4), 80–92
zeitigen Zustands‐ und Existenzschätzung für die Fahrzeu- (2011)
gumfelderfassung. PhD Thesis. Ulm University, Ulm (2011) 25 Mayr, R.: Regelungsstrategien für die automatische Fahr-
9 Mahler, R.: Statistical Multisource‐Multitarget Information zeugführung. Springer, Berlin Heidelberg (2001)
Fusion. Artech House, Boston (2007) 26 Shafer, G.: A Mathematical Theory of Evidence. Princeton
10 Reuter, S., Wilking, B., Wiest, J., Munz, M., Dietmayer, K.: University Press, Princeton (1976)
Real‐time multi‐object tracking using random finite sets. 27 Zou, Y., Yeong, K.H., Chin, S.C., Xiao, W.Z.: Multi‐ultrasonic
IEEE Transactions on Aerospace and Electronic Systems sensor fusion for autonomous mobile robots. Sensor Fu-
49.4, 2666–2678 (2013) sion: Architectures, Algorithms and Applications IV Procee-
11 Vo, B.-T., Vo, B.-N., Cantoni, A.: The cardinality balanced dings of SPIE, Bd. 4051., S. 314–321 (2000)
multi‐target multi‐Bernoulli filter and its implementa- 28 Effertz, J.: Sensor Architecture and Data Fusion for Robotic
tions. IEEE Transactions on Signal Processing 57.2, 409–423 Perception in Urban Environments at the 2007 DARPA Ur-
(2009) ban Challenge Conference on Robot Vision (RobVis). Sprin-
12 Reuter, S., Meissner, D., Wilking, B., Dietmayer, K.: Cardina- ger, Berlin Heidelberg, S. 275–290 (2008)
lity balanced multi‐target multi‐Bernoulli filtering using 29 Nuss, D., Reuter, S., Konrad, M., Munz, M., Dietmayer, K.:
adaptive birth distributions. In: Proceedings of the 16th Using grid maps to reduce the number of false positive
International Conference on Information Fusion, S. 1608– measurements in advanced driver assistance systems. In:
1615. (2013) IEEE Conference on Intelligent Transportation Systems
13 Stiller, C., Puente León, F., Kruse, M.: Information Fusion for (ITSC), S. 1509–1514. (2012)
automotive applications – an overview. Information Fusion 30 Konrad, M., Szczot, M., Schüle, F., Dietmayer, K.: Generic grid
12.4, 244–252 (2011) mapping for road course estimation. In: IEEE Intelligent
14 Vo, B.-T., Vo, B.-N.: Labeled Random Finite Sets and Multi‐ Vehicles Symposium, Bd. IV, S. 851–856. (2011)
Object Conjugate Priors. IEEE Transactions on Signal Pro- 31 Schmid, M.R., Mählisch, M., Dickmann, J., Wünsche, H.-J.:
cessing 61, 3460–3475 (2013) Dynamic level of detail 3d occupancy grids for automo-
15 Reuter, S., Vo, B.-T., Vo, B.-N., Dietmayer, K.: The Labeled tive use. In: IEEE Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S.
Multi‐Bernoulli Filter IEEE Transactions on Signal Proces- 269–274. (2010)
sing. (2014) 32 Coué, C., Pradalier, C., Laugier, C., Fraichard, T., Bessiere, P.:
16 Skog, I., Handel, P.: In‐Car Positioning and Navigation Tech- Bayesian Occupancy Filtering for Multitarget Tracking: an
nologies: A Survey. IEEE Transactions on Intelligent Trans- Automotive Application. International Journal of Robotics
portation Systems 10.1, 4–21 (2009) Research 25.1, 19–30 (2006)
17 Levinson, J., Thrun, S.: Robust vehicle localization in urban 33 Baig, Q., Perrollaz, M., Nascimento, J.B.D., Laugier, C.: Using
environments using probabilistic maps IEEE International fast classification of static and dynamic environment for
Conference on Robotics and Automation (ICRA)., S. 4372– improving Bayesian occupancy filter (BOF) and tracking. In:
4378 (2010) International Conference on Control Automation Robotics
18 Mattern, N., Schubert, R., Wanielik, G.: High‐accurate Vision (ICARCV), S. 656–661. (2012)
vehicle localization using digital maps and coherency 34 Gindele, T., Brechtel, S., Schroder, J., Dillmann, R.: Bayesian
images. In: IEEE Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S. occupancy grid filter for dynamic environments using prior
462–469. (2010) map knowledge. In: IEEE Intelligent Vehicles Symposium,
19 Schindler, A.: Vehicle self‐localization with high‐precision Bd. IV, S. 669–676. (2009)
digital maps. In: Intelligent Vehicles Symposium Work- 35 Wang, C.-C., Thorpe, C., Thrun, S., Hebert, M., Durrant-
shops, Bd. IV Workshops, S. 134–139. (2013) Whyte, H.: Simultaneous localization, mapping and mo-
20 Konrad, M., Nuss, D., Dietmayer, K.: Localization in Digital ving object tracking. International Journal of Robotics
Maps for Road Course Estimation using Grid Maps. In: IEEE Research 26.9, 889–916 (2007)
Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S. 87–92. (2012) 36 Bouzouraa, M., Hofmann, U.: Fusion of occupancy grid
21 Elfes, A.: Using occupancy grids for mobile robot percep- mapping and model based object tracking for driver as-
tion and navigation. IEEE Computer 22.6, 46–57 (1989) sistance systems using laser and radar sensors. In: IEEE
22 Nuss, D., Wilking, B., Wiest, J., Deusch, H., Reuter, S., Diet- Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S. 294–300. (2010)
mayer, K.: Decision‐Free True Positive Estimation with Grid 37 Nuss, D., Stuebler, M., Dietmayer, K.: Consistent Environ-
Maps for Multi‐Object Tracking. In: IEEE Conference on mental Modeling by Use of Occupancy Grid Maps, Digital
Intelligent Transportation Systems (ITSC), S. 28–34. (2013) Road Maps, and Multi‐Object Tracking. In: IEEE Intelligent
Vehicles Symposium, Bd. IV. (2014)
480 Kapitel 25 • Repräsentation fusionierter Umfelddaten
38 Deusch, H., Nuss, D., Konrad, P., Konrad, M., Fritzsche, M.,
1 Dietmayer, K.: Improving Localization in Digital Maps with
Grid Maps. In: IEEE Conference on Intelligent Transporta-
tion Systems (ITSC), S. 1522–1527. (2013)
2
3
4
25
6
7
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20
481 26
In Kraftfahrzeugen wird eine zunehmende Anzahl Messfehlern und Sensordefekten sehr hoch. Auf-
1 an heterogenen und häufig redundanten Sensoren grund der wachsenden Ansprüche der Anwender
eingesetzt. In diesem Kapitel wird die Methodik zur an kooperative, komplexe Funktionen entsteht die
2 Fusion von heterogenen Sensordaten zur präzisen Notwendigkeit, vorhandene Sensordaten verschie-
Lokalisierung und darüber hinaus zur Fahrdyna- dener Anwendungsfunktionen in einem vernetzten
mikschätzung vorgestellt, sie beruht im Wesentli- Umfeld gemeinsam zu verwerten. Durch die bishe-
3 chen auf [1]. Ziel ist hierbei die Erzeugung eines rige, lediglich lokale Datennutzung mit spezifischer
konsistenten Datensatzes mit erhöhter Genauigkeit. Datenverarbeitung sind jedoch Inkonsistenzen in
4 Es werden Klassifizierungen und Ontologien für in den Daten zu erwarten.
Frage kommende Systemarchitekturen und Fusions- Im Bereich der Hardware wird in aktuellen
5 filter gezeigt, spezielle Erweiterungen für das Filter Kraftfahrzeugen durch steigende Leistungsfähig-
zur Verwendung mit heterogenen, seriennahen Sen- keit von Prozessoren und Bussystemen bereits eine
soren werden hergeleitet. Dies führt zum Konzept Umgebung für eine zentrale, die heterogenen Eigen-
26 eines virtuellen Sensors als neue Ebene zwischen schaften aller verbauten Sensoren berücksichtigende
Sensoren und Anwendungen: Hierfür werden, ins- Verarbeitung geboten. Eine darauf aufbauende zen-
7 besondere zur Verwendung in sicherheitskritischen tralisierte Bewertung der Signalqualität bietet das
Applikationen, Anforderungen für eine Datenqua- Potenzial, die Anwendungen um einen erheblichen
litätsbeschreibung hergeleitet. Diese gliedert sich in Anteil der Fehlererkennung zu entlasten. Weiterhin
8 ein Integritäts- und ein Genauigkeitsmaß; eine bei- entsteht durch die gegenseitige Überprüfbarkeit
spielhafte Umsetzung für einen gegebenen Satz an redundant gemessener Daten eine zusätzliche, die
9 Sensoren wird vorgestellt. Außerdem wird der Spe- bisherigen Prinzipien ergänzende Möglichkeit zur
zialfall eines Fahrzeugs auf bewegtem Untergrund Detektion von Fehlern und Störungen. Damit ergibt
10 (z. B. Fähre) betrachtet und es werden Lösungsan- sich das Ziel der Erstellung einer offenen, erweiter-
sätze für damit verknüpfte Probleme aufgezeigt. Des baren Architektur zur zentralen Sensordatenfusion
Weiteren werden Ergebnisse des umgesetzten Fusi- und Signalqualitätsbeschreibung. Zentrale Anforde-
11 onsfilters präsentiert und diskutiert. Ein Ausblick rungen an einen solchen zentralen, virtuellen Sensor
12
mit Fokus auf Erweiterungsmöglichkeiten und die
Einbindung weiterer Sensoren schließt die Betrach-
tungen ab. -
sind:
Echtzeitfähigkeit und kausales Filterverhalten,
d. h. Verarbeitung der Daten in ihrer tatsächli-
13
- chen zeitlichen Reihenfolge,
geringe, bekannte und möglichst konstante
-
26.1 Anforderungen Latenz- bzw. Gruppenlaufzeit,
14 an eine Datenfusion Robustheit sowie Erkennung und Kompensa-
-
16 nen auf Sensormessdaten angewiesen sind. In der onsdaten für alle Anwendungen,
Regel werden hierfür mehrere Sensoren verbaut, Bewertung der Integrität und Ausgabe von
17 die trotz stark heterogener Messprinzipien und Beschreibungsgrößen für die Qualität.
Eigenschaften redundante Informationen liefern.
Diese vorhandene, zumeist über Modelle nutzbare Eine Grundlage zur Fusion von Messdaten ist das
18 Redundanz wird zum Teil lokal – d. h. in den Steu- Vorhandensein von Redundanz [2] durch Messung
ergeräten bestimmter Anwendungen – verwendet. gleicher physikalischer Werte durch mehrkanalige
19 Dies erfolgt stets mit konkretem Bezug zum Ge- Messung der gleichen Größe (parallele Redundanz)
rät und der zugehörigen Software, z. B. zur Eigen- oder die Umrechnung einer anderen Messgröße in
20 diagnose. Insbesondere bei sicherheitskritischen die benötigte (analytische Redundanz). Hetero-
Systemen ist der Aufwand zur Erkennung von gene Messprinzipien bedingen zwangsläufig Unter-
26.2 • Grundlagen
483 26
schiede in den gemessenen Daten, die vom Fusions- prüfung durchzuführen und das Ergebnis an Nut-
-
filter zu berücksichtigen sind:
synchrone oder asynchrone Messung im Ver-
zerfunktionen weiterzugeben.
Da bestehende Funktionen weiterhin uneinge-
- Abtastraten,
Latenzzeiten zwischen Messung und Mess-
spruchsvollsten Funktion im System erfüllt werden
bzw. bei widersprüchlichen Anforderungen ein
- wertverfügbarkeit,
zeitlich sich ändernde Verfügbarkeit von Infor-
Kompromiss gefunden wird.
-- mationsquellen,
Abhängigkeit von Umgebungsbedingungen,
sich während des Betriebs dynamisch än-
dernde Messgenauigkeit.
26.2 Grundlagen
messungen noch signifikante Fehler insbesondere oder kompletten Abschattung des Signalempfangs
der beteiligten Uhren enthalten, werden sie als – beispielsweise bei einer Fahrt durch einen Tun-
Pseudoranges bezeichnet. Weiterhin lässt sich die nel – kommen. Daher ist die Verfügbarkeit von
Relativgeschwindigkeit in Sichtrichtung zum Satelli- GNSS-Messungen umgebungsabhängig und häufig
ten durch zeitliche Differentiation der Pseudoranges eingeschränkt, auch wenn der Empfänger selbst frei
berechnen; diese Messwerte werden als Deltaranges von Defekten ist.
bezeichnet. Durch die Verwendung von Trägerpha- Odometriemessungen [7] basieren auf Raddreh-
senmessungen kann die Genauigkeit der Geschwin- winkel-Impulsmessungen (Wheel-ticks) durch ak-
digkeitsschätzung gegenüber der Berechnung aus tive oder passive Magnetfeldsensoren: Diese erfas-
den Laufzeitmessungen verbessert werden. sen den zurückgelegten Drehwinkel eines Rades um
Aus Pseudorange-Messungen wird die Absolut- dessen y-Achse in radfesten Koordinaten. Die zur
position in erdfesten Koordinaten berechnet, Fehler Transformation in fahrzeugfeste Koordinaten benö-
durch die Erdrotation während der Signallaufzeit tigten Lenkwinkel lassen sich entweder modellieren,
werden modellbasiert kompensiert. Aus Deltarange- beispielsweise als konstant Null an einer ungelenk-
Messungen wird die Geschwindigkeit in erdfesten ten Hinterachse oder durch die Messung des Lenk-
Koordinaten berechnet. Typische Fehler in den radwinkels, häufig ebenfalls durch magnetfeldmes-
Pseudorange-Messungen sind Empfängeruhrfeh- sende Sensoren, modellbasiert berechnen. Ist der
ler, Satellitenuhrfehler, Ephemeridenfehler (Abwei- Radrollradius bekannt oder schätzbar, wird durch
chung der realen von der berechneten Satellitenum- Odometriemessungen die Geschwindigkeit des
laufbahn), Ionosphären- und Troposphärenfehler. Fahrzeugs an den jeweiligen Radaufstandspunkten
Der Empfängeruhrfehler wird im Rahmen der – bezogen auf den Fahrzeuguntergrund – messbar.
Positionsberechnung geschätzt und kompensiert. Für eine darauf basierende Schätzung der Fahrzeug-
Satellitenuhr- und Ephemeridenfehler werden vom bewegung, insbesondere ebene Geschwindigkeit,
Betreiber des Systems geschätzt und entsprechende Gier- und Schwimmrate, lassen sich verschieden
Korrekturparameter in der Navigationsnachricht komplexe Modelle wie Einspur- und Zweispurmo-
versendet. Die Ionosphären- und Troposphärenfeh- dell verwenden, vgl. [8]. Zur Modellierung der Rei-
ler lassen sich modellbasiert teilweise korrigieren. feneinflüsse stehen ebenfalls verschiedene Modelle,
Bei Verwendung eines Zweifrequenzempfängers wie beispielsweise ein lineares Reifenmodell oder
kann der Ionosphärenfehler aus den Messungen eli- das „Magic-Formula“-Modell [9], zur Verfügung.
miniert werden. Da diese Fehlergrößen gegenüber Typische Fehler von Odometriemessungen sind
der typischen Abtastrate eines GNSS-Empfängers das durch die endlich vielen Ticks pro Umdrehung
nur langsam veränderlich sind, können diese bei verursachte Winkel-Quantisierungsrauschen und
der Berechnung mit Deltaranges (zeitliche Diffe- das Winkelrauschen. Letzteres entsteht durch zu-
renzen) vernachlässigt werden. Daher ist bei dieser fällige Variationen des Winkelinkrements, ab dem
Messgröße die Drift des Empfängeruhrfehlers, die ein neuer Wheel-tick gezählt wird. Weiterhin beste-
aus dem Frequenzfehler des Empfänger-Oszillators hen umgebungsabhängige Störungen durch hohen
resultiert, der einzige signifikante Fehler. Schlupf, beispielsweise aufgrund eines niedrigen
Die GNSS-Positionierung zeichnet sich im Ver- Reibbeiwertes, hoher Beschleunigungen oder durch
gleich zur Verwendung von IMU durch langzeit die Fahrt durch Schlaglöcher.
stabile absolute Genauigkeit aus, es gibt keine mit
der Zeit anwachsenden Sensorfehler. Problematisch
sind dagegen Störungen durch Umgebungsbedin- 26.3 Klassifizierung und Ontologien
gungen, die alle Messgrößen eines GNSS-Empfän- für Filter zur Sensordatenfusion
gers betreffen: Sie entstehen durch Beugung und
Reflektion der elektromagnetischen Wellen an der Der Begriff der Sensordatenfusion wird, wie auch
Erdoberfläche, Bergen oder Gebäuden und bewir- in ▶ Kap. 24 beschrieben, in Kraftfahrzeuganwen-
ken Mehrwegeempfang und damit Fehler in den dungen üblicherweise in zwei unterschiedlichen
Messungen. Des Weiteren kann es zur teilweisen Kontexten verwendet:
486 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
2
b
3
4
c
-
26
Zusammenführung von Messungen mit (größ- ten Varianten unterschieden, wobei die gebräuchli-
7 tenteils) unterschiedlichem Abdeckungsbe- chen englischen Begriffe verwendet werden.
reich, mit dem Ziel eines Datensatzes, der alle Loosely Coupling. Die redundanten Daten
Abdeckungsbereiche in sich vereint (komple- werden, wie in . Abb. 26.1a gezeigt, als reine
-
8 mentäre Sensoren); Feed-Forward-Architektur vom Sensor vorverar-
Zusammenführung von Messungen mit (größ- beitet ins Filter eingespeist. Diese Struktur ist ein-
9 tenteils) gleichem Abdeckungsbereich, mit fach, intuitiv und hat einen geringen Rechenauf-
dem Ziel der Verbesserung der Messqualität wand. Allerdings werden hierbei der Sensor und
10 (redundante Sensoren). seine Messfehler als Black Box modelliert, die Güte
der fusionierten Daten ist direkt von der Güte des
In diesem Kapitel wird der Begriff der Fusion im Sensors und des Sensormodells abhängig. Am Bei-
11 Sinn des zweiten Kontexts, d. h. zur gemeinsamen spiel eines GNSS werden dem Fusionsfilter fertige
Verarbeitung von Messungen redundanter (glei- Positionslösungen statt Rohmessungen zugeführt:
12 cher Abdeckungsbereich) Sensoren verwendet. Die Fusion ist damit von der Positionsschätzgenau-
Dabei besitzen die Sensoren jedoch, wie in ▶ Ab- igkeit des Empfängers abhängig und zur Funkti-
schn. 26.2.2 beschrieben, heterogene Eigenschaften, onsfähigkeit ist der Empfang von mindestens vier
13 die gerade zur besseren Qualität des Fusionsergeb- Satelliten notwendig [11].
nisses beitragen. Tightly Coupling. Die redundanten Sensor-
14 Im Folgenden werden die grundsätzlichen daten werden als Rohmessdaten ins Filter ein-
Klassen von Filtern zur Fusion redundanter Daten gespeist, das Vorverarbeitungsmodell ist somit,
15 aufgezeigt. Dazu wird eine Übersicht zu Fusionsfil- wie aus . Abb. 26.1b ersichtlich, ans Fusionsfil-
tern, Konzepten und grundsätzlichen Eigenschaf- ter gekoppelt. Diese Struktur weist eine erhöhte
ten gegeben. Diese gliedert sich in die Ontologien Komplexität auf und ist als Feedback-Architektur
16 der Kopplung des Filters mit den Messungen, der mit Rückführung von Korrekturdaten aus dem
Schätzmethoden und üblicher Filtertypen. Fusionsfilter in die Datenvorverarbeitung auf-
17 gebaut. Damit ist die Güte der Messungen allein
von den Sensoren, die Güte der daraus geschätz-
26.3.1 Klassifizierung der Anbindung ten Lösung hauptsächlich vom Fusionsalgorith-
18 von Sensoren an das Filter mus abhängig. Am Beispiel eines GNSS sind bei
dieser Architektur durch die Verarbeitung von
19 Die Sensormessungen können in ein Fusionsfilter Rohdaten (Pseudoranges, Deltaranges, eventuell
in unterschiedlicher Tiefe integriert werden [10], es Trägerphasen) und integrierte Fehlerschätzung
20 werden im Wesentlichen die im Folgenden genann- zumindest für einen begrenzten Zeitraum auch
26.3 • Klassifizierung und Ontologien für Filter zur Sensordatenfusion
487 26
1 .. Tab. 26.1 Fusionsfilter-Typen
5 Informationsfilter (IF) linear – wie Kalman-Filter, aber Propagation der inversen Varianz-Ko
parametrisch varianz-Matrix
– Zustand unendlicher (Anfangs-)Unsicherheit damit numerisch
26 darstellbar
– signifikant erhöhter Rechenaufwand gegenüber dem KF, wenn
Varianzen der Zustände benötigt werden
7
Extended linearisiert – wie KF oder IF, jedoch:
KF/IF parametrisch – durch Linearisierung sind auch nichtlineare Zusammenhänge
8 modellierbar
– Verlust der Optimalität (Erwartungstreue und minimale Varianz)
durch Linearisierung
9 – moderat erhöhter Rechenaufwand
12 Unscented KF nicht-linearisiert
parametrisch
– Unscented Transformation: nichtlineare Fortpflanzung von aus der
Normalverteilung entnommenen Punkten, anschließend Mittel-
wert und Varianz aus Transformationsergebnis berechnet
13 – Vorteil gegenüber EKF bei ausgeprägter Nichtlinearität
– Rechenaufwand vergleichbar mit EKF
14 Histogramm-Filter nicht-parametrisch – keine Normalverteilung für Ein- und Ausgang für Optimalität
vorausgesetzt
– Zustandsraum in endlich viele Regionen zerlegt (statisch oder
15 dynamisch)
– nichtlineare Propagation der Stützstellen
– hoher, für Echtzeitanwendungen kritischer Rechenaufwand
16 Partikelfilter nicht-parametrisch – zufällige Abtastpunkte der Eingangsverteilung nichtlinear auf
Ausgang projiziert
18 mentell zu bestimmen
– hoher, für Echtzeitanwendungen kritischer Rechenaufwand
19
20
26.4 • Erweiterungen für Fusionsfilter
489 26
Messungen verfügbar sind. Schwächen dieses Kon- rianten bzw. Abwandlungen dieser Filter vorgestellt
zepts sind zum einen die stark von der Dynamik der und diskutiert.
Eingangsdaten direkt abhängigen, zeitlich variablen
Eigenschaften der ausgegebenen Daten sowie ar-
beitspunktabhängige Schätzfehler im Falle eines in 26.4 Erweiterungen für Fusionsfilter
der Praxis häufig eingesetzten linearisierten Filters.
Ein typisches Filter dieses Typs ist ein (Extended) Im Folgenden werden Erweiterungen für die vor-
Kalman-Filter. gestellten Fusionsfilter-Konzepte beschrieben, die
Zustandschätzung von Fehlergrößen (Error- insbesondere für den Einsatz im Automobilbereich
State-Space-Filter). Bei einem Fusionsfilter mit Vorteile bieten.
Schätzung von Fehlergrößen [4] wird die Differenz
zwischen den Ausgabegrößen eines Basissystems
und zusätzlichen Korrekturmessungen als Beob- 26.4.1 Einbindung
achtungsgröße im Filter zur Schätzung von Feh- von Odometriemessungen
lerzuständen verwendet (z. B. Positionsfehler statt
volle Position). In . Abb. 26.2b ist dies am Beispiel Die Verwendung von IMU und GNSS ist eine
eines integrierten Navigationssystems gezeigt: Hier- typische Umsetzung eines integrierten Navigati-
bei bilden IMU und Strapdown-Algorithmus das onssystems. Im Kraftfahrzeugbereich stehen durch
Basissystem, während u. a. GNSS und Odometrie die seit langem zur Serienausrüstung gehören-
zur Korrektur eingesetzt werden. Das Fusionsfilter den Raddrehzahlsensoren Odometriemesssignale
schätzt die Fehler anhand der Korrekturmessungen zur Verfügung. Durch die Odometrie kann eine
relativ zum Basissystem, die Ausgabegrößen des kurzzeitige Nichtverfügbarkeit von GNSS über-
Navigationssystems werden dann im korrigierten brückt werden. Die Odome triemessungen der
Basissystem berechnet. Die zeitliche und Wertebe- Geschwindigkeit finden in radfesten Koordina-
reichsdynamik der Fehler ist üblicherweise klein ten statt und können durch gemessene Radlenk-
im Vergleich zur Systemdynamik. Daraus ergeben winkel in fahrzeugfeste Koordinaten überführt
sich die Vorteile dieser Methode in Form von weit- und im Fusionsfilter verarbeitet werden.
gehend konstanten, von der Dynamik entkoppelten Der wesentliche systematische Fehler, der all-
Eigenschaften der Ausgabedaten und vernachläs- gemein und unabhängig von einem optional vor-
sigbar kleinen Linearisierungsfehlern. Eine Schwä- gelagerten Reifenmodell auftritt, ist der Fehler des
che dieses Konzepts ist die Abhängigkeit von der dynamischen Reifenrollradius. Dieser stellt einen
Verfügbarkeit des Sensors, der das Basissystem mit Skalenfaktorfehler [8] bei der Umrechnung der
Daten versorgt. Im Fall der Fahrzeugnavigation ist Raddrehzahlen in Geschwindigkeiten dar. Daher
dies in der Regel die sich durch hohe Verfügbarkeit ist es naheliegend, diese Fehlergröße durch das Fu-
auszeichnende IMU. Ein typisches Filter dieses Typs sionsfilter zu schätzen und zu korrigieren. Unter der
ist ein Error-State-Space-Kalman-Filter. Annahme, dass im öffentlichen Straßenverkehr der
Großteil aller Fahrsituationen eine ebene Beschleu-
nigung von im Betrag 5 m=s2 aufweist [13], wird
26.3.3 Klassifizierung verschiedener eine von der Beschleunigung linear abhängige Mo-
Filtertypen dellierung von Schlupf und Schräglauf als für den
Zweck der Stützung des Navigationsfilters durch
In . Tab. 26.1 wird eine Übersicht über verschie- Odometriemessungen geeignet angenommen. Odo-
dene Fusionsfilter-Typen mit ihren wesentlichen metriemessungen außerhalb dieses Bereichs werden
Eigenschaften gegeben. Die Aufstellung basiert auf nicht verwendet. Unter dieser Randbedingung wer-
Darstellungen in [4] und [12]. In der einschlägigen den folgende systematische, nicht durch Messungen
Fachliteratur werden darüber hinaus vielfältige Va- beobachtbare Fehler modelliert:
490 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
n D fBasi s : (26.1)
und Geschwindigkeits- und Beschleunigungs- 2. Bei Gültigkeit von Annahme (1) ist innerhalb
4 messung. von eine Trennung der n gespeicherten, um
den aktuell bekannten Fehler korrigierten Ver-
5 Übliche Odometriemodelle verwenden Messun- gangenheitsdaten XEn in wahre Arbeitspunkte VEn
gen einer nicht angetriebenen und nicht gelenkten und davon unabhängige Restfehler "E zulässig.
Achse zur Schätzung von Geschwindigkeit und Da der Fehler über als konstant angenommen
26 Gierrate des Fahrzeugs. Abhängig vom Systemmo- wird, ist er identisch mit dem Fehler der aktu-
dell des Fusionsfilters sind diese Größen, jedoch ellen Messepoche und daher auch durch das
7 auch einzelne Radgeschwindigkeiten, als Messwerte stochastische Modell des Fusionsfilters korrekt
für die Fusion verwendbar. beschrieben:
8 XEn D VEn C "E: (26.2)
26.4.2 Kompensation von verzögerter
9 Messwertverfügbarkeit 3. Zwischen jeweils zwei aufeinanderfolgenden
Abtastschritten des Filters sind alle Änderun-
10 Je nach Aufbau und Messprinzip eines Sensors ent- gen der Messwerte als annähernd proportional
steht ein zeitlicher Verzug zwischen dem der Mes- zur Zeitdauer zu beschreiben, so dass mit einer
sung zuzuordnenden Zeitpunkt und der Übergabe linearen Interpolation verbundene Fehler als
11 der Messdaten an das Fusionsfilter. Weitere Ver- vernachlässigbar angesehen werden können.
zugszeiten entstehen durch unterschiedliche Ab- 4. Die Verzögerungszeit td zwischen der aktuellen
12 tastraten und -zeitpunkte von Basissystem und den Abtastzeit des Basissystems des Error-State-Spa-
verschiedenen Korrekturmessungen sowie durch ce-Filters und der Korrekturmessung ist generell
Filterlaufzeiten. Die Verarbeitung dieser entspre- bekannt oder bestimmbar.
13 chend veralteten Daten im Fusionsfilter kann zu
Fehlern in Abhängigkeit von Arbeitspunkt und Dy- Der Beobachtungsvektor zEk als Eingangsgröße ergibt
14 namik der gemessenen Größe führen. So bewirkt sich beim Error-State-Space-Kalman-Filter, wie aus
z. B. eine für viele GNSS-Empfänger typische Ver- . Abb. 26.3 ersichtlich, als Differenz zwischen Kor-
15 zugszeit von 100 ms bei einer Fahrzeuggeschwin- rekturmessung und der Messung des Basissystems.
digkeit von 30 m/s einen Positionsfehler von 3 m. Gilt Annahme (1), so ist es zulässig, einen um td in der
Für den speziellen Fall eines Error-State-Spa- Vergangenheit ermittelten Fehler ohne Verluste an
16 ce-Filters wird eine Methode [14] vorgestellt, die Genauigkeit in der aktuellen Messepoche anzubrin-
mehrere, unterschiedlich verzögerte Sensormes- gen unter der Voraussetzung, dass td gilt. Damit
17 sungen mit hinreichend niedrigem Rechenaufwand ist zur virtuellen Messung in der Vergangenheit eine
für einen Echtzeiteinsatz verarbeitet. Dazu werden Speicherung der zur Berechnung von zEk verwende-
folgende Annahmen getroffen: ten Daten des Basissystems innerhalb der Zeitspanne
18 1. Innerhalb einer Zeitspanne sind die Ände- ausreichend. Während der Verzugszeit finden im
rungen der Fehler der Zustände XE im Basissys- Allgemeinen auch Korrekturen durch andere Sen-
19 tem als vernachlässigbar und unabhängig von sormessdaten mit unterschiedlichen Verzugszeiten
den Messwerten anzusehen. Die Zeitspanne statt. Um Annahme (2) aufrechtzuerhalten, findet
20 entspricht hierbei dem größten im System zu bei einer Korrektur der aktuellen Messdaten durch
erwartenden, noch die genannte Annahme er- die vom Filter errechneten Fehlerinkremente xEk auch
26.4 • Erweiterungen für Fusionsfilter
491 26
.. Abb. 26.3 Funktions-
weise der Kompensation
der verzögerten Verfüg-
barkeit
xk
td
Xn Xj Xi
zk
die Korrektur des für alle gespeicherten Messdaten Das Funktionsprinzip der Kompensation der
XEn gültigen Fehlers "E statt. Somit ist gewährleistet, zeitverzögerten Verfügbarkeit ist in . Abb. 26.3 ver-
dass unabhängig vom zeitlichen Verzug stets die ak- anschaulicht. Hierbei ist erkennbar, dass die vergan-
tuellen Fehler auch bei den gespeicherten Zuständen genen gespeicherten Werte XEn des Basissystems als
korrigiert sind. Da zum m-ten Abtastintervall in ei- gültige Korrekturen für den nächsten Abtastschritt
nem vom Basissystem berechneten Wert XEm auch die nach der Verfügbarkeit von Korrekturmessdaten
summierten Korrekturinkremtente "E0 aus der Ver- verwendet werden. Die sich daraus ergebenden
gangenheit bereits enthalten sind, gilt für das Update Fehlerkorrekturen xEk werden auf alle gespeicherten
der zugehörigen Korrektur "E: Werte angewendet. Damit ist die Kompensation
sDm
X allgemeiner Zeitverzüge mehrerer Sensoren unter-
"E D "E0 C xEs : (26.3) einander erreicht.
sD0
- Nutzung der gesamten Redundanz aller Mess- der n -Umgebung verwendet. Der Parameter n
-
1 daten zur Fehlerdetektion, bestimmt in beiden Fällen die Irrtumswahrschein-
Kompatibilität zum Fusionsfilterkonzept und lichkeit und ist frei wählbar. Die Überprüfung der
2 dessen Anforderungen an die Verarbeitung Pseudoranges untereinander profitiert von mög-
3 - heterogener Messdaten,
Überprüfbarkeit der Messdaten unabhängig
von den Messzeitpunkten und der Abtastrate
lichst wenigen fehlerbehafteten Messungen, wäh-
rend die Überprüfung mit dem Basissystem unab-
hängig von der Anzahl an Ausreißern ist. Daher ist
4
5
- der Sensoren,
Entfernung von Messungen nur bei signifikan-
ten Abweichungen der Messdaten von ihrem
stochastischen Modell durch mit definierter
es vorteilhaft, die Überprüfung mit dem Basissys-
tem zuerst auszuführen.
26
- schärfe,
Erhaltung der größtmöglichen Anzahl an un-
filters für Pseudoranges (Codemessungen) ist die
gekürzte Beobachtung ıPSR, d. h. die Differenz der
7
8
- veränderten Messungen für das Fusionsfilter,
Berücksichtigung aller Mess- und Schätz
unsicherheitsmodelle zum Erreichen eines
selbstregelnden, der aktuellen Unsicherheit des
gemessenen zur aus den vorliegenden Daten (Ei-
genposition, Satellitenposition etc.) berechneten
Pseudorange:
9 Am Beispiel eines integrierten Navigationssys- Hierbei ist zPSR die vom Empfänger aus der Lauf-
tems mit einem Error-State-Space-Kalman-Filter zeitmessung erhaltene Pseudorange und zLPSR die
10 (siehe ▶ Abschn. 26.6) wird die Umsetzung einer aus der aktuellen Positionsschätzung des Strap-
Plausibilisierung gezeigt. Hierbei besteht das Ba- down-Algorithmus und der aus den Ephemeri-
sissystem aus einer Inertialmesseinheit und einem dendaten bekannten Satellitenposition berechnete
11 Strapdown-Algorithmus, die Plausibilisierung wird Strecke. Die Standardabweichung der Pseudo-
beispielhaft für GNSS-Pseudorange-Messungen in range-Messung PSR;Mess ergibt sich aus dem im
12 einer Tightly-Coupled-Architektur durchgeführt. Tightly-Coupling berechneten Filterzustand „in
Dabei erfolgt die Plausibilisierung sowohl durch Abstand umgerechneter Empfängeruhrfehler“ mit
den Vergleich von Messungen des Basissystems mit Standardabweichung C lk sowie aus dem Messrau-
13 den Pseudoranges als auch durch den Vergleich der schen PSR der Pseudorange-Messung:
einzelnen Pseudoranges einer Messepoche unter-
14 einander.
2
PSR;Mess D C2 lk C PSR
2
: (26.6)
Das Fusionsfilter verwendet grundsätzlich wei-
15 ßes Gaußsches Rauschen als stochastisches Modell, Eine dreidimensionale Projektion des Filterzu-
wobei zu jedem Messwert die Standardabweichung stands „Positionsfehler“ mit Standardabweichung
Mess einer Normalverteilung modelliert wird. P os auf die Sichtlinie zum Satelliten wird nicht
16 Als stochastisches Verfahren Plausibilisierung durchgeführt, um eine Kopplung der Fahrzeugaus-
einer Einzelmessung gegen das Basissystem wird aus richtung mit den Schwellwerten zu vermeiden.
17 der Messunsicherheit Mess und der Schätzunsicher- Daher wird die Positionsunsicherheit P os als
heit Basi s die Gesamtunsicherheit bestimmt und Worst-Case-Abschätzung aus der geometrischen
eine n -Umgebung zur Berechnung des Schwell- Summe der Koordinatenunsicherheiten berechnet,
18 werts für die Fehlerdetektion verwendet. Für die hier in den Achsen der Navigationskoordinaten:
Plausibilisierung der Einzelmessungen, hier Pseu-
19 doranges, gegeneinander, die ein weitgehend filte- P2 os D e2 C n2 C u2 : (26.7)
runabhängiges Verfahren darstellt, werden die ein-
20 zelnen Messunsicherheiten Mess zur Berechnung
26.4 • Erweiterungen für Fusionsfilter
493 26
Die n -Umgebung, und damit der Schwellwert Aus der Gaußschen Fehlerfortpflanzung des Mess-
IM U;C ode, ergibt sich dann als: rauschens (Varianzen) der Pseudoranges p2 und q2
sowie der Unsicherheit der Ephemeridendaten Eph
2
q ergibt sich für die Standardabweichung l von l:
(26.8)
2
IM U;C ode D n PSR;Mess C P2 os :
l D
Für den das Signifikanzniveau der Messfehler
v
u zp zq eEp eEq 2
u !
detektion festlegenden Parameter n ist im Sinne u p2
lMess
u
des Fusionsfilters eine Abwägung zwischen höhe-
: (26.13)
u
u
rer Verfügbarkeit von Messungen (n größer) einer- u
u z z
E
e eE
!2
q p p q
seits und stärkerer Fehlerunterdrückung (n kleiner) q2 C Eph
2
tC
lMess
andererseits vorzunehmen. Der Test bewertet eine
Messung als ungültig, falls
Der Ephemeridenfehler kann hierbei als vernach-
jıPSR j > IM U;C ode : (26.9) lässigbar angenommen werden, so dass sich für lEph
eine Varianz von Eph
2
D 0 ergibt. Der Schwellwert
Plausibilisierung der Einzelmessungen, hier Pseu- C ode;C ode berechnet sich als:
doranges, gegeneinander Diese Plausibilisierung
basiert auf der Geometrie des Raumdreiecks, das C ode;C ode D n l : (26.14)
von GNSS-Empfangsantenne und zwei beobachte-
ten Satelliten p und q aufgespannt wird [15]. Unter Auf einen Fehler in einer der Messungen zp und zq
der Annahme, dass die Empfangsposition nähe- wird geschlossen, falls die Bedingung
rungsweise und die Satellitenpositionen relativ ex-
akt (so dass sie für die Plausibilisierung als fehlerfrei l > C ode;C ode : (26.15)
betrachtet werden können) gegeben sind, wird der
Abstand der Satelliten lEph als Referenzwert berech- erfüllt wird.
net: Zur Isolierung der fehlerhaften Messungen wer-
den alle Kombinationen p, q (p ¤ q) getestet. Bei
lEph D kErp;Eph rEq;Eph k: (26.10) r beobachtbaren Satelliten berechnet sich die An-
zahl s an Paarvergleichen unter der für die Prüfung
Dieser Satellitenabstand lässt sich als lMess auch notwendigen Bedingung r 2 durch die Gaußsche
aus den gemessenen Pseudoranges zp und zq gemäß Summenformel:
Kosinussatz berechnen:
.r 1/ r
2
lMess D zp2 C zq2 2 zp zq cos .˛/ : (26.11) sD : (26.16)
2
Unter der Annahme, dass der Positionsfehler des Die Prüfung wird für alle s Paarungen von Satelliten
Strapdown-Algorithmus vernachlässigbar klein durchgeführt. Hierbei wird satellitenindividuell ein
gegenüber der gesamten Länge einer Pseudorange Fehlerzähler Fr für jede Paarung mit detektiertem
(im Schnitt ca. 22.000 km) ist, kann zudem der Widerspruch inkrementiert. Dabei wird der Zähler
Sichtwinkel ˛ zu den beiden Satelliten berechnet bei einer Fehlerdetektion für jeweils beide an der
werden. Paarung beteiligten Satelliten erhöht.
Die Längendifferenz l des Satellitenabstandes Ein Schwellwert FMax zum Verwerfen einer
aus beiden Berechnungen dient als Bewertungs- Messung ist hierbei so zu wählen, dass nur bei
größe für den Pseudorange-Fehler: einer eindeutigen Erkennung eines Fehlers die
ˇ ˇ Daten verworfen werden. Insbesondere gilt für
l D ˇlM ess lEph ˇ : (26.12) die Fälle:
494 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
16
der Datenqualität vorgestellt, die über die durch das
Fusionsfilter berechnete Qualität der Zustandsgrö-
ßen in Form einer Varianz-Kovarianz-Matrix hi- - Messungen gegeneinander auf Konsistenz;
Detektion von Störungen und Inkonsistenzen
mit möglichst kleiner Detektions- bzw. Alarm-
17
nausgehen. Zunächst wird das Qualitätsmaß Inte
grität erläutert, das eine Bewertung der Konsistenz
von redundanten Daten zum Ziel hat. Eine Auswahl - zeit und definierter Irrtumswahrscheinlichkeit;
Ausgabe des Ergebnisses der Überprüfung in
Form einer Aussage über die Verwendbarkeit
18
19
aus der Vielzahl von Methoden zur Integritätsbe-
wertung wird vorgestellt. Anschließend wird ein
Konzept zur Berechnung eines Genauigkeitsmaßes
präsentiert, das für Anwendungsfunktionen eine
- der Daten;
Ausgabe eines Konfidenzmaßes zur Beschrei-
bung der Prüfschärfe und zur Berücksichtigung
der Unsicherheiten und der Verfügbarkeiten.
ganzheitliche Qualitätsbewertung der aus dem Fu-
20 sionsfilter benötigten Daten bereitstellt. Somit ergibt sich das hier definierte Integritätsmaß
als eine Kombination aus der Überprüfung der ver-
26.5 • Datenqualitätsbeschreibung
495 26
fügbaren Daten auf Konsistenz, der Bewertung der Zur Bewertung der Optimalität eines Parame-
Prüfschärfe aufgrund der Unsicherheit der Daten terschätzverfahrens werden zwei Kriterien [19] zur
und der Überdeckung der Vertrauensintervalle. Bewertung der Konsistenz als Grundlage verwen-
det. Diese sind ein Erwartungswert der Schätzung,
Algorithmen zur Bewertung der Integrität Die der dem wahren Wert entsprechen soll, sowie die
Definition der Integrität in der Navigation und Or- minimale Varianz der Schätzung. Die mittlere
tung lässt sich laut [16] ergänzen: quadratische Abweichung stellt hierbei ein ge-
meinsames Maß beider Kriterien dar. Ein für den
» „(…) die Korrektheit der durch die Ortungskom- Globaltest geeignetes Verfahren ist der Normali-
ponente bereitgestellten Positionsinformation zed-Innovation-Squared (NIS)-Test.
(…). Diese wird durch zwei Größen beschrieben: Als Grundlage zur Sensorvalidierung und zur
Fehlergrenzwert und Alarmzeit. Detektion von signifikanten Fehlern wird die Über-
prüfbarkeit von Daten verwendet. Hierfür sind fol-
-
Der Fehlergrenzwert (Threshold Value) spezi-
fiziert den noch tolerierbaren Positionsfehler gende Herangehensweisen [2] geeignet:
für eine bestimmte Anwendung. Er heißt auch Hardware-Redundanz: gegenseitige Über-
prüfung der Informationen von mehreren
-
Protection Level und wird üblicherweise in
der horizontalen Ebene (Horizontal Protection gleichen Sensoren;
Level, HPL) und in der vertikalen Achse (Vertical Analytische Redundanz: gegenseitige Über-
prüfung von modellbasiert mit anderen Senso-
-
Protection Level, VPL) getrennt angegeben.
Die Alarmzeit (Time-to-alarm, ToA) beschreibt die ren verknüpften Informationen;
erlaubte Zeitspanne zwischen Auftreten des den Temporale Redundanz: Überprüfung mehrerer
Durchläufe des gleichen Versuchs, daher nicht
-
Alarm auslösenden Ereignisses und seiner Erfas-
sung am Ausgang der Ortungskomponente. (…)“ echtzeitfähig;
Wissensbasierte Methoden: Modellierung von
Eine Konkretisierung [17] des Begriffs der Integri- Prozesswissen/menschlichem Wissen, mit dem
tät ist möglich, indem die Sub-Parameter Integri- Inkonsistenzen in Signalen erkannt werden.
tätsrisiko, Alarmschwelle und Alarmzeit definiert
werden. Hierbei bedeutet Integritätsrisiko die Auf- Redundanzen werden beispielsweise bei der Sen-
tretenswahrscheinlichkeit eines nicht akzeptablen sorvalidierung durch Bayessche Netzwerke [2]
Fehlers des Systems, ohne dass eine rechtzeitige verwendet. Hierbei wird jedem Sensor über eine
Warnung gegeben wird. Das Alarmlimit definiert Verknüpfung bedingter Wahrscheinlichkeiten eine
den Schwellwert des noch akzeptierten Fehlers, Validitätswahrscheinlichkeit zugeordnet. Neben
ab dessen Überschreitung Integritätsalarm ausge- dem bereits erwähnten, auch auf Redundanzen ba-
löst wird, die Alarmzeit wird als die Zeit zwischen sierenden NIS-Test [20] existieren als weitere Ver-
Auftreten eines nicht akzeptablen Fehlers in der fahren zur Validitätsprüfung die Parity-Space-Me-
Navigationslösung und der Auslösung des Alarms thode [21] und die mathematisch ähnliche
beschrieben. Hauptkomponentenanalyse [22]. Beide basieren auf
Die Begriffe Korrektheit und Genauigkeit be- einer Auftrennung von Beobachtungen in statistisch
schreiben im allgemeinen Sinne die Einhaltung bzw. unabhängige Komponenten und deren anschließen-
die Definition eines alle Unsicherheiten der Daten der Überprüfung. Eine wissensbasierte Methode ist
einschließenden Vertrauensintervalls. Fuzzy Logik [23], die häufig zur Sensorvalidierung
Ein grundlegendes, zur Integritätsbewertung in Kraftwerken eingesetzt wird.
geeignetes statistisches Verfahren zur Qualitätskon- Das aus dem GNSS-Bereich stammende Receiver
trolle von Mess- und Schätzdaten ist der Globaltest Autonomous Integrity-Monitoring (RAIM-)-Ver-
[18], in dem ein Gauß-Markov-Modell auf Einhal- fahren ist ein Überbegriff für verschiedene Metho-
2
tung einer angenommenen n-Verteilung innerhalb den. Diese verwenden insbesondere auf Redundanz
einer definierten Irrtumswahrscheinlichkeit über- basierende Methoden zur Integritätsbewertung in
prüft wird. Geodäsie, Navigation und Ortung.
496 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
4
Gemeinsames Ziel von RAIM-Algorithmen ist Weiterhin wird der betrachtete Zeitbereich
5 die bordautonome Fehlerdetektion in Messdaten zur Bildung der Teststatistik unterschieden in
mit möglichst kurzer Alarmzeit und definierter Snapshot-Methoden, die nur die Daten der aktu-
Irrtumswahrscheinlichkeit. Weiterhin wird als Be- ellen Messepoche verwenden, sowie sequenzielle
26 wertungsgröße des aktuellen Systemzustandes eine Methoden, die auch aus der Vergangenheit gespei-
Abschätzung des maximalen Störeinflusses durch cherte Werte zur Berechnung einsetzen.
7 einen unentdeckten Fehler berechnet. Der Nachweis der mathematischen Äquivalenz
Übliche in der Geodäsie verwendete RAIM-Al- ist für die vier grundlegenden, dem Snapshot-Ver-
gorithmen basieren auf dem Detection, Identifica- fahren in der Range Domain zuzuordnenden
8 tion and Adaption (DIA)-Verfahren [24], das vom RAIM-Methoden Least Squares Residuals, Parity
stochastischen Modell grob abweichende Störungen Space, Range Comparison [26] und Normalized
9 mittels Globaltest detektiert und Ausreißer gegebe- Solution Separation [27] erbracht.
nenfalls über einen Lokaltest identifiziert. Eine Ad- Das Snapshot-Verfahren Multiple Solution Se-
10 aption [25] an den Ausreißer lässt sich durch das paration [25] in der Position Domain basiert auf der
Ersetzen der fehlerhaften Messung oder die Anpas- Annahme, dass pro Messepoche nur eine Messung
sung der Nullhypothese an den Ausreißer erzielen. gestört ist. Bei N Beobachtungen werden zusätzlich
11 Die Nullhypothese H 0 bei RAIM besagt, dass sich zur Gesamtlösung N 1 Positionslösungen unter
die Abweichungen (Residuen) der Messungen wie Ausschluss jeweils einer Beobachtung gebildet, so
12 normalverteilte Zufallsvariablen entsprechend ih- dass gemäß der Annahme mindestens eine fehler-
rem stochastischen Modell verhalten. Die Alterna- freie Lösung existiert. Die Teststatistik wird durch
tivhypothese H a geht dagegen von einem Fehler Auswertung der Abweichungen zur Gesamtlösung
13 aus: Wird diese Hypothese akzeptiert, erfolgt die gebildet; dieses Verfahren ist durch die Berechnung
Auslösung von Integritätsalarm. Beim Überprüfen mehrerer Lösungen mit einem hohen Rechenauf-
14 der Hypothesen mittels Globaltest [24] ergeben sich wand verbunden.
mit den stochastischen Parametern ˛ und ˇ die in Das sequenzielle Range-Domain-Verfahren Au-
15 . Tab. 26.2 gezeigten Szenarien: tonomous Integrity Monitoring by Extrapolation
RAIM-Anwendungen in der Navigation basie- (AIME) [25] ist zum Einsatz in der Airbus-Familie
ren auf den folgenden drei grundlegenden Fehler- zertifiziert. Es ermittelt die Teststatistik über die
--
16 detektionsmethoden: Innovationen des Fusionsfilters über die Zeiträume
Range Domain: Konsistenzprüfungen der 150 s, 10 min und 30 min, wodurch langsam verän-
17 Pseudorange-Messungen, derliche Fehler prinzipiell detektierbar sind. Da-
verallgemeinert: Konsistenzprüfung auf mit steigt jedoch auch die Alarmzeit entsprechend
18
19
-- (Roh-)Messdatenebene;
Position Domain: Teststatistik der Positionsbe-
stimmung wird aus Subsystemen hergeleitet,
verallgemeinert: Konsistenzprüfung auf
an. Dieses Verfahren ist insbesondere geeignet für
Tightly-Coupled-Verfahren, da es durch die Einbe-
ziehung des Trägheitsnavigationssystems auch bei
weniger als vier beobachtbaren Satelliten zur Über-
lende oder – wie bei AIME – nur über einen langen Schwächen und deren Nachteil nur bei einem korrekt
Zeitraum gegebene Detektierbarkeit von langsam parametrierten Fusionsfilter funktionsfähig zu sein,
wachsenden Fehlern, beispielsweise verursacht durch eine Bank an mehreren unabhängigen Filtern
durch Veränderungen der Ionosphärenlaufzeit von mit unterschiedlichen Fehlerhypothesen, die einem
GNSS-Signalen oder Offset-Driften der Inertial- Fehler eine Zutreffenswahrscheinlichkeit zuordnen.
messeinheit. Ein hierfür beschriebener Lösungs- Durch die notwendigen Mehrfachberechnungen re-
ansatz ist der Rate-Detector-Algorithmus [28], der sultiert ein erhöhter Rechenaufwand für beide Me-
über ein separates Kalman-Filter die Änderungsrate thoden. Außerdem zielen diese Ansätze auf vorab
der Teststatistik beobachtet und somit dauerhafte, festgelegte Fehlertypen, auf nichtmodellierte Fehler-
jedoch zur Auslösung von Integritätsalarm zu kleine arten können sie nicht in geeigneter Weise antworten.
Abweichungen vom Erwartungswert detektiert.
Ein Ansatz, der die bekannten Schwächen von
RAIM-Algorithmen – Annahme nur eines gleich- 26.5.2 Genauigkeit
zeitigen Fehlers und Nichterkennbarkeit von lang-
sam veränderlichen Fehlern – adressiert, ist die Anforderungen Die Datenverarbeitung oder Rege-
Piggypack-Architektur [29]. Letztere nimmt eine lung in Anwenderfunktionen benötigt detaillierte,
Umrechnung der Inertialmessungen in virtuelle mehrere Signaleigenschaften umfassende Infor-
Pseudorange-Messungen vor und führt die Teststa- mationen. Die Information über die Gesamtun-
tistik nach AIME, eine Fehlerdetektion und -isola- sicherheit [36] der Filterzustände allein ist nicht
tion nach Solution-Separation durch [25] – d. h. der ausreichend, um die Steuerung oder Regelung mit
Berechnung mehrerer Navigationslösungen unter dynamischer Qualität aufzubauen. Daher erfolgt
Ausschluss einzelner Beobachtungen und die Be- eine Echtzeit-Beschreibung typischer Eigenschaf-
rechnung des Protection-Levels nach NIORAIM ten von gemessenen oder auch verarbeiteten Daten
[30]. Dieses Verfahren ist aufgrund der Berechnung in Form von Genauigkeitsmaßen für verschiedene
virtueller Pseudoranges und der Verwendung von Kennwertklassen. Dadurch wird der virtuelle Sensor
Solution-Separation mit einem hohen Rechenauf- dahingehend erweitert, dass den Anwendungen ein
wand verbunden. dynamisches, den aktuellen Verfügbarkeiten und
Speziell für die Anwendung im Straßenverkehr Genauigkeiten der Sensoren entsprechendes virtu-
wird der Begriff von Vehicle Autonomous Integrity elles Datenblatt liefert. Dieses enthält alle für die
Monitoring (VAIM) [31] eingeführt, weiterhin für Verarbeitung in den Anwendungen benötigten In-
die Verwendung seriennaher Sensorik das Verfah- formationen bzgl. der in der aktuellen Messepoche
ren High Integrity IMU/GPS Navigation Loop [32], fusionierten Signale, ist jedoch so weit abstrahiert,
die beide stark vereinfachende Annahmen und Al- dass keine direkte Abhängigkeit von einzelnen
gorithmen verwenden und die bereits genannten Sensoren besteht. Dadurch wird eine Entkopplung
Schwächen von RAIM-Algorithmen aufweisen. der Signalquellen und der Anwenderfunktionen
Ein Verfahren der Time Domain, das im Gegen- zusätzlich zur Datenebene auch auf der Beschrei-
satz zu anderen Verfahren nicht die Zustände und bungsebene erreicht.
Messungen, sondern die durchfahrene Trajektorie Es ergeben sich die folgenden allgemeinen An-
beobachtet, ist Trajectory Monitoring [33]. Dort wird
jedoch auch gezeigt, dass dieses Verfahren Schwä-
-
forderungen an das Genauigkeitsmaß:
Abstraktion der Beschreibungsebene durch
chen bei niedrigen Geschwindigkeiten aufweist.
Des Weiteren existieren auf der Verwendung
mehrerer Modelle basierende Algorithmen: So ver- - den virtuellen Sensor,
anwendungsspezifische Eigenbeschreibung des
virtuellen Sensors durch ein Echtzeit-Daten-
wendet Interactive Multiple Model Filtering [34] zwei
verschiedene Modelle zur Fehlerdetektion, zwischen
denen je nach Fahrsituation umgeschaltet wird. -- blatt,
Rückwirkungsfreiheit auf das Fusionsergebnis,
Beschreibung aller Ausgabegrößen des Fusi-
Multiple Model Adaptive Estimation (MMAE) [35]
adressiert die von RAIM-Algorithmen bekannten
- onsfilters,
Konsistenz mit dem bestehenden Fusionsfilter.
498 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
Bestehende Maße Für die Beschreibung grund- Auch wenn sich diese Definition an realen, für den
1 legender Begriffe [17] zur Bewertung der Leis- praktischen Einsatz relevanten Beschreibungsgrö-
tungsfähigkeit eines Navigationssystems wird die ßen orientiert, beschränkt sich die Klassifikation
2 Genauigkeit als statistisches Maß für die Abwei- der Messunsicherheit und Messgenauigkeit auf die
chung der geschätzten Position von der unbekann- bisher übliche Beschreibung eines gesamten Fehlers.
ten wahren Position definiert. In Abhängigkeit vom Daher wird im Folgenden der Begriff des Genauig-
3 Anwendungsfall und von der angenommenen Ver- keitsmaßes im Sinne der Messgenauigkeit verwen-
teilungsfunktion werden verschiedene Maße zur det, jedoch um eine Klassifikation in verschiedene
4 Beschreibung eines Unsicherheitsintervalls definiert, Fehlertypen erweitert.
wie beispielsweise „Circular Error Probable“ (CEP).
5 Weiterhin wird der Begriff der Kontinuität definiert Konzeption eines Genauigkeitsmaßes Zur Be-
als die Zuverlässigkeit der Positionsausgabe eines schreibung der Eigenschaften von Messdaten erfolgt
Navigationssystems: Das Kontinuitätsrisiko beschreibt eine Klassifikation in unterschiedliche Fehlertypen.
26 die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das System keine Somit wird eine Aufteilung des Gesamtfehlers in
den Spezifikationen entsprechende Ausgabedaten Einzelfehler erreicht. Die diesen einzelnen Fehler-
7 mehr liefert. Der Begriff der Verfügbarkeit wird im typen zugeordneten Genauigkeiten werden im Fol-
engsten Sinne definiert als die gleichzeitige Einhal- genden als Beschreibungsgrößen bezeichnet. Die
tung der Anforderungen an Genauigkeit, Integrität Berechnung und Weitergabe der Beschreibungs-
8 und Kontinuität. Es wird jedoch angemerkt, dass in größen an Nutzerfunktionen ermöglicht die funk-
praktischen Anwendungen häufig auch nur eine teil- tionsindividuelle Bewertung der aktuellen Signalei-
9 weise Einhaltung dieser Kriterien ausreicht. Daher genschaften, auch wenn keine direkte Verbindung zu
wird von [17] die praxisnahe Definition von Ver- den Sensoren selbst mehr besteht. Die Klassifikation
10 fügbarkeit als die Einhaltung der Anforderungen an in Beschreibungsgrößen liefert dabei Zusatzinfor-
ein System zu einem bestimmten Zeitpunkt angeregt. mationen, die entsprechend des Fehlerfortpflan-
Eine allgemeingültige, auf gemessene oder ge- zungsgesetzes gebildete Summe der Einzelfehler
11 schätzte Daten anwendbare Qualitätsbeschreibung ergibt wiederum die Gesamtunsicherheit.
wird von [37] vorgeschlagen. Die Messqualität wird Die Verarbeitung von Messdaten erfolgt in
12 hierbei als übergeordneter Begriff verwendet, der der Regel schrittweise, jedoch stets basierend auf
sich aus den wie folgt definierten Teilmaßen zusam- grundlegenden Operationen. Daraus ergibt sich die
13
14
-
mensetzt:
Messunsicherheit: quantitative Beschreibung
des Zweifels am Messergebnis in Form eines
Überdeckungsintervalls, innerhalb dessen sich
Unterteilung der vorgenommenen Signalverarbei-
tung in abgeschlossene, als Black Box modellierte
Abschnitte, die stets die Beschreibungsgrößen als
Ein- und Ausgangsvektor besitzen. Innerhalb die-
der wahre Wert der Messgröße mit definiertem ser gekapselten Systeme werden die Ausgabewerte
15
- Vertrauensgrad befindet.
Messgenauigkeit: qualitatives, theoretisches
Maß für die Annäherung eines Messergebnis-
der Beschreibungsgrößen in Form einer Fehlerfort-
pflanzung berechnet, wobei auch bekannte Abhän-
gigkeiten von Beschreibungsgrößen untereinander
-
16 ses an den wahren, unbekannten Wert. in Form eines Fehlerfortpflanzungsgesetzes berück-
Konsistenz: Beschreibung der Widerspruchs- sichtigt werden. Ansonsten werden die Beschrei-
17
- freiheit von verschiedenen Messwerten.
Latenz (Verzugszeit): Zeit zwischen Messung
bungsgrößen vereinfachend als unabhängig und
untereinander rückwirkungsfrei betrachtet. Optio-
18
- und Bereitstellung von Messdaten.
Verfügbarkeit: Bereitstellung von Daten zu
einem bestimmten Zeitpunkt („Punktverfüg-
nal werden weitere Parameter, beispielsweise durch
Korrekturen vom Fusionsfilter, zur Berechnung der
Beschreibungsgrößen verwendet.
-
19 barkeit“). Eine beispielhafte Umsetzung ist in . Abb. 26.4 als
Zuverlässigkeit: Wahrscheinlichkeit für die Blockdiagramm gezeigt. Diese hierbei modellierten
20 Verfügbarkeit von Messdaten über eine defi- Operationen umfassen die Korrektur von Nullpunkt-
nierte Dauer hinaus. und Skalenfaktorfehlern einer Beschleunigungsmes-
26.6 • Beispiel einer Umsetzung
499 26
sung aEbIM U durch das Fusionsfilter, deren Drehung zeigt. Dafür wird ein Error-State-Space-Ansatz mit
in Navigationskoordinaten durch die Drehmatrix CO nbr einem Extended-Kalman-Filter ausgewählt, die
und deren Summation in eine Geschwindigkeit vEn bei in ▶ Abschn. 26.2.2 gezeigte Sensorik wird hierfür
gleichzeitiger Korrektur des Absolutwertes durch das als Grundlage verwendet. Eine MEMS-Inertial-
Fusionsfilter. Hierbei wird die Notation in für Ein- messeinheit mit sechs Freiheitsgraden wird in Kom-
gangswerte und out für Ausgabewerte verwendet. bination mit einem Strapdown-Algorithmus als
Die Modellierung des Signalpfades beginnt mit Basissystem eingesetzt. Korrekturen werden durch
den Sensoren als Quelle. Für die Beschreibungsgrö- GPS Code- und Trägerphasenmessungen sowie
ßen werden Startwerte entsprechend den Spezifika- Odometriemessungen in Form eines Tightly-Cou-
tionen der Sensoren in ihren realen Datenblättern plings zur Verfügung gestellt. Das Filter wird um
verwendet. Somit ist eine stets dem aktuellen Betrieb- die in ▶ Abschn. 26.4.2 gezeigte Kompensation von
szustand entsprechende Spezifikation der Signalei- verzögerter Verfügbarkeit erweitert, ebenso wird die
genschaften zu jedem Prozessschritt der Signalverar- in ▶ Abschn. 26.4.3 beschriebene Plausibilisierung
beitung erreicht. Bezogen auf die Einhaltung dieser für die Korrekturmessungen integriert.
Spezifikationen ergibt sich das Kontinuitätsrisiko Das sich aus den beschriebenen Blöcken er-
eines Error-State-Space-Fusionsfilters entsprechend gebende Fusionsfilter [38] ist in . Abb. 26.5 als
der obigen Definition aus dem Kontinuitätsrisiko des Strukturbild gezeigt. Das Basissystem enthält als
Basissystems, da dessen Verfügbarkeit und Einhaltung zentrales Element der Datenfusion die Korrektur
der Spezifikationen die kleinste, notwendige Grund- der IMU-Sensorfehler, den Strapdown-Algorithmus
lage für den Betrieb des Fusionsfilters darstellen. und das Fusionsfilter (Error-State-Space-KF).
Anhand der Anforderungen der Nutzerfunktio- Die Tightly-Coupling-Schleife setzt sich aus
nen werden die Beschreibungsgrößen ermittelt. Für den Vorverarbeitungs- und Messmodellen für die
das Berechnungsverfahren wird ein für jede Eigen- Rohmessdaten aus GPS-Pseudorange- und Del-
schaft spezifisches Fehlerfortpflanzungsgesetz ausge- tarange-Messungen und aus der Odometrie zu-
wählt. Prinzipiell lässt sich die Fehlerfortpflanzungs- sammen. Die vorverarbeiteten und korrigierten
rechnung mit beliebigen, für die Beschreibungsgrößen Daten aus diesen Blöcken sind Eingänge für das
individuellen Verteilungsfunktionen realisieren. Error-State-Space-Kalman-Filter, die Korrekturen
für Tightly-Coupling werden als Ausgabegrößen
des Filters in einer geschlossenen Regelschleife zu-
26.6 Beispiel einer Umsetzung rückgeführt. Der relative Zeitverzug der GPS- und
Odometriemessungen wird gemessen und mit der
26.6.1 Architektur Korrektur für verzögerte Verfügbarkeit kompen-
siert. Die Plausibilisierung detektiert und entfernt
Die beispielhafte Umsetzung eines Fusionsfilters die durch äußere Störungen nicht mehr ihrem Feh-
zur hochgenauen Ortung wird nachfolgend ge- lermodell entsprechenden Messwerte der Korrek-
500 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
1
2
3
4
5
26
7
8
9 .. Abb. 26.5 Blockstruktur des Fusionsfilters
10 turmessungen. Dies erfolgt sowohl als integrierte, Der Aufbau des Fusionsfilters erfüllt hierbei die
Messungen und Unsicherheiten des Fusionsfilters in ▶ Abschn. 26.1 genannten Anforderungen an die
und der Korrekturmessungen verwendende Über- Systemarchitektur. IMU und Korrekturmessungen
11 prüfung als auch durch den modellbasierten, vom sind als Sensoren von den ausgegebenen Daten ent-
Filter unabhängigen Vergleich überbestimmter Kor- koppelt, das Filter wirkt als virtueller Sensor und be-
12 rekturmessdaten untereinander. rechnet unabhängig von der Anzahl der verfügbaren
Diese modulare Filterstruktur ermöglicht die Korrekturmessungen einen konsistenten Satz an Aus-
Erweiterbarkeit um weitere Korrekturmessungen gabedaten. Da der Strapdown-Algorithmus zeitinva-
13 ohne Änderungen an den bestehenden Messmo- riant mit deterministischen Prozessschritten ist, wird
dellen. Mindestvoraussetzung zur Integration ei- eine konstante Gruppenlaufzeit der Signale erzielt.
14 ner weiteren Korrekturmessung ist parallele oder Die Ausgaberate ist durch die taktgleiche Berech-
analytische Redundanz zu mindestens einem der nung des Basissystems identisch mit der IMU-Mess-
15 Filterzustände, womit auch eine Plausibilisierung rate; diese ist die höchste aller verwendeten Sensoren.
mit Messdaten aus dem Basissystem realisierbar Weiterhin ist die IMU-Verfügbarkeit nicht durch äu-
ist. Beinhaltet ein Korrekturdatensatz mehrere ßere Umstände eingeschränkt, sondern nur durch die
16 Messungen mit paralleler Redundanz untereinan- Hardware-Zuverlässigkeit der Sensoren bestimmt.
der, lässt sich über eine Modellbeschreibung von Bei allen anderen für Korrekturmessungen einge-
17 bekannten Zusammenhängen auch die erwähnte, setzten Sensoren werden dynamische Änderungen
vom Fusionsfilter unabhängige, Plausibilisierung der Verfügbarkeit sowie unterschiedliche und nicht
durchführen. Weiterhin ist für die Korrektur eines konstante Abtastraten kompensiert.
18 Zeitverzugs der Messung erforderlich, dass dieser Die Anforderungen für den spezifischen Ein-
Verzug messbar oder bekannt ist. Ist die Korrektur- satzzweck im Automobilbereich werden durch das
19 messung von systematischen Fehlern betroffen, die beschriebene Fusionsfilter und dessen Erweiterun-
durch die Messung selbst oder durch andere Mes- gen grundsätzlich erfüllt. Die Systemarchitektur des
20 sungen beobachtbar sind, ist die Einbindung in eine Fusionsfilters ermöglicht eine auf die Eigenschaf-
Regelschleife mit enger Kopplung realisierbar. ten heterogener Sensoren angepasste Signalverar-
26.6 • Beispiel einer Umsetzung
501 26
.. Abb. 26.6 Fahrzeug auf
Trägerplattform
beitung in Echtzeit. Damit ist das Fusionsfilter als falscher Fehlerwert ermittelt. Weitere Randbedin-
zentraler virtueller Sensor in der Lage, einen konsis- gungen werden daher definiert, um einen solchen
tenten Datensatz mit im Vergleich zu den einzelnen Falschabgleich zu verhindern.
Sensoren verbesserter Genauigkeit zu erzeugen. Die vorgestellten bestehenden Systeme sind
hierbei Lösungen für spezifische, im praktischen
Anwendungsfall aufgetretene technische Probleme.
26.6.2 Bewegte Referenzsysteme/ Ihnen ist gemeinsam, dass sie einen Abgleich nur
„Trägerplattform“ in eindeutigen, durch logische Verknüpfungen er-
kannte Sondersituationen ermöglichen und dass sie,
Ein praxisrelevanter Sonderfall eines bewegten wenn überhaupt, eine Abhilfe zu den durch eine Trä-
Fahrzeugs ist dessen in . Abb. 26.6 gezeigter Trans- gerbewegung entstehenden Symptomen darstellen.
port auf einer Trägerplattform – wobei die Erde als Der im Folgenden vorgestellte Ansatz hat dagegen
Träger ausgenommen ist – beispielsweise durch zum Ziel, durch eine Modellierung bekannter physi-
eine Autofähre, einen Drehteller im Parkhaus oder kalischer Zusammenhänge und Messprinzipien von
durch eine Fahrt auf einem Anhänger bzw. Autozug. Sensoren die Ursache der Störung, d. h. die Träger-
Hierbei führt die Trägerplattform Bewegungen mit bewegung, als konsistenten Teil des Fahrzeug-Fusi-
im Allgemeinen sechs Freiheitsgraden aus: Bedingt onsfilters mit seinen Sensoren abzubilden.
durch heterogene Messprinzipien der fusionierten Die durch Bewegung des Trägers entstehende
Sensoren führt dies im Fahrzeug zu nachfolgend Inkonsistenz der Messungen resultiert, wie in
erläuterten Inkonsistenzen der Messungen unter- ▶ Abschn. 26.2.1 angedeutet, aus sich in unter-
einander und damit zur fehlerhaften Schätzung des schiedlichen Koordinatensystemen befindlichen
Fahrdynamikzustands durch das Fusionsfilter. Referenzpunkten der Sensoren. Die im Fusionsfilter
Bisherige Systeme zur Korrektur oder Kompen- eingesetzten Sensoren sind wie folgt von heteroge-
sation von Sensorfehlern nutzen beispielsweise Mo-
dellannahmen über eine Geradeausfahrt und den
Nullpunktfehler als niederfrequenten Effekt [39],
Schwellwerte zur Detektion von Situationen, die für
-
nen Referenzpunkten betroffen:
IMU: Absolutmessung der Dynamikgrößen
Beschleunigung und Drehrate im Inerti-
alkoordinatensystem; wie in ▶ Abschn. 26.2.2
einen Abgleich tauglich sind [40], und die Bildung beschrieben werden diese Messgrößen durch
einer Regressionsgeraden unter Einbezug von Rad- den Strapdown-Algorithmus in das erdfeste
drehzahl-Messungen [41] zum Abgleich von Senso- Koordinatensystem konvertiert. Eine Bewe-
ren – in diesem Falle des Gierratensensors. Findet gung des Fahrzeugs durch Trägerbewegung ist
ein solcher Abgleich auf einem bewegten Träger durch die IMU messbar und wird durch die
statt, wird durch die überlagerte Bewegung ein erdfeste Referenzierung korrekt verarbeitet.
502 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
-
3 verarbeitet. 2. Zwischen Abstellen des Fahrzeugs und Beginn
Odometrie: Absolutmessung der Fahrzeugge- der Trägerbewegung vergeht stets eine Mindest-
4 schwindigkeit auf dem gegebenen Untergrund, zeit.
im hier betrachteten Fall ein Träger und nicht 3. Die Dynamik des Trägers bleibt stets begrenzt;
5 die Erdoberfläche; damit ist die Trägerbewe- die maximale Dynamik ist modellierbar.
gung nicht messbar und bei der Konvertierung
in fahrzeugfeste kartesische Koordinaten- Aus Annahme 1 folgt, dass die Bewegung eines fah-
26 system nach DIN 70000 [5] entstehen daher renden Fahrzeugs nicht von Trägerdynamik überla-
Inkonsistenzen in den Daten. gert ist. Somit stellt die Messung von Raddrehzahlen
7 größer Null durch die Odometrie ein Ausschluss-
Bei der Behandlung von Inkonsistenzen der Messda- kriterium einer Trägerbewegung dar. Annahme 2
ten durch die Trägerbewegung ist zu beachten, dass liefert als weiteres Ausschlusskriterium eine Still-
8 eine Berücksichtigung der Trägerdynamik durch standszeit unterhalb eines typischen Grenzwertes.
das alleinige Erhöhen des Odometriemessrauschens Der Grenzwert ist größer als typische Stillstands-
9 nicht zielführend ist, da die Trägerdynamik nicht zeiten – wie beispielsweise an Verkehrssignalanla-
zufällig in den Messdaten auftritt und somit deren gen – zu wählen, jedoch auch hinreichend klein, um
10 Mittelwertfreiheit nicht gegeben ist. Die Erhöhung Hypothese „a“ rechtzeitig zu verwerfen – falls sich
des Messrauschens [19] führt daher lediglich zur das Fahrzeug tatsächlich auf einem Träger befindet.
Verlangsamung, aber nicht zu einer Vermeidung der Wird Hypothese „b“ als gültig angenommen, wer-
11 Akkumulation von Fehlern im Fusionsfilter. den die Odometriemessungen als potenziell fehler-
Falls vom Fusionsfilter unabhängige Messdaten behaftet modelliert.
12 der Trägerbewegung verfügbar sind, ist die Korrektur Ziele dieser Unsicherheitsmodellierung sind die
der Inkonsistenzen beispielsweise dadurch möglich, Berücksichtigung der nicht mittelwertfreien Mess-
dass eine Autofähre die Dynamikdaten ihres eige- werte und die Beeinflussung des stochastischen Mo-
13 nen Navigationssystems und die zugehörigen Mess dells des Fusionsfilters, um die entstehenden Fehler
unsicherheiten an das Fahrzeug übermittelt. Sind dennoch plausibel zu beschreiben. Hierfür wird
14 zudem Position und Ausrichtung des Fahrzeugs auf die überlagerte Trägerbewegung weiterhin zu Null
der Fähre bekannt, ist damit eine deterministische angenommen und eine variabel angepasste Unsi-
15 Korrektur realisierbar, die durch Superposition der cherheit über das stochastische Modell eingebracht;
Trägerbewegungsdaten und der Odometriemessda- damit wird nicht verhindert, dass die inkonsistenten
ten die Inkonsistenz der Messdaten beseitigt und das Messungen zu Fehlern im Fusionsfilter führen. Ein
16 zugehörige überlagerte Messrauschen beider Mess- nicht dem Fehler entsprechendes Absinken der Va-
größen durch Fehlerfortpflanzung berechnet. rianzen durch das Anbringen nicht mittelwertfrei
17 Sind keine Daten zur Trägerdynamik verfügbar, fehlerbehafteter Messungen wird aber vermieden.
wird der Trägerstatus des Fahrzeugs durch die bei- Ebenso wird auch ein unplausibles kontinuierliches
den Hypothesen Ansteigen der Unsicherheiten über der Zeit – wie
18 a) „Fahrzeug befindet sich sicher nicht auf einem beim vollständigen Verwerfen der Odometrie-
Träger“ messung der Fall – verhindert. Diese dadurch im
19 b) „Es ist nicht bekannt, ob sich das Fahrzeug auf Systemmodell korrekt modellierten Fehler werden
einem Träger befindet“ beim Beginn einer Fahrt – und damit dem Über-
20 beschrieben. Dabei werden folgende Modellannah- gang zu Hypothese „a“ – im Sinne des Kalman-Fil-
men getroffen: ters optimal korrigiert.
26.6 • Beispiel einer Umsetzung
503 26
Die Verfahren zur Superposition von bekann- NIS) gebildet, die mathematisch die Quadratsumme
ten Trägerdynamikdaten und zur Modellierung von statistisch unabhängigen, standardnormalver-
unbekannter Trägerdynamik sind abhängig von teilten Residuen darstellt:
der Verfügbarkeit von Trägermessdaten alternativ
anwendbar, ohne dass hierfür am Fusionsfilter selbst T Sk D EikT S1 E
k ik : (26.18)
Veränderungen notwendig sind. Die Modellierung
wird ausschließlich in der Vorverarbeitung der Die Standardisierung findet durch die zugehörige
Odometriesensorik für die Messdaten und deren Varianz-Kovarianz-Matrix Sk der Innovation statt.
Rauschmodell durchgeführt. Diese Werte werden Diese besteht aus den filterinternen, für Kalman-Fil-
als Beobachtung im Filter angebracht, wodurch die ter üblicherweise verwendeten Variablen „Messmo-
bisher übliche Behandlung von Trägerdynamik als dell Hk“, „A-priori-Varianz-Kovarianz-Matrix P k“
Sonderfall mit Umschaltung der Betriebsart des Fil- und „Varianz-Kovarianz-Matrix der Messung Rk“:
ters entfällt.
Sk D Hk P T
k Hk C Rk : (26.19)
errechnet. Die Gewichtung mit der statistischen Dabei ist ˇ;k der Nichtzentralitätsparameter der
1 Unsicherheitsgrenze wird durch den Parameter n für die Verteilung der Innovationen angenomme-
2
entsprechend der Anforderungen der Nutzerfunk- nen Nk ;-Verteilung zu den gewählten Werten für
2 tionen durchgeführt: die Irrtumswahrscheinlichkeit ˛ und Fehler 2. Art
v ˇ. Für das Protection-Level ergibt sich daraus ein
u C Konfidenzintervall der Wahrscheinlichkeit 1 ˇ.
3 PLk D n t
S
u Pk .1;1/ C PCk .i; i/ C : : :
: (26.23) Dieses Konfidenzintervall wird über die maxi-
C
C Pk .m; m/
male Steigung Max;k in die Ergebnisebene proji-
4 ziert, damit berechnet sich PLM
k als:
Zur Berechnung der Messunsicherheit PLM k
wird
PLM
k D Max;k %k : (26.27)
5 eine Abschätzung der Auswirkung der maxima-
len, gerade noch nicht detektierbaren Störung auf
das Fusionsergebnis durchgeführt – unter der An- Das gesamte Protection-Level PLk ergibt sich aus
26 nahme, dass in einer Messepoche nur ein solcher den beiden beschriebenen Teilen:
Fehler gleichzeitig auftritt.
7 Die linearisierte Berechnung der Sensitivität
PLk D
q
2
PLSk C PLM
2
des Fusionsergebnisses dRk auf Störungen drk der k : (26.28)
Messdaten erfolgt durch die Ermittlung der Stei-
8 gung (Slope) [42] k: Am Beispiel einer ebenen Positionsangabe be-
schreibt das Protection-Level einen Konfidenzbe-
9
1
dRk
k D
1
D Kk Dk 2 LTk :(26.24) reich der Positionsschätzung; dieser ist gültig, falls
drk kein Integritätsalarm gegeben wird. Das berech-
10 nete Integritätsmaß besteht daher aus den über die
Hierfür wird eine Eigenwert-Zerlegung der Matrix stochastischen Annahmen gekoppelten Ergebnisse
Sk durchgeführt, womit sich Dk als Diagonalmatrix der Konsistenzprüfung sowie des Protection-Levels.
11 der Eigenwerte und Lk als Modalmatrix der Eigen- Als Snapshot-Methode detektiert der Algorithmus
vektoren ergibt. Kk ist hierbei der Kalman-Gain der Fehler der Messdaten stets innerhalb der aktuellen
12 aktuellen Messepoche. Messepoche. Das Ergebnis der Überprüfung durch
Als Randbedingung wird angenommen, dass die Teststatistik liefert ein eindeutiges Ergebnis mit
pro Messepoche nur eine Messung gestört ist [25]. definierter Irrtumswahrscheinlichkeit, während das
13 Da die Abschätzung der maximalen Störung be- Protection-Level ein Vertrauensintervall für das Fu-
rechnet wird, ist die größte gemeinsame Steigung sionsergebnis beschreibt. Beide Maße berücksichti-
14 der m jeweiligen Zustandsgrößen in einer Messepo- gen hierbei die Unsicherheit und Verfügbarkeit von
che hierfür ausschlaggebend: redundanten Messdaten.
15 M ax;k D maxm .k / : (26.25) Gleichzeitige Störungen Bei der Berechnung des
Protection-Levels wird für Gl. 26.24 die Annahme
16 Da an dieser Stelle eine statistische Abschätzung von maximal einer signifikant gestörten Messung
einer Fehlerdetektionswahrscheinlichkeit durch- pro Messepoche getroffen. Bei der Anwendung von
17 geführt wird, erfolgt die Aufstellung einer Alter- GNSS und Odometrie im Kraftfahrzeug sind in der
nativhypothese Ha gemäß . Tab. 26.2. Aus der Be- Praxis jedoch häufig mehrere Fehler gleichzeitig
rechnung der Wahrscheinlichkeit ˇ für einen Fehler zu erwarten, beispielsweise Mehrwegeausbreitung
18 2. Art bei der Überprüfung der Teststatistik wird von GNSS-Signalen und Störungen der Odometrie
somit der maximale, gerade nicht detektierbare Feh- durch unebenen Untergrund. Die Wahrscheinlich-
19 ler berechnet: keit, dass mehrere solcher Fehler gleichzeitig auftre-
ten und dass ihre Auswirkungen dabei konsistent
q
20 %k D ˇ;k : (26.26)
zueinander sind, wird als hinreichend gering ange-
nommen, um diesen Fall in der realen Nutzung ver-
26.6 • Beispiel einer Umsetzung
505 26
nachlässigen zu können. Damit ist dieser Fehlertyp schleichenden Druckverlust oder Veränderung
durch die Plausibilisierung gemäß ▶ Abschn. 26.4.2 der Reifentemperatur.
detektierbar. Da die Plausibilisierung solche fehler-
behafteten Messungen verwirft, werden diese nicht Die potenziell von SGE betroffenen Größen von
mehr für die Integritätsbewertung verwendet. Le- IMU und Odometrie sind bereits als Fehlermo-
diglich der Fall von ausbleibendem Alarm durch dell im Fusionsfilter implementiert und in jeder
zu wenige überprüfbare redundante Messungen Messepoche werden die Rohmessungen um die
wird durch die Plausibilisierung nicht abgedeckt. bekannten, kontinuierlich weitergeschätzten Fehler
Dies steht jedoch nicht grundsätzlich im Wider- korrigiert. Somit führt das langsame Anwachsen
spruch zur Annahme eines einzelnen Fehlers pro dieser Fehler nicht zu signifikanten Fehlern der
Messepoche, da in diesem Fall ohnehin nur wenige fusionierten Daten, solange das Fusionsfilter diese
Messungen zur Verfügung stehen. Vor dem prakti- hinreichend schnell durch redundante Messungen
schen Einsatz eines solchen Algorithmus sind ent- korrigiert. Problematische – da erheblich über die
sprechende Validierungstests durchzuführen. Filterdynamik hinausgehende – Störungen von
Korrekturmessungen sind dagegen mit definierter
Langsam anwachsende Fehler Eine aus ▶ Ab- Detektionswahrscheinlichkeit und -schwelle sowohl
schn. 26.5 bekannte Schwäche von RAIM und AIME durch die in ▶ Abschn. 26.4.2 beschriebene Plausibi-
ist die Nichtdetektierbarkeit von langsam anwach- lisierung vermeidbar als auch durch den in Gl. 26.22
senden Fehlern (Slowly Growing Errors, SGE). In gezeigten Hypothesentest erkennbar. Weiterhin ist
der gängigen Praxis werden diese Algorithmen daher durch die Überprüfung der summierten Absolut-
nur eingeschränkt verwendet, stattdessen werden be- werte der Fehlerkorrekturen mit definierten Maxi-
züglich Rechenzeit und Speicherbedarf aufwendige malwerten eine Detektion von Fehlern außerhalb
Verfahren wie der MMAE-Algorithmus eingesetzt. des für den jeweiligen Sensor spezifizierten Bereichs
Ein Nachteil dieser Methoden ist jedoch, dass nur realisierbar.
modellierte Fehler zuverlässig erkannt werden. Langsam anwachsende Fehler einzelner Pseu-
Ein typischer Fall von SGE ist die durch Ände- dorange-Messungen, die nicht als Fehler im Fusi-
rungen in der Ionosphäre verursachte, zeitlich ver- onsfilter modelliert sind, führen unabhängig vom
änderliche Störung in einer Pseudorange-Messung; Fusionsfilter zu Widersprüchen im geometrischen
diese findet so langsam statt [25], dass sie eine fal- Vergleich der Plausibilisierung, beschrieben in den
sche Korrektur der Schätzposition des Filters bewir- Gl. 26.10 bis 26.17, und sind daher mit definierter
ken. Die Höhe der Abweichung von einer Messepo- Detektionsschwelle erkennbar.
che zur nächsten ist jedoch nicht ausreichend groß,
um den Fehler mit einem Snapshot-Verfahren zu
detektieren. Im Fall des hier gezeigten Fusionsfilters 26.6.4 Genauigkeitsmaß
sind für die verwendeten Sensoren in folgenden Fäl-
-
len SGE zu erwarten:
IMU: durch Defekte oder äußere Einflüsse –
wie bspw. die Umgebungstemperatur – be-
dingte Drift von Offset oder Skalenfaktorfeh-
Zur beispielhaften Umsetzung eines Genauig-
keitsmaßes im Fusionsfilter, das die in Abschnitt
▶ Abschn. 26.5.2 gezeigten Kriterien erfüllt, wer-
den hier die Beschreibungsgrößen Messrauschen,
- ler;
GNSS: Pseudorange-Messungen durch
Ionosphäreneinfluss und Mehrwegeempfang;
Deltarange-Messungen sind dagegen durch die
Nullpunktfehler (Offset) und Steigungsfehler (Ska-
lenfaktorfehler) ausgewählt. In der hier gezeigten
Anwendung wird weiterhin die Annahme getroffen,
dass die Beschreibungsgrößen normalverteilt sind;
zeitliche Differentiation der Messwerte nicht dadurch vereinfacht sich die gemeinsame Verwend-
- betroffen;
Odometrie: langsam veränderliche Fehler der
gemessenen Geschwindigkeit durch Verände-
rungen des Rollradius, beispielsweise durch
barkeit mit dem stochastischen Modell des Fusions-
filters. Für korrelierte Beschreibungsgrößen ist das
allgemeine Varianzfortpflanzungsgesetz mit vollbe-
setzter Varianz-Kovarianz-Matrix anzuwenden, bei
506 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
unkorrelierten Beschreibungsgrößen vereinfacht Dagegen werden PC off s;a und Pscale;a, konsistent zur
C
1 sich dies zur skalaren Fortpflanzung der Varianzen. Korrektur des Nullpunkt- und Skalenfaktorfehlers
Die Methode wird für die in . Abb. 26.4 ge- im Basissystem, durch die entsprechenden Varian-
2 zeigten Operationen des Basissystems umgesetzt: zen des Fusionsfilters überschrieben.
also die Korrektur von Nullpunkt- und Skalenfak-
torfehlern einer Beschleunigungsmessung aEbIM U Transformationsschritt (Drehung) Die Ausgabe-
3 durch das Fusionsfilter, deren Drehung in Navi- werte der Korrektur werden nun durch Drehung
gationskoordinaten mittels Rotationsmatrix CO nbr, mittels Drehmatrix CO nbr in ein anderes Koordina-
4 und deren Summation zur Geschwindigkeit vEn bei tensystem überführt, wobei wie oben erwähnt CO nbr
gleichzeitiger Korrektur des Absolutwertes durch als fehlerfrei angenommen wird. Die Transformati-
5 das Fusionsfilter. onsgleichung der Drehung ist:
Vereinfachend sei angenommen, dass die Fehler
O nb aEbC orr :
aEn D C (26.31)
der Drehmatrix CO nbr vernachlässigbar sind: Für die
26
r
--
Pout out out out
ges D Pra C Poff s C Pscale : (26.35) Größen
Geschwindigkeit vEO b,
Position E̊O n
26.6.5 Exemplarische Ergebnisse
zutreffend. Aufgrund der besonderen Relevanz für
Zur Bewertung der Leistungsfähigkeit des Fusions- Automotive-Anwendungen beschränkt sich die
filters wird die Differenz zu einem Referenz-Mess- weitere Betrachtung auf Größen der horizontalen
system berechnet. Diese Differenz wird innerhalb Ebene. Sie beinhalten summierte IMU-Messwerte
der spezifizierten Unsicherheitsgrenzen als Maß für und Korrekturen aus dem Fusionsfilter. Dabei wird
den Fehler des Filters verwendet. Hierfür werden angenommen, dass Fehler in allen anderen Schätz-
-
folgende Kennwerte ausgewählt:
Standardabweichung als Maß für das Rau-
größen über die Dauer eines Tests zu erkennbaren
Fehlern von Geschwindigkeit und Position führen.
- daten,
Root-Mean-Square-Error "RM S als Maß für
chen werden, die wesentlichen Kennwerte sind in
-
. Tab. 26.3 gezeigt:
-
gewählt:
Sie sind Größen, deren Fehler vom Fusions-
filter geschätzt werden; somit ist auch die zuge-
- rithmus),
Strecke C (Länge: 0,6 km, Dauer: 80 s, Tunnel-
fahrt mit nachfolgendem Stillstand, Strecke
außerhalb der Gesamtstrecke).
hörige Varianz in der Matrix PC verfügbar und
-
k
verifizierbar. Die Kennwerte weisen die Abhängigkeit der Genau-
Sie sind direkt und nicht nur über das System- igkeit, sowohl der absoluten Position als auch der
modell, von Korrekturen durch Beobachtun- absoluten Geschwindigkeit, von den Umgebungs-
gen betroffen; somit sind die Auswirkungen bedingungen in Bezug auf den GPS-Empfang nach.
von gestörten Korrekturmessungen eindeutig Die Ergebnisse der Integritätsbewertung, gegeben
identifizierbar. als Anzahl an Auslösungen von Integritätsalarm,
508 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
3 G 2,89 4,45 3,85 5,31 17,0 0,51 0,28 0,15 0,58 4,72
A 2,27 3,89 3,87 4,5 16,77 0,12 0,19 0,17 0,23 0,7
4 B 2,42 4,57 4,44 5,17 14,66 1,29 1,09 0,34 1,69 4,72
C 2,5 11,81 13,29 12,07 13,68 0,15 0,1 0,02 0,17 0,71
5
sind für die genannten Versuche in . Tab. 26.4 ge- Hierbei ist insbesondere sicherzustellen, dass die
26 zeigt. Zusätzlich wird die Plausibilisierung für die Plausibilisierung in nur wenig gestörten Szenarien
Korrekturmessungen selektiv deaktiviert und damit keine oder nur wenige Messungen entfernt und dass
7 deren Einfluss auf die Ergebnisse verdeutlicht. Die in stark gestörten Szenarien ein Kompromiss zwi-
Ergebnisse zeigen deutlich die Notwendigkeit des schen Trennschärfe, Ausregelgeschwindigkeit bei
Vorschaltens einer Plausibilisierung der Korrektur- nicht detektierten Störungen und der Stabilität des
8 messungen vor die Datenfusion. Nur auf der Basis Fusionsfilters gefunden wird.
plausibilisierter Daten ist eine Integritätsberech- Vor einem Praxiseinsatz sind Untersuchungen
9 nung sinnvoll durchführbar. und Falsifikationstests insbesondere für die beim
Die vorgestellten exemplarischen Ergebnisse Integritätsmaß getroffenen Annahmen durchzu-
10 wurden mit einer Parametrierung des Fusions- führen. Hierfür ist beispielsweise ein Software-
filters erzielt, die primär auf Positionsgenauigkeit in-the-Loop-Test für eine wie in ▶ Abschn. 26.4.3
optimiert und unter alltagstypischen Randbedin- beschriebene Fehlerdetektion geeignet, in dem die
11 gungen ermittelt wurde. Dies beinhaltet, dass Odo- Reaktion auf mehrere gleichzeitige Fehler und die
metriemessungen nahezu ständig verfügbar und im Detektion langsam veränderlicher Fehler der IMU,
12 Rahmen üblicher Straßeneigenschaften gestört sind der Odometrie und von GNSS unter kontrollierten,
und GPS mit für Überland- und Stadtfahrten übli- wiederholbaren Bedingungen getestet wird.
chen Störungen behaftet ist. Nichtverfügbarkeit von Es ist zu beachten, dass beim Einsatz eines Er-
13 GPS tritt lediglich kurzzeitig auf, beispielsweise bei ror-State-Space-Filters einerseits die Einflüsse des
einer Fahrt durch einen Stadttunnel. Fusionsfilters auf die Ausgabedaten (vollständige
14 Die Parametrierung des Fusionsfilters stellt stets Zustände) klein sind, andererseits das Rauschen
einen Kompromiss in Bezug auf verschiedene, mög- der Sensoren auch dem Rauschen der ausgegebe-
15 licherweise widersprüchliche Anforderungen dar. nen Beschleunigungs- und Drehraten entspricht. Je
Zur Optimierung der Parametrierung sind all- geringer die Drift der geschätzten IMU-Fehler ist,
gemein folgende Schritte empfehlenswert: desto geringer sind die Einflüsse des Fusionsfilters
16 1. Festlegen der Optimierungsziele, z. B. optimale auf das Ergebnis. Dies ist grundsätzlich bei der Aus-
Positions- oder Geschwindigkeitsgenauigkeit, wahl der Sensoren für einen praktischen Einsatz des
17 bzw. Kompromiss bezüglich mehrerer Schätz- Fusionsfilters zu beachten.
genauigkeiten,
2. Festlegen von Testfällen und des hierbei ge-
18 wünschten Verhaltens, 26.7 Ausblick und Fazit
3. Parametrierung des stochastischen Modells,
19 4. Parametrierung der Schwellwerte der Plausibi- Die in diesem Kapitel beschriebene und anhand
lisierung, eines Beispiels illustrierte Datenfusion verwendet
20 5. Parametrierung der stochastischen Parameter im Wesentlichen heute bereits in Kraftfahrzeugen
des Integritätsmaßes. verbaute Sensoren. Lediglich der im Tightly-Coup
26.7 • Ausblick und Fazit
509 26
G 1 8 0 5
A 0 0 0 0
B 1 7 0 4
-
C 1 35 1 55
ling erforderliche Zugriff auf die GNSS-Rohdaten Durch die Verwendung mehrerer GNSS-An-
ist derzeit noch unüblich. tennen – an einem oder mehreren Empfän-
Das Filter ist in der in ▶ Kap. 24 vorgeschlage- gern – wird die Stützung der mehrdimensi-
nen Klassifizierung als Fusion von Rohdaten einzu- onalen Fahrzeugausrichtung, ggf. auch im
ordnen. Das stochastische Modell beruht auf einer
reinen Varianzfortpflanzung und benötigt keine
Klassifikationsunsicherheit oder Objekthypothe-
sen. Gleiches gilt für die Erweiterungen zur Plausi-
- Stillstand, möglich.
Die Schätzung der Fahrzeugausrichtung im
Stillstand kann mithilfe des Erdmagnetfelds
durch Magnetometer-/Kompass-Sensorik
bilisierung und zur Kompensation von verzögerter
Verfügbarkeit, diese stellen eine Erweiterung des
Filters auf Basis physikalischer Modelle dar, die auf - ermöglicht werden.
Barometermessungen können zur Stützung
der Höhenkomponente der Position durch
den gleichen Annahmen – nur langsam veränderli-
che, normalverteilte Fehler – aufbauen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Ka-
pitels befindet sich ein vergleichbares Fusionsfilter
- Luftdruckmessung eingesetzt werden.
Die Absolutortung kann durch die Verwen-
dung digitaler Karten und/oder bekannter
oder gelernter Landmarken verbessert werden
mit der Bezeichnung M2XPro (Motioninformation
2 X Provider) [43] in Entwicklung durch die Firma
Continental Teves AG & Co. oHG. - [44].
Mittels (Stereo-)Kamera besteht die Möglich-
keit zur schlupffreien Geschwindigkeits- und
Für die künftige Weiterentwicklung weisen eine
Reihe von bereits verfügbaren Sensoren und Tech-
nologien Potenzial zur weiteren Verbesserung der -- Drehratenmessung relativ zur Umgebung [45].
Radar- und Lidarsensoren [46] stützen die
Schätzung von Relativgeschwindigkeiten zu
-
Datenfusion zur Lokalisierung auf:
Zweifrequenz-GNSS-Empfänger bieten die
Möglichkeit zur Elimination von Ionosphä-
renstörungen, die wesentlich zum absoluten
-
-
anderen Fahrzeugen,
Schätzung von Relativgeschwindigkeiten zu
festen Objekten,
Rückführung von fusionierten Daten zur
-
von Navigationssatelliten – insbesondere bei
eingeschränkten Empfangsbedingungen [36].
Deep-Integration-GNSS-Empfänger mit
Rückkopplung von Dynamikgrößen aus
- [47],
Federwegsensoren an den Radaufhängungen
gestatten die Schätzung von Wank- und
Nickwinkel des Fahrzeugs unabhängig von der
dem Fusionsfilter in die empfängerinternen Neigung der Aufstandsfläche des Fahrzeugs.
Regelkreise ermöglichen die Verbesserung des
Satelliten-Trackings und eine Reduktion des Gegenüber dem bisherigen Stand der Technik stellt
Empfangsrauschens. insbesondere das Trägerplattform-Modell aus ▶ Ab-
510 Kapitel 26 • Datenfusion für die präzise Lokalisierung
schn. 26.6.2 für bewegte Referenzsysteme eine Er- 12 Thrun, S., Burgard, W., Fox, D.: Probabilistic Robotics. The
1 weiterung im Automobilbereich dar. Zur Korrektur
MIT Press, Massachusetts Institute of Technology, Cam-
bridge, USA (2006)
der durch den Abgleich von Sensoren auf einem 13 Hackenberg, U.; Heißing, B.: Die fahrdynamischen Leistun-
2 bewegten Träger entstehenden Symptome bestehen gen des Fahrer‐Fahrzeug‐Systems im Straßenverkehr. Au-
bisher allenfalls Insellösungen in vereinzelten, da- tomobiltechnische Zeitung (ATZ), Nr. 84, Wiesbaden, 1982,
von in großem Maße betroffenen Anwendungen – Tabelle 1
3 wie beispielsweise ESC oder ACC.
14 Dziubek, N.: Zeitkorrigiertes Sensorsystem. Continental
Teves AG & Co. oHG, Patent WO 2013/037850 A1, 2013
Die hier vorgestellte Systemarchitektur ist all- 15 Dziubek, N.: Verfahren zum Auswählen eines Satelliten.
4 gemein gehalten und ermöglicht die modulare Continental Teves AG & Co. oHG, Patent WO 2013/037844
Integration anderer Komponenten ohne die Not- A3, 2013
5 wendigkeit, Änderungen an bestehenden Integ- 16 Strang, T., Schubert, F., Thölert, S., Oberweis, R., et al.: Lo-
kalisierungsverfahren. Deutsches Zentrum für Luft‐ und
rationskonzepten durchzuführen. Ebenso ist die
Raumfahrt e. V. (DLR). Institut für Kommunikation und Na-
Portierbarkeit des Filters in verschiedene Sen-
26 sorumgebungen gegeben und damit auch ein Ein-
vigation, Oberpfaffenhofen (2008)
17 Pullen, S.: Quantifying the Performance of Navigation Sys-
satz außerhalb von Straßenfahrzeugen wie in der tems and Standards for assisted‐GNSS InsideGNSS, Ore-
7 See-, Luft- und Raumfahrt. gon, USA, Sept./Okt. 2008. (2008)
18 Leinen, S.: Parameterschätzung I Vorlesungsskript. Institut
für Physikalische Geodäsie der TU Darmstadt (jetzt: Fach-
8 Literatur
gebiet Physikalische Geodäsie und Satellitengeodäsie),
Darmstadt (2009). Abschnitt 5.1.2
19 Bar-Shalom, Y., Rong Li, X., Kirubarajan, T.: Estimation with
9 1 Steinhardt, N.: Eine Architektur zur Schätzung kinemati- Applications to Tracking and Navigation. John Wiley &
scher Fahrzeuggrößen mit integrierter Qualitätsbewer- Sons, New York (2001)
tung durch Sensordatenfusion. Fortschritt-Berichte VDI 20 Agogino, A., Chao, S., Goebel, K., Alag, S., Cammon, B.,
10 Reihe 12 Nr. 781, Düsseldorf (2014) Wang, J.: Intelligent Diagnosis Based on Validated and Fu-
2 Pourret, O., Naim, P., Marcot, B.: Bayesian Networks: A sed Data for Reliability and Safety Enhancement of Auto-
Practical Guide to Applications. Jon Wiley & Sons, West mated Vehicles in an IVHS California PATH Research Report,
11 Sussex, England (2008) Bd. UCB‐ITS‐PRR‐98‐17. Institute of Transportation Studies,
3 Niebuhr, J., Lindner, G.: Physikalische Messtechnik mit University of California, Berkeley, USA (1988)
Sensoren, 5. Aufl. Oldenbourg Industrieverlag, München 21 Abdelghani, M., Friswell, M.: A Parity Space Approach to
12 (2002). Abschnitt 1.2.2 Sensor Validation IMAC XIX – 19th International Modal
4 Wendel, J.: Integrierte Navigationssysteme. Sensordaten- Analysis Conference, Orlando, USA. (2001)
Digitale Kartendaten für Navigationssysteme ent- Telematikdiensten zusammen. Mit dem Stand No-
1 stehen nicht automatisch während der Datenerfas- vember 2014 sind 24 Firmen als Mitglieder gelistet
sung. Es gibt einige Firmen, die sich auf die Erfas- [3]. Die Firmen des Konsortiums kommen aus Eu-
2 sung von Geodaten spezialisiert haben; hier sind ropa, Amerika und aus Asien. Die Verteilung zeigt,
z. B. HERE und TomTom zu nennen. Neben den dass an einer weltweiten Standardisierung gearbeitet
kommerziellen Unternehmen gibt es offizielle In- wird.
3 stitutionen, die Geodaten erfassen, unter anderem
die Katasterämter in Deutschland. Zu guter Letzt
4 gibt es frei verfügbare Geodaten, die von unzäh- 27.1 Ziele der Standardisierung
ligen Freiwilligen gesammelt werden; in diesem
5 Bereich hat die OpenStreetMap eine besondere Die Anforderungen an den Standard ergaben sich
Bedeutung. Teilweise sind die erfassten Geodaten fast automatisch durch den international zuneh-
in der OpenStreetMap aktueller und exakter als menden Bedarf an Fahrzeugen, die bereits in der
6 die kommerziellen Daten. Es gibt inzwischen wis- Serienentwicklung mit einem Navigationssystem
senschaftliche Untersuchungen und Vergleiche der ausgestattet werden. Zunächst entstanden lokal
27 OpenStreetMap mit anderen Kartendaten, unter zahlreiche Navigationslösungen, jedoch ist die Ent-
anderem vom Fraunhofer-Institut für Intelligente wicklung und Integration von regionalen Lösungen
Analyse- und Informationssysteme IAIS. [1] aufwendig und teuer.
8 Die Daten aus der Geodatenerfassung werden Im Sinne der Ökonomie und der Erwartungs-
nicht direkt in den Navigationssystemen verwendet. haltung, dass die Navigationsdaten immer so aktuell
9 Vor der Verwendung werden die Daten kompiliert, wie möglich sein sollen, resultieren folgende Ziele
d. h. sie werden in ein Format gebracht, so dass Na- der NDS-Standardisierung: [4]
10 vigationssysteme die Daten verarbeiten können. 1. Entwicklung eines weltweit gültigen Kartenfor-
Dazu gehört die Datenreduktion, aber auch die An- mats
reicherung der Geodaten mit Zusatzinformationen. Bis heute gibt es keinen allgemeingültigen Stan-
11 In der Vergangenheit entwarf jeder Navigationsher- dard für navigationsfähige Kartendaten. Viele
steller sein eigenes Datenformat, eine Wiederver- Hersteller von Navigationslösungen nutzen ein
12 wendung der kompilierten Navigationsdaten fand eigenes proprietäres Kartenformat. Ziel der
de facto nicht statt. Standardisierung ist ein Navigationskartenfor-
Die Standardisierung der Kartendaten für Na- mat, das auf der ganzen Welt genutzt werden
13 vigationssysteme ist seit vielen Jahren ein wichtiges kann.
Thema in der Automobilindustrie, insbesondere 2. Trennung von Anwendung und Daten
14 da die Kosten für die Erstellung navigationsfähi- Viele Hersteller von Navigationsprogrammen
ger Daten sehr hoch sind. Bereits im Jahr 2004 hat installieren mit einer Aktualisierung der Navi-
15 sich eine Gruppe von Firmen in einer Interessen- gationsdaten auch eine neue Version der Soft-
gemeinschaft zusammengeschlossen, um die Ver- ware. Ziel des NDS-Kartenformats ist eine klare
einheitlichung der Kartendaten voranzutreiben. Trennung, so dass die Navigationsdaten unab-
16 Aus dieser Initiative entstand 2009 der Navigation hängig von der Navigationssoftware aktualisiert
Data Standard (NDS) e.V. Der NDS e.V. ist ein ein- werden können.
17 getragener Verein mit dem Ziel, die Kartendaten für 3. Kompatibilität und Interoperabilität der Daten
Navigationssysteme zu standardisieren. Im Rahmen Aktuell ist es nicht möglich, die Navigati-
der Standardisierung werden die Anforderungen, onsdaten zwischen zwei Fahrzeugherstellern
18 Definitionen und offiziellen Versionen des NDS- auszutauschen. Oftmals können die Naviga-
Kartenformats festgelegt. Die Lizenzen stehen den tionsdaten nicht einmal zwischen zwei un-
19 Vereinsmitgliedern kostenlos zur Verfügung. [2] terschiedlichen Baureihen eines Fahrzeug-
Die Mitglieder des Vereins setzen sich aus herstellers ausgetauscht werden. Ziel der
20 Fahrzeugherstellern, Zulieferern der Automobilin- Standardisierung ist es, die Daten abwärts-
dustrie, Kartendatenlieferanten und Anbietern von kompatibel und austauschbar zu gestalten.
27.2 • Merkmale des NDS-Standards
515 27
1
2
3
4
5 .. Abb. 27.1 Definition der Update-Regionen (mit freundlicher Genehmigung der NDS Association)
6 27.3 Wachstum der Datenmenge verage), z. B. Europa. Dieser Markt wird in Regio-
durch neue Merkmale nen aufgeteilt, z. B. Frankreich, Spanien und Por-
27 tugal, Benelux, Deutschland usw. Diese Regionen
Die Daten zur 3D-Darstellung der Karten sind aus können dann unabhängig voneinander aktualisiert
verschiedenen Gesichtspunkten kritisch zu be- werden. Der genaue Schnitt der Regionen ist da-
8 trachten. Zum einen ist die visuelle Darstellung das bei nicht festgelegt, er wird für jedes Projekt neu
prägende Stilelement und erreicht den Betrachter konfiguriert.
9 unmittelbar. Zum anderen müssen für eine detail-
liertere Darstellung mehr Inhalte in die Datenbank
27.5 NDS Building Blocks
10 gebracht werden, die wiederum schnell geladen und
gerendert werden müssen.
Hier sind einige Daten, die im NDS-Standard Die Bausteine der NDS-Datenbank sind die Buil-
--
11 verankert sind: ding Blocks (siehe . Abb. 27.2) [5]. Dieses Kapitel
Luftbildaufnahmen und Satellitenbilder stellt die wichtigsten Bestandteile und deren Auf-
12
- digitales Terrain Modell
hochauflösende Bilder zur Visualisierung von
gabe vor.
13
-- Kreuzungen und Abfahrten
3D-City-Modell 27.5.1 Overall Building Block
14
15
- Daten für Reiseführer-Anwendungen
Zusatzdaten für ADAS (Advanced Driving
Assistence Systems)
Der Overall Building Block dient zur Speicherung
der Daten, die als Gleichanteil in allen anderen Buil-
ding Blocks zur Verfügung stehen. Jede NDS-Daten-
bank muss einen Overall Building Block enthalten.
27.4 Struktur der Daten innerhalb Die Inhalte dienen der Applikation, um Information
16 einer NDS-Datenbank über die variablen Bestandteile und Attribute der
speziellen Datenbank zu bekommen. Hierbei han-
17 Die Daten der NDS-Datenbank sind zunächst in delt es sich im Wesentlichen um Metadaten und
Regionen aufgeteilt (siehe . Abb. 27.1). Innerhalb regional spezifische Informationen.
der Regionen sind die Daten in Komponenten orga-
18 nisiert, die wiederum die Building Blocks enthalten;
die Building Blocks ihrerseits enthalten die kleinste 27.5.2 Routing Building Block
19 Einheit, sogenannte Tiles.
Diese Struktur lässt sich an folgendem Beispiel Der Routing Building Block enthält das Straßen-
20 verdeutlichen: Eine NDS-Datenbank enthält die netzwerk. Er dient verschiedenen Anwendungen
Daten für einen bestimmten Markt (database co- als Basis:
27.5 • NDS Building Blocks
517 27
.. Abb. 27.2 NDS Building Block-Übersicht (mit freundlicher Genehmigung der NDS Association)
- Routenberechnung
Die Routenberechnung liest die Topologie des
Routing Building Block verwendet, um die
Position aus dem Dead Reckoning auf das
Straßennetzwerks und deren Attribute. Diese
Attribute sind unter anderem die Länge eines
Straßensegments, die erlaubte Geschwindig-
keit des Straßensegments und ein Klassifikator
- Straßennetzwerk abzubilden.
Zielführung
Die Zielführung greift auf die Topologie und
Geometrie des Straßennetzwerks zu, um die
eines Straßensegments (Autobahn, Landstraße, aktuelle Position mit dem Straßennetzwerk
Kreisstraße, …). Mithilfe der Attribute wird abzugleichen und Anweisungen für die Fahr-
auf Basis verschiedener Kostenfunktionen
eine Route mit den gewünschten Parametern
(z. B. „kurze Route“, „schnelle Route“, „meide - manöver abzuleiten.
ADAS
Speziell zur Unterstützung von Fahrerassis-
- Fähren“) berechnet.
Map Matching
Die Ortung besteht aus mehreren Stufen. Zu-
nächst werden in einem bestimmten Verfahren
tenzsystemen wurde im Routing Building
Block ein Layer ergänzt, um z. B. Kurvendaten,
Straßenbreite etc. aufzunehmen.
den kann, unterstützt der SLI auch komplexe Zie- In Bezug auf die POI gibt es zwei Building
-
1 leingabemöglichkeiten. Dies umfasst unter anderem Blocks:
First Letter Input (FLI), ein Modus speziell für den Integrierter POI Building Block
2 asiatischen Markt; im FLI-Modus muss nur der Der integrierte POI Building Block darf direkte
erste Buchstabe einer Silbe eingegeben werden. Ein Verweise auf andere NDS Building Blocks ent-
weiterer Eingabemodus wird als One-Shot-Desti- halten. Diese Verweise zielen auf Streckenseg-
3 nation-Entry bezeichnet. Diese Funktion ermög- mente oder Kreuzungen im Routing Building
licht wie bei einer Suche in einer internetbasierten Block oder sie zielen auf Namen im Naming
4 Suchmaschine die Eingabe der gesamten Adresse Building Block. Die direkten Verweise dienen
5
auf einmal, bevor die Suchfunktion gestartet wird.
Der besondere Vorteil der SLI-basierten Zie-
leingabe ist, dass nicht nur in einem Kriterium –
wie beispielsweise Stadt, Straße, Postleitzahl oder
- der verbesserten Suchperformance.
Nicht integrierter POI Building Block
Der nicht integrierte POI Building Block ist
ausschließlich über die Geokoordinate mit
6 Hausnummer – gesucht wird, sondern dass die den anderen Building Blocks vernetzt. Das be-
Suche gleichzeitig über mehrere Kriterien hinweg deutet, es kann lediglich mit Geokoordinaten
27 ausgeführt wird. gesucht und festgestellt werden, ob POI-In-
formationen zu einem bestimmten Kartenab-
schnitt gehören oder nicht.
8 27.5.4 POI Building Block
Beide POI Building Blocks haben intern die gleiche
9 Points of Interest (POI) sind markante oder für den Datenstruktur.
Benutzer interessante Punkte, die in der Navigati-
10 onskarte dargestellt werden und die navigierbar sein
27.5.5 Naming Building Block
müssen [6]. Neben der Ortsinformation können die
POI zusätzliche Informationen, z. B. Telefonnum-
11 mern oder Öffnungszeiten enthalten. Im Naming Building Block sind die Namen des
Die POI können auf verschiedene Weisen prä- Straßennetzwerks aus dem Routing Building Block
12
-
sentiert und verwendet werden:
Darstellung der POI mithilfe eines Icon in der
und die Namen aus dem Basic Map Display Buil-
ding Block enthalten. Damit ist sichergestellt, dass
13
- Navigationskarte,
Darstellung der POI in Listenform, sortiert
Namen in einer Routenliste und einer Kartendar-
stellung identisch verwendet werden.
14
15
- nach Kategorie, Ort oder anderen Regeln,
Darstellung der Zusatzinformationen nach
Auswahl eines POI: Dies können Bilder, erklä-
rende Texte, Bezahlinformationen etc. sein.
Die Namen der POI und der Verkehrsinfor-
mationen sind bewusst nicht Bestandteil des Na-
ming-Building Block. Das liegt an dem Bedarf, diese
speziellen Daten häufiger zu aktualisieren. Die ent-
sprechenden Namen sind daher Bestandteil der POI
Neben den punktbasierten POI gibt es noch Linien bzw. Traffic Building Blocks.
16 oder flächenbezogene POI: Dies können z. B. be-
stimmte touristische Straßen sein; ein flächenbezo-
17 gener POI könnte ein großer Tierpark sein. 27.5.6 Free Text Search Building Block
Eine weitere Unterscheidung stellt die Gültig-
keitsdauer der POI dar. Einige POI sind nur be- Zur Implementierung einer freien Textsuche müs-
18 grenzt gültig, z. B. haben Stadien während einer sen die Inhalte vorab indiziert werden: Als Quellma-
Olympiade oder während einer Fußballweltmeis- terial für die Erzeugung dieses Index dienen der POI
19 terschaft ggf. einen anderen Namen oder eine an- Building Block, der Naming Building Block und alle
dere Bedeutung. Daher muss auch in Bezug auf die anderen Building Blocks, die Namen enthalten. Mit
20 Updatefrequenz der verschiedenen POI-Typen un- diesen Informationen wird ein Index aufgebaut. In
terschieden werden. diesem Index wird anschließend mit dem Suchtext
27.5 • NDS Building Blocks
519 27
gefiltert. Das Ergebnis der Suche ist dann eine Liste ausgewertet werden kann. Die Ereignisinforma-
mit Links der Dateien, die eines oder mehrere der tion wird als Nummer übertragen. In der Referen-
Wörter aus dem Suchtext enthalten und direkt in zierungstabelle kann mithilfe dieser Nummer der
die Quelldaten zeigen. Mithilfe dieser Informatio- korrespondierende Text in der jeweiligen Sprache
nen kann eine Eingabefunktion realisiert werden, geladen werden.
die mit Metasuchen bekannter Internetplattformen
vergleichbar ist.
27.5.9 Basic Map Display Building
Block
27.5.7 Phonetic/Speech Building
Block Der Basic Map Display Building Block (BMD) grup-
piert die wesentlichen Daten für eine Kartendarstel-
Der Speech Building Block enthält zwei unter- lung. Die Namen für die Darstellung bezieht der Ba-
schiedliche Typen von Daten. sic Map Display Building Block aus dem Naming
Der erste Teil enthält eine Datenbank mit Laut- Building Block.
schrift (Phonetic Transcriptions) und dient der Der Inhalt des BMD sind Punkte (u. a. Stadt-
Spracherkennung sowie der Übersetzung von Text zentren, Bergspitzen), Linien (u. a. Straßen, Was-
in Sprache (Text-to-Speech). Wichtig ist, dass die serstraßen, Grenzlinien, Bahnstrecken), Flächen
Datenbank mit der Lautschrift der verfügbaren (u. a. Wälder, Wasserflächen, Gebäudegrundrisse,
Sprachen eines Navigationssystems abgestimmt Landnutzung), Icons und Zeichenstile und -regeln
sein muss. Die zu verwendende Lautschrift muss (u. a. Informationen, an welchen Punkten Straßen
vor der Benutzung auf die richtige Sprache konfi- etc. beschriftet werden können).
guriert werden. Das ist eine nicht-triviale Aufga- Zusätzlich sind im BMD bereits die Daten zur
benstellung, da es insbesondere in multikulturellen Darstellung der 2,5D-Städtemodelle enthalten.
Regionen Situationen gibt, in denen zwei Sprachen Jedes Gebäude ist durch verschiedene Parameter
parallel verwendet werden. gekennzeichnet, z. B. die Höhe des Gebäudes, die
Der zweite Teil enthält eine Datenbank mit pro- Farbe der Außenwände, den Typ und die Farbe des
fessionell aufgezeichneten Sprachausgabemustern, Daches.
die dann für die Zielführung zusammengesetzt und Die Daten im BMD reichen aus, um eine voll-
an richtiger Stelle der Audioausgabe übergeben wer- ständige Darstellung der Navigationskarte im 2D-
den. bzw. 2,5D-Modus zu gewährleisten.
gen. Diese Gruppierung wird als Generalisierung der Daten wird mithilfe von DataScript-Dateien be-
bezeichnet (siehe . Abb. 27.4). Eine Kartendarstel- schrieben. Ein DataScript-Compiler übersetzt diese
lung, die auf einem 10Zoll-Display im Auto oder Dateien für das jeweilige Zielsystem in die passende
auf einem Tablet ganz Deutschland anzeigen soll, Programmiersprache, beispielsweise C++ oder Java.
kann mit Straßengeometrien der kleinsten Straßen- Der Anwendungsentwickler braucht anschließend
kategorien aus Wohngebieten beispielsweise nichts für den Zugriff auf die Daten nur die generierten
anfangen. In einer Übersichtsdarstellung werden oft Zugriffsklassen zu kennen, die direkten SQLite-Be-
nur Straßen höherer Klasse, z. B. Autobahnen gela- fehle sind hinter den Zugriffsklassen für den An-
den; damit der Ladevorgang der Daten performant
implementiert werden kann, werden die Daten
gleich in einer passenden Form abgelegt. Perfor-
mant bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der
-
wendungsentwickler nicht zu sehen.
Funktionen (Features) in der NDS-Datenbank
Alle real existierenden Objekte werden in
der NDS-Datenbank mithilfe einer oder
Nutzer die Navigationskarte nur dann als optisch mehrerer Features repräsentiert. Ein Stras-
akzeptabel und flüssig betrachtet, wenn die Bildwie- sensegment zwischen zwei Kreuzungen wird
derholrate mehr als 25 Bilder pro Sekunde beträgt. als Link-Feature im Routing Building Block
Literatur
Car-2-X
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf
28.1 Motivation und Einführung Kommunikation (Mobilfunk und WLAN) sowie den
1 Entwurf eines C2X-Systemverbunds, um Lösungen
Heutzutage kommt der Vernetzung von Fahrzeu- für die Überwindung der Einführungsbarrieren zu
2 gen untereinander sowie mit der Infrastruktur eine schaffen, z. B. im Projekt „CONVERGE“ [10]. Be-
immer größere Bedeutung zu. Sie bildet die Basis- gleitet wurden diese Aktivitäten durch das von den
technologie für zukünftige kooperative intelligente Fahrzeugherstellern initiierte und inzwischen von
3 Transportsysteme (C-ITS, „Cooperative Intelligent der gesamten Automotive-Industrie mitgetragene
Transportation Systems“). Die Kommunikation ei- Car-2-Car Communication Consortium (C2C-CC),
4 nes Fahrzeugs mit seinem direkten Umfeld – also das sich die weitere Verbesserung der Sicherheit
sowohl mit anderen Fahrzeugen als auch mit der und Effizienz im Straßenverkehr durch kooperative
5 Straßenverkehrsinfrastruktur (z. B. Baken, Ver- ITS-Systeme zum Ziel gesetzt hat [11].
kehrszeichenbrücken, Lichtsignalanlagen etc.) so- Die Einbeziehung der Kommunikation als Fahr-
wie auch Verkehrszentralen – ermöglicht eine Viel- zeugsensor ermöglicht die Erweiterung des wahr-
6 zahl neuer oder verbesserter Funktionen für den nehmbaren Horizonts sowohl über den Sichtbereich
Autofahrer, die zu einer Erhöhung der Verkehrssi- des Fahrers als auch über den von bordautonomen
7 cherheit, einer Verbesserung der Verkehrseffizienz Sensoren, wie z. B. Radar, Lidar oder Video, hinaus.
sowie auch des persönlichen Komforts führen kön- Der Abdeckungsbereich bordautonomer Systeme ist
nen. In diesem Zusammenhang spricht man daher durch die spezifischen Sensoreigenschaften, wie z. B.
28 auch von der Fahrzeug-zu-X-Kommunikation, wo- erforderliche Sichtverbindung und limitierte Reich-
bei das „X“ den jeweiligen Kommunikationspartner weite, beschränkt. C2X-basierte Fahrerassistenzsys-
9 kennzeichnet. Üblicherweise werden hier allerdings teme (FAS) ermöglichen demgegenüber eine deutlich
die englischsprachigen Begriffe Car-to-X oder Car- umfassendere Abdeckung: Insbesondere erlauben sie
10 2-X (C2X) bzw. Vehicle-to-X oder Vehicle-2-X den Blick „um die Ecke“ oder durch Hindernisse, wie
(V2X) verwendet, wobei C2X eher in Deutschland z. B. andere Fahrzeuge, Gebäude oder Geländeerhe-
und V2X eher international üblich ist. Im weiteren bungen, hindurch. Auf diese Weise lässt sich einer-
11 Verlauf dieses Kapitels wird der Begriff C2X (bzw. seits die Wirksamkeit von existierenden Fahrerassis-
C2XC für C2X Communication) verwendet. tenzsystemen deutlich verbessern und andererseits
12 Bereits seit Ende der 1990er Jahre wird das auch eine Vielzahl ganz neuer Funktionen realisie-
Thema C2X in diversen nationalen, europäischen ren. Nachteil der Technologie ist die mehr oder weni-
und auch internationalen F&E-Projekten untersucht. ger starke Abhängigkeit von der Ausstattung der be-
13 In der ersten Phase ging es dabei um die Entwicklung teiligten Fahrzeuge und Infrastrukturkomponenten.
und Erprobung der grundlegenden Technologien, Die Ausstattungsrate hat insbesondere starken Ein-
14 z. B. in den Projekten „FleetNet“ [1], „Network-on- fluss auf die realisierbaren Funktionen und ist daher
Wheels“ [2] oder „PReVENT“ [3]. In der zweiten bei der Betrachtung von Einführungsszenarien zu
15 Phase schloss sich die Systemerprobung anhand von berücksichtigen. Beide Aspekte werden in späteren
einzelnen Demonstratoren in Fahrzeugen und Infra- Abschnitten noch näher betrachtet.
struktur an, wobei die grundsätzliche Machbarkeit
16 gezeigt werden konnte (z. B. in den EU-Projekten
„CVIS“ [4], „SAFESPOT“ [5] und „COOPERS“ 28.2 Datenkommunikation
17 [6]). In der dritten Phase erfolgte der Nachweis
der Praxistauglichkeit anhand von großmaßstäbli- 28.2.1 Funkkanal
chen Feldversuchen im realen Verkehr („simTD“ in und Übertragungssystem
18 Deutschland [7] und „Safety Pilot“ [8] in den USA)
sowie der Nachweis der Interoperabilität – also der Der funkbasierte Datenaustausch zwischen Fahrzeu-
19 Fähigkeit zur Zusammenarbeit verschiedener, nach gen untereinander sowie zwischen Fahrzeugen und
demselben Standard entwickelter Systeme, wie z. B. Infrastrukturkomponenten stellt hohe Anforderun-
20 im Projekt „DRIVE C2X“ [9]. Derzeit laufende Ak- gen an das Übertragungssystem. Mehrwegeausbrei-
tivitäten fokussieren sich auf Ansätze der hybriden tung aufgrund von Reflexionen, Dopplerverschie-
28.2 • Datenkommunikation
527 28
.. Abb. 28.1 Frequenzal-
lokation für ITS-Dienste in
Europa (Quelle: Bosch)
.. Abb. 28.2 Frequenzal-
lokation für ITS-Dienste in
den USA (Quelle: Bosch)
2
28.2.3 Standardisierung
--
13 und mobilen, z. B. fahrzeugseitigen Subsystemen: Die Networking- und Transport-Schicht um-
Infrastrukturseitige Subsysteme: fasst die Layer 3 und 4 des ISO-OSI-Modells. Hierin
14 Roadside ITS Station (z. B. Verkehrszei- ist z. B. das sogenannte Geo-Networking enthalten,
-
chenbrücken, Lichtsignalanlagen etc.), das die Weiterleitung von Nachrichten von Fahr-
15 Central ITS Station (z. B. Verkehrszentra- zeug zu Fahrzeug erlaubt, um so deutlich größere
16 -- len).
Mobile Subsysteme:
Vehicle ITS Station (im Fahrzeug verbaute
Einheit mit Zugriff auf die Fahrzeugsenso-
Kommunikationsreichweiten zu erzielen.
Die Facility-Schicht umfasst die Layer 5, 6 und
7 des ISO-OSI-Modells und hat umfangreiche Auf-
gaben. Es werden unter anderem Nachrichten (siehe
17
-
rik), CAM und DENM in ▶ Abschn. 28.5) für den Ver-
Personal ITS Station (z. B. Smartphone, sand an andere Fahrzeuge und Infrastrukturkom-
PDA etc.). ponenten generiert, die eigene Fahrzeugposition
18 berechnet, eine präzise Zeitbestimmung vorgenom-
Im Folgenden wird die grundlegende Architektur men und eine lokale dynamische Karte verwaltet.
19 einer ITS Station erläutert, die für alle genannten Die Application-Einheit adressiert drei Katego-
Subsysteme gültig ist. Die nachfolgenden Betrach- rien von Diensten: Verkehrssicherheit, Verkehrsef-
20 tungen beziehen sich hauptsächlich auf das fahr- fizienz und sonstige Dienste. Details hierzu finden
zeugseitige Subsystem, also die Vehicle ITS Station. sich in ▶ Abschn. 28.5.
28.4 • Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre
529 28
dest diskussionswürdig wäre auch die Möglichkeit, Des Weiteren spielen jedoch auch folgende Aspekte
-
1 mithilfe aufgezeichneter Nachrichten automatisiert eine entscheidende Rolle für die Sicherheitslösung:
Verkehrsdelikte wie Geschwindigkeitsüberschrei- Performance. Die Sicherheitsmechanismen
2 tungen zu ahnden. müssen leistungsfähig genug sein, um die
Um zu vermeiden, dass durch die Fahrzeug- Kommunikation nicht zu beeinträchtigen.
kommunikation die Privatsphäre von Fahrzeugin- Insbesondere muss gewährleistet sein, dass die
3 sassen massiv beeinträchtigt wird, sollte versucht realistischerweise zu erwartenden Mengen an
werden, keine konstanten, dem Fahrzeug leicht zu- empfangenen Nachrichten auch verarbeitet
4
5
zuordnenden Kennungen in diesen Nachrichten zu
verwenden. Außerdem sollten nur Daten übermit-
telt werden, die auch für die Anwendungsfälle nötig
sind (Prinzip der Datensparsamkeit). Insbesondere
- werden können.
Kosten/Aufwand. Kosten und Aufwand für
die Ausstattung von Fahrzeugen und Road
Side Units mit Sicherheitsmodulen sollten
muss beim Entwurf einer Sicherheitslösung darauf möglichst niedrig gehalten werden. Das
6 geachtet werden, dass nicht anhand der kryptogra- Gleiche gilt auch für die Infrastruktur für das
7
28
fischen Schlüssel eine einfache und sogar nachweis-
bare Identifikation und Verfolgung von Fahrzeugen
ermöglicht wird. - Zertifikats- und Schlüsselmanagement.
Wartbarkeit/Zukunftssicherheit. Da ein ein-
mal ausgerolltes System im Automobilbereich
jahrzehntelang im Feld funktionieren muss,
ist es unerlässlich, bereits vor der Einführung
28.4.3 Schutzziele die Wartbarkeit und Zukunftssicherheit zu
9 und Herausforderungen betrachten. Dies betrifft natürlich auch die
Sicherheitslösung, die – zumindest soweit es
10 Aus den obigen Überlegungen ergeben sich als we- aus heutiger Sicht zu beurteilen ist – auch über
-
sentliche Schutzziele für ein Sicherheitskonzept:
Integrität. Die Nachrichten müssen vor Mani-
entsprechende Zeiträume hinweg die Sicher-
heit gewährleisten soll.
-
11 pulationen geschützt werden.
Authentizität. Es muss sichergestellt werden,
12 dass nur Nachrichten von legitimen Teilneh- 28.4.4 Lösungsansätze
mern akzeptiert werden. Für besondere Fälle, und -mechanismen
wie z. B. die Aufklärung schwerer Strafta-
13 ten, kann es sogar wünschenswert sein, den Um die Kommunikation adäquat kryptografisch ab-
Ursprung einer Nachricht nach hoheitlicher zusichern, ist derzeit eine Lösung vorgesehen, bei
14 Anordnung auch Dritten (z. B. einem Gericht) der alle Nachrichten digital signiert werden: Die von
gegenüber nachweisen zu können (Nichtab- Fahrzeugen erzeugten Signaturen können anhand
15
16
- streitbarkeit).
Anonymität/Pseudonymität. Um die Ein-
schränkung der Privatsphäre der Nutzer mi-
nimal zu halten, sollte anonyme oder pseudo-
von pro Fahrzeug wechselnden Pseudonymzer-
tifikaten verifiziert werden, die von einer eigenen
Public-Key-Infrastruktur (PKI) ausgestellt werden
[19, 20]. . Abbildung 28.4 gibt einen Überblick über
nyme Kommunikation unterstützt werden. Bei diesen Ansatz, wie er vom C2C-CC und ETSI defi-
17 der Verwendung von Pseudonymen ist darauf niert wurde [21, 22].
zu achten, dass De-Pseudonymisierung (bzw. Die PKI besteht aus drei verschiedenen Typen
die Zuordnung unterschiedlicher Pseudonyme von Certificate Authorities (CAs): Root CA, Enrol-
18 zu einem Nutzer) höchstens für autorisierte ment Authority (EA; auch Long Term CA genannt)
19
20
- Parteien einfach möglich sein soll.
Vertraulichkeit. Es muss möglich sein,
optional die Vertraulichkeit von Nachrichten
zu gewährleisten, falls die Anwendung dies
und Authorization Authority (AA; auch Pseudonym
CA genannt). Der Vertrauensanker in der Sicher-
heitsarchitektur wird durch die Root CA gebildet,
die allen Systemteilnehmern bekannt ist. Diese
erfordert. wiederum stellt Zertifikate für EA und AA aus und
28.4 • Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre
531 28
.. Abb. 28.4 Absicherung
der Fahrzeugkommuni-
kation, Phase 1: Fahrzeug
erhält ein Enrolment
Credential (Langzeitzerti-
fikat), Phase 2: Fahrzeug
erhält Authorization
Tickets (Pseudonymzertifi-
kate), Phase 3: Fahrzeuge
kommunizieren pseudo-
nym miteinander (Quelle:
Bosch)
überwacht die Einhaltung der Richtlinien für die Um bei der Kommunikation von Fahrzeugen
Vergabe von Zertifikaten. Es ist vorgesehen, dass untereinander – oder auch bei der Kommunikation
es mehrere Instanzen von Enrolment und Autho- von Fahrzeugen mit Infrastrukturkomponenten –
rization Authorities gibt, die von unterschiedlichen die Nachrichten abzusichern (siehe . Abb. 28.4,
Organisationen betrieben werden. Schritt 3), werden diese nun vom Sender digital sig-
Ein Fahrzeug, das am Kommunikationssystem niert: Hierzu wird ein privater Schlüssel verwendet,
teilnehmen möchte, benötigt zunächst ein Enrol- für dessen öffentlichen Gegenpart der Sender ein
ment Credential (EC; auch Long Term Certificate gültiges Authorization Ticket besitzt. Der Empfän-
genannt) von einer Enrolment Authority (siehe ger der Nachricht kann nun verifizieren, dass diese
. Abb. 28.4, Schritt 1). von einem legitimen Teilnehmer erstellt wurde und
Nach Erhalt eines Enrolment Credential kann das unverändert empfangen wurde: Dazu muss er zu-
Fahrzeug Pseudonyme (kryptografische Schlüssel- nächst die Signatur anhand des öffentlichen Schlüs-
paare) erzeugen und von einer Authorization Autho- sels aus dem Authorization Ticket des Senders
rity zertifizieren lassen (siehe . Abb. 28.4, Schritt 2): prüfen; danach muss er verifizieren, dass das Au-
Hierzu verschlüsselt das Fahrzeug sein Enrolment thorization Ticket gültig – also insbesondere nicht
Credential für die Enrolment Authority und schickt abgelaufen – ist und von einer legitimen Authoriz-
das verschlüsselte Credential zusammen mit den ation Authority signiert wurde. Ist dem Empfänger
neu erzeugten öffentlichen Schlüsseln (den Pseudo- die ausstellende Authorization Authority noch nicht
nymen) an die Authorization Authority (Schritt 2a). bekannt, so muss er das von der Root CA signierte
Die Authorization Authority schickt dann das ver- Zertifikat der AA überprüfen, um sicherzustellen,
schlüsselte Credential an die zuständige Enrolment dass es sich um eine berechtigte Authorization Au-
Authority, welche daraufhin prüft, ob es sich um ein thority handelt. Auf diese Weise können auch Fahr-
korrektes Zertifikat handelt, das zur Ausstellung von zeuge sicher miteinander kommunizieren, die sich
Pseudonymzertifikaten berechtigt (Schritt 2b). Nach erstmalig begegnen und lediglich der gleichen Root
positiver Rückmeldung von der Enrolment Authority CA vertrauen. Bei Bedarf kann das System auch
(Schritt 2c), zertifiziert die Authorization Authority auf mehrere Root CAs erweitert werden, die sich
die öffentlichen Schlüssel mit einer digitalen Signatur durch sogenannte Cross-Zertifizierung gegenseitig
und erzeugt damit sogenannte Authorization Tickets zertifizieren; optional können vertrauliche Nach-
(ATs). Diese werden nun ans Fahrzeug übermittelt richten auch verschlüsselt übertragen werden. Da
(Schritt 2d), welches sie dann zur pseudonymisierten dies jedoch für die wichtigsten derzeit vorgesehe-
Kommunikation einsetzen kann. nen (sicherheitsrelevanten) Anwendungsfälle nicht
532 Kapitel 28 • Car-2-X
1
2
3 .. Abb. 28.5 Bei C2X-Funktionen erfolgen Detektion einer Gefahr und Interpretation der zugehörigen Nachricht häufig auf
unterschiedlichen Knoten. (Quelle: Bosch)
4 nötig ist, wird hier auf eine genauere Darstellung schen amerikanischen und europäischen Standards
verzichtet. sollen noch harmonisiert werden. Auch zum Design
5 Eine effektive Pseudonymisierung wird durch und Einsatz von Kryptobeschleunigern, die die nö-
das hier skizzierte Verfahren unter der Vorausset- tige Performanz im Fahrzeug gewährleisten, gibt es
zung ermöglicht, dass die Fahrzeuge ihre Autho- schon Prototypen und Projekte (z. B. EU-Projekt
6 rization Tickets häufig genug wechseln, um eine PRESERVE [27]).
einfache Verknüpfung zwischen AT und Fahrzeug
7 zu verhindern. Um anhand von empfangenen Nach-
richten die Identität des Senders (bzw. äquivalent 28.5 Car-2-X Anwendungen
sein Enrolment Credential) festzustellen, müssen
28 die Authorization Authority (die die Authoriza- 28.5.1 Anforderungen
tion Tickets ausgestellt hat) und die Enrolment und grundsätzliche
9 Authority (als die einzige CA, die das Enrolment Funktionsweise
Credential des Fahrzeugs unverschlüsselt zu Gesicht
10 bekommen hat) kooperieren. Falls dies ermöglicht Wie herkömmliche, auf bordautonomer Sensorik
werden soll, beispielsweise gegenüber hoheitlichen basierende Fahrerassistenzsysteme (FAS) sollen
Behörden, müssen AA und EA die Ausstellung der C2X-basierte FAS den Fahrer in seiner Fahrauf-
11 ATs bzw. die Prüfung der ECs protokollieren. Durch gabe unterstützen; dazu gehört unter anderem die
Zusammenführen dieser Protokolle kann dann die Information über vorausliegende Ereignisse sowie
12 Pseudonymität des Senders einer Nachricht aufge- die Warnung vor Gefahren. Hierzu müssen die Er-
hoben werden. eignisse detektiert werden und es muss eine Ent-
scheidung über die Bedeutung für die Fahraufgabe
13 getroffen werden. Erweist sich ein detektiertes Er-
28.4.5 Stand von Technik eignis als relevant, so erfolgt eine Weitergabe an den
14 und Umsetzung Fahrer, im einfachsten Fall als Warnung über das
HMI (z. B. Warnton, Anzeige im Display, haptisches
15 Die zur Absicherung nötigen kryptografischen Me- Feedback etc.), prinzipiell sind aber auch Eingriffe
chanismen und Datenformate sind bereits spezifi- in die Fahrfunktion denkbar.
ziert: Die Zertifikats- und Nachrichtenformate wer- Im Unterschied zu den auf bordautonomer
16 den in der technischen Spezifikation ETSI TS 103 Sensorik basierenden FAS finden Detektion und
097 (für Europa) [23] und im Standard IEEE 1609.2 Interpretation häufig auf zwei verschiedenen Kno-
17 (für Nordamerika) [24] festgelegt. Für die digitalen ten statt, s. . Abb. 28.5. Dabei muss es sich nicht in
Signaturen findet der Elliptic Curve Digital Signa- beiden Fällen – wie im C2C-Fall – um Fahrzeuge
ture Algorithm (ECDSA, siehe z. B. [25]) Verwen- handeln. Es können z. B. Lichtsignalanlagen (LSA)
18 dung. Zur optionalen Verschlüsselung ist das Ellip- über ihre aktuelle und zukünftige Phase informieren
tic Curve Integrated Encryption Scheme (ECIES, (I2C) oder eine Roadside Unit (RSU) kann Fahr-
19 siehe z. B. IEEE 1363a, [26]) vorgesehen. Auch die zeugbewegungsdaten zur Erstellung einer Staupro-
gesamte PKI ist bereits prototypisch realisiert (der- gnose sammeln (C2I).
20 zeit betrieben vom C2C-CC) und geht demnächst in Zwischen den beiden Knoten findet eine Weiter-
den Produktivbetrieb. Gewisse Abweichungen zwi- gabe durch Versand von standardisierten Nachrich-
28.5 • Car-2-X Anwendungen
533 28
DENM CAM
Sender komplexe Detektion, z. B. aufwendige Ana- Auslesen von CAN-Daten zum Bewegungszu-
lyse von CAN-Daten stand des Fahrzeugs
Nachrichteninhalt verarbeitete, spezifische Daten, z. B. Position, CAN-Daten zum Bewegungszustand des
Zeit, Hindernistyp, Gültigkeitsdauer etc. Fahrzeugs (Position, Zeit, Fahrtrichtung,
Geschwindigkeit)
Empfänger einfache Prüfung der Relevanz: Liegt die aufwendige Auswertung der CAM-Daten
Gefahrenstelle auf dem Weg und wann wird und Prüfung der Relevanz, z. B. Berechnung
sie ggf. erreicht? des Kollisionsrisikos aus CAM-Daten aller
Fahrzeuge
ten statt. Für die C2C-Kommunikation werden am Fahrtrichtung, Geschwindigkeit etc.) ausschließlich
häufigsten die beiden folgenden Nachrichtentypen empfängerseitig aus: Dazu erfolgt eine aufwendige
-
verwendet [28, 29]:
Decentralized Environmental Notification
Message (DENM)
für ereignisgesteuerte Warnungen vor lokalen
Auswertung der vorliegenden CAM-Daten sowie
eine Bewertung der Relevanz. So lässt sich z. B. das
Kollisionsrisiko in nicht oder schlecht einsehbaren
Kreuzungsbereichen aus den CAM-Daten aller
- Gefahren;
Cooperative Awareness Message (CAM)
für die kontinuierliche Beobachtung der in der
Nähe befindlichen Fahrzeuge.
Fahrzeuge in der Umgebung berechnen, so dass ggf.
eine Warnung ausgegeben werden kann.
In . Tab. 28.1 sind die wesentlichen Merkmale
von DENM und CAM einander gegenübergestellt.
Da in der Regel in den Fahrzeugen mehrere
Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl sehr C2X-Funktionen gleichzeitig aktiv sind, treffen in
spezifischer Nachrichtentypen, mit denen z. B. den Empfängern zahlreiche verschiedene Nachrich-
LSA-Phaseninformationen, Verkehrszeichen oder ten ein. Eine einzelne Funktion wählt daraus dann
Kreuzungstopologien beschrieben werden. nur die sie betreffenden aus – z. B. eine Hindernis-
Bei einer DENM erfolgt die – oft komplexe – warnung jene, die Hindernisse betreffen.
Detektion einer lokalen Gefahr im Sendefahrzeug: Ein weiteres Problem liegt in der Tatsache be-
In der Regel werden dazu die über den CAN-Bus gründet, dass meist mehrere Nachrichten zum
bezogenen Fahrzeugsensordaten analysiert und selben Ereignis eintreffen, da eine Gefahr von
bewertet; denkbar sind allerdings auch durch den mehreren Sendern detektiert wurde. Um Mehrfach-
Fahrer selbst ausgelöste Meldungen, z. B. bei der Er- warnungen auszuschließen, erfolgt eine Aggrega-
kennung von Hindernissen auf der Fahrbahn. Alle tion der empfangenen Nachrichten. Je nach Art des
zur Kennzeichnung der detektierten Gefahr erfor- Ereignisses muss dabei unterschieden werden zwi-
derlichen Daten werden der Nachricht hinzugefügt schen punktförmigen Aggregaten (z. B. im Fall eines
und versendet. Im empfangenden Fahrzeug muss Hindernisses) und linien- bzw. flächenartigen Agg-
lediglich noch die Relevanz der Gefahr bewertet regaten (z. B. ein – mit der Zeit wanderndes – Stau-
werden. Dabei wird im Wesentlichen geprüft, ob die ende oder ein Schlechtwettergebiet). In . Abb. 28.6
Gefahrenstelle auf dem eigenen Weg liegt und wann werden einige Beispiele für Punkt- und Streckenag-
sie ggf. erreicht wird, so dass dann eine Warnung gregate gezeigt. Die Art des Aggregats hängt dabei
erfolgen muss. vom Kontext der Meldung ab: So werden im Bei-
CAM-basierte Funktionen hingegen werten die spiel für die „verlorene Ladung“ von verschieden
von allen Fahrzeugen periodisch versendeten Daten Fahrzeugen durchaus in der Fläche verteilte Positi-
zu ihrem jeweiligen Bewegungszustand (Position, onen gemeldet, z. B. aufgrund ungenauer Sensorik
534 Kapitel 28 • Car-2-X
1
2
3
4
5
.. Abb. 28.6 Aggregation mehrerer Nachrichten zum selben Ereignis (Quelle: Bosch)
6 oder manuell ausgelöster Meldung im Vorbeifahren. gen wird: Sie enthält unter anderem Angaben zu
Da es sich dabei aber um ein punktförmiges Ereig- Hindernistyp, -zeitpunkt, -position und Verbrei-
7 nis handelt – auch wenn es eine gewisse, aber nicht tungsgebiet der Nachricht. Alle Fahrzeuge, die sich
großflächige Ausdehnung aufweisen kann – werden innerhalb der Kommunikationsreichweite des Sen-
die Meldungen entsprechend aggregiert (im Bild ge- ders befinden, empfangen die Nachricht direkt. Für
28 kennzeichnet durch das Kreuz). weiter entfernte Empfänger ist dies nicht garantiert
und die Nachricht wird mittels des Multi-Hop-Ver-
9 fahrens über mehrere Fahrzeuge weitergereicht, was
28.5.2 Anwendungsbeispiele durch die gelbe Linie angedeutet ist.
10 Empfangende Fahrzeuge prüfen, ob sie auf das
Nachfolgend werden zwei konkrete Anwendungs- Hindernis zufahren (räumliche Relevanz) und ob
beispiele vorgestellt. Dringlichkeit (zeitliche Relevanz) gegeben ist, also
11 ob eine Information oder eine Warnung auf dem
28.5.2.1 Hinderniswarnung HMI angemessen ist. Dabei kann die räumliche Re-
12 Die Hinderniswarnung warnt z. B. vor liegenge levanz durch Abgleich der Hindernisposition mit
bliebenen Fahrzeugen oder Personen, Tieren und der Fahrzeugroute anhand einer digitalen Karte
Gegenständen auf der Fahrbahn; für letztgenannte oder durch Abgleich der aktuellen Empfängerpo-
13 Fälle kann die Detektion z. B. einfach durch den sition mit einer in der DENM enthaltenen Positi-
Fahrer erfolgen, indem Warnmeldungen bzgl. er- onskette (Abfolge historischer Positionen des Sen-
14 kannter Gefahren durch manuelle Interaktion über defahrzeugs) geprüft werden, s. . Abb. 28.7 rechts.
das HMI ausgelöst werden. Verfügt das Fahrzeug Der erhaltene Abstand zum Hindernis erlaubt
15 z. B. auch über eine Kamera mit Bildverarbeitung, mithilfe der Geschwindigkeit die Bestimmung ei-
so ließe sich dieser Vorgang auch automatisieren. ner „time-to-obstacle“, anhand derer die zeitliche
Hindernisse auf der Fahrbahn können auch aus der Relevanz bestimmt wird.
16 Analyse von Ausweichmanövern detektiert werden.
Wird ein Fahrzeug aufgrund einer Panne oder 28.5.2.2 Kreuzungs-/
17 eines Unfalls selbst zum Hindernis, so erfolgt die Querverkehrsassistent
Detektion automatisch aus der Analyse verschie- Der Kreuzungs-/Querverkehrsassistent (KQA)
dener CAN-Daten. Im einfachsten Fall detektiert informiert bzw. warnt den Fahrer im Falle einer
18 sich ein liegengebliebenes Fahrzeug dadurch, dass möglichen Kollision mit Abbiege- oder Querver-
es steht und der Warnblinker aktiv ist, s. dazu kehr an Kreuzungen und Einmündungen, s. dazu
19 . Abb. 28.7. Das Fahrzeug am linken Bildrand ist . Abb. 28.8 (vgl. auch ▶ Kap. 51). Hierzu senden
liegengeblieben und der Warnblinker ist aktiv. die Fahrzeuge im Anfahrts- und Innenbereich einer
20 Eine detektierte Gefahr führt zum Versand einer Kreuzung in ausreichend dichtem Zeittakt CAMs
DENM, die in nachfolgenden Fahrzeugen empfan- mit Positions- und Bewegungsdaten (Geschwindig-
28.5 • Car-2-X Anwendungen
535 28
1
2
3
4
5
6
7
28
.. Abb. 28.9 Im Projekt simTD umgesetzte und untersuchte Funktionen (Quelle: simTD)
9
gemäß detaillierter Drehbücher, die den genauen werden: So verschob sich bei der Hinderniswarnung
10 Versuchsablauf sowie entsprechende Anweisungen der Bremszeitpunkt um bis zu 50 m nach vorne und
an die Fahrer enthielten. Ein Beispiel soll diesen die Gefahrenstelle wurde um bis zu 15 km/h langsa-
Prozess veranschaulichen: In einem Versuch zur mer passiert; beim elektronischen Bremslicht wurde
11 Funktion Hinderniswarnung wies das Drehbuch eine Verbesserung der Reaktionszeit für nachfol-
einem Fahrzeug die Rolle eines Pannenfahrzeugs gende Fahrzeuge um 60 % beobachtet. Hinsicht-
12 zu, das auf vorgegebenem Weg eine für den nach- lich einer Steigerung der Verkehrseffizienz ist der
folgenden Verkehr nicht einsehbare Position anfah- „LSA-Phasenassistent“ („Grüne-Welle-Assistenz“)
ren und sich dort als liegengebliebenes Fahrzeug hervorzuheben: In einer mit Feldversuchsdaten ka-
13 kennzeichnen sollte, so dass eine entsprechende librierten Verkehrssimulation konnte gezeigt wer-
DENM ausgesendet wird. Alle anderen Fahrzeuge den, dass die Verlustzeiten und die Anzahl der Halte
14 sollten in zeitlichem Abstand dieselbe Route abfah- abnehmen. Diese Effekte treten schon bei Ausstat-
ren, um zu überprüfen, ob sie rechtzeitig vor der tungsraten von 5 % auf und nehmen bei höheren
15 Gefahrenstelle gewarnt werden. Als Messgrößen Ausstattungsraten noch zu; darüber hinaus sinkt die
wurden u. a. der Versand- und Empfangszeitpunkt Häufigkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen
einer DENM sowie der Zeitpunkt der Warnanzeige in der Kreuzungsanfahrt.
16 ermittelt. Mithilfe der jeweiligen Fahrzeugpositio- Zusätzlich wurde eine sehr positive Nutzerak-
nen und der Geschwindigkeit des empfangenden zeptanz festgestellt: So erklärten in einer schriftli-
17 Fahrzeugs konnten sowohl die Reichweite der chen Befragung je nach Funktion 50 % bis 80 % der
Kommunikation als auch die Rechtzeitigkeit der Fahrer: „Ich wünsche mir den Anwendungsfall in
Warnung ermittelt und somit die entsprechende meinem Fahrzeug“. Es gab einen mehrheitlichen
18 Hypothese zum Nutzen der Hinderniswarnung Wunsch der Fahrer, C2XC-Funktionen nach Markt-
nachgewiesen werden. einführung zu nutzen.
19 Basierend auf den Daten aus dem Feldversuch –
unterstützt durch Fahr- und Verkehrssimulationen
20 – konnten weitere positive Einflüsse auf die Fahr-
bzw. Verkehrssicherheit und -effizienz ermittelt
28.6 • Ökonomische Bewertung und Einführungsszenarien
537 28
.. Abb. 28.10 Vorgehensweise zur Bestimmung von Wirkung und ökonomischem Nutzen in simTD (Quelle: Bosch)
28.6 Ökonomische Bewertung Unfälle im Wirkfeld an, die mithilfe der Funktion
und Einführungsszenarien vermieden werden; das Produkt von Wirkgrad und
Wirkfeld kennzeichnet dann die maximal mögliche
28.6.1 Wirkung und Nutzen Wirkung einer einzelnen Funktion im Gesamtun-
fallgeschehen.
Die Ermittlung und Bewertung von Wirkung und Die Wirkgradanalyse erfolgte dann durch Si-
Nutzen der C2X-Funktionen erfolgte in simTD an- mulation von Realunfällen aus GIDAS. Aufgrund
hand der in . Abb. 28.10 dargestellten Vorgehens- des damit verbundenen hohen Aufwands konnte
weise [31]. dies nur für die drei Funktionen mit dem größ-
Der obere Pfad beschreibt das Vorgehen zur Be- ten Wirkfeld erfolgen. Die Ergebnisse dazu sind in
stimmung der Wirkung für die Verkehrssicherheit. . Tab. 28.2 dargestellt.
Basis für diese Untersuchungen war die GIDAS-Un- Neben der für die Wirkgradanalyse benötigten
falldatenbank für Unfälle mit Personenschaden [32]. Ermittlung der durch die Funktion vermiedenen
Im ersten Schritt erfolgte eine Wirkfeldanalyse. Das Unfälle wurden bei der Auswertung der Unfallsi-
Wirkfeld gibt den Anteil der mit einer Funktion ad- mulationen auch weitere Parameter – wie die Ver-
ressierbaren Unfälle am gesamten Unfallgeschehen ringerung der Verletzungsschwere bei Unfällen mit
wieder, kennzeichnet also das theoretisch maximal Personenschaden und die Vermeidung von Unfällen
mögliche Potenzial einer Funktion. So erfolgt z. B. mit Sachschaden – bestimmt, die für eine ökonomi-
die Bewertung für einen Kreuzungskollisionswarner sche Bewertung ebenfalls relevant sind.
auch nur anhand von Kreuzungsunfällen. Für die Der untere Pfad in . Abb. 28.10 zeigt das Vorge-
Funktionen mit Sicherheitswirkung ergab die Wirk- hen zur Bestimmung der Wirkung von Funktionen
feldanalyse ein Wirkfeld von mehr als 30 %, wobei bzgl. Mobilität und Umwelt aus Verkehrssimula-
allerdings die Funktionsauslegung nicht berück- tionen. Hier zeigte sich u. a., dass sich Reisezeiten
sichtigt wurde und der tatsächlich erreichbare Wert durch dynamische Umfahrungshinweise um bis zu
ggf. geringer ausfallen kann. Die tatsächliche Wirk- 7 % und durch LSA-Phasenassistenz um bis zu 9 %
samkeit einer Funktion wird durch den Wirkgrad verringern lassen.
gekennzeichnet: Der Wirkgrad gibt den Anteil der
538 Kapitel 28 • Car-2-X
-
6 volkswirtschaftlicher Nutzen ableiten [33]. rung mit Unterstützung durch Sponsoren, wie etwa
Bei vollständiger Durchdringung mit Versicherungen. Diese würden ganz oder zumin-
7 C2X-Funktionen könnten jährlich bis zu dest teilweise für die Ausstattungskosten der Fahr-
6,5 Mrd. € der volkswirtschaftlichen Kosten zeuge aufkommen und im Gegenzug dafür Zugang
von Straßenverkehrsunfällen vermieden wer- zu Mobilitätsdaten erhalten, die sie für eine eigene
-
28 den. Vertrags- und Preisgestaltung nutzen. Da es hier
Des Weiteren kann durch Effizienzwirkungen aber keinen Königsweg zu geben scheint, ist man
9 und durch die Vermeidung von Umweltbelas- zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Einführung
tungen ein volkswirtschaftlicher Nutzen von nur über eine gemeinsame Anstrengung seitens
10 4,9 Mrd. € erzielt werden. der Fahrzeughersteller und der öffentlichen Hand
möglich sein wird. Im Rahmen des C2C-CC haben
Für den Zeitraum 2015 bis 2035 wurde unter die meisten Fahrzeughersteller daher ein Memo-
11 der Annahme idealer Randbedingungen ein ma- randum of Understanding (MoU) zur Einführung
ximales Nutzen-Kosten-Verhältnis größer als 8 von C2X-Systemen unterzeichnet und die öffentli-
12 berechnet: Legt man die typische Entwicklung che Hand versucht, durch das Projekt Eurokorridor
der Ausstattungsraten von neuartigen Standard- [34] erste Impulse zur Ausrüstung der Straßenver-
features zugrunde, so lässt sich ein kumulatives kehrsinfrastruktur zu geben, um frühzeitig erste
13 Nutzen-Kosten-Verhältnis von 3 über die ersten erlebbare C2X-Funktionen zu ermöglichen.
20 Jahre erwarten. Dieser Wert wird im Allgemei- Die Abhängigkeit von der Ausstattungsrate ist
14 nen als Rechtfertigung für entsprechende Investi- von Funktion zu Funktion stark verschieden: Das
tionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur C2C-CC hat daher ein Phasenmodell für die gestaf-
15 akzeptiert. felte Einführung von Car-2-X Anwendungen entwi-
ckelt. Die . Abb. 28.11. zeigt eine darauf basierende
Darstellung der Volkswagen AG.
16 28.6.3 Einführungsszenarien Die erste Phase beinhaltet die sogenannten
und Ausblick Day-1-Funktionen mit geringer Abhängigkeit von
17 der Ausstattungsrate; die Funktionalität und damit
Das Kernproblem für die Einführung von C2X-Sys- verbunden auch die Komplexität nehmen dann mit
temen liegt in der starken Abhängigkeit von der steigender Ausstattungsrate von Phase zu Phase zu.
18 Ausstattungsrate. Eine Investition in die Infrastruk- Letztendlich wird erwartet, dass die C2X-Techno-
tur ergibt erst Sinn, wenn es auch ausreichend viele logie auch maßgeblich zum automatischen Fahren
19 ausgestattete Fahrzeuge gibt; eine Ausstattung der beitragen wird.
Fahrzeuge rechnet sich erst, wenn es auch vermarkt- Um die Hürden der Einführung zu verringern,
20 bare C2X-Funktionen gibt, die einen – möglichst wird z. B. im aktuell laufenden Projekt CONVERGE
erlebbaren – Kundennutzen liefern. Es wurden dazu [10] die Architektur für einen C-ITS Systemverbund
Literatur
539 28
.. Abb. 28.11 Phasenmodell für die Einführung von Car-2-X Systemen und die damit verbundenen Anwendungen (Quelle:
Volkswagen AG)
-
B., Torrent Moreno, M., Schnaufer, S., Eigner, R., Catrinescu,
den Punkte weiter vertieft: C., Kunisch, J.: “NoW – Network on Wheels”: Project Objecti-
flexible und zukunftssichere Konzepte mit ver- ves, Technology and Achievements. In: Proceedings of the
teilten Besitzrechten und verteilter Kontrolle, 5th International Workshop on Intelligent Transportation
(WIT) Hamburg, Deutschland, März 2008. (2008)
um technische Lösungen von den Betrei-
3 Weblink zum Projekt PReVENT: http://cordis.europa.eu/
ber-spezifischen Anforderungen zu entkop-
-
result/report/rcn/45077_de.html
peln; 4 Weblink zum Projekt CVIS: http://cordis.europa.eu/pro-
Offenheit für neue Akteure, neue Dienste jects/rcn/79316_de.html
und länderübergreifenden Betrieb durch den 5 Weblink zum Projekt SAFESPOT: http://cordis.europa.eu/
-
projects/rcn/80569_de.html
neuen Ansatz institutioneller Rollenmodelle;
6 Weblink zum Projekt COOPERS: http://cordis.europa.eu/
hybride Kommunikation, d. h. Zugang über projects/rcn/79301_de.html
diverse Kommunikationstechnologien und
-
7 Weblink zum Projekt simTD: www.simtd.de
Betreiber-Plattformen; 8 Weblink zu Safety Pilot: http://www.safetypilot.us
Gewährleistung von Ende-zu-Ende Sicherheit 9 Weblink zum Projekt DRIVE C2X: http://cordis.europa.eu/
projects/rcn/97464_de.html
und Privatsphäre.
10 Weblink zum Projekt CONVERGE: http://www.conver-
ge-online.de/
11 Weblink zum CAR 2 CAR Communication Consortium:
Literatur www.car-to-car.org
12 Skupin, C.: Zur Steigerung der Kommunikationszuverläs-
1 Franz, W., Hartenstein, H., Mauve, M. (Hrsg.): Inter‐vehicle‐ sigkeit von IEEE 802.11p im fahrzeugspezifischen Umfeld.
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The FleetNet project. Universitätsverlag Karlsruhe, Karls- Aachen (2014)
ruhe (2005). http://dx.doi.org/10.5445/KSP/1000003684. 13 European Commission: M/453 EN, Standardisation man-
date addressed to CEN, CENELEC and ETSI in the field of
540 Kapitel 28 • Car-2-X
information and communication technologies to support 29 ETSI: EN 302 637‐3, Specifications of Decentralized Environ-
1 the interoperability of co‐operative systems for intelligent mental Notification Basic Service, V1.2.0. 08/2013, http://
transport in the European Community. Dokument der www.etsi.org/deliver/etsi_en/302600_302699/30263703
European Commission, Brussels (2009). http://ec.europa. /01.02.00_20/en_30263703v010200a.pdf
2 eu/enterprise/sectors/ict/files/standardisation_mandate_ 30 simTD‐Konsortium: Deliverable D11.2, Ausgewählte Funkti-
en.pdf onen. 2010, www.simtd.de
14 Weblink zu ETSI ITS: http://www.etsi.org/technolo- 31 simTD‐Konsortium: Deliverable D5.5 Teil B‐1 A, Simulation
3 gies-clusters/technologies/intelligent-transport realer Verkehrsunfälle zur Bestimmung des Nutzens für
15 Weblink zu ETSI C‐ITS: http://www.etsi.org/technolo- ausgewählte simTD‐Anwendungsfälle auf Basis der GIDAS
gies-clusters/technologies/intelligent-transport/coopera- Wirkfeldanalyse. 2013, www.simtd.de
4 tive-its 32 Weblink zu GIDAS (German In‐Depth Accident Study):
16 Weblink zu CEN/TC 278 Intelligent Transport Systems: http://www.gidas.org
5 http://www.itsstandards.eu/
17 ETSI: TR 101 607, Cooperative ITS (C‐ITS), Release 1, V1.1.1.
33 simTD‐Konsortium: Deliverable D5.5 Teil B‐4, Ökonomische
Analyse. 2013, www.simtd.de
05/2013, http://www.etsi.org/deliver/etsi_tr/101600_101 34 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruk-
6 699/101607/01.01.01_60/tr_101607v010101p.pdf
18 ETSI: EN 302 665, ITS Communications Architecture, V1.1.1.
tur (BMVI): Eurokorridor – Cooperative ITS Corridor Joint
deployment. 06/2013, http://www.bmvi.de/SharedDocs/
09/2010, http://www.etsi.org/deliver/etsi_en/302600_302 DE/Anlage/VerkehrUndMobilitaet/Strasse/flyer-eurokorri-
7 699/302665/01.01.01_60/en_302665v010101p.pdf
19 Kargl, F., Papadimitratos, P., Buttyan, L., Müller, M., Schoch,
dor-cooperative-its-corridor-in-deutsch.pdf?__blob=pub-
licationFile
E., Wiedersheim, B., Thong, T., Calandriello, G., Held, A.,
28 Kung, A., Hubaux, J.: Secure Vehicular Communication Sys-
tems: Implementation, Performance, and Research Chal-
lenges. IEEE Communications Magazine 46(11), 110–118
9 (2008)
20 Papadimitratos, P., Buttyan, L., Holczer, T., Schoch, E., Freudi-
ger, J., Raya, M., Ma, Z., Kargl, F., Kung, A., Hubaux, J.: Secure
10 Vehicular Communication Systems: Design and Architec-
ture. IEEE Communications Magazine vol. 46(11), 100–109
(2008)
11 21 ETSI: TS 102 940, ITS communication security architecture
and security management, V1.1.1. 06/2012, http://www.
etsi.org/deliver/etsi_ts/102900_102999/102940/01.01.01
12 _60/ts_102940v010101p.pdf.
22 Bißmeyer, N., Stübing, H., Schoch, E., Götz, S., Stotz, J., Lonc,
Backendsysteme zur
Erweiterung der
Wahrnehmungsreichweite
von Fahrerassistenzsystemen
Felix Klanner, Christian Ruhhammer
29.1 Aktuelle backendbasierte den Daten, die von den Clients generiert werden,
1 Fahrerassistenzsysteme stehen im Backend auch weitere Informationen zur
Verfügung. Beispiele für die Analyse der Verkehrs-
2 Bereits heute sind am Markt eine Reihe von Assis- situation sind die Anbindung an Verkehrsleitzen-
tenzsystemen verfügbar, die auf eine Datenübertra- tralen sowie an weitere mobile Clients (z. B. Han-
gung zum Backend via Mobilfunk zurückgreifen. dys, mobile Navigationssysteme). . Abbildung 29.1
3 Beispiele hierfür sind die Darstellung des aktuellen zeigt den prinzipiellen Aufbau des Systems: Zent-
Verkehrsflusses im Fahrzeug (z. B. BMW Real Time rale Bestandteile des Systems sind eine Sende- und
4 Traffic Information, Audi Verkehrsinformationen Empfangseinheit im Fahrzeug, ein zentrales Server-
online), im Internetbrowser (z. B. Google Maps system sowie die digitale Karte (siehe ▶ Kap. 27) im
5 Traffic) oder über Smartphone Apps (z. B. INRIX Fahrzeug, auf welche die Informationen aus dem
Traffic). Backend referenziert werden.
Außerdem gibt es die Möglichkeit, dass lokale
6 Gefahren wie Unfälle oder Glätte an ein zentrales
Rechensystem gemeldet werden: Hierbei meldet 29.2.1 Digitale Karten
7 das Fahrzeug erkannte Gefahren automatisch und
zudem hat der Fahrer selbst die Möglichkeit, wahr- Digitale Karten sind die Grundlage für Navigations-
genommene Gefahren bestimmter Kategorien (z. B. systeme (siehe ▶ Kap. 55). Zusätzlich liefern digitale
8 Unfall, Tiere auf der Fahrbahn oder Geisterfahrer) Karten Informationen für Fahrerassistenzsysteme,
durch manuelle Eingabe mitzuteilen. indem ein elektronischer Horizont basierend auf
29 Für die Anfrage eines Fahrzeugs von gemelde- der aktuellen Position berechnet wird [1]. Damit
ten Gefahren wird zusätzlich die aktuelle Position erhalten Assistenzfunktionen die Möglichkeit einer
10 an das Backend übertragen. Entsprechend dem Vorausschau. Eine digitale Karte ist daher zentraler
Standort werden die verfügbaren Informationen Bestandteil von backendbasierten Assistenzfunkti-
nach deren Relevanz für das entsprechende Fahr- onen für eine erweiterte Wahrnehmungsreichweite.
11 zeug gefiltert und übermittelt. Ein derartiger Dienst Informationen aus dem Backend werden im Fahr-
ist im Allgemeinen unter dem Begriff „Standortbe- zeug an die Karte angehängt und über den elektro-
12 zogener Dienst“ (engl. „Location-based Service“) nischen Horizont an die Assistenzsysteme verteilt.
bekannt. Die Anwendung internetbasierter Dienste Die Entwicklung im Bereich des autonomen
im Fahrzeug fokussiert sich also heutzutage auf die Fahrens (siehe ▶ Kap. 61) geht hin zu hochgenauen
13 Bereiche Navigation und lokale Gefahrenstellen. digitalen Karten. In diesem Zuge ist eine Detaillie-
rung und Erweiterung bestehender Karten erforder-
14 lich. Über eine Backendanbindung ist es möglich,
29.2 Was sind Backendsysteme? Abweichungen zwischen digitalen Karten und der
15 Realität zu erkennen und zu melden. Hiermit wird
Unter Backendsystemen werden im Folgenden die Grundlage für eine verbesserte Aktualität der
Client-Server-Systeme verstanden. Dabei entspre- Karten gelegt, was im Hinblick auf die Qualitäts-
16 chen die Fahrzeuge den Clients und das sogenannte sicherung für eine Reihe von Fahrerassistenzsyste-
Backend entspricht dem Serversystem, an das die men bis hin zum autonomen Fahren von Vorteil ist.
17 Clients über das Internet angebunden sind. Dabei
dienen die Clients einerseits als Datenlieferanten
für Funktionalitäten im Backend, auf Backendseite 29.2.2 Servertechnologien
18 werden die Daten aggregiert und Informationen
daraus extrahiert. Ein Beispiel dafür ist die Echt- In einem zentralen Serversystem, dem Backend, wer-
19 zeitschätzung der Verkehrslage. Diese Informati- den die Informationen der Fahrzeuge in einer geore-
onen werden den Clients wieder zur Verfügung ferenzierten Datenbank gesammelt, um eine effiziente
20 gestellt, weshalb die Fahrzeuge andererseits als Verarbeitung zu ermöglichen. Für das Beispiel von ge-
Empfänger von Informationen fungieren. Neben meldeten Verkehrsereignissen enthalten die Informa-
29.2 • Was sind Backendsysteme?
543 29
.. Abb. 29.1 Client-Ser-
ver-System für Echtzeit
Verkehrsinformationen.
(Quelle: BMW Group)
tionen einen Bezug zur absoluten Position sowie zur wissen Zeitraum zu erhalten. Zur Beschleunigung
globalen Zeit, an der die Beobachtung erfasst wurde. derartiger Abfragen ist es mit PostGIS möglich, ei-
Derartige Daten mit einer Positionsreferenz werden nen Index auf geometrischen Objekten zu erstellen.
als „georeferenzierte Daten“ bezeichnet. Ein rechner-
gestütztes System, das derartige raumbezogene Da- Zur Veranschaulichung der Verwendung von Stan-
ten erfasst, verwaltet, analysiert und präsentiert, wird dard-Backendtechnologien wird im Folgenden ein Mi-
„Geoinformationssystem (GIS)“ genannt [2]. nimalbeispiel für ein System zur Warnung vor lokalen
Gefahren angeführt. Die Architektur der Anwendung
29.2.2.1 Räumlich relationale ist in . Abb. 29.1 dargestellt. Als Vorbedingung für
Datenbanken das Minimalbeispiel wird ein Rechner mit installier-
Ein spezieller Bestandteil eines GIS ist eine Daten- tem und gestartetem PostgreSQL (▶ http://www.post-
bank, in der georeferenzierte Daten abgespeichert gresql.org/) sowie mit installiertem PostGIS (▶ www.
werden, eine sogenannte Geo-Datenbank. Für sol- postgis.net) vorausgesetzt. Das Datenbank-Manage-
che Datenbanken gibt es speziell angepasste Ausfüh- ment-Werkzeug kann dabei sowohl mit grafischer
rungen relationaler Datenbanken, die räumlichen Oberfläche (pgadmin III) als auch über die Kommando-
relationalen Datenbanken. Eine der bekanntesten zeile (pgsql.exe) gestartet werden.
Ausführungen ist PostGIS [3], welches die Open
Source Datenbank PostgreSQL um räumliche Ob- Auf dem Server-Rechner, nachfolgend Backend ge-
jekte und Abfragen erweitert. nannt, wird zunächst eine neue Datenbank erstellt und
Eine PostGIS-Datenbank unterstützt das Ab- eine Verbindung zu dieser hergestellt. Anschließend
speichern unterschiedlicher Geometrien wie einen wird die Datenbank unter Verwendung von PostGIS zu
Punkt, einen Linienzug oder eine Fläche sowie wei- einer geospatialen Datenbank erweitert.
tere daraus abgeleitete Typen. Bei einer Meldung
von Gefahren oder von Verkehrsereignissen wird -- Erstellung einer neuen Datenbank
zur Information jeweils eine Positionskoordinate CREATE DATABASE local_hazards_db;
bereitgestellt. Da die Beobachtung an genau einem -- Verbindung zur Datenbank herstellen
Ort erfolgt, eignet sich eine Repräsentation der In- \c local_hazards_db;
-- Erweiterung zur geospatialen Datenbank
formation als Punkt.
CREATE EXTENSION postgis;
Neben dem Speichern von Objekten besteht die CREATE EXTENSION postgis_topology;
Möglichkeit, zusätzlich geometrische Objekte für
eine Abfrage zu definieren. Um beispielsweise eine
Anfrage eines Fahrzeugs für relevante Meldungen Für die Anwendung „lokale Gefahrenwarnung“ wird eine
in der Nähe zu verarbeiten, wird eine Box als Geo- Tabelle innerhalb der geospatialen Datenbank erstellt. In
metrie definiert. Die aktuelle Position des Fahrzeugs dieser Tabelle werden neue Events abgespeichert, die
befindet sich dabei in der Mitte dieser Box. Über von Fahrzeugen identifiziert und an das Backend gesen-
eine Datenbankabfrage ist es möglich, sämtliche det wurden. Neben den übertragenen Daten wird die
Ereignisse innerhalb dieser Box und in einem ge- Position der Meldung in eine PostGIS-Punkt-Geometrie
544 Kapitel 29 • Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen
umgewandelt und in die Datenbank eingetragen. Falls sich auf die ID des WGS84-Referenzsystems in der Ta-
1 die Rohdaten der Position im WGS84-Format übertragen belle SPATIAL_REF_SYS. Diese Tabelle wird von PostGIS
werden, wird dieses Format anhand der sogenannten automatisch bei der Erweiterung einer Datenbank zur
2 SRID-Nummer 4326 angegeben. Diese Nummer bezieht geospatialen Datenbank (siehe obigen Befehl) erstellt.
3 -- Tabelle erstellen
CREATE TABLE local_hazards_tab
(
4 id SERIAL PRIMARY KEY, -- Fortlaufende ID aller Einträge
geom GEOMETRY(Point, 4326), -- PostGIS Geometrie
8 Die Spalte „geom“ enthält die Koordinaten (Latitude, INSERT INTO local_hazards_tab
Longitude), enkodiert als PostGIS-Geometrie. Die Ko- (geom, latitude, longitude, heading,
29 ordinaten werden dabei in eine binäre Zahl transfor- speed, hazard, hazard_time)
VALUES (
miert. Zur Beschleunigung von Lesevorgängen auf der
10
ST_SetSRID(ST_Make -- geom
Datenbank wird ein geospatialer Index auf der Spalte
Point(11.695927,
„geom“ erstellt. 48.333459), 4326),
11 48.333459, -- latitude
11.695927, -- longitude
-- Spatialen Index hinzufügen
12 CREATE INDEX local_hazards_idx ON
local_hazards_tab USING GIST(geom);
0.2143,
41.34,
-- heading
-- speed
‚Glaette‘, -- hazard
13 1392675237 ); -- hazard_time
aufgespannt wird. Für dieses Beispiel wird das Abfra- meisten verbreiteten Technologien in diesem Be-
1 gefenster zur Vereinfachung in ellipsoiden Koordina- reich wurden von dem Unternehmen Google Inc.
ten definiert. Üblicherweise wird das Fenster im me- entwickelt und veröffentlicht. Zur Persistierung –
2 trischen Einheitensystem definiert und anschließend also dem dauerhaften Speichern von Daten – er-
in die ellipsoiden Koordinaten des WGS84 Standards stellte Google das „Google File System (GFS)“ [4]
sowie das darauf aufbauende Datenbankkonzept
3 transformiert.
„Big Table“ [5].
Ein konkreter Entwurf für ein skalierbares Pro-
4
-- Fahrzeugposition: 11.652527° Longi-
tude, 48.329299° Latitude grammiermodell ist „MapReduce“ [6], das ebenfalls
-- Abfragefenster: ±0.05° Longitude, von Google Inc. eingeführt wurde. Die Grundidee
5 ±0.03° Latitude
SELECT * FROM local_hazards_tab
hinter diesem Programmiermodell ist die Auftei-
lung der Datenauswertung in eine sogenannte Map-
WHERE ST_Contains(ST_SetSRID(
und in eine Reduce-Phase. Für die Map-Phase wer-
6 ST_MakeBox2D(
ST_Point(11.602527, 48.299299), den die gesamten Eingangsdaten in mehrere Teile
ST_Point(11.702527, 48.359299)), unterteilt; für jeden Teil wird ein Map-Prozess
7 4326),geom); gestartet. Jeder Map-Prozess verarbeitet den zuge-
hörigen Datenanteil unabhängig von den anderen
Map-Prozessen, wodurch sämtliche Prozesse pa-
8 Entsprechend der Abfrage im Backend gibt es zwei rallel abgearbeitet werden können. Die einzelnen
gemeldete Events im Umkreis um das Fahrzeug, ent- Prozesse erzeugen Zwischenergebnisse, die in der
29 sprechend . Tab. 29.2. Diese werden als Ergebnis der Reduce-Phase zu einem Endergebnis zusammenge-
Anfrage an das Fahrzeug gesendet. Ein Assistenzsys- fasst werden. Dabei ist es wiederum möglich, für je-
10 tem im Fahrzeug empfängt die Daten und wertet die des Endergebnis einen unabhängigen Reduce-Pro-
Meldungen aus. Zur Einstufung der Relevanz der Er- zess zu initiieren.
kennungen sind diese entsprechend dem Heading zu Die von Google veröffentlichten Konzepte wur-
11 filtern. Außerdem wird entsprechend der Anzahl an den von der „Apache Software Foundation“ in frei
Clients sowie der Zeit der Meldung bestimmt, ob der verfügbare OpenSource-Software umgesetzt und
12 Fahrer gewarnt wird. Falls tatsächlich Potenzial einer erweitert. Das gesamte Framework wird „Hadoop“
Gefahr für den Fahrer vorhanden ist, wird dieser ent- [7] genannt. Die Hauptbestandteile sind das Datei-
system „Hadoop Distributed File System (HDFS)“,
13 sprechend gewarnt.
die Datenbankkonzepte „Pig“, „HBase“ und „Hive“
sowie eine MapReduce-Implementierung. Hadoop
14 29.2.2.2 Skalierbare Architekturen findet aufgrund der freien Verfügbarkeit eine weite
für räumliche Verbreitung in der Industrie und wird beispiels-
Datenverarbeitung
15 weise auch bei Facebook eingesetzt.
Zukünftig wird die Menge an übertragenen und Diese Basistechnologien werden für eine Viel-
damit zu speichernden beziehungsweise zu verar- zahl unterschiedlicher Anwendungen eingesetzt:
16 beitenden Daten weiter zunehmen. Besonders im Auch unter geospatialen Anwendungen ist das
automobilen Umfeld sind wegen den neuartigen MapReduce-Konzept sowie „Apache Hadoop“ im-
17 Möglichkeiten der Fahrerassistenz durch die An- mer häufiger zu finden. Dazu werden spezielle Er-
bindung der Fahrzeuge an das Internet große Stei- weiterungen entwickelt, wie beispielsweise „MRGIS“
gerungsraten zu erwarten. [8], „Hadoop-GIS“ [9] oder „SpatialHadoop“ [10].
18 Die Herausforderung schnell wachsender Da- Diese Entwicklungen verknüpfen die skalierbaren
tenmengen musste bereits bei der Entwicklung des Architekturen aus dem Internet mit den spezialisier-
19 Internets bewältigt werden, wobei performante ten Lösungen für räumliche Daten, den Geoinfor-
und redundante Dateisysteme, ausfallsichere Da- mationssystemen. Damit wird die Basis für hoch
20 tenbanksysteme und effiziente Konzepte zur Da- skalierbare geospatiale Anwendungen entwickelt,
tenverarbeitung nötig sind. Die heutzutage am wie sie in der Automobilindustrie benötigt werden.
29.3 • Eigenschaften der Datenübertragung
547 29
-
es zwei unterschiedliche Möglichkeiten:
festeingebaute SIM-Karte mit Aufpreis für den
soren übertragen, sondern nur abstrahiertes Wis-
sen. Durch ein dezentrales Wissensmanagement
1
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5
6
7
8
29
10
11
12
13
14
15
16
17 .. Abb. 29.3 Signalkette zwischen zwei Fahrzeugen über einen Backend-Server. (Quelle: BMW Group)
tion wurden in [12] sechs verschiedene Szenarien übertragung benötigt wird. Als optimistisch wird
18 untersucht: Szenario Stadt, Szenario Überland, Sze- die theoretisch mögliche und als realistisch die im
nario Autobahn – jeweils bei mittlerer und hoher Mittel erwartete Übertragungszeit bezeichnet. Ab-
19 Last. Die Ergebnisse sowohl der realen Messungen hängig vom aktuellen Verkehrsaufkommen und dem
als auch der LTE-Simulation sind in . Abb. 29.5 Zustand des Kommunikationssystems treten jedoch
20 zusammengefasst. Die Zahlenwerte zeigen die auch höhere Übertragungszeiten auf, welche in der
Größenordnung der Zeit auf, welche für die Daten- Abbildung als pessimistisch bezeichnet werden. Bei
29.4 • Nächste Generation backendbasierter Assistenzsysteme
549 29
.. Abb. 29.4 Übersicht
zu verfügbaren Mobil-
funkstandards und die
jeweilige theoretische
Übertragungsrate. (Quelle:
BMW Group)
.. Abb. 29.5 Latenzzeitabschätzung für die Signalkette Fahrzeug – Backend-Server – Fahrzeug. (Quelle: BMW Group)
der Nutzung von Daten, die via Mobilfunk übertra- ermöglichen. Situationen im hochautomatisierten
gen werden, ist insbesondere die auftretende Varia- Fahrbetrieb, wie „harte“ Stauenden, werden auch
bilität der Latenzzeit von mehreren hundert Millise- ohne Informationen aus einem Backendsystem si-
kunden beim Funktionsdesign zu berücksichtigen. cher beherrscht werden. Allerdings kann die ein-
Die Analyse zeigt, dass beispielsweise bei einem geschränkte Reichweite von lokalen Sensoren dazu
Datenaustausch mittels LTE in Szenario Überland führen, dass starke Bremsungen erforderlich sind.
und mittlerer Last eine Ende-zu-Ende-Latenz von Diese Situation wird in [13] näher beschrieben und
< 369 ms erzielt wird. ist mit zugehörigen Berechnungen von Bremsma-
növern in . Abb. 29.6 dargestellt.
Außerdem können Systeme, wie eine Verkehrs-
29.4 Nächste Generation zeichenerkennung, von aktuellen, kommunal ge-
backendbasierter lernten Informationen profitieren und damit eine
Assistenzsysteme niedrigere Fehlerkennungsrate erreichen. Für eine
Verkehrszeichenerkennung wird die lokale Erken-
Eine Anbindung an eine zentrale Recheneinheit er- nung der Fahrzeugkamera mit der Information aus
möglicht eine Vielzahl an Möglichkeiten, Fahreras- der digitalen Karte fusioniert. Obwohl dadurch die
sistenzsysteme zu unterstützen. So werden hochau- korrekte Anzeige von Geschwindigkeitsbegrenzun-
tomatisierte Fahrfunktionen anhand detaillierter gen erheblich verbessert wird, kann es in bestimm-
Verkehrsinformationen, wie beispielsweise die Lage ten Situationen immer noch zu falschen Anzeigen
von „harten“ Stauenden, unterstützt, um eine erwei- kommen. Die kartierten Verkehrszeicheninformati-
terte Vorausschau und damit höheren Komfort zu onen sind teilweise fehlerbehaftet beziehungsweise
550 Kapitel 29 • Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen
1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 29.6 Hartes Stauende beim hochautomatisierten Fahren. (Quelle: BMW Group)
8 veraltet. Für den Fall, dass die Kamera durch Um- horizontalen Markierungen wie Haltelinien eine
welteinflüsse keine Verkehrszeicheninformation er- Herausforderung, da von derartigen Markierungen
29 kennen kann und zugleich eine falsche Information nur sehr wenige Merkmale erkennbar sind. Das
in der digitalen Karte hinterlegt ist, kommt es zu Wissen über die Haltelinienposition aus einer digi-
10 einer falschen Information an den Fahrer. Durch talen Karte bietet die Möglichkeit, die lokale Erken-
ein gemeinsames Lernen von Verkehrszeichenin- nung aus der Kamera anhand der Karteninforma-
formationen über ein Backendsystem ist es möglich, tion zu plausibilisieren und zu fusionieren. Damit
11 Karteninformationen laufend zu aktualisieren, um können Falscherkennungen und somit falsche Re-
falsche Anzeigen zu vermeiden. aktionen von hochautomatisierten Fahrfunktionen
12 Neben dynamischen Informationen, wie Stau- vermieden werden.
enden, und der Verbesserung bereits vorhandener
Informationen, wie die Anzeige von Geschwindig-
13 keitsbeschränkungen, können über eine Anbindung 29.5 Extraktion
an eine zentrale Recheneinheit zusätzlich auch Ei- von fahrerassistenzsystem
14 genschaften und Elemente der Fahrzeugumgebung relevanten Informationen
gelernt werden, die bisher nicht verfügbar sind. Ein aus Flottendaten im Backend
15 Beispiel dafür sind die Positionen von Haltelinien
an Kreuzungen, an denen der Verkehr von einer Durch die Anbindung vieler Fahrzeuge an ein zen-
Lichtsignalanlage geregelt wird. Die Position von trales Rechensystem entstehen große Mengen an
16 Haltelinien ist eine wichtige Eingangsgröße für die georeferenzierten Daten. Neben einer passenden
Motor-Start-Stopp-Automatik (MSA). Falls ein Fahr- Architektur zum Erfassen und Verwalten dieser
17 zeug nach einer Haltelinie im inneren Bereich einer Daten, wie sie in ▶ Abschn. 29.2.2 vorgestellt wur-
Kreuzung zum Stehen kommt, ist es weniger wahr- den, sind Algorithmen für die Analyse dieser Daten
scheinlich, dass eine lange Standzeit bevorsteht. Eine ein weiterer wichtiger Bestandteil von einem Geoin-
18 intelligente Motor-Start-Stopp-Strategie verhindert formationssystem. Dabei wird die Algorithmik zur
daher in diesem Fall ein Abschalten des Motors. Datenanalyse zwischen den Clients und dem Ser-
19 Statische Kartenattribute sind außerdem eine ver aufgeteilt. Je nach Anwendungsgebiet werden
wichtige Eingangsgröße für innerstädtische hoch- unterschiedlich große Anteile der Algorithmen auf
20 automatisierte Fahrfunktionen. Für rein kamera dem Client und auf dem Server verteilt. Am Beispiel
basierte Systeme ist die sichere Erkennung von der lokalen Gefahrenwarnung befinden sich in der
29.6 • Zusammenfassung
551 29
.. Abb. 29.7 Generische Bestimmung von Kreuzungsparametern basierend auf Flottendaten. (Quelle: BMW Group)
dargestellten Ausprägung die Hauptanteile des Al- den realen Überfahrten ergibt sich die Parameter-
gorithmus auf den Clients. Ein Stauevent wird über kombination mit der besten Übereinstimmung der
einen fahrzeuglokalen Algorithmus erkannt und an Beobachtungen als Schätzung. Neben einer exakten
das Backend gemeldet; im Backend findet lediglich Schätzung ist für Fahrerassistenzsysteme ebenfalls
eine positionsadaptive Selektion der Daten für ein- eine Konfidenzschätzung von zentraler Bedeutung.
zelne Fahrzeuge statt. Nach der Übertragung von Für die Ermittlung von Kreuzungsparametern
gemeldeten Ereignissen in der Nähe des Fahrzeugs wurde in [15] ein Verfahren zur Konfidenzschät-
geschieht die Auswertung der Relevanz dieser Mel- zung vorgestellt. Derartige Algorithmen benötigen
dungen wieder im Fahrzeug. eine hohe Rechenkapazität und werden daher in
Im Gegensatz dazu befindet sich bei backend- einem Backend ausgeführt.
basierten Fahrerassistenzsystemen, die auf einer
Ermittlung statischer Umfeldobjekte beruhen, ein
größerer Anteil an Algorithmik im Backend. Ein 29.6 Zusammenfassung
Verfahren dieser Art wurde beispielsweise in [14]
vorgestellt, um Kreuzungsparameter aus Flotten- Bereits heute bauen eine Reihe von Diensten im au-
daten zu extrahieren. . Abbildung 29.7 zeigt die tomobilen Umfeld auf Backendsystemen auf. Der
Struktur des gesamten Verfahrens. Der Algorithmus Schwerpunkt liegt dabei auf einer Informationsbe-
basiert auf der Beobachtung von bestimmten Grö- reitstellung von Daten, die im Fahrzeug selbst nicht
ßen aus den Flottendaten, die in Zusammenhang verfügbar sind. Systeme wie Google Traffic nutzen
mit den gesuchten Parametern stehen. Parallel zur bereits Flottendaten, um Rückschlüsse auf die ak-
Auswertung der Flottendaten wird eine mikrosko- tuelle Verkehrslage zu ziehen. Das Kapitel gibt ei-
pische Verkehrssimulation der Kreuzung mit den nen Überblick über verfügbare Technologien zur
gesuchten Parametern durchgeführt, wobei die Datenübertragung und Informationsverarbeitung
unbekannten Parameter innerhalb eines diskre- im Backend. Durch simulations- und messtech-
ten Wertebereichs variiert werden, und für jede nikgestützte Untersuchungen wird exemplarisch
Parameterkombination wird der Verkehr an der aufgezeigt, mit welchen Übertragungszeiten Fah-
Kreuzung simuliert. Aus den einzelnen Simulatio- rerassistenzsysteme umgehen müssen, die auf via
nen werden entsprechend zu den Flottendaten die Mobilfunk übertragene Daten zurückgreifen. Die
gleichen Werte beobachtet. Durch einen Vergleich erwartete Übertragungszeit liegt im Mittel bei rund
der Beobachtungen aus den Simulationen und aus 400 Millisekunden, erhöht sich jedoch abhängig von
552 Kapitel 29 • Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen
Verkehrslage und Zustand des Mobilfunksystems nehmende Vernetzung. Elektronik automotive, 6/7 2013,
1 auch auf mehr als eine Sekunde. Die dabei über-
WEKA Fachmedien GmbH, S. 26 ff. (2013)
14 Ruhhammer, C., Atanasov, A., Klanner, F., Stiller, C.: Crowd-
tragenen Daten stehen im Backend für eine wei- sourcing als Enabler für verbesserte Assistenzsysteme: Ein
2 tere Auswertung zur Verfügung. Am Beispiel der generischer Ansatz zum Erlernen von Kreuzungsparame-
Bestimmung von Kreuzungsparametern für Fah- tern 9. Workshop Fahrerassistenzsysteme: FAS2014. Uni-
rerassistenzsysteme wird exemplarisch aufgezeigt, DAS e.V., Walting (2014)
3 wie aus Flottendaten Informationen extrahiert wer-
15 Ruhhammer, C., Hirsenkorn, N., Klanner, F., Stiller, C.: Crowd-
sourced intersection parameters: A generic approach for
den. Diese Informationen ermöglichen es, bereits extraction and confidence estimation IEEE Intelligent Ve-
4 prototypisch entwickelte Fahrerassistenzsysteme hicles Symposium. (2014)
zur Serienreife zu führen.
5
Literatur
6
1 Blervaque, V., Mezger, K., Beuk, L., Loewenau, J.: ADAS Ho-
8 2
Berlin (2006)
Bill, R.: Grundlagen der Geo‐Informationssysteme. Wich-
mann, Heidelberg (2010)
29 3 Obe, R., Hsu, L.: PostGIS in Action. Manning Publications,
Greenwich, Connecticut, USA (2011)
4 Ghemawat, S., Gobioff, H., Leung, S.: The Google file system.
10 5
ACM Press, New York (2003)
Chang, F., Dean, J., Ghemawat, S., Hsieh, W.C., Wallach, D.A.,
Burrows, M., Chandra, T., Fikes, A., Gruber, R.E.: Bigtable: A
11 distributed storage system for structured data. USENIX As-
sociation, Berkeley, CA, USA (2006)
6 Dean, J., Ghemewat, S.: MapReduce: simplified data pro-
12 cessing on large clusters. USENIX Association, Berkeley, CA,
USA (2004)
7 White, T.: Hadoop: The Definitive Guide. O'Reilly Media,
13 Sebastopol, CA, USA (2009)
8 Chen, Q., Wang, L., Shang, Z.: MRGIS: A MapReduce‐Enab-
led High Performance Workflow System for GIS 2008 IEEE
14 Fourth International Conference on eScience, Indianapolis,
Indiana, USA. IEEE, New York, NY, USA (2008)
15 9 Aji, A., Sun, X., Vo, H., Liu, Q., Lee, R., Zhang, X., Wang, F.:
Demonstration of Hadoop‐GIS. ACM Press, New York (2013)
10 Eldawy, A., Mokbel, M.F.: A demonstration of Spatial-
Aktorik für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 30 Hydraulische Pkw-Bremssysteme – 555
James Remfrey, Steffen Gruber, Norbert Ocvirk
Kapitel 32 Lenkstellsysteme – 591
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring
555 30
Hydraulische Pkw-
Bremssysteme
James Remfrey, Steffen Gruber, Norbert Ocvirk
30.1 Standardarchitektur – 556
30.2 Erweiterte Architekturen – 564
30.3 Dynamik hydraulischer Bremssysteme – 573
Literatur – 576
5
wünschten Richtung folgt. Voraussetzung hierfür
ist eine entsprechende Verteilung der Bremskräfte
sowohl auf die Vorder- und Hinterachse als auch --
Pkw-Bremssystemen gehören:
Pedalwerk mit Bremspedal,
Bremsbetätigung (Bremskraftverstärker, Tan-
6
auf die rechte und linke Fahrzeugseite. Die Regle-
mentierung erfolgt in gesetzlichen Vorschriften,
für deren Einhaltung der Fahrzeughersteller ver- - --
demhauptzylinder, Ausgleichbehälter),
elektronisches Bremssystem (EBS) mit Sensorik:
Raddrehzahlsensoren an allen 4 Rädern,
7
--
antwortlich ist. Beschleunigungssensoren,
Bremssysteme herkömmlicher Bauart verstär- Gierratensensor,
8 ken die Fahrerfußkraft auf die notwendigerweise
erheblich höheren Bremskräfte am Rad und steu-
-- Lenkwinkelsensor,
Radbremssättel mit Bremsscheiben,
9
30
ern entsprechend der Bremsenauslegung die Brems-
kraftverteilung auf die Achsen. Veränderungen der
Bremskraftverteilung aufgrund von Beladungszu-
ständen des Fahrzeugs können mithilfe von zusätz-
--
Trommelbremsen,
Bremsleitungen und -schläuche,
Reifen.
16
stimmungen) ein Fußpedal genutzt.
Die möglichen Wirkketten innerhalb von
--
heute hauptsächlich drei Bauarten verwendet:
Vakuum-Bremskraftverstärker,
17
Pkw-Bremssystemen (. Abb. 30.1) beinhalten da-
her heute Bauelemente, die folgende Funktionen
- Hydraulik-Bremskraftverstärker,
elektromechanischer Bremskraftverstärker.
--
abdecken:
(Fuß-)Bremskraft einleiten, Vakuum-Bremskraftverstärker Der Vakuum-Brems-
-
18 Bremskraft verstärken, kraftverstärker – auch Vakuum-Booster genannt
Bremskraft in Bremsdruck/Bremsvolumen- – hat sich bisher trotz seiner deutlich größeren Ab-
--
19 strom umwandeln, messungen gegenüber dem Hydraulik-Bremskraft-
Druck/Volumen übertragen, verstärker behaupten können. Wesentliche Gründe
20 Druck/Volumen in Bremskraft am Rad um- hierfür sind seine kostengünstige Bauart und die
wandeln. Verfügbarkeit von Unterdruck bei Saugmotoren.
30.1 • Standardarchitektur
557 30
.. Abb. 30.2 Aktives
Bremsgerät in Tan-
dem-Bauweise
Die Vakuumkammer des Bremskraftverstärkers ist Bei größeren Fahrzeugen reicht das Arbeitsvermö-
über eine Unterdruckleitung mit dem Ansaugrohr gen dieser Einfachgeräte nicht aus. Hier kommen
des Motors oder einer separaten Vakuumpumpe Tandem-Bremskraftverstärker zur Anwendung, bei
(z. B. bei Dieselmotoren, direkteinspritzenden oder denen zwei Einfachgeräte hintereinander in einem
aufgeladenen Otto-Motoren) verbunden. Gerät angeordnet sind. Übliche Baugrößen reichen
Als Boostergröße wird üblicherweise der von 7"/8" bis 10"/10". In . Abb. 30.2 ist ein solches
Durchmesser des Verstärkers in Zoll angegeben. Gerät als elektrisch ansteuerbarer Bremskraftver-
Gängige Gerätegrößen liegen zwischen 7" und 11". stärker dargestellt.
558 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
1
2
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 30.3 Mechanischer Bremsassistent
9 Durch die zunehmende Kraftstoffverbrauchsop- öffnet und der Bremskraftverstärker (ohne Zutun
timierung (insbesondere Reduzierung der An- des Fahrers) betätigt. Zur sicheren Erkennung des
30 saug-Drosselverluste) wird der nutzbare Unterdruck Fahrerwunsches wird ein sogenannter „Löseschal-
für die Bremskraftverstärkung immer weiter redu- ter“ in das Steuergehäuse integriert.
ziert. Eine naheliegende Gegenmaßnahme ist die b) Mechanischer Bremsassistent:
11 Verwendung eines größeren Boosters, dem leider Bei diesem Konzept wird über eine abgeänderte
oft Packaging-Probleme im Motorraum entgegen- Mechanik die Trägheit des Bremskraftverstärkers
12 stehen. ausgenutzt, die bei schneller Betätigung (Notbrem-
Im Folgenden sollen zwei spezielle Varianten sung) dazu führt, dass das Tellerventil einen defi-
des Vakuum-Bremskraftverstärkers erwähnt wer- nierten Öffnungshub überschreitet. Damit erfolgt
13 den, die neben der oben beschriebenen konventio- eine Arretierung des Tellerventils, das selbst dann
nellen Bauweise eingesetzt werden: geöffnet bleibt, wenn die Fußkraft wieder gering-
14 a) Aktiver Bremskraftverstärker: fügig reduziert wird (. Abb. 30.3). Es wirkt dann
Zur Darstellung von Assistenz-/Zusatzfunktionen unmittelbar die maximal mögliche (und nicht nur
15 werden sogenannte „aktive Bremskraftverstärker“ die der Fahrerfußkraft proportionale) Verstärkungs-
eingesetzt, die fahrerunabhängig elektrisch ansteu- kraft.
erbar sind und somit Bremsdruck erzeugen (siehe
16 . Abb. 30.2). Genutzt werden diese für Funktionen Hydraulik-Bremskraftverstärker Hydraulische Ver-
wie z. B. ESC-Vorladung, elektronischer BA (Brem- stärker haben im Vergleich zu Vakuumbremskraft-
17 sassistent) und ACC (Adaptive Cruise Control). Ak- verstärkern Vorteile im Hinblick auf Energiedichte
tive Bremskraftverstärker weisen einen im Steuerge- sowie Einbauraum. Sie finden hauptsächlich Ver-
häuse integrierten Magnetantrieb auf. Mittels einer wendung in schweren Pkws (z. B. gepanzerten Son-
18 Schiebehülse ist es möglich, mit dem elektrisch derschutz-Fahrzeugen) und Elektrofahrzeugen.
betätigten Magnetantrieb das Tellerventil zu betäti-
19 gen. Dabei wird zunächst die Verbindung zwischen Elektromechanischer Bremskraftverstärker Vor al-
Vakuumkammer und Arbeitskammer geschlossen; lem im Hinblick auf die bremssystemtechnischen
20 mit einer weiteren Strombeaufschlagung wird die Anforderungen von Hybrid- und Elektrofahrzeugen
Verbindung der Arbeitskammer zur Außenluft ge- erscheint eine elektromechanische Bremskraftver-
30.1 • Standardarchitektur
559 30
.. Abb. 30.4 Elektrome-
chanischer Bremskraftver-
stärker – iBooster (Foto
Bosch)
stärkung [2] mit (teil-) entkoppeltem Bremspedal nische Energie des Bremskraftverstärkerausgangs
sinnvoll: In den genannten Fahrzeugtypen steht in hydraulische Energie umzuwandeln. Neben der
kein oder nur zeitweise Unterdruck vom Verbren- Druckgenerierung bei endlicher Nachgiebigkeit
nungs-/Saugmotor zur Verfügung, der einen Vaku- des Bremssattels inkl. der Bremsbeläge und die
um-Bremskraftverstärker speisen könnte. Außer- Überwindung des Lüftspiels ist das Flüssigkeits-
dem soll der Fahrer während einer Bremsung keine volumen bereitzustellen.
störenden Auswirkungen am Pedal wahrnehmen,
die sich aus dem Blending genannten Übergang Aufgrund der gesetzlich geforderten Zweikreisigkeit
zwischen Generator- und Reibungsbremse ergeben der Bremsanlage werden (Einfach)-Hauptzylinder
könnten. nur noch in Sonderfällen, z. B. bei Rennfahrzeugen,
Bei einem elektromechanischen Bremskraftver-eingesetzt.
stärker (. Abb. 30.4, Foto Bosch) wird die Bremspe- Der heute generell eingesetzte Tandem-Haupt-
dalbetätigung über eine Weg- bzw. Winkelsensorikzylinder (THz) entspricht einer Kombination zweier
am Bremspedal erfasst. Diese Information wird inhintereinander geschalteter Einfach-Hauptzylinder
der ECU ausgewertet und in entsprechende Steu- in einem Gehäuse. Er ermöglicht den Druckauf-
ersignale für einen Elektromotor umgesetzt. Die-und -abbau in beiden Kreisen der Bremsanlage.
Bei Volumenänderungen im Bremssystem, z. B.
ser Elektromotor unterstützt über ein Getriebe die
bei Temperaturänderungen oder Verschleiß der
Betätigungskraft des Fahrers und letztendlich wirkt
diese Kraftresultierende auf den Hauptbremszylin-
Bremsbeläge, wird über den Ausgleichbehälter der
der, der den hydraulischen Bremsdruck generiert.Volumenausgleich sichergestellt.
Die für den Fahrer wahrnehmbare Bremspedal- Über Rohrleitungen wird Bremsdruck und Hy-
charakteristik ist bei diesem Ansatz via Software
draulikvolumen entsprechend der Bremskraftver-
beeinflussbar. Eine nachgeschaltete HECU für Hy-teilung den Bremssätteln zugeführt und in mecha-
bridsysteme realisiert das oben erwähnte Blending.
nische Zuspannkraft umgesetzt. Die Zuspannkraft
wird über die Bremsbeläge auf die Bremsscheiben
(Tandem)-Hauptbremszylinder Der (Tandem)- übertragen. Das dabei erzeugte Reib-(Brems)-Mo-
Hauptbremszylinder hat die Aufgabe, die mecha- ment wird über Rad und Reifen als Bremskraft auf
560 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
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.. Abb. 30.5 ESC-Anlage in Explosionsdarstellung
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die Fahrbahn aufgebracht und führt zur Verzöge- gebungsluft sinkt im Laufe der Zeit der Siedepunkt
9 rung des Fahrzeugs. der Bremsflüssigkeit, was bei starker thermischer
Beanspruchung der Bremsanlage zu Dampfblasen-
30 Ausgleichbehälter Der Ausgleichbehälter beinhaltet bildung und somit Bremsproblemen führen kann.
das Reservevolumen für die zusätzliche Volumen- Daher ist Bremsflüssigkeit regelmäßig daraufhin zu
aufnahme durch Belagverschleiß, gewährleistet den überprüfen, ob der Nasssiedepunkt nicht unter ei-
11 Volumenausgleich innerhalb der Bremsanlage unter nen kritischen Wert absinkt (vgl. vorgeschriebene
verschiedenen Umgebungsbedingungen, verhindert Wechselintervalle für Bremsflüssigkeit).
12 bei unterschiedlichen Fahrsituationen das Ansau-
gen von Luft in das Bremssystem, reduziert das Bremsflüssigkeit muss auch bei Tieftemperatu-
Aufschäumen der Bremsflüssigkeit und trennt bei ren (bis zu −40 °C) gute Fließeigenschaften be-
13 absinkendem Flüssigkeitsspiegel das Reservevolu- sitzen (d. h. eine hinreichend geringe Viskosität),
men der Hauptzylinderkreise. um sowohl ein gutes Ansprech- und Löseverhal-
14 ten der Bremsen als auch eine gute Funktion der
Darüber hinaus kann der Ausgleichbehälter als Vo- elektronischen Regelsysteme zu ermöglichen. Da-
15 lumenspeicher für eine hydraulisch betätigte Kupp- rüber hinaus muss die Bremsflüssigkeit eine hohe
lung oder auch für eine ESC-Vorladepumpe dienen Siedetemperatur aufweisen, damit es selbst bei
und bevorratet ggf. die Bremsflüssigkeit, die zum stärkster thermischer Belastung der Bremsanlage
16 Laden eines Hydrospeichers benötigt wird. nicht zur Dampfblasenbildung kommt. Die Kom-
pressibilität von Dampfblasen würde dazu füh-
17 Bremsflüssigkeit
Im hydraulischen Teil der ren, dass wegen des begrenzten Ausstoßvolumens
Bremsanlage ist Bremsflüssigkeit das übliche Me- des Tandem-Hauptzylinders kein ausreichender
dium für die Energieübertragung zwischen (Tan- Bremsdruck mehr aufgebaut werden kann. Bei
18 dem)-Hauptbremszylinder, ggf. hydraulischer Re- Bremsflüssigkeiten werden Glykol-basierte oder
geleinheit und den Radbremsen. Zusätzlich hat sie Silikonbremsflüssigkeiten verwendet.
19 die Aufgabe, bewegte Teile wie z. B. Dichtungen,
Kolben und Ventile zu schmieren und vor Korro- Bremsleitungen und -schläuche Zur Verbindung der
20 sion zu schützen. Bremsflüssigkeit ist hygrosko- hydraulischen Komponenten eines Bremssystems
pisch: Durch Feuchtigkeitsaufnahme aus der Um- werden hochdruckfeste Bremsrohr-, Bremsschlauch-
30.1 • Standardarchitektur
561 30
.. Abb. 30.6 ABS-Hydraulikschaltbild (schwarz) mit Zusatzkomponenten für ASR (grau) für Pkws mit Frontantrieb und diagona-
ler Bremskreisaufteilung
und armierte Schlauchleitungen (sog. Flexleitungen) Spulenträger wird mittels eines sogenannten „mag-
verwendet. Wesentliche Anforderungen sind Druck- netischen Steckers“ aufgesetzt.
festigkeit, mechanische Belastbarkeit, geringe Volu- Die Energieversorgung einer ESC-Einheit be-
menaufnahme, chemische Beständigkeit z. B. gegen steht aus einer zweikreisigen Hydraulikpumpe
Öl, Kraftstoffe und Salzwasser sowie thermische (Pumpenpatronen im Ventilblock integriert), die
Unempfindlichkeit. durch einen Elektromotor mit exzentrischer An-
triebswelle angetrieben wird. Sie befördert die
während der ABS-Regelung zwischengelagerte
30.1.2 Modulation Bremsflüssigkeit aus den Niederdruckspeichern
zurück in die Bremskreise des (Tandem-) Haupt-
Die hydraulisch/elektronische Regeleinheit HECU bremszylinders.
(Hydraulic Electronic Control Unit) ist durch zwei Die im Ventilblock integrierten Einlass- und
Hydraulikleitungen mit den Bremskreisen des THz Auslassventile sind als 2/2-Magnetventile ausge-
verbunden. Von der HCU führen Bremsleitungen bildet und ermöglichen die Modulation der Rad-
zu den Radbremsen. bremsdrücke (siehe . Abb. 30.6). Das Einlassventil
(stromlos offen, SO-Ventil) erfüllt zwei Aufgaben.
Hydraulisch/Elektronische Regeleinheit (HECU) Heu- Zum einen öffnet oder schließt es bei Ansteuerung
tige ABS/ASR/ESC-Anlagen (z. B. Continental die Verbindung vom Hauptzylinder zum jeweiligen
MK60, . Abb. 30.5) bestehen aus einem zentralen Radbremskreis, um den benötigten Druck zu halten.
Hydraulikblock mit Magnetventilen, einer inte- Zum anderen ermöglicht das parallel geschaltete
grierten Pumpe mit einem angeflanschten Elektro- Rückschlagventil unabhängig vom Schaltzustand
motor (HCU = Hydraulic Control Unit) und einem des Magnetventils eine Reduktion des Bremsdrucks
Spulenträger einschließlich der darin enthaltenen und damit der Bremskraft bei Pedalkraftreduzie-
Elektronik (ECU = Electronic Control Unit). Der rung durch den Fahrer.
562 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
.. Abb. 30.8 Faustsat-
tel Bauart Continental
FN: 1 Bremsscheibe,
2 Bremskolben, 3 Hydrau-
lischer Anschluss, 4 Dämp-
fungshülsen (Bushings),
5 Halter, 6 Rahmen
können, ist eine Entkopplung von Bremspedal und Bei Betätigung des Bremspedals wird über den Win-
Bremshydraulik erforderlich. Nachfolgend wird kelsensor der Fahrerbremswunsch erfasst.
der Aufbau einiger solcher Systemarchitekturen Durch die mechanische Entkopplung von
beschrieben. Bremspedal und Bremskraftverstärker/(Tan-
dem)-Hauptbremszylinder wird jedoch zunächst
kein hydraulischer Bremsdruck aufgebaut. Da-
30.2.1 Regeneratives Bremssystem mit der Fahrer nicht „ins Leere“ tritt, wirkt dem
RBS-SBA Fahrerfuß über den Simulator eine (primär pe-
dalwegabhängige) Gegenkraft entgegen. Über die
Das hier beschriebene „Regenerative Bremssys- Regelungssoftware ist der Pedalweg mit einer Fahr-
tem mit SBA (Simulator Brake Actuation)“ zeugverzögerungskennlinie verknüpft, worüber sich
(. Abb. 30.11) enthält zusätzlich zur bereits be- – in Grenzen – unterschiedliche Pedalcharakteristi-
schriebenen Standardarchitektur und dem elek- ken darstellen lassen.
566 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
.. Abb. 30.11 Betäti-
1 gungseinheit (Mensch-Ma-
schine-Schnittstelle HMI)
für ein regeneratives
2 Bremssystem, welche
eine situationsadaptive
Entkopplung zwischen
3 Bremspedal und Bremshy-
draulik ermöglicht
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Die Elektronik der HECU erhält über eine ent- mit ihren drei wesentlichen Baugruppen beschrei-
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9
sprechende Schnittstelle zur Generatorregelung die
Information darüber, welches Bremsmoment vom
Generator momentan bereitgestellt werden kann.
Ist dieses Moment ausreichend, um dem Fahrer-
-
ben:
Betätigungseinheit mit Tandem-Haupt-
bremszylinder (THz), integriertem Pedalcha-
rakteristiksimulator, redundantem Wegsensor
30
bremswunsch zu entsprechen, wird das Fahrzeug
allein durch die Generatorbremswirkung verzö-
gert. Wird mehr Bremsmoment gewünscht als der
Generator aktuell liefern kann, wird zusätzlich
- und Bremsflüssigkeitsbehälter,
hydraulische Regeleinheit (Hydraulic Control
Unit, HCU) mit Motor-Pumpen-Speicher-Ag-
gregat (MPSA) bestehend aus Motor, Dreikol-
11 Reibungsbremsmoment dadurch erzeugt, dass der benpumpe und Metallbalgspeicher mit Weg
aktive Bremskraftverstärker elektrisch angesteuert sensor als Druckversorgung, Ventilblock mit 8
12 wird. Durch diesen vom Bremspedal entkoppelten analogisierten Regelventilen, 2 Trennventilen
Bremsdruckaufbau und dem daraus resultieren- und 2 Balanceventilen als Ventileinheit und
13
14
den Reibungsbremsmoment wird das Generator-
bremsmoment ergänzt.
Da einige Verbrennungsmotoren nicht ausrei-
chend Vakuum erzeugen bzw. bei rein elektrischem
- 6 Drucksensoren (siehe . Abb. 30.13),
integrierter elektronischer Regler (Electronic
Control Unit, ECU).
Fahren mit abgeschaltetem Verbrennungsmotor Bei Betätigung des Bremspedals wird der aufge-
15 kein Vakuum erzeugt wird, wird der erforderliche baute Hauptzylinderdruck sofort durch Schließen
Unterdruck über eine elektrisch betriebene Vaku- der Trennventile hydraulisch von den Bremssätteln
umpumpe erzeugt. getrennt und der Fahrer tritt in den in die Bremsbe-
16 Bei (Teil-)Ausfall des Systems kann die Rei- tätigung integrierten Simulator. Der gemessene Pe-
bungsbremse konventionell mechanisch/hydrau- dalweg und der im Simulator aufgebaute Druck stel-
17 lisch betätigt werden. len das Maß für die gewünschte Verzögerung dar.
Bei der konventionellen Hilfskraftbremse wird
die Fußkraft durch den Vakuumbremskraftver-
18 30.2.2 Elektrohydraulische Bremse stärker in der Betätigungseinheit verstärkt und in
EHB hydraulischen Druck umgewandelt. Bei der EHB
19 wird der Bremswunsch in der Betätigungseinheit
. Abb. 30.12 zeigt die Wirkkette eines EHB-Pkw- über Sensoren gemessen und das Signal „by wire“
20 Bremssystems. Innerhalb dieser lässt sich die EHB an die ECU (Electronic Control Unit) weitergelei-
tet [3]. Über Ventilbetätigungen erfolgt dann in der
30.2 • Erweiterte Architekturen
567 30
HCU (Hydraulic Control Unit) eine Umsetzung in Systemzustände nicht mehr spüren, so dass diese
hydraulischen Druck, der wie im konventionellen Diagnose auch von der EHB übernommen werden
Bremssystem über Bremsleitungen und -schläuche muss. . Abb. 30.13 zeigt rechts die Bremsbetätigung
an die Radbremsen übertragen wird. der EHB mit Tandem-Hauptbremszylinder, integ-
Die EHB bietet für Fahrer und Fahrzeugherstel- riertem Pedalcharakteristiksimulator, Bremsflüssig-
ler eine Reihe von Vorteilen. Durch die Entkoppe- keitsbehälter und Pedalwegsensor.
lung des Bremspedals von den Radbremsen spürt der Um dem Fahrer in der hydraulischen Rückfall
Fahrer immer eine optimale, nach ergonomischen ebene kein allzu ungewohntes, „langes“ Pedal zu
Gesichtspunkten vom Fahrzeughersteller definier- bieten, enthält die Betätigung eine Absperrung des
bare Pedalcharakteristik mit kürzerem Pedalweg und Simulators, die in diesem Betriebszustand wirksam
geringerer Betätigungskraft. Dadurch lässt sich der wird und verhindert, dass zusätzliches Bremsflüs-
Fahrerbremswunsch besser und schneller umsetzen sigkeitsvolumen in den Simulator geschoben wird
und eine bessere Dosierbarkeit der Bremse erzielen. (siehe auch . Abb. 30.15).
Regelfunktionen, wie z. B. ABS, erfolgen rückwir- Für den Fahrzeughersteller hat die Eliminierung
kungsfrei, also ohne die bisherigen Pedalvibrationen. des Vakuumbremskraftverstärkers den Vorteil einer
Durch Wegfall des Vakuum-Bremskraftverstärkers kürzeren Betätigungseinheit, womit die Fahrzeugin-
und Einsatz eines Hochdruckspeichers ergeben sich tegration verbessert wird und eine leichtere Adap-
während einer Bremsen-Betätigung eine kürzere tion an Links-/Rechtslenker-Fahrzeuge möglich ist.
Schwellzeit und höhere Systemdynamik, womit sich Zudem bietet die kürzere Betätigungseinheit auch
in Verbindung mit der feinfühligeren Raddruckre- Vorteile bei der Gestaltung des Motorraums im Be-
gelung eine optimierte Regelfunktionalität bei EBV, reich des Fahrerfußraumes dahingehend, dass die
ABS, ASR, ESC und BA einstellen lässt. Verletzungsgefahr durch Eindringen der Pedalein-
Die umfangreiche Sensorik ermöglicht auch eine heit in den Fahrgastraum bei Frontunfällen gemin-
sehr genaue Systemdiagnose und eine wesentlich dert werden kann.
umfangreichere Fehlerreaktion als bei einer konven- Der Wegsensor dient darüber hinaus der Volu-
tionellen Bremsanlage. Durch die Entkopplung des menüberwachung der Bremsanlage. Während bei
Fahrers von den Radbremsen kann dieser fehlerhafte einer konventionellen Anlage der Fahrer eine er-
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9 .. Abb. 30.13 EHB-Komponenten von Continental (links: elektrohydraulische Regeleinheit, rechts: Bremsbetätigung mit Pedal-
charakteristiksimulator)
30
höhte Volumenaufnahme (z. B. durch Eintritt von Jeder der dargestellten Funktionsblöcke gibt
Luft) durch einen längeren Pedalweg spüren kann, einen Solldruck vor, der im Arbitrierungsmodul
11 geschieht dies bei der EHB durch Vergleich des aus (COA) durch intelligente Gewichtung und Priori-
dem Speicher entnommenen Volumens mit dem sierung zu einer Sollvorgabe für die Raddruckre-
12 in den Radbremsen aufgebauten Bremsdruck an- gelkreise verrechnet wird. Durch die Nutzung der
hand der Volumenaufnahmekennlinie des Systems modularen Struktur konnten die höheren Regel-
[4]. Dieses dient vor allem einer Überwachung der funktionen mit geringem Aufwand aus bisherigen
13 vollen Funktionsfähigkeit der hydraulischen Rück- ABS- und ESC-Projekten übernommen werden.
fallebene, da in dem By-Wire-Modus eine erhöhte Die Fahrerwunscherfassung dient dabei der
14 Volumenaufnahme des Systems nahezu unmerklich Berechnung der einzelnen Radbremsdrücke aus
durch das im Speicher vorrätige Bremsflüssigkeits- den Sensorwerten der redundanten Pedalweg
15 volumen ausgeglichen werden kann. sensorik und des THz-Drucks. Nach Plausibilisie-
rung dieser Signale wird unter Zuhilfenahme von
Regelungs- und Überwachungsmethoden Da die deren zeitlicher Ableitung, mit der eine kontinu-
16 EHB im Wesentlichen als universeller Aktor für ierliche Bremsassistentenfunktion realisiert wird,
Bremseneingriffe mit umfangreicher Sensorik ange- die gewünschte Fahrzeugverzögerung ermittelt,
17 sehen werden kann, kommt der Software und damit die dann fahrsituationsabhängig auf die einzelnen
den Regelungs- und Überwachungsmethoden eine Räder verteilt und in radindividuelle Bremsdrücke
zentrale Bedeutung zu. Eine erweiterte Funktiona- umgewandelt wird. Der jeweilige Sollbremsdruck
18 lität kann allein durch die Entwicklung von neuen wird über eine nachgeschaltete Raddruckregelung
Softwaremodulen erzielt werden. eingestellt.
19 Die modulare Softwarestruktur (. Abb. 30.14)
stellt eine sinngemäße Weiterführung der bereits Funktionsweise der Elektrohydraulischen Bremse
20 bisher bei Continental verfolgten Philosophie [5, EHB Die elektrohydraulische Bremse ist ein Fremd-
6] dar. kraftbremssystem. Die wesentlichen Merkmale sind:
30.2 • Erweiterte Architekturen
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.. Abb. 30.14 Modulare
EHB-Softwarestruktur [7]
geringe Baugröße, zeitoptimiertes Ansprechverhal- Versorgt aus einem Druckspeicher wird mithilfe
ten des Bremssystems und modellierbare Bremspe- der hydraulischen Regeleinheit die Bremsenergie
dal-Charakteristik. Die EHB ist sowohl bei Nor- entsprechend der Fahrervorgabe erzeugt; die Vor-
malbremsung als auch in der Radschlupfregelung ladung des Druckspeichers erfolgt durch eine inte-
ein von der Betätigung (Bremspedal) entkoppeltes grierte Motor-Pumpen-Einheit.
und dadurch rückwirkungsfreies Bremssystem. Beim Bremsen wird die hydraulische Verbin-
Beispielhaft ist die Anordnung der Baugruppen in dung zwischen THz und hydraulischer Regeleinheit
. Abb. 30.15 dargestellt. unterbrochen, der Bremsdruck im Rad wird aus der
570 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
4
- durch hohe Eingriffsgeschwindigkeit,
optimiertes Pedalgefühl durch einfache Anpas-
zwischen den Radbremsen jeweils einer Achse) of-
fengehalten. Dies ermöglicht auch die Verwirkli-
5 - sung an Kundenvorgaben,
geräuscharmer Betrieb ohne störende Pedal-
chung von Diagnosefunktionen (z. B. Abgleich der
Drucksensorwerte). Ebenso kann durch Nutzung des
-
6 Pedalintrusion, nur über die Ansteuerung jeweils eines Ventilpaares
verbesserter Einbau und vereinfachte Montage einer Achse erfolgen, womit die Lebensdauer der
7 durch Entfall des Vakuumbremskraftverstär- Ventile erhöht werden kann als auch die Treiber und
8 -- kers im Spritzwandbereich,
Verwendung einheitlicher Baugruppen,
einfache Realisierung von Fremdbremseingrif-
fen für verschiedene Zusatzfunktionen (z. B.
damit die ECU thermisch weniger belastet werden.
Der Einsatz der zahlreichen Sensoren ermög-
licht die Verwirklichung einer sehr detaillierten
Selbstdiagnose des EHB-Systems und die Reali-
9 ACC, Bremsscheiben-Trockenbremsen bei sierung verschiedener Rückfallebenen bei einer
11
12
- nungsmotoren,
leichte Vernetzbarkeit mit zukünftigen Ver-
kehrsleitsystemen.
Energieversorgung vorliegt: Hierbei befinden sich
alle Ventile in der in . Abb. 30.15 gezeigten Stel-
lung. Der Druckaufbau in den Radbremsen erfolgt
dann, ähnlich einem konventionellen Bremssystem
Der Aufbau der Regeleinheit ermöglicht die Integra- bei Vakuumausfall, durch die Fußkraft des Fahrers
tion aller heutigen Bremseingriffs- und Radschlupf- über die geöffneten Trenn- und Balanceventile. Um
13 regelfunktionen (z. B. EBV, ABS, ASR, ESC, BA, dabei dem Fahrer keinen unnötig langen Pedalweg
ACC, …) ohne weiteren Hardware-Aufwand [8]. zuzumuten, wird zeitgleich der Simulator hydrau-
14 Der Bremswunsch wird dabei aus Sicherheits- lisch abgesperrt und damit zusätzliche Volumenauf-
gründen dreifach redundant ermittelt (redundan- nahme verhindert.
15 ter Wegsensor und Drucksensor), um eine Plausi- Bei Störungen stehen zwei Rückfallebenen zur
bilisierung der Signalwerte vornehmen zu können Verfügung:
und bei Ausfall einer der Sensoren immer noch eine Erste Ebene: Bei einem Ausfall des Hochdruck-
16 redundante Messung des Fahrerwunschs vorliegen speichers bleibt die „Brake-by-Wire“-Funktion
zu haben. weiterhin erhalten, die Bremsen werden jedoch
17 Die Signale werden in der ECU mit weiteren, ausschließlich von der Pumpe versorgt.
den Fahrzustand und Fremdbremseingriffe be- Zweite Ebene: Bei einer Störung der „Bra-
schreibenden Signalen verarbeitet und in hinsicht- ke-by-Wire“-Funktion (z. B. wegen eines Ausfalls
18 lich Bremsverhalten und Fahrstabilität optimale, der elektrischen Energieversorgung) bleiben die
radindividuelle Bremsdrücke gewandelt. Der je- hydraulischen Verbindungen des Hauptzylinders
19 weilige Radbremsdruck wird in der HCU über zu den beiden Radbremskreisen erhalten und es
einen radindividuellen Druckregelkreis mit einem werden ohne Verstärkung proportional zur aufge-
20 analogisierten Ein- und Auslassventil eingestellt. Als brachten Fußkraft alle vier Radbremsen betätigt.
Hochdruckversorgung dient dabei ein Motor-Pum- Die Simulatorfunktion ist dabei abgeschaltet [7].
30.2 • Erweiterte Architekturen
571 30
Die gesetzlich geforderte hydraulische Zwei den sich hauptsächlich durch die unterschiedlichen
kreisigkeit des Bremssystems bleibt trotz Teilausfall baulichen Zusammenfassungen von Komponenten
erhalten. und funktionell durch unterschiedliche Rückfall
ebenenkonzepte.
Marktübersicht und Bauartunterschiede der EHB-Sys-
teme Das von dem japanischen Automobilzulie- Funktionspotenzial Die bisherigen Funktionen der
ferer ADVICS Anfang 2001 entwickelte System elektrischen Bremssysteme stellen hauptsächlich
war das erste EHB-System im Volumenmarkt und Fahrdynamikfunktionen dar, die den Fahrer in fahr-
wurde im Toyota Estima (ausschließlich auf dem ja- dynamisch kritischen Zuständen unterstützen (z. B.
panischen Markt) verbaut. Ende 2001 folgte das von ABS, ASR, ESC, BA), greifen somit zumeist relativ
der Robert Bosch GmbH entwickelte EHB-System selten und in Situationen ein, in denen sich der Fah-
unter der Bezeichnung Sensotronic Brake Control rer vollständig auf das Fahrgeschehen konzentrie-
(SBC) im Mercedes SL Roadster und Anfang 2002 ren muss. Heute hingegen werden in elektronische
im großen Volumenmodell der Mercedes E-Klasse. Bremssysteme zunehmend Assistenz- bzw. Komfort-
Ende 2003 präsentierte ADVICS im Toyota funktionen integriert, die für den Fahrer tagtäglich
Prius II Hybrid eine überarbeitete Version (ECB II). erlebbar sind und ihn in Situationen unterstützen,
Die vorher zu einer großen Baugruppe zusammen- in denen die Fahrzeuginsassen die Wirkungsweise
gefasste Betätigung mit integriertem Pedalcha- gut wahrnehmen können. So benötigt z. B. der Stau-
rakteristiksimulator und Motor-/Pumpen-/Spei- assistent als Weiterentwicklung der ACC-Funktion,
cheraggregat wurde in der zweiten Generation in damit das Fahrzeug in einem Stau automatisch ab-
Einzelbaugruppen unterteilt. Ende 2005 folgte die standsabhängig beschleunigt und abbremst, eine
Markteinführung des Continental EHB-Systems im feine Dosierbarkeit des Bremsdrucks im akustisch
Ford Escape Hybrid auf dem US-Markt. sehr sensiblen Niedriggeschwindigkeitsbereich.
Anfang 2009 präsentierte ADVICS in der dritten Die Entwicklung von sparsameren, saugver-
Generation des Toyota Prius sein weiter optimiertes lustoptimierten Verbrennungsmotoren hat dazu
System ECB III. Die Anzahl der Hauptbaugruppen geführt, dass in vielen Fahrzeugen nicht mehr genü-
wurde hierbei von drei auf zwei reduziert, der Si- gend Motorvakuum für den Bremskraftverstärker
mulator wurde in die Betätigungseinheit integriert. vorhanden ist, wodurch mechanische oder elektri-
Alle im Markt befindlichen EHB-Systeme (siehe sche Vakuumpumpen eingesetzt werden müssen.
. Abb. 30.16) arbeiten nach dem bereits beschrie- Bei Einsatz der EHB kann durch den fehlenden
benen By-Wire-Funktionsprinzip: Sie unterschei- Vakuumbedarf dieses zusätzliche Bauteil entfallen.
572 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme
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.. Abb. 30.18 Integrated Brake Control IBC (Quelle: Fa. TRW,
.. Abb. 30.19 Simulierte autonome Vollbremsungen aus 30 und 100 km/h bei identischer Schwellzeit
Radbremsenhydraulik entkoppelt ist, können ins- Assistenzsystems wird in den Spezifikationen und
besondere bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen die Testverfahren (siehe z. B. EuroNCAP-Verfahren
Bremsmomente von Rad-/Reibungsbremse und ▶ Kap. 3) u. a. am Anhalteweg bewertet, nachdem
Generator dynamisch kombiniert werden, ohne das Fahrzeug mit einem definierten Hindernis im
dass der Fahrer diese Regelungsvorgänge am Pedal Fahrkorridor konfrontiert wurde. Der Bremsdruck-
wahrnimmt. aufbau soll bei gängigen Testverfahren zumeist au-
tomatisch über die Hydraulikpumpe der HECU
(Hydraulic Electronic Control Unit) und ohne das
30.3 Dynamik hydraulischer Zutun des Fahrers erfolgen.
Bremssysteme Gerade bei solchen automatischen Bremsun-
gen aus niedrigen Geschwindigkeiten nimmt die
Unter Dynamik einer Bremsanlage versteht man Zeit (und somit der anteilige Anhalteweg) zwi-
das zeitliche Antwortverhalten im Hinblick auf schen Objekterkennung und Erreichen der Maxi-
Fahrzeugverzögerung bei Einsteuerung einer malverzögerung einen relativ hohen Anteil ein, im
Bremsung. Diese wird im Wesentlichen durch die Vergleich zum nachfolgenden, eingeschwungenen
Komponenten der installierten Bremsanlage, die Vollbremszustand. Exemplarisch zeigt . Abb. 30.19
dynamischen Achslasten, das Fahrwerk mit Fede- das Verhalten mit einer „Standardbremsanlage“ für
rung und Dämpfung und die Bereifung bestimmt. Mittelklasse-Pkws. Bei Vollbremsungen aus höhe-
Außerdem können Randbedingungen wie z. B. die ren Geschwindigkeiten hingegen überwiegt der
Umgebungs- oder Komponententemperatur eine Zeitanteil des Vollbremszustands. Zudem sind die
große Rolle spielen. Zeitanteile zu Beginn der Bremsung besonders
Für einige Fahrerassistenzsysteme, wie z. B. die wertvoll im Sinne einer Anhaltewegreduktion, weil
automatische Notbremse (Emergency Brake Assist) dort das Fahrzeug noch schnell ist. Es ist daher ein
ist diese Dynamik der Bremsanlage von großer Ziel der Gesamtsystemauslegung, diese sogenannte
Bedeutung. Die Leistungsfähigkeit eines solchen Schwellzeit zu minimieren – auch vor dem Hinter-
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.. Abb. 30.20 Limitierende Einflussfaktoren auf eine autonom getriggerte Notbremsung
30
grund, dass ein Entwicklungsschwerpunkt derzeit unterschiedlicher Betriebsrandbedingungen erge-
auf der Kollisionsvermeidung im innerstädtischen ben.
11 Verkehr und somit bei eher niedrigen Fahrge- Nachfolgend soll nun der Betrachtungsfokus
schwindigkeiten liegt. auf der hydraulischen Bremsanlage liegen: Inner-
12 Zusammenfassend sollte bei der Entwicklung halb dieses Subsystems beginnt eine vom System
solcher Assistenzsysteme stets das Gesamtsystem veranlasste Bremsung üblicherweise mit einer
betrachtet werden, d. h. beginnend mit der sensor- Anfrage an die ESC-HECU, z. B. eine bestimmte
13 basierten Umfelderfassung, über Signalauswertung Fahrzeugverzögerung einzuregeln (sogenannter
(Objektanalyse und Treffen von Handlungsentschei- „deceleration request“). Eine solche Anforderung
14 dungen), über Ansteuerung und Druckaufbau der erhält die HECU entweder direkt vom Steuergerät
HECU bis hin zum Ansprech- und Übertragungs- des Umfeldsensors oder indirekt über einen überge-
15 verhalten von Radbremse, Reifen und Fahrwerk. ordneten Gesamtfahrzeugregler, wobei die Kommu-
Gerade bei der Prädiktion der Systemleistung via nikation jeweils über Fahrzeugnetzwerke wie z. B.
Simulation sollten all diese Elemente berücksichtigt CAN oder FlexRay erfolgt. Im nächsten Schritt wird
16 werden. Jedes dieser Subsysteme verursacht unwei- auf dem Steuergerät der HECU überprüft, inwie-
gerlich einen gewissen Zeitverzug in der Gesamt- weit sich die Verzögerungsanfrage unter fahrdyna-
17 wirkkette, sei es z. B. durch Softwarelaufzeiten, Si- mischen bzw. Stabilitätsgesichtspunkten umsetzen
gnal-/Kommandoübermittlung, mechanische oder lässt. In dieses sogenannte Arbitrierungsverfahren
hydraulische Masseträgheiten, Elastizitäten oder gehen zusätzliche Informationen wie momentane
18 Dämpfungseffekte. Insgesamt können diese (auf den Radschlupfzustände, Querbeschleunigung, Gierrate
ersten Blick gering erscheinenden) Einzelbeiträge etc. ein, welche der HECU für andere Regelfunk-
19 jedoch meist nicht vernachlässigt werden. Erschwe- tionen ohnehin permanent zur Verfügung stehen.
rend kommen in der Gesamtsystembetrachtung Der beschriebene Vorgang kann einige 10 ms in
20 noch die unvermeidlichen Parameterstreuungen Anspruch nehmen. Fällt die Arbitrierung positiv
hinzu, die sich produktionsbedingt oder aufgrund aus, wird über die in das HECU-Steuergerät inte-
30.3 • Dynamik hydraulischer Bremssysteme
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.. Abb. 30.21 Vergleich
der Druckaufbaudynamik
verschiedener HECUs
unter jeweils Fahrzeugklas-
sen-typischen Randbedin-
gungen
grierte Leistungselektronik die hydraulische Pumpe leistungsstarke HECU-Modelle umsetzen und ist
aktiviert und Bremsdruck für die Radbremsen auf- zudem durch die jeweils zulässige Bordnetzbelas-
gebaut. Dabei kann das Radblockierdruckniveau je tung begrenzt.
nach Systemdimensionierung und Umgebungsbe- Die Referenz für die Druckaufbaudynamik ist
dingungen bereits nach ca. 150 ms oder im ungüns- derzeit (noch) der Mensch: Geübte Fahrer kön-
tigen Fall erst nach fast 1 s erreicht werden. Wichtige nen mittels Bremspedalbetätigung innerhalb von
Einflussfaktoren auf dieses Dynamikverhalten sind 150…200 ms Pkw-übliche Radblockierdrücke errei-
in . Abb. 30.20 dargestellt. chen (ca. 80…100 bar unter Nominalbedingungen).
Der Hauptgrund für die breite Streuung beim Objekterkennung und Reaktionszeit des Menschen
Druckaufbauverhalten liegt in den unterschiedli- sind hierbei nicht enthalten. Eine vergleichbare Dy-
chen HECU-Leistungsklassen, die sich heute am namik erreichen derzeit nur die schnellsten HECUs
Markt finden lassen. Für unterschiedlichste Fahr- mit vollintegrierter Betätigungseinheit (siehe ▶ Ab-
zeugsegmente und -preisklassen sind z. T. maßge- schn. 30.2.3, MK C1). Standard-HECUs sind zwar
schneiderte Lösungen verfügbar. Historisch be- im Druckaufbau langsamer, wie aus . Abb. 30.21
trachtet mussten HECUs früher entweder meist nur ersichtlich wird. Ein akzeptables Leistungsniveau
einzelne Räder mit einem hydraulischen Volumen- kann jedoch durch sorgfältige Gesamtsystemop-
strom versorgen (z. B. bei ESC-Regelungseingriffen) timierung mit zielführender Ansteuerstrategie
oder sie wurden durch die Bremspedalbetätigung erreicht werden (z. B. steife Bremssättel, niedrige
des Fahrers mit Druck aus dem Tandemhauptzy- Blockierdrücke, Vorbefüllung der Bremsanlage
linder vorgeladen (z. B. beim hydraulischen Brem- bereits während der Objektplausibilisierung etc.).
sassistenten). In beiden Fällen reichten früher ge- Umgekehrt ist ein womöglich überdimensioniertes
ringere HECU-Pumpleistungen aus, um übliche Hydraulikaggregat nicht zielführend, wenn dessen
Marktanforderungen zu erfüllen. Dagegen stellt hohe Druckaufbaudynamik in den Elastizitäten von
automatisches Notbremsen über alle Räder eine Reifen und Fahrwerk verpufft.
sehr hohe Anforderung an das Leistungsvermögen Abschließend ist in . Abb. 30.22 eine Beispiel-
der HECU dar. Dieses lässt sich meist nur durch messung (Mittelklasse-Limousine mit Sportfahr-
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.. Abb. 30.22 Beispielmessung eines schrittweisen, automatischen Bremsdruck- und Verzögerungsaufbaus
12
werk) für eine kaskadierte Ansteuerstrategie der Literatur
13 Bremsanlage dargestellt: Nach einer anfänglichen
Prefill-Phase wird der Bremsdruck erhöht, entspre- 1 Breuer, B., Bill, K.H.: Bremsenhandbuch. Vieweg Verlag,
14 chend einer Fahrzeugverzögerung von zunächst
Wiesbaden (2013)
2 Bosch Mediaservice Kraftfahrzeugtechnik, Presseinforma-
ca. 4 m/s². In der linken Bildhälfte ist deutlich der tion, 17.06.2013
15 Zeitverzug zwischen Radbremsdruck und Verzöge- 3 Jonner, W.-D., Winner, H., Dreilich, L., Schunck, E.: Electrohy-
rung erkennbar, der hauptsächlich auf die Reakti- draulic Brake System – The First Approach to Brake‐by‐Wire
onszeiten von Reifen und Fahrwerk zurückzuführen Technology SAE, Bd. 1996‐09‐91. Society of Automotive
16 ist. Im weiteren Verlauf wird der Radbremsdruck
Engineers SAE, Detroit (1996)
4 von Albrichsfeld, C., Bayer, R., Fritz, S., Jungbecker, J., Klein,
abermals erhöht, entsprechend einer Verzögerung A., Mutschler, R., Neumann, U., Rüffer, M., Schmittner, B.:
17 von ca. 8 m/s². Der Zeitverzug zwischen Druck und Elektronisch regelbares Bremsbetätigungssystem, Patent-
Verzögerung in der rechten Bildhälfte fällt dann ge- schrift DE 198 05 244.8. Deutsches Patent‐ und Markenamt,
ringer aus, da das komplette Fahrwerk bereits vorge- München (1998)
18 spannt und eingefedert ist; zusätzlicher Bremsdruck
5 Fennel, H., Gutwein, R., Kohl, A., Latarnik, M., Roll, G.: Das
modulare Regler‐ und Regelkonzept beim ESP von ITT
wird dann fast unmittelbar in höhere Verzögerung
19
Automotive 7. Aachener Kolloquium Fahrzeug‐ und Mo-
umgesetzt. torentechnik. (1998)
6 Rieth, P.: Technologie im Wandel X‐by‐Wire IIR Konferenz
Elektromechanische
Bremssysteme
Bernward Bayer, Axel Büse, Paul Linhoff, Bernd Piller, Peter Rieth,
Stefan Schmitt, Bernhard Schmittner, Jürgen Völkel
Bremskraftverstärker
Pedalwertgeber
Lenkwinkelsensor Sensor-Cluster
Gierrate, Quer- &
Vakuum- Booster EPB-Taster Längsbeschleu-
THZ nigung
Raddrehzahl-
Sensor (4x) EMB-Aktuator (2x)
EPB integriert
Kommunikation (CAN)
Stromversorgung 12V
Hydr. Vorderachs-
Bremssattel (2x) Sensorsignalleitung
Akt. Design ESP-Aggregat
HCU, ECU Hydraulikleitung
und es können Beladungs- und Fahrzustände be- die Vorderachse zu einer Verbesserung des Pedal-
rücksichtigt werden. Fahrzeuge, die aus Komfort- komforts. Die Integration der Parkbremse erlaubt
gründen eine weiche Aufhängung zwischen Aufbau neue Regelkonzepte unter vollständiger Einbezie-
und Achse haben, neigen bei Bremsungen bis zum hung von Betriebs- und Parkbremsfunktionen mit
Stillstand zu unkomfortablen Aufbaulängsschwin- hochdynamischen, komfortablen Übergängen. Das
gungen. Diese lassen sich durch temporäre Re- resultierende Stillstandsmanagement (siehe ▶ Ab-
duzierung der Bremskraft an einer Achse nahezu schn. 31.2.6) erlaubt dem Fahrzeughersteller ein
vollständig vermeiden („Soft-Stop, Ruckverhinde- nahezu frei wählbares bzw. automatisiertes Bedien-
rer“). Dies lässt sich mit EHCB so darstellen, dass konzept. Der zunehmenden Forderung nach exter-
der Fahrer im Pedal nichts von dem Eingriff spürt. nen Ansteuerungen durch Fahrerassistenzsysteme
Radschlupfregelfunktionen werden teilweise durch kann das System vor allem im Bereich der Komfort-
die Möglichkeit optimiert, die Bremskraft an der bremsungen (bis ca. 0,3 g) entsprechen. Hier lässt
Hinterachse über die Fahrervorgabe anzuheben. sich allein durch die Ansteuerung der Hinterachse
Daneben führt die Reduktion der Hydraulik auf bereits eine optimal regelbare Bremsung darstellen.
582 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme
26
31.2.1 Motivation
27 .. Abb. 31.3 EHCB-System, Aktuatorik
Wesentlich ist eine einfache, komfortable, geräusch-
Der Fahrer bemerkt dabei am Bremspedal keine arme und betriebssichere Parkbremsfunktionalität.
28 Implikationen. Die Verknüpfung mit weiteren Fahrzeugsystemen
Gerade bei Antriebsschlupfregelung an der und Sensorinformationen bietet dem Fahrer im
29 Hinterachse ist eine enorme Komfortsteigerung zu Sinne von Fahrerassistenz Komfort durch Unter-
erzielen, da die Regeleingriffe feinfühliger erfolgen stützung bei komplexen Fahrsituationen (z. B. An-
30 können und akustisch nicht mehr wahrnehmbar
sind.
fahren am Hang) und Automatikfunktionen (z. B.
automatisches Spannen beim Verlassen des Fahr-
Für Fahrzeuge mit (teil-)elektrischem Antrieb zeuges). Durch den Entfall des Handhebels oder
31 (Hybrid-, Elektrofahrzeuge), der auf die Hinter- Pedals – und Ersatz durch Taster – der fahrerbetä-
achse wirkt, eröffnet das EHCB-System optimale tigten mechanischen Systeme ergeben sich Gestal-
32 Möglichkeiten, rekuperativ durch entsprechendes tungsfreiräume im Fahrzeuginnenraum und eine
Blending – Wegnahme von Reibungsbremskraft zu- Verbesserung der passiven Sicherheit. Die Option
gunsten von generatorischer Bremsung – Energie in einer externen Ansteuerung ermöglicht ein siche-
33 die Traktionsbatterien zurückzuspeisen. res Feststellen des Fahrzeuges im Stillstand ohne
Eingriff durch den Fahrer – eine Grundlage für die
34 Sicherheitskonzepte vieler Assistenzsysteme.
31.1.4 Hinterachs-Aktor Unterstützt wird die Nutzung dieser Potentiale
35 Für den Hinterachseinsatz in einem EHCB-System
durch die zunehmende Reduzierung der System-
kosten aufgrund der Entwicklungsfortschritte bei
wird auf einen vollständig elektromechanischen der Integration des Steuergerätes und der Aktorik.
36 „trockenen“ Hinterachssattel ohne Bremsflüssig-
keit in Schwimmsattelbauart (Faustsattel) mit Elek-
31.2.2 System und Komponenten
37 tromotor, Reduktionsgetriebe und Spindel/Mutter-
Trieb zurückgegriffen [4] (siehe . Abb. 31.3 und
. Abb. 31.4). Hier steht neben der Integration der Elektromechanische Parkbremssysteme bestehen
38 Parkbremse eine kostenoptimierte Konstruktion aus Bedien- und Anzeigeeinrichtungen, Steuerge-
mit ausreichender Dynamik im Vordergrund. Die rät mit zugehöriger Software sowie der Aktorik.
39 elektrische Versorgung ist derzeit auf 12/14 Volt Bei den Bedien- und Anzeigeelementen haben sich
ausgelegt. zusätzlich zur gesetzlich vorgeschriebenen Mindest-
40 ausstattung fahrzeugherstellerspezifische Elemente
etabliert, die Komfortfunktionen zuschalten oder
31.2 • Die Elektrische Parkbremse (EPB)
583 31
.. Abb. 31.4 EHCB-System,
integrierte
elektromechanischer Hinter- Regelelektronik
achsbremssattel
integrierte
elektrische
Parkbremse
Funktions- Fehler-
EPB Taster lampe lampe
Kombisattel-
Aktuator
optional:
Kupplungssignal
EPB ECU
CAN /
FlexRay
ESC ECU 12V
Kombisattel-
Aktuator
den Fahrer durch Ton- bzw. Textmeldungen über Ein erster Integrationsansatz war der Verbau der
die Systemfunktionen und -zustände informieren. Platine in das Gehäuse eines Zentralaktors (Kabel-
zieher, siehe . Abb. 31.6).
Die funktionale Verbindung mit dem ESC
31.2.3 Systemarchitektur (Electronic Stabilty Control, Fahrdynamikrege-
lung) und die gemeinsame Nutzung von Fahrzeug-
Das Steuergerät mit zugehöriger Software wurde zu- schnittstellen legt eine Integration des EPB Steu-
nächst als eigenständiges Stand-Alone Steuergerät ergerätes in das ESC Steuergerät der HECU nahe.
dargestellt (siehe . Abb. 31.5). Diese Ausführung ist 2012 erstmals in Serie gegan-
584 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme
Funktions- Fehler-
EPB Taster
21 lampe lampe
22
23 Kombisattel
24 optional: Bremsseil
Kupplungssignal
25
Zentral-
EPB ECU
Aktuator
26
CAN /
Bremsseil
FlexRay
27 ESC ECU 12V
Kombisattel
28
29
.. Abb. 31.6 Systemlayout mit Zentralaktuator
32
33
12V ESC
BUS
34 CAN / FlexRay
35
36 Aktuator
37
gen und hat seither deutlich an Bedeutung gewon- mit ausreichend hohem Wandlungsgrad von Strom
38 nen (siehe . Abb. 31.7). Eine Herausforderung an zu Spannkraft.
das System stellt dabei die Länge der elektrischen Im ersten Schritt wurden die Elektronik-Hard-
39 Anschlussleitung zwischen Steuergerät und Akto- ware und die Software der ESC/EPB-Lieferanten in
ren dar. Speziell bei hohen Leitungstemperaturen Produktkombinationen des selben Herstellers inte-
40 und/oder hohen Übergangswiderständen ist der
übertragbare Strom limitiert und erfordert Aktoren
griert. Für die zweite Generation der Integration kam
die Forderung nach einer standardisierten Schnitt-
31.2 • Die Elektrische Parkbremse (EPB)
585 31
.. Abb. 31.8 System-
layout mit offener
Schnittstelle
Bremsseil
ECU
Elektromotor
Kraft-/Wegsensorik
Untersetzungs-
getriebe
Keilwelle
.. Abb. 31.10 Festsat-
21 tel (Betriebsbremse) plus
Schwimmsattel (Feststellbrem-
se) (Quelle: Brembo)
22
23
24
25
26
27
28
29 31.2.4.2 Radbremsaktor lation. Dieser Antrieb kann als Reibspindel oder
Eine Kombination von Radbremse und EPB Aktor Kugelgewindetrieb ausgeführt sein.
30 kann entweder als integrierte Ausführung – d. h.
der Aktor wird in die Radbremse verbaut – oder als
separate Einheit dargestellt werden. 31.2.5 Schnittstellen des Steuergeräts
31 Die separate Anordnung wird hauptsächlich bei
der Verwendung von Festsätteln an der Hinterachse Das elektronische Steuergerät benötigt mindestens
32 eingesetzt. Dabei wird entweder eine Ausführung folgende Informationen: die Raddrehzahlen, die
mit zusätzlichem kleinen, elektrisch betätigtem Fahrzeuggeschwindigkeit und Statusinformationen
33
34
Schwimmsattel verwendet (siehe . Abb. 31.10). Eine
Alternative besteht darin, in die Nabe der Brems-
scheibe eine DuoServo Trommelbremse als „Topf “
einzufügen und diese im Sinne einer Feststellbremse
-
wie z. B. Zündung. Es ist verbunden mittels:
Einer Schnittstelle zum Bedienelement. Hier
kommen sowohl analoge wie auch digitale
Varianten des Bedienelements mit einfacher
35
elektrisch zu aktivieren (siehe . Abb. 31.11).
Eine Integration des Aktors in die hydrauli-
sche Betriebsbremse wird sowohl bei Sätteln der
Schwimm- oder Faustsattelscheibenbremse wie
- oder mehrfacher Redundanz zum Einsatz.
Schnittstelle(n) zu Anzeigeeinrichtung(en).
Neben den gesetzlich vorgeschriebenen Warn-
lampen sind optional Tonsignale und Textbot
36 auch bei Trommelbremsen (ähnlich . Abb. 31.11) schaften in fahrzeugspezifischer Ausprägung
37
eingesetzt. Die größte Verbreitung hat der sattel-
integrierte Aktor gefunden (Kombisattel, siehe
. Abb. 31.12). Dabei wird üblicherweise ein An-
triebsmodul mit einem Kunststoffgehäuse, in dem
- üblich.
Schnittstelle(n) zum Fahrzeug-Bus-System.
Diese Anbindung erfolgt über einen oder zwei
High-Speed-CAN und/oder über FlexRay. Die
38 Motor und Reduktionsgetriebe verbaut sind, am Konfiguration des Kommunikationsprotokolls
39
Sattelgehäuse angebracht. Hierbei kommen im
wesentlichen Stirnradgetriebe, Planetengetriebe,
- erfolgt wieder fahrzeugspezifisch.
Schnittstelle zu Fahrzeug-Diagnose-Systemen
40
Schneckengetriebe und Riementriebe zum Einsatz.
Im Sattelgehäuse befindet sich eine Spindel/Mutter-
Anordnung zur Umsetzung von Rotation in Trans- - (optional)
Schnittstelle zur Energieversorgung des Fahr-
zeuges
31.2 • Die Elektrische Parkbremse (EPB)
587 31
Elektromotor
Untersetzungs-
getriebe
Schnecken-
getriebe
Gewinde-
spindel &
Federspeicher
DuoServo Aktuator
Bremsbacke
Schmutzblech
Elektromotor
Untersetzungs-
getriebe
- rik
Optional mit Ein/Ausgängen für Schaltele-
mente zur Funktionskonfiguration
31.2.6 Funktionen
31.3 Fazit
Literatur
[1] Strutz, T.; Münchhoff, J.; Rahn, S.; Schuster, A.: Brake by
Wire Anwendung am Beispiel des Audi R8 e-tron. Veran-
staltungsunterlagen EuroBrake 2013, Desden, 2013
[2] Stemmer, M.; Münchhoff, J.; Schuster, A.: Audi R8 e-tron:
Pilotumsetzung und Potentialstudie des innovativen elek-
tromechanischen Bremssystems EHCB. Veranstaltungsun-
591 32
Lenkstellsysteme
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring
-
31 lauf führen. Hilfskraftlenkung (HPS)
Die Anzahl der Lenkradumdrehungen von
32 Lenkanschlag zu Lenkanschlag soll möglichst Die konventionelle hydraulisch unterstützte Hilfs-
gering sein, gleichzeitig ist es jedoch erforder- kraftlenkung besteht aus dem Lenkgetriebe mit in-
lich, bei höheren Fahrzeuggeschwindigkeiten tegriertem Lenkventil und hydraulischem Zylinder,
33 durch eine nicht zu direkte Lenkübersetzung einer Lenkhilfepumpe, einem Ölbehälter und den
die Geradeauslaufstabilität des Fahrzeugs zu diese Komponenten verbindenden Schlauch- und
34
35
- unterstützen.
Die Übertragung des Lenkradwinkels bis zum
Radeinschlagswinkel muss absolut präzise und
Rohrleitungen, vgl. . Abb. 32.1.
Die direkt vom Verbrennungsmotor angetriebene
Lenkhilfepumpe ist dabei so ausgelegt, dass diese bei
36 - spielfrei erfolgen.
Die Räder müssen, sobald das Fahrzeug fährt,
bei losgelassenem Lenkrad von selbst in die
Geradeauslaufstellung zurückstellen. Dies gilt
der Leerlaufdrehzahl des Verbrennungsmotors bereits
ausreichend Öldruck und Ölmenge bereitstellt. Da
diese Auslegung bei hohen Drehzahlen, wie z. B. beim
Fahren auf der Autobahn, zu Überschuss an Förder-
37 sowohl beim Ausfahren aus Kurven als auch bei menge führen würde, ist ein Ventil zur Ölstromre-
kleinsten Lenkbewegungen auf geraden Stre- gelung integriert. Zum Schutz vor Überlastung, bei-
38
39
- cken wie zum Beispiel bei einer Autobahnfahrt.
Rückmeldungen und Stöße bezüglich des
Fahrzustands und der Fahrbahnbeschaffenheit
müssen vom Fahrer bemerkt werden können,
spielsweise beim Lenken gegen den Endanschlag, ist
ein Druckbegrenzungsventil eingebaut.
Die Verbindung von der Lenkhilfepumpe zum
Lenkgetriebe erfolgt über Rohr- bzw. Schlauchlei-
jedoch sollen diese soweit gedämpft sein, dass tungen. Die eingesetzten Dehnschläuche sind in der
40 sich keine Überforderung und Übermüdung
des Fahrers einstellt.
Lage, von der Lenkhilfepumpe und von Fahrbahn-
stößen verursachte Druckspitzen abzufangen. Wei-
32.2 • Basislösungen der Lenkunterstützung
593 32
.. Abb. 32.1 Systemkonzept einer hydraulischen Ölbehälter
Zahnstangenservolenkung
Lenkhilfepumpe
Lenkventil
Arbeitszylinder
terhin stellen sie Regelstabilität des hydraulischen Durch entsprechende Auslegung und Ausbildung
Kreises sicher. der Phasen an den Steuerkanten des Ventils kann
Wurden früher bei den hydraulischen Pkw-Lenk- die Beziehung von Betätigungsmoment am Lenk-
systemen vor allem sogenannte Kugelumlauflenkun- ventil und Kraftverlauf am Zylinder zugeordnet
gen eingesetzt, so haben die Forderungen nach Kom- werden. Durch diese Abstimmung lässt sich die
paktheit, geringem Gewicht und einfacher Bauform gewünschte, individuelle Lenkcharakteristik des
dazu geführt, dass in nahezu allen Pkw Zahnstangen- jeweiligen Fahrzeugs erreichen.
lenkgetriebe eingesetzt werden. Die Drehbewegung
des Fahrers wird dabei über ein Lenkritzel in eine
Schubbewegung der Zahnstange übersetzt. Die Ver- 32.2.2 Die parametrierbare
bindung zu den Rädern wird dann mittels Spurstan- hydraulische Hilfskraftlenkung
gen und entsprechenden Gelenken hergestellt.
Zur Steuerung und Umsetzung der hydrauli- Steigende Anforderungen an Komfort und Sicherheit
schen Hilfskraft sind im Lenkgetriebe ein Steuer- des Fahrzeugs haben dazu geführt, dass Lenkventile
ventil und ein Arbeitszylinder integriert. Das Steu- mit elektrisch modulierbarer Unterstützungscharak-
erventil steuert einen der Drehkraft des Fahrers teristik entwickelt wurden. Ein elektrohydraulischer
entsprechenden Öldruck in den Lenkzylindern. Die Wandler bestimmt dabei die hydraulische Rückwir-
Verdrehung eines Drehstabs, führt dabei zu einem kung und somit die Betätigungskraft am Lenkrad.
kraftproportionalen mechanischen Steuerweg im Die elektrische Ansteuerung des Wandlers wird von
Lenkventil. Durch den Steuerweg verschieben sich einem zugeordneten elektrischen Steuergerät über-
die als Phasen und Fassetten ausgebildeten Steuer- nommen. Haupteingangssignal für das Steuergerät
kanten und bilden so den Öffnungsquerschnitt für ist die Fahrzeuggeschwindigkeit. Der elektrische
den Ölstrom. Die Lenkventile sind dabei nach dem Strom im Wandler wird dabei so gesteuert, dass mit
Prinzip der „offenen Mitte“ gebaut, d. h. bei nicht zunehmender Fahrzeuggeschwindigkeit die Lenk-
betätigtem Steuerventil fließt das von der Pumpe unterstützung abnimmt. Dadurch wird ein hoher
kommende Öl drucklos zum Ölbehälter zurück. Lenkkomfort durch geringe Betätigungskräfte bei
Der doppelt wirkende Lenkzylinder auf der niedrigen Fahrzeuggeschwindigkeiten und eine
Zahnstange wandelt den eingesteuerten Öldruck hohe Lenkpräzision bei hohen Geschwindigkeiten
in eine entsprechende Hilfskraft um. Durch das erreicht (. Abb. 32.2).
Steuerventil sind die Räume des Lenkzylinders in
der Neutralstellung so geschaltet, dass eine unge-
hinderte Schubbewegung der Zahnstange erfolgen 32.2.3 Die elektrohydraulische
kann. Durch Einleiten eines Drehmoments am Hilfskraftlenkung (EHPS)
Lenkventil wird der Ölstrom der Pumpe in den ent-
sprechenden linken oder rechten Zylinderraum um- Als Alternative zur hydraulischen Hilfskraftlenkung
geleitet und so die gewünschte Hilfskraft erzeugt. mit fahrzeugmotorgetriebener Hydraulikpumpe
594 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme
Druckschlauch
21 zur Strom-
versorgung
22 Sensorkabel Rücklauf-
schlauch
+
-
Regelsystem: Powerpack
23 z.B. Signal
Lenkgeschw
incl. Steuergerät
24 Kompakt-Servolenkung
32.2.4.2 EPS Pinion Type jedoch an einer zweiten, separaten Verzahnung auf
Eine ähnliche Lösung ist die lenkritzelangetriebene der Zahnstange angeordnet. Die räumliche Tren-
Elektrolenkung. Die Servoeinheit, bestehend aus nung vom Lenkritzel erlaubt dabei eine höhere Fle-
Drehmomentsensor, Elektromotor, Getriebestufe xibilität bei der Integration im Fahrzeug. Durch die
und dem eventuell integrierten oder angebauten Unabhängigkeit von Servoritzel zu Lenkritzel lassen
elektrischen Steuergerät ist dabei am Lenkgetriebe im sich die unterschiedlichen Zielsetzungen dieser bei-
Bereich des Lenkritzels angeordnet. Die vom Elekt- den Ritzelstufen berücksichtigen und somit bezüg-
romotor über das Schneckengetriebe bereitgestellte lich Komfort, Leistung und Lebensdauer optimieren.
Unterstützungskraft wird direkt auf das Lenkritzel Der Drehmomentsensor zur Erfassung des vom Fah-
eingeleitet. Die sich ergebenden Vorteile dieser Lö- rer eingeleiteten Lenkmoments ist, wie auch bei den
sung sind eine kompakte Bauform und gegenüber folgenden Varianten, am lenkspindelseitigen Ein-
der Lenksäulenlösung steifere mechanische Anbin- gang des Lenkgetriebes angeordnet (. Abb. 32.6).
dung der Lenkunterstützung an die Zahnstange.
Dies führt, außer zu einer möglichen höheren Un- 32.2.4.4 EPS APA Type
terstützungsleistung, zu einer Verbesserung der Eine weitere Möglichkeit, die Drehbewegung des
Lenkpräzision. Nachteile ergeben sich durch die sich Servomotors in eine Schubbewegung der Zahn-
verschärfenden Anforderungen bezüglich der Um- stange umzusetzen ist der Einsatz eines Kugelgewin-
weltbedingungen, da die Servoeinheit im Motorraum detriebes auf der Zahnstange. Diese Getriebeform
installiert ist und somit höheren Umgebungstempe- vereint einen sehr guten mechanischen Wirkungs-
raturen und Spritzwasser ausgesetzt ist (. Abb. 32.5). grad, hohe Belastbarkeit und die zum präzisen Len-
ken erforderliche Spielfreiheit. Die Übertragung der
32.2.4.3 EPS Dual Pinion Type Kräfte erfolgt bei dieser Getriebeform von der Ku-
Zur weiteren Steigerung der Unterstützungsleistung gelmutter über eine umlaufende Kette aus gehärte-
und Lenkpräzision werden Lösungen eingesetzt, ten Stahlkugeln zur Zahnstange, welche mit einem
welche die Servokraft direkt auf die Zahnstange oder mehreren Kugelgewindegängen versehen ist.
übertragen. Bei der Doppelritzellösung wirkt dabei Der Antrieb der Kugelmutter erfolgt von einem
die Kraft des Servomotors wie bei der Ritzellösung parallel zur Zahnstange angeordneten Elektromo-
über ein Schneckengetriebe auf ein Ritzel. Dieses ist tor, welcher über eine Zahnriemengetriebestufe mit
596 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme
30
31
32
33
34
35
36
37
der Kugelmutter verbunden ist. Auch diese Getrie- und die zur Verfügung stehende Motorleistung in
38 bestufe arbeitet spielfrei und mit einem sehr hohen Richtung hohe und höchste Zahnstangenkräfte
mechanischen Wirkungsgrad. Über die entspre- oder hin zu hoher Lenkdynamik angepasst wer-
39 chende Auslegung und Wahl der Übersetzungsver- den. Mit dieser konstruktiven Lösung lassen sich
hältnisse kann mit einem solchen Lenkgetriebe, wie Lenkgetriebe darstellen, welche in Fahrzeugen bis
40 auch schon bei der Doppelritzellösung, die Perfor-
mance der Lenkung an das Zielfahrzeug angepasst
zur Luxusklasse und großen SUVs einsetzbar sind
(. Abb. 32.7).
32.2 • Basislösungen der Lenkunterstützung
597 32
.. Abb. 32.7 EPS APA Type
21 Ausgangswelle
22 Wickelfeder
für el. Verbindung
23
24 Eingangswelle
25 +/-2 Umdrehungen
Lenkrad
26
27
Magnetrad
28 .. Abb. 32.9 Drehmomentsensor
29
32.2.5 Elektrische Komponenten 32.2.5.2 Elektromotor
30 Die generellen Anforderungen an die elektrischen
Als Elektromotor werden bei den elektrischen
Lenksystemen sowohl bürstenbehaftete Gleich-
und elektronischen Komponenten der vorgestell- strommotoren als auch bürstenlose Gleichstrom-
31 ten EPS-Lösungen sind im Wesentlichen identisch. und Asynchronmotoren eingesetzt. Aufgrund ihrer
Sie unterscheiden sich nur durch die spezifischen Robustheit und der möglichen höheren Ausgangs-
32 Anforderungen bezüglich der Umweltbedingungen leistung kommen zunehmend die bürstenlosen
und der zu erzielenden Performance. Motorvarianten zum Einsatz. Insbesondere Len-
kleistungen für Fahrzeuge der oberen Mittel- und
33 32.2.5.1 Drehmomentsensor Luxusklasse erfordern den Einsatz von hocheffek-
Der Drehmomentsensor ist als berührungslos tiven, bürstenlosen Gleichstrommotoren. Diese
34 messender Winkelsensor ausgeführt, welcher die Motorvarianten erfordern einen Motorlage- oder
Winkelverdrehung eines Drehstabes erfasst und in Motordrehzahlsensor, welcher vom elektrischen
35 elektrische Signale umwandelt. Der Messbereich
eines Drehmomentsensors für eine elektrische
Steuergerät ausgewertet und für die Kommutie-
rung und Regelung des Motors verwendet wird
Servolenkung liegt üblicherweise im Bereich von (. Abb. 32.10).
36 ± 8 bis ± 10 Nm. Bei höheren Handmomenten
sorgt eine mechanische Winkelbegrenzung am 32.2.5.3 Steuergerät
37 Drehstab dafür, dass dieser nicht überlastet wird. Die zugehörigen elektrischen Steuergeräte beinhal-
Das elektrische Steuergerät berechnet aus den Sen- ten einen oder mehrere Mikroprozessoren, welche
sorsignalen den aktuellen Drehmomentwert. Die die Sensorsignale von den Lenkungskomponenten
38 hohen Sicherheitsanforderungen an elektrische und vom Fahrzeug auswerten, das Sollunterstüt-
Lenksysteme erfordern es, dass alle auftretenden zungsmoment berechnen und den Motor über eine
39 Fehler des Sensors erkannt werden können und zu entsprechende Motorregelung und die im Steuerge-
einem sicheren Zustand des Lenksystems führen rät integrierte Leistungsendstufe mit MOS-Feldef-
40 (. Abb. 32.9). fekttransistoren ansteuern. Im Steuergerät integriert
sind dabei Sensoren zur Erfassung des Motorstroms
32.3 • Lösungen zur Überlagerung von Momenten
599 32
32.3 Lösungen zur Überlagerung
von Momenten
21
22
23
24
25
26
27
28
29
.. Abb. 32.11 Zusatzaktor
30
Drehmomentunstetigkeiten vom Zusatzaktor in kann, die ein sicheres Führen des Fahrzeugs ver-
31 den Lenkstrang eingekoppelt werden, die den Fah- hindern.
rer stören. Sollen über diesen Zusatzaktor Funkti-
32 onen realisiert werden, die das Lenkmoment vom
32.3.2 Elektrische Lenksysteme
Fahrer erfordern, muss entweder in diesem Aktor
selbst oder an einer anderen geeigneten Position im
33 Lenkstrang zwischen Fahrer und Aktor ein Dreh- Die elektrische Servolenkung bietet, da die Ansteue-
momentsensor installiert werden. rung des Elektromotors über die Software des Steu-
34 Da es sich hier um ein reines Zusatzsystem zu ergerätes erfolgt, ideale Voraussetzungen als Aktor
einer bereits installierten Hilfskraftlenkung han- für lenkungsbasierte Assistenzfunktionen. Ebenso
35 delt, liegt der Fokus der Sicherheitsbetrachtungen
auf diesem Zusatzaktor und der damit in Verbin-
ist der zur Erfassung des Fahrerlenkmoments in der
EPS implementierte Drehmomentsensor für die zu
dung stehenden Steuergeräten. Sieht man von den realisierenden Assistenzfunktionen nutzbar. Der
36 Degradationsstufen bei erkannten Fehlern in den bereits über eine entsprechende Getriebestufe an
Assistenzfunktionen ab, muss der Aktor bei ei- den Lenkstrang fest gekoppelte Elektromotor kann
37 nem erkannten Fehler im Motor oder der damit in außer zur Bereitstellung der Servokraft gleichzeitig
Verbindung stehenden Sensorik in einen Zustand dazu benutzt werden, das von den übergeordneten
gebracht werden, der störende Zusatzmomente Systemen angeforderte Assistenzmoment aufzu-
38 weitgehend reduziert und gefährliche Momente bringen. Da das Assistenzmoment von der Größe
ausschließt. Dies bedeutet, dass der Motor entwe- her um ein vielfaches kleiner als das Servomoment
39 der mechanisch über eine Kupplung vom Lenk- ausfällt, muss in der Regel der Elektromotor der
strang abgekoppelt werden muss oder aber die EPS nicht neu ausgelegt und zur Bereitstellung des
40 Abschaltung des Motors so zu erfolgen hat, dass er
in keinem Fall störende Bremsmomente aufbauen
Zusatzmoments in der Abgabeleistung angehoben
werden (. Abb. 32.12).
32.3 • Lösungen zur Überlagerung von Momenten
601 32
Lenkradwinkel
Lenk-
extern
Lenkwinkel- unterstützung
geschwindigkeit Motor-
sollmoment
Fahrzeug- Sollmoment-
geschwindigkeit koordinator
Kompensations- Nm
funktionen
Lenkrad-
intern
moment
Aktiver
Rücklauf
Motordrehzahl
23 Generator für
Lenkradvibration Teilsollwert
Begrenzung
24 Status-
rückmeldung
25
Sollwert- Assistenzmoment-
26 anforderung vorgabe Teilsollwert
Begrenzung
27 Status-
rückmeldung
28 Kommunikations-
interface
34 Momentenschnittstelle:
Offset Lenkradmoment
Assistenz-
35 systeme
Winkelschnittstelle mit
Winkelregler
36
37 Kommunikations-
interface
39
40
32.4 • Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
603 32
.. Abb. 32.15 Prinzip der Überlage- Lenkradwinkel
rungslenkung [1]
AFS-Aktuator
Überlagerungswinkel
resultierender Vorderradwinkel
21
22
23
24
25
26
27
28 .. Abb. 32.16 Prinzip der variablen Lenkübersetzung [1]
29 Funktionalität des gesamten Systems. Die Maßnah- des Lenkverhaltens bei konstanter Lenkkinematik
men reichen von einem differenzierten Abschalten ermöglicht (. Abb. 32.16).
30 von Teilfunktionen bis hin zu einer Komplettab-
schaltung des Aktors.
Lenkassistenzfunktionen sind Vorsteuerungen 32.4.3 Stellervarianten
31 des Lenksystems mit dem Ziel einer Adaption der
statischen und dynamischen Lenkungseigenschaf- Der Aktor mit Überlagerungsgetriebe kann in der
32 ten an die Fahrsituation in Abhängigkeit der Fah- Lenksäule oder alternativ im Lenkgetriebe integriert
rerlenkaktivität. Diese Adaption wird hauptsächlich werden. Die Integration im Lenkgetriebe ist hap-
durch die Aktordynamik und das Lenkgefühl einge- tisch vorteilhaft, da die Reibung bis zum Lenkventil
33 schränkt (Rückkopplung auf den Fahrer). nicht beeinflusst wird und die akustische Abstrah-
. Abb. 32.2 zeigt als kinematische Lenkassis- lung über Luftschall im Motorraum weniger auffäl-
34 tenzfunktion die variable Lenkübersetzung. Diese lig ist. Die Lenksäulenlösungen sind alle fahrzeug-
Funktion iV .vX .t // D ıS .t /=ıF .t / dient zur Ver- fest ausgeführt. Die dynamischen Anforderungen
35 änderung der Übersetzung zwischen dem Lenkrad-
winkel ıS .t / und dem mittleren Vorderradwinkel
sind jeweils vergleichbar.
Variante 1 positioniert den Elektromotor quer
ıF .t / in Abhängigkeit geeigneter Fahrzeug- und zum Überlagerungsgetriebe, vgl. . Abb. 32.17. Der
36 Lenkungsgrößen, wie z. B. Fahrzeuggeschwin- größte Vorteil ist der Einsatz eines selbsthemmenden
digkeit vX .t / und Auslenkung. Die Geschwindig- Schneckengetriebes um die unerwünschte Rückdreh-
37 keitsabhängigkeit ermöglicht durch eine direktere möglichkeit im passiven Zustand zu verhindern. Für
Übersetzung eine Verringerung des Lenkaufwandes die integrierte Lösung im Lenkgetriebe (im Motor-
im unteren und mittleren Geschwindigkeitsbereich. raum) muss ausreichend Bauraum zur Verfügung
38 Eine exakte Spurtreue und Sicherheit im oberen stehen, der in der frühen Konzeptphase der Fahr-
Geschwindigkeitsbereich wird durch eine indirekte zeugentwicklung zu berücksichtigen ist. Der Einbau
39 Übersetzung erreicht. Außerdem wird durch die dieser Variante ist auch im oberen Teil der Lenksäule
Auslenkungsabhängigkeit die Zielgenauigkeit um vorstellbar. Die Packageverhältnisse und Crashanfor-
40 den Mittelbereich optimiert, der Lenkaufwand für
große Lenkwinkel reduziert und eine Modifikation
derungen moderner Fahrzeuge zu erfüllen, erscheint
jedoch mit dieser Aktorversion schwierig.
32.4 • Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
605 32
Variante 2 realisiert die koaxiale Anordnung Bürstenloser Gleichstrommotor erzeugt das er-
von Überlagerungsgetriebe und Elektromotor. forderliche elektrische Moment für eine gewünschte
Dabei ist der Einsatz eines Hohlwellenmotors in Bewegung des Aktors. Das elektrische Moment wird
Verbindung mit einem Wellgetriebe erforderlich, feldorientiert geregelt (FO-Regelung).
vgl. .Abb. 32.21. Diese Kombination baut sehr Motorwinkelsensor basiert auf einem magne-
kompakt und ist hinsichtlich Package und Crash- toresistiven Prinzip und schließt eine Signalver-
verhalten bei Einbau in der Lenksäule vorteilhaft. stärkung und eine Temperaturkompensation im
Die haptischen Einflüsse sind zu vernachlässigen, Sensormodul ein.
da die verwendeten Wellgetriebe fast spielfrei ar- Ritzelwinkelsensor basiert analog zum Motor-
beiten. winkelsensor ebenfalls auf einem magnetoresistiven
Der Einbau dieses Aktors eignet sich auch als Prinzip und enthält eine Signalverstärkung und eine
lenkwellenfeste Variante. Die obere Lenkwelle ist Temperaturkompensation. Über eine CAN-Schnitt-
dabei fest mit dem Aktorgehäuse verbunden und stelle kann das Sensorsignal von anderen Fahrwerk-
dreht ihn mit, vgl. .Abb. 32.25. systemen wie z. B. ESP verwendet werden.
Elektromagnetische Sperre sperrt die Schnecke
Die technischen Kriterien, die die Entwicklung ei- bei Systemabschaltungen: Eine Feder drückt den
--
nes Überlagerungsgetriebes bestimmen, sind:
erreichbare Dynamik
metallischen Stift der Sperre gegen die Sperrver-
zahnung der Schnecke, . Abb. 32.18. Dieser Mecha-
--
angenehmes Lenkgefühl
Erfüllung der radialen Bauraumvorgabe
nismus wird durch eine spezifische Stromsteuerung
aus dem Steuergerät geöffnet (entsperrt).
--
Erfüllung der axialen Bauraumvorgabe
leises Geräuschverhalten 32.4.4.1 Aktor mit Sperre
--
beherrschtes Rückdrehverhalten und Ritzelwinkelsensor
Eignung für Spielfreiheit Das Kernstück des Systems ist der mechatroni-
geringes Gewicht sche Aktor zwischen Lenkventil und Lenkgetriebe,
. Abb. 32.18. Dazu gehört das Überlagerungsge-
triebe (Planetengetriebe) mit zwei Eingängen und
32.4.4 Einsatzbeispiel BMW E60 einer Abtriebswelle. Eine Eingangswelle ist über das
– ZFLS-Aktor am Lenkgetriebe Lenkventil und die Lenksäule mit dem Lenkrad ver-
bunden. Der zweite Eingang wird von dem Elek-
Die praktische Realisierung der Überlagerungsva- tromotor über einen Schneckentrieb als Unterset-
riante 1, integriert im Lenkgetriebe, setzt sich aus zungsstufe angetrieben. An der Abtriebswelle liegt
folgenden Teilen zusammen, . Abb. 32.17: der Ritzelwinkel als gewichtete Summe an. Der Ab-
Zahnstangen-Hydrolenkung bestehend aus trieb wirkt auf den Eingang des Lenkgetriebes, d. h.
einem Lenkgetriebe (1), einem Servotronic Ventil auf das Ritzel der Zahnstangenlenkung. Zwischen
(2), einer elektronisch geregelten Lenkungspumpe dem Eingang des Lenkgetriebes und dem Vorderrad
(9), einem Ölbehälter (10) und entsprechender Ver- liegt die durch das Lenkgetriebe und die Geometrie
schlauchung (11), des Lenkgestänges festgelegte Lenkkinematik.
Aktor bestehend aus einem bürstenlosen
Gleichstrommotor mit entsprechender Verkabe- 32.4.4.2 Steuergerät (ECU)
lung (3), einem Überlagerungsgetriebe (4) und ei- Das Steuergerät stellt die Verbindung zwischen dem
ner elektromagnetischen Sperre mit entsprechender Bordnetz, der Sensorik und der Aktorik dar [2]. Die
Verkabelung (7), Kernkomponenten des Steuergerätes sind zwei Mi-
Regelsystem bestehend aus einem Steuergerät crocontroller. Diese führen alle notwendige Berech-
(5), einem Ritzelwinkelsensor (8), einem Motor- nungen für die Aktorregelung sowie für die Nutz-
winkelsensor (6), entsprechenden Softwaremodulen und Sicherheitsfunktionen aus. Der Elektromotor, die
und der Verkabelung zwischen dem Steuergerät und elektromagnetische Sperre, die geregelte Pumpe und
der Sensorik und Aktorik. die Servotronic werden über die integrierten End-
606 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme
21
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27
.. Abb. 32.17 Komponenten und Subsysteme der Überlagerungslenkung integriert im Lenkgetriebe [1]
28
.. Abb. 32.18 Schnitt durch den Überlagerungs-
Aktor
29
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31
32
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35
36
37
stufen angesteuert. Darüber hinaus, führen die Mi- aufbereitet und die Sollwerte der Lenkassistenz-
crocontroller redundante Berechnungen durch, die und Stabilisierungsfunktionen werden berechnet.
38 damit einen Teil des Sicherheitskonzeptes darstellen. Es folgt die Koordination der Lenkanforderungen,
die Aktorregelung und Ansteuerung des Elektro-
39 32.4.4.3 Signalfluss motors. Der Istwert des Motorwinkels wird dem
In . Abb. 32.19 [1] ist der Signalfluss wiedergege- Regler zurückgemeldet. Die Überwachung aller
40 ben: Die Signale des Lenkradwinkels und der Fahr-
zeuggrößen (z. B. Gierrate) werden im Steuergerät
Module erfolgt über die Sicherheitsfunktionen und
Fehlerstrategie.
32.4 • Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
607 32
Fahrerwunsch
(Lenkradwinkel,etc.)
AFS Strecke
Stabilisierungs-
Signal- funktionen Aktuator- AFS
aufbereitung regelung Lenksystem
Fahrzeug
Lenkassistenz-
funktionen
Überwachungs- und
Sicherheitsfunktionen /
Fehlerstrategie
Fahrzeuggrößen
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30 .. Abb. 32.20 Komponenten und Subsysteme der Überlagerungslenkung integriert in der Lenksäule [5]
31
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35
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37
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39
40
.. Abb. 32.21 Schnittbild [5] und Skizze des Aktors in der Lenksäule
32.4 • Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
609 32
.. Abb. 32.22 Überlagerungsprinzip Wellgetriebe
Außenring
‘circular spline‘
stellt den Radwinkel
Lenkradwinkel dreht
den flexiblen Innenring
‘flex spline‘
solche Asynchronität kann auftreten, falls im inak- . Abbildung 32.24 zeigt das Drei-Ebenen-Sicher-
tiven Zustand, zum Beispiel bei ausgeschaltetem heitskonzept des Steuergeräts [5]. In der Ebene 1 sind
Verbrennungsmotor, große Lenkradbewegungen alle notwendigen Softwaremodule integriert, die aus
stattgefunden haben. Die Summe dieser Winkelteil- funktionaler Sicht notwendig sind, einschließlich
werte wird zusammen mit dem verarbeiteten ESP- der Signalplausibilisierung und der Fehlerstrategie.
Teilsollwinkel im Koordinator zu einem Gesamt- Alle kritischen Pfade, die zu einer Fehlfunktion füh-
Sollwinkel addiert, . Abb. 32.23. ren können werden in der zweiten Ebene diversitär
Die Lageregelung und die Motorkommutie- gerechnet. Damit wird sichergestellt, dass systema-
rung haben die Aufgabe, die Sollwinkel mit der tische Fehlerursachen (zum Beispiel Programmier-
erforderlichen Regelgüte an den Endstufentreiber fehler) nicht zu einer Fehlfunktion führen können.
weiterzuleiten. Die Einbaulage des Überlagerungs- Die dritte Ebene stellt den Programmablauf und ein
getriebes zwischen Lenkventil und Lenkrad führt korrektes Ausführen des Befehlssatzes sicher.
zu einer direkten haptischen Kopplung mit dem Um eine hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten,
Fahrer. Diese Voraussetzung erfordert eine hohe muss in Abhängigkeit des aufgetretenen Fehlers eine
Anforderung an die zulässigen Momentensprünge schrittweise Degradierung der Systemfunktionalität
des Elektromotors.
-
sind [5]:
Vermeidung von reversiblen und irreversiblen
fehlerhaften Stellanforderungen, die durch
das Steuergerät, den Elektromotor oder den -
absehbarer geringer Performance, z. B. durch
Bordnetzschwankungen
Systemdeaktivierung im Nulldurchgang des
Lenkwinkels bei Fehlerverdacht, um ein schie-
- schritten wird
Verhindern einer Freilenksituation
hin sicherheitsrelevante Signale für die anderen
Fahrzeugregelsysteme liefern.
610 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme
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33
.. Abb. 32.23 Steuergerät mit SW-Architektur [5]
34
32.4.6 Einsatzbeispiel Lexus – lagerung die gewünschte Lenkrichtung in keinem
koaxialer Lenksäulenaktor
35 lenkwellenfest
Falle umkehrt.
37
das von Toyota in Serie befindliche System [6].
Die Überlagerung des Aktorwinkels zum Lenk-
- kopplung
einem Spiralkabel zur elektrischen Verbindung
38
radwinkel erfolgt analog zum fahrzeugfesten System
im ▶ Abschn. 32.4.5 durch ein Wellgetriebe.
Das Übersetzungsverhältnis Lenkwelle – Vor- - der rotierenden Komponenten
einem Sperrenmechanismus zur Verriegelung
bei Abschaltung des Systems (und fail-safe
39
40
derrad variiert abhängig von der Fahrgeschwindig-
keit in einem Bereich von 1:12,4 (langsame Fahrt)
bis 1:18 (schnelle Fahrt), indem der Aktor dem
Lenkrad mit- bzw. entgegenwirkt. Er wird nur aktiv,
-- function)
einem elektrischen BLDC Motor
einem Reduktionsgetriebe (1:50, Teil des Well-
getriebes) zum Einsatz eines Motors kleiner
wenn das Lenkrad gedreht wird, wobei die Über- Bauform mit hoher Drehzahl
32.5 • Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung
611 32
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-
.. Abb. 32.26 Systemstruktur des Steer-by-Wire-Lenksystems
33
Lenkbewegung des Fahrers und der Lenkung der
Räder. Damit entfallen die herkömmlichen mecha-
nischen Übertragungseinrichtungen. Der Fahrer er-
zeugt am Lenkrad ausschließlich Informationen über
- mit vollem Funktionsumfang notwendig.
Zur Markteinführung des Steer-by-Wire-
Systems im Pkw benötigt man wahrscheinlich
für die erste Phase der Vertrauensbildung eine
34 seine gewünschte Lenkbewegung. Mit diesen Infor- klassische mechanische oder hydraulische
mationen wird eine elektronische Steuereinheit ge- Rückfallebene als Sicherheitskonzept.
35 speist. Dieses Steuermodul wertet die Informationen
aus und setzt sie in entsprechende Lenkbefehle um.
Damit wird das Lenkgetriebe angesteuert, das die 32.5.1 Systemkonzept und Bauteile
-
36 gewünschte Lenkbewegung ausführt (. Abb. 32.26).
Mithilfe von Hydraulik, Elektrik, Elektronik Im Wesentlichen setzt sich ein Steer-by-Wire-Kon-
37 und Sensorik wurden in der Vergangenheit zept aus zwei Baugruppen zusammen: einem Lenk-
viele neue Komfort- und Sicherheitsfunktio- radaktor und einem Radaktor.
nen entwickelt, die das Führen eines Fahrzeugs
38 deutlich komfortabler und sicherer gemacht 32.5.1.1 Lenkradaktor
39
40
- haben.
Trotz all dieser Komponenten basiert das
Sicherheitskonzept der derzeitigen aktiven
Lenksysteme noch auf einer durchgängigen
Der Lenkradaktor im Bereich der oberen Lenksäule
umfasst ein herkömmliches Lenkrad mit Sensoren,
die Lenkradwinkel und Lenkmoment erfassen, und
einen Lenkradmotor, der dem Fahrer das entspre-
Kette erprobter mechanischer Bauteile. chende Lenkgefühl vermittelt.
32.5 • Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung
613 32
21
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23
24 .. Abb. 32.27 Vgl. passive und aktive Kinematik
Lenksystemen mindestens konstruktive Maßnah- ausgeführt werden, dass die heutigen mechanischen
25 men an Mechanik oder Hydraulik erfordert hätte. Mehrlenkerachsen durch einfache kostengünstige
Auf dieselbe Art und Weise kann das Lenksystem Radaufhängungen ersetzt werden könnten.
26 über die parametrisierbare Software optimal an jedes Doch bis zur Einführung dieser Technik müssen
Fahrzeug angepasst werden. Selbst das Eigenlenk- noch die letzten gesetzlichen Vorschriften geändert
27 verhalten wie Über- oder Untersteuern kann man werden und das Kosten/Nutzen-Verhältnis muss
damit beeinflussen, um jedem Fahrzeugtyp den ge- sich in einer akzeptablen und sinnvollen Größen-
wünschten Markencharakter aufzuprägen, den man ordnung entwickeln.
28 auch „Blend-by-Wire“ nennt. Denkbar ist selbst, dem Die Chancen einer Einführung in von Grund
persönlichen Fahrstil des jeweiligen Fahrers dadurch auf neuentwickelten Fahrzeugkonzepten, wie Elek-
29 Rechnung zu tragen, dass seine bevorzugten Len- tro- und Hybridfahrzeugen, in denen Elektromoto-
kungsparameter individuell gesteuert werden. ren direkt als Rad-Antrieb eingesetzt werden, sind
30 Was die Fahrerassistenz- und Stabilisierungs-
funktionen angeht, lassen sich selbstverständlich
mit Sicherheit höher als in den klassischen Fahrzeu-
gen mit Verbrennungsmotoren.
alle bereits bei der elektromechanischen Servolen-
31 kung und der Aktiv- bzw. Überlagerungslenkung
praktizierten und dort beschriebenen Lösungen wie 32.6 Hinterachslenksysteme
32 variable geschwindigkeitsabhängige Übersetzung,
Lenkvorhalt, Gierratenregelung, Giermomenten- Mit dem Einsatz einer Hinterachslenkung können
kompensation, Seitenwindausgleich, automatisier- viele Kompromisse umgangen werden, die sich bei
33 tes Einparken usw. umsetzen. Insofern kann mit der Konstruktion passiver Achsen ergeben. Der sich
dieser Kombination ein Großteil der Steer-by-Wire- ergebende Verstellbereich erschließt das entspre-
34 Funktionalität dargestellt werden. chende Potenzial, siehe . Abb. 32.27:
Durch die vollständige mechanische Entkopp- Für den Endkunden ergeben sich hieraus deut-
35 lung von Lenkrad und Lenkgetriebe lassen sich
diese Funktionalitäten in ferner Zukunft sicherlich
liche Verbesserungen der vom Fahrwerk beeinfluss-
ten Eigenschaften. So werden je nach Fahrsituation
noch höherwertiger darstellen. Vollautomatische die Fahrstabilität, die Agilität oder die Manövrier-
36 Spurführung, vollautomatisierte Ausweichmanöver barkeit optimiert. Fahrspaß, Komfort- und Sicher-
ohne Zutun des Fahrers in Verbindung mit allen an- heitsempfinden werden verbessert, fahrdynamische
37 deren Fahrzeugsystemen des Brems- und Antriebs- Eigenschaften sind damit bewusster erlebbar.
bereiches können realisiert werden. Letztlich ist ein
autonomes Fahren durchaus vorstellbar.
38 Mit Hilfe einer Einzelradlenkung (jedes Vorder- 32.6.1 Grundfunktionen
rad wird einzeln von einem elektrisch angesteuerten und Kundennutzen
39 Aktor eingelenkt und die starre Verbindung über
eine Spurstange entfällt) kann der Radeinschlag- Es lassen sich die folgenden Zielsetzungen für den
40 winkel allein über die in der Software des Steuerge-
rätes hinterlegten Regelalgorithmen so individuell
Einsatz der Hinterachslenkung unterscheiden, siehe
. Abb. 32.28:
32.6 • Hinterachslenksysteme
615 32
.. Abb. 32.28 Funk-
tionale Vorteile der
Hinterachslenkung
- Wendekreisverringerung / Parkierunterstüt-
zung im Rangierbetrieb:
Zustands reduziert wird. Ferner wird das Giermo-
ment verringert und in seiner Dynamik begrenzt
- Komfort Grenzbereich
Stabilitätsverbesserung bei hohen Geschwin- Das höchste Potenzial beim Lenken der Hinterräder
digkeiten: kann im Grenzbereich beim Untersteuern genutzt
Deutlich erhöhte Fahrstabilität und -sicherheit, werden. Die Hinterachse hat hier noch nicht ihre
verbessertes subjektives Sicherheitsempfinden Haftgrenze erreicht und kann zusätzliche Seitenfüh-
rungskräfte erzeugen. Hingegen ist beim Übersteu-
ern ein Eingriff nicht sinnvoll, da sich die Hinter-
32.6.2 Funktionsprinzip achse bereits an ihrer Haftgrenze befindet und kein
Potenzial zur Erhöhung der Seitenführung besteht.
Die Hinterachslenkung bietet grundsätzlich zwei Unterhalb des physikalischen Grenzbereichs kön-
Eingriffsmöglichkeiten (s. auch . Abb. 32.28): nen beide fahrdynamischen Situationen gleicher-
maßen korrigiert werden.
32.6.2.1 Gegenlenken
Beim Gegenlenken wird der Wendekreis verrin-
gert, es erfolgt eine Reduktion des notwendigen 32.6.3 Systemgestaltung / Aufbau
Lenkradwinkels. Fahrphysikalisch ergibt sich dies des Systems
durch eine „virtuelle Radstandsverkürzung“. Aus
fahrdynamischer Sicht wird durch das Gegenlen- Die am Markt befindlichen Systeme lassen sich nach
ken initial das wirkende Giermoment erhöht. Der zwei Grundtypen klassifizieren:
Fahrer spürt eine verbesserte Manövrierbarkeit und
Agilität. 32.6.3.1 Zentralsteller-Systeme
Aufbau ähnlich der Vorderachslenkung mit einem
32.6.2.2 Mitlenken zentral angeordneten Aktor, siehe . Abb. 32.29. Die
Im Falle des Mitlenkens kann eine deutliche Verbes- Hinterräder sind hier mechanisch gekoppelt.
serung der Fahrstabilität erfahren werden. Die Be-
gründung liegt im synchronen Aufbau der Seiten- 32.6.3.2 Dual-Steller-Systeme
führungskräfte an beiden Achsen, womit die Zeit bis Aufbau mit zwei Radaktoren, die anstatt Spurstan-
zum Erreichen eines stationären querdynamischen gen / Spurlenkern in der Achse verbaut werden.
616 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme
22
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29
30
31
32
Hier besteht keine mechanische Kopplung der 32.6.4 Vernetzung / erweiterte
33 Hinterräder. Funktionalität
34
-
32.6.3.3 Subsysteme Aufgrund der zunehmenden Anzahl aktiver fahr-
Mechanik dynamischer Systeme wird auch deren intelligente
35 Gehäusebaugruppe, Übersetzungsstufe (z. B.
Zahnriemen), Übertragungsgetriebe (z. B.
Vernetzung zur Notwendigkeit. Hierdurch ergeben
sich weitere funktionale Potenziale. Dies wird im
36
- Kugel- oder Trapezgewindetrieb) etc.
Mechatronik
Elektromotor, Sensoren, Kabelbäume / Steck-
Folgenden beispielhaft erläutert:
Elektrische Servolenkung
37
- verbindungen
Elektrik / Elektronik
Die heute bereits verfügbaren Parkier-Assistenzsys-
teme können mithilfe der erhöhten Manövrierbar-
38
39
- Steuergerät mit Leistungselektronik
Software
Betriebssoftware (low-level), Lenkfunktion
(high-level)
keit durch Hinterachslenksysteme deutlich verbes-
sert werden.
Aktivlenkungen
Durch funktionale Vernetzung von aktiver Vor-
40 derachslenkung (variable Übersetzung) und Hin-
terachslenkung kann das Gesamtlenkverhalten des
Literatur
617 32
Literatur
Mensch-Maschine-
Schnittstelle für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 33 Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-
Interaktionvon Fahrerassistenzsystemen – 621
Winfried König
Kapitel 35 Bedienelemente – 647
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder
Kapitel 37 Fahrerwarnelemente – 675
Norbert Fecher, Jens Hoffmann
Kapitel 38 Fahrerzustandserkennung – 687
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder
Nutzergerechte Entwicklung
der Mensch-Maschine-
Interaktion
von Fahrerassistenzsystemen
Winfried König
33.1 Übersicht – 622
33.2 Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-
Maschine-Interaktion(HMI) von FAS – 622
33.3 Systematische Entwicklung des HMI von FAS – 627
33.4 Bewertung von FAS-Gestaltungen – 630
33.5 Zusammenfassung – 632
Literatur – 632
22
23
24
25
26 Bildverarbeitung und auch mittels anderer opti- aus dem Regelkreis genommen ist, die Fertigkeit für
scher Sensoren. Für die Kommunikation mit an- diese Funktion verliert. Es könnte auch sein, dass sich
27 deren Verkehrsteilnehmern, insbesondere für das sein Bewusstsein für die Fahrsituation verschlechtert,
Anzeigen und Signalisieren von Gefahr, wird vom wenn er nicht permanent die für die Funktion wich-
Menschen und von FAS überwiegend der akusti- tigen Details der Fahrsituation verfolgt.
28 sche Kanal genutzt. Dazu gehört die Eingabe von Das Assistenzsystem zeigt ein eigenständiges
Kommandos über Spracheingabesysteme sowie die Fahrverhalten, welches möglicherweise vom eige-
29 Ausgabe von Warnhinweisen und Information vom nen Fahrverhalten des Fahrers abweicht. Abhängig
FAS an den Fahrer mittels Signaltönen, Geräuschen vom Automatisierungsgrad kann sich der Fahrer
30 und Sprachausgabe. Der haptische Kanal dient zur
Eingabe von Kommandos über Hand und Fuß, in
dadurch zeitweise mehr oder weniger in eine Art
Beifahrersituation versetzt fühlen. Die Qualität die-
umgekehrter Richtung nutzen FAS diesen Kanal zur ses Zusammenwirkens zwischen Fahrer und Assis-
31 Rückmeldung durch Gegenkräfte (Force Feedback) tenzsystem bestimmt weitestgehend die Akzeptanz
an Pedalen, Lenkrad und „haptischen Stellern“. der Systeme.
32
33.2.6 Änderung der Beziehung 33.2.7 Situationsbewusstsein
33 Fahrer-Fahrzeug durch FAS und Absicht des Fahrers
34 Benutzt ein Fahrer ein Assistenzsystem, welches di- Zur Erfassung der Verkehrssituation besitzt das
rekt in das Fahrgeschehen eingreift (z. B. ACC mit System Sensoren, deren Erfassungsbereiche nor-
35 Teilübernahme der Längsführungsaufgabe oder eine
Stop&Go-Funktion), so bedeutet dies eine funda-
malerweise nicht mit denen der menschlichen Sin-
nesorgane übereinstimmen. Die Grenzen der Sen-
mentale Veränderung seiner Aufgabe der Fahrzeug- soren und der Signalverarbeitung sind wesentlich
36 führung. Teile der bisherigen Fahraufgabe können an für die Funktionalität eines FAS. Sind diese Grenzen
das Assistenzsystem delegiert werden; hierauf beruht für den Fahrer nicht verständlich, wird es für ihn
37 der Entlastungseffekt dieser Systeme mit positiven schwierig, das System wie vom Hersteller vorgese-
Auswirkungen auch auf die Verkehrssicherheit. hen zu nutzen.
Die verbleibende Aufgabe enthält nunmehr weni- Auch das beabsichtigte Verhalten anderer
38 ger regelnde und mehr überwachende Anteile. Als Verkehrsteilnehmer ist wichtig, um eine ange-
schwierig kann sich für den Fahrer erweisen, dass messene Strategie für das eigene Fahrverhalten in
39 er in unterschiedlichen Situationen, wenn das FAS einer bestimmten Verkehrsituation zu entwickeln.
an seine Funktionsgrenzen gerät, auf angemessene Dazu gehört die Erwartung, dass sich andere Ver-
40 Weise die Funktion wieder übernehmen muss. Es be-
steht die Gefahr, dass der Fahrer, wenn er lange Zeit
kehrsteilnehmer meist an Regeln halten; erfahrene
Fahrer sind aber auch in der Lage, nicht regelkon-
33.2 • Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion
625 33
.. Abb. 33.3 Interaktionskanäle
zwischen Fahrer und FAS
Sprach-
ausgabe Sprach-
eingabe
33.2.9 Entlastung oder Belastung be at all times in a position to perform all manoeuvres
21 durch FIS und FAS? required of him. He shall, when adjusting the speed of
his vehicle, pay constant regard to the circumstances, in
22 Eine Grundregel bei der Gestaltung von Mensch- particular the lie of the land, the state of the road, the
Maschine-Systemen ist es, sowohl eine Überforde- condition and load of his vehicle, the weather conditions
rung als auch eine Unterforderung des Menschen zu and the density of traffic, so as to be able to stop his ve-
23 vermeiden. Es ist zu bedenken, dass die Interaktion hicle within his range of forward vision and short of any
des Fahrers mit dem FIS/FAS ein gewisses Maß sei- foreseeable obstruction. He shall slow down and if neces-
24 ner geistigen Kapazität bindet. Dies stellt prinzipiell sary stop whenever circumstances so require, and parti-
eine Zusatzbelastung dar, die durch die entlastende cularly when visibility is not good.“ Die Konsequenzen
Wirkung des FAS übertroffen werden soll. dieser Forderung für die Auslegung von eingreifenden
25 In mehreren Projekten (z. B. SANTOS [5], FAS sind in der Fachwelt in der Diskussion. Es existiert
COMUNICAR [6]) wurde versucht, die Interaktion z. B. die Meinung, dass Systeme, die vom Fahrer nicht
26 so zu gestalten, dass die Gesamtbelastung aus der übersteuert werden können, grundsätzlich nicht zu-
Fahraufgabe und möglichen Nebentätigkeiten des lässig seien. Dies betrifft sowohl Notbremssysteme als
27 Fahrers ein bestimmtes Maß nicht überschreitet. auch geschwindigkeitsbegrenzende Systeme. Andere
Dazu wurden Schätzungen der Belastung durch die Fachleute meinen, dass die „Vienna Convention on
Verkehrskomplexität, durch Nebentätigkeiten wie Road Traffic“ ausreichend Spielraum biete und z. B.
28 z. B. Gespräche mit Beifahrern zusammengeführt Notbremssysteme bei richtiger Auslegung durchaus
mit einer Schätzung der momentanen Leistungsfä- zulassungsfähig seien. Die Frage nach der Verantwor-
29 higkeit des Fahrers. Auch die Anpassung des Verhal- tung stellt sich auch bei sogenannten kooperativen
tens eines FAS an die individuelle Leistungsfähigkeit FAS. Sie tauschen mit anderen Verkehrsteilnehmern
30 und Präferenzen eines bestimmten Fahrers (Perso-
nalisierung) ist Gegenstand mehrerer Projekte.
und der Straßeninfrastruktur Daten aus und werden
durch diese Daten in ihrem Verhalten beeinflusst. Ein
Geht die Entlastung des Fahrers durch die ge- Beispiel ist das bereits genannte geschwindigkeitsbe-
31 nutzten Funktionen der FAS zu weit, besteht die grenzende System, das von außen in das Fahrzeug ein-
Gefahr, dass dieser ermüdet. Es ist auch der Frage greift. Sind derartige Eingriffe in mein Fahrzeug auto-
32 nachzugehen, ob er die Entlastung für irrelevante risiert, sind die zugrunde liegenden Daten zuverlässig,
Tätigkeiten nutzt und seine Aufmerksamkeit vom wer trägt die Verantwortung für das Verhalten meines
Verkehrsgeschehen abzieht. Auch eine Kompensa- Fahrzeugs? Eine Änderung der „Vienna Convention
33 tion der Entlastung durch riskanteres Fahren ist in on Road Traffic“ würde aufgrund ihrer weltweiten
Betracht zu ziehen und sollte im Entwicklungspro- Geltung erhebliche Anstrengungen erfordern und –
34 zess sorgfältig untersucht werden. zumindest teilweise – eine Verlagerung der Verant-
wortung vom Fahrer zum Hersteller oder Zulieferer
35 33.2.10 Verantwortung des Fahrers
bedeuten. Vor diesem Hintergrund sollten FAS derart
gestaltet werden, dass ihre Aktionen vom Fahrer je-
derzeit übersteuert werden können. Dies wiederum
36 Nach heutigem Stand der Diskussion in Fachkreisen verlangt eine Gestaltung, die dem Fahrer den momen-
ist es unumgänglich, dass der Fahrer die Verantwor- tanen Zustand eines FAS transparent macht, so dass er
37 tung für die Fahrzeugführung auch bei Einsatz von ein angemessenes „inneres Modell“ des Systemverhal-
FAS behalten muss. tens aufbauen und pflegen kann.
Diese Forderung ist bereits in der „Convention on
38 Road Traffic“ vom 8. 11. 1968 enthalten [1]. Dort heißt
es in Chapter II, Article 8.5: „Every driver shall at all 33.2.11 Stärken von Mensch
39 times be able to control his vehicle or to guide his ani- und Maschine
mals“ sowie in Article 13.1: „Every driver of a vehicle
40 shall in all circumstances have his vehicle under control
so as to be able to exercise due and proper care and to
Weiterhin wird die Auffassung vertreten, dass es
sinnvoll ist, einem FAS die Aufgaben zu übertra-
33.3 • Systematische Entwicklung des HMI von FAS
627 33
gen, für die der Mensch aufgrund seiner Fähigkei- falls Modifikationen und Verbesserungen eines Sys-
ten weniger geeignet ist. Dies sind Routineaufgaben, tems erforderlich werden.
„einfache“, aber zeitkritische Aufgaben, Sehen bei
Nacht und schlechter Witterung, Schätzen von Ent-
fernungen und Geschwindigkeitsdifferenzen und 33.3.2 Unterstützungsbedarf
permanentes Abstandhalten. Es entsteht bei dieser des Fahrers
Aufgabenteilung aber das grundsätzliche Problem,
dass ein FAS mit zunehmender „Perfektion“ in Ideen für sinnvolle und hoffentlich am Markt erfolg-
immer mehr Situationen eine bestimmte Aufgabe reiche FAS können aus der Information verschiede-
lösen kann, sodass der Fahrer zunehmend seltener ner Quellen systematisch entwickelt werden. Dazu
zum Eingreifen veranlasst wird – dies aber in den gehören explizite Kundenwünsche, wie sie Fahr-
verbleibenden, schwierigsten Situationen tun muss. zeughersteller über ihre Verkaufsorganisationen
sammeln und auswerten. Auch die Analyse von
Unfalldaten, die z. B. aus der GIDAS-Datenbank
33.3 Systematische Entwicklung [2] entnommen werden, direkte Feldbeobachtun-
des HMI von FAS gen oder die Befragungen von Nutzergruppen sind
übliche Zugangswege.
33.3.1 Die Entwicklung des HMI Um die Vielfalt von Benutzergruppen und
im FAS-Entwicklungsprozess möglichen Situationen zu reduzieren, hat es sich
als sinnvoll erwiesen, bestimmte Nutzertypen und
Um die Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen der Fahrsituationen zu definieren und auszuwählen.
Nutzer in angemessener Weise zu berücksichtigen, Ein Nutzertyp kann beispielsweise eine „Mutter
müssen in jeder Phase der Entwicklung von FAS ne- mit Kind“ sein, die entsprechende Fahrsituation
ben Fachleuten für die Technik HMI-Experten mit die „Einfahrt in eine Tiefgarage“ im „Familienvan“.
geeigneten Verfahren einbezogen werden. Bereits zu Auch die Untersuchung einer Abfolge von Situatio-
Beginn, in der Phase der Ideenfindung, stehen die nen, wie sie z. B. bei einer „Urlaubsfahrt mit Familie
Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt der Überle- in ein Hotel in Spanien“ auftreten, kann Hinweise
gungen. Es folgt eine präzise, strukturierte Beschrei- auf einen bisher nicht identifizierten Bedarf an Un-
bung der Leistungen des Systems und der Umstände, terstützung durch FAS geben.
unter denen diese erbracht werden können. Zur Un-
tersuchung möglicher Auswirkungen beim Einsatz
derartiger Systeme werden Fragenkataloge benutzt, 33.3.3 Leitlinien zur Entwicklung
wie sie z. B. in dem EU-Projekt RESPONSE [7] ent- von FIS und FAS
wickelt wurden. Es folgen Tests mit repräsentativen
Nutzern in der sicheren Umgebung des Labors und 33.3.3.1 Leitlinie für FAS – RESPONSE
im Simulator. In diesem Stadium steht oft noch kein Code of Practice (CoP)
reales HMI des FAS, sondern eine Simulation oder In dem europäischen Projekt RESPONSE wurde
ein virtueller Prototyp zu Verfügung. Mit zuneh- durch eine Gruppe aus Kfz-Herstellern, Zulieferern,
mender Reife eines Systems und wachsender Er- Behörden, Forschungsinstituten und Anwaltskanz-
fahrung seiner Auswirkungen auf die Nutzer sind leien die Verantwortung von Herstellern, Nutzern
Fahrversuche im Testgelände und später im realen und des Gesetzgebers bei der Entwicklung und
Verkehr möglich. Zunächst beginnt man aus Grün- Nutzung von FAS untersucht. Die Ergebnisse mün-
den der Sicherheit und Wirtschaftlichkeit mit erfah- deten in einer Leitlinie, die inzwischen bei vielen
renen Experten, später werden ausgewählte Nutzer- Herstellern innerhalb ihres Entwicklungsprozesses
gruppen eingesetzt. Sobald ein Produkt im Markt angewandt wird oder bereits vorhandene firmenin-
eingeführt wird, entstehen weitere Erfahrungswerte, terne Prozeduren ergänzt. Wesentliche Punkte sind
die von HMI-Experten erfasst und ausgewertet wer- die Kontrollierbarkeit und Übersteuerbarkeit einer
den. All diese Prozessschritte enthalten Iterationen, Systemaktion durch den Fahrer.
628 Kapitel 33 • Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion
dass diese Richtlinien in Form einer freiwilligen 33.3.5 Normen zur Gestaltung von FIS
Selbstverpflichtung der betroffenen Partner in den und FAS
jeweiligen Staaten vereinbart werden.
Die Richtlinien wurden zunächst auf FIS be- CoP und ESoP enthalten Forderungen und Metho-
schränkt; es sei aber angemerkt, dass viele dieser den; konkrete Zahlenwerte und Messverfahren sind
Prinzipien sinngemäß auch auf FAS angewendet wer- hingegen nicht enthalten. Sie verweisen deshalb
den können. Das übergeordnete Ziel ist es, dass der auf bestehende oder in der Entwicklung befindli-
Fahrer durch FIS nicht abgelenkt, überbeansprucht che Normen, die sich mit einzelnen FAS oder mit
oder gestört werden soll. Die Richtlinien sollen zu- übergreifenden Konzepten wie der Gestaltung von
künftige Technologien nicht blockieren; aus diesem Anzeigen, Warnungen oder Dialogen befassen.
Grund sind sie unabhängig von speziellen Techno- Normen setzen Mindestforderungen; jeder
logien formuliert. Die enthaltenen Grundsätze und Hersteller, der ein überlegenes Produkt anbieten
Empfehlungen werden jeweils durch eine Erklärung möchte, wird die Forderungen einer Norm übertref-
sowie durch positive und negative Beispiele erläutert. fen wollen. Normen sind keine Gesetze, jedoch für
den Hersteller weitgehend verbindliche Richtlinien.
In den Richtlinien sind allgemeine Entwicklungs- Kommt es zu Rechtsstreitigkeiten, werden Normen
-
ziele vorangestellt, so z. B.:
Das System ist so zu gestalten, dass es den
Fahrer unterstützt und nicht zu einem poten-
ziell gefährdenden Verhalten des Fahrers oder
als Stand der Technik herangezogen. Normen sol-
len den technischen Fortschritt nicht behindern. Sie
definieren deshalb meist nicht, wie ein bestimmtes
System gestaltet sein muss („Design Standard“) son-
- Aufmerksamkeitsbedarf vereinbar.
Das System lenkt nicht ab und dient nicht zur
Sicherheitsrisiko erwächst.
Bedienteilen und visueller Information. Diese Nor- Es ist auch für HMI-Experten unmöglich, beispiels-
21 men betreffen nicht nur einzelne FIS, sondern sollen weise ein ACC-System vollständig zu beurteilen,
auf alle unterschiedlichen Systeme innerhalb eines solange sie keine „Erfahrung“ damit gesammelt
22 Fahrzeugs angewandt werden. Sinngemäß können haben.
sie auch auf die Interaktion eines Fahrers mit einem
FAS Anwendung finden.
23 Zum Beispiel enthält die Norm ISO15008 [9] 33.4.2 Instrumente zur Beurteilung
Forderungen über die Darstellung von Informa- des Fahrerverhaltens
24 tion im Fahrzeug mittels optischer Anzeigen. Dies
betrifft z. B. den Beobachtungsbereich und die Sobald eine Simulation oder ein Prototyp eines FAS
Lichtverhältnisse, unter denen der Fahrer die An- vorliegt, können im Labor, im Fahrsimulator und
25 zeige ablesen können muss. Die Mindestkontraste, später im Fahrversuch der Umgang des Nutzers mit
welche notwendig für eine gute Ablesbarkeit sind, dem System und eventuelle Auswirkungen auf das
26 werden festgelegt, ebenso die Mindestgröße von Fahr- und Fahrerverhalten untersucht werden, siehe
alphanumerischen Zeichen. Auch die Forderung . Abb. 33.4. Dazu gehört die Ermittlung und Be-
27 nach Vermeidung von Reflexionen oder Spiege- wertung aussagekräftiger fahrdynamischer Größen,
lungen sind enthalten. Für diese Forderungen die beispielsweise die Längs- und Querdynamik
werden, soweit sinnvoll, auch Messmethoden fest- abbilden. Diese sind im Fahrsimulator einfach zu
28 gelegt. Weitere Dokumente, die bereits gültig oder erhalten, im Feld ist z. B. die Messung der Spurlage
noch in Entwicklung sind, betreffen das Manage- des Fahrzeugs aufwändiger. Auch die Messung des
29 ment von Dialogen des Fahrers mit dem System motorischen Verhaltens des Nutzers und der Blick-
(ISO15005) [10], die Gestaltung akustischer Sig- bewegungen ist im Feld schwieriger. Speziell das
30 nale im Fahrzeug (ISO15006) [11] und die Mes-
sung des Blickverhaltens des Fahrers (ISO15007)
Blickverhalten ist von großem Interesse, da Abwei-
chungen vom gewohnten „Scannen“ des Fahrraums
[12]. und überlange Blicke auf ein Display im Fahrzeug
31 Hinweise auf visuelle Überbeanspruchungen, z. B.
durch die Interaktion mit einem FAS, geben.
33.4 Bewertung von FAS-
32 Gestaltungen
Aus physiologischen Parametern lassen sich
Hinweise auf geistige oder körperliche Beanspru-
chungen des Fahrers ableiten, durch Fragebögen
33 33.4.1 Bewertungsverfahren und Interviewverfahren können subjektive Einstel-
lungen und „Erfahrungen“ erfasst werden.
34 In den verschiedenen Stadien der Entwicklung eines
FAS muss die Einhaltung der Grundsätze systema-
33.4.3 Bewertungsumgebung
35 tisch überprüft werden. Mit zunehmender Reife
eines FAS und der damit zur Verfügung stehenden
Realisierung des HMI können unterschiedliche Be- Untersuchungen mit Nutzern von FAS können nicht
36 wertungsverfahren eingesetzt werden. ausschließlich im Labor erfolgen. Grund ist die
Bereits bei der Ermittlung des Unterstützungs- zwangsweise extreme Vereinfachung und Abstrak-
37 bedarfs können Ideen für ein FAS aufbereitet und tion, von der auch der HMI-Experte nur teilweise
Nutzergruppen beispielsweise in einer Gruppendis- absehen kann. Der Dialog eines Eingabevorgangs
kussion vorgelegt werden. Das Grundproblem dabei bei einem Navigationssystem kann möglicherweise
38 ist, diese Aufbereitung verständlich zu gestalten und noch ausreichend auf einem Display am Schreib-
die Leistungen und Grenzen des FAS klar zu vermit- tisch überprüft werden. Einer ACC-Modellierung
39 teln. Auch wenn dies anschaulich geschieht, können auf dem Bildschirm allein fehlen aber die wesent-
die Äußerungen dieser potenziellen Nutzer nur als lichen fahrdynamischen Einflüsse. Auch wenn der
40 Hinweis gewertet werden, insbesondere wenn der
Umgang mit dem System „intuitiv“ erfolgen wird.
Einfluss der Nutzung eines Informationssystems
auf die primäre Fahraufgabe untersucht werden
33.4 • Bewertung von FAS-Gestaltungen
631 33
.. Abb. 33.4 Instrumente zur Beob-
achtung des Fahrerverhaltens
soll, muss ein geeigneter Fahrsimulator eingesetzt sondere Langzeitversuche, wie sie beispielsweise für
werden. Die Anforderungen an diesen Simulator er- die Ermittlung von Lernkurven und Verhaltensän-
geben sich aus dem Untersuchungsgegenstand. So derungen des Fahrers nötig sind, stellen einen auf-
kann es sein, dass an die Bilddarstellung besondere wändigeren, aber unverzichtbaren Bestandteil einer
Ansprüche zu stellen sind, z. B. für die Untersu- verantwortungsbewussten Produktentwicklung dar
chung eines visuell unterstützenden FAS. Auch die (s. ▶ Kapitel 12).
Realitätsnähe der Bewegungssimulation kann be-
sonders wichtig sein, beispielsweise bei FAS, die in
die Längs- und Querführung des Fahrzeugs eingrei- 33.4.4 Anwendung der Verfahren
fen. Trotz der Vorteile eines Simulators wie Sicher- und Fehlermöglichkeiten
heit und Reproduzierbarkeit sind Fahrversuche im
Feld, d.h. zunächst auf einer Teststrecke und später Die Anwendung dieses Bewertungsinstrumentari-
in der komplexen Umgebung des realen Verkehrs, ums erfordert umfassende Kenntnisse und Erfah-
unverzichtbar. Um den Aufwand für die Schaffung rung, wie sie durch ein entsprechendes Studium
einer realitätsnahen Fahrumgebung auf einer Test- und langjährige experimentelle Arbeit aufgebaut
strecke zu reduzieren, kann man diese durch ein werden. Dies beginnt mit der Auswahl eines ge-
Computermodell generieren und passgenau mit- eigneten Untersuchungsdesigns, erstreckt sich über
tels eines Virtual Reality Displays in das Blickfeld die Auswahl der Probanden und die Durchführung
des Nutzers einspielen (s. ▶ Kapitel 10). Auch für der Versuche bis hin zur Auswertung und Inter-
die prinzipielle Überprüfung der Eignung und der pretation der Ergebnisse. Neben den bekannten
Übertragbarkeit eines Simulatorversuchs für eine Fehlermöglichkeiten beim Messen in den Natur-
bestimmte Fragestellung muss ein „Kalibrieren“ wissenschaften, die hier ebenfalls beispielsweise bei
mittels eines Feldversuchs erfolgen. Bei Fahrver- der Verwendung von fahrdynamischen und phy-
suchen auf einer Teststrecke und insbesondere im siologischen Sensoren auftreten können, gibt es bei
realen Verkehr muss die Sicherheit des Nutzers und der Messung mentaler Vorgänge der Nutzer eine
anderer Verkehrsteilnehmer gewährleistet werden. Fülle weiterer Fallen: Bereits das Wissen um die
Dies kann z. B. bei Fahrten auf öffentlichen Straßen Teilnahme an einem Experiment kann eine Ursa-
durch einen mitfahrenden Fahrlehrer geschehen, che für verändertes Probandenverhalten sein. Auch
der mit Hilfe einer zweiten Pedalerie in kritischen die Anwesenheit eines Versuchsleiters während der
Situationen eingreifen kann. Fahrversuche, insbe- Beobachtung und dessen Verhalten, wie z. B. Sug-
632 Kapitel 33 • Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion
32 den Erwartungen des Nutzers konforme Systemei- [9] ISO15008, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
port information and control systems — Specifications and
genschaften, eine einfache Bedien- und Erlernbar-
compliance procedures for in‐vehicle visual presentation,
keit und dem Nutzer vermittelbare Systemgrenzen
33 aufweisen. Die Entwicklung eines FAS erfordert das
ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO Central Secretariat, 1211 Geneva
20, Switzerland; http://www.iso.org/iso/iso_catalogue/ca-
Zusammenwirken von Experten aus Ingenieur- und talogue_tc/catalogue_detail.htm?csnumber=50805
34 Geisteswissenschaften. Im Entwicklungsprozess ei- [10] ISO15005 — Ergonomic aspects of transport information
and control systems — Dialogue management principles
nes FAS sind geeignete Messverfahren einzusetzen;
and compliance procedures, ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO
35 ihre Anwendung erfordert Expertenwissen und Er-
fahrung. Neben Komfort, Sicherheit des Gebrauchs,
Central Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland; http://
www.iso.org/iso/catalogue_detail.htm?csnumber=34085
der Akzeptanz dieser Systeme durch Nutzer und [11] ISO15006, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
36 Gesellschaft gewinnt mit zunehmendem Eingrei- port information and control systems — Ergonomic as-
pects of in vehicle auditory presentation for transport
fen von FAS in den Fahrprozess vor allem die Frage
information and control systems, Specifications and
37 nach der Verantwortung des Fahrers wesentliche Compliance procedures, ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO Cen-
Bedeutung. Viele grundlegende Anforderungen aus tral Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland; http://www.
HMI-Sicht an FAS sind bekannt; sie sind aber noch iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/catalogue_detail.
38 nicht ausreichend spezifiziert und durch Mess- htm?csnumber=55322
[12] ISO15007, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
verfahren abgesichert. Weitere Fragen werden in
39 weltweiten Entwicklungsprojekten untersucht; ihre
port information and control systems — ISO TC 22/SC 13/
WG8, ISO Central Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland;
Ergebnisse sowie Erfahrungen aus dem Einsatz von http://www.iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/cata-
Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine erfolgen die Verarbeitungsprozesse dieser Informa-
21 erfolgt über Schnittstellen, die dem Fahrer Infor- tionen, die meistens zu einer Handlung über das
mationen liefern und ihm behilflich sein sollen, die Lenkrad, die Pedale, Schalter oder Hebel führt. Die
22 Fahraufgabe sicher, effektiv und effizient zu bewäl- menschlichen Faktoren ebenso wie die Umgebungs-
tigen. Wie die Gestaltung von Anzeigen und Bedie- parameter beeinflussen die drei Phasen dieses Pro-
nelementen vorgenommen werden muss und wor- zesses: Informationsaufnahme, Informationsver-
23 auf während des Entwicklungsprozesses in Bezug arbeitung und Handlung. Da die Schnittstelle die
auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine Rolle eines „Vermittlers“ während dieses gesamten
24 Rücksicht genommen werden muss, soll hier geklärt Prozesses trägt, sollen die Anforderungen an die
werden. Schnittstelle alle Einflussfaktoren bzw. -größen be-
So wird zunächst ein Arbeitsmodell zur Erklä- rücksichtigen (. Abb. 34.1).
25 rung der menschlichen Informationsverarbeitung Immer mehr technische Elemente werden im
und des Handlungsprozesses geliefert, das als Basis modernen Fahrzeug beteiligt, die beim Informa-
26 der Gestaltung von MMS angesehen werden kann. tionsaufnahmeprozess sowie bei der Ausgabetä-
Darauf folgen unterschiedliche Systematisierungen tigkeit des Fahrers behilflich sein sollen. Im Zuge
27 von Anzeigen und Bedienelementen, die sich der des aktuellen Trends zur Vermehrung von FAS –
Problematik des Fahrens am ehesten annähern. Im insbesondere wenn sie einen Teil der Fahrtätigkeit
Mittelpunkt des Gestaltungsprozesses soll jedoch übernehmen (z. B. ACC) und dabei die Informati-
28 der Mensch stehen, weshalb Gestaltungsleitsätze onsverarbeitungsprozesse modifizieren – soll bei
und Prinzipien angeführt werden, um die Grund- der Entwicklung besondere Aufmerksamkeit auf
29 lage des Vorgehens – fokussiert auf benutzerorien- die menschlichen Aspekte der Gestaltung gelegt
tierte Umsetzung – zu erläutern. werden. Die Schnittstellen sollen an den Menschen
30 angepasst werden, um diese Informationsverarbei-
tungsprozesse optimieren zu können.
34.1 Ein Arbeitsmodell von Mensch-
31 Maschine-Schnittstellen
34.2 Grundeinteilung
32 Als Basis für ein Arbeitsmodell der MMS dient das der Schnittstellen
sehr häufig in Wissenschaft und Praxis angewendete,
so genannte Stimulus-Organism-Response-Modell, Die erste Grundeinteilung von Schnittstellen, die
33 kurz S-O-R Modell, welches auch unter dem Namen in der Forschung wie bei der Anwendung sehr ver-
Reiz-Reaktions- oder Input-Output-Modell bekannt breitet ist, besteht in der Differenzierung zwischen
34 ist. Es handelt sich dabei um ein der Psychologie ent- Anzeigen und Bedienelementen.
lehntes Modell der menschlichen Informationsverar- Die Anzeige, die hier im Sinne einer allgemeinen
35 beitung, das erklärt, wie Reiz und Reaktion verknüpft
sind. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein
Informationsaufnahme betrachtet wird, stellt also
den Auslöser des menschlichen Informationsverar-
Stimulus, z. B. ein Warnton im Auto, im Organismus beitungsprozesses dar. Die Bedienelemente hinge-
36 verarbeitet wird und dann in Form von Motivations-, gen bilden den ausführenden Teil, nämlich das, was
Entscheidungs- oder Lernprozessen zu bestimmten der Fahrer nach der Informationsaufnahme und der
37 Reaktionen führt, beispielsweise zu einer körperli- -verarbeitung letztendlich tut oder „bedient“. Diese
chen wie der Betätigung eines Bedienelements. Dabei beiden Gruppen stellen damit zwei völlig unter-
wird eine Rückmeldung an den Organismus gegeben, schiedliche Faktoren dar, weshalb sie hier separat
38 z. B. in Form eines Geräuschs, die den Erfolg der Be- betrachtet werden sollen. In den nächsten Kapiteln
dienung bestätigt (siehe auch ▶ Kapitel 1). zu konkreten Gestaltungsempfehlungen werden die
39 Im heutigen Fahrzeug werden die Informatio- Warnungen, die zum Informationsaufnahmepro-
nen über optische Anzeigen, akustische Warntöne zess gehören, in einem eigenen Teil (▶ Kapitel 37)
40 und Signale oder anhand haptischer Rückmeldung
über das Lenkrad oder den Sitz vermittelt. Danach
beschrieben, da die zugrunde liegenden Faktoren
sehr spezifisch sind.
34.2 • Grundeinteilung der Schnittstellen
635 34
.. Abb. 34.1 Arbeitsmodell der Interaktionen
Mensch/Schnittstelle in Fahrzeugen
Bezogen auf die Unterteilung der Mensch- auch fünf Merkmale definiert, die die Spezifität der
Maschine-Schnittstellen in zwei Hauptkatego- Fahrzeugführung berücksichtigen.
rien – Bedienelemente und Anzeigen – ist mit
unterschiedlichen Ansätzen versucht worden, die Der Klassifizierungsansatz für die breite Palette der
Schnittstellen zu charakterisieren. Dabei soll der üblicherweise verwendeten Stellteile von Rühmann
Optimierungsprozess zwischen Bedürfnis und
Leistungsfähigkeit des Menschen und des Leis-
tungsvermögens der Schnittstelle vereinfacht wer-
den. Im Folgenden werden solche Ansätze präsen-
-
[1] beinhaltet folgende fünf Ordnungssysteme:
Bedienung: Eine Klassifikation kann nach den
Extremitäten erfolgen, mit denen die Bedie-
nelemente betätigt werden bzw. die auf die
tiert, die sich an die Problematik des Fahrens am Bedienelemente einwirken, beispielsweise Fin-
ehesten annähern. ger- (Lichtschalter), Hand- (Schalthebel), Fuß-
(Gaspedal) oder Beinbedienung (Bremspedal).
Weitere Unterteilung in Greif- und Tretarten
-
34.2.1 Bedienelemente ist möglich.
Bewegungsart: Entsprechend der Bewegungs-
Rühmann [1] entwickelte eine generelle und breit richtung der Bedienelemente lassen sich Rota-
angelegte Charakterisierung der Bedienelemente: tionsbewegungen und Translationsbewegun-
Er sortiert die Unterscheidungsmerkmale nach fünf gen sowie quasitranslatorische Bewegungen
verschiedenen Ordnungssystemen. Ein Ansatz zur
Charakterisierung von Bedienelementen mit spezi-
fischer Orientierung an der Fahrzeugproblematik
ist von Eckstein [2] entwickelt worden, der dabei
- unterscheiden.
Wirkungsweise: Hinsichtlich der Wirkungs-
weise unterscheidet man analoge (stetige) und
digitale (diskrete) Bedienelemente.
636 Kapitel 34 • Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen
22 - Bedienelements dar.
Integration: Werden in einem Bedienelement
mehrere Bedienfunktionen kombiniert, spricht
man von einem integrierten Bedienelement, so
lichkeit der Eingabe kann als Hand/Arm-Bewegung
für die oberen Extremitäten und als Bein/Fuß-Be-
wegung für die unteren Extremitäten bezeichnet
werden, wobei die Finger in dieser Betrachtung
23 können in einem Bedienelement gleichzeitig natürlich eingeschlossen sind.
unterschiedliche Teil- oder Parallelaufgaben Hände und Arme werden im Kraftfahrzeug bei-
24 mit sequenzieller oder simultaner Betätigung spielsweise für die querdynamische Regelung über
untergebracht werden. das Lenkrad verwendet, mithilfe der unteren Extre-
mitäten (Bein und Fuß) wird die längsdynamische
25 Eckstein [2] klassifiziert die Bedienkonzepte in Be- Führungsgröße eingestellt. Die Nutzung der Extre-
zug auf die Kraftfahrzeugführung nach folgenden mitäten beschränkt sich allerdings nicht auf stabili-
-
26 fünf Merkmalen: sierende Aufgaben. Alle Tasten, Drehstellteile und
Zahl der Stellteile: beispielsweise drei Hebel für Touchscreens nutzen ebenfalls zumindest Teile des
27 drei Funktionen, Fahrtrichtungsanzeiger, ACC Hand/Arm-Systems. Somit sind sie ebenfalls für die
28 - und Scheibenwischer.
Zahl der Freiheitsgrade eines Stellteils: Bei dem
Bedienkonzept „Lenkrad und Automatikge-
triebe“ ergeben sich die drei Freiheitsgrade
Bedienung von Fahrerassistenzsystemen von über-
geordneter Bedeutung. Im Folgenden werden Ein-
gabemodalitäten unterschieden, die für die Eingabe
von Stellsignalen infrage kommen. Die letzten drei
29
30
- Lenkrad, Gaspedal und Bremspedal.
Sollwertvorgabe: Als Sollwertvorgabe dienen
der Winkel (Lenkradwinkel), der Weg (Dros-
sind typische berührlose Eingabemöglichkeiten.
Hand/Arm-Eingabe: Neben dem schon er-
wähnten Lenkrad werden die Bedienelemente für
32 - dungsinformation.
Stellteilart (isomorph, isotonisch, isometrisch):
Dabei stellen das Gaspedal und das Bremspe-
dal eine isomorphe Stellteilart dar.
Arms und der Hand realisiert.
Bein/Fuß-Bewegungen: Überwiegend wird das
Bein/Fuß-System für die Betätigung der Pedalerie,
in wenigen Fällen für die Feststellbremse verwendet.
33 Gewichtsverlagerung: Die Verlagerung der
Darüber hinaus ist es durchaus auch möglich, eine Masse des menschlichen Körpers kann ebenfalls
34 Klassifizierung nach dem Kriterium der Fahrzeug- als Eingabemedium verwendet werden, wie es bei-
steuerung, „Querführung“ und „Längsführung“ spielsweise indirekt bei einem Motorrad erfolgt.
35 oder nach den drei Bereichen „Lenken“, „Beschleu-
nigen“ und „Bremsen“ vorzunehmen.
Spracheingabe: Die Eingabe von Befehlen über
Schlüsselwörter ist aus dem Bereich der Mensch-
Greift man die Klassifizierungsansätze von Computer-Interaktion bekannt. Die Übergabe
36 Rühmann [1] und Eckstein [2] auf, ist ersichtlich, solcher verbalen Kommandos im Kraftfahrzeug
dass – abgesehen von dem Kriterium der Bedie- kommt beispielsweise für mobile Kommunikati-
37 nung – die Bedienelemente im Mittelpunkt der onsgeräte oder die Bedienung des Infotainment-
Betrachtung stehen. Eine menschzentrierte Sicht- Systems zum Einsatz.
weise auf die Übergabe von Befehlen vom Fahrer Augenbewegung: Für die Bedienung mit einem
38 auf das Fahrzeug führt zu einer Einteilung nach Computer sind seit längerer Zeit Interaktionssys-
verschiedenen Eingabemodalitäten. Eine Zusam- teme dieser Art vorhanden; im Fahrzeug sind solche
39 menfügung von beiden Sichtweisen, orientiert an Systeme noch nicht für den Serieneinsatz geeignet.
Objekt und Mensch, ist bedeutsam für die Opti- Mimik/Gestik: Die Nutzung von Gesten als
40 mierung der Gestaltung von Schnittstellen. Eingabemöglichkeit, z. B. zur Gangschaltung, be-
findet sich noch in einer experimentellen Phase.
34.2 • Grundeinteilung der Schnittstellen
637 34
Eine weitere Entwicklung in Richtung Emotion- über menschliche Leistungen, insbesondere bei der
und Mimikerkennung ist denkbar, obwohl noch Informationsaufnahme (siehe ▶ Kapitel 1).
Schwierigkeiten bestehen, diese Systeme in einem Ein klassisches Schema der Einsetzung von
Fahrzeug auf unterschiedliche Fahrertypen zu Wahrnehmungsformen im Fahrzeug kann wie folgt
übertragen. beschrieben werden: Durch den visuellen Kanal ist
es dem Fahrer möglich, andere Verkehrsteilnehmer
und Anzeigen des Fahrzeugs (z. B. Tankanzeige)
34.2.2 Anzeige wahrzunehmen. Akustische Signale werden oft für
Warnungen, seltener auch für Zustandsanzeigen
Das primäre Ziel einer Anzeige ist die Mitteilung verwendet (Relaisgeräusch bei einem Wechsel-
von Informationen an den Menschen, die als Input richtungsanzeiger). Die vestibuläre Wahrnehmung
im Verarbeitungsprozess dienen. Bei der Gestaltung informiert den Fahrer über die verschiedenen Be-
-
von Anzeigen werden drei Hauptfragen gestellt [3]:
Welche Information soll vermittelt werden
schleunigungen, die auf ihn wirken. Die Sensibilität
wird im Fall der taktilen Wahrnehmung beispiels-
- („Informationsinhalt“)?
Wie soll diese Information übermittelt werden
weise für die Betätigung eines Drucktasters verwen-
det, die kinästhetische Wahrnehmung kommt vor
- („Darstellungsform“)?
Wo wird die Information präsentiert („Darstel-
lungsort“)?
allem bei größeren Bewegungen und Vibrationen
zum Tragen wie der Bedienung des Lenkrads.
Wie sind die FAS in diese Schema integriert? Für
die aktuell vermarkteten FAS wird visuelle, taktile
Sehr häufig basiert die Gliederungssystematik der und kinästhetische Wahrnehmung verwendet, wie
Anzeige auf der Darstellungsform mit unterschied- im Fall der Momentimpulse in das Lenkrad eines
lichen Detaillierungsebenen. Lane-Keeping-Systems oder der Vibrationselemente
Schmidtke [3] hingegen unterscheidet bei der beim Überschreiten der Fahrstreifen innerhalb des
Beschreibung der Darstellungsformen von Anzei- Fahrstreifenverlassenswarners. Selbst die vestibuläre
gen zwischen drei Signalarten (optisch, akustisch Wahrnehmung kann zu einem gewissen Teil als An-
und haptisch) und beschreibt weiter, wie die Form zeige dienen. Dies kommt in FAS zum Tragen, die
der Information bezüglich ihrer technischen Basis stabilisierende Aufgaben im Fahrzeug übernehmen,
aussehen kann (digital/analog). Dabei werden die so z. B. beim Abstandsregeltempomat. Durch eine
unterschiedlichen Anzeigen nach weiteren Merk- Verzögerung des Fahrzeugs aufgrund der Regelung
malen eingeordnet, wie z. B. der Form der Skala des ACC-Systems wird dem Fahrer angezeigt, ob
(z. B. kontinuierlich, stufenweise, rund) oder der das vorausfahrende Fahrzeug erkannt wurde, ohne
Dimensionalität der Anzeige (feste Skala, bewegli- dass er gezwungen wird, die Augen von der Straße
che Zeiger oder umgekehrt). zu nehmen. Akustische Signale werden im Fall von
Bei Timpe et al. [4] wird wiederum von visu- FAS oft für Warnungen eingesetzt, da diese nicht an
ellen, auditiven und haptischen Schnittstellen ge- spezielle Faktoren wie die Blickrichtung gebunden
sprochen. Für jede Kategorie unterteilt er darüber sind.
hinaus nach der Art der Information, die mit die- Der optische Kanal ist bei der Bedienung des
sem Mittel an den Menschen übertragen werden Kraftfahrzeugs einer hohen Anzahl von Reizen aus-
kann: Beispielsweise können die auditiven Anzeigen gesetzt und sollte, soweit möglich, nicht durch wei-
verbal und nonverbal Information liefern, wobei bei tere Informationen von Assistenzsystemen belastet
der nonverbalen Information noch einmal zwischen werden. Die Entwicklung von FAS, die die taktile
Tönen und Geräuschen unterschieden wird. und kinästhetische Wahrnehmung verwendet, hat
Die Gliederungssystematiken zur Einteilung aber erst begonnen und wird meistens durch zu-
von Anzeigen basieren hauptsächlich auf techni- sätzliche visuelle oder akustische Signalen ergänzt.
schen Eigenschaften der Anzeigenelemente. Eine Die Gegenüberstellung von beiden Ansätzen,
Systematisierung nach den Wahrnehmungsformen technischen Eigenschaften und menschlichen Ei-
aus der menschlichen Perspektive liefert Hinweise genschaften, soll zeigen, welche Wahrnehmungsfor-
638 Kapitel 34 • Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen
men zur Verfügung stehen und welche Anzeigen für Erfüllung der sechs Gestaltungsleitsätze (Aufga-
21 den Menschen am geeignetsten für eine Informati- beangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit,
onsübertragung sind. Dieser Optimierungsprozess Steuerbarkeit, Erwartungskonformität, Fehlertole-
22 ist besonders wichtig, wenn gleichzeitig mehrere ranz, Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit)
Informationen übermittelt werden müssen oder dient als Basis für eine erfolgreiche Realisierung
Informationen schnell bearbeitet werden sollen. einer Mensch-Maschine-Schnittstelle ebenso wie
23 Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Ein- für die Gestaltung von FAS. Grundsätzlich sollten
teilung der Anzeige keine Auskunft zum Informa- diese Leitsätze, genau wie die Prinzipien, während
24 tionsinhalt und Darstellungsort geben kann. Die des gesamten Gestaltungsprozesses Bedingung sein.
zwei Eigenschaften einer Anzeige sind abhängig von
vielen Faktoren, entsprechend der Komplexität des 34.3.1.1 Aufgabenangemessenheit
25 Informationsverarbeitungsprozesses. Diese Fragen (Funktionszuweisung,
sind Teil des Gestaltungsprozesses und müssen für Komplexität, Gruppierung,
26 jede Aufgabe oder Entwicklung neu überprüft und Unterscheidbarkeit,
an die spezifischen Bedienungen angepasst werden. funktioneller
27 Leitsätze und Prinzipien, die dabei unterstützend Zusammenhang)
wirken, werden im nächsten Unterkapitel vorgestellt. Eine Schnittstelle ist in dem Maße aufgabenange-
messen, wie sie den Benutzer unterstützt, seine Ar-
28 beitsaufgabe sicher, effektiv und effizient zu erledi-
34.3 Gestaltungsleitsätze gen. Dabei lässt sich die Aufgabenangemessenheit
29 und -prinzipien in die Funktionszuweisung, die Komplexität, die
Gruppierung, die Unterscheidbarkeit und den funk-
34.3.1 Gestaltungsleitsätze
30 tionellen Zusammenhang einer Aufgabe unterteilen.
Die Funktionszuweisung beschreibt eine sinn-
Ein übergeordnetes Prinzip bei der Entwicklung volle Verteilung von Funktionen zwischen Mensch
31 von Mensch-Maschine-Schnittstellen besteht darin, und Maschine, die anhand der Betrachtung der Auf-
dass die Maschine und die dazugehörigen Elemente gabenerfordernisse sowie der Eigenschaften, Fähig-
32 wie Anzeigen und Bedienelemente für den Benutzer keiten und Fertigkeiten des Menschen entschieden
und die an sie gestellte Aufgabe geeignet sein müs- wird. Die Komplexität sollte dabei möglichst gering
sen. Um dieses allgemeine Prinzip zu realisieren, gehalten werden. Geschwindigkeit und Genauigkeit
33 muss das System so gestaltet sein, dass die mensch- des menschlichen Agierens sind Variablen, die hier
lichen Charakteristika bzw. Leistungsfähigkeiten Berücksichtigung finden sollten. Insbesondere muss
34 hinsichtlich ihrer physischen, psychologischen und die Komplexität der Aufgabenstruktur sowie Art
sozialen Aspekte berücksichtigt werden. In ▶ Kapi- und Umfang der vom Benutzer zu verarbeitenden
35 tel 1 sind sie untergliedert in drei Kategorien: Eigen-
schaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten.
Information beachtet werden. Die Gruppierung der
Anzeigen und Bedienelemente sollte derart sein,
Einer definierten Schnittstelle entspricht eine dass sie leicht kombiniert genutzt werden können.
36 bestimmte Benutzergruppe. Die klare Zusammen- Wichtig sind auch die Unterscheidbarkeit und die
stellung dieser Gruppe ermöglicht eine präzise Anordnung nach funktionellem Zusammenhang,
37 Identifikation der Leistungsfähigkeiten, die bei der da jederzeit die problemlose Identifizierung zur si-
Auswahl einer Schnittstelle zur Verfügung stehen. cheren Benutzung der verschiedenen Anzeigen und
Weitere übergeordnete Leitsätze zur Gestal- Bedienelemente gewährleistet sein muss.
38 tung von Mensch-Maschine-Schnittstellen sind in
Normen, Richtlinien und Leitfäden beschrieben. 34.3.1.2 Selbstbeschreibungs
39 Die Norm DIN EN ISO 9241-110 [5] beschreibt fähigkeit
sechs ergonomische Leitsätze bzw. Anforderungen, (Informationsverfügbarkeit)
40 die bei der Gestaltung von Schnittstellen (Anzei-
gen und Stellteile) zu berücksichtigen sind. Die
Die Selbsterklärungsfähigkeit einer Schnittstelle be-
steht, wenn der Nutzer ohne Probleme bzw. Zweifel
34.3 • Gestaltungsleitsätze und -prinzipien
639 34
die Anzeigen und die Bedienelemente erkennen Bei der Erwartungskonformität wird unter-
und den Prozess verstehen kann. schieden zwischen erlernten Stereotypen, wie z. B.
Neben dem Verständnis ist ebenfalls das Prin- dem Drehen im Uhrzeigersinn, Stereotypen aus der
zip der Informationsverfügbarkeit von Wichtig- Praxis, wie dem Bremsen in einer Fahrtätigkeit, und
keit, welches Informationen über den Zustand des der Konsistenz zwischen ähnlichen Schnittstellen/
Systems auf Anfrage des Fahrers sofort verfügbar ähnlichen Funktionen.
macht, ohne dadurch andere Aktivitäten zu stören
oder zu vernachlässigen. Das System muss dem 34.3.1.5 Fehlertoleranz
Operator ohne unnötige Verzögerung bestätigen, (Fehlerkontrolle,
dass es seine Handlung akzeptiert hat. Fehlerbehandlungszeit)
Eine Schnittstelle ist fehlerrobust, wenn das beab-
34.3.1.3 Steuerbarkeit (Redundanz, sichtigte Arbeitsergebnis trotz erkennbar fehlerhafter
Zugänglichkeit, Eingaben mit minimalem oder ohne Korrekturauf-
Bewegungsraum) wand erreicht wird. Die Systeme sollten Fehler prüfen
Eine Schnittstelle ist steuerbar, wenn der Benutzer in können und dem Benutzer Mittel zur Handhabung
der Lage ist zu bestimmen, wie er seine gesamte Auf- derartiger Fehler anbieten, wobei zwischen Fehler-
gabe durchführen möchte, wobei nicht das System kontrolle und Behandlungszeit unterschieden wird.
den Nutzer, sondern der Nutzer das System beherr- In Bezug auf FAS treten folgenden Fehler auf:
schen soll. Zur Veranschaulichung der Steuerbarkeit Informationsmangel, fehlende Wahrnehmung, Fehl-
können drei Hauptprinzipien unterschieden werden: interpretation, Fehlentscheidung, fehlerhafte Aus-
Redundanz, Zugänglichkeit und Bewegungsraum. führung. Bei der Gestaltung der Schnittstelle sollen
Vorkehrungen für zusätzliche Anzeigen und diese natürlich vermieden werden oder zumindest
Stellteile sind zu treffen, wenn eine derartige Red- nur minimale Konsequenzen nach sich ziehen.
undanz die Sicherheit des Gesamtsystems erhöhen
und verbessern kann, da in bestimmten Situationen 34.3.1.6 Individualisierbarkeit
Leistungsfähigkeit und Sicherheit des Systems von und Lernförderlichkeit
der Möglichkeit abhängen, dem Benutzer zusätz- (Flexibilität)
liche Informationen zur Verfügung zu stellen. Des Eine Schnittstelle ist anpassungsfähig, wenn sie aus-
Weiteren sollten die Informationen für den Fahrer reichend flexibel ist, um sich an die individuellen
leicht abrufbar und zugänglich sein, was bedeutet, Benutzerbedürfnisse und Benutzerfähigkeiten an-
dass die zur Betätigung nötigen Bewegungen ein- zupassen. Im Hinblick auf Fahrzeug bzw. FAS sol-
zelner Körperteile und Glieder oder eine Körperbe- len auch Parameter, wie die Art zu fahren oder die
wegung vom Fahrer nicht als unbequem aufgefasst Fahrsituationen, betrachtet werden. Hierbei spielen
werden dürfen. die Adaptierbarkeit, die es dem Nutzer ermöglicht,
Änderungen am System vorzunehmen, und die
34.3.1.4 Erwartungskonformität Adaptation, bei der das System selbst Änderungen
(Kompatibilität zum aufgrund des Nutzerverhaltens vornimmt, die Rolle
Erlernten, Kompatibilität einer sinnvollen und nützlichen Ergänzung.
zur Praxis, Konsistenz) Das Erlernen der Benutzung soll vereinfacht
Der Benutzer hat Erwartungen an die Funktions- und mithilfe von Anleitungen unterstützt werden,
weise der Mensch-Maschine-Schnittstelle, die aus was bedeutet, dass vornehmlich beim Fahren – ins-
Kenntnissen bisheriger Arbeitsabläufe, der Ausbil- besondere wenn FAS benutzt werden – die Zeit-
dung und der Erfahrung des Benutzers sowie aus spanne von der bloßen Nutzung bis zur Beherr-
den allgemein anerkannten Übereinkünften resul- schung des Systems so kurz wie möglich gehalten
tieren. Zur Vermeidung einer ungeeigneten Nut- werden soll. Die Auswahl der Schnittstelle beein-
zung oder des Auftretens eines vorprogrammierten flusst die Erfüllung dieses Ziels stark.
Fehlers sollen Funktion, Bewegung und Lage der
Schnittstelle erwartungskonform sein.
640 Kapitel 34 • Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen
che Nutzung Einfluss auf die positive Sichtweise hat. Anzeigen den Zielen der ergonomischen Gestaltung
Ein unangenehmes Gefühl beim Kontakt mit einer nicht zuträglich, da die ergonomischen Prinzipien
Oberfläche kann die Folge haben, dass der Fahrer für das gesamte System Mensch-Maschine-Schnitt-
diesen Kontakt ungern herstellt, wodurch sich z. B. stelle gültig sind. Eine erfolgreiche Gestaltung für
nicht mehr so oft wie möglich bzw. nötig die Para- den Menschen kann nur dann gewährleistet wer-
meter eines FAS werden ändern können. den, wenn das gesamte System betrachtet wird.
Betrachtung des Gesamtsystems: Das Prinzip
der Betrachtung des Gesamtsystems bei der Gestal- Der Erfüllung der ergonomischen Anforderun-
tung von einzelnen FAS wird verstärkt durch den gen bei der Entwicklung von Mensch-Maschine-
aktuellen Trend zur Vermehrung von FAS im Fahr- Schnittstellen dient die Berücksichtigung des Be-
zeug. Eine erfolgreiche Schnittstellengestaltung für nutzers in jeder Phase des Gestaltungsprozesses.
ein System kann zu einem Misserfolg werden, wenn Dabei liefert die Norm DIN EN ISO 9241-201 [6]
Interferenzen mit anderen Schnittstellen oder FAS einen benutzerorientierten Leitfaden für die Gestal-
entstehen. Bei der Gestaltung von mehreren FAS- tung interaktiver Systeme, die in einen multidiszi-
Schnittstellen wird es notwendig, Prioritätskriterien plinären Gestaltungs- bzw. Entwicklungsprozess
zu erstellen und zu berücksichtigen. integriert sein können. Dieser Gestaltungsprozess
Beispiel: Es ist technisch möglich, „integrierte weist vier Hauptschritte auf, die iterativ durchge-
FAS-Schnittstellen“, die viele Funktionen in einer
Anzeige oder einem Bedienelemente gruppieren
-
führt werden (. Abb. 34.2):
Verstehen und Spezifizieren des Nutzungskon-
können, zu gestalten. Mit solchen integrierten
Konzepten wird das Räumlichkeitsprinzip perfekt
- texts,
Spezifizieren der Benutzerbelange und der
erfüllt, doch der Fahrer benötigt ein komplexes
mentales Modell, um das Bedienelement sicher
und schnell betätigen zu können. Es muss überprüft
werden, ob die dadurch entstandene Komplexitäts-
-- vorgegebenen Erfordernisse,
Entwerfen der Gestaltungslösungen,
Bewerten der Lösungen nach benutzerorien-
tierten Kriterien.
erhöhung weiter mit den Leistungsfähigkeiten des
Fahrers kompatibel ist. Bezüglich der Auswahl an Gestaltungslösungen von
Bedienelementen und Anzeigen bieten Kirschner
und Baum [7] Vorgehensweisen (. Abb. 34.3 und
34.4 Gestaltungsprozess 34.4) an, die Schritt für Schritt die Festlegung von
Lösungswegen unterstützen. Diese Schritte sollen
Bei der Beschreibung von Schnittstellen (Anzeige als Teil eines iterativen Prozesses durchgeführt wer-
und Bedienelemente) ist eine separate Betrachtung den, ausgewählte Lösungen werden anhand von
möglich. Dies wäre allerdings speziell beim Schnitt- Tests unter realistischen Bedingungen überprüft,
stellengestaltungsprozess von Bedienelementen und um so die Erfüllung der Anforderungen zu gewähr-
642 Kapitel 34 • Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen
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leisten. Im Folgenden sind beide Auswahlprozesse
beschrieben. - Handlungsorgan, Körperhaltung, Greifart/
Tretart: Überprüfung der Relevanz der un-
terschiedlichen Eingabemöglichkeiten. Die
37
38
-
Auswahl von Bedienelementen (. Abb. 34.3):
Aufgabe, Anforderungen: Zu Beginn des
Gestaltungsprozesses müssen Anforderun-
gen an das Bedienelement bezüglich der zu
Körperhaltung und die nötigen Bewegungen,
obwohl im Fahrzeug eingeschränkt, sollen
berücksichtigt werden, insbesondere in Bezug
auf die Häufigkeit und die Dauer der Hand-
erfüllenden Aufgabe formuliert werden. Eine lung bzw. der Nutzung. Bei der Auswahl der
39 Zuordnung der Anforderungen kann benötigt Greifart/Tretart spielt die Stellkraft eine beson-
40
werden, wenn beispielsweise ein Widerspruch
vorliegt oder der Stand der Technik nicht zur
vollständigen Erfüllung ausreicht. - dere Rolle.
Art des Bedienelements: Die Festlegung der
Art des Bedienelements richtet sich direkt und
34.5 • Praxis und Gestaltungsprozess
643 34
- berücksichtigen.
Bedienrichtung, Bedienweg, Bedienwiderstand:
Festlegung der technischen Details der Bedie-
werden und als Basis für die Zuordnung der
Anzeigen dienen (z. B. Soll-Wert und Ist-West
nah voneinander angezeigt), wobei die Kom-
- nelementbewegungen.
Form, Abmessungen, Material, Oberfläche: De-
-
plexität des Informationsverarbeitungsprozes-
ses berücksichtigt werden soll.
-
Auswahl von Anzeigen (. Abb. 34.4):
Informationsaufgabe, Anforderungen: Zu
Beginn des Gestaltungsprozesses müssen
Anforderungen an die Anzeigen festgelegt
- ten Anzeigen stellt sich hier ein weiteres Mal.
Detaillierung des Anzeigedesigns: U. a. werden
Parameter wie Kontrast, Schriftgröße, Ska-
len, Änderungsgeschwindigkeit, Farbe, Töne,
werden. Diese Informationen unterstützen Frequenz des Signals usw. festgestellt. Dabei
den Informationsverarbeitungsprozess zur Er- werden u. a. die Anzeigenanforderung, die ergo-
füllung der Aufgabe. Der Zweck der Informa- nomischen Regeln, die Unterscheidbarkeit und
tion (die Überwachung eines veränderlichen die technischen Möglichkeiten berücksichtigt.
Zustands, die Kontrolle einer Einstellung…),
die Genauigkeit der Informationsaufnahme
(ablesen, Wahrnehmung orientieren…), 34.5 Praxis und Gestaltungsprozess
der Informationsinhalt (Ist-Wert, Soll-Wert,
Differenzwerte…) sollen definiert werden. Mit der Erweiterung der Funktionen eines ACC-
Besondere Beachtung soll der Menge an zu Systems im Niedriggeschwindigkeitsbereich stellt
644 Kapitel 34 • Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen
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sich noch einmal die Frage der Schnittstelle. Mit zu übermittelnden ACC-relevanten Information
36 dem neuen System sind die Fahrsituationen, in wel- ist also signifikant erhöht durch die Erhöhung der
chen das System aktiv sein kann, erweitert worden, ACC-Status-Änderungen.
37 bzw. ihre Auftrittsfrequenz hat sich geändert: Stadt- Bei der Vermittlung von ACC-Informationen
verkehr mit niedriger Geschwindigkeit, 90°-Kurve, stellen sich mehrere Fragen: Kann der visuelle Ka-
Vorfahrtsstraße sind nur einige zu nennende Ein- nal weiter belastet werden? Gibt es andere Orte
38 satzmöglichkeiten. der Darbietung außer dem Tachobereich? Sind
Durch diese Veränderungen hat sich die Belas- die gestellten Informationen für die Fahrsituation
39 tung des Fahrers modifiziert, beispielsweise ist der relevant?
visuelle Kanal im Stadtverkehr durch die Komple- Der Fahrer ist durch die Situation und Umge-
40 xität der Fahrumgebung einer höheren Belastung
ausgesetzt als auf einer Autobahn. Die Menge der
bung sehr viel mehr gefordert und abgelenkt als auf
einer Autobahn, sodass er wenig Zeit hat, um auf
Literatur
645 34
Literatur
Bedienelemente
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder
Dieses Kapitel liefert eine Übersicht der Anfor- Befriedigung des Unterhaltungs- oder Komfortbe-
1 derungen an die Bedienelemente für Fahreras- dürfnisses des Fahrers: Hierzu zählt beispielsweise
sistenzfunktionen und die daraus resultierenden die Bedienung des Radios [3].
2 Gestaltungsmöglichkeiten: Dem Leser wird eine Wie in . Abb. 34.1 in ▶ Kap 34 zu erkennen ist,
Vorgehensweise zur Gestaltung von Bedienelemen- haben Bedienelemente neben ihrer Eingabefunk-
ten an die Hand gegeben. Die allgemeinen Empfeh- tion an das Fahrerassistenzsystem die Aufgabe, In-
3 lungen werden durch konkrete Hardwarebeispiele formationen an den Fahrer zurückzumelden. Dies
verdeutlicht, um den Zugang zur Thematik zu er- kann beispielsweise eine Information über den
4 leichtern und die mittlerweile reichhaltige Menge momentanen Systemzustand oder eine Bestätigung
verschiedener Bedienelemente darzustellen. einer getätigten Eingabe sein.
5 Unter einem Bedienelement wird allgemein eine In ▶ Kap. 34 wurde die strukturierte Vorgehens-
technische Einrichtung an der Schnittstelle zwi- weise zur Gestaltung von Bedienelementen nach
schen Mensch und Maschine verstanden, mit deren Kirchner und Baum [4] vorgestellt. Die Gliederung
6 Hilfe eine steuernde oder regelnde Einwirkung auf des vorliegenden Kapitels lehnt sich an diesen Pro-
den technischen Prozess oder den Funktionsablauf zess an.
7 vorgenommen wird; der Begriff wird in der Regel
synonym zum Begriff „Stellteil“ verwendet.
Meist stellen Bedienelemente im Auto finger-, 35.1 Anforderungen
8 hand- oder fußbetätigte Schnittstellen dar [1]; zu an Bedienelemente
diesen Hardwareelementen treten inzwischen zu- für Fahrerassistenzsysteme
9 nehmend Eingabemöglichkeiten hinzu, die wie Ges-
tik- oder Spracheingabe auf Erkennertechnologien Im Regelfall gelten für die Gestaltung von Bedien
10 basieren. Bisher sind diese im Zusammenhang mit elementen zur Nutzung von Fahrerassistenz-
Fahrerassistenzfunktionen jedoch von geringer Re- systemen vergleichbare Anforderungen, wie sie
levanz. grundlegend auch für die Bedienung von anderen
11 Zu unterscheiden sind Bedienelemente, die Fahrfunktionen formuliert sind.
dazu genutzt werden, Fahrerassistenzfunktionen in Da die Benutzung häufig während der Fahrt
12 voneinander getrennten Einzeleingaben ein- oder erfolgt, soll sie mit möglichst geringer Ablenkung
auszuschalten, und solche, die dazu dienen, eine und im Sinn einer hohen Bediensicherheit zielsi-
bestimmte Fahrerassistenzfunktion schrittweise zu cher und fehlerfrei erfolgen. Dies gilt in besonderem
13 parametrieren. Hinzu kommen Bedienelemente, Maß für Bedienelemente, die im Zusammenhang
die dem Fahrer ermöglichen, die Fahrzeugführung mit Fahrerassistenz stehen. Die wichtigsten Gestal-
--
14 mehr oder weniger kontinuierlich in Kooperation tungsziele sind:
mit einem Fahrerassistenzsystem zu bewältigen [2]. schnelle,
35 Durch Bedienelemente führt der Fahrer Fahraufga-
ben aus, die sich in primäre, sekundäre und tertiäre
-- sichere,
intuitive und
16
17
Aufgaben unterteilen lassen. Zur primären Fahr-
aufgabe zählt der eigentliche Fahrprozess – also das
sichere Halten des Fahrzeugs auf der Fahrbahn. Se-
kundäre Fahraufgaben sind Aufgaben, die sich aus
- präzise Bedienung,
kompatibel mit der entsprechenden Funktion
bzw. den einzustellenden Parametern, so dass
beispielsweise die Erhöhung eines Wertes mit
den Verkehrsregeln sowie Verkehrs- und Umweltbe- einer Eingabe nach oben oder im Uhrzeiger-
dingungen ergeben: Hierzu gehören beispielsweise sinn vorgenommen wird.
18 das Schalten, die Bedienung des Fahrtrichtungsan-
zeigers, aber auch die Bedienung von Assistenzsys- Im Folgenden werden die Maßnahmen dargestellt,
-
19 temen, wie Adaptive Cruise Control (ACC). Tertiäre die dazu dienen, diese Gestaltungsziele zu erreichen:
Fahraufgaben stehen mit der eigentlichen Fahrauf- die Bestimmung von Handlungsorgan, Kör-
20 gabe nicht in Verbindung, sondern dienen nur der perhaltung und Greifart,
35.3 • Festlegung der Bedienteilart
649 35
--
.. Abb. 35.1 Zusammenstellung der Greifarten (nach [6])
-- unbefugtem Stellen,
die Anordnung im Innenraum,
die Festlegung von Rückmeldung, Bedienrich-
Bedienkraft über den Fuß oder einen Umfas-
sungsgriff der Hand (Armbewegung) erreichbar,
während für eine hohe Bediengenauigkeit der Fin-
1
2
3
4
.. Abb. 35.2 Bedienfeld Fahrerassistenzsysteme im BMW 7er
5 (Quelle: BMW AG)
6
7
8
9
10
.. Abb. 35.3 ACC-Bedienelement [9]
12
nach dem Zweck der Betätigung, den Anforderungen
an Bediengenauigkeit, Bediengeschwindigkeit und
13 Länge der Bewegungsstrecke sowie nach den Gege-
benheiten im Fahrzeugcockpit. Für diskrete Stellauf-
14 gaben werden häufig Drucktaster und -schalter sowie
Tastwippen verwendet. Drehsteller und Hebel eignen
35 sich sowohl für diskrete als auch für kontinuierliche
--
.. Abb. 35.4 Softkeys [10]
Eingaben: Beispielsweise wird der Lichtschalter im
das Ein-/Ausschalten einer Funktion, Fahrzeug häufig als ein diskreter und die Tempe-
-
16 das Parametrieren und Einstellen von Werten, ratureingabe der Klimaanlage als ein kontinuierli-
die dauerhafte Eingabe im Sinn einer koope- cher Drehsteller ausgeführt; das ACC-System wird
17 rativen Fahrzeugführung, bei der primäre oft durch einen Hebel mit diskreten Rastpositionen
Fahrzeugführungsaufgaben gemeinsam von ein- und ausgeschaltet. Die kontinuierliche Einstel-
Fahrer und Automation ausgeführt werden lung der gewünschten Zeitlücke erfolgt oft ebenfalls
18 (vgl. ▶ Kap. 58), unterschieden werden. durch einen Hebel. Werden in Bedienelemente Aktu-
atoren integriert, um dem Bediener haptisches Feed-
19 Aus der Bedienaufgabe leitet sich somit ab, ob das back über den momentanen Systemzustand geben zu
Bedienelement diskretes Bedienen in Stufen oder können, spricht man von aktiven Bedienelementen;
20 kontinuierliches Bedienen ermöglichen soll. Die diese eignen sich beispielsweise für eine kontinuier-
Festlegung der Bedienteilart richtet sich außerdem liche kooperative Fahrzeugführung [7].
35.4 • Vermeiden von unbeabsichtigtem und unbefugtem Stellen
651 35
Ursprünglich war jedes Bedienelement fest mit vom Verkehrsgeschehen abgewendet und der Fah-
einer Funktion verknüpft; diese „Hardkeys“ ermög- rer kognitiv beansprucht wird. Eine Blindbedienung
lichen dem Fahrer, jederzeit auf die entsprechende von Touchscreens ist zudem praktisch unmöglich,
Funktion direkt zuzugreifen (. Abb. 35.2). Da die da Schaltflächen nicht taktil identifiziert werden
zunehmende Anzahl von Bedienelementen durch können und die haptische Rückmeldung fehlt.
die Ausbreitung von elektronischen Systemen im
Fahrzeug zu Unübersichtlichkeit und Bauraum-
problemen führen würde und auch der Greifraum 35.4 Vermeiden
des Fahrers begrenzt ist, werden häufig mehrere von unbeabsichtigtem
Bedienteile in ein integriertes Bedienelement zu- und unbefugtem Stellen
sammengefasst [8]. Der Hebel zur Bedienung der
ACC-Funktionen ist hierfür ein geeignetes Beispiel Gerade bei sicherheitsrelevanten Funktionen muss
(. Abb. 35.3). Bei „Softkeys“ erfolgt die Funktions- ein unbeabsichtigtes Stellen vermieden werden.
zuordnung kontextabhängig in einem zugeordne- Dazu können die folgenden Maßnahmen ange-
ten Bildschirmbereich (. Abb. 35.4), d. h. mit einer wendet werden: die Anordnung an Orten mit ge-
Taste können verschiedene Funktionen bedient ringer Berührungswahrscheinlichkeit, gute Un-
werden. Menüsysteme mit Display und zentralem terscheidbarkeit anhand verschiedener Kriterien
Bedienelement (. Abb. 35.5) sowie Touchscreens – Form, Größe, Lage, Gestalt, Farbe – notwendige
(. Abb. 35.6) ermöglichen ebenfalls die Benutzung Bestätigungen im Dialogablauf bei Eingaben oder
einer großen Anzahl an Funktionen. Im Hinblick auf prinzipiell auch Abdeckungen oder Entriegelungs-
die Bediensicherheit und den schnellen Zugriff auf mechanismen bei besonders sensitiven Funktionen.
einzelne Funktionen können aber durchaus Nach- Beispielsweise ist das Bedienfeld für Fahrerassis-
teile im Vergleich zur direkten Tastenbedienung tenzsysteme bei BMW (. Abb. 35.2) in der Regel
entstehen, da zur Bedienung der Blick längere Zeit an der Instrumententafel links vom Lenkrad ange-
652 Kapitel 35 • Bedienelemente
14
scheidbarkeit der Bedienelemente zu sorgen.
-- Lenkrad,
in den Speichen des Lenkrads,
im Bereich der Mittelkonsole vor der Armab-
-
35.5 Festlegung der räumlichen
35 Anordnung und geometrische
lage,
im zentralen Bereich der Mittelkonsole im
Integration Übergang zum Instrumententräger.
16
Nach DIN EN 894-3 [5] sollten u. a. die Bedienwich-
17 tigkeit und -häufigkeit sowie die Bedienreihenfolge 35.6 Festlegung von Rückmeldung,
bei der Platzierung und Gruppierung von Bedie- Bedienrichtung, -weg
nelementen berücksichtigt werden. und -widerstand
18 Je wichtiger ein Bedienelement für die sichere
Fahrzeugführung ist, desto zentraler muss es im op- Dem Bediener soll der eingestellte Zustand der
19 timalen Sicht- und Greifbereich liegen. Elemente, bedienten Funktion (z. B. ACC ein/aus) oder Pa-
die im Zusammenhang mit Notfunktionen oder der rameter (z. B. Größe der gewünschten Zeitlücke
20 Abschaltung von Funktionen stehen, müssen immer bei ACC) adäquat angezeigt werden: Dies kann ei-
gut erreichbar sein. nerseits in Form einer in das Element integrierten
35.6 • Festlegung von Rückmeldung, Bedienrichtung, -weg und -widerstand
653 35
.. Abb. 35.8 Definition
der Auslegungszonen/
Cockpitbereiche im
Fahrzeug
.. Abb. 35.9 Räumliche
Anordnung von Dreh-
knöpfen und Schiebe-
reglern mit zugehörigen
Bewegungsstereotypen
[16] nach [17]
Beleuchtung (LED), andererseits auch durch eine handlungen führt. Die Sinnfälligkeit der Bedien-
Lagecodierung (Neigungswinkel, Rastposition einer richtungen ergibt sich aus Bewegungsstereotypen,
Taste) geschehen. Alternativ kann die Information s. (. Abb. 35.9); darüber hinaus soll die Bewegungs-
in einem entsprechenden Display angezeigt werden, richtung des Bedienelements mit der intendierten
wobei der örtliche Bezug zum Bedienelement her- Bewegungsrichtung des Systems übereinstimmen
gestellt werden muss. Generell gilt die Grundregel, (Bewegungseffekt-Stereotypie).
dass eine multimodale redundante Codierung, die Beim ACC-Bedienelement (. Abb. 35.3) wird
mehrere Sinneskanäle des Fahrers anspricht, für die gemäß der Stereotypen die Wunschgeschwindigkeit
Rückmeldung empfehlenswert ist. beim Tippen des Hebels nach oben erhöht und nach
Die Bedienrichtung von Bedienelementen sollte unten abgesenkt.
sinnfällig sein, da der Vorteil einer solchen Bewe- Der Bedienweg und -winkel ist der Weg, der
gungsrichtung die schnelle Erlernbarkeit ist und beim Bedienen des Bedienelements zurückgelegt
es in schwierigen Situationen weniger oft zu Fehl- wird; jedoch müssen nicht alle Bedienelemente
654 Kapitel 35 • Bedienelemente
9
- lung des Bedienelements leicht erkennbar ist,
beim stufenweisen Bedienen Schaltstellungen
Symboliken [18]; im Fall mehrerer Funktionen in
unmittelbarer Nähre ist auch darauf zu achten, dass
Anzeigen
für Fahrerassistenzsysteme
Peter Knoll
Der Autofahrer muss eine ständig wachsende Flut zelinstrumente wie Drehzahlmesser, Tankanzeige
21 von Informationen verarbeiten, die vom eigenen und Kühlwasserthermometer hinzu. Bis Anfang
und von fremden Fahrzeugen, von der Straße und der 1960er Jahre wurden die Einzelinstrumente aus
22 über Telekommunikationseinrichtungen auf ihn Kosten- und Designgründen durch Kombiinstru-
einwirken. Diese Informationen müssen ihm mit mente verdrängt. Im Bereich der Mittelkonsole
geeigneten Anzeigemedien und unter Beachtung dominierte das nachrüstbare Autoradio. Durch die
23 ergonomischer Erfordernisse übermittelt werden. Entwicklung weiterer elektronischer Komponen-
Bis in die 1980er Jahre bestand die Informations- ten im Kraftfahrzeug und die Notwendigkeit ihrer
24 einheit für den Fahrer aus wenigen Anzeigeelemen- Überwachung wurde im vorhandenen Bauraum
ten. Tachometer mit Kilometerzähler, Tankanzeige immer mehr Information untergebracht, was z. T.
und einige Kontrollleuchten informierten über die zu unübersichtlichen Instrumenten führte.
25 wichtigsten Betriebszustände des Fahrzeugs. Der
zunehmende Einsatz von Elektronik im Kraftfahr- Von dieser Basis ausgehend entwickelten sich zwei
-
26 zeug führte zu immer mehr Informationsbedarf und Entwicklungspfade:
damit zu mehr Interaktionsmöglichkeiten zwischen Digitalinstrumente . Während sich solche
27 Fahrer und elektronischen Systemen. Instrumente in den USA und in Japan –
insbesondere in Fahrzeugen der Oberklasse
– etabliert haben, stieß in Europa die digitale
28 36.1 Heutige Displaykonzepte Darstellung der Geschwindigkeit auf ge-
im Kraftfahrzeug ringe Akzeptanz. Bedauerlich ist, dass durch
29 diese Entwicklung die Vorteile der digitalen
36.1.1 Kommunikationsbereiche Geschwindigkeitsanzeige nicht zum Einsatz
im Fahrzeug
30 kamen, obwohl digital dargestellte Geschwin-
digkeit schneller und exakter ablesbar ist als
31
32
Eine Analyse, welche Information aus der Vielfalt
des verfügbaren Informationsangebots für welchen
Fahrzeugpassagier notwendig, zweckmäßig oder
wünschenswert ist, führt zu vier verschiedenen
- die Information von Zeigerinstrumenten [3].
Beibehaltung des Erscheinungsbildes mit
Zeigern . Dies entspricht auch heute noch
dem weltweiten Standarddesign von Kombi-
33 -
Anzeigebereichen. Diese sind:
das Kombiinstrument (KI) für die Darstellung
fahrerrelevanter Information am Rand des
instrumenten. Allerdings hat sich hinter dem
Zifferblatt ein erheblicher technischer Wandel
vollzogen.
34
35
- primären Blickfeldes des Fahrers;
die Windschutzscheibe für die Darstellung
fahrerrelevanter Information im primären
Blickfeld ohne Blickabwendung und ohne
Wegen des geringen vorhandenen Einbauraums in
der oberen Instrumententafel und auch wegen der
Ablenkungsgefahr wurde die Information neuer
- Akkommodation;
die Mittelkonsole für die Darstellung fahrer-
Systeme, stimuliert durch die Navigation, nicht im
Kombiinstrument platziert, sondern in der Mittel-
-
36 und beifahrerrelevanter Information; konsole. Hier bot sich die Zusammenfassung des
der Fahrzeugfond als mobiles Büro oder als Autoradioausschnitts und des Aschenbechers zur
37 Unterhaltungsbereich für die Kinder [1]. Schaffung eines neuen Einbauraums als kurzfristige,
pragmatische Lösung an.
Die Kraftfahrzeuginstrumentierung im Bereich der Durch die Enge im Zifferblattbereich aufgrund
38 Instrumententafel ist in ihrer zeitlichen Entwick- immer neuer Warnanzeigen und zusätzlicher Infor-
lung in . Abb. 36.1 skizziert [2]. mation (wie Wegleitinformation und Bordrechner)
39 Zu Beginn der Automobilinstrumentierung war man gezwungen, Grafikmodule einzusetzen,
gab es lediglich einen Geschwindigkeitsmesser die diese Fülle von Zusatzinformation anzeigen
40 und wenige Warnlampen für die Überwachung der
wichtigsten Funktionen. Später kamen weitere Ein-
können und außerdem in der Lage sind, dem
Fahrer Handlungshinweise zu geben . Moderne
36.1 • Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
661 36
Fahrzeuge der Oberklasse zeigen daneben vor- beim Einsatz dieser Technik wird man nicht auf den
zugsweise Funktionen wie z. B. Service-Intervalle, zusätzlichen Bildschirm im Bereich der Mittelkon-
Checkfunktionen, Fahrzeugdiagnose für die Werk- sole verzichten können.
statt u.v.a.m. an. Vorteilhaft an der Anordnung des Um die Vorteile einer Informationsaufnahme
Grafikdisplays auf Höhe des KI in der Nähe des pri- ohne Akkommodation auf den Nahbereich bei mi-
mären Blickfeldes des Autofahrers ist seine rasche nimaler Blickabwendung zu nutzen, bietet sich der
Ablesbarkeit ohne lange Blickabwendung. Module Einsatz eines Head-up-Displays (HUD) an, das
dieser Art wurden zunächst in monochromer Aus- primär aus dem militärischen Bereich bekannt ist.
führung im Fahrzeug eingesetzt, dann aber rasch
durch Farbdisplays ersetzt, da die Vorzüge der
Farbdarstellung in Bezug auf Ablesegeschwindig- 36.1.2 Displays
keit und -sicherheit außer Zweifel stehen. für das Kombiinstrument
Der nächste, konsequente Schritt ist der Er-
satz mechanischer Instrumente durch Grafik- Der überwiegende Anteil der Instrumente arbeitet
Bildschirme . Mit dem weiteren Preisverfall von mit mechanischen Messwerken mit Zeigern und Zif-
Laptop-Bildschirmen werden in Zukunft kosten- ferblatt. Die voluminösen Wirbelstromtachometer
günstige Flachbildschirme zur Verfügung stehen, wurden zuerst durch viel kompaktere und elek-
die eine Darstellung eines virtuellen mechanischen tronisch ansteuerbare Drehmagnetquotienten-
KI zulassen. Erste Fahrzeugmodelle der Luxusklasse messwerke ersetzt, inzwischen dominieren robuste
machen von dieser Technik bereits Gebrauch und Getriebe-Schrittmotoren mit sehr geringer Bautiefe.
benutzen einen größeren LCD-Bildschirm zur . Abbildung 36.2 zeigt das Kombiinstrument des
Nachbildung des Tachometers mit zahlreichen Zu- Golf III mit vier Schrittmotoren und drei Flüssig-
satzinformationen. Der nächste Schritt, sämtliche kristallanzeigen für Kilometerstand und Bordrech-
Informationsinhalte des KI mit einem Flachbild- ner in den Zifferblattausschnitten sowie der Gang-
schirm anzuzeigen, ist auch schon vollzogen. Auch anzeige (rechts oben) [4].
662 Kapitel 36 • Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme
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29 .. Abb. 36.2 Geöffnetes Kombiinstrument in Auflichttechnik mit Schrittmotoren, (links: Platine mit Schrittmotoren, rechts:
Zifferblätter und Displays)
30
31
36.1.2.1 Zifferblattbeleuchtung
Ursprünglich besaßen Kombiinstrumente Ziffer-
blätter aus Blech, die in Auflichttechnik mit Glüh-
- EL-(Elektrolumineszenz-)Folien besitzen eine
sehr gleichmäßige Lichtverteilung, sind aber
erst seit etwa 2000 automobiltauglich. Sie
lampen beleuchtet wurden. Inzwischen hat sich bieten größere Gestaltungsfreiheit. Allerdings
32 die Durchlichttechnik wegen des ansprechenderen sind sie noch deutlich teurer als die konventio-
Erscheinungsbildes durchgesetzt. Später wurden nelle Lichtleiter-Lösung [5].
Glühlampen von Leuchtdioden (LED) verdrängt.
33 LED eignen sich gleichermaßen für Kontroll- und 36.1.2.2 Digitale Anzeigen
Warnleuchten wie auch für die Hinterleuchtung von Alphanumerische Displays in Flüssigkristalltech-
34 Skalen, Displays und Zeigern, letztere über Kunst- nik (LCD) und in Vakuumfluoreszenztechnik
stoff-Lichtleiter. (VFD) gehören mittlerweile zum Standard in
35 Für spezielle Gestaltungsformen werden jedoch
Kombiinstrumenten zur Anzeige von z. B. Kilo-
meterstand und Bordrechner. Diese Technologien
36
37
-
auch besondere Techniken eingesetzt, nämlich:
Mit CCFL (Kaltkathoden-Fluoreszenz-Lam-
pen) ergibt sich bei Kombination mit einer
getönten Deckscheibe (z. B. 25 % Transmis-
lassen auch die Realisierung ganzer Kombiinstru-
mente in Digitaltechnik zu, wobei die Instrumente
üblicherweise aus mehreren Modulen zusammen-
gesetzt wurden. . Abbildung 36.3 [6] zeigt die
sion) mit diesen sehr hellen Lampen ein bril- Ansicht des Digitalinstruments des Audi Quattro
lantes Erscheinungsbild mit ausgezeichnetem in LCD-Technik (1986). Im rechten Teilbild sieht
38 Kontrast. Auch Farb-LCDs erforderten wegen man auch die, mit diesem Instrument erstmalig
der geringen Transmission (typischerweise ca. eingeführte, Chip-on-Glass-Technik, bei der An-
39 6 %) zur Erzielung eines guten Kontrastes bei steuerbausteine direkt auf das Glas aufgebondet
Tageslicht bislang CCFL-Hinterleuchtungen. werden [6].
40 Sie wurden mittlerweile weitestgehend durch
weiße LEDs ersetzt.
Mit diesen segmentierten Anzeigen ist eine re-
alistische Nachbildung mechanischer Zeiger nicht
36.1 • Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
663 36
möglich, man muss die Geschwindigkeit daher di- wird. Der nächste Schritt einer vollständigen Subs-
gital anzeigen. titution aller mechanischen Instrumente durch eine
vollflächige AMLCD-Anzeige, wurde in der neuen
36.1.2.3 Grafikmodule Mercedes S-Klasse (2013) vollzogen, s. . Abb. 36.8a.
Die Zunahme der Informationsmenge im Kom-
biinstrument macht grafikfähige Anzeigemodule
erforderlich, deren Anzeigeflächen beliebige Infor- 36.1.3 Head-up-Display (HUD)
mationen – flexibel und nach Prioritäten geordnet
– darstellen können. Diese Tendenz führt zur Ins- Herkömmliche Kombiinstrumente sind in einem Be-
trumentierung mit klassischem Zeigerinstrument, trachtungsabstand von 0,8 … 1,2 m angeordnet. Zum
ergänzt um eine Grafikanzeige. . Abbildung 36.4 [6] Ablesen einer Information muss der Fahrer seine
zeigt als Beispiel die Darstellung einer Einparkemp- Augen von unendlich (Beobachtung der Straßen-
fehlung des Einparkassistenten. szene) auf den kurzen Betrachtungsabstand für das
Grafikmodule im Kombiinstrument können Instrument akkommodieren. Dieser Akkommoda
neben den oben erwähnten fahrer- und fahrzeu- tionsprozess dauert gewöhnlich 0,3 … 0,5 Sekunden.
grelevanten Funktionen auch Wegleitinformatio- Diese Situation kann durch Verwendung eines
nen aus dem Navigationssystem (Richtungspfeile) Head-up-Displays (HUD) deutlich verbessert wer-
darstellen. Den zunächst monochrom ausgeführ- den. Das Bild des HUD wird über die Windschutz
ten Modulen folgen inzwischen bei höherwertigen scheibe in das primäre Blickfeld des Fahrers einge-
Fahrzeugausstattungen Farbdisplays. spiegelt. Das optische System des HUD erzeugt ein
virtuelles Bild in einem Betrachtungsabstand von
36.1.2.4 Grafikbildschirme im etwa 2–3 m, sodass das Auge auf unendlich akkom-
Kombiinstrument modiert bleiben kann. Das HUD erfordert keine
Seit 2005 werden auch größere Grafikbildschirme in Blickabwendung von der Fahrbahn, kritische Fahr-
AMLCD-Technik (AMLCD = Aktiv-Matrix-LCD) situationen können so ablenkungsfrei wahrgenom-
im Kombiinstrument für Grafikdarstellung (z.B. In- men werden. Auch die Ablesung der eingespiegelten
formation eines Nachtsichtsystems) wie auch für die Geschwindigkeit ist ohne Blickabwendung möglich.
Darstellung analoger Instrumente genutzt. . Abbil- . Abbildung 36.7 zeigt das Erscheinungsbild eines
dung 36.5 zeigt das Kombiinstrument der Mercedes HUD [6].
S-Klasse (2005) bestehend aus der Kombination ei- Head-up-Displays werden als einfache Digital-
nes 8“-AMLCD-Bildschirms mit 3 kleinen mecha- tachos mit wenig Zusatzinformation (Fahrtrich-
nischen Instrumenten. Das linke Teilbild zeigt das tungsanzeiger und 2–3 Warnsymbole) seit vielen
Instrument im normalen Betriebsmodus, das rechte Jahren, vor allem in Japan, als Sonderausstattung
Teilbild im Nachtsichtmodus. Bei Umschaltung auf angeboten, mittlerweile auch von einigen europä
die Nachtsichtfunktion erscheint das aufbereitete ischen Herstellern als Option.
Videobild der Kamera, während die Tachoanzeige Ein typisches HUD enthält ein Anzeigemodul
in Balkenform unter dem Videobild dargestellt zur Bilderzeugung, eine Beleuchtung, eine Ab-
664 Kapitel 36 • Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme
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29
.. Abb. 36.5 Kombiinstrument mit großem Grafikdisplay mit Möglichkeit zur Anzeige von Nachtsichtinformation Head-up
30 Grafikdisplay, Anzeige von Geschwindigkeit und ACC-Information
bildungsoptik und einen Combiner (spiegelnde, onen wie Warnanzeigen, Wegleitinformation oder
31 lichtdurchlässige Scheibe), an dem das Bild in das der Sicherheitsabstand sind hingegen sehr gut für
Auge des Betrachters reflektiert wird, . Abb. 36.6. HUD-Darstellungen geeignet [11].
32 Optische Elemente im Strahlengang (im Allgemei- Als Display für monochrome HUD mit gerin-
nen Hohlspiegel) vergrößern den Bildabstand. Der gem Informationsgehalt werden ultrahelle VFD (Va-
Combiner wird durch die Windschutzscheibe, even- kuumfluoreszenzdisplays, meist grün) oder beson-
33 tuell mit einer zusätzlichen Reflexionsschicht, gebil- ders kontrastreiche Segment-TN-LCD eingesetzt.
det. Zur Vermeidung von Doppelbildern, die durch
34 Reflexionen an den inneren und äußeren Grenzflä-
chen der geneigten Windschutzscheibe entstehen, 36.1.4 Zentrale Anzeige-
und Bedieneinheit
35 wird die Verbundglasscheibe durch Integration ei-
ner keilförmigen Folie leicht keilförmig ausgeführt. in der Mittelkonsole
Aus Fahrersicht decken sich dann die beiden an den
36 Grenzflächen entstehenden Bilder. Ein Zentralbildschirm in der Mittelkonsole gestattet
Für den Fahrer überlagert sich das HUD-Bild die Integration mehrerer Funktionen in einer kom-
37 der Straßenszene, siehe . Abb. 36.7. Wegen Ablen- pakten Anzeige- und Bedieneinheit. Auslöser für
kungsgefahr soll es die Straßenszene nicht überde- diese Art von Anzeigen waren Navigationssysteme,
cken; es wird deshalb in einer Region mit niedrigem die Ende der 1980er Jahre in Serie eingeführt wur-
38 Informationsgehalt, über der Motorhaube "schwe- den. Neben dieser Funktion können Funktionen wie
bend", dargestellt . Abb. 36.7 zeigt ein Beispiel. Bedienung von Heizung, Klima, Telefon sowie aller
39 Zur Vermeidung von Reizüberflutung im primären Audio-Funktionen dargestellt und über die zentrale
Blickfeld darf das HUD nicht mit Information über- Tastatur bedient werden. Da diese Informationen
40 laden werden. Es ist daher niemals ein Ersatz für das
Kombiinstrument. Sicherheitsrelevante Informati-
den Fahrer wie auch Beifahrer betreffen, ist eine
Anordnung dieses universell nutzbaren Terminals
36.1 • Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
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38
.. Abb. 36.8 Instrumententafel der neuen Mercedes S-Klasse (2013)
39
tigt ist. Zumeist handelt es sich hierbei um Naviga- über eine Bluetooth-Schnittstelle mit anderen Fahr-
40 tionssysteme, die mittlerweile preiswert angeboten
werden. Diese Systeme sind autark und können z. T.
zeugkomponenten (im Allgemeinen Audiosystem)
kommunizieren. Wegen der guten Darstellungsei-
36.2 • Anzeigen für das Kraftfahrzeug
667 36
genschaften von AMLCD-Bildschirmen kommen der Umgebungsleuchtdichte. Hier ist der Kontrast
diese Anzeigen auch für diese so genannten „No- die entscheidende Größe, der durch die Leuchtdich-
madic Devices“ zum Einsatz. ten von Zeichen und Hintergrund bestimmt wird.
Bedauerlicherweise verfügen diese Geräte z. T. Er ergibt sich zu:
über sehr kleine Bedienelemente und eigene, mit
der Bedienphilosophie des Fahrzeugherstellers LZ
KD
nicht konvergente Menüstrukturen, sodass von LU
diesen Geräten die Gefahr einer größeren Ablen-
kung ausgeht, als sie von den integrierten Systemen also das direkte Verhältnis zwischen Zeichenleucht-
erwartet werden muss. Die EU hat bereits ihre Sorge dichte LZ und Umgebungsleuchtdichte LU.
angemeldet und erwägt gesetzliche Vorgaben für die Daneben wird zwischen den beiden Kontra-
Gestaltung dieser Mensch-Maschine-Schnittstellen. starten unterschieden: Dunkel/Hell-Kontrast mit
dunklen Zeichen auf hellem Grund wird „Positiv-
kontrast“ genannt. Bei Hell/Dunkel-Kontrast mit
36.2 Anzeigen für das Kraftfahrzeug hellen Zeichen im dunklen Umfeld (Kraftfahrzeug-
instrumente) spricht man von „Negativkontrast“.
Aus der Vielzahl der verfügbaren Display-Techno- Üblicherweise wird der Zähler oder der Nenner zu
logien konnten sich nur wenige für den Einsatz im 1 normiert (z. B. K = 1 : 8 oder 10 : 1), je nachdem, ob
Kraftfahrzeug durchsetzen. Zunächst dominierten es sich um ein Positiv- oder Negativkontrastdisplay
rein mechanische Messwerke, kombiniert mit weni- handelt.
gen Kontrollleuchten. Durch die Entwicklung mo- Die Erkennbarkeit der Anzeige wird vom Be-
derner Displaytechniken wurde die Mechanik nahezu trachter im Allgemeinen subjektiv bewertet: So wird
vollständig durch elektronische Anzeigen ersetzt. z. B. der Kontrast typischer passiver Daueranzeigen
Die Beurteilung einer Anzeige kann nach zahl- wie Tageszeitungen als gut angesehen; er liegt etwa
reichen Kriterien erfolgen, die sich in drei Gruppen bei 1 : 7. Der subjektiv „beste“ Kontrast liegt – je
zusammenfassen lassen. Die wichtigsten optischen nach aktuellem Adaptationszustand des Beobach-
Größen sind: Kontrast, Leuchtdichte, Ablesbarkeit ters – nach Erfahrungen aus der Fernsehtechnik im
bei starkem Auflicht und Farbwiedergabe. Diese Bereich von 10 : 1 bis 5 : 1 [10].
müssen stets im Hinblick auf die vorgesehene Ap-
plikation betrachtet und optimiert werden.
Die technisch-wirtschaftlichen Kenndaten wer- 36.2.1 Elektromechanische
den von den physikalischen Eigenschaften der je- Messwerke
weiligen Technologie bestimmt. Sie beinhalten Ge-
sichtspunkte wie: Betriebsspannung, Betriebsstrom, Früher dominierte der Wirbelstromtachometer. Er
Leistungsbedarf, Schaltzeiten, Ansteuerbarkeit, besteht aus einem drehbar gelagerten Permanent-
Multiplexbarkeit, Kosten. magneten, der von einer mechanisch angetriebenen
Zudem werden Anzeigen auch nach anwen- Achse (Tachowelle) in Drehung versetzt wird. Der
dungstechnischen Gesichtspunkten beurteilt. Für Kilometerzähler war mechanisch und wurde eben-
das Kraftfahrzeug sind hier insbesondere zu nen- falls durch die Tachowelle angetrieben. Wegen ihrer
nen: Temperaturbereich, Frontflächenbedarf, Aus- voluminösen Bauform und wegen der Anfälligkeit
fallrate, Beständigkeit gegen Feuchte, Druckwechsel der Welle sind diese Anzeigen weitestgehend ver-
und Schock. schwunden.
Eine Anzeige, die all diesen genannten Kriterien Beim Drehmagnetquotientenmesswerk (DQM,
optimal gerecht wird, existiert nicht und erfordert . Abb. 36.9 links) ist ein Permanentmagnet von
auch in Zukunft Kompromisse zwischen Aufwand zwei gekreuzten Spulen umschlossen [4].
und Leistung des Anzeigesystems. Durch geeignete Bestromung der Spulen wird
Eine der wichtigsten Anforderungen an ein Dis- der Zeiger quadrantenweise in Bewegung versetzt.
play ist eine gute Erkennbarkeit über große Bereiche Eine (nicht gezeichnete) Spiralfeder führt den Zei-
668 Kapitel 36 • Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme
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26 .. Abb. 36.9 Drehmagnetquotienten-Messwerk, DQM (links), Schrittmotor nach dem Lavet-Prinzip (rechts)
27
ger im stromlosen Zustand in die Ruheposition an des Umgebungslicht und benötigen deutlich weniger
einen Anschlagstift zurück. Energie.
28 Der Schrittmotor nach dem Lavet-Prinzip,
. Abb. 36.9 rechts [4], wird in modernen Kraft- 36.2.2.1 Aktive Displays
29 fahrzeuginstrumenten eingesetzt. Ein sehr kleiner Glühlampen
Permanentmagnet wird von einem Joch aus ferro- Glühlampen werden in Kraftfahrzeuginstrumenten
30 magnetischen Blechen umschlossen. Wird das Joch
mit Wechselspannungssignalen erregt, dreht sich
als Warnlämpchen oder zur Beleuchtung von Ziffer-
blättern und passiven Anzeigen eingesetzt. Sie sind
der Magnet und treibt über ein zweistufiges Ge- sehr preiswert, allerdings ist der optische Wirkungs-
31 triebe die Zeigerachse an. Getriebe-Schrittmotoren grad mit etwa 4 % sehr gering. Die durchschnittliche
besitzen eine Bautiefe von nur noch etwa 5–8 mm. Lebensdauer von Standard-Glühlampen beträgt bei
32 Sie kommen mit etwa 100 mW Leistungsaufnahme Nennleistung 1000 bis 5000 Stunden.
aus und erlauben eine schnelle und sehr präzise Zei-
gerpositionierung mit großem Moment. Leuchtdiode (LED)
33 Die Lichterzeugung mit Halbleitern beruht auf der
strahlenden Rekombination von Elektronen des
34 36.2.2 Aktive und passive Leitungsbandes mit Löchern aus dem Valenzband,
Segmentdisplays wobei die freiwerdende Energie in Form von Photo-
35 Es hat sich eingebürgert, Anzeigen nach ihren phy-
nen emittiert wird. Zuvor muss der Halbleiter durch
eine Spannung angeregt werden.
sikalischen Eigenschaften und den ihnen zugrunde Mit den Standardmaterialien Galliumarsenid
36 liegenden Phänomenen nach aktiven und passiven (GaAs, rot), Indiumphosphid (InP, rot bis gelb), Si-
Anzeigen zu unterscheiden. liziumkarbid (SiC, blau) und Galliumnitrid (GaN,
37 Aktive Anzeigen (z. B. Leuchtdioden, Gasentla- blau) konnten alle Farben des sichtbaren Spektrums
dungsanzeigen) emittieren selbst Licht und verbrau- realisiert werden. Trotz ihrer begrenzten Helligkeit
chen daher viel Energie, wenn sie ausreichend hell und höherer Kosten wurden diese LEDs als Kont-
38 sein sollen, um auch bei großer Umgebungshellig- rollleuchten eingesetzt, da sie eine bedeutend gerin-
keit, wie sie in Kraftfahrzeugen häufig herrscht, mit gere Ausfallrate und höhere Lebensdauer besitzen
39 ausreichendem Kontrast wahrgenommen werden als Glühlampen. Die Farbe Weiß wurde zunächst
zu können. Passive Anzeigen (z. B. Flüssigkristall- durch additive Farbmischung durch Kombination
40 anzeigen, elektromechanische Anzeigen) erzeugen
hingegen selbst kein Licht, sie modulieren einfallen-
mehrerer LED-Chips in einem Gehäuse realisiert,
später erfolgte durch die Erfindung der LucoLED
36.2 • Anzeigen für das Kraftfahrzeug
669 36
.. Abb. 36.10 Aufbau
von LEDs: Standard-
LED (links), LucoLED
(rechts)
--
Technische Daten von LED:
Betriebsspannung: materialabhängig;
den konjugierten Polymeren (Poly-LEDs) und
kleinen organischen Molekülverbindungen (Mo-
--
ca. 2 bis 3 V; blau ca. 5 bis 10 V;
Betriebsstrom: 1 bis 100 mA;
nomere). Die kleinen organischen Molekülverbin-
dungen werden im Vakuum aufgedampft, die kon-
-
Temperaturbereich: –50 bis 100 °C;
Lebensdauer: 108 bis 1010 h;
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.. Abb. 36.13 Aufbau einer planaren
26 VFD
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30 erforderlichen Vakuumprozesse teurer in der Her- Elektronenaustrittsarbeit beschichtet sind. Die
stellung. Durch Eindringen von Feuchtigkeit an den Gitterelektroden werden durch Ätzen aus dünnen
31 Displayrändern kann es zu einer Schädigung der or- Edelstahlfolien hergestellt, sie besitzen Wabenstruk-
ganischen Stoffe kommen. Temperaturen über 70 tur. Die Anodenstruktur wird in Dickschichttechnik
32 bis 80° C sind ebenfalls kritisch für die Lebensdauer. hergestellt.
Dies hat bisher den Einsatz von farbigen OLED- VFD werden im Konsumerbereich im Multi-
Grafik-Modulen, wie sie heute z.B. bei Handys im plexbetrieb angesteuert, im Automobil hingegen
33 Konsumerbereich schon seit Jahren etabliert sind, wegen der hohen erforderlichen Helligkeit segment-
verhindert. Wegen der hohen Anforderungen an weise direkt.
34 die Klimabeständigkeit kamen OLEDs im Kraft- Standard-VFD benutzen einen ZnO:Zn-Leucht-
fahrzeug bislang nur für kleinere, monochrome, stoff, dessen Spektralverteilung etwa von 400 nm
35 alphanumerische und einfache Grafikdisplays zum
Einsatz. . Abbildung 36.12 zeigt das Anzeigemodul
bis 700 nm reicht und dessen Maximum im Grün-
blauen bei 505 nm liegt. Aus diesem Emissions-
einer Klimaanlage in OLED-Technologie [12]. spektrum können durch Filterung alle Farben von
36 blau bis rot erzeugt werden, durch Benutzung eines
Vakuumfluoreszenzanzeige (VFD) Violett-Filters auch weiß.
37 Die Vakuumfluoreszenzanzeige arbeitet nach dem
Prinzip einer Vakuumröhre (Triode). Die Anode
ist mit Leuchtstoff beschichtet, der Licht emittiert,
-
Die wesentlichen Daten von VFD:
Leistungsverbrauch:
--
38 sobald die von der Kathode ausgesandten Elektro- 15 bis 125 mW/Digit bei 7-Segmentanzeigen;
nen genügend stark durch eine Anodenspannung Lebensdauer: 50 000 h;
39
40
beschleunigt werden. . Abbildung 36.13 [10] zeigt
das Schnittbild einer Vakuumfluoreszenzanzeige.
Die direkt geheizte Kathode besteht aus Wolf-
ramdrähten, die mit einer Schicht mit niedriger
- Temperaturbereich: –40 bis +85 °C;
Leuchtdichte: 300 cd/m² bei statischem Be-
trieb.
36.2 • Anzeigen für das Kraftfahrzeug
671 36
36.2.3 Grafikanzeigen
für Kombiinstrument
und Mittelkonsole
.. Abb. 36.14 Optisches Verhalten einer TN-Zelle zwischen ge- Beliebig darstellbare Information erfordert gra-
kreuzten Polarisatoren: Aus-Zustand (links) Ein-Zustand (rechts) fikfähige Punktrasteranzeigen. Bei grafikfähigen
Anzeigen werden die Elektroden in Matrixform
36.2.2.2 Passive Displays ausgebildet und im Multiplexbetrieb zeilenweise
Flüssigkristallanzeigen (Liquid Crystal angesteuert.
Display, LCD) Für die optisch anspruchsvolle und zeitlich
Flüssigkristalle sind innerhalb eines bestimmten rasch veränderliche Darstellung komplexer Infor-
Temperaturbereichs flüssig, besitzen aber die aniso- mation im Bereich des KI und der Mittelkonsole
tropen Eigenschaften von Kristallen. Die Anisotro- mit hochauflösenden, videofähigen Flüssigkristall-
pie der Dielektrizität erlaubt die Beeinflussung der Bildschirmen eignet sich nur die Aktiv adressierte
Orientierung der zigarrenförmigen Moleküle durch Matrix-LCD (AMLCD). Die Adressierung der ein-
ein elektrisches Feld und die optische Anisotropie zelnen Bildpunkte erfolgt durch Dünnschichttran-
ermöglicht es, diesen Effekt im polarisierten Licht sistoren (TFT = Thin Film Transistor).
sichtbar zu machen. Für Anwendungen in Displays Für Kfz sind Bildschirme mit Diagonalen von
verwendet man die LCD als Lichtventil. 3,5“ bis 10“ im Mittelkonsolenbereich und erweiter-
Aus der Vielzahl möglicher elektrooptischer Ef- tem Temperaturbereich (–25 °C … +95 °C) verfüg-
fekte mit Flüssigkristallen ist die „verdrillt nemati- bar. Für das frei programmierbare Kombiinstrument
sche Zelle“ (engl. „Twisted nematic (TN) Display“) sind Formate von 10“ bis 14“ vorgesehen. . Abbil-
am bedeutendsten, . Abb. 36.14. dung 36.15 zeigt eine aufgeklappte TFT-Matrix. [13]
Bei der TN-Anzeige sind die Moleküle des Flüs- TFT-LCD bestehen aus dem „aktiven“ Glassub-
sigkristalls parallel zur Glasoberfläche orientiert, strat und der Gegenplatte mit den Farbfilterstruk-
wobei jedoch die Vorzugsrichtungen der Moleküle turen. Auf dem aktiven Substrat befinden sich die
an den beiden Glasplatten um 90° zueinander ge- Bildpunktelektroden aus Zinn-Indium-Oxid, die
dreht sind (linkes Teilbild). Linear polarisiertes metallischen Zeilen- und Spaltenleitungen und die
Licht erfährt beim Durchdringen der Schicht eine Halbleiterstrukturen. An jedem Kreuzungspunkt
Drehung seiner Polarisationsrichtung um 90°. Bei von Zeilen- und Spaltenleitung befindet sich ein
gekreuzten Polarisatoren ist die Flüssigkristall- Feldeffekttransistor, der in mehreren Maskenschrit-
schicht durchsichtig (Positivkontrastzelle). Beim ten aus einer zuvor aufgebrachten Schichtenfolge
Anlegen einer Spannung an die ITO-Elektroden herausgeätzt wird. Der Dünnfilmtransistor (TFT)
(rechtes Teilbild) werden die Moleküle in der ist eine polykristalline Variante des MOS-Feldeffekt-
Schicht in eine Orientierung senkrecht zu den Glas- transistors, dessen Herstellung so optimiert wurde,
platten gedreht. Die Polarisationsrichtung des Lichts dass die Strukturen durch selbstjustierende photo-
kann diesem abrupten Übergang nicht mehr folgen, lithographische Prozesse erzeugt werden können.
die Zelle ist lichtundurchlässig. Auf der gegenüberliegenden Glasplatte befinden
sich die Farbfilter und eine „Black-Matrix“-Struktur,
--
Die wesentlichen Daten von LCD:
Leistungsverbrauch: einige µW/Digit
die durch Abdeckung der metallisch reflektierenden
Zeilen- und Spaltenleitungen zu einer Verbesserung
.. Abb. 36.15 TFT-Matrix
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Darüber liegt eine durchgehende Gegenelektrode genau mit dem natürlichen Bild überdecken, wel-
29 für alle Bildpunkte. ches der Fahrer durch die Windschutzscheibe sieht.
Dies wäre eine ideale Darstellungsform hinsichtlich
30 36.3 Zukünftige Displaykonzepte
Erkennbarkeit und Interpretierbarkeit von Objek-
ten. Solche Lösungen erfordern aber einen hohen
im Kraftfahrzeug technischen Aufwand wie z. B. die Erkennung der
31 Kopfposition zum „Nachfahren“ des HUD in den
Neben den oben geschilderten Anzeigekonzepten Sichtstrahl des Fahrers und einen geänderten Auf-
32 sind in Zukunft weitere Entwicklungen im Bereich bau des HUD in Form eines Projektionssystems
des Head-up-Displays zu erwarten. [11].
33
36.3.1 Kontaktanaloges Head-up- 36.3.2 Laserprojektion
34 Display
Heutige HUDs benötigen bei starker Umgebungs-
35 Für die Darstellung von Nachtsichtinformation
bietet sich zunächst die Darstellung des von der
helligkeit sehr hohe Leuchtdichten, um ablesbar zu
sein. Bei direkter Sonneneinstrahlung reicht sie aber
Kamera aufgenommenen Bildes an. Einige Systeme häufig nicht aus. Abhilfe kann hier eine Laserpro-
36 am Markt benutzen hierzu ein Head-up-Display jektionseinheit schaffen, die das Bild direkt auf eine
(HUD), bei dem die monochrome Information Zwischenebene schreibt, von der es über eine Pro-
37 oberhalb der Mittelkonsole auf die Windschutz- jektionsoptik auf die Windschutzscheibe geworfen
scheibe projiziert wird, ein Bereich mit langer Blick- wird. Ein Videocontroller steuert die Farblaser an,
abwendungsdauer. die in den Primärfarben Rot, Grün und Blau emit-
38 Eine so genannte „kontaktanaloge“ HUD- tieren. Über dichroitische Spiegel werden die drei
Anzeige, bei der man sich auf die Darstellung von Teilstrahlen zusammengeführt und über eine mik-
39 Warnsymbolen beschränkt, die durch ein Bildverar- romechanische, zweiachsige Scannereinheit auf die
beitungssystem gewonnen werden, würde es erlau- Bildebene geworfen.
40 ben, Warnsymbole oder Objektmarkierungen so in
die Windschutzscheibe einzublenden, dass sie sich
Wegen der hohen Ausgangsleistung der Laser-
dioden steht ausreichende Bildhelligkeit auch bei
Literatur
673 36
Literatur
Fahrerwarnelemente
Norbert Fecher, Jens Hoffmann
37.1 Einleitung – 676
37.2 Menschliche Informationsverarbeitung – 676
37.3 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine – 677
37.4 Anforderungen an Warnelemente – 678
37.5 Beispiele für Warnelemente – 679
37.6 Voreinteilung von Warnelementen – 681
Literatur – 684
Entscheidung
Sensorischer Antwort-
Reize Wahrnehmung & Antworten
Kurzspeicher ausführung
Antwortauswahl
Arbeitsgedächtnis
Langzeit-
gedächtnis
Gedächtnis
.. Abb. 37.1 Modell der menschlichen Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeitsverteilung [1] nach [2]
Zomotor und Kiesewetter haben gezeigt, dass 37.3 Schnittstellen zwischen Mensch
Fahrer in Notbremssituationen nicht die notwen- und Maschine
digen Bremsbetätigungsgeschwindigkeiten und
-kräfte aufbringen [5, 6]. Diese Erkenntnisse führ- Menschen nehmen Informationen oder Reize über
ten zur Entwicklung des Bremsassistenten (BA). ihre sensorischen Organe auf, die unterschiedliche
Rath und Knechtges beschreiben die beim Men- Empfindlichkeiten und Betriebsbereiche besitzen.
schen in Notbremssituationen ablaufenden phy- Die Einteilung der menschlichen Sinneskanäle kann
siologischen Vorgänge: Über die Ausschüttung von in fünf Klassen erfolgen (siehe beispielsweise Res-
Adrenalin wird das Großhirn ausgeschaltet, das ponse-Checkliste [8]):
Kleinhirn übernimmt die Steuerung und reagiert 1. visueller Sinneskanal
mit gelernten Handlungsweisen oder instinktiv 2. auditiver Sinneskanal
nach dem Prinzip „fight, flight or freeze“ [7]. Allge- 3. haptischer Sinneskanal
mein leiten sich zwei Zielsetzungen für warnende a) taktiler Sinneskanal
Fahrerassistenzsysteme ab: b) kinästhetisch-vestibulärer Sinneskanal
1. Unterstützung des Menschen bei der Verteilung 4. olfaktorischer Sinneskanal
der Aufmerksamkeitsressourcen, um die Kol- 5. gustatorischer Sinneskanal
lision durch schnelle Wahrnehmung der Ver-
kehrssituation zu vermeiden, Für die Anwendung im Kraftfahrzeug werden
2. Unterstützung des Menschen bei der Entschei- hauptsächlich die ersten drei Sinneskanäle von
dung und Antwortauswahl durch die Art der FAS verwendet. Eine ausführliche Beschreibung
Warnung. der physikalischen Eigenschaften der Sinneskanäle
befindet sich in ▶ Kap. 1. Der visuelle und der au-
ditive Sinneskanal werden in vielfältiger Weise für
das Übermitteln von Warnungen verwendet; in
▶ Abschn. 37.5 sind Beispiele hierfür aufgeführt.
Von manchen neueren FAS wird gezielt der hapti-
678 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente
1 .. Tab. 37.1 Qualitative Bewertung ausgewählter Eigenschaften der Sinneskanäle in Anlehnung an [3, 8, 9]
Eigenschaften
2 Sinneskanal Alternative Namensgebung Informationsrate Wahrnehmungsverzugszeit
5 vestibulärer Kanal
sche Sinneskanal zur Übermittlung von Warnungen tenzsystemen benannt. Dabei wird kein Anspruch
6 verwendet. Der haptische Sinneskanal lässt sich in auf Vollständigkeit erhoben, vielmehr wird ein
die taktile und die kinästhetische Wahrnehmung Überblick über zu berücksichtigende Aspekte ge-
7 unterteilen. Teil der kinästhetischen Wahrneh- geben. In ▶ Kap. 33 werden Leitlinien zur Entwick-
mung durch die Propriozeptoren ist die vestibuläre lung von FAS näher beschrieben. Im Allgemeinen
Wahrnehmung durch das Gleichgewichtsorgan im ergeben sich Anforderungen an Warnelemente aus
8 Innenohr und Kleinhirn. Nachfolgend werden die drei Bereichen:
speziellen Eigenschaften der Sinneskanäle in Bezug 1. Normen und Standards,
9 auf die Anwendung für Warnelemente beschrieben. 2. Richtlinien,
Eine der wichtigen Eigenschaften der Sinneskanäle 3. Produktentwicklungsprozess.
10 für die Übermittlung von Warnungen ist die Lösung
der Frage, welche Information mit welcher Kom- Zu 1.: Normen stellen Mindestanforderungen an
plexität übermittelt werden soll. Die übertragbare das Produkt. Relevanz für Warnelemente hat – ne-
11 Informationsrate ist ein Maß für diese Eigenschaft. ben anderen Normen – die ISO 15623 [10]; sie ist
Zum anderen ist die Zeitdauer von der Ausgabe der gezielt auf Kollisionswarnsysteme ausgerichtet. In
12 Warnung eines technischen Systems bis zum Beginn ihr werden explizit Anforderungen an optische und
der Wahrnehmung beim Menschen eine die Reak- akustische Warnungen definiert. Weitere Normen für
tionszeit bestimmende Größe. Diese Größe wird auditive und visuelle Anwendungen sind [11, 12].
13 im Folgenden Wahrnehmungsverzugszeit genannt. Zu 2.: Richtlinien enthalten Anforderungen und
. Tabelle 37.1 teilt den Sinneskanälen ausgewählte geben die Anwendung von Methoden vor. Bei der
14 Kriterien zu. Diese Eigenschaften besitzen die Sin- Entwicklung von FAS ist den Entwicklern zu raten,
neskanäle unter optimalen Bedingungen. bestehende Richtlinien zu berücksichtigen. Eine
15 Neben den in der Tabelle beschriebenen Eigen- derartige Richtlinie ist beispielsweise die im Rah-
schaften weist jeder Sinneskanal weitere spezifische men von PReVENT erstellte RESPONSE-Checkliste
Besonderheiten auf, die in [3, 9] weiterführend er- [8], in der unter anderem Hinweise zur Gestaltung
16 läutert werden. von Mensch-Maschine-Schnittstellen für FAS ge-
geben werden. Die Checkliste berücksichtigt im
37 Wesentlichen auditive, visuelle und haptische
37.4 Anforderungen Mensch-Maschine-Schnittstellen.
an Warnelemente Zu 3.: Nach [13] werden Anforderungen im
18 Produktentwicklungsprozess mit verschiedenen
Es existieren zahlreiche Quellen, um Anforderun- Methoden generiert. Im Gegensatz zu Normen,
19 gen an Warnelemente zu definieren, die zumeist Standards und Richtlinien kann der PE-Prozess ge-
aus dem Bereich der Arbeitswissenschaften bekannt zielt auf die Anwendung des warnenden FAS ausge-
20 sind. Im Folgenden werden einige der bekanntesten richtet werden. Exemplarisch werden in . Tab. 37.2
Standardisierungen zur Gestaltung von Fahrerassis- einige wichtige generelle Anforderungen an War-
37.5 • Beispiele für Warnelemente
679 37
Anforderung Beschreibung
Beeinträchtigungen, Für jedes Warnelement gilt die Forderung, gesundheitliche Beeinträchtigungen des
Betriebsbereiche Menschen durch die Einwirkung auszuschließen. Vielmehr sind spezifische Betriebs-
bereiche (Informationsraten, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Intensitäten etc.) zu
berücksichtigen.
Art und Anpassung der Um vielfältige Warnungen bezüglich ihrer Art und Dringlichkeit zu unterscheiden,
Warnung ist es erforderlich, die Art der Warnung an die bestehende Gefahr anzupassen. Eine
Kollisionswarnung erfolgt anders als eine Fahrstreifenverlassenswarnung. Bezüglich
der Dringlichkeit einer Warnung wird eine Adaptivität gefordert, so dass bei größerer
Gefahr eine höhere Dringlichkeit erreicht wird.
Bloßstellung Ein Wunsch im Entwicklungsprozess kann sein, eine Einwirkung der Warnung auf
andere Insassen auszuschließen, so dass „Bloßstellungseffekte“ des Fahrers gegen-
über Mitinsassen durch das Warnsystem ausbleiben. Der Effekt der Bloßstellung kann
sowohl bei berechtigten als auch bei nicht-berechtigten Warnungen auftreten. Aus
diesem Grund wird eine Fahrstreifenverlassenswarnung bei Lkws mit einer akustischen
Warnung ausgeführt, beim Bus hingegen als Sitzvibration [14, 15].
nelemente aufgeführt. Diese Anforderungen sind leitet das System automatisch eine Teilbremsung
unabhängig von der Realisierung des Warnelements auf etwa 1/3 des jeweiligen Maximalniveaus ein. Es
und des verwendeten Sinneskanals, sie werden da- erfolgt eine Gurtstraffung. Bleibt selbst dann eine
her nichtfunktionale Anforderungen genannt. Reaktion aus, so wird in der vierten Stufe die Brems-
kraft weiter erhöht und mündet in eine Vollverzöge-
rung, wenn die Kollision nicht mehr zu vermeiden
37.5 Beispiele für Warnelemente ist [16].
Honda setzt seit 2006 für den europäischen Le-
In ▶ Abschn. 37.2 wurde ein Modell für den mensch- gend das Collision Mitigation Brake System (CMBS)
lichen Informationsprozess vorgestellt, Schnittstel- ein, das 2014 in zahlreichen weiteren Fahrzeugmo-
len zwischen Mensch und Maschine wurden erklärt dellen erhältlich ist und mit einer dreistufigen Stra-
und generelle Anforderungen definiert. Es folgen tegie arbeitet. Es warnt den Fahrer in einer frühen
einige Beispiele für Warnelemente, unterteilt in Phase akustisch und optisch. Bremst der Fahrer, so
Warnelemente für die Längsführung und solche für unterstützt sofort der Bremsassistent bei der An-
die Querführung. passung des erforderlichen Bremsdruckes. Bleibt
die Reaktion aus, so wird durch eine Gurtstraffung
eine weitere Warnung ausgegeben; in einer letzten
37.5.1 Warnelemente Stufe erfolgt eine etwa 60 %-Verzögerung [17].
für die Längsführung Beim Lexus A-PCS (Advanced Pre Crash Safety)
wird der Fahrer bei einer drohenden Gefahr zunächst
Die Beschreibung der Warnelemente für die Längs- über akustische und optische Signale gewarnt. Be-
führung erfolgt beispielhaft für einige zurzeit auf steht die Gefahr weiterhin, werden die Gurtstraffer
dem europäischen Markt verfügbare Systeme zur aktiviert, die Auslöseschwelle für den Bremsassis-
Warnung vor einer Frontalkollision. tenten angepasst, die Dämpferregelung des Fahr-
Audi bietet derzeit (2014) unter dem Namen werks auf hart geschaltet und eine Teilverzögerung
„Audi pre sense plus“ ein vierstufiges System an, das des Fahrzeugs durchgeführt. Außerdem wird die
in der ersten Phase zugleich akustisch und optisch Regelung der Überlagerungslenkung der Situation
warnt. Bleibt die Fahrerreaktion aus, folgt in der angepasst. Mit einer auf der Lenksäule angebrach-
zweiten Stufe ein Bremsruck. In der dritten Phase ten Kamera wird der Fahrer beobachtet. Erkennt die
680 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente
1 .. Tab. 37.3 Übersicht der verwendeten Sinneskanäle für Warnungen einiger beispielhaft ausgewählten FAS zur Längs-
führung in Europa (Ja: als Warnung vorhanden, –: nicht als Warnung vorhanden)
2 System
Systembezeich- Pre Sense CMBS A-PCS Collision Pre- Collision 560 Aktives Gaspedal
4
nung vention Assist Warning
Sinneskanal
5 visuell ja ja ja ja ja ja –
auditiv ja ja ja ja ja ja –
6 haptisch taktil ja ja ja – – – ja
kinästhetisch ja ja ja ja – – –
7
Verarbeitungseinheit in kritischen Situationen einen zeugt. Betätigt der Fahrer das Gaspedal, erfolgt
8 unaufmerksamen Fahrer, werden die Warnstufen zu eine Information eines zu geringen Abstands zum
einem früheren Zeitpunkt aktiviert [18]. Vorausfahrenden über eine erhöhte Gegenkraft und
9 Mercedes stellte 2013 eine Weiterentwicklung eine Kollisionswarnung durch Vibration [24]. Prin-
der bekannten Pre-Safe-Bremse um die Optionen zipbedingt verspürt der Fahrer die Warnung aller-
10 „Plus“ (Heckaufprallschutz) und „Impuls“ (Vor- dings nur, wenn er das Pedal betätigt.
konditionierung des Insassenschutzes) vor [19]. Mit . Tab. 37.3 zeigt eine Übersicht der verwende-
dem Assistenzpaket „Collision Prevention Assist ten Sinneskanäle für Warnungen von ausgewählten
11 Plus“ wird der Fahrer im Geschwindigkeitsbereich verfügbaren FAS zur Längsführung.
von 7 bis 250 km/h in mehreren Stufen zunächst op-
12 tisch und akustisch gewarnt. Bei höherer Gefahren-
stufe wird eine Teilverzögerung – unterhalb einer 37.5.2 Warnelemente
Geschwindigkeit von 105 km/h – eingeleitet [20]. der Querführung
13 In Fahrzeugen der Marke Volvo wird der Fahrer
vor einer drohenden Kollision mit einem rot blin- Die Beschreibung von Warnelementen der Quer-
14 kenden, von der Armaturentafel an die Windschutz- führung orientiert sich an den heute verfügbaren
scheibe projizierten Licht und einem akustischen FAS zur Warnung vor unbeabsichtigtem Verlassen
15 Signal gewarnt [21]. des Fahrstreifens (als Lane Departure Warning be-
Für den Kraftfahrzeugzubehörmarkt wird von zeichnet) und zur Fahrstreifenwechselassistenz (als
der Firma Mobileye ein Kollisionswarnsystem Lane Changing Decision Aid System bezeichnet),
16 (2014, Modell Mobileye-560) zum Nachrüsten an- siehe ▶ Kap. 49. Es werden nur solche Systeme nä-
geboten. Dieses detektiert Objekte, wie z. B. Fahr- her beschrieben, die durch die Art der Warnung
37 zeuge, Fußgänger, Radfahrer sowie die Fahrstreifen- dem Fahrer einen Hinweis auf die Querführung
markierung mittels einer monokularen Kamera und geben.
warnt den Fahrer optisch über ein separates Display Eine Variante der taktilen Warnung ist über das
18 und akustisch durch Zusatzlautsprecher [22, 23]. Lenkrad möglich. Vibrationen des Lenkrads wer-
Weitere Fahrerwarnelemente sind aus der For- den z. B. von BMW [25] und Mercedes verwendet,
19 schung bekannt. Dazu gehört das aktive Gaspe- um vor einem Überfahren der Fahrstreifenmar-
dal von Continental Teves: Dabei wird zusätzlich kierung zu warnen. Diese Art der Warnung weist
20 zur passiven Gaspedalfederkennlinie durch einen zwar eindeutig auf die Querführung hin, ist aber
E-Motor eine Gegenkraft oder eine Vibration er- unspezifisch bezüglich der Richtung eines drohen-
37.6 • Voreinteilung von Warnelementen
681 37
1 .. Tab. 37.4 Arten der Warnung beispielhaft ausgewählter FAS zur Querführung in Europa (R: Warnelement richtungs-
spezifisch, U: Warnelement unspezifisch bezüglich der Richtung, –: nicht verfügbar)
Systembe- Lane Driving Aktiver Telligent AFIL 560 Side Assist Totwinkel-
Sinneskanal
5
visuell – – – – – R R R
6 auditiv – – U R – U – –
haptisch taktil R U U – R – – –
7 kinästhetisch – – R – – – – R
15
Reaktion auf die Warnung erhält. Die Verzeihlich-
keit beurteilt den Grad der Entschuldbarkeit einer
Fehlwarnung. . Tabelle 37.5 listet die erstellten or-
dinalen Kriterien auf.
-
fungen definiert:
Je geringer die Abdeckungsrate eines Warn
elements ist, desto früher muss es eingesetzt
werden, um Zeit für weitere Warnungen o. Ä.
-
16 Eine Herausforderung bei der Entwicklung von zu schaffen.
Warnelementen ist die Festlegung des Einsatzzeit- Je besser ein Warnelement auf die Gefahr
37 punktes des Warnelements vor einer drohenden hinweist, desto später ist es einsetzbar, da die
18
Kollision unter Berücksichtigung des sogenann-
ten Warndilemmas. Dieses besagt, dass eine War-
nung des Fahrers umso wirksamer ist, je früher die
Warnung vor einer Kollision ausgegeben wird. Bei
- Reaktionszeit kürzer ist.
Je verzeihlicher ein Warnelement ist, desto
früher ist es einsetzbar, da eine Falschwarnung
weniger störend ist.
19 heutigen Systemen ist allerdings die Gefahr einer
Falschalarmierung umso größer, je früher die War- Diese Verknüpfungen werden in drei zweidimen-
20 nung ausgegeben wird, da die Situation von einem sionalen Matrizen (Portfolio-Diagramme) festge-
Umfelderfassungssystem weniger exakt interpretiert halten, siehe . Abb. 37.3; als Bewertung steht ein
37.6 • Voreinteilung von Warnelementen
683 37
.. Abb. 37.3 Portfolio-Dia-
gramm (Haken: geeignet;
Kreuz: nicht geeignet)
Schwarz-Weiß-Kriterium (Kreuz und Haken) zur Jedes Warnelement kann bezüglich der zuvor
Verfügung. Der Einsatzzeitpunkt früh, mittel oder stattgefundenen Bewertung in die Verträglichkeits-
spät wird zugeordnet. Ein Kreuz bedeutet, dass ein matrix eingeordnet werden: Aus der Einordnung
Fahrerwarnelement an dieser Stelle nicht geeignet wird ersichtlich, zu welchem Zeitpunkt einer Kol-
wäre; der Haken veranschaulicht einen belegbaren lisionswarnung das Warnelement eingesetzt wer-
Bereich. Aufgrund einer sehr geringen Verzeihlich- den kann. Außerdem wird eine Potenzialanalyse
keit können Warnelemente mit einem Hinweis auf durchgeführt, damit die Schwachpunkte des Warn
die Aktion nicht zu einem frühen Zeitpunkt einge- elements deutlich werden und eine Optimierung in
setzt werden. Die drei zweidimensionalen Matrizen die gewünschte Richtung erfolgen kann.
werden mit einer Schnittmengenbildung ihrer Zu- Beispiel: Ein Auditory Icon ist ein begriffliches
ordnung zum Einsatzzeitpunkt in eine dreidimen- Geräusch, wie etwa das „Reifenquietschen“ bei ei-
sionale Matrix überführt, die die Grundform der ner Vollbremsung. Der Informationsinhalt ist hin-
Verträglichkeitsmatrix in . Abb. 37.4 bildet. weisend auf eine Situation, da der Fahrer ein mit
684 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente
stehenden Reifen voll verzögerndes Fahrzeug in 8 Response‐Checkliste, 2006, Code of Pratice for the Design
1 seiner Umgebung erwartet. Die Abdeckungsrate ist
and Evaluation of ADAS, PReVENT 2006
9 Schmidt, R.F., Thews, G., Lang, F.: Physiologie des Men-
bei entsprechender Lautstärke des Geräusches und schen. Springer, Berlin (2000)
2 einer Platzierung der Lautsprecher im Bereich des 10 FVWS ISO Norm 15623.144.19 Road vehicles – Forward
Cockpits hoch. Die Verzeihlichkeit ist als „mittel“ Vehicle Collision Warning System – Performance require-
zu bewerten, da der Fahrer bei einer Fehlwarnung ments and tests procedures
3 zunächst irritiert sein kann; aber nach [31] wird er
11 ISO/CD15006‐1: Auditory information presentation
12 ISO/DIS15008‐1: Visual presentation of information
in über 70 % der Fälle keine übermäßige Reaktion 13 VDI 2222, 1996 und VDI 2225, 1977, www.vdi.de
4 wie beispielsweise eine Vollbremsung durchführen. 14 Dörner, K.: Assistenzsysteme für Nutzfahrzeuge und deren
Gemäß der Verträglichkeitsmatrix eignet sich das Unfallvermeidungspotential IAA‐Symposium Entwicklun-
5 Warnelement zu einem frühen bis mittleren Ein- gen im Gefahrgutrecht und Sicherheit von Gefahrgutfahr-
zeugen, Hannover, 26.09.2006. (2006)
satzzeitpunkt; nähere Beschreibungen zu Auditory
15 DaimlerChrysler AG, Hightechreport 2000: Rettendes Rat-
Icons finden sich bei [32, 33].
6 Zusammenfassend stellt die Verträglichkeitsma- 16
tern, 2000
Audi Pressemeldung vom 08.03.2012, www.audi-media-
trix ein Handwerkszeug zur Filterung der Varian- services.com
7 tenflut von Fahrerwarnelementen, zur Festlegung 17 Technikbeschreibung Honda, http://www.honda.de/in-
novation/sicherheit_technik/sicherheit_kollisionswarn-
eines Einsatzzeitpunktes und zum Bestimmen der
system.php, April 2014
Optimierungsrichtung dar.
8 18 Toyota Deutschland GmbH, Pressemitteilung Lexus: Lexus
Pre‐Crash‐Safety (PCS) im LS 460, November 2006
19 Schopper, M., Henle, L., Wohland, T.: Intelligent Drive, Ver-
9 Danksagung netzte Intelligenz für mehr Sicherheit. ATZ Extra 2013, 107
(2013). Extra: Die neue S‐Klasse von Mercedes‐Benz
20 Mercedes‐Benz Homepage, Sicherheit – Collision Preven-
10 Die Autoren bedanken sich bei Herrn Dr.-Ing. Jens tion Assist Plus, http://www.mercedes-benz.de, April 2014
Gayko für die geleistete Arbeit am Kapitel „Fahrer- 21 Volvo mit aktivem Geschwindigkeits‐ und Abstandre-
warnelemente“. Er hat wesentliche Anteile an der gelsystem inklusive Bremsassistent Pro, Volvo‐Presse,
11 Erstellung und Pflege des Kapitels für die ersten bei- 22.02.2007
22 Gat, I.; Benady, M.; Shashua, A.: A Monocular Vision Ad-
den Auflagen und scheidet mit Überarbeitung zur
vance Warning System for the Automotive Aftermarket;
12 dritten Auflage aus. Herzlichen Dank. SAE‐2005‐01‐1470
23 Technikbeschreibung Mobileye, http://de.mobileye.com,
13 Literatur 24
April 2014
Mit ContiGuard zum unfall‐ und verletzungsvermeiden-
dem Auto, Pressemitteilung, Januar 2008
Fahrerzustandserkennung
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder
7 --
(in Anlehnung an [1]), z. B.:
mittelfristig (Tage, Stunden) veränderliche
Faktoren:
menhang zwischen Unfällen bzw. Beinahe-Unfäl-
len durch Unaufmerksamkeit und der Bearbeitung
von Nebenaufgaben nachgewiesen werden. Es zeigte
-
Ermüdung, sich, dass der Umgang mit mobilen Endgeräten
8 momentaner Gesundheits- bzw. Krank- (z. B. Handys) die häufigste Form der Nebenaufgabe
--
heitszustand, war und dass Blickabwendungen über zwei Sekun-
9 Tagesrhythmus, den das Unfallrisiko signifikant erhöhen.
10 -- Alkohol-/Drogeneinfluss.
kurzfristig (Minuten, Sekunden) veränderliche
Faktoren:
Aufmerksamkeit (z. B. selektiv, geteilt; visu-
Auch Müdigkeit (gemäß [4] können 10 bis 20 %
der Unfälle im Straßenverkehr auf Müdigkeit am
Steuer zurückgeführt werden), Alkoholisierung
oder das Fahren unter Drogeneinfluss resultieren in
11
-
ell, auditiv), einem erhöhten Unfallrisiko. [3] fanden heraus, dass
Daueraufmerksamkeit (Vigilanz, Wachsam- eine vorhandene Müdigkeit die Gefahr eines Unfalls
12
--
keit), bzw. Beinahe-Unfalls um den Faktor vier bis sechs
Beanspruchung, erhöht und zu Unfällen mit den schwersten Unfall-
akute Gesundheitsprobleme bzw. medizini- folgen (vgl. [5]) führt, da müde Fahrer es schlechthin
13
--
sche Notfälle (z. B. Herzinfarkt), verpassen, eine Handlung zur Kollisionsvermeidung
Situationsbewusstsein, (Bremsen oder Lenken) zu tätigen [6]. Ca. 3 % aller
14 Emotionen. Verkehrstoten sind auf eine medizinisch bedingte
Fahrunfähigkeit des Fahrers zurückzuführen [7].
15 Darüber hinaus haben auch die nicht oder nur
langfristig veränderbaren Faktoren Auswirkungen
auf den Fahrerzustand (beispielsweise die Konsti- 38.1.3 Potenziale und
16 tution oder die Persönlichkeit). Diese werden im Herausforderungen einer
Folgenden jedoch nicht weiter betrachtet (s. dazu Fahrerzustandserkennung
17 ▶ Kap. 1). In den nachstehenden Kapiteln werden
die Themen Müdigkeit, Aufmerksamkeit und me- Die Berücksichtigung von Merkmalen, die den
dizinische Notfälle näher beschrieben. Fahrerzustand beschreiben, kann es ermöglichen,
38 dass (neuartige) Fahrerassistenzsysteme (FAS) das
bereits sehr hohe Unfallvermeidungspotenzial noch
19 weiter ausbauen. So ist z. B. eine Übertragung rele-
vanter Systeminformationen derart denkbar, dass
20 der Fahrer sie in Abhängigkeit seines Zustands, z. B.
bei Unaufmerksamkeit, auch tatsächlich wahrneh-
38.2 • Unaufmerksamkeitserkennung
689 38
men kann. Ebenso können Warn- und Systemein- wegungen die Blickrichtung des Fahrers ermittelt und
griffsstrategien an den Fahrerzustand angepasst so eine mögliche visuelle Unaufmerksamkeit identi-
werden und somit sowohl die Wirksamkeit als auch fiziert werden. Um die sich aus der aktuellen Fahrsi-
die Akzeptanz von Fahrerassistenzsystemen erhö- tuation ergebenden Anforderungen an die Aufmerk-
hen. Es erscheint beispielsweise unmittelbar sinn- samkeit zu ermitteln, ist eine sichere Erkennung und
voll, dass ein unaufmerksamer Fahrer früher bzw. Klassifikation der Umgebung erforderlich sowie Er-
deutlicher gewarnt wird – eine generelle frühe oder kenntnisse darüber, welches Aufmerksamkeitsniveau
sehr auffällige Warnung birgt jedoch die Gefahr des in welcher Situation noch hinreichend ist. Eine Stu-
„Warndilemmas“ (s. dazu ▶ Kap. 37 und 47). die von [11] zeigt zudem, dass die Auswirkungen von
Um die genannten Potenziale umsetzen zu kön- aufmerksamkeitsrelevanten Störfaktoren stark situa-
nen, muss es jedoch möglich sein, den Fahrerzu- tionsabhängig sind und dass in Abhängigkeit der Art
stand zu ermitteln. Aktuell beschäftigen sich viele der auftretenden Unaufmerksamkeit unterschiedli-
Forschungsarbeiten mit der Frage, wie der Fahrer- che Indikatoren zur Erkennung des Aufmerksam-
zustand zuverlässig erhoben werden kann und wie keitszustands geeignet sind. Langfristige Vigilanz-
die ermittelten Werte zu interpretieren sind. minderungen (s. dazu ▶ Abschn. 38.2.1) können
Folgende unterschiedliche Anforderungen an beispielsweise über kontinuierliche Indikatoren, die
Systeme, die den Fahrerzustand erkennen, werden die Quer- oder Längsregelung beschreiben, erkannt
-
in der Literatur genannt (u. a. [8, 9, 10]):
Unaufdringlichkeit der Sensorik durch kon-
werden. Kurzfristige Ablenkung kann hingegen bes-
ser über die Reaktionsbereitschaft auf spezifische Er-
- taktlose Messung,
geringe Rate von Falsch-Alarmen (s. ▶ Ab-
eignisse – z. B. Bremsreaktionszeit auf ein plötzlich
abbremsendes Vorderfahrzeug – erkannt werden.
- schn. 38.6),
adäquate Warn- bzw. Eingriffsstrategie, die
den Fahrer zum Beispiel bei Müdigkeit zum
Pausieren bewegt oder das Fahrzeug bei einem
Auch Müdigkeit ist nicht direkt messbar, son-
dern kann nur anhand der Messung von Folgeer-
scheinungen quantifiziert werden. Die Folgeer-
scheinungen können jedoch ebenfalls von Person
medizinischen Notfall in einen risikominima- zu Person schwanken. Für die Beurteilung ist zudem
len Zustand (zumeist ist dies der Stillstand am die Kenntnis von Werten notwendig, ab denen die
- Fahrbahnrand) bringt,
Beachtung unerwünschter Verhaltensanpas-
sungen (vgl. Risikohomöostase).
Reduktion der Leistungsfähigkeit des Fahrers Aus-
wirkungen auf die Fahrsicherheit hat.
Es muss festgehalten werden, dass nicht alle
Messgrößen, die im Folgenden zur Beurteilung des
Erschwerend kommt hinzu, dass die Grenzen ver- Fahrerzustands aufgeführt werden, die genannten
schiedener Zustände durch starke interindividuelle Anforderungen erfüllen. Auch wenn die folgenden
Schwankungen schwer zu definieren sind (vgl. [11]). Kapitel primär auf die Methoden eingehen, die mit
Außerdem bedarf es bei den meisten Sensoren zur momentan verfügbaren Sensoren umsetzbar sind,
Überwachung des Fahrerzustands einer hohen Ro- werden weitere Forschungsansätze aufgrund ihres
bustheit gegen Artefakte (u. a. Bewegungen, Kräfte Weiterentwicklungspotenzials dargestellt.
und Umgebungslicht).
Hinsichtlich der Unaufmerksamkeitserkennung
ist eine weitere Herausforderung darin zu sehen, dass 38.2 Unaufmerksamkeitserkennung
der Zustand nur sicher erkannt werden kann, wenn
die Aufmerksamkeitsressourcen, die in der jeweiligen 38.2.1 Definition von Aufmerksamkeit
Fahrsituation nötig sind, und die vom Fahrer dafür
bereitgestellten Ressourcen (oder die dahinterliegen- Häufig wird Aufmerksamkeit in folgende drei Kom-
den Kontrollprozesse) bekannt sind. Da dies mess ponenten unterteilt [13]: selektive Aufmerksamkeit,
technisch nicht möglich ist, kann die Aufmerksam- geteilte Aufmerksamkeit und Daueraufmerksamkeit.
keit nur mithilfe anderer Kriterien beurteilt werden Bei der selektiven Aufmerksamkeit werden re-
[12]: So kann zum Beispiel über Blick- bzw. Kopfbe- levante Informationen aus der Umwelt ausgewählt
690 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung
und nicht relevante herausgefiltert. Die Betrachtung merksamkeit des Fahrers auf ein Objekt, eine Auf-
1 der selektiven Aufmerksamkeit ist für den Fahrkon- gabe oder in eine Richtung gelenkt wird, die nicht
text naheliegend, da der Fahrer allen potenziell re- zur primären Fahraufgabe gehören. Wenn die Wahr-
2 levanten Quellen Aufmerksamkeit zuweisen muss, nehmung von Informationen nicht durch Ablenkung
um die in der Fahrsituation notwendigen Informa- von anderen Informationen gestört wird, spricht man
tionen verarbeiten zu können [12]. Strömen zu viele auch von fokussierter Aufmerksamkeit [15].
3 Informationen gleichzeitig auf den Fahrer ein (Er- Unaufmerksamkeit ist die unzureichende oder
reichen der Kapazitätsgrenze), besteht die Gefahr, nicht vorhandene Aufmerksamkeit auf Aktivitäten,
4 dass relevante Informationen zeitverzögert oder die für ein sicheres Fahren entscheidend sind ([16];
nicht wahrgenommen werden. vgl. auch [17]).
5 Bei der geteilten Aufmerksamkeit werden Infor-
mationen simultan aufgenommen bzw. verarbeitet,
damit verschiedene Aufgaben gleichzeitig (mit aus- 38.2.2 Messgrößen
6 reichender Leistung in den unterschiedlichen Auf- und Messverfahren zur
gaben) ausgeführt werden können. Dazu bedarf es Unaufmerksamkeitserkennung
7 einer Koordination der Aufmerksamkeitsverteilung:
Geteilte Aufmerksamkeit ist vom Fahrer beispiels- Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um auf den
weise dann gefordert, wenn er gleichzeitig den Ab- Aufmerksamkeitszustand des Fahrers zu schließen
-
8 stand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug visuell [12]:
kontrollieren und den akustischen Anweisungen Erfassung von Augenbewegung bzw. Kopfori-
9
10
des Navigationsgeräts folgen muss. Je nachdem, wel-
che Sinneskanäle gleichzeitig angesprochen werden,
gelingt die Aufmerksamkeitsverteilung mehr oder - entierung per Kamera,
Erfassung von Nebentätigkeiten/Bedien-
handlungen über die Fahrzeugsensorik oder
11
weniger gut (vgl. [14]).
Daueraufmerksamkeit – auch Vigilanz genannt
– beschreibt die Fähigkeit, über einen längeren Zeit-
raum relevante Informationen aus der Umwelt zu
- kamerabasiert,
Erfassung des Fahrzeugführungsverhaltens
(z. B. Lenk- und Bremsverhalten) über die
Fahrzeugsensorik.
12 extrahieren und auf diese reagieren zu können (vgl.
[13]). Während die Kopforientierung eine begrenzte Aus-
Diese Aufmerksamkeitskomponenten zeigen, sagekraft besitzt, da beispielsweise Blicke in ein In-
13 dass Verarbeitungsressourcen nicht nur hinsicht- fotainmentdisplay auch ohne große Kopfbewegung
lich des Umfangs (Selektion und Teilung), sondern möglich sind, hat die Erfassung der Blickbewegung
14 auch bezüglich der Aufrechterhaltung über einen ein großes Potenzial, die Ablenkung des Fahrers zu
längeren Zeitraum (Daueraufmerksamkeit) limitiert erfassen.
15 sind. Bei der Fahrzeugführung werden die meisten Gemäß [11] erscheint es sinnvoll, langfristige
Informationen über den visuellen Sinneskanal auf- (kontinuierliche) und kurzfristige Fahrindikatoren
genommen. Dabei spielen alle zuvor genannten As- zu unterscheiden. Mit langfristigen Indikatoren kön-
16 pekte eine wichtige Rolle, denn der Fahrer muss die nen Vigilanzminderungen erkannt werden, während
wichtigen Informationen selektieren, relevante Än- der aktuelle Aufmerksamkeitszustand durch die
17 derungen in der Fahrumgebung oder im Fahrzeug kurzfristigen Indikatoren beschrieben werden kann.
(Systeminformationen) entdecken, während er die Zu den geeigneten langfristigen Indikatoren, bei
primäre Fahraufgabe bewältigt (Aufmerksamkeits- denen jedoch immer eine Situationsabhängigkeit
-
38 teilung), und möglichst ständig aufmerksam sein, beachtet werden muss, gehören nach [11]:
damit er auf die Änderungen – auch in zeitkriti- Spurhaltung, v. a. die Standardabweichung der
-
19 schen Situationen – reagieren kann. lateralen Position (SDLP) im Fahrstreifen,
Häufig wird die Aufmerksamkeit auch mit Ab- Variationen im Lenkverhalten (Zunahme
20 lenkung in Verbindung gebracht: Von Ablenkung schneller, großer Lenkbewegungen; Abnahme
beim Autofahren wird gesprochen, wenn die Auf- kleiner Korrekturbewegungen),
38.3 • Müdigkeitserkennung
691 38
1
2
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 38.2 Abgrenzungen zum Ermüdungsbegriff nach [23]
10
Die Begriffe Ermüdung, Müdigkeit und Schläfrigkeit des Fahrers) bereits in Ermüdungsphasen zu ergrei-
werden in der Literatur meist nicht eindeutig vonei- fen, in der es noch nicht zu kritischen Leistungsre-
11 nander unterschieden. In diesem Kapitel werden die duktionen kommt.
Begriffe synonym verwendet, da im Fahrzeugkontext Eine Studie zeigt bei Lkw-Fahrern als Folge von
12 oftmals von Müdigkeitserkennung gesprochen wird. Müdigkeit u. a. die Abschwächung der Aufmerk-
[23] definiert in der sukzessiven Destabili- samkeit und die Erhöhung von Reaktionszeiten auf
sierungstheorie vier Ermüdungsgrade, die eine kritische Ereignisse [24].
13 Beschreibung des Ermüdungsverlaufs ermög-
lichen. Während in der ersten Stufe erste kaum
14 zu bemerkende Störungen in den psychophysio- 38.3.2 Messgrößen
logischen Funktionsbereichen auftreten, werden und Messverfahren
zur Müdigkeitserkennung
15 die Störungen im zweiten Ermüdungsgrad auch
für die Person selbst beobachtbar. Der Mittelwert
der Leistungskurve bleibt gleich, auch wenn eine Die Fahrperformanz (u. a. Lenkverhalten und
16 erhöhte Leistungsstreuung auftritt und auch die Spurhaltung), das Lidschlussverhalten (z. B. mittels
Häufigkeit von Fehlleistungen (z. B. Fahrfehlern) spezieller Eyetracking-Systeme), das EEG und der
17 zunimmt. Im „Ermüdungsgrad 3“ fällt die Leis- pupillografische Schläfrigkeitstest werden zu den
tung hingegen ab. Eine weitere Verschärfung zum validesten Möglichkeiten der Müdigkeitserfassung
vierten Grad mündet in erschöpfungsähnlichen gezählt (vgl. [4]). Weiterhin kann auch mit einem
38 Zuständen, die in der Regel in einer Arbeitsver- Elektrokardiogramm (EKG, u. a. zur Messung der
weigerung enden. Herzschlagfrequenz) oder durch subjektive Befra-
19 Dies zeigt, dass Ermüdung ein langsam einset- gung Müdigkeit ermittelt werden. Eine zuverlässi-
zender Prozess ist und dass die Detektion von Er- gere Detektion von Müdigkeit wird i. d. R. durch die
20 müdung bereits in frühen Stadien dieses Prozesses Kombination von zwei oder mehr Messverfahren
sinnvoll ist, um erste Maßnahmen (z. B. Warnung erreicht.
38.3 • Müdigkeitserkennung
693 38
PERCLOS (PERcentage of – Zeitanteil, bei dem die Augen bezüglich der Augenlidspalte 80 % [26, 27]
eye CLOSure) oder mehr geschlossen sind
– kamerabasierte Messung möglich
– wird bei Müdigkeit größer, reagiert aber erst bei fortgeschrittener
Müdigkeit
dauer gegenüber dem Vergleichsmaß PERCLOS in den Ergebnissen fest, die das Vorhandensein von
1 festgestellt werden, da eine höhere Sensitivität für starken interindividuellen Unterschieden verdeut-
frühe Müdigkeitsstadien vorliegt (zuvor konnten lichen.
2 nur ca. 40 % der frühen Stadien von Müdigkeit auf- Unterschiedliche Anwendungsfälle einer Mü-
geklärt werden) und da Phasen kurz vor dem Ein- digkeitserkennung sind in ▶ Abschn. 38.5 beschrie-
schlafen zuverlässiger erkannt werden können [5]. ben.
3 Durch ein EEG können mittels Elektroden auf
der Kopfhaut Veränderungen in den Frequenzbän-
4 dern der Gehirnwellenaktivität festgestellt werden, 38.4 Erkennung medizinischer
wobei Häufigkeit, Dauer und Amplitude sogenann- Notfälle
5 ter Alpha-Spindeln Hinweise auf den vorliegenden
Müdigkeitsgrad geben (z. B. [10]). Zurzeit erfüllt die Die Leistung, die ein Mensch erbringen kann, wird
Methode der EEG-Messung jedoch noch nicht die u. a. vom aktuellen Gesundheitszustand beeinflusst.
6 Anforderung der kontaktlosen Messung. Insbesondere relevant ist dies bei plötzlich eintre-
Letztlich können auch mithilfe der Messgrößen tenden Veränderungen des Gesundheitszustands
7 Herzschlagfrequenz, Herzschlagvariabilität und während der Fahrt – wie beispielsweise beim Auf-
Hautleitwert Hinweise auf Müdigkeit gewonnen treten medizinischer Notfälle, zu denen u. a. Herz-
werden. infarkte oder Schlaganfälle zählen.
8 Aufgrund des demographischen Wandels wird
Fahrzeugbezogene Messgrößen Bei steigender die Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer im Straßen-
9 Müdigkeit treten häufiger Fahrfehler auf ([4]; vgl. verkehr zunehmen, womit auch eine Zunahme von
Ermüdungsgrad 2 [23]). Daher gibt es viele An- medizinisch bedingten Kontrollverlusten am Steuer
10 sätze, die Daten des Fahrverhaltens (z. B. Lenkbe- zu erwarten ist. Insbesondere das vermehrte Auf-
wegungen, Geschwindigkeits- und Bremsverhalten, treten von kardiovaskulären Erkrankungen (z. B.
Abweichungen von der Idealspur oder auch Kenn- Herzinfarkte) ist zu erwarten [7], die eine plötzlich
11 werte wie die TTC; [8]) auszuwerten, um auf die auftretende Fahruntüchtigkeit des Fahrers bewir-
Müdigkeit von Fahrern schließen zu können. Die ken, wodurch in der Folge häufig schwere Unfälle
12 Vorteile der Müdigkeitsermittlung aus den Daten entstehen können. Die Überwachung des Gesund-
des Fahrerverhaltens liegen in der berührungslosen heitszustands, um bei entsprechenden Problemen
sowie kostengünstigen Aufzeichnung der Daten. Als eingreifen zu können und das Fahrzeug beispiels-
13 Nachteil erweist sich jedoch, dass die Müdigkeitser- weise sicher zum Stillstand zu bringen, wird somit
fassung im Stadtverkehr anhand von Daten aus dem an Bedeutung gewinnen.
14 Fahrzeugquerführungsverhalten aufgrund der Stör-
anfälligkeit durch Streckencharakteristika schwierig
38.4.1 Messgrößen
15 ist (vgl. [4]).
und Messverfahren
Bei den Versuchen von [28], in denen über eine zur Erkennung medizinischer
16 dreistündige Versuchsfahrt in der monotonen Um- Notfälle
gebung eines Testgeländes Müdigkeit induziert
17 wurde, konnten signifikante Zusammenhänge zwi- [30] fassen zusammen, dass Daten aus einem EKG,
schen der Steering-Wheel-Reversal-Rate (SWRR, aus einer Plethysmographie (Messverfahren zu Vo-
gemäß [29] die Häufigkeit, in der die Lenkrichtung lumenschwankungen eines Körperteils oder Or-
38 über einen Mindestwinkel („gap“) hinaus gewech- gans) und die Überwachung des Blutdrucks dazu
selt wurde) und einer Selbsteinschätzung festgestellt genutzt werden können, kardiologische Notfälle
19 werden: Mit steigender Müdigkeit nimmt die Fre- (Herzinfarkte und Herzrhythmusstörungen) und
quenz von großen Lenkradbewegungen zu, wäh- Synkopen (Kreislaufkollaps) zu erkennen (s. auch
20 rend die Gesamtanzahl von Lenkradbewegungen . Tab. 38.2). Zudem eignen sich die Indikatoren
abnimmt. [28] stellen hohe Standardabweichungen zur Detektion von Epilepsie und Schlaganfällen,
38.4 • Erkennung medizinischer Notfälle
695 38
.. Tab. 38.2 Messgrößen zur Detektion medizinischer Notfälle im Fahrzeug (Auszug aus [30]): + gut erkennbar, (+)
erkennbar, o weniger gut erkennbar
Elektroenzephalogramm (EEG) + +
Blutzuckerkonzentration +
wobei Daten aus einem EEG diese beiden Notfälle Sensorik (beispielsweise kapazitiv oder magnetisch
besser erkennbar machen. Während die Blutzu- induktiv) anfälliger für Artefakte ist.
ckerkonzentration einen Zuckerschock erkennbar Auch mit einfachen Webcams ist es möglich,
werden lässt, kann die Überwachung der Atmung über Veränderungen im Grad der Lichtreflexion
bei der Detektion von Epilepsie und Synkopen hel- Auffälligkeiten im Herzkreislaufsystem zu detek-
fen – beide Indikatoren sind mit aktueller Sensorik tieren [32]. Die erhobenen Werte korrelierten mit
jedoch nicht während der Fahrt messbar. bis zu r = 0,98 mit dem Referenzwert, einer Messung
Ebenso sind Informationen über die Sauerstoff- per Fingersensor. Auch wenn die besten Ergebnisse
sättigung des Blutes, die Körpertemperatur sowie bei ruhig sitzenden Probanden erzielt werden konn-
Informationen bezüglich Lage und Bewegungen ten, kamen bei kleineren Bewegungen ebenfalls gute
des Fahrers prinzipiell dazu geeignet, medizinische Ergebnisse zustande. Probleme treten bei großen
Notfälle des Fahrers zu identifizieren [31]. Kopfbewegungen und bei schlechten Lichtverhält-
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, mit wel- nissen auf [32]. Neben der in der Studie ermittelten
chen Sensoren während der Fahrt Gesundheitsin- Herzschlagfrequenz können andere Indikatoren wie
dikatoren erfasst werden können – hier liegt der die Herzschlagvariabilität mit der Methode eben-
Schwerpunkt auf der Ermittlung der Herzschlag- falls geschätzt werden.
frequenz. Es werden jedoch auch Verfahren zur Über den von [33] entwickelten Pkw-Sitz mit
Erhebung des EKG, des Hautleitwertes sowie der Mehrkanal-EKG-System in der Rückenlehne kann
Sauerstoffsättigung diskutiert. Einige Forschungsar- mittels kapazitiver Elektroden kontaktlos und un-
beiten bewerten die Eignung von kamerabasierten merklich die Herzaktivität gemessen werden, da
Verfahren, da diese die Anforderung der kontaktlo- diese über Potenziale auf der Körperoberfläche
sen Messung erfüllen und mit weiteren Anwendun- selbst durch Kleidung ermittelbar ist. Die Signal-
gen im Fahrzeug kombiniert werden können (z. B. qualität ist von dem Anpressdruck auf den Sitz und
Müdigkeits- oder Unaufmerksamkeitserkennung). damit auch vom Körpergewicht, der Körpergröße
Kamerabasierte Verfahren können den Herzschlag und Körperstatur abhängig. Durch eine geeignete
über Blutvolumenänderungen in Blutgefäßen Elektrodenkonfiguration können in statischen
(Plethysmographie) im Gesicht ermitteln, da sich Versuchen bei ca. 90 % der Probanden Messwerte
dort keine Einschränkungen durch Bekleidung er- aufgezeichnet werden. Weiteren Einfluss auf die
geben. Allerdings sind Artefakte durch die Umge- Signalqualität haben Bewegungsartefakte, die bei-
bungsbeleuchtung möglich. spielsweise bei sehr dynamischer Fahrweise auftre-
[30] stellen fest, dass eine Farbkamera, die im ten können und die Bekleidung der Fahrer.
Kombiinstrument verbaut ist, bei mittlerer Ar- Über eine Sensoreinheit am Lenkrad ist es mög-
tefaktanfälligkeit eine gute Detektierbarkeit der lich, die Bioindikatoren Herzschlagfrequenz, Sauer-
Herzschlagfrequenz verspricht, während andere stoffsättigung und Hautwiderstand zu messen [34].
696 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung
samkeit. Gemäß [36] kann sich der Fahrer ständig den kann – beginnt ein zweistufiger Warnprozess.
über den vom System ermittelten sogenannten Zuerst erscheint 10 Sekunden lang eine Hinweis-
„Attention Level“ (Aufmerksamkeitszustand in meldung im Kombiinstrument und eine akustische
fünf Stufen) informieren und eine frühzeitigere Warnung; zeigt der Fahrer in der Folge weiterhin
Pausenplanung beginnen. Wird dem Fahrer eine Anzeichen von Müdigkeit, folgt eine aufdringlichere
Pause empfohlen, zeigt das System das bereits aus Warnung, die vom Fahrer mit einem Tastendruck
der ersten Generation bekannte „Kaffeetassen-Sym- bestätigt werden muss.
bol“ (s. . Abb. 38.5). Nach der Warnmeldung bie-
tet das Navigationssystem eine Rastplatzsuche an. Driver Alert Control (Volvo) Das System analysiert
Das System ist im Geschwindigkeitsbereich 60 bis über eine Frontkamera, wie der Fahrer zwischen
200 km/h aktiv. Der Fahrer hat die Möglichkeit, den Fahrbahnmarkierungen fährt, und warnt über
das System auf den Modus „Empfindlich“ (Alter- einen Warnton und einen Hinweis im Kombiinst-
nativmodus „Standard“) einzustellen, in welchem rument, wenn der Fahrer müde oder abgelenkt ist
der Algorithmus sensibler reagiert und der Fahrer [39]. Das System vergleicht das Lenkverhalten mit
früher gewarnt wird. zuvor erlernten Mustern und erkennt Schwankun-
Das System erstellt zu Beginn einer Fahrt ein gen im seitlichen Abstand zur Fahrstreifenmarkie-
individuelles Fahrerprofil, das fortan kontinuierlich rung.
mit dem aktuellen Fahrerverhalten verglichen wird
[37]. Folgende Indikatoren werden zur Erkennung Driver Monitoring Camera (Toyota) und Driver At-
einer zunehmenden Ermüdung bzw. Unaufmerk- tention Monitor (Lexus) Bei diesem System über-
samkeit herangezogen: das Lenkverhalten, die Fahr- wacht eine auf der Lenksäule angebrachte Kamera,
bedingungen (die aktuelle Uhrzeit und die Fahrt- ob der Fahrer geradeaus schaut, und warnt ihn,
dauer bzw. die Geschwindigkeit), äußere Einflüsse wenn eine Kollision mit einem Hindernis droht.
wie Seitenwind oder Fahrbahnunebenheiten und Das System kann zusätzlich eine Bremsung unter-
das Bedienverhalten (beispielsweise die Frage, ob stützen [40].
bei einem Fahrstreifenwechsel der Fahrtrichtungs-
anzeiger betätigt wurde). Müdigkeitserkennung (Volkswagen) Das System
von Volkswagen (beispielsweise im VW Passat)
Driver Alert (Ford) Über eine Frontkamera, die hin- warnt den Fahrer über einen Hinweis im Kombi-
ter dem Innenspiegel verbaut ist, kann das System instrument und ein akustisches Signal, wenn eine
von Ford die Fahrbahnmarkierungen auf beiden Ermüdung detektiert wurde und eine Pause emp-
Seiten detektieren [38]. Aus dem Vergleich der la- fohlen wird. Gemäß [41] ist der Lenkwinkel das
teralen Sollposition und der aktuellen Position des wichtigste Signal zur Detektion. Weiterhin werden
Fahrzeugs kann rückgeschlossen werden, ob der Signale wie die Fahrpedalbetätigung, die Querbe-
Fahrer müde ist, da ein müder Fahrer dazu neigt, schleunigung und die Bedientätigkeit des Fahrers
von einer zur anderen Seite zu pendeln. Sobald zur Beurteilung herangezogen. Die Signale werden
eine signifikante Abweichung erkannt wurde – und dazu mit einem charakteristischen Verhalten vom
diese keinem Fahrstreifenwechsel zugeordnet wer- Fahrtbeginn verglichen.
698 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung
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701 39
Fahrerabsichtserkennung
und Risikobewertung
Martin Liebner, Felix Klanner
39.1 Problemstellung – 702
39.2 Einordnung bestehender Arbeiten – 704
39.3 Rein prädiktive Verfahren – 705
39.4 Wissensbasierte Verfahren – 706
39.5 Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht – 708
39.6 Berücksichtigung des Situationsbewusstseins – 713
39.7 Zusammenfassung und Ausblick – 716
Literatur – 717
naus ist anzunehmen, dass sich der Fahrer bei einer links dargestellten Situation sollte der Fahrer des
Vielzahl unnötiger Warnungen von diesen gestört roten Fahrzeugs beispielsweise nur dann auf das
oder sogar in seiner Fahrkompetenz angegriffen fühlt von links kommende graue Fahrzeug hingewiesen
und das System in der Folge abschaltet. Aufgabe des werden, wenn dessen Fahrer nicht gerade vor hat,
Assistenzsystems ist es daher, das tatsächliche Kolli rechts abzubiegen.
sionsrisiko für jede der potenziellen Konfliktsitua- Die Herausforderung hierbei besteht darin, dass
tionen möglichst genau zu bestimmen, um auf die- für Absichtsvorhersage von anderen Verkehrsteil-
ser Basis über die Notwendigkeit einer Warnung zu nehmern in der Regel deutlich weniger Merkmale
entscheiden. Neben der aktuellen Position und Ge- zur Verfügung stehen als für die des eigenen Fah-
schwindigkeit der beteiligten Verkehrsteilnehmer rers. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen
sind hierbei insbesondere auch die Absicht und das werden, dass der Fahrtrichtungsanzeigerstatus
Situationsbewusstsein des Fahrers relevant. des grauen Fahrzeugs in jeder Situation beobach-
tet werden kann, so dass die Fahrerabsichtserken-
nung in diesem Fall beispielsweise auf Basis des
39.1.1 Fahrerabsichtserkennung Geschwindigkeitsverlaufs erfolgen muss. Dennoch
sollte der Fahrtrichtungsanzeigerstatus – falls be-
Umfangreiche Untersuchungen im Fahrsimulator obachtbar – bei der Schätzung der Fahrerabsicht
haben ergeben, dass Warnungen insbesondere in berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnte es
komplexen innerstädtischen Verkehrssituatio- sein, dass das Fahrzeug weitere Informationen – wie
nen mindestens zwei bis drei Sekunden vor dem den Lenkwinkel oder die Blickrichtung des Fahrers
eigentlichen Konflikt ausgegeben werden sollten, – via Funk zur Verfügung stellt. Im Hinblick auf
um dem Fahrer eine angemessene Reaktion auf die Entwicklung eines Verfahrens zur Fahrerab-
die Konfliktsituation zu ermöglichen [7]. Für eine sichtsvorhersage besteht somit die Notwendigkeit,
derart lange Vorausschau ist die Prädiktion der dass dieses mit einer variablen Menge beobachteter
weiteren Bewegung des Fahrzeugs rein auf Basis Merkmale umgehen kann.
seines aktuellen Bewegungszustands oft nicht aus- Gleichzeitig liegt in der Situation an sich bereits
reichend, da der Fahrer innerhalb dieses Zeitraums ein hohes Maß an Variabilität vor: Das graue Fahr-
den Kurs des Fahrzeugs maßgeblich beeinflusst. Ein zeug könnte sich mit unterschiedlichen Anfangs-
typisches Beispiel ist die in . Abb. 39.1 dargestellte geschwindigkeiten an die Kreuzung annähern und
Abbiegesituation: Obwohl sich aus den aktuellen je nach Fahrstil des Fahrers bei gegebener Abbie-
Bewegungsrichtungen von Radfahrer und Fahrzeug geabsicht früher oder später abbremsen. Ob und
zunächst kein Konflikt ergibt, ist dieser bei gege- wie stark dieses Abbremsen ausfällt, hängt hierbei
bener Rechtsabbiegeabsicht des Fahrers dennoch maßgeblich von der Kreuzungsgeometrie ab sowie
vorhanden. davon, ob der Fahrer vor dem Fußgängerüberweg
Neben der des eigenen Fahrers ist mitunter auch anhalten muss. Hinzu kommt die Interaktion mit
die Absicht von anderen Verkehrsteilnehmern für anderen Verkehrsteilnehmern: In der in . Abb. 39.2
die Risikobewertung relevant: In der in . Abb. 39.2 rechts dargestellten Situation wird der Geschwin-
704 Kapitel 39 • Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung
digkeitsverlauf des hinteren grauen Fahrzeugs maß- kannten Gewöhnungs- und Anpassungseffekte sind
1 geblich durch sein Vorderfahrzeug bestimmt, so daher unbedingt zu vermeiden. Auch hier wird die
dass sein Geschwindigkeitsverlauf unabhängig von Analogie zum menschlichen Beifahrer herangezogen,
2 der Fahrerabsicht dem eines Rechtsabbiegers ähnelt. der zwar schon manch einen Unfall verhindert hat,
Bereits in dieser verhältnismäßig einfachen Si- aber im Falle einer unterlassenen Warnung nicht für
tuation existiert somit eine Vielzahl von Größen, die den Schaden verantwortlich gemacht werden kann.
3 das beobachtete Fahrerverhalten und die daraus zu Über die unmittelbare Nutzung zur Unterdrü-
ziehenden Schlüsse hinsichtlich der Fahrerabsicht ckung unnötiger Warnungen hinaus stellt das Situ-
4 beeinflussen. Dies und die Tatsache, dass sowohl ationsbewusstsein des Fahrers auch die Grundlage
von den Merkmalen des Fahrerverhaltens als auch seiner Interaktion mit anderen Verkehrsteilneh-
5 von den Einflussgrößen oft nur ein Teil direkt be- mern dar. Wie sich dies in konkreten Anwendungs-
obachtbar ist, machen die Fahrerabsichtserkennung fällen zur Erlangung eines vollständigeren Abbilds
zu einem äußerst spannenden, aber auch herausfor- der Verkehrssituation, zur Plausibilisierung des
6 dernden Arbeitsgebiet. Fahrerverhaltens und zur Vorhersage des weiteren
Verkehrsgeschehens nutzen lässt, wird in ▶ Ab-
7 schn. 39.6 ausführlich diskutiert.
39.1.2 Berücksichtigung
des Situationsbewusstseins
8 39.2 Einordnung bestehender
Durch verschiedene Verfahren zur Fahrerabsichts- Arbeiten
9 erkennung wird dafür gesorgt, dass der Fahrer nur
auf die für seine Absicht relevanten Verkehrsteilneh- Zur Bewertung des Kollisionsrisikos von Verkehrs-
10 mer hingewiesen wird. Darüber hinaus kann jedoch situationen existieren bereits zahlreiche Ansätze
auch die Warnung vor potenziellen Konfliktpart- und Methoden in der Literatur, über die im Fol-
nern, die der Fahrer selber bereits wahrgenommen genden ein möglichst systematischer Überblick ge-
11 hat, als störend empfunden werden. Die Situation ist geben werden soll. Wie in . Abb. 39.3 dargestellt,
prinzipiell die gleiche wie bei menschlichen Beifah- kann hierbei zunächst zwischen einer reinen Prä-
12 rern: Während ständige Hinweise und Warnungen diktion auf Basis kinematischer, dynamischer oder
als störend empfunden werden und im schlimmsten kartenbasierter Bewegungsmodelle, der Risiko-
Fall durch Ablenkung des Fahrers sogar Gefahren- bewertung auf Basis der Fahrerabsicht sowie rein
13 situationen herbeiführen können, beobachtet ein wissensbasierten Verfahren unterschieden werden.
guter Beifahrer sowohl das Verkehrsgeschehen als Die Risikobewertung auf Basis der Fahrerab-
14 auch den Fahrer und gibt Hinweise an diesen nur sicht stellt hierbei die mit Abstand am häufigsten
dann, wenn er das Gefühl hat, dass der Fahrer einen eingesetzte Methode dar; hinsichtlich der Art der
15 wesentlichen Aspekt der aktuellen Verkehrssitua- Fahrerabsichtserkennung wird daher weiterhin
tion nicht mitbekommen hat und dass sich dadurch zwischen diskriminativen und generativen Metho-
eine Gefährdungssituation ergibt [8]. den unterschieden. Die in der dritten Ebene einge-
16 Neben der Vermeidung unnötiger Störungen führte Gruppierung in „Kaum Interaktion“, „Ein-
besteht insbesondere unter dem Gesichtspunkt der geschränkte Interaktion“ und „Volle Interaktion“
17 kommunikationsbasierten Umfeldwahrnehmung bewertet hierbei die Fähigkeit der Ansätze, der in
noch ein weiterer Grund, die Zahl der Systemaus- ▶ Abschn. 39.1 beschriebenen Interaktion zwischen
lösungen auf ein Minimum zu reduzieren: Da mit Verkehrsteilnehmern Rechnung zu tragen. Neben
18 einer vollständigen Marktdurchdringung innerhalb der Fähigkeit, eine vorab unbekannte Zahl von Ein-
der nächsten 20 Jahre nicht zu rechnen ist, kann allein flüssen auf das Fahrerverhalten zu berücksichtigen,
39 schon prinzipiell nicht garantiert werden, dass das spielt auch die Möglichkeit der Modellierung eines
Assistenzsystem den Konfliktpartner in jedem Fall objektbezogenen Situationsbewusstseins eine Rolle.
20 detektieren und den Fahrer darauf hinweisen kann. Die eigentlichen Methoden der Fahrerabsichts-
Die beispielsweise von Parkassistenzsystemen be- erkennung werden schließlich in der untersten
39.3 • Rein prädiktive Verfahren
705 39
6
7
39.3.3 Umgang mit Unsicherheiten
-
11 sondere folgende Ansätze:
Rechnen mit Normalverteilungen [11, 19, 10, Ist für die Entscheidung des Assistenzsystems nicht
12 13]: Durch Annahme von normalverteilten die Wahrscheinlichkeit, sondern lediglich die Mög-
Zufallsgrößen, wie sie bei Verwendung von lichkeit einer Kollision relevant, kann die Prädiktion
Kalman-Filtern für das Objekttracking oh- auch auf Basis sogenannter Erreichbarkeitsmengen
13 nehin vorausgesetzt werden, können Unsi- erfolgen: Diese können entweder durch die Einhül-
cherheiten mit sehr geringem Aufwand in die lende des erreichbaren Zustandsraumes [18, 24]
14 Zukunft prädiziert werden. Nichtlinearitäten oder die Instanz eines Rapidly Exploring Random
im Bewegungsmodell können hierbei durch Tree repräsentiert werden [25]. Anwendung finden
15 entsprechende Filtererweiterungen (EKF/UKF) die beiden Verfahren beispielsweise bei der Absi-
berücksichtigt werden. Für die Kollisionserken- cherung automatisierter Fahrmanöver.
nung kann beispielsweise die Konfidenzellipse
16 herangezogen werden [11]. Alternativ wird in
[19] vorgeschlagen, den minimalen Abstand 39.4 Wissensbasierte Verfahren
17 zu den relevanten Konfliktpartnern wiede-
rum als normalverteilt anzunehmen und die Im Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen zielen
zugehörigen Parameter mithilfe der Unscented wissensbasierte Verfahren darauf ab, Gefährdungen
-
18 Transformation zu bestimmen. auf Basis der Verkehrssituation an sich zu bestim-
Diskretisierung des Zustandsraumes [21]: Die men.
39 Unterteilung des Zustandsraumes in kleine Regelsätze stellen hierbei eine sehr einfache,
Abschnitte erlaubt es, die Fortpflanzung der aber in der Praxis häufig verwendete Untergruppe
20 Unsicherheiten für jeden dieser Abschnitte der wissensbasierten Verfahren dar. Diese können
separat durchzuführen und somit den vor- sehr einfach gehalten sein, wie beispielsweise bei
39.4 • Wissensbasierte Verfahren
707 39
.. Abb. 39.5 Verfahren
des Fallbasierten Schlie-
ßens [27]. Hierbei wird
die aktuelle Verkehrssitu-
ation anhand abstrakter
Merkmale zunächst als
Fall beschrieben. Aus
einer Datenbank wird
daraufhin ein ähnlicher Fall
extrahiert und das darin
hinterlegte Wissen für die
Verhaltensentscheidung
im aktuellen Fall herange-
zogen. Nach Ausführung
des Verhaltens wird dieses
hinsichtlich seiner Eignung
für die Situation bewertet,
angepasst und bei Bedarf
in Form eines neuen
gelernten Falls in der
Datenbank abgelegt.
9
10
bei mehreren Rechtsabbiegemöglichkeiten – und
sogar zwischen Manöverkombinationen unterschie-
den werden [54].
Als Merkmale für die Fahrerabsichtserkennung
-
diskriminative Methoden angewendet:
Artificial Neural Networks (ANN) [58]:
Künstliche neuronale Netze sind eine der
ältesten Methoden der künstlichen Intelligenz;
kommt prinzipiell eine Vielzahl von Größen in der bekannteste Vertreter ist das mehrlagige
Frage. Von außen beobachtbar und somit für die Perzeptron. Dieses besteht aus mehreren
11 Absichtserkennung von anderen Verkehrsteilneh- Lagen binärer Entscheidungsknoten, deren
mern verwendbar sind hierbei aber in der Regel Aktivierung genau dann erfolgt, wenn die
12 nur die Position des Fahrzeugs, fahrdynamische gewichtete Summe ihrer Eingänge einen
Größen wie Geschwindigkeit, Längs- und Quer- bestimmten Schwellwert überschreitet. Durch
beschleunigung und Drehrate sowie Kontextinfor- die Kaskadierung mehrerer Schichten können
13 mationen wie Geschwindigkeit und Abstand eines auch komplexe nichtlineare Entscheidungs-
möglichen Vorderfahrzeugs. Zudem ist zu erwar- regeln abgebildet werden. Die Gewichte der
14 ten, dass zukünftig auch das mithilfe von Kame- einzelnen Knoten werden hierbei auf Basis von
rasystemen beobachtete Fahrtrichtungsanzeigersi- annotierten Trainingsdaten gelernt. Hierbei
15 gnal für die Fahrerabsichtserkennung von anderen ist zu beachten, dass die Modellkomplexität
Verkehrsteilnehmern zur Verfügung steht. Für die im Verhältnis zu der Menge der vorhandenen
Fahrerabsichtserkennung im eigenen Fahrzeug Trainingsdaten nicht zu hoch gewählt wird,
16 können darüber hinaus weitere Steuergrößen des da sonst die Gefahr der Überanpassung des
17
18
Fahrers wie Lenkwinkel und Pedalstellung ausge-
wertet werden. In den letzten Jahren ist zudem die
direkte Beobachtung von Kopfdrehung, Blickrich-
tung und Fußstellung des Fahrers als Möglichkeit
- Netzes besteht.
Support Vector Machines (SVM) [44, 59,
60]: Bei dieser seit Ende der 90er Jahre stark
verbreiteten Klassifikationsmethode wird die
zur sehr frühen Erkennung von Fahrmanövern in mehrdimensionale und i. d. R. nichtlineare
den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen ge- Entscheidungsgrenze zwischen den Klas-
39 rückt [55, 56, 8, 54, 43]. sen durch ein Subset besonders markanter
Eine Übersicht zu bestehenden Ansätzen zur Eingangsdaten mit ihrer zugehörigen Klasse –
20 Fahrerabsichtserkennung ist beispielsweise in [57] sogenannten Supportvektoren – repräsentiert.
zu finden: Die Unterscheidung der Ansätze erfolgt Diese werden durch ein Optimierungsverfah-
39.5 • Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht
709 39
ren direkt aus den Trainingsdaten gewonnen, werden. Im Anschluss wird die zuzuweisende
wobei hierbei zur Optimierung interner Para- Klasse als Mehrheitsentscheidung aller Bäume
meter ggf. mehrere Durchläufe im Rahmen ei- gefällt. Der Vorteil der leichten Interpretier-
ner sog. Kreuzvalidierung erforderlich sind. Im
Gegensatz zu künstlichen neuronalen Netzen
sind SVMs sehr robust gegen Überanpassung,
geben aber ebenfalls nur die wahrscheinlichste
- barkeit geht hierbei aber leider verloren.
Conditional Random Fields (CRF) [39]: CRFs
sind ungerichtete grafische Modelle, die die
statistischen Zusammenhänge zwischen den
Klasse und nicht deren Eintrittswahrschein- Merkmalen berücksichtigen. Im Gegensatz
lichkeit als Ergebnis aus. Um dennoch eine zu anderen diskriminativen Ansätzen kann
probabilistische Vorhersage der Fahrerabsicht zur Verbesserung der Generalisierbarkeit bzw.
treffen zu können, verwenden einige Arbeiten der Reduktion der benötigten Trainingsdaten
[44, 59] ein Bayes-Filter, der die Manöver- bereits durch die Struktur des CRF vorgege-
wahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung ben werden, welche Merkmale von welchen
der Sensitivität und Spezifität der SVM auf abhängig sein können. Dieser Vorteil kommt
Basis der Klassifikationsergebnisse der letzten insbesondere bei der Analyse von Zeitreihen
N Zeitschritte abschätzt. Die Information, wie zum Tragen, etwa bei aufeinanderfolgenden
nahe die Eingangsdaten im aktuellen Einzel-
fall an der Entscheidungsgrenze lagen, bleibt
- Messungen der Geschwindigkeit.
Prototypenbasierte Ansätze (Prototypen) [64,
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diskrimi- Für die Fahrerabsichtserkennung haben gene-
1 native Verfahren bei geeignet gewählter Modell- rative Methoden somit den Vorteil, dass sie zu dem
komplexität und ausreichend Trainingsdaten in wahrscheinlichsten Manöver auch die Eintritts-
2 einfachen Verkehrssituationen sehr gut geeignet wahrscheinlichkeit berechnen. Darüber hinaus sind
sind, die Einleitung von Fahrmanövern frühzeitig sie sehr gut in der Lage, nur zeitweise beobachtete
zu erkennen. Ihr Nachteil besteht darin, dass sich Merkmale in die Berechnung der Manöverwahr-
3 mit ihrer Hilfe häufig nur die wahrscheinlichste scheinlichkeit einzubeziehen. Da jedes generative
Klasse, nicht jedoch die zugehörige Eintrittswahr- Modell eine vollständige Wahrscheinlichkeitsvertei-
4 scheinlichkeit ermitteln lässt und nachfolgende lung darstellt, können diese frei miteinander kombi-
Filterungen die tatsächliche Eintrittswahrschein- niert werden. Im Gegensatz zu diskriminativen Me-
5 lichkeit lediglich approximieren: Dies erschwert thoden werden sie aus diesem Grund vorzugsweise
nicht nur die Risikobewertung, sondern auch die eingesetzt, wenn zwischen mehr als zwei möglichen
Kombination der Ergebnisse mehrerer Klassifika- Manövern unterschieden werden soll [57].
6 toren zur Erkennung alternativer Fahrmanöver. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick
Hinzu kommt, dass die Merkmale als Eingangs- über die verbreitetsten generativen Methoden auf
7
8
daten der Klassifikation bei diskriminativen Me-
thoden fest vorgegeben sind. Für die meisten hier
vorgestellten Ansätze ist es daher problematisch,
wenn zwischendurch einige der Merkmale nicht
-
dem Gebiet der Fahrerabsichtserkennung:
Bayesian Networks (BN) [41, 47, 67, 35, 52]:
Bayes’sche Netze [68] sind gerichtete azyk-
lische Graphen, die zur grafischen Reprä-
beobachtbar sind – beispielsweise der von außen sentation der Struktur von probabilistischen
9 beobachtete Fahrtrichtungsanzeigerstatus ande- Modellen verwendet werden. Die durch die
rer Fahrzeuge oder die Blickrichtung des Fahrers. Struktur implizierten Unabhängigkeitsan-
10 Außerdem bedeutet dies, dass alle eventuell zu nahmen reduzieren die Komplexität des
berücksichtigenden Einflüsse auf das Fahrerver- Modells und tragen so dazu bei, dass dieses
halten bereits in der Trainingsphase in Form von mit weniger Trainingsdaten angelernt werden
11 Merkmalen angelernt werden müssen. Da jedoch kann. Obwohl auch die Struktur selbst durch
der Bedarf an Trainingsdaten mit wachsender Zahl die Analyse von Trainingsdaten bestimmt
12 von Merkmalen exponentiell ansteigt, kann insbe- werden kann, wird diese meist auf Basis von
sondere der Interaktion mit anderen Verkehrsteil- Expertenwissen entsprechend der kausalen
nehmern in komplexen Verkehrssituationen bisher Zusammenhänge zwischen den Zufallsgrößen
13 nur sehr eingeschränkt Rechnung getragen werden. vorgegeben. Die Parametrisierung der Knoten
erfolgt daraufhin anhand von Trainingsdaten
14 oder ebenfalls anhand von Expertenwissen.
39.5.2 Fahrerabsichtserkennung Innerhalb eines Bayes’schen Netzes reprä-
mit generativen Methoden
15 sentiert jeder Knoten das Wissen über einen
statistischen Zusammenhang zwischen den
Generative Methoden sind dadurch gekennzeich- modellierten Zufallsgrößen. Teilmodelle
16 net, dass sie die vollständige Wahrscheinlichkeits- können somit beliebig wiederverwendet und
verteilung über alle modellierten Zufallsgrößen ab- – im Gegensatz zu diskriminativen Methoden
17 bilden. Wird ein Teil der Zufallsgrößen beobachtet, – sogar entsprechend der aktuellen Ver-
kann mithilfe der Bayes’schen Regel die A-poste- kehrssituation „on the fly“ zusammengesetzt
riori-Wahrscheinlichkeit der anderen Zufallsgrö- werden. Dies ist eine wesentliche Vorausset-
18 ßen bestimmt werden. Auf Basis der vollständigen zung, um die Interaktion zwischen einer vorab
Wahrscheinlichkeitsverteilung ist es zudem jeder- unbekannten Zahl von Verkehrsteilnehmern
39 zeit möglich, durch Marginalisierung – also durch zu modellieren. Die Berücksichtigung der
Aufsummieren der Wahrscheinlichkeiten von Teile- tatsächlichen Umgebungsbedingungen ist
20 reignissen – die Wahrscheinlichkeit einer einzelnen hierbei besonders effizient möglich, wenn
Zufallsgröße zu berechnen. für die Parametrisierung der Knoten aus der
39.5 • Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht
711 39
- eingesetzt werden.
Parametrische Modelle (Fahrermodell) [42, 53,
54]: Die Modellierung des Fahrerverhaltens
im Straßenverkehr ist seit langem Gegenstand
lichkeiten für die Manöver gewichtet und –
analog zum Vorgehen in [54] – mit anderen
Merkmalen kombiniert werden. Als Nachteil
von HMMs gegenüber CRFs wird häufig die
zahlreicher Untersuchungen auf dem Gebiet bei HMMs vorausgesetzte Gültigkeit der Mar-
der Human Factors. Die Ergebnisse dienen kov-Bedingung angeführt. Diese besagt, dass
hierbei als Grundlage zur Erstellung analy- der Folgezustand des Systems bei Kenntnis
tisch-regelbasierter Verhaltensmodelle, die des aktuellen Zustands von allen vorangegan-
typisches Fahrerverhalten hinsichtlich eines genen Zuständen statistisch unabhängig ist
bestimmten Merkmals [69, 70, 71], eines und dass somit auch die aufeinanderfolgenden
Manövertyps [72] oder auch als integriertes Beobachtungen gegeben dem Systemzu-
Modell [73, 74] beschreiben. Anstelle des stand voneinander unabhängig sein müssen.
Anlernens mit Trainingsdaten können Knoten Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die
eines Bayes’schen Netzes auch mithilfe eines Kardinalität des Zustandsknotens bei HMMs
solchen Fahrerverhaltensmodells parametri- größer gewählt werden muss als bei CRFs, um
siert werden. Dem Nachteil der Vereinfachung die Dynamik des beobachteten zeitkontinuier-
der statistischen Zusammenhänge stehen lichen Signals gleich gut zu erfassen. Diesem
folgende Vorteile der Verwendung von Fah- Nachteil steht jedoch entgegen, dass die Be-
rerverhaltensmodellen entgegen: die rechen- rechnung der Beobachtungswahrscheinlich-
technisch sehr effiziente Berücksichtigung keiten bei HMMs mithilfe des Forward-Algo-
beliebig komplexer Umgebungsbedingungen, rithmus deutlich effizienter möglich ist als bei
die gute Analysierbarkeit der Modelle sowie CRFs. Im Hinblick auf die Berücksichtigung
die Tatsache, dass sich die Modelle sehr ein- von Interaktion zwischen Verkehrsteilneh-
fach zwischen Wissenschaftlern austauschen mern besteht der deutlich gravierendere
- lassen.
Hidden Markov Models (HMM) [40, 38, 75]:
Bei HMMs [76] handelt es sich um eine
Sonderform von dynamischen Bayes’schen
Nachteil von HMMs darin, dass die zugrunde
liegenden Modelle ähnlich wie bei diskrimi-
nativen Verfahren als Ganzes gelernt werden:
Das im Zusammenhang mit Bayes’schen
Netzen, bei der das Netz aus einem ver- Netzen diskutierte Zusammenbauen von
borgenen Systemzustand und einer davon Modellen je nach konkreter Verkehrssituation
abhängigen, beobachtbaren Zufallsvariable
besteht. Im Gegensatz zu BNs berücksichtigen
sie die zeitlichen Zusammenhänge zwischen
aufeinanderfolgenden Systemzuständen und
- ist somit nicht möglich.
Gaussian Processes (GP) [45, 77]: Gauß-Pro-
zesse stellen eine Verallgemeinerung der
mehrdimensionalen Normalverteilung auf
können somit zur Analyse von Zeitreihen unendlich viele Zufallsgrößen dar; mittels
herangezogen werden. Für die Fahrerabsichts- dieser kann die zeitliche Entwicklung nor-
erkennung werden hierfür zunächst für jeden malverteilter Zufallsgrößen mithilfe einer
zu berücksichtigenden Manövertyp die Prior-, Mittelwertfunktion m(t) und einer Kovarianz-
Übergangs- und Emissionswahrscheinlichkei- funktion k(t, t‘) beschrieben werden. Für die
ten ermittelt, die die zugehörigen Trainingsda- Fahrerabsichtsvorhersage erfolgt die Approxi-
ten bestmöglich erklären. Im Anschluss kann mation dieser Funktionen mit Regressionsme-
mithilfe der so ermittelten Parametersätze thoden direkt auf Basis der Trainingsdaten des
für jede neue Sequenz von Eingangsdaten die zugehörigen Manövers. Die Berechnung der
Wahrscheinlichkeit bestimmt werden, dass Manöverwahrscheinlichkeit erfolgt wiederum
ein bestimmtes Manöver diese hervorbringen auf Basis der Wahrscheinlichkeit, dass das
würde. Zur Bestimmung der Manöverwahr- jeweilige Manövermodell die Beobachtung
scheinlichkeiten können diese sogenannten hervorgebracht hat.
712 Kapitel 39 • Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung
und dem Verhalten der umgebenden Fahrzeuge tenzsystem über ein nur lückenhaftes Umfeldmodell
zu analysieren. Die eigentliche Prädiktion und verfügt (linke Halbebene). Für das bestmögliche
Risikobewertung erfolgt schließlich auf Basis ei- Verständnis der Verkehrssituation und die optimale
nes der in ▶ Abschn. 39.3 vorgestellten Verfahren Unterstützung des Fahrers ist es daher erforderlich,
oder – bei Verwendung von HMMs, DBNs oder sowohl sein Situationsbewusstsein als auch das des
Fahrerverhaltensmodellen – ggf. auch direkt auf Assistenzsystems explizit zu modellieren: Die bei-
Basis des zur Fahrerabsichtserkennung verwende- spielhafte Umsetzung eines derartigen Modells wird
ten Modells. in [85] diskutiert. An dieser Stelle soll lediglich der
konkrete Nutzen dieser – zugegebenermaßen recht
aufwendigen – Modellierung an vier Beispielen ge-
39.6 Berücksichtigung zeigt werden.
des Situationsbewusstseins
.. Abb. 39.7 Haltepunkt,
1 Zufahrten und Sichtbe-
reich des Fahrers beim
Rechtsabbiegen
2
3
4
5
6
7
Zur Lösung des Problems sind zwei verschie- bei der Zusammenhang zwischen dem Situations-
8 dene Ansätze denkbar: das Training mit künstlichen bewusstsein des Fahrers in aufeinanderfolgenden
Daten sowie die explizite Modellierung des Situa- Zeitschritten nicht berücksichtigt: Hat der Fahrer
9 tionsbewusstseins vom Fahrer. Letzteres kann als den Radfahrer gerade eben gesehen, ist es wahr-
separates Modell in unkritischen Situationen ange- scheinlich, dass er sich seiner Existenz auch zum
10 lernt und anschließend mit Algorithmen zur Fah- aktuellen Zeitpunkt noch bewusst ist. Die Model-
rerabsichtsvorhersage kombiniert werden. Bei der lierung der zeitlichen Zusammenhänge ist somit
Verwendung von diskriminativen Methoden zur insbesondere dann wichtig, wenn der Sichtbereich
11 Fahrerabsichtserkennung kann dies in Form einer des Fahrers wie in . Abb. 39.7 direkt beobachtet
nachgelagerten Durchführbarkeitsentscheidung wie wird. Hier haben dynamische Bayes-Netze einen
12 in [8] erfolgen. Der Nachteil besteht in diesem Fall erheblichen Vorteil.
jedoch darin, dass die Rückwirkungen der Durch-
führbarkeitsentscheidung auf die Erkennung nach-
13 folgender Manöver, beispielsweise das Durchführen 39.6.2 Detektion nicht sichtbarer
eines Fahrstreifenwechsels nach dem Vorbeilassen Verkehrsteilnehmer
14 des nachfolgenden Fahrzeugs, nicht ohne Weiteres
abgebildet werden können. Bisherige Arbeiten zur Analyse von Verkehrssitua-
15 Deutlich einfacher ist die Berücksichtigung tionen berücksichtigen ausschließlich Verkehrsteil-
des Situationsbewusstseins bei Verwendung von nehmer, die in irgendeiner Form sensorisch erfasst
generativen Methoden zur Fahrerabsichtserken- wurden. Tatsächlich ist es jedoch so, dass sich aus
16 nung. Insbesondere BNs und DBNs sind aufgrund dem Verhalten von beobachteten Verkehrsteilneh-
ihrer Modularisierbarkeit, der Möglichkeit der mern teilweise auf die Existenz nicht beobachteter
17 Verwendung von Fahrerverhaltensmodellen und Verkehrsteilnehmer schließen lässt. Ein Beispiel
ihrer Flexibilität hinsichtlich der zu bewertenden ist in . Abb. 39.8 dargestellt: Aus dem Warten des
Hypothesen sehr gut geeignet, den Einfluss anderer grauen Fahrzeugs direkt vor dem Radweg lässt sich
18 Verkehrsteilnehmer bei vorhandenem Situations- mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Herannahen
bewusstsein des Fahrers auf die zu erwartenden von Fußgängern oder Radfahrern schließen. Unter
39 Beobachtungen abzubilden. In [87] wurde hierfür Berücksichtigung der Tatsache, dass die Umfelder-
beispielsweise zwischen der Absicht, rechts abzu- fassung des roten Fahrzeugs nach links freie Sicht
20 biegen, und der Absicht, dabei vor dem Radweg hat und von dort offensichtlich nichts kommt – und
anzuhalten, unterschieden. Allerdings wird hier- das graue Fahrzeug sicher nicht auf einen langsa-
39.6 • Berücksichtigung des Situationsbewusstseins
715 39
men Fußgänger von rechts warten wird, der sich 39.6.4 Vorhersage des weiteren
aktuell noch hinter der Sichtverdeckung befindet Verkehrsgeschehens
– könnte sogar direkt auf das Herannahen eines
Radfahrers von rechts geschlossen werden. In bei- Neben der Fahrerabsicht hat die Interaktion mit an-
den Fällen kann im roten Fahrzeug eine mehr oder deren Verkehrsteilnehmern einen entscheidenden
weniger spezifische Warnung beim Heranfahren an Einfluss auf die zukünftige Trajektorie des Fahr-
die Kreuzung ausgegeben werden. zeugs: Die Schwierigkeit besteht hierbei vor allem
Da der Radfahrer selbst nicht beobachtet wird, darin, die Kombinatorik der möglichen weiteren
ist für die technische Umsetzung der oben be- Entwicklungen der aktuellen Verkehrssituation in
schriebenen Inferenz eine anderweitige Beschrei- den Griff zu bekommen. Entsprechende Ansätze
bung möglicher Interaktionen zwischen Verkehr- wurden in ▶ Abschn. 39.3 beschrieben. Im Gegen-
steilnehmern beim Rechtsabbiegen erforderlich satz zu den bisher betrachteten Methoden der Tra-
– beispielsweise in Form von in der digitalen Karte jektorienprädiktion ergibt sich durch die Modellie-
hinterlegten Kontextinformationen. In diesem Fall rung des Situationsbewusstseins des Fahrers jedoch
könnten die in . Abb. 39.7 dargestellten Zufahrten ein deutlich größerer Zustandsraum: Theoretisch
durch Zufallsgrößen repräsentiert werden: Diese könnte der Fahrer zu jedem Zeitpunkt neues Wissen
nehmen jeweils die Werte frei oder belegt an, wäh- über seine Umgebung erlangen. Um die Komplexi-
rend der zugehörige Haltepunkt nur durchfahren tät der Vorhersage zu begrenzen, kann zum Zwecke
wird, wenn der Fahrer glaubt, dass beide Zufahrten der Risikobewertung vereinfachend angenommen
frei sind. werden, dass der Fahrer sein aktuelles Situations-
bewusstsein über den gesamten Vorhersagehorizont
hinweg beibehält. Dies scheint angebracht, da die
39.6.3 Verbesserung Entscheidung über die Notwendigkeit der Warnung
der Fahrerabsichtserkennung ohnehin zu einem Zeitpunkt erfolgt, bei dem der
Fahrer das entsprechende Situationsbewusstsein
Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene bereits haben oder spätestens – in Form einer War-
Modellierung des Anhaltegrunds für den Fahrer nung – erlangen sollte.
des grauen Fahrzeug kann gleichzeitig auch zur Er- Ein besonders einfaches Beispiel stellt hierbei
kennung von dessen Abbiegeabsicht herangezogen die Vorhersage von Anfahrvorgängen dar: Ist der
werden: Würde er geradeaus fahren wollen, gäbe es Grund des Anhaltens bekannt, kann natürlich
keinen plausiblen Grund für das Anhalten. auch vorhergesagt werden, wann dieser Grund
Etwas komplizierter ist die Situation bei der voraussichtlich nicht mehr gegeben ist. In der in
Annäherung an eine Vorfahrtsstraße: In diesem . Abb. 39.9 dargestellten Situation wartet der Fah-
Fall kann aus dem Verzögern des Fahrers weder rer des roten Fahrzeugs auf das Fahrzeug von rechts,
auf eine Abbiegeabsicht noch auf die Existenz um nach diesem links in die Vorfahrtsstraße einzu-
von vorfahrtsberechtigten Fahrzeugen geschlos- biegen. Hierbei besteht aufgrund der Blickrichtung
sen werden, da der Fahrer wahrscheinlich einfach des Fahrers eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er
716 Kapitel 39 • Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung
-
8 nung bis zur Betätigung des Gaspedals zu warten. existieren hierzu bisher nur wenige Arbeiten.
Abhilfe schafft hier nur die Berücksichtigung der Durch die Verwendung von Fahrerverhal-
9 Tatsache, dass der voraussichtliche Anfahrzeitpunkt tensmodellen [54] kann darüber hinaus dem
anhand der Trajektorie des von rechts kommenden Einfluss der tatsächlichen Verkehrssituation
10 Fahrzeugs abgeschätzt werden kann. auf das Fahrerverhalten Rechnung getragen
werden: Insbesondere kann somit die konkrete
Kreuzungsgeometrie berücksichtigt und das
11 39.7 Zusammenfassung Aufeinanderfolgen mehrerer Manöver vor-
und Ausblick hergesagt werden. Auch eine Unterscheidung
12 zwischen mehreren Manövern gleichen Typs
Im Hinblick auf die in ▶ Abschn. 39.1 definierte – beispielsweise bei mehreren unmittelbar
Problemstellung der Fahrerabsichtserkennung las- aufeinanderfolgenden Abbiegemöglichkeiten –
13 sen sich folgende Erkenntnisse aus dem Stand der wird hierdurch ermöglicht.
14
15
-
Technik festhalten:
Eine sinnvolle Risikobewertung für warnende
Fahrerassistenzsysteme ist in vielen Verkehrs-
situationen nur auf Basis der Fahrerabsicht
Im Gegensatz zur Fahrerabsicht wurde das Situati-
onsbewusstsein des Fahrers bisher nur selten mo-
delliert. In der Regel wird davon ausgegangen, dass
möglich, da das Steuerverhalten des Fahrers der Fahrer potenzielle Konfliktpartner übersieht, so
innerhalb des angestrebten Prädiktionshori- dass bei gegebener Manöverabsicht stets eine War-
16 zonts von 2 bis 3 Sekunden einen erheblichen nung ausgegeben wird. Wie in ▶ Abschn. 39.6 ge-
Einfluss auf die weitere Trajektorie des Fahr- zeigt wurde, hat die explizite Modellierung des Situ-
17 zeugs hat. Bei der direkten Risikobewertung ationsbewusstseins jedoch ein erhebliches Potenzial
durch wissensbasierte Verfahren besteht das in Bezug auf die Vermeidung unnötiger Warnungen,
Problem, dass das weitere Geschehen in in- der Detektion nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer,
18 nerstädtischen Verkehrssituationen von einer der Verbesserung der Fahrerabsichtserkennung
Vielzahl von Einflüssen abhängt. Diese abzu- und der Vorhersage des weiteren Verkehrsgesche-
39 bilden wäre nur auf Basis einer unrealistisch hens. Gerade vor dem Hintergrund einer rapiden
großen Menge von Trainingsdaten möglich Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen sollte
20 und insbesondere von Unfallsituationen wären dieses Gebiet in zukünftigen Forschungsarbeiten
kaum reale Daten verfügbar. daher weiter vertieft werden.
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721 VIII
Fahrerassistenz auf
Stabilisierungsebene
Kapitel 40 Bremsenbasierte Assistenzfunktionen – 723
Anton van Zanten, Friedrich Kost
Kapitel 43 Stabilisierungsassistenzfunktionen
im Nutzfahrzeug – 795
Falk Hecker
723 40
Bremsenbasierte
Assistenzfunktionen
Anton van Zanten, Friedrich Kost
40.1 Einleitung – 724
40.2 Grundlagen der Fahrdynamik – 724
40.3 ABS, ASR und MSR – 727
40.4 ESP – 730
40.5 Mehrwertfunktionen – 740
40.6 Ausblick – 753
Literatur – 753
40.1 Einleitung
21
Im täglichen Verkehr verhält sich das Fahrzeug auf
22 griffiger Fahrbahn meistens linear: Die Querbe-
schleunigung ist selten größer als 0,3 g, die Längsbe-
23 schleunigung und die Längsverzögerung sind ebenso
selten größer als 0,3 g. Damit sind die Beträge der
Schräglauf- und Schwimmwinkel selten größer als 2°
24 und der Schlupfbetrag selten größer als 2 %. In diesen
Bereichen verhalten sich Reifen und Fahrzeug linear.
25 Gerät das Fahrzeug in den physikalischen Grenzbe-
reich, so verhält es sich nichtlinear und kann sogar .. Abb. 40.1 Schleuderndes Fahrzeug auf trockener Asphalt-
instabil werden. Bei blockierten oder durchdrehen- fahrbahn
26 den Rädern lässt sich das Fahrverhalten nicht mehr wobei µB(λ) der schlupfabhängige Reifenreibwert,
beeinflussen. Erreicht z. B. die Hinterachse den maxi- λ der Bremsschlupf und FN die Radlast ist. Vor der
27 malen Seitenreibwert vor der Vorderachse, kann das Bremsung dreht sich das Rad mit der frei rollenden
Fahrzeug ins Schleudern geraten (. Abb. 40.1). ABS, Radgeschwindigkeit vR,frei, welche gleich der Längs-
28 ASR und ESP sind Systeme, die dafür sorgen, dass
das Fahrzeug bei extremen Brems-, Antriebs- und
geschwindigkeit des Radmittelpunkts ist. Während
der Bremsung dreht sich das Rad mit der Geschwin-
Lenkvorgängen beherrschbar bleibt. Diese Systeme digkeit vR = r · ωR, wobei r der Radius und ωR die
29 sind in diesem Sinne weniger als Fahrerassistenzsys- Winkelgeschwindigkeit des Rades ist. Der Brems-
teme, sondern eher als Fahrzeugassistenzsysteme zu schlupf ist definiert als λ = ((vR,frei – vR)/vR,frei) · 100 %.
30 verstehen, da sie dem Fahrzeug dabei helfen, kont- Das Moment MR = FB · r, das die Fahrbahn auf das
rollierbar zu bleiben, wohingegen Fahrerassistenz- Rad ausübt, wird Fahrbahnmoment genannt. Zwi-
systeme den Fahrer dabei unterstützen, die Lenk-, schen dem Radschlupf und der Bremskraft bzw.
31 Vortriebs- und Bremsvorgaben richtig zu dosieren dem Bremsreibwert besteht ein nichtlinearer Zu-
und zu koordinieren. sammenhang, der im stationären Bereich als Rei-
32 fenschlupfkurve bezeichnet wird (. Abb. 40.2).
Wirkt eine Seitenkraft auf ein frei rollendes Rad,
40.2 Grundlagen der Fahrdynamik
33 so bewegt sich der Radmittelpunkt seitwärts. Der
Winkel zwischen dem Radgeschwindigkeitsvektor
40.2.1 Stationäres und instationäres vFRad und der Radmittelfläche wird Schräglaufwin-
34 Reifen- und Fahrverhalten kel α genannt. Auf das Rad wird von der Fahrbahn
eine Seitenkraft FS in entgegengesetzter Richtung
35 In diesem Abschnitt sollen das Fahrverhalten im ausgeübt. Das Verhältnis zwischen der Seitenkraft
linearen und nichtlinearen Bereich behandelt wer- FS und der Aufstandskraft FN wird als Seitenreib-
den; dies nicht im vollen Umfang, sondern nur in wert µS = FS / FN bezeichnet. Zwischen dem Schräg-
36 einem Maße, in dem es für das Verständnis der Re- laufwinkel α und dem Seitenreibwert µS besteht ein
gelsysteme benötigt wird. Das Fahrverhalten wird ähnlicher Zusammenhang wie zwischen Schlupf
37 hauptsächlich von den Kräften zwischen Reifen und Bremsreibwert. Dieser Zusammenhang wird
und Fahrbahn bestimmt. Deshalb ist die Betrach- Schräglaufkurve genannt.
38 tung des Reifenverhaltens unumgänglich. Da das Wird ein Rad gebremst, so wird die Seitenkraft
Schwingungsverhalten der Regelstrecke einen gro- bzw. der Seitenreibwert (µS = FS / FN) kleiner. Ebenso
ßen Einfluss auf die Auslegung des Reglers hat, wird wird der Bremsreibwert durch Seitenkräfte reduziert.
39 hier auch das instationäre Verhalten des Fahrzeugs Der Zusammenhang zwischen dem Seitenreibwert
betrachtet. und dem Reifenschlupf ist in . Abb. 40.2 dargestellt.
40 Wird das Rad mit dem Bremsmoment MB ab- Wird ein Fahrzeug mit kleinen Lenkwinkeln
gebremst, entsteht eine Bremskraft FB = µB(λ) · FN, auf griffiger Fahrbahn gelenkt, so verhält sich das
40.2 • Grundlagen der Fahrdynamik
725 40
Fahrzeug nahezu linear. Zur Beschreibung des Da jedoch die Schräglaufsteifigkeiten fast pro-
Fahrverhaltens im linearen Bereich wird die Gier- portional von der Fahrzeugmasse und von der
geschwindigkeit in Abhängigkeit vom Lenkwinkel Schwerpunktslage abhängen, ist die charakteristi-
herangezogen. Dazu wird ein lineares Einspur- sche Geschwindigkeit nahezu unabhängig von der
modell im eingeschwungenen Zustand verwendet Fahrzeugmasse sowie von der Schwerpunktslage.
(. Abb. 40.3), bei dem die Reifenseitenkräfte pro- Aus diesem Grund verhält sich die charakteristi-
portional zu den Schräglaufwinkeln sind [2]. Die- sche Geschwindigkeit auch nahezu unabhängig
ses Modell bietet eine Grundlage, mit der Fahrdy- zur Zuladung und zur Ladungsverteilung. Wenn
namikregelsysteme die Sollgiergeschwindigkeit des vch positiv ist, nennt man das Fahrverhalten unter-
Fahrzeugs bestimmen. steuernd. Ist vch unendlich, wird das Fahrverhal-
Im eingeschwungenen Zustand ist die Gierge- ten als neutral, ist vch imaginär, als übersteuernd
schwindigkeit proportional zum Lenkwinkel bezeichnet.
Aus der Überlegung, dass die Querbeschleu-
P D vX ı
2
(40.1) nigung durch den Reibwert der Fahrbahn in
vX
.lV C lH / 1 C 2 Fahrzeugquerrichtung begrenzt wird, folgt eine
vch
physikalische Begrenzung der stationären Gierge-
Die charakteristische Geschwindigkeit vch be- schwindigkeit.
schreibt das Eigenlenkverhalten des Fahrzeugs und 2
vX S;max
ist, zunächst betrachtet, von den wirksamen Schräg- kaY k D k k D k P vX k S;max ; k P k k k(40.3)
R vX
laufsteifigkeiten an der Vorderachse c’αV und an der
Hinterachse c’αH , vom Radstand l = lV + lH, von der Hierbei ist R der Kurvenradius, µS,max ist der Ma-
Fahrzeugmasse m sowie von der Schwerpunktslage ximalwert des Seitenreibwerts des Fahrzeugs. Die
lV, lH abhängig. Bei den wirksamen Schräglaufsteifig- Giergeschwindigkeit als Funktion von der Fahr-
keiten sind sowohl die Reifenschräglaufsteifigkeiten geschwindigkeit gemäß den Gleichungen (40.1)
als auch die Elastizitäten in der Radaufhängung und und (40.3) ist für verschiedene Lenkradwinkel in
im Lenkstrang zu berücksichtigen. . Abb. 40.4a beispielhaft dargestellt. Auch sind
Kurven gleicher Querbeschleunigung (Hyperbel)
eingezeichnet. Erreicht die Querbeschleunigung
s
c˛0 V c˛0 H
1
vch D l (40.2) den maximalen Wert des Seitenreibwerts des Fahr-
m lH c˛0 H lV c˛0 V
zeugs (in . Abb. 40.4a ca. 0,775 g), so nimmt die
726 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
.. Abb. 40.4 Giergeschwin-
21 digkeit und Gierverstärkung als
Funktion von der Fahrgeschwin-
digkeit und vom Fahrbahn-
22 reibwert für verschiedene
Lenkradwinkel
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33 Giergeschwindigkeit entsprechend der Gleichung
(40.3) ab.
hilfe des einfachen linearen Einspurmodells für die
Gier- und Querbewegung erklärt werden [6].
Die entsprechende Gierverstärkung ist in
34 . Abb. 40.4b dargestellt, wobei die Gierverstärkung
wie folgt definiert ist 40.2.2 Kenngrößen der Fahrdynamik
35
P vX Zur Bewertung der Fahrdynamik werden Fahrma-
D (40.4) növer definiert. Das Fahrverhalten wird dann so-
36 2
ı .lV C lH / 1 C
vX
2
vch wohl objektiv als auch subjektiv beurteilt [6].
Für die objektive Bewertung des ABS gibt es
37 Plötzliche Lenkwinkeländerungen können Schwin- bereits eine Reihe von ISO-Richtlinien, wie z. B.:
gungen in der Giergeschwindigkeit verursachen. „ISO 7975 (1996): Passenger cars – Braking in a
38 . Abbildung 40.5 zeigt den Verlauf der Giergeschwin- turn – Open-loop test procedure“. In Deutschland
digkeit nach einem Lenkwinkelsprung, gemessen in wird der Bremsweg meist auf gerader griffiger Fahr-
einem Mittelklasse-Fronttriebler. In den Messungen bahn aus mehreren Vollbremsungen mit 100 km/h
39 (. Abb. 40.5) sind die Schwingungen von ca. 0,6 Hz Anfangsgeschwindigkeit ermittelt. Dabei werden oft
in der Giergeschwindigkeit deutlich ersichtlich, wo- Messungen mit warmen und kalten Bremsen durch-
40 bei die Schwingungsdämpfung bei höheren Fahrge- geführt. Für die Bewertung des Bremsens auf µ-Split
schwindigkeiten geringer ist. Dies kann bereits mit- hat das Magazin „auto motor und sport“ ein Punk-
40.3 • ABS, ASR und MSR
727 40
.. Abb. 40.5 Giergeschwindigkeitsverlauf (a) nach einem Lenkradwinkelsprung von 121° bei einer Fahrgeschwindigkeit von
28 m/s und (b) nach einem Lenkradwinkelsprung von 100° bei einer Fahrgeschwindigkeit von 37 m/s. Messbereiche: Zeit: 0 –
8 s, Fahrgeschwindigkeit: –50 – 50 m/s, Lenkradwinkel: –145° – 145°, Giergeschwindigkeit: –1 – 1 rad/s, Querbeschleunigung:
–20 – 20 m/s2.
tesystem eingeführt, in dem sowohl der Bremsweg 40.3 ABS, ASR und MSR
als auch die Stabilität berücksichtigt werden.
In den USA, wo ESP ab September 2011 Pflicht 40.3.1 Regelkonzepte
für alle Pkw und leichten Nutzfahrzeuge ist (FMVSS
126), sind einige Standardmanöver zur objektiven Zur Sicherstellung der Stabilität und Lenkbarkeit bei
Bewertung von Fahrzeugen mit ESP definiert, wo- allen Fahrbahnbeschaffenheiten muss ABS in jedem
bei die Ergebnisse des Manövers „Sine with Dwell“ Fall das Blockieren der Räder bei einer Bremsung
vorgeschriebene Mindestanforderungen erfüllen verhindern. Aus wirtschaftlichen Gründen wird
müssen (. Abb. 40.6). die Fahrzeuggeschwindigkeit nicht gemessen, so-
Das Testmanöver ist definiert für eine hori- dass die frei rollende Radgeschwindigkeit und damit
zontale, trockene, ebene und feste Fahrbahn, bei der Schlupf nicht berechnet werden können. Aus
80 km/h, µ = 0,9 (bei 64,4 km/h), Standardgewicht, diesem Grund kann das Regelkonzept nicht auf ei-
Reifen, mit denen das Fahrzeug ausgeliefert wird, ner Schlupfregelung basieren. Stattdessen beruht es
„Sine with Dwell“ (Frequenz 0,7 Hz, 500 ms Hal- auf einer Art Beschleunigungsregelung, wobei die
tephase), Steigerung der Lenkradwinkelamplitude Beschleunigungssollwerte so gewählt werden, dass
um 0,5 Amplitudenvielfaches bis zum 6,5-fachen der Schlupf in der Nähe vom Optimum der Schlupf-
bzw. bis zu einer Lenkradwinkelamplitude von kurve bleibt. Dieses Regelkonzept wird auch als Op-
270°. Dabei wird die Basisamplitude definiert als timizerprinzip bezeichnet.
der Wert des Lenkradwinkels, der bei stationärer Zur Beschreibung der Regelfunktion ist in
Kreisfahrt eine Querbeschleunigung von 0,3 g er- . Abb. 40.7 der Anfang einer ABS-Bremsung ver-
gibt. Das Fahrzeug gilt als stabil, wenn 1 s nach einfacht dargestellt [3]. In Phase 1 wird der Brems-
Ablauf der Anregung die Giergeschwindigkeit druckanstieg gezeigt, so wie er vom Fahrer über
kleiner als 35 % und nach 1,75 s kleiner als 20 % das Bremspedal vorgegeben wird. Das Rad verzö-
des Maximalwerts nach dem ersten Nulldurch- gert unter dem Einfluss des Bremsmoments. Wenn
gang des Lenkwinkels ist („Spin Out“ Kriterium die Radbeschleunigung den Wert –a erreicht hat,
des NHTSA). Der Spurversatz muss ab 1,07 s nach wird die weitere Erhöhung des Bremsdrucks in
Lenkanfang mindestens 1,83 m betragen für Fahr- der Radbremse unterbunden und der Bremsdruck
zeuge bis 3500 kg Gesamtgewicht bzw. 1,52 m für konstant gehalten. Der Bremsdruck wird noch
schwerere Fahrzeuge. nicht reduziert, da z. B. durch Achsbewegungen,
728 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
21
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23
24
25
.. Abb. 40.6 Mindestanforderungen für ESP definiert von
26 der NHTSA
eine Scheinverzögerung vorgetäuscht wird, welche der Schlupfkurve zu halten – erhöht, und der Zyk-
28 noch nichts mit dem Erreichen des Maximums der
Schlupfkurve zu tun hat. Der Druck wird erst dann
lus wiederholt sich. Der erste Druckpuls ist varia-
bel und kann vom Regler vergrößert werden, um
abgebaut, wenn die Radgeschwindigkeit vR deutlich den Schlupf schnell in die Nähe des Maximums zu
29 kleiner geworden ist. Dazu wird ein Hilfssignal, die bewegen. Man spricht bei der ABS-Regelung von
Referenzgeschwindigkeit vRef, gebildet. Diese folgt Logik wegen ihres logischen Charakters mit vielen
30 am Anfang der Bremsung der Radgeschwindigkeit, Schwellenabfragen.
bis die Beschleunigungsschwelle –a erreicht wird. Auch bei durchdrehenden Rädern geht die Füh-
Danach wird die Referenzgeschwindigkeit mit einer rungsfähigkeit des Reifens wie bei blockierten Rä-
31 bestimmten Steigung extrapoliert (anfangs –0,3 g). dern verloren. ASR, die Antriebsschlupfregelung,
Sobald die Radgeschwindigkeit die Referenzge- soll deshalb das Durchdrehen der Räder durch Re-
32 schwindigkeit um eine bestimmte Schwelle λ1 un- duktion des Motormoments und – falls erforderlich
terschreitet, wird der Bremsdruck abgebaut. Mit der – durch Bremsung der angetriebenen Räder verhin-
33 Referenzgeschwindigkeit soll die Radgeschwindig-
keit nachgebildet werden, bei der die Schlupfkurve
dern. Dabei gelten die selben Zusammenhänge zwi-
schen Reifenschlupf und Reifenkräften, wie bereits
ihr Maximum hat. für ABS beschrieben wurde.
34 Der Bremsdruck wird in Phase 3 so lange ab- ASR kann das Regelkonzept von ABS (Regelung
gebaut, bis die Radbeschleunigung wieder größer auf Basis der Radbeschleunigung) nicht überneh-
35 als –a geworden ist. Danach wird in Phase 4 der men. Der Grund hierfür ist zum einen, dass durch
Bremsdruck konstant gehalten, und es entsteht eine die große Trägheit der angetriebenen Räder beim
positive Beschleunigung. In Phase 5 überschreitet eingekuppelten Motor, vor allem in den niedrigen
36 die Beschleunigung die sehr große Schwelle +A; Gängen, das Radverhalten im stabilen und im in-
die Druckhaltephase wird deshalb abgebrochen stabilen Bereich der Schlupfkurve sehr ähnlich ist.
37 und der Bremsdruck so lange aufgebaut, bis diese Zudem ist das Antriebsmoment im Gegensatz zum
Schwelle wieder unterschritten wird. Danach wird Bremsmoment sehr von der Geschwindigkeit der
38 die Druckhaltephase weiter fortgesetzt. In Phase 6 Raddrehung abhängig. Deshalb muss für ASR ein
wird der Druck so lange konstant gehalten, bis die anderes Regelkonzept gefunden werden. Beim ASR
Beschleunigung unterhalb des Werts +a abgefallen ist eine Schlupfregelung möglich, denn es können
39 ist: Der Schlupf hat nun fast einen Punkt auf dem die Geschwindigkeiten der nicht angetriebenen
stabilen Ast der Schlupfkurve erreicht. Der Brems- Räder zur Messung der Fahrgeschwindigkeit he-
40 druck wird wiederum – nun gepulst und langsam, rangezogen werden. Für Allradfahrzeuge entfällt
um den Schlupf lange in der Nähe vom Maximum diese Möglichkeit. Für diese musste deshalb auf den
40.3 • ABS, ASR und MSR
729 40
der Komponenten lässt aber die Güte der Brems- ximalen Längskräften für den kürzesten Bremsweg
21 kraftverteilung im Laufe des Fahrzeugalters nach. und maximalen Querkräften für die Spurstabilität
Abhilfe schafft die elektronische Bremskraftvertei- eingegangen werden muss. Bei einem frei rollenden
22 lung. . Abbildung 40.9 zeigt beispielhaft das Prin- Fahrzeug ist ein Kompromiss zwischen Lenkfähig-
zip des EBV, wobei der Schnittpunkt der festen keit und Stabilität einerseits und unerwünschter
23 Bremskraftverteilung mit der idealen Bremskraft-
verteilung bei 0,5 g gewählt wurde. Das ABS wird
Fahrzeugverzögerung andererseits erforderlich.
benutzt, um die Raddrehung an der Hinterachse bei Die Anforderungen an ABS und ASR gelten auch
24 einer Geradeausbremsung der Raddrehung an der für ESP. Weitergehende Anforderungen an ESP
Vorderachse anzugleichen. sind, wie oben erläutert, eher beschreibender Natur
25 Dabei sollen die Hinterräder nicht langsamer und beziehen sich auch auf die genannten Kompro-
drehen als die Vorderräder. Bei gleicher Drehge- misse [4].
schwindigkeit der Räder ist der Bremsreibwert der
26 Reifen annähernd gleich. Unterschreitet die Dreh-
zahl der Räder an der Hinterachse die an der Vor- 40.4.2 Eingesetzte Sensoren
27 derachse um einen bestimmten geschwindigkeits-
abhängigen ersten Betrag, so wird der Druck an der Zur Erfassung des Fahrzustands werden kosten-
28 Hinterachse nicht weiter erhöht. Überschreitet die
Drehzahldifferenz einen zweiten, größeren Betrag,
günstige, fahrzeugtaugliche Sensoren eingesetzt.
Diese sind ein Drehratensensor zur Erfassung der
wird der Druck an der Hinterachse sogar reduziert, Giergeschwindigkeit und ein Beschleunigungssen-
29 und zwar so lange, bis die Drehzahldifferenz wieder sor zur Erfassung der Querbeschleunigung. Zur
kleiner als der zweite Betrag ist. Nimmt die Dreh- Prüfung, ob der Fahrzustand zum Fahrerwunsch
30 zahldifferenz weiter ab, so wird beim Unterschrei- passt, werden bei ESP ein Winkelsensor zur Erfas-
ten des ersten Betrags der Druck an der Hinterachse sung des Lenkradwinkels und ein Drucksensor zur
wieder stufenweise aufgebaut. Am Bremspedal ist Erfassung des Bremsdrucks im Hauptbremszylinder
31 die EBV-Funktion leicht spürbar, jedoch ist bei nor- eingesetzt. Weiterhin werden die für ABS und ASR
malen Bremsungen (bis 0,3 g) die EBV nicht aktiv, üblichen Radsensoren zur Erfassung der Drehge-
32 und es gibt keine Pedalrückwirkungen. schwindigkeiten der Räder verwendet. Für eine
Im Fehlerfall wird der Ausfall der EBV-Funk- Beschreibung der Sensoren sei hier auf das Kapitel
33 tion durch das Aufleuchten der EBV-Warnlampe
angezeigt, wenn eine Fahrzeugmindestverzögerung
"Fahrdynamik-Sensoren für FAS" im Buch verwie-
sen (Kap. 15).
von 8,5 m/s2 nicht mehr blockierfrei erreicht wer-
34 den kann.
40.4.3 Regelkonzept des ESP
35
40.4 ESP ESP wurde auf der Basis von ABS und ASR ent-
wickelt, mit denen die Radbremsdrücke und das
36 40.4.1 Anforderungen Motormoment individuell moduliert werden kön-
nen. Das Konzept des ESP baut auf die Eigenschaft
37 Die Anforderungen an das ESP beziehen sich auf des Reifens, den Seitenreibwert über den Schlupf
das Fahrverhalten im querdynamischen Grenzbe- λ verändern zu können (. Abb. 40.2). Damit ist
38 reich. Das Fahrverhalten wird von Experten sub- auch die Querdynamik des Fahrzeugs über die Rei-
jektiv beurteilt, und die ESP-Abstimmung ist damit fenschlupfwerte beeinflussbar. Aus diesem Grund
personen- und firmenabhängig. Eine Korrelation wurde beim ESP der Schlupf als fahrdynamische
39 zu einer objektiven Beurteilung gibt es kaum. Im Regelgröße gewählt [5]. Grundsätzlich lässt sich
Grenzbereich können die Reifenkräfte nicht mehr das Giermoment auf das Fahrzeug über die Schlupf-
40 erhöht werden, sodass z. B. bei einer Vollbremsung werte der vier Reifen beeinflussen. Allerdings be-
ein Kompromiss zwischen den Wünschen nach ma- deutet eine Schlupfänderung an einem Reifen im
40.4 • ESP
731 40
21
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26
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28
29
30
.. Abb. 40.11 Einfluss des radindividuellen Bremsschlupfs auf das Giermoment auf griffiger Fahrbahn (Asphaltfahrbahn) und
glatter Fahrbahn (Schneefahrbahn) bei stationärer Kurvengrenzgeschwindigkeit und Kreisradius = 100 m
31
Herkömmliche ABS-Regler hingegen reagieren vor Giermoments ist ein wesentlicher Bestandteil des
32 allem auf Radbeschleunigungen und müssen durch Fahrdynamikreglers. Die Einstellung der Schlupf-
Bremsschlupfregler ersetzt oder ergänzt werden. werte geschieht mithilfe von Schlupfreglern. Somit
33 Beide schlupfbasierten unterlagerten Regler werden
in diesem Abschnitt vorgestellt und erläutert. Es exis-
ist das ESP mit einem überlagerten Fahrdynamikreg-
ler, der in jeder Fahrsituation und für jeden Fahrzu-
tieren aber auch ESP-Realisierungen, bei denen die stand die Sollschlupfwerte für jedes Rad individuell
34 hierarchische Reglerstruktur nicht im Vordergrund vorgibt, und mit unterlagerten Reglern, welche die
steht, und die das serienmäßige ABS als Beschleuni- Sollschlupfwerte einstellen, hierarchisch gegliedert.
35 gungsregler nach wie vor im ESP einsetzen. Die Sollschlupfänderungen werden durch die
Kennzeichnend für ESP ist die so genannte unterlagerten Brems- bzw. Antriebsschlupfregler
Fahrdynamikregelung, welche die Fahrzeugbewe- realisiert, während in den unterlagerten Reglern die
36 gung mittels über- und unterlagerten Reglern regelt Zielschlupfwerte λZ für eine maximale Bremskraft
(. Abb. 40.13) [6]. Wichtiger Bestandteil des Fahr- bzw. Antriebskraft berechnet werden. Im unge-
37 dynamikreglers ist ein Beobachter, in dem die Fahr- bremsten Fall oder wenn der Fahrervordruck nicht
zeugbewegung analysiert und geschätzt wird. Ein ausreicht, um den gewünschten Sollschlupf einzu-
38 weiterer wichtiger Bestandteil ist die Sollwertbestim- stellen (Teilbremsbereich), wird aktiv der Druck in
mung, bei der aus den Fahrervorgaben – Lenkrad- den Bremskreisen des Hydroaggregats erhöht [4].
winkel, Bremsdruck und Gaspedalstellung – u. a. die Der Bremsschlupfregler dient einerseits zur Si-
39 Sollgiergeschwindigkeit bestimmt wird. Im Fahrzeu- cherstellung der ABS-Funktion und andererseits zur
gregler wird die erforderliche Giermomentänderung Einstellung der vom Fahrzeugregler vorgegebenen
40 bestimmt. Auch die Verteilung der Giermomentän- Bremsschlupfänderungen. Zur Vereinheitlichung
derung auf die Räder zur optimalen Einstellung des der beiden Aufgaben wurde ein vom Standard-
40.4 • ESP
733 40
.. Abb. 40.12 Einfluss des radindividuellen Antriebsschlupfs auf das Giermoment auf griffiger Fahrbahn (Asphaltfahrbahn) und
glatter Fahrbahn (Schneefahrbahn) bei stationärer Kurvengrenzgeschwindigkeit und Kreisradius = 100 m
ABS abweichender Regler erstellt, bei dem die ABS- soll D Z C (40.5)
Funktion durch Schlupfregelung realisiert wird. Der
für die ABS-Funktion einzustellende Schlupf wird Der Antriebsschlupfregler (vgl. . Abb. 40.15) wird
der Zielschlupf, λZ, genannt und wird im Schlupf- nur zur Schlupfregelung der angetriebenen Räder
regler selbst festgelegt. . Abbildung 40.14 zeigt in im Antriebsfall eingesetzt. Aktiveingriffe an den an-
einem vereinfachten Blockschaltbild die Struktur deren Rädern werden über den Bremsschlupfregler
des unterlagerten Bremsschlupfreglers, der bei ei- direkt angesteuert. Im Folgenden wird die Antriebs-
ner Vollbremsung auch ABS-Regler genannt wird. schlupfregelung für einen Hecktriebler beschrieben:
Für die Regelung des Radschlupfs auf einen Die Antriebsräder bilden mit dem Achs-
vorgegebenen Sollwert λsoll muss der Schlupf hinrei- differenzial, dem Getriebe und dem Motor ein
chend bekannt sein. Da die Längsgeschwindigkeit gekoppeltes System der Radgeschwindigkeiten
des Automobils nicht gemessen wird, wird diese aus vR,HL und vR,HR. Durch Bildung der neuen Variab-
den Radgeschwindigkeiten bestimmt (siehe ▶ Ab- len vKar = (vR,HL + vR,HR)/2 und vDif = (vR,HL – vR,HR)
schn. 40.4.4). entfällt die Koppelung, und es folgen zwei nicht
Der Zielschlupf λZ für eine maximale Bremskraft gekoppelte Differenzialgleichungen [6]. Aus die-
(für die ABS-Funktion) wird in Abhängigkeit vom sem Grund wird der Schlupf nicht direkt geregelt,
maximalen Reibwert der Fahrbahn mres berechnet. sondern die Kardangeschwindigkeit und die Rad-
Aus dem Zielschlupf λZ und der vom Fahrdy- differenzgeschwindigkeit. Zur Bestimmung des
namikregler vorgegebenen Schlupfänderung ∆λ Sollwerts für die Kardangeschwindigkeit wird ein
errechnet der Schlupfregler den einzustellenden symmetrischer Sollschlupf (wobei das linke und
Sollschlupf. das rechte Rad gleiche Sollschlupfanteile haben)
734 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
.. Abb. 40.13 Verein-
21 fachtes Blockschaltbild
des ESP-Reglers mit
Ein- und Ausgangs-
22 größen
23
24
25
26
27
.. Abb. 40.14 Block-
28 schaltbild des Brems-
schlupfreglers mit den
wichtigsten Modulen
29 und ihren Ein- und
Ausgangsgrößen
30
31
32
33
34
35
λm festgelegt. Zur Bestimmung des Sollwerts für Deshalb wird der Betriebszustand (um z. B. iG be-
36 die Raddifferenzgeschwindigkeit wird ein asym- rechnen zu können) zur Anpassung der Reglerpa-
metrischer Sollschlupf Dλ festgelegt, wobei sich rameter an Streckendynamik und Nichtlinearitäten
37 der Sollschlupf am linken Rad um den asymme- ermittelt. Die Motoreingriffe und der symmetrische
trischen Sollschlupf vom Sollschlupf am rechten Anteil des Bremseingriffs stellen die Stellgrößen des
38 Rad unterscheidet. Mithilfe der frei rollenden Rad- Kardandrehzahlreglers dar. Der asymmetrische An-
geschwindigkeiten können nun aus den symmetri- teil des Bremseneingriffs ist das Stellsignal des Dif-
schen und asymmetrischen Sollschlupfwerten die ferenzdrehzahlreglers.
39 Kardan- und Raddifferenzgeschwindigkeitssoll- Neben dem hier dargestellten hierarchischen
werte berechnet werden. Regelkonzept des ESP gibt es ein sogenanntes
40 Die Dynamik hängt von den sehr unterschied- „modulares Regelkonzept“ [7], in dem neben dem
lichen Betriebszuständen der Regelstrecke ab. Bremsschlupfregler für die ESP-Eingriffe, einen
40.4 • ESP
735 40
.. Abb. 40.15 Blockschaltbild
des Antriebsschlupfreglers
(ASR) mit den wichtigsten
Modulen und ihren Ein- und
Ausgangsgrößen
ABS-Regler nach dem Optimizer-Prinzip (s. Ab- dem sich die Fahrzeugbewegung dem physikali-
schnitt Regelkonzepte) für die ABS-Funktion ent- schen Grenzbereich nähert, richtig abzubilden.
halten ist. Die Zugriffe von ABS und ESP auf die Andernfalls werden „zu frühe Regeleingriffe“
Ventile des Hydroaggregats müssen dann mit einer vom Fahrer moniert – ein häufiges Problem bei
Prioritätenregelung (auch Arbitration genannt) ge- der Applikation des ESP. Dies geschieht unter
steuert werden. Die fehlende Fahrzeuggeschwin- Verwendung von zwei linearen Einspurmodellen
digkeit wird durch die Hilfsgröße „ABS-Referenz- (. Abb. 40.16). Zur Sollwertbestimmung bei ESP
geschwindigkeit“, die nicht gemessen werden kann, wird ein gewichteter Mittelwert zwischen zwei
ersetzt. Durch die Prioritätenregelung entstehen linearen Einspurmodellen gebildet mit zwei ver-
Zwangshaltephasen bei der ABS- und ESP-Rege- schiedenen charakteristischen Geschwindigkeiten,
lung. Es sind deshalb Anpassungen in den Reglern vch. Dabei werden diese zwei Geschwindigkeiten
notwendig (z.B. bei der Integralbildung des PID- so gewählt, dass das reale Fahrverhalten von dem
Reglers). Auch heuristische Elemente, wie die Be- Verhalten der beiden linearen Einspurmodellen
stimmung eines positiven µ-Sprungs, und adaptive umschlossen wird. Die Gewichte werden in Abhän-
Elemente der Regler sind davon betroffen. Ähnli- gigkeit von der Fahrzeug-Querbeschleunigung und
ches gilt für den Bereich der Antriebsschlupfrege- der Fahrsituation gewählt.
lung, siehe . Abb. 40.15. Im Beobachter werden modellgestützt aus den
Messgrößen Giergeschwindigkeit, Lenkradwinkel
und Querbeschleunigung sowie aus den Schätz-
40.4.4 Sollwertbildung und größen Fahrgeschwindigkeit und Brems- bzw. An-
Schätzung fahrdynamischer triebskräften die Schräglaufwinkel der Räder, der
Größen Schwimmwinkel und die Fahrzeugquergeschwin-
digkeit geschätzt. Zudem werden die Seiten- und
Zur Bestimmung der Sollwerte gilt das Lastenheft Normalkräfte geschätzt und die resultierenden
für den Schwimmwinkel βsoll. Für den Sollwert der Kräfte der Räder berechnet. Hierzu wird ein Zwei-
Giergeschwindigkeit wird von dem linearen Ein- spurmodell verwendet, bei dem das Übertragungs-
spurmodell im eingeschwungenen Zustand ausge- verhalten des Automobils sowie Sondersituationen
gangen, jedoch reicht dieses Modell nicht aus, den wie geneigte Fahrbahn oder µ-Split berücksichtigt
Sollwert für die Giergeschwindigkeit zu bestimmen. ist. Bei horizontaler, homogener Fahrbahn gilt
Es folgt, dass das lineare Einspurmodell erwei- folgende Differenzialgleichung für den Schwimm-
tert werden muss, um den wichtigen Bereich, in winkel:
736 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
.. Abb. 40.16 Approximation
21 des nichtlinearen Modells
durch gewichtete Mittel-
wertbildung zwischen zwei
22 linearen Einspurmodellen
23
24
25
26
1
ˇP D P C .aY cos ˇ aX sin ˇ/(40.6) diese aus den Radgeschwindigkeiten bestimmt.
27 v
Hierzu werden während einer ABS-Regelung auf
wobei aX und aY die Längs- bzw. die Querbeschleuni- den Sollschlupfwert λsoll einzelne Räder kurz „un-
28 gung des Fahrzeugs, β der Fahrzeugschwimmwinkel
und P die Giergeschwindigkeit ist. Für kleine Werte
terbremst“, d. h. die Schlupfregelung wird unter-
brochen sowie das aktuelle Radbremsmoment de-
der Verzögerung aX und des Schwimmwinkels β gilt: finiert abgesenkt und kurze Zeit konstant gehalten
29 (Anpassungsphase, . Abb. 40.17) [5]. Unter der
Zt Annahme, dass das Rad während dieser Zeit sta-
aY aY
30
ˇP D P ; ˇ.t / D ˇ0 C P dt(40.7) bil läuft (Punkt λA,mA), kann aus der momentanen
v v
t D0 Bremskraft FB,A und der Reifensteifigkeit cλ die frei
rollende (ungebremste) Radgeschwindigkeit vR,frei,A
31 Da die gemessenen Werte für die Querbeschleu- bestimmt werden:
nigung und die Giergeschwindigkeit sowie die
32 geschätzte Fahrgeschwindigkeit fehlerbehaftet A D
FB;A
FN;A
D c A D c
vR;frei;A vR;A
vR;frei;A
;(40.8)
sind, führt die Integration schnell zu großen Feh- c
) vR;frei;A D vR;A
33 lern, sodass das Vertrauen in den so gewonnenen
Schwimmwinkelwert gering anfällt.
c F FB;A
N; A
Für große Werte der Verzögerung aX kann ein wobei der Index A einen Zeitpunkt während der
34 Kalman-Filter als Beobachter für die Querdynamik Anpassungsphase angibt und cλ die Steigung der
verwendet werden, hierauf wird nicht weiter einge- m-Schlupfkurve bei λ = 0 ist sowie vR die Radge-
35 gangen. Ausgangsgleichungen für das Kalman-Fil- schwindigkeit darstellt. Die im Radkoordinaten-
ter sind die Differenzialgleichungen der Quer- und system bestimmte freirollende Radgeschwindigkeit
Giergeschwindigkeit des Zweispurmodells (siehe [5] vR,frei,A wird über die Giergeschwindigkeit, den Lenk-
36 für Einzelheiten). winkel, die Quergeschwindigkeit und die Fahrzeug-
Weitere Schätzungen, die im Beobachter ver- geometrie in den Schwerpunkt transformiert und
37 wendet werden, benutzen einfache Zusammen- generiert den „Messwert“ für die Schätzung der
hänge. So wird z. B. die Radlaständerung aus der Schwerpunktsgeschwindigkeit in Längsrichtung
38 Fahrzeugbeschleunigung in Längs- und Querrich- mittels eines Kalman-Filters. Anschließend wird die
tung geschätzt. Auf diese einfachen Schätzungen gefilterte Schwerpunktsgeschwindigkeit in Längs-
wird nicht näher eingegangen. richtung auf die vier Radmittelpunkte zurücktrans-
39 Für die Regelung des Radschlupfs auf einen formiert, um die freirollenden Radgeschwindigkei-
vorgegebenen Sollwert λsoll muss der Schlupf hin- ten aller vier Räder zu erhalten. Somit kann auch für
40 reichend bekannt sein. Da die Längsgeschwindig- die verbleibenden drei geregelten Räder der Schlupf
keit des Automobils nicht gemessen wird, wird berechnet werden.
40.4 • ESP
737 40
.. Abb. 40.17 Anpassungsphase während
einer Bremsschlupfregelung zur Bestim-
mung der frei rollenden Radgeschwindig-
keit (der Kreis pR deutet symbolisch die
Bremsdruckmodulation der Schlupfrege-
lung an)
Als Filtergleichung für das Kalman-Filter wird die Überwachung der verwendeten Komponenten.
die Differenzialgleichung der Längsgeschwindigkeit Wenn das Thema „Sicherheit“ angesprochen wird,
herangezogen, wobei das Produkt vY P vernach- geht es dabei nicht um die Verbesserung der Fahr-
lässigt werden kann. zeugsicherheit durch ESP, sondern um die Fahr-
1 zeugsicherheit bei Ausfall einer ESP-Komponente.
vP X D f.FS;VL C FS;VR / sin ı
m . Abbildung 40.19 zeigt das betrachtete Gesamtsys-
.FB;VL C FB;VR / cos ı .FB;HL C FB;HR /g(40.9) tem Fahrer-Fahrzeug-ESP [6].
2
cw A vX % Zur Erhöhung der Sicherheit wird das Ver-
vP X;offset
2m halten des Fahrers für Plausibilitätsbeziehungen
mit einbezogen. So werden z. B. Änderungen des
vR X;offset D 0(40.10) Lenkradwinkelsignals, die größer sind als solche,
die ein Fahrer aufbringen kann, als unplausibel
wobei cw der Luftwiderstandsbeiwert, A die Spant- erkannt, denn sie deuten auf einen defekten Lenk-
fläche des Fahrzeugs und ρ die Luftdichte ist. Glei- radwinkelsensor hin. Darüber hinaus gehören die
chung (40.10) gibt an, dass die Fahrbahnsteigung Motor- und Getriebesteuerung zum System ESP, da
sich nur langsam ändert. Die Fahrbahnsteigung beide von ESP beeinflusst und abgefragt werden.
wird im Kalman-Filter mitgeschätzt [5]. Wie aus . Abb. 40.19 hervorgeht, sind auch die
. Abb. 40.18 zeigt eine Messung einer ABS- Verbindungen zwischen den Systemkomponenten
Bremsung, bei der die Anpassungsphasen an den zu überwachen.
Hinterrädern deutlich ersichtlich sind. Die Entwicklung des Sicherheitskonzepts von
sicherheitsrelevanten Systemen wird von verschie-
denen methodischen Ansätzen begleitet. Solche
40.4.5 Sicherheitskonzept Methoden sind die FMEA (Failure Mode and Effect
Analysis) und die FTA (Fault Tree Analysis).
ESP ist ein komplexes mechatronisches System, mit Eine neue Möglichkeit, Sensoren zu überwa-
dem die Sicherheitseinrichtung „Bremse“ des Fahr- chen und abzugleichen, wurde mit der Einführung
zeugs beeinflusst wird. An das System werden des- von ESP entwickelt. Hierbei geht es um die Über-
halb sehr hohe Anforderungen hinsichtlich Zuver- wachung des Drehratensensors, des Lenkradwin-
lässigkeit und Ausfallsicherheit gestellt. Einerseits kelsensors und des Querbeschleunigungssensors
besteht die Forderung nach minimalen Kosten des mithilfe von Modellen [6]. . Abbildung 40.20 zeigt
Systems, bei der es auch darum geht, Komponenten den Ansatz dieser Überwachung.
einzusparen, andererseits stellt die Sicherheit sehr Die gemessenen und während der Fahrt stän-
hohe Anforderungen an die Zuverlässigkeit und an dig abgeglichenen Sensorsignale des Lenkradwin-
738 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
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24
25 .. Abb. 40.19 Gesamtsystem Fahrer-Fahrzeug-ESP für die
Systemsicherheit
.. Abb. 40.21 Beobachtbar-
keit der Giergeschwindigkeit
in Abhängigkeit von der
Fahrstrecke
- die Steilkurvenlogik. Bleibt z. B. das Querbe- das System abgeschaltet werden, wenn über
schleunigungssignal plötzlich bei Null stehen,
dann könnte, bevor der Fehler erkannt wird,
jede Kurvenfahrt als „Schleudern auf Eis“ auf-
gefasst werden, und es müsste ein ESP-Eingriff
- längere Zeit eingegriffen wird.
Überwachung der Regeldauer des ABS-
Reglers. ABS-Bremsungen sind auch in ihrer
Dauer begrenzt. Deshalb kann auf Fehler ge-
erfolgen. Dies ist aber eine Fahrsituation, die schlossen und das System abgeschaltet werden,
von der Steilkurvenlogik geprüft wird. Erfolgt wenn das ABS ständig, d. h. länger als eine
kein Gegenlenken des Fahrers, so wird die
Kurvenfahrt mit dem defekten Querbeschleu-
nigungssignal als „Steilkurvenfahrt“ inter-
pretiert, und es erfolgt kein fehlerbedingter
- bestimmte Zeitdauer, regelt.
Plausibilisierung der Signale des Bremslicht-
schalters und des Bremsdrucksensors. Der
Bremslichtschalter steht dauernd auf „an“, ob-
ESP-Eingriff. Nachdem der Fehler erkannt ist, wohl der Bremsdruck über längere Zeit nicht
zunahme DaY bei schnellen Querbeschleunigungsän- unter Verwendung des linearen Einspurmodells
derungen besonders hoch gewichtet (der Parameter berechnet.
A ist dann besonders groß). Die schnellen Querbe- Es gibt Fahrzeuge, beispielsweise Geländewa-
schleunigungsänderungen werden erfasst durch die gen, bei denen die Einfederwege der Radaufhän-
Differenz zwischen dem Querbeschleunigungssignal gungen gemessen werden können. Aus diesen Ein-
und dessen tiefpassgefiltertem Wert DaY,F. federwegen können der Wankwinkel W und die
Nimmt die Querbeschleunigung aY ab, so wird Wankgeschwindigkeit DW direkt bestimmt wer-
der Gradient DaY nicht berücksichtigt, und der Pa- den; aus der Wanksteifigkeit des Fahrwerks lässt
rameter A wird zu Null gesetzt. sich dann sofort die entsprechende Querbeschleu-
Das Lenkwinkelsignal wird in seiner Wirkung nigung aY,W und deren Änderungsgeschwindigkeit
zeitlich begrenzt. Die Werte aY,Lw und DaY,Lw werden DaY,W bestimmen.
742 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
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28
29 .. Abb. 40.23 Blockschaltbild der Gespannstabilisierung TSM
30 Der Bezugswert aY,max wird im Fahrversuch er- Bremsschlupf an den kurvenäußeren Rädern er-
mittelt und ist die Fahrzeugquerbeschleunigung aY höht. Darüber hinaus werden ESP-Eingriffe, die zur
an der Kippgrenze bei stationärer Kreisfahrt. Dabei Erhöhung des eindrehenden Giermoments führen
31 ist das Fahrzeug so zu beladen, dass die Schwer- würden, verboten.
punktshöhe maximal ist, h1.
32 Ist die Schwerpunktshöhe hSch bekannt, z. B. 40.5.1.5 Trailer Sway Mitigation, TSM
durch Schätzung der Fahrzeugbeladung, so kann Bei Fahrzeuggespannen kann der Anhänger ab ei-
33 der Bezugswert mit abnehmender Schwerpunkts-
höhe mit dem Faktor k nach oben korrigiert werden.
ner bestimmten Geschwindigkeit, der kritischen
Geschwindigkeit vkrit (ab ca. 80 km/h), anfangen zu
Das Verhältnis von effektiver Querbeschleu- schlingern. Die Schlingerbewegung des Anhängers
34 nigung aY,eff zu dem Bezugswert k·aY,max liefert den übt ein periodisches Giermoment auf das Zugfahr-
Wert kKipp,roh, der eine erste Schätzung der Kippge- zeug aus, wodurch die Giergeschwindigkeit des
35 fahr ist. Ist das Verhältnis kleiner als eine untere Zugfahrzeugs ebenfalls anfängt zu schwingen, und
Schwelle a0, so wird der Kippfaktor kKipp,roh auf Null zwar mit derselben Frequenz fP wie die Schlinger-
gesetzt, d. h. es besteht keine Kippgefahr. Über- bewegung des Anhängers. Je schneller das Gespann
36 schreitet das Verhältnis eine zweite obere Schwelle wird, desto heftiger wird die Schlingerbewegung des
a1, so wird der Kippfaktor kKipp,roh auf Eins gesetzt, Anhängers und damit auch der Giergeschwindig-
37 d. h. es besteht akute Kippgefahr. Liegt das Verhält- keit des Zugfahrzeugs. Dabei kann die Amplitude
nis zwischen beiden Schwellen, wird der Kippfaktor der Giergeschwindigkeit des Zugfahrzeugs so hoch
38 kKipp,roh durch lineare Interpolation ermittelt. Da vor werden, dass die Anregelschwellen des ESP über-
allem das Querbeschleunigungssignal verrauscht schritten werden und ESP-Eingriffe erfolgen. Bei
ist, wird der Kippfaktor tiefpassgefiltert. Übersteigt der „Trailer Sway Mitigation“ geht es darum, die
39 der Kippfaktor kKipp eine untere Schwelle k1, so wird Schlingerbewegung des Anhängers automatisch
in Abhängigkeit des gefilterten Kippfaktors kKipp das zu erkennen und eine automatische Bremsung des
40 Motormoment durch Vorgabe einer Reduktion des Zugfahrzeugs einzuleiten. Das Prinzip des TSM ist
symmetrischen Antriebsschlupfs reduziert und der in einem Blockschaltbild dargestellt (. Abb. 40.23).
40.5 • Mehrwertfunktionen
743 40
Zur Erkennung der Schlingerbewegung wer- der Radbremsdruck Null beträgt, der Bremsbelag
den noch der Anhängerschalter SA und die Fahr- von der Bremsscheibe zurückgezogen wird. Beim
geschwindigkeit v abgefragt. erneuten Druckaufbau verschiebt sich der Brems-
Initialisiert wird der Indikator für Pendelschwin- belag zuerst zur Bremsscheibe hin, was die Totzeit
gungen P auf den Wert Null (keine Pendelschwin- verursacht. Erst wenn der Bremsbelag anliegt, kann
gung). Steht der Anhängerschalter SA nicht auf Eins, der Bremsdruck erhöht werden.
so wird darauf geschlossen, dass kein Anhänger vor-
handen ist, und die weitere Erkennungsuntersuchung 40.5.1.6 Secondary Collision
entfällt. Andernfalls wird abgefragt, ob Iδ > S1, d. h. Mitigation, SCM
ob der Fahrer heftig lenkt, wobei S1 eine definierte Bei Fahrzeugkollisionen entstehen häufig Fahrzeug-
Schwelle ist. Wenn der Fahrer heftig lenkt, wird nicht bewegungen, die vom Fahrer schwer beherrschbar
weiter auf Pendelschwingungen untersucht, und der sind und die zu Folgekollisionen führen können. Ei-
Pendel-Indikator P bleibt Null. Ansonsten wird ge- nerseits kann der Fahrer davon so überrascht sein,
prüft, ob das Fahrzeug schnell genug fährt, v > S4, da dass eine gezielte Gegenmaßnahme über längere
bei kleinen Fahrgeschwindigkeiten Pendelschwin- Zeit ausbleibt. Andererseits kann der Fahrer durch
gungen ausgeschlossen werden können. Wenn auch erlittene Verletzungen dazu gar nicht mehr imstande
die Intensitäten der Giergeschwindigkeitsschwin- sein. Eine Studie belegt, dass in fast allen Aufprallsi-
gung und der Querbeschleunigungsschwingung groß tuationen, mit Ausnahme bei Frontalkollision, eine
genug sind, I P > S3 bzw. Ia > S2, wird auf Pendel- Vollbremsung sinnvoll ist. Durch die Vernetzung
schwingung erkannt, und der Pendel-Indikator wird von Airbag und ESP kann mittels ESP ein automa-
auf Eins gesetzt. Daraufhin wird das Motormoment tischer Eingriff in die Fahrzeugbewegung erfolgen,
zurückgenommen, und es werden eventuell auch alle mit der die weitere Unfallgefahr gemindert oder gar
Räder des Fahrzeugs mit demselben Bremsdruck ak- vermieden wird. Der Eingriff besteht aus einer Not-
tiv gebremst. Die Schwellen S1, …, S4 sind Parameter, bremsung, mit der das Fahrzeug stabil zum Stillstand
die bei der Applikation der Funktion festgelegt wer- geführt wird. Der Eingriff erfolgt auf Basis von den
den. Die Eingriffe in das Motormoment und in die Informationen „Aufprallstärke“ und „Aufprallsitua-
Bremse erfolgen so lange, bis eine der Intensitäten tion“ in dem Airbagsystem. Aus diesen Informationen
der Giergeschwindigkeitsschwingung oder Querbe- wird im Airbag-Steuergerät die erforderliche Höhe
schleunigungsschwingung unterhalb einer definier- der Fahrzeugverzögerung abgeleitet. Im ESP-Steuer-
ten Ausschaltschwelle gefallen ist (S3* bzw. S2*), bzw. gerät wird der dazu erforderliche Bremsdruck berech-
bis die Fahrzeuggeschwindigkeit weit genug abge- net und mittels des ESP-Aggregats aktiv eingestellt.
sunken ist (unterhalb S4*). Der Bremsdruck in den Betätigt der Fahrer das Fahrpedal, so wird der Eingriff
Radbremszylindern wird zunächst so eingestellt, dass abgebrochen. Allerdings muss dabei ausgeschlossen
das Fahrzeug mit einer Beschleunigung von –0,3 g werden, dass der Fahrer das Fahrpedal unbeabsichtigt
verzögert. Nimmt die Pendelschwingung während betätigt, z.B. durch auftretende Trägheitskräfte. Die
dieser Verzögerung stark zu, so wird der Bremsdruck Analyse der Fehlbedienung basiert auf den zeitlichen
weiter erhöht, bis das Fahrzeug mit einer Beschleu- Ablauf der Betätigung von Brems- und Fahrpedal.
nigung von –0,5 g verzögert wird.
Eine weitere Verbesserung der Dämpfung von 40.5.1.7 Side Wind Assist, SWA
Schlingerbewegungen wird durch eine seitenweise Plötzlich auftretende seitliche Windböen beeinflus-
Modulation der Radbremsdrücke erreicht, die ge- sen die Querdynamik des Fahrzeugs und können
nau gegenphasig zum Giermoment läuft, welches zu erhebliche Spurabweichungen führen. Mittels
vom Anhänger auf das Zugfahrzeug ausgeübt wird. der ESP-Sensorik können solche Situationen er-
Wichtig ist dabei, dass die Bremsdrücke in den Rad- kannt werden. Dazu werden die Signale aller ESP-
bremszylindern nicht auf Null reduziert werden, da Sensoren (Drehrate, Querbeschleunigung, Lenk-
sonst Totzeiten in der Modulation entstehen, wo- radwinkel, Bremsdruck, Radgeschwindigkeiten)
durch die Schlingerbewegung sogar aufgeschau- ausgewertet. In dieser Auswertung wird ein erfor-
kelt werden kann. Diese Totzeiten entstehen, wenn derliches Giermoment berechnet, welches die vom
744 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
21
Fahrer unbeabsichtigte Querdynamik des Fahrzeugs
reduzieren soll. Das Giermoment wird vom ESP in
der bereits beschriebenen Weise durch Bremsmo-
- Aus Komfortgründen werden Sperrmo-
mentrampen vorgegeben. Die Eingriffe sind
komfortabler als die Bremseingriffe. Deshalb
22 menteingriffe umgesetzt. Durch die Reduzierung kann die Regelung der Fahrdynamik mittels
der Querdynamik wird die Beherrschbarkeit des Mittensperrenregelung empfindlicher einge-
23 Fahrzeugs erhöht und der Aufwand zur Spurhal-
tung für den Fahrer reduziert. Weiter bekommt er
stellt werden als mittels Bremssperrenrege-
lung. Damit werden die Bremseingriffe zur
mehr Zeit für eigene Korrekturen [8]. Fahrzeugstabilisierung auch weniger häufig
24 notwendig sein.
-
31 der geregelten Mittensperre sind: falls wird der Geländezähler mit der Zeit abwärts
Sie ist geeigneter als die Bremsensperre bei gezählt. Erreicht der Geländezähler einen festge-
32 Geradeausfahrt, auf µ-Split-Fahrbahn und im legten Wert, so wird auf Gelände erkannt und der
33 - Gelände.
Die Sperre muss geöffnet werden bei akti-
ven ESP-Eingriffen (sonst beeinflussen die
Bremseingriffe auch den Schlupf anderer
Sollschlupf für die Vorderräder erhöht. Um nicht
bei einer vereisten Fahrbahn fälschlicherweise auf
Gelände zu erkennen, wird die Bremsverzögerung
noch mit dem Schlupf korreliert. Ist die Brems-
34 Räder), beim Bremsen (die Sperre beeinflusst verzögerung klein, der Bremsschlupf aber groß,
die elektronische Bremskraftverteilung EBV) wird auf „Eis“ erkannt, und der Sollschlupf wird
35 und während der Anpassungsphasen für die nicht erhöht. Wenn eine eindeutige Korrelation
36 - Geschwindigkeitsberechnung.
Das Restmoment bei Viskosperren darf nicht
größer als 100 Nm sein (auf das Rad umge-
rechnet), um die Geschwindigkeitsberechnung
nicht möglich ist, so wird der Sollschlupf an nur
einem Vorderrad erhöht. Aus Sicherheitsgründen
wird die Funktion nur unterhalb einer festgelegten
Geschwindigkeitsschwelle aktiviert (z. B. unterhalb
37
38 - nicht zu stören.
Bei zugeschalteter Vorderachse muss das
Sperrmoment reduziert werden, wenn das
Fahrzeug untersteuert, und erhöht werden,
50 km/h). Sobald der Fahrer lenkt, wird die Soll-
schlupferhöhung wieder zurückgenommen. Darü-
ber hinaus wird der Sollschlupf an der Hinterachse
nicht angehoben.
39
40
- wenn das Fahrzeug übersteuert.
Bei zugeschalteter Hinterachse muss das
Sperrmoment erhöht werden, wenn das Fahr-
zeug untersteuert, und reduziert werden, wenn
. Abb. 40.24 zeigt eine beschleunigte Fahrt auf
losem Schotter mit leichtem Gefälle mit einer an-
schließenden Vollbremsung. Bei der Beschleunigung
treten heftige Schwingungen in den Radgeschwin-
das Fahrzeug übersteuert. digkeiten auf – ein Hinweis auf Gelände. Während
40.5 • Mehrwertfunktionen
745 40
.. Abb. 40.24 Vollbremsung im Gelände mit
Geländeerkennung und Sollschlupferhöhung
am Rad vorne rechts. Messbereiche: Zeit: 0 – 5 s,
Rad-/Fahrzeuggeschwindigkeit: 0 – 10 m/s,
Bremsdrücke: 0 – 500 bar, Geländezähler: 0 –
100, Schlupf: –150 % – 50 %.
der beschleunigten Fahrt werden die Schwingungen zögerliche Bremsbetätigung besonders gravierend.
ausgewertet und der Geländeerkennung zugeführt. Abhilfe schafft der Bremsassistent, der durch Er-
Nach ca. einer Sekunde erreicht der Geländezähler kennung einer Gefahrensituation den Bremsdruck
einen festgelegten Schwellenwert, und es wird auf sofort, eventuell bis zur Schlupfregelung, über das
Gelände erkannt. In diesem Beispiel aber war die vom Fahrer vorgegebene Maß erhöht.
Korrelation zwischen Schlupf und Fahrzeugverzö-
gerung nicht eindeutig, sodass nicht klar auf „Eis“ Die wichtigsten funktionalen Anforderungen an
oder „Gelände“ erkannt werden konnte. Die Folge
war, dass nur am rechten Vorderrad der Sollschlupf
erhöht wurde, nicht am linken Vorderrad. Die Soll-
schlupferhöhung relativ zum Sollschlupf auf fester
-
den BA sind folgende [3, 4]:
Unterstützung des Fahrers in Notbremssitua-
tionen, Verkürzung des Bremswegs auf solche
Werte, wie sie sonst nur von gut trainierten
Fahrbahn ist im obigen Bild zu sehen.
situationen nur zögernd bremsen (. Abb. 40.25). Kernaufgabe ist die Bildung eines Auslösekriteriums
Die volle Betätigung der Bremse durch den Fahrer auf Basis der Fahreraktionen.
geschieht zeitversetzt. Da ein Verlust an Bremswir- Der hydraulische Bremsassistent (HBA) nutzt das
kung vor allem am Anfang einer Bremsung, wo vorhandene ESP-Hydroaggregat, um den Bremsdruck
die Geschwindigkeit am höchsten ist, den größten aktiv zu erhöhen. Mit dem eingebauten Drucksensor
Einfluss auf den Bremsweg hat, ist die anfänglich wird die Bremspedalbetätigung durch den Fahrer
746 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
21 .. Tab. 40.1
Situation Erkennungslogik
22 Phase 1 Bremspedal betätigt
(. Abb. 40.26) und HZ- Druckgradient über
23 Notsituation
Panikbremsung
Einschaltschwelle
und HZ- Druck über Einschalt-
schwelle
24 und Fahrgeschwindigkeit
über Einschaltschwelle
.. Abb. 40.25 Unterstützung des Fahrers in der Anbremspha-
25 se durch den Bremsassistenten (HBA)
Phase 2
(. Abb. 40.26)
Pedalkraft (aus HZ- Druck
abgeleitet) unter Umschalt-
Reduzierte schwelle
zur Situationserkennung analysiert. Die Erkennung
26 der Notbremssituation geschieht durch die Auswer-
Bremsanforderung
Druck und Druckgradient lässt sich der HBA an die Standard-Brem- Bremspedal nicht betätigt
sung oder HZ- Druck unter Aus-
28 jeweiligen Gegebenheiten des Fahrzeugs und der
Bremsanlage leicht anpassen. Dabei passen sich die
schaltschwelle
oder Fahrgeschwindigkeit
Schwellen dynamisch der momentanen Situation unter Ausschaltschwelle
29 unter Berücksichtigung von Fahrzeuggeschwindig- oder Pedalkraft genügend
keit, Hauptbremszylinderdruck, Zustandsgrößen der hoch
die Kolben der Radbremsen vorgeschoben, bis die schnell nach links, z. B. um einem Hindernis aus-
Bremsbeläge an den Bremsscheiben anliegen. Wäh- zuweichen. Während des schnellen Lenkens nach
rend dieser Zeit wirkt kein Bremsmoment an den links wird am linken (kurveninneren) Vorderrad
Rädern, und die Bremskraft an den Rädern wird re- ein kleiner aktiver Bremseingriff von ca. 3 bar
lativ zur Bremspedalbetätigung oder zum Anfang eingeleitet, um den Bremsbelag bereits in dieser
der aktiven Bremsung verzögert aufgebaut (siehe Situation an die Bremsscheibe anzulegen. Lenkt
auch TSM). Der Bremsweg wird dadurch länger der Fahrer im nächsten Augenblick schnell nach
– was bei einer Vollbremsung kritisch sein kann – rechts, so kann das Fahrzeug instabil werden, und
bzw. der aktive Bremseneingriff kann dadurch zu es muss ein Übersteuereingriff am linken Vorder-
spät erfolgen, wodurch das Fahrzeug evtl. nicht rad erfolgen, der sehr schnell sein muss, um das
mehr stabilisiert werden kann. Fahrzeug noch stabilisieren zu können. Da der
Eine Verbesserung kann erreicht werden, wenn Bremsbelag bereits an der Bremsscheibe anliegt,
die Bremsbeläge bereits an den Bremsscheiben kann der Eingriff unmittelbar erfolgen. Falls der
anliegen, bevor der Fahrer bremst bzw. bevor der Fahrer nicht im nächsten Augenblick nach rechts
aktive Bremseneingriff benötigt wird. Ein Indiz da- lenkt, ist der Bremseingriff am linken Vorderrad
für, dass der Fahrer demnächst bremst, ist der Last- nicht notwendig. Aus diesem Grund muss ge-
wechsel. Reduziert der Fahrer den Gaspedalweg sichert werden, dass der Bremsdruck einerseits
sehr schnell, dann ist dies ein Hinweis dafür, dass so groß ist, dass die Bremsbeläge an der Brems-
demnächst eine Vollbremsung erfolgen könnte. Im scheibe anliegen, und andererseits so klein ist,
letzten Fall wird während des Lastwechsels aktiv ein dass die Bremsung vom Fahrer nicht als störend
kleiner Bremsdruck von ca. 3 bar aufgebaut, um die wahrgenommen wird. Für diese Funktion muss das
Bremsbeläge bereits an die Bremsscheibe anzulegen, ESP-Gerät entsprechend ausgerüstet sein, z. B. mit
bevor der Fahrer bremst. genauen Regelventilen.
Ein Beispiel für diese Funktion bei aktiven ESP-
Eingriffen ist folgende Situation: Der Fahrer lenkt
748 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
keiten. Deshalb erfolgt ein Bremsruck, kurz bevor aufgenommen, wenn die Geschwindigkeit die
das Fahrzeug durch die Bremsung zum Stillstand Schwelle wieder unterschreitet. Die Funktion wird
kommt. Dieser kann vermieden werden, indem automatisch deaktiviert, wenn die Geschwindigkeit
der Fahrer den Bremsdruck kurz vor Fahrzeugstill- 60 km/h überschreitet.
stand zurücknimmt. Mit den Regelventilen des ESP- Hohe Temperaturen an der Radbremse schrän-
Aggregats ist dieser Vorgang auch ohne Zutun des ken den HDC-Betrieb ein. Sind die Temperaturen
Fahrers möglich. Kurz vor Fahrzeugstillstand wird beider Räder einer Achse höher als 600 °C, so wird
der Bremsdruck in den Radbremszylindern mittels die Bremswirkung langsam zurückgenommen. Ist
der Regelventile gegenüber dem vom Fahrer vorge- die Temperatur unterhalb 500 °C gesunken, wird die
gebenen Druck im Hauptbremszylinder reduziert. Bremsregelung wieder zugeschaltet. Anhand eines
Modells der Bremse wird die Temperatur geschätzt.
In dieses Modell gehen nicht nur die Aufheizzei-
40.5.4 Standstill & Speed Control ten sondern auch die Abkühlphasen ein. Die ein-
gehende thermische Energie wird direkt aus dem
Diese Kategorie der Mehrwertfunktionen unter- geschätzten Bremsmoment abgeleitet.
stützt den Fahrer bei Fahrbahngefälle und beim Vor allem bei unebenem Gelände kann durch
Anfahren, z. B. Anfahrassistent (Hill Hold Control) Abheben der Räder durch die HDC-Bremsung eine
und ACC Stop&Go. Sie ermöglichen dem Fahrer Bremsschlupfregelung häufig notwendig werden.
ein komfortables Fahren. Durch die asymmetrischen Bremskräfte können
dabei, wie bei einer µ-Split-Bremsung, Giermo-
40.5.4.1 Hill Descent Control, HDC mente auf das Fahrzeug ausgeübt werden, die der
Geländefahrzeuge mit zugeschaltetem Unterset- Fahrer über die Lenkung ausregeln muss. Um die
zungsgetriebe können mit dem Motorschleppmo- Geschwindigkeit des Fahrzeugs beizubehalten,
ment steile Hänge ohne Betätigung der Betriebs- müssen dann die anderen Räder stärker abgebremst
bremse herunterfahren, ohne dass das Fahrzeug zu werden, was dort auch zu einer Schlupfregelung
schnell wird. Bei Fahrzeugen ohne dieses Getriebe führen kann. Hierdurch ist der Fahrer bei der Füh-
wird die Wirkung durch eine automatische Brem- rung seines Fahrzeugs belastet. Er kann sich aber
sung der Räder erreicht [9]. Dazu wird das Prinzip voll auf seine Lenkungsaufgabe konzentrieren, da
der CDD-B verwendet. die Bremsaufgabe von der HDC übernommen wird.
HDC lässt sich am Armaturenbrett über eine
Taste aktivieren und deaktivieren. Bei aktivierter 40.5.4.2 Automatic Vehicle Hold
HDC ist die Regelung erst betriebsbereit, wenn die with Acceleration Sensor,
Fahrgeschwindigkeit nicht zu groß ist (< 35 km/h), AVH-S
wenn wenig Gas gegeben wird (Gaspedalstellung Diese Fahrerassistenzfunktion dient dazu, das Fahr-
< 20 %), und wenn Gefälle erkannt wird. Der ge- zeug im Stand mit einem Haltedruck zu bremsen,
schätzte Offsetwert in Gleichung (40.9) wird als damit es stehen bleibt und nicht wegrollt. Dazu wird
Fahrbahnsteigung verwendet. Geregelt wird auf mithilfe des ESP-Aggregats eine aktive Bremsdruck-
einen konstanten Geschwindigkeitssollwert von erhöhung bis zum Haltedruck an den Rädern durch-
8 km/h. Betätigt der Fahrer das Gaspedal, so kann geführt. Im Gegensatz zur Funktion HHC-S, die nur
die Geschwindigkeit auf einen höheren Wert bis ca. 2 s wirkt, kann das Fahrzeug mehrere Minuten
maximal 35 km/h geregelt werden. Betätigt der ohne Bremsenbetätigung durch den Fahrer gehalten
Fahrer hingegen das Bremspedal, so kann die Ge- werden. Nach einer gewissen Zeit wird die Halte-
schwindigkeit auf 6 km/h herunter geregelt werden. funktion von der automatischen Feststellbremse
Auch bei der HDC werden wie bei der CDD-B die übernommen. Zur Druckerzeugung wird sowohl die
Bremsleuchten im Regelbetrieb angesteuert. Pumpe als auch das Umschaltventil zwischen Haupt-
Überschreitet bei aktivierter Funktion die zylinder und Bremskreis angesteuert [4]. Bei einer
Geschwindigkeit die Schwelle 35 km/h, so wird elektrischen Teilbestromung wirkt das Umschaltven-
die Regelung abgebrochen und erst dann wieder til wie eine Drossel. Durch die Pumpenförderung
750 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
entsteht über das Ventil ein Staudruck, wodurch die schied zu CCB bietet CCT dem Fahrer die Mög-
21 Radbremszylinder mit Bremsdruck beaufschlagt lichkeit, über Bedienelemente am Lenkrad beliebige
werden. Da der Strom variiert werden kann, ist eine Beschleunigungen und Verzögerungen vorzugeben.
22 Druckmodulation der Radbremsen möglich. Damit Dabei kann bis zum Fahrzeugstillstand verzögert
lässt sich ein minimaler Bremsdruck an den Rädern werden und z. B. durch AVH-S im Stillstand gehal-
23 einstellen, der sich an das Längsbeschleunigungssi-
gnal variabel anpasst und das ESP-Aggregat minimal
ten werden. Diese Funktion stellt hohe Anforderun-
gen an die Belastbarkeit und eine geringe Geräusch-
belastet. Wenn der erforderliche Haltedruck erreicht entwicklung des ESP-Aggregats.
24 ist, wird das Umschaltventil voll bestromt, sodass es
schließt, und die Pumpe abgeschaltet werden kann. 40.5.4.6 Controlled Deceleration for
25 Die AVH-S-Funktion muss vom Fahrer über einen DAS Basic, CDD-B
Schalter oder über eine Taste aktiviert werden. Wenn Viele Funktionen beruhen auf der Vorgabe einer
nach einer Bremsung bis zum Stillstand wieder an- Fahrzeugverzögerung, wie z. B. TSM, HDC, ACC
26 gefahren werden soll, muss die Bremse gelöst wer- und die automatische Teilbremsung bei Gefahr ei-
den. Wird der Bremsdruck in den Radbremszylin- nes Auffahrunfalls. CDD-B ist ausgelegt für Cruise
27 dern vom ESP-Aggregat gehalten, so muss über die Control-Systeme und setzt Fahrzeugverzögerun-
Ansteuerung der Umschaltventile der Druck gere- gen bis 3,5 m/s2 bei Geschwindigkeiten oberhalb
28 gelt zurückgenommen werden. Sobald der Fahrer
das Gaspedal betätigt, wird der Druck in den Rad-
von 30 km/h um. Eingangsgröße der CDD-B ist
eine Soll-Fahrzeugverzögerung, Ausgangsgröße
bremszylindern reduziert, wobei die Bremsdruckre- ist die Ist-Fahrzeugverzögerung, die durch aktives
29 duzierung vom aktuellen Motormoment und dem Bremsen an allen Rädern eingeregelt wird. Dabei
eingelegten Gang abhängig ist. wird die Pumpe des ESP-Aggregats angesteuert und
30 40.5.4.3 Automatic Vehicle Release,
die Verbindung zwischen Bremskreis und Haupt-
bremszylinder mit einem stromgeregelten propor-
AVR tionalen Ventil, dem Umschaltventil, geschlossen
31 Diese Funktion ermöglicht die geregelte Rück- (siehe auch AVH-S). Die Einlassventile der Räder
nahme des Haltedrucks im Stillstand. Sie ist in der werden nicht beeinflusst. Die Umschaltventile wir-
32 Funktion AVH-S enthalten und dort beschrieben. ken wie variable Drosseln, wobei die Drosselwir-
kung über den elektrischen Strom gesteuert wird.
40.5.4.4 Cruise Control Basic, CCB
33 Bei der adaptiven Fahrgeschwindigkeitsregelung
Durch die stetige Förderung der Pumpe durch die
variable Drossel wird ein variabler Staudruck ge-
mit Umfeldsensor (Adaptive Cruise Control, ACC) neriert, welcher die Radbremszylinder mit Druck
34 wird die Fahrgeschwindigkeit zunächst über eine beaufschlagt. Durch die hohen Komfortanforde-
Rücknahme des Motormoments reduziert. Reicht rungen an Geräusch und Fahrzeugverzögerung,
35 der Motoreingriff nicht aus, so wird mit dem ESP- z. B. bei ACC, sind hochwertige Umschaltventile
Aggregat ein aktiver Bremseneingriff eingeleitet, um erforderlich [4].
die von der ACC vorgeschriebene Fahrzeugverzö-
36 gerung zu erreichen, siehe Funktion CDD-B. Für 40.5.4.7 Controlled Deceleration for
diese Grundfunktion des ACC sind Bremsdrücke DAS, Stop&Go, CDD-S
37 bis zu 40 bar erforderlich. Da die Bremsfunktion Im unteren Geschwindigkeitsbereich (0–30 km/h)
hohe Anforderungen an den Komfort erfüllen muss, wird relativ häufig gefahren, und zwar in ca. 32 %
38 sind genaue und kontinuierlich regelbare Umschalt- der Gesamtbetriebszeit des Fahrzeugs. Der Stauas-
ventile erforderlich. sistent hilft dem Fahrer im Verkehrsstau, bei Fahr-
geschwindigkeiten unterhalb von 30 km/h, Auffahr-
39 40.5.4.5 Cruise Control Touch unfälle zu vermeiden. Dafür ist ein Sensor (z. B. ein
Activated, CCT Radarsensor) für den Nahbereich und für niedrige
40 Auch diese Funktion nutzt das ESP-Aggregat, um Geschwindigkeiten erforderlich, um Hindernisse
das Fahrzeug komfortabel zu verzögern. Im Unter- vor dem Fahrzeug zu erkennen. Zudem ist ein
40.5 • Mehrwertfunktionen
751 40
Hochleistungs-Bremssystem nötig, um das Fahr- bei wird der vom Fahrer aufgebrachte Bremsdruck
zeug bei niedrigen Fahrgeschwindigkeiten komfor- für bis zu 2 s beibehalten. Es findet kein aktiver
tabel bis zum Stillstand zu verzögern. Wenn erfor- Druckaufbau statt. Dadurch hat der Fahrer genü-
derlich, wird das Fahrzeug durch den Stauassistent gend Zeit, um vom Bremspedal zum Gaspedal zu
aktiv und bis zum Stillstand verzögert. Genau wie wechseln. Der Bremsdruck wird abgebaut, sobald
CDD-B dient CDD-S diesen Cruise Control-Syste- das System den Anfahrvorgang erkennt. Um den
men als Steller, um die geforderte Fahrzeugverzöge- richtigen Zeitpunkt für den Druckabbau zu be-
rung einzustellen. Dies ist mit CDD-S aber in jedem stimmen, ist es notwendig, das Kräftegleichgewicht
Geschwindigkeitsbereich bis zum Stillstand mög- am Fahrzeug zu kennen. Dieses kann aus dem Mo-
lich, einschließlich Stop&Go-Betrieb. CDD-S kann tormoment und der Hangabtriebskraft berechnet
höhere Verzögerungen bis zu 6 m/s2 einstellen. Das werden. Die Hangabtriebskraft wird mittels eines
Fahrzeug kann hydraulisch oder mittels einer me- Längsbeschleunigungssensors abgeschätzt. Die
chanischen Feststellbremse im Stillstand gehalten HHC-Funktion wird automatisch aktiviert. Um zu
werden. Wegen der hohen Einsatzhäufigkeit werden vermeiden, dass der Fahrer das Fahrzeug verlässt,
hierbei besonders hochwertige ESP-Aggregate ver- während HHC aktiv ist, werden zur Sicherheit zu-
wendet. Wenn das vorausfahrende Fahrzeug anhält, sätzliche Signale (z. B. Kupplungssignal) überprüft.
kann der Fahrer sowohl visuell, akustisch als auch
haptisch gewarnt werden, z. B. mittels AWB, um ihn
zur Bremsung zu animieren. Wenn der Fahrer nicht 40.5.5 Advanced Driver Assistance
rechtzeitig bremst, verzögert das System das Fahr- System Support
zeug bis zum Stillstand.
Bei dieser Kategorie von Mehrwertfunktionen
40.5.4.8 Controlled Deceleration for werden die ESP-Eingriffe auf der Grundlage von
Parking Brake, CDP Sensorsignalen aus den Bereichen der aktiven und
CDP findet in Fahrzeugen mit elektromechani- passiven Sicherheit angepasst. So z. B. die Automatic
schen Feststellbremsen Verwendung. Diese Brem- Warning Brake, die helfen soll, die Aufmerksamkeit
sen ersetzen die konventionellen Handbremshebel: des Fahrers zu erhöhen, siehe hierzu auch Kap. 47.
Die Seile der Feststellbremse werden durch einen
Elektromotor betätigt. Bei laufendem Motor über- 40.5.5.1 Adaptive Brake Assist, ABA
nimmt zunächst die ESP-Hydraulik die Aufgaben Je früher eine Vollbremsung einsetzt, desto kürzer
der Feststellbremse bis zum Fahrzeugstillstand und ist der Bremsweg. Im Hinblick auf den Bremsas-
auch kurze Zeit danach, bis die mechanische Fest- sistenten HBA wurde bereits erklärt, dass nach Er-
stellbremse diese übernommen hat. CDP bildet das kennung einer Gefahrensituation eine automati-
Interface zum Steuergerät der elektromechanischen sche Vollbremsung bis in den ABS-Bereich erfolgt.
Feststellbremse und bremst das Fahrzeug durch ak- Für die Erkennung wird aber Zeit benötigt. Zudem
tive Druckerhöhung an den Rädern. Während des wird Zeit gebraucht, bis die Bremsbeläge anliegen
Abbremsvorgangs bleiben alle ESP-Funktionen voll und Bremsmoment entsteht. Wird aufgrund der
verfügbar. Umfeldsensorik eine Gefahrensituation erkannt, so
wird die Auslöseschwelle des HBA herabgesetzt.
40.5.4.9 Hill Hold Control with Dies kann in mehreren Stufen erfolgen. Mithilfe
Acceleration Sensor, HHC-S der ABP-Funktion werden die Bremsbeläge auto-
Wenn ein Fahrzeug an einer Steigung anfahren soll, matisch an die Bremsscheiben angelegt, noch be-
ist ein komplizierter Vorgang mit Koordination von vor der Fahrer die Bremsung einleitet. Betätigt der
Bremspedal Loslassen, Einkuppeln, Handbremse Fahrer dann die Bremse, so wird der Bremsassis-
Lösen und Gas Geben notwendig, damit das Fahr- tent schneller aktiviert, die Bremswirkung startet
zeug beim Bremsenlösen nicht zurückrollt. Dieser sofort, und der Bremsweg ist kürzer. Diese Funk-
Vorgang kann mithilfe des ESP-Aggregats zu einem tion wird auch „Predictive Brake Assist“ (PBA) ge-
normalen Anfahrvorgang vereinfacht werden. Da- nannt. Bei der EHB (Elektrohydraulische Bremse)
752 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen
wird zusätzlich die Bremskraftverstärkung erhöht. d. h. eine Änderung in der Fahrzeugbeschleunigung.
21 Auch wenn der Auffahrunfall nicht vermieden Bei der AWB wird dieser Ruck durch einen kleinen
werden kann, wird die Unfallschwere durch die aktiven Bremsimpuls von ca. 10 bar ausgelöst. Dazu
22 geringere Geschwindigkeit beim Aufprall gerin- wird, wie bei der CDD-B, die Pumpe des ESP-Ag-
ger sein. In einer weiteren Ausbaustufe wird auf gregats angesteuert. Die Umschaltventile werden so
23 Grundlage der Information aus der Umfeldsenso-
rik zusätzlich ein erforderlicher Bremsdruck ausge-
angesteuert, dass der Schließdruck ca. 10 bar beträgt.
Ist der Schließdruck in den Radbremszylindern er-
rechnet, mit dem der Auffahrunfall noch vermie- reicht, wird nach ca. 250 ms der Vorgang abgebro-
24 den werden kann. Leitet der Fahrer die Bremsung chen, wodurch die Umschaltventile geöffnet werden
ein, so wird dieser Bremsdruck automatisch und und die Pumpe abgeschaltet wird.
25 sofort eingestellt.
Brake Prefill) verwendet. Anwendung findet diese 40.5.6.1 Tire Pressure Monitoring
29 Funktion z. B. bei der ABA. System, TPM
Wenn der Luftdruck in den Reifen niedriger als vor-
30 40.5.5.3 Automatic Emergency Brake, geschrieben ist, nimmt der Reifenverschleiß zu. Bei
AEB schneller Fahrt werden Reifen mit niedrigem Luft-
Diese Funktion leitet eine automatische Notbrem- druck wegen dem erhöhten Rollwiderstand und Ver-
31 sung bis zum ABS-Betrieb ein, auch wenn der Fahrer formungsarbeit heiß und können platzen, vor allem
nicht rechtzeitig reagiert. Hierfür ist eine sichere Er- beim beladenen Fahrzeug und an einem heißen Tag.
32 kennung der Gefahrensituation erforderlich. Neben Der Fahrer ist deshalb angehalten, den Luftdruck re-
der Sensorik für den Fernbereich, wie sie bei ACC gelmäßig zu prüfen. Es kommt jedoch häufig vor,
33 verwendet wird, ist zusätzlich eine Sensorik für die
Erkennung des Nahfeldbereichs erforderlich (z. B.
dass der Fahrer die Prüfung nicht durchführt. Bei
einer Untersuchung in den USA stellte sich heraus,
Videosensorik). Wie bei der CDD-B wird eine aktive dass über die Hälfte der Fahrzeuge mit falschem Rei-
34 Bremsung eingeleitet, die wie bei der CDD-S bis zum fenluftdruck unterwegs waren. Der Vorteil des TPM
Stillstand des Fahrzeugs fortgeführt wird. Der Druck besteht darin, den Luftdruck in den Reifen während
35 in den Radbremszylindern wird aber nicht auf eine der Fahrt ständig zu überwachen und eine Meldung
vorgegebene Fahrzeugverzögerung eingestellt, son- abzugeben, falls der Druck zu gering ist. Ausgelöst
dern ähnlich wie bei der HBA so schnell wie möglich durch schwere Unfälle in den USA, die auf Rei-
36 bis zur ABS-Druckmodulation erhöht. fendruckverlust zurück zu führen waren, wird seit
2008 eine automatische Reifendrucküberwachung
37 40.5.5.4 Automatic Warning Brake, für Neufahrzeuge (Pkw und leichte Nutzfahrzeuge)
AWB gefordert, die den Fahrer warnt, wenn der Druckver-
38 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aufmerk- lust in einem Reifen größer als 25 % ist.
samkeit des Fahrers bezüglich der Gefahrensituation Bei der Funktion TPM wird der Druck nicht
zu erhöhen. So können akustische und optische Si- direkt gemessen (wie bei der so genannten direkten
39 gnale abgegeben werden, wenn aus der Information Methode, TPM-C) sondern aus den Radgeschwin-
der Umfeldsensorik auf eine potenzielle Gefahrensi- digkeiten abgeleitet (die indirekte Methode). Dazu
40 tuation erkannt wird. Effektiv sind haptische Signale, werden die vier Radgeschwindigkeiten bei Gerade-
die der Fahrer spürt, wie z. B. ein Fahrzeug-Ruck, ausfahrt und konstanter Fahrgeschwindigkeit mit-
Literatur
753 40
einander verglichen. Die Methode funktioniert gut, konzept unabdingbar sind (z. B. Informationen über
wenn nur ein Reifen Druck verliert. Es besteht aber Ausfallraten und Risikoprioritätszahlen), ist dabei
die Möglichkeit, auch eine Warnung auszugeben, eine große Herausforderung.
wenn alle vier Reifen oder zwei Reifen auf einer
Achse gleichmäßig Luftdruck verlieren. Die Funk-
tion beruht auf der Tatsache, dass wenn ein Reifen Literatur
Luft verliert, der Reifenradius etwas kleiner bzw. die
Raddrehung etwas schneller wird. Der Unterschied [1] Burkhardt, M.: Radschlupf‐Regelsysteme. Vogel Buchver-
lag, Würzburg (1993)
ist jedoch gering, vor allem bei Reifen mit niedrigem
[2] Schindler, E.: Fahrdynamik. Expert Verlag, Renningen
Querschnitt, und es muss auf ca. 0,25 % Geschwin- (2007)
digkeitsunterschiede geprüft werden. Dies setzt eine [3] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Fahrsicherheitssysteme. Vie-
sehr langsame Filterung und Mittelwertbildung der weg Verlag, Wiesbaden (2004)
Radgeschwindigkeit voraus. Nach einem Reifen- [4] Breuer, B., Bill, K.-H. (Hrsg.): Bremsenhandbuch. Vieweg
Verlag, Wiesbaden (2006)
wechsel muss die Funktion zurückgesetzt werden,
[5] van Zanten, A., Erhardt, R., Pfaff, G.: FDR – Die Fahrdyna-
z. B. durch Betätigung einer „Reset“-Taste, und alle mikregelung von Bosch. ATZ, Ausgabe 96(11), 674–689
Reifen müssen auf Solldruck eingestellt werden. Ne- (1994)
ben der Auswertung der Abrollumfänge wird neu- [6] Isermann, R. (Hrsg.): Fahrdynamik‐Regelung. Vieweg Ver-
erdings auch das Frequenzspektrum der Radsignale lag, Wiesbaden (2006)
[7] Rieth, P., Drumm, S., Harnischfeger, M.: Elektronisches Sta-
ausgewertet (TPM-F).
bilitätsprogramm Bibliothek der Technik, Bd. 223. Verlag
Moderne Industrie, Landsberg/Lech (2001)
[8] Keppler, D.; Rau, M.; Ammon, D.; Kalkkuhl, J.; Suissa, A.; Wal-
40.6 Ausblick ter, M.; Maack, L.; Hilf, K.‐D.; Däsch, C.: Realisierung einer
Seitenwind‐Assistenzfunktion für PKW. Tagungsband des
11. Braunschweiger Symposiums AAET 2010 (Automati-
Kurz nach Markteinführung des ESP erschien das
sierungs‐, Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für
wichtige Fahrerassistenzsystem „Bremsassistent“ Transportmittel), 10. und 11. Februar 2010, ITS Niedersach-
auf dem Markt. Seitdem ist die Zahl der Fahreras- sen e.V., Braunschweig, 2010, S. 178–199
sistenzsysteme sprunghaft angestiegen. Anfänglich [9] Fischer, G., Müller, R.: Das elektronische Bremsenmanage-
stand aber die Integration von ESP mit weiteren ment des BMW X5. ATZ 102(9), 764–773 (2000)
Fahrdynamikregelung
mit Brems- und Lenkeingriff
Thomas Raste
41.1 Einleitung – 756
41.2 Anforderungen an die Zusatzfunktion Stabilisierung
mit Bremse und Lenkung – 756
41.3 Konzept und Wirkprinzip der Brems-
und Lenkregelung – 758
41.4 Funktionsmodule zum Lenkwinkeleingriff – 760
41.5 Funktionsmodule zur Fahrerlenkempfehlung – 761
41.6 Spezifische Entwicklungsherausforderungen
und zukünftige Entwicklungen – 763
Literatur – 765
41
41.1 Einleitung
-
14 das Lenkmoment, womit dem Fahrer eine hap- nierten Brems- und Lenkeingriffen:
tische Rückmeldung als Lenkempfehlung in verbesserte Spur- und Richtungstreue in allen
15 einer kritischen Fahrsituation gegeben werden Betriebszuständen wie Lastwechsel, Voll- und
16 - kann;
Systeme zur Winkelüberlagerung erlauben
einen vom Fahrer vorgegebenen Lenkeinschlag
der Vorderräder zu verändern oder den von
- Teilbremsung in Kurven, Slalom,
erweiterte Fahrstabilität im Grenzbereich bei
extremen Lenkmanövern (z. B. Notlenksitua-
tion, Panikspurwechsel) und damit Reduzie-
17
18 -
der Kinematik bestimmten Lenkeinschlag der
Hinterräder zu modifizieren;
Systeme zur Momenten- und Winkelüberlage-
rung vereinen die Vorzüge der beiden vorge-
- rung der Schleudergefahr,
verringerter Lenkaufwand und verbesserte
Nutzung des Kraftschlusspotenzials beim
Bremsen und Antreiben – insbesondere auf
nannten Systeme, die Aktuatoren sind hierbei inhomogenen Fahrbahnen und dadurch
19 entweder örtlich konzentriert und damit sehr Bremsweg- und Traktionsgewinne bei gleicher
platzsparend in einem gemeinsamen Gehäuse oder besserer Stabilität.
20 untergebracht oder als separate Stellglieder an
verschiedenen Stellen im Lenkstrang platziert;
41.1 • Einleitung
757 41
Fahrzeugreaktion
Störungen Fahrzeug
Fahrdynamik-
Aktuatoren
Gaspedal Antriebs-
Antrieb
management
ESC stabilisiertes
Bremspedal Fahrverhalten
Fahrer Bremsen-
Bremsen
management
Umwelt,
Verkehr
Lenkrad Lenkungs-
Lenkung
management
Aktives Lenksystem
Fahrzeugreaktion
.. Abb. 41.1 Regelkreis Fahrer – Fahrzeug – Umwelt mit ESC und aktivem Lenksystem
Funktionen
aktiver Lenksysteme
Baustellen-
Lenkgefühl Lane Centering
Assistenz
Spurwechsel-
Assistenz
.. Abb. 41.3 Systemkon-
41 ESC Bordnetz text und Schnittstellen der
Systemgrenze Fahrdynamikregelung mit
Umgebung Lenkeingriff
2
Stabilisierungs-
funktionen Chassis/
3 - Lenkung Body
Aktives
4 Fahrzeug
CAN Bus
Lenksystem Gelenkte
Räder
5 Fahrdynamikregelung
mit Lenkeingriff Verbrennungs-
Motor
6
Diagnose Lenkrad/
Lenkstrang Fahrer
7
Fahrer- Fahrzeug- .. Abb. 41.4 Hierar-
8
längs quer vertikal gieren rollen nicken
Sollvorgaben w Ist-Bewegung y x y z ψ ϕ θ chisch-kaskadiertes
Regelungskonzept (Reifen-
Fahrdynamik-
Fahrdynamik- kräfte sind straßenseitig
9 Regelung
Regelung
dargestellt)
Bewegungs-
Sollgrößen v Fahrdynamik-
10 z.B. Giermoment Aktuator
Reifenkraft-
Reifenkraft-
11 Aktuator-
Regelung
Regelung
Kammscher
Reibungskreis
Sollgrößen u
12 z.B. Bremsmoment max. Reifen-
Längskraft Fx
max. Reifen-
Querkraft Fy
Aktuator-
Aktuator-
Regelung
13 Regelung max. horizontale vertikale
Reifenkraft FR = µFz Reifenkraft Fz
19
20
--
Untersteuern,
Überrollgefahr,
Anhängerinstabilität.
ben von Sollgrößen, die eine Änderung der Fahr-
zeugbewegung bewirken. Die Reifenkräfte an der
Kontaktstelle Reifen – Straße sind zuständig für die
Bewegungsänderung und werden über Fahrdyna-
mik-Aktuatoren neu eingestellt. Hierbei bildet der
41.3 • Konzept und Wirkprinzip der Brems- und Lenkregelung
759 41
.. Abb. 41.5 Reifenkräfte, Fx
Radgeschwindigkeiten
und Giermomentanteil des FR v Gy = v Ry
Rades
vG
rcg × F R → opt .
Fy vGx vR
rcg α δ
vRx
vom Reibwert µ und der Aufstandskraft Fz abhän- gleichzeitig über Bremse oder Antrieb der Betrag
gige Kamm’sche Reibungskreis die Grenze für die der Kraft FR vergrößern. Aber auch ein Minimieren
maximal einstellbaren horizontalen Reifenkräfte am des Giermomentanteils eines Rades ist in bestimm-
jeweiligen Rad. ten Fahrsituationen gefordert, was ebenfalls mit-
. Abb. 41.5 zeigt, wie ein einzelnes Rad zum tels Lenkeinschlag geschieht. Jedoch soll jetzt das
Giermoment des Fahrzeugs beiträgt [1]. Die Ho- Kreuzprodukt, d. h. die von FR und rcg aufgespannte
rizontalkräfte sind abhängig von den Schlupfgrö- Fläche möglichst klein werden. Typische Anwen-
ßen, die aus der Gleitgeschwindigkeit vG und der dungsfälle für ein Zusammenwirken von Brems-
absoluten Geschwindigkeit vR des Rades abgeleitet und Lenksystemen zur Fahrzeugstabilisierung sind
werden können. Die Resultierende FR der Horizon- in . Abb. 41.6 dargestellt.
talkräfte und die Gleitgeschwindigkeit vG befinden In Fall A – beim Bremsen auf ungleich griffi-
sich entgegengesetzt auf der gleichen Wirkungs- ger Fahrbahn (µ-split) – baut sich in sehr kurzer
linie. Zeit ein großes Giermoment auf. Ohne Regelsys-
Der Anteil des Giermoments, das jedes Rad er- teme ist diese Situation vom Fahrer nur schwer zu
zeugt, erreicht sein Maximum, wenn das Kreuzpro- beherrschen. Heutige Stabilitätsregelsysteme wie
dukt aus dem Ortsvektor rcg vom Fahrzeugschwer- das ESC schwächen die destabilisierende Giermo-
punkt zum Radzentrum und dem Vektor FR der mentwirkung auf das Fahrzeug dadurch ab, dass
resultierenden Reifenkraft maximal ist. Über den an der Vorderachse die Bremskraft leicht verzögert
Lenkwinkel δ am Rad lassen sich Kraft- und Orts- aufgebaut wird. Zudem wird programmgesteuert an
vektor näherungsweise orthogonal einstellen und der Hinterachse kein Giermoment erzeugt, in dem
760 Kapitel 41 • Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff
12000
jeweils im Normalfahr- und
Grenzbereich
3
10000
8000
4 6000
4000
5 2000
Normalfahrbereich Grenzbereich
7
der niedrigste Reibwert die Bremskraft an beiden . Abbildung 41.7 zeigt, über welches Potenzial
8 Rädern bestimmt (sog. „Select-Low“-Strategie). zur Erzeugung von Giermomenten das ESC mit
Die genannten Strategien bewirken jedoch einen der Bremse, die AFS (Active Front Steering) mit
9 Zielkonflikt zwischen maximaler Stabilität und mi- Winkelüberlagerung an der Vorderachse und die
nimalem Bremsweg. Eine deutliche Reduzierung ARK (Active Rear Axle Kinematics) mit Winkel-
10 dieses Zielkonflikts erreicht man durch eine Koor- überlagerung an der Hinterachse verfügen [2]. Im
dinierung von Brems- und Lenkeingriffen: Durch Grenzbereich hat das ESC das größte Potenzial, ein
Einlenken der Vorderräder in Richtung des niedri- übersteuerndes Fahrzeug zu stabilisieren. Mit den
11 geren Reibwerts verkleinert sich das Gesamtgiermo- Lenksystemen kann man im Grenzbereich sehr ef-
ment, welches auf das Fahrzeug wirkt. Somit kann fektiv Seitenkräfte abbauen, was beim AFS zu einem
12 auf einen verzögerten Aufbau der Bremskraft an der hohen ausdrehenden und bei der ARK zu einem
Vorderachse und die Select-Low-Strategie an der noch höheren eindrehenden Giermoment führt.
Hinterachse verzichtet werden, wodurch sich der
13 Bremsweg bei gleichzeitig guter Geradeausstabilität
erheblich reduziert. 41.4 Funktionsmodule
14 In Fall B ist ein Übersteuern bei Kurvenfahrt zum Lenkwinkeleingriff
dargestellt. Beim Übersteuern ist die Stabilität he-
15 rabgesetzt, weil ein Giermoment das Fahrzeug- Die typischen Funktionsmodule für einen Lenk-
heck in Richtung Kurvenaußenrand drängt und winkeleingriff sind in . Abb. 41.8 dargestellt:
ein gefährlicher Schleuderzustand droht. In einem Der Radlenkwinkel δ ergibt sich aus dem Fahrer-
16 solchen Fall bremst das ESC das vordere kurvenäu- wunsch-Lenkwinkel δFW und den Überlagerungs-
ßere Rad ab, um ein stabilisierendes Giermoment winkeln δFB aus dem Giermomentregler und δFF aus
17 zu erzeugen bzw. das destabilisierende Giermoment der Giermomentkompensation. Von den Fahrer-
abzuschwächen. Durch das Lenksystem kann das vorgaben wird der Lenkradwinkel δH und der Fah-
stabilisierende Giermoment noch einmal erheblich rerbremsdruck pF benutzt; am Fahrzeug wird die
18 gesteigert werden: Dies geschieht durch ein Zu- Gierrate P und die Querbeschleunigung ay gemes-
rücklenken, d. h. Verkleinern des Lenkwinkels an sen und der Regelung zugeführt. Nicht dargestellt ist
19 der Vorderachse – womit sich der Winkel zwischen die Verwendung der Fahrzeuggeschwindigkeit, die
Ortsvektor zum Schwerpunkt und resultierender aus den gemessenen Raddrehzahlen bestimmt wird.
20 Kraft und somit der stabilisierende Giermomen- Die Referenzgierrate berücksichtigt das stationäre
tanteil des linken Vorderrads vergrößert. und dynamische Fahrzeugverhalten und muss auf
41.5 • Funktionsmodule zur Fahrerlenkempfehlung
761 41
z
(optional) pi
ay
Lenkwinkeleingriff
pF Störgrößen-
pi , M z Giermoment-
Fahrer Fahrzeug
schätzung Kompensation
δ FF
δH Variable δ FW δ ψ&
Lenk-
übersetzung
δ FB
ein physikalisch sinnvolles, durch den maximalen höchstmöglichen Bremsdruck einstellen, so dass
Reibwert bestimmtes Maß limitiert werden. Der der Bremsweg bei spürbar verbesserter Fahrstabili-
Giermomentregler enthält Anteile zur Folgerege- tät erheblich schrumpft. Der Fahrer muss in dieser
lung der Gierrate, um den Fahrer zu unterstützen, Stresssituation lediglich dorthin lenken, wohin er
und zur Begrenzung des Schwimmwinkels bzw. der fahren möchte.
Schwimmwinkelgeschwindigkeit, um die Stabilität Die Giermomentregelung verbessert das Hand-
des Fahrzeugs zu verbessern. Die Giermomentkom- ling des Autos durch gezielte Lenkeingriffe in Kur-
pensation ist eine Störgrößenaufschaltung, die die ven, wobei die Vorderräder kurzzeitig etwas stärker
negativen Auswirkungen von Störgrößen z auf das und schneller eingelenkt werden, als es aufgrund
Fahrverhalten beim Bremsen oder Beschleunigen der Lenkradbewegungen der Fall wäre. In Notsi-
kompensiert. Das für die Giermomentkompensa- tuationen sorgt die Regelung für ein schnelles An-
tion erforderliche Störgiermoment Mz wird aus den sprechverhalten des Fahrzeugs, bessere Stabilität
Bremsdrücken bzw. den einzelnen Bremskräften und geringeren Lenkaufwand, . Abb. 41.10. Das
abgeschätzt. Die Funktion wird entscheidend ver- stabilisierende Gegenlenken erfolgt automatisch
bessert, wenn die Bremsdrücke pi an den Rädern und kann sehr früh erfolgen, da es vom Fahrer un-
gemessen werden. bemerkt bleibt. Mit zunehmendem Schwimmwinkel
Das Sicherheitsplus zeigt sich vor allem beim werden die Bremseneingriffe stärker hinzugezogen.
Bremsen auf ungleich griffiger Fahrbahn (µ-split),
. Abb. 41.9: Weil die Reifen auf griffigem Unter-
grund mehr Bremskraft übertragen können als auf 41.5 Funktionsmodule zur
glattem Untergrund, will sich das Auto in Richtung Fahrerlenkempfehlung
der griffigen Seite drehen. Das um den Lenkwin-
keleingriff erweiterte ESC steuert diesem Drang Ist die Lenkung als System zur Momentenüber-
durch automatisches, dosiertes Lenken in die andere lagerung ausgeführt, erfolgt der Lenkeingriff als
Richtung entgegen und befreit den Fahrer von der Fahrerlenkempfehlung (engl. Driver Steering
Aufgabe, dies zur Stabilisierung des Autos selbst zu Recommendation, DSR). Droht das Auto vom
tun. Gleichzeitig kann ESC an jedem Rad genau den Wunschkurs des Fahrers abzukommen, ist im
762 Kapitel 41 • Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff
41 90 30 90 30
Geschwindigkeit [km/h]
Geschwindigkeit [km/h]
Bremsweg=69m Bremsweg=77m
60 vx 20 60 vx 20
Gierrate [°/s]
Gierrate [°/s]
30 dψ /dt 10 30 dψ /dt 10
2 0 0 0 0
4 150
pVL
150
pVL
Bremsdruck [bar]
Bremsdruck [bar]
pVR pVR
pHL pHL
100 100
pHR pHR
5 50 pF 50 pF
0 0
6
2 2
δFW δ
7 0 0
Lenkwinkel [°]
Lenkwinkel [°]
δ
-2 -2
8 -4 -4
-6 -6
0 1 2 3 4 5 6 7 8 0 1 2 3 4 5 6 7 8
9
Zeit [s] Zeit [s]
.. Abb. 41.9 Bremsung auf µ-split mit Lenkwinkeleingriff zur Giermomentkompensation und kombiniertem Bremseingriff an
der Hinterachse im Vergleich zum ESC ohne Lenkeingriff
10
Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff
15 60
Querbeschleunigung [m/s ]
2
11
ay
10 40
dψ /dt
Gierrate [°/s]
5 20
0 0
12 -5
-10
-20
-40
-15 -60
13
80 80 Geschwindigkeit [km/h]
pVL
14
Bremsdruck [bar]
60 pVR 60
pHL
40 pHR 40
15
vx
20 20
0 0
16 15
δFW
10
Lenkwinkel [°]
17
δ
5
δFB
0
-5
18 -10
-15
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5
Zeit [s]
20
41.6 • Spezifische Entwicklungsherausforderungen und zukünftige Entwicklungen
763 41
„Haptische Rückmeldung“ z
MF
δH δ ay
δ FF
Lenkrad ein eindeutiger Impuls spürbar, in wel- Fahrer die maximale Seitenkraft nicht so schnell
che Richtung gelenkt werden muss, um das Fahr- überlenken. Die meisten Fahrer reagieren auf diese
zeug zu stabilisieren. Die Funktionsmodule sind Situation automatisch, indem sie die Lenkung wei-
die gleichen wie für die Winkelüberlagerung in ter zuziehen. Die Fahrerlenkempfehlung motiviert
. Abb. 41.8, lediglich ein Modul zur Umsetzung den Fahrer dazu, die Lenkung nicht noch weiter
des Soll-Lenkwinkels in das Überlagerungsmo- zuzuziehen, sondern wieder zu öffnen. Hierzu wird
ment MDSR muss hinzugefügt werden. Der Fah- beim Überschreiten eines berechneten Lenkwin-
rer ist jetzt „closed-loop“ in die Regelung einbe- kel-Limits δlim ein Überlagerungsmoment MDSR
zogen. Am Beispiel der elektrischen Servolenkung aufgeschaltet und erst dann zurückgenommen,
wird die Wirkungskette erläutert (. Abb. 41.11): wenn der Fahrer den Radlenkwinkel δ eingestellt
Auf den Lenkstrang wirken der Fahrer mit dem hat, der bei dem gegebenen Fahrbahnreibwert die
Lenkmoment MF, die Räder mit dem Rückstell- maximale Seitenführung an der Vorderachse bietet,
moment MR und die Servolenkung mit dem Un- . Abb. 41.12.
terstützungsmoment MA ein. Die Reaktion im
Lenkstrang wird mittels Torsionsstab als Hand-
moment MH gemessen und zusammen mit dem 41.6 Spezifische Entwicklungs
Überlagerungsmoment in der Servolenkung ver- herausforderungen und
stärkt. Dies führt zu der haptischen Rückmeldung zukünftige Entwicklungen
des Lenksystems, die dem Fahrer hilft, in kriti-
schen Situationen schnell und richtig zu reagieren. Fahrzeughersteller und Zulieferer sind sich einig,
In Übersteuer- und µ-split-Situationen sorgt dass die Vernetzung von Fahrdynamiksystemen
die Momentenüberlagerung für ein stabilisieren- weiter zunehmen wird. Konzepte wie Global Chas-
des Gegenlenken durch den Fahrer. In Untersteu- sis Control (GCC) eröffnen neue Dimensionen in
ersituationen, in denen das Auto bei Kurvenfahrt den Bereichen Fahrdynamik, Stabilität und Fahr-
über die Vorderachse nach außen schiebt, soll der komfort durch die funktionale Integration aktiver
764 Kapitel 41 • Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff
15 15
41 δlim
δ
Überlagerungsmoment [Nm]
10 MDSR 10
2
Lenkwinkel [°]
Seitenkraft [N]
5 5
3 0 0
trockene Fahrbahn
4
nasse Fahrbahn
-5 -5
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 0 5 10 15 20 25 30
Zeit [s] Schräglaufwinkel [°]
Active System
des
7
Fahrkomfort
Aktives
Assistance
Bremsweg
Einzelsystems
Sicherheit
Stopping
Fahrdynamiksystem
Distance
Stabilität
(x,y,ψ,ϕ)
Traktion
Traction
Comfort
Comfort
Stability
Bedien-
komfort
Agilität
(z,θ,ϕ)
Driver
Agility
Driver
(y,ψ)
(y,ψ)
Ride
O Haupteffekt
8
ESC Electronic Stability Control + + + O O O Kein Effekt
9 ATV Active Torque Vectoring O O + + O
horizontal
Umgebungs-
EAD Electronic Adjustable Damper O O + + + sensorsystemen
16
17
in ein intelligentes Gesamtsystem zu integrieren
[3, 4]. Die funktionale Integration wird durch
AUTOSAR-konforme Hard- und Software (siehe
▶ Kap. 7) unterstützt.
- eine Fahrzeugfamilie;
Abbildung der Regelungsfunktionen auf eine
bestimmte Elektronik-Architektur mit der
Notwendigkeit zur Komplexitätsbeherrschung.
Die Vernetzung der Fahrdynamiksysteme wird
kontinuierlich vorangetrieben, aktuell wird intensiv Der Weg zu einem durchgängigen, herstellerüber-
18 an folgenden Herausforderungen gearbeitet [5, 6, greifenden Koordinationskonzept für Fahrdyna-
19
20
-
7, 8]:
Darstellung der Bereiche, in denen die Charak-
teristik eines Fahrzeugs per Regelung be-
stimmt und gestaltet werden kann bzw. werden
mikregelungen ist noch weit. Über die Zielsetzung
herrscht indes Einigkeit: Im Normalfahrbereich
sorgt der Regler für ein Maximum an Komfort
und Fahrspaß. Dabei hat der Fahrzeughersteller
sollte; alle Freiheitsgrade für die individuelle Einstellung
Literatur
765 41
Literatur
Fahrdynamikregelsysteme
für Motorräder
Kai Schröter, Raphael Pleß, Patrick Seiniger
42.1 Fahrstabilität – 768
42.2 Bremsstabilität – 771
42.3 Für Fahrdynamikregelungen relevantes
Unfallgeschehen von Motorrädern – 773
42.4 Stand der Technik der Bremsregelsysteme – 774
42.5 Stand der Technik der
Antriebsschlupfregelungssysteme – 782
42.6 Stand der Technik der Fahrwerkregelsysteme – 785
42.7 Zukünftige Fahrdynamikregelungen – 786
Literatur – 793
Das Risiko, in Deutschland bei einem Motorradun- dere im Stand. Ein Motorrad ist ein instabiles Sys-
1 fall getötet zu werden, war im Jahr 2010 pro Fahr- tem, ohne Stabilisierung kippt es; stabilisiert wird
strecke mehr als 12-mal so hoch als bei einem sons- es durch verschiedene dynamische Mechanismen.
42 tigen Verkehrsunfall [1]. Die motorradspezifische Aber gerade diese Instabilität erlaubt eine Art des
Kopplung von Längs-, Quer- und Vertikaldynamik Fahrens, die das Motorradfahren zu einer faszinie-
beim Durchfahren von Kurven in Schräglage übt renden Fortbewegungsart macht: Kurven werden in
3 eine große Faszination aus, macht aber auch die Schräglage durchfahren. Der Neigungswinkel des
Auslegung von Fahrdynamikregelsystemen beson- Fahrzeugs wird Rollwinkel λ genannt und ist bei
4 ders anspruchsvoll. stationärer Kreisfahrt genau so groß, dass die Resul-
Über viele Jahre waren daher für Motorräder tierende aus Fliehkraft und Gewichtskraft des Fahr-
5 lediglich Brems- und Antriebsschlupfregelsysteme zeugs die Radaufstandslinie schneidet. Es entsteht
am Markt, deren Einsatzbereich die Geradeausfahrt kein Rollmoment um die Radaufstandslinie und das
ist und die daher nur eingeschränkt kurventaug- Fahrzeug fährt – in Analogie zu einem umgekehrten
6 lich sind. Das erste Antiblockiersystem (ABS) für Pendel – im sogenannten labilen Gleichgewicht. Das
Motorräder kam 1988 auf den Markt [2], die erste Kräftegleichgewicht der stationären Kurvenfahrt ist
7 Antriebsschlupfregelung 1992 [3]. Systeme, die den in Gl. 42.1 und . Abb. 42.1 gezeigt.
Kurvenfahrzustand sensorisch erfassen und bei Der sich einstellende theoretische (physikalisch
der Regelung berücksichtigen, sind im Falle der wirksame) Rollwinkel λth ist
8 Antriebsregelung ab 2009 [4] – im Falle des ABS
FF m yR
sogar erst ab 2013 [5] – erhältlich. Seit 2012 sind th D arctan D arctan
9 weiterhin semiaktive Fahrwerke am Markt [6], die
G mg
durch Interaktion mit den bestehenden Systemen yR v2
D arctan D arctan
10 eine weitere Verbesserung im Detail versprechen. g R g (42.1)
Obgleich die Marktdurchdringung von Fahrdy-
namikregelsystemen bei Motorrädern im Vergleich mit der Gewichtskraft des Fahrzeugs G, der Flieh-
11 zu Personenkraftwagen noch eher gering ist, haben kraft FF, der Masse m, der fahrbahnbezogenen
Akzeptanz und Ausstattungsraten in den vergange- Querbeschleunigung yR, der Erdbeschleunigung g,
12 nen Jahren stark zugenommen (vgl. z. B. [7, 8] und der Fahrgeschwindigkeit v und dem Kurvenradius
[9] für ABS). Einen entscheidenden Impuls liefert R. Der Rollwinkel ist damit nur von der Querbe-
nun der Gesetzgeber, der die Ausstattung mit ABS schleunigung abhängig. Mit dem maximalen Quer-
13 ab 2016 für alle neu entwickelten Motorräder über reibwert der Reifen
125 cm³ und ab 2017 für alle Neufahrzeuge dieser
14 Hubraumklasse europaweit verbindlich vorschreibt quer,max D
yR
[10]. g (42.2)
15 Dieses Kapitel wird die Grenzen der Fahrdy-
namikregelungen für Motorräder erklären, einen wird der maximale Rollwinkel zu
Überblick über die Funktionsweise der vorhandenen
16 Systeme geben und einen Ausblick auf in Zukunft zu
th D arctan quer arctan quer,max
erwartende Fahrdynamikregelsysteme geben. D th,max (42.3)
17
Querreibwerte von modernen Motorradreifen er-
42.1 Fahrstabilität reichen auf trockener, griffiger Fahrbahn Werte im
18 Bereich von 1,2. Damit sind physikalische Rollwin-
Der augenscheinlichste Unterschied zwischen Mo- kel von bis zu 50° fahrbar.
19 torrädern (im Folgenden wird auf den technisch Der „theoretische Rollwinkel“ und die Rollwin-
exakten Terminus Einspurfahrzeuge verzichtet) kelgleichung 42.1 gelten allerdings nur für ideali-
20 und Personenkraftwagen (Zweispurfahrzeuge) ist sierte Reifen ohne Breite. Mit realen Reifen ist zur
sicherlich die Stabilität des Fahrzeugs – insbeson- Aufrechthaltung des Gleichgewichts ein zusätzlicher
42.1 • Fahrstabilität
769 42
Schwerpunkt FF = m • ÿ -
durch zwei Mechanismen:
Bei kleinen Geschwindigkeiten unter etwa
30 km/h stabilisiert der Fahrer das Motorrad
maßgeblich durch Lenkeinschläge, was ähnlich
dem Balancieren von Fahrrädern durch Ge-
-
λth wichtsverlagerung unterstützt werden kann;
λges bei größeren Geschwindigkeiten über etwa
λ‘
G=m• g 30 km/h stabilisiert die Kreiselwirkung der
rotierenden Massen das Motorrad. Im We-
rR
sentlichen trägt das rotierende Vorderrad zur
-
• Fy = FF
Kreiselstabilisierung bei.
[Motorrad Bild © Honda]
Der Übergang zwischen diesen beiden Mecha-
Lenkrollradius (LRR) nismen verläuft fließend.
.. Abb. 42.2 Stabilisie-
1 rung durch Lenkeinschläge
und ggf. Gewichtsver-
lagerung (Quelle: BMW
42 Motorrad, modifiziert
durch Autoren)
3
4
5
6
7
Durchstoßpunkt
8 Lenkachse Projektion des
Nachlauf n Schwerpunkts
9 Fliehkraft am Schwerpunkt, die das Fahrzeug (im quenzen liegen je nach Fahrzeug zwischen 2 und
Beispiel nach links) wieder aufrichtet. Das dabei 4 Hertz. Wirkungsvollste Abhilfe bei beginnendem
10 entstehende Kreiselreaktionsmoment übt, ebenso Pendeln ist eine Verringerung der Fahrgeschwin-
wie die Seitenkraft mit dem Nachlauf als Hebelarm digkeit. Wesentliche Einflüsse auf das Entstehen von
(vgl. . Abb. 42.2), ein rückstellendes Lenkmoment Pendelschwingungen sind die Torsionssteifigkeit
11 aus. zwischen Vorder- und Hinterrad und Trägheitsei-
Da die koppelnden Kreiselmomente eine Funk- genschaften des Fahrzeugs. Die Minimierung von
12 tion der jeweiligen Störgeschwindigkeit in Lenk- Pendelerscheinungen ist Teil der Entwicklung mo-
bzw. Rollrichtung sind, sorgen sie zugleich für eine derner Motorräder. Pendeln tritt daher heute nur
Dämpfung des Stabilisierungsvorgangs. In unend- noch in Ausnahmefällen auf.
13 licher Aneinanderreihung der zuvor beschriebenen Eine ebenfalls technisch relevante Eigenform
Effektkette lässt sich der Stabilisierungsvorgang als – die gleichfalls bereits während der Entwicklung
14 Fahren von Schlangenlinien veranschaulichen, die eines neuen Fahrzeugs minimiert wird – ist das
mit steigender Geschwindigkeit immer kleiner wer- sogenannte Flattern, eine Rotationsschwingung
15 den. Ab etwa 30 km/h ist für übliche Motorräder des Lenksystems. Übliche Frequenzen der Flatter-
eine weitgehende Dämpfung der Kippbewegung schwingung liegen im Bereich um 10 Hertz: Diese
erreicht und die Fahrt erfolgt ohne sichtbare Aus- Frequenz entspricht der Drehfrequenz üblicher Vor-
16 schläge von Lenk- und Rollwinkel. derräder bei etwa 60 bis 80 km/h, die Flatterschwin-
Mit steigender Geschwindigkeit nimmt die gung wird dabei durch Unwuchten und Ungleich-
17 Kreiselwirkung der Laufräder weiter zu; ab Ge- förmigkeiten des Rades angeregt. Als Abhilfe reicht
schwindigkeiten von etwa 130 km/h kann das es in der Regel, den Lenker fester zu umgreifen, um
System je nach Stabilitätseigenschaften erneut in- durch Ankopplung des Fahrerkörpers das Massen-
18 stabil werden. Die dann aufklingende sogenannte trägheitsmoment um die Lenkachse zu erhöhen und
Pendeleigenform des Motorrads ist eine gekoppelte so das Schwingungssystem in Richtung einer nied-
19 Gier-, Roll- und Lenkschwingung des gesamten rigeren Eigenfrequenz zu verstimmen.
Fahrzeugs, die im Extremfall zum Sturz durch Eine weitere Schwingung des Lenksystems ist
20 Überschreiten der Kraftschlussgrenzen an Vorder- das sogenannte Lenkerschlagen („Kick-Back“): Es
und/oder Hinterrad führen kann [12]. Pendelfre- ist keine Eigenform, sondern eine parametrisch er-
42.2 • Bremsstabilität
771 42
.. Abb. 42.3 Stabilisie-
rung durch Kreiselwirkung
am Vorderrad (Quelle:
BMW Motorrad, modifi-
ziert durch Autoren)
Ausweichachse Rotationsachse
:
3
FB
4 Radaufstandspunkt vorne
in ausgelenktem Zustand
G=m• g
5 System-
schwerpunkt
6 Seitliche Komponente
der Bremskraft
Fahrbahn
Radaufstandspunkt
7 hinten
Ursprünglicher Zustand
Fz
8 Ausgelenkter Zustand
Das Verhalten von Motorrädern bei Radblocka- kraft. Eine am Vorderrad angreifende Bremskraft
9 den unterscheidet sich ebenfalls wesentlich von entgegen der Bewegungsrichtung (wie sie bei blo-
Zweispurfahrzeugen. Von letzteren ist bekannt, dass ckiertem Vorderrad angreift) bewirkt immer eine
10 eine Blockade beider Vorderräder die Richtungs- selbstverstärkende Gierbewegung – die Radauf-
stabilität nicht beeinträchtigt – ganz im Gegensatz standslinie dreht sich unter dem Schwerpunkt weg.
zu einer Blockade der Hinterräder. Bei Motorrä- Gemessene Zeiten zwischen Blockade des Vorder-
11 dern hingegen ist bei einer Vorderradblockade ein rads und Sturz liegen zwischen etwa 0,2 und 0,7 s;
Sturz nahezu unvermeidlich: Gründe hierfür sind befindet sich das Fahrzeug bereits in einer Kurven-
12 die dann wegfallende Kreiselstabilisierung, noch fahrt, liegen die Zeiten deutlich darunter [16]. Die
entscheidender jedoch eine kinematische Instabi- ideale Verteilung der Bremskraft auf Vorder- und
lität des Fahrzeugs. Für ein Zweispurfahrzeug ist Hinterrad unterscheidet sich zwischen Motorrädern
13 eine Vorderachsblockade bis zu einem bestimmten und Pkws deutlich: Das Verhältnis zwischen Schwer-
Grenzschwimmwinkel stabil – für übliche Perso- punkthöhe und Radstand ist bei Motorrädern sehr
14 nenkraftwagen liegt dieser Winkel bei etwa 45°. Bei viel größer als bei Pkws; daher ist die Radlastver-
Motorrädern reichen bereits kleine Auslenkungen lagerung bei Verzögerung auch größer. In Verbin-
15 von Schwimmwinkel oder Rollwinkel für eine Selbst- dung mit den heutigen, sehr griffigen Reifen können
verstärkung von Gier- und Rollbewegung aus, siehe moderne Motorräder den Bremsüberschlagpunkt
. Abb. 42.4. Ein blockiertes Vorderrad (Schlupf s = 1) erreichen. Die maximale Verzögerung wird oftmals
16 überträgt nur noch eine durch die Höhe des Gleit- begrenzt durch die Schwerpunktlage und den Rad-
reibwerts μgleit und die Radlast bestimmte Kraft ent- stand, also durch Geometriedaten des Fahrzeugs
17 gegen seiner Bewegungsrichtung, aber keine Seiten- und nicht mehr durch Bremssystem oder Reifen.
führungskraft mehr. Hat diese Kraft einen Hebelarm In . Abb. 42.5 sind die idealen Bremskraftver-
um den Schwerpunkt, kommt es zu einer Schwimm- teilungen eines typischen Pkw (Opel Astra H) und
18 oder Gierdrehung; vergrößert die Drehung den He- eines typischen Supersport-Motorrads (Honda
belarm, handelt es sich um eine instabile Bewegung. CBR 600 RR) unter Vernachlässigung nickbeding-
19 Da das Motorrad ein instabiles Fahrzeug ist ter Fahrwerksgeometrieänderungen dargestellt. Es
und ständig durch Kreiselwirkung beziehungsweise ist zu erkennen, dass die ideale Bremskraftverteilung
20 Lenkbewegungen stabilisiert wird, existiert immer des Motorrads bei einer Abbremsung von 1,0 (also
eine in den Radaufstandspunkten angreifende Quer- bei einer der Erdbeschleunigung entsprechenden
42.3 • Für Fahrdynamikregelungen relevantes Unfallgeschehen von Motorrädern
773 42
Ideale Bremskraftverteilungen, gerechnet ohne Bremsnicken
0.3
Pkw Opel Astra H
FB,h / (m g)
Li bre
ni
Ab
en ms
0.1
ko ung
ns
t.
0
0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 2 2.1 2.2
FB,v / (m g)
.. Abb. 42.5 Ideale Bremskraftverteilungen für Pkw Opel Astra H und Motorrad Honda CBR 600 RR (Modelljahr 2010, mit
Messtechnik ausgerüstet und damit gegenüber dem Serienfahrzeug etwas später abhebendem Hinterrad), berechnet auf Basis
eigener Messungen der Schwerpunktlagen
Verzögerung von 9,81 m/s²) die x-Achse schneidet. die Unfallzahlen auf 708 Getötete stiegen, bestätigte
Größere Verzögerungen wären nur noch mit abhe- sich dieser Trend auch in den Folgejahren und er-
bendem Hinterrad möglich und dann nicht mehr reichte im Jahr 2012 einen Tiefststand von 586 Ge-
stabil fahrbar. Die dargestellten Bremskraftvertei- töteten. Trotz dieser positiven Entwicklung sinkt die
lungskurven gelten nur für querbeschleunigungs- Zahl der getöteten Motorradfahrer aus langfristiger
freie Fahrt. Während einer Kurvenbremsung müssen Sicht deutlich langsamer als die Gesamtzahl der Ge-
an den Radaufstandspunkten zusätzlich dynamisch töteten im Straßenverkehr. Australien und die USA
veränderliche Seitenführungskräfte abgestützt wer- verzeichnen aufgrund stark zunehmender Motor-
den, was die übertragbaren Bremskräfte verringert radnutzung in den letzten 10 bis 15 Jahren sogar stei-
und folglich die ideale Bremskraftverteilung ändert gende Zahlen an Getöteten [19]. Die im vorherigen
(vgl. [11, 15] und [18]). Weiterhin gelten die in Abschnitt beschriebene Problematik der Vorderrad-
. Abb. 42.5 gezeigten Kurven nur für stationäre Ver- blockade bei Motorrädern – in Verbindung mit der
zögerungen. Der Nickvorgang verzögert die Radlast- Gefahr einer dynamischen Vorderradüberbremsung
verschiebung deutlich – Einsteuern von Bremskraft – lässt einen hohen Anteil von bremsbedingten Un-
am Vorderrad ist im Gegensatz dazu nahezu ohne fällen am Unfallgeschehen vermuten. Während das
Zeitverzug möglich. Besonders bei Motorrädern Datenmaterial des Statistischen Bundesamtes nicht
mit negativem kinematischen Bremsnickausgleich ausreichend detailliert ist, wird diese Vermutung
(z. B. bei Telegabelfahrzeugen) mit deswegen großen durch zahlreiche Detailstudien über weite Zeiträume
Nickbewegungen besteht die Gefahr einer Vorder- hinweg belegt (vgl. [20] und [21]). So unterhalten
radblockade schon bei geringen, vom Fahrer nicht z. B. auch die deutschen Versicherungen Datenban-
als kritisch wahrgenommenen Bremsdrücken – mit ken mit detaillierten Beschreibungen einer Vielzahl
der Folge, dass ein Sturz nahezu unvermeidlich ist. von Motorradunfällen, die nach verschiedenen
Dieses Phänomen ist bekannt als dynamische Vor- Kriterien repräsentativ für das Unfallgeschehen in
derradüberbremsung [11]. der Bundesrepublik Deutschland sind. In der Da-
tenbank des Gesamtverbandes der Deutschen Ver-
sicherer (GDV) wurden im Rahmen einer Studie
42.3 Für Fahrdynamikregelungen [22] 610 Kollisionen zwischen Motorrad und Pkw
relevantes Unfallgeschehen ausgewertet: Bei 239 dieser Unfälle ließ sich eine
von Motorrädern Bremsung nachweisen, in 45 Fällen kam es zum
Sturz, bevor die Kollision erfolgte. In etwa 7 % der
Nachdem die Zahl der jährlich getöteten Motorrad- ausgewerteten Unfälle trug also eine Radblockade
fahrer in Deutschland über etwa 15 Jahre weitge- wesentlich zum Unfallverlauf bei; auch bei der Aus-
hend konstant im Bereich von 800 bis 1000 lag, sank wertung von Alleinunfällen war bei etwa 40 % der
sie im Jahr 2008 erstmals deutlich auf 656. Mit nur Unfälle ein Sturz das primäre Unfallereignis. Zu-
einer saisonal bedingten Ausnahme im Jahr 2011, in sammengenommen sind offensichtlich mindestens
dem aufgrund des langanhaltend schönen Wetters 20 % der Motorradunfälle durch ABS beeinflussbar.
mit dem Motorradverkehrsaufkommen leider auch Bei der Analyse der Datenbank der Allianz Versi-
774 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
cherung [23] erwiesen sich ebenfalls zwischen 8 % Die Zusammenstellung hydraulischer Motor-
1 und 17 % der untersuchten Unfälle als durch ABS rad-Bremsanlagen beginnt mit einer zweikreisigen
vermeidbar. Die DEKRA- Unfallforschung [24] er- Standard-Bremsanlage, bei der der Fahrer durch
42 mittelte in 87 Motorradunfällen eine Vermeidbar- Betätigung eines Handbremshebels einen hydrau-
keit von 25 % bis 35 % durch ABS, und Bosch [25] lischen Druck erzeugt. Dieser wird über Hydrauli-
kommt auf eine Vermeidbarkeit von 26 % der Un- kleitungen an die Vorderradbremse weitergeleitet,
3 fälle mit Verletzen oder Getöteten. Übertragen auf wo der Druck in eine Spannkraft an der Radbremse
die aktuellen Unfallzahlen könnten durch flächende- umgewandelt wird. Gleiches gilt für die Betätigung
4 ckenden Motorrad-ABS-Einsatz allein in Deutsch- der Hinterradbremse per Fußbremshebel, resp.
land jährlich also zwischen 46 und 205 tödliche zweitem Handbremshebel. Als Radbremsen wer-
5 Unfälle vermieden werden. Jüngste Studien aus den den heutzutage hauptsächlich Scheibenbremsen
USA [26] bestätigen diese Aussage und zeigen im eingesetzt: Solche Bremsanlagen sind technisch
Vergleich sonst baugleicher Motorräder, dass Fahr- ausgereift und vielfältig verwendet; sie werden
6 zeuge mit ABS generell 20 % seltener in Kollisionen ohne zusätzliche Maßnahmen jedoch nicht den
– und 31 % weniger in tödliche – verwickelt sind, als Anforderungen einer modernen Bremsanlage für
7 Fahrzeuge ohne ABS; Motorräder mit einer kombi- Motorräder in Bezug auf die Vermeidung von
nierten ABS-Bremse (ABS und CBS, ▶ Abschn. 42.4) Blockaden an den Rädern gerecht. Der Fahrer muss
waren sogar 31 % seltener in Kollisionen verwickelt. zum Erreichen eines kurzen Bremswegs den Druck
8 Durch die unter dem Namen Motorcycle Stability in dem Bremssystem selbsttätig modulieren, d. h.
Control (MSC) zusammengefasste kurventaugliche entsprechend der idealen Bremskraftverteilung den
9 Kombination einer Kombi-ABS-Bremsanlage mit ei- Bremsdruck am Vorderrad möglichst schnell auf-
ner Antriebsschlupfregelung (▶ Abschn. 42.5) sind bauen – ohne das Rad in die Blockade zu bringen
10 laut Bosch [27] potenziell 67 % aller Kurvenunfälle und am Hinterrad ebenfalls möglichst schnell auf-
vermeidbar, was rund 16 % des gesamten Motorra- bauen – dann aber wegen der dynamischen Rad-
dunfallgeschehens ausmacht. Da in vielen Fällen lastverschiebung während der Bremsung wieder
11 zu spät oder zu zaghaft gebremst wird, verspricht reduzieren. Nur ein solches Verhalten garantiert
der Einsatz von Bremsassistenten zum schnelleren einen kurzen Bremsweg bei gleichzeitiger Erhal-
12 Druckaufbau oder gar vorausschauender Systeme tung der Stabilität des Motorrads. Im Allgemeinen
wie „Predictive Brake Assist“ weitere Verbesserun- ist ein Motorradfahrer jedoch mit einer solchen
gen. Mit einer gewissen Unschärfe geht die DEKRA Regelungsaufgabe, insbesondere in Notsituatio-
13 von einer Vermeidbarkeit von zwischen 50 % und nen, überfordert. Dies führt entweder dazu, dass
60 % aller relevanten Unfälle aus [24] und auch die das Fahrzeug nicht optimal verzögert wird – der
14 Schwere der nicht vermeidbaren Unfälle ließe sich Bremsdruckaufbau entweder zu schwach, zu spät
durch deutlich verminderte Kollisionsenergie dras- oder mit zu geringem Gradienten erfolgt – oder
15 tisch reduzieren [28, 29]. die Räder überbremst oder gar blockiert werden.
Die sichere Ermittlung des Potenzials für darüber Die Stabilität des Fahrzeugs ist damit gefährdet und
hinausgehende zukünftige Fahrdynamikregelsysteme bei Blockade, insbesondere des Vorderrads, kommt
16 ist wegen der unscharfen Datenbestände allerdings es fast zwangsläufig zu einem Sturz. Um näher an
schwierig: In einer Studie hierzu [30] wurden unge- eine ideale Bremskraftverteilung an Vorder- und
17 bremste Kurvenunfälle als potenziell vermeidbar be- Hinterrad zu gelangen, sind Motorräder mit soge-
wertet und ihr Gesamtanteil auf etwa 8 % geschätzt. nannten Combined Brake Systems (CBS) auf dem
Markt erhältlich.
18 Diese gibt es in zwei Ausführungsformen
-
42.4 Stand der Technik (. Abb. 42.6):
19 der Bremsregelsysteme Single-CBS, bei dem die Handbetätigung auf
das Vorderrad, die Fußbetätigung (oder die
20 Eine Übersicht über die Wirkprinzipien hy- zweite Handbetätigung) auf Vorder- und Hin-
draulischer Bremssysteme gibt . Abb. 42.6. terrad wirken; damit lassen sich auch durch
42.4 • Stand der Technik der Bremsregelsysteme
775 42
Bremskraft-
steuerventil
1
42
3
4
5
6 Bremskraft-
steuerventil
ABS geregelt
7
ABS Modulator
8 2-kreisige hydraulische
ABS Bremsanlage
Single CBS ABS Dual CBS ABS
10 dies erkannt und über die Bremsdruckregelung der Viele Fahrzeuge im aufstrebenden asiatischen
Bremsdruck reduziert. Hat das Rad die Referenzge- Markt verfügen nur am Vorderrad über eine hydrau-
schwindigkeit des Fahrzeugs wieder nahezu erreicht, lische Scheibenbremse, weshalb inzwischen auch
11 so wird der Bremsdruck wieder erhöht, um das kostengünstige einkanalige ABS angeboten werden.
Fahrzeug weiter abzubremsen. Zweikanalsysteme
12 unter Verwendung von Ventilen sind heute weit
verbreitet; sie sind leichter und kostengünstiger als 42.4.2 Elektrohydraulische
blockiergeschützte Integralbremsanlagen (vgl. ▶ Ab- Integralbremsanlagen
13 schn. 42.4.2). Für eine Single-CBS-ABS-Anlage gilt
das gleiche Prinzip, nur dass durch die Verbindung Reine ABS-Anlagen sind passiv, da sie keinen höhe-
14 der Hinterradbetätigung zum Vorderrad ein weiterer ren als den vom Fahrer vorgegebenen Bremsdruck
Modulatorkreis erforderlich ist. autonom aufbauen können. Aus dem Pkw-Bereich
15 Solche Anlagen benötigen also insgesamt drei sind jedoch Aggregate bekannt, die in der Lage sind,
Regelkanäle, die unabhängig voneinander gere- zusätzlich zur ABS-Funktionalität an einzelnen Rä-
gelt werden können. Das Dual-CBS-ABS zeich- dern aktiv, d. h. autonom, Druck aufzubauen. An-
16 net sich dadurch aus, dass die bereits erwähnte gelehnt an diese Technologie wurden im Motorrad-
Dual-CBS-Bremsanlage durch ABS-Modulatoren bereich elektrohydraulische Integralbremsanlagen
17 ergänzt wird. Dabei müssen insgesamt vier Re- entwickelt; eine Übersicht über deren Wirkprinzi-
gelkanäle verwendet werden, da jeweils einer für pien ist in . Abb. 42.8 dargestellt.
die Bremsdruckregelung von der Handbetätigung Diese können analog zu einer CBS-Anlage
18 zum Vorderrad, von der Fußbetätigung zum Vor- bei einer Betätigung eines Bremskreises aktiv
der- und Hinterrad und vom Sekundärzylinder des Bremsdruck in dem anderen Bremskreis erzeugen,
19 Vorderrads an das Hinterrad benötigt wird. Bei ohne zusätzliche hydraulische Verbindungen oder
den aufgeführten Antiblockiersystemen werden als Sondermaßnahmen im Bremssattel. Teilintegralan-
20 Bremsdrucksteller Pumpe/Ventilkonfigurationen, lagen beschränken sich mit der aktiven Wirkung auf
vereinzelt auch Plunger-Systeme verwendet. einen Bremskreis, Vollintegralanlagen können auf
beide Bremskreise aktiv einwirken.
42.4 • Stand der Technik der Bremsregelsysteme
777 42
Aktiver
Druckaufbau
ABS geregelt
ABS Modulator
1
42
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 42.9 Motorrad-Integralbremssystem MIB, Teilintegralfunktion (Quelle: Continental)
10
Piaggio und Peugeot eingesetzt wurden, ermög- druck verschieben lässt und damit die Modulation in
11 lichte die Weiterentwicklung der ventilbasierten der Radbremse realisiert. Die Integralfunktion wird
ABS-Technologie schon bald den Verzicht auf eine über einen zusätzlichen hydraulischen Eingang, vom
12 Verstärkung. So löste bei BMW Motorrad bereits Betätigungselement des jeweils anderen Bremskrei-
ab 2006 die ventilbasierte zweite Generation des ses kommend, abgebildet. Dieser Druck wirkt über
Integral-ABS (▶ Abschn. 42.4.2.1 und [2]) die erste einen Trennkolben auf den Steuerkolben, über die
13 sukzessive ab, die in ihrem letzten Modelljahr 2009 Geometrie wird der Mindest-Integralbremsdruck
nur noch im Modell K1200LT erhältlich war. wie bei einer Normalbetätigung an der jeweiligen
14 Die Hydraulik der Bedienelemente wird je nach Radbremse eingestellt. Darüber hinaus kann nun
Evolutionsstufe des FTE-Systems von den Radbrem- elektronisch, mittels Drucksensorik überwacht,
15 sen weitestgehend getrennt und die Betätigung er- mit der Pumpe zusätzlicher Bremsdruck generiert
folgt bei intakter Anlage in einem Simulator oder werden.
Steuerraum. Eine Hydraulikpumpe wird bei jeder
16 Betätigung – auch Teilbremsungen – aktiviert, 42.4.2.3 Honda Combined-ABS:
so dass der Druck im Radbremszylinder aufge- „Brake-by-Wire“
17 baut werden kann, mindestens nach einem durch Einen Sonderweg beschreitet Honda mit dem im
hydraulische Übersetzungen vorgegebenen Ver- Jahr 2008 für das Supersport-Segment vorgestell-
stärkungsfaktor. Bei Systemstörungen wirken die ten Combined-ABS (C-ABS). Bezogen auf ihren
18 Hand- und Fußbremszylinder weiter direkt auf die kurzen Radstand, liegt der Schwerpunkt von Super-
Radbremszylinder, was prinzipbedingt deutlich hö- sport-Motorrädern relativ hoch. Starke Bremsmanö-
19 here Betätigungskräfte erfordert. Die ABS-Funktion ver rufen entsprechend große Radlastverschiebun-
arbeitet nach dem Plunger-Prinzip, wobei sich ein gen und infolgedessen auch heftige Nickbewegungen
20 Steuerkolben im Steuerraum mittels eines Elektro- mit rascher Tendenz zum Bremsüberschlag hervor,
magneten proportionalisiert gegen den Betätigungs- was sich besonders beim Anbremsen von Kurven
42.4 • Stand der Technik der Bremsregelsysteme
779 42
destabilisierend auf das Fahrverhalten auswirkt. Obwohl das System über keine Rollwinkelsen-
Experimentelle Untersuchungen zeigten einerseits, sorik verfügt, liefert es aufgrund der Kontrolle der
dass die störende Fahrwerksreaktion anhand des Nickbewegung und der feinfühligen Regelung bereits
vom Fahrer eingesteuerten Bremsdruckgradien- eine erstaunlich gute Performance beim Bremsen
ten und der Raddrehzahlinformation prädizierbar in Kurven auch mit großer Schräglage (vgl. ▶ Ab-
ist – andererseits durch kurzzeitige Erhöhung des schn. 42.7.1 und 42.4.3.1). Der Erfolg beim Einsatz
Vorderradschlupfes sowie frühzeitiges Auslösen im Renngeschehen bestätigt dies eindrucksvoll [32].
der ABS-Regelung minimiert werden kann (s. [31],
vgl. auch ▶ Abschn. 42.4.3). Zur Umsetzung dieser
Strategie mit vom Fahrer unabhängigem raschen 42.4.3 Zusatzfunktionen
Bremsdruckaufbau wurde eine „Brake-by-Wire“-Ar-
chitektur gewählt. Die sogenannte „Rear-wheel-Lift-off-Protection“
Das System ist in fünf Komponenten unterteilt: (RLP, oft auch als „Rear-wheel-Lift-off/up-Mitiga-
Neben der zentralen Steuereinheit (ECU) sind im tion“ oder Hinterradabhebeerkennung bezeichnet)
Hydraulikstrang der Hand- und Fußbremse jeweils reduziert effektiv die Gefahr eines Bremsüber-
eine baugleiche Ventil- und Aktor-Einheit („Val- schlags und kommt bereits in vielen einfachen
ve-Unit“ und „Power-Unit“) integriert. Dies erlaubt Zweikreis-ABS zum Einsatz. RLP vergleicht die
zwar eine schwerpunktgünstige Montage in verschie- Raddrehzahlsignale und abgeleitete Signale bei-
denen Fahrzeugtypen, allerdings zum Preis einer der Räder während des Bremsvorgangs. Zusätzlich
vergleichsweise hohen Systemmasse von rund 10 kg. können noch Druckinformationen der einzelnen
Zum Rangierbremsen in abgeschaltetem Zustand Regelkreise – und bei den aktuellsten Systemen
arbeitet das System wie eine konventionelle Zweik- sogar Nickrate und Längsbeschleunigung [5] – zu
reis-Bremsanlage, was zugleich als Rückfallebene im einer Lift-Off-Tendenz verarbeitet und fahrsituati-
Störungsfall dient. Bei aktivem System wird nach onsabhängig die Verzögerung beschränkt werden.
Überschreiten einer geringen Bremsdruckschwelle Eine direkte Sensierung des Abstands von Rad zu
die hydraulische Verbindung der Bremshebel zu den Fahrbahn erfolgt nicht. Der Druckregelalgorithmus
Radbremsen durch Umschalten von Ventilen ge- des Vorderrads verringert den Bremsdruck – auch
trennt und auf Kraft-Weg-Simulatoren umgeleitet; unterhalb der ABS-Regelschwelle – derart, dass mit
diese vermitteln dem Fahrer an den Bremshebeln möglichst hoher Robustheit eine Mindestaufstands-
weiterhin das Gefühl einer konventionellen Bremse. kraft des Hinterrads sichergestellt wird.
Der Verzögerungswunsch des Fahrers wird mittels Die „Aktive Bremsdruckverteilung“ (ABD, „Ac-
Bremsdrucksensoren erfasst und in der ECU ver- tive Brake Pressure Distribution“, auch eCBS – elec-
arbeitet. Elektromotoren in den Aktor-Einheiten tronic CBS – genannt) ist für die Verteilung des Fah-
treiben via Stirnradgetriebe und Kugelumlaufspin- rerbremswunsches auf beide Räder verantwortlich.
del jeweils einen separaten Geberzylinder an, der Dies geschieht in Interaktion mit dem vom Fahrer
für den Druckaufbau an der Radbremse sorgt. Die über die beiden Bedienelemente direkt hydraulisch
ABS-Regelung stützt sich auf konventionelle Rad- eingespeisten Bremsdruck, wobei die einzelnen
drehzahlsensoren, erfolgt aber kontinuierlich, ohne Verteilungen – vom Handhebel zum Hinterrad und
das sonst charakteristische Pulsieren. vom Fußhebel zum Vorderrad – per Software um-
Das System erlaubt die Darstellung beliebiger gesetzt werden. Die Grundkennlinie kann sich an
Bremskraftverteilungen und ggf. sogar einer Ver- der idealen Bremskraftverteilung orientieren und
stärkungsfunktion mit vielen Freiheitsgraden: So dann situativ verändert werden: Hierbei kommen
wird das Hinterrad zur Stabilisierung beispiels- Eingangsgrößen wie die Fahrzeuggeschwindigkeit
weise stets voreilend abgebremst und beim Lösen ebenso zum Einsatz wie auch das Fahrerbremsprofil
der Bremse kommt eine andere Bremskraftvertei- beschreibende Signale. So kann z. B. die Integralwir-
lung zum Einsatz als beim Betätigen [31], was mit kung der Hinterradbremse auf die Vorderradbremse
einem konventionellen hydraulischen CBS nicht bei sehr kleinen Geschwindigkeiten reduziert wer-
ohne Weiteres realisierbar ist. den, um etwa ein Einknicken der Lenkung bei ei-
780 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
nem Wendemanöver zu unterbinden. Eine ABD einer Kurvenbremsung: Das Vorderrad zeigt bei
1 erfordert allerdings auch ein aktives Bremssystem t = 0 s, einem Rollwinkel von etwa 20° und einer
(wie z. B. Bosch ABS 9 ME, Continental MIB, FTE Fahrgeschwindigkeit von 65 km/h einen deutlichen
42 CORA BB oder Honda C-ABS). Mit diesen ist folg- Drehzahlabfall. Aufgrund der Überbeanspruchung
lich auch eine Funktion wie Motorrad Hold&Go des Kraftschlusses erhöht sich dessen Schräglauf-
(MHG), zur aktiven Unterstützung des Fahrers winkel, während die Gierrate des Fahrzeugs und
3 beim Anfahren am Berg, realisierbar. die Krümmung des Kurses sinken. Zu Beginn der
Neben der Bereitstellung spezieller Betriebs- einsetzenden Radblockade und der anschließenden
4 modi für Rennstrecken- und Offroad- Einsatz be- Regelung sinkt die Bremskraft; das vom Fahrer auf-
steht ein Trend zur Funktionserweiterung durch gebrachte, nach außen wirkende Lenkmoment dreht
5 Hinzunahme zusätzlicher Sensorinformationen den Lenker nach außen (in Richtung gegensinnige
über den Fahrzustand (▶ Abschn. 42.4.3.1) und In- Lenkwinkel). Nach Beenden der Regelung liegt wie-
teraktion mit anderen Regelsystemen wie Traktions- der die maximale Bremskraft am Vorderrad und da-
6 kontrolle (▶ Abschn. 42.5) oder Fahrwerkregelung mit auch wieder ein starkes nach innen (gleichsin-
(▶ Abschn. 42.6). niger Lenkwinkel) drehendes Lenkmoment an, das
7 – bei nun vom Fahrer offensichtlich zurückgenom-
42.4.3.1 Kurvenadaptives menem Moment – den Lenker erneut nach innen
Bremssystem dreht. Kurzzeitig beginnt der Lenker zu schwingen;
8 Zentrale Anforderung für die Bremsenregelung in bei ausreichender Amplitude dieser Schwingung
Kurven ist die Wahrung der dabei besonders sen- ist ein schnelles Sinken des Rollwinkels (und damit
9 siblen Fahrstabilität (▶ Abschn. 42.2). Bei gleich- verbunden große Rollraten) zu beobachten. Es folgt
zeitiger Erzielung hoher Verzögerungen sollte eine über den gesamten weiteren Bremsverlauf er-
10 also stets eine ausreichende Seitenkraftreserve zur kennbare Gier- und Rollschwingung des Fahrzeugs.
Verfügung gestellt werden. Reibwertsprünge von Im realen Straßenverkehr wäre unter Umständen
hoch auf niedrig und generell niedrige Reibwerte ein Verlassen des eigenen Fahrstreifens die Folge
11 setzen dabei physikalische Grenzen (vgl. [17] und gewesen. Ursächlich für die Lenk- und Rollschwin-
▶ Abschn. 42.7.2). Aufgrund der Kopplung von gungen sind der bereits in ▶ Abschn. 42.2 beschrie-
12 Lenk- und Rolldynamik ist weiterhin die Beherr- bene Effekt des Bremslenkmoments in Kombination
schung des Bremslenkmoments von Bedeutung mit der kinematischen Instabilität des Fahrzeugs
(▶ Abschn. 42.2 und 42.7.1). und der Regelung des Kurses durch den Fahrer.
13 Durch Berücksichtigung vor allem des Rollwin- Neben den bremslenkmomentbedingten Lenk-,
kels als charakteristische Kenngröße lässt sich die Roll- und Kursstörungen verdeutlicht das Beispiel
14 Bremsstrategie den Besonderheiten der Kurven- auch die Tendenz zur Destabilisierung durch
bremsung anpassen. Das durch die vorgenannten Überbeanspruchung des Kraftschlussangebotes.
15 Grenzen gesteckte fahrdynamische Potenzial lässt Während ein Fahrwerk mit dynamisch verstell-
sich damit zwar nicht erweitern, wohl aber für den barer Lenkachse zur Beherrschung des Brems-
Fahrer leichter beherrschbar und somit in weiten lenkmoments Gegenstand aktueller Forschung ist
16 Teilen überhaupt erst nutzbar machen. (▶ Abschn. 42.7.1), sind die im folgenden Abschnitt
Der sich daraus ergebende Sicherheitsgewinn beschriebenen Maßnahmen zur Verbesserung der
17 wird im Folgenden am Beispiel einer Kurven- Kurvenbremsung mit konventionellem Chassis be-
bremsung mit konventionellem Integral-ABS ver- kannt.
deutlicht, bevor im Anschluss verschiedene Re- Um eine in Kurvenfahrt besonders kritische
18 gelstrategien und das erste, im Jahr 2013 als Teil dynamische Vorderradüberbremsung zu vermei-
der Motorcycle Stability Control (MSC, [5]) von den, das Bremsnicken zu kontrollieren und dem
19 Bosch und KTM in Serie gebrachte, kurvenadaptive Fahrer vor allem gleich zu Bremsbeginn etwas
Bremssystem vorgestellt werden. mehr Zeit zur Kompensation des Bremslenkmo-
20 . Abbildung 42.10 zeigt den zeitlichen Verlauf ments zu geben, bietet es sich an, die Gradienten
und die Folgen einer drohenden Radblockade bei des Bremsdruckaufbaus und ggf. auch das maximale
42.4 • Stand der Technik der Bremsregelsysteme
781 42
150
Regeleingriff
Vorderrad
Geschwindigkeit [km/h]
Radgeschwindigkeit vorne
Radgeschwindigkeit hinten
100
Regeleingriff
50 Hinterrad
0
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
10
0
Winkel [°]
-10
-20
-30 Lenkerdrehwinkel
Rollwinkel
-40
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
60
Gierrate
40 Rollrate
Drehrate [°/s]
20
-20
-40
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
Zeit [s]
.. Abb. 42.10 Ablauf einer ABS-Regelung bei Kurvenbremsung mit konventionellem Integral-ABS (BMW R1150RT, vgl. [33])
regelung nur noch eine Frage der Zeit. Das 2013 men, wie etwa einem semiaktiven Fahrwerk (▶ Ab-
1 von Bosch gemeinsam mit KTM im Rahmen der schn. 42.6), bereits vorgesehen [25].
Motorcycle Stability Control (MSC) [5] vorgestellte Bezogen auf den Straßeneinsatz zeigt das Un-
42 Bremssystem nutzt dazu ein Sensorcluster, das zwei fallgeschehen, dass der durch Maßnahmen wie
Drehraten und Beschleunigungen in allen drei MSC erzielte Stabilitätsgewinn beim Bremsen hö-
Raumrichtungen erfasst: Durch die um 45° um die her zu werten ist als der theoretisch damit einher-
3 Querachse gedrehte Einbaulage erfasst ein Drehr- gehende Verlust an maximaler Verzögerung. Erste
atensensor die Nickrate, während der andere eine Praxistests zeigen, dass die Aufstellbewegung bei
4 Kombination aus Roll- und Gierrate misst. Auf ma- Kurvenbremsungen mit MSC sehr gut zur Verzö-
thematischem Wege können so Informationen über gerung passt und ein Fahrer dank der verbesserten
5 alle sechs Bewegungsfreiheitsgrade des Fahrzeugs, Stabilität bei Schreckbremsungen in großer Schräg-
insbesondere die Roll- und Nickbewegung, gewon- lage sehr wahrscheinlich sogar höhere mittlere Ver-
nen und bei Bremskraftverteilung (eCBS, bei KTM zögerungen erzielen kann als mit konventionellem
6 aktuell nur hinten mit aktivem Druckaufbau) sowie Bremssystem [27, 35].
ABS-Regelung und Hinterradabhebeerkennung be- Bei mehrspurigen Kurvenneigern wie dem
7 rücksichtigt werden [5, 25, 34]. Piaggio MP3 sind überdies Bremsregelungen in
Aufgrund der wenigen bislang veröffentlichten Anlehnung an die aus dem Pkw-Bereich bekannte
Informationen zur konkreten Umsetzung der Re- elektronische Stabilitätsregelung (ESC) machbar, die
8 gelstrategie von MSC ist der letzte Satz bewusst im idealerweise auch auf die Motorsteuerung Einfluss
Konjunktiv gehalten. Während eine Verfeinerung nehmen können [28].
9 der vorgenannten rollwinkelabhängigen Bremsstra-
tegien im Rahmen von MSC durch die zusätzlich
42.5 Stand der Technik der Antriebs
10 vorhandenen Sensorinformationen prinzipiell in
schlupfregelungssysteme
vielfältiger Weise möglich ist, ist dies zur Darstel-
lung einer bestimmten Funktion nicht immer er-
11 forderlich. Im konkreten Anwendungsfall muss Im Hinblick auf die hohe Leistungsdichte moder-
entschieden werden, ob z. B. die Verbesserung der ner Motorräder stellt eine Antriebsschlupfregelung
12 Hinterradabhebeerkennung durch die Berücksich- (ASR, engl. Traction Control System, TCS) eine
tigung von Nickrate und Längsbeschleunigung sinnvolle Ergänzung zu den mittlerweile etablier-
[5] gegenüber einem konventionellen Ansatz den ten Bremsregelsystemen dar [23]. Primäres As-
13 Mehraufwand bei der funktionellen Absicherung sistenzziel ist das Vermeiden eines unkontrolliert
rechtfertigt usw. durchdrehenden Hinterrades, um einerseits den
14 Wie der Name Motorcycle Stability Control Fahrer beim Beschleunigen – speziell auf Straßen
bereits andeutet, geht das Gesamtsystem über die mit wechselnden und reduzierten Reibwerten – zu
15 Funktion einer alleinigen Bremsenregelung in unterstützen und zugleich die Fahrstabilität auf-
Kurvenfahrt hinaus: So erlaubt die Einbeziehung recht zu erhalten. Besonders in Kurvenfahrt gilt
der Motorsteuerung auch eine kurvensensible es, seitliches Wegrutschen mit der Gefahr eines
16 Traktionskontrolle (Motorcycle Traction Control, Highsider-Unfalls (siehe auch ▶ Abschn. 42.7.2) zu
MTC), ggf. mit Zusatzfunktionen wie Launch- oder unterbinden.
17 Wheely-Control (▶ Abschn. 42.5). Spezielle Offro- Pionier bei der Serieneinführung der Antriebs-
ad-Mappings arbeiten nicht nur mit angepassten schlupfregelung war 1992 Honda mit dem TCS: Mit
Schlupfschwellen, sondern auch ohne Berücksich- der Automatic Stability Control (ASC) 2006 und
18 tigung des intertial-sensorisch ermittelten Rollwin- der Dynamic Traction Control (DTC) 2009 lieferte
kels, da dieser beim Durchfahren von Steilkurven BMW weitere Meilensteine. Andere Hersteller haben
19 ein vermindertes Kraftschlusspotenzial suggeriert, inzwischen nachgezogen. Da die Funktionsweise der
während es durch die Fliehkraft tatsächlich erhöht verschiedenen Systeme jedoch prinzipiell ähnlich ist,
20 ist. Im Sinne einer skalierbaren Systemarchitektur wird diese im Folgenden zunächst am Beispiel von
ist zudem die Vernetzung mit weiteren Regelsyste- ASC und DTC erläutert und bei Bedarf ergänzt.
42.5 • Stand der Technik der Antriebsschlupfregelungssysteme
783 42
.. Abb. 42.11 Syste- Handarmatur mit Modus-Taster
mübersicht DTC am
Beispiel der BMW S1000RR
I-Kombi Motorsteuerung Sensorbox
(Quelle: BMW Motorrad)
ABS-Modulator
Handarmatur und -Steuergerät
mit ABS/DTC
Schalter
ABS-Sensor
Vorderrad Zündung Drosselklappen-
steller (eGas) Einspritzung ABS-Sensor
Hinterrad
Eine Übersicht der via CAN-Bus miteinander in definierten Fahrzuständen durch einen Vergleich
vernetzten Systemkomponenten des DTC zeigt der Radgeschwindigkeiten automatisch adaptiert.
. Abb. 42.11. Neben den Drosselklappenstellern Überschreitet der so ermittelte Antriebsschlupf
des „eGas“ (oder „Ride-by-Wire“) ist DTC gegen- ein für die Wahrung der Fahrstabilität vertretbares
über dem ursprünglichen ASC-System um eine Maß, greift die Regelung durch eine Reduktion des
Sensorbox ergänzt. Durch Messung der Roll- und Antriebsmoments unterstützend ein. Die Reakti-
Gierrate sowie der Quer- und Vertikalbeschleuni- onszeiten hängen dabei neben der Zykluszeit des
gung erlaubt diese erstmalig, den maßgeblich durch Berechnungsalgorithmus (von üblicherweise 10 ms)
den Rollwinkel charakterisierten Fahrzustand sen- und Erkennungsdauer (ca. 50 ms) vor allem von
sorisch zu erfassen und bei der Regelung zu berück- der Zeit zwischen zwei Arbeitsspielen (gering für
sichtigen. hohe Zylinderzahl und Motordrehzahl) sowie dem
Der Regelalgorithmus der Traktionskontrolle für den Regeleingriff verwendeten Stellglied (s. im
läuft bei beiden Systemen jeweils auf dem Mo- Weiteren) ab. Sie liegen typischerweise im Bereich
torsteuergerät, bei DTC auch die Auswertung der von ca. 50 bis 160 ms, wobei sie für einen Reihen-
Signale der Sensorbox. Um Zeitpunkt und Inten- vierzylinder im Rennbetrieb auch darunter und für
sität eines Regeleingriffs zu ermitteln, erhält das einen Zweizylinder-Boxer im Bummeltempo auch
Steuergerät die Signale der ABS-Radsensoren. Aus darüber liegen können.
der Drehzahldifferenz von Vorder- und Hinterrad Während DTC dank der Erfassung des Fahr-
– sowie im Falle von DTC einer rollwinkelabhängi- zustands rennstreckentauglich sehr nahe an die
gen Korrektur – wird der aktuelle Antriebsschlupf physikalischen Grenzen gehen kann, ist bei der
ermittelt. Festlegung der ASC-Regelschwellen ein stärkerer
Hierzu sind im Steuergerät fahrzeugspezifische Kompromiss zwischen einer sportlichen und siche-
Parameter – darunter auch Kenndaten der für das ren Regelung erforderlich. Die Umsetzung geschieht
jeweilige Fahrzeug freigegebenen Rad-Reifen-Paa- durch geschwindigkeitsabhängige Schwellwerte,
rungen – abgelegt. Da sich Reifen verschiedener die für alle im Fahrbetrieb möglichen Schräglagen
Hersteller bezüglich Abrollradien und Konturen zuverlässig funktionieren. Die Konsequenz daraus
geringfügig unterscheiden, Toleranzen in der Ferti- ist, dass bei großen Schräglagen (λ > 40°) das Be-
gung und zunehmendem Verschleiß im Betrieb un- schleunigungsvermögen mit ASC spürbar abneh-
terliegen, werden Abweichungen zu den Basisdaten men kann.
784 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
Calibration Kit“ die Möglichkeit zur individuellen Straßenkontakt) und Komfort (gemessen z. B. an
Feinabstimmung. kleineren Vertikalbeschleunigungen) auflösen.
Während die sensorische Erfassung des Fahrzu- Das derzeit am weitesten verbreitete System
stands in High-End-Systemen wie DTC oder Boschs ist das sogenannte Continuous Damping Control
MSC/MTC (▶ Abschn. 42.4.3.1) die Voraussetzung (CDC) von ZF/Sachs, bei dem die variable Dämp-
für weitere Zusatzfunktionen – wie etwa eine ge- fung durch elektrisch gesteuerte Proportionalventile
zielte Drift-Regelung oder gar „Wheely-Automa- erreicht wird. Trotz dieser gemeinsamen techni-
tik“ – schafft, sind auch deutlich simplere Systeme schen Basis unterscheidet sich die Systemauslegung
am Markt. Diese werden für Rennsportzwecke teils bei den verschiedenen Motorradherstellern u. a. in
sogar als Nachrüstlösung angeboten und beschrän- Art und Anzahl der verwendeten Sensoren und
ken sich häufig auf die alleinige Überwachung des folglich auch in der Regelstrategie. Zur Erfassung
Hinterrads. Anhand von Drehzahl, Gangstufe, der Fahrwerksbewegungen kommen neben Feder-
Gasgriffstellung und Drehzahlanstieg erkennt der wegsensoren (z. B. BMW, Aprilia) oder Beschleuni-
hinterlegte Algorithmus ein unnatürlich starkes An- gungssensoren an Radträgern und Aufbau (Ducati)
steigen der Hinterraddrehzahl und greift analog zu auch Drucksensoren in der Vorderradgabel (Apri-
ASC über das Motormanagement regulierend ein. lia) zum Einsatz. Weitere Informationen über den
Fahrzustand (Beschleunigen, Bremsen, Kurvenfahrt
etc.) sind durch Vernetzung mit anderen Regelsys-
42.6 Stand der Technik temen verfügbar. Ganz gleich, ob nun als Dynamic
der Fahrwerkregelsysteme Damping Control (DDC) oder Dynamic ESA bei
BMW, Ducati Skyhook Suspension (DSS), Aprilia
Im Gegensatz zum Pkw erreicht der Anteil von Auf- Dynamic Damping (ADD) oder unter einem an-
sassen und Zuladung beim Motorrad ohne Weiteres deren Namen angeboten: Allen gemeinsam ist der
50 % der Gesamtmasse, wodurch Schwerpunktlage Trend zu einer wachsenden Systemintegration – im
und Fahrverhalten mitunter erheblich beeinflusst Sinne einer Global Chassis Control (GCC) bzw. ei-
werden. Eher einfache konventionelle Fahrwerke nes Integrated Chassis Management (ICM). Dies
bieten daher zumindest eine manuelle Anpassung bedeutet, dass Motorsteuerung, Antriebsschlupf-
der Federvorspannung hinten, während bei aufwen- regelung, Bremsenregelung und semiaktives Fahr-
digeren Konstruktionen Federvorspannung sowie werk nicht als Einzelsysteme nebeneinander exis-
Dämpfung in Zug- und Druckstufe an beiden Rä- tieren und arbeiten, sondern ihre Regeltätigkeit der
dern einstellbar sind. Systeme wie das Electronic Fahrsituation entsprechend immer besser aufeinan-
Suspension Adjustment (ESA) von BMW ermögli- der abgestimmt wird.
chen dies elektromotorisch per Knopfdruck. In der Durch Koordination von CDC und ABS konnte
zweiten Generation (ESA II) ist hinten durch Rei- für einen Pkw (BMW X5) im Fahrversuch beispiels-
henschaltung der Stahlfeder mit einer Elastomerfe- weise ein Bremswegverkürzungspotenzial von 1,2 %
der sogar die Federsteifigkeit variabel. Während die nachgewiesen werden [36]. Eine Simulationsstudie
Beladungsadaption aus Sicherheitsgründen nur im kommt für ein sportliches Tourenmotorrad sogar
Stand erfolgen kann, lässt sich die Dämpfung in vor- auf ein Bremswegverkürzungspotenzial von 2 bis
eingestellten Kennlinien auch während der Fahrt an 4 % [37].
Fahrbahnbeschaffenheit und Fahrweise anpassen. Weiterhin lässt sich durch SAF auch der Ab-
Ab 2012 hat nun auch die bereits aus dem Pkw-Sek- lauf von Highsider-Unfällen positiv beeinflussen,
tor bekannte Technologie semiaktiver Fahrwerke indem durch Verhärten der Dämpfung der Aufbau
(SAF) Einzug in den Serienmotorradbau gehalten. und die Entladung der in den Federn gespeicherten
Durch permanente sensorische Erfassung des Vorspannungsenergie und folglich auch die typi-
Fahrzustands und situative Anpassung der Dämp- sche „Katapultwirkung“ vermindert werden. Mit
fung sollen SAF den Zielkonflikt zwischen Sport- vergleichsweise hohen Dämpferkräften – schon bei
lichkeit bzw. Fahrsicherheit (gemessen z. B. an durch niedrigen Dämpfergeschwindigkeiten und System-
verringerte Radlastschwankungen verbessertem reaktionszeiten von unter 15 ms über den gesamten
786 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
1
42
a b c d e
3 Standard // BLMV OPT. BLMV OPT. BLMV Realer BLMV
Lenkachse LRR vollst. LRR vollst. LRR teilweise LRR teilweise
4 mit LRR kompensiert kompensiert kompensiert kompensiert
LRR = Lenk-Roll-Radius
5 // = Parallele Lenkachsverschiebung
OPT. = Lenkachsschwenkung mit optimierter Momentanpollage
6 .. Abb. 42.13 Lenkachslagerung und (Teil-)Kompensation des Lenkrollradius (LRR) für Standardfahrwerk und verschiedene
Konfigurationen eines Bremslenkmomentverhinderers (BLMV)
7
Verstellbereich – bieten elektrorheologische Dämp- kregelungen stellt sich also zunächst die Frage nach
fer hierzu beste Voraussetzungen [38]. relevanten Unfallklassen. Neben Kurvenunfällen im
8 Während semiaktive Fahrwerke lediglich die Allgemeinen (vgl. [27] und [40]) gingen dabei aus
Dämpfungskräfte entgegen der Bewegungsrichtung einer detaillierten Analyse der Unfalldatenbank des
9 der Radaufhängung beeinflussen können, erlauben GDV – sowie aus Expertenbefragungen – vor allem
vollaktive Systeme das Stellen von Kräften in beide die ungebremsten Kurvenunfälle als größte Gruppe
10 Richtungen. Aus physikalischer Sicht kann aber potenziell noch beeinflussbarer Unfälle hervor [41].
selbst ein so hochdynamisches vollaktives Fahrwerk Wie bereits in ▶ Abschn. 42.3 erwähnt, besteht
wie das von BOSE [39] kaum zur Fahrerassistenz ein erhebliches Potenzial, Unfälle – bei denen gar
11 auf Stabilisierungsebene beitragen [17]. Dennoch nicht, zu spät oder zu zaghaft gebremst wurde –
ist davon auszugehen, dass bereits ein SAF durch durch Einsatz vorausschauender Systeme wie „Pre-
12 verbessertes Handling den Fahrer in seiner Fähig- dictive Brake Assist“ oder gar „Automatische Not-
keit unterstützt, das Fahrzeug zu stabilisieren. Fer- bremssysteme“ (ANB) zu verhindern oder zumindest
ner ist zu vermuten, dass auch der nachgewiesene ihre Schwere zu reduzieren (vgl. [24, 28, 29]).
13 Komfortgewinn [37], etwa durch geringere Ermü- Diese auf geeigneter Umfeldsensorik basieren-
dung und größeres Vertrauen in die Fähigkeiten den Systeme sind zwar selbst keine Assistenzsys-
14 der Maschine, einen positiven Effekt haben. Denn teme auf Stabilisierungsebene, erfordern jedoch
schließlich liefert auch ein entspannter Fahrer ei- spezielle Maßnahmen, um das Fahrzeug bei einem
15 nen Beitrag zur aktiven Sicherheit im Gesamtsystem autonomen Eingriff stabil auf Kurs zu halten. Auch
Mensch-Maschine-Umwelt. der Untersuchung der Fahrerankopplung und ihrer
fahrdynamischen Wechselwirkung mit Fahrzeug
16 und Regelsystemen dürfte daher zukünftig eine be-
42.7 Zukünftige sondere Rolle zukommen.
17 Fahrdynamikregelungen
doppelt-
exzentrisches
Lenkkopf
Pendel-
rollenlager
Lenkachse in…
… Linkskurve
… Geradeausfahrt
… Rechtskurve
konzentrisches
Schräg-
tonnenlager
untere Gabelbrücke
.. Abb. 42.14 Änderungen der Fahrwerksgeometrie und BLMV-Funktionsprinzip nach Weidele [11] am Beispiel des Versuchs-
fahrzeugs Honda CBR 600 RR (Quelle: Honda / Weidele, modifiziert durch Autoren)
18] und [42]) eine weitere Möglichkeit, Kurvenun- Wird der Lenkrollradius durch einen BLMV mit
fälle mit bremsbedingtem Aufstellverhalten (▶ Ab- einer (in ihrer um den Lenkkopfwinkel τ geneigten
schn. 42.2) positiv zu beeinflussen. Ebene) parallel verschobenen Lenkachse eliminiert
Vereinfacht dargestellt besteht das Funktions- (. Abb. 42.13b), so geht diese ausdrehende Lenk-
prinzip des BLMV daraus, die kinematische Len- momentkomponente verloren und der Fahrer muss
kachse in Abhängigkeit des Rollwinkels seitlich in freier Kurvenfahrt ein deutlich erhöhtes Lenk-
so zu verschieben bzw. zu schwenken, dass ihre moment aufbringen. Dies lässt sich theoretisch
Projektion in die Frontalansicht des Fahrzeugs zwar durch einen stark vergrößerten Lenkkopf-
stets durch den Vorderradaufstandspunkt verläuft winkel (für das verwendete Versuchsmotorrad z. B.
(s. . Abb. 42.13b und c sowie . Abb. 42.14). Eine etwa 50° anstelle von 23°55ʹ) in Kombination mit
dort angreifende Bremskraft hat somit keinen He- ebenfalls vergrößertem Gabelbrückenversatz (z. B.
belarm zur Lenkachse mehr, ruft kein störendes 140 mm anstelle von 30 mm) und nur teilweiser
Bremslenkmoment (BLM) und folglich auch kein Kompensation des Lenkrollradius in den Griff be-
Aufstellen des Fahrzeugs hervor. kommen, würde aber die Handling-Eigenschaften
Ein solches System greift jedoch auch empfind- stark beeinträchtigen. Eine elegantere Möglichkeit
lich in die Fahrwerksgeometrie ein, die insbesondere unter Beibehaltung der Basis-Geometrie besteht in
bei modernen Sportmotorrädern auf ein nahezu der Schrägstellung der Lenkachse: Diese erlaubt es,
lenkmomentneutrales Verhalten in freier Kurven- die ausdrehende Wirkung der Seitenkraft gegenüber
fahrt ausgelegt ist. Entscheidend dafür ist, dass auch der eindrehenden der Normalkraft höher zu ge-
die am Vorderradaufstandspunkt angreifenden Nor- wichten, so dass trotz vollständiger Kompensation
mal- und Seitenkräfte Hebelarme zur Lenkachse des Lenkrollradius die ursprüngliche Balance wie-
haben: Seitenkräfte wirken über den Nachlauf aus- derhergestellt ist (. Abb. 42.13c). Die durch Lenk-
drehend, Normalkräfte eindrehend, während beide kopfwinkel, Gabelbrückenversatz und Reifendi-
über den Lenkrollradius ausdrehend wirken. mension definierte Geometrie des Basis-Fahrwerks
788 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
20 20
42
10 10
3 0 0
4 -10 -10
-20 -20
5
-30 -30
6 -40 -40
0 1 2 3 4 0 1 2 3 4
a Zeit in s b Zeit in s
7
Lenkmoment in Nm Referenz-Rollwinkel in ° Rollwinkel in ° Lenkwinkelgeschwindigkeit in °/s
8 .. Abb. 42.15 Zeitverlauf charakteristischer Messgrößen bei der Kurvenbremsung ohne und mit Bremslenkmomentverhinde-
rer (R = 50 m, v0 ≈ 18 m/s, ay0 ≈ 6 m/s², ax ≈ 5 m/s²)
9
legt dabei im Schnittpunkt der Standard-Lenkachse Nachteil einer erhöhten reifengefederten Masse
10 mit der durch die Vorderradnabe verlaufenden Ver- mit sich. Durch Verstellung beider Lenkachslager
tikalen den kinematisch optimalen Momentanpol lässt sich dies zwar prinzipiell umgehen, die dann
fest (. Abb. 42.14). Dieser ermöglicht unabhängig erforderlichen großen Stellwege bedingen aber eine
11 vom Schwenkwinkel freie Kurvenfahrt mit dem noch größere Zunahme der Masse, in diesem Fall
gleichen Lenkmomentbedarf wie für das Standard- allerdings der aufbaugefederten. Zum anderen muss
12 setup. Bei Kurvenbremsungen mit vollständiger zu Bremsbeginn zunächst stets die Radträgheit ver-
Kompensation des Lenkrollradius (. Abb. 42.13c) zögert werden, bevor sich Bremsschlupf und damit
erzeugt dieses Setup allerdings einen mit steigen- nennenswerte Bremskräfte einstellen. Bei den erfor-
13 der Verzögerung abnehmenden Lenkmomentbe- derlichen Schwenkwinkeln von bis zu 14° ergeben
darf – während ein an konventionelle Fahrwerke sich dadurch ausdrehende Lenkmomentanteile. Mit
14 gewöhnter Fahrer intuitiv das Gegenteil, nämlich einer abgeschätzten Größenordnung von 10 Nm
einen zunehmenden Lenkmomentbedarf, erwar- stellen diese theoretisch einen ernstzunehmenden
15 ten würde. Durch Rücknahme des Schwenkwinkels Störfaktor im Zielkonflikt mit der Reduktion des
und entsprechend nur teilweiser Kompensation des BLM dar. Da sie aber nur in den ersten ca. 0,1–0,2 s
Lenkrollradius (. Abb. 42.13d) lässt sich auch dieses der Bremsung auftreten (vgl. . Abb. 42.15b), ist da-
16 gewohnte Feedback wieder herstellen. von auszugehen, dass sie in der Praxis durch einen
Für die konkrete Umsetzung eines solchen angepassten Bremsdruckaufbau beherrschbar sind.
17 Systems ergeben sich allerdings zwei maßgebliche Zur Untersuchung des Fahrverhaltens im Real-
Herausforderungen: Zum einen liegt der zuvor versuch, wurde ein Supersportmotorrad des Typs
beschriebene optimierte Momentanpol für übli- Honda CBR 600 RR (Modelljahr 2010, inklusive
18 che Fahrwerksparameter und Reifendimensionen C-ABS, ▶ Abschn. 42.4.2.3) mit einem BLMV aus-
unterhalb der Radnabe (etwa 74 mm für das Ver- gerüstet (. Abb. 42.14). Die Lenkkopflager sind da-
19 suchsmotorrad mit Vorderreifen der typischen bei (als Schrägtonnen- bzw. Pendelrollenlager) ki-
Dimension 120/70ZR17, s. . Abb. 42.14). Die na- nematisch als Kugelgelenk ausgelegt und das obere
20 heliegende Ausführung des BLMV auf Basis einer Lenkkopflager durch eine Doppelexzenterkonst-
Radnabenlenkung bringt daher zwangsläufig den ruktion elektromotorisch verstellbar [11, 42]. Da
42.7 • Zukünftige Fahrdynamikregelungen
789 42
der Bauraum durch die Holme der Telegabel stark im Stillstand nimmt der Fahrer gegen Ende der
eingeschränkt ist, beträgt die Exzentrizität lediglich Bremsung (ab t ≈ 2,5 s) nacheinander die Beine von
8 mm. Prinzipbedingte Änderungen des Lenkkopf- den Fußrasten und führt zur Wahrung der Balance
winkels und Nachlaufs bleiben daher ebenso gering ausgleichende Lenk- und Oberkörperbewegungen
wie der Schrägstellungswinkel der Lenkachse von aus, wobei auch Störungen durch ein Sich-Abstüt-
rund 2° (. Abb. 42.13e und 42.14). Der Gesamt zen am Lenker auftreten.
lenkmomentbedarf des real ausgeführten Systems Die Kurvenbremsung mit BLMV
ähnelt daher demjenigen eines parallelen BLMV (. Abb. 42.15b) beginnt mit einem gegenüber der
(. Abb. 42.13b) mit entsprechend reduzierter Standardlenkachse deutlich erhöhten stationären
Kompensationsrate. Es ergeben sich ein deutlich Lenkmoment der Größenordnung 24 bis 25 Nm
erhöhtes stationäres Lenkmoment, ein reduzierter (verglichen mit 7 bis 9 Nm bei t = 0 s). Neben ei-
Lenkmomentsprung zu Bremsbeginn – mit einer ner erwartungsgemäß kleinen trägheitsbeding-
nur kleinen Störung durch Verzögern der Radträg- ten Störung im Bereich von ca. 1 bis 2 Nm zu
heit – und infolgedessen auch eine geringere Lenk-, Bremsbeginn ergibt sich ein Lenkmomentsprung
Roll- und Kursstörung. von lediglich 3 Nm (verglichen mit 18 bis 20 Nm
In . Abb. 42.15 sind exemplarisch für das Stan- bei t ≈ 0,2 – 0,3 s), so dass das BLM nur eine ver-
dardfahrwerk und aktiven BLMV (jeweils ohne den nachlässigbar geringe Lenkwinkelstörung auslöst
serienmäßigen HESD-Lenkungsdämpfer, ▶ Ab- und der Rollwinkel zunächst sehr gut der Referenz
schn. 42.1) die Zeitverläufe charakteristischer Mess- folgt. Aufgrund des sehr einfach gewählten Regelal-
größen bei Bremsungen unter landstraßentypischen gorithmus mit konstanter geometrischer Kompen-
Bedingungen mit einer mittleren Verzögerung von sationsrate und Vernachlässigung weiterer lenk-
rund 5 m/s² aus einer Geschwindigkeit von ca. momentwirksamer Effekte, kommt es ab Mitte der
18 m/s (Anfangsquerbeschleunigung ay0 ≈ 6 m/s², Bremsung zur Überkompensation des BLM und zu
Anfangsrollwinkel λ0 ≈ 35°) in einer Linkskurve mit einem Vorzeichenwechsel im Lenkmomentbedarf
einem Radius von R = 50 m dargestellt. (ab t ≈ 1,4 s). Der Rollwinkel bleibt größer als der
Für die Fahrt mit konventioneller Lenkachsgeo- Referenzwert und das Fahrzeug drängt auf einen
metrie (. Abb. 42.15a) bringt der Fahrer nach dem kleineren Bahnradius (t ≈ 2 s); für ein Bremsma-
obligatorischen Auskuppeln ein kurvenausdrehen- növer in einer sich zuziehenden Kurve wäre das
des (betragsmäßig negatives) stationäres Lenkmo- ein entscheidender Vorteil. Im gezeigten Beispiel
ment von 7 bis 9 Nm auf. Zu Bremsbeginn (t = 0 s) ist aber ein konstanter Bahnradius vorgegeben, so
ist ein Lenkmomentsprung um ca. 19 bis 20 Nm zu dass der Fahrer stärker nach kurveninnen lenken
beobachten (t ≈ 0,2 s). Der vom Fahrer nicht sofort muss (t ≈ 2 – 2,5 s), um diesem zu folgen. Obwohl
gedeckte Anteil des sprungartig gestiegenen Gesam- der Fahreroberkörper durch einen Kontrollblick
tlenkmomentbedarfs beschleunigt das Lenksystem zur Mechanik weiter nach innen geneigt wurde,
rotatorisch nach kurveninnen (siehe positive Lenk- nähert sich der Rollwinkel dem Sollwert aufgrund
winkelgeschwindigkeit) und die folgende Aufstell- des baldigen Stillstands nicht mehr vollständig an.
bewegung lässt den (in Linkskurven negativen) Zusammenfassend kann also festgehalten wer-
Rollwinkel deutlich unter den zu Geschwindigkeit den, dass der prototypisch realisierte BLMV effektiv
und Kurvenradius passenden Sollwert fallen. Der den Lenkmomentsprung und die damit einherge-
Gesamtlenkmomentbedarf ist ab diesem Moment hende Lenk- und Aufstellbewegung zu Bremsbe-
durch ein überlagertes Kreisellenkmoment und ginn vermindert. Gegenüber Systemen wie MSC
die aufrechtere Fahrzeugposition bereits deutlich (▶ Abschn. 42.4.3.1) bietet die nahezu vollständige
reduziert und wieder im Gleichgewicht mit dem Verhinderung des BLM Vorteile für Kurskorrek-
Angebot des Fahrers. Die sich aus der Kopplung turen „auf der Bremse“ und hinsichtlich künftiger
der Lenk- und Rolldynamik ergebenden Oszillatio- Systeme wie „Predictive Brake Assist“.
nen im gemessenen Lenkmoment klingen mit dem Während dem zuvor gezeigten Vorzeichenwech-
weiter abnehmenden Lenkmomentbedarf bis zum sel des Lenkmoments relativ einfach durch eine va-
Bremsende hin ab. Zur Abstützung des Motorrads riable Kompensationsrate (z. B. in Abhängigkeit des
790 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
Rollwinkels, der Verzögerung oder der Bremsdrü- schwindigkeit sind daher Grenzen gesetzt. In kriti-
1 cke) Rechnung zu tragen wäre und Störeinflüsse schen Fahrsituationen – wenn beide Räder gleiten
durch die Abbremsung der Radträgheit durch be- – ist die Schwimmbewegung des Fahrzeugs jedoch
42 grenzte Bremsdruckgradienten beherrschbar er- instabil. Zum Nachweis der Eignung der Schwimm-
scheinen, stellen Systemkomplexität und -masse geschwindigkeit als Kriterium wurden ungebremste
klare Nachteile dar. Zudem lässt die Optimierung Kurvenunfälle auf einer Niedrigreibwertfläche mit
3 der bislang nur im Ansatz untersuchten Hochge- einem speziell ausgerüsteten Motorrad nachgestellt.
schwindigkeitsstabilität und Handling-Eigenschaf- Die Schwimmgeschwindigkeit eines Fahrzeugs ist
4 ten noch erheblichen Entwicklungsaufwand er-
warten. Aus heutiger Sicht erscheint es daher der yR
ˇP D P C
5 bessere Weg zu sein, das Bremslenkmoment am xP (42.5)
konventionellen Fahrwerk auf Basis von Sensorda-
ten vorherzusagen und ihm beispielsweise durch mit den fahrbahnbezogenen (horizontierten) Grö-
6 einen elektrischen Aktor oder gezielte Ansteue- ßen Giergeschwindigkeit P , Querbeschleunigung yR
rung eines semiaktiven Lenkungsdämpfers entge- und Fahrgeschwindigkeit xP. Die direkte Erfassung
7 genzuwirken. Moderne Bremssysteme wie C-ABS fahrbahnbezogener Größen ist bei einem Motorrad
(▶ Abschn. 42.4.2.3) und MSC (▶ Abschn. 42.4.3.1)
bieten mit ihrer umfangreichen Sensorik beste Vo-
-
aus zwei Gründen nicht möglich:
am Fahrzeug angebrachte Sensorik neigt sich
-
8 raussetzungen dazu. mit in die Kurve,
durch Rollgeschwindigkeit und -beschleuni-
9 gung wirken zusätzliche Trägheitskräfte im
42.7.2 Einflussmöglichkeiten Sensor, eine Korrektur ist erforderlich.
auf ungebremste
10 Kurvenunfälle Zur Bestimmung der Schwimmgeschwindigkeit im
Motorrad sind fahrzeugfeste Sensoren für Gierrate,
11 Als größte Gruppe potenziell noch beeinflussbarer Rollrate, Querbeschleunigung, Vertikalbeschleuni-
Unfälle [41] gelten ungebremste Kurvenunfälle: Sie gung und Rollwinkel erforderlich. In . Abb. 42.16
12 ereignen sich typischerweise durch plötzliches Sin- ist der Verlauf der Schwimmgeschwindigkeit wäh-
ken des Fahrbahnreibwerts (beispielsweise Laub, rend einer typischen Fahrt der Unfallklasse „Reib-
rutschiger Asphalt, Eis) oder bei Überschreiten der wertsprung“ dargestellt. Zum Zeitpunkt t = 0 s
13 maximal möglichen Querbeschleunigung. In bei- befährt das Motorrad mit dem Vorderrad die Gleit-
den Unfallklassen „passt“ die Querbeschleunigung fläche: Es kommt zu einer kleinen Auslenkung der
14 nicht mehr zum Rollwinkel. Für die Stabilität des Schwimmgeschwindigkeit, die offensichtlich aber
Motorrads ist aber eine dem aktuellen Rollwinkel korrigiert wird – wegen des nicht gleitenden Hin-
15 angepasste Querbeschleunigung erforderlich; das terrads ist das Fahrzeug zunächst noch stabil. Zum
Rollgleichgewicht ist nicht mehr erfüllt, ein Sturz ist Zeitpunkt t = 0,2 s befindet sich auch das Hinterrad
die unausweichliche Folge. Um die beiden Unfall- auf der Gleitfläche, das Fahrzeug baut eine deut-
16 klassen mit einem technischen System zu beeinflus- lich erkennbare Schwimmgeschwindigkeit auf. Die
sen, müssen sie durch eine Sensorik erkennbar und Unfallklasse „Reibwertsprung“ verläuft also offen-
17 durch technische Maßnahmen beeinflussbar sein. sichtlich in zwei Phasen: Jede Phase ist durch begin-
In Experimenten und Simulationen zeigt sich nendes Gleiten eines Rades gekennzeichnet. Bei der
die Schwimmgeschwindigkeit des Fahrzeugs (Ge- Unfallklasse „Überschreiten der maximalen Quer-
18 schwindigkeit der Schwimmwinkeländerung) beschleunigung“ beginnen beide Räder annähernd
als robustes Kriterium zur Erkennung kritischer gleichzeitig zu gleiten. Die erwarteten maximalen
19 Fahrsituationen. Die Schrägläufe der Reifen sind Beträge des Schwimmwinkels des Fahrzeugs liegen
bei Motorrädern in unkritischen Fahrsituationen für große Rollwinkel im Bereich von 2°, die erwar-
20 üblicherweise gering; auch der Schwimmwinkel tete maximale Schwimmgeschwindigkeit des Mo-
nimmt nur kleine Werte an. Der Schwimmge- torrads für stabile Fahrsituationen liegt im Bereich
42.7 • Zukünftige Fahrdynamikregelungen
791 42
.. Abb. 42.16 Verlauf der Fahrt 7
Schwimmgeschwindigkeit 0.5
während eines Reibwert-
sprungs. Befahren der 0.4
Gleitfläche bei t = 0 s
0.3
-0.1
Grenze der Schwimmgeschwindigkeit
-0.2
für stabile Fahrsituationen
-0.3
-0.4
-0.5
-0.5 -0.4 -0.3 -0.2 -0.1 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5
Zeit in s
von 0,15 rad/s. Bei jedem ausgewerteten Fahrver- Fahrer vor sich herschieben. Aufgrund des deutlich
such wurde während der Sturzphase der Grenzwert geringeren Reibwerts des rutschenden Fahrzeugs
für die Schwimmgeschwindigkeit überschritten: gegenüber üblicher Bekleidung des Fahrers würden
Der Grenzwert wurde in keinem Fall während un- so die Rutschweite und damit auch das Verletzungs-
kritischer Fahrsituationen überschritten; kritische risiko für den Fahrer erhöht. Für den Fall irrever-
Fahrsituationen sind also anhand der Schwimm- sibler Destabilisierung ist also kurveneindrehende
geschwindigkeit erkennbar. Für die Zukunft sind Schwimmgeschwindigkeit durchaus erwünscht
dem Pkw-ESC ähnliche Kalman-Schätzer-Ansätze (übersteuern). Kritisch ist die Gierinstabilität dann,
zur Bestimmung des Schwimmwinkels und zur wenn das noch gleitende Fahrzeug mit einem oder
verbesserten Erkennung kritischer Fahrsituationen beiden Rädern wieder eine Fläche hohen Reibwerts
denkbar. erreicht: Die Räder treffen dann unter stark gestie-
Ziel einer Fahrdynamikregelung ist aber nicht genem Schräglaufwinkel auf eine griffige Fläche
nur die Erkennung, sondern auch die Stabilisie- und stellen dabei eine deutlich zu große Seitenkraft
rung der kritischen Fahrsituation. Die Rollinstabi- zur Verfügung, die üblicherweise zu einem Um-
lität führt offensichtlich innerhalb kurzer Zeit zum kippen des Fahrzeugs auf die kurvenäußere Seite
Sturz des Fahrzeugs; im Gegensatz zu einer Gier- führt (Highsider-Unfall). Dies geschieht oftmals so
bewegung, die bei ausreichender zur Verfügung schnell, dass es dem Fahrer nicht möglich ist, das
stehender Fahrbahnfläche die Dauer der kritischen Fahrzeug zu stabilisieren. Für den Übergang des
Fahrsituation nicht einschränkt, begrenzt die Roll- Vorderrads von Niedrigreibwert auf Hochreibwert
bewegung die zur Verfügung stehende Zeit zur werden kurvenausdrehende Momente im dreistelli-
Stabilisierung des Fahrzeugs. Wichtigstes Ziel einer gen Nm-Bereich um das Lenksystem erwartet: Diese
Fahrdynamikregelung muss also die Stabilisierung Momente können je nach Fahrerankopplung und
des Rollwinkels sein [17, 43]. Der Giervorgang ist Elastizitäten im Lenksystem zu Lenkerschlagen füh-
für den betrachteten Fall zunächst wie gewünscht – ren; Kurvenausdrehen des Lenkers kann weiterhin
ein in die Kurve eindrehendes, schon auf der Fahr- zu einer Verringerung der Seitenkraft durch negati-
bahn rutschendes Fahrzeug, das sich vom rutschen- ven Schräglauf führen. Für negative Schräglaufwerte
den Fahrer wegdreht. Ein kurvenausdrehendes, auf ist die Seitenkraft geringer als die zum Ausgleich des
der Fahrbahn rutschendes Fahrzeug würde den Kippmoments erforderliche Seitenkraft. Ziel einer
792 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
Fahrdynamikregelung muss sein, den Schräglauf am und 100 min−1) – gezielt ein beträchtliches Rollmo-
1 Vorderrad in der Phase des Übergangs von Niedrig- ment (im Beispiel bis zu 2,3 kNm) gestellt werden.
auf Hochreibwert auf Werte um 0 Grad zu begren- Für einen verbesserten Insassenschutz bei einem
42 zen und Lenkerschlagen zu vermeiden. Zu große typischen Seitenaufprall an einer innerstädtischen
Seitenkraft am Hinterrad kann – bei einem kon- Kreuzung soll dies ausreichen, um das Fahrzeug
ventionellen Fahrwerk – nicht ausreichend durch nicht seitlich umkippen, sondern ähnlich einem
3 Lenkbewegungen abgebaut werden und führt zu Pkw wegrutschen zu lassen. Die Beeinflussung des
den zuvor genannten Highsider-Unfällen. Hoher Rollgleichgewichts ermöglicht es weiterhin, Kurven
4 Schräglauf am Hinterrad muss daher beim Über- mit einem vom üblichen Wert abweichenden Roll-
gang von Niedrigreibwert zu Hochreibwert vermie- winkel oder gar ganz aufrecht zu durchfahren – was
5 den werden. Zur Beeinflussung der Fahrdynamik z. B. das Durchschlängeln in Stausituationen erleich-
steht prinzipiell die Variation der Reifenkräfte zur tert. Überdies tragen die Stabilisierungskreisel auch
Verfügung. zur Wirkungsgraderhöhung des elektrisch getrie-
6 Durch gezielte Bremseingriffe und/oder den benen Fahrzeugs bei, indem sie auch als Energie-
Einsatz hochdynamischer aktiver Fahrwerke, kann speicher genutzt werden. Im Stand und bei geringen
7 die Gierdrehung des Fahrzeugs beeinflusst wer- Geschwindigkeiten rotieren sie sehr schnell, um den
den: Damit ist eine Regelung zum Vermeiden von Stabilisierungsbedarf zu decken; bei höheren Ge-
Highsider-Unfällen bei Reibwertänderungen hoch schwindigkeiten ist zunehmend die Kreiselstabili-
8 – niedrig – hoch denkbar. sierung durch die Laufräder gegeben. Die Drehzahl
Außer durch Verwendung eines mehrspurigen der Zusatzkreisel kann also verringert und die dabei
9 Kurvenneigers wie z. B. dem Piaggio MP3 [28] wird frei werdende Energie zum Beschleunigen des Fahr-
eine der elektronischen Stabilitätsregelung (ESC) zeugs genutzt werden. Beim Verzögern kehrt sich
10 aus dem Pkw-Sektor entsprechende Fahrdynami- dies um und Bremsenergie wird durch erneutes Be-
kregelung für Einspurfahrzeuge aufgrund der sys- schleunigen der Stabilisierungskreisel rekuperiert.
tembedingten Rollinstabilität mit den oben genann- Inwieweit sich diese – auch im Sinne automa-
11 ten Maßnahmen aber auch in Zukunft nicht [17] tischer Notbremsfunktionen – vielversprechende
oder – selbst bei ausreichend vorhandenem Kraft- Technologie im Kabinenmotorrad bewährt und auf
12 schlussniveau – nur in eingeschränktem Rahmen konventionelle Motorräder mit ihren eingeschränk-
[43] realisierbar sein. ten Bauraumverhältnissen übertragbar sein wird,
bleibt allerdings abzuwarten.
13 42.7.2.1 Rollstabilisierung
durch Doppelkreisel
14 Ein denkbares Mittel zur Rollstabilisierung be- Danksagungen
steht allerdings in einer – bereits zu Beginn des
15 20. Jahrhunderts für Einschienenbahnen erdach- Die Autoren danken Jörg Reißing, Alfred Eckert
ten – Doppelkreiselanordnung, die von der ameri- und Jürgen Bachmann, die als Koautoren der ersten
kanischen Firma LIT Motors in den letzten Jahren beiden Auflagen wesentlich zum Entstehen dieses
16 für den Einsatz in einem elektrisch angetriebenen Kapitels beigetragen haben. Besonderer Dank für
Kabinenmotorrad weiterentwickelt und patentiert wertvolle Fachgespräche sowie die Bereitstellung
17 wurde [44]. In aktuellen Prototypen „C-1“ kom- technischer Informationen und Abbildungen gilt
men dabei zwei gegenläufig um die Hochachse ro- weiterhin allen Ansprechpartnern bei BMW Mo-
tierende Kreisel zum Einsatz, deren Aufhängungen torrad, KTM, Honda, Bosch und Continental.
18 gegenüber dem Fahrzeugrumpf unabhängig um die
Querachse gedreht werden können. Während sich
19 bei normaler Fahrt die Kreiselreaktionsmomente
aufheben, kann durch gegensinnige Verstellung – in
20 Abhängigkeit der Kreiselträgheit (z. B. je 0,07 kgm²),
Rotations- und Schwenkdrehzahl (ca. 15.000 min−1
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793 42
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Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12, Bd. 633. VDI‐Verlag, Düs-
Brake‐By‐Wire System für Superbike‐Rennmotorräder. 8.
seldorf (2007)
Internationale Motorradkonferenz, Köln (2010)
17 Seiniger, P.: Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit von unge-
33 Seiniger, P., Winner, H., Schröter, K., Kolb, F., Eckert, A., Hoff-
bremsten Motorrad‐Kurvenunfällen. Fortschritt‐Berichte
mann, O.: Entwicklung einer Rollwinkelsensorik für zukünf-
VDI Reihe 12, Bd. 707. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2009)
794 Kapitel 42 • Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder
15
16
17
18
19
20
795 43
Stabilisierungsassistenz
funktionen im Nutzfahrzeug
Falk Hecker
43.1 Einleitung – 796
43.2 Spezifika von ABS, ASR und MSR für
Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw – 796
43.3 Spezifika der Fahrdynamikregelung für
Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw – 805
43.4 Ausblick – 811
Literatur – 812
41
43.1 Einleitung
56
57
-
zum Pkw (vgl. auch [1]):
Fahrwerk: Das typische Lkw-Fahrwerk
basiert auf einer Leiterrahmenkonstruktion
mit Starrachsen. Als Achsaufhängung wird an
kombinieren lassen. Neben den auch bei Pkw
üblichen Ausstattungsvarianten (Getriebe, Mo-
tor etc.) bezieht sich dies auch auf Anzahl und
Art der Achsen (von 2 bis 5 Achsen, wahlweise
der Vorderachse aus Kostengründen häufig angetrieben und/oder gelenkt), Achsaufhän-
eine Blattfederkonstruktion verwendet. Diese gung, Länge des Radstands (oft im 10 cm-Ras-
58 übernimmt sowohl die Federung als auch die ter wählbar), Stärke des Leiterrahmens, Art des
Achsführung in Längs- und Querrichtung. Lenkgetriebes usw. Darüber hinaus liefert der
59 Nachteilig für Radregelfunktionen erweist sich Hersteller den Lkw oft an einen Aufbauher-
dabei das so genannte Aufziehen der Blattfe- steller, der dann den Lkw für den eigentlichen
60 der, d. h. das S-förmige Verbiegen aufgrund Einsatz ausrüstet (z. B. Kipper oder Pritschen-
des eingeleiteten Bremsmoments. aufbau, Ladekran, Betonmischer etc.) und
43.2 • Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
797 43
durch diese Modifikationen und Anbauten am gige Funktionen bedeutet das eine Variation
Rahmen die fahrphysikalischen Eigenschaften der Masse von maximal ±16 %. Bei Lkw
- weiter verändert.
In bestimmten Märkten (beispielsweise Nord-
amerika) ist die mögliche Variantenvielfalt
noch größer, da die Hersteller dort meist nur
mit Leermassen von 6500 … 9000 kg und
Zuladungen von 11 500 … 17 000 kg liegen
die Werte dagegen bei kLoad = 2,7 … 2,9. Das
bedeutet eine Variation der Masse von bis zu
Kabine und Rahmen selbst entwickeln und ±50 %. Mit dem üblichen Anhängerbetrieb
der Kunde den Rest des Lkw, d. h. die wesent- oder bei Schwertransporten erhöhen sich die
lichen technischen Bestandteile wie Motor, Werte noch weiter (bis zu kLoad = 15). Die hohe
Getriebe und Achsen mehr oder weniger frei Masse bei Nutzfahrzeugen führt außerdem zu
vom Zulieferer wählen kann. Für große Flotten einer größeren Trägheit und damit zu einer
hat dies den Vorteil, dass sie Lkw von verschie- geringeren Fahrzeugdynamik. Ähnliches gilt
denen Herstellern mit identischer Technik für die Räder, die erheblich größere Träg-
(Motor, Achsen und Getriebe) fahren können, heitsmomente aufweisen als im Pkw. Somit
-
an Fahrzeugvarianten untersucht werden det man nach der Art des Anhängers zwischen
kann. Alle anderen möglichen Kombinationen eingliedrigen Anhängefahrzeugen (z. B.
-
müssen über eine robuste Systemauslegung Sattelauflieger, Zentralachsanhänger) und
- abgedeckt werden.
Rad- bzw. Achslasten: Typische Rad- bzw.
Achslasten liegen deutlich über denen des
Pkw (bis etwa Faktor 15). Das führt zu einer --
mehrgliedrigen Anhängefahrzeugen (z. B.
Drehschemelanhänger).
Zudem gibt es unterschiedliche Arten der
Ankopplung:
erheblich höheren Flächenpressung an der Ankopplung über eine Anhängekupplung
Reifenoberfläche (zum Vergleich: Reifenluft- (= Kugelgelenk), die nur Kräfte, aber keine
-
drücke liegen im Nkw bei 6 … 8 bar gegenüber Momente übertragen kann, und
1,5 … 3 bar im Pkw). Zusammen mit einer Ankopplung über eine Sattelkupplung, die
verschleißoptimierten Reifenauslegung führt in gewissem Umfang auch Wankmomente
dieser Effekt zu niedrigeren maximalen Reib-
werten und somit auch geringeren möglichen
Bremsverzögerungen (maximal erzielbare - überträgt.
Aus diesen Merkmalen ergeben sich die An-
zahl der zusätzlichen Freiheitsgrade, die einen
-
kLoad WD
mempty
über die jedoch nur sehr eingeschränkt ver-
Für einen Mittelklasse-Pkw mit Leermassen wendbare Informationen ausgetauscht werden.
von 1000 … 1500 kg ergeben sich für kLoad Im Zuge der gesetzlich geforderten Einführung
Werte von ca. 1,2 … 1,4. Für beladungsabhän- von ABS (seit 1991 vorgeschrieben) gab es
798 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
-
43 Teilfahrzeuge damit ausgerüstet sind.
Betriebsbremse: Hauptmerkmal ist die
44 pneumatisch angetriebene Zuspannung der
Betriebsbremse. Dabei wird die zum Zuspan-
45 nen notwendige Energie in Form von Druck-
luft vorgehalten und über einen Bremszylinder
mittels entsprechender Hebelmechanik in
46 eine Zuspannkraft an den Bremsbelägen der
Scheiben- bzw. Trommelbremse umgesetzt.
47 Die Steuerung des Bremsdrucks erfolgt dabei
entweder rein pneumatisch (konventionelle
-
.. Abb. 43.1 Diagramm Kraftschluss über Radschlupf mit
Bremsanlage) oder elektronisch (EBS, vgl. [2]). den Arbeitsbereichen der verschiedenen Stabilisierungsfunk-
48 Dauerbremsen: Nutzfahrzeuge haben neben tionen
50
(Retarder), die verschleißfrei arbeiten. Dazu
gehört zunächst die bei nahezu allen Nutz-
fahrzeugen vorhandene Motorbremse, bei
der das Schleppmoment des Motors durch
- gen an Nkw-Komponenten.
Fahrzeug-Kommunikationsarchitektur: In den
meisten Nutzfahrzeugen gibt es einen nach SAE
J1939 genormten CAN-Datenbus (vgl. [1]).
51 technische Maßnahmen vergrößert wird (z. B. Dort sind die wesentlichen Triebstrangsteu-
Auspuffklappe, spezielle Ventilsteuerungen ergeräte angeschlossen, wie z. B. für Motor,
52 etc.). Optional gibt es darüber hinaus elek- Getriebe, Retarder oder Bremse, die über
trodynamisch oder hydraulisch betriebene definierte Botschaften miteinander kommu-
Retarder. Allen Dauerbremsen gemeinsam nizieren. Hierdurch wird die Integration von
53 ist die Einleitung der Bremskraft über den elektronischen Systemen deutlich erleichtert.
Antriebsstrang und die Antriebsräder, wobei
54 man grundsätzlich Primärretarder, die motor-
seitig (vor der Kupplung) installiert sind, und 43.2.2 Regelungsziele
und -prioritäten
55 Sekundärretarder (nach der Kupplung, i. d. R.
direkt an der Gelenkwelle) unterscheidet. Bei
niedrigen Achslasten (Leerfahrzeug) führt 43.2.2.1 Anti-Blockiersystem ABS
56 die Aktivierung des Retarders auf geringen Radschlupfregelung
Reibwerten zu sehr großen Radschlupfwerten Das ABS regelt den mittleren Schlupf der einzelnen
57 und damit zu Instabilitäten an den Antriebsrä- Räder beim Bremsen. Der Radschlupf lw wird wie
dern, was im ABS entsprechend berücksichtigt folgt definiert:
58
59
- werden muss.
Komponentenanforderungen: Üblicherweise
werden Nkw auf eine Lebensdauer von bis zu
1 500 000 km oder 30 000 Betriebsstunden aus- mit
w D
vw vu
MAX.vu ; vw /
(43.2)
gelegt. Dies liegt um den Faktor 3–5 über der vu als Radumfangsgeschwindigkeit [m/s] und
60 Lebensdauer eines Pkw. Zusammen mit den vw als Fahrzeuggeschwindigkeit im Radaufstands-
deutlich raueren Einsatzbedingungen ergeben punkt [m/s].
43.2 • Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
799 43
1- Bremsstart: Druckaufbau
2- Rad „kippt“ ab: Druck halten
3- Weitere Blockiertendenz
(Rad instabil): Druckabbau
4- Rad stabilisiert sich: Druck halten
5- Rad beschleunigt: Druck halten
6- Rad stabil: Druck aufbauen (gepulst)
7- Rad „kippt“ erneut ab: Druck abbauen
8- Rad stabilisiert sich: Druck halten
9- Rad stabil: Druck aufbauen (gepulst)
Die Radgeschwindigkeiten werden als gemessene Die zur Regelung erforderliche Fahrzeugrefe-
Istgrößen dem Regler zugeführt, dort mit der Soll- renzgeschwindigkeit wird aus den einzelnen Rad-
größe (Fahrzeugreferenzgeschwindigkeit) vergli geschwindigkeiten ermittelt. Spezielle Auswahlalgo-
chen und Abweichungen durch Bremsdruckände- rithmen und Plausibilitätsprüfungen müssen unter
rungen korrigiert. Der Zielschlupf wird während allen Umständen sicherstellen, dass die Fahrzeug-
einer ABS-Bremsung automatisch adaptiert, mit referenzgeschwindigkeit gut mit der wahren Fahr-
dem Ziel, einen möglichst guten Kompromiss zeuggeschwindigkeit übereinstimmt. Kritische Fälle
zwischen Lenkbarkeit, Stabilität und Verzögerung
einzustellen. Aufgrund der Reifencharakteristik
nimmt die übertragbare Seitenführungskraft mit
zunehmendem Längsschlupf stark ab (verein-
-
sind z. B.
das „Absacken“ der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, wenn alle Räder gleichzeitig
einen größeren Schlupf erreichen. Die Folge
facht im Kammschen Kreis ausgedrückt oder im wäre ein Überbremsen der Räder, womit die
Kraftschluss-Schlupfdiagramm in . Abb. 43.1). Lenkfähigkeit verloren ginge. Als Gegenmaß-
Sinnvolle Kompromisse liegen im Bereich von nahme unterbremst der ABS-Algorithmus
lw ≈ 8 … 20 %. zu bestimmten Zeitpunkten einzelne Räder,
Als Basis-Regler kommen beim Nkw-ABS ne- die dann auf die Fahrzeuggeschwindigkeit
ben klassischen PID-Reglern auch Matrixregler beschleunigen und somit die Referenzge-
zum Einsatz, die sich automatisch an unterschiedli- schwindigkeit stützen. Diese Phasen sind so
che Reibwertkurven anpassen. Ein typischer ABS- kurz, dass die Auswirkung auf den Bremsweg
Regelzyklus ist in . Abb. 43.2 dargestellt.
Zusätzlich zu den Eingriffen in die Betriebs-
bremse werden mit Anlaufen des ABS an der An-
triebsachse die vorhandenen Retarder abgeschal-
- vernachlässigbar ist;
das Hochlaufen der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, wenn ein Raddrehzahlsignal
z. B. durch schlechte Impulsräder oder elek-
tet. tromagnetische Einstrahlung gestört ist und
800 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
damit eine höhere Drehzahl vorgaukelt. In der Da beide Momente im Gleichgewicht stehen müs-
41 Konsequenz führt die zu hohe Referenzge- sen (Mzra = MzB), damit sich das Fahrzeug nicht
schwindigkeit zu einem unterbremsten Fahr- dreht, ergibt sich folgende Beziehung zwischen den
42 zeug. Um dies zu vermeiden, plausibilisiert der Kräften und den geometrischen Daten
ABS-Algorithmus die Referenzgeschwindigkeit
anhand aller Radgeschwindigkeiten. Fyrl C Fyrr bfa (43.5)
43 pfa kFB
D
2 lH
Strategien zur Fahrzeugstabilisierung
44 Da im ABS keine Messgrößen für die tatsächliche Nimmt man weiterhin die Seitenkräfte Fyrl und
Fahrzeugbewegung zur Verfügung stehen, enthält die Spurweite bfa als konstant an – die Seitenkräfte
45 es ausgefeilte Strate gien zur Sicherstellung der sind weitgehend durch den zulässigen Lenkein-
Fahrzeugstabilität (z. B. beim Bremsen auf einsei schlag begrenzt – so erkennt man, dass der zulässige
tig glatter Fahrbahn, µ-split genannt). Der Grad der Differenzbremsdruck proportional zum Abstand
46 Stabilisierung hängt jedoch aufgrund der fehlenden zwischen Schwerpunkt und Hinterachse und da-
Rückmeldung von der jeweiligen Abstimmung des mit zum Radstand ist. Vereinfacht ausgedrückt: Je
47 ABS ab, die wiederum an die Fahrzeuggeometrie kürzer der Radstand, umso kleiner ist der zulässige
angepasst werden muss. Besonders empfindlich Differenzbremsdruck. In der Praxis ist die Abhän-
beim Bremsen auf µ-split reagieren Fahrzeuge mit gigkeit aufgrund der hier vernachlässigten Effekte
48 kurzem Radstand und geringer Hinterachslast (z. B. nichtlinear und wird insbesondere durch die mit
leere Sattelzugmaschinen). Dies wird im Folgenden kürzerem Radstand zunehmende dynamische Achs-
49 anhand einer vereinfachten Betrachtung (Hinter- lastverlagerung (bei konstanter Schwerpunkthöhe)
achse ungebremst) verdeutlicht. Die Bremskraft- weiter verstärkt.
50 differenz an der Vorderachse induziert das Gier-
43.2.2.2 Antriebs-Schlupfregelung
moment
ASR
51 MzB D pfa kFB
bfa
(43.3) Die ASR wirkt im Antriebsfall (Beschleunigung)
2
und hat zwei grundsätzliche Ziele: zum einen die
52 mit Erhöhung der Fahrstabilität, zum anderen die Ver-
Dpfa als Differenz-Bremsdruck an der Vorderachse besserung des Vortriebs durch Ausnutzung des ma-
[bar], ximal möglichen Reibwerts an allen Antriebsrädern.
53 kFB als Bremsfaktor [N/bar] und Zur Erhöhung der Fahrstabilität dient der so ge-
bfa als wirksame Spurweite der Vorderachse [m]. nannte ASR-Motorregler, der das Motormoment so
54 begrenzt, dass ein vorgegebener Zielschlupf an den
Dem entgegengerichtet wirkt das aus den einzelnen Antriebsrädern nicht überschritten wird.
55 Rädern an der Hinterachse über Schräglaufwinkel Der Zielschlupf wird – ähnlich wie beim ABS
erzeugte Giermoment – als möglichst guter Kompromiss zwischen Trak-
tion und Stabilität gewählt, wobei im Nkw der
56 Mzra D .Fyrl C Fyrr / lH(43.4) Schwerpunkt stärker auf Traktion liegt. Bei einigen
Systemen wird der Zielschlupf abhängig von der
57 mit Gaspedalstellung oder bei Kurvenfahrt dynamisch
Fyrl,r als Seitenkraft (am linken bzw. rechten angepasst. Somit erzielt man bei Geradeausfahrt
Hinterrad) [N], die vom Schräglaufwin- mit höherem Schlupf eine optimierte Traktion und
58 kel und der Schräglaufsteifigkeit abhängt: gleichzeitig maximale Stabilität bei Kurvenfahrt
Fyrl;r D ˛l;r Cl;r und durch einen verringerten Schlupf.
59 lH als Distanz zwischen Hinterachse und Schwer- Insbesondere auf unterschiedlichen Reibwerten
punkt [m]. kommt es im Antriebsfall zum einseitigen Durch-
60 drehen der Antriebsräder, da das Differenzialgetriebe
das Antriebsmoment zu je 50 % auf beide Seiten ver-
43.2 • Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
801 43
teilt (Prinzip Momentenwaage) und somit die Seite dern und erhöht aktiv das Motormoment mit dem
mit dem niedrigeren Reibwert das maximal übertrag- Ziel, den Radschlupf zu verringern und somit das
bare Antriebsmoment begrenzt. Hier greift der so ge- Fahrzeug zu stabilisieren. Prinzipiell kommt hier
nannte ASR-Bremsregler, indem er den Radschlupf derselbe Schlupfregelkreis wie bei der ASR zum
am durchdrehenden Rad durch aktives Abbremsen Einsatz, nur dass der Zielschlupf diesmal positiv ist.
regelt. Das so erzeugte Bremsmoment wird über das
Differenzialgetriebe auf die andere Seite gespiegelt
und steht dort als Antriebsmoment zur Verfügung. 43.2.3 Systemaufbau, Steller
Damit wird im Idealfall die gleiche Vortriebskraft
generiert wie mit einer mechanischen Differenzial- 43.2.3.1 Konventionelle
sperre, weshalb man auch den Begriff elektronische pneumatische
Differenzialsperre verwendet. Allerdings wird dabei Betriebsbremse
ein Teil der Antriebsleistung in der Bremse „verheizt“. . Abbildung 43.3 zeigt eine konventionelle pneu-
Bei Nutzfahrzeugen mit zwei angetriebenen matische Betriebsbremsanlage mit einem ABS/
Hinterachsen (z. B. Dreiachser mit der Radformel ASR-System (vgl. [6]).
6 x 4) verteilt ein Zwischenachsdifferenzial die An-
triebsmomente auf die beiden Antriebsachsen. Hier Elektronisches Steuergerät (ECU)
wirkt der ASR-Bremsregler auf insgesamt vier An- Der ABS- und ASR-Algorithmus läuft in einem Mi-
triebsräder und regelt so den Antriebsschlupf aller krocontroller, der zusammen mit den Endstufen zur
Antriebsräder mit dem Ziel der maximalen Reib- Ansteuerung der ABS-Ventile, der Spannungsversor-
wertausnutzung. gung und weiteren Peripheriebausteinen im elektro-
Im Gegensatz zum ABS ist bei der ASR die nischen Steuergerät integriert ist. Das Blockschalt-
Bildung der Referenzgeschwindigkeit relativ ein- bild in . Abb. 43.4a verdeutlicht den inneren Aufbau
fach, da die nicht angetriebenen Vorderräder kei- des in konventioneller SMD-Leiterplattentechnik
nen Schlupf haben und deren Mittelwert somit die aufgebauten Steuergeräts. Als Mikrocontroller kom-
Fahrzeuggeschwindigkeit gut repräsentiert. Eine men üblicherweise 16-Bit-Controller mit Taktfre-
ASR für Fahrzeuge mit angetriebenen Vorderrä- quenzen von 20 … 40 MHz zum Einsatz, die durch
dern benötigt weitergehende Sensoren, wie z. B. ei- einen Überwachungsrechner ergänzt werden. Der
nen Längsbeschleunigungssensor zur Stützung der Speicherbedarf liegt bei 128 … 512 kB ROM (meist
Referenzgeschwindigkeit. Flash-Speicher) und 4 … 12 kB RAM. Ein meist im
Rechner integriertes EEPROM dient der Parametrie-
43.2.2.3 Motor- rung des Systems und zur Abspeicherung von Lern-
Schleppmomentenregelung werten und Fehlern (vgl. [2]). Zur Ansteuerung ex-
MSR terner Systeme (Motor, Retarder) ist das Steuergerät
Insbesondere leere Nutzfahrzeuge mit geringer mit dem Fahrzeug-Datennetzwerk verbunden (meist
Hinterachslast können auf glattem Untergrund nur CAN-Bus nach SAE J1939). Über diesen Bus erfolgt
sehr geringe Kräfte an den Antriebsrädern über- z. B. die Reduzierung des Motormoments oder das
tragen. Deshalb kommt es im Schubbetrieb durch Ausschalten des Retarders. Umgekehrt liefert der
das relativ hohe Schleppmoment des Antriebsmo- Datenbus wichtige Informationen wie aktuelles Mo-
tors zu einem großen Radschlupf, der die Stabilität tormoment, Motordrehzahl, Gaspedalstellung etc.
des Fahrzeugs erheblich herabsetzt. Verstärkt tritt
dieser Effekt beim Runterschalten auf, da sich dann Raddrehzahlsensoren
das Schleppmoment durch die plötzlich geänderte Als Sensoren finden im schweren Nutzfahrzeug
Übersetzung schlagartig erhöht. Hohe Reibungs- nahezu ausschließlich passive induktive Drehzahl-
kräfte im Antriebsstrang, z. B. bei sehr tiefen Tem- fühler Verwendung. Durch die Drehung des ma-
peraturen, vergrößern den Effekt weiter. gnetisierten Impulsrades (60 … 120 Zähne) wird
Die MSR erkennt den aufgrund des Schleppmo- im Sensor eine Wechselspannung induziert, deren
ments vergrößerten Radschlupf an den Antriebsrä- Frequenz proportional zur Drehzahl ist und vom
802 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
41
42
43
44
45
46
47
.. Abb. 43.3 Systemaufbau einer konventionellen pneumatischen Betriebsbremsanlage mit ABS und ASR (1 Drehzahlsensor,
48 2 ABS-Ventil, 3 Wechselventil, 4 ASR-Ventil, 5 Steuergerät, 6 Anhängersteuerventil)
49
50
51
52
53
.. Abb. 43.4 a Blockschaltbild ABS-Steuergerät b ABS-Steuergerät im geöffneten Zustand (Quelle: Knorr-Bremse)
54
ABS-Steuergerät ausgewertet wird. Die Sensoren Die im Pkw-Sektor gebräuchlichen aktiven
55 werden mithilfe einer Federhülse in eine Halterung Drehzahlfühler konnten sich bisher bei Nutzfahr-
gesteckt (kraftschlüssige Befestigung). Dadurch ist zeugen nicht durchsetzen. Das liegt an der großen
sichergestellt, dass die Sensoren nicht durch ein un- Variantenvielfalt bei Nutzfahrzeugachsen in Verbin-
56 gleichförmiges Impulsrad „abgefräst“ werden: Der dung mit deutlich längeren und nicht synchroni-
Luftspalt stellt sich automatisch ein. Diese an sich sierten Entwicklungszyklen zusammen mit den nur
57 robuste Konstruktion kann allerdings bei starken geringen technischen und kommerziellen Vorteilen
Schwingungen oder Verschmutzung dazu führen, der aktiven Sensoren.
dass sich der Luftspalt stark vergrößert und die
58 Drehzahlinformation nicht mehr ausreichend ist: Steller
Die so genannte Grenzspaltgeschwindigkeit, d. h. Beim Nkw-ABS kommen als Steller so genannte
59 die Geschwindigkeit, ab der eine für das Steuergerät Drucksteuerventile (ABS-Ventile) zum Einsatz.
auswertbare Wechselspannung induziert wird, ver- Diese sind funktionell als 3/3-Wegeventile mit zwei
60 größert sich. Durch einfaches „Hineinschieben“ des Magneten ausgeführt und haben die Aufgabe, im
Sensors in die Halterung wird das Problem beseitigt. Falle eines erhöhten Radschlupfes den Bremsdruck
43.2 • Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
803 43
entweder zu halten (d. h. einen weiteren Druckauf- Voraussetzungen zur autonomen Bremsdruckmo-
bau zu verhindern) oder den Bremsdruck zu ver- dulierung vorhanden. Der ABS-Algorithmus ist im
ringern. In . Abb. 43.5 ist der innere Aufbau des EBS-Zentralsteuergerät implementiert und sendet
ABS-Ventils dargestellt. den errechneten Soll-Bremsdruck über den Brem-
Da eine direkte Steuerung von großen Ven- sen CAN-Bus an die EPM. Die Raddrehzahlsenso-
tilquerschnitten aufgrund der großen Kräfte sehr ren sind identisch mit den unter ▶ Abschn. 43.2.3
große Magnetventile erfordert, wird die eigentliche beschriebenen.
Ventilfunktion durch zwei Elastomer-Membranen
dargestellt, die durch relativ kompakte Magnet-
ventile vorgesteuert werden. Dies ist in . Abb. 43.6 43.2.4 Sonderfunktionen für Nkw
für verschiedene Betriebszustände (ungebremst,
gebremst und während ABS-Regelung) dargestellt. 43.2.4.1 Zugfahrzeugsysteme
Mithilfe der ABS-Ventile kann somit der Brems- Über die reinen Stabilisierungsfunktionen ABS und
druck abgesenkt oder begrenzt werden. Beim ASR- ASR hinausgehend können eine Reihe von Zusatz-
Bremsregler muss jedoch aktiv Bremsdruck aufge- funktionen (Value Added Functions) dargestellt
baut werden, um ohne Zutun des Fahrers einzelne werden, die auf der Infrastruktur des ABS/ASR-
Räder abzubremsen. Dies erfolgt mittels eines ASR-
Ventils (3/2-Wegeventil) in Kombination mit einem
Wechselventil, die den Vorratsdruck direkt vor die
ABS-Ventile schalten. Die eigentliche Druckmo-
-
oder EBS-Systems aufsetzen. Dazu gehören u. a.:
Elektronische Bremskraftverteilung (Elec-
tronic Brake-force Distribution EBD): Der
Bremsdruck an der Hinterachse wird mit Hilfe
dulation erfolgt – wie beim ABS – über die ABS- der ABS-Ventile radschlupfabhängig verrin-
Ventile (vgl. . Abb. 43.6). gert, um so die Bremskraft an der Hinterachse
der Achslast und damit der Beladung anzupas-
43.2.3.2 Elektronisch gesteuerte sen. Damit wird funktional das sonst notwen-
Betriebsbremse (EBS) dige ALB-Ventil (Automatisch Lastabhängiger
Bei der elektronisch gesteuerten Betriebsbremse
EBS erfasst ein Steuergerät über einen Pedalweg
sensor den Bremswunsch des Fahrers und errech-
net daraus die notwendigen Radbremsdrücke.
- Bremskraftregler) ersetzt.
Bremsendiagnose: Anhand eines langfristi-
gen Vergleichs der einzelnen Radschlupfwerte
beim Bremsen untereinander erkennt das Sys-
Diese werden dann radindividuell in Elektro- tem Fehlfunktionen einzelner Bremsen oder
Pneumatischen Modulatoren (EPM) elektronisch
geregelt (vgl. [2]). Aufgrund des Grundprinzips
„Control-by-Wire“, sind bereits alle technischen - stark unterschiedliches Bremsverhalten.
Differenzialsperrenmanagement: Die Funk-
tion unterstützt den Fahrer beim Einlegen der
804 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
Betriebszustand
41 Ungebremst Bremsung ohne ABS- ABS-Eingriff: Brems- ABS-Eingriff: Brems-
Eingriff druck halten druck absenken
42 Die Anschlüsse 1 und 2 Der am Anschluss 1 Durch Ansteuern des Der Magnet II schließt
sind drucklos. Einlass- anstehende Bremsdruck Magneten I schließt der den oberen Ventilsitz
und Auslassmembrane öffnet die Einlassmemb- untere Ventilsitz, und öffnet gleichzeitig
43 sind geschlossen. Die rane. Über den oberen gleichzeitig öffnet der den unteren. Der Raum
beiden Magneten (I, II) Ventilsitz von II gelangt obere. Dadurch wird der (b) wird entlüftet. Durch
44 werden nicht angesteu-
ert.
Bremsdruck in den
Raum (b). Der Auslass
Raum (a) belüftet und
die Einlassmembrane
den Bremszylinderdruck
öffnet die Auslass-
bleibt dadurch geschlos- schließt. Der Auslass membrane wodurch der
45 sen und der Anschluss 2 bleibt durch den Druck Bremsdruck über die
wird belüftet. im Raum (b) ebenfalls Entlüftung 3 verringert
geschlossen. Dadurch wird.
46 bleibt der Druck am
Anschluss 2 konstant.
47
48
49
50
51 .. Abb. 43.6 Funktion des Drucksteuerventils
52
Differenzialsperren zum Schutz der Mechanik. Hinterräder, um mit dem dadurch entstehen-
Dies geschieht durch aktives Synchronisieren den zusätzlichen Giermoment die Lenkwil-
53 der Raddrehzahlen mithilfe der Bremsen und ligkeit zu unterstützen und den Wendekreis
54
55 -
somit elektronisch gesteuertes Einlegen der
Sperren.
Haltestellenbremse (Door-Brake): Automa-
tische Aktivierung der Betriebsbremse bei
- deutlich zu verringern.
Off-Road ABS: Speziell für Militärfahrzeuge
und andere überwiegend auf nichtbefestigten
Untergründen betriebene Fahrzeuge existieren
Bussen mit Hilfe des ASR-Ventils, wenn die modifizierte ABS-Algorithmen, die insbeson-
Bustüren geöffnet werden, und entsprechend dere bei niedrigen Geschwindigkeiten den
56 automatische Deaktivierung beim Schließen Radschlupf deutlich erhöhen. Damit wird auf
der Türen und Anfahren. Damit wird dem lockeren Untergründen (z. B. Schotter, loser
57 Busfahrer an einer Haltestelle das Einlegen der Schnee) der Bremsweg über den sich bilden-
58 - Feststellbremse abgenommen.
Lenkbremse: Insbesondere Fahrzeuge mit
der Achsformel 6 x 4 (3-Achser mit 2 ange-
triebenen Hinterachsen) neigen auf rutschi-
den Bremskeil verkürzt.
43.2.4.2 Anhängersysteme
Auch im Anhängerbereich gibt es eine Reihe von
59 gem Untergrund (z. B. Baustellenbetrieb) bei Zusatzfunktionen, die sich die Infrastruktur des
engen Kurven zum starken Untersteuern. Die Anhänger-EBS (oder ABS) zu Nutze machen. Dazu
60 Funktion Lenkbremse bremst in diesem Fall gehören u. a. Funktionen, die geschwindigkeits-
abhängig vom Lenkradwinkel einseitig die oder lastabhängig bestimmte Schaltfunktionen aus-
43.3 • Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
805 43
führen (z. B. Rücksetzen der Niveauregelung in die der Freiheitsgrade durch den Anhängerbetrieb.
Fahrstellung, Steuerung einer Liftachse etc.). Insbesondere bei einer Fahrdynamikregelung
hat dies einen entscheidenden Einfluss auf die
Fahrdynamisch betrachtet gelten zunächst die Schwere Nutzfahrzeuge können über das im Pkw
gleichen Merkmale und Besonderheiten wie in bekannte Schleudern (z. B. Über- oder Untersteu-
▶ Abschn. 43.2.1 beschrieben. Aus Sicht einer Fahr- ern) hinaus weitere instabile Zustände einnehmen.
dynamikregelung kommen jedoch weitere Beson-
-
derheiten zum Tragen:
Schwerpunkthöhe: Nutzfahrzeuge haben -
Dazu gehören:
Einknicken bei mehrgliedrigen Fahrzeugkom-
binationen, beispielsweise verursacht durch
eine Gesamthöhe von bis zu 4 m (in einigen
Ländern bis zu 4,5 m), die in Kombination
mit der Beladung zu Schwerpunkthöhen
von 1,2 … 2,5 m führt. Somit neigen schwere
- Aufschieben des Anhängers, und
Umkippen aufgrund zu hoher Querbeschleu-
nigung.
Nutzfahrzeuge viel früher zum Umkippen als Daher muss eine Fahrdynamikregelung für Nutz-
Pkw – meistens schon bei quasi-stationären fahrzeuge neben den im Pkw bekannten Stabilisie-
Manövern. Typische Querbeschleunigungs- rungsfunktionen auch das Einknicken und Umkip-
werte, die zum Kippen führen, liegen im pen adressieren.
- keitstank).
Fahrzeugfreiheitsgrade: Wie bereits in ▶ Ab-
schn. 43.2.1 beschrieben erhöht sich die Anzahl
Die Referenzgierrate bestimmt das System mit-
hilfe eines vereinfachten physikalischen Modells,
das aus den ebenen Bewegungsgleichungen für eine
806 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
46
47
verhalten der Fahrzeugkombination beschreibt.
49
50
gradient).
Obwohl das Modell für eine Fahrzeugkombi-
nation mit einem Knickgelenk hergeleitet wurde,
entspricht es in seiner Struktur dem Einspurmodell
- den Fahrer nur schwer beherrschbar.
Im Falle des Untersteuerns schiebt das Fahr-
zeug über die Vorderräder nach außen zum
Kurvenrand (vergleichbar einem frontge-
für ein Einzelfahrzeug (vgl. [3]). Die Einflüsse des triebenen Pkw auf glattem Untergrund), was
angekoppelten Anhängers werden über den Eigen- insbesondere bei Fahrzeugen mit zwei Hinter-
51 lenkgradienten ausgedrückt. Die Modellstruktur achsen (Doppelachsaggregat) vorkommt.
bleibt auch bei Fahrzeugen mit mehr als zwei Ach-
52 sen erhalten. Hier erfolgt die Anpassung über den Zusätzlich bezieht das System den geschätzten Knick-
effektiven Radstand, der die Effekte z. B. eines Dop- winkel in die Bewertung der Fahrsituation mit ein.
pelachsaggregats beinhaltet (vgl. [5]). Abhängig von der bewerteten Fahrsituation
53 Eine deutliche Abweichung zwischen der Refe- und dem berechneten Soll-Giermoment werden die
renzgierrate und der gemessenen Gierrate führt zu Bremseingriffe an ausgewählten Rädern in geeigne-
54 einem Regelfehler, der vom eigentlichen Regler unter ter Weise umgesetzt. Bevorzugt werden dabei solche
Berücksichtigung der physikalischen Grenzen in ein Räder, bei denen der Bremskraftaufbau und der da-
55 korrigierendes Soll-Giermoment umgewandelt wird. durch bedingte Seitenkraftverlust ein gleichgerich-
Die physikalischen Grenzen limitieren die unter den tetes Giermoment erzeugen (siehe . Abb. 43.7).
aktuellen Reibwertbedingungen mögliche Gierrate Unterstützt wird der Stabilisierungseffekt durch
56 und werden über eine Reibwertschätzung ermittelt. gezieltes Verändern der ABS-Zielschlupfwerte, was
Da immer nur der ausgenutzte Reibwert geschätzt insbesondere im gebremsten Fahrzustand zum Tra-
57 werden kann und somit ein gewisser Sicherheitsauf- gen kommt.
schlag notwendig ist, führt dies in der Konsequenz Zusätzlich zu den radindividuellen Bremsein-
zu einer Begrenzung der Schwimmwinkelgeschwin- griffen am Motorwagen wird in bestimmten Situ-
58 digkeit auf ein vom Fahrer beherrschbares Maß. ationen auch der Anhänger gebremst. Hier sind
Außer vom Regelfehler hängt die Höhe des jedoch technisch bedingt keine radindividuellen
59 Soll-Giermoments auch von der aktuellen Fahr- Bremseingriffe möglich, d. h. der Anhänger wird
zeugkonfiguration (Radstand, Anzahl der Achsen, nur als Ganzes gebremst.
60 Betrieb mit oder ohne Anhänger usw.) und dem Beispielhaft sind in . Abb. 43.7 die Stabilisie-
Beladungszustand (Masse, Schwerpunktlage in rungseingriffe für eindeutiges Über- bzw. Untersteu-
43.3 • Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
807 43
.. Abb. 43.7 Auswirkung eines Bremseingriffs an einem Rad auf das Giermoment (links) und Eingriffsstrategie der
Fahrdynamikregelung (rechts)
ern dargestellt. Neben diesen eindeutigen Situatio- die Kippneigung. Beispiele sind das Überschwin-
nen gibt es noch weitere kritische Fahrzustände, in gen beim Lenkwinkelsprung oder das Übertragen
denen je nach Soll-Giermoment auch andere Räder von Wankenergie in Wechselkurven (Kreisverkehr,
bzw. Kombinationen von Rädern gebremst werden. Ausweichmanöver). Daher wird die ermittelte Kipp-
grenze abhängig von der jeweiligen Fahrsituation
43.3.2.2 Kippstabilisierung modifiziert. So erfolgt z. B. in schnellen dynami-
Aufgrund der meist hohen Schwerpunktlage eines schen Fahrsituationen (Ausweichmanöver usw.)
Nutzfahrzeugs erfolgt das Schleudern und Ein- eine Reduzierung der Kippgrenze mit dem Ziel ei-
knicken überwiegend auf niedrigen und mittleren nes frühzeitigeren Eingreifens.
Reibwerten. Auf hohen Reibwerten ist dagegen die Im Gegenzug dazu ist die Kippneigung bei sehr
Kippneigung ausgeprägter. Die Kippgrenze hängt langsamen Fahrmanövern (z. B. enge Serpentinen-
dabei nicht nur von der Höhe des Schwerpunkts ab, kehren bergauf) geringer, weshalb das System die
sondern auch vom Fahrwerk (Achsaufhängung, Sta- Kippgrenze dort zur Vermeidung von unnötigen
bilisatoren, Federbasis, Wankzentrum usw.) und der bzw. störenden Bremseingriffen anhebt.
Art der Beladung (feste oder bewegte Beladung). Basis für die ermittelte Kippgrenze sind be-
Eine näherungsweise Berechnung der Kippgrenze stimmte Annahmen bezüglich der Höhe des
ist in [2] dargestellt. Schwerpunkts und des Fahrverhaltens der Fahr-
Betrachtet man den eigentlichen Kippvorgang bei zeugkombination bei bekannter Achslastverteilung.
quasi-stationärer Kreisfahrt, so ist die grundsätzliche Damit deckt die Fahrdynamikregelung den größten
Ursache für das Kippen eine zu hohe Querbeschleu- Teil der üblichen Fahrzeugkombinationen ab. Um
nigung, die bei gegebenem Kurvenradius durch eine jedoch auch bei starken Abweichungen von diesen
zu große Fahrzeuggeschwindigkeit verursacht wird. Annahmen noch eine Stabilisierung zu gewährleis-
Die FDR nutzt diese physikalischen Zusam- ten (z. B. extrem hohe Schwerpunktlagen), detek-
menhänge, um die Kippgefahr zu mindern: Sobald tiert das System zusätzlich das Abheben kurvenin-
sich das Fahrzeug der Kippgrenze annähert, wird es nerer Räder. Dabei werden diese auf nicht plausibles
durch ein Reduzieren des Motormoments und ggf. Drehzahlverhalten hin überwacht. Gegebenenfalls
zusätzliches Abbremsen verzögert (vgl. . Abb. 43.8). wird dann die gesamte Fahrzeugkombination durch
Die Kippgrenze wird in der FDR abhängig von der geeignete Bremseingriffe stark verzögert.
Beladung des Fahrzeugs und der Lastverteilung er- Das Abheben kurveninnerer Räder am An-
mittelt, wobei der Beladungszustand des Fahrzeugs hänger wird mithilfe des Anhänger-EBS detektiert.
ständig identifiziert wird. Dazu erfolgt bei einer bestimmten Querbeschleu-
Dynamische Lenkmanöver führen oft zu stär- nigung eine leichte Testbremsung am Anhänger,
keren Wankbewegungen und verstärken somit die in Verbindung mit einem stark entlasteten Rad
808 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
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.. Abb. 43.8 Kurvenfahrt bei 60 km/h ohne/mit FDR auf hohem Reibwert mit voll beladener Lkw-Kombination [Quelle: Knorr-
55 Bremse]
zum Blockieren und somit zum Anlaufen des An- 43.3.3 Fahrdynamikregelung
56 hänger-ABS führt. Dies wird dem Zugfahrzeug über für Gliederzüge
die CAN-Kommunikationsleitung (SAE J 11992)
57 mitgeteilt. Für Kombinationen mit konventionell Der Begriff Gliederzug steht hier stellvertretend
gebremstem Anhänger (nur mit ABS ausgerüstet), für alle Fahrzeugkombinationen, die gegenüber
beschränkt sich die Erkennung des Radabhebens einem Sattelkraftfahrzeug zusätzliche Gelenke
58 auf kurveninnere Räder des Motorwagens. aufweisen. Dazu gehören u. a. die folgenden Kom-
59
60
-
binationen:
Klassischer Gliederzug: Lkw mit Drehscheme-
lanhänger, wobei der Drehschemelanhänger
üblicherweise zwei oder drei Achsen hat, in
nordischen Ländern auch 4 oder 5 Achsen.
43.3 • Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
809 43
43.3.4.1 Konventionelle
- Sattelauflieger, pneumatische
Eurokombi: Sattelzugmaschine mit Sattelauf- Betriebsbremse
lieger und zusätzlich angekoppeltem Zentrala- Bei einem konventionellen pneumatischen Brems-
- chsanhänger.
A-Double Kombination: Sattelzugmaschine
mit Sattelauflieger und daran angekoppeltem
Drehschemelanhänger (alternativ statt Dreh-
system wird zunächst auf der ABS/ASR-Systemar-
chitektur aufgesetzt (vgl. ▶ Abschn. 43.2.3). Damit
besteht zumindest an der Hinterachse die Mög-
lichkeit, unabhängig vom Fahrer einzelne Räder
schemelanhänger auch Dolly und Sattelauflie- zu bremsen. Die Fahrdynamikregelung erfordert
- ger).
B-Double Kombination: Sattelzugmaschine
mit zwei Sattelaufliegern (der erste ist als
sogenannter Dolly-Link mit Sattelplatte zur
zusätzlich autonome Bremseingriffe an der Vorder-
achse und am Anhänger. Der Systemaufbau einer
auf einer konventionellen pneumatischen Brems-
anlage basierenden Fahrdynamikregelung ist in
Aufnahme des zweiten Sattelaufliegers ausge- . Abb. 43.9 dargestellt.
führt).
Sensoren
Die erstgenannte Kombination wird hauptsächlich Ähnlich wie bei der Pkw-Fahrdynamikregelung
in Mittel- und Nordeuropa eingesetzt, während die werden auch im Nutzfahrzeug neben dem Lenk-
anderen Kombinationen z. B. in Skandinavien, Aus- radwinkelsensor Sensoren für die Gierrate und
tralien und Nordamerika zugelassen sind. Darüber die Querbeschleunigung eingesetzt (Position 7 in
hinaus existieren in Australien und einigen ande- . Abb. 43.9).
ren Staaten sogenannte Road-Trains, d. h. Fahr- Der Lenkradwinkel wird in der Regel unmit-
zeugkombinationen mit mehr als zwei Anhängern telbar unter dem Lenkrad in der Lenksäule gemes-
(teilweise bis 50 m Zuglänge und 150 t Zuggewicht). sen. Hier kommen einerseits multiturnfähige Ma-
Bedingt durch die zusätzlichen Gelenke erhält gnetfeldsensoren zum Einsatz, die mithilfe eines
man weitere Freiheitsgrade, die zu einem deutlich mechanischen Getriebes mehrere Umdrehungen
komplexeren Fahrverhalten führen. Dem trägt die eineindeutig sensieren können. Andererseits wer-
Fahrdynamikregelung dadurch Rechnung, dass Sta- den optische Sensoren eingesetzt, die nur eine Um-
bilisierungseingriffe zum einen früher eingeleitet, drehung messen können und daher die Messung
aber gleichzeitig vorsichtiger durchgeführt werden. mehrerer Umdrehungen über Software Funktionen
Hintergrund ist die Gefahr, dass ein zu kräftiger darstellen. Die Sensoren beinhalten üblicherweise
Stabilisierungseingriff die Fahrzeugkombination einen Mikrocontroller und kommunizieren mit
destabilisieren könnte, was unbedingt vermieden dem zentralen Steuergerät über einen CAN-Bus.
werden muss. Das ist entweder der allgemeine Fahrzeug-CAN
Um die Fahrsituationen richtig zu bewerten, (z. B. nach SAE J1939) oder ein separater Sensor-
müssen erweiterte Referenzmodelle auch die zusätz- CAN-Bus.
lichen Freiheitsgrade berücksichtigen. Erschwerend Zur Messung der Fahrzeugbewegung (Gier-
kommt hinzu, dass Anzahl und Art der Anhänger rate und Querbeschleunigung) werden aus dem
dem System nur selten bekannt sind und auch keine Pkw-Bereich abgeleitete Fahrdynamiksensoren
zusätzlichen Sensorinformationen erfasst werden. eingesetzt. Die Montage erfolgt in der Nähe des
Für eine robuste Abbildung des Anhängerverhal- Schwerpunkts am Fahrzeugrahmen. Somit müssen
tens wurde daher die Knickwinkelschätzung um die Sensoren speziell an die harten Umgebungsbe-
zusätzliche Schätzgrößen, z. B. für die Anhänger- dingungen im Nkw (Umwelteinflüsse, Vibrationen
Querbeschleunigung erweitert. etc.) angepasst sein.
Neben den eigentlichen Fahrdynamiksensoren
werden zusätzlich Drucksensoren zur Sensierung
810 Kapitel 43 • Stabilisierungsassistenzfunktionen im Nutzfahrzeug
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47 .. Abb. 43.9 Systemaufbau einer konventionellen pneumatischen Betriebsbremsanlage mit Fahrdynamikregelung (1 Dreh-
zahlsensor, 2 ABS-Ventil, 3 Wechselventil, 4 ASR-Ventil, 5 Steuergerät, 6 Anhängersteuerventil, 7 FDR-Sensoren, 8 Drucksenso-
ren, 9 Anhängeransteuerung)
48
des Fahrerbremsdrucks benötigt, da dieser im Falle 43.3.5 Sonderfunktionen für Nkw
49 eines Stabilisierungseingriffs von den Bremszylin-
dern abgekoppelt ist und deshalb mittels des Fahr- 43.3.5.1 Einfache Systeme
zur Kippstabilisierung
50 dynamiksystems elektronisch eingesteuert werden
muss (Position 8 in . Abb. 43.9). Außer der Fahrdynamikregelung existieren einfa-
chere Systeme, die nur das Umkippen des Fahrzeugs
51 Steller adressieren. Diese bauen auf ABS/ASR-Systemar-
Um die erweiterten Eingriffsmöglichkeiten der chitekturen auf und nutzen einen integrierten Quer-
52 Fahrdynamikregelung an der Vorderachse und für beschleunigungssensor zur Ermittlung der Kipp-
den Anhänger darzustellen, wird zunächst ein zu- tendenz. Neigt das Fahrzeug zum Umkippen, wird
sätzliches ASR-Ventil für den Vorderachsbremskreis mithilfe des ASR-Ventils und den ABS-Ventilen
53 eingesetzt (Position 4 in . Abb. 43.9). Aus diesem – wie beim ASR-Bremsregler – an der Hinterachse
Bremskreis wird dann mittels eines weiteren ABS- aktiv gebremst und somit die Fahrzeuggeschwindig-
54 Ventils der Anhänger angesteuert (Position 9 in keit verringert. Über ein weiteres ASR-Ventil, das
. Abb. 43.9). im Bremskreis zum Anhänger installiert ist, kann
55 43.3.4.2 Elektronisch gesteuerte
auch der Anhänger gebremst werden. Da das ASR-
Ventil ein reines Schaltventil ist, erfolgt die Ansteu-
Betriebsbremse (EBS) erung der Anhängerbremsen getaktet, so dass der
56 Da das EBS bereits alle technischen Voraussetzun- wirksame Bremsdruck im Anhänger aufgrund der
gen zum autonomen Bremsen einzelner Räder mit- Trägheit des Bremssystems beschränkt bleibt.
57 bringt, benötigt die Fahrdynamikregelung nur die Da keine weiteren Sensoren zur Ermittlung der
im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Fahr- Spurstabilität vorhanden sind und außerdem nur
dynamiksensoren. Diese kommunizieren ebenfalls die Hinterachse und der Anhänger aktiv gebremst
58 über einen CAN-Datenbus mit dem EBS-Zentral- werden, ist die erreichbare Systemperformanz im
steuergerät, in dem auch der Algorithmus der Fahr- Vergleich zur vollständigen FDR bereits grund-
59 dynamikregelung implementiert ist. Der errechnete sätzlich eingeschränkt. Darüber hinaus müssen die
Soll-Bremsdruck wird über den Bremsen CAN-Bus Bremseingriffe zur Vermeidung von systemindu-
60 an die EPM bzw. über den Anhänger CAN-Bus an zierten Instabilitäten entsprechend vorsichtig er-
den Anhänger gesendet. folgen.
43.4 • Ausblick
811 43
Weitere Ausbaustufen dieses Systems verwen- mit Sattelkraftfahrzeugen). Zurzeit laufen daher
den zusätzlich einen Lenkradwinkelsensor, um so intensive Weiterentwicklungen mit dem Ziel, die
insbesondere bei dynamischen Manövern die Sta- Fahrdynamikregelung auch für weitere Fahrzeug-
bilisierungseingriffe effizienter zu gestalten. typen, wie z. B. Allradfahrzeuge, zu applizieren.
Die hier beschriebenen einfachen Systeme kom- Durch die steigende Verbreitung der Fahrdyna-
men bisher vorwiegend außerhalb Europas zum mikregelung für Nutzfahrzeuge müssen die Algo-
Einsatz. rithmen zunehmend robuster sein und sich an das
Fahrzeugverhalten soweit wie möglich adaptieren.
43.3.5.2 Anhängersysteme Neben der bereits oben beschriebenen Anpassung
zur Kippstabilisierung an die Fahrzeugmasse und das Eigenlenkverhalten
Neben der im Zugfahrzeug installierten Fahrdyna- soll daher auch die Höhe des Fahrzeugschwerpunk-
mikregelung, die den gesamten Zug vom Zugfahr- tes im System berücksichtigt werden.
zeug aus stabilisiert, existiert für Anhänger ein eben- Darüber hinaus werden zukünftig weitere Steller
falls autonom agierendes Stabilisierungssystem zur mit in die Regelung einbezogen (z. B. aktive Len-
Vermeidung des Umkippens. Dieses TRSP (Trailer kungen ähnlich wie im Pkw), soweit diese im Nutz-
Roll-Stability Program) genannte System bremst den fahrzeug verfügbar sind.
Anhänger bei Kippgefahr autonom ab. Prinzipiell
funktioniert das TRSP ähnlich wie in ▶ Abschn. 43.3.2
beschrieben, allerdings stehen als Messgrößen neben 43.4.1 Fahrdynamikregelung
den Raddrehzahlen nur eine Lastinformation und die für Allradfahrzeuge
Querbeschleunigung zur Verfügung. Aufgrund der
auf den Anhänger beschränkten Bremseingriffe und Die Herausforderungen bei einer Fahrdynamikre-
der limitierten Sensorinformationen (nur Querbe-
schleunigung) ist die Performanz gegenüber der FDR
eingeschränkt, was jedoch über die lokal verfügbaren
Raddrehzahlen und damit verbundenen erweiterten
-
gelung für Allradfahrzeuge sind im Wesentlichen
die Ermittlung der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, die auf rutschigem Untergrund
aufgrund der Antriebsmomente an allen
Möglichkeiten zur Detektierung des Kippens zum Rädern durch weitere Sensoren (z. B. für die
Teil kompensiert wird. Längsbeschleunigung) gestützt werden muss
-
zeugkonfigurationen verfügbar:
Lkw und Busse in den Radformeln 4 × 2, 6 × 2,
6 × 4 und 8 × 4 im Solobetrieb und mit einem
oder mehreren Anhängern (Gliederzug, Euro-
Außerdem müssen die meistens vorhandenen Dif-
ferenzialsperren in geeigneter Weise in die Fahrdy-
namikeingriffe einbezogen werden.
Fahrerassistenz
auf Bahnführungs-
und Navigationsebene
Kapitel 44 Sichtverbesserungssysteme – 815
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn
Kapitel 45 Einparkassistenz – 841
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank
Schroven, Richard Auer, Michael Rohlfs, Gerald
Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters
Kapitel 49 Querführungsassistenz – 937
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel,
Falko Saust, Lars Kristian Klauske
Kapitel 50 Fahrstreifenwechselassistenz – 959
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer
Kapitel 51 Kreuzungsassistenz – 975
Mark Mages, Alexander Stoff, Felix Klanner
Kapitel 52 Stauassistenz und -automation – 995
Stefan Lüke, Oliver Fochler, Thomas
Schaller, Uwe Regensburger
Sichtverbesserungssysteme
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn
50
ortsunfälle waren 84 % der beteiligten Fußgänger
zum Zeitpunkt des Unfalls dunkel gekleidet. Nach
[2] war bei 70 % der untersuchten Unfälle die Stra-
ßenbeleuchtung in Betrieb und wurde subjektiv als
-
sichtbar:
Der Anteil der Unfälle bezogen auf die Ge-
samtanzahl aller Unfälle (Summe der Tag- und
Nachtunfälle) ist insbesondere an Kreuzungen,
51 gut beurteilt. Einmündungen und Kurven mit Werten zwi-
52
53
Die hier ausgeführten Auswertungen der nächt-
lichen Verkehrsunfälle basieren auf den Daten der
Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2005 [3],
die die Einzeldaten der amtlichen Straßenverkehrs-
- schen 15 % und 20 % relativ hoch.
Der Anteil der Nachtunfälle an der Gesamtan-
zahl aller Unfälle für eine konkrete Unfallstelle
ist in Kurven am höchsten (35 %). Aber auch
unfallstatistik der Jahre 1991 bis 2002 bewertete. an Steigungen und Gefällestrecken sowie an
Diese Daten gelten sinngemäß für die heutigen Ver- Kreuzungen und Einmündungen ist dieser
54 kehrssituationen. Dabei gibt es viele Aspekte, mit Anteil mit weit über 20 % ebenfalls sehr hoch.
denen die Ursache für Verkehrsunfälle untersucht
55
-
und charakterisiert werden kann. Einige davon sind:
Verteilung nach Bundesländern und nach
Ortslagen (Innerorts, Bundesstraßen, Auto-
Dies ist dadurch begründet, dass in den Dunkel-
stunden je nach Typ (z. B. Halogen- bzw. Xenon-
Lichtquelle), Lichtverteilung und korrekter Einstel-
--
56 bahnen), lung der Frontscheinwerfer eines Fahrzeuges die
Zeitliche Verteilungen der Verkehrsunfälle, Erkennbarkeit von Hindernissen links und rechts
57
58
-- Unfalltyp und Unfallart sowie Unfallumstände,
Unfallbeteiligte (Alter, Geschlecht) und
Hauptverursacher der Unfälle nach Art des
Verkehrsteilnehmers (Fußgänger, Pkw, Fahr-
neben der Fahrbahn nicht ausreichend ist. Dies
kann insbesondere an Konfliktzonen wie Kreuzun-
gen und Einmündungen gravierende Folgen haben.
An Steigungen und Gefällestrecken ist neben der be-
rad, Moped/Mofa…). sonderen Fahrbahntopologie, die an sich schon ein
59 erhöhtes Gefahrenpotentzal bietet, die stark redu-
Aus lichttechnischer Sicht interessant ist die Analyse zierte Sichtbarkeitsweite des Abblendlichtes vor dem
60 der Unfallereignisse nach der zeitlichen Verteilung. Fahrzeug die Hauptursache für die Sichteinschrän-
In . Abb. 44.1 werden die prozentualen Anteile kungen. Denn trotz Abblendlicht ist es in Kurven oft
44.1 • Häufigkeit von Verkehrsunfällen bei Nacht
817 44
-
.. Abb. 44.2 Nachtunfälle gegliedert nach Unfallstelle in den Jahren 1991, 2001 und 2002 [3]
schwierig, Objekte im weiteren Verlauf der Kurven- der Anteil der Nachtunfälle bei Schnee, Eis
führung rechtzeitig und sicher zu erkennen. und Regen an der gesamten Unfallanzahl ist
Analysiert man die allgemeinen Ursachen für
Nachtunfälle im Jahr 2002 genauer (s. . Abb. 44.3),
so fallen folgende Aspekte besonders auf: - mit mehr als 27 % relativ hoch.
der Nachtanteil der jeweiligen Unfallursache
ist bemerkenswert hoch. Dieser Anteil beträgt
818 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
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48
49 .. Abb. 44.3 Nachtunfälle gegliedert nach allgemeinen Unfallursachen im Jahr 2002 [3]
50 bei Schnee und Eis sowie bei Nebel und Wild Sprute untersuchte in seiner Dissertation [4] das
auf der Fahrbahn mehr als 55 %. Auch der Fernlichtnutzungsverhalten. Das Fahrzeug wurde
hohe Nachtanteil der anderen allgemeinen mit einem Kamerasystem für die Objekterkennung
51 Unfallursachen wie „anderes Tier auf der zur Registrierung, ob gerade mit Fernlicht gefahren
Fahrbahn“ oder „sonstiges Hindernis auf der werden könnte oder nicht, ausgestattet. Die Test-
52 Fahrbahn“ deutet auf ein sehr spätes Erkennen strecke wurde durch die Versuchsteilnehmer zwei
von Objekten auf der Fahrbahn in den dunk- Mal befahren. Beim ersten Mal war ihnen nicht
len Nachtstunden hin. bekannt, dass während der Fahrt das Fernlicht-
53 nutzungsverhalten untersucht wurde (Blind-Test).
Generell sind die geringe Leuchtdichte der Fahr- Beim zweiten Mal wurden sie gebeten, so oft wie
54 bahn in den nächtlichen Stunden, der niedrige möglich das Fernlicht zu verwenden (Non-Blind-
Kontrast zwischen dem Objekt und der Umgebung Test). In der . Abb. 44.4. ist der prozentuale Fern-
55 sowie die damit verbundene kleinere Auffälligkeit lichtnutzungsgrad, aufgeteilt nach Fahrstrecke und
der Objekte im Verkehrsraum zum guten Teil auf nach Fahrzeit, sowie das bestmögliche Potential
die geringe Sichtbarkeitsweite und die begrenzte dargestellt. Nach der Fahrstrecke gerechnet steigt
56 Breitenausleuchtung des Abblendlichts zurückzu- der Wert des Blind-Tests von 38 % auf 63 % bei der
führen, auf die später noch detaillierter eingegangen bewussten Fahrweise.
57 werden wird. Die in den letzten Jahrzehnten konzi- Diese Erkenntnis ist richtungsweisend für die
pierte manuelle Benutzung des Fernlichts ermög- automobile Lichttechnik, dass eine Sichtbarkeits-
licht eine wesentlich größere Sichtbarkeitsweite. Sie verbesserung und dadurch eine starke Reduzie-
58 bringt aber auch die größere Gefahr der Blendung rung der Verkehrsunfälle nur durch eine erhöhte
für die anderen Teilnehmer im Verkehrsraum (Ge- Fernlichtnutzung möglich ist, entweder durch eine
59 genverkehr, Fußgänger, Verkehrsteilnehmer im vo- kameragesteuerte bestmögliche zeitweise und an
rausfahrenden Auto), so dass diese Möglichkeit der die Verkehrssituation angepasste Fernlichtfunktion
60 manuellen Fernlichtbenutzung bis heute nicht sehr (Fernlichtassistent, s. . Abb. 44.5) oder durch eine
oft in Anspruch genommen wird. dauerhafte Fernlichtfunktion, wobei die einzelnen
44.2 • Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzen
819 44
mationen bei Nacht, wodurch das Unfallrisiko er- Die Aspekte auf der Seite des „Gesehenwerdens“
höht wird. Der Leuchtdichtebereich im nächtlichen
Straßenverkehr liegt in der Regel zwischen 0,01 cd/
m² und 10 cd/m² und wird demzufolge dem meso- - --
werden durch folgende Komponenten beschrieben:
die optischen Eigenschaften eines Objektes:
Form, Größe, Farbe,
-
pischen Sehen zugeordnet. Reflexionsgrad sowie
Nach [5] besteht ein visueller Prozess aus drei Objektdarbietungszeit und relative Lage im
Schritten: dem Sehen, dem Wahrnehmen und
dem Erkennen. Das ins Auge einfallende Licht
durchdringt die Hornhaut, die Augenlinse mit -- Gesichtsfeld;
die Eigenschaften des Objektumfeldes:
Kontrast zwischen Objekt und der unmit-
-
der Pupille und trifft schließlich auf die Netzhaut telbaren Umgebung,
mit ihrem strukturierten Aufbau und den signal- die Beleuchtung durch Straßenleuchten und
-
verarbeitenden Nervenzellen. Alle Faktoren auf Autoscheinwerfer und
diesem Weg bis dahin beeinflussen das visuelle Sehstörungen wie Blendlichtquellen und
Vermögen sehr stark. Nachdem die optische In- Werbeleuchten in der Stadt bei Nacht.
formation auf der sensorischen Ebene detektiert
und zum Gehirn weitergeleitet worden ist (z. B. Se- Die Beobachterseite wird augenphysiologisch durch
hen eines Objektes auf der Fahrbahn), ermöglicht
das Auffassungs- und Verarbeitungsvermögen auf
der kognitiven Ebene das Erkennen des Objektes.
Erst dieser Prozess ermöglicht den Übergang
-
folgende Prozesse und Aspekte beschrieben:
den Hell- bzw. Dunkeladaptationsvorgang:
Beim Übergang von einer hellen zu einer
dunklen Umgebung oder umgekehrt muss
820 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
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45
.. Abb. 44.6 Zur Definition des Kontrastes nach [6]
46
sich das Auge durch verschiedene Prozesse der .. Abb. 44.7 Zusammenhang zwischen der Unterschieds-
47 jeweiligen Helligkeit anpassen. Dieser Vorgang empfindlichkeit und der Adaptationsleuchtdichte [6]
0,3
0,1
0,05
y = 0,280x + 3E-06
0 R2 = 0,54
0 2 4 6 8 10 12
.. Abb. 44.8 Zusammenhang zwischen der Blendbeleuchtungsstärke und minimaler gerade erkennbarer Leuchtdichtediffe-
renz nach [4]
ändert sich die minimal gerade noch erkennbare chen. Das setzt die Verwendung von Licht-
Leuchtdichtedifferenz zwischen der Leuchtdichte quellen mit hohen Lichtströmen, aber auch die
eines Testzeichens (Objekt) und der Umgebung
dieses Zeichens (Umfeld).
. Abbildung 44.8 besagt, dass sich die mini-
mal gerade noch erkennbare Leuchtdichtedifferenz
- Optimierung der Scheinwerferoptiken voraus.
Anforderung 2:
Minimierung bzw. Eliminierung von Blendung
für den Gegenverkehr und den vorausfahren-
zwischen der Leuchtdichte des Testzeichens und den Verkehr. Die Lichtstärkeverteilung der
der Zeichenumgebung stark verringert, wenn die Scheinwerfer sowie das gesamte Betriebssys-
Blendbeleuchtungsstärke auf dem Auge reduziert tem der Scheinwerfer, z. B. die dynamische
bzw. eliminiert wird. Leuchtweitenregelung sollen so ausgelegt
Aus den oben dargestellten Aspekten ergeben werden, dass die Beleuchtungsstärke am Auge
sich zur Sichtverbesserung der Autofahrer folgende des Gegenverkehrs und des vorausfahrenden
lichttechnische und fahrzeugtechnische Anforde- Verkehrs unter keinem Umstand den in den
-
rungen:
Anforderung 1:
Realisierung einer guten, homogenen Licht-
verteilung durch die Scheinwerfer, um die
amtlichen Regulationen maximal zulässigen
Wert überschreitet.
-
41 möglichen. Diese Systeme werde in ▶ Abschn. 44.3 nologie,
näher beschrieben. die Entwicklung der adaptiven Lichtverteilung
42
43
Die überwiegende Mehrheit der Verkehrsteil-
nehmer und Objekte im nächtlichen Straßenverkehr
weisen einen geringen Reflexionsgrad der Kleidun-
gen zwischen 5 % und 10 % in dem für den Men-
- und
die Entwicklung der assistierenden Lichtvertei-
lung.
48 -
Grundgedanken dabei sind:
die meisten Objekte, die einen geringen Re-
flexionsgrad im sichtbaren Bereich aufweisen,
besitzen im Infrarotbereich einen relativ hohen
haben Scheinwerfer auf Basis von Halogenglüh-
lampen einen Marktanteil von etwa 90 %. Da jeder
Halogenglühlampen-Scheinwerfer eine elektrische
Leistung von etwa 62 W (55 W für die Lampe und
49 optischen Reflexionsgrad. Somit wird ein 7 W für die Vorschaltelektronik) verbraucht, stellen
hoher infraroter Kontrast sowie eine sichere die Verbesserung der Halogenglühlampen oder ein
50 Auswertung der Signale durch im Infrarotbe- Ersatz durch neue energieeffizientere aber dennoch
56
Auf diesen Grundgedanken basiert die Entwick-
lung der Nachtsichtsysteme, die den Gegenstand
des ▶ Abschn. 44.4 bilden. - gehend ausgeschlossen werden.
Die LED-Bauelemente als Halbleiter-Licht-
quellen können sehr schnell und beliebig oft
gedimmt und ausgeschaltet werden. Diese
57 positiven Eigenschaften ermöglichen die Aus-
44.3 Derzeitige und zukünftige legung von intelligenten und adaptiven Schein-
Scheinwerfersysteme werfern, die je nach Verkehrssituation ihre
58 zur Sichtverbesserung Lichtverteilung auf der Fahrbahn innerhalb
59
60
Die Entwicklung derzeitiger und zukünftiger
Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung wird
durch die drei folgenden technologischen Entwick-
- von Millisekunden verändern können.
Die LED-Bauelemente sind relativ klein und
kompakt. Somit können für unterschiedliche
Lichtfunktionen (z. B. Fernlicht, Abblendlicht,
lungen charakterisiert und ermöglicht: Tagfahrlicht, Kurvenlicht, Abbiegelicht) unter-
44.3 • Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
823 44
schiedliche Baugruppen in kompakter Bauweise fer mit einem optischen Wirkungsgrad von 50 %
und design-orientiert konstruiert werden. und bei einer LED-Lichtausbeute von derzeit 65
lm/W durch eine elektrische Leistung des LED-
Die schnelle Entwicklung der LED-Technologie Moduls von 13–14 W realisiert werden.
ermöglicht den Scheinwerfer-Lieferanten, für die
Autoreihen der oberen Klassen die bisher dort do- . Tabelle 44.1 zeigt die wichtigsten Eigenschaften
minierenden Xenon-Scheinwerfer durch die LED- der drei Lichtquellen für KfZ-Frontscheinwerfer
Scheinwerfer zu ersetzen. Mit den gesammelten Er- im Überblick [6].
fahrungen sowie mit der optimierten Modularität Die Nutzung von Xenonentladungslampen für
dringen die LED-Scheinwerfer derzeit und in den Frontscheinwerfer zu Beginn der 90er Jahre des
nächsten Jahren in die Baureihen der Mittel-und letzten Jahrhunderts wird aus heutiger Sicht als
Kleinautos. Dabei können zwei Entwicklungsten- ein wichtiger Meilenstein betrachtet. Seit diesem
denzen deutlich beobachtet werden: Zeitpunkt werden die Vor- und Nachteile der „Xe-
a) Entwicklung von LED-Vollscheinwerfern, die nonscheinwerfer“ gegenüber den „Halogenschein-
komplette Lichtfunktionen wie Fernlicht, Ab- werfern“ intensiv untersucht. Die wesentlichen
blendlicht, Tagfahrlicht, Positionslicht, Blink- Vorteile der Scheinwerfer mit Xenonentladungs-
licht, Abbiegelicht und Markierungslicht auf lampen sind die aufgrund des höheren Lichtstroms
der Basis der LED-Technologie enthalten. Das (vgl. . Tab. 44.1) größere Sichtbarkeitsweite entlang
LED-Abblendlicht-Scheinwerfersystem erreicht der Fahrbahn (fovealer Blickwinkel unter 0°) so-
nahezu den gleichen Lichtstrom eines 35 W-Xe- wie, unter einem Blickwinkel von 20° seitlich zur
nonscheinwerfers und weist etwa 950 lm auf. Fahrbahn, die breitere seitliche Lichtverteilung und
b) Entwicklung von energiesparsamen LED-Ab- die höhere Fahrbahnleuchtdichte. Als ein mögli-
blendlicht-Scheinwerfern. Bisherige Halogen- cher Nachteil gegenüber den Scheinwerfern mit
glühlampen-Scheinwerfer haben bei einem Halogenglühlampen wird die Blendungsgefahr
Lichtstrom der 55 W-Halogenglühlampe von analysiert. In der . Tab. 44.2 werden Ergebnisse
1500 lm sowie bei einem optischen Wirkungs- unterschiedlicher Forschungsarbeiten diesbezüg-
grad der Optiken von 30 % einen Scheinwerfer- lich dargestellt.
Lichtstrom von etwa 450 lm. Dieser Lichtstrom Obwohl die Testbedingungen in den zwei For-
kann mit einem LED-Abblendlicht-Scheinwer- schungsarbeiten ([7] im Jahr 2003 und [8] im Jahr
824 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
2007) unterschiedlich und die Ergebnisse deshalb zeuges mit einer durchschnittlichen Rate von
41 nicht unbedingt vergleichbar sind, so wird doch –5,8 m/s².
Folgendes deutlich: Die Sichtbarkeitsweite der Xe-
42 nonscheinwerfer ist sowohl entlang der Fahrbahn In den Berechnungen über diesen Seh- und Brems-
als auch unter 20° seitlich zur Fahrbahn zwischen prozess in [7] wurde der Zusammenhang zwischen
21 % und 40 % besser als die Sichtbarkeitsweite der dem benötigten Bremsweg und der Fahrgeschwin-
43 Halogenscheinwerfer. Ergebnisse aus Testfahrten digkeit bei der Objekterkennung ermittelt, der in
unter Bedingungen des alltäglichen Verkehrs zeig- . Abb. 44.9 dargestellt wird. Demnach erlaubt eine
44 ten auch, dass die Testpersonen den Verkehrsraum maximale Sichtbarkeitsweite von 85 m mit Xenon-
während der Fahrt in Autos mit Xenonschein- scheinwerfern eine maximale Fahrgeschwindigkeit
45 werfern besser erfassen. Darüber hinaus ist das von etwa 90 km/h in der Nacht. Moderne Halo-
allgemein empfundene Sicherheitsgefühl der Test- genscheinwerfer mit einer Sichtbarkeitsweite um
personen während der Fahrt größer, als dies in bau- 65 m erlauben eine Fahrgeschwindigkeit von etwa
46 gleichen Fahrzeugen mit Halogenscheinwerfern zu 75 km/h.
beobachten war (vgl. [8]).
47 Jüngste detaillierte Untersuchungen können die Daran kann man erkennen, dass eine Sichtverbesse-
Hypothese nicht bestätigen, dass von Xenonschein- rung allein auf der Basis der Lichtquellen die kom-
werfern generell eine größere psychologische Blend- plexen Probleme der allgemeinen Fahraufgabe in
48 wirkung ausgeht, als dies für Halogenscheinwerfer der Nacht nicht lösen kann. Die Betrachtung dieser
der Fall ist [9]. Die psychologische Blendung ist komplexen Probleme sowie die Analyse der Unfall-
49 demnach keine Funktion der Lampenspektren und ursachen in ▶ Abschn. 44.1 führen zu folgendem Er-
-farben, sondern hängt von der konkreten Konfigu- gebnis: moderne intelligente Scheinwerfersysteme
50
51
rierung der jeweiligen Scheinwerferoptik ab.
44.3.2 Sichtverbesserungssysteme
-
sollten
adaptiv zur Fahrbahntopologie (wie Steigung
und Gefälle) eine maximale Sichtbarkeitsweite
weit über die Dimension der Sichtbarkeits-
auf der Basis der adaptiven weite heutiger Abblendlichtfunktionen ermög-
52
-
Lichtverteilung lichen.
eine Lichtverteilung adaptiv zur Verkehrssi-
Im ▶ Abschn. 44.3.1 wird die Sichtbarkeitsweite tuation (Fahrgeschwindigkeit, relativer Lage
53 derzeitiger Abblendlichtsysteme dargestellt, deren zum Gegenverkehr/vorausfahrendem Verkehr,
maximaler Wert bis zu 85 m betragen kann. Gene- Witterungsbedingungen wie Nebel und Regen)
54 rell besteht der visuelle Vorgang zur Einleitung eines bereitstellen. Diese Lichtverteilung sollte eine
Bremsvorganges bei Erkennen von Gefahren auf der bestmögliche Sichtbedingung entlang der
55
-
Fahrbahn aus folgenden Schritten:
aus einem Sehprozess und einem nachfol-
Fahrbahn und seitlich von ihr mit maximaler
Sichtbarkeitsweite und minimaler Sehbelas-
56
genden Fixationsvorgang, um das Objekt in
den fovealen Bereich (Bereich des schärfsten
- tung anbieten.
adaptiv zum Verkehrsraum im Fahrzeugvor-
57
- Sehens) bringen zu können.
aus einer Basisreaktionszeit, in der die Objekt-
situation evaluiert wird und die Entscheidung
getroffen werden muss, wie die Reaktion
feld (Kurven, Einmündungen, Abbiegestellen,
Stadtraum) eine unterschiedlich breite Licht-
verteilung liefern.
-
58 aussehen soll. Seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts be-
aus einem Bremsvorgang mit mehreren Stufen. schäftigen sich Forschungsarbeiten mit der Konzep-
59 Der Fuß muss zunächst zum Pedal geführt tion und der Realisierung von adaptiven Systemen
werden und danach wird das Bremspedal der Frontbeleuchtung für Kraftfahrzeuge. Im Feb-
60 nach unten geführt bis die Bremse greift. Erst ruar 2007 führten diese Bemühungen zu der ECE-
danach beginnt die Verlangsamung des Fahr- Regelung 123 [12]. Die so genannten AFS-Schein-
44.3 • Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
825 44
werfer (Advanced Frontlighting System) beinhalten zontale Lichtverteilung, eine definierte vertikale Hell-
allgemein die Lichtfunktionen wie Stadtlicht, Land- Dunkel-Kante, ebenso wie eine konzentrierte spotar-
straßenlicht, Schlechtwetterlicht, Autobahnlicht, tige Lichtverteilung unterhalb dem Schnittpunkt von
Fernlicht und Kurvenlicht, das wiederum in das horizontaler und vertikalen Achse (H-V-Punkt).
dynamische und das statische Kurvenlicht unterteilt
wird. Solche adaptiven Lichtfunktionen werden in B. Stadtlicht
den folgenden Abschnitten lichttechnisch detaillier- Die Verteilung vom Stadtlicht (s. . Abb. 44.10) ist
ter dargestellt. . Abbildung 44.10 zeigt eine Auswahl zur Seite breit und symmetrisch und erleichtert bei
von vier verschiedenen Lichtverteilungen. einer Geschwindigkeit unterhalb von 50 km/h die
Objekterkennung im seitlichen Bereich der Fahr-
A. Abblendlicht/Landstraßenlicht bahn und an Kreuzungen, wobei die Sichtbarkeits-
Das Landstraßenlicht basiert auf dem heutigen Ab- weite längs der Fahrbahn verkürzt wird.
blendlicht. Die Lichtverteilung ist asymmetrisch
und beleuchtet bei Überlandfahrten insbesondere C. Schlechtwetterlicht
die eigene Fahrbahn. . Abbildung 44.11 zeigt die Gemäß ECE-Regelung 123 beinhaltet die Ausfüh-
Lichtverteilung eines Landstraßenlichts mit Hoch-
leistungs-LEDs auf dem 25 m ECE-Messschirm [14].
Zu erkennen sind eine mit über 40° relativ breite hori- -
rung des Schlechtwetterlichts:
die Reduzierung der Lichtleistung im unmit-
telbaren Vorfeldbereich des Fahrzeuges und
826 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
41
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.. Abb. 44.11 Verteilung eines Landstraßenlichts auf einer Leinwand in 25 m vom Scheinwerfer [14].
46
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51
52 .. Abb. 44.12 Verteilung eines Landstraßenlichts auf der Fahrbahn aus der Vogelperspektive [14].
E. Autobahnlicht
Mit dem Autobahnlicht kann die Sichtbarkeitsweite
auf der Autobahn von bisher etwa 85 m mit dem
konventionellen Abblendlicht auf etwa 120 m erhöht
-
werden. Generell gibt es drei Möglichkeiten [14]:
Anheben der Hell-Dunkel-Kante in vertikaler
-
(Quelle: Valeo/Frankreich)
aber relativ hoch.
Zuschaltung einer zusätzlichen spotartigen
Lichteinheit. ein mit Hilfe eines hochauflösenden mechatroni-
schen Aktors (z. B. Schrittmotorsystem) rotierbarer
In . Abb. 44.16 wird die Lichtverteilung eines Auto- Freiform-Zylinder, auf dessen Mantel verschiedene
bahnlichts auf der Basis der LED-Technologie nach Kurvenformen zur Realisierung der verschiedenen
[14] dargestellt. AFS-Lichtverteilungen realisiert sind. Je nach Ver-
Auf der Basis von Halogenglühlampen und kehrssituation wird die entsprechende Kurvenform
Xenonentladungslampen werden AFS-Schein- in den optischen Strahlengang eingedreht.
werfer bereits seit 2006 im Markt vertrieben. In Generell basiert die Steuerung der AFS-Systeme
. Abb. 44.17 wird die technische Realisierung ver- auf der Auswertung der Signale, die verschiedene
deutlicht [13]. Sensorsysteme (LIDAR, RADAR, Nachtsichtsys-
Die Lichtquelle (Halogenglühlampe oder Xe- teme) vom Verkehrsraum kontinuierlich aufneh-
nonlampe) befindet sich im Fokuspunkt eines El- men. Hinzu kommen weitere Signale wie Naviga-
lipsoid-Spiegelreflektors, so dass das Lampenbild in tionsdaten, Lenkradsensorsignale usw. Nach der
den 2. Fokuspunkt des Reflektors abgebildet wird. Signalauswertung werden Steuerbefehle für die
In der Nähe dieses 2. Fokuspunktes befindet sich AFS-Steuereinheit generiert, die wiederum die ent-
828 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
41
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46 .. Abb. 44.15 Sequenzielle Zuschaltung von drei LED-Baugruppen in der Kurve [15].
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.. Abb. 44.16 Lichtverteilung eines Autobahnlichts auf Basis der LED-Technologie [14].
53
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59
.. Abb. 44.17 Der VarioX Scheinwerfer mit AFS-Funktion (Quelle: Hella)
60
44.3 • Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
829 44
.. Abb. 44.18 Struktur der AFS-Steuer-
systeme nach [16].
44.3.3. Sichtverbesserungssysteme
auf der Basis der
- erkennen.
Realisierung neuartiger Scheinwerfersysteme,
die dynamisch ansteuerbar sind, um zeitlich
und örtlich adaptierbare Lichtverteilungen
assistierenden Lichtverteilung verwirklichen zu können.
Alle in ▶ Abschn. 44.3.2 dargestellten AFS-Funk- Sind diese zwei Voraussetzungen geschaffen, kön-
tionen sind Ergebnisse langjähriger Forschungs- nen mit Scheinwerfern Lichtverteilungen realisiert
und Entwicklungsarbeit und bedeuten gegenüber
dem heutigen Abblendlicht große Fortschritte.
Dennoch sind sie nur für Verkehrssituationen mit
allgemeinem Charakter wie Kurvenfahrt, Stadt-
-
werden, die
die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf mittel-
bare und unmittelbare Gefahrenquellen (z. B.
ein Tier auf der Fahrbahn) lenken. Das ist das
fahrt oder Autobahnfahrt ausgelegt. Für konkrete
Fahrtsituationen, die sich zeitlich schnell verän-
dern, werden Scheinwerfersysteme benötigt, die
bei diesen Situationen stets optimale Beleuch-
- Prinzip des Markierungslichts;
je nach Abstand des eigenen Fahrzeugs zum
vorausfahrenden und entgegenkommenden
Verkehr die Hell-Dunkel-Kante variabel
tungsbedingungen ermöglichen. Für diesen Zweck verändern. So kann stets maximale Sichtbar-
müssen zwei Voraussetzungen geschaffen und er- keitsweite für den eigenen Fahrzeugführer
--
füllt werden:
Realisierung eines Netzwerkes aus Sensoren,
das
und minimale Blendung für andere Verkehrs-
teilnehmer erreicht werden. Dieser Gedanke
bildet die Grundlage des technischen Prinzips
-
den Verkehrsraum mit ausreichender zeitli-
cher und räumlicher Auflösung erfasst,
die Objekte im Verkehrsraum schnell detek- - „Variable Leuchtweitenregelung“;
im Prinzip das Fernlicht sind, in dessen Licht-
kegel ortsgenau an denjenigen Stellen Licht-
-
tiert und klassifiziert, stärke ausgeschaltet oder weitgehend reduziert
die Winkelpositionen der Objekte in wird, so dass die dort fahrenden Fahrzeuge
horizontaler und vertikaler Richtung und nicht geblendet werden. Auf diese Weise
letztendlich die Abstände der Objekte zum funktioniert das Prinzip des „blendungsfreien
eigenen Fahrzeug ermittelt. Dabei spielt die Fernlichts“.
Objektklassifizierung eine große Rolle, um
Straßenleuchten von Leitpfosten, Auto- Im Folgenden werden diese drei Prinzipien genauer
scheinwerfer von Verkehrsschildern oder erläutert.
Ampeln unterscheiden zu können. Die
Signale der verschiedenen Sensoren werden
830 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
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A. Markierungslicht kehrssituation maximal möglichen Sichtbarkeits-
47 Das Markierungslicht besteht aus einem Kame- weite. Je nach Abstand des eigenen Fahrzeugs zum
rasystem, das die optischen Informationen über umgebenden Verkehr wird die Hell-Dunkel-Kante
das Objekt und die winkelabhängigen Positionen vertikal variiert, so dass keine Blendung verursacht
48 des Objektes erfasst und diese Informationen zum werden kann. Dieses Prinzip wird in . Abb. 44.20
Steuerungssystem weiterleitet. Als Folge wird ein auf den Gegenverkehr nach [13] angewandt. Ist kein
49 zusätzlicher Spotlicht-Scheinwerfer eingeschaltet Gegenverkehr auf der Fahrbahn durch das Kame-
und streifend zum Fahrbahnbelag zum Objekt hin rasystem detektiert worden, wird das Fernlicht
50 ausgerichtet. Die Aufmerksamkeit des Fahrzeugfüh- eingestellt, um die maximal mögliche Sichtbar-
rers wird auf diese Weise zum Objekt gelenkt, um keitsweite zu erreichen. Sobald Gegenverkehr im
entsprechende Maßnahmen wie z. B. ein Ausweich- Verkehrsraum erfasst wird, wird die Hell-Dunkel-
51 manöver schnell und sicher einleiten zu können (s. Kante dementsprechend abgesenkt. Kommt der
. Abb. 44.19). Gegenverkehr sehr nah an das eigene Fahrzeug,
52 Das Markierungslicht auf der Basis der LED- erreicht die Hell-Dunkel-Kante den Zustand des
Technologie wurde seit 2011 für die oberen Fahr- Abblendlichts [16].
zeugklassen eingeführt. In der Untersuchung von
53 Schneider wurde ein Reaktionszeit-Vorteil vom C. Das blendungsfreie Fernlicht
Markierungslicht gegenüber dem Fernlicht von Das Scheinwerfersystem befindet sich im Fernlicht-
54 etwa 0,42 s ermittelt [18,19]. modus. Das Kamerasystem des eigenen Fahrzeugs
In einem dynamischen Fahrversuch in der- erfasst in Echtzeit den Verkehrsraum und berech-
55 selben Studie mit Fußgängern am Straßenrand an net die Winkelpositionen wie auch die Abstände
unterschiedlichen Standpositionen wurden die aller dort befindlichen Fahrzeuge. Ortsgenau wird
Sichtbarkeitsweiten von dem neuen LED-Markie- dann die Lichtstärke reduziert oder vollständig aus-
56 rungslicht und des Xenon-Scheinwerfer-Abblend- geschaltet. Der Vorteil gegenüber dem Prinzip der
lichts verglichen, wobei als Resultat ein Sichtbar- adaptiven Hell-Dunkel-Kante ist, dass selbst im Fall
57 keitsweitenvergrößerung von 34 m gegenüber dem des Vorhandenseins anderer Verkehrsteilnehmer
Abblendlicht herausgefunden wurde. Das entspricht im Verkehrsraum sehr häufig die absolut maximale
einem Zeitvorsprung von 1,2 s bei einer Fahrge- Sichtbarkeitsweite erreicht werden kann. Dieser
58 schwindigkeit von 100 km/h. Vergleich wird in . Abb. 44.21 dargestellt.
Das blendfreie Fernlicht auf der LED-Basis,
59 B Variable Leuchtweitenregelung wie es in der unteren Grafik der . Abb. 44.21 ver-
(adaptive Hell-Dunkel-Kante) anschaulicht wird, setzt sich im technologischen
60 Das Ziel der Realisierung dieses technischen Prin- Stadium um die Jahre 2013–2016 im Abblendlicht-
zips ist die Erzielung der bei der konkreten Ver- Bereich (unterhalb der Hell-Dunkel-Kante) aus
44.3 • Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
831 44
.. Abb. 44.20 Variation der Lichtverteilung auf der Fahrbahn für den Gegenverkehr durch das Prinzip der variablen Hell-
Dunkel-Kante nach [13].
einem normalen LED-Abblendlicht und im Fern- so viel Sichtbarkeitsweite wie ein leistungsstarkes
lichtbereich aus vertikalen LED-Lichtsegmenten Xenonlampen-Fernlicht aufweisen. In der Disser-
mit begrenzter horizontaler Winkelauflösung zu- tation [20] hat Totzauer die Blendwirkung eines
sammen, die je nach Verkehrssituationen ein-und LED-Abblendlichts mit einem LED-blendfreien
ausgeschaltet oder gedimmt werden. Ab etwa 2016 Fernlicht und mit einem normalen Fernlicht ver-
wird der ganze Scheinwerfer für Fernlicht-und glichen. Die Ergebnisse werden in der . Abb. 44.22
Abblendlichtfunktionen aus LED-Arrays mit etwa veranschaulicht. Während das LED-Abblendlicht
mehr als 100 Lichtpunkten (LED-Pixel) sowie aus und das blendfreie Fernlicht als „gleicht gut“ be-
passenden Optiksystemen (Mikrolinsen-Optiken) wertet wurden, hat das normale Fernlicht gegenüber
bestehen, mit dem Vorteil, dass somit der ganze dem Abblendlicht für alle Testpersonen eine „sehr
Verkehrsraum örtlich besser aufgelöst werden kann. viel schlechtere Blendwirkung“.
Auf diese Weise können einzelne Fahrzeuge im Ver- In [21] wurde über einen Vergleich der Sicht-
kehrsraum selbst im dichten Verkehr ausgeblendet barkeitsweiten von unterschiedlichen Lichtfunkti-
und die Lücken dazwischen für eine bessere Sicht- onen berichtet. An diesem statischen Vergleich auf
barkeit genutzt werden. einer Straße haben 45 Teilnehmer teilgenommen,
Im Prinzip muss das blendungsfreie Fernlicht aus dem sich die Ergebnisse in der . Tab. 44.4 er-
idealerweise die gleiche Blendwirkung wie das geben:
korrekt eingestellte Abblendlicht und möglichst
832 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
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46
.. Abb. 44.22 Blendwirkung von einem LED-Abblendlicht (als Referenz) mit einem LED-blendfreien Fernlicht und mit einem
normalen Fernlicht [20]
47
48 .. Tab. 44.4 Sichtbarkeitsweiten unterschiedlicher Lichtfunktionen nach [21]
51
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die 44.4 Nachtsichtsysteme
52 Sichtverbesserungssysteme heute und in Zukunft
53 --
auf der Grundlage
der Lichtquellenentwicklung,
der mechatronischen Ausführung der Schein-
werfersysteme im Fall der Halogenglühlampen
Nachtsichtsysteme sind kamerabasierte Sichtverbes-
serungssysteme, die bei Dunkelheit mehr Informa-
tionen erfassen können als das menschliche Auge.
Sie sind bereits lange Zeit in militärischen Anwen-
54
55 - und Xenonlampen,
der Optimierung der LED-Lichtquellen, der
Optik und des thermischen Managements für
dungen im Einsatz und halten seit dem Jahre 2000
mit der Einführung des Cadillac DeVille als erstes
Personenkraftfahrzeug mit Nachtsichtsystem weiter
- die LED-Module,
der schnell und sicheren Informationsverar-
Einzug in die Automobilindustrie. Dieser Abschnitt
gibt einen Überblick über verschiedene Sensoren,
-
56 beitung an Bord sowie Anzeigen und Bildverarbeitungsmethoden für
der intelligenten Nutzbarmachung und Fusion Nachtsichtsysteme.
57 der verfügbaren Fahrzeug-Sensorsysteme Die Sensorik erfasst eine bildhafte Information,
basieren. die dem menschlichen Auge bei Dunkelheit verbor-
gen bleibt und leitet sie an eine Bildverarbeitungs-
58 Die letztgenannten Systeme werden in ▶ Ab- einheit weiter. Diese wertet das Bild in einfachen
schn. 44.4 beschrieben. Systemen optisch durch Reduzierung des Rauschens,
59 Anhebung des Kontrastes und Schärfung der Kanten
auf. Komplexere Systeme erkennen Objekte im Bild
60 und führen eine teilweise Situationsanalyse durch.
Der Bildschirm transformiert das verarbeitete Signal
44.4 • Nachtsichtsysteme
833 44
.. Abb. 44.23 Ausgegebenes Bild eines
Nahinfrarotsystems [18]
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48 selbst aus schlecht ausgeleuchteten Bereichen In- die Fahrzeuge direkt in den Erfassungsbereich der
formationen erfassen können, haben sie nur eine Kamera strahlen. Die Dynamik heutiger Kameras
49 relativ geringe Dynamik von etwa 60 dB. Dadurch reicht noch nicht aus, um eine Überstrahlung des
versagen CCD-Kameras in Situationen mit hoher Bildes zu vermeiden. Abhilfe können hier die be-
50 Dynamik, wenn beispielsweise die Scheinwerfer reits genannten Laser- bzw. IRED-Beleuchtungen
entgegenkommender Fahrzeuge eine hohe Lichtin- schaffen, indem die Systeme die NIR-Strahlung
tensität erzeugen und Fußgänger sich in dunklen nicht kontinuierlich, wie heute bei Halogen-NIR-
51 Bereichen der Szene befinden: entweder überstrah- Scheinwerfern nur möglich, sondern gepulst aus-
len die Scheinwerfer das Bild . Abb. 44.24 oder die senden. Eine geschickte Pulsung reduziert die
52 Fußgänger sind kaum sichtbar. CMOS-Kameras Blendung durch entgegenkommende Fahrzeuge.
hingegen können durch auf dem Sensor integrierte Vorraussetzung ist jedoch, dass die Kamera zur Be-
Schaltungen eine sehr hohe Dynamik annehmen, leuchtung synchronisiert ist und nur dann ein Bild
53 sind jedoch weniger empfindlich als CCD-Kameras. aufzeichnet, wenn die Beleuchtung gerade einen
Als Einbauort der Kameras dient vorzugsweise Puls aussendet. Für solche Anwendungen sind Ka-
54 der Bereich des Spiegelfußes hinter der Front- meras mit einem Global Shutter notwendig, die im
scheibe: hier ist die Kamera vor Regen, Schnee, Gegensatz zu Rolling-Shutter-Kameras den Sensor
55 Schmutz und Steinschlag geschützt und das Sicht- nicht zeilenweise, sondern die ganze Sensorfläche
feld der Kamera wird durch den Scheibenwischer belichten.
gesäubert. Um eine ausreichende Signalstärke zu In beiden Fällen ist bei NIR-Beleuchtung die
56 erhalten, sollte das Fahrzeug sowohl bei CCD- als Augensicherheit zu beachten, da NIR-Strahlung
auch bei CMOS-Kameras anstatt der üblichen wär- für das menschliche Auge zwar kaum sichtbar aber
57 medämmenden Frontscheibe eine Klarglasscheibe dennoch schädigend sein kann. Während sich das
ohne Wärmedämmung im Bereich der Kamera Auge vor zu hohen Lichtintensitäten durch den Lid-
haben, um keine zusätzliche Dämpfung der NIR- schlussreflex bei Blendung schützt, setzt dieser Me-
58 Strahlung zu erzeugen. chanismus bei NIR-Strahlung aus, da die Rezepto-
Da NIR-Systeme aktiv Strahlung aussenden, ren im Auge für Infrarotstrahlung nicht empfindlich
59 werden sie häufig auch als aktive Nachtsichtsys- sind. Die Strahlungsenergie, die in das Auge gelangt,
teme bezeichnet. Nachteil der aktiven Strahlaus- kann dennoch schädigende Wirkung haben. Aus
60 sendung ist, dass sich entgegenkommende Fahr- diesem Grund werden die NIR-Beleuchtungen heu-
zeuge mit NIR-System gegenseitig blenden, da sich tiger NIR-Systeme bei geringer Fahrzeuggeschwin-
44.4 • Nachtsichtsysteme
835 44
.. Abb. 44.25 Schwarz-Weiß-Bild einer Wärme-
bildkamera [18]
digkeit abgeschaltet, um lange Blickzeiten und kurze Systemen hinter der Frontscheibe verbaut werden.
Betrachtungsabstände zu vermeiden. Die Kamera muss auf Einbauorte ausweichen, in de-
NIR-Systeme ermöglichen eine Sichtweite von nen sie vor Schmutz, Witterung oder Steinschlägen
etwa 100 bis 120 m. Häufig werden höhere Reich- nicht geschützt ist.
weiten angegeben, wobei hier zwischen Erken- Das Schwarz-Weiß-Bild der Wärmebildkamera
nungsabstand und messbarer oder sichtbarer Aus- stellt warme Objekte hell dar, während kalte Ob-
leuchtung unterschieden werden muss. jekte eher dunkel erscheinen. Auf diese Weise sind
warme Objekte im Bild besonders gegenüber dem
44.4.1.3 Ferninfrarot-Systeme Hintergrund hervorgehoben, sodass Menschen und
Ferninfrarotsysteme nutzen die Plancksche Strah- Tiere, aber auch Auspuffanlagen von anderen Fahr-
lung, die praktisch von jedem Objekt ausgeht. zeugen, Fahrzeugreifen, Motorhauben, aufgeheizte
Wärmebildkameras zeichnen die Wärmevertei- Steine und metallische Gegenstände besonders im
lung der Szene bildgebend auf und erfassen dabei Bild auffallen . Abb. 44.25. Da die Darstellung je-
die Plancksche Strahlung der Objekte zwischen 8 doch nur von der Temperaturausstrahlung der Ob-
und 12 µm. Da die Wärmestrahlung sich ferner von jekte abhängt, sind beispielsweise Beschriftungen
der sichtbaren Strahlung befindet, wird sie auch auf Straßenschildern praktisch nicht ablesbar und
als Ferninfrarotstrahlung (FIR) bezeichnet. FIR- Straßenmarkierungen nur bei guten Bedingungen
Systeme benötigen keine zusätzlich Beleuchtung, sichtbar. Insgesamt wirkt das FIR-Bild verfremdet
da praktisch alle Objekte FIR-Strahlung aussenden und schwer interpretierbar. Die Kamera bietet je-
und die Kamera diese nur empfangen muss. Diese doch eine Sichtweite von etwa 300 m und übertrifft
Eigenschaft gibt ihnen auch den Namen passive damit sowohl die Reichweite von NIR-Systemen als
Nachtsichtgeräte. auch des Fernlichts.
Die Herstellung von Wärmebildkameras ist sehr
aufwändig und entsprechend teuer. Sowohl für die
Sensoren selbst als auch für die Optik kommen nur 44.4.2 Anzeigen für
teuere Materiale in Frage. Gleichstromdetektoren Nachtsichtsysteme
nutzen als Sensormaterial Vanadium Oxid (VOx) im Kraftfahrzeug
oder amorphes Silizium (αSi). Wechselstromkame-
ras nutzen Barium Strontium Titanit (BST) oder Die Gemeinsamkeit aller in ▶ Abschn. 44.4.1 vorge-
ferro-elektrische Dünnfilmschichten (TFFE). Die stellten Sensoren ist ihre Eigenschaft, ein Bild des
Optiken der Kameras bestehen aus Germanium Fahrzeugvorfelds aufzuzeichnen. Deshalb liegt es
oder Germanium-Gemischen, da Wärmestrahlung nahe, dem Fahrer diese Bildinformation anzuzei-
Kunststoffe und Glas nicht durchdringen kann. Aus gen. Dazu bieten sich bereits heute im Fahrzeug
diesem Grund kann die Kamera nicht wie bei NIR- vorhandene Anzeigen an. Mit Nachtsichtsystemen
836 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme
die Rechenintensität zur Detektion der Objekte [3] Lerner, M.; Albrecht, M.; Evers, C.: Das Unfallgeschehen bei
41 ansteigt.
Nacht, Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt),
Heft M 172, 2005.
Sind bestimmte Objekte erkannt, kann das [4] Sprute, H.: Entwicklung lichttechnischer Kriterien zur Blen-
42 System sich automatisch in die Anzeige schalten, dungsminimierung von adaptiven Fernlichtsystemen,
dem Fahrer einen optischen, akustischen oder Technische Universität Darmstadt, 2012
haptischen Hinweis geben oder sogar das erkannte [5] Eckert, M.: Lichttechnik und optische Wahrnehmungssi-
43 Objekt mit Hilfe eines Frontscheibendisplays in der
cherheit im Straßenverkehr. Verlag Technik Berlin, Mün-
chen (1993)
Frontscheibe markieren oder mit Hilfe eines „Such- [6] Khanh, T. Q.: Grundlagenvorlesungen der Lichttechnik,
44 scheinwerfers“ anleuchten. Technische Universität Darmstadt, Fachgebiet Lichttech-
nik, 2013.
Einparkassistenz
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank Schroven, Richard Auer,
Michael Rohlfs, Gerald Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters
41
Einparken ist für viele Fahrer eine langweilige oder
gar anstrengende Aufgabe: Es ist zunächst erforder-
lich, eine für das Fahrzeug passende Parklücke zu
- Semiautomatisches Einparken: Durch diese
Systeme wird dem Fahrzeugführer eine Fahr-
zeugführungskomponente, üblicherweise die
42 finden, um unnötige Fehlversuche zu vermeiden. Querführung, abgenommen und er steuert
Anschließend muss das Fahrzeug – teils unter Beob- lediglich die Längsführung mittels Gas- und
43
44
achtung – in mitunter unbekannter Umgebung bei
minimaler Beeinflussung des restlichen Verkehrs
zügig positioniert werden.
Einparkassistenzsysteme können dabei helfen,
- Bremspedal (▶ Abschn. 45.3.3).
Vollautomatische Einparksysteme: Hierbei
wird die gesamte Fahrzeugführung vom
Assistenzsystem übernommen. Diese Systeme
schneller einen passenden Parkplatz zu finden und befinden sich zurzeit noch im Forschungs-
45 das Fahrzeug sicher und stringent hineinzuführen [6]. oder Vorentwicklungsstadium.
-
53 mein folgende Anforderungen formulieren:
Alle nachfolgend entwickelten Assistenzsysteme hohe Robustheit gegenüber Umwelteinflüssen
54 zum Einparken beruhen auf Daten von Umfeld-
sensoren. Diese Systeme lassen sich in folgende Ka-
- (Niederschlag, Verschmutzung)
hohe Auflösung und Genauigkeit der Ab-
55
-
tegorien einteilen:
Informierende Einparkassistenzsysteme:
Hierzu gehören Systeme, die den Abstand zu
-
stands- bzw. Parklückenvermessung (hohe
Erkennungsrate von möglichen Parklücken)
keine Ausgabe von Scheinlücken (z. B. Stra-
--
56 Objekten in Längsrichtung mitteilen, sowie ßenkreuzungen oder Einfahrten)
solche zur reinen Parklückenvermessung mit geringer Signalverzug
57 Ausgabe eines Kompatibilitätsgrades (siehe geringe Gesamtkosten (z. B. durch Aufbau auf
58 - ▶ Abschn. 45.3.1).
Geführte Einparkassistenz: Hierbei werden die
Umfeldinformationen bewertet und konkrete
Handlungsempfehlungen gegeben. Dazu
- vorhandener Sensorik)
geringer Bauraumbedarf
60
Hilfslinien oder Einparkassistenten, die Lenk-
manöver vorschlagen (▶ Abschn. 45.3.2).
-
tigen:
Die vom Parksystem vorgeschlagene bzw. ab-
gefahrene Trajektorie sollte der eines mensch-
45.3 • Technische Realisierungen
843 45
.. Abb. 45.1 Beispiel einer Einparkhilfe mit 2D-
Sicht auf Fahrzeug und Hindernisse
lichen Fahrers ähneln, um die Akzeptanz des können zur leichteren Unterscheidung vorn und
- Systems zu erhöhen.
Die Einparktrajektorie muss kollisionsfrei sein.
Der Fahrer ist bei manueller Längsführung vor
hinten unterschiedlich gewählt werden. Darüber hi-
naus kann die akustische Ausgabe richtungsselektiv
erfolgen, sodass der Fahrer sofort zuordnen kann,
- Objekten zu warnen.
adäquate Parkposition (Winkellage und
Abstand bezüglich Bordstein, Abstand zu
für welchen Bereich des Fahrzeugs die Abstands-
information gültig ist. Die akustische Ausgabe der
Abstandsinformation kann um eine optische Aus-
42
43
44
45
46 Ebenfalls zu den informierenden Einparkassis- 45.3.2 Geführte Einparkassistenz
tenzsystemen gehören solche, die Längsparklücken
47 während der Vorbeifahrt vermessen und dem Fah- Zwar geben auch die beschriebenen informierenden
rer die Eignung als Parkplatz anzeigen. Dabei sind Systeme implizite Handlungsanweisungen („weiter
binäre Ausgaben („Parklücke ausreichend groß“, zurücksetzen“ bzw. „vorwärts fahren“, „Einparkver-
48 „Parklücke zu klein“) oder auch Schwierigkeits- such sinnvoll“), allerdings beschränken sich diese
grade des Parkiervorgangs (z. B. „leicht“, „normal“, auf die Grenzen des Einparkmanövers und lassen
49 „schwierig“) möglich. Ein wichtiger Akzeptanzfak- den zentralen Teil, die Einfahrt in die Parklücke,
tor bei solchen Systemen ist die Genauigkeit der unberücksichtigt.
50 Vermessung sowie die maximale Vorbeifahrge- Darüber hinausgehende Informationen geben
schwindigkeit. Diese nimmt üblicherweise Werte Rückfahrkamerasysteme (siehe auch ▶ Kap. 20),
zwischen 15 und 30 km/h an. Darüber hinaus soll- die neben dem Bild der Umgebung Hilfslinien ein-
51 ten Lücken, die keinen Parkraum darstellen (Ein- blenden. Hierfür ist es notwendig, einen möglichst
fahrten, Einmündungen), nicht bewertet werden. breiten Bereich hinter dem Fahrzeug erfassen zu
52 Neben den explizit informationsgebenden Ein- können. Dies erfordert Weitwinkelobjektive, die
parksystemen zeigen sogenannte „Area View“-Sys- jedoch stark verzerrte Bilder liefern. Deshalb sollte
teme – „Top View“ oder auch „Bird View“ genannt eine nachgelagerte Bildverarbeitung die Bilder ent-
53 – Bilder rund um das Fahrzeug live in das Cockpit zerren und der menschlichen Wahrnehmung an-
aus der Vogelperspektive (siehe . Abb. 45.2). Der passen. . Abbildung 45.4 zeigt ein Kamerarohbild
54 Fahrer kann dadurch die nahe Umgebung exzel- sowie dessen entzerrte Variante.
lent einsehen und sich mit dem Fahrzeug besser Mit Systemen, die Hilfslinien einblenden, kann
55 orientieren. Die Rundumsicht wird über vier Ka- sowohl das Parken in Längs- als auch Querparklü-
meras – verbaut in Front, Heck und in den meis- cken erleichtert werden. Ohne Bildverarbeitung, die
ten Fällen in den Seitenspiegeln – gewährleistet. im Kamerabild Parklücken erkennt, ist es sinnvoll,
56 . Abbildung 45.3, oben zeigt die Möglichkeit über den Fahrer wählen zu lassen, welche Art von Park-
die Frontkamera den Sichtbereich des Fahrers auf lücken gerade vorliegt. Im Fall von Querparklücken
57 querenden Verkehr zu erweitern. Heck- und Front- können die verlängerte und leicht verbreiterte Fahr-
kamera können beispielsweise bei schwierigen Ma- zeugkontur sowie ein prädizierter Fahrschlauch an-
növern wie Ankuppeln und Rangieren mit einem gezeigt werden (. Abb. 45.5). Für Längsparklücken
58 Anhänger oder beim Fahren in schwer befahrbarem können der Platzbedarf in Form von markierten
Gelände unterstützen (. Abb. 45.3 (mitte & unten)). Feldern sowie Hilfslinien, mit denen der Umlenk-
59 punkt ermittelt werden kann, eingeblendet werden
(. Abb. 45.6). Durch Betätigung des Blinkers zu
60 einer Seite werden die Einblendungen auf der ent-
sprechend anderen Seite deaktiviert. Beim Einfah-
45.3 • Technische Realisierungen
845 45
.. Abb. 45.3 Beispielansichten Area View, Querverkehr (oben), Gelände (mittig), Anhängerunterstützung (unten)
ren in die Parklücke ist der Umlenkpunkt erreicht, ber hinaus entsteht eine Kopplung von Sonderaus-
sobald sich die Hilfslinie an den Bordstein oder eine stattungsmerkmalen, da die Rückfahrkamera ohne
andere seitliche Parklückenbegrenzung anschmiegt. Anzeigemöglichkeit nicht eingesetzt werden kann.
Der Einbauort der Rückfahrkamera muss der-
art gewählt werden, dass sie das Design des Fahr- Einen noch höheren Grad der Assistenz erreicht
zeugs nicht beeinflusst. . Abbildung 45.7 zeigt eine man, wenn man dem Fahrer konkrete Handlungs-
mögliche Realisierung. Dabei wird die Kamera ne- anweisungen für die Fahrzeugführung gibt. Dazu
ben der Griffmulde zum Öffnen der Heckklappe
montiert. Dieser Einbauort hat den Vorteil, dass
--
sind folgende Schritte notwendig:
Vermessung von Parklücken
beim Anhängerbetrieb die Kamera den Kugelkopf
der Kupplung im Bild hat und das System so zum
Ankuppeln eines parkenden Anhängers verwendet
werden kann. Die Hilfslinien werden beim An-
-- Trajektorienplanung
fortlaufende Positionsbestimmung
Fahrerhandlungen anzeigen
hängerbetrieb aufgrund unbekannter Geometrie Bei der Trajektorienplanung ist eine Trennung zwi-
und Kinematik des Gespanns sowie bei geöffneter schen Längs- und Querführung sinnvoll, damit
Heckklappe ausgeblendet. Rückfahrkamerasysteme dem Fahrer noch Ressourcen zur Umfeldüber-
bieten dem Nutzer einen intuitiven Zugang, haben wachung bleiben. Das bedeutet, dass sich die zu
jedoch bei Darstellung auf einem Display (z. B. dem planende Trajektorie aus Geraden und Kreisbö-
des Navigationssystems) den Nachteil, dass für den gen zusammensetzen sollte. Diese können durch
Blick des Fahrers ein weiterer Fokus geschaffen wird, Fahrt mit konstantem Lenkradwinkel und durch
da es weiterhin erforderlich ist, das Umfeld wie ge- Lenken im Stand realisiert werden [9]. Dabei ist es
wohnt zu beobachten (gleicher Sinneskanal). Darü- insbesondere bei Systemen mit einmaliger Trajek-
846 Kapitel 45 • Einparkassistenz
41
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43
44
45 .. Abb. 45.4 Bild einer Rückfahrkamera, verzerrt (links) und entzerrt (rechts)
47
48
49
50
51 torienplanung (ohne Aktualisierung während des rückgelegte Wegstrecke berechnet wird. Insbeson-
Einparkvorgangs) wichtig, Fahrerreaktionszeiten zu dere Unterschiede an der zur Odometrie genutzten
52 berücksichtigen. Beispiele zur Trajektorienplanung Achse sind von Nachteil. Folgende Aspekte können
finden sich bei [8, 10]. zu Schwankungen des Reifenabrollumfangs führen
und müssen durch geeignete Maßnahmen kom-
--
53 Für die Anzeige von adäquaten Fahrerhandlungen pensiert werden [14]:
ist es notwendig, die Position des eigenen Fahr- Fertigungstoleranz der Reifen
54 zeugs relativ zur Parklücke und auf der geplanten
Bahn möglichst exakt bestimmen zu können. Da-
-- Reifenabnutzung
Unterschied zwischen Sommer-/Winterreifen
55
56
bei ist es grundsätzlich möglich, sich anhand von
künstlichen oder natürlichen Referenzpunkten in
der Umgebung (externe Methode) oder mittels
fahrzeuginterner Größen (interne Methode) zu lo-
- Streubreite der freigegebenen Reifengrößen
Nachgerüstete Reifen (andere Größen)
Folgende Informationen sollten dem Fahrer bei ei- einer berechneten Bahn erreichen kann, wird das
--
nem geführten Einparksystem gemeldet werden [6]:
Solllenkwinkel bzw. Lenkwinkeldifferenz
Fahrzeug bei manueller Längsregelung automatisch
auf dieser geführt. Über die Möglichkeit zur Ver-
--
Fahrtrichtung
Stopp-Punkte
Ende des Einparkvorgangs
messung von Parklücken, Trajektorienplanung und
Anzeige von Fahrerhandlungen ist es dann erforder-
lich, Einfluss auf die Lenkung nehmen zu können.
Dies ist durch eine elektromechanische Servolen-
Im Gegensatz zu Rückfahrkamerasystemen werden kung (siehe ▶ Kap. 32) oder aber eine um einen
dadurch nur geringe Anforderungen an die darstel- Elektromotor erweiterte konventionelle Lenkung
lenden Einrichtungen gestellt. Die oben genannten möglich, wobei letztgenannte Lösung zu erhöhten
Größen können auch auf einem monochromen Dis- Systemkosten führt.
play angezeigt werden [6]. Gleichermaßen ist eine Für solche Eingriffe in die Lenkanlage macht die
hochwertigere Anzeige in Anlehnung an . Abb. 45.1 ECE-Regelung 79 genaue Vorgaben [4, S. 20]:
möglich (siehe auch ▶ Kap. 36). Zur Einstellung des „Sie [Anm.: Fahrerassistenz-Lenkanlagen]
Solllenkwinkels gibt es verschiedene Möglichkeiten müssen außerdem so konstruiert sein, dass der
der Anzeige. Werden dem Fahrer sowohl Ist- als Fahrzeugführer die Funktion jederzeit durch einen
auch Solllenkwinkel angezeigt, so muss er den Re- bewussten Eingriff übersteuern kann. Sobald die
gelfehler selbst bilden und es ergibt sich die Aufgabe automatische Lenkfunktion einsatzbereit ist, muss
einer Folgeregelung. Wird lediglich die Abweichung dies dem Fahrzeugführer angezeigt werden, und
angezeigt, handelt es sich um eine Kompensations- die Steuerung muss automatisch ausgeschaltet wer-
regelung [12]. Bei der Folgeregelung erzielen Fahrer den, wenn die Fahrzeuggeschwindigkeit den einge-
üblicherweise bessere Ergebnisse [9]. stellten Grenzwert von 10 km/h um mehr als 20 %
überschreitet oder die auszuwertenden Signale nicht
mehr empfangen werden. Bei Beendigung der Steu-
45.3.3 Semiautomatisches Einparken erung muss der Fahrzeugführer jedes Mal durch ein
kurzes, aber charakteristisches optisches Signal und
Bei semiautomatischen Einparksystemen – auch entweder ein akustisches oder ein fühlbares Signal
teil- oder halbautomatisch genannt – wird der an der Betätigungseinrichtung der Lenkanlage ge-
Fahrer von einer Fahrzeugführungsrichtung, üb- warnt werden.“
licherweise der Querregelung, entbunden. Anstatt Im Vergleich zu Systemen zum geführten
dem Fahrer anzuzeigen, wie er eine Parklücke auf Einparken müssen keine Hinweise bezüglich des
848 Kapitel 45 • Einparkassistenz
42
43
44
45 .. Abb. 45.8 Beispiel einer Mensch-Maschine-
Schnittstelle für ein semiautomatisches Einpark-
46
system, Bedeutung (von links): keine Parklücke,
Parklücke erkannt, Rückwärtsgang einlegen,
Fahrzeug lenkt selbstständig
47
48 Solllenkwinkels gegeben werden. Hinzu kommen nenten. Diese wird normalerweise über einen CAN-
jedoch Statusmeldungen über Lenkeingriffe. Insge- Bus realisiert. Die relevanten Bauteile sind beispiel-
49 samt ergeben sich damit keine stark abweichenden
Anforderungen an eine Mensch-Maschine-Schnitt-
-
haft für die in [14] beschriebene Realisierung:
Steuergerät des Einparksystems (Implementie-
50 stelle. . Abbildung 45.8 zeigt eine Möglichkeit der
Gestaltung, die der ECE-Regelung entspricht. Die
automatische Querregelung des Fahrzeugs erlaubt -- rung der Funktion)
Taster zum Aktivieren des Systems
Drehzahlsensoren für alle Räder (Positionsbe-
--
51 es dem Fahrer, sich auf die Überwachung des Um- stimmung)
felds zu konzentrieren, da die Bedienung von Gas- Lenkwinkelsensor (Positionsbestimmung)
52 und Bremspedal keiner besonderen Beobachtung Längs- und Querbeschleunigungssensoren
bedarf. Durch die automatische Querführung erge-
ben sich weitere Freiheiten bezüglich der geplanten
- (Positionsbestimmung)
Ultraschallsensoren, seitlich (Parklückenver-
-
53 Einparktrajektorie, da diese nicht länger auf Gera- messung)
den und Kreisbögen beschränkt bleiben muss (vgl. Ultraschallsensoren vorne/hinten (Abstands-
54 ▶ Abschn. 45.3.2).
Die meisten semiautomatischen Einparksys-
- messung zu Objekten)
Blinklichtschalter (Auswahl der Parklücken-
55 teme basieren auf Daten von Kamera- oder Ult-
raschallsensoren. Optische Systeme zeigen dabei
--seite)
Steuergerät für Anhängererkennung
56
57
wechselnde Leistungsfähigkeit, die vor allem von
der Beleuchtungs- und Witterungssituation ab-
hängt. Im Vergleich zu ultraschallbasierten Syste-
men ist mit einer höheren Empfindlichkeit gegen-
--
Warnsummer der Einparkhilfe
Elektromechanische Lenkung (Querregelung)
Steuergerät der Bremse (Geschwindigkeitsin-
formation)
über Verschmutzung und stark eingeschränkter
Verfügbarkeit bei Dunkelheit zu rechnen [1, 5], Semiautomatische Einparksysteme befinden sich
58 wenn von Systemen mit Zusatzbeleuchtung (z. B. bereits seit 2007 im Serieneinsatz [11, 14]. Konnte
Infrarot) abgesehen wird. Parkraumerkennungen der Fahrer am Anfang der Entwicklung nur ein-
59 aufgrund von Markierungen bei Schnee sind nur zügig rückwärts eine Längsparklücke erreichen,
bedingt möglich [15]. so sind bei den heutigen Einparksystemen Quer-
60 Semiautomatische Einparksysteme erfordern parklücken – Parklücken, die Quer zur Fahrtrich-
intensive Kommunikation vieler beteiligter Kompo- tung liegen – auch keine Herausforderung mehr.
Literatur
849 45
Die Einparkfunktionen wurden und werden von zeug) aktiviert und den Knopf oder das Touchpad
der Automobilindustrie stetig weiterentwickelt. gedrückt halten muss, da der Vorgang andernfalls
Inzwischen können sowohl Längs- als auch Quer- abgebrochen wird und das Fahrzeug stehen bleibt
parklücken mehrzügig angefahren werden. Somit (Totmannschaltung) [18].
stehen dem Fahrer noch engere Parklücken für das Neben den teilautomatischen Parkfunktionen,
semiautomatische Einparken zur Verfügung. Eine die immer noch eine Überwachung des Fahrers vo-
Erweiterung auf das Vorwärtseinparken auf Quer- raussetzen, wäre auch eine automatische Bereitstel-
parklücken findet man ebenfalls in Fahrzeugen im lung in Zukunft denkbar. Ein Szenario könnte sein,
Markt. Ein wichtiger Schritt hin zum vollautomati- dass der Fahrer sein Fahrzeug an einer definier-
schen Einparken wurde bereits durch die Einfüh- ten Übergabestelle abgibt und das Fahrzeug dann
rung einer automatischen Notbremse erreicht, die vollautomatisch zu einem freien Parkplatz fährt
in kritischen Situationen vor einem Hindernis ak- und sich dort abstellt oder einparkt. Die Abholung
tiviert wird [7, 18]. Auch die Grundfunktionen des des Fahrzeugs erfolgt auf gleichem Wege über die
semiautomatischen Einparkens wurden durch den vordefinierte Übergabestelle, in dem das Fahrzeug
Einsatz einer neuen sogenannten Umfeldkarte – die wieder vollautomatisch zur Übergabestelle fährt.
beispielsweise mehrere Sensoren auswertet und zu Voraussetzung für eine automatische Bereitstellung
einer Karte fusioniert – weiter verbessert. und damit eine vollautomatische Fahrt sind zum
Beispiel hochgenaue Karten, die die Umgebung
hinreichend beschreibt (vgl. ▶ Kap. 27 und 6).
45.4 Ausblick
[10] Müller, B.; Deutscher, J.; Grodde, S.; Giesen, S.; Rop-
41 penecker, G.: Universelle Bahnplanung für das automa-
tische Einparken. In: Automobiltechnische Zeitung, 109:
S. 66–71, (2001)
42 [11] Nunn, P.: Toyota Prius mit Einpark‐Automatik. Auto, Motor
und Sport 21, (2003)
[12] Sander, M.S., McCormick, E.: Human Factors in Engineering
43 and Design, 6. Aufl. McGraw‐Hill, New York (1987)
[13] Schanz, A.: Fahrerassistenz zum automatischen Einparken
Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12. VDI, Düsseldorf (2005)
44 [14] Schöning, V.; Katzwinkel, R.; Wuttke, U.; Schwitters, F.; Roh-
lfs, M.; Schuler, T.: Der Parklenkassistent „Park Assist“ von
51
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54
55
56
57
58
59
60
851 46
46.1 Einleitung – 852
46.2 Rückblick auf die Entwicklung von ACC – 852
46.3 Anforderungen – 854
46.4 Systemstruktur – 855
46.5 ACC-Zustandsmanagement und Mensch-
Maschine-Schnittstelle – 857
46.6 Zielobjekterkennung für ACC – 861
46.7 Zielauswahl – 867
46.8 Folgeregelung – 872
46.9 Zielverluststrategien und Kurvenregelung – 875
46.10 Längsregelung und Aktorik – 878
46.11 Nutzungs- und Sicherheitsphilosophie – 883
46.12 Sicherheitskonzept – 884
46.13 Nutzer- und Akzeptanzstudien – 885
46.14 Ausblick – 889
Literatur – 890
ropäische Projekt PROMETHEUS (= PROgramMe den befriedigen zu können. Dazu gehörte zwingend
for a European Traffic with Highest Efficiency and ein Bremseingriff, um den größeren Geschwindig-
Unprecedented Safety) die Entwicklung sowohl der keitsunterschieden auf den deutschen Autobahnen
Systemfunktionalität als auch der Sensorik stark Rechnung zu tragen, eine höhere Maximalsetzge-
stimuliert. Diesem Programm entstammt auch die schwindigkeit vSet,max und ein auch bei ungünstiger
Bezeichnung AICC (Autonomous Intelligent Cruise Witterung noch hoch verfügbarer mm-Wellen-
Control), die auch Titel eines so genannten Com- Radar-Sensor.
mon European Demonstrator Projekts war (CED5). Das erste System mit Bremseingriff und mm-
Zwei weitere Entwicklungen waren für die Wellen-Radar wurde in der Mercedes-Benz S-
Markteinführung von ACC sehr förderlich: der Klasse mit einem Radar der Firma A.D.C. einge-
durch die Emissionsgesetzgebung mit der Stufe führt. Danach folgten Systeme von Jaguar im XKR
EURO III notwendig gewordene E-Gas-Einbau mit einem Radarsensor von DELPHI und ein Jahr
und die Markteinführung von ESC. Mit ESC stand später von BMW im 7er Modell mit einer BOSCH-
insbesondere der Gierratensensor für die Kurven- Sensor&Control-Unit. Radarsensor-basierte ACC-
erkennung zur Verfügung (s. ▶ Abschn. 46.7.1), Systeme dominieren seitdem den europäischen
und durch den aktiven Bremsdruckaufbau konnte Markt, während in Japan noch eine längere Zeit
zusammen mit E-Gas oder dem Pendant der Die- Lidar-Sensoren (z. B. von Omron) eingesetzt wur-
selmotoren, der elektronischen Dieselregelung, die den. Für weitere Details zur Geschichte der ACC-
Geschwindigkeitsregelung fast ohne Mehrkosten Entwicklung bis 2003 wird auf den Tagungsbeitrag
realisiert werden. [6] verwiesen.
Trotz dieses Anschubs durch PROMETHEUS Obwohl es im Moment so aussieht, als wenn
oder die vorgenannten Faktoren wurden die ersten im Wettbewerb zwischen Lidar und Radar, der seit
Systeme außerhalb Europas eingeführt. Schon 1995 über zwanzig Jahren geführt wird, letzteres Prinzip
präsentierte Mitsubishi ACC im Modell Diamante gewonnen hat, so finden immer noch Entwicklun-
[4] und etwa ein Jahr später folgte Toyota. Beiden gen zum Lidar statt, die einen zukünftigen Einsatz
gemeinsam war der Verzicht auf einen Bremsein- erwarten lassen (s. Kapitel Lidar). Beide Prinzipien
griff und die Verwendung von Laserscanner-basier- sind für ACC grundsätzlich geeignet, auch wenn
ten Lidar-Sensoren. Während das bei Mitsubishi Unterschiede in Teilbereichen verbleiben.
eingesetzte System noch eher Vormusterstatus hatte, Der Markterfolg von ACC ist lange Zeit hinter
war das mit einem Lidar der Firma Denso [5] aus- den Erwartungen zurückgeblieben. Nachdem nun
gestattete Toyota-System ein echtes Seriensystem, ein großes Angebot zur Verfügung steht und die
das auch in größeren Stückzahlen verkauft wurde. Kosten erheblich gesenkt werden konnten, wird
In Europa musste man noch bis 1999 warten, bis auch ACC zu einem Massengeschäft. Dazu trägt
auch hier ACC zu kaufen war. Diese Systeme waren auch die erstmals seit 2005 in der Mercedes-Benz S-
deutlich aufwendiger, um den europäischen Kun- Klasse (W221) angebotene funktionale Erweiterung
854 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
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46
für die Nutzung im Stau erheblich bei, insbesondere
- Regelung mit der vom Fahrer erwarteten
-
im Bereich der oberen Fahrzeugklassen, die tradi- Dynamik
tionell eine hohe Ausstattung mit Automatikgetrie- Kolonnenstabilität der Regelung für den
47
-
ben besitzen. Fall des Folgens anderer ACC-Fahrzeuge
Hinreichende Beschleunigungsfähigkeit für
ein zügiges Mitschwimmen und Aufschlie-
48
-
46.3 Anforderungen ßen
Verzögerungsfähigkeit für den Großteil
49 46.3.1 Funktionsanforderungen der Folgefahrten (ca. 90 %) in fließendem
-
für Standard-ACC Verkehr
nach ISO 15622
50 Automatische Zielobjekterkennung bei
Annäherung oder Ein- und Ausscheren
Aus der in ▶ Abschn. 46.1 beschriebenen Funkti- vorausfahrender Fahrzeuge innerhalb eines
51 onsdefinition ergeben sich folgende funktionale definierten Abstandsbereichs, d. h. auch
52
--
Anforderungen:
Bei Freifahrt:
Konstantgeschwindigkeitsregelung mit -- Festlegen eines Zielsuchkorridors
Bei Annäherung:
Bei langsamer Annäherung zügig zum
-
hohem Regelkomfort, d. h. mit geringem Sollabstand regeln
53 Längsruck und ohne Schwingungen bei Bei schneller Annäherung vorhersehbarer
gleichzeitig hoher Regelgüte (ohne erkenn- Verzögerungsverlauf, der eine Einschätzung
54 bare Abweichungen von der Setzgeschwin- durch den Fahrer erleichtert, ob wegen
-
digkeit) unzureichender ACC-Verzögerung selbst
55
-
Geschwindigkeitsregelung mit Brems- eingegriffen werden muss
eingriff bei heruntergesetzter Wunschge- Bei „Eintauchen“, also bei Unterschreiten
56
-- schwindigkeit und bei Gefällefahrt
Bei Folgefahrt:
des Sollabstands, ein an dem Standardver-
halten von Fahrern orientiertes „Zurück
57
58
Folgeregelung mit schwingungsdämpfen-
der Übernahme der Geschwindigkeit des
vorausfahrenden Fahrzeugs, damit dessen
Geschwindigkeitsunruhe nicht mit kopiert
-- fallen“
Funktionsgrenzen:
Keine Regelung bei sehr niedrigen Ge-
schwindigkeiten, d. h. geeignete Übergabe
-
wird an den Fahrer unterhalb einer Mindestge-
Zeitlücke auf die gesetzte Sollzeitlücke τSet schwindigkeit (ISO 15622: unterhalb von
59
-
einregeln und ruhiges, an dem Standardver- vlow ≤ 5 m/s keine positive Beschleunigung)
halten von Fahrern orientiertes „Zurück- Minimale Sollgeschwindigkeit vset,min ober-
60 fallen“ bei durch Einscheren verursachter halb 7 m/s (> 30 km/h Tachogeschwindig-
großer Abstandsverkürzung keit)
46.4 • Systemstruktur
855 46
.. Abb. 46.3 Funktionsmo-
dule des ACC-Systems
- -
Zustand τmin = 1 s nicht unterschreiten. Betriebsbremse bei aktivem System
Priorität des Fahrereingriffs, d. h. Deak- Bei Systemabschaltung ohne Fahrereingriff
tivierung bei Bremspedalbetätigung und im Stillstand ist ein Übergang in einen
-
Übersteuern bei Betätigung des Fahrpedals sicheren Haltezustand ohne Hilfsenergie
-
Vorgabe der Setzgeschwindigkeit vset und
Setzzeitlücke τset durch den Fahrer
Geeignete Übergabe der Längsregelaufgabe
an den Fahrer bei Systemausfall, insbeson-
-- notwendig
Funktionsgrenzen
Oberhalb von vhigh,min = 20 m/s ist eine
Beschleunigung innerhalb der Grenzen
dere wenn dieser während eines Verzöge- von amin(vhigh) = – Dmax(vhigh) = –3,5 m/s2 bis
- -
rungsvorgangs geschieht. amax(vhigh) = 2,0 m/s2 zulässig,
Beschleunigung innerhalb der Grenzen von unterhalb vlow,max = 5 m/s Beschleunigung
amin = –3,5 m/s2 bis amax = 2,5 m/s2. innerhalb der Grenzen von amin(vlow) = –
Dmax(vlow) = –5,0 m/s2 bis amax(vlow) = 4,0 m/
-
s2.
46.3.2 Zusätzliche Zwischen vlow,max (5 m/s) und vhigh,min (20 m/s)
Funktionsanforderungen darf die Beschleunigung innerhalb der
für FSR-ACC nach ISO 22179 geschwindigkeitsabhängigen Grenzen von
amin(v) = – Dmax(v) = –5,5 m/s2 + (v/10 s) bis
-
Ergänzend zu den Anforderungen für die Standard- amax(v) = 4,67 m/s2 – (2v/15 s) variieren.
ACC-Funktion ergeben sich für FullSpeed Range- Die Aufbaurate der Verzögerung γ darf bis
--
ACC folgende weitere Anforderungen:
Bei Folgefahrt:
Regelung im gesamten Geschwindig-
keitsbereich bis 0 km/h, insbesondere im
5 m/s die Ruckgrenze von γmax(vlow) = 5 m/
s3 und ab 20 m/s von γmax(vhigh) = 2,5 m/
s3 nicht überschreiten. Dazwischen ist die
Grenze geschwindigkeitsabhängig:
Kriechbereich (erhöhte Anforderungen an γmax(v) = 5,83 m/s3 – (1v/6 s).
-- Koordination Antrieb/Bremse)
Beim Anhalten:
Einregeln eines sinnvollen Anhalteabstands 46.4 Systemstruktur
-
(typ.: 2–5 m)
Eine höhere Verzögerungsfähigkeit Die Vielzahl der Aufgaben einer ACC lassen sich
bei kleinen Geschwindigkeiten (vgl. mit der in . Abb. 46.3 dargestellten Struktur Modu-
. Abb. 46.2) len zuordnen. Die Module selbst können ihrerseits
856 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
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48
.. Abb. 46.4 Funktionsmodule des Distronic-Systems
49
noch unterteilt und verschiedenen Hardware-Ein- Sensor&Control Unit (SCU). Eine besonders wich-
50 heiten zugeordnet werden, s. a. später beschriebene tige Rolle in der Struktur dieses Systembeispiels
Beispiele. Auch die Informationsschnittstellen zwi- kommt dem ESC bzw. ESP zu. Es liefert nicht nur,
schen den Modulen können erheblich variieren. wie bei den meisten bekannten Systemen, die Fahr-
51 Dies betrifft sowohl den physikalischen Inhalt als dynamik-Messgrößen für die Kursprädiktion (s.
auch die Datenrate und Bitrepräsentation. Die vier ▶ Abschnitte 46.7.1 und 46.7.2), sondern übernimmt
52 Schichten und ihre Module werden in den folgen- neben der ebenfalls oft beim ESC angesiedelten Auf-
den ▶ Abschnitten 46.5 bis 46.10 beschrieben, sofern gabe der Bremsregelung auch die Überwachung des
sie als Komponente nicht auch schon in anderen ACC-Systems und fungiert als Kommunikations-
53 Kapiteln dieses Handbuchs ausführlich abgehandelt und Koordinationszentrale für die Antriebssteu-
sind. In diesen Fällen werden die ACC-spezifischen erung. Die Trennung der Sensordatenerzeugung
54 Anforderungen an diese Komponente aufgeführt. von der nachgeschalteten Verkehrsszenenanalyse
und der Längsdynamikregelung ermöglicht die
55 46.4.1 Beispiel Mercedes-Benz
Verwendung von Sensoren unterschiedlicher Lie-
feranten bzw. die Anpassung an oder Erweiterung
Distronic durch neue Sensorik wird vereinfacht, da lediglich
56 die Verarbeitung der Sensorrohdaten im Sensor
Während bei einer Variante der Distronic für den selbst durchgeführt wird, vgl. [9].
57 Fernbereichsradarsensor und für die Verarbeitung
der Sensorsignale, der Berechnung der Geschwin-
digkeits- und Abstandsregelung sowie der Berech- 46.4.2 Funktionsabstufungen
58 nung der Ansteuersignale für die Ansteuerung der
Stellglieder wie in . Abb. 46.4 dargestellt separate Mit ACC wurde erstmals ein die Fahrzeugdynamik
59 Baueinheiten verwendet werden, so sind in einer beeinflussendes System eingeführt, das als verteiltes
anderen Variante vom Sensor bis hin zur Stell- System bei Ausfall eines peripheren Systemteils die
60 gliedansteuerung alle Funktionseinheiten in einem Kernfunktionalität verliert. Die Restfunktionalität
Gehäuse integriert und bilden eine so genannte einer Fahrgeschwindigkeitsregelung (Cruise Con-
46.5 • ACC-Zustandsmanagement und Mensch-Maschine-Schnittstelle
857 46
.. Abb. 46.5 Zustände und Über-
gänge nach ISO15622
trol CC) ohne Abstandsregelfähigkeit könnte noch einem vorausfahrenden Fahrzeug, das mit einer
realisiert werden, wenn alle für eine Geschwindig- geringeren Geschwindigkeit als der Setzgeschwin-
keitsregelung notwendigen Systeme wie Antrieb, digkeit vSet fährt. Ist dies nicht der Fall, dann wird
Bremse, Anzeige- und Bedienelemente verfügbar auf die Wunschgeschwindigkeit vSet geregelt. Der
sind. Hiervon ist jedoch abzuraten, da der Fah- Übergang zwischen diesen Regelzuständen erfolgt
rer z. B. nach längerer Freifahrt nicht unmittelbar ohne Zutun des Fahrers automatisch allein aus der
erkennen kann, dass seine gewohnte Abstandsre- Ermittlung eines Zielobjekts und dessen Abstand
gelfunktion bei Annäherung an ein Objekt nicht und Geschwindigkeit durch den vorausschauenden
zur Verfügung steht. Die überwiegende Mehr- ACC-Sensor, wie dies in . Abb. 46.1 illustriert ist.
zahl der angebotenen Systeme, darunter auch die Eine Deaktivierung, also der Übergang von
DISTRONIC, degradieren deshalb die ACC Funk- ACC active zu ACC stand-by, wird zumeist durch
tion nicht zu einer Tempomatfunktion bei Ausfall eine Bremspedalbetätigung oder die willentliche
der umgebungserfassenden Sensorik. Abschaltung per Bedienschalter ausgelöst. Bei den
verschiedenen im Markt befindlichen Systemvari-
anten finden sich noch weitere Deaktivierungskrite-
46.5 ACC-Zustandsmanagement und rien, die in der rechten Spalte der . Tab. 46.1 aufge-
Mensch-Maschine-Schnittstelle führt sind. Der Übergang in den ACC off-Zustand
wird durch erkannte Funktionsstörungen bewirkt
46.5.1 Systemzustände und, wenn vorhanden, durch den Hauptschalter.
und Zustandsübergänge Für die Ausführung des ACC als Full-Speed-
Range-ACC kommen im Wesentlichen ein weite-
Die Systemzustände, die ein Standard-ACC anneh- rer Zustand, FSRA-Hold genannt, und dessen Über-
men kann, illustriert . Abb. 46.5. Der Einschalt- gänge hinzu. Dies wird in . Abb. 46.6 beschrieben.
zustand ist der ACC off-Zustand, der automatisch Der Zustand FSRA-Hold kennzeichnet das Hal-
nach erfolgreichem Selbsttest verlassen werden kann ten des Fahrzeugs im Stand durch das FSRA-System.
oder explizit vom Fahrer über einen oft Hauptschal- Einen Übergang aus dem Zustand Speed Control
ter (Main Switch) genannten Schalter in den ACC nach Hold gäbe es nur, wenn eine Wunschgeschwin-
stand-by-Zustand überführt werden. Dieser Warte- digkeit von 0 km/h zugelassen würde. Sinnvoller-
zustand ermöglicht, sofern die für die Aktivierung weise wird die minimale Wunschgeschwindigkeit
definierten Kriterien (s. . Tab. 46.1) erfüllt sind, die vset,min aber auf einen Wert > 0 begrenzt, z. B. 30 km/h.
Aktivierung in den ACC active-Zustand. Im Zustand Hold sind einige Besonderheiten
Wurde ACC erfolgreich aktiviert, dann treten zu beachten. Auch wenn eine Übergabe der Halte-
in diesem Systemzustand zwei wesentliche Regel- funktion an den Fahrer mit entsprechend signali-
zustände auf: Speed control in Freifahrtsituationen sierten Hinweisen möglich ist, hat es sich bewährt,
und ACC time gap control bei Folgefahrt hinter das Fahrzeug weiter zu halten, auch bei einfacher
858 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
41 .. Tab. 46.1 Aktivierungs- und Deaktivierungsbedingungen (für die Aktivierung müssen alle Bedingungen erfüllt sein,
für die Deaktivierung genügt eine)
46 Schlupfregelung nicht aktiv Schlupfregelung länger als eine spezifizierte Zeit aktiv (kann
je nach Art unterschiedlich sein, z. B. 300 ms bei Gierratenre-
gelung, ca. 600–1000 ms bei Antriebsschlupfregelung)
-
so ist der Fahrer vor dem Aussteigen so zu warnen findet man 2 Ausprägungen:
bzw. das System so frühzeitig abzuschalten, dass der Schalter, der nur einmalig betätigt werden
60 Fahrer sich noch im Fahrzeug befindet und es selbst muss und anschließend dauerhaft auf „Ein“
gegen Wegrollen sichern wird. steht.
46.5 • ACC-Zustandsmanagement und Mensch-Maschine-Schnittstelle
859 46
.. Abb. 46.6 Zustände und Über-
gänge für FSR-ACC nach ISO22179
- Taster, der einmalig je Zündungslauf die Häufig sind die Bedienelemente in einer Gruppe
- Bedienelemente freigibt.
Bedienelement zum Aktivieren des ACC-
Systems. Dieses Bedienelement wird häufig
auch bei aktiver Regelung zur Erhöhung der
angeordnet oder in abgesetzten Bedienhebeln inte-
griert, wie folgende Beispiele illustrieren.
Das in . Abb. 46.7 dargestellte Bediencluster
im Tempomatbedienhebel leistet sieben Funktio-
- Setzgeschwindigkeit.
Bedienelement zur Aktivierung des ACC-
Systems unter Verwendung der letzten
Setzgeschwindigkeit (Wiederaufnahme oder
unten) wird aktiviert und dabei zunächst die ak-
tuelle Geschwindigkeit als Sollgeschwindigkeit
übernommen. Mit weiteren Bewegungen nach
oben wird die Sollgeschwindigkeit bei kleinen Be-
- Resume).
Bedienelement zur Einstellung der gewünsch-
ten Sollzeitlücke. Auch hier finden sich zwei
grundsätzlich unterschiedliche Einschaltzu-
wegungshüben in 1 km/h-Schritten, bei großen
in 10 km/h-Schritten erhöht. Mit entsprechenden
Bewegungen nach unten wird in gleicher Weise die
Sollgeschwindigkeit reduziert. Mit der Bewegung
-
stände: 4 (zum Fahrer hin) wird ebenfalls aktiviert, dabei
ein immer gleicher Anfangszustand mit aber auf die früher verwendete Sollgeschwindig-
einer so genannten default-Einstellung, keit zurückgegriffen (so genannte Resume- oder
die meist einer Zeitlücke von 1,5 bis 2 s Wiederaufnahme-Funktion). Beim erstmaligen
-
entspricht; Aktivieren wird ebenfalls die aktuelle Geschwin-
der zuletzt gewählte Zustand, z. B. bei einer digkeit übernommen. Über diese Funktion wird
mechanischen Arretierung. auch die Wiederanfahrt aus dem Stillstand gestar-
860 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
42 Zustände Anzeige W T
Aktivierung p e o
43 Relevantes Zielobjekt p w o
erkannt
Ausschervorgängen)
46 Losfahrhinweis (nur FSRA) s h o
.. Abb. 46.8 Lenkradbedienung ACC im VW Phaeton [Quelle: Übergang autom. Anfahren s h o
47 Volkswagen AG] → fahrergetriggertes An
fahren (nur FSRA)
tet. Mit der Bewegungsrichtung 7 (nach vorn) wird
48 deaktiviert, während die Tastenfunktion 6 zwischen
Systemeinstellungen
Wunschgeschwindigkeit p e o
Tempomat und Speed-Limiter-Funktion wechselt.
49 Die Bedienung der Speed-Limiter-Funktion erfolgt Wunschabstand p,s w o
analog zur Bedienung von Tempomat/Distronic Geschwindigkeit des voraus- p h o
50 Plus. Diese Aktivierung führt zum Erleuchten der fahrenden Fahrzeugs
LED 3 im Tempomatbedienhebel. Bedienelement Istabstand zum vorausfah- p h o
2 wird verdreht und stellt die Wunschzeitlücke ein. renden Fahrzeug und / oder
51 Die zuletzt eingestellte Drehposition ist somit auch Soll-Ist-Abweichung
bei einem neuen Fahrzyklus verfügbar, womit auf Zustandsübergänge
52 die alte Einstellung zurückgegriffen werden kann.
ACC off → ACC stand-by, p e o
Neben dieser für eine Hebelanordnung typi- wenn vorhanden
schen Ausprägung der Bedienschnittstelle gibt
53 es weitere, aber auch Bedienschnittstellen, die Übernahmeaufforderung bei s w a+o
Erreichen der Systemgrenze
im Lenkrad integriert sind, wie das Beispiel in
54 . Abb. 46.8 zeigt. Trotz deutlich mehr als zehn Jah- Systemabschaltung s e a+o
ren Erfahrung ist keine Konvergenz der Ausprägun-
55 gen festzustellen, so dass heutige Autofahrer beim der eingestellten Wunschgeschwindigkeit und der
Wechsel des Fahrzeugs sich neu auf die Bedienung, Wunschzeitlücke sind unerlässlich für eine nutzer-
und wie später gezeigt wird, auch auf die Anzeige gerechte Bedienung. Im Folgenden wird dabei zwi-
56 einstellen müssen. schen permanenten (p) und situativen (s) Anzeigen
unterschieden. Letztere werden nur beim Eintreten
57 eines bestimmten Ereignisses oder bei Fahrerbedie-
46.5.3 Anzeigeelemente nung für eine bestimmte Zeit angezeigt. Eine nur
mit Ausführungsbeispielen situativ aktive Anzeige hat zum einen den Vorteil,
58 dass sich diese den Anzeigenplatz mit anderen situ-
Auch wenn die meisten ACC-Zustände aus dem ak- ativen Anzeigefunktionen teilen kann, zum anderen
59 tuellen Regelverhalten ermittelt werden können, so aber auch, dass die Aufmerksamkeit besser fokus-
ist die klare Rückmeldung der Zustände insbeson- siert werden kann.
60 dere beim Zustandsübergang wichtig für eine Über- Eine weitere Unterscheidung betrifft die Wich-
wachung des Systems. Aber auch die Rückmeldung tigkeit (W) der Anzeige, wobei diese zwischen den
46.6 • Zielobjekterkennung für ACC
861 46
.. Abb. 46.9 Anzeige Distronic Plus (Mercedes-
Benz W222)
Stufen essentiell, wichtig und hilfreich vorgenom- Bild aufgeführt sind das Geschwindigkeitsband, das
men wird. Entsprechend dieser Stufung finden sich nach unten durch die Geschwindigkeit des voraus-
essentielle Anzeigen in allen Systemen, wichtige fahrenden Fahrzeugs und nach oben durch die ein-
in den meisten. Auch wenn sich die hilfsreichen gestellte Wunschgeschwindigkeit begrenzt ist sowie
Anzeigen zumeist nur bei einigen Anbietern wie- die Symbole für die Übernahmeaufforderung und
derfinden, so verbessern sie die Erlernbarkeit der die Anzeige, wenn der Fahrer das System übersteu-
Systemfunktionen und erlauben dem Fahrer eine ert (DISTRONIC PLUS passiv).
detaillierte Vorhersage bzw. ein besseres Verständ- Bei einem als Option erhältlichen Head-up-Dis-
nis der Systemreaktionen. Mithilfe der Anzeige von play (. Abb. 46.10) werden die Istgeschwindigkeit,
Abstand und Relativgeschwindigkeit des soeben die Wunschgeschwindigkeit und die kombinierte
erfassten Objekts kann der Fahrer auch etwaige Aktivierung/Zeitlücke/Zielobjekt-Anzeige präsen-
Falschdetektionen sehr gut erkennen und die Sys- tiert.
temreaktionen dann plausibel zuordnen.
Wie auch oftmals bei den Bedienfunktionen
werden Aktivierungszustand und Sollgeschwin- 46.6 Zielobjekterkennung für ACC
digkeit auch für die Anzeige miteinander kombi-
niert. Die . Tab. 46.2 zeigt die bekanntesten An- 46.6.1 Anforderungen
zeigefunktionen und die sinnvoll für die Anzeige zu an die Umfeldsensorik
verwendende Technik (T), wobei hier zunächst nur
optische (o) oder akustische Elemente (a) unter- Die ACC-Funktionalität steht oder fällt mit der Er-
schieden werden, also keine haptischen Elemente kennung des relevanten Zielfahrzeugs, woran sich
betrachtet werden, da außer der inhärenten kinäs- die Regelung orientieren kann. Als erste Vorausset-
thetischen Rückwirkung der Fahrdynamik keine zung ist eine Umfeldsensorik erforderlich, die die
haptischen Anzeigefunktion für ACC eingesetzt Fahrzeuge in der relevanten Umgebung detektiert
werden. und anschließend eine Zuordnung, ob ein und dann
Passend zu den in ▶ Abschn. 46.5.2 vorgestellten welches der erkannten Objekte als Zielobjekt aus-
Bedienbeispielen werden die zugehörigen Anzeige- zuwählen ist. Als Umfeldsensortechnologien sind
konzepte vorgestellt. Die in . Abb. 46.9 dargestellte Radar und Lidar mit Erfolg im Einsatz. Für sie gel-
Anzeige der Mercedes-Benz DISTRONIC PLUS ten in gleicher Weise die unten aufgeführten Anfor-
enthält die Angaben über den Aktivierungszu- derungen. Die Technikbeschreibung der Sensoren
stand mit der Darstellung des Egofahrzeugs (4), findet sich in den ▶ Kap. 17 und 18.
den Sollabstand (3) (oranger Balken „neben der
Straße“), und die Zielerkennung (Fahrzeug 1), des-
sen Position den Istabstand signalisiert (2). Nicht im
862 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
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46
46.6.2 Messbereiche lücke ≥ 1,5 s verlangt wird, kann die Anforderung
47 und Messgenauigkeit durch Absenkung der maximalen Zeitlücke nur bis
zu dieser Grenze erfolgen.
46.6.2.1 Abstand Die in . Tab. 46.3 genannten Anforderungen
48 In Analogie zu der in der ISO15622 [1] vorge- sind Minimalforderungen und nur auf die statio-
nommenen Unterteilung wird für die Standard- näre Folgefahrt ausgelegt. Für eine Annäherung ist
49 ACC-Funktion gefordert, dass ab dem minimalen insbesondere bei höherer Differenzgeschwindig-
Detektionsabstand dmin0 = MAX(2 m, (0,25 s · vlow)) keit eine höhere Reichweite wünschenswert. Wie in
50 Objekte erkannt werden und darüber hinaus ab ▶ Abschn. 46.7 gezeigt, wird mit großem Abstand
dmin1 = τmin(vlow) · vlow der Abstand bestimmt werden die Zielauswahl immer schwieriger, sodass eine
muss (. Abb. 46.11). Dabei ist τmin(vlow) die kleinste Verzögerungsreaktion in einem größeren Abstand
51 Zeitlücke bei der kleinsten erlaubten ACC-Betriebs- als 120 m in vielen Fällen negativ erlebt wird, selbst
geschwindigkeit. Da die Zeitlücke zu niedrigen wenn die Zielauswahl prinzipiell fehlerfrei funktio-
52 Geschwindigkeiten hin angehoben wird, liegt dmin1 niert. Dies tritt vor allem dann auf, wenn das an sich
bei etwa 10 m. Dass unterhalb dieses Werts keine korrekte Ziel überholt werden soll, dieser Überhol-
Abstandsmessung erfolgen muss, ist damit begrün- vorgang aber durch die ACC-Verzögerungsreaktion
53 det, dass die ACC-Regelung in dieser Situation auf noch vor dem Fahrstreifenwechsel behindert wird.
jeden Fall verzögern wird oder den Fahrer bei Un- In der Praxis (s. a. [10]) hat sich eine Beschrän-
54 terschreitung von vlow zur Übernahme auffordert. kung der Reaktionsreichweite, also der Bereich
Hinsichtlich der Unterschreitung der Schwelle dmin0 innerhalb dessen auf relevante Ziele reagiert wird,
55 kann davon ausgegangen werden, dass ein Regelvor- bewährt. Insbesondere im unteren und mittleren
gang vor Erreichen eines solch geringen Abstands Geschwindigkeitsbereich ist es wenig sinnvoll, den
vom Fahrer unterbrochen wird. Gleiches gilt auch gesamten Erfassungsbereich des Sensors zu nutzen,
56 für den Fall so knapp einscherender Fahrzeuge, bei da Objekte in größerer Entfernung keinen Einfluss
denen sich kein Fahrer auf die Regelung durch ACC auf das eigene Fahrzeug haben. Eine beispielhafte
57 verlassen wird und selbst die Situation durch eige- Grenzkurve dto,max ist in . Abb. 46.11 gezeigt. In ei-
nen Bremseingriff lösen wird. nem anderen Fall wird als dto,max = MAX (v · 3,6 s,
Die maximale geforderte Reichweite dmax muss drange,min) verwendet, also genauso viele Meter wie
58 natürlich eine Regelung mit dem größten Sollab- km/h, mindestens aber drange,min (≈ 80 m).
stand ermöglichen, also dem Abstand in der Einstel- An die Genauigkeit der Abstandsmessung wer-
59 lung für die größte Zeitlücke bei maximaler Setz- den keine hohen Anforderungen gestellt, da die
geschwindigkeit vset,max. Sinnvollerweise wird noch Regelung, wie unten gezeigt wird, nur schwach auf
60 eine Regelreserve hinzugefügt, damit die Regelung Abstandsabweichungen reagiert. Mit der unten
komfortabel bleibt. Da mindestens eine Sollzeit- angegebenen Regelkreisverstärkung pflanzen sich
46.6 • Zielobjekterkennung für ACC
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50
Bei gegebenem Kurvenradius R ≥ Rmin lässt sich aus gen Geschwindigkeiten durchfahren werden. Dies
der maximalen Querbeschleunigung eine maximale wird durch die unterschiedlichen Werte für die in
51 Kurvengeschwindigkeit berechnen. Wird diese mit der Norm 15622 definierten Kurvenklassen berück-
der Zeitlücke τmax multipliziert, so erhält man die sichtigt. So werden ay,max = 2,0 m/s2 für Rmin = 500 m
52 notwendige maximale Reichweite dmax(R). Der Ver- und ay,max = 2,3 m/s2 für Rmin = 250 bzw. Rmin = 125 m
satz der Kurvenlinie ymax bei dmax (. Abb. 46.12) ist angenommen. In . Abb. 46.13 ist für eine maximale
hingegen unabhängig vom Kurvenradius und der Zeitlücke von τmax = 2 s der notwendige (einseitige)
53 Geschwindigkeit: Öffnungswinkel φmax für drei verschiedene Querbe-
schleunigungsannahmen dargestellt. Trotz dieser
54
2
max
ymax D ay;max(46.1) die reale Kurvenfahrt stark idealisierenden Betrach-
2
tung zeigen Messungen aus der Praxis [13, 14], dass
55 Der maximale Azimutwinkel φmax kann über den mit obiger Formel und den genannten Annahmen
Quotienten des maximalen Versatzes ymax und der die Anforderungen an den Öffnungswinkel für eine
maximalen Reichweite dmax bei R = Rmin bestimmt vorgegebene Kurvenfähigkeit bestimmt werden
56 werden: können. Die beiden empirischen Werte beziehen
q sich auf den Kurvenradius, bei dem die Hälfte der
57 dRmin D dmax .Rmin / D max ay;max Rmin (46.2) Folgefahrten ohne Zielverlust blieb.
ymax ymax Als weiteres Ergebnis der Untersuchungen [13]
˚max D arcsin. (46.3) [14] zeigte sich, dass mit einem Öffnungswinkel von
58 dmax .Rmin /
/
dmax .Rmin /
∆φmax = 16° (± 8°) sowohl subjektiv als auch objek-
Aufgrund des beobachteten Fahrerverhaltens (s. z. B. tiv die Standard-ACC-Funktion in hinreichendem
59 [12]) ist die zugrunde zu legende Querbeschleu- Maße abgedeckt wird und eine weitere Vergröße-
nigung von der Fahrgeschwindigkeit abhängig. rung des Azimutwinkelbereichs nur noch gerin-
60 Implizit ergibt sich damit auch eine Abhängigkeit geres Verbesserungspotenzial für die Standard-
vom Kurvenradius, da engere Kurven mit niedri- ACC-Funktion besitzt, solange die Erkennung von
46.6 • Zielobjekterkennung für ACC
865 46
.. Abb. 46.13 Erforderlicher Azimut-Winkel-
bereich in Abhängigkeit der vorausgesetzten
Querbeschleunigung und Zeitlücke. Linien:
Theoretischer Verlauf; Punkte: Versuchsergebnisse
für zwei Sichtbereiche
einscherenden Fahrzeugen durch die Dynamik der destanforderungen in der entstehenden FSRA-ISO-
Zielauswahl vorgegeben wird (s. a. ▶ Abschn. 46.7). Norm 22179 deutlich niedriger und können bereits
Wie in der späteren Betrachtung der Gesamtfehler mit einem mittig platzierten Sensor mit einem Öff-
deutlich wird, kann schon ein kleiner azimutaler nungswinkel ∆φmax = 16° (±8°) erfüllt werden. Das
Ausrichtungsfehler zu einer merklichen Funk- Anfahren aus dem Stand erfolgt bei solchen Syste-
tionsbeeinträchtigung führen. Da die Toleranz- men daher auch bei sehr kurzen Stillstandzeiten nur
grenze von vielen einzelnen Faktoren abhängt, mit Fahrerfreigabe.
insbesondere auch von der Rückstreueigenschaft Eine über ±8° hinausgehende breite Erfas-
der Objekte, lässt sich kein scharfer Wert angeben. sung des Bereichs direkt vor dem Fahrzeug bis ca.
Statische Fehler über 0,25° sollten jedoch vermieden 10–20 m ist für dichtes, versetztes Folgefahren bei
werden, dynamische rauschähnliche Fehler werden niedrigen Geschwindigkeiten erforderlich. Dies
über Filter geglättet und können durchaus 0,5° be- tritt insbesondere in Stausituationen auf, wenn
tragen, ohne dass sich die Systemfunktion merklich nicht direkt hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug
verschlechtert. gefahren wird, sondern versetzt, um eine bessere
Sicht zu erreichen. Auch bei langsamen Fahrstrei-
46.6.2.4 Lateraler Erfassungsbereich fenwechseln des Zielobjekts wird die Überdeckung
für FSRA zunehmend geringer, ohne dass der benötigte ei-
Für FSRA wird eine 100 %ige Abdeckung des Be- gene Fahrkorridor frei ist. Eine Sensorik mit zu sch-
reichs direkt vor dem Fahrzeug angestrebt, um au- malem Öffnungswinkel verliert hier das Zielobjekt
tomatisches Anfahren zu ermöglichen. Da dies in bereits, obwohl es noch nicht kollisionsfrei passiert
der Praxis schwer zu realisieren ist, liegen die Min- werden kann, weshalb in diesen Fällen der Fahrer
866 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
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46.6.2.5 Vertikaler Erfassungsbereich
50 eingreifen muss. Der gewünschte Erfassungsbereich
für eine vollständige Abdeckung zeigt . Abb. 46.14. Für den vertikalen Erfassungsbereich wird die De-
Ab einem Mindestabstand, ab dem typischer- tektion aller für ACC relevanten Objekte (Lkw, Pkw,
51 weise mit Einscherern zu rechnen ist, also ca. ab Motorräder) gefordert. Da die Objekte weder sehr
2–4 m bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten, ist hoch vom Boden abgesetzt noch niedriger sind als
52 außerdem eine Erfassung der Nachbarfahrstreifen die üblichen Sensoreinbauhöhen, sind nur die Ein-
sinnvoll (mindestens bis zur halben Breite), um ein flussgrößen Steigungsänderungen sowie statisches
frühzeitiges Erfassen von einscherenden Fahrzeu- und dynamisches Nicken innerhalb der von ACC
53 gen sicherzustellen. Dabei ist vor allem auf eine zu- ausgenutzten Dynamik zu betrachten. Hier haben
verlässige Winkelerfassung zu achten, da erst über sich in der Praxis Anforderungen von ∆ϑmax = 3°
54 die Berechnung der Lateralbewegung aus den Win- (± 1,5°) ergeben.
kelwerten vorausschauend auf Einscherer reagiert Die Elevationsfehlwinkel haben zumeist nur
55 werden kann. Bei den frühen FSRA-Systemen von eine geringe negative Auswirkung, da nur in selte-
Mercedes und BMW wurden dafür zwei nach vorn nen Fällen die Elevation als Messgröße bestimmt
gerichtete 24 GHz-UWB-Radarsensoren (UWB wird, wie es beispielsweise beim 2D-Scanning-Lidar
56 Ultra Wide Band, siehe ▶ Kap. 17) eingesetzt, die geschieht, der die Umgebung in mehreren überein-
einen guten Kompromiss aus Reichweite (ca. 20 m), ander liegenden horizontalen Zeilen abtastet. Aller-
57 azimutalem Öffnungswinkel (ca. 80°) und der durch dings ist bei Radarsensoren eine Veränderung der
das Sensorprinzip gegebenen Winkelauflösung bie- Antennencharakteristik mit größeren von 0 abwei-
ten. Durch den großen Öffnungswinkel wird eine chenden Elevationswinkeln zu erwarten. Weiterhin
58 großflächige Überlappung der Erfassungsbereiche ist zu verhindern, dass der verfügbare Elevationsbe-
erzielt, was zu einer stabilen Objektdetektion führt. reich nicht durch eine Fehlausrichtung soweit re-
59 Größere Reichweiten sind nicht erforderlich, da die duziert wird, dass die oben genannte Anforderung
eingesetzten Fernbereichs-Radarsensoren in diesen nicht mehr gewährleistet ist.
60 Entfernungen die Nachbarfahrstreifen zumindest
partiell abdecken.
46.7 • Zielauswahl
867 46
.. Abb. 46.15 Links: Schritte für die
Zielauswahl; rechts: Definition der
in diesem Abschnitt verwendeten
Größen
46.7.2 Kursprädiktion
41 D
P
(46.5)
vx Für die Vorhersage des zukünftigen Kurses sind
42 der (zukünftige) Verlauf der Fahrbahn und die zu-
46.7.1.3 Krümmung berechnet künftige Fahrstreifenwahl des ACC-Fahrzeugs und
aus der Querbeschleunigung eigentlich auch die der potenziellen Zielfahrzeuge
43 Auch für die Berechnung der Krümmung κay aus der notwendig. Da diese Informationen nicht immer
Querbeschleunigung ay wird die Fahrgeschwindig- verfügbar sind, wird auf Arbeitshypothesen zu-
44 keit vx benötigt: rückgegriffen, die vereinfachende Annahmen ver-
wenden.
ay
45 ay D
vx2
(46.6) Eine einfache Hypothese ist die Annahme, dass
die aktuelle Krümmung beibehalten wird. Diese
Basishypothese wird immer dann verwendet, wenn
46 46.7.1.4 Krümmung berechnet keine weiteren Informationen zur Verfügung ste-
aus den Radgeschwindig hen. Damit werden Kurvenein- und -ausfahrten,
47 keiten der eigene Fahrstreifenwechsel und auch die Lenk-
Für die Krümmung κv aus den Radgeschwindigkei- fehler des Fahrers vernachlässigt. Liegen aus der
ten wird die relative Differenz der Radgeschwin- Vergangenheit schon Fahrstreifenzuordnungen
48 digkeiten ∆v/vx und die Spurweite b benötigt. Um vor, so kann die Hypothese, dass die Objekte und
Antriebseinflüsse gering zu halten, wird die Diffe- das ACC-Fahrzeug auf ihrem Fahrstreifen bleiben,
49 renz ∆v = (vl – vr) und auch die Fahrgeschwindig- herangezogen werden. Diese ist wiederum ungül-
keit an der nichtangetriebenen Achse vx = (vl + vr)/2 tig bei ein- oder ausscherenden Objekten und dem
50 ermittelt. eigenem Fahrstreifenwechsel. Zudem hilft sie nicht
bei der Erstzuordnung.
v
v D (46.7) Dazwischen liegt der Ansatz, die Objektdaten
51 vx b um die Hälfte der Zeitlücke zu verzögern und sie
Obwohl alle genannten Verfahren zur Krümmungs- auf Basis der dann aktuellen Kurskrümmung zu-
52 bestimmung herangezogen werden können, so besit- zuordnen. Sie ist sehr robust bei Kurvenein- und
zen sie unterschiedliche Eignung bei verschiedenen -ausfahrten, was sich daraus erklärt, dass durch
Betriebsbedingungen. Sie unterscheiden sich vor al- die Verzögerung die Krümmung des Kurses auf
53 lem bei Seitenwind, Straßenquerneigung, Radradius- der Mitte zwischen den Objekten und dem ACC-
Toleranzen und hinsichtlich der Messempfindlich- Fahrzeug herangezogen wird und somit auch bei
54 keit in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen. wechselnden Krümmungen eine gute Zuordnung
Wie . Tab. 46.4 zeigt, ist die Krümmung aus ermöglicht wird. Für die Erstzuordnung muss al-
55 der Gierrate am besten geeignet. Allerdings kann lerdings ebenfalls auf die erstgenannte Methode
eine weitere Verbesserung der Signalqualität er- zurückgegriffen werden.
reicht werden, wenn mehrere oder alle Signale Möglichkeiten zur Kursprädiktion bieten sich
56 zum gegenseitigen Abgleich verwendet werden. durch die GPS-basierte Navigation mit Rückgriff auf
Dies ist insbesondere möglich, da das ACC-Fahr- die Digitale Karte und den dort abgelegten Krüm-
57 zeug mit ESC ausgerüstet ist und somit alle oben mungsinformationen an. Leider wird keine Aktuali-
genannten Sensoren Bestandteile des Systems tät der Karten garantiert und ferner sind Baustellen
sind. Im Stillstand bietet sich der Offsetabgleich nicht vermerkt. Auch die Methode, Standziele am
58 der Gierrate an, was allerdings Stillstandsphasen Straßenrand zur Krümmungsbestimmung heran-
benötigt, die bei Autobahnfahrt ohne Stau nicht zuziehen, ist bei Abwesenheit dieser nur eine par-
59 auftreten. Hier können dann statistische Mitte- tielle Unterstützung und ist vermutlich trotzdem
lungsverfahren herangezogen werden, da über in den meisten ACC-Kursprädiktionsalgorithmen
60 lange Strecken der Mittelwert des Gierratensen- enthalten. Auch die Querbewegung von vorausfah-
sors den Offset liefert. renden Fahrzeugen kann für eine Verbesserung der
46.7 • Zielauswahl
869 46
κs κψ κay κv
Offsetdrift + −− −− +
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45 .. Abb. 46.17 Zeitliche Häufung der Zielobjektab-
lage zur Fahrschlauchmitte bei einem 8 m breiten
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52 Fahrzeug als auch vom potenziellen Zielfahrzeug. Für eine variable Fahrschlauchbreite sind zwei
Daher ist die Zuordnung zum eigenen Fahrstreifen Informationen wichtig: Sind zur linken oder zur
nur sicher, wenn die (ohne Fehler) gemessene la- rechten Seite überhaupt Nebenfahrstreifen vorhan-
53 terale Position in Bezug auf die (ohne Fehler) prä- den? Wenn nicht, dann kann auf der jeweiligen Seite
dizierte Kursmitte innerhalb von ± 1,2 m liegt. Die der Fahrschlauch sehr breit gewählt werden (z. B.
54 Zuordnung des Objekts zum Nachbarfahrstreifen etwa 2 m zu der jeweiligen Seite, also 4 m, wenn zu
gelingt sicher auch erst, wenn die Position mindes- beiden Seiten kein Fahrstreifen für die gleiche Fahrt-
55 tens 2,3 m von der Kursmitte beträgt. Die Werte richtung vorhanden ist). Die Information über die
beziehen sich auf eine Fahrstreifenbreite von 3,5 m. Existenz der Nachbarfahrstreifen kann aus der Be-
Wie aus der in . Abb. 46.17 dargestellten, mit obachtung von Standzielen am Fahrbahnrand und
56 einem Radar-Sensor aufgezeichneten Statistik her- von entgegenkommenden Fahrzeugen gewonnen
vorgeht, ist bei einer Fahrstreifenbreite von 3,5 m werden, wobei Änderungen, z. B. die Aufweitung
57 tatsächlich mit einigen Falscherkennungen zu rech- auf zwei Richtungsfahrstreifen, nur mit Zeitverzug
nen, andererseits aber auch, dass bei einem schma- erkannt werden können. Wird ein benachbarter
leren Fahrschlauch Zielverluste zu erwarten sind. Fahrstreifen entdeckt, z. B. über die Beobachtung
58 Drei Maßnahmen werden zur Verbesserung von Fahrzeugen in der gleichen Richtung mit einer
der Zielauswahl eingesetzt: eine variable, von der Querlage außerhalb des eigenen Fahrstreifens, so
59 Art der Straße abhängige Fahrschlauchbreite, eine kann über eine statistische Betrachtung der Quer-
unscharfe Fahrschlauchkontur sowie eine örtliche ablagen die Fahrschlauchbreite angepasst werden,
60 und eine zeitliche Hysteresefunktion für die Ziel- sodass durch Baustellen mit einem schmaleren
auswahl. Fahrschlauch gefahren werden kann.
46.7 • Zielauswahl
871 46
.. Abb. 46.18 Bildung einer Zielplausibilität
(Darstellung entnommen aus [14])
Eine weitere Maßnahme ist die örtliche Hyste- 46.7.4 Weitere Kriterien
rese, womit gemeint ist, dass für ein als Regelobjekt für die Zielauswahl
markiertes Objekt ein breiterer Fahrschlauch gilt als
für alle anderen Objekte. Typische Unterschiede lie- Neben der Zuordnung zum Fahrschlauch können
gen bei etwa 1 m, also zu beiden Seiten etwa 50 cm. andere Kriterien sinnvoll eingesetzt werden. Das
Damit wird verhindert, dass Falscherkennungen bedeutendste Kriterium für die Zielauswahl ist die
von Objekten auf dem Nachbarfahrstreifen insbe- Objektgeschwindigkeit. Entgegenkommende Fahr-
sondere bei sich ändernden Verhältnissen (Kurve- zeuge werden komplett für die Regelung ignoriert.
nein- und -ausgang, unruhige Lenkbewegung) auf- Stehende Objekte sind ebenfalls keine Zielobjekte,
treten, andererseits aber das Zielobjekt in solchen mit Ausnahme derer, die schon als in der Fahrtrich-
Situationen stabil gehalten werden kann. tung bewegte Objekte erkannt wurden (so genannte
Ferner findet eine zeitliche Hysterese Anwen- „angehaltene Objekte“). Diese sind insbesondere
dung, wie . Abb. 46.18 zeigt. für die FullSpeedRange-ACC-Funktion in gleicher
Gewichtet mit der Zuordnungssicherheit (Spur- Weise relevant wie die in die gleiche Richtung fah-
wahrscheinlichkeit SPW) steigt bei positivem SPW renden Objekte. „Immer stehende“ Objekte werden
die Zielplausibilität (PLA) an. Oberhalb einer oftmals für andere Funktionen genutzt (s. a. ▶ Ab-
oberen Schwelle (hier 0,4) wird das Objekt zum schn. 46.9.3), und dafür separaten Filtern unterwor-
Zielobjekt, sofern andere Kriterien nicht dagegen fen. Für die ACC-Grundfunktionalität spielen sie
sprechen. Die Zielplausibilität kann bis zu einem aber nur eine untergeordnete Rolle.
maximalen Wert (hier 1) wachsen und verringert Eine weitere einfache, aber auch sehr effek-
sich aufgrund von zwei Möglichkeiten: bei fehlen- tive Vorgehensweise ist die Begrenzung des Ab-
der Detektion (kein Signal) und bei Zuordnung zum stands in Funktion der Fahrgeschwindigkeit (vgl.
benachbarten Fahrstreifen (negatives SPW). Erst . Abb. 46.11). So ist bei einer Geschwindigkeit von
unterhalb der unteren Schwelle (hier 0,2) verliert 50 km/h eine Reaktion auf Ziele, die mehr als 80 m
das Objekt die Eigenschaft, als Zielobjekt gewählt entfernt sind, weder notwendig noch sinnvoll, da
werden zu können. die Gefahr der falschen Zuordnung mit der Ent-
Das Zuordnungsmaß SPW kann unscharf abge- fernung deutlich steigt. Erfahrungswerte ergeben
bildet werden, wie in . Abb. 46.19 dargestellt ist. Je einen Abstandswert dto,0 = 50 m und einen Anstieg
weiter das Objekt entfernt ist, umso unschärfer ist von τto = 2 s.
der Übergang zwischen den Fahrstreifenzuordnun-
gen. Damit wird den mit dem Abstand steigenden dto;max D dto;0 C v to(46.10)
Fehlern der Lagebestimmung und Kursprädiktion
Rechnung getragen. Zusätzlich können andere Erfüllen mehrere Objekte die Kriterien für ein Ziel-
abgeschätzte Unsicherheiten dynamisch zum Ein- objekt, so kommen folgende Entscheidungskriterien
schnüren des Kernbereichs führen wie eine festge-
stellte große Kurskrümmung.
-
einzeln oder in Kombinationen in Betracht:
der geringste Längsabstand,
872 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
42
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44
- der geringste Abstand zur Kursmitte (minima- den verspäteten Reaktion bezogen auf den Moment
45 - les |∆yc|),
die geringste Sollbeschleunigung.
.. Abb. 46.20 Situationsbeispiel für mehrdeutige Zielzuordnung (Fahrzeugpositionen und -bewegungen sind in beiden
Bildern identisch)
abstandsdifferenzgeführte Regelung. Als Ausgangs- erfüllt ist. Andernfalls werden die Frequenzanteile
punkt der weiteren Überlegungen wird angenom- der Frequenzen, für die diese Bedingung nicht er-
men, dass der Reglerausgang direkt und ohne zeit- füllt ist, aus einer noch so kleinen Störung mit jeder
liche Verzögerung die Fahrzeugbeschleunigung ist nachfolgenden Kolonnenposition größer. Für das in
und ferner, dass das ACC-Fahrzeug mit der Sollzeit- Gl. (46.11) aufgestellte idealisierte Regelgesetz gilt
lücke τset dem Zielfahrzeug folgt. Unter Vernachlässi- offensichtlich die Kolonnenstabilität, da
gung der Fahrzeuglängen lässt sich daraus ableiten,
dass das ACC-Fahrzeug nach einer Zeitdauer von τset jVK j D je j!set j D 1(46.13)
die Position des Zielfahrzeugs erreicht. Kopiert das
ACC-Fahrzeug nun die Position des Zielfahrzeugs ist, wenn auch grenzstabil ohne Dämpfung. Dieser
um die Zeitlücke verschoben, so wird die Zeitlücke Ansatz ist nicht praxistauglich, aber er zeigt die
unabhängig von der Geschwindigkeit eingehalten. Grundtendenz zu einer Reglerauslegung an. Nach-
In gleicher Weise werden die Geschwindigkeit und teile dieses Ansatzes sind die numerisch ungünstige
die Beschleunigung des vorausfahrenden Fahrzeugs Ermittlung der Beschleunigung des vorausfahren-
zeitverschoben kopiert. Somit ist für den einge- den Fahrzeugs (Differentiation der Relativgeschwin-
schwungenen Fall ein einfaches Regelgesetz ableit- digkeit und der eigenen Fahrgeschwindigkeit, die
bar, dass sogar Rückkopplungen vermeidet: dazu notwendige Filterung führt zu Phasenverzug)
und die fehlende Korrekturmöglichkeit bei nicht
xR i C1 .t/ D xR i .t set /(46.11) passender Geschwindigkeit und bei Abweichungen
im Abstand.
Der Index i + 1 steht für das ACC-Fahrzeug in ei- Dazu wird im Folgenden ein auf Basis der Rela-
ner Fahrzeugkolonne mit Laufindex i. Die Notation tivgeschwindigkeit ausgelegter Regler gebildet:
wird im Hinblick auf die Betrachtung der Kolon-
xP i .t/ xP i C1 .t/ vrel
nenstabilität eingeführt, als deren Maß der Quotient xR i C1 .t/ D D (46.14)
v v
VK D xb R i .!/ der (komplexen) Beschleuni-
R i C1 .!/=xb
gungsamplituden ist. Die Kolonne ist genau dann oder im Frequenzbereich
stabil, wenn die Bedingung
xb
R i .!/
xb
R i C1 .!/ D
jVK j D jxb R i .!/j 1; für8! 0(46.12)
R i C1 .!/=xb 1 C j!v (46.15)
874 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
Mit wenigen Schritten lässt sich dieser Ansatz zeugs, wie . Abb. 46.21 für Frequenzen oberhalb
41 in einen beschleunigungsgeführten Ansatz wie von 0,05 Hz zeigt.
Gl. (46.11) überführen, wobei der Beschleuni- Wie die Messungen von Witte in [16] belegen,
42 gungswert des vorausfahrenden Fahrzeugs nicht treten diese Schwankungen bei „fahrergeregelten“
um eine feste Zeit verzögert wird, sondern in ei- Fahrgeschwindigkeiten in durchaus merklicher
nem PT1-Glied gefiltert und dadurch implizit um Weise auf, was dadurch verursacht wird, dass die
43 τv verzögert wird. Der Ansatz (46.14 bzw. 46.15) Fahrer erst bei bemerkter Abweichung vom Wunsch
ist offensichtlich kolonnenstabil, allerdings nur bei eine dann zunächst konstante Fahrpedalstellung zur
44 Gleichheit von τv und τset auch dem Regelwunsch Korrektur anwenden, die dann erst wieder auf einen
nach konstanter Zeitlücke konform. Ferner ist die- anderen Wert geändert wird, wenn wiederum eine
45 ser Regelansatz nicht geeignet, einmal vorhandene Abweichung bemerkt wird.
Abstandsabweichungen zu reduzieren. Dazu wird Stabilität einerseits und hohe Entkopplung von
der Regler um einen additiven Korrekturteil zur Re- den Geschwindigkeitsschwankungen vorausfah-
46 lativgeschwindigkeit erweitert, der proportional zur render Fahrzeuge andererseits sind nicht zugleich
Differenz zwischen Soll- und Istabstand ist: zu erreichen. Eine implizite Fallunterscheidung
47
dset d
bietet sich als Ausweg aus der Dilemma-Situation
xR i C1 .t/ D vrel =v(46.16) an. Die hohe Empfindlichkeit des Fahrers auf
d
Schwankungen tritt vor allem dann auf, wenn in
48 oder im Frequenzbereich einer ruhigen, durch geringe Geschwindigkeits-
unterschiede geprägten Folgesituation gefahren
49 R i C1 .!/ D xb
xb R i .!/
1 C j!d
1 C j!.d C set / ! 2 d v
(46.17) wird. Die mit der fehlenden Kolonnenstabilität
verbundenen Probleme äußern sich erst bei großen
50 Abweichungen zum stationären Zustand. Daher
Die Stabilitätsbedingung |VK| ≤ 1 wird nun nur liegt es nahe, die Regelkreisschleifenverstärkung
noch erfüllt, wenn τv hinreichend klein gewählt ist: selektiv auf diesen Unterschied auszulegen. In ei-
51 ner einfachsten Form kann dies über eine Kennli-
set
v set .1 C /(46.18) nie mit zwei Knicken bei ± ∆v12 realisiert werden
52 2d
(. Abb. 46.22), wobei auch ein abgerundeter Über-
Offen bleibt bisher die Wahl der Abstandsregel- gang denkbar ist. Mit diesem Ansatz lassen sich
zeitkonstanten τd. Dazu kann ein Referenzszenario innerhalb der Regeldifferenzen von ∆v12 ≈ 1 m/s
53 herangezogen werden, nämlich das Zurückfallen in die Geschwindigkeitsschwankungen mit großer
einer Einschersituation. Dabei wird angenommen, Regelzeitkonstante dämpfen, wenn aber größere
54 dass das einscherende Fahrzeug ohne Geschwin- Dynamik gefordert ist, wie z. B. einer größeren
digkeitsdifferenz in einem Abstand einschert, der Verzögerungsstufe, lässt sich auf Großsignalebene
55 20 m kleiner ist als der Sollabstand. Eine angemes- Stabilität erreichen.
sene Reaktion wäre eine Verzögerung von etwa Bei der tatsächlichen Reglerumsetzung wird
1 m/s2 entsprechend einem „Gaswegnehmen“ oder nur das grundsätzliche Prinzip übernommen, da
56 einer sehr leichten Bremsung. Damit eine derartige noch weitere Einflussgrößen eine Modifikation ver-
Reaktion gemäß Gl. (46.16) erfolgt, muss das Pro- langen. Diese kann über Kennfelder oder komple-
57 dukt τv · τd = 20 s2 betragen. Dieser Wert wird bei xere mathematische Funktionen ausgedrückt wer-
den nun nachfolgenden Betrachtungen zugrunde den. Des Weiteren werden in obiger Betrachtung
gelegt. alle sonstigen Systemtotzeiten vernachlässigt, was
58 Aus Gleichung (46.18) folgt, dass die durch v1 weder für die Umfeldsensorik noch für den unterla-
definierte Schleifenverstärkung für die Relativge- gerten Beschleunigungsregelkreis gerechtfertigt ist.
59 schwindigkeit umso höher sein muss, je kleiner die Als Richtwert kann hier gelten, dass die Regelkreis-
Folgezeitlücke ist. Allerdings bedeutet eine hohe zeitkonstanten um die Totzeiten reduziert werden
60 Schleifenverstärkung auch eine geringe Dämpfung müssen, um die Stabilitätsbedingungen erfüllen zu
von Geschwindigkeitsschwankungen des Zielfahr- können.
46.9 • Zielverluststrategien und Kurvenregelung
875 46
Kolonnenverstärkung
1,2
τv = 1,5 s, τd = 13,3 s
Verstärkungsfunktion |V|
1
τv = 4,0 s, τd = 5 s
0,8
0,6
.. Abb. 46.22 Regelschleifenverstärkungskennlinie von
0,4 einem nichtlinearen Abstands- und Relativgeschwindigkeits-
regler
0,2
vc,ay(3m/s2)
fahrstreifengenauen Ortung. Damit lässt sich die
42 vc,pred(4°,2s) Kurvenkrümmung im Vorhinein erkennen und auch
vc,pred(8°,2s) die Regelstrategie an Autobahnausfahrten anpassen.
Eine weitere Herausforderung für die ACC-Ent-
43 wickler stellt das Abbiegen des Zielfahrzeugs dar.
Durch die Richtungsänderung des Geschwindig-
44 keitsvektors des vorausfahrenden Fahrzeugs ergibt
sich eine deutliche scheinbare Verzögerung für das
45 nachfolgende Fahrzeug. Da nur diese vom Sensor
gemessen wird, erfolgt daraus eine überproporti-
10 onale Verzögerung des ACC-Fahrzeugs, die durch
46 0,001 Kurvenkrümmung [1/m] 0,01 geeignete Maßnahmen reduziert werden sollte.
.. Abb. 46.23 Kurvengrenzgeschwindigkeiten für eine
47 „Blindflugregelung“ in Abhängigkeit von der Kurvenkrüm-
mung κ (vc,ay aus der Grenzquerbeschleunigung, ay,max resultie-
46.9.1 Annäherungsstrategien
48 rende Grenzgeschwindigkeit, vc,p aus maximalem Azimutwin-
kel fmax und der Vorschauweite tpreview abgeleitet) Das Annäherungsvermögen ist definiert als maxi-
male negative Relativgeschwindigkeit –vrel,appr, die
49 Das zweite vermutlich in allen ACC-Systemen mittels ACC zu einem mit konstanter Geschwin-
eingesetzte Kriterium ist die Querbeschleunigung. digkeit fahrenden Fahrzeug noch ausgeregelt wer-
50 Wie schon bei der Ableitung der Kurvenklassifika- den kann, bevor eine kritischen Distanz dappr,min
tion (▶ Abschn. 46.6.2) wird von einer den Kom- unterschritten wird. Es hängt vom Abstand dappr,0
fortbereich beschreibenden Grenzquerbeschleuni- bei Verzögerungsbeginn, vom konstant ange-
51 gung ay,max ausgegangen, die zwischen 2 m/s2 (bei nommenen maximalen Anstieg der Verzögerung
höheren Geschwindigkeiten) und 3 m/s2 (bei nied- «v;min D max und von der maximalen Verzöge-
x
52 rigen Geschwindigkeiten) liegt. Daraus lässt sich rung = minimale Beschleunigung xR v;min D Dmax
wiederum eine Kurvengrenzgeschwindigkeit vc,ay ab.
ableiten:
53 r vrel;appr D
s
D3
2Dmax dappr;0 dappr;min C max
(46.22)
ay;max 2
6max
vc;ay .; ay;max / D (46.21)
54
2
Dmax
2max
Beide Grenzgeschwindigkeiten sind jeweils für zwei
D2
vrel;appr C 2max
2
55
3
(46.23)
Dmax
typische Werte in . Abb. 46.23 dargestellt. Liegt die dappr;0 D dappr;min 2
6max
C
2Dmax
max
Natürlich kann bei dynamischen Annäherun- Diese Funktion ist allerdings nur geeignet für den
gen nicht vermieden werden, dass der stationäre Einsatz in Ländern mit hoher Relativdynamik, also
Sollabstand bzw. die Sollzeitlücke unterschritten z. B. in Deutschland. In den USA dagegen sind die
wird. Daher kann als Reserve dappr,min für eine ge- Geschwindigkeitsunterschiede auf verschiedenen
lungene Annäherung auch ein deutlich kleinerer Fahrstreifen oft nur gering, sodass die Funktion hier
Abstandswert als der Sollabstand eingesetzt werden. in deutlich anderer Ausprägung angeboten werden
Doch ist zu beachten, dass die Unterschreitung, also muss oder sogar weggelassen wird. Alternativ kön-
das „Eintauchen“ nur über eine gefahrene Strecke nen bei entsprechender Sensorperformance (vor
von 250 bis 300 m zulässig ist. allem azimutaler Abdeckungsbereich und Grad
der Mehrzielfähigkeit) die Geschwindigkeiten der
Fahrzeuge auf dem Zielfahrstreifen analysiert und
46.9.2 Überholunterstützung die Überholunterstützung davon abhängig gemacht
werden.
Folgen und Überholen stehen im Widerspruch zu-
einander. Somit muss für eine Unterstützung des
Überholens die Folgeregelung temporär modifi- 46.9.3 Reaktion auf stehende Ziele
ziert werden. Ließe sich die Überholaktion exakt
vorhersehen, so könnte das aktuell vorausfahrende Stehende, im zukünftigen Korridor liegende Ob-
Fahrzeug ignoriert und so Fahrt aufgenommen jekte können durchaus relevante Hindernisse sein.
werden, als ob kein Fahrzeug vorausfahren würde. Aber vielfach sind es irrelevante Ziele wie Kanalde-
Allerdings ist der Fahrtrichtungsanzeiger kein ein- ckel, Brücken oder Schilder. Schon bei Geschwin-
deutiger Indikator, weder für die tatsächliche Über- digkeiten von 70 km/h müsste eine rechtzeitige Ver-
holabsicht noch für den gewünschten oder mögli- zögerung mit etwa 2,5 m/s² schon etwa 100 m vor
chen Manöverbeginn. Der erste Fall tritt auf, wenn dem Objekt begonnen werden. Da aber die Fehler-
mit dem Fahrtrichtungsanzeiger ein Linksabbiegen wahrscheinlichkeit bei der Zielauswahl dabei noch
angezeigt werden soll. Da diese Situation bei hohen sehr hoch ist, ist eine Reaktion auf stehende Ziele
Geschwindigkeiten selten der Fall ist, andererseits nur in wenigen Ausnahmefällen sinnvoll. Die wich-
das Überholen eher mit einer hohen Geschwindig- tigste Ausnahme betrifft die Historie von stehenden
keit verbunden ist, lässt sich eine Kompromisslö- Objekten. Sind diese zuvor mit einer von Null un-
sung finden, bei der die Überholunterstützung erst terscheidbaren Absolutgeschwindigkeit gemessen
bei Geschwindigkeiten oberhalb von 70 km/h ein- worden, so werden diese als „angehaltene“ Objekte
gesetzt wird. klassifiziert und können auch als potenzielle Ziel-
Ein einfaches Ausblenden des aktuellen Ziels objekte behandelt werden. Ansonsten werden die
scheidet aus, da das „Linksblinken“ oftmals auch Bedingungen für eine Reaktion auf stehende Ziele
als Aufforderung an den vorausfahrenden Fahrer, nur im Nahbereich bis ca. 50 m eingeschränkt. Die
den Überholstreifen freizugeben, eingesetzt wird. Reaktion kann eine „Beschleunigungsunterdrü-
Da aber nicht vorherzusehen ist, ob und wann die- ckung“ sein, bei der die Erhöhung der Geschwin-
sem Wunsch Folge geleistet wird, verbleibt nur eine digkeit unterbunden wird, solange das stehende
vorsichtige Unterschreitung des bisherigen Sollab- Objekt im Fahrschlauch geortet wird, oder eine
stands zum „Schwungholen“. Innerhalb dieser Phase Auffahrwarnung. Eine Bremsreaktion auf stehende
sollte dann der Überholvorgang mit einer erkennba- Hindernisse ist nur möglich, wenn die Fehlerwahr-
ren Richtungsänderung initiiert sein. Das notwen- scheinlichkeit der Zielwahl deutlich verringert
dige schnelle „Loslassen“ des bisherigen Ziels kann werden kann. Mit Einsatz mehrerer, möglichst
durch einen nach links verschobenen Fahrschlauch nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien
unterstützt werden. Kann der Überholvorgang nicht arbeitender Sensoren und einer robusten Sensor-
wie gewünscht durchgeführt werden, so kehrt ACC datenfusion lässt sich eine für Bremseingriffe bei
nach einer wenige Sekunden dauernden Aufrück- stehenden Zielen hinreichende Wahrnehmungs-
phase wieder in den normalen Folgemodus zurück. qualität erreichen.
878 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
-
anlage in der Lage sein, Veränderungen mit bis zu 46.10.2.4 Sonstige Anforderungen
41 150 bar/s zu folgen. Das Bremslicht muss unabhängig von der
Notwendig ist ein dynamisches Folgen der Soll- Fahrerbremsbetätigung angesteuert werden
42 wertvorgabe mit ausreichend schnellem Druckauf- können. Bei Bremsstellsystemen mit einem
bau zu Bremsbeginn und möglichst verzugsfreiem aktiven Booster kann dies ohne Änderung
Folgen bei Druckmodulationen. Die maximalen über den Bremslichtschalter am Pedal reali-
43 Verzugszeiten sollten dabei < 300 ms bleiben. Vor- siert werden, während bei Bremsstellsystemen
aussetzungen dafür sind neben einer entsprechend mit Hydraulikpumpen das Bremslicht vom
44 dimensionierten Pumpe vor allem die Entdrosse- Steuergerät in Abhängigkeit von Bremsdruck
lung des Hydrauliksystems im Ansaugbereich der und Verzögerung gesteuert wird. Dabei ist
45 Pumpe, um die benötigten Volumina weitgehend das Bremslichtflackern über Mindestan-
temperaturunabhängig bereitstellen zu können. steuerzeiten bzw. mittels Schalthysterese zu
46
47
Das Einregeln des Sollwerts muss unbedingt über-
schwingungsfrei erfolgen, da dies sonst vom Fah-
rer als sehr unangenehm empfunden wird. Neben
schnellem Folgen bei dynamischen Sollvorgaben ist
- vermeiden.
Die Bremsdruckverteilung Vorder-/Hinter-
achse ist identisch zur Normalbremsbetätigung
zu halten, um eine Überlastung der Bremsen
insbesondere auch ein gutes und möglichst stufen- einer Achse bzw. instabiles Fahrzeugverhalten
loses Folgeverhalten bei kleinen oder sich langsam zu verhindern. Hierbei haben sich zusätzli-
48 verändernden Sollvorgaben unbedingt erforderlich, che Bremskreisdrucksensoren bewährt. Bei
da gerade dieses Ausregeln von kleinen Regeldiffe- längeren Bremsungen kann darüber auch die
49 renzen typisch für den ACC-Betrieb ist. Stationäre Leckage in einem Kreis erkannt und kompen-
50
Abweichungen sind ebenfalls zu vermeiden, da sich
dies zu Geschwindigkeits- und Abstandsfehlern auf-
integriert und zu Grenzzyklusschwingungen führen
kann.
- siert werden.
Beim Einbremsen des Fahrers in eine ACC-
Bremsung sollen die Pedalrückmeldungen so
gering wie möglich gehalten werden. Ins-
51 besondere Vibrationen oder gar Schläge am
46.10.2.3 Regelkomfort Pedal sind zu vermeiden, der Übergang in die
52 Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, reagiert normale Bremsdruckkennlinie ist harmonisch
53
das Fahrzeug sehr sensibel auf Druckänderungen.
Damit ein sensibler Fahrer den Druckaufbau als
stufenlos empfindet, muss die Bremsanlage fähig
sein, Druckstufen kleiner als 0,5 bar zu stellen.
- zu gestalten.
Beim Auftreten von Fahrzeuginstabilitäten
hat die Fahrzeugregelung (ABS, ASR, ESC)
Vorrang, die Übergänge in die Schlupfregelung
54
55
Der Bremsdruckauf- und -abbau soll möglichst
geräuschfrei, harmonisch und kontinuierlich ver-
laufen, unbeabsichtigte Drucksprünge über 1 bar
Druckänderung sind zu vermeiden. Für eine gleich-
- sind dazu geeignet auszulegen.
Sicherheitsüberwachungen: Bei Fehlern im
ESC-System ist der Bremsdruck sofort abzu-
bauen, bei Fehlern in Partnersteuergeräten ist
mäßige Druckerzeugung ist eine erhöhte Anzahl an je nach Schwere eine Bremsung zu beenden
56 Pumpenelementen günstig, für den Druckabbau bzw. rampenförmig Druck abzubauen. Ebenso
sind kontinuierlich regelnde Ventile vorteilhaft. ist sicherzustellen, dass alle Abschaltsignale
57 Bezüglich Akustik ist auf eine niedrige Pumpen- (zusätzlich zum Bremslichtschalter), wie etwa
drehzahl zu achten sowie auf eine entsprechende Bedienelemente, Handbremsbetätigung, un-
Lagerung der Hydraulikeinheit und auf geeignete gültiger Gang etc. sicher verarbeitet werden.
58 Verlegung der Bremsleitungen, um die Einkopplung
von Schwingungen über die Karosserie zu verhin- 46.10.2.5 Rückmeldeinformation
59 dern. Erschwerend kommt hinzu, dass bei einem Das Bremssubsystem ist der wichtigste Lieferant für
Bremseingriff eine der wesentlichen Geräuschemit- fahrzeuginterne Zustandsgrößen; die wichtigsten
60 tenten im Fahrzeug, der Motor, auf sein akustisches hierunter sind: Fahrzeuggeschwindigkeit, Gierrate,
Minimum, den Schleppbereich, zurückgefahren ist. Lenkradwinkel, Bremslichtschalter und Schlupf-
46.10 • Längsregelung und Aktorik
881 46
-
für FSRA laufen müssen wie für den Fahrer; der Antrieb ist
Für Bremsungen im Niedriggeschwindigkeits- für ACC weiterhin lediglich ein Momentensteller,
bereich bestehen vor allem wegen fehlender da für die Systemfunktion unerheblich ist, wie diese
Fahr- und Motorgeräusche erhöhte Anfor- Momente erzeugt werden. Hinsichtlich des rekupe-
derungen an die Akustik der Bremsregelung. rativen Bremsens mit einer Elektromaschine ist auf
Ebenso sind Bremsengeräusche wie Quiet- entsprechende Koordination mit dem Bremssystem
-
ergeben sich folgende Aufgaben: Veränderung des Motormoments oder durch Ver-
Anhebung (nach starken Verzögerungen ändern der Getriebeübersetzung.
ggf. auch Absenkung) des Bremsdrucks für So ergibt sich für eine Änderung der Beschleu-
sicheres Halten im Stand, eine Neigungser- nigung ∆a analog zur Betrachtung bei der Bremse
-
kennung ist hierfür vorteilhaft ein proportionaler Zusammenhang mit der Sum-
Permanente Rollüberwachung und bei men-Radkraftänderung bzw. der Summen-Radmo-
-
Bedarf Bremsmomentenerhöhung mentenänderung:
Rutscherkennung bei sehr niedrigen
FR† MR†
Reibwerten, ggf. Lösen der Bremse, um a D D (46.25)
-
mv mv Rdyn
Lenkbarkeit zu erhalten
Sicherer Übergang in energieloses Halten
(Ansteuerung der elektrischen Parkbremse Zeichenerklärung:
EPB) bei Erkennung einer Fahrerausstiegs- Δa Änderung der Fahrzeugbeschleunigung
-
absicht mv Fahrzeugmasse
Temperaturüberwachung des Hydraulik- Rdyn Radius der Räder
systems wegen der stärkeren Erwärmung ΔFRS Summenradkraftänderung
durch die permanente Ventilbestromung, ΔMRS Summenradmomentänderung
-
ggf. Abschaltung mit Fahrerwarnung
Bei Motor-Start-Stopp-Systemen ist darauf Eine direkte Ansteuerung des Motors über Motor-
zu achten, dass während des Spannungsein- moment-Sollwerte ist zwar möglich, benötigt aber
bruchs beim Motorstart alle notwendigen spezielle Maßnahmen zur Getriebebeeinflussung,
Funktionen aktiv bleiben, insbesondere ist um eine ausreichende Dynamik zu erhalten und
das korrekte Schließen derjenigen Hyd- trotzdem unerwünschte Schaltungen zu vermeiden.
raulik-Ventile zu berücksichtigen, die für Ein lediglich stark schaltberuhigtes Kennfeld wie im
das Halten des notwendigen Bremsdrucks CC-Betrieb reicht nicht aus, da ACC im Folgereg-
verantwortlich sind. ler deutlich dynamischer ausgelegt sein muss als ein
882 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
rein auf Konstantfahrt ausgelegter Fahrgeschwin- motor entstehen, vermieden bzw. erlaubt werden.
41 digkeitsregler. Des Weiteren können größere Unstetigkeiten in der
Ebenso ist eine direkte Umrechnung der Mo- Momentenumsetzung, wie sie z. B. durch zusätzliche
42 tormoment-Sollwerte in virtuelle Fahrpedalwinkel Getrieberückschaltungen in automatisierten Stufen-
zur Ansteuerung der Getriebelogik nicht geeignet, getrieben auftreten, vermieden bzw. erlaubt werden.
da die ACC-Regelung versucht, eine vorgegebene
-
43 Beschleunigung exakt einzuregeln und – anders als Beispiele:
beim Fahrer – Abweichungen sich direkt in Soll- Auslösung der Schubabschaltung, jedoch
44 momentänderungen widerspiegeln, die in bestimm- keine zusätzlichen Getrieberückschaltungen
ten Betriebspunkten zu Pendelschaltungen führen (nur Ausrollschaltungen) bei einer Annähe-
45 können. rung an ein langsamer fahrendes Zielobjekt
oder bei Reduktion der Wunschgeschwindig-
-
46.10.3.1 Motorsteuerung keit.
46 (Stellbereiche, Stelldynamik, Auslösung der Schubabschaltung und zusätz-
Stufigkeit/Genauigkeit liche Getrieberückschaltungen bei statischer
47 Rückmeldeinformation Bergabfahrt zur Unterstützung der Bremsan-
-
(Verlustmoment lage im Bergabbetrieb.
Nebenaggregate)) Aufhebung der Schubabschaltung bei stati-
48 Für den notwendigen Stellbereich gilt – analog scher Bergabfahrt zur Auflösung von zuvor ge-
zur Bremse – dass für ACC der gesamte mögliche tätigten Getrieberückschaltungen. Somit wird
49 Momentenbereich zur Verfügung stehen muss, um ein „Schubabschaltungstoggeln“ verhindert
alle relevanten Fahrsituationen abzudecken. Die und dem Getriebe die Auflösung der Rück-
50 erforderliche Stelldynamik entspricht der für den schaltung bei einer Gefälleänderung während
Fahrer notwendigen Dynamik – was bei den meis- statischer Bergabfahrt ermöglicht.
ten modernen Systemen kein Problem darstellen
51 sollte, da die Fahrersollwerte ebenfalls elektronisch Besonderheiten bei der Kombination
übertragen werden, Fahrer- und ACC-Vorgaben mit Handschaltgetriebe:
52 also prinzipiell über den gleichen Pfad eingespeist Die Motorsteuerung ermittelt das Übersetzungs-
werden. verhältnis Radmoment/Kurbelwellenmoment über
Der Antrieb setzt das angeforderte Summenrad- die Drehzahlübersetzung der Getriebestufen und
53 moment der ACC-Funktion (ähnlich Fahrpedal) auf berechnet damit aus der Antriebsanforderung der
den jeweiligen Betriebspunkt bezogen optimal um. ACC-Funktion ein Motormoment und setzt dieses
54 Es werden Motor, Getriebe und Nebenaggregate zur bestmöglich um.
Umsetzung des Sollwerts herangezogen. Die Koor- Von der Motorsteuerung wird während des
55 dination geschieht möglichst im Antriebssystem Schaltvorgangs, d. h. nach Kupplungsbetätigung
autonom. Sollte dies nicht unterstützt werden, so durch den Fahrer, eine Regelung der Kurbelwellen-
hat die Umrechnung auf das Motormoment vom drehzahl zur Synchronisierung Kurbelwellen-/Ge-
56 ACC-Steuergerät oder einem Längsdynamikmodul triebeeingangsdrehzahl im Zielgang durchgeführt.
zu erfolgen, wobei die aktuelle Getriebeübersetzung Die Bestimmung des Kurbelwellendrehzahlsoll-
57 bekannt sein muss. werts erfolgt in Abhängigkeit des im Motorsteuer-
Die ACC-Funktion unterscheidet aus Komfort- gerät prädizierten Zielgangs.
gründen unterschiedliche Betriebsarten, die in die Die Motorsteuerung bewertet die Kurbelwellen-
58 Koordination der unterschiedlichen Stellmöglich- drehzahl und weist den Fahrer unter Einbeziehung
keiten, die der Antrieb hat, eingehen (z. B. Schub- der Situation darauf hin, einen niedrigeren Gang zu
59 abschaltung, Getriebeschaltungen, Zuschaltung wählen. Die Aufforderung, einen höheren Gang zu
von Nebenaggregaten). So können kleine Unste- wählen, ist nicht erforderlich.
60 tigkeiten in der Momentenumsetzung, wie sie z. B. Um ein Abwürgen des Motors zu verhindern,
durch Aktivierung der Schubabschaltung im Otto- muss der Motor die Möglichkeit haben, die ACC-
46.11 • Nutzungs- und Sicherheitsphilosophie
883 46
46.10.3.2 Getriebesteuerung Für die Akzeptanz des ACC-Systems ist eine gute
Die ACC-Zustandssteuerung benötigt als eine der Nachvollziehbarkeit der Systemreaktionen unerläss-
Aktivierungsbedingungen vom Getriebe im We- lich. Nur wenn der Benutzer in kurzer Zeit in der
sentlichen die Information, dass ein gültiger (Vor- Lage ist, die Systemreaktionen vorherzusehen, wird
wärts-)Gang eingelegt ist. er das System auch sinnvoll einsetzen. Dies stellt die
Falls Motormomente vorgegeben werden sollen, Entwickler vor das Problem, die Regelung so ein-
so benötigt ACC vom Getriebe die aktuelle Strang- fach wie möglich auszuführen und dabei teilweise
verstärkung VS; dies ist das Verhältnis von Kraft FRΣ Features, die ein erfahrener Benutzer und natürlich
an der Antriebsachse zum Motormoment MM und die Entwickler selbst schätzen würden, wegzulassen.
durch das Produkt von Wandlerverstärkung µW, der Dadurch, dass der Fahrer bei aktiver ACC-Funktion
Übersetzung iG des aktuellen Gangs, der Achsgetrie- einen Teil der Fahrzeugführungsaufgabe an das Sys-
beübersetzung iA geteilt durch den dynamischen tem abgibt und diese nur noch zu überwachen hat,
Radradius Rdyn gegeben: kommt der Nachvollziehbarkeit des Systems eine
bedeutende Rolle zu. Weil aktuelle ACC-Systeme
FR† W iG iA
VS D D (46.26) nur einen Teil der Längsregelung übernehmen, ist
MM Rdyn es sinnvoll und notwendig, die Systemgrenzen bei
bestimmungsgemäßer Benutzung des Systems so
Dabei ist die Wandlerverstärkung zumeist als zu wählen, dass sie mit einer gewissen Regelmä-
Kennlinie hinterlegt, die ggf. noch temperaturkom- ßigkeit erreicht bzw. überschritten werden. Damit
pensiert werden muss. wird erreicht, dass die Systemgrenzen dem Fahrer
Für FSRA können elektronisch schaltbare Ge- jederzeit bewusst sind und er geübt ist, die Regelung
triebe darüber hinaus als zusätzliche Absicherung vom System zu übernehmen.
für das Stillstandsmanagement herangezogen wer-
den. Dabei wird bei Erkennen der Ausstiegsabsicht Die Adaptive Cruise Control ist keine Sicherheits-
die Parksperre eingelegt. In Verbindung mit einer funktion, sondern dient in erster Linie der Fahr-
mehrstufigen, frühzeitigen Fahrerwarnung, die den komforterhöhung. Selbstverständlich darf auch
Fahrer auf seine Verantwortung zur Stillstandabsi- von einem Komfortsystem keine Gefahr ausgehen,
cherung hinweist, ist dies ausreichend. sodass das ACC-System eine dieser Forderung
Als einzige Absicherung für ein vollautomati- entsprechende Sicherheit zu gewährleisten hat.
sches Stillstandmanagement (ohne Fahrerzutun) Fehlerbaumanalysen haben gezeigt, dass nur dann
reicht dies jedoch nicht, da die Parksperre nur die gefährliche Situationen auftreten können, wenn der
Antriebsachse blockiert, die Räder sich bei ent- Fahrer seine Eingriffsmöglichkeiten nicht nutzt. Da-
sprechenden µ-split-Bedingungen über das Dif- raus leiten sich zwei Konsequenzen ab:
ferenzial jedoch entgegengesetzt drehen können 1. Der Fahrer darf mit der Übernahme nicht über-
und das Fahrzeug losrollen könnte. Ebenso ist bei fordert werden. Insbesondere heißt dies, dass er
verspäteter Anforderung oder im Fehlerfall, wenn die Notwendigkeit der Übernahme erkennt und
das Fahrzeug bereits rollt, ein sicheres Einlegen die daran anschließende Reaktion rechtzeitig
der Parksperre oberhalb von ca. 3 km/h nicht mehr genug und mit der richtigen Handlungsweise
möglich, wohingegen eine EPB prinzipiell bei jeder wählt.
Geschwindigkeit wirksam werden kann. 2. Die Fahrerübernahmemöglichkeit muss fehler-
tolerant ausgelegt sein, sodass diese Möglich-
keiten, wie Abschalten der Regelung, stärkeres
884 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
Verzögern oder stärkeres Beschleunigen, in nur hung von Informationen über den zu erwartenden
41 höchst unwahrscheinlicher Weise blockiert sein Straßenverlauf aus modernen Navigationssyste-
dürfen. men. Auch eine stark versetzte Fahrweise kann
42 zu Ausfällen in der Erkennung führen. Dies führt
Eine rechtzeitige Erkennung der Übernahmenot- insbesondere bei Motorrädern aufgrund deren
wendigkeit leitet sich aus dem mentalen Modell des schmaler Silhouette zu Problemen bei der Erfassung
43 Fahrers über die Funktion ab, das sich durch die (. Abb. 46.25).
vergangene Erfahrung gebildet hat. Insbesondere Einige der zuvor genannten Schwachpunkte be-
44 wäre ein zu hohes Vertrauen auf die Technik durch ziehen sich auf ACC-Systeme der ersten Generation
bisher erlebte Fehlerfreiheit problematisch, weil und wurden durch den erweiterten Sichtbereich der
45 dadurch der Fahrer unvorbereitet sowohl hinsicht- Sensoren aus den Folgegenerationen oder durch
lich des Auftretens als auch der Reaktionshandlung Einsatz von Zusatzsensoren mit geringer Reichweite
wäre. Bei ACC tritt diese Schwierigkeit nicht auf, da und großem seitlichen Erfassungsbereich, wie sie
46 eine Perfektion der Funktion, wie oben aufgeführt, zunehmend in FSRA-Systemen Verwendung finden,
nicht zu erreichen ist. Dieser an sich negative As- zumindest teilweise kompensiert.
47 pekt hat aber den Vorteil, dass die Ausfallsituation
permanent trainiert wird. Damit verbleibt für den
Fahrer das Bewusstsein, dass er bei ungewünschtem 46.12 Sicherheitskonzept
48 Verhalten eingreifen muss, und er hat geübt, in wel-
cher Weise übernommen werden kann bzw. muss. Die Fehlertoleranz der Übernahmemöglichkeit
49 wird durch die Verteilung des Systems erleichtert.
Als Beispiel für eine umgesetzte Möglichkeit dient
46.11.2 Systemgrenzen
50 das Einlesen des Bremspedalschalters sowohl von
der Motorsteuerung als auch des ESC. Bei Erken-
Strahlsensoren wie Radar- oder Lidarsensoren bie- nen des getretenen Bremspedals werden die Mo-
51 ten auf der einen Seite eine präzise Erfassung von mentenanforderungen der ACC-Längsregelung
Abstand und Relativgeschwindigkeit, und zumin- von der Motorsteuerung ignoriert. Ebenso werden
52 dest die Radarsensoren sind weitgehend unemp- Verzögerungsanforderungen an die Bremsregelung
findlich gegenüber Witterungseinflüssen. Auf der unterbunden, wenn das Fahrpedal getreten ist. So-
anderen Seite ergeben sich aufgrund des begrenzten wohl die Betätigung des Bremspedals als auch des
53 Öffnungswinkels und der schwierigen Fahrstreifen- Fahrpedals werden ihrerseits redundant erfasst,
zuordnung der detektierten Objekte speziell in Kur- sodass sowohl die Betätigung als auch folgende Re-
54 vensituationen Einschränkungen, die teilweise zu aktionszustände für Einfachfehler gesichert sind,
unerwarteten oder unverständlichen Systemreakti- selbst wenn der Steuerrechner für ACC oder das
55 onen führen und den Anwendern durch geeignete Datennetzwerk unterbrochen sind.
Medien erläutert werden sollten. Da die Partionierung der Aufgaben sehr unter-
Aufgrund des schmalen Erfassungsbereichs schiedlich sein kann, wie die genannten Beispiele
56 der ACC-Sensoren werden Einscherer direkt zeigen, lassen sich keine allgemeinen Musterlösun-
vor dem eigenen Fahrzeug erst sehr spät erkannt gen angeben. Stattdessen ist die gesicherte Eingriffs-
57 (. Abb. 46.24 links). Problematisch bleibt die Zu- möglichkeit des Fahrers über eine Fehlerbaumana-
ordnung der detektierten Objekte in Kurvenein- lyse nachzuweisen.
gangssituationen, vor allem, wenn aufgrund der Neben der permanenten Verfügbarkeit der Fah-
58 fahrzeugimmanenten Signale (Lenkradwinkel, rereingriffsmöglichkeiten ist eine Eigensicherheit
Giergeschwindigkeit) noch keine Kurvenfahrt er- des ACC-Systems unerlässlich. Auch hier erweist
59 kannt werden kann (. Abb. 46.24 rechts). sich die Dislozierung des Systems als Vorteil. So
Abhilfe kann hier erfolgen durch die Verwen- kann z. B. das ESC-System als nachweislich eigen-
60 dung von Kameras, die in der Lage sind, Fahrstrei- sicheres System die Überwachung der ACC-Rege-
fenverläufe zu erkennen, und durch die Einbezie- lung übernehmen. Wählt man als zu überwachende
46.13 • Nutzer- und Akzeptanzstudien
885 46
.. Abb. 46.24 Beispielhafte
Problemsituationen; links: späte
Reaktion auf Einscherer; rechts:
schwierige Objektzuordnung in
Kurveneingangssituationen
.. Abb. 46.25 Beispielhafte
Problemsituationen: Mehr-
deutigkeit bei stark versetzten
Automobilen und Motorrädern
Größe die resultierende Fahrzeugbeschleunigung, Insgesamt wurde eine Fülle an Ergebnissen (s. a.
sind alle theoretisch möglichen Fehlerquellen ent- [24]) zusammengetragen, aus der hier für einige
halten. Da ACC der ersten Generation über sehr ausgewählte Kategorien einzelne Ergebnisse vorge-
eng gesteckte Grenzen verfügt, meist +1 m/s2 bzw. stellt werden.
–2 m/s2, ist eine solche Beschleunigungsüberwa-
chung sehr gut realisierbar. Nachteilig ist lediglich,
dass bei dieser Art der Überwachung die Beschleu- 46.13.1 Akzeptanz
nigung bzw. Verzögerung für kurze Zeit auf das
Fahrzeug wirkt, bevor sie vom ESC unterbunden Eindeutig fallen die Urteile der Versuchspersonen
wird. Jedoch können die Grenzen so gewählt wer- in allen bislang durchgeführten Studien bezüglich
den, dass über 95 % der Normalfahrer damit zu- der Akzeptanz aus.
rechtkommen. Becker und Sonntag [17] beschreiben in der Pi-
lotstudie, dass die Probanden die Fahrt mit ACC
subjektiv als sicherer, entspannender und weniger
46.13 Nutzer- und Akzeptanzstudien belastend einschätzen als das manuelle Fahren. Zu
dieser Überzeugung kamen sie trotz des Prototy-
Die Entwicklung von Adaptive Cruise Control penstatus der Versuchsträger, die zum Teil erhebli-
(ACC) wurde von Beginn an von Probandenun- che Sensorschwächen aufwiesen. Dennoch konnten
tersuchungen begleitet. Die erste größere Untersu- die Erwartungen der Versuchsteilnehmer an das
chung wurde Anfang der neunziger Jahre vom TÜV System voll erfüllt und zum Teil sogar übertroffen
Rheinland [17] durchgeführt. Sie nahm sich der all- werden. Es wird somit deutlich, dass die Proban-
gemeinen Fragen zu Umgang und Akzeptanz der denurteile hinsichtlich Akzeptanz und Komfort
noch in den Kinderschuhen steckenden Funktion gegenüber dem Reifezustand von ACC weitgehend
an. Anschließend wurden mehrere Grundvarian- robust sind.
ten mit unterschiedlicher Verzögerungsfähigkeit Selbst mit ACC-Systemen ohne Bremseneingriff
und verschiedenen Zeitlücken analysiert [18, 19]. äußern die Probanden in der UMTRI-Studie hohe
Etwas später wurde vom UMTRI ein sehr aufwen- Zufriedenheit, die Fancher et al. [20] auf die Reduk-
diger Feldtest durchgeführt [20], der erstmals auch tion des „Throttle-Stress“ zurückführt.
Langzeitaussagen erlaubte, wenn auch die verwen- Nirschl und Kopf [18] stellen durch Untersu-
dete technische Basis bei Weitem nicht dem heu- chung der Bearbeitungsqualität von Nebenaufga-
tigen Serienstand entspricht. Seriennahe Systeme ben eine geringere mentale Belastung der Fahrer bei
wurden bei [21, 22, 23] untersucht. Darüber hinaus Nutzung von ACC fest. Diese geben in Subjektiv-
sind in der Industrie weitere Probandenfahrversu- äußerungen eine hohe Akzeptanz zu Protokoll und
che mit ACC durchgeführt worden, die aber nicht merken an, dass sie ACC eher als Komfort- denn als
veröffentlicht wurden. Sicherheitssystem sehen.
886 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
Neben der globalen Zufriedenheit und Akzep- Zeitlücken erscheint eine Begrenzung auf mindes-
41 tanz der Fahrer analysiert Weinberger [23] den tens 1,0 s aus Sicherheitsgründen sinnvoll.
zeitlichen Verlauf in Langzeitfahrten. Sämtliche Tiefer im Detail untersucht wurde das Zeit-
42 Aspekte wie „Spaß am System“, „Selbstverständ- lückenwahlverhalten von Fancher et al. [20], der
lichkeit der Nutzung“, „Vertrautheit der Bedie- feststellt, dass die einstellbaren Stufen von 1,1, 1,5
nung“, „Wohlfühlen“ und „Angestrengtheit“ wer- und 2,1 s analog zum Alter der Versuchspersonen
43 den prinzipiell als gut bis sehr gut eingestuft. Über gewählt werden, d. h. ältere Fahrer wählen entspre-
der Versuchsdauer stellt sich nach anfänglicher chend größere ACC-Zeitlücken.
44 Euphorie eine Phase relativer Ernüchterung ein, Sowohl in [22] als auch in [20] wird beschrie-
die schließlich zu Versuchsende durchgehend zu ben, dass sehr kleine Zeitlücken im Bereich von un-
45 besseren oder deutlich besseren Bewertungen als ter 0,6 s mit ACC deutlich seltener gefahren werden
zu Beginn führt. (Fancher [20]: 6 Mal bei 108 Versuchspersonen).
Von der Mercedes-Benz-Marktforschung wur-
46 den Kunden in den USA zum Einsatz von Distronic
46.13.2 Nutzung befragt, s. . Abb. 46.26. Die Angaben beziehen sich
47 auf die S-Klasse (W220, 1998 bis 2005) und den SL
Gegenstand etlicher Untersuchungen ist das Zeitlü- (R230, seit 2001). Die Nutzungsrate ist wie zu erwar-
ckenverhalten von Fahrern im Vergleich zwischen ten bei mehrstreifigen Fernstraßen erheblich höher
48 manueller Fahrt und der Fahrt mit ACC. Bei reinen als bei den anderen Straßenkategorien. Erstaunlich
Folgefahrten finden sich bei Abendroth [21] sowohl gering sind die Abweichungen zwischen Sportwa-
49 bei manueller Fahrt als auch mit ACC Mittelwerte gen und Limousine hinsichtlich der Nutzungsrate.
der minimalen Zeitlücken von 1,1 s. Im Gegensatz Etwas größer werden die Unterschiede bei der Art
50 hierzu kommen Becker und Sonntag [17] zu dem der Nutzung. Da bei dem Distronic-Bedienkonzept
Ergebnis, dass die Fahrer manuell – allerdings mit die Zeitlücke rein mechanisch auf dem alten Wert
großem Streuband – eine Häufung von Zeitlücken bleibt, ist ein Wechsel der Zeitlücke nur erforder-
51 um 1,7 s realisieren. Als mögliche Erklärung hier- lich, wenn ein Grund für eine Änderung vorliegt.
für wird auf die kurvigere Versuchsstreckenfüh- Von dieser Möglichkeit wird eher gar nicht oder nur
52 rung hingewiesen. Im ACC-Betrieb findet sich eine selten Gebrauch gemacht. Die Abstandseinstellung
Zeitlücke von durchschnittlich 1,5 s, die in der Pi- wird mehrheitlich als Mittel angegeben.
lotstudie als Grundeinstellung des Systems vorge-
53 geben war. Filzek [22] findet bei Wahlfreiheit der
Probanden hinsichtlich der einstellbaren Stufen von 46.13.3 Kompensationsverhalten
54 1,1, 1,5 und 1,9 s durchschnittliche ACC-Zeitlücken
von 1,4 s. Becker et al. [25] untersuchten das Kompensations-
55 Eine deutlich kürzere mittlere Zeitlücke von verhalten von Fahrern durch Auswertung der Zeit-
0,8 s bei manueller Fahrt wird von [20] berichtet. lücken, wenn parallel komplexe Nebenaufgaben zu
Dieser scheinbare Widerspruch gibt einen Hinweis bearbeiten waren. Während die Probanden beim
56 auf die schwierige Übertragbarkeit zwischen Stu- manuellen Fahren automatisch größere Zeitlücken
dien, die in unterschiedlichen Verkehrsnetzen, hier einhalten, ändern sie die Wunschzeitlücke im ACC-
57 USA und Deutschland, durchgeführt wurden. Betrieb nicht. Eine Analyse der Blickabwendungen
Deutlich wird in allen Untersuchungen, dass zeigt zudem deutlich längere Abwendungszeiten bei
bezüglich der eingestellten ACC-Zeitlücke eine ACC-Fahrt, wobei maximal bis zu acht Sekunden
58 Polarisierung stattfindet. Während die Probanden genannt werden. Bemerkenswert ist, dass die Fah-
zu Beginn mit den Stufen „spielen“, nimmt die Ver- rer hierbei subjektiv ein geringeres Sicherheitsrisiko
59 stellhäufigkeit mit zunehmender Versuchsdauer ab. empfinden als ohne ACC. Die Autoren kommen
Jeweils etwa zur Hälfte wählen die Versuchsperso- zu dem Schluss, dass wegen dieses risikoreicheren
60 nen dann entweder eher kleinere oder eher größere Fahrerverhaltens ein Sicherheitsgewinn durch auto-
Stufen. Angesichts der häufig gewählten kurzen matische Abstandsregelung erst dann zu erwarten
46.13 • Nutzer- und Akzeptanzstudien
887 46
.. Abb. 46.26 Angaben zur Nutzung eines ACC-
Systems in den USA am Beispiel der Distronic
[Quelle: Marktforschung Mercedes-Benz 2005]
sei, wenn das technische System sicherheitskritische Lernstrategien offenbaren. Fahrer, die sich selbst als
Situationen besser behandeln kann als der durch- eher sportlich bezeichneten, neigten dazu, zu Be-
schnittliche Fahrer. ginn der Versuche später, d. h. bei kleinerer TTC,
einzugreifen als gegen Ende, um die Grenzen des
Systems festzustellen, wohingegen Fahrer, die sich
46.13.4 Habituationseffekte als eher komfortbetont einstuften, ausgehend von
einem frühen „misstrauischen“ Eingriff zu Beginn,
Untersuchungen von Weinberger et al. [26] mit im Verlauf der Lernphase eher später eingriffen.
Vielfahrern (> 1000 km/Woche) zeigen, dass frü- Zusammenfassend heißt dies, dass die oben ge-
hestens nach zwei Wochen ACC-Nutzung ein sta- nannten Merkmale erst nach dieser Lernphase für
biles Verhalten angenommen werden darf. Die für den eingeschwungenen Zustand repräsentativ sind.
die Bestimmung der Lerndauer herangezogenen Aussagen einer Bewertung nach kürzerer Dauer
Merkmale waren die subjektive Beurteilung von können zumindest für die obigen Merkmale nur mit
Bedieneinfachheit und der Transparenz von Über- erheblichen Einschränkungen auf den Hauptteil der
nahmesituationen sowie die Messung des Zeit- Benutzungsdauer übertragen werden.
punkts (bezogen auf die Time-to-Collision, TTC) Ebenso bestätigen Nirschl und Kopf [18] ein
des Fahrereingriffs in Übernahmesituationen per Absinken der mentalen Beanspruchung des Fahrers,
Datenrekorder. Hier wird deutlich, dass Fahrer das mit dem sich über der Nutzungsdauer verfei-
unterschiedlichen Fahrstils auch unterschiedliche nernden mentalen Modell einhergeht.
888 Kapitel 46 • Adaptive Cruise Control
-
58 fang als auch in der Reife. objektiven, messtechnisch zugänglichen Kennwerte
Die Verkehrsverhältnisse in den USA sind nur „Häufigkeit der Übersteuerung durch Fahrpedalbe-
-
59 bedingt mit denen in Europa vergleichbar. tätigung“ und „Unterbrechung der Regelung durch
Es wurden einerseits Kurzzeitversuche und einen Fahrerbremseingriff “ konnten hingegen in
60 andererseits Langzeitversuche durchgeführt, keinen eindeutigen Zusammenhang zur Komfort-
wobei in den Langzeitversuchen eindeutige bewertung gebracht werden.
46.14 • Ausblick
889 46
.. Abb. 46.27 Analyse der Wirksamkeit von DISTRONIC PLUS zur Erhöhung der Verkehrssicherheit am Beispiel der Mercedes
S-Klasse. [31]
auf „milde“, komfortorientierte Eingriffe, wobei [12] Mitschke, M., Wallentowitz, H., Schwartz, E.: Vermeiden
41 aber parallel Schutzfunktionen (Auffahrwarnung, querdynamisch kritischer Fahrzustände durch Fahrzu-
standsüberwachung VDI Bericht, Bd. 91. VDI, Düsseldorf
Automatische Notbremse, Fahrstreifenwechselab- (1991)
42 sicherung, Lane Departure Warning) diese Funk- [13] Winner, H., Luh, S.: Fahrversuche zur Bewertung von ACC –
tionalität „flankierend“ absichern, wenn Grenzen Eine Zwischenbilanz. In: Bruder, R., Winner, H. (Hrsg.) Darm-
erreicht werden, in denen die milden Eingriffe nicht städter Kolloquium Mensch & Fahrzeug – Wie objektiv sind
43 ausreichen. Fahrversuche?. Ergonomia, Stuttgart (2007)
[14] Luh, S.: Untersuchung des Einflusses des horizontalen
45 [15] Winner, H.: Die Auf klärung des Rätsels der ACC‐ Tagesform
und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen für die Ent-
Die Autoren danken den Herren Bernd Danner
wicklerpraxis. Tagungsbeitrag Fahrerassistenzworkshop.
und Dr. Joachim Steinle für ihre Beiträge, die sie als
46 Ko-Autoren an diesem Kapitel für die ersten beiden
Walting, 2005
[16] Witte, S.: Simulationsuntersuchungen zum Einfluss von
Auflagen dieses Handbuch erbracht haben. Fahrerverhalten und technischen Abstandsregelsystemen
47 auf den Kolonnenverkehr. Dissertation Universität Karls-
ruhe. Karlsruhe, 1996. S. 23
Literatur [17] Becker, S., Sonntag, J.: Autonomous Intelligent Cruise Con-
48 trol – Pilotstudie der Daimler‐Benz und Opel Demonstrato-
ren. Prometheus CED 5. TÜV Rheinland, Köln (1993)
[1] TC204/WG14, ISO. ISO 15622:2010 Transport information [18] Nirschl, G., Kopf, M.: Untersuchung des Zusammenwirkens
49 and control systems – Adaptive Cruise Control systems –
Performance requirements and test procedures. 2010
zwischen dem Fahrer und einem ACC‐ System in Grenzsi-
tuationen. Tagung: „Der Mensch im Straßenverkehr“ VDI
[2] TC204/WG14, ISO. ISO 22179:2009 Intelligent transport Bericht, Bd. 1317. VDI‐FVT, Düsseldorf (1997)
50 systems – Full speed range adaptive cruise control (FSRA)
systems – Performance requirements and test procedures.
[19] Nirschl, G.; Blum, E.‐J.; Kopf, M.: Untersuchungen zur Be-
nutzbarkeit und Akzeptanz eines ACC‐Fah‐ rerassistenz-
2009 systems. IITB Mitteilungen, Fraunhofer Institut für Infor-
51 [3] Ackermann, F.: Abstandsregelung mit Radar. Spektrum der mations‐ und Datenverarbeitung. 1999
Wissenschaft Juni 1980, 24–34 (1980) [20] Fancher, P., et al.: Intelligent Cruise Control Field Operati-
[4] Watanabe, T.; Kishimoto, N.; Hayafune, K.; Yamada, K.; Ma-
52 ede, N.: Development of an Intelligent Cruise Control Sys-
onal Test. Final Report. University of Michigan Transporta-
tion Research Institute (UMTRI), Michigan (1998)
tem. In: Proceedings 2nd ITS World Congress in Yokohama. [21] Abendroth, B.: Gestaltungspotentiale für ein PKW‐Ab-
1995, S. 1229–1235
53 [5] Furui, N., Miyakoshi, H., Noda, M., Miyauchi, K.: Develop-
standregelsystem unter Berücksichtigung verschiedener
Fahrertypen Schriftenreihe Ergonomie. Ergonomia‐Verlag,
ment of a Scanning Laser Radar for ACC. SAE Paper No. Stuttgart (2001). Dissertation TU Darmstadt
980615. Society of Automotive Engineers, Warrendale
54 (1998)
[22] Filzek, B.: Abstandsverhalten auf Autobahnen – Fahrer und
ACC im Vergleich Fortschritt‐Berichte Reihe 12, Bd. 536.
[6] Winner, H.: Die lange Geschichte von ACC. Tagungsband VDI‐Verlag, Düsseldorf (2002). Dissertation TU Darmstadt
55 Workshop Fahrerassistenzsysteme. Leinsweiler, 2003
[7] Prestl, W.; Sauer, T.; Steinle, J.; Tschernoster O.: The BMW
[23] Weinberger, M.: Der Einfluss von Adaptive Cruise Control
Systemen auf das Fahrverhalten Berichte aus der Ergono-
Active Cruise Control ACC. SAE 2000‐01‐0344, SAE World mie. Shaker‐Verlag, Aachen (2001). Dissertation TU Mün-
56 Congress 2000, Detroit, Michigan, 2000
[8] Steinle, J., Toelge, T., Thissen, S., Pfeiffer, A., Brandstäter, M.:
chen
[24] Winner, H., et al.: Fahrversuche mit Probanden zur Funkti-
Kultivierte Dynamik – Geschwindigkeitsregelung im neuen onsbewertung von aktuellen und zukünftigen Fahreras-
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Wiesbaden (2005)
sistenzsystemen. In: Landau, Winner, (Hrsg.) Fahrversuche
mit Probanden – Nutzwert und Risiko, Darmstädter Kollo-
[9] Pasenau, T., Sauer, T., Ebeling, J.: Aktive Geschwin‐ digkeits- quium Mensch & Fahrzeug, 3./4. April 2003, TU Darmstadt
58 regelung mit Stop&Go‐Funktion im BMW 5er und 6er. ATZ
10, 900–908 (2007). Wiesbaden, Vieweg Verlag, Okt. 2007
Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12, Bd. 557, VDI‐Verlag, Düs-
seldorf (2003)
[10] Winner, H.; Olbrich, H.: Major Design Parameters of Adap- [25] Becker, S., Sonntag, J., Krause, R.: Zur Auswirkung eines In-
59 tive Cruise Control. AVEC’98. Nagoya, Paper 130, 1998 telligenten Tempomaten auf die mentale Belastung eines
[11] Meyer-Gramcko, F.: Gehörsinn, Gleichgewichtssinn und an- Fahrers, seine Sicherheitsüberzeugungen und (kompen-
dere Sinnesleistungen im Straßenverkehr. Verkehrsunfall
60 und Fahrzeugtechnik 3, 73–76 (1990)
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Literatur
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[28] Didier, M.: Ein Verfahren zur Messung des Komforts von
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proach to Driver Assistance and Active Safety Systems that
interact with Vehicle Dynamics. FISITA F2006D185, FISITA
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Okt. 2006
[31] Schittenhelm, H.: N.: Advanced Brake Assist – Real World
effectiveness of current implementations and next genera-
tion enlargements by Mercedes‐Benz. 23. Technical Confe-
rence Enhanced Safety of Vehicles, Proceedings, Paper‐No.
13‐0194; 23. ESV‐Conference; Seoul, Repub. of Korea; 2013
893 47
47.1 Problemstellung – 894
47.2 Unfallschutz durch präventive Assistenz – 894
47.3 Reaktionsunterstützung – 895
47.4 Notmanöver – 896
47.5 Bremsassistenz – 896
47.6 Warn- und Eingriffszeitpunkte – 898
47.7 Ausblick – 911
Literatur – 912
mung) [5] kann zur Verbesserung der Konstitution dieses Zustands notwendige Voraussetzung für eine
beigetragen werden. in der Folge korrekten Aktion. Die Aufmerksam-
Natürlich ist ACC auch ein sehr geeignetes Mit- keitserregung erfolgt üblicherweise explizit durch
tel zur Erhöhung des objektiv zur Verfügung ste- Warnelemente, kann jedoch auch implizit durch
henden Handlungsspielraums. In den bekannten nicht erwartete Regelreaktionen bei ACC erfolgen.
Untersuchungen (s. ▶ Kap. 46) wählen ACC-Nutzer Wie bereits in ▶ Kap. 37 erläutert, unterscheiden sich
höhere Zeitlücken, als wenn sie selbst den Abstand die Warnstrategien hinsichtlich ihres Informations-
einregeln. Unklar ist hingegen, ob ein Verlassen auf grades. Eine einfache auditive Warnung erreicht
ACC zu einem späteren Fahrereingriff führt oder eine hohe Aufmerksamkeit, allerdings ist damit
aber durch eine schon früh einsetzende Fahrzeug- noch kein Hinweis auf die Situation oder die nun
verzögerung die Reaktionszeit verkürzt wird. Waren notwendige Reaktion verbunden. Dies kann durch
die ersten ACC-Ausführungen noch wenig geeig- eine ergänzende visuelle Information oder ein audi-
net, im Stadtverkehr eingesetzt zu werden, so erlau- tives Icon erreicht werden. Da sich eine ausführliche
ben die FullSpeedRange-ACC-Systeme auch diesen Beschreibung der Warnmöglichkeiten einschließlich
Einsatz, wobei noch keine Studien zur Nutzung und der Bewertung der Verzeihlichkeit bei Fehlwarnung
zum möglichen Sicherheitspotenzial bekannt sind. in ▶ Kap. 37 findet, wird hier nicht weiter auf die
Eine ähnlich wie ACC geeignete Lösung zur Ab- unterschiedlichen Möglichkeiten eingegangen.
standshaltung kann mit einem Aktiven Fahrpedal Bei einer kritischen Situation im Längsverkehr
(auch als Force-Feedback-Pedal bezeichnet) darge- kommen grundsätzlich zwei Unfallvermeidungs-
stellt werden. Hier bleibt der Fahrer in der direkten strategien infrage: dem Hindernis ausweichen oder
Regelschleife. Hält er eine weitgehend konstante Pe- vor dem Hindernis anhalten. In ▶ Abschn. 47.6
dalkraft aufrecht, verändert sich der Fahrpedalwin- werden anhand bestimmter Ausgangsparameter
kel in der Art, dass die Zeitlücke konstant bleibt und die für eine erfolgreiche Unfallabwendung not-
somit eine Abstandshaltung wie mit ACC ermög- wendigen Eingriffszeitpunkte berechnet. In allen
licht wird, allerdings ohne aktiven Bremseingriff. praktischen Situationen findet sich eine Geschwin-
digkeit, oberhalb derer Ausweichen als letztmög-
liches Manöver berechnet wird, während unter-
47.3 Reaktionsunterstützung halb dieser Geschwindigkeit Bremsen nach dem
letztmöglichen Ausweichabstand noch erfolgreich
Die Reaktionsunterstützung umfasst die Schritte den Unfall vermeiden kann. Aber in beiden Fällen
Aufmerksamkeitserregung, Situationsklärung und wird ein optimales Manöver betrachtet. Während
Eingriffsunterstützung (s. a. ▶ Kap. 37). Da einer bisher nur in einer Fahrzeugreihe (Lexus LS, seit
kritischen Situation im Längsverkehr zumeist eine 2006) eine Ausweichassistenz angeboten wird, ist
Unaufmerksamkeit vorausgeht [6], ist die Änderung der Bremsassistent seit 1997 auf dem Markt und
896 Kapitel 47 • Grundlagen von Frontkollisionsschutzsystemen
den Membranweg des Bremskraftverstärkers oder Hilfsenergie, um die für die maximale Verzögerung
indirekt über Drucksensoren am Hauptbremszy- notwendige Spannkraft der Bremssättel bereitzu-
linder gemessen. Sie variieren in Abhängigkeit der stellen. ▶ Kapitel 30 und ▶ Kap. 31 erläutern die
Fahrgeschwindigkeit und des Hauptzylinderdrucks für den Kraftaufbau notwendigen und heute einge-
bzw. des Bremspedalwegs. Obwohl ein Entschei- setzten Techniken. Funktional ist es von geringer
dungsfehler nicht ausgeschlossen werden kann, so Bedeutung, auf welche Weise die Zusatzspannkraft
ist dieses Kriterium allen anderen Kriterien, die aus erreicht wird. Es verbleiben Unterschiede in der
der Fußbewegung abgeleitet werden können, weit Aufbaudynamik.
überlegen [10]. Die im realen Straßenverkehr ge- Da das Hauptauslösekriterium die Bremspedal-
messenen Standardbremsungen reichten nicht an geschwindigkeit ist, lässt sich die Bremsassistent-
die Pedalgeschwindigkeiten (s. . Abb. 47.2) heran, Basisfunktion auch mit mechanischer Steuerung
die eine Notbremsung kennzeichnen. Allerdings mithilfe des Bremskraftverstärkers durchführen. Bei
können etwa gleiche Pedalgeschwindigkeiten bei schneller Kolbenstangenbewegung wird eine erheb-
den von Weiße [10] so genannten Schreckbremsun- lich höhere Bremskraftverstärkung ausgelöst, so dass
gen erreicht werden, ohne dass für diese Situation bei gleicher Pedalstellung gegenüber einer „langsa-
eine Vollbremsung notwendig war. Diese „Neben- men“ Bremsbetätigung mehr Bremskraft entwickelt
wirkungen“ können durch das Zurückziehen des wird. Diese Funktion wird ergänzt durch die Mög-
Bremspedals ohne größere Probleme und Auswir- lichkeiten des Druckaufbaus per Hydraulikpumpe
kungen für den nachfolgenden Verkehr beherrscht des ESC, vgl. ▶ Kap. 40.
werden und ähneln den Reaktionen, die bei Wechsel
von einem Fahrzeug mit höherer Bremsbetätigungs-
energie auf ein anderes Fahrzeug mit einem „kna- 47.5.2 Weiterentwicklungen
ckigen“ Bremspedal zu beobachten sind.
Die für die Bremsassistenzfunktion notwendi- In der hier schon häufig zitierten Arbeit von Weiße
gen Stellsysteme sind Teil moderner Bremssysteme [10] finden sich auch weitere Ansätze zur Brems
und bedienen sich pneumatischer oder elektrischer assistenzauslösung, insbesondere um eine frühere
898 Kapitel 47 • Grundlagen von Frontkollisionsschutzsystemen
Auslösung zu erreichen. Allerdings wurde kein allerdings kann diese Unterstützung im Vorfeld ei-
41 Kriterium gefunden, dass nur annähernd die glei- ner kritischen Situation nützlich werden, wenn der
che Entscheidungsqualität wie die Bremspedalge- Fahrer die Situation unkritischer einschätzt, als sie
42 schwindigkeit bot. Mit einer Kombination von Kri- tatsächlich ist, sowie unangemessen gering bremst
terien im Sinne einer ODER-Verknüpfung ließe sich und somit wiederum die Reserve für den rechtzeiti-
das Potenzial von 8 auf 11 m steigern. Das Gleiche gen Geschwindigkeitsabbau verkleinert. So wird in
43 ließe sich auch durch eine abgestufte Funktion, die dem in . Abb. 47.3 dargestellten Beispiel angenom-
mit drei Stufen – der Vorkonditionierung, der Vor- men, dass bei einer Ausgangsdifferenzgeschwindig-
44 bremsung (mit 3 m/s2) und der Vollbremsung – ar- keit von 70 km/h und einer ttc von knapp 2 s vom
beitet, erreichen. Allerdings muss für die Vorbrem- Fahrer nur eine Verzögerung von 3 m/s2 eingeleitet
45 sung die Fußbewegung in Fahrzeuglängsrichtung wurde. Die Verzögerung wird durch den adaptiven
gemessen werden, was nicht leicht zu realisieren ist. Bremsassistenten nun auf mindestens 5 m/s2 erhöht,
Allein die Abstufung von Vorkonditionierung bei damit bei dieser Verzögerung der noch verfügbare
46 Überschreitung einer Fahrpedalgeschwindigkeits- Abstand für eine gleichmäßige Verzögerung genutzt
schwelle und von Bremspedalgeschwindigkeit ge- werden kann.
47 triggerter Vollbremsung bringt den vergleichsweise
geringen Gewinn von 0,6 m auf insgesamt 8,6 m.
47.6 Warn- und Eingriffszeitpunkte
48 Für eine weitere Verbesserung der Bremsassis-
tenzfunktion ist eine zeitliche Vorverlagerung des In den folgenden Unterabschnitten werden fahrdy-
49 Bremsbeginns erforderlich. Dafür bieten sich zwei namisch und fahrerverhaltensbasierte Warn- und
50 -
Strategien an:
Verkürzung der Umsetzzeit von Fahrpedal auf
Bremspedal. In vielen Untersuchungen [12, 10,
Eingriffszeitpunkte abgeleitet, die für unterschiedli-
che Frontkollisionsgegenmaßnahmen geeignet sind.
Grundsätzlich sind für die Auslösung einer Gegen-
51
52
2, 13] hat sich gleichlautend eine Umsetzzeit
von ca. 0,2 s ergeben. Diese Umsetzzeit ließ
sich nur durch ein alternatives Betätigungs-
konzept erheblich verkürzen, was im Falle ei-
-
maßnahme zwei Betrachtungsweisen möglich:
Zeitkriterien (Time-to-Collision, Time-
Threshold-Evasion, Time-to-Stop, Time-
Threshold-Brake; für Kollisionsvermeidung
53
-
nes in Längsrichtung isometrischen Sidesticks
von [14] auch nachgewiesen wurde.
Absenkung der Schwellen bei Erkennung einer
Notbremssituation auf Basis umfelderfassen-
- benötigte zeitliche Reserve)
Beschleunigungskriterien (für Kollisionsver-
meidung benötigte Längsverzögerung bzw.
Querbeschleunigung)
54 der Sensorik.
Für die Zeitkriterien werden aktuelle Abstands-,
55 Liegt aber eine Situationserkennung schon vor, Geschwindigkeits- und Beschleunigungswerte he-
dann ist es auch nahe liegend, den Unterstüt- rangezogen und dann mit Zeitschwellwerten ver-
zungsgrad abhängig von dem noch zur Verfügung glichen, die sich aus Annahmen über die maximal
56 stehenden Abstand auszulegen, also nur so viel möglichen Verzögerungen und Querbeschleuni-
zusätzliche Verzögerung zu erzeugen, wie zum gungen ableiten und sich bei Warnungen additiv
57 rechtzeitigen Geschwindigkeitsabbau benötigt um die angenommene Reaktionszeit vergrößern.
wird. Die benötigte Verzögerung Dreq D vdiff
2
=2d Die Beschleunigungskriterien sind bezüglich der
in Abhängigkeit der Time-to-Collision ttc = d/vdiff, fahrdynamischen Betrachtungen recht einfach, da
58 die wiederum aus dem Abstand d und der Diffe- es ausreicht, diese mit den angenommenen Maxi-
renzgeschwindigkeit vdiff zwischen Egofahrzeug malwerten für die Beschleunigung zu vergleichen.
59 und Hindernis gebildet wird, ist in . Abb. 47.3 für Der Vorteil verschwindet, wenn eine Reaktionszeit,
verschiedene Ausgangsdifferenzgeschwindigkei- wie bei Warnstrategien benötigt, oder eine System-
60 ten dargestellt. Natürlich führt die Absenkung der totzeit mit in die Berechnung eingeht. Da beide
Verzögerung nicht zur Verkürzung des Bremswegs, „Kriterienwelten“ Vor- und Nachteile in der Darstel-
47.6 • Warn- und Eingriffszeitpunkte
899 47
47.6.1 Fahrdynamische
Betrachtungen
Bezieht man die aktuellen Abstände d auf die Dif- deva D vdiff teva(47.9)
41 ferenzgeschwindigkeit vdiff, so erhält man die Größe
Time-to-Collision (TTC) Die maximale Querbeschleunigung ay,max beträgt je
42 d
nach Reifentyp zwischen 80 und 100 % der maxima-
ttc D I d; vdiff > 0;(47.3) len Verzögerung Dmax, die ihrerseits bei trockenen
vdiff
Fahrbahnen etwa 10 m/s2 beträgt (im Weiteren wird
43 und die Gleichungen (47.1) und (47.2) vereinfachen ein Verhältnis von ay,max/Dmax = 90 % angenommen).
sich zu Für den Ausweichversatz kann man bei schmalen
44 tts .vdiff ; Dmax /
Hindernissen 1 m annehmen, bei größeren wie Lkw
ttB .vdiff / D B C ;(47.4) 1,8 m. Damit erhält man Werte von 0,55 bis 0,7 s
2
45 für teva. Im Folgenden wird ein die Fahrdynamik-
mit der Time-Threshold-Brake ttB sowie der Time- überlegungen repräsentierender Wert teva,phys = 0,6 s
To-Stop angenommen. Dieser ist natürlich zu hoch, wenn
46 ein deutlich verringerter Ausweichversatz benötigt
vdiff
tts .vdiff ; Dmax / D ;(47.5) wird, z. B. weil das Hindernis seitlich zur Fahrtrich-
47 Dmax
tung versetzt ist.
und entsprechend In Analogie zur benötigten Verzögerung lässt
sich eine benötigte Querbeschleunigung ay,req be-
48 twarn .vdiff / D R C ttB .vdiff /:(47.6) rechnen, wobei nun neben Abstand und Differenz-
geschwindigkeit der Ausweichversatz dieses Krite-
49 Die Zeitdauer für den Vollbremsvorgang tts ist dop- rium mitbestimmt:
pelt so groß wie die TTC bei Beginn des Bremsens. 2
2yeva vdiff
50 Dieser Grundsatz gilt auch für die nachfolgenden (47.10)
2
ay;req D 2yeva ttc D 2
d
Betrachtungen, solange eine konstante und positive
Relativverzögerung vorausgesetzt werden kann.
51 Neben der Betrachtung von Zeit- und Ortsab- 47.6.1.2 Berechnungen für ein
ständen kann auch die aktuell notwendige Verzöge- konstant verzögerndes
52 rung Dreq bestimmt und als Schwelle herangezogen Hindernis
werden. Für den einfachen Fall des mit konstanter Verzögerungsmanöver
Geschwindigkeit bewegten Hindernisses ermittelt Für ein Hindernis, das sich mit einer konstanten
53 diese sich wie folgt: Verzögerung Dobs bewegt, ist die TTC abhängig von
der Relativverzögerung Drel = Dobs – Dsub zum nach-
54
2
vdiff
Dreq;v D (47.7) fahrenden Fahrzeug.
2d q
55
2
vdiff C 2Drel d vdiff
Ausweichmanöver ttc .Drel / D I(47.11)
Drel
Der Ausweichabstand deva berechnet sich aus dem
56 Produkt der Differenzgeschwindigkeit und der für
2
vdiff > 2Drel d
das Ausweichen benötigten Zeitdauer teva, die ihrer- ttc(Drel) wird auch als Enhanced Time-to-Collision
57 seits in guter Näherung aus dem für das Ausweichen (ETTC) bezeichnet. Bei verschwindender Relativ-
notwendigen Versatz yeva, der mittleren maximalen verzögerung geht Gl. (47.11) in einer Grenzwertbe-
Querbeschleunigung ay,max und der Lenkverlustzeit trachtung in Gl. (47.3) über.
58 τS, die wie die Bremsenverlustzeit in der Größen- Die für das rechtzeitige Bremsen hinter einem
ordnung von 0,1 s liegt, angegeben werden kann. ebenfalls verzögernden Hindernis (Dobs > 0) not-
59 wendige ETTC errechnet sich aus der maximalen
s Relativverzögerung
2yeva
60 teva D
ay;max
C S(47.8)
Dmax;rel D Dmax Dobs(47.12)
47.6 • Warn- und Eingriffszeitpunkte
901 47
41 .. Tab. 47.1 Auslöseschwellen mit Verweisen auf die Berechnungen des Abschnitts 47.6
43 unbeschleunigtes
Hindernis
mit Drel relativ verzöger-
tes Hindernis
in den Stand brem-
sendes Hindernis
44 Ausweichzeit (Time-Threshold-
Evasion teva)
Gl. (47.8) 0,55 … 0,7 s
45
Ausweichabstand deva Gl. (47.9) Gl. (47.18) Gl. (47.25)
vdiff teva 2
teva
vdiff teva C Drel
2
46 Benötigte Querbeschleunigung ay,req Gl. (47.10) Gl. (47.19) Gl. (47.26)
2
2yeva vdiff
47 d2
Anhaltezeit (Time-Threshold-Brake ttB) Gl. (47.4, 47.5) Gl. (47.13) –
48 B C
vdiff
2Dmax
49 Bremsabstand dB Gl. (47.1) Gl. (47.15) Gl. (47.21)
v2
B C diff :
50 vdiff
2Dmax
Warnzeit twarn Gl. (47.6) Gl. (47.14) Gl. (47.16)
51 Warnabstand dWarn Gl. (47.2) Gl. (47.16) Gl. (47.22)
R C ttB
52 Benötigte Verzögerung Dreq Gl. (47.7) Gl. (47.17) Gl. (47.23)
2
vdiff v2
Dobs C diff
53 2d 2d
Fahrerverhalten
54 Fahrergrenze Komfortgrenze
55 Ausweichzeit 1s 1,6 s
ay,max(ax)
eva
eva(47.25)
deva .vobs ; Dobs / D vdiff Dsub
2 ay
v2
obs
2Dobs
2
ay;req D 2yeva ttc .vobs ; Dobs / D (47.26)
2
2yeva Dsub
q .. Abb. 47.4 Aufteilung der Längs- und Querkräfte beim
.vsub 2 2D 2 Dsub 2
vsub sub d vobs /
Dobs Reifen (Kammscher Kreis)
44
45 wobei der kleinere der oben genannten Dd-Werte schnitten nach dem kubischen Glied. Je kleiner der
einzusetzen ist. Mit dem zuvor angegebenen reprä- Radius ist (implizit bei kleinerer Geschwindigkeit)
sentativen Wert teva,phys = 0,6 s für Hochreibwert und und je größer die Ausweichbreite ist, umso stärker
46 mittleren Ausweichversatz ist ein zusätzlicher Ab- fällt diese Differenz ins Gewicht. Der zeitliche Un-
stand von 1,8 m zu berücksichtigen, was in Folge zu terschied hängt zum einen vom Quadrat des Ver-
47 einer Anhebung der Zeitgrenze um maximal 0,3 s, hältnisses ay / v0und zum anderen von der dritten
typisch eher um 0,15 s führt. Potenz von (2y / ay) ab, der Zeit zum Querversatz y
Auch wenn die Darstellung des Aufenthalts- (vgl. Gl. (47.8), erster Term):
48 raums gemäß . Abb. 47.5 sehr leicht zu konstru-
ieren ist, so ist Vorsicht geboten, wenn neben der ∆x ⁄ v0 ≈ (ay / v0) (2y / ay)3 / 2 / 6. (47.31)
49 räumlichen Betrachtung auch die zeitliche erfor-
derlich ist, vgl. ▶ Kap. 49. Für den Fall einer rei- Dieser Unterschied ist erst relevant, wenn v0 klein ist
50 nen Querbeschleunigung verläuft die Trajektorie und y in der Größenordnung einer Fahrstreifenbreite
nicht auf der in . Abb. 47.5 zu sehenden Parabel, liegt (Beispiel: x=v0 100 ms bei v0 D 10 ms ;
sondern, wie allgemein bekannt, auf einem Kreis. ay D 10 sm2 D 3;5 m).
51 Die Hauptabweichung zwischen diesen beiden
Verläufen betrifft zunächst nicht die Querrichtung, 47.6.1.4 Ausweichverhalten von
52 sondern die Längsrichtung, wie folgende Rechnung Fahrern
zeigen wird. Im vorherigen Abschnitt sind allein fahrphysika-
Die Projektion der Kreisbewegung mit kon- lische Betrachtungen ausgeführt worden. Aller-
53 stanter Kreisgeschwindigkeit auf die ursprüngli- dings werden nur besonders geübte Fahrer bis an
che Längsachse weist gegenüber dem Verlauf nach die Fahrphysikgrenzen herangehen. In einer Un-
54 . Abb. 47.5 eine Abweichung von tersuchung von Honda [16] (. Abb. 47.6) wurden
Ausweichmanöver in drei Gefährlichkeitsstufen
55 ∆x = R (ϑ – sin ϑ); ϑ = v0t / R; R = v02 / ay (47.28) bewertet. Die untere Grenze der mittleren Bewer-
tung („feel somewhat dangerous“) lässt sich sehr
auf, wobei in Querrichtung die Strecke gut im Bereich von TTC > 1,6 s identifizieren. Die
56 untere Grenze der als ungefährlich eingestuften
y = R (1 – cos ϑ); ϑ = arccos (1 – y / R)(47.29) Ausweichmanöver kann mit einer TTC von 2,5 s
57 angegeben werden. Aus diesen beiden Werten kann
zurückgelegt wird. Somit lässt sich der Winkel ϑ geschlossen werden, dass ein Ausweichmanöver in-
durch einen von y und R abhängigen Term ersetzen: nerhalb von einer Sekunde TTC zwar fahrphysika-
58 lisch möglich ist, aber wegen der Einstufung selbst
∆x / R = (arccos (1 – y / R) – sin [arccos unter großer Risikobereitschaft nicht beabsichtigt
59 (1 – y / R)]) ≈ (2y / ay)3 / 2 / 6 (47.30) durchgeführt wird. Diese Schwelle wird im Folgen-
den Driver’s Limit genannt. Aber bereits früher, bei
60 Die Näherung ergibt sich durch die Reihenent- einer TTC von etwa 1,6 s, wird der Ungefährlich-
wicklung der trigonometrischen Funktionen, abge- keitsbereich verlassen, sodass auch hier nicht mehr
47.6 • Warn- und Eingriffszeitpunkte
905 47
.. Abb. 47.6 Subjektive Bewertung von Aus-
weichmanövern [Quelle: Honda [16]]
-
Frontkollisionsgegenmaßnahmen:
Bei teva (ca. 0,6 s) ist ein Ausweichen physika-
gie ist die Beobachtung des Fahrers hinsichtlich der
Aufmerksamkeit. In einem im Markt eingeführten
41
42
43
44
45
46
.. Abb. 47.7 Darstellung von Warn- und Eingriffszeitpunkten im Fall der nicht beschleunigten Bewegung von Hindernis und
Egofahrzeug (TTC = Abstand/Relativgeschwindigkeit)
47
Geschwindigkeit betriebener Scheibenwischer sein. Linie näherungsweise doppelt so lang wie der an-
48 Auch ein angeschalteter Nebelrückscheinwerfer gegebene TTC-Wert, weil die (zeitlich) mittlere
kann als Modifikationsgrund herangezogen werden, Relativgeschwindigkeit durch die Verzögerung nur
49 insbesondere bei Warnungen mit einem größeren etwa halb so groß ist wie die Ausgangsgeschwin-
Abstand zum Hindernis. digkeit.
50 47.6.1.5 Zusammenfassung
Die hier gewählte Darstellung repräsentiert ei-
nen eher günstigen Fall. Bei niedrigeren Reibwerten
In einer vereinfachten Darstellung sind in oder verzögernden Hindernisobjekten verschieben
51 . Abb. 47.7 alle in den vorherigen Abschnitten ab- sich die Schwellen zu höheren TTC-Werten, die
geleiteten Eingriffe in ein Diagramm gezeichnet. Ausweichwerte verschieben sich weitgehend unab-
52 Als fahrphysikalische Grenze findet sich der reprä- hängig von der Relativgeschwindigkeit zu höheren
sentative Wert teva (ca. 0,6 s) wieder, für die Grenze, TTC-Werten, während die Bremsgrenze und damit
die von Fahrern gemieden wird, steht der Wert tdri- auch die Warngrenze stärker geneigt ist, also pro-
53 (ca. 1 s), während die Warnschwelle wegen des portional zur Relativgeschwindigkeit zu größeren
ver
mit der Geschwindigkeit quadratisch wachsenden TTC-Werten verschoben. Allein im Falle der Kur-
54 Bremswegs linear abhängig von der Relativge- venfahrt könnte bei Ausweichen zur kurvenäuße-
schwindigkeit ist. Eine Vollbremsung, die noch vor ren Seite ein noch später eingeleitetes Ausweich-
55 der gestrichelten Grenze eingeleitet wird, kann die manöver erfolgreich möglich sein (wobei sich der
Kollision vermeiden. Eine Kollisionsvermeidung Erfolg auf das auszuweichende Hindernis bezieht
per Ausweichmanöver ist bei den hier getroffenen und nicht berücksichtigt, ob der Ausweichkorridor
56 Annahmen bei Differenzgeschwindigkeiten ober- gefahrlos ist).
halb von 10 m/s (36 km/h) immer später möglich
57 als durch Verzögern.
Die in . Abb. 47.7 gewählte Darstellung er- 47.6.2 Frontkollisionsgegenmaßnah
möglicht eine einfache und korrekte Betrachtung men
58 für den Fall mit konstant angenommenen Ge-
schwindigkeiten für Hindernis und Egofahrzeug. Neben der Reaktionsassistenz können informie-
59 Verzögert hingegen das Egofahrzeug (relativ zum rende und automatisch eingreifende Gegenmaß-
Objekt), so ist die TTC-Achse nicht mit einer Zeit- nahmen ergriffen werden. Sind die informierenden
60 achse identisch. So dauert im Falle einer Vollbrem- Maßnahmen darauf ausgerichtet, den Unfall zu ver-
sung mit Eingriffsbeginn entlang der gestrichelten meiden, so sind dagegen die eingreifenden zusätz-
47.6 • Warn- und Eingriffszeitpunkte
907 47
lich darauf ausgelegt, die Unfallschwere zu lindern. mance requirements and tests procedures“ werden
Die im Folgenden diskutierten Maßnahmen können die Einsatzzeitpunkte spezifiziert, die sich aus der
als gesamtes Bündel oder im Teilumfang umgesetzt notwendigen Verzögerung und einer Reaktionszeit
sein, wobei eine Maßnahme, die in einer späteren ergeben, analog zu den Betrachtungen zum ▶ Ab-
Phase ausgelöst wird, prinzipiell auf einen stärkeren schn. 47.6.1. Als Höchstwerte werden Dreq = 6,67 m/
Bremseingriff hinweisen sollte. s² und τR = 0,8 s spezifiziert.
Für zwei System-Familien existieren Normen.
Zum einen beschreibt die seit 2002 gültige und 47.6.2.2 Konditionierung auf ein
2013 überarbeitete Norm ISO 15623 „Road vehicles Notmanöver
– Forward Vehicle Collision Warning System – Per- Gleichzeitig mit der Warnung oder etwas später kön-
formance requirements and tests procedures“ [17] nen Maßnahmen ergriffen werden, die ein vom Fah-
die Mindestanforderungen an Warnsysteme zur rer durchgeführtes Notmanöver unterstützen. Schon
Frontkollisionsvermeidung. Zum anderen die seit fast standardmäßig wird das Pre-Fill der Bremse
2013 gültige Norm ISO-22839 „Intelligent Trans- ausgelöst. Gemeint ist damit die Beaufschlagung der
port System – Forward Vehicle Collision Mitigation Bremse mit einer kleinen Spannkraft (bei hydrauli-
Systems – Operation, Performance, and Verification schen Bremsen mit etwa 1–5 bar Bremsdruck). Die
Requirements“ [18], die die Anforderungen an Sys- damit verursachte Verzögerung ist nicht merklich,
teme mit Bremseingriffen zum Geschwindigkeits- führt aber dazu, dass die Bremse nun schneller an-
abbau (speed reduction braking, SRB) und/oder spricht. Eine weitere in den Frontkollisionsschutz-
zur Kollisionsfolgenlinderung (mitigation braking paketen beinhaltete Maßnahme ist die Absenkung
(MB)) beschreibt. der Bremsassistent-Auslöseschwelle bei drohender
Frontkollision. Eine Änderung der Fahrwerkeinstel-
47.6.2.1 Warnungen (Collision lung, wenn im Fahrzeug überhaupt möglich, kann
Warning) sowohl das Notbremsen als auch das Notauswei-
Da in ▶ Kap. 37 die Warnelemente ausführlich chen fördern. Somit kann mit einer kurzzeitigen,
beschrieben sind, wird hier nur erwähnt, welche zu Lasten des Komforts gehenden Verstellung das
Warnelemente heute im Einsatz sind. Besonders Handling verbessert werden. Sind eine Überlage-
weit verbreitet ist die auditive Warnung mit zumeist rungslenkung und/oder eine elektrische Lenkun-
kurzen Warntönen, die von einer dazu auch meist terstützung vorhanden, so lassen sich auch die Not-
blinkenden optischen Anzeige mit einem Warn- ausweichmanöver durch veränderte Charakteristika
symbol ergänzt wird. Bei Fahrzeugen mit einem vorkonditionieren. Als Beispiele für eine umfang-
reversiblen Gurtstraffer bietet sich an, diesen auch reiche Vorkonditionierung können PRE-SAFE von
zur Warnung heranzuziehen. Ein aktives Fahrpedal Mercedes-Benz (allerdings ohne Ausweich-Kondi-
kann ebenfalls eine haptische Warnung auslösen, tionierung) und das Advanced Pre-Crash Safety (A-
indem der verschiebbare Federfußpunkt ruckartig PCS)-System von Lexus genannt werden.
zum Fahrerfuß hin bewegt wird. Allerdings ist die
für eine Wahrnehmung notwendige Voraussetzung, 47.6.2.3 Schwacher Bremseingriff
dass das Fahrpedal auch getreten wird, nicht in allen Bei der Komfortschwelle zwischen 1,5 und 2,0 s
kritischen Situationen gegeben. kann eine automatisch, schon fahrdynamisch wirk-
Der Einsatzbereich der Warnung liegt zwischen same Gegenmaßnahme eingesetzt werden. Es bieten
den beiden frühesten Werten twarn und tcomfort. Abwä- sich zwei Möglichkeiten an:
gungen zwischen Wirksamkeit und Verzeihlichkeit 1. Bremsruck (Warning Braking)
können dazu führen, dass verzeihlichere Warnungen Die Hauptwirkung des Bremsrucks besteht in
früher eingesetzt werden können, während weniger der haptischen Alarmwirkung mit einer klaren
verzeihliche, aber sehr wirksame später, also bei klei- Bremsaufforderung an den Fahrer. Ein beispiel-
neren TTC eingesetzt werden (vgl. ▶ Kap. 37). hafter Bremsruck mit einer typischen Verzöge-
In der Norm ISO 15623 „Road vehicles – For- rungsamplitude 4 m/s2, Auf- und Abbauflanken-
ward Vehicle Collision Warning System – Perfor- dauern von 0,2 s und einer Dauer von typisch
908 Kapitel 47 • Grundlagen von Frontkollisionsschutzsystemen
.. Abb. 47.8 Drei Eingriffsstrategien mit gleicher Wirksamkeit (DvCM = 5 m/s) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwin-
digkeiten (40, 50, 70 km/h)
nicht, wie stark die Reduktion der Schäden war. Bremsruck) möglich, wie in ▶ Kap. 13 dokumentiert
Um für einen Nutzenkennwert eine weitgehende wird. . Abbildung 47.8 zeigt den Verlauf von drei
Unabhängigkeit von den Ausgangsbedingungen Strategien mit der gemeinsamen Wirksamkeit von
zu erreichen, kann die durch die Gegenmaßnahme DvCM = 5 m/s. Alle drei könnten bei einer Ausgangs-
effektiv verringerte Geschwindigkeit bestimmt geschwindigkeit v0 ≤ 2DvCM = 10 m/s = 36 km/h
werden. Allerdings ist auch diese – selbst bei ei- die Kollision noch vermeiden. Sie reduzieren bei
nem idealisierten System – noch abhängig von der 40 km/h den Schaden auf den von „Parkremplern“
Ausgangsrelativgeschwindigkeit, wie das folgende und verringern die kinetische Energie proportional
Beispiel deutlich machen soll, dem der einfachste zur Ausgangsgeschwindigkeit um m · vsub(ti) · DvCM,
Fall – der des stehenden Hindernisses – zugrunde wobei die Geschwindigkeitsreduktion bei hohen
liegt. Geschwindigkeiten auf DvCM = 5 m/s = 18 km/h ab-
Es wird eine idealisierte Notbremsung ange- fällt.
nommen, die bei einer Zeit ttB ausgelöst und dann Eine Wirksamkeit von DvCM = 5 m/s ist repräsen-
sofort mit D0 verzögert wird. Bei einer Ausgangs- tativ für Einzeleingriffe, wie sie beispielsweise bei
relativgeschwindigkeit von v0 = 2ttB · D0 kann ge- Honda CMBS durch einen Bremseingriff mit 6 m/
rade noch die Kollision vermieden und somit eine s2 Stärke zu finden sind, ausgelöst bei ttc = 1 s und
Geschwindigkeit von Dv = v0 = 2ttB · D0 abgebaut mit ca. τB = 0,2 s Verlustzeit oder alternativ mit ei-
werden. Sei hingegen die Ausgangsgeschwindigkeit ner schwachen, aber frühen Teilbremsung bei 1,6 s
sehr groß (v1 » 2ttB · D0), so wird nur halb so viel mit 3,3 m/s2 und τB = 0,1 s. Die erst bei sicherem
abgebaut. Um einen übertragbaren Kennwert zu er- Ausschluss einer Ausweichmöglichkeit, also bei
halten, wird daher nur die Differenz zur Ausgangs- ttc = 0,6 s aktivierbare Notvollbremsung kann eine
geschwindigkeit betrachtet, die innerhalb der Dauer solche Wirksamkeit mit der Maximalverzögerung
liegt, welche der bei der Auslösung zum Zeitpunkt (10 m/s2) und sehr schneller Bremsaufbaudynamik
ti vorliegenden TTC entspricht, also DvCM = vsub(ti) (τB = 0,1 s) erreichen.
– vsub(ti+ ttB).
Diese Definition der Wirksamkeit erlaubt so- Durch ein mehrstufiges Vorgehen lässt sich aber ein
wohl eine einfache Abschätzung idealisierter Kol- noch größeres Potenzial erreichen. Als Beispiel wird
lisionsgegenmaßnahmen als auch eine lösungsun- die Auslösung einer schwachen Bremsung (Speed
abhängige objektive Bewertung von Maßnahmen. Reduction Braking) nach Erreichen der Komfort-
Dabei ist sogar die vergleichende Bewertung von schwelle für das Ausweichen (ttc = 1,6 s) und eine
automatisch eingreifenden Systemen und fahrermit etwa eine TTC-Sekunde später folgende Vollbrem-
wirkenden Systemen (z. B. über Warnung oder sung herangezogen. Daraus ergibt sich eine Wirk-
910 Kapitel 47 • Grundlagen von Frontkollisionsschutzsystemen
41
42
43
44
45
46
.. Abb. 47.9 Zweistufige Eingriffsstrategie (ttc,1 = 1,6 s, D1 = 4 m/s2, ttc,2 = 0,6 s, D2 = 10 m/s2, Verlustzeit jeweils 0,1 s) mit einer
Wirksamkeit von DvCM = 9 m/s (= 1 s · 4 m/s2 + 0,5 s · 10 m/s2)) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwindigkeiten (60, 70,
47 90 km/h)
samkeit von DvCM = 9 m/s. Da aber die Verzöge- So sind an Warnungen auslösende Hindernisde-
48 rung nicht konstant und sinnvollerweise zunächst tektionen geringere Anforderungen hinsichtlich
schwächer ist, wird anders als bei den einstufigen der Fehlalarmrate gestellt als an solche, die starke
49 Verfahren weniger als der doppelte Geschwindig- Bremseingriffe auslösen. Allerdings unterscheidet
keitsabbau erreicht (s. . Abb. 47.9). Trotzdem ist sich auch der Schwierigkeitsgrad entsprechend,
50 mit einer solchen Auslegung ein Geschwindigkeits- d. h. die Warndetektionen finden bei höheren Ab-
abbau von etwa 60 km/h möglich. Damit wird sogar ständen statt. Mit den Warnschwellen twarn von
der mit der höchsten Geschwindigkeit von 64 km/h 2,5…3,0 s ergeben sich bei unbeschleunigten Hin-
51 durchgeführte Crashtest zu einem „Parkrempler“ dernissen Abstände von vdiff · twarn ≈ 50 m bei Diffe-
heruntergestuft, wobei allerdings nicht vergessen renzgeschwindigkeiten von 60…70 km/h. Die in der
52 werden darf, dass die Betrachtungen einem güns- überarbeiteten Norm ISO 15623 [17] für Forward
tigen Fall entsprechen und sich die Schutzwirkung Vehicle Collision Warning Systems (FVCWS) an-
längst nicht in jeder Kollisionssituation erreichen gegebene Ableitung für dmax als dmax= vrel,max·τmax +
53 lässt. Dennoch zeigt das Beispiel, was erreichbar ist. vrel,max2 /2 Dmax mit vrel,max als obere Relativgeschwin-
Statt den Funktionsnutzen nach oben zu treiben, digkeitsgrenze des Systems, Reaktionszeit τmax ≥ 0,8
54 begann Volvo 2008 auf einem „Bottom-up-Weg“ s und Dmax = 6,67 m/s² führt bei Auslegung vrel,max =
mit dem City-Safety-Konzept eine hohe Markt- 20 m/s zu Mindestwarnabständen von dmax ≥ 46 m.
55 wirkung zu entfalten. Mithilfe eines besonders Dieser Wert vergrößert sich bei verzögerten voraus-
kostengünstigen Lidar-Sensors mit nur geringer fahrenden Fahrzeugen und natürlich für die Reserve
Reichweite lassen sich Auffahrunfälle bei niedrigen zur Zielplausibilisierung.
56 Geschwindigkeiten bis zu 30 km/h vermeiden. Die- Die in der Norm ISO 15623 formulierten Anfor-
ses Konzept wurde auch von anderen Fahrzeugher- derungen hinsichtlich der Genauigkeit der Abstands-
57 stellern übernommen oder als Teilfunktion anderer messung mit MAX(± 2 m, ± 1 % · d) sind hingegen
Automatischer Notbremssysteme integriert. mit Punktzieltestreflektoren ohne Schwierigkeiten zu
erreichen. Der azimutale (laterale) Erfassungsbereich
58 ist abhängig von der Kurvenfähigkeitsklassifikation.
47.6.4 Anforderungen Zu erfüllen ist die Detektion eines Punktziels, das
59 an die Umfelderfassung sich in der Verlängerung der Fahrzeugseitenlinie
in einem als d2 definierten Abstand vom Fahrzeug
60 Die Anforderungen an die Umfelderfassung rich- befindet. Bei einem 1,80 m breiten Fahrzeug ist bei
ten sich nach den ausgelösten Fahrzeugreaktionen. einem in der Mitte montierten Einzelsensor mindes-
47.7 • Ausblick
911 47
tens ein Azimutwinkelbereich von ± 9° (Curve Capa- Dazu werden für Deutschland die Unfälle mit Per-
bility Class I, d2 = 10 m) bis ± 18° (Class III, d2 = 5 m) sonenschaden (über 300 000) auf die Kilometerleis-
vorzuhalten. Der Elevationswinkelbereich (vertikaler tung der Pkw (6 · 1011 km) bezogen. Die Unfallrate
Sichtbereich) muss hingegen groß genug sein, um bei liegt somit bei etwa einem Unfall mit Personen-
d2 ein in der Mitte platziertes Punktziel in 0,2 und in schaden pro 2 Mio. km. Nur ein Teil der Unfälle ist
1,1 m Höhe zu detektieren. Bei geeigneter Ausrich- Frontkollisionen zuzuordnen, sodass von einer im-
tung folgt, dass der Elevationsbereich genau halb so mer noch als optimistisch anzusehenden Nutzrate
groß sein muss wie die Anforderung für den Azimut. etwa 1 pro 5 Mio. km ausgegangen wird. Da nicht
Neu hinzugekommen ist die Forderung der Norm, jede Fehlauslösung zu einem schweren Unfall füh-
Brücken mit einer Durchfahrthöhe von mindestens ren muss, ist eine Fehlauslösungsrate in der gleichen
4,5 m ohne Alarm zu durchfahren. Viele der Sensor- Größenordnung auch für einen starken Eingriff als
Anforderungen von ISO 15623 finden sich auch in akzeptabel einzuschätzen. Das heißt aber auch,
der ISO 22839 wieder. Allerdings werden für die dass zwischen zwei Fehlauslösungen eine mittlere
Eingriffsschwellen keine expliziten Werte angege- Kilometerleistung von 5 Mio. km liegen sollte, oder
ben. Allein der Geschwindigkeitsbereich von Sub- anders betrachtet, nur eine innerhalb von insgesamt
jekt- und Objektfahrzeug ist angegeben, in dem (zu 25 Fahrzeuggesamtnutzungsdauern.
einem nicht direkt definierten Abstand) eine Brems- Für die Genauigkeit der Objektdaten ist die Be-
reaktion erfolgen muss. Allerdings ist diese Reaktion stimmung der TTC und der benötigten Verzöge-
wiederum über die Eingriffsstärke und –wirkung rung heranzuziehen. Eine Ungenauigkeit von 10 %
(Geschwindigkeitsabbau) spezifiziert. TTC und 0,5 m/s2 Dreq sollte nicht überschritten
Aus der Praxis werden für die hier diskutierten werden, wobei die Filterlaufzeiten zu insgesamt
Funktionen Reichweiten von 60 bis 80 m gefordert nicht mehr als 200 ms Zeitverzug führen dürfen.
[19]. Damit lässt sich gegenüber stehenden Hin- Die oben diskutierte Einschränkung auf nied-
dernissen noch bei 100 km/h eine TTC von über 2 s rige Geschwindigkeiten und damit die Eingren-
realisieren, womit ein Wert erreicht wird, der ein un- zung auf den innerstädtischen Bereich reduziert
gefährliches Ausweichen oder bei schneller Reaktion die Anforderung erheblich. Bei geeigneter Sensor-
noch eine erfolgreiche Kollisionsverhinderung durch platzierung z. B. hinter der Windschutzscheibe und
ein Bremsmanöver noch ermöglichen würde. Gerade insgesamt nur geringem Entfernungsbereich von
die für eine Kollisionslinderung erforderlichen star- etwa 10 m lassen sich Bodenreflektionen oder an-
ken Bremsungen werden erst bei TTC von etwa 1 s dere Fehlmessungen verursachende Konstellationen
ausgelöst, woraus sich bei Kollisionen mit Differenz- ausschließen. Somit ist ein in diesem Bereich detek-
geschwindigkeiten bis 50 km/h ein Reaktionsabstand tiertes Objekt grundsätzlich als relevantes Hindernis
von weniger als 15 m gefordert ist. Geht man von zu bewerten, und folglich können geschwindigkeits-
einer Signalplausibilisierungszeit von 0,3 s aus, ver- reduzierende Bremsungen ausgelöst werden, sofern
größert sich der erforderliche Abstand auf etwa 20 m. eine Kollision droht. Da aber eine allein auf niedrige
Die größte Herausforderung ist nicht die Detek- Geschwindigkeiten begrenzte Funktion mittlerweile
tion von relevanten Objekten, sondern die Selektion nicht mehr marktgerecht ist, sind Sensorfunktionen
der tatsächlich bedrohlichen. Weder Schilderbrü- zu erweitern oder weitere Sensorik notwendig.
cken noch Gullydeckel oder „verschmolzene“ Ob-
jekte dürfen zu einer Auslösung führen. Das Ausfil-
tern solcher Falschobjekte gelingt über die längere 47.7 Ausblick
Beobachtung [20] der Reflektionsstärke und der
Konstanz der Winkelwerte in Abhängigkeit vom Obwohl schon seit über 50 Jahren an Frontkolli-
Abstand. Nur Objekte mit diesbezüglich plausiblem sionsschutzsystemen gearbeitet wird, haben erst
Verhalten werden für eine Auswertung hinsichtlich die Fortschritte der Umfeldsensorentwicklung, die
von Kollisionsgegenmaßnahmen herangezogen. durch Komfortfunktionen wie ACC bzw. FSRA sti-
Um die Anforderung an die Robustheit abzu- muliert wurden, zu serientauglichen Umsetzungen
leiten, kann man die Zahl der Nutzfälle betrachten. geführt. Damit war der technologische Weg frei,
912 Kapitel 47 • Grundlagen von Frontkollisionsschutzsystemen
umfelderfassende Sensoren für den direkten Kol- [9] Kiesewetter, W., Klinkner, W., Reichelt, W., Steiner, M.: Der
41 lisionsschutz einzusetzen. Zum Teil aus Gründen
neue Brake‐Assist von Mercedes‐Benz – aktive Fahrerun-
terstützung in Notsituationen. ATZ Automobiltechnische
der strategischen Marktplatzierung, zum Teil ge- Zeitschrift 99(6), 330–339 (1997)
42 trieben aus Wettbewerbsdruck ist das Angebot stark [10] Weiße, J.: Beitrag zur Entwicklung eines optimierten Brem-
gewachsen, so dass ein Neuwagenkäufer aus einer sassistenten. Ergonomia Verlag, Stuttgart (2003). Disserta-
Vielzahl an Modellen wählen kann, die Frontkolli- tion TU Darmstadt
43 sionsgegenmaßnahmen enthalten. Die Aufnahme in
[11] Busch, S.: Entwicklung einer Bewertungsmethodik zur Pro-
gnose des Sicherheitsgewinns ausgewählter Fahrerassis-
den Katalog des EURO-NCAP reflektiert einerseits tenzsysteme VDI Fortschritt‐Berichte Reihe 12. VDI‐Verlag,
44 diese Entwicklung und forciert sie andererseits, so Düsseldorf (2005). Dissertation TU Dresden
dass die serienmäßige Ausstattung in nahezu allen [12] Morrison, R.W., Swope, J.G., Halcomb, C.G.: Movement
45 Klassen zu erwarten ist. times and brake pedal placement. The Journal of the
Human Factors and Ergonomics Society (HUM FACTORS)
Auf der Funktionswunschliste stehen der Ausbau
05/1986; 28(2), 241–246 (1986)
des Schutzes der ungeschützten Verkehrsteilnehmer,
46 Fußgänger und Zweiradfahrer, und die Ausdehnung
[13] Hoffmann; J. et al.: Das Darmstädter Verfahren (EVITA) zum
Testen und Bewerten von Frontalkollisionsgegenmaßnah-
auf komplexere Szenarien wie der Kollisionsvermei- men, Dissertation TU Darmstadt, noch nicht veröffentlicht.
47 dung und –linderung in Querverkehrskollisionssi- [14] Eckstein, L.: Entwicklung und Überprüfung eines Bedien-
tuationen, vgl. ▶ Kap. 49, ganz oben.
konzepts und von Algorithmen zum Fahren eines Kraft-
fahrzeuges mit aktiven Sidesticks Fortschritt‐Berichte
48 VDI‐Reihe 12, Bd. 471. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2001). Dis-
sertation TU München
Literatur [15] Schmidt, C.; Oechsle, F.; Branz, W.: Untersuchungen zu letzt-
49 möglichen Ausweichmanövern für stehende und bewegte
[1] Braun, H., Ihme, J.: Definition kritischer Situationen im Hindernisse. 3. FAS‐Workshop. Walting, 2005
Kraftfahrzeugverkehr – Eine Pilotstudie. Automobil-Indus- [16] Kodaka, K.; Otabe, M.; Urai, Y.; Koike, H.: Rear‐end Collision
50 trie 1983(3), 367–375 (1983) Velocity Reduction System, SAE paper 2003–01‐0503, 2003
[2] Kopischke, S.: Entwicklung einer Notbremsfunktion mit [17] ISO 15623 Norm: Transport information and control sys-
Rapid Prototyping Methoden. Bericht aus dem Institut für tems – Forward vehicle collision warning systems – Per-
51 Elektrische Messtechnik und Grundlagen der Elektrotech- formance requirements and test procedures. 2013
nik der Technischen Universität Braunschweig, Band 10. [18] ISO 22839 Norm: Intelligent Transport System – Forward
Vehicle Collision Mitigation Systems – Operation, Perfor-
52 Aachen, Mainz., Diss. TU‐Braunschweig, 2000
[3] Bender, E.: Handlungen und Subjektivurteile von Kraftfahr- mance, and Verification Requirements, 2013.
zeugführern bei automatischen Brems‐ und Lenkeingriffen [19] Randler, M., Schneider, K.: Realisierung von aktiven Kom-
59
Rear‐End Precrash Scenarios Based on the General Estima-
tes System (GES); SAE‐1999–01‐0817, 1999
[8] Färber, B.; Maurer, M.: Nutzer‐ und Nutzen‐Parameter
Entwicklungsprozess von
Kollisionsschutzsystemen
für Frontkollisionen: Systeme
zur Warnung,
zur Unfallschwereminderung
und zur Verhinderung1
Andreas Reschka, Jens Rieken, Markus Maurer
48.1 Einführung – 914
48.2 Maschinelle Wahrnehmung der Umgebung
für Frontkollisionswarnung und -verhinderung – 915
48.3 Thematische Eingrenzung und Abgrenzung zu
anderen Systemen und Kapiteln – 917
48.4 Aktuelle Systemausprägungen – 918
48.5 Abstufung am Beispiel einer aktuellen Realisierung – 923
48.6 Systemarchitektur – 924
48.7 Entwicklungsprozess – 926
48.8 Zusammenfassung – 933
Literatur – 933
1 Dieses Kapitel erschien erstmalig in ähnlicher Form und auf Englisch unter dem Titel
„Forward Collision Warning and Avoidance“ in [1].
.. Abb. 48.1 Bremsverzögerung bei Unfällen mit unterschiedlicher Verletzungsschwere nicht assistiert [4]; MAIS – Maximum
auf der abgekürzten Verletzungsskala
nelle Wahrnehmung dem aufmerksamen Fahrer Fahrstreifen mit ihren Begrenzungslinien. Das Be-
1 derzeit in vielen Aspekten unterlegen ist. Bereits in sondere an der maschinellen Wahrnehmung besteht
der Einleitung wurde deutlich, dass die Entwicklung also in der maschinellen Interpretationsleistung.
2 von Systemen zur maschinellen Wahrnehmung die Diese führt nach dem aktuellen Stand der Technik
Schlüsseltechnologie (enabling technology) für die in der maschinellen Wahrnehmung zu bislang un-
Fahrerassistenz darstellt. gewohnten Möglichkeiten der Interpretation, aber
3 Die besonderen Charakteristika von maschi- auch der Fehlinterpretation.
nellen Wahrnehmungssystemen werden zunächst Auf die Funktionsgrenzen der maschinellen
4 an einfachen Systemvergleichen verdeutlicht. Fah- Wahrnehmung nach dem Stand der Technik wird
rerassistenzsysteme mit maschineller Wahrneh- bei der Systementwicklung grundlegend Rücksicht
5 mung sollen dazu kontrastiv mit konventionellen genommen. Eine Strategie zur Systemauslegung
Fahrerassistenzsystemen diskutiert werden, die auf kann darin bestehen, signifikante Fehlinterpretati-
direkte Messungen oder modellbasierte Beobach- onen in Kauf zu nehmen (bei Sicherheitssystemen
6 tungen zurückgehen. z. B. eine Falschauslösung auf 10.000 km Fahrleis-
Konventionelle Fahrerassistenzsysteme un- tung), die Systemreaktion aber so zu gestalten, dass
7 terstützen den Fahrer in Situationen, die einfach der Fahrer dadurch nicht gestört und schon gar
zu messen oder zu schätzen sind. Antiblockier- nicht gefährdet wird. Als Beispiel hierzu wird die
systeme greifen ein, wenn ein Rad zu blockieren Auslegung eines automatischen Warnrucks später
48 droht, was sich über konventionelle Raddrehzahl- im Detail diskutiert (s. ▶ Abschn. 48.4.2).
sensoren bestimmen lässt. Ein elektronisches Sta- Sollen signifikante automatische Eingriffe in die
9 bilitätsprogramm bremst einzelne Räder ab, wenn Fahrdynamik aufgrund von maschineller Wahrneh-
der geschätzte Schwimmwinkel einen applizierten mung vorgenommen werden, so sind maschinelle
10 Schwellwert übersteigt. Dabei stellt das elektroni- Fehlreaktionen grundsätzlich ganz zu vermeiden. In
sche Stabilitätsprogramm bereits einen Grenzfall der Automobilindustrie gibt es derzeit keine klaren
der Klassifikation dar, da die notwendige Reibwert- Standardwerte, wie hoch die Fehlauslöserate bei ei-
11 schätzung eine anspruchsvolle Aufgabe der maschi- ner gegebenen Eingriffsstärke sein darf.
nellen Wahrnehmung ist – insbesondere, da diese in Um die Korrektheit im Interpretationsprozess
12 Echtzeit und idealerweise prädiktiv erfolgen muss, zu erhöhen, nutzen maschinelle Wahrnehmungs-
um die aktuelle Fahrgeschwindigkeit an die Stra- systeme redundante Sensoren, deren Daten in einer
ßenbedingungen anzupassen. Sensordatenfusion zu einer möglichst konsistenten
13 Eine ähnliche Unterscheidung ist in den „Code- Umgebungsrepräsentation zusammengeführt wer-
of-Practice“ für sogenannte „fortschrittliche Fah- den (s. ▶ Kap. 24 und 25). Die Eingriffssituationen
14 rerassistenzsysteme“ (Advanced Driver Assistance werden so spezifiziert, dass Fehlinterpretationen
Systems, ADAS) eingegangen: unwahrscheinlich werden. Die Verfolgung der
15 „Im Gegensatz zu konventionellen Fahreras- temporalen Entwicklung des Verkehrsgeschehens
sistenzsystemen besitzen ADAS Sensoren zur Er- wird zusätzlich eingesetzt, um die maschinelle In-
fassung und Auswertung der Fahrzeugumgebung terpretation zu verifizieren. Im Zweifelsfall wird die
16 und je nach zu unterstützender Fahraufgabe eine assistierende Handlung unterlassen, um Verkehrs
komplexe Signalverarbeitung.“ [12] teilnehmer gefährdende Falschreaktionen zu ver-
17 Als „Fahrerassistenzsysteme mit maschineller meiden. Bei der Auslegung von Sicherheitssystemen
Wahrnehmung“ werden Systeme bezeichnet, die wird dies auch als konservative Systemauslegung
Unterstützung in Situationen anbieten, welche als bezeichnet.
18 „wahr“ angenommen werden müssen. Im Falle von Die Forderung nach Redundanz wird auch durch
ACC werden Radarreflexe, die gewisse zeitliche und die Argumentation von Juristen unterstützt, die neue
19 räumliche Kriterien erfüllen müssen, als Fahrzeuge Systeme mithilfe von Analogien zu bewerten suchen.
interpretiert. Beim Fahrstreifenverlassenswarner re- Eine mögliche Argumentation könnte lauten, dass
20 präsentieren Hell-Dunkel-Übergänge im Videobild, auch bei einem ESC-System wesentliche Parameter
die eine spezifische Gestaltannahme erfüllen, den ebenfalls (funktional) redundant erfasst werden.
48.3 • Thematische Eingrenzung und Abgrenzung zu anderen Systemen und Kapiteln
917 48
Um für eine gegebene Eingriffssituation eine Nutzung von ACC generell zu verlangen, um größt-
möglichst robuste maschinelle Wahrnehmung zur mögliche Sicherheit zu gewährleisten [14].
Verfügung zu stellen, ist vielfach eine spezielle Jenseits dieser skizzierten positiven Auswirkun-
Auslegung des Systems auf diese Situation zielfüh- gen von ACC auf die Verkehrssicherheit haben Sys-
rend. Auch wenn die Natur ebenfalls viele Beispiele tementwickler von Anfang an dafür Sorge getragen,
entsprechender Anpassung an Lebensräume oder dass sich der Gebrauch des Systems nicht negativ
Beutesituationen kennt (z. B. Fledermäuse), so ist auf die Fahrzeugsicherheit auswirkt. Wissenschaft-
diese Spezialisierung ein großes Hemmnis, wenn liche Grundlagen für die Bedenken liefern Erfah-
bestehende Wahrnehmungssysteme auch für andere rungen aus der Automatisierung in Kraftwerken
Funktionen verwendet werden sollen. und Flugzeugen [15] oder aus der psychologischen
Grundlagenforschung (Yerkes-Dodson Law, [16]).
Darin wird vereinfacht gesprochen die Erfahrung
48.3 Thematische Eingrenzung formuliert, dass man einen gelangweilten Fahrer
und Abgrenzung zu anderen tunlichst nicht weiter entlasten sollte. Solange der
Systemen und Kapiteln Fahrer für die Fahraufgabe verantwortlich ist und
nicht zum Passagier wird, ist dafür Sorge zu tragen,
Die detaillierte Abgrenzung von anderen Syste- dass er auch hinreichend in die Fahrzeugführungs-
men wird zu einer spezifischeren Definition von aufgabe eingebunden ist.
FVCX-Systemen führen. Bezogen auf die Entwicklung des ACC zeigen
Buld et al. [17] im Fahrsimulator, dass mit einem
Abgrenzung zu ACC zunehmend ausgereiften ACC-System durchaus da-
Das Komfortsystem ACC (s. ▶ Kap. 46) und mit zu rechnen ist, dass der Fahrer in seiner Fahr-
FVCX-Systeme werden grundsätzlich als eigen- zeugführungsaufgabe schlechter und nicht besser
ständige Systeme diskutiert, die dennoch technolo- wird ([17], S. 184). Auch kann der Gebrauch von
gisch und auch in ihrer Wirkung auf das Unfallge- ACC zu einer schnelleren Ermüdung des Fahrers
schehen verkoppelt sind. Bereits in der Einleitung führen als wenn er ohne Assistenz fährt.
wurde aufgezeigt, dass ACC durch die Einführung Es gehört zum Standardrepertoire im Ent-
des Radarsensors in die Serienproduktion die tech- wicklungsprozess der Automobilhersteller, die Ge-
nologische Grundlage für die maschinelle Wahr- brauchssicherheit von ACC bei der Entwicklung
nehmung von FVCX-Systemen lieferte. jeder neuen Systemausprägung intensiv zu testen.
Immer wieder wird kontrovers die Frage disku- Im Zweifelsfall werden die Systemausprägungen so
tiert, wie sich ACC auf die Verkehrssicherheit allge- verändert, dass sich keine negativen Auswirkungen
mein und speziell auf die Vermeidung von Front- auf die Verkehrssicherheit ergeben [18]. Die Ge-
kollisionen auswirkt. Nutzer berichten, dass ACC brauchssicherheit auch im Langzeitbetrieb wurde
durch sein maschinelles Eingreifen vor gefährlichen erstmalig von Weinberger [19] untersucht und aus-
Situationen gewarnt oder direkt Unfälle verhindert führlich dokumentiert.
hat. In der euroFOT Studie wurde das Verhalten von
Fahrzeugen mit ACC im Hinblick auf Sicherheit und Abgrenzung zu Proactive Pedestrian Protection
Effizienz näher untersucht. Das Ergebnis zeigt, dass Formal haben „Proactive Pedestrian Protecti-
die Sicherheit sowohl bei Pkws als auch bei Lkws er- on“-Systeme (s. ▶ Kap. 23) eine große Überlap-
höht wird [13]. Auch wird im Einzelfall die Wirkung pung mit FVCX-Systemen, ist doch vor allem
als FVCX-System berichtet. Zusätzlich führt der Ge- der Frontalzusammenstoß mit Fußgängern von
brauch von ACC bei vielen Nutzern dazu, dass sie großer Bedeutung im Unfallgeschehen. Die Di-
im Mittel mit höheren Abständen fahren [13]. Hier versifizierung der Systeme ergibt sich wiederum
ist solange eine Reduzierung von Frontkollisionen aus den begrenzten Möglichkeiten der maschinel-
zu erwarten, wie der Fahrer aufmerksamer Überwa- len Wahrnehmung und der daraus resultierenden
cher des Systems bleibt. Diese Nutzenerwartungen Spezialisierung in der maschinellen Wahrnehmung
an ACC veranlassen erste Juristen, vom Fahrer die (s. ▶ Abschn. 48.2).
918 Kapitel 48 • Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen
FVCX-Systeme konzentrieren sich in erster Li- Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass
1 nie auf den Schutz der Fahrzeuginsassen. Daher ist FVCX-Systeme im Fahrzeug meist vorhandene
besonders die Erkennung von anderen Fahrzeugen Sensoren für maschinelle Wahrnehmung der Umge-
2 auch schon in der größeren Vorausschau von vor- bung nutzen – z. B. den Radarsensor des ACC-Sys-
rangiger Bedeutung. Die „Proactive Pedestrian Pro- tems – um damit Frontkollisionen ganz zu verhin-
tection“-Systeme schützen primär den Fußgänger dern oder zumindest deren Schwere zu mindern.
3 außerhalb des Fahrzeugs, insofern ist hier eine auf Fußgänger werden nach dem heutigen Stand der
Fußgänger spezialisierte Wahrnehmung speziell im Technik in FVCX-Systemen nicht explizit reprä-
4 Nahbereich erforderlich. sentiert und erkannt, da die Systemauslegung und
Bei Fußgängerschutzsystemen werden diese die maschinelle Wahrnehmung spezialisiert für den
5 Personen explizit erkannt und in der Aktion auch Insassenschutz und damit für die Erkennung von
besonders berücksichtigt. In diesem Sinne sind anderen Fahrzeugen entwickelt werden.
Fußgängerschutzsysteme Spezialisierungen zu
6 FVCW-, FVCM- und FVCA-Systemen. Auch ohne
die explizite Erkennung von Fußgängern können 48.4 Aktuelle Systemausprägungen
7 FVCW-, FVCM- und FVCA-Systeme einen Beitrag
zum Fußgängerschutz leisten, nämlich dann, wenn Da FVCX-Systeme die Wahrscheinlichkeit für das
sie die Fußgänger als relevante Objekte (aber nicht Eintreten einer FVC verringern und damit die Si-
48 explizit als Fußgänger) erkennen und geeignet auf cherheit der Fahrzeuginsassen erhöhen sollen, adres-
diese reagieren. sieren sie Situationen, in denen der Fahrer, bzw. die
9 Insassen, potenziell gefährdet sind, in einen Unfall
Abgrenzung zu integrierten verwickelt zu werden. FVCX-Systeme greifen also
10 Sicherheitssystemen dann ein, wenn der nicht assistierte Fahrbetrieb mit
Integrierte Sicherheitssysteme koordinieren meh- erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Kollision führen
rere Sicherheitssysteme. Ein System, das FVCW-, wird.
11 FVCM- und FVCA-Funktionen koordiniert, ist Zentral für das adäquate Eingreifen von
demnach ein integriertes Sicherheitssystem. Von FVCX-Systemen ist eine zuverlässige maschinelle
12 Kompass und Huber [20] wird diese Thematik um- Situationsbewertung. Der Begriff „Situation“ meint
fassend betrachtet. im Kontext dieses Kapitels, dass über die bloße
räumliche und zeitliche Darstellung der wahrge-
13 Abgrenzung zu Ausweichassistenten nommenen Objekte hinaus – wie in der Szene – die
Ausweichassistenten (Evasion Assist Systems) än- Objekte hinsichtlich der eigenen Ziele bewertet
14 dern bewusst die Gierrate des eigenen Fahrzeugs, werden. Zur robusten Situationserfassung benötigt
um die Kollision mit einem Hindernis zu vermei- das FVCX-System daher eine zuverlässige Erfassung
15 den oder günstig zu beeinflussen. Zusätzlich sind der relevanten Objekte in der Fahrumgebung mit-
Eingriffe zur Verringerung der Geschwindigkeit tels maschineller Wahrnehmung und eine sichere
möglich. Ausweichassistenten können damit auch Erkennung der Absichten der Fahrer. Dabei sind
16 als eine spezielle Ausprägung von FVCA-Systemen die Absichten des zu assistierenden Fahrers und die
gesehen werden (s. ▶ Kap. 47). Absichten der wahrgenommenen anderen Verkehr-
17 steilnehmer relevant.
Abgrenzung zu konventionellen Diese Anforderungen überfordern im allge-
Unterstützungssystemen der Längsführung meinen Fall das aktuell technisch Mögliche. Jedes
18 FVCX-Systeme verfügen über maschinelle Wahr- heute verfügbare maschinelle Wahrnehmungs-
nehmungssysteme zur Umgebungserfassung. Damit system für die Umgebungserfassung verfügt über
19 unterscheiden sie sich von konventionellen Unter- relevante Systemgrenzen. Dies führt dazu, dass
stützungssystemen der Längsführung wie dem hy- maschinelle Situationsentscheidungen auch im
20 draulischen Bremsassistenten. Serienbetrieb falsch getroffen werden könnten,
falls ihr Einsatzbereich nicht situativ stark ein-
48.4 • Aktuelle Systemausprägungen
919 48
.. Abb. 48.2 „Pathologische Situation“ eines Notbremsassistenten: Bremseingriff während eines Überholmanövers (Quelle:
Sebastian Ohl)
geschränkt wird. Ebenso unerreichbar nach dem dass das System abweichend von heutigen Serien-
aktuellen Stand der Technik ist die sichere maschi- systemen auch auf Gegenverkehr reagieren würde
nelle Erfassung der Fahrerabsicht in allen Situati- (s. . Abb. 48.2).
onen. Auch dieser Unsicherheit wird dadurch be- Das CU-Kriterium beeinflusst auch wesentlich
gegnet, dass potenzielle Eingriffssituationen stark die Definition vieler Funktionsausprägungen. So ist
eingeschränkt werden. es durchaus verbreitete Praxis, automatische Not-
Zwei Freiheitsgrade erlauben – auch mit ma- bremsungen nur dann zuzulassen, wenn ein Unfall
schineller Situationserfassung nach dem aktuellen unvermeidlich ist:
Stand der Technik – heute schon FVCX-Systeme „Eine Notbremsung, d. h. Bremseingriff mit
zur Marktreife zu bringen: die Schwere des Eingriffs max. Verzögerung, wird dann veranlasst, wenn ein
und die überwiegend eingrenzende Definition der Unfall fahrphysikalisch nicht mehr zu verhindern
Eingriffssituationen. ist. Damit wird dem Fahrer weiterhin jede Freiheit
gelassen und nur dann ausgelöst, wenn er auch bei
noch so guten Fahrfähigkeiten die Kollision nicht
48.4.1 Das CU-Kriterium mehr verhindern könnte …“ [7]
Eine genauere Analyse zeigt, dass das CU-Kri-
Eine besondere Bedeutung bei der Eingrenzung von terium besondere Bedeutung für eine Notbremsung
FVCX-Situationen hat das sogenannte CU-Krite- bei höheren Geschwindigkeiten hat, da in diesem
rium (CU: collision unavoidable, Kollision unver- Fall Ausweichen noch länger unfallvermeidend
meidlich). Ist ein Unfall unvermeidlich, kann er möglich ist als Abbremsen. Bei geringen Geschwin-
auch vom besten vorstellbaren Fahrer nicht ver- digkeitsdifferenzen kehrt sich die Situation um und
mieden werden. Praktisch kommt diesem Fahrer Abbremsen ist länger unfallvermeidend möglich als
der Idealfahrer sehr nahe, der so gut fährt wie die Ausweichen.
besten zwei Prozent aller realen Fahrer. Erfolgt eine In . Abb. 48.3 ist eine Funktion dargestellt, die
Auslösung erst, wenn der Unfall unvermeidlich ist, eine Minimaldistanz für die Auslösung eines Manö-
dann können dadurch zu frühe Reaktionen ver- vers abhängig von der Relativgeschwindigkeit zum
mieden werden, die in seltenen Situationen – auch erkannten Objekt enthält. Die Bremsdistanz abhän-
pathologische Situationen genannt – zu schwerwie- gig von der Relativgeschwindigkeit ist als schwarze
genden Folgen führen. durchgezogene Linie dargestellt. Die Distanz, bei
Ein kurzes Gedankenexperiment veranschau- der einem 2 m breiten Objekt gerade noch ausge-
licht die Bedeutung des CU-Kriteriums: Erfolgt wichen werden kann, ist gepunktet dargestellt. Am
die Auslösung einer Notbremsung in einer Über- Schnittpunkt der beiden Kurven kann eine Kollision
holsituation, bevor der Unfall unvermeidlich ist, durch einen Bremseingriff verhindert werden, selbst
könnte eine automatische Notbremsung einen wenn ein Ausweichen nicht mehr möglich ist. Das
Unfall erst verursachen, wenn der Fahrer sonst CU-Kriterium kategorisiert ein FVCX-System als
den Überholvorgang noch rechtzeitig abgeschlos- passives Sicherheitssystem (FVCM-System) oder als
sen hätte. In diesem Beispiel wurde angenommen, aktives Sicherheitssystem (FVCA-System).
920 Kapitel 48 • Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen
.. Abb. 48.4 Warndilemma: Annäherung an ein langsames Nutzfahrzeug mit einer hohen Relativgeschwindigkeit [21] (Quelle:
Sebastian Ohl)
In der Literatur wird vielfach noch zwischen lision verbleibt. Psychologische Untersuchungen
Latentwarnung und Vorwarnung unterschieden haben gezeigt, dass die TTC auch beim Menschen
(z. B. ▶ Kap. 47). Eine Latentwarnung kann dann die entscheidende Größe für die Situationswahr-
angemessen sein, wenn keine Gefahr bei stationä- nehmung ist [24, 25].
rer Weiterentwicklung der Situation besteht, aber Im Folgenden sind exemplarisch Einzelfunkti-
ein Unfall schon bei geringer Störung unausweich- onen skizziert, auf die aktuelle Ausprägungen von
lich wird. Das klassische Lehrbuchbeispiel für diese FVCX-Systemen in unterschiedlichen Modellen
latente Gefahr sind Fahrzeuge, die einen sehr ge- unterschiedlicher Hersteller derzeit zurückgreifen
ringen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug (vgl. ▶ Kap. 47):
bei geringer Relativgeschwindigkeit halten. Eine
Vorwarnung erfolgt, wenn auf Basis der aktuellen 48.4.3.1 FVCC-Systeme:
Zustandsgrößen ein Unfall prädiziert werden kann. FVCC-Systeme konditionieren das Fahrzeug so vor,
dass es in der drohenden Gefahrensituation dem
Fahrer möglichst gute Überlebenschancen bietet.
48.4.3 Abgestufte Unterstützung Aktuatoren, die zur aktiven und passiven Sicherheit
im Gefahrenfall beitragen, können entsprechend vorkonditioniert
-
weise widersprechenden Grundsätzen:
Der Eingriff soll rechtzeitig erfolgen, so dass
der Fahrer das Unfallgeschehen noch abwen-
anlage ein leichter Druck aufgebaut – man
spricht auch vom „Vorbefüllen“ der Bremse.
Dadurch verringert sich die Totzeit, sobald
- den kann.
Der Eingriff soll angemessen erfolgen in dem
der Fahrer das Bremspedal betätigt oder ein
FVCX-System Bremsdruck anfordert (z. B.
Sinne, dass der Fahrer zwar unterstützt, aber
genauso wenig durch übertriebene Eingriffe
belästigt wird wie die Insassen oder der umge- - Audi A8).
Adaptive Brake Assist: „Wird aufgrund
der Umfeldsensorik eine Gefahrensituation
- bende Verkehr.
Abhängig von der Eingriffsschwere sind
Falscheingriffe so gering zu halten, dass das
-
erkannt, so wird die Auslöseschwelle des HBA
herabgesetzt.“ [26]
Dämpferverstellung: eine Veränderung der
Verkehrsgeschehen nicht negativ beeinflusst
wird.
Nicht-Kollisionssituationen bei maschinell aber dadurch das Auffahren eines viel schwereren
1 wahrgenommenen Situationen. Diese zusätz- Fahrzeugs auf das Heck des assistierten Fahrzeugs
liche Information wird zum Zeitpunkt der erst verursacht wird, profitiert der assistierte Fahrer
2 Kollision genutzt ([27]; z. B. Audi A8). nicht unbedingt vom Eingriff. Aus diesem Grund
werden FVCX-Maßnahmen häufig auch durch
48.4.3.2 FVCW-Systeme Maßnahmen ergänzt, die das Fahrzeug nach hin-
-
3 FVCW-Systeme warnen den Fahrer, so dass er die ten absichern:
drohende Gefahr selbstständig erfassen und abweh- Warnblinkanlage: Weitgehend Standard ist
4 ren kann. Die Stärke der Warnung hängt davon ab, das Einschalten einer Warnblinkanlage, wenn
wie viel Zeit dem Fahrer noch zur Gefahrenabwehr eine (automatische) Notbremsung ausgeführt
5
6
bleibt. Um den richtigen Warnzeitpunkt zu bestim-
men, analysieren viele Systeme Fahrerhandlungen –
entweder durch direktes visuelles Beobachten (z. B.
Lexus) oder durch Auswertung seiner Fahrweise. In
- wird.
Rückwärtige Sensorik: Ausgefeilte Systeme
nutzen zusätzlich rückwärtige Sensorik, mit
der analysiert wird, ob eine Notbremsung
▶ Kap. 37 werden die Fahrerwarnelemente umfang- – wie zuvor beschrieben – eventuell mehr
7
48
-
reicher betrachtet.
Optische Warnung: Symbolische und/oder
textuelle Warnbotschaften durch Lampen oder
Displays werden ausgelöst. Bei sehr geringem
schadet als nützt.
48.4.3.4 FVCM-Systeme:
FVCM-Systeme nutzen Aktuatoren im Fahrzeug,
Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen um die Unfallschwere der drohenden Kollision zu
9
10
erfolgt eine optische Latentwarnung. Zu-
sätzlich erfolgt eine optische und akustische
Vorwarnung, wenn die Reaktionszeit auf das
vorausfahrende Fahrzeug einen Schwellwert
-
mindern.
Automatische kurzzeitige Bremseingriffe:
Automatisch ausgelöste kurzzeitige Bremsein-
griffe reduzieren die Relativgeschwindigkeit
11
- unterschreitet.
Akustische Warnung: Verschiedene Warntöne
(Gong, Summer) werden zur Erhöhung der
und warnen den Fahrer mit Nachdruck. Die
Eingriffe erfolgen abgestuft je nach Kritikali-
tät der Situation, solange ein Unfall vermeid-
12
- Fahreraufmerksamkeit erzeugt.
Warnbremsruck: Eine signifikante, kurzzeitige
bar ist (z. B. Audi A8: Stufe 1: 3 sm2 , Stufe 2: 5 sm2 ,
maximal erlaubt nach Norm ISO 22839: 6 sm2
13 Änderung der aktuellen Beschleunigung durch
Einleiten eines kurzen Druckpulses in die
- [10]).
CMS-Bremsung: CMS (Collision mitiga-
14
- Bremsanlage soll den Fahrer warnen.
Warngurtruck: Warnende Rucke am Sicher-
heitsgurt durch den Gurtstraffer dienen als
tion systems) sind 2003 in Japan eingeführt
worden. Nach einer Warnung an den Fahrer
wird eine Notbremsung ausgeführt, falls der
15
- Warnung.
Gegendruck am aktiven Gaspedal: Während
Fahrer eine Kollision nicht mehr verhindern
kann. Das CMS muss dabei mindestens mit 5 sm2
16
17
der Betätigung des Gaspedals durch den Fah-
rer kann ein anwachsender Gegendruck des
Pedals eine notwendige Verzögerung signali-
sieren (z. B. bei Fahrzeugen von Infinity).
- verzögern [10] (z. B. Honda CMBS [28, 8]).
Automatische Notbremsung zur Unfallfol-
genreduzierung: Eine automatische Notbrem-
sung erfolgt, wenn eine Kollision unvermeid-
bar ist, um die Unfallfolgen zu reduzieren. Die
48.4.3.3 Gefahrenabwehr zum Verzögerung kann dabei, je nach Reibungs-
-
18 rückwärtigen Verkehr koeffizient, bis zu 6 sm2 erreichen.
Nicht in allen Verkehrssituationen wirken automati- Gurtstraffer: Kurz bevor eine unvermeidbare
19 sche Notbremsungen unfallschweremindernd oder Kollision eintritt, werden Fahrer und Beifahrer
unfallverhindernd. Speziell für den Fall, dass zwar über den Gurtstraffer in eine aufrechte Sitzposi-
20 eine Frontkollision mit einem leichten Verkehrsteil- tion gebracht und ein „submarining“ (Unter-
nehmer durch eine Notbremsung vermieden wird, tauchen unter den Gurt) wird verhindert [27].
48.5 • Abstufung am Beispiel einer aktuellen Realisierung
923 48
.. Abb. 48.5 Sensoren für
maschinelle Umfeldwahr-
nehmung im Audi A8 [30]
(Quelle: Audi AG)
Fahrzeugs automatisch geschlossen. Als Teil Die Vielfalt von aktuellen FVCX-Systemen sei im
des pre-safe genannten Systems wurde diese Folgenden am Beispiel der Assistenzfunktionen
Funktionalität als Erstes von Daimler einge- illustriert, die unter den Markennamen „Braking
-
um den Unfall zu verhindern.
Zielbremsung: Eine Zielbremsung ist eine Er-
weiterung des hydraulischen Bremsassistenten.
Die Funktion unterstützt den Fahrer in gefähr-
Für FVCX-Funktionen nutzt das Fahrzeug zwei
Radarsensoren (s. ▶ Kap. 17) für den Vorausschau-
bereich (Bosch, ACC3, 77 GHz), eine Monovideo-
kamera (Bosch, 2. Generation) (s. ▶ Kap. 19) und
lichen Situationen durch eine Verstärkung des Ultraschallsensoren (s. ▶ Kap. 16). Zur Absicherung
1
2
3
4
5
6
7
48
9
10 .. Abb. 48.6 Sequenzieller Einsatz von FVCX-Funktionen im Audi A8 [30] (Audi AG)
Gurtlose. Reagiert der Fahrer immer noch nicht Daher kommt der Systemarchitektur und ih-
11 angemessen, werden in schneller Abfolge eine erste rer sorgfältigen Planung eine Schlüsselrolle bei der
Teilbremsung (3 sm2 ), eine stärkere Teilbremsung Beherrschung der Komplexität von vernetzten Si-
12 (5 sm2 ) und nach Erreichen des CU-Kriteriums cherheitssystemen zu. Es empfiehlt sich, die Um-
eine Vollverzögerung eingeleitet. Zusätzlich wer- gebungssensoren bereits in der Planungsphase der
den das Schiebedach und die Fenster automatisch Topologie der Fahrzeugnetze zu berücksichtigen.
13 geschlossen und der Gurtstraffer erhöht nochmals Datenströme, wie sie bei der Fusion von Sensor-
die Zugkraft. Ab der stärkeren Teilbremsung (5 sm2 daten in der Umgebungswahrnehmung auftreten
14 ) wird die Bremsung durch automatisch aktiviertes können, können topologiebestimmend für Fahr-
Notfallblinken unterstützt (s. . Abb. 48.6). zeugnetzwerke werden.
15 Als Beispiel zeigt . Abb. 48.7 die elektronische
Hardware-Architektur des aktuellen Audi A8 [31].
48.6 Systemarchitektur Ein zentrales Gateway verbindet mehrere CAN-Bus-
16 systeme, einen MOST-Bus für Multimediasysteme
Die Forderung nach redundanten multimodalen und ein FlexRay-Cluster für Fahrerassistenz- und
17 Umgebungssensoren führt in heutigen Systemarchi- FVCX-Systeme. Letzteres bindet zentrale Steuerge-
tekturen zu großen Datenströmen auf den Bussyste- räte zur kamerabasierten Wahrnehmung, für ACC
men des Fahrzeugs. Die notwendige Zuverlässigkeit und zur Stoßdämpfer-Ansteuerung, ein spezielles
18 und Systemsicherheit verlangt nach sicherer Über- Steuergerät zur Inertialsensorik-basierten Zustands-
tragungstechnik. Zeitgesteuerte Übertragung und schätzung, das ESP und Quattro Sport an. Sämtli-
19 Architekturen auf den Steuergeräten sind hilfreich che Komponenten müssen für eine angemessene
bei der Fusion von Sensordaten, aber mittelfristig FVCX-Funktionalität präzise zusammenarbeiten.
20 auch bei der präzisen Ansteuerung von innovativen Bis zum heutigen Tage wurde die Systemarchi-
Aktuatorsystemen (z. B. Smart Airbags). tektur auf eine sehr traditionelle Art und Weise als
48.6 • Systemarchitektur
925 48
.. Abb. 48.7 Elektronische
Hardware-Architektur des
Audi A8 [31] (Quelle: Jens
Kötz)
.. Abb. 48.8 Vereinfachtes
1 Blockschaltbild des Sys-
tems Fahrer-Fahrzeug-Um-
gebung-Assistenzsystem
2 [35] (Quelle: Matthias Kopf,
angepasst)
3
4
5
tige Schnittstellen für die Kommunikation zwischen nete Testfälle spezifiziert werden müssen. Entspre-
6 Modulen zu finden sind. Aus der sorgfältigen Ana- chend zur Top-down-Struktur der Anforderungen
lyse der funktionalen Systemarchitektur sollte die ergibt sich eine Bottom-up-Struktur der Testfälle.
7 Ableitung der Hardware-Topologie erfolgen. Die Einführung des V-Modells als Paradigma in
. Abb. 48.8 zeigt ein einfaches Blockschaltbild der Entwicklung von elektronischen Fahrzeugsys-
des Systems Fahrer-Fahrzeug-Umgebung-Assis- temen hat zu einer deutlich strukturierteren Ent-
48 tenzsystem. Da Fahrer und Assistenzsystem defi- wicklungsform bei Fahrzeugherstellern und Sys-
nitionsgemäß gleiche Aufgaben parallel erledigen tempartnern geführt (z. B. [36]). Je detaillierter die
9 (vgl. [34]), ergibt sich auch in der funktionalen Anforderungen spezifiziert werden, desto deutlicher
Systemarchitektur eine Parallelstruktur. Der Fah- wird aber auch, dass sich komplexe Assistenzsys-
10 rer und das Assistenzsystem beobachten mit den teme nicht vollständig testen lassen. Kritisch wird in
Sinnesorganen und technischen Sensoren die der Literatur der Einsatz des V-Modells diskutiert,
Umgebung und das Fahrzeug; sie beeinflussen das „(…) wenn zu Beginn des Entwicklungsvorhabens
11 Fahrzeug im Sinne ihrer Ziele mit geeigneten Ak- die Informationsbasis noch nicht vollständig ist
tuatoren. Fahrer und Assistenzsystem kommuni- und folglich das System nicht ‚von oben nach un-
12 zieren über eine Mensch-Maschine-Schnittstelle ten‘ entwickelt werden kann“ [37]. „Die Realität ist
miteinander. daher eher durch inkrementelle und iterative Ver-
haltensweisen gekennzeichnet, bei der Schritte des
13 V-Modells oder das gesamte V-Modell mehrmals
48.7 Entwicklungsprozess durchlaufen werden.“ [38]
14 Diesen Bedarf nach iterativen Entwicklungs-
48.7.1 Systematische Entwicklung schleifen berücksichtigt ein einfaches Entwurfs-
von Fahrerassistenzsystemen
15 modell, das im Rahmen des Forschungsprojekts
„Automatische Notbremse“ bei Audi entwickelt
Viele Entwicklungen und viele Entwicklungswerk- wurde [39]. Das Verfahren wurde bewusst einfach
16 zeuge haben ihren Ursprung im militärischen visualisiert:
Bereich. In der Entwicklung von komplexen tech- . Abb. 48.9 zeigt einen Vollkreis, der eine kom-
17 nischen Systemen hat das sogenannte V-Modell plette Iterationsschleife umfasst. Nach weniger als
großen Einfluss. der Hälfte des Kreises ist ein „Abkürzungspfad“
Das V-Modell unterstützt verschiedene Grund- definiert, der wieder zum Ausgangspunkt des Ent-
18 sätze, die helfen, komplexe Systeme strukturiert zu wicklungsprozesses führt. Eine technischere Form
entwickeln: Zunächst unterstützt es ein Top-down- der Notation wurde 2006 vorgestellt, bislang aber
19 Design von den groben Anforderungen auf Syste- nicht weiter verfolgt [40].
mebene stufenweise hin zu Detailanforderungen Durch die beschriebene Struktur ergeben sich
20 auf Komponentenebene. Besonders wichtig ist im zwei Iterationsschleifen: Die erste, zeitlich kürzere
V-Modell, dass zu jeder Anforderung auch geeig- und deutlich Ressourcen sparende Schleife erfordert
48.7 • Entwicklungsprozess
927 48
.. Abb. 48.9 Systemati-
scher Entwurf von Fah-
rerassistenzsystemen [39]
Expertenwissen aus unterschiedlichen Bereichen. mit der verfügbaren Technik realisierbar sind:
Die Arbeiten werden entweder theoretisch durch- Können die zu erwartenden Funktionslücken und
geführt oder durch eine Reihe von aneinanderge- Systemausfälle von jedem untrainierten Nutzer in
reihten X-in-the-Loop-Werkzeugen [41]; während jeder Situation beherrscht werden? Erscheint eine
dieser Phase werden keinerlei Prototypen herge- nutzertransparente Auslegung der Funktion und ih-
stellt. Der Ansatz ist dann besonders wirkungsvoll, rer Grenzen möglich? Sind sinnvolle Mensch-Ma-
wenn die im Unternehmen verfügbaren Experten, schine-Schnittstellen denkbar? Ist die Funktion für
bei Bedarf verstärkt durch externe Wissensträger, die Kunden finanzierbar? Passt sie zum Markeni-
in dieser Iterationsschleife möglichst die zentralen mage des Herstellers? Die Vertiefung der einzelnen
Auslegungskonflikte identifizieren und eine fun- Schritte und die Ausgestaltung der vollen Iterati-
dierte Auswahl treffen zwischen den realisierbaren onsschleife werden im folgenden Abschnitt anhand
und den wünschenswerten, aber noch nicht reali- eines praktischen Beispiels diskutiert.
sierbaren Assistenzfunktionen. In methodischer Hinsicht entspricht der hier
Prototypische Systeme werden erst aufgebaut, beschriebene Ansatz einer Weiterentwicklung von
wenn die Experten als Zwischenergebnis eine Funk- Verfahren, wie sie in der integrierten Produktent-
tionsdefinition gefunden haben, bei der alle in der wicklung beschrieben werden (z. B. [43]). Im For-
theoretischen Diskussion gefundenen Auslegungs- schungs- und Entwicklungsprozess eines Systems
konflikte aufgelöst werden konnten, oder offene sollte dieses Verfahren in jeder Phase berücksich-
Fragen auftreten, die eine experimentelle Untersu- tigt werden. Bereits in der universitären Forschung
chung erfordern. sollte nicht am Bedarf des Nutzers vorbei geforscht
Ausgangspunkt des Entwicklungsprozesses ist und das öffentlich verfügbare Wissen über eine
immer der Fahrer und sein Unterstützungsbedarf. ganzheitliche Produktentwicklung genutzt werden.
Das mag trivial klingen. Dem am Automobil inte- In der Phase der industriellen Forschung und
ressierten Leser werden jedoch sofort viele Beispiele Vorentwicklung werden die beschriebenen Ver-
einfallen, im Falle derer am (Unterstützungs-)Be- fahren dann kommerziell bedeutender für den
darf des Fahrers vorbei entwickelt wurde (beispiels- jeweiligen Hersteller. Die Feinjustierung erfolgt
weise in [42]). Für die Kaufentscheidung des Fah- beim Einsatz innovativer Technologien gerade im
rers und damit den Markterfolg des Systems scheint Bereich der maschinellen Wahrnehmung erst in
der subjektiv empfundene Bedarf, nicht der objektiv der Serienentwicklung – oftmals steht erst mit kurz
zu erwartende Nutzen ausschlaggebend zu sein. vor Markteinführung verfügbaren Musterständen
Aus dem identifizierten Unterstützungsbedarf der Sensoren verlässlich fest, inwieweit die anfangs
werden Ideen für Funktionsausprägungen entwi- aufgestellte Spezifikation von den realen Sensoren
ckelt, die den Fahrer in technisch beschreibbaren wirklich erfüllt wird und welche Funktionsaus-
Szenarien unterstützen sollen. In der Experten- prägungen damit möglich sind. Gegebenenfalls
runde werden diese Funktionsausprägungen da- muss bei Nichterfüllung der zu Beginn festgelegten
rauf getestet, ob sie nach aktuellem Wissensstand Spezifikation der Funktionsumfang entsprechend
928 Kapitel 48 • Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen
1
2
3
4
5 .. Abb. 48.10 „Geisterobjekt“ – wahrgenommen von einem Radarsystem (Quelle: Sebastian Ohl)
6 angepasst werden. Dies erfolgt über eine weitere nur dann ausgelöst, wenn er auch bei noch so guten
Iterationsschleife im Entwurfsprozess. Fahrfähigkeiten die Kollision nicht mehr verhindern
7 Selbstverständlich sollten auch freiere For- könnte (…)“ [7] (CU-Kriterium, s. ▶ Abschn. 48.4.1).
schungs- und Vorentwicklungsvorhaben durch- Diese Funktionsdefinition zeigt auch, dass be-
geführt werden, die nicht unmittelbar auf einen reits zu Beginn der Konzeptentwicklungsphase
48 bestimmten Kundennutzen zielen. Wichtig ist nur, erhebliches Vorwissen vorhanden war: Man be-
dass diese Vorhaben auch entsprechend deklariert schränkt sich von Beginn an auf ein System der
9 werden und nicht spezifischen Kundennutzen sug- Unfallschwereminderung, um Produkthaftungs-
gerieren. ansprüche von Fahrern oder ihren Angehörigen zu
10 vermeiden, die nach Auslösen einer Notbremse ar-
gumentieren könnten, diese sei zu früh erfolgt und
48.7.2 Beispiel: Systematische habe den Unfall gerade verursacht.
11 Entwicklung Die Sichtung der verfügbaren Radar-, Lidar-
einer automatischen und Videosensorik ergibt, dass die Funktion prin-
12 Notbremsfunktion zipiell einfach darstellbar ist, solange die Szenarien
einfach gestaltet werden und die Witterungsver-
48.7.2.1 Nutzerorientierte hältnisse die jeweiligen Sensorprinzipien nicht an
13 Funktionsdefinition ihre Grenzen führen. Im diskutierten Fall soll un-
Analysen der Unfallforschung zeigen, dass viele tersucht werden, ob die Funktion nicht durch einen
14 Fahrer das Verzögerungspotenzial ihrer Fahrzeuge Radarsensor eines konventionellen ACC-Systems
nicht ausschöpfen. In . Abb. 48.1 ist die statistische dargestellt werden kann. Spätestens bei einer ersten
15 Auswertung einer Unfalldatenbank gezeigt: Für jede Risikoanalyse wird jedoch deutlich, dass es viele
Verletzungsklasse MAIS wird ausgewiesen, welcher mögliche Situationen im Straßenverkehr geben
prozentuale Anteil der Fahrer eine Komfortbrem- kann, die jedes mögliche Sensorprinzip überfor-
16 sung oder gar keinen Bremsvorgang durchgeführt dern. Nichtauslösungen einer automatischen Not-
hat, obwohl eine stärkere Verzögerung zumindest bremse werden als weniger kritisch angesehen, da
17 unfallschweremindernd gewirkt hätte ([44, 4], zi- das ausgerüstete Fahrzeug nicht unsicherer als ein
tiert nach [45]). konventionelles Fahrzeug sein wird.
Aufgrund dieses identifizierten Unterstützungs- Kritisch wird der Fall betrachtet, wenn eine Not-
18 bedarfs wird eine erste Funktionsdefinition für den bremse ohne Vorliegen der zuvor beschriebenen
Start einer Konzeptentwicklungsphase festgelegt: Auslösungssituation automatisch ausgelöst wird.
19 „Eine Notbremsung, d. h. Bremseingriff mit max. Da die Funktionsprinzipien der Einzelsensoriken
Verzögerung, wird dann veranlasst, wenn ein Unfall bekannt sind, ist für die Experten offensichtlich,
20 fahrphysikalisch nicht mehr zu verhindern ist. Damit dass Falschauslösungen zwar selten oder sehr selten
wird dem Fahrer weiterhin jede Freiheit gelassen und vorkommen können, aber zumindest nach dem ak-
48.7 • Entwicklungsprozess
929 48
.. Abb. 48.11 Emotionen (aufgrund von Augen- und Gesichtsausdruck) nach einer Fehlauslösung einer automatischen Not-
bremse (n = 33) [22] (Quelle: Universität der Bundeswehr München, Institut für Arbeitswissenschaft)
tuellen Stand der Technik nicht ganz auszuschließen den folgenden Verkehr sicher zu beherrschen wäre
sind. Radarexperten ist die bei modernen Systemen (Controllability): Die Untersuchung dieser Frage-
selten auftretende Situation der „fahrenden Gasse“ stellung erfordert erstmalig den Aufbau von Proto-
bekannt, bei der sich zwei Fahrzeuge mit sehr ähn- typen und damit das erste vollständige Durchlaufen
licher Geschwindigkeit bewegen, die von der Signal- der äußeren Iterationsschleife. Die Ergebnisse sind
verarbeitung als ein in der Gasse liegendes virtuelles eindeutig: Mehr als ein Drittel der Fahrerreaktio-
Objekt interpretiert werden kann (vgl. . Abb. 48.10): nen werden als „angstvoll, panisch“ kategorisiert,
Ein solches „Geisterobjekt“ könnte eine unberech- ebenfalls mehr als ein weiteres Drittel reagiert „er-
tigte automatische Notbremsung verursachen. schrocken, [mit] Tunnelblick“. Jedoch kann nicht
Folgenschwer kann auch der Einwand der Pro- ausgeschlossen werden, ob die „überraschten“ oder
duktsicherheitsexperten sein, dass Gerichte im „neugierigen“ Reaktionen nicht damit zusammen-
Schadenfall nach Analogien suchen. Hier wird als hingen, dass die im Versuch ausgelösten Fehl-
Analogie erwartet, dass Redundanz in der Wahr- reaktionen auf dem Testgelände gestellt wurden
nehmung der entscheidenden Zustände gefordert (. Abb. 48.11, [22]).
werden könnte, da etwa bei einem ESC-System Diese Untersuchungen zeigen, dass mögliche
wesentliche Zustände ebenfalls redundant erfasst Falschauslösungen einer „automatischen Not-
werden (s. ▶ Kap. 41). bremse“ für den Fahrer, den nachfolgenden Verkehr,
Bereits in dieser frühen Phase weisen Experten den Fahrzeughersteller und den Systempartner ein
darauf hin, dass die zu erwartenden Funktionsgren- nicht zu unterschätzendes Risiko darstellen. Neben
zen auch kommunizierbar sein müssen. Ferner sei den technischen, ergonomischen und juristischen
der Hersteller dafür verantwortlich, die richtige Fraktionen sollte bereits in Konzeptphasen das
Kundenerwartung zu erzeugen. Dank der Respon- Produktmarketing einbezogen werden. Was helfen
se-Projekte floss dieses Expertenwissen in verschie- aber aufwendige, technische Innovationen, wenn sie
dene Hilfsmittel ein (z. B. [46] und [12]). nicht ins Markenleitbild passen und deshalb auch
Ebenfalls wird gefordert, dass das System an sei- nicht ausgelobt werden? Bei den Assistenzfunkti-
nen Grenzen zumindest in der Lage sein muss, seine onen kommt erschwerend hinzu, dass die bereits
Degradation selbst festzustellen und den Fahrer erwähnten, zu erwartenden Funktionslücken dazu
entsprechend zu warnen. Ein Datenrekorder oder führen, dass Produkte nicht allzu offensiv beworben
zumindest entsprechende Eintragungen in den Ent- werden können. Der Hersteller trägt die Verantwor-
wicklungsspeicher werden für den Nachweis, dass tung für die Kundenerwartung.
ein System fehlerfrei funktioniert hat, als sinnvoll Nach der ersten Iterationsschleife ergibt sich
erachtet. folgende Bilanz: Es wurde eine Funktionsausprä-
Zentral ist daher die Frage, ob diese unbegrün- gung mit großem Wirkungsfeld identifiziert. Die
dete automatische Auslösung für einen Fahrer und im Entwicklungsauftrag gewünschte Sensorik be-
930 Kapitel 48 • Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen
schränkt den Nutzen auf den Längsverkehr, wofür Audi: „Audi Braking Guard“; VW: „Front Scan“,
1 die Realisierung mit der bekannten ACC-Sensorik Markteinführung: 2006).
kostengünstig wäre. Vergleiche mit anderen Sicher- Die Weiterentwicklung der ursprünglichen
2 heitssystemen ergeben aber, dass dort eine redun- Funktionsidee einer automatischen Notbremse wird
dante Erfassung der funktionsbestimmenden Zu- technisch aufwendigere Lösungen erfordern: Für
standsgrößen gefordert wird. Die ergonomischen die aus der ersten Entwicklungsschleife bekannte
3 Untersuchungen, die bereits im Frühstadium prak- Funktionsdefinition können nun quantitative Pro-
tisch durchgeführt werden mussten, zeigen, dass gnosen für den Nutzen angegeben werden. Wichtig
4 Falschauslösungen einer automatischen Notbremse ist auch die Analyse, welche Parameter für den Nut-
dieser Funktionsausprägung nicht akzeptabel sind. zen entscheidend sind. So zeigt . Abb. 48.12, wie
5 Da in diesem Fall kein konsistentes Zwische- die relative Energiereduktion und damit der Nutzen
nergebnis gefunden wird, muss die weitere Ent- von der Systemtotzeit abhängen. Diese Darstellung
wicklung grundlegend modifiziert werden. Eine kann zum einen hilfreich sein – um im Unterneh-
6 langfristige Entwicklungsrichtung kann durch men den Nutzen eines schnelleren Bremssystems
möglichst komplementäre Wahrnehmungsprinzi- quantitativ zu belegen – zum anderen bei der Aus-
7 pien versuchen, die Falschauslösewahrscheinlich- wahl der Sensorik helfen ([4], zitiert nach [45]).
keit sehr klein werden zu lassen. Kurzfristig soll eine Während der ersten Iterationsschleife wurde
konsistente Funktionsdefinition dadurch erreicht deutlich, dass wesentliche Zustandsgrößen redun-
48 werden, dass die Funktionsdefinition variiert wird dant wahrgenommen werden müssen. Die Auswahl
(▶ Abschn. 48.7.1). Die Falschauslösungen haben einer geeigneten Sensorkonfiguration ist eine der
9 sich im Versuch als sehr eindrucksvoll erwiesen. herausforderndsten Aufgaben bei der Entwicklung
Könnte nicht ein schwacher Bremsruck – bei dem eines innovativen Fahrerassistenzsystems. Im All-
10 der Fahrer durch einen haptischen Ruck gewarnt gemeinen sind Sensoren, welche die geforderten Ei-
wird – den Fahrer auf eine Gefahr hinweisen, ohne genschaften – ausgehend von der Funktionsdefini-
dass der rückwärtige Verkehr im Falle einer Fal- tion – erfüllen, am Markt nicht verfügbar. Geeignete
11 schauslösung durch ein plötzliches, unerwartetes Metriken zum Vergleich verschiedener Sensorkon-
Abbauen der Geschwindigkeit gefährdet wird? figurationen und Wahrnehmungsalgorithmen sind
12 Experimentelle Untersuchungen bestätigen bisher nicht vorhanden. Die Sensorauswahl muss
beide Erwartungen. Der Warnruck stellt ein wirk- sich daher auf die Leistungsfähigkeit aktueller Pro-
sames Warnmedium dar, bei dem mit einem geeig- totypen und der von ihren Entwicklern prognosti-
13 neten Bremssystem kaum Verzögerung aufgebaut zierten Leistung stützen.
wird. Daher wird in einer zweiten Iteration zunächst Neben dieser Unsicherheit kann die Verlässlich-
14 ein Warnsystem entwickelt, das den Fahrer wie be- keit der maschinellen Wahrnehmung durch eine
schrieben auf Gefahren hinweist. Da dieser Eingriff geschickte Kombination diversitärer Sensorprin-
15 auch dann unkritisch ist, wenn er ungerechtfertigt zipien verbessert werden: Um die geforderte Ro-
erfolgt, wird als Falschauslöserate eine Falschaus- bustheit der maschinellen Wahrnehmung und die
lösung auf 10.000 km festgelegt. geforderte formale Redundanz zu erfüllen, wurde
16 Diesmal ist das Zwischenergebnis vielverspre- eine Vielzahl unterschiedlicher Sensorkombinatio-
chend: Die Warnung über den haptischen Sinnes- nen berücksichtigt. Von den Entwicklern des ACC
17 kanal ist sehr direkt und wirksam; daher wird hoher (s. ▶ Kap. 46) wird ein Langreichweiten-Radar als
Kundennutzen prognostiziert. Bei einer Nutzung Sensor bevorzugt, insbesondere aufgrund seiner
der ACC-Sensorik beschränkt sich der Nutzen Leistungsfähigkeiten auch bei schlechten Wetter-
18 wiederum auf den Längsverkehr, wofür die Funk- bedingungen. Eine Monokamera wird ein Stan-
tion kostengünstig ohne weitere Sensorhardware dardsystem für die Fahrstreifenverlassenswarnung
19 dargestellt werden kann. Die Falschauslösungen und die Verkehrszeichenerkennung. Zu diesem
erweisen sich als beherrschbar und akzeptabel. Eine Zeitpunkt ist unklar, ob weitere redundante Da-
20 so definierte Funktion kann nun kurzfristig in Se- tenquellen erforderlich sein werden. Aus diesem
rienfahrzeugen angeboten werden (Produktname: Grund wurden ebenfalls Stereokamerasysteme
48.7 • Entwicklungsprozess
931 48
E E E Coll
E E
.. Abb. 48.12 Einfluss der Totzeit auf die relative Energiereduktion einer automatischen Notbremse [4] (Quelle: Stephan
Kopischke)
(s. ▶ Kap. 20), Lasersensoren (s. ▶ Kap. 18) und tomobilhersteller, stark unterschätzt. Bauraum für
PMD-Systeme (photonic mixing device) evaluiert. Systeme, die über den Basisbetrieb eines Fahrzeugs
Schließlich wurde eine Kombination aus zwei Ra- hinausgehen, ist kaum verfügbar, selbst wenn er
darsensoren und einer Monokamera gewählt [30, bereits in frühen Entwicklungsstadien angefordert
47]. wurde. Die Integration der ACC-Sensorik im Audi
Die Zuverlässigkeit dieser Sensorkombina- A8 wurde unter diesem Aspekt geschickt gelöst: Die
tion ist bedeutend höher als bei einem einzelnen Radarsysteme wurden in dem vorgesehenen Bau-
ACC-Sensor. Zusätzlich werden die Daten der raum für die Nebelscheinwerfer platziert, da diese
rückwärtigen Radar-Sensoren verwendet, um die direkt in die Frontscheinwerfer integriert wurden.
Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Eingriffs der
automatischen Notbremse weiter zu reduzieren: 48.7.2.2 Funktionale Tests
Eine Notbremsung wird nur dann mit maximaler von Fahrerassistenzsystemen
Bremskraft eingeleitet, wenn sich dicht hinter dem Der Begriff des „Testens“ wird heute in der Praxis
eigenen Fahrzeug kein weiteres Fahrzeug befindet. der Automobilentwicklung häufig unspezifisch ge-
Der Nutzen dieses Systems ist weiterhin nur auf braucht: Er beschreibt so unterschiedliche Testka-
den Längsverkehr beschränkt; die Wahrscheinlich- tegorien wie funktionale Tests, Bediensicherheit für
keit einer Falschauslösung wird minimiert. In dieser den Nutzer, Tests zur Nutzertransparenz, Tests zur
dritten Iterationsschleife werden zusätzlich weitere Kundenakzeptanz, Tests zur elektromagnetischen
Aspekte aus der äußeren Schleife berücksichtigt: das Verträglichkeit, Klimatests, Tests zur Fahrzeuga-
Verbaukonzept der Sensorik und die funktionalen kustik, Tests zur aktiven und passiven Sicherheit des
Tests des Systems. Aspekte der Systemarchitektur Fahrzeugs, elektrische und elektronische Tests, die
wurden bereits an anderer Stelle behandelt (s. ▶ Ab- auch Hardware-in-the-Loop mit einschließen, Tests
schn. 48.6). zur Integrität der Software einschließlich Software-
Die Integration von Sensorik in das Design- in-the-Loop. Die Liste ließe sich weiter fortführen.
konzept eines Fahrzeugs wird, außerhalb der Au- Jedes Thema für sich ist im Bereich „Fahrerassistenz“
932 Kapitel 48 • Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen
anspruchsvoll sowie komplex und jedem stünde ein Untersuchungen im Fahrsimulator wären das Be-
1 eigenes Kapitel zu. Alle technischen Entwicklungs- drohungsszenario und die Dynamik der Fahrzeug
und Qualitätssicherungsbereiche des Unternehmens reaktion nicht realistisch genug wahrzunehmen. Bei
2 sind betroffen und leisten ihren Beitrag. realen Kollisionen mit Schaumstoffwürfel, Fahr-
In diesem Kapitel liegt der Fokus auf den funk- zeugauslegern und kleinen mobilen Hindernissen
tionalen Tests der hier vorgestellten automatischen wirkte das Bedrohungsszenario ebenfalls nicht re-
3 Notbremse. Zwei Fehlfunktionen verdienen beson- alistisch genug. Der am weitesten fortgeschrittene
dere Beachtung, da sie besonderen Einfluss darauf Aufbau wird in [48] beschrieben (s. auch ▶ Kap. 14).
4 haben, wie das System vom Fahrer und der Öffent- Hier werden FVCX-Systeme mithilfe automatischer
lichkeit wahrgenommen wird. Es wurde bereits er- Fahrzeuge geprüft; in diesem sehr kostspieligen
5 wähnt, dass die Reaktion des Nutzers auf eine unbe- Aufbau werden jedoch noch keine beabsichtigen
rechtigte Auslösung deutlich ausgefallen ist, was zu Fahrzeugkollisionen herbeigeführt.
der Forderung führte, diese zu vermeiden. Aus Sicht Die Anforderungen an funktionale Auslösetests
6 der experimentellen Durchführung sind der Test der wurden von einer Neuentwicklung erfüllt, dem so-
berechtigten Auslösung und die Untersuchung der genannten Vehicle-in-the-Loop-Verfahren („Vehicle
7 Nutzerreaktion aufwendiger, da es hier aufgrund der in the Loop“, VIL, [49], vgl. ▶ Kap. 10). Die grund-
Funktionsdefinition zu einer Kollision kommt. sätzliche Idee hinter diesem Verfahren ist, lediglich
Entscheidend für die Akzeptanz einer automa- die anderen Verkehrsteilnehmer zu simulieren –
48 tischen Notbremse der genannten Funktionsaus- der übrige Teil besteht aus realen Elementen: Der
prägung ist die Fehlerwahrscheinlichkeit für unbe- (reale) Fahrer bewegt ein reales Fahrzeug auf einer
9 rechtigte Auslösungen, die erfolgen, ohne dass sie realen Teststrecke; die reale Umgebung wird durch
ein menschlicher Beobachter für angemessen hält. See-through-Brillen erweitert, welche dem Fahrer
10 Dabei ist die Frage, welche Fehlerwahrscheinlichkeit andere Verkehrsteilnehmer simulieren. Experi-
gesellschaftlich akzeptabel ist, weiterhin offen. Die- mente haben gezeigt, dass die Testfahrer realistisch
ser Standard wurde in der ISO 26262 im Speziellen auf die virtuellen Teilnehmer reagieren, obwohl sie
11 für automotive Anwendungen detailliert und erwei- auf Nachfragen zwischen simulierten und echten
tert; dabei wurden die Ausfallraten durch grundsätz- Elementen des Tests unterscheiden konnten.
12 liche Entwurfsmechanismen ersetzt (s. ▶ Kap. 6).
48.7.2.4 Fehlerwahrscheinlichkeit
48.7.2.3 Testfall „Berechtigte für „unberechtigte
13 Auslösung“ – Vehicle Auslösung“ –
in the Loop trojanische Pferde
14 Im Testfall der berechtigten Auslösung für eine au- Ebenso anspruchsvoll wie der beschriebene Test der
tomatische Notbremse bestehen folgende Anforde- berechtigten Auslösung ist die experimentelle Absi-
15
-
rungen an den Test:
Es wird eine automatische Notbremsung aus-
cherung, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit pro Zeit
maximal 10−8 Fehler pro Stunde betragen dürfe (s.
16
-- geführt.
Es wird dabei zum Aufprall kommen.
Der Fahrer und das Fahrzeug sollen dabei
▶ Kap. 7, [50]). Nimmt man an, dass die mittlere
Kilometerleistung eines Fahrzeugs bei nur 30 Ki-
lometern in der Stunde liegt, müssten mit jedem
17
- nicht gefährdet werden.
Die Situation soll für den Fahrer realistisch
Softwarestand 3 Milliarden Testkilometer gefahren
werden, ohne dass eine Falschauslösung auftreten
18
19
- erscheinen.
Der Test soll möglichst reproduzierbar ausge-
führt werden.
dürfte. Wirtschaftlich kann das im Rahmen einer
Fahrzeugentwicklung nicht geleistet werden, so dass
alternative Absicherungsmethoden erforderlich sind.
Der Vorschlag eines trojanischen Pferdes [51]
Einfache Testaufbauten oder Untersuchungen im sieht vor, neue Funktionen im Kundenfahrzeug zu
20 Fahrsimulator erfüllen nicht alle Kriterien: Bei erproben: Der Kunde würde eine Komfortfunktion
Literatur
933 48
erwerben, die mit der gleichen Sensorkonfigura- wert: Die Motivation für FVCX-Systeme ist stets
tion umgesetzt wird. Das könnte zum Beispiel eine aus der Unfallforschung abzuleiten. Bereits in frü-
Funktionsausprägung von ACC Stop&Go sein. Die hen konzeptionellen Phasen sollten Aspekte der
realisierte Software enthielte zusätzlich alle Funkti- funktionalen Sicherheit, der Rechtsprechung, der
onen einer automatischen Notbremse, der aber der Systemergonomie und der Vermarktung berück-
Zugriff auf die Bremsaktuatorik verweigert würde. sichtigt werden. Weitere Entwicklungen sind nur
Die Notbremsfunktion bewirkt einen Eintrag in ei- dann sinnvoll, wenn für das System eine in sich
nen Entwicklungsspeicher. Wird im Kundendienst konsistente Funktionsdefinition gefunden werden
ein Entwicklungsspeichereintrag entdeckt, resul- kann. In diesen frühen Phasen sollten ebenfalls be-
tiert dieser entweder von einem Unfall, der dann reits Konzepte für den Test und die Evaluation des
bekannt sein müsste, oder er wurde durch eine Fal- Systems entwickelt werden.
schauslösung verursacht. Prinzipiell lägen damit alle
Informationen vor, um die gesuchte Fehlerwahr-
scheinlichkeit einer Auslösung zu ermitteln. Den Literatur
Autoren sind derzeit keine aktiven Diskussionen
unter den Fahrzeugherstellern bekannt, ob dieses 1 Eskandarian, A. (Hrsg.): Handbook of Intelligent Vehicles.
Springer‐Verlag, London (2012)
Verfahren in Zukunft zur Absicherung eingesetzt
2 eSafety: eSafetySupport. 2010, www.esafetysupport.org
werden kann. Auch kann nicht ausgeschlossen wer- 3 Gelau, C., Gasser, T.M., Seeck, A.: Fahrerassistenz und Ver-
den, dass Hersteller oder Systempartner diese Me- kehrssicherheit. In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.)
thode bereits nutzen, ohne es zu kommunizieren. Handbuch Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl., S. 26. Vieweg
und Teubner, Wiesbaden (2009)
4 Kopischke, S.: Persönliche Kommunikation (2000)
5 Wiesbeck, W.: Radar system engineering. Universität Karls-
48.8 Zusammenfassung
ruhe, Vorlesungsunterlagen, 13. Aufl. (2006). http://www2.
ihe.uni-karlsruhe.de/lehre/grt/RSE_LectureScript_WS0607.
Frontkollisionen bilden einen bedeutenden Anteil pdf.
der schweren Verkehrsunfälle: Aus diesem Grund 6 Kiesewetter, W., Klinkner, W., Reichelt, W., Steiner, M.: Der
neue Brake Assist von Mercedes Benz – aktive Fahrerun-
tragen geeignete warnende und eingreifende Sys-
terstützung in Notsituationen. ATZ Automobiltechnische
teme wesentlich zur Verbesserung der Sicherheit Zeitschrift 99(6), (1997)
im Straßenverkehr bei. Verschiedene Systemausprä- 7 Kopischke, S.: Entwicklung einer Notbremsfunktion mit
gungen werden unter dem Begriff der FVCX-Sys- Rapid Prototyping Methoden, Dissertation. Technische
teme zusammengefasst, die sich in ihrem Einfluss Universität, Braunschweig (2000)
8 Sugimoto, Y., Sauer, C.: Effectiveness estimation method
auf das Fahrer-Fahrzeug-Umwelt-Gesamtsystem
for advanced driver assistance system and its application
unterscheiden. Im Wesentlichen wird zwischen to collision mitigation brake system. In: Proceedings of the
vorbereitenden, warnenden, schweremindernden 19th International Technical Conference on the Enhanced
und unfallvermeidenden Systemen unterschieden. Safety of Vehicles, S. 5–148. (2005)
Die Spezifikationen bereits im Markt befindli- 9 ISO 15623 International Organization for Standardization
(ISO): Intelligent transport systems – Forward vehicle col-
cher Systeme können nur dann verstanden werden,
lision warning systems – Performance requirements and
wenn man die Leistung der maschinellen Wahrneh- test procedures. Genf (2011)
mung berücksichtigt. Erst die Fortschritte in die- 10 ISO 22839 International Organization for Standardization
sem Bereich erlauben warnende und vermeidende (ISO): ISO 22839:2013 Intelligent transport systems – For-
Systeme. Dennoch gibt es in aktuellen Ausprägun- ward vehicle collision mitigation systems – Operation,
performance, and verification requirements. Genf (2011)
gen dieser Systeme Einschränkungen gegenüber
11 Naab, K., Reichart, G.: Grundlagen der Fahrerassistenz und
der Wahrnehmungsleistung eines aufmerksamen Anforderungen aus Nutzersicht. Seminar Fahrerassistenz-
Fahrers, die beim Entwurf von FVCX-Systemen systeme und aktive Sicherheit (1998)
berücksichtigt werden müssen. 12 Donner, E., Winkle, T., Walz, R., Schwarz, J.: RESPONSE 3
Für die Entwicklung von FVCX-Systemen ist – Code of Practice für die Entwicklung, Validierung und
Markteinführung von Fahrerassistenzsystemen. In: Tech- 33 Kohoutek, P., Dietz, J., Burggraf, B.: Entwicklungsziele und
1 nischer Kongress des VDA (2007) Konzeptauslegung des neuen Audi A4. In: ATZ/MTZ extra
13 Benmimoun, M.; Pütz, A.; Aust, M.; Faber, F.; Sánchez, D.; – Der neue Audi A4. Vieweg, Wiesbaden (2007)
Metz, B.; Saint Pierre, G.; Geißler, T.; Guidotti, L.; Malta, L.: 34 Kraiss, K.-F.: Benutzergerechte Automatisierung – Grundla-
2 euroFOT SP6 D6.1 Final evaluation results, 2012 gen und Realisierungskonzepte at ‐ Automatisierungstech-
14 Vogt, W.: Persönliche Kommunikation (2010) nik 46, Bd. 10. Oldenbourg, München, S. 457–467 (1998)
15 Bainbridge, L.: Ironies of Automation. Automatica 19, 6 35 Kopf, M.: Was nützt es dem Fahrer, wenn Fahrerinformati-
3 (1983) onssysteme und ‐assistenzsysteme etwas über ihn wissen.
16 Yerkes, R.M., Dodson, J.D.: The relation of strength of stimu- In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit
lus to rapidity of habit‐formation. Journal of comparative maschineller Wahrnehmung. Springer, Berlin Heidelberg
4 neurology and psychology 18(5), 459–482 (1908) (2005)
17 Buld, S., Tietze, H., Krüger, H.-P.: Auswirkungen von Teilau- 36 Breu, A., Holzmann, M., Maurer, M., Hilgers, A.: Prozess zur
Querführungsassistenz
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel, Falko Saust,
Lars Kristian Klauske
49.1 Motivation – 938
49.2 Anforderungen – 938
49.3 Klassifikation – 939
49.4 Vorschriften, Normen und Prüfungen – 939
49.5 Systemkomponenten – 941
49.6 Beispielhafte Umsetzungen – 950
49.7 Systembewertung – 954
49.8 Erreichte Leistungsfähigkeit – 955
49.9 Ausblick – 955
Literatur – 956
-
indem sie
den Fahrer hierüber rechtzeitig informieren
sollte die Querführungsunterstützung ein mög-
lichst natürliches Lenkverhalten abbilden, also z. B.
-
18 und keine hochfrequenten ständigen Lenkbewegungen
das abkommende Fahrzeug möglichst in den vorweisen.
-
19 Fahrstreifen zurücklenken oder Dem Fahrer ist transparent und eindeutig an-
den Fahrer beim Halten der Fahrstreifenmitte zuzeigen, ob das System eingeschaltet und aktiv ist.
20 aktiv unterstützen. Gleichermaßen hat das System durch den Fahrer
unkompliziert ein- und ausschaltbar zu sein.
49.4 • Vorschriften, Normen und Prüfungen
939 49
Informiert den Fahrer haptisch, optisch, akustisch über das ungewollte Verlassen des Fahrstreifens.
3
LKA Lane Keeping Assistance
4 (Spurhalteassistenz)
Unterstützt den Fahrer durch aktiven Eingriff in die Querführung bei der Spurhaltung des Fahrzeugs.
5 Typ I Verhindert zunächst bestmöglich das Abkommen vom Fahrstreifen durch einen korrigie-
renden aktiven Eingriff in die Fahrzeugquerführung und informiert den Fahrer gegebe-
nenfalls (siehe LDW), sicherheitsgerichtete Funktion.
6 Typ II Unterstützt den Fahrer beim Spurhalten des Fahrzeugs in der Fahrstreifenmitte durch
einen aktiven Eingriff in die Fahrzeugquerführung und informiert den Fahrer gegebenen-
lung sich in der Entwurfsphase (Draft) befand, sind keine Querbeschleunigungen größer 3 m/s² bzw. ei-
8 Änderungen in den Anforderungen noch möglich. nen Querruck von maximal 5 m/s³ nach sich ziehen.
Die UN ECE R-79 beschreibt die „Bedingungen Dem Fahrer müssen zusätzlich Mittel bereitgestellt
49 für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich werden, um einen Systemeingriff in die Querfüh-
der Lenkanlage“ und differenziert die Spurhalteas- rung jederzeit übersteuern bzw. unterdrücken zu
10 sistenzsysteme in korrigierende und automatische können. Diese Mittel zur Unterdrückung sind spe-
Lenkfunktionen [4]. Für die korrigierende Lenk- zifizierte Fahreraktivitäten wie Betätigung des Fahr-
funktion eines LKA-Systems fordert sie u. a. eine trichtungsanzeigers oder Lenkeingriff des Fahrers.
11 Übersteuerbarkeit durch den Fahrer sowie eine Die EU-Verordnung 661/2009 verpflichtet den
begrenzte Eingriffsdauer. Automatische Lenkfunk- Verbau von LDW-Systemen für Nkw der Klas-
12 tionen mit kontinuierlicher Steuerung sind in der sen M2, M3, N2 und N3, ab dem 01.11.2013 für
aktuellen Version der UN ECE R-79 nur für Ge- alle neuen Fahrzeugtypen und ab dem 01.11.2015
schwindigkeiten bis maximal 12 km/h erlaubt. Zu- für alle neuen Fahrzeuge. In separater Verord-
13 sätzlich wird eine Beschaffenheit der Lenkunterstüt- nung 351/2012 nennt die EU Typprüfvorschriften
zung gefordert, die jederzeit durch eine willentliche für LDW-Systeme. Für weitergehende Informatio-
14 Handlung des Fahrzeugführers übersteuert werden nen zur Querführungsassistenz von Nutzfahrzeu-
kann. Weiterhin behält gemäß UN ECE-R79 der gen sei auf das ▶ Kap. 53 „Bahnführungsassistenz
15 Fahrzeugführer die Hauptverantwortung für das für Nutzfahrzeuge“ verwiesen.
Führen des Fahrzeugs. In den USA werden alle Neufahrzeuge – inklu-
Das „Ministry of Land, Infrastructure, Transport sive ihrer LDW-Systeme – durch das sogenannte
16 and Tourism“ (MLIT) in Japan hat innerhalb einer „New Car Assessment Program“ (NCAP) bewertet.
sog. „Technical Guideline“ Rahmenbedingungen für Diesbezügliche Testverfahren werden im Dokument
17 LKA-Systeme geschaffen, die neben Anforderungen „Lane Departure Warning System confirmation test
an das HMI auch Grenzwerte in der Querbeschleu- and Lane Keeping Support performance documen-
nigung festlegen, die durch einen Lenkeingriff nicht tation“ von der „National Highway Traffic Safety
18 überschritten werden dürfen. Hierbei wird differen- Administration“ (NHTSA) ausführlich beschrie-
ziert zwischen Kurvenfahrt (max. 2 m/s²) und einer ben. Ab 2014 werden LDW-Systeme ebenfalls für
19 geraden Strecke (max. 0,5 m/s²) [5]. den europäischen Markt durch Euro NCAP bewer-
Vergleichbare Anforderungen zu Grenzwerten tet. Die Testprozedur der NHTSA stellt hierzu die
20 in der Querbewegung werden durch ISO DIS 11270 Grundlage dar, wurde jedoch für den europäischen
verlangt: Eine Handlung des LKA-Systems darf Markt angeglichen.
49.5 • Systemkomponenten
941 49
.. Abb. 49.2 Testanfor- 0,1 m/s ≤ ≤ 0,6 m/s
derung in Anlehnung an
1 deg/s
NHTSA
Warnzone
v = 72 km/h
Zielpylonen
Startpylonen
Human Maschine
1 Interface (HMI)
Statusanzeige
2 Fahrzeugstatus
Fahrdynamik Bedienelemente
Funktionsmodul
3 Signal-
LDW/LKA
Umfeld-Sensor verarbeitung, Warnung
Fahrer
4 Sensorfusion
5
Aktor
LDW LKA
6
.. Abb. 49.3 Systemkomponenten für Querführungsassistenz
7
ten von ±2° erreicht [6]. Markierungslinien können nauigkeit. Vor allem die mangelnde Vorausschau
so bei großer Vorausschau mit vergleichsweise ho- macht sie für LKA-Systeme ungeeignet, da Markie-
8 her Genauigkeit detektiert werden, was die aktive rungslinien erst kurz vor dem Überfahren erkannt
Querführung von Spurhaltesystemen begünstigt. werden. Mehrdeutigkeiten in Baustellen können,
49 Weiterhin bieten kamerabasierte Systeme das Po- wenn überhaupt, erst sehr spät aufgelöst werden.
tenzial für eine Mehrfachnutzung des Sensors, bei- Beides verzögert die Ausgabe einer Fahrerinforma-
10 spielsweise zur Verkehrszeichenerkennung oder für tion. Die Detektion von sog. „Botts’ Dots“, die vor
die Fernlichtassistenz. allem in den USA anzutreffen sind, ist zudem nicht
Werden Farbkameras verwendet, so bleibt das gewährleistet. Im Vergleich zu Kameras sind die in
11 System auch in Baustellenbereichen mit gelben und Bodennähe verbauten Infrarot-Dioden einer stär-
weißen Markierungslinien verfügbar, deren Mehr- keren Verschmutzung ausgesetzt, sind jedoch durch
12 deutigkeiten nun aufgelöst werden können. Bei der ihre senkrechte Blickrichtung gegenüber Gegenlicht
Verwendung von Kameras mit hohem Dynami- und Regen im Vergleich zu Kameras unempfindlich.
kumfang zeigt sich, dass das System robust gegen- Laserscanner zur Fahrstreifenerkennung sind
13 über extremen Änderungen der Lichtverhältnisse bislang nur in Forschungsprojekten zum Einsatz ge-
ist, wie sie z. B. an Tunnelein- und ausfahrten oder kommen [9, 10]. Auch ortungsbasierte Ansätze mit-
14 beim Durchfahren einer Allee im Sommer auftreten tels hochgenauer, digitaler Straßenkarten werden
können. aktuell in Serienprodukten nicht genutzt, ebenso
15 Erste Fahrzeughersteller benutzen mittlerweile wenig wie infrastrukturbasierte Lösungen mittels
3D-Technologien, die eine räumliche Wahrneh- Magnetnägeln oder Leitkabeln.
mung ermöglichen, womit neben einer genaueren Für detailliertere Informationen zur Umfeldsen-
16 Objekt- und Fußgängererkennung auch eine Klas- sorik sei an dieser Stelle auf ▶ Teil IV des Handbuchs
sifizierung von erhabenen Strukturen wie Leitplan- „Sensorik für Fahrerassistenzsysteme“ verwiesen.
17 ken oder auch Randsteinen möglich ist [7]. Neben
Stereosehen (vgl. ▶ Kap. 21 und 22) kann mittels
„Structure from Motion“ auch in einem Mono-Ka- 49.5.2 Signalverarbeitung
18 mera-Konzept eine dreidimensionale Objekterken-
nung ermöglicht werden [8]. Bildverarbeitungsalgorithmen zur Fahrstreifen-
19 Auf Infrarot-Dioden basierende Erkennung erkennung bestimmen maßgeblich die Güte ka-
der Fahrstreifenbegrenzung (. Abb. 49.8a) konnte merabasierter LDW- und LKA-Systeme. Deren
20 sich auf dem Markt nicht durchsetzen, vermutlich zentrale Aufgabe ist die Detektion von Markie-
mangels Mehrfachnutzung, Vorausschau und Ge- rungslinien. Ein Algorithmus hierzu wird beispiel-
49.5 • Systemkomponenten
943 49
haft in ▶ Kap. 21 „Maschinelles Sehen“ vorgestellt. zeugstatus, Fahrdynamik und Fahreraktivität kann
Allgemeine Anforderungen an die Fahrstreifener- bereits ein LDW-System mit Fahrerinformation
-
kennung sind:
Verfügbarkeit auf möglichst allen infrastruktu-
dargestellt werden. Stehen zusätzliche geeignete
Aktoren im Fahrzeug zur Verfügung wie z. B. ein
- rellen Gegebenheiten,
Robustheit gegenüber widrigen Umweltein-
flüssen.
elektromechanisches Lenksystem (EPS „Electric
Power Steering“), dann können darüber hinaus
LKA-Systeme vom Typ I und II realisiert werden.
Zentrales Element hierbei ist u. a. das sogenannte
Die Diversität der Straßeninfrastrukturen ist hier- Funktionsmodul.
bei eine Herausforderung. Erkannt werden müssen . Abbildung 49.4 zeigt beispielhaft den Aufbau
weiße (Europa) und gelbe (USA, Kanada) Mar- einer solchen Softwarekomponente mit zentraler
kierungslinien auf dunklem Asphalt oder hellem Zustandsmaschine und Warnalgorithmus sowie
Beton ebenso wie Markierungsnägel in Baustellen dem für die LKA-Querführung notwendigen Regler,
oder sog. „Botts’ Dots“ in den USA. Linien- und einer Haptikberechnung und Freihanderkennung.
Lückenlängen sowie Linienbreiten variieren dabei Diese Bestandteile sind nachfolgend beschrieben.
weltweit stark (siehe ISO 17361 Anhang A). Neben In aktuellen Fahrzeugarchitekturen ist die für War-
den gut gewarteten Markierungslinien auf Autobah- nalgorithmus und LKA-Querführung zuständige
nen sollen auch abgenutzte oder verwitterte Markie- Hardwarekomponente typischerweise das Steuer-
rungslinien auf Nebenstraßen erkannt werden. Li- gerät der Umfeldsensorik (z. B. das Auswertemodul
nienstrukturen aus Bitumenfugen, Teernähten oder der Kamera).
Leitplanken müssen dagegen als irrelevant erkannt
werden, ebenso wie Brems- und Schneespuren auf 49.5.3.1 Zustandsmaschine
der Straße. Die Zustandsmaschine ist ein zentraler Bestandteil
Widrige Umwelteinflüsse, die die Sichtbarkeit von LDW- und LKA-Systemen (. Abb. 49.4). Sie
von Markierungslinien beeinträchtigen können, prüft, ob alle Randbedingungen für eine Fahrerin-
sind beispielsweise Linienverdeckungen durch formation bzw. einen Eingriff in die Querführung
Schmutz, Laub oder Schnee sowie überwachsenes des Fahrzeugs erfüllt sind. Das jeweilige System
Gras oder Büsche. Markierungslinien sind auf re- muss eingeschaltet (→ Ein/Aus-Taster) und be-
gennasser Fahrbahn im Dunkeln bei Gegenlicht triebsbereit (→ Eigendiagnose) sein; u. a. dürfen die
ebenso wie am Tag bei tiefstehender Sonne auch für Sensoren weder defekt noch verschmutzt sein, der
den Fahrer nur schwer zu erkennen. Gleiches gilt Fahrtrichtungsanzeiger darf nicht gesetzt sein und
bei Starkregen, starker Gischt oder Nebel. die Fahrzeuggeschwindigkeit muss innerhalb der
Idealerweise wird der eigene Fahrstreifen auch Aktivierungsgrenzen liegen (→ Fahrzeugstatus). Um
dann erkannt, wenn die Begrenzungslinien durch ständiges Aktivieren/Deaktivieren zu vermeiden,
solch widrige Umwelteinflüsse kurzzeitig oder können die Geschwindigkeitsschwellen mit einer
dauerhaft nicht sichtbar sind. Kurzzeitige Ausset- Hysterese versehen werden. Bei einem LKA-Sys-
zer der Linienerkennung können durch geeignete tem wird zusätzlich überprüft, ob der Fahrer aktiv
Algorithmen wie z. B. Kalman- oder Partikel-Filter mitlenkt bzw. die Hände am Lenkrad hält oder sich
überbrückt werden. Werden Markierungslinien von dem System fahren lässt (→ Freihandfahrt-Er-
über längere Zeit nicht erkannt, könnten auch an- kennung). In der Zustandsmaschine kann eine
dere Umgebungsmerkmale zur Fahrstreifenerken- Kopplung mit anderen Fahrerassistenzsystemen
nung herangezogen werden (siehe ▶ Abschn. 49.9). realisiert werden. Bei Kombination mit Systemen
zur Fahrstreifenwechselassistenz (siehe ▶ Kap. 50)
kann z. B. das LDW- bzw. LKA-System bei belegtem
49.5.3 Funktionsmodul LDW/LKA Nachbarfahrstreifen eine Fahrerinformation ausge-
ben, obwohl der Fahrer seine Fahrstreifenwechse-
Anhand dieser Umfelddaten sowie der in aktuellen lintention durch Betätigung des Fahrtrichtungsan-
Fahrzeugen verfügbaren Informationen zu Fahr- zeigers angekündigt hat. LDW-und LKA-Systeme
944 Kapitel 49 • Querführungsassistenz
1 Freihand-
erkennung
2 Übernahme-
Fahreraktivität; Fahrzeugstatus;
Lenkunter-
Fahrdynamik; Umfelddaten
aufforderung stützung
3 Haptik
Warn-
4 algorithmus Stellgröße
Zustands-
5 maschine
HMI
Trajektorien- Soll
6 planung Regelung
Stellgröße
Ist Steuerung
können somit auch dazu beitragen, beim Fahrstrei- lassen des Fahrstreifens prädizieren, wodurch
49 fenwechsel Unfälle mit Fahrzeugen auf dem Nach- unnötige Fahrerinformationen, wie zuvor bei der
barfahrstreifen zu vermeiden. DLC beschrieben, unterbunden werden. Die TLC
10 49.5.3.2 Warnalgorithmus
bezeichnet die Zeitspanne, nach der ein Fahrzeug
die Fahrstreifenbegrenzung basierend auf der Lage
Die sog. „Distance-to-Line-Crossing“ (DLC) dLC ist und Bewegung des Fahrzeugs voraussichtlich über-
11 das einfachste Kriterium für eine Fahrerinformation schreiten wird. Sie berechnet sich im einfachstem
über das bevorstehende Verlassen des Fahrstreifens: Fall zu .tLC D dLC =v sin. // , wobei v sin. /
12 Sie bezeichnet den lateralen Abstand zwischen ei- die Annäherungsgeschwindigkeit zum Fahrstrei-
nem bestimmten Teil des Fahrzeugs und der Fahr- fenrand ist mit der Fahrzeuglängsgeschwindigkeit
streifenbegrenzung. Durch Definition einer mini- v und der fahrstreifenbezogenen Orientierung des
13 malen und maximalen DLC wird eine Warnzone Fahrzeugs (. Abb. 49.5 rechts). Bei einem all-
aufgespannt, die kurz vor der Fahrstreifenbegren- gemeingültigen Ansatz zur Berechnung der TLC
14 zung beginnt und kurz hinter ihr endet (. Abb. 49.5 muss die Krümmung von Fahrzeugtrajektorie und
links). Dringt das Fahrzeug in diese Warnzone ein, Fahrbahn mit berücksichtigt werden. Berechnun-
15 so erfolgt eine Fahrerinformation – verlässt das gen hierzu finden sich in [11, 12]. Im einfachsten
Fahrzeug die Warnzone, so endet die Fahrerinfor- Fall erfolgt eine Fahrerinformation, sobald die TLC
mation. Die DLC kann auch mit einfachen Senso- einen Schwellwert unterschreitet. Zur Bestimmung
16 ren ohne Vorausschau wie z. B. Infrarot-Dioden be- der TLC eignen sich Sensoren mit großer Voraus-
stimmt werden. Der Ansatz, über die DLC auf eine schau und hoher Genauigkeit wie z. B. Kameras.
17 kritische Situation zu schließen, kann sich jedoch Wünschenswert ist die Möglichkeit zur Einstel-
auch nachteilig auswirken: Fährt beispielsweise ein lung dieses Schwellwertes durch den Fahrer, denn
Fahrzeug sehr dicht parallel zur Fahrbahnmarkie- abhängig von Fahrstil und Fahrstrecke kann es
18 rung, so erfolgt eine Fahrerinformation, obwohl das sinnvoll sein, dass die Fahrerinformation kurz vor,
Fahrzeug nicht im Begriff ist, den Fahrstreifen zu während oder sogar kurz nach dem Überschreiten
19 verlassen. der Fahrstreifenbegrenzung erfolgt.
Die sog. „Time-to-Line-Crossing“ (TLC) tLC Schneidet der Fahrer auf ungerader Strecke ab-
20 ist als Kriterium für eine Fahrstreifenverlassens- sichtlich die Kurven, fährt er auf schmaler Straße
warnung besser geeignet, denn sie kann das Ver- eng am Fahrbahnrand oder setzt er bei Überhol-
49.5 • Systemkomponenten
945 49
.. Abb. 49.5 links: DLC und Warnzonen rechts: Laterale Fahrzeuggeschwindigkeit zur Bestimmung der TLC
manövern nicht den Fahrtrichtungsanzeiger, so nung berechnet das Sollverhalten des Fahrzeugs als
kann eine Fahrerinformation als unangebracht Querbeschleunigung auf Basis der Umfelddaten, ein
oder störend bewertet werden. Vermieden werden nachfolgender Regler bestimmt unter Zuhilfenahme
diese ungewünschten Fahrerinformationen mithilfe von Fahrzeugdaten (Ist-Querbeschleunigung) und
einer Fahrerintentionserkennung (siehe ▶ Kap. 39): einem Verhaltensmodell des Fahrzeugs die notwen-
Durch die Auswertung zusätzlicher Umgebungs- dige Stellgröße für die Aktorik.
und Kontextinformationen wie z. B. Fahrzeugbe- Die Trajektorienplanung erfolgt primär auf Ba-
schleunigung, Gaspedalstellung, Lenkradwinkel, sis von Fahrstreifendaten, die beispielsweise als ge-
Gierwinkel, Fahrstreifenkrümmung sowie Fahr- näherte Klothoiden von der Fahrstreifenerkennung
streifenmarkierungstypen links und rechts können bereitgestellt werden. Hierbei ist ein Punkt y .x/
beabsichtigtes Kurvenschneiden und Überholma- auf einer Markierung in der Entfernung x D v
növer in vielen Fällen erkannt und unnötige Fah- (Fahrzeugkoordinaten) gegeben durch:
rerinformationen unterdrückt bzw. auf schmalen
Straßen der Zeitpunkt für die Fahrerinformation 1 2
y .x/ D y0 C x sin C x
nach hinten verschoben werden. 2
Bei Verfügbarkeit einer Fahrerzustandser- 1 3
C x M
kennung nach ▶ Kap. 38 erscheint es sinnvoll, die 6
Fahrerinformationszeitpunkte anhand der Fahrer-
aktivität zu adaptieren, um beispielsweise bei ab- mit der Querabweichung y0, dem Gierwinkel , der
gelenkten, müden oder unaufmerksamen Fahrern aktuellen Krümmung und der Krümmungsände-
früher zu warnen bzw. die Akzeptanz bei aktiven rung M , wobei der Gierwinkelanteil angesichts von
Fahrern durch spätere Informationszeitpunkte zu Messungenauigkeiten für die bei LKA-Systemen
verbessern. relevanten Gierwinkel linear approximiert werden
kann durch sin D .
49.5.3.3 Querregelung Die interne Darstellung der Fahrstreifenmar-
Für die Querregelung bei LKA-Systemen des Typs I kierungen als genäherte Klothoiden erscheint unter
und II kommen unterschiedliche Ansätze zum Ein- anderem deshalb naheliegend, da auch Fahrbahn-
satz (siehe bspw. [13, 14, 15]). Bei dem im Folgen- verläufe in vielen Ländern näherungsweise als Klo-
den beispielhaft dargestellten Querregler werden thoiden ausgelegt werden.
das Soll- und Ist-Verhalten des Fahrzeugs in Quer- Zusätzlich können über Umfeldsensoren er-
richtung als Beschleunigungen ausgedrückt. Diese kannte Objekte und Randbebauungen Berücksich-
Betrachtung berücksichtigt die Fahrzeuggeschwin- tigung finden, beispielsweise als Ersatz für fehlende
digkeit bereits in der Trajektorienplanung, wodurch Fahrstreifenmarkierungen oder zur Einschränkung
eine geschwindigkeitsunabhängige Applikation des des befahrbaren Bereichs. Dieser sei hier analog zu
eigentlichen Reglers erleichtert wird. Zudem ist den Fahrstreifenmarkierungen durch eine linke und
die Querbeschleunigung für die wahrgenommene rechte Begrenzung in Klothoidenform dargestellt.
Fahrzeugreaktion von zentraler Bedeutung. Zur Umsetzung eines LKA-Systems errechnet
Der beispielhafte Querregler gliedert sich in die Trajektorienplanung in einem definierten zeit-
zwei Module: Eine vorgelagerte Trajektorienpla- lichen Abstand unter Berücksichtigung der Fahr-
946 Kapitel 49 • Querführungsassistenz
Lenkunterstützung .. Abb. 49.6 Lenkunter-
1 stützung in Abhängigkeit
von der Querablage für
LKA; Typ I LKA-Typ I und -Typ II
2
LKA; Typ II
3
Fahrstreifen
Fahrstreifen
Fahrstreifen
4
Grenze
Grenze
Rechte
Linke
Mitte
5
zeugbreite eine Sollquerbeschleunigung vor dem Regleranforderung als Widerstand am Lenkrad
Fahrzeug. Sollte der Informationszeitpunkt durch wahr. Das Modul Haptik reduziert die Anforderung
6 den Fahrer einstellbar sein, ist eine Berechnung des an den Aktor je nach gewünschter Lenkunterstüt-
Sollwerts optional durch den Fahrer konfigurierbar zung des LKA-Systems anteilig. Hierdurch nehmen
7 durch Zuhilfenahme eines Sicherheitsabstands. Warncharakter und Regelgüte zwar ab, gleichzei-
tig wirkt das System jedoch komfortabler, weniger
49.5.3.4 Haptik „störend“. Beim Mitlenken sind Fahreraktivität
8 Obwohl die tatsächliche Umsetzung der vom und Regleranforderung gleichgerichtet, der Fahrer
LKA-Querregler berechneten Stellgröße dem Ak- nimmt die Regleranforderung daher als ungewohnt
49 tor obliegt, sind Haptik und Beherrschbarkeit eines starke Fahrzeugreaktion wahr. Diese wird von vie-
in die Fahrzeug-Querführung eingreifenden LKA len Fahrern als unangenehm bewertet.
10 wesentlicher Bestandteil dieses Systems. Sie wer- Da insbesondere beim Gegenlenken Warncha-
den daher im hier dargestellten Beispiel als Teil des rakter und Regelgüte des LKA mit dem Komfort ei-
LKA-Funktionsmoduls betrachtet, obwohl ihre tat- nes aktiven Fahrers konkurrieren, berücksichtigt das
11 sächliche Umsetzung in den Architekturen aktueller hier beispielhaft dargestellte Modul Haptik zusätz-
LKA-Systeme durchaus auch in anderen Kompo- lich die Position des Fahrzeugs innerhalb des Fahr-
12 nenten erfolgen kann (z. B. als Modul im Steuergerät streifens: Befindet sich das Fahrzeug am Rand des
von EPS oder ESC bei LKA-Systemen mit kurskor- Fahrstreifens, stellt die Haptik beim Gegenlenken
rigierendem Bremseingriff). eine starke Lenkunterstützung ein. Fährt der Fahrer
13 Durch die unmittelbare und regelmäßige (LKA- jedoch weiter in der Mitte, reduziert das Modul die
Typ I) oder sogar dauerhafte (LKA-Typ II) Inter- Lenkunterstützung und nimmt die Regleranforde-
14 aktion mit dem Fahrer über die Querführungs- rung somit bei aktivem Fahrer stärker zurück.
aktorik hat die Haptik unmittelbaren Einfluss auf . Abbildung 49.6 stellt diesen Zusammenhang
15 die Wahrnehmung des Systems durch den Fahrer. grafisch durch zwei mögliche Kennlinien beispiel-
Da Fahreranforderung und LKA-Querführung haft dar: Bei LKA-Typ I steht der Warncharakter
insbesondere bei LKA-Typ II-Systemen in häufi- am Fahrstreifenrand im Vordergrund, die Lenkun-
16 ger Konkurrenz zueinander stehen (beispielsweise terstützung bleibt also stark – im Mittenbereich
aktive Mittenführung gegen einen Fahrerwunsch findet bei LKA-Typ I keine Unterstützung statt.
17 zum Einordnen am Fahrbahnrand) bestimmt das Beim LKA-Typ II gilt es, im Randbereich ebenfalls
Haptik-Modul anhand von Fahrzeugstatus, Fahrer- eine deutliche Warncharakteristik umzusetzen, die
aktivität und Umfelddaten, wann und mit welcher Lenkunterstützung ist hier hoch. Im Mittenbereich
18 Spürbarkeit die Anforderungen des Reglers von der können jedoch durch Systemapplikation oder Fah-
Aktorik umzusetzen sind. rereinstellung Bereiche mit niedrigerer Lenkunter-
19 Für die unmittelbare Fahreraktivität existieren stützung eingestellt werden, um den Komfort des
für die Haptik zwei maßgebliche Situationen: Beim Systems zu verbessern.
20 Gegenlenken ist die Fahreraktivität der Regleran- Die Beherrschbarkeit von aktiv eingreifenden
forderung entgegengesetzt, der Fahrer nimmt die Assistenzsystemen in die Querführung kann aus
49.5 • Systemkomponenten
947 49
zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Zum einen Umständen zu einer unberechtigten Freihandfahr-
ist innerhalb der funktionalen Sicherheit nach terkennung kommen. Darüber hinaus gibt es zur
ISO 26262 eine Risikoanalyse gefordert, die eine Fahreraktivitätserkennung noch weitere Methoden,
Beurteilung der Kontrollierbarkeit in verschiede- wie beispielsweise Fahrerbeobachtungskameras
nen Fahrsituationen zugrunde legt, um zusammen oder auch kapazitive bzw. druckempfindliche Sen-
mit einer Exposition und einer Schwere der Aus- soren im Lenkrad.
wirkung auf ein Risiko zu schließen, vgl. ▶ Kap. 6. Falls das System keine ausreichende Lenkakti-
Eine Evaluierung der Kontrollierbarkeit des durch vität feststellen kann, deutet dies darauf hin, dass
das System aufgebrachten Lenkmoments wird bei- der Fahrer die Hände nicht mehr am Lenkrad hat
spielsweise in [16] erläutert. Hierbei wird vor allem – woraufhin der Fahrer in geeigneter Art und Weise
darauf hingewiesen, dass neben einer maximalen (auditiv, visuell, haptisch) aufgefordert werden soll,
Amplitude des Lenkmoments vor allem der Gra- die Lenkung wieder zu übernehmen. Sollte der Fah-
dient des Lenkmoments für die Kontrollierbarkeit rer dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird
durch den Fahrer relevant ist. das System nach einer angemessenen Wartezeit ab-
Zum anderen liegen Anforderungen aus Richt- geschaltet.
linien und Vorschriften vor (siehe ▶ Abschn. 49.4).
Gerade LKA-Systeme unterliegen Vorschriften und
Normen, die Auswirkungen auf die Implemen- 49.5.4 Fahrerinformation
tierung der Kontrollierbarkeit und die zulässigen
Grenzwerte haben. Die Einschränkungen in der Gemäß ISO 17361 „(…) ist eine einfach wahr-
Kontrollierbarkeit von LKA-Systemen durch den nehmbare haptische und/oder akustische Warnung
Fahrer müssen folglich innerhalb des Funktionsmo- vorzusehen. (…) Falls die haptische und/oder akus-
duls LDW/LKA sichergestellt werden, und zwar im tische Warnung nicht dazu konzipiert ist, eine Rich-
Zusammenspiel von Haptik-Modul und Zustands- tung anzuzeigen, dann darf ein visueller Hinweis
maschine. genutzt werden, um die Warnung zu ergänzen.“ [2]
Generelle Anforderungen an eine Fahrerinfor-
-
49.5.3.5 Freihandfahrterkennung mation für LDW- und LKA-Systeme sind u. a.:
Zur Erfüllung gesetzlicher Vorschriften und Nor- deutlich, so dass sie z. B. auch für einen unauf-
men (siehe ▶ Abschn. 49.4) müssen Aufgaben der
Systemüberwachung weiterhin vom Fahrer wahrge-
- merksamen Fahrer gut wahrnehmbar ist,
intuitiv, so dass die Art der Fahrerinformation
nommen werden, da aktuelle LKA-Systeme keiner
automatisierten Fahrt dienen sollen, womit eine
- die intendierte Fahrerreaktion begünstigt,
exklusiv, so dass der Fahrer ohne langes Über-
Erkennung der Freihandfahrt vorzusehen ist.
Bei inzwischen in vielen Fahrzeugen serienmä-
- legen schnell reagieren kann,
seitenselektiv, so dass der Fahrer darauf
ßig verbauten elektromechanischen Servolenkun-
gen (siehe ▶ Kap. 32 „Lenkstellsysteme“) werden
die erforderlichen Daten zur Auswertung der Fah- - schließen kann, wohin er lenken soll,
nur durch Fahrer wahrnehmbar, so dass an-
dere Fahrzeuginsassen die Fahrerinformation
reraktivität bereits von den integrierten Sensoren
der Lenkung bereit gestellt. Durch eine Analyse
der Lenkaktivität können die Lenkradbewegungen
des Fahrers von Lenkeinflüssen, hervorgerufen
- nicht bemerken,
kostengünstig, indem möglichst keine zusätz-
lichen Bauteile benötigt werden.
können als haptische Fahrerinformation genutzt Allen haptischen Fahrerinformationen steht der
1 werden, z. B. mithilfe des EPS-Lenkaktors, der dann genutzte Sinneskanal exklusiv zur Verfügung. Der
eine Lenkmomenten-Charakteristik ähnlich wie in Fahrer kann diese daher eindeutig und ohne langes
2 . Abb. 49.6 aufweisen sollte – oder alternativ durch Überlegen einem LDW- bzw. LKA-System zuord-
einen deutlichen, kurskorrigierenden Bremseingriff nen, was eine schnelle Fahrerreaktion begünstigt.
des ESC-Systems. Beim Gurtstraffer gilt dies nur dann, wenn dieser
3 Eine akustische Fahrerinformation kann durch nicht durch andere Applikationen genutzt wird
sogenannte „Auditory Icons“ erfolgen, wie z. B. ei- (dann „+“). Auch spezifische Informationstöne und
4 nen spezifischen Informationston oder den Klang der Klang des Nagelbandratterns erlaubt eine ein-
des Nagelbandratterns. Diese können beispiels- deutige Zuordnung ebenso wie Bilder und Symbole
5 weise über die Stereo-Lautsprecher des Radio-Na- in Kombi und HUD – vorausgesetzt diese sind gut
vigationssystems ausgegeben werden. Im Falle ei- wahrnehmbar und einfach verständlich. Nicht ein-
ner Fahrerinformation müssen dann Musik- und deutig zuortbar sind dagegen Gong oder Summer
6 Sprachausgabe unterdrückt werden. Alternativ kann des Kombiinstruments, da diese auch von vielen
der Fahrer über Summer oder Gong des Kombiin- anderen Applikationen genutzt werden.
7 struments informiert werden. Offensichtlich kann Eine seitenselektive Fahrerinformation kann
mit einer solchen Ausgabe nicht die zuvor genannte nur durch Querführungseingriff, Sitzvibration so-
Anforderung erfüllt werden, dass nur der Fahrer die wie über ein geeignetes Symbol oder Bild in Kombi
8 Information wahrnimmt. oder HUD erfolgen. Auch Stereo-Lautsprecher sind
Eine visuelle Fahrerinformation sollte im primä- hierzu geeignet (+), Mono-Lautsprecher hingegen
49 ren Sichtfeld des Fahrers liegen, z. B. als Bild oder nicht (−).
Symbol im Kombiinstrument oder Head-up-Dis- Nur für den Fahrer wahrnehmbar sind Gurt
10 play (HUD) (siehe . Abb. 49.9b, . Abb. 49.10b). ruck, Lenkrad- und Sitzvibration sowie eine visuelle
Eine Bewertung dieser unterschiedlichen Mög- Fahrerinformation. Der Querführungseingriff mit-
lichkeiten der Fahrerinformation für LDW- und tels EPS-Lenkung kann moderat und für Passagiere
11 LKA-Systeme gemäß den oben genannten Kriterien fast unmerklich gestaltet werden, denn die Hand-
zeigt . Tab. 49.2. lungsempfehlung für den Fahrer geht aus dem Hilfs-
12 Deutlich wird: Eine eindeutige Wahrnehmung lenkmoment und nicht aus der Fahrzeugbewegung
der Fahrerinformation ist bei nahezu allen Varian- hervor. Ein Querführungseingriff mittels ESC muss
ten möglich. Lediglich die Sitzvibration kann bei di- dagegen stark ausgeprägt sein, damit der Fahrer die
13 cker Kleidung im Winter evtl. nicht erkannt werden. Fahrzeugbewegung deutlich wahrnehmen und hie-
Bei einer ausschließlich visuellen Fahrerinformation raus eine Handlungsempfehlung ableiten kann. Der
14 kann prinzipiell nicht ausgeschlossen werden, dass ESC-Eingriff wird daher ebenso wie akustische Fah-
ein abgelenkter Fahrer die Symbole in Kombi und rerinformationen von allen Fahrzeuginsassen deut-
15 HUD übersieht, weshalb sie gemäß ISO 17361 eine lich wahrgenommen, was sich auf die Systemakzep-
haptische oder auditive Fahrerinformation immer tanz auswirkt. Häufig unnötige Fehlinformationen
nur ergänzen, jedoch nicht ersetzen darf. sind für diese Arten der Fahrerinformation daher
16 Eine intuitive, die intendierte Fahrerreaktion be- besonders störend und tragen zur Minderung der
günstigende Fahrerinformation kann durch Quer- Akzeptanz bei.
17 führungseingriff und Lenkradvibration ebenso er- Kostengünstig ist die Fahrerinformation in der
folgen wie durch den Klang des Nagelbandratterns. Regel dann, wenn die benötigten Bauteile bereits
Auch eine symbolhafte oder bildliche Darstellung serienmäßig im Fahrzeug verbaut sind.
18 in HUD oder Kombi ist hierfür im Prinzip geeignet. . Tabelle 49.2 mag als Entscheidungshilfe zur
Durch Gurtstraffer, Vibrationsinformation im Sitz, Auswahl einer geeigneten Fahrerinformation für
19 Informationston sowie Kombi-Summer oder -Gong Querführungsassistenzsysteme dienen. Die Ge-
ist dies nicht ohne weiteres möglich. Diese Arten wichtung der Faktoren ist jedoch stark abhängig
20 der Fahrerinformation lassen nicht unbedingt auf von Fahrzeugtyp, Fahrzeugausstattung und Fahr-
die Erfordernis eines Lenkeingriffs schließen. zeughersteller: Bei einem Pkw mit in Serie verbau-
49.5 • Systemkomponenten
949 49
ESC + + + + −
Lenkrad-Vibration EPS-Lenkung + + + − +
Vibrator + + + − +
Gurt-Ruck Gurtstraffer + 0 +1 −2 − +
Sitz-Vibration Vibrator 0 0 + + +
spez. Info-Ton + 0 + +3 −4 −
Head-up-Display − + + + +
Gurtstraffer exklusiv für LDW: 1 ja, 2 nein; Stereolautsprecher vorhanden: 3 ja, 4 nein
mera, 5ESC-Eingriff
sen Linien angezeigt. In Seriensystemen kommen
49 weitere Lösungen zum Einsatz, die Kombinationen
dieser beiden Varianten darstellen.
10 Der Übergang von „einsatzbereit“ zu „nicht ein- angeboten und dies durchgängig von der Luxus- bis
satzbereit“ wird dem Fahrer beispielsweise durch zur Kompaktklasse. Eine weitere Demokratisierung
das Erlöschen der LED im Ein/Aus-Taster oder im solcher Technologien auf das Klein- und Kleinstwa-
11 Bild des Kombi-Displays durch einen Farbwechsel gensegment ist abzusehen.
der Linien verdeutlicht. Eine auditive Information Die Systeme der einzelnen Fahrzeughersteller
12 über diesen Statuswechsel unterbleibt in der Regel. lassen sich nach folgenden Differenzierungsmerk-
Bedienelemente zum Ein- und Ausschalten malen klassifizieren:
von LDW- bzw. LKA-Systemen sind obligatorisch a) LDW (Fahrerinformation) oder LKA (Fahrerin-
13 (Taster). Optional wird dem Fahrer eine Möglich- formation und Querführungseingriff),
keit zum Konfigurieren des Systems angeboten, so b) Typ I (Spurrückführung ) oder Typ I & II (Spur-
14 dass er Schwellen zur Fahrerinformation justieren, rückführung & Spurmittenunterstützung),
bestimmte Fahrerinformationen zu- und abschalten c) primäre Fahrerinformation akustisch oder akus-
15 sowie zwischen einem LKA-System vom Typ I und tisch & haptisch oder haptisch.
Typ II wählen kann (Menüpunkt im Kombi).
. Tabelle 49.3 zeigt exemplarisch eine Übersicht
16 der in Europa erhältlichen Systeme zur Querfüh-
49.6 Beispielhafte Umsetzungen rungsassistenz verschiedener Fahrzeughersteller
17 aufgeteilt nach diesen drei Kriterien. OEM, die so-
LDW-Systeme hatten Ihren Ersteinsatz bei Nutz- wohl LDW- als auch LKA-Systeme anbieten, sind
fahrzeugen im Jahr 2000 in Europa und kurz darauf doppelt genannt. Falls nicht anders vermerkt, wird
18 auch in den USA. Für Pkws waren sie ab 2001 in Ja- als Umfeldsensor eine Mono-Kamera, zur hapti-
pan, ab 2004 in Nordamerika und ab 2005 in Europa schen Fahrerinformation eine Lenkradvibration
19 verfügbar. LKA-Systeme wurden erstmals 2002 in und als Querführungsaktor eine EPS-Lenkung
Japan und 2006 in Europa angeboten. Mittlerweile genutzt.
20 werden Systeme zur Querführungsassistenz in den Folgendes wird deutlich: Die meisten Herstel-
Pkws nahezu aller namhaften Fahrzeughersteller ler bieten ihr System entweder als LDW oder als
49.6 • Beispielhafte Umsetzungen
951 49
.. Abb. 49.7 „Lane
a b
Departure Warning“ von
Volvo a Ein/Aus-Taster
mit Status-LED b Kame-
ra-Sichtbereich c Integ-
ration der Mono-Kamera
(Quelle: Volvo)
LKA mit den Typen I & II im Verbund an. Reine lern exemplarisch vorgestellt (siehe Unterstrich in
LKA-Systeme vom Typ II (Spurmittenunterstüt- . Tab. 49.3). Hierbei werden die Unterschiede in
zung ohne Spurrückführung) sind selten (Infiniti, Funktionalität, Sensorik und Fahrerinformation he-
Mercedes-Benz). Die primäre Fahrerinformation ist rausgearbeitet. Für die Querführungsassistenz von
entweder auditiv oder haptisch. Die auditive Fahrer Nutzfahrzeugen sei auf das ▶ Kap. 53 „Bahnfüh-
information wird von asiatischen Fahrzeugherstel- rungsassistenz für Nkw“ verwiesen. Alle Angaben
lern bevorzugt (Daihatsu, Mazda, Honda, Hyundai, beziehen sich auf den Zeitpunkt der Manuskripter-
Lexus, Toyota), während die europäischen OEM stellung.
fast ausschließlich eine haptische Fahrerinforma-
tion nutzen (Audi, BMW, Citroёn, Ford, Peugeot,
Mercedes-Benz, Škoda, Seat, Volvo, VW). Systeme 49.6.1 „Lane Departure Warning“
mit kombinierter auditiver und haptischer Fahre- von Volvo
rinformation sind die Ausnahme (Hyundai, Infiniti).
Bis auf Citroёn und Renault (Infrarot-Dioden) Volvos „Lane Departure Warning“ informiert den
sowie Mercedes-Benz (Stereo-Kamera) verwen- Fahrer vor dem unbeabsichtigten Überqueren von
den alle Fahrzeughersteller eine Mono-Kamera als Fahrstreifenmarkierungslinien. Das System akti-
Umfeldsensor. Bis auf Hyundai (Gurtstraffer) und viert sich automatisch mit dem Starten des Fahr-
Citroёn (Sitz-Vibration) nutzen alle Fahrzeugher- zeugs und ist ab einer Geschwindigkeit von ca.
steller als haptische Fahrerinformation eine Lenk- 65 km/h einsatzbereit. Eine Deaktivierung erfolgt
radvibration oder einen Lenkeingriff. Nur Infiniti automatisch unterhalb von 60 km/h oder durch
und Mercedes-Benz gebrauchen zur Spurrückfüh- den Fahrer per Ein/Aus-Taster. Durch eine LED in
rung einen kurzkorrigierenden Bremseingriff mit- diesem Taster wird dem Fahrer die Einsatzbereit-
tels ESC, alle anderen OEM nutzen eine EPS-Len- schaft des Systems angezeigt (. Abb. 49.7a). Eine
kung. Kamera wird zur kontinuierlichen Detektion der
Hersteller, die sowohl LDW- als auch LKA-Sys- Markierungslinien genutzt (. Abb. 49.7b) und ist
teme anbieten, differenzieren deren funktionale Un- hinter der Windschutzscheibe im Fuß des Innen-
terschiede über die Systemnamen. Ford differenziert spiegels verbaut (. Abb. 49.7c). Wenn das Fahrzeug
zwischen „Fahrspur-Assistent“ und „Fahrspurhal- im Begriff ist, eine Markierungslinie zu überschrei-
te-Assistent“, Mercedes-Benz unterscheidet zwi- ten, ohne dass ein aktives Fahrermanöver ersicht-
schen „Spurhalte-Assistent“ und „Aktiver Spurhal- lich ist (z. B. keine Betätigung des Fahrtrichtungs-
te-Assistent“. Volvo nutzt als Produktnamen „Lane anzeigers), dann wird der Fahrer hierauf mithilfe
Departure Warning“ und „Lane Keeping Aid“. eines Informationstons aufmerksam gemacht. Die
Im Folgenden werden jeweils zwei LDW- und Empfindlichkeit des Systems kann vom Fahrer
LKA-Systeme von verschiedenen Pkw-Herstel- wahlweise von „normal“ auf „gesteigert“ eingestellt
952 Kapitel 49 • Querführungsassistenz
a b
1
2
3
4
5
6 .. Abb. 49.8 „AFIL“ von Citroёn a Sichtbereich der IR-Dioden b Vibrationsalarm im Sitz (Quelle: Citroёn)
a b
fahrstreifen erkannt wurde. Fahrzeuge, die einen markierungen – sowohl durchgezogene Linien als
Einfluss auf den Bremseingriff haben können, sind auch unterbrochene Markierungen – und berech-
Fahrzeuge des Gegenverkehrs, überholende oder net unter Berücksichtigung von Fahrdynamikdaten
parallel fahrende Fahrzeuge. die Gefahr des Fahrstreifenverlassens. Wird diese
Einen eventuell unpassenden Bremseingriff akut, warnt „Lane Assist“ den Fahrer optisch und
kann der Fahrer jederzeit abbrechen, indem er leicht durch Lenkradvibration. Fahrzeugabhängig lenkt
gegenlenkt, den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt, das System zudem korrigierend sanft gegen, um das
deutlich bremst oder Gas gibt. Ein spurkorrigieren- Fahrzeug innerhalb der gegebenen Systemgrenzen
der Bremseingriff wird automatisch abgebrochen, in dem Fahrstreifen zu halten (. Abb. 49.10a). Der
sobald ein Fahrsicherheitssystem eingreift (z. B. eine „Lane Assist“ ist für die Nutzung auf Autobahnen
fahrdynamische Regelaktion des ESC) oder wenn und gut ausgebauten Land- und Bundesstraßen
keine Fahrstreifenbegrenzungslinie mehr erkannt ausgelegt.
wird. Bei der Weiterentwicklung des „Lane Assist“,
Nimmt der Fahrer seine Hände dauerhaft vom die mit der Golf 7-Generation eingeführt wurde, ist
Lenkrad, so wird er durch eine Anzeige im Mul- die Möglichkeit geschaffen worden, die Funktion
tifunktionsdisplay (. Abb. 49.9c) in Kombination zu konfigurieren. Wird die „Adaptive Spurfüh-
mit einem Informationston dazu aufgefordert, die rung“ aktiviert, hilft „Lane Assist“ nicht erst beim
Hände wieder an das Lenkrad zu legen. Wird die drohenden Verlassen des Fahrstreifens. Wenn der
Übernahme des Lenkrads unterlassen, dann schal- Fahrstreifen durch zwei Markierungen links und
tet sich der aktive Spurhalteassistent nach ca. 5 s ab. rechts des Fahrzeugs begrenzt wird, unterstützt die
Dem Fahrer wird dies über die System-Statusan- Funktion vielmehr dauerhaft beim Fahren durch
zeige mitgeteilt. korrigierende Lenkeingriffe und führt das Fahrzeug
Der „Aktive Spurhalte-Assistent“ wird von somit in der Mitte des Fahrstreifens. Das System
Mercedes-Benz in der E-, GLK-, SL- und S-Klasse adaptiert dabei die vom Fahrer bevorzugte Posi-
in einem Ausstattungspaket namens „Fahrerassis- tion innerhalb des eigenen Fahrstreifens. Möchte
tenz-Paket Plus“ angeboten. der Fahrer z. B. etwas versetzt außerhalb der Mitte
des Fahrstreifens fahren, so lernt das System die
neue Position in wenigen Sekunden, was zu einer
49.6.4 „Lane Assist“ von VW Verschiebung der Ordinatenachse aus . Abb. 49.6
führt.
Der Spurhalteassistent „Lane Assist“ von Volkswa- Der „Lane Assist“ lässt sich bei Geschwindig-
gen [19] erfasst mittels einer Kamera Fahrbahn- keiten von über 65 km/h aktivieren, beim Unter-
954 Kapitel 49 • Querführungsassistenz
a b
1
2
3
4
5
6 .. Abb. 49.10 „Lane Assist“ von VW a Lenkeingriff b Multifunktionsanzeige (Quelle: Volkswagen)
schreiten von 60 km/h deaktiviert sich das System. von der Fahrbahn und leisten hierdurch ihren ei-
7 Der Assistent funktioniert auch bei Dunkelheit und genständigen Beitrag zur positiven Beeinflussung
schlechten Witterungsbedingungen. Der Fahrer des Unfallgeschehens. Betrachtet man die einzelnen
kann „Lane Assist“ jederzeit mit geringem Kraftein- Systemausprägungen jedoch im Detail, so ergeben
8 satz „überstimmen“ und wird nicht von seiner Ver- sich Unterschiede sowohl in ihrem Unfallvermei-
antwortung entbunden, das Auto bewusst zu fahren. dungspotenzial als auch in ihrer Kundenakzeptanz.
49 Um diese Anforderung zu überwachen, analysiert Unfallvermeidungspotenzial und Fahrerunter-
das System die Lenkaktivität des Fahrers kontinu- stützung von LKA-Systemen Typ I sind eventuell
10 ierlich, um zu registrieren, ob der Fahrer mitlenkt höher als die von LDW-Systemen. Dies deuten
oder sich durch das System fahren lässt. Wird Analysen des Unfallgeschehens und Fahrsimu-
dies erkannt, erfolgt eine akustische und optische latorstudien an [20, 21]. Der Kundennutzen von
11 „Übernahmeaufforderung“. Reagiert der Fahrer da- LKA-Systemen könnte zudem durch Systeme des
rauf nicht, schaltet sich das System ab. Ein Wechsel Typs II nochmals gesteigert werden: Anders als Sys-
12 in den passiven Zustand erfolgt zudem, wenn der teme des Typs I, die für den Fahrer nur bei einem
Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, der Fahrer vermeintlich kritischen Spurverlauf erlebbar sind –
stark bremst, keine Markierungen erkannt werden eine Situation, die eher selten auftritt – unterstützen
13 oder das ESC deaktiviert ist. Typ II-Systeme den Fahrer ständig beim Halten des
In selten auftretenden Situationen wird der Fah- Fahrzeugs in der Fahrstreifenmitte, wodurch Au-
14 rer per Lenkradvibration aufgefordert, die Lenkung tofahren entspannter und komfortabler wird [22].
aktiv zu übernehmen. Eine Vibration wird ausge- Die Kundenakzeptanz für unterschiedliche Aus-
15 geben, wenn ein korrigierender Lenkeingriff nicht prägungen von LDW- und LKA-Systemen wurden
ausreicht, um das Fahrzeug in dem Fahrstreifen zu vom ADAC 2012 in einer Probandenstudie unter-
halten oder falls während eines starken Lenkein- sucht [23]. Aus den Rückmeldungen der Proban-
16 griffs keine Fahrstreifenmarkierungen vom System den wurden Anforderungen an ein ideales System
erkannt werden. abgeleitet.
17 Der „Lane Assist“ wird bei Volkswagen in annä- Gemäß ADAC wird beim „Spurverlassenswar-
hernd allen Fahrzeugmodellen angeboten. ner“ (LDW) die Lenkradvibration – da exklusiv
für den Fahrer – als Warnhinweis beim Überfah-
18 ren einer Linie bevorzugt. Idealerweise wird die
49.7 Systembewertung Erkennung der Fahrstreifen im Display und, wenn
19 vorhanden, im Head-up-Display dargestellt. Ge-
Alle Querführungsassistenzsysteme unterstützen schätzt werden die Einstellbarkeit des Warnzeit-
20 den Fahrer beim Halten des Fahrstreifens, vermei- punkts (Nähe zur Fahrbahnbegrenzung) und der
den in vielen Fällen das ungewollte Abkommen Vibrationsstärke. Gut bewertet wird eine adaptive
49.9 • Ausblick
955 49
Einstellung, damit auf kurviger Landstraße nicht zu Einsatz von Farbkameras mit höherer Auflösung
viele unnötige Warnungen an einen aktiven Fahrer und Dynamik, adaptiven Warnalgorithmen mit
ausgegeben werden, der sich dann gestört fühlen Fahrerintentionserkennung sowie robusteren Bild-
könnte und das System abschaltet. verarbeitungsalgorithmen.
Gemäß ADAC werden beim Spurhalteassis- Trotzdem unterliegen diese Systeme weiter-
tenten (LKA) Lenkkorrekturen gut akzeptiert. Der hin vielen Beschränkungen, was deutlich wird,
Lenkeingriff sollte einstellbar sein, so dass zwischen wenn man in die Bordbücher der Fahrzeugher-
einer Zentrierung des Autos in der Fahrstreifen- steller schaut. In diesen wird darauf hingewiesen,
mitte (Typ II) oder einem „Wegdrücken“ des Autos dass Querführungsassistenten nur Hilfsmittel sind
vom Fahrbahnrand (Typ I) gewählt werden kann. und die Verantwortung für die Querführung beim
Aber auch der Eingriff mittels gezielter ESC-Brem- Fahrer verbleibt. Die Funktion steht herstellerab-
sungen einzelner Räder kam bei vielen Probanden hängig erst ab Geschwindigkeiten oberhalb von
gut an. Die Erkennung der Fahrstreifen sollte im 60–70 km/h zur Verfügung, wodurch komplexe
Instrumentendisplay und im Head-up-Display Markierungssituationen in Städten größtenteils
(wenn verfügbar) angezeigt werden. Ein Lenkein- ausgegrenzt werden und eine Querführungsunter-
griff erfordert eine sichere Fahrstreifenerkennung stützung nicht angeboten wird.
– ist diese aufgrund schlechter Markierungen nicht Fahrstreifenbegrenzungslinien können nicht
möglich, sollte zumindest eine Fahrstreifenverlas- immer eindeutig erkannt werden, z. B. bei schlech-
senswarnung erfolgen. ter Sicht, Blendung, verdeckten oder abgenutzten
Bei akustischer Fahrerinformation wurden sys- Linien, verschmutzten oder beklebten Windschutz-
temspezifische Töne mit seitlicher Unterscheidbar- scheiben sowie in Baustellen, kurvenreichen Stre-
keit gelobt; generell wurden Informationstöne aber cken, Alleen oder Tunnelein- und Ausfahrten. In
als wenig intuitiv und teilweise als störend empfun- diesen Fällen kann das System beeinträchtigt (aus-
den. Bei einer Sitzvibration wurde die seitliche Un- bleibende bzw. unnötige Fahrerinformation) oder
terscheidung positiv angemerkt. Uneinig war man ohne Funktion sein. Bei einem LKA-System reicht
sich allgemein über die Vibration im Sitz; einige fan- der Lenkeingriff unter Umständen nicht dazu aus,
den diese gut, weil es eine klare Systemzuordnung das Fahrzeug zurück in den Fahrstreifen zu führen.
der Fahrerinformation ermöglicht. Andere störte Straßen- und Witterungsverhältnisse werden beim
und irritierte die Vibration im Sitz – auch nach Lenkeingriff nicht berücksichtigt. Verfügbarkeit
längerer Fahrt. Beim ESC-Eingriff störte die damit und Robustheit von Querführungsassistenten könn-
verbundene Geschwindigkeitsreduzierung etwas. ten aus Nutzerperspektive daher weiter verbessert
Die Fahrstreifenerkennung auf Landstraßen wurde werden.
bei nahezu allen Systemen bemängelt.
Für die Kundenakzeptanz maßgeblich ist neben
der Gestaltung der Fahrerinformation auch die Sys- 49.9 Ausblick
temverfügbarkeit. Dies zeigt ein Vergleichstest der
Auto-Bild [24]: Bei ähnlicher Verfügbarkeit konn- Robustheit und Verfügbarkeit der Fahrstreifener-
ten sich LKA-Systeme gegenüber LDW-Systemen kennung können weiter gesteigert werden, indem
durchsetzen. LDW-Systeme mit guter Verfügbarkeit zur Fahrstreifenerkennung und Querführung des
lagen aber gleichauf oder sogar vor LKA-Systemen Fahrzeugs nicht nur Markierungslinien, sondern
mit schlechter Verfügbarkeit. auch andere Umgebungsmerkmale herangezogen
werden, wie beispielsweise andere Fahrzeuge, Bord-
steine, Randstreifen oder Leitplanken. Werden nur
49.8 Erreichte Leistungsfähigkeit einige wenige Merkmale genutzt, dann kann ein
einfacher, z. B. regelbasierter Ansatz zweckmäßig
Die Leistungsfähigkeit von Querführungsassis- sein. Bei vielen Merkmalen erscheint jedoch ein
tenzsystemen konnte in den letzten Jahren konti- modellbasierter Ansatz sinnvoll. Bei diesem wird
nuierlich gesteigert werden: Dies gelang durch den eine Fahrbahnhypothese durch Umgebungsmerk-
956 Kapitel 49 • Querführungsassistenz
male gestützt oder verworfen. Markierungslinien 4 ECE‐R 79: Uniform provisions concerning the approval of
1 können hierbei mit einem höheren Gewicht ein-
vehicles with regard to steering equipment, 2005
5 MLIT – Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tou-
gehen als andere Merkmale. Bereits heute können rism: technical guidance to Lane‐Keeping Assist Devices
2 viele dieser Merkmale durch existierende Umfelds- of Motor Vehicles, In: technical guidelines in Blue Book
ensoren erfasst werden. Die Herausforderung be- 11‐6‐1‐3, 2013
steht folglich in der anschließenden Datenverarbei- 6 TRW Homepage, Datenblatt „Skalierbare Kamera“, http://
3 tung bzw. Fahrbahnmodellierung.
www.trw.de/technology_information/electronics/driver_
assist_system_electronics, Zugriff am 26.04.2014
Erste Ansätze einer Fahrbahnmodellierung zeigt 7 Hegemann, S., Lüke, S., Nilles, C.: Randsteinerkennung als
4 der Mercedes-Benz Lenk-Assistent. Oberhalb von Teil der Urbanen Fahrerassistenz. ATZ-Automobiltechni-
ca. 60 km/h orientiert dieser sich an vorhandenen sche Zeitschrift 115(11), 895–899 (2013)
Fahrstreifenwechselassistenz
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer
50.1 Motivation – 960
50.2 Anforderungen – 960
50.3 Klassifikation der Systemfunktionalität – 962
50.4 Beispielhafte Umsetzungen – 963
50.5 Systembewertung – 971
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit – 972
50.7 Weiterentwicklungen – 973
Literatur – 973
53 50.2 Anforderungen -
Anforderungen:
Der Fahrstreifenwechselassistent soll den Fah-
rer über Gefahrensituationen informieren, die
aus einer unzureichenden Überwachung des
54
55
Bei einem Fahrstreifenwechsel muss der Fahrer
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
ausschließen können. Nach den einschlägigen
Vorschriften obliegt es dem Fahrer, vor einem
- Umfeldes durch den Fahrer resultieren.
Hierzu soll die Assistenzfunktion in der Lage
sein, sowohl sich schnell von hinten annä-
hernde Verkehrsteilnehmern als auch andere
Fahrstreifenwechsel den hinteren und seitlichen Verkehrsteilnehmer im Toten Winkel des
-
56 Fahrzeugbereich zu kontrollieren. Dabei ist so- eigenen Fahrzeuges wahrzunehmen.
wohl ein Blick in den Außen- und Innenspiegel, Die Assistenzfunktion soll gleichermaßen für
57 als auch ein Schulterblick zwingend vorgeschrie- die Nachbarfahrstreifen sowohl auf der Fahrer-
58
ben. Wird der Schulterblick unterlassen, sind die
Außenspiegel falsch eingestellt oder ist der Fahrer
schlicht unaufmerksam, so können andere Ver-
kehrsteilnehmer im Toten Winkel unter Umstän-
- als auch auf der Beifahrerseite arbeiten.
Idealerweise ist die Assistenzfunktion bei allen
Straßen-, Witterungs- und Verkehrsbedingun-
gen mit annähernd gleicher Qualität verfügbar.
59 den übersehen werden. Wird in einem solchen Fall
ein Fahrstreifenwechsel initiiert, so kann dies zu Eine besondere Bedeutung kommt der Mensch-
60 einer Kollision mit dem Fahrzeug auf dem Nach- Maschine-Schnittstelle (HMI) zwischen Fahrer
barfahrstreifen führen. und Fahrstreifenwechselassistenten zu. Erscheint
50.2 • Anforderungen
961 50
.. Abb. 50.1 Anteil Fahr-
streifenwechselunfälle mit
Hauptursache Pkw an allen
Unfällen nach Straßenart
und Unfalljahr [1]
der Fahrstreifenwechsel aufgrund des vom System In der Informationsstufe 1 wird jedes bei einem
wahrgenommenen Umfelds als potenziell prob- Fahrstreifenwechsel potenziell gefährliche Fahrzeug
lematisch, so wird der Fahrer hierüber geeignet dem Fahrer zur Anzeige gebracht, auch dann, wenn
und rechtzeitig informiert. Die Information kann der Fahrer keinen Fahrstreifenwechsel beabsichtigt.
prinzipiell über optische, akustische oder haptische Die Anzeige in der Informationsstufe 1 sollte für den
Sinneskanäle des Menschen erfolgen. Bei der Aus- Fahrer zwar wahrnehmbar, jedoch auch bei häufiger
legung des HMI sollte jedoch darauf geachtet wer- Aktivierung nicht störend oder ablenkend wirken.
den, dass der Blick des Fahrers in den Spiegel, zu Werden die optischen Anzeigen in bzw. in der Nähe
dem er auch bei aktiviertem Fahrstreifenwechselas- der Außenspiegel positioniert, so kann dieses z. B.
sistenten weiterhin verpflichtet ist, mit unterstützt über eine geeignete Steuerung der Lampenhelligkeit
wird. Hierfür bietet sich die Positionierung von op- in Abhängigkeit vom Umgebungslicht erzielt werden.
tischen Anzeigen in bzw. in der Nähe der Außen- In der Informationsstufe 2 wird zusätzlich die
spiegel an. Durch die räumliche Nähe von Außen- Intention des Fahrers für einen Fahrstreifenwech-
spiegel und optischer Anzeige wird sichergestellt, sel erkannt, z. B. über die Betätigung des Fahrtrich-
dass der Fahrer beim Blick in den Spiegel simultan tungsanzeigers (Blinkerhebels). Beabsichtigt der
die optischen Informationen der Assistenzfunktion Fahrer einen Fahrstreifenwechsel duchzuführen,
wahrnehmen kann. Die Helligkeit dieser optischen und wird dieser Fahrstreifenwechsel aufgrund des
Anzeigen sollte hierbei so gestaltet sein, dass diese vom System wahrgenommenen Umfelds als poten-
einerseits bei allen vorkommenden Umgebungs- ziell gefährlich bewertet, dann sollte eine intensivere
bedingungen für den Fahrer gut wahrnehmbar Information an den Fahrer erfolgen. Bei einer Fah-
sind. Andererseits darf der Fahrer und auch Fahrer rerinformation über optische Anzeigen in bzw. in
anderer Fahrzeuge durch die optischen Anzeigen der Nähe der Außenspiegel kann dies z. B. über ein
insbesondere bei Nacht nicht irritiert oder geblen- sehr helles, kurzes Aufblinken der optischen Anzei-
det werden. gen realisiert werden. Auch haptische oder akusti-
Bei der Auslegung des HMI ist ebenfalls zu sche Informationen können hierfür genutzt werden.
entscheiden, ob die Fahrerinformation einstufig Ebenfalls wichtig für den Fahrstreifenwechsel
oder zweistufig erfolgen soll. Bei einer zweistufigen assistenten ist eine intelligente Informationsstra-
Fahrerinformation wird von der Informationsstufe tegie. Um eine ausreichende Kundenakzeptanz zu
1 zur Informationsstufe 2 eskaliert, sobald die In- gewährleisten, muss der Fahrstreifenwechselassis-
tention des Fahrers für einen Fahrstreifenwechsel tent einerseits alle als potenziell gefährlich wahr-
erkannt wird. Bei einer einstufigen Fahrerinforma- genommenen Verkehrssituationen zuverlässig zur
tion unterbleibt diese Eskalation. Anzeige bringen. Andererseits müssen unnötige
962 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz
48
so langsam und noch so weit entfernt ist, dass ein
Fahrstreifenwechsel gefahrlos möglich ist. Eben-
falls unnötig ist die Information über ein geradeaus
fahrendes Fahrzeug auf dem übernächsten benach-
- annähern.
Typ II-Systeme informieren über Fahrzeuge,
die sich von hinten auf der linken und rechten
Seite annähern. Sie informieren nicht über
49 barten Fahrstreifen. Die Informationsstrategie muss Fahrzeuge im Toten Winkel auf der linken
50
somit die Messdaten der Umfeldsensoren auswerten
und anhand dieser sehr sorgfältig entscheiden, ob
eine Fahrerinformation erfolgen soll oder nicht. - oder rechten Seite.
Typ III-Systeme informieren sowohl über
Fahrzeuge im Toten Winkel als auch über sich
von hinten annähernde Fahrzeuge, beides
51 sowohl auf der linken als auch auf der rechten
50.3 Klassifikation Seite.
52 der Systemfunktionalität
Die Systeme vom Typ II und III werden weiterhin
In der aktuellen ISO-Norm 17387 „Lane Change in drei Unterklassen aufgeteilt. Diese werden in
53 Decision Aid System“ werden verschiedene Aus- der genannten Norm durch die maximal zulässige
prägungen des Fahrstreifenwechselassistenten Relativgeschwindigkeit des sich von hinten annä-
54 spezifiziert und in diverse Subtypen klassifiziert. hernden Zielfahrzeugs vmax sowie durch die minimal
Weiterhin wird ein Systemstatusdiagramm mit den zulässigen Kurvenradien Rmin unterschieden. Eine
55 Systemstatus und Übergangsbedingungen spezifi- Übersicht zeigt . Tab. 50.2.
ziert. Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt. Die maximale Relativgeschwindigkeit zwischen
Ego-Fahrzeug und dem sich von hinten annähernden
56 Fahrzeug hat bei gegebener Rechenzeit des Systems
50.3.1 Klassifikation nach Leistung und bei einer vorgegebenen minimalen Reaktionszeit
57 der Umfelderfassung des Fahrers einen direkten Einfluss auf die benötigte
Sensorreichweite. Bei vmax = 20 m/s, einer Rechenzeit
Nach der ISO-Norm 17387 sind drei Systemtypen des Systems von 300 ms und einer geforderten mini-
58 zu unterscheiden. Diese differenzieren sich über die malen Reaktionszeit von 1,2 s beträgt die minimale
von den Umfeldsensoren überwachten Zonen. Eine Sensorreichweite 20 m/s × (1,2 s + 0,3 s) = 30 m. Soll
59 Übersicht zeigt . Tab. 50.1. auch bei größeren Annäherungsgeschwindigkeiten
noch rechtzeitig informiert werden, so muss die Sen-
60 Die genannten Systemtypen weisen folgende Funk- sorreichweite erhöht werden. Bei vmax = 30 m/s ergibt
tionen auf: sich z. B. eine minimale Sensorreichweite von 45 m.
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
963 50
.. Abb. 50.2 System
41 zustandsdiagramm für
einen Fahrstreifenwechsel
assistenten nach
42 ISO 17387 [2]
43
44
45
46
47
48 streifenwechselassistenz ausgestattet, wie z. B. dem Systeme vom Typ I, die ausschließlich den Toten
Audi A4 bzw. A3, dem 3er BMW, dem Ford Focus, Winkel überwachen, werden Ultraschall-, Kamera-
49 der Mercedes B- bzw. A-Klasse, dem Mazda 3, dem und Radarsensoren eingesetzt, jeweils mit Sensor-
Volvo V40 oder dem VW Passat. reichweiten von 3 bis 5 m. Für Systeme vom Typ
50 Die Systeme der einzelnen Fahrzeughersteller III, die sowohl über Fahrzeuge im Toten Winkel als
unterscheiden sich in ihrer Ausprägung teilweise auch über sich von hinten annähernde Fahrzeuge
deutlich voneinander, wobei sie sich größtenteils informieren, werden ausschließlich Radarsenso-
51 in die unterschiedlichen Kategorien der ISO 17387 ren jeweils mit einer Reichweite von 70 bis 100 m
einordnen lassen, so wie sie in ▶ Abschn. 50.3 be- (Klasse B) eingesetzt. Aufgrund ihrer eingeschränk-
52 schrieben werden. Die Unterschiede ergeben sich ten Sensorreichweite scheiden Ultraschall- und Ka-
hauptsächlich durch merasensoren für Typ-III-Systeme ebenso aus wie
a) die unterschiedlichen Sensoren, die zur Umfeld- Radarsensoren mit geringer Reichweite (Klasse
53 wahrnehmung eingesetzt werden, A). Deutlich wird ebenfalls, dass eine mehrstufige
b) die Anzahl der Informationsstufen, sowie Fahrerinformation aktuell nur bei Radar-basierten
54 c) die Klassifizierung in Typ I und Typ III Systeme. Systemen erfolgt.
Um sich von ihren Wettbewerbern zu differen-
55 . Tabelle 50.3 zeigt eine Übersicht der sich aktuell zieren, sicherlich aber auch um die herstellerspezi-
auf dem Markt befindlichen Fahrstreifenwechsel fische Systemfunktionalität zu verdeutlichen, wur-
assistenz-Systeme aufgeteilt nach diesen drei Kri- den bei den unterschiedlichen Fahrzeugherstellern
56 terien. Um einen Systemvergleich zu erleichtern, jeweils unterschiedliche Produktnamen gewählt.
wurde hierbei eine dritte Informationsstufe einge- So wird der Fahrstreifenwechselassistent bei Audi
57 führt. Fahrzeughersteller, die ihre Systeme wahl- „Audi Side Assist“ genannt. Das nahezu baugleiche
weise mit zweistufiger oder dreistufiger Fahrerin- System heißt bei VW „Side Assist“. Bei BMW trägt
formation anbieten, sind doppelt genannt. es den Namen „Spurwechselwarnung“. Das System
58 Deutlich wird, dass viele Hersteller mittlerweile von Citroën heißt „Toter Winkel Assistent“. Ford
Systeme vom Typ I oder Typ III für ihre Fahrzeuge nutzt den Namen „Blind Spot Information System“.
59 anbieten. Systeme vom Typ II ohne Tote-Winkel- GM wählte den Namen „Side Blind Zone Alert“.
Information, die ausschließlich über sich von hinten Mercedes-Benz nennt sein System „Totwinkel-As-
60 annähernde Fahrzeuge informieren, werden dage- sistent“. Mazda wiederum nutzt den Namen „Rear
gen auf dem Markt aktuell nicht angeboten. Für Vehicle Monitoring System“. Nissan/Infiniti be-
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
965 50
Kamera Volvo
2 Stufig GM, Mercedes Benz Radar (B) Audi, BMW, Mazda, Porsche, Volvo, VW
zeichnet sein System als „Side Collision Prevention“. beiden hinteren Sensoren dienen zur Überwachung
Volvo taufte sein System auf den Namen „Blind Spot des Toten Winkels. Die beiden vorderen Sensoren
Information System“. werden allein für eine Plausibilitätsprüfung genutzt.
Im Folgenden wird aus den Kategorien der Citroën hat den „Toten Winkel Assistent“ 2010
. Tab. 50.3 das Serien-System jeweils eines Fahr- erstmals im C4 eingeführt und bietet ihn dort ak-
zeugherstellers exemplarisch vorgestellt (siehe tuell als Zusatzausstattung für 290,- € im Paket mit
Unterstrich). Hierbei werden die Unterschiede in einer Reifendruckkontrolle an.
Funktionalität, Sensorik und Fahrerinformation
herausgearbeitet.
50.4.2 „Blind Spot Information
System“ (BLIS) von Volvo
50.4.1 „Toter Winkel Assistent“
von Citroën Das BLIS von Volvo informiert den Fahrer über
Fahrzeuge, die sich im Toten Winkel seines Fahr-
Der „Tote Winkel Assistent“ von Citroën infor- zeugs aufhalten. Insbesondere im dichten Verkehr
miert den Fahrer, sobald sich ein Auto oder ein sollen so Verkehrsunfälle bei Fahrstreifenwechseln
Motorrad im Toten Winkel des eigenen Fahrzeugs vermieden werden. Das System basiert auf zwei
befindet. In diesem Fall leuchtet eine Warn-Leucht- in den Außenspiegeln integrierten Digitalkame-
diode in einem der äußeren Rückspiegel gelb auf ras. Diese Kameras sind nach hinten ausgerich-
(. Abb. 50.3a). Eine zweite Warnstufe, ausgelöst tet und überwachen den Verkehr auf den beiden
z.B. durch eine Betätigung des Fahrtrichtungsan- Nachbarfahrspuren rechts und links vom eigenen
zeigers, ist nicht vorgehalten. Das System ist bei Ge- Fahrzeug (siehe . Abb. 50.4a). Wenn ein Fahrzeug
schwindigkeiten zwischen 10 und 140 km/h über in den Toten Winkel eintritt, dann leuchtet eine
einen Taster aktivierbar. Außerhalb dieser Grenzen Lampe in der rechten oder linken A-Säule dezent
erfolgt keine Warnung an den Fahrer. Gemäß Her- auf, um den Fahrer hierüber zu informieren (siehe
stellerangaben unterstützt das System den Fahrer in . Abb. 50.4a). Eine Eskalation der Fahrerinforma-
komplexen Verkehrssituationen bei niedrigen Rela- tion z. B. bei Betätigung des Fahrtrichtungsanzei-
tivgeschwindigkeiten und entlastet ihn daher haupt- gers erfolgt nicht.
sächlich innerorts im Stadtverkehr und auf Stadt- Der Überwachungsbereich der Kameras beschränkt
autobahnen sowie auf mehrspurigen Landstraßen. sich auf einen 3 m breiten und 9,5 m langen Korri-
Der durch das System überwachte Bereich er- dor links und rechts neben dem eigenen Fahrzeug
streckt sich bis ungefähr 5 Meter hinter den hinte- (siehe . Abb. 50.4b). BLIS erfasst dabei alle Objekte,
ren Stoßfängern und bis 3,5 Meter seitlich neben die sich bis zu 70 km/h schneller bzw. 20 km/h lang-
das eigene Fahrzeug. Als Sensoren kommen vier samer als das eigene Fahrzeug bewegen.
Ultraschallsensoren zum Einsatz, die im vorderen Diese Kamera basierte Version des BLIS wurde
und hinteren Stoßfänger seitlich verbaut sind. Die von Volvo im Modelljahr 2005 eingeführt und an-
966 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz
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45
.. Abb. 50.3 „Toter Winkel Assistent“ von Citroën [3, 4]: a) Gelbe Leuchte hinter Spiegelglas des Außenspiegels, b) Prinzipdar-
46 stellung der Funktion
49
50
51
52 schließend schrittweise in nahezu allen Volvo Pkw res Fahrzeug (Lkw, Pkw, Motorrad, Fahrrad, etc.)
angeboten. 2012 stellte Volvo das Radar basierte im Toten Winkel des Fahrzeuges befindet, wird der
Enhanced BLIS vom Typ III vor [6], das aktuell in Fahrer über eine gelbe, hinter dem Spiegelglas inte-
53 den Modellen S60, V40, V60 und XC60 erhältlich grierte Warnleuchte im Außenspiegel der betroffe-
ist. Das Kamera basierte BLIS wird aktuell in den nen Seite aktiv darauf hingewiesen (. Abb. 50.5a).
54 Modellen S80, V70, XC70 und XC90 angeboten. Im Das „Blind Spot Information System“ garantiert
V40 wir das System für 540,- € verkauft. In allen gemäß Ford durch eine erweiterte Sicht eine Stress-
55 anderen Modellen beträgt der Mehrpreis jeweils reduzierung für den Fahrer und somit eine erhöhte
620,- €. Sicherheit im Straßenverkehr. Die Aktivierungsge-
Volvo ist aktuell der einzige Fahrzeughersteller, schwindigkeit des Systems liegt bei 10 km/h.
56 der ein Kamera basiertes System zur Fahrstreifen- Die Radarsensoren sind seitlich am hinteren
wechselassistenz vertreibt. Stoßfänger platziert. Sie arbeitet im Frequenzbe-
57 reich bei 24 GHz. Mit mehreren ausgeprägten An-
tennenkeulen wird die Überwachung des Seitenbe-
50.4.3 „Blind Spot Information reiches vorgenommen und eine Winkelzuordnung
58 System“ von Ford der Objekte ermöglicht (. Abb. 50.5b). Auf der Fah-
rer- und Beifahrerseite wird ein Bereich überwacht,
59 Das „Blind Spot Information System“ von Ford der ca. 3 m breit ist und von den seitlichen Rück-
überwacht während der Fahrt automatisch den spiegeln bis ca. 3 m hinter das Fahrzeugheck reicht.
60 Toten Winkel neben dem Fahrzeug mit Hilfe von Gegenwärtig bietet Ford seinen Kunden in
Nahbereichsradarsensoren. Sobald sich ein ande- Deutschland das „Blind Spot Information System“
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
967 50
.. Abb. 50.5 „Blind Spot Information System“ von Ford: a) Gelbe Leuchte hinter Spiegelglas des Außenspiegels [7], b) Sichtbe-
reich des Radarsensors [8]
im Focus, Mondeo, C-Max, S-Max, Kuga und Ga- dauerhaft angezeigt. Eine erneute akustische Fahrer
laxy als Zusatzausstattung Fahrzeug- und Varian- information erfolgt nicht.
tenabhängig für einen Mehrpreis zwischen 390,- Ignoriert der Fahrer dies und leitet einen Fahr-
und 675,- € an. streifenwechsel ein, indem er sein Fahrzeug in
Systeme mit ähnlicher Radarsensorik und Fah- Richtung des benachbarten, belegten Fahrstreifens
rerinformation werden aktuell von Jaguar, Jeep, lenkt, so besteht unmittelbare Kollisionsgefahr. Dies
Land Rover und Lexus angeboten. erkennt der Aktive Totwinkel-Assistent mit Hilfe ei-
ner Kamera zur Erkennung von Markierungslinien
sowie von vorne und hinten verbauten Radarsen-
50.4.4 „Aktiver Totwinkel-Assistent“ soren zur Erkennung anderer Verkehrsteilnehmer,
von Mercedes Benz und nimmt einen kurskorrigierenden Bremseingriff
vor, der vom Fahrer aber jederzeit übersteuert wer-
Der „Aktive Totwinkel-Assistent“ von Mercedes den kann. Zusätzlich wird der Fahrer durch Doppel-
Benz überwacht den Toten Winkel des eigenen ton, dauerhaftes Blinken der roten Leuchten sowie
Fahrzeugs auf der Fahrer- und Beifahrerseite mit einer Anzeige im Multifunktionsdisplay gewarnt.
Hilfe von Nahbereichsradarsensoren. Diese senden Der kurskorrigierende Bremseingriff des Aktiven
breitbandig bei einer Mittenfrequenz von 24 GHz Totwinkel-Assistent steht in einem Geschwindig-
und sind von außen unsichtbar im Front- und keitsbereich zwischen 30 und 200 km/h zur Verfü-
Heckstoßfänger des Fahrzeugs integriert. gung. Bis zu einer Fahrzeuggeschwindigkeit von 30
Sobald ein Fahrzeug im überwachten Bereich km/h ist der Totwinkel-Assistent inaktiv, die Kon-
erkannt wird, erfolgt eine Information an den Fah- trollleuchten im linken und rechten Außenspiegel
rer durch ein rotes, dauerhaftes Leuchten der hinter leuchten dann gelb.
dem Spiegelglas des Außenspiegels nahezu unsicht- In . Abb. 50.6b ist der Erfassungsbereich der
bar verbauten optischen Anzeigen (. Abb. 50.6a). Sensoren dargestellt. Überwacht wird ein Bereich
Wird ein Fahrzeug im Totwinkel-Überwachungs- von ca. 3 m Breite, gemessen in einem Abstand
bereich erkannt, und hat der Fahrer den Fahrtrich- von der Fahrzeugseite von ca. 50 cm. Die Länge
tungsanzeiger aktiviert, so erfolgt ein Hinweis auf des überwachten Bereiches reicht von der Schulter-
eine drohende Kollision. Hierzu ertönt einmalig ein höhe des Fahrers bis ca. 3 m hinter den hinteren
Doppelton und die rote Leuchte blinkt. Bleibt der Stoßfänger.
Fahrtrichtungsanzeiger eingeschaltet, werden er- In bestimmten Ländern und in der Nähe von
kannte Fahrzeuge durch Blinken der roten Leuchte radioastronomischen Anlagen müssen die Radar-
968 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz
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46 .. Abb. 50.6 „Totwinkel-Assistent“ von Mercedes-Benz [5]: a) Integration der Leuchte im Außenspiegel, b) Erfassungsbereich
Die Radarsensoren des „Audi Side Assist“ ar- wärtigem Verkehr den Fahrstreifen zu wechseln, so
beiten als sog. Schmalband-Systeme innerhalb der erfolgt ein Lenkeingriff ergänzt durch eine leichte
Vorgaben des ISM-Bandes zwischen 24,000 GHz Vibration des Lenkrades sowie durch das Blinken
und 24,250 GHz. Ihre Sendeleistung von maxi- der Leuchten in den Außenspiegeln. Der Lenkein-
mal 20 dBm EIRP ist konform zur Europäischen griff kann hierbei jederzeit vom Fahrer übersteuert
Norm EN 300 440. Eine spezielle Modifikation werden.
der Funkzulassungsvorschriften ist für diese Ra- Der Ersteinsatz des „Side Assist Plus“ erfolgte
darsensoren nicht erforderlich. Sie unterliegen 2011 im Passat. Im Paket mit dem „Lane Assist“
nicht den Restriktionen von breitbandig senden- beträgt der Mehrpreis für das als Zusatzausstattung
den 24 GHz-Radaren und müssen in der Nähe angebotene System bei CC und Passat 1.100,- €.
von radioastronomischen Anlagen nicht abge- Ohne aktiven Lenkeingriff wird der „Side Assist“
schaltet werden. in diesen Fahrzeugen für 550,- € offeriert. In Toua-
Der „Audi Side Assist“ wurde erstmalig 2005 im reg bzw. Phaeton beträgt der Preis des „Side Assist“
Audi Q7 angeboten. Heute ist das System in nahezu 605,- € bzw. 610,- €.
allen Audi-Fahrzeugen erhältlich. Der Mehrpreis Diese Kombination eines Typ III Systems mit
für das als Zusatzausstattung angebotene System einer dreistufigen Fahrerinformation ist bislang ein-
beträgt aktuell 500,- € im Audi A3, A6, A7 und malig und wird aktuell von keinem anderen Fahr-
Q3, 550,- € im Audi A4, RS4, A5, und Q5, 600,- € zeughersteller angeboten.
im Audi Q7 bzw. 800,- € im Audi A8 im Paket mit
„Audi pre sense rear“.
Mit dem „Audi Side Assist“ eng verwandte Sys- 50.4.7 Nutzfahrzeuge
teme kommen bei Porsche und VW zum Einsatz.
Ähnliche Sensoren wie bei Audi werden bei BMW, Bei den leichten Nutzfahrzeugen haben Fahrstrei-
Mazda und Volvo eingesetzt. fenwechsel-Assistenten bereits Einzug gehalten.
VW Nutzfahrzeuge bietet z. B. den „Side Assist“
in den Modellen Caravelle, Multivan, California
50.4.6 „Side Assist Plus“ von VW und Transporter in einem Paket zusammen mit
anderen Ausstattungen an. Die Preise liegen hier-
Der „Side Assist Plus“ erweitert die Funktion des bei zwischen 952,- € und 1.154,- €. Mercedes bietet
„Side Assist“ von VW mit Hilfe eines Kamera ba- seinen „Totwinkel-Assistent“ im Sprinter in einem
sierten Systems zur Querführungsassistenz (Lane Ausstattungspaket für 1.178,- € an.
Assist). Die wesentliche Neuerung des „Side Assist Bei schweren Nutzfahrzeugen sind Fahrstrei-
Plus“ ist die dritte Warnstufe: Erkennt das System fenwechsel-Assistenten zurzeit kaum verbreitet,
beispielsweise die Absicht des Fahrers, trotz rück- obwohl es bei diesen im Vergleich zu Pkw deutlich
970 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz
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48 .. Abb. 50.8 : „Spurwechselunterstützung“ von Volvo Trucks [14]: a) LED-Anzeige im Bereich der Haltestange bzw. A-Säule, b)
Überwachter Bereich auf der Beifahrerseite
49 größere, schwer einsehbare Bereiche gibt. Ursache Gegenwärtig gibt es kein Seriensystem für
hierfür ist wohl die besondere Anforderung schwe- schwere Nutzfahrzeuge, das den gesamten Sei-
50 rer Nutzfahrzeugen, die Sensoren möglichst nur an tenbereich links und rechts neben dem Sattel-
der Zugmaschine zu verbauen, damit nach einem zug vollständig überwacht. Die exemplarische
Wechsel des Sattelaufliegers das System weiterhin Umsetzung eines solchen Systems ist jedoch von
51 funktionsfähig bleibt. Folglich müssen die Sensoren SCANIA im Rahmen eines Forschungsprojektes
vorzugsweise an der Zugmaschine montiert sein. realisiert worden [15, 16]. Dort werden beide Sei-
52 Dort müssen sie eine Position einnehmen, die eine tenbereiche vollständig überwacht, indem jeweils
direkte Sicht auf den zu überwachenden Seitenbe- auf der rechten und linken Lastzugseite neben
reich erlaubt. Ferner ist festzuhalten, dass es aktuell einem Radarsensor im Seitenbereich der Kabine
53 keine Norm für derartige Systeme im Segment der ein zusätzlicher Radarsensor im Außenspiegel
schweren Nutzfahrzeuge gibt. verbaut worden ist (. Abb. 50.9a). Die rückwärts
54 Nichtsdestotrotz existieren erste Systeme, die gerichteten Sensoren in den Außenspiegeln weisen
Teile des Seitenbereichs abdecken: Unter der Be- einen schmalen Öffnungswinkel auf, um eine hohe
55 zeichnung „Spurwechselunterstützung“ bietet ak- Reichweite bei gleicher Sendeleistung zu ermög-
tuell ausschließlich Volvo ein System für Lkw an, lichen. Die seitlich schauenden Radare arbeiten
das den Toten Winkel auf der Beifahrerseite über- hingegen mit einem sehr großen Öffnungswinkel
56 wacht (. Abb. 50.8b). Hierzu nutzt Volvo einen (. Abb. 50.9 Mitte).
24 GHz-Radarsensor mit großem Öffnungswinkel, Ein zonenbasiertes Warnkonzept unterstützt
57 der über dem Radhaus und unter dem Stauraum den Fahrer beim Einschätzen der Position ande-
auf der Beifahrerseite verbaut ist. Das System in- rer Fahrzeuge in dem auch über Zuhilfenahme
formiert den Fahrer über eine Leuchte in der A- der Außenspiegel nur schwer einsehbaren Sei-
58 Säule der Beifahrerseite (. Abb. 50.8a), wenn der tenbereich neben dem Sattelzug. Hierzu wurden
überwachte Bereich belegt ist, die Geschwindigkeit insgesamt drei Zonen definiert, die jeweils einer
59 mehr als 35 km/h beträgt und der Fahrtrichtungs- LED-Anzeige im Spiegel bzw. der A-Säule zugeord-
anzeiger betätigt wurde. Wahlweise kann vom Fah- net sind (. Abb. 50.9). Somit ist der Fahrer immer
60 rer ein zusätzliches akustisches Signal ausgewählt informiert, in welcher der drei Zonen sich gerade
werden. andere Verkehrsteilnehmer aufhalten.
50.5 • Systembewertung
971 50
50.5 Systembewertung
wurde im Vergleichstest der Auto-Bild für alle Typ Dies kann durch einen kurskorrigierenden Brems-
41 I Systeme die schlechte Wahrnehmbarkeit der Stufe eingriff erfolgen, wobei durch das gezielte Anbrem-
1 Fahrerinformation kritisiert. sen einzelner Räder ein Moment so aufgebracht
42 Zur Fahrerinformation der Stufe 1 haben sich wird, dass das Ego-Fahrzeug in die alte Fahrspur
mittlerweile Leuchten in oder in der Nähe der zurückgeführt wird (Mercedes, Infiniti), oder über
Außenspiegel etabliert. Der Einbauort der Leuch- einen Lenkeingriff mittels elektromechanischem
43 ten variiert fahrzeugherstellerspezifisch zwischen Lenksystem (VW). Als vorteilhaft ist hier das Ab-
A-Säule (Volvo), Spiegeldreieck (Infiniti, Mazda), wenden einer unmittelbaren Gefahrensituation zu
44 Spiegelgehäuse des Außenspiegels (Audi, BMW, nennen. Nachteilig ist jedoch, dass zur technischen
Porsche, VW) und äußerem Rand des Spiegelglases Realisierung eines solchen Systems immer auch ein
45 (Citroën, Ford, GM, Jaguar, Jeep, Land Rover, Mer- zusätzlicher Sensor zur Fahrstreifenerkennung er-
cedes, Opel). Auch die Detailausprägung der opti- forderlich ist, wodurch sich die Systemkosten in der
schen Anzeige variiert fahrzeugherstellerspezifisch Regel mindestens verdoppeln. Dies wurde auch im
46 zwischen roten und gelben optischen Anzeigen, die Vergleichstest der Auto-Bild bemängelt.
als leuchtende Punkte, Piktogramme oder Flächen Systeme zur Fahrstreifenwechselassistenz sind
47 ausgeführt sind. Durch Position, Größe, Helligkeit bei schweren Nutzfahrzeugen aktuell kaum verbrei-
und Farbe der Leuchten versuchen die Fahrzeug- tet. Bei der Systemauslegung müssen sicherlich die
hersteller letztendlich die Wahrnehmbarkeit der spezifischen Anforderungen der Lkw-Branche be-
48 Stufe 1 Fahrerinformation herzustellen, die sie rücksichtigt werden. Die grundsätzlichen Kriterien
für ihr jeweiliges System als angemessen erachten. zur Auslegung von Sensorik und Fahrerinformation
49 Punktförmige Leuchten oder Piktogramme, die hin- sind aber wahrscheinlich ähnlich wie bei Pkw.
ter dem Spiegelglas des Außenspiegels integrierten
50 sind, wurden im Auto-Bild Vergleichstest als „zu
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit
schwach“, „nur schwer zu erfassen“ oder „eher mä-
ßig erkennbar“ kritisiert. Zudem wurde befürchtet,
51 dass sie bei hellem Hintergrund nicht sichtbar oder Die Leistungsfähigkeit der zuvor beschriebenen
durch Scheinwerfer anderer Fahrzeuge überstrahlt Fahrstreifenwechselassistenten ist bereits beachtlich.
52 werden können. Lobend erwähnt wurden jeweils All diese Systeme haben aber ihre Grenzen, auf wel-
große Leuchten mit einer vom Fahrer einstellbaren che der Fahrer von den Fahrzeugherstellern u. a. in
Helligkeit. der Bedienungsanleitung aufmerksam gemacht wird.
53 Auch für die Fahrerinformation der Stufe 2 ha- Unisono weisen nahezu alle Fahrzeugherstel-
ben sich die Leuchten in bzw. in der Nähe der Au- ler darauf hin, dass ihr System nur ein Hilfsmittel
54 ßenspiegel etabliert. Nahezu alle Fahrzeughersteller, ist, möglicherweise nicht alle Fahrzeuge erkennt
die ein zweistufiges System anbieten, informieren und die Aufmerksamkeit des Fahrers nicht erset-
55 den Fahrer durch ein helles, mehrmaliges Blinken zen kann. Weiterhin weisen alle Fahrzeughersteller
dieser Leuchten. Bei einigen Fahrzeugherstellern darauf hin, dass bei verschmutzten Sensoren oder
erfolgt zusätzlich ein Warnton (Mazda, Mercedes) widrigen Witterungsbedingungen wie z. B. Regen,
56 oder eine Lenkradvibration (BMW). Ob es sinnvoll Schnee oder starker Gischt Fahrzeuge unzurei-
ist, in der zweiten Stufe neben einer optischen auch chend oder unter Umständen gar nicht erkannt
57 eine akustische oder haptische Fahrerinformation werden.
auszugeben, darüber lässt sich unter Experten si- Bei Fahrzeugen mit im Heckstoßfänger verbau-
cherlich vortrefflich diskutieren. Der erhöhte Kun- ten 24 GHz-Radaren sind die Systeme nicht nutz-
58 dennutzen einer mehrstufigen Fahrerinformation bar, wenn der Sichtbereich der Sensoren durch z. B.
ist dagegen offensichtlich. Fahrradträger, Anhänger oder Aufkleber verdeckt
59 Wesentliches Merkmal der Fahrerinformation wird.
in der Stufe 3 ist ein Eingriff in die Querführung Beim „Audi Side Assist“ und beim „Side Assist“
60 des Fahrzeugs, sobald dieses beginnt, auf den Nach- von VW wird darauf hingewiesen, dass der Fahrer
barfahrstreifen zu fahren, obgleich dieser belegt ist. über Fahrzeuge mit sehr hoher Annäherungsge-
50.7 • Literatur
973 50
schwindigkeit nicht rechtzeitig informiert werden Fahrstreifen werden aktuell meist rein Kamera-ba-
kann. In engen Kurven mit Radien unterhalb von sierte Systeme verwendet. Diese unterliegt diversen
200 m erfolgt keine Fahrerinformation. Einschränkungen, die Verfügbarkeit und Robustheit
Weiterhin kann es zu Fehlern bei der Fahr- des Systems beeinträchtigen.
streifenzuordnung kommen, da die Breite der be- Wünschenswert ist daher die Erstellung eines
nachbarten Fahrstreifen nicht gemessen sondern Fahrbahnmodells, das sich zusätzlich zu den Mess-
geschätzt wird. So wird darauf hingewiesen, dass daten der Kamera auch auf die Messdaten andere
bei sehr breiten Fahrstreifen in Kombination mit Sensoren abstützt. So können zur Stützung des
einer Fahrweise, bei der die Fahrzeuge jeweils am Fahrbahnmodells neben dem Verlauf der Markie-
äußeren Rand ihres Fahrstreifens fahren, die Infor- rungslinien auch andere Merkmale wie z.B. der
mation über Fahrzeuge auf dem Nachbarstreifen Verlauf von Leitplanken, der Verlauf des Übergangs
möglicherweise unterbleibt. Bei engen Fahrstreifen zwischen Asphalt und Grünstreifen, die Fahrweise
in Kombination mit einer Fahrweise, bei der die anderer Fahrzeuge sowie Kartendaten mit z.B. An-
Fahrzeuge jeweils am inneren Rand ihres Fahrstrei- gabe von Krümmung, Anzahl und Breite von Fahr-
fens fahren, kann es möglicherweise zu unnötigen streifen herangezogen werden.
Fahrerinformationen über Fahrzeuge auf dem über- Momentan helfen Fahrstreifenwechselassisten-
nächsten Fahrstreifen kommen. ten dem Fahrer nur bei der Entscheidung, ob ein
Diese Fehler bei der Fahrstreifenzuordnung Fahrstreifenwechsel möglich ist oder nicht; der
können durch eine Ergänzung mit Systemen zur Fahrstreifenwechsel selbst muss vom Fahrer allein
Fahrstreifenerkennung teilweise vermieden wer- durchgeführt werden. Mithilfe von Sensoren, wel-
den. Aber auch die meist Kamera basierte Fahr- che den gesamten Nachbarfahrstreifen vor, neben
streifenerkennung unterliegt aktuell vielen Ein- und hinter dem eigenen Fahrzeug erfassen, dem
schränkungen wie z.B. dem Vorhandensein von oben beschriebenen Fahrbahnmodell inklusive
Markierungslinien sowie deren Sichtbarkeit, die verbesserter Odometrieschätzung in Kombination
durch Verschmutzung der Fahrbahn oder des Sen- mit einer elektronisch ansteuerbaren Lenkaktorik
sors sowie durch z.B. Nebel und Starkregen ver- könnte auch dieser Schritt assistiert werden; durch
schlechtert werden kann. geeignete Lenkmomente könnte die Querführung
Somit zeigt sich, dass die oben beschriebenen während eines Ein- oder Ausschermanövers unter-
Fahrstreifenwechsel-Assistenzsysteme aus reiner stützt [18] oder sogar automatisiert werden.
Nutzerperspektive weiter verbessert werden könnten.
Literatur
50.7 Weiterentwicklungen
[1] Unfalldatenbank der Volkswagen Unfallforschung und der
GIDAS (German In‐Depth Accident Study)
Eine Verbesserung der Systemfunktionalität von
[2] ISO‐Norm 17387, “Lane Change Decision Aid System”
Fahrstreifenwechselassistenten kann durch eine [3] Heise Online: Der neue Citroën DS4: Bilder und Details
Leistungssteigerung der Umfeldsensoren erzielt (2010). http://www.heise.de/autos/artikel/Der-neue-Cit-
werden, indem z. B. Sensorreichweiten erhöht und roen-DS4-Bilder-und-Details-1069445.html, Zugegriffen:
der Geschwindigkeitsbereich, in welchem die Sen- 9.9.2013
[4] Citroën Homepage: Fahrerassistenzsysteme. http://www.
soren zuverlässig betrieben werden können, erwei-
citroen.de/technologien/toter-winkel-assistent.html#/
tert wird. technologie/fahrassistenzsysteme/toter-winkel-assistent/,
Wie in ▶ Abschn. 50.6 geschildert kann es auf- Zugegriffen: 9.9.2013
grund der fehlerhaften Fahrstreifenzuordnung [5] Internet Magazin Gizmag, Volvo Launches Blind Spot Infor-
fremder Fahrzeuge zu überflüssigen oder ausblei- mation System (BLIS), http://www.gizmag.com/go/2937/,
Zugriff am 11.7.2008
benden Fahrerinformationen kommen. Dies kann
[6] Volvocars homepage: The All‐New Volvo V40‐the most
vermieden werden, wenn das System neben der IntelliSafe Volvo ever, http://m.volvocars.com/za/mobile/
Position des Zielfahrzeuges auch die Position der Pages/News.aspx?itemId=63, Zugriff am 9.9.2013
Nachbarfahrstreifen erkennt. Zur Detektion von
974 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz
46 dcmedia/0-921-658892-49-1298797-1-0-0-0-0-1-11702-
1549054-0-1-0-0-0-0-0.html, Zugriff am 9.9.2013
[11] Vukotich, A.; Popken, M.; Rosenow, A.; Lübcke, M.: Fahreras-
47 sistenzsysteme, Sonderausgabe von ATZ und MTZ, S. 170
– 173, 2, (2008)
[12] Popken, M.: Audi Side Assist. Hanser Automotive electro-
48 nics + systems 7–8, 54–56 (2006)
[13] Bedienungsanleitung des Audi Q7 und VW Touareg
[14] Volvo Produktinformation zu Spurwechselunterstützung
49 LCS, http://productinfo.vtc.volvo.se/files/pdf/hi/LCS_
Ger_02_880763.pdf, Zugriff am 9.9.2013
[15] Degerman, P.; Ah‐King, J.; Nyström, T.; Meinecke, M.‐M.;
50 Steinmeyer, S.: Targeting lane‐change accidents for heavy
vehicles, VDI/VW‐Tagung Fahrerassistenz und Integrierte
Sicherheit, Wolfsburg, (2012).
51 [16] Meinecke, M.‐M.; Steinmeyer, S.; Ah‐King, J.; Degerman, P.;
Nyström, T.; Deeg, C.; Mende, R.: Experiences with a radar‐
based side assist for heavy vehicles, International Radar
52 Symposium, Dresden, (2013).
[17] Auto‐Bild, Heft 11/2013: Was taugen Totwinkelwarner?
55
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60
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Kreuzungsassistenz
Mark Mages 1, Alexander Stoff, Felix Klanner
1 Der Beitrag zu dieser Veröffentlichung wurde während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitar-
beiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Darmstadt erarbeitet.
-
51 b) Unaufmerksamkeit, d. h. Ablenkung von der mation und Warnung),
eigentlichen Fahraufgabe, welche zu stark ver- Mitte: Querverkehrsassistenz an Vorfahrt Ach-
12 längerten Reaktionszeiten führt: Ein typisches
Beispiel ist die Bedienung des Autoradios.
- ten (gestaffelt in Information und Warnung),
links unten: Ampelassistenz mit Geschwindig-
13
14
c) Mangelnde Berücksichtigung möglicher Sicht-
behinderungen an einer Kreuzung: Fahrzeug-
bezogen wirkt häufig die A-Säule behindernd,
hinter der insbesondere Zweiräder leicht ver-
- keitsempfehlung,
rechts: Linksabbiegeassistenz.
liche Unterscheidung z. B. zum Zwecke der Erfas- Haltelinie vorgegeben. Verglichen mit den von an-
sung in Unfalldatenbanken nicht immer eindeutig deren betrachteten Assistenzansätzen adressierten
ist, weshalb die Zuordnung in Unfallstatistiken nur Verkehrssituationen weist dieses Kreuzungsszenario
teilweise (beispielsweise aufgrund einer Unfallre- daher die geringste Komplexität auf.
konstruktion) möglich ist. In [6] wird die Kombination aus Informa-
Ein isoliertes System zur STOP-Schild-Assistenz tion und Warnung als Eingriffsstrategie eines
erfordert streng genommen keine Berücksichtigung STOP-Schild-Assistenten vorgeschlagen, da sie ei-
anderer Verkehrsteilnehmer, da das Haltegebot ge- nen geeigneten Kompromiss zwischen zu erwarten-
mäß StVO ungeachtet eventueller vorfahrtsberech- der Wirksamkeit und erforderlicher Erkennungs-
tigter Fahrzeuge immer Bestand hat; im Gegensatz sicherheit darstellt und darüber hinaus für den
zu Lichtsignalanlagen unterliegt dieses Gebot zu- aufmerksamen und angemessen agierenden Fahrer
dem keiner zyklischen Änderung. Zusätzlich wird keine unnötigen Systemausgaben generiert. Für die
im Gegensatz z. B. zum Linksabbiegen die Hal- Mensch-Maschine-Schnittstelle bietet sich hier u. a.
teposition des Fahrzeugs durch eine obligatorische die Nutzung des Head-up-Displays (HUD) an, da
978 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
dadurch der Fahrer sowohl die relevante Umgebung einbiegt oder kreuzt“ (amtliche Unfallart 5), und bis
1 als auch die Assistenz ohne anstrengende Akkom- zu einem weiteren Viertel aller Unfälle durch einen
modation wahrnehmen kann. Zusammenstoß mit einem Fahrzeug, „das voraus-
2 Wie bei allen warnenden Systemen ergibt sich fährt oder wartet“ (amtliche Unfallart 2), geschehen
auch für einen warnenden STOP-Schild-Assistenten [5]. Während erstere Kollisionen („Querverkehrs-
die Notwendigkeit, dass der als Warndilemma be- unfall“) hauptsächlich durch eine Rotlichtmissach-
3 zeichnete Zielkonflikt zwischen rechtzeitiger War- tung verursacht werden, passieren letztere („Auf-
nung und Quote der zu erwartenden Falschwarnun- fahrunfall“) überwiegend durch unterschiedliche
4 gen beherrschbar ist. Wesentliche Herausforderung Interpretation der Fahrtmöglichkeiten bei Phasen-
in der Umsetzung eines STOP-Schild-Assistenten wechseln (insbesondere von Grün auf Gelb). Es ist
5 ist demnach – abgesehen von der Sensorik – die ein bekanntes Ziel, mittels verschiedener Maßnah-
rechtzeitige Erkennung, dass der Fahrer nicht die men Rotlichtmissachtungen und damit Unfälle zu
Absicht hat, vor Einfahren in die Kreuzung an der vermeiden. Jedoch hat sich teilweise gezeigt, dass
6 Haltelinie anzuhalten. beispielsweise durch Rotlichtblitzer eine Verringe-
Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich rung der Querverkehrsunfälle mit einer Erhöhung
7 aus dem im realen Straßenverkehr häufig anzutref- der Auffahrunfälle erkauft wurde [7].
fenden Fahrverhalten an STOP-Schildern. Während Sowohl aus Gründen der Verkehrssicherheit als
gemäß StVO immer ein vollständiger Fahrzeugstill- auch des Verkehrsflusses bieten Lichtsignalanlagen
8 stand vorgeschrieben ist, wird dieses Gebot erfah- Potenzial für verschiedene unterstützende Maßnah-
9
10
rungsgemäß von einem Teil der Fahrer in der Pra-
xis großzügig ausgelegt. Die Geschwindigkeit wird,
wenn es der Verkehr auf der vorfahrtsberechtigten
Straße zulässt, nur reduziert und auf den Fahr-
-
men:
Assistenz ohne Infrastrukturmaßnahmen:
Um die Kritikalität des plötzlichen Phasen-
wechsels von Grün auf Gelb zu entschärfen,
zeugstillstand wird bewusst verzichtet: Dies würde wird praktisch eine zusätzliche kurze Phase in
zu einer Vielzahl verkehrsrechtlich richtiger, aber den Zyklus eingefügt. Bereits in der DDR gab
51 sicherheitstechnisch zunächst nicht erforderlicher es beispielsweise eine grün-gelbe, in Österreich
Warnungen führen. Die Vermeidung dieser unnö- gibt es weiterhin eine grün blinkende Zwi-
12 tigen und potenziell störenden Warnungen bedingt schenphase; dem Fahrer wird dadurch mehr
daher zusätzlich eine Unterscheidung zwischen Zeit für das Fällen der richtigen Entscheidung
versehentlicher und vorsätzlicher STOP-Schild- – Anhalten oder Durchfahren – gegeben. Da-
13 Überfahrt, andernfalls ist ein negativer Einfluss auf mit kann die Problematik der Auffahrunfälle
die Akzeptanz durch den Fahrer zu erwarten. Es adressiert werden, die der Rotlichtüberfahrt
14 ist zudem nicht davon auszugehen, dass eine War- jedoch weniger. Zudem wird der Fahrzeug-
nung oder gar eine Notbremsung zur Vermeidung durchsatz der Kreuzung je Zeiteinheit durch
15
16
einer STOP-Schild-Überfahrt ohne Kollisionsgefahr
(mangels Querverkehr) von Fahrern im Nachhinein
als angemessen akzeptiert wird. - die Dauer der Zwischenphase verringert.
Assistenz über externe Infrastrukturmaßnah-
men:
Ebenfalls mit dem Ziel, die Kritikalität bei der
Entscheidung Anhalten oder Durchfahren zu
17 51.2.2 Ampelassistenz verringern, existiert beispielsweise in den USA
der Ansatz, farbliche Markierungen mit defi-
Als Ampelassistenz wird im Folgenden die Unter- niertem Abstand zur Haltelinie der LSA auf
18 stützung des Fahrers bei der Annäherung bzw. beim die Fahrbahn aufzubringen [8]. Passiert der
Warten an einer Kreuzung mit Lichtsignalanlage Fahrer mit Auslegungsgeschwindigkeit diesen
19 (LSA) verstanden. Aus den Daten der Unfallfor- Entscheidungsbereich bevor die Ampelphase
schung lässt sich ableiten, dass rund zwei Fünftel auf Gelb wechselt, kann er sie noch bei gelb
20 aller Unfälle an ampelgeregelten Kreuzungen durch überfahren, andernfalls nicht. Diese statische
einen Zusammenstoß mit einem Fahrzeug, „das Methode erfordert geringen infrastrukturellen
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
979 51
-
Daten aus der Lichtsignalanlage: Darunter Fahrer
fallen neben statischen Parametern – wie der die Geschwindigkeit erhöht, um die Ampel
-
Position der Haltelinie die Kenntnis des Be- noch bei Grün zu passieren,
triebszustands und der aktuellen Phase – auch die Geschwindigkeit reduziert, um im Falle
Informationen über anstehende Phasenwech- des Umschaltens „mehr Zeit (Weg) zum
-
sel, die z. B. durch Verwendung von Infra- Entscheiden zu haben“,
struktur-Fahrzeug-Kommunikation übermit- mit konstanter Geschwindigkeit weiterfährt
telt werden können [9, 10]. [4].
Liegen diese vor, so ist das Vorgehen zur
Vermeidung von Rotlichtüberfahrten aus Ersteres ist unter sicherheitstechnischen Aspekten
der Annäherung weitestgehend vergleich- kritisch und auch aus Sicht des Kraftstoffverbrau-
bar mit der Vermeidung von ungebremsten ches unvorteilhaft, während die Reduktion der Ge-
STOP-Schild-Durchfahrten; zusätzlich ist eine schwindigkeit (Fall 2) im Hinblick auf die vielerorts
Einfahrt in die Kreuzung durch den Ampelas- bereits erreichte Kapazitätsgrenze des Verkehrsrau-
sistenten für die gesamte Dauer der Rotphase mes ungünstig erscheint.
zu unterbinden. Dies umfasst demnach auch Die genannten Ansätze geben einen Eindruck,
die Warnung des Fahrers zur Vermeidung von welche Funktionen sich mit unterschiedlichen Aus-
Rotlichtüberfahrten durch Anfahren aus dem prägungen eines Ampelassistenzsystems umsetzen
Stillstand, beispielsweise zur Vermeidung des lassen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang,
sog. Mitzieheffekts an Kreuzungen, an denen dass Assistenzfunktionen auf Basis von Infrastruk-
gleichgerichtete Fahrstreifen unterschied- turmaßnahmen neben Sicherheits- und Komfortas-
lich signalisiert werden. Ähnlich wie bei der pekten auch Potenzial bieten, um aktuelle Probleme
980 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
des Verkehrsflusses und der Energieverbrauchs- und 2. Assistenz mit Intelligenz im Fahrzeug: Zur
1 Emissionsproblematik positiv zu beeinflussen. Unterstützung des wartepflichtigen Fahrers
beim Einbiegen/Kreuzen – bereits während der
2 Kreuzungsannäherung sowie beim Anfahren
51.2.3 Einbiege-/Kreuzenassistenz aus dem Stillstand – existieren mehrere aktu-
elle Forschungsansätze (vergleiche beispiels-
3 Als Einbiege-/Kreuzenassistenz oder auch Querver- weise [12, 13, 14]), die sich unter anderem
kehrsassistenz wird im Folgenden die Unterstützung hinsichtlich der verwendeten Technologien
4 des wartepflichtigen Fahrers beim Einbiegen in und zur Informationsgewinnung unterscheiden.
beim Queren einer Vorfahrtsstraße verstanden. Ad- Bei einigen Systemen basiert die Umfelderfas-
5 ressiert werden Unfälle an Kreuzungen mit Vorfahrt sung auf fahrzeugautonomer On-Board-Sen-
achten (Zeichen 205 StVO – Vorfahrt gewähren!) sorik: So wird in [4] eine Kombination aus
und Rechts-vor-links-Regelung. Laserscanner, Videosystem und einer hochge-
6 Wie bei anderen Systemen unterteilen sich die nauen digitalen Karte verwendet. Andere An-
Unfälle beim Einbiegen und Kreuzen in Unfälle sätze stützen sich bezüglich der erforderlichen
7 mit und ohne Fahrzeugstillstand an der Haltelinie Informationen über andere Verkehrsteilneh-
bzw. Sichtlinie. Ein grundlegender Unterschied zur mer auf Fahrzeug-Fahrzeug-Kommunikation
Ampel- oder STOP-Schild-Assistenz besteht darin, [13]. Grundlage hierzu ist neben einer geeig-
8 dass das wartepflichtige Fahrzeug nur dann anhal- neten Kommunikationslösung ein System zur
ten muss, wenn vorfahrtsberechtigter Querverkehr Generierung von Positions- und Fahrdyna-
9 vorhanden ist. Andernfalls kann die Kreuzung ohne mikdaten in jedem Fahrzeug, wobei zur Posi-
Stopp passiert werden. Daher werden als Grund- tionsbestimmung meist auf globale Navigations-
10 lage für die Einbiege-/Kreuzenassistenz neben Po- satellitensysteme (GNSS) zurückgegriffen wird.
sitions- und Bewegungsdaten des wartepflichtigen Unabhängig von der verwendeten Sensor-
Fahrzeugs Informationen über eventuell vorfahrts- oder Kommunikationstechnologie erfordert
51 berechtigten Querverkehr benötigt. ein System zur aktiven Unfallvermeidung die
Möglichkeiten der Realisierung sind: frühzeitige Identifikation und Bewertung po-
12 1. Assistenz mit Intelligenz in der Infrastruktur: tenziell bevorstehender Kollisionen. Der Ent-
Um eine Unterstützung des wartepflichtigen scheidungsprozess, ob ein Systemeingriff aus-
Fahrers beim sicheren Einbiegen/Kreuzen aus zuführen ist, wird für den Fall des Einbiegens/
13 dem Stillstand zu ermöglichen, wird beispiels- Kreuzens in zwei Teilaufgaben unterteilt [14]:
weise der Rural Intersection Decision Support a) Die Entscheidung, ob bei Einfahrt oder
14 [11] eingesetzt. Grundlage dieses Systems sind Durchquerung der Kreuzung eine Kollision
Radarsensoren, die Position und Geschwindig- mit dem Querverkehr droht, falls keine
15 keit der Fahrzeuge auf der Hauptstraße erfas- intervenierenden Maßnahmen eingeleitet
sen: Hieraus werden die Zeitabstände zwischen werden und
den Fahrzeugen auf der Hauptstraße bestimmt; b) die Erkennung ausbleibender Präventions-
16 außerdem erfolgt eine Vorhersage, wann diese maßnahmen zu einem Zeitpunkt während
Fahrzeuge den Kreuzungsbereich erreichen der Annäherung an die Kreuzung, zu dem
17 werden. Wartepflichtige Fahrzeuge an der Hal- der Eintritt des eigenen Fahrzeugs in die
telinie werden über ein Kamerasystem erfasst Konfliktzone noch vermieden werden kann.
und kategorisiert. Auf Basis dieser Informati- Einige Ansätze zur Situationsbewertung sind in
18 onen wird entschieden, ob sicheres Einbiegen/ ▶ Abschn. 51.4 genauer beschrieben.
Kreuzen möglich ist. Falls erforderlich, wird Sind unfallvermeidende Maßnahmen zur
19 eine Warnung für das wartepflichtige Fahrzeug Unterstützung des Fahrers in der vorliegen-
eingeleitet; als mögliches Schnittstellenkonzept den Gefahrensituation erforderlich, erlauben
20 wird ein herkömmliches STOP-Schild um eine situationsadaptiv unterschiedliche Informa-
Risikowarnung ergänzt. tions- und Warnstufen oder Volleingriffe die
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
981 51
Unfallvermeidung. Besonders bei höheren Ansätze, die zum Teil eine Kombination bereits
Geschwindigkeiten können potenzielle Gefah- vorgestellter Ideen beinhalten. So bietet sich nach
rensituationen bereits in einer frühen Phase der [15] eine kommunikationsbasierte Kombination
Annäherung an die Kreuzung erkannt werden; aus infrastrukturgebundener Umfelderfassung
somit steht vergleichsweise viel Zeit für eine und fahrzeuggebundenem Assistenzsystem für
Fahrerreaktion zur Verfügung. In dieser Situa- besonders unfallträchtige Kreuzungen an. An
tion reicht meist ein visueller Hinweis im HUD diesen Kreuzungen werden Sensoren zur Erfas-
als informierende Vor-Warnung auf die bevor- sung des Verkehrsbildes eingesetzt, deren Infor-
stehende Situation. mationen dann über ein Kommunikationssys-
Bleibt eine Reaktion des Fahrers auf die Vor- tem an beteiligte Verkehrsteilnehmer verbreitet
warnung aus oder wird die Gefahrensituation werden. Bedingung für die Nutzung dieser Um-
beispielsweise bei geringeren Fahrgeschwindig- feldinformationen im Fahrzeug ist, dass dieses
keiten oder aufgrund veränderter Rahmenbe- über eine geeignete Kommunikationstechnologie
dingungen erst später erkannt, so bietet eine verfügt. Ein großer Vorteil des Ansatzes – ver-
Akutwarnung zusätzliches Unfallvermeidungs- glichen mit einem rein-kommunikationsbasier-
potenzial. Diese kann beispielsweise aus einem ten Kreuzungsassistenten – besteht darin, dass
visuellen Hinweis im HUD sowie einer akus- auch Informationen von nicht mit Funkeinheiten
tischen Warnung bestehen, eventuell ergänzt ausgestatteten Fahrzeugen erfasst und verbreitet
um eine aktive Anbremsung. Der Teileingriff werden. Hierdurch kann bereits bei einer gerin-
in Form einer autonomen Anbremsung wird gen Ausstattungsrate der Fahrzeuge ein Sicher-
verwendet, um die dem Fahrer für eine Re- heitsgewinn erzielt werden, dafür jedoch nur für
aktion zur Verfügung stehende Zeitspanne zu entsprechend ausgerüstete Kreuzungen.
vergrößern [14]. Dadurch kann die Akutwar-
nung nach hinten verschoben werden, so dass
selbst sportliche Fahrer nicht unnötig gewarnt 51.2.4 Linksabbiegeassistenz
werden.
Fährt das direkt an der Kreuzung stehende Als Linksabbiegeassistenz wird im Folgenden die
Fahrzeug aus dem Stillstand an, so kann ein Unterstützung des Fahrers bei der Durchführung
Einfahren in die Kreuzung durch eine Warnung eines Abbiegemanövers, d. h. bei der Konfliktsitu-
nicht vermieden werden, da keine Zeit für eine ation mit entgegenkommenden Verkehrsteilneh-
Fahrerreaktion zur Verfügung steht. Für diesen mern, verstanden.
Fall ist eine Kollision durch Unterbinden des Der amtliche Unfalltyp Abbiegeunfall umfasst
Anfahrens bei Fahrpedalbetätigung vermeid- eine Vielzahl solcher Situationen, wohingegen der
bar. Fokus in diesem Kontext auf der Vermeidung des
Um die Quote der zu erwartenden Falschwar- Zusammenstoßes eines nach links abbiegenden
nungen möglichst gering zu halten, sind die Fahrzeugs mit einem Fahrzeug im Gegenverkehr
jeweiligen Warnkriterien an das übliche Fah- liegt. Als Hauptursachen von Abbiegeunfällen wer-
rerverhalten anzupassen (▶ Abschn. 51.4). Als den in unterschiedlichen Untersuchungen (beispiels-
zusätzliche Herausforderung ergibt sich die weise [3, 16]) die Fehleinschätzung von Abstand und
Unterscheidung von Einbiegen oder Kreuzen Geschwindigkeit des Gegenverkehrs, das Übersehen
während der Annäherung an die Kreuzung, da von Fahrzeugen (insbesondere fallen Zweiräder vor
die Fahrzeuge eventuell nicht denselben Kreu- größeren Pkws oder Nutzfahrzeugen kaum auf) so-
zungsbereich durchfahren – beispielsweise wie Sichtbehinderung durch ebenfalls abbiegenden
wenn sich das vorfahrtsberechtigte Fahrzeug Gegenverkehr genannt.
von rechts annähert und das wartepflichtige Das Abbiegen stellt aufgrund der Komplexität
Fahrzeug nach rechts abbiegt. des Fahrmanövers eine Herausforderung für den
3. Assistenz mit Intelligenz im Fahrzeug und Sen- Fahrer dar: Für ein Assistenzsystem kommt er-
soren in der Infrastruktur: Es existieren weitere schwerend der Umstand hinzu, dass im Gegensatz
982 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
zu den bisher beschriebenen Systemen kein eindeu- einem autonomen Eingriff in der Form eines
1 tig definierter Abbiegepunkt existiert, was zu einer – vom Fahrer übersteuerbaren – Festhaltens
Vielzahl möglicher Trajektorien führt. Demzufolge des Fahrzeugs Potenzial zur Unfallvermeidung
2
3
ist der Analyse des Fahrerverhaltens und der Prä-
diktion des Abbiegewunsches große Bedeutung
beizumessen.
Insbesondere das geringe Raumbudget er-
- gesehen.
Der Fahrer nähert sich einer Kreuzung, an der
er links abbiegen möchte, und erkennt eine
Lücke im Gegenverkehr, um ohne anzuhalten
schwert eine sinnvolle Assistenzstrategie, da unbe- abbiegen zu können. Das entscheidende Prob-
4 dingt zu vermeiden ist, dass das Fahrzeug zu weit lem aus Assistenzsicht ist, dass für ein System
in den gegnerischen Fahrstreifen als potenzielle das eigentliche Abbiegen erst zu erkennen ist,
5 Konfliktzone hineinragt. Je flacher nun die Abbie- wenn Lenkradwinkel und -geschwindigkeit
getrajektorie verläuft und je später demzufolge die bestimmte Schwellenwerte überschreiten [17].
Abbiegeabsicht sicher detektiert werden kann, desto Daraus wird deutlich, dass für eine Informa-
6 näher ist das Fahrzeug schon an der (gedachten) tion über den Gegenverkehr – wie sie für das
Mittellinie und desto geringer sind die Hilfsmög- Abbiegen aus dem Stillstand eingesetzt wird
7 lichkeiten eines Assistenzsystems [17]. – aufgrund der Notwendigkeit eines unmittel-
Wie bereits für den STOP-Schild-Assistenten baren Eingriffs keine Zeitreserve mehr besteht.
ist auch für das Linksabbiegen eine Unterscheidung Auch eine Warnung ist hier häufig nicht
8 zwischen Unfällen, die sich durch Anfahren nach mehr zielführend. In diesem Anwendungsfall
einem Fahrzeugstillstand ereigneten, und solchen erscheint eine – vom Fahrer übersteuerbare –
9 ohne vorigen Fahrzeugstillstand retrospektiv nicht Abbremsung des Fahrzeugs zur Unfallvermei-
immer möglich. Entsprechende Untersuchungen dung geeignet, was aufgrund der möglichen
10 der Unfallzahlen [18, 17] zeigen, dass beide Szena- Auswirkungen von False Positives eine hohe
rien einen relevanten Anteil am Unfallgeschehen im Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden
Kreuzungsbereich haben. Informationen voraussetzt.
51 Aus Sicht eines Linksabbiegeassistenzsystems
12
13
-
stellen sich diese Situationen wie folgt dar:
Der Fahrer hält sein Fahrzeug in der Kreu-
zungsmitte an, wo er einen ausreichenden
Blick für eventuelle, ausreichend große Lücken
Für beide Situationen ist bei der Bewertung der
Lücken im Gegenverkehr die übliche Beurteilung
dieser Lücken durch den Fahrer zu berücksichti-
gen. Ein Vergleich verschiedener Studien zu diesem
im Gegenverkehr hat. Der Vorteil dieser Situ- Punkt ergibt nach [1, 17], dass die Bewertung der
ation ist aus Sicht eines Assistenzsystems, dass Zeitlücken im Gegenverkehr durch den Fahrer von
14 der Abbiegewunsch nun mit nahezu 100%iger einer Vielzahl teils kreuzungsabhängiger Faktoren
Sicherheit erkennbar ist [19, 17]. Beim Warten beeinflusst wird und dass die Größe akzeptierter
15 auf eine Abbiegemöglichkeit wird der Fahrer Lücken daher einer großen Streuung (zwischen 4 s
rein visuell über potenziell gefährlichen Ge- und 14 s) unterliegt.
genverkehr informiert und bei der Wahl einer Die erforderlichen Eingangsgrößen eines Links
16 ausreichend bemessenen Lücke unterstützt. abbiegeassistenten umfassen insbesondere die Fahr-
Zur Übermittlung dieser Informationen eignet zustandsgrößen des Gegenverkehrs. Wird für die
17 sich erneut ein HUD, da der Fahrer dadurch Prädiktion des Abbiegens ein Fahrermodell einge-
sowohl externe als auch interne Informationen setzt, das, wie in [17] beschrieben, den Einfluss der
nahezu gleichzeitig erfassen kann. Nachteilig Kreuzung auf das Fahrerverhalten berücksichtigt,
18 an dieser Situation ist, dass sich das Fahrzeug kommen weitere kreuzungsspezifische Informati-
bereits sehr nahe an der Konfliktzone befindet onsanforderungen hinzu.
19 und dem Fahrer somit kein ausreichendes
Zeitbudget für die Reaktion auf eine Warnung
20 zur Verfügung steht – sollte der Fahrer trotz
Gegenverkehr anfahren. In diesem Fall wird in
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
983 51
51.2.5 Kreuzungsassistenz tenzsystemen für den wartepflichtigen Verkehr-
für vorfahrtberechtigte steilnehmer ist der Nachweis bereits erbracht, dass
Verkehrsteilnehmer Systemeingriffe von Warnung bis Volleingriff bei
geeigneter Systemauslegung vom Fahrer – aufgrund
Die bisher vorgestellten Assistenzansätze adres- des im Nachhinein erkannten Fehlverhaltens – als
sieren den wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer nachvollziehbar und zielführend akzeptiert werden
mit dem Ziel, diesen vor der Einfahrt oder dem [14]. Für den vorfahrtsberechtigten Verkehrsteil-
Einbiegen in eine Kreuzung in kritischen Situati- nehmer stellt sich die Situation grundlegend anders
onen durch eine Warnung und/oder einen aktiven dar: Auch hier steigt das theoretische Nutzenpoten-
Bremseingriff zu bewahren. Würden alle Fahrzeuge zial eines solchen Systems, je früher eine Warnung
diese Assistenzfunktionalität aufweisen, wären na- oder ein Eingriff vorgenommen wird. Da jedoch
hezu alle Kreuzungsunfälle zu verhindern oder zu- kein Fehlverhalten des Fahrers jenes ausgestatteten
mindest in ihren Folgen maßgeblich zu lindern. Bei Fahrzeugs vorliegt, steigt das Risiko, dass ein wie
Berücksichtigung realer Lebenszyklen – bspw. abzu- auch immer gearteter Eingriff von diesem nicht
leiten anhand des momentanen Durchschnittsalters akzeptiert wird und folglich die Systemfunktion
der deutschen Fahrzeugflotte von ca. 8,5 Jahren [20] deaktiviert wird. Um nur akzeptierte Eingriffe zu
– sowie einer angenommenen Marktentwicklung erzeugen, sollten subjektiv als falsch empfundene
vergleichbarer aktiver Schutzsysteme, ist zumin- Eingriffe soweit wie möglich vermieden werden.
dest mittelfristig nicht von einem solchen Szena- Die subjektiv empfundene Notwendigkeit eines
rio auszugehen. Wird dies berücksichtigt, ist der Systemeingriffs in den hier betrachteten Szenarien
Nutzen von Kreuzungsassistenzsystemen aus Sicht wird erst im Resultat eines solchen Eingriffs für die
eines individuellen Kunden, zumindest in den ers- Beteiligten beurteilbar und hängt primär vom Ver-
ten Jahren nach einer Markteinführung, stark von halten des potenziellen Kollisionspartners ab. Re-
dessen jeweiliger Beteiligung in einer kritischen agiert dieser bspw. spät, aber noch rechtzeitig, auf
Verkehrssituation abhängig. Sofern die potenziellen die vorliegende Vorfahrtsregelung und kommt das
Kollisionsobjekte und andere zur Unfallvermeidung wartepflichtige Fahrzeug knapp vor der Kreuzung
notwendigen Informationen rechtzeitig erkannt zum Stillstand, so wäre ein Eingriff auf Seiten des
werden, entfaltet eine solche Funktionalität in der vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs zur Vermeidung
Situation als wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer, einer Kollision objektiv nicht notwendig und mög-
unabhängig vom kreuzenden Fahrzeug, sofort licherweise auch subjektiv nicht nachvollziehbar.
seine volle Wirksamkeit. Als vorfahrtberechtigter Aus diesem Grund hat ein Eingriff im vorfahrtbe-
Verkehrsteilnehmer ist es jedoch ausschließlich da- rechtigten Fahrzeug erst dann zu erfolgen, wenn
von abhängig, ob das kreuzende Fahrzeug entspre- das Hindernisobjekt die Kollision aus eigener Kraft
chend ausgerüstet ist; die Wahrscheinlichkeit einer nicht mehr vermeiden kann. Aus Akzeptanzgrün-
Unterstützung entspricht in diesem Fall somit der den sollte dieser Umstand zudem für den Fahrer
aktuellen Ausstattungsrate in der Fahrzeugflotte. unstrittig sein – sprich der Eingriff muss für den
Aus diesem Grund ist es zur Steigerung der Ver- Fahrer nachträglich eindeutig als zur Kollisionsver-
kehrssicherheit aus Sicht eines individuellen Kun- meidung zwingend notwendig nachvollziehbar sein.
den zumindest mittelfristig angeraten, diesen auch Dies im Blick kann für den vorfahrtberechtig-
direkt in seiner Rolle als vorfahrtberechtigten Ver- ten Verkehrsteilnehmer, neben der bereits für den
kehrsteilnehmer aktiv durch Schutzfunktionalitäten wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer als Mittel der
zu adressieren. Wahl anzusehenden Notbremsung, auch ein No-
Bei der Unterstützung des vorfahrtberechtigten tausweichmanöver eine notwendige, weil effektivere
Verkehrsteilnehmers in Kreuzungsszenarien ist ne- und die Kollision vermeidende Maßnahme sein. Ist
ben den rechtlichen Rahmenbedingungen, in Bezug das Fahrzeug mit einem entsprechenden Kreuzung-
auf die Zulässigkeit eines aktiven Systemeingriffs, sassistenten ausgestattet, so ist es in einer kritischen
(▶ Kap. 3) besonderes Augenmerk auf die Nutzer- Situation vor dem Einfahren in die Kreuzung in den
akzeptanz zu legen. Im Fall von Kreuzungsassis- Stillstand zu bringen.
984 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
Die zielführende Handlungsstrategie für das chern lässt. Selbst unmittelbar vor der Kollision ist
1 vorfahrtberechtigte Fahrzeug ist davon abhängig, immer noch mit einer Reaktion des Kollisionspart-
welches der beiden beteiligten Fahrzeuge letztmög- ners zu rechnen. Analysen der GIDAS-Datenbank
2 lich, unabhängig vom Verhalten des jeweils ande- haben gezeigt, das in fast 45 % aller betrachteten
ren, die Kollision durch Bremsen noch vermeiden Fälle das Hindernisobjekt noch nach einem not-
kann – räumliche Kollisionsvermeidung durch Ver- wendigen Systemeingriff im Ego-Fahrzeug gebremst
3 meidung des Einfahrens in die Kreuzung. In dem hat, wodurch der Versuch einer zeitlichen Kollisi-
Fall, dass dies auf das vorfahrtberechtigte Fahrzeug onsvermeidung – sei es durch Ausweichen entgegen
4 zutrifft, sollte ein entsprechender Notbremsein- der Bewegungsrichtung oder Bremsen – weiterhin
griff zum spätestmöglichen Zeitpunkt erfolgen. In zu einer Kollision geführt hätte [21].
5 Längsverkehrsszenarien ist bei der Initiierung einer Ist eine Kollisionsvermeidung auch durch Not
Notbremsung zusätzlich noch ein später mögliches ausweichen nicht mehr möglich, verbleibt als letzte
und durch den Fahrer ggf. gewünschtes Überholen Alternative noch die Linderung deren Folgen durch
6 des potenziellen Kollisionsobjekts zu berücksichti- entsprechende Eingriffe in die Fahrdynamik des
gen. Bei einer Kreuzungssituation hingegen ist ein Ego-Fahrzeugs.
7 solches Verhalten situationsbedingt auszuschließen,
so dass folglich im vorliegenden Fall die Notbrem-
sung die zielführende Maßnahme darstellt, ohne die 51.3 Situationsbewertung
8 Gefahr einer Bevormundung des Fahrers – obwohl
ein Ausweichen ggf. noch später möglich wäre. Für jedes der dargestellten Kreuzungsassistenzsys-
9 Ist es jedoch das wartepflichtige Fahrzeug, das teme ergibt sich die Fragestellung, ob der Fahrer die
letztmöglich die Kollision – unabhängig vom Ver- Absicht hat, einen charakteristischen Punkt (Hal-
10 halten des jeweils anderen – noch vermeiden kann, telinie bzw. Einfahren in Kreuzung oder Gegen-
stellt sich die Situation anders dar: Das vorfahrt- verkehr) zu überfahren – oder ob er das Fahrzeug
berechtigte Fahrzeug kann in diesem Fall durch selbstständig an oder vor diesem Punkt zum Still-
51 Bremsen die Kollision nur noch, bei entsprechend stand bringen wird. Diese Fragestellung kann für
kooperativem Verhalten des wartepflichtigen Ver- eine STOP-Schild-Assistenz aufgrund der fest vor-
12 kehrsteilnehmers, zeitlich vermeiden – das vor- gegebenen Haltelinie und des immer bestehenden
fahrtberechtigte Fahrzeug fährt aufgrund der Ver- Haltegebots durch eine Verknüpfung unterschied-
zögerung erst dann in die Kreuzung ein, wenn das licher Indikatoren in einer vergleichsweise frühen
13 potenzielle Kollisionsobjekt diese bereits wieder Phase der Annäherung an die Kreuzung beantwor-
verlassen hat. Eine Kollisionsvermeidung, unabhän- tet werden [6]. Ähnliches ist für einen Ampelassis-
14 gig von dem die Vorfahrt missachtenden Fahrzeug tenten zu erwarten [10].
ist, wenn überhaupt, nur noch durch Ausweichen Für Einbiege-Kreuzen-Assistenz wird diese
15 möglich. Dies wirft wiederum die Frage nach der Fragestellung dadurch erschwert, dass der Fahrer
geeigneten Ausweichrichtung auf, d. h. in oder ent- die Entscheidung, ob er anhalten wird, erst in einer
gegen der Bewegungsrichtung des Hindernisses. vergleichsweise späten Phase der Annäherung an
16 In vielen Kreuzungsszenarien stellt die zeitliche die Kreuzung trifft – da ihm eine Beurteilung des
Kollisionsvermeidung durch gezieltes kurzzeiti- Querverkehrs (beispielsweise aufgrund von Sichtbe-
17 ges Abbremsen oder Ausweichen – entgegen der hinderungen) zuvor meist nicht möglich ist. Dem-
Bewegungsrichtung des Kollisionspartners – den entsprechend ist von einem Querverkehrsassisten-
physikalisch letztmöglichen Eingriff zur Kollisions- ten auch die Möglichkeit einer Umentscheidung des
18 vermeidung dar. Wegen des geringen erforderlichen Fahrers zu berücksichtigen: Eine einmal getroffene
Zeitbudgets für einen derartigen Eingriff ergibt sich Aussage über den Haltewunsch des Fahrers muss
19 ein vergleichsweise hohes, theoretisches Unfallver- unter Umständen zu einer späteren Phase der An-
meidungspotenzial, das sich jedoch ohne ein aufein- näherung korrigiert werden.
20 ander abgestimmtes, kooperatives Verhalten beider Als problematisch erweisen sich dabei Sze-
(aller) beteiligten Verkehrsteilnehmer nicht absi- narien, in denen der Fahrer zunächst die eigene
51.3 • Situationsbewertung
985 51
.. Abb. 51.4 Vergleich
1 Kollisionskonstellation mit
zur Vermeidung der Kollisi-
on relevanter Konstellation
2
3
4
5
zum Kollisionsbereich und sb als dem minimalen Sobald bei der Annäherung ttB,obs < 0 gilt, ist die
Bremsweg bei maximaler Verzögerung Dmax. Bei Kollision durch das wartepflichtige Fahrzeug nicht
6 diesem Kennwert handelt es sich jeweils um die mehr eigenständig zu vermeiden. Spätestens zu
Time-to-Collision (kurz TTC, bezeichnet die Zeit- diesem Zeitpunkt sind mögliche Handlungsalter-
7 dauer, die bei konstanter Geschwindigkeit des/der nativen des Ego-Fahrzeugs in Bezug auf ihr Vermei-
Fahrzeuge bis zu einer Kollision vergehen würde) dungspotenzial zu überprüfen: Gilt zu diesem Zeit-
für Ego- und Hindernis-Fahrzeug, erweitert um den punkt ttB,ego ≥ 0, so ist ein Notbremsen noch möglich
8 individuellen Abstand zum prädizierten Kollisions- bzw. andernfalls ein Notausweichen notwendig oder
bereich. es sind je nach Konstellation die Folgen der Kolli-
9 sk;obs sb;obs
sion nur noch zu lindern.
t tB;obs D
vobs
10 2
vobs 51.4 Geeignete Warn-
mit sb;obs D
2 Dmax und Eingriffsstrategien
51 sk;ego sb;ego
t tB;ego D Auffahrunfälle im Längsverkehr ausgenommen
vego
12 2
vego
haben Kollisionen zwischen mehreren Fahrzeu-
mit sb;ego D gen im Kreuzungsbereich üblicherweise Fehler bei
2 Dmax der Beachtung der vorliegenden Vorfahrtsregelung
13 durch einen eigentlich wartepflichtigen Verkehr-
Beim Fahrzeug mit der höheren ttB ist folglich re- steilnehmer zur Ursache. In erster Instanz bieten
14 lativ betrachtet noch zu einem späteren Zeitpunkt sich daher zur Vermeidung von Kreuzungsunfällen
ein erfolgreicher Bremseingriff möglich. Eine aus- Assistenzmaßnahmen für den wartepflichtigen Ver-
15 schließliche Betrachtung der üblicherweise heran- kehrsteilnehmer an, die entweder die Beachtung der
gezogenen TTC reicht in einer solchen Kreuzungs- Vorfahrtsregelung unterstützen oder im Falle einer
konstellation nicht aus. Zwar lässt sich diese für bereits erfolgten Vorfahrtsmissachtung die Folgen
16 beide Beteiligten eindeutig bestimmen. Es unter- dieses Fehlers minimieren: Dies wird im Folgenden
scheiden sich jedoch mit Ausnahme einer Kollision als „Assistenzmaßnahme für den wartepflichtigen
17 Fahrzeugecke auf Fahrzeugecke (. Abb. 51.4 links) Verkehrsteilnehmer“ bezeichnet.
für einen der beiden Beteiligten die zur Kollisions-
vermeidung max. zulässige Position PCA von der die
18 Kollision beschreibenden Fahrzeugposition PColl, 51.4.1 Assistenzmaßnahmen
da sich dieses dann bereits im Kollisionsbereich für den wartepflichtigen
19 KB befindet und eine Kollision nur noch durch Verkehrsteilnehmer
ein paralleles rechtzeitiges Bremsmanöver in den
20 Stillstand des jeweils anderen verhindert werden Ordnet man die beschriebenen Systeme der Reihe
kann. nach hinsichtlich des verfügbaren Zeit- und Raum-
51.4 • Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien
987 51
.. Abb. 51.5 HMI-Lösun-
Zeitbudget
gen für Kreuzungsassis- Autonomer
tenzsysteme im HUD [12] Volleingriff
budgets vor der sicheren Bestimmung einer kri- wartenden False Positives auf nicht mehr akzeptable
tischen Situation an, so sinkt in gleichem Maße Werte ansteigen würde.
die Möglichkeit, mittels reiner Informationen Derartige Grenzen lassen sich teilweise durch
die Situation zu entschärfen – ausgenommen das die Wahl der Warnstrategie beeinflussen. Eine Mög-
Anfahren aus dem Fahrzeugstillstand, hier ist das lichkeit ist, die Warnung um eine aktive Teilbrem-
Raum/Zeitbudget für alle Systeme gleichermaßen sung zu ergänzen [14]. Durch die Teilbremsung
klein. Dieser Zusammenhang ist in . Abb. 51.5 wird bereits während der Reaktionszeit des Fahrers
dargestellt. Geschwindigkeit abgebaut; dies vergrößert die dem
Explizite Warnungen werden notwendig bzw. Fahrer effektiv zur Verfügung stehende Reaktions-
das Potenzial für autonome Eingriffe steigt; in den zeit, wodurch die Warnschwelle „sportlicher“ aus-
vorangegangenen Kapiteln wurde im Zusammen- gelegt werden kann.
hang mit Fahrerwarnungen bereits das sogenannte Zu den Situationen, in denen selbst durch ei-
Warndilemma erwähnt. nen Teileingriff keine wirksame Unfallvermeidung
Als Warndilemma wird im Bereich der Fah- möglich ist, gehört unabhängig von der vorherr-
rerassistenz allgemein der Zielkonflikt zwischen schenden Vorfahrtsregelung das Anfahren aus
der Wirksamkeit einer Warnung und den zu er- dem Stillstand: So steht beim Einbiegen/Kreuzen
wartenden Falschwarnungen bezeichnet. Dieser an Kreuzungen, an denen der Fahrer aufgrund von
Konflikt entsteht aus der Problematik heraus, dass Sichtbehinderung direkt an der Sichtlinie anhält,
eine effektive Warnung aufgrund der zu erwar- meist kein Weg mehr für eine Reaktion des Fahrers
tenden Reaktionszeit des Fahrers bereits zu einem auf eine eventuelle Warnung zur Verfügung – da die
Zeitpunkt erfolgen muss und zudem noch eine Haltelinie bei STOP-Schildern üblicherweise nicht
selbstständige Fahrerreaktion auf die bevorstehende identisch mit der Sichtlinie ist, steht beim Anfah-
Gefahrensituation möglich ist. Eine Möglichkeit zur ren an STOP-Schildern geringfügig mehr Zeit für
Warnung ohne das Risiko, den Fahrer durch häu- eine Systemausgabe zur Verfügung. Für den Fall des
fige Falschwarnungen (sogenannte False Positives) Abbiegens gilt dies häufig sogar für das fahrende
zu stören, besteht demnach nur, wenn sich bei der Fahrzeug (▶ Abschn. 51.2.4): Für diese Szenarien
überwiegenden Zahl der Fahrer bereits vor dem lässt sich ein Eintreten des Fahrzeugs in die Kon-
spätestmöglichen Warnzeitpunkt Indizien auf eine fliktzone nur noch durch einen autonomen Eingriff
selbstständige Reaktion finden lassen. vermeiden; geeignet erscheint hierzu das Unterbin-
Demnach ist für die Umsetzung eines Warn- den des Anfahrens bei gleichzeitiger Warnung des
systems im Fahrzeug zunächst eine Untersuchung Fahrers. Um Systemmissbrauch bzw. unbeabsichtig-
des „typischen“ Fahrerverhaltens erforderlich, um tes Einfahren in die Kreuzung nach einer durch das
sicherzustellen, dass das Warndilemma für das System vermiedenen Kollision vorzubeugen, ist es
vorliegende Szenario beherrschbar ist. Häufig ist zweckmäßig, das Fahrpedal erst nach vollständigem
dies nur für einen Teil der betrachteten Verkehrssi- Lösen wieder freizugeben.
tuationen der Fall: So ergibt sich für einen Einbie- Die Absichtsänderung des Fahrers während
ge-Kreuzen-Assistenten, dass eine Aussage, ob der der Annäherung ist beim Einbiegen/Kreuzen ge-
Fahrer nicht mehr selbstständig anhalten wird, nur nauso wenig durch Warnung/Teileingriff abzude-
oberhalb einer gewissen Mindestgeschwindigkeit cken. Die Entscheidung, eine bereits begonnene
möglich ist [14]. Unterhalb dieser Geschwindigkeit Bremsung abzubrechen und – aufgrund falscher
nimmt die Zuverlässigkeit einer entsprechenden Wahrnehmung oder Fehlinterpretation des Quer-
Aussage rapide ab, wodurch die Anzahl der zu er- verkehrs – in die Kreuzung einzufahren, lässt sich,
988 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
wie in ▶ Abschn. 51.3 beschrieben, erst dann erken- Information des Fahrers über den Systemeingriff
1 nen, wenn eine Warnung nicht mehr zielführend einzuordnen.
wäre. Da beim Einbiegen/Kreuzen als Unfallursache Wie hergeleitet (▶ Abschn. 51.2.5) gilt es je
2 häufig Fehler bei der Erkennung/Beurteilung des nach Situation, bspw. beschrieben durch die beiden
Querverkehrs vorliegen, ist das Unfallvermeidungs- Kennwerte ttB,ego und ttB,obs, die durch den warte-
potenzial eines ausschließlich warnenden Systems pflichtigen Kollisionspartner nicht mehr vermeid-
3 gegenüber einem volleingreifenden System deutlich bare Kollision durch eine Notbremsung oder ein
eingeschränkt [14]. Notausweichmanöver des vorfahrtberechtigten
4 Eine weitere Möglichkeit, die sich aus dem Fah- Teilnehmers zu verhindern.
rerverhalten ergebenden Grenzen zu verschieben, Der wesentliche Schritt dabei ist die Beantwor-
5 besteht darin, für besonders kritische Situationen tung der Frage, ob zum Zeitpunkt ttB,obs = 0 ein Aus-
eine Toleranzzone vorzusehen: Ein prototypisch weichen noch möglich ist oder nicht. In Längsver-
umgesetzter Linksabbiegeassistent beispielsweise kehrsszenarien wird hierzu in der Regel von einem
6 vermeidet das Eindringen in den Fahrstreifen des situationsabhängig konstanten Ausweichversatz
Gegenverkehrs selbst unter Verwendung einer au- zur Vermeidung einer Kollision ausgegangen. Im
7 tonomen Notbremsung nur in etwa 80 % der Fälle, Kapitel „Grundlagen von Frontkollisionsschutz-
jedoch kommt das Ego-Fahrzeug für 95 % der Ver- systemen“ (▶ Kap. 47) wurde hergeleitet, dass die
suchsfahrten so zum Stehen, dass die Eindringtiefe Maximierung des streckenbezogenen Querversat-
8 in den Gegenverkehr kleiner gleich 20 cm ist, so dass zes, woraus wiederum der letztmöglichen Eingriffs-
auch hier von einer Vermeidbarkeit des Unfalls aus- zeitpunkt folgt, durch ein kombiniertes Brems-/
9 gegangen wird [17]. Ausweichmanöver realisiert werden kann. In Kreu-
Für alle genannten Teil- und Volleingriffe gilt, zungsszenarien ist der notwendige Ausweichversatz
10 dass der Fahrer in der Lage sein muss, sie zu über- durch die sich kreuzenden Trajektorien prinzipbe-
steuern: Eine Möglichkeit hierzu ist die Verwen- dingt über die Zeit betrachtet variabel. Darüber hi-
dung der Kick-Down-Stellung des Fahrpedals; so naus gilt: Je länger die mit einer Ausweichtrajektorie
51 kann der Fahrer beispielsweise das Festhalten des verbundene Wegstrecke und je größer die mit der
Fahrzeugs ohne die Betätigung zusätzlicher Bedie- Wegstrecke einhergehende Fahrzeugverzögerung
12 nelemente übersteuern. ist, desto später erreicht das Ego-Fahrzeug den po-
tenziellen Kollisionsbereich und desto größer ist
folglich aufgrund der parallel stattfindenden Bewe-
13 51.4.2 Kreuzungsassistenz gung des Hindernisses der notwendige Versatz, um
für vorfahrtberechtigten das Hindernis erfolgreich passieren zu können. Aus
14 Verkehrsteilnehmer diesem Grund sind neben der Kenntnis der zukünf-
tig erreichbaren Positionen auch deren zugehörige
15 Aus Akzeptanzgesichtspunkten ist für einen vor- Zeitpunkte notwendig; andernfalls können die er-
fahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer ein System reichbaren Positionen des Ego-Fahrzeugs nicht mit
eingriff – einschließlich einer Warnung – erst zum der prädizierten Hindernisposition in Bezug gesetzt
16 letztmöglichen Zeitpunkt, d. h. insbesondere erst werden. Die Ausweichtrajektorie sollte unter der
dann zu empfehlen, wenn die durch das Fehlver- Randbedingung, den Kollisionsbereich schnellst-
17 halten des wartepflichtigen Verkehrsteilnehmers an- möglich wieder zu verlassen – das Hindernisob-
dernfalls hervorgerufene Kollision ohne Eingriff auf jekt sollte möglichst wenig zusätzliche Wegstrecke
Seiten des Ego-Fahrzeugs unvermeidbar wäre. Dies senkrecht zum Ego-Fahrzeug zurücklegen – den
18 führt zu einem signifikant geringeren Zeitbudget Lateralversatz maximieren. Bei der Planung der
zur Kollisionsvermeidung. Daher ist das Potenzial für dieses Szenario „optimalen“ Trajektorie sind
19 einer Warnung als Vorstufe zum aktiven Systemein- der verfügbare Ausweichraum, potenzielle weitere
griff in einem solchen Szenario zu vernachlässigen Kollisionsobjekte und die Fahrdynamikgrenzen
20 und eine entsprechende HMI-Ausprägung eher als zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit zur Planung
51.4 • Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien
989 51
deren Betrag kE ai k D g sowie dem zugehörigen durch die Vernachlässigung der Kurswinkelände-
1 Winkel i – gemäß den nachfolgenden Gl. 51.3 bis rung während des Manövers, mit zunehmender
51.6 vorgestellt: Manöverdauer zu steigenden Abweichungen zwi-
2 Z schen Soll- und Ist-Position (siehe ▶ Kap. 47). Die
xD v cos Abweichungen überschreiten bei weitem die Tole-
dt;
ranz für den Zielbereich eines die Kollisionsfolgen
3 durch Verlagerung des Kollisionspunktes lindern-
Z
yD v si n den Manövers (Bereich des Hindernisfahrzeugs vor
4 dt;
der Vorderachse), so dass eine gewünschte Kollisi-
Z onskonstellation auf diese Weise nicht sichergestellt
5 v D v0 C ax;sol l . / dt; werden könnte.
6 D
Z
ay;sol l . /
dt:
51.5 Herausforderungen
v bei der Umsetzung
7
Der Winkel γ wird dabei von γ0 = 0° (Vollverzöge- Die Unfalldatenanalyse verdeutlicht, dass im Kreu-
rung) bis γmax = 90° (maximaler Lenkeingriff ohne zungsbereich ein vergleichsweise hohes Potenzial
8 Bremsbetätigung) variiert. Abhängig von der Be- zur Erhöhung der Verkehrssicherheit besteht, insbe-
wegungsrichtung des Hindernisses können die im sondere, da derzeit kein Seriensystem zur umfassen-
9 Prädiktionszeitraum tpred mit variiertem γ erreich- den Kreuzungsassistenz verfügbar ist. Einen ersten
baren Positionen der für den Stoßpunkt relevanten Schritt in diese Richtung geht die im Sommer 2013
10 vorderen Fahrzeugecke Pego,γ,t, mit der jeweils prädi- in der Mercedes-Benz S-Klasse (W222) eingeführte
zierten Position eines zu definierenden Soll-Kollisi- Ausprägung des Bremsassistenten „BAS plus“, die
onspunktes Pobs,soll,t am Hindernisobjekt verglichen Fußgänger und als Neuerung im Vergleich zu be-
51 werden (vgl. . Abb. 51.7). Das Minimum dieser reits verfügbaren Systemen (▶ Kap. 47) erstmals
Differenzbetrachtung nach Gl. 51.7 beschreibt die auch Fahrzeuge im Querverkehr erkennen kann.
12 minimal realisierbare euklidische Distanz zum Auf Basis dieser Erkennung kann der Fahrer im
Sollkollisionspunkt, der mit zugrunde liegender Kreuzungsbereich vor Querverkehr gewarnt wer-
Trajektorienschar im betrachteten Prädiktionszeit- den; zusätzlich wird die Bremsleistung einer vom
13 raum realisiert werden kann. Insofern dieses einen Fahrer eingeleiteten Gefahrenbremsung situations-
zu definierenden Grenzwert Δsmax nicht überschrei- gerecht verstärkt. Der Hersteller selbst bezeichnet
14 tet, bestimmt es über das korrespondierende γ = γCM, das System daher als Bremsassistenten mit Fußgän-
umgerechnet in den zugehörigen Beschleunigungs- ger- und querverkehrsspezifischer Funktionalität
15 vektor, die Vorgabe an die Trajektorienregelung [23]. Da das System eine Reaktion des Fahrers auf
sowie über t = tCM den prädizierten Kollisionszeit- die vorliegende Gefahrensituation voraussetzt, fällt
punkt: es noch nicht in die Kategorie eines Kreuzungsas-
16 sistenzsystems im Sinne dieses Kapitels.
max tpr ed
X X Ein möglicher Grund dafür, dass sich die Ein-
17 Pego;y;t Pobs;sol l;t
Min führung designierter Kreuzungsassistenzsysteme
D0 t Dt0
in Serie – trotz diverser Forschungsaktivitäten in
D
sCM ;tCM : den vergangenen Jahren – schwierig gestaltet, ist
18 die vergleichsweise komplexe Verkehrssituation im
Der aus Ausweichmanövern im Längsverkehr be- Kreuzungsbereich, die hohe Anforderungen ins-
19 kannte Ansatz der Übertragung des Kammschen besondere an die benötigte Umfeldsensorik stellt.
Kreises in den Ortsraum ist bei vorliegender Pro- Abhängig von der umzusetzenden Assistenzfunk-
20 blematik nicht zielführend. Bei einem Ausweichen tion ergeben sich Informationsanforderungen, die
ohne Zurücklenken führt dieser Ansatz, bedingt sich mit aktuellen Seriensensoren nicht oder nur
51.5 • Herausforderungen bei der Umsetzung
991 51
teilweise erfüllen lassen: Entsprechend leiten sich Ein spürbarer Sicherheitsgewinn ist in diesem Fall
Einschränkungen an die realisierbaren Assistenz- jedoch erst zu erwarten, wenn ein relevanter Anteil
funktionen ab. der Fahrzeuge oder Kreuzungen mit entsprechen-
Während für die Umsetzung des beschriebe- den Kommunikationssystemen ausgerüstet ist. In
nen STOP-Schild-Assistenten die Kenntnis über diesem Zusammenhang ist beispielsweise das For-
die vorliegende Verkehrsregelung und über den schungsprojekt simTD zu nennen, in dem Kom-
Abstand zur Haltelinie ausreichen, erfordern die munikationstechniken unter anderem hinsichtlich
beschriebenen Systeme zu Abbiege- oder Einbie- ihrer Eignung für Kreuzungsassistenzanwendungen
ge-Kreuzen-Assistenten zusätzliche Informationen untersucht werden [25].
über Position und Fahrzustandsgrößen anderer Stehen alle erforderlichen Informationen zur
Fahrzeuge im vorfahrtsberechtigten Verkehr so- Verfügung, so ergeben sich aus der Genauigkeit
wie grundlegende Daten über die Geometrie der dieser Daten zusätzliche Einschränkungen für
vorliegenden Kreuzung. Geometrie, Position und die vermeidbaren Unfalltypen. Am Beispiel der
Vorfahrtsregelung der Kreuzung ließen sich bei- Haltewunscherkennung des vorgestellten Einbie-
spielsweise in einer digitalen Karte vermerken [24] ge-Kreuzen-Assistenten ist dieser Zusammenhang
(mit den bekannten Problemen hinsichtlich der Ak- in . Abb. 51.8 qualitativ dargestellt [14]: Abgebil-
tualität des Kartenmaterials). det sind das Anhalteverhalten eines eher sportlichen
Die Herausforderung aus Sicht der Sensorik Fahrers, der geschwindigkeitsabhängige Bremsweg
liegt in der Bestimmung der Position des eige- des Fahrzeugs bei als konstant angenommener
nen Fahrzeugs und in der Erkennung des Fremd- Verzögerung (ax = −8 m/s2) und der Anhalteweg
verkehrs; letzteres erweist sich unter Verzicht auf des Fahrzeugs. Dieser Anhalteweg entspricht dem
Kommunikation insbesondere im Fall von Sicht- spätestmöglichen Warnpunkt bei Einsatz einer
behinderung als große Einschränkung für Systeme Teilbremsung und setzt sich vereinfacht aus dem
zur Einbiegen-/Kreuzen- und Abbiegeassistenz. während der Reaktionszeit des Fahrers teilverzögert
Dann nämlich ist der Nutzen autarker Umfeldsen- zurückgelegten Weg (TR = 1 s; ax = −2 m/s2) und dem
soren (Radar, Lidar oder Video) begrenzt, da durch Bremsweg zusammen.
Objekte wie parkende Fahrzeuge je nach Unfalls- Die Abbildung zeigt, dass sich das Anhaltever-
zenario auch der Erfassungsbereich der Sensoren halten des eher sportlichen Fahrers mit abnehmen-
eingeschränkt wird. Hier werden die Vorzüge von dem Abstand zur Kreuzung näher an die Kurve
Kommunikationslösungen deutlich, die den In- des spätestmöglichen Warnpunktes anschmiegt
formationsaustausch zwischen Fahrzeugen – un- und diese sogar schneidet. Dementsprechend ist
geachtet parkender Fahrzeuge etc. – ermöglichen. das Warndilemma für diesen Fahrertyp nur ober-
992 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz
.. Abb. 51.8 Auswirkung
1 von Sensorungenauigkei-
ten auf die Warnschwellen
eines Einbiege-/Kreu-
2 zen-Assistenten
Fahrzeuggeschwindigkeit
3
4
5
6 Bremsweg
Anhalteweg
7 Sportlicher Fahrer
zeuge – könnte sich die Verbraucherschutzorgani- 12 Hopstock, M.: Advanced Systems for Intersection Safety wi-
thin the BMW Dynamic Driving Simulator. In: Proceedings
sation Euro NCAP erweisen: diese hat für die kom-
of PReVENT in Action, Versailles (2007)
menden Jahre eine Erweiterung der bestehenden 13 Klanner, F.: Entwicklung eines kommunikationsbasierten
Testverfahren zur Bewertung der Fahrzeugsicher- Querverkehrsassistenten im Fahrzeug VDI‐Berichte Reihe
heit angekündigt [29]. Das künftige Sterne-Rating 12, Bd. 685. VDI-Verlag, Düsseldorf (2008)
könnte daher auch Tests von Notbremssystemen in 14 Mages, M.: Top‐Down‐Funktionsentwicklung eines Ein-
biege‐ und Kreuzenassistenten VDI Berichte Reihe 12, Bd.
typischen Kreuzungsszenarien beinhalten.
694. VDI-Verlag, Düsseldorf (2009)
15 Suzuki, T., Benmimoun, A., Chen, J.: Development of an
Intersection Assistant. Technischer Bericht, Denso Auto-
Danksagung motive 12(1), 94 (2007)
16 Pierowicz, J., et al.: Intersection Collision Avoidance Using
IST Countermeasures, NHTSA DOT HS 809 171, Final Report
Herzlicher Dank gilt Matthias Hopstock, der als
(2000)
Koautor dieses Kapitels an der ersten und zweiten 17 Meitinger, K.-H., Heißing, B., Ehmanns, D.: Linksabbiegeas-
Auflage des Handbuchs Fahrerassistenzsysteme be- sistenz – Beispiel für die Top‐Down‐Entwicklung eines
teiligt war. aktiven Sicherheitssystems. In: Aktive Sicherheit durch
Fahrerassistenzsysteme, München (2006)
18 Chovan, J., Tijerina, L., Everson, J., Pierowicz, J., Hendricks,
D.: Examination of Intersection, Left Turn Across Path Cras-
Literatur
hes and Potential IVHS Countermeasures, Potential IVHS
Countermeasures, Cambridge (1994)
1 Institut für Straßenverkehr: Unfalltypenkatalog. Gesamt- 19 Branz, W., Öchsle, F.: Intersection Assistance – Collision
verband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Köln Avoidance System for Turns Across Opposing Lanes of
(1998) Traffic. In: Proceedings of 5th European Congress on ITS,
2 Statistisches Bundesamt: Verkehr – Verkehrsunfälle 2009 Hannover (2005)
Fachserie 8/Reihe 7. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 20 Kraftfahrt‐Bundesamt: Bestand an Kraftfahrzeugen und
(2010) Kraftfahrzeuganhängern nach Fahrzeugalter, FZ 15, 2012
3 Hoppe, M., Zobel, R., Schlag, B.: Identifikation von Einfluss- 21 Stoff, A., Liers, H.: Ausweichfunktionalität für Kreuzungss-
größen auf Verkehrsunfälle als Grundlage für die Beurtei- zenarien zur Unfallfolgenlinderung durch Optimierung der
lung von Fahrerassistenzsystemen am Beispiel von Kreu- Crash‐Kompatibilität. In: 9. VDI‐Tagung Fahrzeugsicherheit
zungsunfällen. In: Fahrer im 21st. Jahrhundert. VDI-Verlag, – Sicherheit 2.0, Berlin (2013)
Braunschweig (2007) 22 Heck, P., et al.: Collision Mitigation for Crossing Traffic in Ur-
4 D40.4 „INTERSAFE Requirements”, PReVENT SP Deliverable, ban Scenarios. In: Proceedings of IEEE Intelligent Vehicles
Brüssel, 2005 Symposium, Gold Coast (2013)
5 GIDAS – German In‐Depth Accident Study – Unfalldaten- 23 Daimler AG: Mercedes‐Benz S‐Klasse Werbebroschüre.
bank Stand 07.2010, Dresden und Hannover, 2010 Daimler AG, Stuttgart (2013)
6 Meitinger, K.-H., et al.: Systematische Top‐Down‐Entwick- 24 Weiss, T., Dietmayer, K.: Automatic Detection of Traffic In-
lung von Kreuzungsassistenzsystemen VDI‐Berichte, Bd. frastructure Objects for the Rapid Generation of Detailed
1864. (2004) Digital Maps Using Laser Scanners. In: Proceedings of IEEE
7 Garber, N., Miller, J., Abel, R., et al.: The Impact of Red Light Intelligent Vehicles Symposium. IEEE Intelligent Transpor-
Cameras (Photo‐Red Enforcement) on Crashes in Virginia, tation Systems Society, Istanbul (2007)
Virginia Transportation Research Council, Final Report, 25 simTD Deliverable D21.4 – Spezifikation der Kommunika-
Charlottesville (2007) tionsprotokolle, Sindelfingen, 2009
8 Yan, X., Radwan, E., Klee, H., Guo, D.: Driver Behavior Du- 26 Gradenegger, B., et al.: Untersuchung des Linksabbiegeas-
ring Yellow Change Interval. In: Proceedings of DSC North sistenten, des Querverkehrsassistenten, des Ampelassis-
America, Orlando (2005) tenten und des potentiellen Nutzens eines Workload‐Ma-
9 Hopstock, M., Klanner, F.: Intersection Safety – Just a Vision? nagement‐Systems, Abschlussbericht. Würzburger Institut
BMW Activities for Active and Preventive Safety at Intersec- für Verkehrswissenschaften, Würzburg (2006)
tions. In: Proceedings of Car Safety, Berlin (2007) 27 AKTIV Internetseite: www.aktiv-online.org (abgerufen am
10 Kosch, T., Ehmanns, D.: Entwicklung von Kreuzungsassis- 16.12.2010)
tenzsystemen und Funktionalitätserweiterungen durch 28 Meinecke, M.‐M. et al.: User Needs and Operational Re-
den Einsatz von Kommunikationstechnologien. In: Aktive quirements for a Cooperative Intersecion Safety System,
Sicherheit durch Fahrerassistenzsysteme, München (2006) Intersafe2 Deliverable 3.1, 2009
11 Donath, M., et al.: Intersection Decision Support: An Over- 29 Euro NCAP: 2020 ROADMAP, Brüssel, June 2013
view – Final Report. University of Minnesota, September
(2007)
995 52
Stauassistenz
und -automation
Stefan Lüke, Oliver Fochler, Thomas Schaller, Uwe Regensburger
52.1 Einleitung – 996
52.2 Umfeldinformationen – 997
52.3 Ausprägungsstufen – 998
52.4 Interaktion von Fahrer und System – 1003
52.5 Schlussbemerkungen – 1007
Literatur – 1007
9
52.1.1 Motivation 52.1.3 Begriffsdefinitionen
10
Heutige Assistenzsysteme für den Stop-and-go-Ver- Zur begrifflichen und rechtlichen Einordnung ver-
kehr übernehmen nur die Längsregelung und entlas- schiedener Realisierungsformen der Systeme zur Un-
11 ten den Fahrer damit nur teilweise von der Fahrauf- terstützung des Fahrers in Stausituationen ist es sinn-
gabe; durch die zusätzliche Assistenz oder Automation voll, diese nicht einzeln zu betrachten, sondern sie
52 der Querführungsaufgabe kann der Fahrer weiter anhand einer allgemein gefassteren Kategorisierung
entlastet werden. Bei der Systemausprägung stehen zu bewerten. Eine solche begriffliche Kategorisierung
rechtliche Rahmenbedingungen, Systemkosten, Haf- von Ausprägungsstufen allgemeiner Assistenz- oder
13 tungsfragen und zusätzliche Automatisierungsrisi- Automationssysteme findet sich in einem Bericht der
ken einem hohen Automatisierungsgrad gegenüber. Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) [2]. Details
14 Adaptive Cruise Control (ACC)-Systeme, die zur rechtlichen Einordnung dieser Systeme sind in
– zumeist radargestützt – die Längsführung des ▶ Kap. 3 dieses Buches ausgeführt. Entscheidend für
15 Fahrzeugs übernehmen, haben sich auf dem Markt die Diskussion an dieser Stelle sind die Definitionen
etabliert und werden inzwischen von nahezu allen der Ausprägungsstufen und deren Implikationen für
Herstellern angeboten. In den letzten Jahren wur- die Verantwortlichkeit des Fahrers hinsichtlich der
16 den vermehrt Full Speed Range Adaptive Cruise Fahrzeugführung in der Stausituation.
Control (FSRA)-Systeme (s. ▶ Kap. 46) eingeführt, Bei assistierten Systemen übernimmt das Sys-
17 die eine Regelung der Geschwindigkeit bis hin zum tem entweder die Längs- oder die Querführung des
Stillstand des Fahrzeugs inklusive anschließendem Fahrzeugs in gewissen Grenzen, wobei sich daraus
Wiederanfahren bieten. ableitet, dass der Fahrer wegen der verbleibenden
18 Der größere Fahrernutzen solcher Systeme lässt Aufgabe das System jederzeit überwacht und zur
zudem eine verstärkte Nutzung durch die Kunden Übernahme der Fahrzeugführung bereit ist. Teilau-
19 erwarten. Eine längere Nutzungszeit von Regelsyste- tomatisierte Systeme übernehmen nun gleichzeitig
men erhöht wiederum die damit verbundenen Vor- die Längs- und die Querführung in bestimmten
20 teile einer flüssigeren Fahrweise, wie beispielsweise Szenarien, der Fahrer muss das System aber auch
eine verbesserte CO2-Effizienz. hier dauerhaft überwachen und zur sofortigen Über-
52.2 • Umfeldinformationen
997 52
1
2
3
4
5
6
7 .. Abb. 52.2 Illustration der Abstufungen in Komplexität und Größe der Fahrerentlastung
ausreichend. Damit sind in vielen heutigen Fahr- betrachteten Systems bis hin zu hochautomatisierten
8 zeugen, die mit Frontradaren für ACC-Systeme Funktionen gesteigert, so kann die Einbindung von
(s. ▶ Kap. 46) und Kameras für Lane Departure GPS-Positionen und hochgenauen Kartendaten nötig
9 Warning oder Lane Keeping Support (s. ▶ Kap. 49) werden, um die erforderliche Redundanz hinsicht-
ausgerüstet sind, bereits die sensorischen Grund- lich der Anzahl und Krümmung der Fahrstreifen
10 lagen verfügbar. Insbesondere in dichtem Verkehr, zu erlangen. Diese Informationen spielen insbeson-
wo Fahrstreifenmarkierungen durch das vorausfah- dere für eine Applikation der Funktionen auf inner-
rende Fahrzeug ganz oder teilweise verdeckt sein städtische Szenarien eine entscheidende Rolle. Der
11 können, muss die Fahrzeugquerregelung eine Mi- Abgleich mit der sensorischen Erfassung von über
schung aus Orientierung an Fahrstreifenmarkierun- Fahrbahnmarkierungen hinausgehenden Landmar-
52 gen und Vorderfahrzeug vorsehen. ken, beispielsweise Brückenpfeilern oder Verkehrs-
Für eine umfassendere, weitergehende Ent- zeichen, ist in solchen Realisierungen naheliegend.
lastung des Fahrers sind Informationen über den
13 seitlichen und rückwärtigen Verkehr unerlässlich.
Seitlich fahrende Fahrzeuge und seitlich liegende 52.3 Ausprägungsstufen
14 Fahrstreifenmarkierungen könnten hierbei durch
seitlich und rückwärtig angebrachte Kameras eines 52.3.1 Stop-and-go-Assistent
mit reiner Längsregelung
15 sogenannten Surround-View-Systems erfasst wer-
den. Auch Nahbereichsradare zur Verfolgung seit-
lich fahrender Fahrzeuge können hier zum Einsatz FSRA kann funktional und technisch als Grund-
16 kommen. Aufgrund der vergleichsweise niedrigen lage für die weitergehenden Ausprägungsstufen der
Relativgeschwindigkeiten in den für Stausysteme Stauassistenz und -automation, s. . Abb. 52.2, ge-
17 relevanten Szenarien kann auf rückwärtige Fernbe- sehen werden, da es die komplette Längsregelung
reichsradare verzichtet werden. eines Fahrzeugs abdeckt.
GPS-Unterstützung könnte in niedrigen Auto- Neben der Assistenz bei der Längsführung muss
18 matisierungsstufen dazu verwendet werden, um die der Fahrer bei FSRA-Systemen die Querführung
Funktion auf sichere und daher dem vorgesehenen permanent selbst durchführen. Das System bleibt
19 Nutzungsszenario entsprechende Bereiche – beispiels- somit technisch und rechtlich ein Assistenzsystem,
weise Autobahnen – einzuschränken. Kartendaten bei dem der Fahrer in seiner Fahraufgabe unter-
20 können aber auch zur Verbesserung der Systemver- stützt wird, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt die
fügbarkeit genutzt werden: Wird die Komplexität des Verantwortung abzugeben.
52.3 • Ausprägungsstufen
999 52
0 1 0 1 0 1
yP0 0 vEV 0 y0
B C B C B C
BP C D B0 vEV C B C
@ A @ 0 A @ A
P T 0 0 0 T
0 1
vEV 0 !
B C ˇEV
B
C@ 0 1C
A P :
EV
0 0 (52.1)
1
2
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 52.4 Regelkreis für die Querregelung
10
moment zur Ansteuerung der Servoeinheit des Fahrstreifenmarkierungen (Exzentrizität im Fahr-
Lenksystems berechnet. Durch dieses Lenkmoment streifen, Orientierung zur Trajektorie und Trajekto-
11 erfolgt eine dauerhafte Querführung hin zur Soll- rienkrümmung) dient – falls verfügbar – zum einen
trajektorie. grundsätzlich der Verbesserung der Regelungsquali-
52 Stauassistenten der ersten Generation nut- tät durch Berücksichtigung einer globalen Orientie-
zen die Information über die Relativ-Position des rungs- und Krümmungsinformation. Zum anderen
Vorderfahrzeugs in Fällen, in denen Fahrstreifen- dient es dem Generieren einer frühzeitigen Über-
13 markierungen nicht ausreichend erkannt werden. nahmeaufforderung und Abschaltung der Quer-
Die Sicht üblicher, hinter der Windschutzscheibe führungsunterstützung, falls das Vorderfahrzeug
14 montierter ADAS-Kameras auf Fahrstreifenmarkie- die Fahrstreifenmarkierungen überschreitet und
rungen wird bei Staugeschwindigkeiten häufig auf- einen Fahrstreifenwechsel ausführt. Besser als ein
15 grund geringer Abstände durch andere Fahrzeuge einfaches Abschalten ist in dieser Fahrsituation ein
verdeckt. Gleichzeitig stehen jedoch Informationen Folgen entlang der Fahrstreifenmarkierungen (Zen-
über das Vorderfahrzeug – vor allem in Stausitua- trierung im Fahrstreifen), falls diese ausreichend gut
16 tionen – wesentlich häufiger und stabiler zur Ver- und lange erkannt werden. Auf diese Weise ist es
fügung. In diesem Zustand ist der Stauassistent als das Ziel des Assistenzsystems, das Fahrzeug bis zur
17 Folgeassistent ausgeprägt, siehe . Abb. 52.5. Dabei Übernahme durch den Fahrer im eigenen Fahrstrei-
erhält der Fahrer ein für ihn durchgängig nachvoll- fen zu halten.
ziehbares Systemverhalten, nämlich die Verfolgung Aus Sicht des Fahrers erscheint eine Querfüh-
18 des Vorderfahrzeugs. Bei einem Fahrstreifenwechsel rungsunterstützung innerhalb des Fahrstreifens auf
des Vorderfahrzeugs muss der Fahrer die Querrege- Basis der Fahrbahnmarkierung als erstrebenswert.
19 lung wieder vollständig selbst übernehmen, da das Somit wird das Entwicklungsziel von Stauassis-
System in der Ausprägung Folgeassistent dem Vor- tenten der Zukunft stärker in die Richtung Fahr-
20 derfahrzeug auch beim Fahrstreifenwechsel folgen streifenhalteassistent gehen, wofür eine höhere
würde. Die Informationen aus der Detektion der Verfügbarkeit und stabilere Erkennung der Fahr-
52.3 • Ausprägungsstufen
1001 52
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 .. Abb. 52.7 Illustration einer automatisierten Staufahrt (Quelle: Continental AG)
0 1 0 10 1
52 Anforderungen an die Verfügbarkeit der Fahrstrei- y0l
B C B
1 0 0
CB C
y0
feninformation. B C D B0 0A @ C
C B
@ lA @ 1 A:
Zudem muss dem Fahrer im Vergleich zum
13 Fahrzeugfolgeassistent und Fahrstreifenhalteassis- T l 0 0 1 T (52.4)
tent beim Erreichen von Systemgrenzen – im be-
14 trachteten Fall insbesondere der Grenzgeschwin- Der Index l gibt hierbei an, dass die Messgrößen zur
digkeit des Fahrstreifenfolgeautomaten – oder in Berechnung der Solltrajektorie aus verschiedenen
15 Fehlerfällen eine ausreichende Übernahmezeit zur Quellen stammen können, z. B. Frontkamera, Park-
Verfügung gestellt werden, bevor er die Fahraufgabe kamera, hochgenaue digitale Karten.
wieder übernehmen muss. Um den Komfortgewinn Aus diesen Anforderungen ergeben sich hohe
16 des Fahrers nicht durch zu häufige Übernahmeauf- Ansprüche an Redundanzkonzepte für Umgebungs-
forderungen zunichte zu machen, ist zudem eine erfassung, Funktion und Aktorik. Das System muss
17 hohe Verfügbarkeit des Systems zu gewährleisten. so ausgelegt und abgesichert werden, dass innerhalb
Die Einbindung von hochgenauem Kartenmaterial der definierten Übernahmezeiten keine kritischen
in Verbindung mit einem Straßenmodell könnte Situationen auftreten, die das Fahrzeug nicht selbst-
18 hier eine Möglichkeit bilden, die Verfügbarkeit des ständig beherrschen kann.
Systems – beispielsweise bei fehlenden Fahrbahn- Die Grenzgeschwindigkeit des Systems sollte
19 markierungen – weiter zu erhöhen. Durch den – wie auch schon im Fall der Ausprägung als As-
Wegfall der Vorderfahrzeuginformation zur Be- sistenzsystem – so gewählt werden, dass ein „Mit-
20 rechnung der Solltrajektorie vereinfacht sich die in schwimmen“ in typischen Stop-and-go-Situationen
Gl. 52.3 dargestellte Messgleichung zu ermöglicht wird, ohne durch eine zu hoch gewählte
52.4 • Interaktion von Fahrer und System
1003 52
.. Abb. 52.8 Stauassistent a) aktiv und b) verfügbar (Quelle: Bedienungsanleitung BMW i3, 2013)
Grenze unnötige Systemanforderungen zu erzeu- stellt einen neuen Betriebszustand (Mode) dar, der
gen. Studien über Stausituationen zeigen, dass eine allerdings nur in bestimmten Situationen (Stau, sto-
obere Grenze in der Größenordnung von 50 km/h ckender Verkehr) zur Verfügung stehen soll.
ein komfortables Erleben der Funktion durch den
Nutzer ermöglichen sollte [3]. 52.4.1.1 Beispiel: HMI bei BMW
Im Folgenden ist das Anzeigekonzept des Stauassis-
tenten des BMW i3 dargestellt. Ziel des BMW-Stau-
52.4 Interaktion von Fahrer assistenten ist es, dem Fahrer eine Entlastung in
und System der Längs- und Querführung in Stausituationen zu
ermöglichen. Der bei BMW seit 2013 angebotene
Ein wichtiger Aspekt bei der Realisation solcher Stauassistent benötigt zur Längs- und Querführung
Systeme – wie auch bei der Ausprägung als Assis- nur eine Monokamera, wodurch dieses System ver-
tenzsystem – wird die Gestaltung der Mensch-Ma- gleichsweise kostengünstig über alle Baureihen, und
schine-Schnittstelle (engl. Human Machine Inter- somit auch im BMW i3, angeboten wird.
face, kurz HMI) sein. Der Fahrer sollte sich über Die aktive Längs- und Querführungsunterstüt-
den Systemzustand jederzeit im Klaren sein, um in zung im Stau wird hier, wie in . Abb. 52.8a dar-
Übernahmesituationen intuitiv richtig reagieren gestellt, durch das Lenkrad und den verlängerten
können. Über eine Fahrerzustandserkennung, s. seitlichen Balken angezeigt. Ist die Funktion akti-
▶ Kap. 38, ist künftig eine dynamische Interaktion viert und aufgrund der Rahmenbedingungen (z. B.
zwischen Fahrzeug und Fahrer möglich, bei der sich Autobahn verifiziert über Kartendaten) verfügbar,
der Zeitpunkt einer angeforderten Übernahme nach die Fahrzeuggeschwindigkeit jedoch außerhalb des
dem aktuellen Aufmerksamkeitsgrad des Fahrers Funktionsbereichs von 0–60 km/h, werden nur die
richtet. seitlichen Balken angezeigt (. Abb. 52.8b). ACC
ist aktiv und die Querführung ist in Bereitschaft;
in diesem Zustand erfolgt bei Unterschreiten der
52.4.1 Mensch-Maschine-Schnittstelle 60 km/h-Grenze eine Aktivierung der Querführung
(HMI) ohne Nutzerinteraktion. Bei Überschreiten einer
Systemgrenze (z. B. detektiertes Hands-off) und der
Gegenüber einem reinen Längsführungssystem damit verbundenen Deaktivierung der Querfüh-
(FSRA) steigen die Anforderungen an das HMI bei rung erfolgt eine optische (rot blinkendes Lenkrad
zusätzlicher Querführungsunterstützung. Diese in . Abb. 52.8a) und akustische Fahrerinformation.
1004 Kapitel 52 • Stauassistenz und -automation
52.4.2 Übergabe
1 und Kontrollierbarkeit
adäquate, unfallvermeidende Übernahme, die darü- schen Verkehrssituationen auch sehr kleine mittlere
ber hinaus eine abgeschlossene kognitive Verarbei- Zeiten um 2 s gemessen wurden. Die Dringlichkeit
tung sowie die Auswahl einer adäquaten Handlung der Übernahme hat offensichtlich großen Einfluss
beinhaltet. Gerade die Zeitdauer für eine adäquate auf die Übernahmezeit, kann aber zu Lasten der
Übernahme hängt davon ab, ob sich der Fahrer in Übernahmegüte gehen.
der Übernahmesituation kognitiv komplett neu Interessant ist auch die Frage, wie sich ein Sys-
orientieren muss oder ob er noch über ein gültiges tem verhalten soll, wenn der Fahrer einer Übernah-
mentales Modell der Verkehrssituation verfügt und meaufforderung nicht nachkommt: Eine Deaktivie-
dieses nur aktualisieren muss. Je nach Fahrertyp er- rung der Funktion ist hier sicherlich die technisch
geben sich in der Studie bei einer unfallkritischen einfachste Lösung; bei teilautomatisierten Funkti-
Verkehrssituation nach der Übernahmeaufforde- onen ist dies gängige Praxis. Je nach Fahrsituation
rung mittlere Zeiten von 1,6 bis 2,3 s bis zur Einlei- kann ein graduelles Abschalten der Funktion der
tung einer Bremsreaktion. abrupten Deaktivierung vorgezogen werden. Ob
Generell muss bei hochautomatisiertem Fah- nach abgelaufener Übernahmezeit bei hochautoma-
ren neben der Dauer einer Fahrerübergabe auch tisierten Funktionen das Deaktivieren der Funktion
die Qualität der Übernahme und damit einher- oder ein sog. „minimal risk maneuver“ vorzuziehen
gehend die Kontrollierbarkeit betrachtet werden. ist, wurde bis heute nicht geklärt und hängt sicher
Für hochautomatisiertes Fahren liegen bzgl. der auch vom Szenario ab.
Kontrollierbarkeit noch wenige Erkenntnisse vor. Untersuchungen zur Fahrerübernahme mit dem
Bisherige Studien adressieren die Normalfahrt und Fokus speziell auf Stausituationen sind nicht be-
untersuchen beispielsweise Störaufschaltungen in kannt. Aufgrund der geringen Fahrzeuggeschwin-
der elektronischen Servolenkung und deren Be- digkeit ist ein „Überreagieren“ eines Fahrers bei
herrschbarkeit [7, 8]. der Übergabe nicht zu vermuten. Des Weiteren ist
Damböck et al. [9] erkennen, dass bei starker in Stauszenarien der sichere Zustand „Anhalten“
manueller, visueller und kognitiver Nebentätigkeit problemloser anzusteuern und somit leicht als Lö-
in nicht-kritischen Verkehrssituationen im Ver- sungsvariante in kritischen Verkehrssituationen zu
gleich zu einer Gruppe von Normalfahrern erst bei nutzen.
einer Übernahmezeit von 6 bis 8 s keine signifikan- Vollautomatisierte Systeme stellen den höchs-
ten Unterschiede in der Güte der Situationsbewäl- ten Automatisierungsgrad dar und entbinden den
tigung mehr existieren. Der Versuch adressiert Sta- Fahrer für lange Zeit von der Überwachung des
bilisierungs-, Führungs- und Navigationsaufgaben: Verkehrsgeschehens. Welche Anforderungen sich
Das Übernahmeszenario stellt in allen drei Varian- an die Übergabeprozeduren zum Verlassen des voll-
ten keine kritische Verkehrssituation dar, sondern automatisierten Zustandes ergeben und wie lange
der Fahrer kann den ihm zur Verfügung stehenden, eine derartige Übergabe wirklich dauert, wirft ak-
relativ langen Zeitraum vollständig ausnutzen. Der tuell noch viele Fragen auf. Man stelle sich zur Ver-
Einfluss einer Variation der Nebentätigkeit führt deutlichung beispielsweise einen schlafenden Fah-
bei Petermann-Stock et al. [10] – unabhängig von rer als Ausgangssituation der Übergabe vor.
Alter oder Geschlecht der Probanden – zu maxima-
len Übernahmezeiten zwischen 2,4 s und 8,8 s. Zu
vergleichbaren Werten kommen Giesler und Müller 52.4.3 Aspekte der marktfähigen
[11] in acht verschiedenen Studien: Der Mittelwert Realisierbarkeit
dieser Übernahmezeiten liegt bei 2,7 s, das Maxi-
mum ebenfalls bei 8,8 s. 52.4.3.1 Rechtliche Einordnung
Insgesamt lässt sich sagen, dass die bisher Für Stauassistenten und insbesondere für Systeme
durchgeführten Studien zum hochautomatisierten zur Stauautomatisierung stellen sich hinsichtlich der
Fahren Übernahmezeiten von bis zu circa 9 s finden. rechtlichen Einordnung und bezüglich Haftungsfra-
So lagen bei zeitlich unkritischen Verkehrssituatio- gen die gleichen Herausforderungen wie für andere
nen längere Übernahmezeiten vor, während in kriti- Assistenzsysteme oder Automatisierungsszenarien
1006 Kapitel 52 • Stauassistenz und -automation
auch. Während fremdverschuldete Unfälle weiterhin nicht erforderlich. Ob das technische Sicherheits-
1 problemlos einzuordnen sein dürften, ergibt sich bei konzept je nach Ausprägung aufgrund der geringen
Schäden durch technische Ausfälle oder eigenver- Eigengeschwindigkeit des Fahrzeugs und den damit
2 schuldete Unfälle – zum Beispiel durch Ignorieren verbundenen Auswirkungen eines Systemfehlers mit
von Übernahmeaufforderungen – ein Spannungs- heute im Automotive-Bereich verfügbaren Kompo-
feld zwischen Herstellern und Kunden. nenten (Sensoren und Aktoren) umgesetzt werden
3 Für die Einführung und Vermarktung von hoch- kann, ist eine aktuell diskutierte Fragestellung.
automatisierten Systemen für den Stop-and-go- Mikroskopisch betrachtet – also auf das Ego-Fahr-
4 Verkehr werden diese Aspekte noch zu klären sein. zeug und die unmittelbar benachbarten Fahrzeuge
Der Stauautomat ist als hochautomatisiertes System beschränkt – lässt sich die Stop-and-go-Situation auf
5 derzeit oberhalb von 10 km/h nicht zulassungsfähig einer Autobahn allerdings kaum von Stausituationen
[12]. Für eine ausführlichere Diskussion dieser The- auf Landstraßen oder stockendem Verkehr im urba-
men sei an dieser Stelle auf ▶ Kap. 3 verwiesen. nen Umfeld unterscheiden (s. . Abb. 52.1). Gerade
6 der Stadtverkehr stellt jedoch für ein automatisiertes
52.4.3.2 Analyse der Marktchancen System besondere Herausforderungen dar: Neben
7 Verglichen mit der Umsetzung hochautomatisierter Kreuzungen, Abbiegefahrstreifen, Lichtsignalanla-
Funktionen bei hohen Geschwindigkeiten weist die gen sind hier vor allem die sog. schwächeren Ver-
spezifische Automatisierung von Stauszenarien meh- kehrsteilnehmer zu nennen. Mit zwischen den Autos
8 rere Vorteile auf, die die technische und damit auch kreuzenden Fußgängern oder Fahrradfahrern ist im
marktfähige Realisierbarkeit deutlich vereinfachen. urbanen Umfeld auch im Stop-and-go-Verkehr je-
9 Die Automatisierung der Längs- und Querführung derzeit zu rechnen. Ein System, das in diesem Um-
bei typischen Geschwindigkeiten des Stop-and-go- feld eine sichere Automatisierung anbieten soll, muss
10 Verkehrs bis etwa 50 km/h benötigt im Vergleich daher vor allem schwächere Verkehrsteilnehmer
zur Automatisierung bei höheren Geschwindigkei- jederzeit zuverlässig erkennen können. Kreuzungs-
ten geringere Reichweiten der verwendeten Senso- bereiche und andere komplexe Szenarien muss das
11 rik. Das System ist auch nicht auf ein aufwendiges System so frühzeitig erkennen, dass der Fahrer mit
und kostenintensives Backend-System angewiesen ausreichender Vorwarnzeit zur Übernahme an die-
52 und der Aufwand zur Absicherung der Funktion im sen Systemgrenzen aufgefordert wird. Diese Punkte
Fehlerfall, z. B. bei Aktorausfall, wird wegen des kur- erhöhen die Anforderungen an Sensorik, Umfeld-
zen Anhalteweges ebenfalls verringert. Insbesondere modellierung und Situationsanalyse gegenüber der
13 der Stop-and-go-Verkehr auf Autobahnen stellt ein Autobahnsituation maßgeblich, so dass ein auf Auto-
vergleichsweise einfach zu beschreibendes und zu er- bahnen ausgelegtes System zur Stauautomatisierung
14 fassendes Szenario dar: In diesem kreuzungsfreien nicht ohne Weiteres im urbanen Umfeld angewendet
Umfeld gibt es keine Lichtsignalanlagen – außer in werden kann. Für die zuverlässige Erkennung – ob
15 Sondersituationen vor Tunneln – und auch mit kreu- sich das Fahrzeug im Stadtverkehr oder auf einer
zenden Fußgängern oder Radfahren ist im Normal- Autobahn befindet – reicht die Bordsensorik eines
fall nicht zu rechnen; zudem sind die auf Autobah- auf Autobahnen ausgelegten Systems nicht aus. Eine
16 nen vorzufindenden Kurvenradien sehr groß. Diese mögliche Lösung wäre hier, die Karteninformationen
Einschränkungen der Komplexität des Szenarios eines üblichen Navigationssystems zur Unterschei-
17 reduzieren die Anforderungen an die Auslegung der dung heranzuziehen.
Fahrzeugsensorik und vor allem an die Modellierung In diesem Punkt kann sich ein Spannungsfeld
des Umfelds erheblich. Die Regelung der Funktion zwischen Auslegung des Systems und der Kundener-
18 kann allein anhand der Geschwindigkeiten und Posi- wartung ergeben: Kunden, die eine Automatisierung
tionen der das Ego-Fahrzeug umgebenden Fahrzeuge der Quer- und Längsregelung in Stausituationen auf
19 sowie der Fahrbahnmarkierungen erfolgen. Eine all- der Autobahn positiv erlebt haben, wünschen sich
gemeinere und erheblich aufwendigere Detektion des ein breiteres Einsatzgebiet, beispielsweise auf Land-
20 befahrbaren Raumes ist – zumindest für einfachere straßen oder im urbanen Umfeld.
Ausprägungsstufen des Systems – s. ▶ Abschn. 52.3,
Literatur
1007 52
52.5 Schlussbemerkungen 4 Daimler AG: „Die Fahrassistenzsysteme: Helfer im Hinter-
grund“, Pressemitteilung, Stuttgart/Toronto, 02.07.2013
5 Niederée, U., Vollrath, M.: Systemausfälle bei Längsfüh-
Mit der zunehmenden Verbreitung von FSRA-Sys- rungsassistenten – Sind bessere Systeme schlechter? In:
temen auch in kleineren Fahrzeugklassen und mit 8. Berliner Werkstatt Mensch‐Maschine‐Systeme, Bd. 22.
dem erreichten Stand von Güte, Verfügbarkeit und (2009)
Qualität der reinen Längsregelsysteme zum einen 6 Zeeb, K., Schrauf, M.: Re‐ vs. Neuorientierung: Situationsge-
(s. ▶ Kap. 46), sowie der nun am Markt etablierten
rechtes Blickverhalten beim hochautomatisierten Fahren.
In: AAET 2014: Automatisierungssysteme, Assistenzsys-
Querführungssysteme (s. ▶ Kap. 49) zum anderen, teme und eingebettete Systeme für Transportmittel. ITS
ist es nun an der Zeit, auf dieser Basis den nächs- Niedersachsen, Braunschweig (2014)
ten Schritt zu gehen und die längs- und querfüh- 7 Neukum, A., et al.: Einflussfaktor Fahrzeug – Zur Übertrag-
renden Systeme zu einem neuen, umfassenderen barkeit von Aussagen über die Wirkung von Zusatzlenk-
momenten VDI‐Berichte, Bd. 2104., S. 361–374 (2010)
System zu verbinden. Dies kann klassisch als As-
8 Neukum, A., et al.: Fahrer‐Fahrzeug‐Interaktion bei fehler-
sistenzsystem in der Kategorie Teilautomatisierung haften Eingriffen eines EPS‐Lenksystems VDI‐Berichte, Bd.
erfolgen; einen großen Schritt nach vorne in puncto 2085., S. 107–124 (2009)
Kundennutzen und -akzeptanz stellt aber erst ein 9 Damböck, D., Farid, M., Tönert, L., Bengler, K.: Übernahme-
hochautomatisiertes System dar, das dem Fahrer zeiten beim hochautomatisierten Fahren. In: 5. Tagung
Fahrerassistenz, München (2012)
fahrfremde Nebentätigkeiten ermöglicht. Ein mög-
10 Petermann-Stock, I., Hackenberg, L., Muhr, T., Mergl, C.: Wie
liches erstes System mit verhältnismäßig niedriger lange braucht der Fahrer? Eine Analyse zu Übernahmezei-
Grenzgeschwindigkeit bildet der Fahrstreifenfol- ten aus verschiedenen Nebentätigkeiten während einer
geautomat für den Stau; Nachteil eines derartigen hochautomatisierten Staufahrt. In: 6. Tagung Fahreras-
Systems ist das Erreichen der Systemgrenze an der sistenz: Der Weg zum automatischen Fahren, München
(2013)
Grenzgeschwindigkeit – was je nach Verkehrsfluss
11 Giesler, B., Müller, T.: Opportunities and challenges on the
mehr oder weniger häufig auftreten kann. Aus die- route to piloted driving. In: 4th International Munich Chas-
sem Grund wird beim Kunden schnell der Wunsch sis Symposium, München (2013)
nach einem durchgängigen System für den gesam- 12 UN/ECE Regelung Nr. 79 (ECE‐R 79): „Einheitliche Bedin-
ten Geschwindigkeitsbereich aufkommen. Die Re- gungen für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich
der Lenkanlage”, Revision 2, 20. Januar 2006
alisierung von hochautomatisierten Systemen ist
bis heute aus rechtlichen und technischen Gründen
noch nicht möglich. Einen ersten Schritt bei der Re-
alisierung längs- und querführender Assistenzsys-
teme haben Mercedes-Benz und BMW im Jahr 2013
mit der Einführung von querführenden Funktionen
bereits gemacht. Sicher ist dies erst der Anfang auf
dem weiten Weg hin zum autonomen Fahren und
viele Systeme werden noch am Markt folgen.
Literatur
Bahnführungsassistenz
für Nutzfahrzeuge
Karlheinz Dörner, Walter Schwertberger, Eberhard Hipp
Ergänzend zu den vorangegangenen Kapiteln der wagen, Berufskraftfahrer. Das bedeutet zum einen,
41 Bahnführungsassistenz wird in diesem Abschnitt dass diese Fahrer am Steuer der Nutzfahrzeuge ihren
auf die speziellen Merkmale der Bahnführungsas- Arbeitsplatz haben; daher ist auch der Begriff Fahrer-
42 sistenz für Nutzfahrzeuge eingegangen. Mit Nutz- arbeitsplatz geläufig. Die Fahrer gehen in der Regel
fahrzeugen sind hier insbesondere schwere Last- pro Arbeitstag ca. neun Stunden ihrer Fahraufgabe
kraftwagen, z. B. Sattelzugmaschinen, und Busse nach. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine ergono-
43 zur Personenbeförderung gemeint. Statistisch be- mische Gestaltung des Fahrerarbeitsplatzes ist und
trachtet zählen Reisebusse mit zu den sichersten beispielsweise eine Klimaanlage in einem Lkw nicht
44 Verkehrsmitteln im Straßenverkehr. Kommt es als Luxus für den Fahrer angesehen werden kann,
jedoch zu einem Unfall, so besteht im Vergleich sondern zur Erhaltung der täglichen Fahrerkondition
45 zum durchschnittlich mit 1,2 Personen besetzten und somit auch zur Fahrsicherheit beiträgt.
Personenkraftwagen ein erheblich höheres Unfall- Zum anderen ist für viele Berufsfahrer der Lkw
schadenspotenzial aufgrund der deutlich höheren gleichzeitig auch Wohn- und Schlafraum. Dies ist
46 Anzahl an Passagieren. Hinsichtlich der bewegten ein wesentliches Merkmal beim Wohnraumdesign
Massen besteht bei schweren Nutzfahrzeugen auf- von Lkw, die im Fernverkehr eingesetzt werden.
47 grund der kinetischen Energie bei einem Unfall Denn nur ein gut ausgeruhter Fahrer kann seine
ebenfalls ein höheres Unfallschadenspotenzial im tägliche Fahraufgabe souverän und sicher bewälti-
Vergleich zu Personenkraftwagen. Dies gilt insbe- gen. So ist neben einem qualitativ hochwertigen Bett
48 sondere beim Transport von Gefahrgütern. auch eine gute Geräuschdämmung ein wesentlicher
Passive Sicherheitsmaßnahmen erreichen bei Faktor. Häufig sind Rastplätze so angeordnet, dass
49 schweren Nutzfahrzeugen schnell ihre physikali- die Fahrer ihren Lkw stirnseitig mit dem Fahrerhaus
schen Grenzen. Im Gegensatz dazu können aktive zur Autobahn hin abstellen müssen. Für den Fah-
50 Sicherheitssysteme speziell für Nutzfahrzeuge we- rer ist die Kombination aus Wohn- und Arbeitsplatz
sentlich zur weiteren Steigerung der Verkehrssicher- entscheidend, da die Lenk- und Ruhezeiten exakt
heit und der Minimierung von Unfallfolgen beitra- vorgegeben sind (vgl. ▶ Tab. 53.1).
51 gen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die am Die Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern sowie
Markt verfügbaren Bahnführungsassistenzsysteme die Fahrgeschwindigkeiten werden in digitalen
52 und deren nutzfahrzeugspezifische Merkmale. Fahrtenschreibern (EG-Kontrollgerät) regist-
Fahrerassistenzsysteme leisten einen wertvol- riert. Mithilfe dieser EG-Kontrollgeräte kann die
len Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Fahrtätigkeit der Fahrer überwacht werden (vgl.
53 Zu diesem Resultat kommt z. B. die wissenschaftli- . Abb. 53.1). Aufgrund enger Terminpläne, mo-
che Analyse von Unfällen mit Beteiligung schwerer derner Just-in-Sequence-Konzepte und stetig wach-
54 Nutzfahrzeuge, die gemeinsam von Allianz Zen- sendem Güterverkehrsaufkommen sind die Fahrer
trum für Technik und MAN Nutzfahrzeuge im Rah- heute erheblichem Druck ausgesetzt. Da die Park-
55 men des Projekts „Safe Truck“ durchgeführt wurde und Rastplätze für Lkw in der Vergangenheit nicht
[1]. In diesem vom Bundesministerium für Bildung entsprechend dem gestiegenen Verkehrsaufkom-
und Forschung (BMBF) geförderten Projekt wurden men erweitert wurden, ist es für Lkw-Fahrer nicht
56 Technologien für aktive, vorausschauende Sicher- einfach, zu einem geeigneten Zeitpunkt einen freien
heitssysteme entwickelt. Künftig in Nutzfahrzeugen Parkplatz zu finden. Hinzu kommt bei gleichblei-
57 eingesetzt, sollen sie Unfälle vermeiden bzw. deren bend konstanter Fahrgeschwindigkeit die Gefahr,
Folgen mindern. dass die Aufmerksamkeit nach stundenlanger Fahrt
nachlässt. Kritische Situationen entstehen, wenn er-
58 müdete Fahrer einen Parkplatz suchen und mangels
53.1 Anforderungen an die Fahrer Parkmöglichkeiten gezwungen sind weiterzufahren
59 von Nutzfahrzeugen – oder von der Polizei aus dem Schlaf geweckt und
zur Weiterfahrt aufgefordert werden, weil sie in der
60 Die Fahrer der hier angesprochenen Nutzfahrzeuge Not ihr Fahrzeug außerhalb zulässiger Parkbereiche
sind, im Gegensatz zu Fahrern von Personenkraft- abgestellt haben.
53.1 • Anforderungen an die Fahrer von Nutzfahrzeugen
1011 53
.. Tab. 53.1 Zusammenfassung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 über Lenk- und Ruhezeiten (es sei darauf hingewie-
sen, dass es sich hier lediglich um eine informative Zusammenstellung für dieses Handbuch handelt und dass Fahrer die
kompletten Bestimmungen der jeweils gültigen Verordnung zu beachten haben)
Beim Gütertransport kommt den Fahrern eine Voll beladene Lkw in Strecken mit Steigungen
hohe Verantwortung zu. Dabei ist nicht nur die ter- und Gefälle fahren zu können, erfordert vom Fahrer
mingerechte Abholung und Anlieferung relevant (mit sowohl Erfahrung als auch technisches Fahrkönnen.
sehr kurzen Ladezeiten und wenigen Ruhepausen), Vorausschauendes Schalten ist genauso notwendig,
sondern auch die ausreichende Ladungssicherung wie der richtige Einsatz von Dauer- und Betriebs-
und der sichere Transport zum Zielort. Die Fahrer bremsen. In modernen Nutzfahrzeugen wird der
müssen Lkw bzw. Sattelzüge mit bis zu 40 t Gesamtge- Fahrer durch automatisierte Schaltgetriebe und
wicht bei Geschwindigkeiten bis zu 80 km/h sicher im Bremsomat-Funktionen unterstützt. Neben dem
Straßenverkehr bewegen. Es sind spezielle Kenntnisse technischen Fahrkönnen fordern Fuhrunternehmer
erforderlich und anzuwenden, um die hohen Lasten einen wirtschaftlichen Fahrstil und setzen spezielle
auf den Ladeflächen sicher zu verzurren. Fehler kön- Analysetools ein. Mit deren Hilfe wird die Wirt-
nen zu gefährlichen Situationen führen. schaftlichkeit der Fahrweise von Fahrern bewertet.
1012 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
.. Abb. 53.2 Lkw-Unfall
41 wegen Nichtbeachtung
der Durchfahrtshöhe
(Quelle: Feuerwehr
42 Karlsfeld)
43
44
45
46
47
48
49 Die Ergebnisse werden teilweise verwendet, um den Kurve einzufahren. Auch die Sichtverhältnisse im
Fahrern einen gehaltlichen Anreiz zum wirtschaftli- Nahbereich eines Lkw, insbesondere auf der rech-
50 chen Fahren zu geben. Hierdurch stehen die Fahrer ten Fahrerhausseite, weisen deutlich größere, nicht
oft in direktem Konkurrenzdruck zu ihren Kollegen. direkt einsehbare Bereiche als beim Pkw auf (vgl.
Im Vergleich zu Pkw-Fahrern sind Lkw-Fahrer ▶ Abschn. 53.2). Aus diesem Grund sind für Lkw
51 weiteren Randbedingungen ausgesetzt: Eine Viel- mehrere Spiegel vorgeschrieben.
zahl von Verkehrszeichen ist nur für Nutzfahr- Hinzu kommen etliche Lkw-spezifische Bedie-
52 zeuge relevant und nicht für Pkw. Dies hängt im nelemente, die es im Pkw nicht gibt, auf die hier
Wesentlichen mit den größeren Abmessungen, aber nicht weiter eingegangen wird.
höheren Massen, größeren Wendekreisen, Arten Seit Einführung des Berufskraftfahrer-Qualifi-
53 des Transportguts und im Vergleich zu Pkw gerin- kations-Gesetzes (BKrFQG) besteht für Berufskraft-
geren spezifischen Leistungen zusammen. Unter fahrer, die mehr als acht Personen transportieren
54 spezifischer Leistung versteht man hierbei Motor- oder Kraftfahrzeuge mit über 3,5 Tonnen bewegen,
leistung bezogen auf das Fahrzeug-Gesamtgewicht. eine regelmäßige Weiterbildungspflicht. Dadurch
55 All diese Verkehrszeichen muss der Lkw-Fahrer be- sollen die Sicherheit im Straßenverkehr erhöht, die
wusst wahrnehmen. Tut er dies nicht, können hohe Umweltbelastung reduziert und ungleiche Wettbe-
Sachschäden wie im Fall von Brückendurchfahrten werbsbedingungen im Transportgewerbe innerhalb
56 entstehen (vgl. . Abb. 53.2). der EU vermieden werden. Die Weiterbildung um-
Enge Fahrbahnsituationen und innerörtliche fasst 35 Fortbildungsstunden und ist im Abstand
57 Bereiche erfordern ebenfalls höchste Aufmerksam- von jeweils fünf Jahren zu wiederholen.
keit des Fahrers. Dabei muss er berücksichtigen,
dass andere Verkehrsteilnehmer ggf. nicht mit dem
58 Fahrverhalten von Lkw vertraut sind. Fährt der Fah- 53.2 Wesentliche Unterschiede
rer z. B. durch eine enge Rechtskurve mit mehreren zwischen Lkw und Pkw
59 Fahrstreifen, muss er die links neben ihm fahren-
den Fahrzeuge beobachten. Ein Abbiegen nach Personenkraftwagen und Lastkraftwagen unter-
60 rechts ist erst möglich, wenn der Fahrer auf den scheiden sich sowohl in ihrer wirtschaftlichen Be-
linken Fahrstreifen herüberziehen kann, um in die deutung als auch in der Fahrzeugtechnik. Letzteres
53.2 • Wesentliche Unterschiede zwischen Lkw und Pkw
1013 53
gilt insbesondere für Antriebs- und Bremstechnik, sein. Mit dem Lkw sind 80 km/h auf der Autobahn
Abmessungen und Massen, aber auch für die Aus- und 60 km/h auf der Bundesstraße erlaubt. Leis-
stattung mit Sicherheits- und Assistenzsystemen. tungsstarke Pkw-Motoren werden erst bei 250 km/h
Aus wirtschaftlicher Sicht stellt die Anschaffung vom Hersteller abgeregelt.
eines Lkw im Vergleich zum Pkw immer ein Investi- Neben der maximalen Masse von 40 t ist eine
tionsgut dar. Der Lkw muss dem Fuhrunternehmer minimale Motorisierung von 6 PS pro Tonne ge-
einen betriebswirtschaftlichen Gewinn „einfahren“. setzlich festgelegt. Dies ist in der heutigen Praxis
Deshalb sind die Life-Cycle-Costs eines Lkw ent- ein sehr geringer Wert, der in der Regel deutlich
scheidend. Neben geringen Anschaffungskosten überschritten wird, um ein zügiges Vorwärtskom-
stellen niedrige Betriebskosten, hohe Laufleistung, men bei Steigungen zu gewährleisten. Dennoch ist
hohe Verfügbarkeit, große Wartungsintervalle, die Längsdynamik bei Lkw deutlich geringer als bei
schneller Service, Langlebigkeit und hohe Wieder- Pkw: Ein 40 t schweres und mit einem 480 PS-Mo-
verkaufswerte die entscheidenden Größen dar. Viele tor ausgestattetes Nutzfahrzeug verfügt über 12 PS
Lkw wechseln nach zwei bis vier Betriebsjahren pro Tonne. Zum Vergleich: Ein mit 12 PS pro Tonne
erstmals den Besitzer. Bis dahin hat ein Fahrzeug motorisierter 1,5 t schwerer Mittelklasse-Pkw hätte
rund eine Million Kilometer im Fernverkehr zu- eine Motorleistung von nur 18 PS.
rückgelegt. Das entspricht einer Laufleistung von Lkw weisen gegenüber Pkw aufgrund der Viel-
200.000 bis 250.000 km pro Jahr. Der nachfolgende falt zu transportierender Güter eine Fülle an Auf-
Eigentümer nutzt den Lkw weitere zwei Millionen bauten auf, wie Koffer- oder Kühlaufbauten. Die
Kilometer. unterschiedlichen Beladungen eines Lkw beein-
Der Vergleich der Betriebsstunden zwischen flussen dessen Masse und Schwerpunkthöhe und
Pkw und Lkw verdeutlicht die höhere Belastung, damit die fahrdynamischen Eigenschaften. Aus
der ein Nutzfahrzeug standhalten muss: Läuft ein diesem Grund wurden von verschiedenen Herstel-
Lkw in zehn Jahren 30 000 Betriebsstunden, sind es lern diverse Verfahren entwickelt, um die jeweili-
bei einem Pkw im gleichen Zeitraum 3 000 Betriebs- gen Beladungen bzw. Fahrzeuggesamtmassen zu
stunden. Hinzu kommt die deutlich längere Lebens- bestimmen. Diese Daten werden in fahrzeuginter-
dauer des Trailers von 20 bis 30 Jahren. Dieser As- nen Regelsystemen verwendet (z. B. Elektronisches
pekt wirkt sich aufgrund der Schnittstellen zwischen Stabilitätsprogramm, Tempomat, Adaptive Cruise
Sattelzugmaschine und Auflieger zuweilen innova- Control), aber auch dem Fahrer direkt angezeigt. So
tionshemmend aus, beispielsweise zur Ausrüstung kann er Überladungen erkennen und vermeiden so-
von Sattelzügen inklusive Aufliegern mit ESP oder wie sich in seiner Fahrweise auch auf die Beladung
modernen Bremssystemen. einstellen. Bislang ist die Berechnung der Schwer-
Ebenso wie die technische Langlebigkeit müssen punkthöhe noch nicht endgültig gelöst, die fahrdy-
sich auch die Investitionen in Assistenz- und Sicher- namisch jedoch von großer Bedeutung ist. Denn
heitssysteme für den Fuhrunternehmer rechnen von der vertikalen Lage des Schwerpunkts hängt der
und zu einem betriebswirtschaftlichen Gewinn bei- Kipppunkt ab. Diese Größe ist entscheidend, um die
tragen. Dies ist gegenüber Pkw der entscheidende maximale Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der
Unterschied für die erfolgreiche Markteinführung das Fahrzeug eine Kurve durchfahren kann. Zudem
von Fahrerassistenzsystemen in Nutzfahrzeugen. fließt sie in die Algorithmen ein, die während des
Zurück zur Technik: Grundlegend ist der deut- Fahrens die notwendigen Rückstellkräfte für die
liche Unterschied zwischen den Fahrzeugabmes- Federung des elektronischen Dämpfungssystems
sungen und Fahrzeugmassen von Lkw und Pkw. entsprechend ausgestatteter Lkw berechnen. Das
Die maximal zulässigen Abmessungen für Zugma- elektronisch geregelte Dämpfungssystem passt im
schinen, Sattelauflieger und Gliederzüge sind genau Lkw die Dämpfungshärte automatisch innerhalb
vorgeschrieben und dürfen nur mit Sondergeneh- von Millisekunden an den jeweiligen Beladungszu-
migungen überschritten werden. Beispielsweise darf stand, die Fahrsituation und die Straßenbeschaffen-
ein Euro-Lastzug als Gliederzug 18,75 m lang, bis heit an – und bewirkt eine effiziente aktive Wank-
zu 4,0 m hoch und ohne Außenspiegel 2,55 m breit stabilisierung.
1014 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
Um Lkw ausreichend und sicher abbremsen zu Eine weitere Belastung für Lkw-Fahrer sind die
41 können, stehen mehrere Bremssysteme zur Verfü- eingeschränkten Sichtverhältnisse. Zwar schreibt
gung. Die Betriebsbremsen von Lkw sind heute in die Straßenverkehrsordnung für Güterkraftfahr-
42 der Regel elektronisch gesteuerte Zweikreis-Luft- zeuge > 7,5 t zwei große Hauptaußenrückspiegel auf
druckbremsanlagen. Bei Ausfall des Elektroniksys- beiden Fahrzeugseiten, jeweils einen Weitwinkel-
tems wird die Pneumatik der Bremsanlage direkt und einen Anfahr-Außenspiegel sowie einen Front-
43 mit dem Bremspedal gesteuert. Zusätzlich sind spiegel vor, dennoch ist die Sicht nach hinten wie
Lkw mit verschiedenen Dauerbremssystemen aus- auch auf die seitlichen Flanken eingeschränkt. Um
44 gestattet. Im Gegensatz zu Betriebsbremsen arbeiten Einblick in die toten Winkel – am Sattelzug treten
Dauerbremsen verschleißfrei. Als Dauerbremsen je nach Ausstattung mit Spiegeln und Sensoren bis
45 existieren verschiedene Varianten von Motorbrem- zu neun tote Winkel auf – zu geben, sollen künftig
sen und Retardern. An Retardern bietet der Markt unterschiedliche technische Lösungen zur Verfü-
sowohl motorseitige als auch getriebeeingangssei- gung stehen: Videokameras am Heck, deren Bilder
46 tige und getriebeausgangsseitige Lösungen. Bei der auf einen Monitor im Fahrerhaus übertragen wer-
Auslegung von Längsregelsystemen ist zu beachten, den, geben einen Überblick über den Raum hinter
47 dass die verschiedenen Arten der Dauerbremsen ein dem Auflieger. Sensoren überwachen Abstand und
sehr unterschiedliches Brems- und Regelverhalten Relativgeschwindigkeit von Objekten seitlich des
aufweisen (z. B. hinsichtlich Unstetigkeiten, Verzö- Fahrzeugs (vgl. ▶ Abschn. 53.7).
48 gerungszeiten, der Abhängigkeit von Getriebegang Das sichere Manövrieren des eigenen Fahr-
und Fahrgeschwindigkeit). zeugs müssen Lkw-Fahrer in den nächsten Jahren
49 Getriebe für Lkw verfügen in der Regel über bei weiter zunehmendem Verkehrsaufkommen
bis zu 16 Gänge beim Handschaltgetriebe und bis bewerkstelligen. Bis zum Jahr 2025 prognostiziert
50 zu 12 Gänge beim automatisierten Schaltgetriebe. das Berliner Institut für Mobilitätsforschung einen
Im Gegensatz zu den Drehmomentwandlern, die Anstieg der Güterverkehrsleistung in Europa um
bei Automatikgetrieben in Pkw üblich sind, haben 80 % [2]. Allein für Deutschland wird bis zum Jahr
51 Lkw mit automatisierten Getrieben keinen Dreh- 2025 eine Verdoppelung des Transitaufkommens
momentwandler, sondern eine eingangsseitige auf der Ost-West-Achse vorhergesagt. Da die Ver-
52 Reibkupplung, die elektronisch gesteuert wird. Die kehrsinfrastruktur nicht in dieser Geschwindigkeit
elektronische Steuerung nimmt dem Fahrer die mitwachsen kann, steigen weiterhin die Anforde-
Schalt- und Kupplungsarbeit ab. rungen an die Fahrzeugtechnik und die Fahrer. Soll
53 Aus den betriebswirtschaftlichen Randbedin- das aktuell erreichte Sicherheitsniveau beibehalten
gungen, den fahrdynamischen Eigenschaften und bzw. noch erhöht werden, sind Anstrengungen im
54 den technischen Daten wird deutlich, dass Sicher- Bereich der Sicherheit auf allen Ebenen – von der
heit beim Lkw unter ganz anderen Rahmenbedin- Infrastruktur über das Fahrzeug bis hin zum einzel-
55 gungen steht als beim Pkw. Für Fahrer bedeuten nen Verkehrsteilnehmer – unerlässlich.
diese Faktoren sowohl eine hohe Belastung durch
die kontinuierliche Fahrleistung im Fernverkehr
56 als auch eine höhere Beanspruchung beim Manö- 53.3 Unfallszenarien
vrieren von bis zu 40 t schweren und 2,55 m brei-
57 ten Fahrzeugen. Zur Entlastung der Fahrer stehen Der Entwicklung von Assistenzsystemen geht in
heute für Lastkraftwagen und Kraftomnibusse eine der Regel eine umfangreiche Analyse der Unfall-
Reihe von elektronischen Sicherheits- und Assis- statistiken voraus. Hierbei werden Anzahl und
58 tenzsystemen zur Verfügung, wie das Elektronische Verteilung der Unfälle auf die jeweilige Unfallart
Stabilitätsprogramm (ESP), der abstandsgeregelte sowie die Anzahl der Unfälle während der letz-
59 Tempomat ACC (Adaptive Cruise Control), das ten 15 bis 20 Jahre geprüft. Soweit möglich, er-
Notbremssystem EBA (Emergency Brake Assist) folgt eine detaillierte Analyse der Unfallabläufe.
60 oder das Warnsystem beim Verlassen des Fahrstrei- In der Statistik wird über den Vergleich der Un-
fens (LDW, Lane Departure Warning). fallzahlen mit der Verkehrsleistung im Güterver-
53.3 • Unfallszenarien
1015 53
Unfallzahlen bei Unfällen mit Gkfz-Beteiligung 1992-2011 in Deutschland
100%
40%
20%
0%
1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011
-20%
-40%
-41%
-53%
-60%
-80%
kehr das Verkehrsaufkommen berücksichtigt (vgl. fall. In 12,2 % aller Unfälle sind die Fahrzeuge rechts
. Abb. 53.3). oder links von der Fahrbahn abgekommen. Weni-
Die Transportleistung des Straßengüterverkehrs ger häufig (9,7 %) sind Kollisionen von Fahrzeugen,
ist in den Jahren 1992 bis 2011 von 252,3 auf 460 die seitlich voneinander fahren. Auch Unfälle mit
Milliarden Tonnenkilometer um 82 % gestiegen einem stehenden Fahrzeug (5,0 %), mit einem Fuß-
[3]. Trotz steigender Fahrleistung sind im gleichen gänger oder Radfahrer (4,0 %) oder einem sonstigen
Zeitraum die Unfälle mit Beteiligung von Nutzfahr- Hindernis auf der Fahrbahn (0,8 %) sind deutlich
zeugen, die zu schweren Personenschäden mit ge- seltener.
töteten oder schwerverletzten Verkehrsteilnehmern Bei der Analyse der Daten ist zwischen Un-
führten, deutlich zurückgegangen: Wurden im Jahr fallarten und den eigentlichen Unfallursachen zu
1992 genau 1883 Unfalltote erfasst, waren es im Jahr unterscheiden. Auffahrunfälle gehen in der Re-
2011 noch 889. Dies entspricht einem Rückgang um gel auf einen zu geringen Sicherheitsabstand und
53 %. Mit 13.345 Unfallopfern im Jahr 1992 und eine nicht angepasste Geschwindigkeit zurück. Mit
7835 im Jahr 2011 weisen die Zahlen zu schwer- 16,8 % (Abstand) und 10,8 % (nicht angepasste
verletzten Verkehrsteilnehmern eine Verringerung Geschwindigkeit) sind dies die beiden häufigsten
um 41 % auf. Gründe für Unfälle von Güterfahrzeugen [4]. Die
Um die Unfälle mit getöteten oder schwerver- hohe kinetische Energie von Lkw führt meist zu
letzten Verkehrsteilnehmern, an denen Nutzfahr- schweren Unfallfolgen: Fährt ein 40 t schwerer und
zeuge beteiligt sind, zu differenzieren, unterscheidet 90 km/h schneller Lkw ungebremst auf ein stehen-
das Statistische Bundesamt anhand von neun Kate- des Hindernis, so wirkt eine Energie von ca. 3500
gorien (vgl. . Abb. 53.4). Häufigste Unfallart war Wh. Bei einem 2 t schweren Pkw wären es bei 100
im Jahr 2011 mit 29,5 % der Auffahrunfall auf ein km/h gerade einmal ca. 400 Wh.
vorausfahrendes Fahrzeug. Weitere 17,5 % aller Un- Beim Abkommen von der Fahrbahn kann im
fälle gehen auf eine Kollision mit dem Gegenverkehr Wesentlichen zwischen zwei Szenarien unterschie-
zurück. Darauf folgt mit 15,9 % der Kreuzungsun- den werden: fahrdynamisch bedingtes Abkommen
1016 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
Verteilung der Unfallarten: Lkw > 12t zGG und Sattelschlepper bei Unfällen
41 mit Getöteten und Schwerverletzten (2011)
35,0%
42 30,0%
43 25,0%
44 20,0%
15,0%
45
10,0%
46
5,0%
47 0,0%
sonstigem Hindernis
Unfall anderer Art
Vorausfahrenden
Abkommen nach
Kreuzungsunfall
mit seitlichem
Auffahrunfall auf
Kollision mit
stehendem
Fahrzeug
48
Fahrzeug
Kollision
Kollision mit
49
50 .. Abb. 53.4 Verteilung der Unfallarten mit getöteten oder schwerverletzten Verkehrsteilnehmern in Deutschland im Jahr
2008. Dargestellt sind nur Kollisionen, an denen Sattelschlepper und Lkw größer 12 Tonnen zulässige Gesamtmasse beteiligt
waren [3]
51
oder langsames Abdriften. Fahrdynamisch beding- ten mit rechtsabbiegenden Lkw (> 3,5 t) und Fuß-
52 tes Abkommen von der Fahrbahn ist eine typische gängern bzw. Radfahrern ereigneten [4]: Der erste
Folge zu schneller Kurvenfahrt, plötzlicher Aus- Kontakt bei Unfällen zwischen Nutzfahrzeug und
weichmanöver oder einer rutschigen Fahrbahn. Sie Fußgängern bzw. Radfahrern verläuft in 88 % der
53 beruhen oft auf einer Fehleinschätzung der Fahrsi- Fälle seitlich oder unmittelbar vor dem Fahrerhaus.
tuation durch den Fahrer. Hingegen geht das lang- In weiteren 7 % aller Unfälle fand der Erstkontakt
54 same Abdriften von der Fahrbahn meist auf Unauf- zwischen Fahrerhaus und Hinterrad der Zugma-
merksamkeit oder Ermüdung des Fahrers zurück, schine statt.
55 beispielsweise infolge von Ablenkung oder langer Fahrdynamische Regelsysteme wie das Elek-
eintöniger Fahrt auf monotonen Strecken. tronische Stabilitätsprogramm (ESP) sowie Fah-
Zu den häufigsten Fehlern an Kreuzungen ge- rerassistenzsysteme mit Umgebungssensorik wie
56 hören, gemäß den Auswertungen des Statistischen der abstandsgeregelte Tempomat ACC (Adaptive
Bundesamtes über das Fehlverhalten der Fahrer Cruise Control), das Notbremssystem EBA (Emer-
57 von Güterkraftfahrzeugen, Fehler beim Abbiegen gency Brake Assist) oder der Spurverlassenswarner
(17,4 %) und Missachtung der Vorfahrt (7,8 %) [3]. (LDW, Lane Departure Warning) können schwere
Unfälle mit stehenden Fahrzeugen wie auch mit Lkw-Unfälle deutlich reduzieren. In einer Studie,
58 Fußgängern und Radfahrern gehen meist auf die die der Gesamtverband der Deutschen Versiche-
eingeschränkten Sichtverhältnisse vor dem Fahrer- rungswirtschaft zusammen mit der Knorr-Bremse
59 haus und seitlich davon zurück. In einer gemeinsa- Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH und der TU
men Studie der DEKRA Automobil GmbH und der München durchführte, wurde das Wirkungspo-
60 Bundesanstalt für Straßenwesen wurden etwa 120 tenzial von ESP anhand von 850 schweren Nutz-
Unfälle analysiert, die sich innerhalb von Ortschaf- fahrzeug-Unfällen geprüft [5]. Mit dem Einsatz
53.4 • Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge
1017 53
von ESP ließen sich 9 % dieser Unfälle vermeiden. Wunschgeschwindigkeit bergab gibt es komfortable
Bezogen auf fahrdynamisch bedingte Alleinunfälle Lösungen, die z. B. einen Sollwert aus der aktuellen
von Lkw würden ca. 44 % mit ESP vermieden wer- Geschwindigkeit bilden, wenn der Fahrer im Gefälle
den. Zu deutlichen Resultaten kommt auch eine ge- nach einer Anpassbremsung von der Bremse geht.
meinsame Untersuchung der MAN Nutzfahrzeuge Der abstandsgeregelte Tempomat erweitert die
AG und der Allianz Zentrum für Technik GmbH vorgenannte Tempomat- und Bremsomatfunktion,
[1], die das Wirkungspotenzial von LDW und ACC indem Abstand und Relativgeschwindigkeit voraus-
analysiert: Wäre die deutsche Lkw-Flotte mit einem fahrender Fahrzeuge gemessen werden. Dadurch ist
heute verfügbaren abstandsgeregelten ACC ausge- es möglich, automatisch die eigene Geschwindigkeit
stattet, ließen sich 71 % der schweren Lkw-Auffahr- an die des Vorausfahrenden anzupassen und einen
unfälle auf Autobahnen und rund 30 % der schwe- einstellbaren Wunschabstand einzuregeln. Die ein-
ren Lkw-Auffahrunfälle auf allen bundesdeutschen stellbaren Wunschabstände sind geschwindigkeits-
Straßen vermeiden (vgl. ▶ Abschn. 53.4). Würden abhängig. Sie entsprechen also einer einstellbaren
alle Lkw ihren Fahrer mit einem Spurverlassens- Zeitlücke, die ggf. noch durch konstante Mindest-
warner vor dem ungewollten Abkommen vom abstände ergänzt wird.
Fahrstreifen warnen und die Fahrer korrigierend Sensorische Basis des ACC ist ein Hochfre-
durch Gegenlenken eingreifen, könnten 49 % der quenz-Radar. Das Radarsystem ist in der Regel im
Unfälle vermieden werden, bei denen Fahrzeuge unteren Teil der Bugschürze eingebaut und erfasst
rechts oder links von der Fahrbahn abkommen vorausfahrende Fahrzeuge, vgl. . Abb. 53.5. Hier-
(vgl. ▶ Abschn. 53.5). bei kommen in Lkw die gleichen Radarsensoriken
zum Einsatz, wie sie in Pkw verwendet werden
(vgl. ▶ Abschn. 53.4). Hinsichtlich des Trackings
53.4 Adaptive Cruise Control (ACC) und spezieller Lkw-Randbedingungen sind jedoch
für Nutzfahrzeuge Anpassungen der Sensorik erforderlich, z. B. bezüg-
lich Nickverhalten des Lkw, fahrdynamischer Para-
Adaptive Cruise Control (ACC) ist ein Assistenz- meter, Kolonnenfahrt hinter Trailern mit flattern-
system, das automatisch die Fahrgeschwindigkeit den Rückwandplanen, Lkw-typischer Vibrationen,
an vorausfahrende Fahrzeuge anpasst und einen 24-V-Spannungsversorgung usw.
vom Fahrer einstellbaren Abstand einregelt. Bei Zur Abstands- und Geschwindigkeitsregelung
freier Fahrt arbeitet das System wie ein normaler greift der ACC-Regler in die Motorsteuerung und
Tempomat. die Bremssysteme ein. Für Fahrzeugverzögerungen
Adaptive Cruise Control setzt in Lkw auf den sind in Lkw im Gegensatz zu ACC-Systemen in Pkw
beiden Systemen Tempomat und Bremsomat auf. verschiedene Bremssysteme anzusteuern. Zunächst
Der Tempomat regelt automatisch die Geschwin- werden immer die verschleißfreien Dauerbremsen
digkeit des Fahrzeugs über die Kraftstoffzufuhr im wie Motorbremse und Retarder angesteuert. Dabei
Motor. So kann das Fahrzeug eine vom Fahrer vor- ist deren Übertragungsverhalten zu beachten, das
gegebene Geschwindigkeit einhalten. Bergab kann teilweise ein stufiges Ansprechverhalten und große
es jedoch ggf. auch ohne Kraftstoffzufuhr durch den Ansprechverzögerungen zeigt. Zur Kompensation
Hangabtrieb über die Wunschgeschwindigkeit hi- dieser unerwünschten Effekte gibt es Lösungen, die
naus beschleunigen. Ist dies nicht gewünscht oder eine zwischenzeitliche kurzzeitige, schnelle Ansteu-
nur bis zu einem gewissen Maß, besteht die Mög- erung der Betriebsbremsen vorsehen, so dass sich
lichkeit für den Lkw-Fahrer, eine Bremsomatfunk- ein stetig verlaufendes Bremsmoment mit schneller
tion zu aktivieren. Diese steuert bei Überschreitung Ansprechzeit ergibt.
der Wunschgeschwindigkeit oder eines einstellba- Reicht die Bremsleistung der Dauerbremsen
ren Offsets oberhalb der Wunschgeschwindigkeit nicht aus, um das Fahrzeug gemäß der Reglervor-
den Retarder oder die Motorbremse automatisch gabe zu verzögern, werden zusätzlich die Betriebs-
an, sodass eine vorgewählte Geschwindigkeit auch bremsen angesteuert. Diese Ansteuerung muss
im Gefälle eingehalten wird. Zur Einstellung der jedoch hinsichtlich der in Wärme umgesetzten
1018 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
41
42
43
44
45
46
47 .. Abb. 53.5 Einbausituation eines ACC-Sensors am Lkw
Bremsenergie begrenzt werden, um eine Überhit- tiviert. Hingegen erfolgt durch Auslenkung des
48 zung der Betriebsbremsen zu verhindern. Insofern Fahrpedals eine Übersteuerung der ACC-Systeme.
werden die Betriebsbremsen nur für Anpassbrem- Dies kann der Fahrer nutzen, um z. B. eine ACC-
49 sungen angesteuert, wenn also die Geschwindigkeit Bremsung hinter einem Lkw zu vermeiden, der am
des Fahrzeugs schnell reduziert werden muss. Dabei Beginn einer Steigung langsamer wird. Da heutige
50 liegt die mit heutigen ACC-Systemen maximal ange- ACC-Systeme noch keine Streckenvorausschau
steuerte Fahrzeugverzögerung bei ca. –3 m/s2. Muss leisten, kann nur der Fahrer solche Situationen
ein Fahrzeug bei Bergabfahrt längere Zeit gebremst erkennen, in denen eine Bremsung auf ein voraus-
51 werden, so darf dies nur durch die Dauerbremsen fahrendes Fahrzeug z. B. wegen einer beginnenden
erfolgen und nicht mit den Betriebsbremsen, um Steigung unzweckmäßig ist. Die Übersteuerung
52 deren Überhitzung zu verhindern. Dazu muss das dient darüber hinaus zur Abstandsverringerung
Fahrzeug ggf. mit den Betriebsbremsen auf eine ge- vor einem Überholmanöver oder zum schnelleren
ringere Geschwindigkeit verzögert und in kleinere Beschleunigen.
53 Gänge geschaltet werden, damit anschließend die
Dauerbremsleistung ausreicht. Relevant für die ACC-Regelung sind vor allem fol-
54
55
Je nach Voreinstellung – entweder durch den
Fahrer oder den Systemhersteller – funktionieren
ACC-Systeme mit oder ohne Fahrerübernahmeauf-
forderung. Diese kann dem Fahrer signalisieren,
-
gende Punkte:
Auf Autobahnen gilt in Deutschland für Lkw
bei einer Geschwindigkeit ab 50 km/h ein
gesetzlicher Mindestabstand von 50 m. Dieser
dass die ACC-Regelung die maximale Verzögerung muss von mindestens einer wählbaren Ab-
-
56 von z. B. –3 m/s2 ansteuert, sie in der aktuellen Fahr- standsstufe eingehalten werden.
situation aber nicht ausreicht. Der Fahrer wird also Wird der Wunschabstand unterschritten, z. B.
57 aufgefordert, selbst stärker zu bremsen, als es das aufgrund eines einscherenden Fahrzeugs, so
ACC-System kann. Zusätzlich gibt es ACC-Systeme sind üblicherweise Differenzgeschwindigkeiten
mit Auffahrwarnungen, die teilweise auch bei ausge- von 2 … 4 km/h vorgesehen, um den Abstand
58 schaltetem ACC aktiv sind. Diese sollen dem Fahrer wieder zu vergrößern. Bei überholenden
die akute Gefahr eines Auffahrunfalls signalisieren Fahrzeugen ist diese Differenzgeschwindigkeit
59 und ihn zum Bremsen veranlassen. von vornherein gegeben, so dass der Lkw mit
ACC-Systeme werden durch Betätigung eines ACC konstant weiterfahren kann. Ein „Durch-
60 Bedienelements (z. B. Taste oder Bedienhebel) reichen nach hinten“, wie es gelegentlich von
oder durch Auslenkung des Bremspedals deak- Laien befürchtet wird, findet also nicht statt.
53.4 • Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge
1019 53
- „Mitziehen“ zu vermeiden.
Neben Abstand und Geschwindigkeit des
Vorausfahrenden ist dessen Beschleunigung
bei der ACC-Regelung von Bedeutung. Die
wenn eine Stillstandszeit von z.B. 2 Sekunden nicht
überschritten wird. Andernfalls muss der Fahrer
eine Bedienung zum Anfahren vornehmen. Auf ste-
hende Objekte – auch Fahrzeuge an einem stehen-
Beschleunigung kann aus der Geschwindig- den Stauende – reagieren viele heutige ACC-Sys-
keit abgeleitet werden, wobei Schaltvorgänge teme noch nicht. Auch Fahrzeuge, die sehr langsam
jedoch kurzzeitige, deutliche Beschleunigungs- fahren, werden als stehende Objekte interpretiert
änderungen verursachen können. Wesentlich und nicht als vorausfahrende Fahrzeuge erkannt.
ist die Berücksichtigung der Beschleunigung Dies sind typische Situationen, in denen der Fahrer
beispielsweise, wenn bei einer Autobahnein- eingreifen muss.
fahrt ein langsamerer Pkw vor dem Lkw ein- Adaptive Cruise Control muss in Lastkraftwa-
schert. Ohne Beschleunigung des Einscherers gen und Reisebussen unterschiedlichen Anforde-
müsste der Lkw abbremsen. Bei ausreichender rungen gerecht werden. Der Lkw bewegt sich häu-
Beschleunigung wird die Differenzgeschwin- fig in längeren Kolonnenfahrten mit einer gleich
digkeit jedoch positiv, bevor der Abstand bleibenden Geschwindigkeit von 80 km/h. Für den
kritisch wird. Der Lkw kann in diesem Fall Lkw-Fahrer ist ACC primär eine Komfortfunktion,
Fahrzeug eingehalten wird. Für den Reisebus steht licher Verzögerung durch, so könnten 7 %
-
41 daher eher der Sicherheitsaspekt im Vordergrund. vermieden werden.
Wären alle Lkw mit ACC-Systemen ausge-
42 Die Wirksamkeit von ACC-Systemen zur Unfallver- rüstet, die bis zum Stillstand regeln und auch
meidung wurde von der Allianz Zentrum für Tech- innerorts geeignet sind, könnten 8 % aller
nik GmbH im Rahmen des vom BMBF geförder- schweren Nutfahrzeugunfälle vermieden
43 ten Projekts „Safe Truck“ untersucht [1]. Von 583 werden, ohne dass der Fahrer bremst. Greift
analysierten Unfällen waren 127 relevant für ACC, hier zusätzlich innerhalb von zwei Sekunden
44 also Auffahrunfälle im eigenen Fahrstreifen. Darin nach dem ACC-Eingriff der Fahrer mit einer
enthalten sind auch Unfälle im Stadtverkehr und Vollbremsung ein, erhöht sich die Vermeidbar-
45
46
auf Landstraßen sowie Unfälle mit stehenden Hin-
dernissen. Das Wirkungspotenzial wurde darum
für fünf Szenarien analysiert, die verschiedene Ent-
wicklungsstufen von ACC-Systemen repräsentieren.
- keit auf 17 %.
Wären alle Lkw mit ACC-Systemen ausgerüs-
tet, die mit zusätzlicher Sensorik auch auf ste-
hende Fahrzeuge reagieren, könnten 21 % aller
Darüber hinaus wurden die Szenarien dahingehend schweren Lkw-Unfälle vermieden werden.
47 unterschieden, ob der Fahrer eingreift oder nicht. In
allen Szenarien wurde von einer Fahrzeugverzöge- Da heutige ACC-Systeme nur für den Einsatz auf
48
--
rung durch ACC von maximal –2 m/s2 ausgegangen:
ACC-System, das nur oberhalb einer Mindest-
geschwindigkeit regelt
Autobahnen und gut ausgebauten Bundesstraßen
konzipiert sind, wurde das Unfallvermeidungspo-
tenzial für dieses Umfeld gesondert betrachtet. In
-
49 ohne Fahrereingriff (Szenario 0) Bezug auf Auffahrunfälle von Nutzfahrzeugen auf
mit Fahrereingriff mit maximaler Verzöge- Autobahnen ergibt sich, dass mit heute verfügbaren
50 rung (6 m/s2) nach zwei Sekunden (Szena- ACC-Systemen 71 % dieser Unfälle vermieden wer-
51 -- rio 1)
ACC-System, das bis zum Stillstand regelt und
auch für Innerortsverkehr geeignet ist
den könnten, wenn alle Lkw mit ACC ausgerüstet
wären. Angenommen, dass der Fahrer einen ACC-
Bremseingriff als haptische Warnung erkennt und
-
ohne Fahrereingriff (Szenario 2) dann selbst nach 2 Sekunden eine Vollbremsung
52 mit Fahrereingriff mit maximaler Verzöge- einleitet, würden sogar 86 % aller Lkw-Auffahrun-
rung (6 m/s2) nach zwei Sekunden (Szena- fälle auf Autobahnen vermieden werden.
53
54
- rio 3)
ACC-System, das bis zum Stillstand regelt und
für Innerortsverkehr geeignet ist und auch
stehende Fahrzeuge erkennt (Szenario 4)
53.5 Spurverlassenswarner
für Nutzfahrzeuge
55 Basis der Studie bildeten 127 ACC-relevante Un- Ein Spurverlassenswarner (LDW, Lane Departure
fälle von Nutzfahrzeugen. Anhand von Rekonstruk- Warning) eines Nutzfahrzeugs überwacht dessen
tionen der gut dokumentierten Unfälle wurde die Einhaltung des Fahrstreifens und warnt den Fah-
56 Vermeidbarkeit der Unfälle in den einzelnen Sze- rer, wenn er unbeabsichtigt seinen markierten Fahr-
narien analysiert und auf die einzelnen Kategorien streifen verlässt. Das System unterstützt den Fahrer
57 hochgerechnet (vgl. . Abb. 53.6 – Wirkungspoten- insbesondere auf langen und monotonen Strecken,
58 -
zial ACC):
Wären alle Lkw mit heute verfügbaren ACC-
Systemen ausgerüstet, könnten rund 6 % aller
schweren Nutzfahrzeugunfälle vermieden
wenn dessen Aufmerksamkeit nachlässt oder wenn
er abgelenkt ist. Ein unbeabsichtigter Fahrstreifen-
wechsel kann durch Warnung des Fahrers vermie-
den werden, sodass Alleinunfälle durch Abdriften
59 werden, ohne dass ein Bremseingriff durch den von der Fahrbahn oder Kollisionen mit Fahrzeugen
Fahrer notwendig ist. Führt der Fahrer einen auf den Nachbarfahrstreifen bzw. einem Standstrei-
60 Bremseingriff innerhalb von zwei Sekunden fen verhindert werden. Spurverlassenswarner wer-
nach dem ACC-Eingriff mit maximal mög- den seit dem Jahr 2001 für Nutzfahrzeuge angeboten
53.5 • Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge
1021 53
.. Abb. 53.6 Vermeidbarkeit von Kollisionen durch den Einsatz von Adaptive Cruise Control [1]
.. Abb. 53.7 Detektion
der Fahrstreifenmarkie-
rung durch Spurverlas-
senswarner [Quelle: MAN
Truck & Bus AG]
und sind für den Einsatz auf Autobahnen und gut Voraussetzung für die Zulassung neuer LKW-Ty-
ausgebauten Bundesstraßen ausgelegt. pen > 3,5 t sowie neuer Bus-Typen mit mehr als 8
Gemäß Verordnung der EU [6] ist ab Nov. 2013 Sitzplätzen. Ab Nov. 2015 sind Spurverlassenswar-
die Ausrüstung mit einem Spurverlassenswarner ner für alle Neuzulassungen von LKW > 3,5 t und
1022 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
.. Abb. 53.8 Einbausi-
41 tuation einer Kamera im
Lkw zur Erkennung von
Fahrstreifenmarkierungen
42 [Quelle: MAN Truck & Bus
AG]
43
44
45
46
47
48
49 Bussen mit mehr als 8 Sitzplätzen Voraussetzung. Zwar erfasst die Kamera permanent den Ver-
Lediglich bestimmte Fahrzeugtypen, für die eine lauf der Fahrstreifen, doch die analysierenden Al-
50 solche Ausrüstung keinen Sinn macht, sind von gorithmen überprüfen nicht das gesamte Bild. Um
dieser Regelung ausgenommen. Die heute für Lkw Rechenleistung zu sparen, werden nur die äußeren
verfügbaren Systeme erfassen diese Fahrstreifen- Bereiche der Straße mithilfe von Suchfenstern aus-
51 markierungen mittels einer Kamera, die im Fah- gewertet, vgl. . Abb. 53.7.
rerhaus innen möglichst mittig an der Frontscheibe Erkennt das System, dass sich das Fahrzeug der
52 angebracht ist, vgl. . Abb. 53.8. Außermittige An- Fahrbahnmarkierung nähert oder sie sogar über-
bauorte sind denkbar, sofern eine entsprechende fährt, ohne dass der Fahrtrichtungsanzeiger betätigt
Parametrierung der Auswertealgorithmik erfolgt. wurde, erfolgt eine Warnung. Die Warnung kann
53 Die Kamera sollte im Wischbereich des Scheiben- z. B. haptisch in Form einer Lenkradvibration erfol-
wischers liegen. Im Lkw hat eine solche Kamera we- gen oder durch seitenbezogene akustische Signale
54 gen der erhöhten Anbauposition einen günstigeren (z. B. in Form eines simulierten Nagelbandratterns).
Blickwinkel auf die Straßenoberfläche als im Pkw. In Reisebussen kommen nur Warnungen in Frage,
55 Andererseits ist bei der Auswertung des erfassten die ausschließlich vom Fahrer wahrgenommen
Bildes das Wanken und Nicken des Fahrerhauses werden und nicht von den Fahrgästen. Für Reise-
erschwerend zu berücksichtigen. busse sind daher Systeme verfügbar, die den Fahrer
56 Eine der gängigsten Methoden zur Erkennung mittels seitenbezogener Vibrationen im Fahrersitz
von Fahrstreifenmarkierungen ist die Suche nach warnen. Eine Verunsicherung der Fahrgäste wird
57 Hell-Dunkel-Übergängen auf der Straßenoberflä- so vermieden.
che. Die verwendeten Kameras sind daher Schwarz- Die Bedingungen zur Auslösung einer Warnung
Weiß-Kameras. Die Sensorik kann die Fahrstreifen- können herstellerabhängig variieren, müssen aber
58 markierungen nur bei ausreichenden Kontrasten den Anforderungen der EU-Verordnung genügen.
exakt erfassen, wenn die Markierungen also deut- Beispielsweise kann eine Warnung in Abhängigkeit
59 lich zu erkennen und möglichst geradlinig sind. Für von der Fahrgeschwindigkeit beim Überfahren der
die Erkennung der Fahrstreifenmarkierungen bei Innenseite oder beim Überfahren der Außenseite
60 Dunkelheit reicht das Ausleuchten mit den Schein- der Fahrstreifenmarkierung ausgelöst werden. Auch
werfern des Fahrzeugs. kann die Quergeschwindigkeit berücksichtigt wer-
53.5 • Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge
1023 53
.. Abb. 53.9 Unfallver-
meidungspotenzial durch
Spurverlassenswarner in
Lkw [1]
den, mit der der Fahrstreifen verlassen wird. Unter- noch zwingend beidseitig markiert sein mussten,
halb einer Mindestgeschwindigkeit des Fahrzeugs, geht die Entwicklung nun zudem in die Richtung,
z. B. 60 km/h, werden in der Regel bei heutigen Sys- dass auch bei einseitigen Fahrstreifenmarkierun-
temen keine Warnungen ausgegeben. Systeme, wie gen eine Funktion gegeben ist und ggf. lediglich ein
sie zur Zeit auf dem Markt verfügbar sind, greifen ausreichender Kontrast zur Fahrstreifenbegrenzung
nicht aktiv in die Lenkung ein, sondern warnen den vorhanden sein muss.
Fahrer ausschließlich.
Um Fehlwarnungen zu vermeiden, unterliegt die Zur Überprüfung der Wirksamkeit von Spurverlas-
Sensorik zur Erfassung der Fahrbahnmarkierungen senswarnern hat die Allianz Zentrum für Technik
engen Grenzen. In folgenden Situationen wird in GmbH 583 Lkw-Unfälle aus ihrer Datenbank aus-
der Regel nicht gewarnt: bei einer stark verschmutz- gewertet. Davon waren 44 relevant hinsichtlich un-
ten Windschutzscheibe im Bereich des Sensors, beabsichtigtem Verlassen von Fahrstreifen. Bei der
einer verschneiten, verschmutzten oder ausgebes- Analyse, die im Rahmen des BMBF-Projekts „Safe
serten Fahrbahn, bei mehreren Markierungen ne- Truck“ erfolgte, wurden zwei Systemausprägungen
ben- und hintereinander – wie sie vor allem an Ein- mit unterschiedlichem Funktionsumfang betrachtet
und Ausfahrten von Baustellen auftreten – und bei
einer nassen Fahrbahn. Insbesondere wenn sich mit
Regenwasser gefüllte Spurrillen auf der Fahrbahn
befinden oder Schnee die Straße säumt, besteht die
-
[1]:
Heute verfügbare Spurverlassenswarner mit
einer Fahrerwarnung ab einer Fahrgeschwin-
digkeit von 60 km/h und einem angenomme-
Gefahr, dass diese Strukturen als Fahrbahnmarkie- nen Lenkeingriff des Fahrers nach 1 Sekunde
rung erkannt werden. Durch die starken Kontraste
zwischen hellem Schnee oder reflektierender Was-
seroberfläche und dunklem Asphalt lassen sich die
Schwarz-Weiß Bilder der Videokamera nicht exakt
- Reaktionszeit.
Erweitertes System, das ebenfalls für Ge-
schwindigkeiten ab 60 km/h ausgelegt ist, aber
zusätzlich eine automatische Rückführung
auswerten. Die Forschung arbeitet derzeit an einer beim Verlassen der Fahrstreifen vornimmt.
verbesserten Sensorik.
Während in der ersten Systemgeneration für Das Ergebnis der Studie zeigt, dass 49 % aller
die einwandfreie Assistenzfunktion die Fahrstreifen Nutzfahrzeugunfälle durch Abkommen vom Fahr
1024 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
41
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47
.. Abb. 53.10 Öffnungswinkel und Sichtweite der Kombination aus 77 GHz-Long Range Radar und Kamerasystem
[Quelle: MAN Truck & Bus AG]
48
streifen vermieden werden könnten, wenn alle kann nicht vom Fahrer erwartet werden, das System
49 Nutzfahrzeuge mit Spurverlassenswarnern ausge- z. B. rechtzeitig vor innerstädtischem Verkehr ab-
stattet wären. Erfolgt zukünftig auch eine automa- zuschalten, wenn es dafür nicht ausgelegt wäre und
50 tische Rückführung in den Fahrstreifen, könnten dort Fehlbremsungen einleiten würde.
sogar 72 % dieser Unfälle vermieden werden, vgl. Basis heutiger Notbremssysteme sind Hoch-
. Abb. 53.9 frequenz-Radarsensoren, wie sie auch bei ACC-
51 Systemen eingesetzt werden. Sie erfassen die vor-
ausliegende Verkehrssituation. Die Bewertung der
52 53.6 Notbremssysteme Verkehrssituation erfolgt mit speziellen Algorith-
men, die je nach Verkehrssituation einstufige oder
Assistenzsysteme, die automatisch eine Vollbrem- mehrstufige Systemreaktionen generieren. Die He-
53 sung einleiten, haben sich inzwischen im Nutzfahr- rausforderung ist dabei sicherzustellen, dass keine
zeugmarkt etabliert. Seit November 2013 ist gemäß Fehlbremsungen eingeleitet werden und dass kriti-
54 EU-Verordnung [6] ein Notbremssystem Voraus- sche Verkehrssituationen korrekt erkannt werden,
setzung für neue Typzulassungen von LKW > 3,5t vgl. . Abb. 53.10.
55 und von Bussen mit mehr als 8 Sitzplätzen. Ab Nov. Erfasst der Sensor ein Hindernis und erkennt
2015 sind Notbremssysteme Voraussetzung bei allen zugleich, dass sich der Abstand verringert und der
Neuzulassungen von LKW > 3,5t und Bussen mit Fahrer die Geschwindigkeit nicht reduziert, greift das
56 mehr als 8 Sitzplätzen. Notbremssystem in das Fahrgeschehen ein. Zunächst
Diese Systeme warnen den Fahrer eindringlich wird der Fahrer optisch über ein Signal im Zentral-
57 bei akuter Gefahr eines Auffahrunfalls und leiten display und akustisch über einen Warnton auf die
ggf. automatisch eine Vollbremsung ein, wenn der Gefahr aufmerksam gemacht. Verzeichnet das Assis-
Auffahrunfall unvermeidlich ist. Damit können tenzsystem noch immer keine Reaktion vom Fahrer
58 Auffahrunfälle verhindert und die Schwere von – etwa einen Bremseingriff oder ein Lenkmanöver
Unfällen erheblich verringert werden, wenn eine – erfolgt eine Teilbremsung mit einer Fahrzeugverzö-
59 Kollision unvermeidbar ist. Dafür muss der Not- gerung von ca. –2 m/s2. Verschärft sich dennoch die
bremsassistent für alle Verkehrssituationen ausge- Kollisionsgefahr, leitet das System eine Vollbremsung
60 legt sein; d. h. er darf in keiner Verkehrssituation mit einer Fahrzeugverzögerung von ca. –6 m/s2 ein.
eine unnötige Vollbremsung auslösen – schließlich Kommt es zu einer Bremsung, werden die Bremslich-
53.7 • Vorausschauendes Fahren
1025 53
ter angesteuert, um den nachfolgenden Verkehr zu eignet in die Fahrstrategie einbinden. Ziel ist dabei,
warnen und Folgeunfälle zu vermeiden. Ziel dieser wo immer möglich und sinnvoll das Fahrzeug ohne
Funktion ist insbesondere, das ungebremste Auffah- Kraftstoffeinspritzung rollen zu lassen oder in spe-
ren auf langsamere Fahrzeuge und das späte Bremsen ziellen Situationen den Triebstrang zu öffnen, um
durch den Fahrer zu vermeiden. Kraftstoff zu sparen. Typische Situationen, in denen
Die Erkennung von stehenden Hindernis- ein Ausrollen sinnvoll ist, bestehen vor einem Ge-
sen, auf die eine Notbremsung erforderlich ist, ist fälle, in dem der Lkw bremsen muss. Während ein
deutlich schwieriger als die Erkennung bewegter normaler Tempomat bis zum Beginn des Gefälles
Hindernisse. Dies wurde auch in der Durchfüh- die Geschwindigkeit konstant hält und das Fahrzeug
rungsverordnung zur Einführung von Notbrems- entsprechend Kraftstoff verbraucht, berücksichtigt
systemen berücksichtigt. Die Verordnung sieht vor, ein vorausschauender Tempomat das vorausliegende
dass ausgehend von einer LKW-Geschwindigkeit Gefälle und nimmt rechtzeitig die Kraftstoffeinsprit-
von 80 km/h bei einem mit 30 km/h vorausfahren- zung zurück, so dass das Fahrzeug auf das Gefälle
den Fahrzeug eine unfallvermeidende Notbremsung zurollt und dabei vor Beginn des Gefälles etwas lang-
erfolgen muss, d.h. der Geschwindigkeitsabbau des samer wird. Die Steuerung berechnet voraus, wann
LKW muss mindestens 50 km/h betragen. Bei ei- die Kraftstoffeinspritzung zurückgenommen werden
nem stehenden Hindernis muss die Geschwindig- muss, um einen herstellerseitig parametrierten oder
keit dagegen nur um 10 km/h abgebaut werden. vom Fahrer einstellbaren maximalen Geschwindig-
Da ein aktives Notbremssystem im Gegensatz zu keitsabfall vor dem Gefälle einzuhalten. Die Höhe
einem Notbremswarner direkt in die Fahrzeugfüh- des tolerierten Geschwindigkeitsabfalls geht pro-
rung eingreift, muss das System und der Entwick- portional in die Kraftstoffeinsparung ein und bildet
lungsprozess erhöhten Sicherheitsanforderungen einen Kompromiss zwischen Effizienz und Akzep-
entsprechen. tanz. Schließlich darf der Lkw mit seinem parame-
Die Interpretation der Daten des Statistischen trierten Geschwindigkeitsabfall vor einem Gefälle
Bundesamtes über Unfälle von Güterfahrzeugen im nicht zu einem Verkehrshindernis werden und das
Straßenverkehr für das Jahr 2011 [3] verdeutlicht, Verhalten muss auch für den Lkw-Fahrer noch ak-
welches Wirkungspotenzial Notbremssysteme ha- zeptabel sein, damit er das System nicht übersteuert,
ben: Mit nahezu 17 % aller Unfälle, die von Güter- womit er gegen die gewünschte Effizienzsteigerung
fahrzeugen verursacht wurden, war der Abstands- arbeiten würde. Ein Übersteuern durch den Fahrer
fehler zum vorausfahrenden Fahrzeug die häufigste ist natürlich jederzeit möglich. Da ein vorausschau-
Unfallursache. Zudem führt die hohe kinetische end betriebener Lkw mit geringerer Geschwindigkeit
Energie bei Auffahrunfällen von Nutzfahrzeugen in das Gefälle fährt, muss er im Gefälle auch später
meist zu schweren Unfallfolgen. Aktive und war- bremsen, was wiederum geringerem Verschleiß und
nende Notbremssysteme sind in der Lage, diese besserem Wärmehaushalt zu Gute kommt.
kritischen Situationen zu entschärfen. Während ein normaler Tempomat bis zum Ende
des Gefälles die Geschwindigkeit konstant hält und
dazu den Lkw im Gefälle mit den Dauerbremsen
53.7 Vorausschauendes Fahren abbremst, berücksichtigt ein vorausschauender
Tempomat das nahende Ende des Gefälles und löst
Ein wesentliches Kriterium beim Betrieb von Nutz- rechtzeitig die Dauerbremsen, so dass der Lkw et-
fahrzeugen ist deren Kraftstoffverbrauch. Dieser was schneller wird und somit Schwung aufnehmen
lässt sich durch vorausschauendes Fahren deutlich kann. Dies kommt ihm bei einer anschließenden
reduzieren. Hierbei werden zwei Ansätze verfolgt. Steigung oder auch in der anschließenden Ebene
Einerseits kann die Fahrstrategie Daten der zugute, in der dann erst später wieder das Motor-
vorausliegenden Fahrstrecke aus digitalen Karten moment aufgebaut werden muss, um die Wunsch-
entnehmen und in der Triebstrangsteuerung be- geschwindigkeit zu halten. Die resultierende Ge-
rücksichtigen. Hier sind Systeme am Markt, die das schwindigkeitserhöhung am Ende des Gefälles kann
vorausliegende Steigungsprofil auswerten und ge- von der Steuerung genau vorausberechnet werden
1026 Kapitel 53 • Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge
und stellt wiederum einen Kompromiss zwischen reagiert. Solche aktiven Eingriffe sind z. B. mit Sys-
41 Akzeptanz und Effizienz dar, wobei auch gesetzli- temen zur Momentenüberlagerung in der Lenkung
che Randbedingungen hinsichtlich der zulässigen oder in Form von gezielten Einzelradbremsungen
42 Maximalgeschwindigkeit zu beachten sind. Beim denkbar.
Schwungaufbau am Ende eines Gefälles wird au- Zukünftige Spurwechsel-Assistenten signalisie-
ßerdem der beim Rollen zu Beginn des Gefälles ren dem Fahrer, ob ein Überhol- oder ein Ausweich-
43 entstandene Zeitverlust kompensiert. manöver gefahrlos möglich ist: Betätigt der Fahrer
Neben der vorausschauenden Motoransteu- den Fahrtrichtungsanzeiger und das System erfasst
44 erung wird die Streckenvorausschau auch in die von hinten herannahende Fahrzeuge, wird er z. B.
Getriebesteuerung einbezogen. So können z.B. über ein rotes Signal im Außenspiegel und eine ent-
45 gezielt die Schaltungen vor und in einer Steigung sprechende Anzeige im Zentraldisplay gewarnt. In
gegenüber bisherigen Systemen ohne Vorausschau Verbindung mit einer Kamera zur Erkennung von
verbessert werden. Fahrstreifen kann das System auch warnen, wenn
46 In modernen Nutzfahrzeugen ist nicht nur die der Fahrer ohne Betätigung des Fahrtrichtungsan-
vorausschauende automatisierte Fahrstrategie zu zeigers den Fahrstreifen wechselt. In diesem Fall
47 finden, sondern auch eine Onboard-Fahrerschulung, kann zusätzlich eine Spurverlassenswarnung abhän-
um dem Fahrer das im Eco-Training gemäß BKrFQG gig von der seitlichen Kollisionsgefahr erfolgen oder
vermittelte Wissen aufrecht zu erhalten. Die On- auch eine automatische Korrektur der Querführung
48 board-Fahrtrainer sind herstellerspezifisch unter- durchgeführt werden.
schiedlich ausgeprägt, haben aber das gleiche Ziel: Um Fußgänger und Radfahrer im Nahbereich
49 dem Lkw-Fahrer eine vorausschauende, effiziente – unmittelbar vor und seitlich neben dem Lkw – zu
und materialschonende Fahrweise beizubringen. schützen, befinden sich Abbiegeassistenten in der
50 Dazu analysiert das System, wie das Fahrerverhalten Entwicklung. Sensoren erfassen dazu das Umfeld
hinsichtlich Verbrauchsreduzierung und Verschleiß- vor und neben dem Lkw. Der Fahrer kann dann
minimierung verbessert werden kann und gibt ihm gewarnt werden, wenn eine Kollisionsgefahr mit
51 entsprechende Hinweise im Fahrzeugdisplay. Radfahrern oder Fußgängern besteht.
An einer kooperativen Form der Bahnführung
52 wurde bis Ende 2009 im vom BMWi geförderten
53.8 Entwicklung für die Zukunft Projekt KONVOI gearbeitet. Universitäten, Spedi-
tionen und Forschungsabteilungen von Unterneh-
53 Heutige Fahrerassistenzsysteme unterstützen Fahrer men aus der Nutzfahrzeugindustrie evaluierten das
in genau definierten Verkehrssituationen. Ein Spur- Verkehrssystem „Lkw-Konvois“ auf Autobahnen
54 verlassenswarner überwacht die Fahrzeugposition im realen Verkehr unter alltäglichen Bedingungen.
im Fahrstreifen, während Adaptive Cruise Control Technologisch baute das Projekt auf Sensorik, Ak-
55 die Geschwindigkeit und den Abstand zum voraus- torik, Kommunikationstechnik und Algorithmen
fahrenden Fahrzeug regelt. Jeder Assistent arbeitet zur Längs- und Querführung auf, die in nationalen
eigenständig als einzelnes System. Künftige Sicher- und europäischen Vorgängerprojekten wie Prome-
56 heitsassistenten werden hingegen kooperativ agie- theus, INVENT und Chauffeur erarbeitet wurden.
ren und zu ganzheitlichen Systemen verschmelzen. Mithilfe von Fahrerassistenzsystemen werden Lkw
57 Zukünftige Adaptive Cruise Control Systeme elektronisch aneinander gekoppelt. Längs- und
werden vermehrt über eine Stop&Go-Funktiona- Querführungssysteme regeln den Abstand zum
lität verfügen. Auch die Bildverarbeitung wird in vorausfahrenden Fahrzeug sowie die Fahrzeugpo-
58 zunehmendem Maße im Nutzfahrzeug zur Anwen- sition im Fahrstreifen. Ein Organisationsassistent
dung kommen. vernetzt potenzielle Konvoiteilnehmer und hilft
59 Ebenfalls werden Spurverlassenswarner zu viel- den Fahrern bei der Bildung von Konvois. In dem
seitigen Querführungssystemen weiterentwickelt. Projekt wurden Möglichkeiten zur Optimierung
60 Diese können in die Querführung eingreifen, falls des Verkehrsablaufs und einer besseren Auslastung
der Fahrer nach der Spurverlassens-Warnung nicht der bestehenden Infrastruktur untersucht. Darüber
Literatur
1027 53
Literatur
Fahrerassistenzsysteme
bei Traktoren
Marco Reinards, Georg Kormann, Udo Scheff
Bei Straßenfahrzeugen steht der Transport von Grundsätzlich sind Traktoren – analog zu Stra-
1 Personen und Gütern als funktionale Aufgabe der ßenfahrzeugen – Fahrzeuge, deren Bewegungen auf
Fahrzeugbewegung im Vordergrund. Traktoren einer vorgegebenen Oberfläche bzw. Fahrbahn vom
2 bzw. landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge sowie Bau- Fahrer in Längs- und Querrichtung sowie um die
maschinen haben in der Regel mehrere zusätzliche Hochachse innerhalb von den physikalisch vorge-
Funktionen – wie zum Beispiel eine Bereitstellung gebenen Grenzen frei bestimmt werden kann. In
3 und Regelung mechanischer, hydraulischer oder dieser allgemeinen Beschreibung der Fahrdynamik
auch elektrischer Leistung, eine Güterumschlags- wird davon ausgegangen, dass alle äußeren Kräfte
4 leistung und eine Traktionsleistung – gleichzeitig zu und Momente – mit Ausnahme der Schwerkraft,
erfüllen. Diese zusätzlichen Anforderungen, die sich den aerodynamischen Kräften und Momenten über
5 aus der Einbindung in den Prozess der landwirt- die Kontaktzone zwischen Reifen und Fahrbahn –
schaftlichen Erzeugung ergeben, bestimmen damit aufgeprägt werden und damit die Bewegung des
maßgeblich auch die Gestaltung der landwirtschaft- Fahrzeugs bestimmen [2].
6 lichen Nutzfahrzeuge. Damit verbunden ist auch die . Abbildung 54.1 zeigt einen Größenvergleich
Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, um zwischen einem Standardtraktor der 150 PS-Klasse
7 den Fahrer bei der Fahrzeugführung und der Pro- (110 kW) und einer Mittelklasselimousine sowie
zessüberwachung zu unterstützen. einem 18 t-Lkw. Auch wenn dieser Vergleich nur
Zwei Arten von Assistenzsystemen lassen sich einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem universel-
--
8 unterscheiden: len Einsatzbereichs eines Traktors abbildet, werden
fahrdynamische Assistenzsysteme, zwei wesentliche Unterschiede in den Konstrukti-
9 Prozess-Assistenzsysteme.
-
onsmerkmalen der Fahrzeuge deutlich:
Beladung bzw. Ballastierung außerhalb der
10
11
Bei den fahrdynamischen Assistenzsystemen steht
die Fahrzeugführung – ähnlich wie bei Kraftfahr-
zeugen – mit limitierter Einbindung in einen land-
wirtschaftlichen Prozess im Vordergrund. Im Un-
- Achsen,
sehr große Reifen auf kurzem Radstand.
-
19 digkeiten ergeben sich erweiterte Anforderungen an Querdynamik eingeführt:
die Fahrdynamik von Traktoren, denen insbeson- Vorderachsfederung mit schaltbarer Wankfe-
20 dere durch die Entwicklung erweiterter Fahrwerks-
konzepte Rechnung getragen werden kann [1].
- derungskennlinie,
umschaltbare Lenkübersetzung,
54.1 • Fahrdynamische Assistenzsysteme
1031 54
-
.. Abb. 54.2 Mit und ohne Fendt Stability Control [4]
Steer-by-Wire-Lenkung mit Querdynamikre- Entwicklung des 936 Vario das Fendt Stability Con-
gelung und variabler Lenkübersetzung. trol (FSC) eingeführt, welches abhängig von der Ge-
schwindigkeit eine zusätzliche Wankstabilisierung
Der Einsatz von Vorderachsen mit hydropneumati- an der Vorderachse aufschaltet (siehe . Abb. 54.2).
schen Federungen bietet verschiedene Möglichkeiten Für Traktoren mit einer bauartbedingten Höchst-
zur hydraulischen Kopplung der Federungszylinder geschwindigkeit von 60 km/h wird hierbei ab einer
und damit auch verschiedene Möglichkeiten zur Fahrgeschwindigkeit von 20 km/h die Kopplung
Ausführung der Vorderachsfederung mit und ohne der Federungszylinder verändert und damit eine
hydraulischer Wankstabilisierung. Die Standardaus- Wanksteifigkeit sowie eine geänderte vertikale Fe-
führung einer Vorderachsfederung bei Traktoren dersteifigkeit aufgeprägt. Durch diese Kennlinien-
umfasst meist zwei Hydraulikzylinder; deren jewei- umschaltung werden die querdynamischen Fah-
lige Kolben- und Ringräume sind parallel verschaltet, reigenschaften ohne Fahrereingriff verändert, um
so dass beim Pendeln der Vorderachse Ölvolumen insbesondere bei höheren Fahrgeschwindigkeiten
entsprechend frei verschoben werden kann, ohne die Fahrzeugführung zu erleichtern [4].
dass die Achsbewegung behindert wird. Für eine Neben der Kennlinienumschaltung zur Vari-
Ausführung mit hydraulischer Wankstabilisierung ation der Wankabstützung bietet die Manipula-
lassen sich verschiedene Schaltungen, wie zum Bei- tion der Lenkübersetzung eine weitere technische
spiel eine Kreuzverschaltung oder eine Entkopplung Möglichkeit zur Unterstützung des Fahrers bei
der Kolben- und Ringräume, umsetzen und die zu- der Fahrzeugführung: In Traktoren bzw. landwirt-
sätzliche Ölvolumenverdrängung in der hydropneu- schaftlichen Nutzfahrzeugen sowie Baumaschinen
matischen Federung und Dämpfung nutzen [3]. werden vornehmlich sogenannte Fremdkraft- bzw.
Zur Verbesserung der Fahrdynamik beim Stra- Hilfskraftlenkanlagen ohne mechanische Lenkge-
ßentransport wurde von der Firma Fendt mit der stänge verwendet. Durch diese aufgelöste Bauart, in
1032 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren
1
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4
5
6
.. Abb. 54.3 a Parallelschaltung eines elektrohydraulischen Proportionalventils zu der Lenkeinheit b Abhängigkeit der Lenk
7 übersetzung von der Fahrgeschwindigkeit beim Vario-Active [7]
der die mechanischen Übertragungselemente durch Durch eine parallele Anordnung der mechani-
8 hydraulische oder elektrische Komponenten ersetzt schen und der elektrischen Volumenstromdosierung
werden, ergeben sich zusätzliche Optionen für ei- lassen sich grundsätzliche variable Lenkübersetzun-
9 nen Reglungseingriff und damit für eine Assistenz gen realisieren: In der Praxis werden Systeme wie
in der Fahrzeugführung [5, 6]. beispielweise die Fendt VarioActive-Lenkung ange-
10 Neben der hydraulischen Energieversorgung boten. . Abbildung 54.3b zeigt, wie in Abhängigkeit
und dem Lenkzylinder ist die hydrostatische Len- von der Fahrgeschwindigkeit eine vorher durch den
keinheit – die in der Regel aus einem proporti- Fahrer aktivierte Halbierung der Lenkbewegung bzw.
11 onalen, mechanischen Drehschieberventil und eine Verdoppelung der Lenkübersetzung ermöglicht
einer Dosiermaschine besteht – das wesentliche wird. Dies ermöglicht insbesondere bei Rangier- und
12 Element zur Umsetzung der Lenkradbewegung in Umschlagsarbeiten eine Entlastung des Fahrers [7].
eine Radbewegung. In der Standardauslegung wird Eine konsequente Weiterentwicklung der elek-
bei Traktoren eine Lenkübersetzung von ungefähr trohydraulischen Parallelsysteme zur Volumen-
13 14 : 1, entsprechend vier bis fünf Lenkumdrehungen stromdosierung stellt die Einführung eines Steer-
für das Lenken von Lenkanschlag zu Lenkanschlag, by-Wire-Systems mit vollständiger Integration von
54 gewählt. Hierbei kann der maximale Lenkwinkel elektrischen Übertragungselementen in eine Fremd-
am Rad in Abhängigkeit der Ausstattung, Berei- kraftlenkanlage dar. Mit dem Ziel, den Lenkaufwand
15 fung und Anwendung variieren. Die durch den und die Fahrzeugführung zu verbessern und damit
Volumenstrom bestimmte Lenkübersetzung bietet eine Ermüdung des Fahrers zu verringern, führte
eine besonders gute Möglichkeit für eine geregelte John Deere ein vollständiges Steer-by-Wire-Lenksys-
16 Volumenstromverstärkung in Abhängigkeit von tem in einigen Traktorbaureihen ein. Durch dieses
der Lenkradbewegung durch elektrohydraulische unter dem Namen Active Command Steering (ACS)
17 Parallelsysteme. Die unabhängige Volumenstrom- eingeführte Lenksystem wurden folgende Merkmale
verstärkung und damit von der Fahrereingabe
unabhängige Lenkbewegung wird im Abschnitt
--
der Querdynamikassistenz implementiert [8]:
dynamische Lenkwinkelregelung,
--
18 Prozess-Assistenzsysteme (siehe ▶ Abschn. 54.2) variable Lenkübersetzung,
ausführlicher beschrieben. . Abbildung 54.3a zeigt verhindertes Lenkspiel und Lenkungskriechen,
19 die beispielhafte Parallelschaltung eines elektrohy- variabler Lenkaufwand.
draulischen Proportionalventils zu einer Lenkein-
20 heit – auch elektrohydraulische Summierungslen- Bei der dynamischen Lenkwinkelreglung misst ein
kung genannt. Drehratensensor Gierbewegungen des Fahrzeugs.
54.1 • Fahrdynamische Assistenzsysteme
1033 54
.. Abb. 54.4 Typische
Open-Loop-Gierratenant-
wort auf einen Lenkwin-
kelsprung bei 40 km/h [8]
.. Abb. 54.5 Übersicht
über die einzelnen
Steer-by-Wire-Komponen-
ten des ACS-Systems [8]
Das System kann automatisch kleine Lenkanpas- Lenkbereich und bei Transportgeschwindigkeiten
sungen vornehmen und so eine sehr gute Spurhal- etwa fünf Lenkradumdrehungen.
tung bewirken (. Abb. 54.4). Damit wird die Fahr- Durch den Einsatz von Lenkwinkelgebereinhei-
zeugführung zum einen in unwegsamem Gelände ten mit geregelter Dämpfung lassen sich die klas-
verbessert, zum anderen wird bei Transportarbeiten sischen Nachteile einer hydrostatischen Lenkung
ein Übersteuern des Traktors infolge von schnellen wie Lenkspiel und Lenkungskriechen – die sich aus
Lenkbewegungen vermieden. dem Einsatz von klassischen Drehschieberventilen
Ähnlich wie bei den vorher beschriebenen Sys- ergeben – eliminieren und gleichzeitig ein variab-
temen mit kombinierter mechanischer und elek- ler Lenkaufwand realisieren und damit dem Fahrer
trischer Volumenstromregelung ermöglicht der eine der Fahrgeschwindigkeit und Fahrsituation
Einsatz des Steer-by-Wire-Konzepts eine variable angepasste Rückmeldung geben. . Abbildung 54.5
Lenkübersetzung. In dem von John Deere ausge- zeigt eine Übersicht über die einzelnen Komponen-
führten Konzept wurde eine von der Geschwin- ten des Steer-by-Wire-Konzepts.
digkeit abhängige, sich kontinuierlich anpassende Über einen Drehratensensor (1) wird die Gier-
Lenkübersetzung konzipiert. Diese benötigt bei rate des Traktors erfasst und zusammen mit den Si-
niedrigen Fahrgeschwindigkeiten etwa nur drei- gnalen von Lenkwinkelsensoren (2) am rechten und
einhalb Lenkradumdrehungen für den gesamten linken Rad und der Fahrgeschwindigkeit zur Rege-
1034 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren
.. Abb. 54.6 Trennung
1 von Fahrzeug-Bus und
Anbaugeräte-Bus durch
die TECU
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4
5
6
7
lung des Lenkeinschlags in Abhängigkeit von der rung der Handgriffe am Vorgewende, die notwendig
vom Fahrer am Lenkradwinkelsensor (4) aufgepräg- sind, um die Traktor-Anbaugerätkombination zu be-
8 ten Lenkbewegung verwendet. Das ACS-System ist dienen. Anbaugerät-interne Automatisierungslösun-
als betriebssicheres System mit zwei parallelen Re- gen werden für eine Reihe an Maschinen angeboten
9 gelkreisen mit jeweils unabhängigen Steuergeräten und bieten spezielle Funktionalitäten für den jewei-
(5) und Hydraulikventilen (6) ausgeführt. Für die ligen Einsatzfall, wie beispielsweise Abladeautoma-
10 Hydraulikversorgung ist neben der Haupthydraulik tikfunktionen bei Silierwagen [10]. Im Folgenden
eine elektrische Zusatzpumpe (7) als Rückfallebene werden verschiedene Prozess-Assistenzsysteme bei
installiert; durch eine Nutzung der Fahrzeugbatterie Traktoren beschrieben.
11 wird eine Rückfallebene für die Lichtmaschine zur
Stromversorgung bereitgestellt [8].
12 54.2.1 Traktor-Anbaugerät-
Systemautomatisierung
54.2 Prozess-Assistenzsysteme
13 Traktoren werden in der Regel in Kombination mit
In der Landtechnik haben sich verschiedene Pro- Anbaugeräten eingesetzt, um die gewünschten Ar-
54 zess-Assistenzsysteme und Automatisierungslö- beitsprozesse durchzuführen: Ein Traktor stellt als
sungen etabliert: Beispielsweise findet man bei universelles Zugfahrzeug aus diesem Zweck diverse
15 selbstfahrenden Arbeitsmaschinen häufig Fahrge- Schnittstellen zur Verfügung, um mit verschiedensten
schwindigkeitsregelsysteme oder auch automatische Anbaugeräten kombiniert werden zu können. Hierzu
Lenksysteme, die nachweislich zur Effizienzsteige- zählen sowohl mechanische Schnittstellen, um das
16 rung der Arbeitsprozesse beitragen [9]. Fahrstrate- Anbaugerät mit dem Traktor zu verbinden; aber auch
gieelemente und Vorgewende-Automatisierungs- Schnittstellen zur Leistungsübertragung – elektrisch,
17 lösungen für Traktoren sind am Markt ebenfalls mechanisch, hydraulisch – werden vorgehalten. Im
etabliert und können daher mittlerweile als Stand Vergleich dazu werden sogenannte selbstfahrende
der Technik angesehen werden. Durch intelligente Arbeitsmaschinen angeboten, die speziell für eine
18 Fahrstrategien wird in Kombination mit Stufenlos- einzige landwirtschaftliche Anwendung entwickelt
getrieben – beispielsweise die Getriebeübersetzung werden, wie beispielsweise selbstfahrende Feldhäcks-
19 – permanent lastabhängig so verstellt, dass der Ver- ler zur Ernte von Mais. Diese Maschinen bieten
brennungsmotor im Punkt der maximalen Leistung durch ihre Spezialisierung auf eine Anwendung ein
20 betrieben wird. Vorgewende-Automatisierungslö- hohes Maß an Automatisierung zur Entlastung des
sungen entlasten den Bediener durch die Reduzie- Bedieners und Steigerung der Prozesseffizienz.
54.2 • Prozess-Assistenzsysteme
1035 54
-
zugreifen:
Fahrgeschwindigkeitsregelung bis zum aktiven
Stillstand in Kombination mit Stufenlosge-
rung eingreift und eine automatisierte Funktion ma-
nuell beeinflusst; dies kann z. B. durch die manuelle
Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit erfolgen. In
- triebe,
Veränderung der zulässigen Beschleuni-
gungs-/Verzögerungsrate durch Verstellung
der Getriebeübersetzung in Kombination mit
diesem Fall wird die Traktor-Anbaugerät-Automa-
tisierung deaktiviert und das System fällt auf die
manuelle Operationsebene zurück.
- Stufenlosgetriebe,
elektrohydraulische Zusatzsteuergeräte 54.2.3 Traktor-Rundballenpresse-
1
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10
.. Abb. 54.7 Initialer Handshake nach Zusammenstecken der Bus-Steckverbindung
11
Durch die Automatisierung kann der Bedie-
12 ner deutlich entlastet werden. Automatisiert wur-
den für diese Kombination die folgenden Schritte
13
-
(. Abb. 54.9):
Abbremsen des Gespanns bis zum Stillstand,
sobald der voreingestellte Ballendurchmesser
-
54 erreicht wird;
Auslösen des Ballen-Bindevorgangs, sobald
15
16
- das Gespann angehalten hat;
Öffnen der Presskammer durch Betätigung
eines hydraulischen Zusatzsteuergerätes am
Traktor, sobald der Bindevorgang abgeschlos-
17
18
.. Abb. 54.8 Traktor mit Rundballenpresse beim Ballenaus-
wurf
- sen ist;
Schließen der Presskammer durch Betätigung
eines hydraulischen Zusatzsteuergerätes am
Traktor, sobald der Ballen ausgeworfen wurde.
hingegen übernehmen aktiv das Lenken für den den äußeren Regelkreis und die Benutzerschnitt-
Fahrer. Dieser definiert in diesem Fall eine Spur am stelle.
Bedienelement des Fahrzeugs und aktiviert danach Neben den integrierten Lenksystemen gibt es
die automatische Lenkung. Die dafür notwendigen noch universell nachrüstbare Lenksysteme, bei
integrierten Komponenten sind in . Abb. 54.11 denen ein Elektromotor kraft- oder reibschlüssig
aufgezeigt. Dabei bestimmt der Radlenkwinkelsen- an die Lenksäule oder das Lenkrad verbaut wird.
sor die jeweilige Position der gelenkten Räder. Der In diesem Fall gibt es keine direkte Interaktion mit
GNSS-Receiver ermittelt die Position des Fahrzeugs der Lenkhydraulik. Beispiele dafür sind John Deere
im Weltkoordinatensystem, die Fahrgeschwindig- AutoTrac Universal oder Trimble EZ-Steer [14].
keit, die Richtung sowie mit der integrierten IMU Automatische Lenksysteme erlauben dem Be-
(Inertial Measurement Unit) noch die Längs-, Quer-
neigung und den Gierwinkel des Fahrzeugs. Um
-
nutzer, folgende Konturen zu fahren:
parallele Geraden, definiert durch zwei Punkte
die gewünschte, jederzeit wiederholbare Genauig-
keit von ±5 cm oder besser zu erreichen, werden in
der Landwirtschaft i. d. R. RTK- (Real Time Kine- - oder einem Punkt und der Himmelsrichtung;
parallele Kurven, definiert durch einmaliges
manuelles Abfahren und Speichern der Positi-
matic) GNSS-Systeme eingesetzt. Hierbei werden
die Korrektursignale entweder per Funk oder per
- onen;
Kreisbahnen, definiert durch Mittelpunkt und
Telefonmodem übertragen. Der Lenksystemcon-
troller enthält den inneren Regelkreis, der direkt
auf das Lenkventil zugreifen und die Räder in die
gewünschte Position bringen kann (. Abb. 54.13).
- Radius oder mehrere Punkte auf dem Kreis;
Vorgegebene Muster, definiert durch Spurpla-
nungssoftware oder Aufzeichnung.
Weiterhin überwacht dieses Steuergerät den Lenk- Sobald das Lenksystem aktiviert wird, versucht
winkelgeber, so dass jeglicher manueller Eingriff in der Regler, das Fahrzeug möglichst schnell auf die
das System den automatischen Lenkmodus beendet. gewünschte Spur zu bringen – dazu wird kontinu-
Die Anzeigeeinheit enthält die Spurdefinitionen, ierlich der seitliche Versatz zur Sollspur sowie die
1040 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren
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.. Abb. 54.12 Regelkreis eines automatischen Lenksystems
7
Lösung dar, wenn die Werkzeuge starr mit dem Fahr-
zeug verbaut sind und das Fahrzeug ohne Spurfehl-
8 winkel seiner Sollspur folgt. Diese starre Verbindung
zwischen Fahrzeug und Werkzeug ist derzeit bei gro-
9 ßen Gespannen nicht möglich. Bei gezogenen Anbau-
geräten befindet sich mindestens ein Gelenk zwischen
10 Zugmaschine und Anhängegerät: Somit werden wei-
tere Lenkkonzepte notwendig, um die Werkzeuge mit
der gewünschten Orientierung an die gewünschte
11 Arbeitsposition zu bringen. Nachfolgend werden die
beiden grundsätzlichen Möglichkeiten beschrieben.
12
54.3.2.1 Passive Anbaugerätelenkung
Bei der passiven Anbaugerätelenkung wird die
13 Solltrajektorie des Traktors so weit verändert, dass
.. Abb. 54.13 Traktor am Seitenhang mit passiver Anbauge-
rätelenkung John Deere iGuideTM ein gezogenes Anbaugerät immer auf der Sollspur
54 bleibt: Dies bedeutet in Kurven und an Seiten-
Richtungsabweichung berechnet. Diese beiden hängen, dass der Traktor deutlich von der Spur
15 Werte werden einer Regelstrecke mit PI-Reglercha- des Anbaugerätes abweichen muss [15]. Diese Art
rakteristik zugeführt; die Regelstrecke dafür ist in der Regelung kann im Open-loop-Verfahren an-
. Abb. 54.12 dargestellt. Die Berechnung des kine- gewandt werden, wobei die Position des Anbau-
16 matischen Fahrzeugmodells kann basierend auf ei- gerätes rein aus den verfügbaren Geometriedaten
nem Einspurmodell für Zugfahrzeug und Anhänger errechnet wird. Beim Closed-loop-Verfahren wird
17 erfolgen (. Abb. 54.13). ein GNSS-Receiver dem Anbaugerät hinzugefügt,
womit es möglich ist, die tatsächliche Position des
Anbaugerätes zu erfassen und die Regelung darauf-
18 54.3.2 Lenkassistenten hin anzupassen (. Abb. 54.13). In dieser Abbildung
für Anbaugeräte beschreiben die weißen Linien die Solltrajektorie
19 des Anbaugerätes und die gelbe Linie die Trajekto-
Da wie eingangs erwähnt die exakte Positionierung rie, die der Traktor fahren muss, um das Anbaugerät
20 der Werkzeuge im Vordergrund steht, stellt die Len- auf die gewünschte Spur zu bringen. Daraus wird
kung des Fahrzeugs nur dann eine zufriedenstellende auch ersichtlich, dass ein Lenkmanöver des Traktors
54.3 • Automatisierung von Lenkfunktionen
1041 54
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.. Abb. 54.15 Automatisches Vorgewendemanagement John Deere iTec ProTM
8 sierung der Feldbearbeitungsprozesse die Einbezie- Feld ohne weitere manuelle Eingriffe des Fahrers
hung von Wendemanövern und die automatische abgearbeitet werden.
9 Anpassung von Werkzeugpositionen. Die Funkti- Dieses System stellt den ersten Schritt in Rich-
onen, wie in . Abb. 54.15 verdeutlicht, sind heute tung hochautomatisierter Fahrzeugflotten bezie-
10 im Vorgewendemanagement John Deere iTec ProTM hungsweise autonomer Fahrzeuge dar.
verfügbar.
Zunächst ist von einem Feld die Grenzlinie
11 notwendig; diese kann durch Umfahren erzeugt 54.4 Kollaborierende Fahrzeuge
oder vom Katasteramt bezogen werden. Basierend
12 auf dieser Information wird das sogenannte Vorge- Auf großen landwirtschaftlichen Betrieben ist es
wende definiert; das ist der Bereich, in dem Fahr- heute üblich, dass mehrere Fahrzeuge die gleiche
zeug und Anbaugerät wenden können. Die Festle- Arbeit verrichten, um die Flächenleistung je Stunde
13 gung dieser feldinternen Grenze erfolgt als Parallele zu steigern. Das Karlsruher Institut für Technolo-
zur Feldgrenze, indem ein Vielfaches der Arbeits- gie entwickelte in einem Forschungsprojekt mit
54 breite des Anbaugerätes verwendet wird. Im nächs- AGCO Fendt eine „elektronische Deichsel“ für
ten Schritt werden die an der Vorgewendegrenze landwirtschaftliche Arbeitsmaschinen [18]; dazu
15 durchzuführenden Funktionen und deren Timing werden gleichartige Fahrzeuge mit gleichartigen
festgelegt: Für eine Sämaschine sind dies beispiels- Anbaugeräten verwendet. Diese Konstellation er-
weise das Absenken der Sämaschine, das Aktivieren laubt es, dass ein Fahrer mehrere Fahrzeuge führt.
16 der Zapfwelle und das Einschalten der Saatgutzu- Ein unbemanntes elektronisch geführtes Fahrzeug
fuhr. Dabei ist zu beachten, dass der Ablagepunkt wird an ein bemanntes Fahrzeug angekoppelt. Das
17 des Saatgutes die ausschlaggebende Position ist. führende Fahrzeug überträgt seine Position bzw.
Sollte bei diesem Arbeitsschritt noch ein Frontar- Wegstrecke an folgende Fahrzeuge, die nun basie-
beitsgerät vor dem Traktor montiert sein, ist dieses rend auf der Arbeitsbreite ihrer Anbaugeräte den
18 entsprechend früher abzusenken. Beim Erreichen Versatz berechnen. Zusätzliche Informationen wie
der nächsten Vorgewendegrenze werden nun die Motorauslastung und potenzielle Stellgrößen des
19 Werkzeuge – in umgekehrter Reihenfolge – wieder Prozesses werden dazu verwendet, das folgende
deaktiviert. Anschließend erfolgt das vordefinierte Fahrzeug dynamisch zu navigieren. Diese Lösung
20 Wendemanöver. Sobald diese Einstellungen für das wurde 2011 von AGCO Fendt als GuideConnect
Feld einmal festgelegt wurden, kann das gesamte System vorgestellt (. Abb. 54.16) [13]. Der Fahrer
54.5 • Ausblick auf vollautomatisierte Fahrzeuge in der Landwirtschaft
1043 54
.. Abb. 54.16 Fendt
GuideConnect [1]
.. Abb. 54.18 Autono-
1 mous Orchard Tractor [18]
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4
5
6
7
8
9 serscanner und Kameras eingesetzt, um die Umfel- automatisierter bzw. autonomer Fahrzeuge geht.
derkennung des Fahrzeugs zu gewährleisten. Die Die Weiterentwicklung der in diesem Kapitel be-
10 Überwachung der Fahrzeuge erfolgt von einem schriebenen Fahrerassistenzsysteme ist als wichti-
zentralen Leitstand aus und der Betriebsleiter ist in ger Meilenstein auf diesem Weg anzusehen. In den
der Lage, über Kameras das Umfeld der Fahrzeuge nächsten fünf Jahren werden vollautomatisierte
11 einzusehen. Systeme zunächst in abgegrenzten Bereichen zu
Eine weitere Lösung in diesem Bereich wird finden sein, bevor diese flächendeckend eingesetzt
12 von der Firma Kinze angeboten (. Abb. 54.19): In werden können. Eine der größten Herausforde-
diesem Fall wird ein Traktor mit entsprechender rungen bei Landmaschinen ist darin zu sehen,
Sensorik nachgerüstet, um autonom einen Überla- dass nicht nur der Betriebszustand der Fahrzeuge,
13 dewagen für Getreide zwischen dem Mähdrescher sondern auch die Prozessgüte – wie beispielsweise
im Feld und einem Lastkraftwagen am Feldrand fehlerfreie Ausbringmenge, fehlerfreie Zufuhr von
54 zu bewegen. Auch in diesem System wird ein La- Erntegut, Befüllen und Entleeren – gewährleistet
serscanner eingesetzt [19]. sein muss.
15 Die Entwicklungen in diesem Bereich werden
durch verschiedene Standards unterstützt: ISO/
CD 18497 beschreibt die Sicherheitsanforderun- Literatur
16 gen, welche an hochautomatisierte Fahrzeuge ge-
stellt werden [20]. Dieser Standard beinhaltet un- Verwendete Literatur
17 ter anderem Vorgaben für Systemkomponenten,
1 Moitzi, G.: Vermeidung von Bodenverdichtung beim Ein-
Kommunikationsprotokolle, Perception-Systeme satz von schweren Landmaschinen; Ländlicher Raum. On-
einschließlich deren Tests und die Betriebsprozedu-
18 ren. Je nach Land müssen die Fahrzeuge schließlich
line‐Fachzeitung des Bundesministeriums für Land‐ und
Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. http://
auch noch von Berufsgenossenschaften und tech- www.bmlfuw.gv.at/land/laendl_entwicklung/Online-Fach-
19 nischen Überwachungsorganisationen freigegeben
2
zeitschrift-Laendlicher-Raum (2007). Wien
Braess, H.-H., Seifert, U.: Handbuch Kraftfahrzeugtechnik.
werden. Vieweg, Braunschweig, Wiesbaden (2000)
20 Zusammenfassend kann festgehalten werden, 3 Bauer, W.: Hydropneumatische Federungssysteme. Sprin-
dass die Landtechnik schrittweise in Richtung ger, Berlin (2008)
Literatur
1045 54
.. Abb. 54.19 Kinze
Autonomer Überladewa-
gen [19]
4 AGCO Fendt (Oktober 2007). Pressemitteilungen: Die er- 15 Bowman, K.: Economic and environmental analysis of con-
folgreichen Vario‐Baureihen. Verfügbar unter: http://www. verting to controlled traffic farming 7th Australian Control-
fendt.at/pressebereich_pressemitteilungen_1033.asp, Ab- led Traffic Conference, Canberra, ACT., S. 61–68 (2009)
gerufen am 24.04.2014 16 Werner, R., Kormann, G., Mueller, S.: Dynamic modeling and
5 Dudzinski, P.: Lenksysteme für Nutzfahrzeuge. Springer, path tracking control for a farm tractor towing an imple-
Berlin (2005) ment with steerable wheels and steerable drawbar 2nd
6 Hesse, H.: Elektronisch‐hydraulische Systeme. expert‐Ver- Commercial Vehicle Technology Symposium, Kaiserslau-
lag, Renningen (2008) tern., S. 241–250 (2012)
7 Wiedermann, A.: Auslegung von Lenksystemen in moder- 17 Trimble Navigation Limited: Datasheet True Tracker Sys-
nen Traktoren. In: Tagung Landtechnik 2012, VDI‐Max‐ tem (2012). 22. August. http://trl.trimble.com/docushare/
Eyth‐Gesellschaft VDI‐Berichte, Bd. 2173, VDI Verlag, Düs- dsweb/Get/Document-343005/022503-282A_TrueTra-
seldorf (2012) cker_FS_0707_lr.pdf, Zugegriffen: 09.03.2014
8 Schick, T., Kearney, J.: „Steer‐by‐Wire“ for Large Row Crop 18 Moorehead, S., Stephens, S., Kise, M., Reid, J.: Autonomous
Tractors. In: Tagung Landtechnik 2010, VDI‐Max‐Eyth‐Ge- Tractors for Citrus Grove Operations 2nd International
sellschaft VDI‐Berichte, Bd. 2111, VDI Verlag, Düsseldorf Conference on Machine Control and Guidance, Bonn, Ger-
(2010) many., S. 309–313 (2010)
9 Balke, S.: Kostensenkung durch Automatisierungssysteme 19 McMahon, K.: Kinze's autonomous tractor system tested
im Mähdrusch, Diplomarbeit FH Weihenstephan, 2006 in field by farmers (2012). 12.11.. http://farmindustrynews.
10 Anonymous: Produktinformation Pöttinger Ladewagen com/precision-guidance/kinze-s-autonomous-tractor-sys-
Jumbo/Torro, Grieskirchen, Österreich, 2008 tem-tested-field-farmers, Zugegriffen: 12.03.2014
11 ISO (International Organization for Standardization). ISO 20 ISO (International Organization for Standardization). CD
11783: Tractors and machinery for agriculture and fore- ISO 18497: Agricultural machinery and tractors – Safety of
stry – Serial control and communications data network. Highly Automated Machines. Frankfurt, Germany, 2013
Geneva, Switzerland, 2012
12 Thielicke, R.: Automatisierung und Optimierung traktorge- Weiterführende Literatur
bundener landwirtschaftlicher Arbeiten mit zapfwellenge- 1 Kormann, G., Thacher, R.: Development of a Passive Im-
triebenen Geräten an ausgewählten Beispielen, Disserta- plement Guidance System AgEng 2008 International Con-
tion, Halle/Saale, 2005 ference on Agricultural Engineering, (OP1585), Knossos
13 AGCO Fendt: Pressemitteilungen: Fendt GuideConnect Royal Village, Crete, Greece. (2008)
(2011). http://www.fendt.com/de/pressebereich_presse- 2 Zhang, X., Geimer, M., Noack, P., Ehrl, M.: Elektronische
mitteilungen_7099.asp, Zugegriffen: 09.03.2014 Deichsel für landwirtschaftliche Arbeitsmaschine 68. Inter-
14 Trimble Navigation Limited: Datasheet EZ‐Steer System nationale Tagung Landtechnik, Braunschweig., S. 407–412
(2014). 20. Februar. http://trl.trimble.com/docushare/ds- (2010)
web/Get/Document-468909/, Zugegriffen: 09.03.2014
1047 55
Navigation
und Verkehrstelematik
Thomas Kleine-Besten, Ulrich Kersken, Werner Pöchmüller,
Heiner Schepers, Torsten Mlasko, Ralph Behrens, Andreas Engelsberg
55.1 Historie – 1048
55.2 Navigation im Fahrzeug – 1049
55.3 Offboard-Navigation – 1061
55.4 Hybrid-Navigation – 1061
55.5 Assistenzfunktionen – 1063
55.6 Elektronischer Horizont – 1065
55.7 Verkehrstelematik – 1066
55.8 Smartphone-Anbindung im Automobil – 1073
55.9 Aspekte des Mobilfunks für Navigation
und Telematik – 1075
Literatur – 1079
öffentliche Hand musste mit jährlichen Investiti- Hinweise gegeben, mit denen er das Fahrzeug zum
onen von 8,3 Mio. DM gerechnet werden. In der Ziel führen kann (s. . Abb. 55.1).
Folge wurde mit dem Projekt EVA (Elektronischer Die Prozessorbaugruppe der Navigation be-
Verkehrslotse für Autofahrer) eine Idee aus dem steht aus dem Hauptprozessor und angebundenen
Jahr 1978 weiterverfolgt, das als fahrzeugautono- Speichern sowie der Grafik-Hardware. Wesentliche
mes Zielführungssystem eine Verkehrsnavigation Funktionalität der Navigation wird durch Software-
ermöglichte. Wesentliche Elemente waren dabei module realisiert, die auf der Prozessorbaugruppe
fahrzeugseitig installiert und resultierten somit in ablaufen (siehe . Abb. 55.2). Der Fahrer wird über
einem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis, das eine Sprachausgabe über den zu wählenden Weg
1983 in einem Feldversuch nachgewiesen wurde. informiert und erhält über Anzeigeinstrumente
Die Weiterentwicklung dieses Systems führte 1989 im Navigationsgerät (Kartendarstellung und/oder
zum ersten europäischen Seriennavigationsgerät im Symboldarstellung) oder im Kombiinstrument
Kraftfahrzeug. (meist Symboldarstellungen) optische Zusatzhin-
weise.
Auf der Prozessorbaugruppe befinden sich fol-
-
55.2 Navigation im Fahrzeug gende Software-Module:
Ortung zur Ortsbestimmung mit den aus der
Die Hauptaufgabe eines Navigationssystems besteht
darin, den Nutzer zu einem geographischen Ziel zu
- Sensorik zur Verfügung stehenden Daten,
Zieleingabe zur Beschreibung des Ziels durch
führen. Als Eingangsgrößen stehen hierfür die Sen-
sorik zur Positionsbestimmung und digitalisierte
Straßendaten auf Datenträgern zur Verfügung; die - den Nutzer,
Routenberechnung zur Bestimmung des We-
ges vom aktuellen Standort zum eingegebenen
Straßendaten stellen eine digitale Abbildung des real
vorhandenen Straßennetzwerkes dar. Aus diesen
Eingangsdaten werden nach entsprechenden Nut-
zer-Eingaben dem Fahrer optische und akustische
- Ziel (Route),
Zielführung zur Führung des Fahrers entlang
der Route durch optische und akustische Hin-
weise,
1050 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
.. Abb. 55.2 Soft-
1 ware-Module der Navi-
gation
2
3
4
5
6
7
8
- Kartendarstellung zur Anzeige der geogra-
phischen Karte mit aktuellem Ort, Route und
b) der relativen Position des Fahrzeugs bezogen
auf das Straßennetz, repräsentiert durch die di-
9
10 - Zusatzinformationen,
Dynamisierung zur Einbeziehung und Be-
rücksichtigung von Umweltereignissen (zum
Beispiel Nebel, Eisglätte) und Verkehrsinfor-
gitale Karte (Position nach sogenanntem „Map-
Matching“).
-
11 rung) in der aktuellen Route, rungen an die Ortung sind dabei vielfältig: Durch
Korridor zur Voreinlagerung von Daten aus neue Funktionen – insbesondere die Nutzung der
12 dem Navigationsdatenträger in den Hauptspei- Navigation für Fahrerassistenzfunktionen – steigen
cher der Prozessorbaugruppe. Der Korridor die Anforderungen (Ortungsgenauigkeit, Integri-
wird insbesondere bei CD/DVD-basierten Na- tätsangaben, Fehlerschätzungen, Fahrbahnerken-
13 vigationssystemen genutzt, um ein Navigieren nung, Ermittlung der Position innerhalb der Fahr-
ohne eingelegten Datenträger zu ermöglichen bahn).
14 und somit das Laufwerk zur gleichzeitigen Für die Navigation, die den Fahrer zu einem
Wiedergabe von Audio-CD zur Verfügung zu gewählten Ziel führen soll, ergeben sich folgende
55 haben. querschnittliche Anforderungen:
Die von der Ortung ermittelte absolute Position
muss einer Position in der Karte zugeordnet werden;
16 55.2.1 Ortung dabei entscheidet die Ortung, ob sich das Fahrzeug
auf der Straße (On-road) oder neben der Straße (Off-
17 Die Aufgabe der Ortung liegt darin, aus der aktuell road) befindet. Der Ortungsalgorithmus ermittelt
zur Verfügung stehenden Sensorinformation und eine präzise absolute Position und geht gleichzeitig
deren Historie die aktuelle Position sicher zu be- tolerant mit Ungenauigkeiten in der digitalisierten
18 stimmen. Dabei muss zwischen zwei Positionsan- Karte um. Für eine Zielführung hat der Positions-
gaben unterschieden werden: fehler im Straßennetz jederzeit so klein zu sein, dass
19 a) der absoluten Position des Fahrzeugs im Raum Fahrempfehlungen rechtzeitig vor jeder Kreuzung
– z. B. angegeben durch WGS 84-Koordinaten ausgegeben werden können, auch bei kurz hinter-
20 plus Bewegungsvektor – und einander folgenden Fahrmanövern. Alle Fahr- und
55.2 • Navigation im Fahrzeug
1051 55
Wendemanöver dürfen nicht zu einem Ortungsver- Eine Forderung, die der Genauigkeit und dem
lust führen. Das Verlassen der Straße – Fahrt vom Komfort dient, ist die automatische Kalibrierung des
On-road ins Off-road (z. B. bei Einfahrt auf einen Systems, welches die Reifenabnutzung berücksich-
Parkplatz) – muss erkannt werden. Nach dem Ver- tigt und insbesondere einen Reifenwechsel erkennt
lassen des Parkplatzes an einer beliebigen Stelle und und daraufhin eine Neukalibrierung startet. Die Or-
dem Befahren der nächsten Straße – Fahrt vom Off- tung funktioniert dabei zweistufig: Zunächst wird
road zum On-road – muss die Ortung automatisch mittels Koppel-Ortung (engl. „Dead-Reckoning“)
auf die richtige Netzposition aufsetzen. Nach einer eine Position bestimmt, die dann im Folgenden per
beliebig langen Fahrt außerhalb des Straßennetzes ist Map-Matching auf die digital vorliegende Straßen-
unmittelbar nach Eintritt in das digitalisierte Gebiet geometrie abgebildet wird. Bei der Koppel-Ortung
die richtige Position im Netz zu finden. Insbeson- handelt es sich um ein Verfahren, bei dem ausge-
dere für asiatische und nordamerikanische Straßen- hend von einer aktuellen Position mittels Wegdif-
netze ist die Erkennung einer Höhenänderung für ferenz, Winkeländerung und vergangener Zeit eine
die Fahrbahnebene bei mehrgeschossigen Brücken neue absolute Position bestimmt wird. Ausgehend
und Fahrwegen wichtig. Zukünftig wird eine Ortung von einer bekannten Ausgangsposition und bekann-
in Gebäuden erwartet beispielsweise in Parkhäusern tem Ausgangswinkel kann man durch Weg- und
oder für die Fußgängernavigation. Winkelmessung und Addition der Wegvektoren
Eine Bewegung des Navigationsgerätes in aus- die erreichte Position bestimmen; die Addition der
geschaltetem Zustand muss nach dem Wiederein- Wegvektoren nennt man koppeln. Die Ortung sam-
schalten zuverlässig und schnell erkannt und die melt und synchronisiert die Signale, die teilweise
aktuelle Position in der Karte bestimmt werden mit unterschiedlicher Frequenz vorliegen (siehe
können. Für mobile Navigationssysteme (Personal . Tab. 55.1) und führt sie auf eine Zeitbasis zurück,
Navigation Device – PND) oder Mobiltelefone mit um dann die Koppel-Position zu bestimmen.
Ortung ist dies eine Normalsituation; bei in das In mobilen Navigationssystemen (PND) ist es
Fahrzeug integrierten Systemen tritt dieser Fall bei üblich, nur mittels GPS zu orten. GPS (Global Posi-
ausgestellter Zündung z. B. bei der Nutzung von tioning System) ist ein System zur Positionsbestim-
Fähren oder Autoreisezügen ein. mung mittels Satellitenortung. Vom US-Verteidi-
1052 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
gungsministerium wurden bis zu 31 Satelliten in die Daten bei der Datenaufbereitung für die Daten-
1 Erdumlaufbahn gebracht, um Störungen und Aus- träger Informationen entzogen (Generalisierung),
fälle kompensieren zu können, die die Erde zweimal damit die Datenmenge reduziert wird, um auf den
2 am Tag in etwa 20.000 km Höhe umkreisen. Es wird Datenträger zu passen. Das verwendete Verfahren ist
angestrebt, die Zahl der Satelliten aus Kostengrün- üblicherweise eine Trajektorienbildung aus den Sen-
den auf 25 zu reduzieren. Diese Satelliten strahlen sordaten und dem Abgleich dieser Trajektorie mit
3 Funksignale auf 1575,42 MHz und 1227,60 MHz den Kartendaten; daraus erfolgt die Bestimmung der
unter Angabe ihrer Position und Uhrzeit aus. Beim wahrscheinlichsten Position in der Karte. Auch hier
4 Empfang von mindestens vier Satelliten kann ein ist – trotz der Anforderung, die Position möglichst
Empfänger aufgrund der Laufzeit der Signale, die genau zu bestimmen – eine Fehlertoleranz wichtig,
5 aus der Uhrzeitdifferenz zwischen Sender und damit es im Falle einer geringfügigen Abweichung
Empfänger gewonnen wird, sowie der Positionsan- vom digitalisierten Straßennetz nicht zu Fehlverhal-
gabe der Satelliten die eigene Position bestimmen. ten der Navigation kommt. So darf eine Baustelle auf
6 Das Verfahren entspricht einer Gleichung mit vier einer Autobahn mit Umleitung auf die Gegenfahr-
Unbekannten (Zeit und 3 Positionen) mit Schnitt- bahn nicht dazu führen, dass das Map-Matching die
7 punktbildung von drei Kugeln, deren Radien sich Fahrzeugposition auf die Gegenfahrbahn abgleicht
aus der Signallaufzeit ergeben. Im Jahr 2000 wurde und dem Fahrer eine Wendeempfehlung gegeben
die zuvor beaufschlagte künstliche Ungenauigkeit wird. Hierzu werden vom Map-Matching entspre-
8 der Signale abgeschaltet, um eine verbesserte zivile chende in den Kartendaten hinterlegte Attribute wie
Nutzung des GPS zu erlauben, so dass mittels GPS Fahrtrichtungen ausgewertet.
9 eine Positionsbestimmung mit 10 m bis 20 m Ge- Die Erfahrung zeigt, dass es einem Singlepath-
nauigkeit bei ungestörtem Empfang und günstiger Map-Matching trotz Einsatz ausgeklügelter Algo-
10 Satellitenkonstellation möglich ist. rithmen an Zuverlässigkeit mangelt, da bei Betrach-
Kfz-Systeme verfügen in der Regel über Zusatz- tung nur eines Pfades das Erreichen der geforderten
sensorik bzw. eine Anbindung an die im Fahrzeug hohen Map-Matching-Qualität wegen Sensortole-
11 vorhandene Sensorik, um auch ohne GPS-Emp- ranzen, kleinen Digitalisierungsungenauigkeiten
fang eine zuverlässige Position zu liefern. Da alle und Umwelteinflüssen nicht möglich ist. Abhilfe
12 Signale in bestimmten Situationen fehlerbehaftet schafft die gleichzeitige Betrachtung mehrerer Pfade
sind, muss die Ortung die Signale gegeneinander (Multipath-Map-Matching): Durch die gleichzeitige
abgleichen und kalibrieren. Ein gängiges Verfahren Verfolgung mehrerer Pfade erhält die Ortung die
13 stellt die Kalman-Filterung [2] dar, bei der auf Ba- Fähigkeit, Fehler bei der Entscheidung über das
sis eines Systemmodells zunächst der Ausgangswert „wahrscheinlichste Straßensegment“ rückgängig zu
14 abgeschätzt und dann mit dem durch die Sensorik machen – dem System wird quasi ein Gedächtnis
gemessenen Wert verglichen wird: Die Differenz aufgeprägt. Durch eine Bewertung der parallel be-
55 zwischen Abschätzung und Messung dient darauf- trachteten Pfade erhält man den Hauptpfad als den
hin der Verbesserung des aktuellen Systemzustands. Pfad mit der höchsten Bewertung. Die Position auf
Somit ist es möglich, fehlerbehaftete Daten entspre- dem Hauptpfad wird zur Steuerung der Fahremp-
16 chend weniger gewichtet in die Koppel-Ortung ein- fehlungen und zur Anzeige der Fahrzeugposition
zubeziehen (s. ▶ Kap. 26). in der Karte verwendet: Sind die Bewertungen von
17 Ist die Position mittels Koppel-Ortung bestimmt, Hauptpfad und einem der Parallelpfade annähernd
muss ein Abgleich (Matching) mit den digitalen gleich, so wird als zusätzliches Kriterium die be-
Kartendaten (Map) auf dem Datenträger erfolgen, rechnete Route zur endgültigen Bestimmung des
18 das sogenannte Map-Matching. Der Abgleich ist Hauptpfades herangezogen. In diesem Sinne erfül-
nötig, da neben der Koppel-Ortungsposition auch len die Parallelpfade eine Sicherheitsfunktion, auf
19 die digitalen Straßendaten fehlerbehaftet sind. Dies die dann zurückgegriffen werden kann, wenn eine
ist einerseits auf ungenaue/fehlerbehaftete Datener- Plausibilitätsbetrachtung für einen der Parallelpfade
20 hebung bei der Digitalisierung des Straßennetzes eine größere Wahrscheinlichkeit für die Fahrzeug-
zurückzuführen, andererseits werden den digitalen position ergibt als der bisherige Hauptpfad. Neben
55.2 • Navigation im Fahrzeug
1053 55
.. Abb. 55.3 Zieleingabe-Baumstruktur
der Generierung von Parallelpfaden ist ein Prozess in der hier genannten Reihenfolge: Land, Ort oder
zur Reduzierung der Anzahl der Parallelpfade er- Postleitzahl, Straße, Hausnummer. In Nordamerika
forderlich, da sonst im engmaschigen Straßennetz wird Bundesstaat, Straße, Ort eingegeben. Dabei
binnen kurzer Zeit unbeherrschbar viele Pfade zu erfolgt eine Ausdünnung der dem Nutzer angebo-
betrachten wären. Ein Parallelpfad wird gelöscht, tenen Daten derart, dass beispielsweise in Europa
wenn seine Bewertung einen festgesetzten Gren- nur die jeweils im Ort oder Postleitzahlbereich
zwert unterschreitet [3, 4]; die vom Map-Matching vorhandenen Straßen – bzw. in Nordamerika nur
errechnete und auf die Straße abgebildete Position die Orte, in denen die bereits eingegebene Straße
des Hauptpfades wird den anderen Navigationsmo- vorkommt – zur Auswahl angeboten werden. Wei-
dulen geeignet bereitgestellt. Insbesondere für die tere Unterstützungsfunktionen sind die automati-
genaue und ruckfreie Kartendarstellung wird ein sche Buchstabenausdünnung (automatic spelling
hochfrequentes Positionssignal (> 15 Hz) benötigt, function – ASF ), bei der die nicht mehr möglichen
so dass die Ortung die Position ggf. extra- oder in- Buchstabenkombinationen im Nutzermenü ausge-
terpolieren muss. graut werden, oder die Ähnlichkeitssuche, bei der
ähnlich geschriebene Orte/Straßen zur Auswahl an-
geboten werden. Zudem muss im Falle von Mehr-
55.2.2 Zieleingabe deutigkeiten – der Ort Frankfurt existiert mehrfach
in Deutschland – dem Nutzer eine Auswahl angebo-
Mittels der Zieleingabe – auch Index genannt – kann ten werden (Mehrdeutigkeitsauflösung).
der Nutzer über verschiedene Eingabemöglichkei- Neben der direkten Adresseneingabe können
ten Ziele eingeben. Dazu sind die Straßenbezeich- häufig auch besonders interessante Punkte (points
nungen und ortsbeschreibenden Daten üblicher- of interest – POI) zur Adressauswahl verwendet
weise stark komprimiert in einer Baumstruktur auf werden – wie beispielsweise Tankstellen, Autowerk-
einem Datenträger abgelegt (siehe . Abb. 55.3). stätten, Sehenswürdigkeiten oder Restaurants. Bei
Die politisch hierarchische Adresseneingabe diesen Zielen ist es häufig möglich, einen Reisefüh-
in Europa erfolgt üblicherweise über die Eingabe rer anzuwählen, der neben dem Ort noch Zusatzin-
1054 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
-
1 oder Öffnungszeiten liefert. schen kurzer Strecke und Fahrzeit;
Insbesondere bei POI ist die Funktion einer Dynamisierung: Route mit Berücksichtigung
2 Umgebungssuche wichtig, um beispielsweise einen von Verkehrsnachrichten und entsprechend
3
bestimmten Parkplatz an der Zielposition zu suchen
beziehungsweise eine Tankstelle oder ein Restaurant
an der aktuellen Position bzw. entlang der aktuellen
Fahrtstrecke zu finden.
- berechneten Umleitungen;
Meide-Kriterien, mit denen bestimmte Ab-
schnitte gemieden werden können: Autobahn,
Maut, Fähren, Tunnel.
4 Bei der Zieleingabe ist die Antwortzeit im Nut-
zerinterface kurz zu halten, um dem Nutzer ein
55.2.4 Algorithmen der Routensuche
5 zügiges Eingeben des Ziels zu ermöglichen. Ist
auf Festspeichern (Festplatte, SD-Card, Flash) der
Zugriff performant möglich, muss auf rotierenden Bei der Routensuche handelt es sich um eine wich-
6 Medien (CDs, DVDs) – aufgrund der bautechnisch tige Anwendung der mathematischen Graphenthe-
bedingten großen Zugriffszeiten (Seek-Time) ein orie: Innerhalb eines Graphen – bestehend aus K
7 zugriffsoptimierter Algorithmus angewandt wer- Knoten (oder Ecken), welche über N Kanten mit-
den, der trotz aller zuvor genannten Komfortfunk- einander verbunden sind (jede Kante repräsentiert
tionen (z. B. Ausdünnung) mit einer geringstmög- ein Knotenpaar) – gilt es, eine optimale Route zu
8 lichen Anzahl an Zugriffen auskommt. bestimmen. Jeder Knoten repräsentiert dabei den
Zusammenstoß mehrerer Straßensegmente – z. B.
9 einen Kreuzungspunkt. Eine Kante hingegen re-
55.2.3 Routensuche präsentiert ein endlich langes Straßensegment
10 und dessen routenrelevante Eigenschaften – z. B.
Die Routensuche ist dafür verantwortlich, im Stra- Straßenklasse, Durchschnittsgeschwindigkeit auf
ßennetzwerk den bestmöglichen Weg entsprechend dem Segment oder Länge des Straßensegments.
11 der eingestellten Optionen und Kriterien von der Das Straßennetzwerk wird somit durch einen sehr
aktuellen Position zum Ziel zu finden. Hierzu wer- großen Graphen, bestehend aus Knoten und Kan-
12 den die Daten der digitalen Straßenkarten in Kno- ten mit routenrelevanten Kanteneigenschaften, re-
ten und Kanten abgelegt, die den Kreuzungen und präsentiert. Zum Durchführen einer Routensuche
den die Kreuzungen verbindenden Straßen entspre- werden ein Start- und ein Zielknoten im Graphen
13 chen. Diese werden mit entsprechenden Attributen benötigt, eine Kostenfunktion f(Nij) zur Bewer-
belegt, die den Widerstand – d. h. die Durchfahrts- tung der Kosten einer Bewegung von Knoten Ki zu
14 geschwindigkeit für den Routensuchalgorithmus Knoten Kj entlang einer Kante Nij sowie ein Op-
– repräsentieren; wesentliche Attribute sind Stra- timierungsverfahren zur Suche der bezüglich der
55 ßenklasse, Länge, Fahrtrichtung oder Fahr-Be- Kostenfunktion optimalen Route im Graphen. Als
schränkungen (beispielsweise Mautpflicht). Die Kostenfunktion werden in der Regel Funktionen
Straßenklasse gibt dabei an, ob es sich um Auto- verwendet, welche auf Eigenschaften der Kanten Nij
16 bahnen, Bundesstraßen, Landstraßen oder Wohn- beruhen, wie z. B. Länge (Finden kürzester Route),
gebietsstraßen handelt. Mittels Algorithmen aus der Fahrdauer (schnellste Route), Treibstoffbedarf
17 Graphentheorie (beispielsweise A-Stern, Dijkstra (Eco-Route). In der Praxis angewendete Kosten-
[5]) wird durch dieses Widerstands-Netzwerk dann funktionen berücksichtigen oft mehrere Kriterien;
der Weg mit dem geringsten Widerstand entspre- so erfolgt z. B. bei der Kostenbewertung bezüglich
18 chend der eingestellten Optionen und Kriterien ge- einer treibstoffgünstigen Route zusätzlich eine Op-
19
-
sucht. Übliche Routenoptionen und Kriterien sind:
schnelle Route: optimierte Route hinsichtlich
timierung der Fahrzeit oder eine Bestrafung des
Befahrens sehr niederwertiger Straßenklassen. Die
bindet und bezüglich der Kostenfunktion über die .. Abb. 55.4 Grundprinzip Start, Ziel + Kriterien
der Algorithmen zur Routen-
Summe der Kantenabfolge ein globales Optimum
suche
(Minimum bezüglich der Kostenfunktion) darstellt. Potentielle
Hierzu stehen eine Vielzahl von Algorithmen zur Strecke(n)
Verfügung. auswählen
Da es sich bei Navigationssystemen jedoch
um Echtzeitsysteme handelt, die eine Vielzahl von
Funktionen tragen und gewissen Randbedingungen Kosten für
potentielle Strecke
bezüglich ihrer Antwortzeiten unterliegen, kann
berechnen
nicht jeder Algorithmus eingesetzt werden. Es sind
nur diejenigen Algorithmen verwendbar, welche be-
züglich der Rechenzeit und des Speicherverbrauchs Potentielle Strecke
besonders effizient sind – selbst wenn dadurch nur mit Alternativen
eine bezüglich der Kostenfunktion suboptimale hinsichtlich Kosten
Route gefunden wird, die aber nahe am globalen vergleichen
Optimum liegen muss. . Abbildung 55.4 zeigt das
Grundprinzip aller Algorithmen: Ausgehend von Route
einem Anfangspunkt werden potenzielle Strecken
im Graphen ausgewählt, bezüglich ihrer Kosten werden nur noch vorwärtsgerichtete Suchverfahren
bewertet und mit alternativen Strecken verglichen. eingesetzt: Der Grund liegt darin, dass Navigati-
Diese Bewertung wird so lange fortgesetzt, bis onskartenanbieter für Teile des Straßennetzwerkes
eine optimale oder nahezu optimale Route durch mittlerweile uhrzeitabhängige Durchschnittsge-
den Graphen des Straßennetzes gefunden ist. Die schwindigkeiten (sogenannte „Ganglinien“) anbie-
verschiedenen Algorithmen unterscheiden sich ten. Da zur Berechnung der Kostenfunktion bei
im Wesentlichen darin, wie die Suche durch den einer „schnellsten“ Route die Fahrgeschwindigkeit
Graphen erfolgt. In der Vergangenheit fand man relevant ist, muss „vorwärts“ gesucht werden, da nur
in Navigationssystemen Verfahren, die sowohl so die Uhrzeit bekannt ist, zu der man im Graphen
vom Start der Zielführung in Richtung des Zieles eine Kante erreichen wird. Diese Uhrzeit wird benö-
als auch umgekehrt die Routensuche durchführten. tigt, um damit die für die Kostenermittlung richtige
Beide Suchrichtungen bieten spezifische Vor- und „Ganglinie“ – Durchschnittsgeschwindigkeit auf be-
Nachteile: Bei einer „Vorwärtssuche“ kann man treffendem Straßensegment – auszuwählen.
z. B. frühe Fahrempfehlungen abgeben, obwohl die Aufgrund der Randbedingungen, die ein Navi-
Route noch nicht vollständig „gefunden“ wurde. gationssystem bezüglich Antwortzeit, Rechenleis-
Dies erlaubt eine schnelle erste Fahranweisung an tung und verfügbarem Speicher stellt, verbieten sich
den Fahrer nach Start einer Zielführung – mit dem bezüglich der Rechenzeit oder des Speicherbedarfs
Risiko, dass sich die Route im Laufe der Routensu- aufwendige Optimierungsverfahren, wie z. B. „Si-
che auch im Startgebiet noch einmal ändern kann. mulated Annealing“ oder „genetische Algorithmen“.
Bei einer „Rückwärtssuche“ vom Zielgebiet zum Ein möglicher, geeigneter Algorithmus ist der soge-
Startgebiet können Routenalternativen, die entlang nannte A*-Algorithmus (engl. A Star). Es handelt
der endgültigen Route während der „Alternati- sich dabei um eine Erweiterung des Dijkstra-Al-
vensuche“ gefunden wurden, gespeichert werden. gorithmus: Ausgehend von einem Knoten werden
Sie stellen somit schnell verfügbare „Alternativen Nachbarknoten im Graphen „besucht“ und die Al-
zurück zur ursprünglichen Route“ dar, falls der ternativen bezüglich der Kostenfunktion geprüft.
Fahrer von der Route abweichen muss (keine auf- Um nicht jeden Knoten des vollständigen Graphen
wendige Neusuche notwendig). Allerdings hat die auf der Suche „besuchen“ zu müssen, werden mit-
„Rückwärtssuche“ den Nachteil, dass der Fahrer so tels einer Heuristik die vermutlichen „Restkosten“
lange auf die erste Fahrempfehlung warten muss, in verschiedene Richtungen geprüft und damit die
bis die gesamte Route gefunden ist. In der Zukunft Suche in ihrer Richtung beeinflusst. Eine andere
1056 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
.. Abb. 55.5 Suchstrategi-
1 en Ford-Moore Algorith-
mus (links) und A*-Algo-
rithmus (rechts)
2
3
4
5
6
Elemente im Berechnungsgebiet 37746 Elemente im Berechnungsgebiet 13561
7 Optimierungsprüfungen 157634 Optimierungsprüfungen 13561
8 mögliche Alternative ist der Ford-Moore-Algorith- Empfang von Verkehrsmeldungen muss eine neue
mus: Hierbei handelt es sich um eine vollständige Route berechnet werden. Eine Routenneuberech-
9 Suche durch das Straßennetz zwischen Start und nung soll möglichst schnell erfolgen, wozu folgende
10
Ziel – wobei allerdings zuvor sinnvolle Einschrän-
kungen des Suchgebiets vorgenommen werden,
um den Rechenaufwand zu begrenzen. Vor dem -
Techniken angewandt werden:
Zwischenspeichern (cachen) von Daten in
schnelleren Speichern bei langsamen Daten-
11
12
Start der Routensuche werden dabei die Kosten für
jedes Kantenelement vorberechnet, da Kantenele-
mente während der vollständigen Suche mehrfach
„besucht“ werden – um den Rechenaufwand zu
- trägern (CDs, DVDs);
Verwendung von Datenhierarchien (siehe
. Abb. 55.6): Hochklassifizierte, lange Straßen
(z. B. Autobahnen, Bundesstraßen) werden
begrenzen, dürfen die Kosten für eine Kante des in einem separaten Datennetz gehalten. Die
Graphen nur einmal berechnet werden, auch wenn Routensuche berechnet nur an Start und Ziel
13 diese während der Suche mehrfach „besucht“ wird. auf niedriger Hierarchiestufe (d. h. in Wohn-/
. Abbildung 55.5 gibt einen Eindruck der Ele- Stadt-/Landstraßen) und berechnet größere
14 mente des Straßennetzwerkes, die bei einer beispiel- Distanzen auf höheren Stufen – d. h. auf Auto-
haften Routensuche durch die Algorithmen geprüft bahnen und Bundesstraßen – um die Anzahl
55 werden. Beim Ford-Moore-Algorithmus (links) er- der Berechnungsschritte zu reduzieren. Die Da-
folgt während der Optimierung eine Suche durch tenhierarchien sind an Knoten und/oder Kan-
das gesamte Straßennetzwerk, welches auf einen ten über entsprechende Querverweise in den
-
16 sinnvollen Bereich zwischen Start und Ziel begrenzt digitalen Kartendaten miteinander verbunden.
wurde. Der A*-Algorithmus (rechts) begrenzt die Verwendung von vorberechneten Routen oder
17 Prüfung mittels seiner gerichteten Suche auf einen Stützpunkten: Es werden vorberechnete Teil-
Bereich um die voraussichtlich optimale Route. stücke hinzugezogen, die im Bedarfsfall nicht
In der Praxis gibt es weitere Randbedingungen, neu berechnet werden müssen.
18 wie z. B. die Datenstruktur der digitalen Karte, wel- Die Routensuche stellt die berechnete Route
che Auswirkungen auf die Wahl eines geeigneten anderen Navigationsmodulen zur Verfügung: der
19 Routensuchalgorithmus haben. Zielführung zur Erstellung von Hinweisen für den
Die Routensuche in beweglichen Fahrzeugen Fahrer, der Kartendarstellung zur Anzeige und dem
20 ist dabei zumeist kein einmaliger Vorgang: Beim Nutzerinterface zur Erzeugung der Routenliste –
Abweichen von der berechneten Route oder beim d. h. der Abfolge des zu befahrenen Weges.
55.2 • Navigation im Fahrzeug
1057 55
.. Abb. 55.6 Routenbe-
rechnung mithilfe von
Datenhierarchien
.. Abb. 55.7 Zielfüh-
rungssituation
neriert, die dem Fahrer das richtige Einordnen auf einzelne Städte). Bitmap-Daten werden in
1 die Fahrstreifen ermöglichen. Die Ansagen müssen Form von Satellitenkarten oder Texturen für
möglichst eindeutig sein, damit auch ein Navigie- Gebäudemodelle verwendet. Häufig wandelt
2 ren nur mit akustischen Ausgaben möglich ist, ohne die Kartenkomponente diese Daten in eine
die Aufmerksamkeit des Fahrers von der Fahrbahn interne Repräsentation um, die dazu geeignet
abzulenken. So sollte eine Fahrempfehlung nicht ist, möglichst schnell dargestellt zu werden
-
3 gegeben bzw. verzögert werden, wenn die Straßen- (rendering optimiert).
situation nicht klar erkennen lässt, auf welche Straße von der Ortung die Information über die
4 sich eine Empfehlung bezieht. Sowohl die Fahremp- Position und die Bewegung des Fahrzeugs,
fehlungen, die Grammatik als auch das Regelwerk um an der aktuellen Position einen Positions-
5 und die Parameter, welche die zeitliche Abfolge der marker darzustellen, der möglichst flüssig der
6
Fahrempfehlungen festlegen, sind herstellerspezi-
fisch (Applikations-Know-how, das über mehrjäh-
rige Erfahrung gewonnen wird). Die Empfehlungen - Bewegung des Fahrzeugs folgt.
von der Routensuche die Information über die
aktuelle Route, um diese in der Karte hervor-
7
8
werden akustisch – d. h. durch Sprachausgaben –
und optisch durch Fahrsymbole, Pfeile und ggf. eine
Kartendarstellung (siehe ▶ Abschn. 55.2.6 „Karten-
darstellung“) gegeben. Die Fahrsymbole werden
- gehoben darzustellen.
von der Zielführung die Informationen über
die nächsten Fahrmanöver, um die Manöver
in die Karte einzublenden oder in speziel-
dabei durch eine optische Entfernungsangabe len Ansichten dem Fahrer übersichtlich die
(Bargraph) unterstützt. Fahrempfehlungen können aktuelle Situation vor Augen zu führen, wie
9 durch zahlreiche Zusatzinformationen ergänzt wer- Kreuzungszoom (die nächste Kreuzung und
den, z. B. durch Empfehlungen oder Anzeige der zu das entsprechende Manöver wird vergrößert
10 verwendenden Fahrbahnen, der Name der Straße, dargestellt) oder Highway Entry/Exit Guidance
11
in die eingebogen werden soll (Turn-To-Info), op-
tische Anzeige von Aus- und Einfahrten (Highway-
Entry/Exit-Empfehlungen). - (die Ein-/Ausfahrt wird dargestellt).
von der Dynamisierung die Information über
Verkehrsmeldungen, um diese in die Karte
12
55.2.6 Kartendarstellung - einzublenden.
von der Zieleingabe die Informationen über
POI, die in die Karte eingeblendet werden
(beispielsweise Tankstellen, Parkplätze, Werk-
-
13 Neben der Zielführung dient auch die Kartendar- stätten, Restaurants).
stellung der Orientierung des Fahrers. Das Karten- vom Benutzerinterface die Information über
14 modul bekommt zur Darstellung von den anderen die eingestellte Ansicht, d. h. der Ausschnitt
55 -
Modulen folgende Daten:
vom Datenträger – oder im Cache gespeichert
vom Korridor – die darzustellenden Vektor-
und Bitmapdaten: Vektordaten beschreiben
der Kartendarstellung (Positionskarte, Ziel-
karte, Übersichtskarte), Kartenmaßstab (meist
von 25 m Detailansicht bis 500 km Übersicht)
und Art der Karte (2D, gekippte Karte samt
16 geometrische Formen wie Straßenzüge, Kippwinkel, 3D).
Bebauungsflächen, Gewässer, welche auf
17 dem Datenträger um Straßenklassen (zum Einen Überblick über die Arten der Kartendarstel-
Beispiel unterschiedliche Farbe/Breite zur lung gibt . Abb. 55.8.
Unterscheidung von Autobahn, Landstraße) Eine performante Kartendarstellung hängt we-
18 und weitere Attribute (zum Beispiel erlaubte sentlich von der Leistungsfähigkeit der verwende-
Höchstgeschwindigkeit) angereichert wer- ten Hardware ab, d. h. der Leistungsfähigkeit von
19 den. Bei der 3D-Darstellung werden diese Hauptprozessor und Grafikbeschleuniger. Zur flüs-
ergänzt von 3D-Gebäudemodellen für einzelne sigen Darstellung von 2D- und gekippten, perspek-
20 wichtige Gebäude (POI als-3D Landmarks) tivischen 2D-Karten mit mehr als 10 Bildern pro Se-
oder 3D-Modellen ganzer Regionen (derzeit kunde (frames per second, fps) werden Prozessoren
55.2 • Navigation im Fahrzeug
1059 55
.. Abb. 55.8 Beispielhafte
Kartendarstellungen
größer 200 MIPS (million instructions per second) oder Mobilfunksysteme (GSM, GPRS) empfangen
und 2D-Grafikbeschleuniger eingesetzt, die Polygone werden. Neben frei empfangbaren, meist von öf-
selbstständig darstellen können. Für performante fentlichen Anstalten bereitgestellten TMC-Nach-
3D-Kartengrafik sind 3D-Grafikbeschleuniger not- richten gibt es kostenpflichtige Dienste (Pay-TMC),
wendig, die selbstständig texturierte Flächen darstel- wie beispielsweise TMC-pro. TMC ist mit einer
len können und Z-Buffer (Tiefeninformation) zur 37-bit-Kodierung auf schmalbandige Übertragungs-
perspektivischen Verdeckungsberechnung besitzen. wege (Ursprung war FM-RDS mit Datenraten von
Zur Beschleunigung der Software wird auch in der 60 Bit/Sek) optimiert. In einer TMC-Meldung sind
Kartendarstellung mit verschiedenen Datenhierar- das Ereignis – beispielsweise Stau, Unfall, Sperrung,
chien gerechnet, die beim Herauszoomen ein Aus- Falschfahrer – und die Ortsangabe (ca. 65.500 Orte,
dünnen des dargestellten Straßennetzes zur Reduzie- auch Locations genannt, jeweils über international
rung der darzustellenden Polygone ermöglicht. Die standardisierte Tabellen länderspezifisch festgelegt)
Darstellung einer perspektivischen Karte erfolgt un- enthalten. Durch die im Ereignis mitgeteilten Infor-
ter Nutzung verschiedener „Levels of Detail“ (LOD) mationen – Längenangabe, Geschwindigkeitsangabe
– weiter entfernt liegende Objekte werden nicht so – kann die Dynamisierung die Berechnung einer
detailgetreu gezeichnet wie nah liegende Objekte. Route beeinflussen, indem nach dem Abbilden der
Zudem sind für eine gute Anmutung der Kartendar- in der Nachricht enthaltenen Location auf das digi-
stellung eine hohe Auflösung und Anti-Aliasing zur tale Straßennetz beispielsweise die Widerstände ein-
Vermeidung von Treppeneffekten bei der Liniendar- zelner Knoten/Kanten entsprechend der Störung er-
stellung wichtig, was jedoch wiederum höhere An- höht werden. So ergibt sich bei der Berechnung eine
forderungen an die Rechenleistung des Systems stellt. entsprechende Umleitungsroute: Eine solche erneute
Routenberechnung wird entweder automatisch an-
gestoßen (Routenoption „dynamische Route“) oder
55.2.7 Dynamisierung der Nutzer wird von der geänderten Verkehrslage
benachrichtigt und kann eine Routenneuberech-
Die Dynamisierung hat die Aufgabe, Umweltein- nung auslösen (benutzerbestätigte Dynamisierung).
flüsse in die Navigation einzubeziehen. Typischer- Neben der Berücksichtigung bei der Routenbe-
weise sind dies Verkehrsmeldungen im TMC-For- rechnung ist die Dynamisierung dafür zuständig,
mat, die über Rundfunksysteme (FM-RDS, DAB) die codierten Verkehrsnachrichten zur Darstellung
1060 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
.. Abb. 55.9 System-
1 vergleich Onboard- vs.
Offboard-Navigation
2
3
4
5
6
7
8
9
in lesbare Form aufzubereiten und die Ereignisse Funktionsumfang und die Leistungsfähigkeit einer
10
11
abgebildet auf das Straßennetz der Kartendar-
stellung zur Verfügung zu stellen. So können sich
Fahrer oder Beifahrer auch optisch einen Eindruck
von der Verkehrssituation verschaffen: Neben der
-
Navigation. Wesentliche Faktoren sind:
die Datenmenge, die neben der regionalen
Abdeckung (einzelne Länder vs. Europa/
Nordamerika), auch den Funktionsumfang
visuellen Darstellung kann auch die Zielführung beschränkt; für bestimmte Funktionen wie
12 beauftragt werden, beim Erreichen der Verkehrs- Geschwindigkeitshinweise sind Datenattribute
13
störung den Fahrer akustisch zu warnen („Achtung
2 km Stau“). Für breitbandigere Übertragungswege
(z. B. DAB, WLAN) sind neue Standards (TPEG) in
Planung, die es erlauben, sowohl Ereignis wie auch
- aufzunehmen, die Speicherplatz belegen;
die Zugriffszeit, die wesentlichen Einfluss auf
die Performance hat, insbesondere wenn über
das Speichermedium verteilte Daten benö-
14 Ortsangabe noch genauer zu spezifizieren. tigt werden – wie bei der Berechnung von
Fernrouten über weite Gebiete/Entfernungen,
55 55.2.8 Korridor und Datenabstraktion
bei der Zieleingabe (Bewegen im Indexbaum)
oder beim Systemstart (viele unterschiedliche
-
(Datenträger) Daten sind zu lesen);
16 die Datentransferrate, wenn größere Daten-
Die digitalisierten Straßendaten stehen der Na- mengen gelesen werden – wie bei der Karten-
17
18
vigation als Massendaten auf Datenträgern zur
Verfügung: Für ein Land der Größe Deutschlands
sind dabei mehrere 100 MB notwendig. Neben
den klassischen Datenträgern CD, meist mit der
- darstellung;
weitere Faktoren wie Abnutzung/Verschmut-
zung im Falle von rotierenden, optischen
Medien wie CD/DVD.
Abdeckung eines einzelnen Landes, und DVD mit
19 kontinentaler Abdeckung – beispielsweise Europa – Um den Zugriff auf diese zum Teil langsamen Da-
kommen heute vermehrt elektronische Massenspei- tenträger ganz oder teilweise zu umgehen, verwen-
20 cher (Flash, SD-Card, Harddisk) zum Einsatz. Die den viele Navigationsgeräte einen Korridor (siehe
Eigenschaften des Datenmediums beeinflussen den ▶ Abschn. 55.2.1). Er lagert benötigte Daten stra-
55.4 • Hybrid-Navigation
1061 55
.. Abb. 55.10 Hybrid-Na-
vigation – durch Nutzung
fahrzeugexterner Daten-
quellen
tegisch vorab in elektronischen Speichern ein, um Der Vorteil einer Offboard- gegenüber einer
diese dann zwischengespeichert (gecached) weiter- Onboard-Navigation liegt in der Aktualität der Da-
geben zu können. Dies sind insbesondere die Daten ten, die auf einem Server besser administriert wer-
um die aktuelle Position, entlang der Route oder im den können; bezüglich der Materialkosten ergeben
Zielgebiet. sich keine Vorteile. Bei der OBN werden der Daten-
träger und das Laufwerk zum Einlesen der Daten
durch die Kommunikationseinheit (zum Beispiel
55.3 Offboard-Navigation GSM-Modul) ersetzt, ansonsten werden die glei-
chen Komponenten wie bei der Onboard-Naviga-
Wenn alle Teilaufgaben der Navigation – zum Bei- tion benötigt. OBN hat sich als Standardapplikation
spiel Ortung, Routenberechnung – im Fahrzeug im Mobilfunkbereich für Handys mit GPS-Unter-
erbracht werden, spricht man von einer autarken stützung etabliert.
oder Onboard-Navigation. Bei der Offboard-Navi-
gation (OBN) werden Teilaufgaben z. B. die Route
auf einem externen stationären Server berechnet. 55.4 Hybrid-Navigation
Die berechneten Daten und Informationen werden
vom Server über eine Luftschnittstelle (siehe ▶ Ab- Zukünftige Anforderungen an eine Navigation sind
schn. 55.7 „Verkehrstelematik“) in das Fahrzeuggerät dynamische Aktualisierung von sog. „points of in-
übertragen. Der Verlagerung sind bei entsprechen- terest (POI)“, Zugriff auf Daten oder Routen gegen
der Auslegung Luftschnittstelle (Bandbreite) sowie Bezahlung, innerstädtische Dynamisierung, Ser-
einer ausreichenden Serverrechnerleistung keine ver-basierte Navigation (Offboard-Navigation) und
Grenzen gesetzt. Im Extremfall verbleiben im Fahr- Kartendarstellung mittels virtueller Realität und
zeug nur die Sensoren für die Ortung und die für Satellitenbildern (siehe . Abb. 55.10). Ein Großteil
die Ein- und Ausgabe notwendigen Komponenten. dieser Ziele erfordert die sog. Hybrid-Navigation:
Eine gängige Konstellation ist jedoch, dass die Zie- Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass bei den Na-
leingabe, die Routensuche und die Dynamisierung vigationsfunktionen auf eine Vielzahl von Daten-
durch den Server bereitgestellt werden. Die Prozesse quellen zurückgegriffen werden muss. Die Daten-
mit höherer zeitlicher Dynamik – wie die Ortung, quellen können weitgehend beliebig auf Fahrzeug
die Zielführung und auch die Kartendarstellung – und Infrastruktur verteilt sein; dabei kommt der
verbleiben im Fahrzeug (Siehe . Abb. 55.9). aus Kostengründen effizienten Übertragung von
1062 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
1
2
3
4
5
6 .. Abb. 55.11 Verdeutlichung des Georeferenzierungsverfahrens AGORA an einem Beispiel
7 Daten über Mobil- und Rundfunk eine große Be- matisch, aber wiederholbar fehlerhafte Daten. Bis-
deutung zu. Es ist weiterhin wichtig, Verfahren zu lang entscheidet der Nutzer, wann die Fehler nicht
entwickeln, die die Abbildung (Georeferenzierung) mehr tolerierbar sind und durch einen Neukauf
8 von Daten aus verschiedenen Quellen und insbe- der Kartendaten ein „Update“ durchgeführt wird.
sondere auf die im Fahrzeug vorhandene digitale Je mehr Funktionen im Fahrzeug von den Karten-
9 Karte ermöglichen. Lediglich die Übertragung der daten abhängen und insbesondere je sicherheitsre-
Koordinaten reicht dabei nicht aus, da das richtige levanter diese Funktionen sind, desto mehr wird die
10 Element aus der Vielzahl der Möglichkeiten heraus- Entscheidung über notwendige Aktualisierung der
zufinden ist. Kartendaten vom Nutzer unabhängig sein müssen.
Auf spezielle Anwendungen zugeschnittene Re- In der Entwicklung befinden sich deshalb derzeit
11 ferenzierungsverfahren gibt es bereits, doch erfüllen verschiedene Verfahren, die eine automatische Ak-
sie bisher nicht die Forderungen nach Flexibilität tualisierung der Kartendaten ermöglichen (s. auch
12 und Unabhängigkeit von den verwendeten Karten ▶ Kap. 27 und 29).
(bzgl. der Genauigkeit und der Herstellerunabhän- Ein kontrollierter, einheitlicher und damit
gigkeit). Ein neues Verfahren, bekannt unter dem qualifizierbarer Austausch von Datenteilen wird
13 Namen AGORA, wurde im gleichnamigen EU-Pro- in der „Physical Storage Initiative“ vorbereitet, die
jekt [6, 7] entwickelt und durch die ISO standardi- neben der OEM-übergreifenden Vereinheitlichung
14 siert. des Datenspeicherformats Mechanismen für den
Hierbei können mittels Korrelationsverfahren inkrementellen Datenaustausch festlegt. Andere
55 Elemente einer detaillierten Karte in eine einfachere Verfahren sollen die Navigation selbst dazu befähi-
Karte eingefügt werden. Die Standardisierung dieses gen, Fehler in der Datenbasis zu erkennen und zu
Verfahrens ist abgeschlossen (siehe . Abb. 55.11). beheben. In den EU-Förderprojekten ActMAP [8,
16 9] und FEEDMAP [10] wurden z. B. Möglichkeiten
und Techniken untersucht, um die Karte aktuell zu
17 55.4.1 Kartendaten – aktuell halten. Die Bandbreite der bereits heute angedach-
und individuell ten möglichen Applikationen ist so vielfältig, dass es
einen immensen Aufwand bedeuten würde, immer
18 Jede einmal erworbene digitale Karte büßt im Laufe alle Informationen in einem Datenpool verfügbar
der Zeit an Aktualität ein: Das Altern der Karte zu halten. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass eine
19 macht sich in Abweichungen von der Realität be- Basiskarte applikationsspezifisch mit Zusatzinfor-
merkbar – neue oder umgebaute Straßen fehlen, Be- mationen aus anderen Quellen angereichert wird.
20 schilderungen wurden geändert. Betrachtet man die Auch das Fahrzeug selbst wird Informationen er-
Karte als Sensor, dann liefert dieser Sensor unsyste- heben und als ortsbezogene Daten in der digitalen
55.5 • Assistenzfunktionen
1063 55
.. Abb. 55.12 Konfigu-
rierbare lernfähige digitale
Karte
Karte ablegen, so dass sie bei nachfolgenden Fahrten Die Bewertung muss dabei aus dem Fahrverhalten
genutzt werden können (siehe . Abb. 55.12). Dies und unter Kenntnis der Verkehrssituation abgeleitet
ist insbesondere sinnvoll für häufig befahrene Stre- werden. Da jeder Fahrer die Schwierigkeiten und
cken (zum Beispiel der Weg zur Arbeit), bei denen Belastungen individuell anders empfindet, wird
sich durch eine ökonomische, verbrauchsoptimierte zwangsläufig eine persönliche Karte entstehen. Die
Fahrweise signifikante Kraftstoffeinsparungen er- Routenwahl erfolgt dann vorzugsweise auf bekann-
zielen lassen. Obwohl die Karte in ihrer Gesamt- ten „stressreduzierten“ Strecken und natürlich unter
heit nur wenig lokal ergänzt wurde, werden teilweise Vermeidung unfallträchtiger Fahrsituationen, wie
80 % der individuellen Fahrstrecke abgedeckt. sie auch von K. Krüger et al. [12] aufgezeigt werden.
Eine optimale Assistenz kann nur durch Adap-
tion an den Fahrer und seine Präferenzen geleistet
werden. Hierfür ist es notwendig, dass Attribute 55.5 Assistenzfunktionen
in der Karte verändert und auch neue „individu-
ell“ ergänzt werden können. Die Mechanismen der Der Begriff Assistenzfunktionen ist weit gefasst
fahrzeugautonomen Verfahren können dazu ge- und wird nicht einheitlich verwendet: Er reicht von
nutzt werden, die Karte, die als Standardkarte ohne Funktionen mit informativem Charakter – z. T. wird
individuelle Merkmale ausgeliefert wird, mit fahrer- schon die Navigation an sich als Assistenzfunktion
oder fahrzeugspezifischen Merkmalen zu ergänzen. angesehen – bis zu sicherheitsrelevanten Funktio-
Ein anderer Anwendungsfall der lernenden Karte nen mit Eingriff in die Fahrzeugführung.
besteht in deren Personalisierung für bestimmte Hierbei können vier Klassen von Assistenzfunk-
Fahrergruppen – zum Beispiel für einen älteren Fah- tionen unterschieden werden: Funktionen, welche
rer – so dass Routineaufgaben auch im Alter noch die Fahrsicherheit erhöhen (z. B. ESC, Bremsassis-
gut bewältigt werden können. Die Fehlerzahl beim tent), Funktionen, die den Fahrkomfort erhöhen
Lösen unbekannter Aufgaben nimmt dagegen stark (z. B. Parkpilot, Verkehrsbotschaften), Funktionen
zu [11, 12]. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass zur Reduktion des Treibstoff-/Energiebedarfs (z. B.
unbekannte und komplizierte Situationen zu ver- Gangwahlempfehlung, Ausrollassistenz) und Funk-
meiden sind. In der digitalen Karte können bereits tionen zum Erhöhen der Fahrleistung (z. B. Deak-
gefahrene Strecken und Kreuzungen gekennzeich- tivierung der Klimaanlage bei Beschleunigung).
net und individuell bewertet werden, je nachdem, Dabei kann die Navigation entscheidenden Anteil
ob der Fahrer diese als „Problemkreuzung“, „stres- an einer dieser Assistenzfunktionen inne haben. In
sige Strecke“ oder als „einfach zu fahren“ einschätzt. den nachfolgenden Ausführungen wird zwischen
1064 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
-
13 Assistenzfunktionen differenziert. funktionen sind:
Navigationsgestützte Assistenzfunktionen wer- adaptive Lichtsteuerung für bessere Ausleuch-
-
14 den von der Navigation selbst erzeugt und bereitge- tung von Kurven und Kreuzungen,
55 -
stellt. Beispiele für solche Assistenzfunktionen sind:
die „Stau voraus“-Warnung, die es dem Fahrer
kraftstoffsparende Fahrweise durch eine vor-
ausschauende Gangwahl des Automatikgetrie-
16
ermöglicht, die nächste Abfahrt zu nehmen
und den Stau zu umfahren oder sich zumin-
dest dem Stauende mit einer angepassten - bes entsprechend dem Streckenprofil,
weiterführende Beispiele siehe z. B. [14].
17
- Geschwindigkeit zu nähern;
der Kurvenwarner, der den Fahrer bei einer für
die vorausliegende Kurve zu hohen Geschwin-
Durch neue Assistenzfunktionen etabliert sich
neue Sensorik – wie Videokameras und Radar –
im Fahrzeug, von der die Navigation profitiert. Die
18
19
- digkeit warnt;
der Gefahrenpunktwarner, der den Fahrer
vor Gefahrenpunkten (beispielsweise Unfall-
schwerpunkten, Kindergärten/Schulen) warnt.
fahrstreifengenaue Positionsbestimmung wird z. B.
durch die Auswertung des Kamerabildes möglich.
Aktuelle Informationen – wie z. B. Verkehrszeiche-
nerkennung oder Auflösung von Sondersituationen
wie einer Baustelle – kann die Navigation zukünftig
20 Bei den navigationsunterstützten Assistenzfunkti- für verbesserte Fahrempfehlungen oder Warnungen
onen fungiert die Navigation als Sensor für andere nutzen.
55.6 • Elektronischer Horizont
1065 55
PATH 2 Stub offset
Vehicle offset
Path 2
Offset 0 Path 2
Path 1
Offset 0
Path 1
55.6 Elektronischer Horizont MPP (Most Probable Path) bezeichnet. Alle Infor-
mationen und die aktuelle Position des Fahrzeugs
Ein Navigationssystem kann auch als Sensor für werden mit relativen Offsets bezüglich der mögli-
andere Assistenzfunktionen dienen. Typischerweise chen Pfade angegeben (siehe . Abb. 55.15).
werden in diesem Fall ortsbezogene Informationen Typischerweise beträgt die Vorausschaulänge
von einem Navigationssystem an ein anderes Steu- des elektronischen Horizonts etwa 500 m bis 6 km,
ergerät im Fahrzeug übermittelt; die übermittelten abhängig von den Anforderungen der nutzenden
ortsbezogenen Informationen werden als elektro- Assistenzfunktionen. Aufgrund der Art der Kodie-
nischer Horizont bezeichnet (siehe . Abb. 55.13). rung von Informationen ist die Vorausschaulänge
Der elektronische Horizont wird mittels stan- – bei Nutzung des typischen Längenrasters von 1 m
dardisierter Schnittstellenprotokolle ADASIS (Ad- – für die Inhalte des elektronischen Horizonts auf
vanced Driver Assistance Systems Interface Specifi- etwa 8 km begrenzt.
cation) [13] übertragen. Durch die Standardisierung Neben typischen Informationen einer digita-
sind die Assistenzfunktionen unabhängig von dem len Karte, die für Navigationssysteme verwendet
eingesetzten Navigationssystem. werden – wie z. B. Straßenklasse und Geschwin-
Das Grundprinzip des Schnittstellenprotokolls digkeitsbeschränkungen – werden im elektroni-
ADASIS besteht darin, dass der sogenannte AHP schen Horizont auch spezielle Daten, insbesondere
(ADAS Horizon Provider) die Daten auf der Sen- Steigungen und Krümmungen, übermittelt. Auch
derseite in Datentelegramme zerlegt und auf dem werden besondere Anforderungen an die Güte der
Fahrzeugbus bereitgestellt. Auf der Empfängerseite Ortsgenauigkeit von Informationen im elektroni-
setzt der AHR (ADAS Horizon Reconstructor) aus schen Horizont gestellt; aus diesem Grund werden
den Datentelegrammen den elektronischen Hori- diese Daten von Kartendatenlieferanten üblicher-
zont wieder zusammen (siehe . Abb. 55.14). Typi- weise als sogenannte ADAS-Daten ergänzend an-
scherweise findet der CAN-Bus als Kommunikati- geboten und in der digitalen Karte entsprechend
onskanal in diesem Kontext Anwendung. gekennzeichnet.
Der elektronische Horizont beinhaltet Infor- Die Nutzung des elektronischen Horizonts für
mationen zum vorausliegenden Straßennetz, wobei Assistenzfunktionen erfordert ebenfalls besondere
nur die Straßen relevant sind, die von der aktuel- Eigenschaften bzgl. der Genauigkeit der Ortung
len Position des Fahrzeugs erreicht werden können des Navigationssystems. Nur eine sehr gute Ortung
und die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch liefert einen präzisen und stabilen elektronischen
tatsächlich befahren werden. Der Fahrweg, der mit Horizont: Zum Einsatz kommen daher in diesem
höchster Wahrscheinlichkeit befahren wird, wird als Kontext nur Navigationssysteme, die fest im Fahr-
1066 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
Geschwindigkeit
1
2 hoch Digital Radio
(DAB)
3 Digital Broadcast
Technologies LTE
4
mittel
GPRS
5 DVB-T
GSM
Wide Area Wireless UMTS
6 Technologies
7 stationär BT
Local Area Wireless
WLAN
Technologies
(log)
8 0.01 0.1 1 10 100 Mb/s
Datenübertragungsrate
9 .. Abb. 55.16 Technologien zur Datenübertragung für Telematikdienste
10 zeug verbaut sind und die Fahrzeugsensorik für die Der stationäre Dienste-Server kann entfallen, wenn
Optimierung der Positionsberechnungen nutzen. Daten direkt zwischen den mobilen Endgeräten
ausgetauscht und weiterverarbeitet werden (siehe
11 ▶ Abschn. 55.7.4 „C2C“).
55.7 Verkehrstelematik Die Übertragung der Daten auf der Luftschnitt-
12 stelle – also dem Übertragungsweg mittels elektro-
Bei dem Wort Telematik handelt es sich um ein magnetischer Wellen – lässt sich grob in zwei Kate-
Kunstwort, das sich aus den Begriffen „Telekommu- gorien aufteilen:
13 nikation“ und „Informatik“ zusammensetzt. a) Rundfunk (Broadcast)-basierte Technologien:
Der Begriff Telematik wird in verschiedenen Diese Technologien ermöglichen die Übertra-
14 Fachgebieten verwandt (z. B. Medizintelematik oder gung von Informationen an eine Vielzahl von
Gebäudetelematik) und ist daher nicht eindeutig Empfängern, wobei die Kommunikation unidi-
55 definiert. Telematiksysteme in der Verkehrstelema- rektional, nicht individuell über große Verbrei-
16 -
tik umfassen in der Regel folgende Elemente:
einen stationären Dienste-Server mit einer
Telekommunikations- oder Broadcast-Einrich-
tung zur Verarbeitung und Übertragung von
tungsgebiete erfolgt;
b) Mobilfunk-basierte Technologien: Diese Tech-
nologien ermöglichen die gezielte Übertragung
von Informationen an einen einzelnen oder
17
- Daten;
ein (mobiles) Endgerät mit Telekommunikati-
wenige Empfänger; die Kommunikation kann
dabei bidirektional erfolgen, ist individuell und
18
19
- onseinrichtung zum Empfang von Daten;
einen lokalen Rechner im Endgerät, der auf
Basis der Daten des stationären Dienste-Ser-
vers dem Nutzer Funktionen anbietet oder
geschieht in der Regel über ein begrenztes Ver-
breitungsgebiet.
Analog Digital
TV terrestrisch DVB-T
Satellit SDARS
der Geschwindigkeit. Telematikdienste für das Kfz fahren der digitalen Signalverarbeitung kann so eine
benötigen geschwindigkeitsrobuste (> 150 km/h) Richtantennencharakteristik über zwei Antennen
Übertragungstechnologien (siehe . Abb. 55.16). ausgebildet werden.
Digitale Übertragungsverfahren (z. B. DAB –
Digital Audio Broadcasting) wurden entwickelt,
55.7.1 Rundfunk-basierte um die Störungen des Empfangs durch Umwelt-
Technologien einflüsse (Mehrwegeausbreitungen etc.) zu mini-
mieren, bei gleichzeitiger Erhöhung der Datenrate.
Rundfunk-basierte Technologien lassen sich in ana- Die Übertragung kann über stationäre terrestrische
loge und digitale Übertragungsverfahren einteilen: Sender (z. B. DAB) oder über Satelliten erfolgen
Analoge Übertragungsverfahren (z. B. FM) er- (z. B. SDARS – Satellite Digital Audio Radio Sys-
möglichen neben der Übertragung des Radiopro- tem).
gramms und damit der Übertragung von gespro- Die signifikante Erhöhung der Datenrate auf bis
chenen (Verkehrs-)Informationen die Übertragung zu 1,5 Mbit/s bei DAB ermöglicht damit die Über-
von Daten in einem sehr schmalbandigen Kanal. tragung und Anzeige von komplexen Daten und
Diese Daten enthalten zum Beispiel Radiotext zur Bildern in einem Telematiksystem. In . Tab. 55.2
Anzeige im HMI des Radionavigationssystems oder ist eine Übersicht über analoge Rundfunkübertra-
RDS-TMC-Daten für die dynamische Navigation gungsverfahren und die weiterentwickelten digita-
(siehe ▶ Abschn. 55.2.7 Dynamisierung). Obwohl len Übertragungsverfahren dargestellt.
die analoge Empfangstechnologie auch bei hohen Die Verteilung von Informationen über Broad-
Geschwindigkeiten genutzt werden kann, ist sie cast-Technologien ist im Vergleich zum Mobilfunk
störanfällig: Es kann zu Mehrwegausbreitungen eine günstige Methode, um Informationen, die für
durch Reflektion an Gebäuden und Bergen kom- viele Personen interessant sind, zu verbreiten. Neue
men, Abschattungen in der Ausbreitungsrichtung Dienste, die über digitale Übertragungsverfahren
können den Empfang stören, der Doppler-Effekt bereitgestellt werden, werden daher die Bedeutung
verringert die Signalqualität. Um die Empfangssi- im Kfz weiter erhöhen, neben der steigenden Be-
tuation zu verbessern, werden Mehrfachtuner-Kon- deutung des Mobilfunks. Diese Dienste übertragen
zepte oder digitale Tuner-Konzepte (nicht zu ver- bereits heute Daten, die für viele Kunden von Inter-
wechseln mit digitalen Übertragungsverfahren) esse sind, wie zum Beispiel Wetterdienste und Ver-
eingesetzt. Digitale Tuner-Konzepte verfolgen als kehrslagedienste über Satellitenrundfunk (SDARS)
Strategie eine möglichst frühe Digitalisierung des in Nordamerika. Digitaler Rundfunk kann jedoch
analogen Empfangssignals (z. B. Digitalisieren des nicht kundenindividuell und fahrzeugindividu-
Signals nach Heruntermischen auf die Zwischen- ell sein, dazu bedarf es der mobilfunkbasierten
frequenz). Mittels moderner mathematischer Ver- Dienste.
1068 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
UMTS werden Telematikdienste ermöglicht, die werden; Dienste dieser Art werden im C2I (Car to Inf-
eine hohe Datenrate benötigen (z. B. Übertragung rastructure)-Kontext genutzt (siehe ▶ Abschn. 55.7.4).
von Videodaten).
Durch die derzeit erfolgende Einführung des
Mobilfunkstandards „Long Term Evolution“ (LTE) 55.7.3 Telematik – Basisdienste
der vierten Generation wird die Leistungsfähigkeit
der mobilen Kommunikation weiter steigen. Dabei Neben der Einteilung von Telematikdiensten in die
werden sowohl die Datenraten steigen (bis in den Art der verwandten Kommunikationstechnik kann
Bereich > 100MBit/s im Downlink) als auch die La- eine Einteilung in die Art der Nutzung vorgenom-
tenzzeiten für übertragene Informationen sinken men werden (siehe . Abb. 55.17). Eine Unterschei-
(im Bereich 5–100 Millisekunden). Das Sinken der dung zwischen personenbezogenen Diensten und
Latenzzeiten macht den LTE-Standard sehr attraktiv fahrzeugbezogenen Diensten ist hierbei sinnvoll.
für Telematikfunktionen, die von kurzen Übertra- Im Folgenden werden Beispiele für Basistelematik-
gungszeiten abhängen – z. B. bestimmte Warnfunk- dienste gegeben.
tionen, die auf der Datenübertragung von einem Kommunikation: Über einen Voice Call, eine
Fahrzeug zu anderen Fahrzeugen basieren. SMS oder über E-Mail werden Informationen mit
Bluetooth (BT) ist ein Industriestandard zur einem Call-Center oder einem Server automatisiert
drahtlosen Übertragung von Daten und Sprache: Die ausgetauscht. Diese Informationen können kunde-
Übertragung erfolgt im 2,4 GHz ISM-Band und ver- nindividuell gestaltet werden.
fügt über eine Reichweite von 10 m bis zu maximal Sicherheit: Ein Notruf (Emergency Call, eCall)
100 m. Bluetooth ist für den quasi stationären Betrieb kann manuell oder automatisch nach Auslösen z. B.
geeignet; die Datenrate beträgt 723 kbit/s. BT-Mo- der Airbags aufgesetzt werden. Dieser Notruf kann
dule haben eine kleine Bauform, sind im Vergleich an ein Service-Center oder direkt an eine Rettungs-
zu anderen Mobilfunkmodulen kostengünstig und leitstelle erfolgen. Typischerweise werden zeitgleich
weisen einen niedrigen Stromverbrauch auf. BT bie- zum Notruf die Standortdaten – über GPS ermittelt
tet eine Reihe von Profilen an, von denen einige gut – zum Beispiel mittels SMS übersandt, um Hilfs-
in der Kfz-Umgebung genutzt werden können. Bei- maßnahmen einzuleiten. Im Rahmen einer euro-
spiele hierfür sind das Handsfree Profile (HFP) zur päischen Initiative zur Senkung der Verletzten und
Nutzung einer im Radionavigationsgerät verbauten Toten im Straßenverkehr wird der Aufbau eines eu-
Freisprecheinrichtung über ein externes Mobiltele- ropaweiten eCall-Systems geplant. Hierzu müssen
fon. Damit kann ein kostengünstiges BT-Modul im entsprechend Kommunikationseinrichtungen in
Navigationsgerät verwandt werden, um das kosten- allen Fahrzeugen vorgehalten, Standardisierungen
intensivere GSM-Modul im Mobiltelefon zu nutzen. eingeführt (z. B. eine in Europa einheitliche Not-
Ein weiteres Beispiel stellt das Phonebook Access rufnummer) und eine Dienste-Infrastruktur (Ret-
Profile (PBAP) dar – zum Austausch von Telefon- tungssystem) aufgebaut werden.
büchern zwischen dem Radionavigationsgerät und Ein Pannenruf (Breakdown Call) kann nach
dem Mobiltelefon. manueller Auslösung durch den Fahrer abgesetzt
BT bietet die Chance, CE-Geräte in das Kfz ein- werden. Zusätzlich zu einer Sprachverbindung
zubringen (siehe auch ▶ Abschn. 55.9). können die Standort- und Diagnosedaten des Kfz
Eine weitere Möglichkeit, im quasi stationären übermittelt werden. Die Diagnosedaten können
Betrieb Daten auszutauschen, ist über das Wireless automatisch – oder vom Benutzer veranlasst –
Local Area Network (WLAN) gegeben: Ähnlich BT über das Fahrzeugnetzwerk abgefragt werden. Im
erfolgt die Übertragung – je nach verwandtem Stan- Service-Center kann mit diesen Daten eine Ent-
dard – bei 2,4 GHz oder 5,4 GHz. Bei den etablierten scheidung getroffen werden: ob eine Reparatur des
Standards beträgt die Übertragungsrate 54 Mbit/s; die Fahrzeugs möglich ist oder ob das Fahrzeug abge-
Reichweite ist ähnlich begrenzt wie bei BT – auf 100 m schleppt werden muss. Weiterhin können auf Basis
bis maximal 300 m. Damit kann WLAN zum Daten- dieser Daten bereits eine Warenbestellung von Er-
austausch an dedizierten Zugangspunkten genutzt satzteilen und eine Arbeitsplanung erfolgen.
1070 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
.. Abb. 55.17 Katego-
1 risierung von Telematik-
diensten
2
3
4
5
6
7
8
9 Im Unterschied zum Pannenruf wird eine duell –per Anfrage – versandt werden, was zum Bei-
Ferndiagnose (Offboard Diagnosis) – unabhängig spiel in einer Ausprägung der Offboard-Navigation
10 von einem Fehlerfall – vom Benutzer oder vom realisiert werden kann. Hier erfolgt in regelmäßigen
Service-Center ausgelöst. In prädiktiven Systemen Abständen eine Abfrage an den externen Naviga-
kann ermittelt werden, welche Laufleistung be- tionsserver, um zu ermitteln, ob auf der aktuellen
11 stimmte Bauteile aufweisen und ob ggf. Reparatur- Zielführung eine Verkehrsbehinderung vorhanden
maßnahmen einzuleiten sind. ist. Dabei wird ein Fingerprint der Route an den
12 Zielführung: Die entsprechenden Dienste Off- Server zum Abgleich versandt, um die zu übertra-
board-Navigation und hybride Navigation sind in genden Datenmengen möglichst gering zu halten.
▶ Abschn. 55.3 und ▶ Abschn. 55.4 beschrieben. Allgemeine Informationen können über das
13 Komfortfunktionen: Diese Dienste ermögli- Internet abgerufen werden, wobei auch der Down-
chen die Fernsteuerung von im Fahrzeug befindli- load von Entertainment-Inhalten möglich ist – wie
14 chen Komponenten – wie zum Beispiel Tür Öffnen zum Beispiel Musikdateien. Softwaredownload von
oder Standheizung Einschalten. Sie sind zum Teil Steuergeräte-SW wird trotz vorhandener Techniken
55 sicherheitsrelevant und werden daher nur mit Ein- heutzutage in der Regel nicht im OEM-Geschäft an-
schränkungen von OEM-Herstellern angeboten. geboten, da insbesondere bei sicherheitsrelevanten
Weitere Möglichkeiten für Komfortfunktionen sind Bauteilen die Risiken schwerer wiegen als die mög-
16 die Führung eines Fahrtenbuchs über einen exter- lichen Vorteile.
nen Server: Dabei meldet der Nutzer den Beginn
17 und das Ende einer Fahrt am Server an; zusätzlich
werden weitere Daten wie zum Beispiel der Kraft- 55.7.4 Car-to-Car-Kommunikation,
stoffverbrauch dokumentiert. Car-to-Infrastructure-
18 Verkehrsinformationen werden in der Regel Kommunikation
Rundfunk-basiert (Broadcast) übertragen und sind
19 für viele Nutzer zugänglich. Über diese Informa- Neben der Kommunikation des Fahrzeugs über
tionen kann eine Dynamisierung von Navigation Rundfunk- oder Mobilfunk-basierte Technologien
20 und Zielführung erfolgen (siehe ▶ Abschn. 55.2.7 ist ein steigender Bedarf an bidirektionaler Kommu-
TMC). Verkehrsinformationen können auch indivi- nikation mit anderen Fahrzeugen zu verzeichnen.
55.7 • Verkehrstelematik
1071 55
-
runtergebrochen werden:
Für die Kommunikation vom Fahrzeug nach
hinten und vorne soll die Reichweite ca.
1000 m betragen; die Reichweite zu den jewei-
der C2C und C2I gerecht zu werden, arbeitet dieser
in einem dedizierten Frequenzbereich und ist für
die Datenkommunikation mit Geschwindigkeiten
bis zu 200 km/h konzipiert.
scher Verkehr). Um Kollisionen auf einzelnen Bei der Realisierung von einfachen Mautsystemen
Übertragungskanälen bei maximaler Sen- werden die Mautgebühren entweder an Zahlstel-
deleistung zu vermeiden, muss die Sendeleis- len im mautpflichtigen Bereich erhoben oder über
- ausgeglichen werden.
Insbesondere im innerstädtischen Verkehr
sind Effekte wie Abschattung und Reflexion
bzw. Mehrwegeausbreitung – durch Gebäude
nung. Weitere Nachteile dieser Umsetzungen sind
– in Abhängigkeit der konkreten Lösung – die Un-
terbrechung des Verkehrsflusses und die aufwendige
flächendeckende Überwachung.
- bedingt – zu beachten.
Für sicherheitsrelevante Anwendungen muss
sichergestellt werden, dass die Verbindung
unterbrechungsfrei und störsicher ist. Wei-
Ein komplexes Mautsystem wurde mit dem
ETC-System (Electronic Toll Collection) in
Deutschland eingeführt: Bei diesem System wird
die Höhe der Maut nach dem Verursacherprinzip
terhin müssen sicherheitsrelevante Daten mit auf Autobahnen für Lastkraftwagen ohne Unterbre-
minimaler Verzögerungszeit (Priorisierung) chung des Verkehrsflusses erhoben.
gesendet werden können, so dass diese in Die wesentlichen Teile dieses System sind das
jedem Fall Vorrang vor Daten aus Entertain- duale Mauterhebungssystem, das Kontrollsystem
mentanwendungen erhalten. und die Zentrale zur Steuerung der Prozessabläufe.
1072 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
55
technik für jede Fahrbahn ausgestattet. Die Annähe-
rung von Fahrzeugen wird von den Brücken mit La-
serabstandssensoren erfasst, so dass die Fahrzeuge
einzelnen Fahrbahnen zugeordnet werden kön-
-
munikationswege genutzt:
Ausstrahlung über FM-Rundfunk flächen-
deckend bis zu einer Reichweite von 50 km
bzgl. aller zuvor erwähnten Informationen auf
16 nen. Anschließend erfassen Vermessungssensoren überregionaler Ebene (Verkehrsgeschehen im
mit 3D-Laserabstandsscannern das Fahrzeug zur Umgebungsradius von 100 km). Die Sendung
17
18
Klassifikation und ermitteln, ob eine Mautpflicht
vorliegt. CCD-Kameras mit LED-Blitz erstellen
ein Übersichtsbild vom Fahrzeug und erfassen das
Fahrzeugkennzeichen, das automatisch erkannt und
- übernehmen dabei die lokalen Radiosender.
Nutzung von Infrarot-Baken an Hauptstraßen.
Diese haben eine typische Reichweite von
3,5 m und senden Informationen über das
ausgewertet wird. Die ermittelten Daten werden mit Verkehrsgeschehen im Umgebungsradius von
-
19 ISDN/GSM-Technik an die zentrale Datenbank ca. 30 km.
kommuniziert, wo ein Abgleich der zuvor über die Mikrowellen-Baken mit einer Reichweite von
20 OBU oder die stationären Mautterminals übertra- ca. 70 m sind an autobahnähnlichen Straßen
genen Daten erfolgt [16]. installiert. Diese verteilen Informationen über
55.8 • Smartphone-Anbindung im Automobil
1073 55
die Verkehrssituation auf den autobahnähnli- optimieren lassen. Somit werden sich Kfz-Hersteller
chen Straßen – vorausschauend bis zu 200 km. weiterhin schwer tun, CE-Technologien im Kfz voll
nutzbar zu machen (siehe ▶ Abschn. 55.9.2).
Standardisierte Schnittstellen werden helfen,
55.7.7 Zukünftige Entwicklung Telematik-Funktionen in das Kfz zu integrieren,
von Telematikdiensten werfen aber wiederum andere Probleme auf (z. B.
leichten/unkontrollierten Zugang für Wettbewer-
Telematikdienste im Kfz zeichnen sich meist durch berprodukte). Dabei werden Telematik-Funktionen
eine lange Wertschöpfungskette (Content Provider, nicht die heutigen „Onboard-Funktionen“ ersetzen,
Service Provider, Network Provider, Endgeräteher- sondern diese ergänzen. Ein wesentliches Element
steller) aus, die beherrscht werden muss, um qua- für den OEM – in Verbindung mit der Telematik –
litativ hochwertige Dienste anbieten zu können. wird das Customer Relationship Management sein.
Weiterhin birgt die lange „Wertschöpfungskette“ Neue Technologien (LTE, JAVA, …) werden die
mit vielen Teilnehmern, die „mitverdienen wol- Umsetzung von Telematik-Funktionen erleichtern.
len“, die Gefahr zu hoher Endkundenpreise. Die Dienste mit hohem Kundennutzen unter Berücksich-
Teilnehmer der Wertschöpfungskette kommen aus tigung von Komfort, Sicherheit und Kosten sind für
der Automotive- und der CE-Welt mit unterschied- den Geschäftserfolg erforderlich. Die Telematik wird
lichen Interessen und Geschäftsmodellen, die alle sich dabei vermutlich nicht als vom Kunden bezahl-
integriert werden müssen. Daher ist in der Regel ter Mehrwertdienst durchsetzen, sondern durch den
ein großes Engagement des Kfz-Herstellers nötig, weiteren Ausbau von vorhandenen Verbreitungsme-
um ein qualitativ hochwertiges „Kfz-Diensteportal“ dien (z. B. SDARS) und erweiterter Navigationstech-
aufzubauen und anzubieten. nik (Hybride Navigation). Für die Durchdringung
Im Gegensatz hierzu zeigt der Nutzer nur eine neuer Techniken und Telematikdienste müssen rea-
beschränkte Ausgabebereitschaft für Dienstleis- listische Zeitstrecken zugrunde gelegt werden.
tungen im Kfz. Eine wesentliche Funktion, für die
Ausgabebereitschaft besteht, ist die mobile Kom-
munikation – Telefonieren mit Freisprechanlage; 55.8 Smartphone-Anbindung
diese Funktion reicht in der Regel nicht zur Kos- im Automobil
tendeckung eines Telematik-Moduls aus. Auch für
Zusatzdienste mit unmittelbarem Kundennutzen Unter der Smartphone-Integration im Automobil
wie „Notruf “, „Offboard-Navigation“ besteht nur versteht man die kabelgebundene oder kabellose
geringe Ausgabebereitschaft. Dienste wie „Ferndia- Anbindung eines Smartphones an das Infotain-
gnose“ schaffen keinen unmittelbaren Kundennut- ment-System eines Automobils. Dieses System er-
zen, sondern indirekten Nutzen oder bieten Chan- möglicht dem Benutzer die Interaktion mit dem
cen zum „Customer Relationship Management“. Smartphone z. B. durch Anzeige des Smartpho-
Auch technische Einschränkungen führen zur ne-Bildschirms auf dem Borddisplay und der Be-
Dämpfung der Einführungsgeschwindigkeit telema- dienung durch Steuerungstasten über beispielsweise
tikbasierter Geräte und Funktionen im Kfz. Geringe die Head-Unit oder die Lenkradfernbedienung.
Datenübertragungsgeschwindigkeit und die langen
Kommunikationsaufbauzeiten bei GSM begrenzen
die Gerätereaktionsgeschwindigkeit. Funkeinbrü- 55.8.1 Motivation der Smartphone-
che und Störungen in der Flächendeckung können Integration im Automobil
zu Funktionseinschränkungen führen und damit zur
Unzufriedenheit des Endkunden. „Fernsteuerfunkti- Die Prognose zum Absatz von Smartphones welt-
onen (Remote Control)“ sind im vernetzten Kfz-Um- weit zeigt einen deutlich ansteigenden Trend: Wur-
feld sicherheitskritisch und bis heute nicht befriedi- den 2010 noch etwa 300 Millionen Smartphones ab-
gend gelöst. Die Technologien der „CE-Welt“ werden gesetzt, wird für das Jahr 2016 ein Absatz von rund
sich nicht auf die Bedürfnisse der Kfz-Technologie 1,4 Milliarden Smartphones prognostiziert. Dieses
1074 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
Wachstum ist mit einer stark ansteigenden Zahl von so die Hauptbenutzerschnittstelle bereitgestellt, um
1 Applikationen verbunden, die auf den Smartphones verschiedene Hardware-Komponenten steuern zu
zu jeder Zeit an jedem Ort ausgeführt werden kön- können, wie zum Beispiel ein Radio.
2 nen. Doch laut Paragraph 23 der deutschen Stra-
ßenverkehrsordnung darf im Auto ein Smartphone 55.8.4.1 Marktlösungen Docking-
vom Fahrer während der Fahrt nicht bedient wer- basierter Integration
3 den: In Deutschland darf ein Mobiltelefon während Das Konzept Docking-basierter Integration ging mit
der Fahrt nicht verwendet werden, wenn es dafür der stetig wachsenden Popularität des Apple iPho-
4 aufgenommen oder gehalten werden muss. Einge- neTM einher: Die meisten derzeit verfügbaren Do-
schränkt ist deshalb also auch die Mobiltelefonbe- cking-Lösungen wurden daher nur für iPhone kon-
5 nutzung als Navigationshilfe während der Fahrt; zipiert. Aufgrund der wachsenden Beliebtheit von
mögliche Alternativen sind die Verwendung einer Smartphones mit dem Betriebssystem Android von
Halterung für das Smartphone oder die Steuerung Google sind die Hersteller mit neuen Herausforde-
6 über eine Sprachbedienung. rungen konfrontiert, universelle Docking-Lösungen
Es sind somit Lösungen anzustreben, wie zu entwerfen, die mit Smartphones verschiedener
7 Smartphones in ein Automobil integriert werden Hersteller und Betriebssystemen kompatibel sind.
können, damit der Benutzer während der Fahrt auf
sein Smartphone zugreifen kann – ohne gegen gel- 55.8.4.2 Vor- und Nachteile Docking-
8 tende Gesetzgebung zu verstoßen bzw. die Sicher- basierter Integration
heit während der Fahrt zu mindern [18]. Die Vorteile Docking-basierter Integration sind vor
9 allem die geringen Kosten der Docks und die Mög-
lichkeit, sich schnell an den Markt neuer Smartpho-
55.8.2 Möglichkeiten
10 der Smartphone-Integration
nes anzupassen. Außerdem ist für den Einsatz von
Docking-Lösungen die Entwicklung von Apps un-
vermeidbar, was den optimalen Einsatz des Smart-
11 55.8.2.1 Docking-basierte Integration phones und deren Kompatibilität gewährleistet.
Die Docking-basierte Smartphone-Integration kann Ein großer Nachteil für Docking-Lösungen sind
12 zu den einfachsten Möglichkeiten gezählt werden. die gesetzlichen Bestimmungen einiger Länder, die
Es werden zwei verschiedene Ansätze unterschieden den Einsatz teilweise einschränken oder ganz ver-
[18]. bieten. Darüber hinaus ist der standardgemäße Ein-
13 bau von Displays in immer mehr Neufahrzeuge eine
Bedrohung für Docking-Lösungen, die damit auf
14 55.8.3 Semi-integrierter Ansatz Dauer überflüssig werden könnten. Vollintegrierte
Lösungen haben vor allem den Nachteil, auf Dauer
55 Dock- und Head-Unit sind so konzipiert, dass sie kompatibel mit immer neuen Smartphone-Genera-
unabhängig voneinander arbeiten können. Es wird tionen sein zu müssen.
auf Basisfunktionalitäten der Smartphone-Integra-
16 tion zurückgegriffen, die den Zugriff auf den Au- 55.8.4.3 Proxy-Lösungen
dio-Kanal des Smartphones ermöglichen, so dass Der Begriff „Proxy“ bezeichnet den Teil der Soft-
17 eine Ausgabe auf den im Automobil integrierten ware der Head-Unit, der mit den Apps auf dem
Lautsprechern erlaubt wird. Smartphone kommunizieren kann, die die Informa-
tionen in einem zur Head-Unit kompatiblen For-
18 mat bereitstellen. Die meisten derzeit verfügbaren
55.8.4 Vollintegrierter Ansatz Smartphone-Integrationslösungen auf dem Markt
19 benutzen diese Proxy-Lösung, die es ermöglicht, die
Bei dem vollintegrierten Ansatz ist die Head-Unit Smartphone-Apps direkt auf der Head-Unit ausfüh-
20 für den vollen Funktionsumfang auf das Smart- ren und auf dem Bildschirm des Infotainment-Sys-
phone angewiesen. Über die Smartphone-App wird tems anzeigen zu können.
55.9 • Aspekte des Mobilfunks für Navigation und Telematik
1075 55
55.8.4.4 Herstellerspezifischer App- bedarf. Der Wartungsaufwand ist in diesen Fällen
Ansatz bei geringer Flexibilität recht hoch.
Ziel dieses Ansatzes ist die Erstellung einer Auto- Trotz der Nachteile entscheiden sich die Auto-
hersteller-spezifischen Smartphone-Anwendung, hersteller momentan eher für Proxy-Lösungen als
die es erlaubt, mit der Head-Unit des Autoherstel- für integrierte Lösungen, da diese mit Blick auf zu-
lers zu kommunizieren. Hintergrund dieses An- künftige Entwicklungen mehr Potenziale zur Um-
satzes ist, dass Anwendungen von Drittherstellern setzung bereithalten.
keinen direkten Zugang zum Infotainment-System
haben, da die Autohersteller den vollen Zugriff nur 55.8.4.5 Zukunft der Smartphone-
ausgewählten Vertragspartnern ermöglichen. Anbindung im Automobil
Es lassen sich insgesamt drei Variationen dieser Die Zukunft und die weitere Entwicklung der
herstellerspezifischen App-Implementierung unter- Smartphone-Integration hängt unter anderem da-
scheiden: von ab, welche Technologien zur Vernetzung des
a) Implementierung als „Meta App“. Die Head- Automobils mit dem Mobilfunknetz ausgebaut
Unit kommuniziert mit einer auf dem Smart- werden. Es können drei Technologien voneinander
phone installierten „Meta App“, die wiederum abgegrenzt werden [19]:
untergeordnete – in die Hauptapp eingebettete Eingebettete Lösungen: Die Verbindung zum
Apps – z. B. Internet-Radio, ansteuert. Mobilfunknetz sowie alle bereitgestellten Funktio-
b) Implementierung als „Gateway App“. Die Head- nalitäten werden durch im Automobil integrierte
Unit interagiert hier mit einer „Gateway App“, Systeme realisiert.
die mit anderen kompatiblen, hierarchisch Tethering-Lösungen: Damit mobilfunkabhän-
gleichgestellten und damit unabhängigen Apps gige Funktionalitäten genutzt werden können, ist
kommuniziert. die Verbindung mit einem Mobiltelefon notwendig,
c) Eine Kombination beider vorgestellter Variatio- das als Modem genutzt wird. Als Verbindungsarten
nen. Die Head-Unit tauscht hier Daten mit einer stehen Modem- und Hotspot/Access Point-Lösun-
„Meta App“ aus, die wiederum sowohl unterge- gen über Bluetooth und WiFi zur Verfügung.
ordnete als auch gleichgestellte kompatible Apps Integrierte Lösungen: Funktionalitäten des
ansteuern kann. Smartphones – vor allem Apps – werden in das Au-
tomobil integriert.
Ein Vorteil von Proxy-Methoden ist die nahtlose Keine dieser Lösungen ist als exklusive Lösung
Implementierung, die den Datenaustausch zwischen zu sehen. Die meisten Autohersteller entwickeln
dem Automobil und dem Smartphone ermöglicht: Strategien, bei denen mehrere dieser Verbindungs-
Beispielsweise wird auf diese Weise das Auslesen von lösungen für verschiedene Marktsegmente (z. B. ein-
Fahrzeugdaten ermöglicht. Dritthersteller können gebettete Lösungen für Modelle compact class und
mithilfe der von einigen Autoherstellern angebote- Tethering-Lösungen für Modelle der subcompact
nen APIs selbst kompatible Multi-Apps entwerfen. class) eingesetzt werden. Außerdem werden auch je
Zu den Nachteilen kann vor allem gezählt wer- nach Anwendung verschiedene Technologien einge-
den, dass es bisher keine generalisierte Lösung zur setzt. Für Aspekte der Sicherheit werden eingebettete
Integration einer App in Automobile verschiedener Lösungen bevorzugt, während für Infotainment-As-
Autohersteller gibt. Für die nötige Kompatibilität pekte integrierte Lösungen verwendet werden. [19]
ist daher oft eine Modifikation der App notwendig;
weiterhin muss in vielen Fällen die App außerdem
zur Darstellung der Benutzerschnittstelle sowohl auf 55.9 Aspekte des Mobilfunks
dem Smartphone als auch auf der Head-Unit des für Navigation und Telematik
Automobils installiert sein. Hinzu kommt, dass die
Benutzerschnittstelle auf die festgelegte Funktiona- Gegenüber anderen elektronischen Steuergeräten
lität limitiert ist und die Erweiterung des Interfaces im Kfz unterliegen Radionavigations- und Tele-
neuer Apps bzw. Software-Updates im Automobil matiksysteme ganz besonderen Randbedingungen;
1076 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
diese üben maßgeblichen Einfluss auf deren Ent- 55.9.1 Consumer-Elektronik (CE)
1 wicklung aus. Die Randbedingungen sind folgende: versus Automobil-Elektronik
Die Funktion eines Radionavigationssystems (AE)
2 wird dem Endkunden unmittelbar präsent: An-
ders als bei einem Bremsensteuergerät oder einem Insbesondere der Einsatz von Komponenten, die üb-
Motorsteuergerät, die ihre ebenfalls komplexe licherweise aus der Consumer-Elektronik bekannt
3 Funktionalität weitgehend unbemerkt vom Fah- sind, führt zu vielfältigen Herausforderungen an die
rer entfalten, besitzt ein Radionavigations- oder Entwicklung und automobilgerechte Zertifizierung
4 Telematiksystem eine komplexe Schnittstelle zum von Navigationssystemen. Der Zwang zum Einsatz
Fahrer. Über diese Schnittstelle nimmt der Fah- solcher Komponenten rührt einerseits daher, dass
5 rer die Funktionalität wahr und erlebt unmittel- Consumer-Elektronikgeräte Funktionen bieten, die
bar viele Geräteeigenschaften. So fällt ein träges der Fahrer auch im Fahrzeug erwartet. Als Beispiel
Start-up-Verhalten oder ein träges HMI mit auch sei das Abspielen von Ton- oder Datenträgern ge-
6 nur leicht verzögerten Rückmeldungen auf Bedien- nannt, die im Heimbereich benutzt werden (Musik
aktionen sofort negativ auf. von CD, MP3-Dateien von CD oder SD-Karte).
7 Hinzu kommt, dass ein Radionavigationssystem Andererseits stellt die Consumer-Elektronik auf-
durch seine präsente Darstellung im Mittelkonso- grund der dort gefertigten, riesigen Stückzahlen
lenbereich und seine Bedienelemente ein Design-re- Komponenten in einer Preisklasse zur Verfügung,
8 levantes Bauteil darstellt. Nicht selten stehen die wie sie bei einer Spezialanfertigung nur für den
Anforderungen an das Design und an eine einfache Fahrzeugbedarf nicht erreichbar wäre (Beispiele:
9 und sichere Bedienung im Widerspruch zueinander CD-Laufwerke für portable Geräte, Heimgeräte und
(Beispiel: Designanforderung verchromtes, glattes, PCs oder Festplatten für PCs und Videorekorder).
10 glänzendes Bedienteil; aber Funktionsanforderung Die Anforderungen und daraus erwachsenden
griffige, sicher zu bedienende Oberfläche). Herausforderungen sollen im Folgenden am Bei-
Nicht zuletzt übt die Entwicklung der Consu- spiel eines DVD-Laufwerks veranschaulicht wer-
11 mer-Elektronik (CE) einen großen Einfluss aus. den (s. . Tab. 55.3). Für Navigationsgeräte wurden
Einerseits werden Funktionen aus Consumer-Elek- DVD-Laufwerke aufgrund ihrer Speicherkapazi-
12 tronik-Geräten auch im Fahrzeug in einem Radio- tät von ca. 7 GByte als Massendatenspeicher für
navigationssystem erwartet. Dies führt dazu, dass die digitale Karte eingesetzt. Derzeit werden diese
Komponenten aus der Consumer-Elektronik in das durch elektronische Medien wie SD-Karten ersetzt.
13 Fahrzeug übernommen werden müssen. Consu- Zusätzlich wird das Laufwerk in High-End-Ge-
mer-Elektronik-Geräte werden oft in deutlich hö- räten auch zum Abspielen von Video-DVDs ein-
14 herer Stückzahl gefertigt als im Fahrzeug verbaute gesetzt. Die folgende Tabelle zeigt anhand dieser
Geräte. Dies führt zu dem Druck, CE-Komponen- Beispielkomponente sowohl die Anforderungen
55 ten aus Kostengründen ohne oder mit nur geringer der Consumer-Elektronik (= Heimbereich und PC;
Modifikation zu übernehmen, obwohl diese nicht CE-Anforderung) als auch die Anforderungen der
vollständig den Anforderungen im Fahrzeugumfeld Fahrzeugwelt (AE-Anforderung).
16 genügen. Andererseits treten Consumer-Elektro-
nik-Geräte in direkte Konkurrenz zu im Fahrzeug
17 verbauten Geräten: Ein aktuelles Beispiel hierfür 55.9.2 Aufbau
stellen portable Navigationssysteme dar. Da die des Navigationssystems
Consumer-Elektronik kürzere Entwicklungszyklen
18 und andere Vertriebswege aufweist, entsteht ein Für den Aufbau eines Navigations- oder Telema-
hoher Innovationszwang und somit Neuigkeitsgrad tiksystems ist der geplante Verbau entscheidend. So
19 von Gerätegeneration zu Gerätegeneration – sowie existieren Systeme, die als Funktionskomponente
ein sehr starker Kostendruck. Eine Preisreduktion ohne eigene Bedienoberfläche – sozusagen als Kom-
20 von im Mittel über 10 % per anno bei steigendem ponente eines größeren Systemverbunds – eingesetzt
Funktionsumfang ist eine übliche Anforderung. werden. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte
55.9 • Aspekte des Mobilfunks für Navigation und Telematik
1077 55
.. Tab. 55.3 Anforderungen aus dem CE- und AE-Umfeld an eine Komponente (exemplarisch am Beispiel eines
DVD-Laufwerks)
Umgebungstem- 0 °C bis 60 °C −40 °C bis +95 °C Betriebstemperatur −20 °C bis +80 °C;
peratur Funktionseinschränkung außerhalb (Lauf-
werksabschaltung); Herausforderungen:
Schmierung Laufwerk, Schwingungsdämp-
fungselemente, Verzug in der Kunststoff-
linse – diese Elemente werden für das
Fahrzeug ggf. angepasst
CD/DVD-Ladezeit keine Vorgaben; in max. 3–6 s bis Ver- heute nicht lösbar; übliche Zeiten sind eine
der Regel unkritisch fügbarkeit Funktion Funktionsverfügbarkeit von 7–15 s nach
(= Audio-Signal hörbar Einlegen des Datenträgers
nach Einlegen CD)
Full stroke seek unkritisch, da Lese- so klein wie möglich zweidimensionale Navigationskartendaten
(Zeit, die Lesekopf kopf in der Regel we- (möglichst < 150 ms) benötigen vielfache Kopfpositioniervor-
benötigt, um Da- nig positioniert wird, gänge, um Navigationsdaten zu laden;
tenträger komplett da große Datenblö- Daten werden mit hohem Aufwand mög-
zu überfahren) cke linear hinterein- lichst optimal auf linearer Datenspirale auf
ander abgelegt sind; Datenträger abgelegt, damit Kopfpositi-
üblich: 800 ms onierungsvorgänge möglichst minimiert
werden
Streaming-Ge- hoch, um große Da- gering, da Prozessor- für Navigationssysteme ist Kopfpositio-
schwindigkeit tenmengen schnell leistung geringer als nierzeit wichtiger als Streaming-Geschwin-
zu laden bei PCs digkeit
Verschmutzung keine besonderen Betrieb unter feuchter Herausforderung: Simulation der Kon-
Anforderungen Wärme und nach vektionswärmeströmung im Gerät, um
Druckbestaubung Verschmutzungsverhalten vorherzusehen;
ggf. Kapselung des Laufwerks
1
Temperaturvorgabe eines namhaften Markenherstellers zum Einsatzbereich seiner „brennbaren“ Datenträgerroh-
linge
1078 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik
„Silver-Box“ mit Vernetzungsschnittstelle (z. B. elek- im Einstiegsbereich. Smartphone müssen über ver-
1 trisches CAN-Interface oder optisches MOST-Inter- schiedene Standards angebunden werden, um de-
face): Diese Bauform ist für reine Telematikgeräte ren Bedienung im Fahrzeug zu ermöglichen und
2 ohne Zusatzfunktionalität üblich. Eine grundsätzlich Daten und Dienste von diesen einzubinden. Neue
andere Bauart ist diejenige mit eigener Bedienober- Empfangsverfahren wie Phasen-Antennen-Diver-
fläche („Silver-Box“ mit Kunststoffkappe). Letztere sity und Hintergrund-TMC-Tuner zum ständigen
3 Bauform wird üblicherweise für Radionavigati- Empfang von RDS-TMC-Botschaften – unabhängig
onsgeräte oder Head-Units eingesetzt, die mehrere vom „Vordergrund-Tuner“ für den „Hör-Empfang“
4 Funktionen umfassen (Radio, Navigation, Musikwie- – sind bereits weitestgehend zum Standard gewor-
dergabe von Ton-/Datenträgern). Ein typisches Ra- den (Einsatz von Mehrfach-Tuner-Systemen).
5 dio-Navigationssystem im Einstiegssegment für den Der hohe Neuigkeitsgrad zu jeder Gerätegene-
Fahrzeugverbau besteht aus ca. 1500 Bauelementen ration macht die Wiederverwendung bereits ent-
(mechanische und elektronische Bauelemente). wickelter Hardware- und Software-Komponenten
6 nur eingeschränkt möglich. Im Bereich der SW-Ent-
wicklung geht der Trend dazu, vermehrt Open
7 55.9.3 Entwicklungsprozess Source Software (OSS) zu nutzen, um den Aufwand
der SW-Entwicklung zu begrenzen und neue Funk-
Der Entwicklungsprozess von Navigations- oder tionen frühzeitig anbieten zu können.
8 Telematikgeräten ist von hoher Komplexität und Hinzu kommen vielfältige Funktionsanfor-
vielfachen Anforderungen geprägt. Reine Naviga- derungen. Zu Entwicklungsbeginn werden in der
9 tions- oder Telematiksysteme in Form von Telema- Regel bis zu mehrere hundert Dokumente zur Last
tik- oder Navigationsmodulen, die zur Steuerung gelegt, hinter denen sich Tausende von Detailanfor-
10 an eine Head-Unit angeschlossen werden, sind derungen verbergen. Eine Funktionsliste für ein Ra-
selten. Die Großzahl der Navigationssysteme im dio-Navigationssystem umfasst üblicherweise 2000
Markt sind Infotainmentsysteme, die auch einen bis 4000 Elemente, wobei sich hinter jeder Einzel-
11 Radio-Tuner beinhalten und Medienfunktionen wie funktion mehrere bis viele Detailfunktionen bzw.
das Abspielen von Audio-/MP3-CDs oder SD-Kar- unterschiedliche Detailanforderungen verbergen.
12 ten und USB-Sticks anbieten. Die grafische Oberfläche umfasst 500 bis 2000 un-
Durch den Einfluss der sich schnell ändernden terschiedliche Masken, deren Gestaltung vom Fahr-
CE-Welt sind selbst Radio-Navigationssysteme zeughersteller vorgegeben wird. Die hohe Menge an
13 (= RNS) im Einstiegsbereich einem hohen Neuig- Detailanforderungen, die eine konsistente, wider-
keitsgrad von Gerätegeneration zu Gerätegeneration spruchsfreie Lastenvorgabe schwierig macht – sowie
14 unterworfen. Selbst Einstiegsgeräte weisen mittler- die Änderung von Funktionsvorgaben während der
weile hochauflösende TFT-Farbgrafikdisplays auf Entwicklung – führen zu einem hohen Änderungs-
55 und erwarten die Unterstützung dieser Display-Res- umfang im Entwicklungsprozess.
sourcen durch leistungsfähige Grafikprozessoren, Der angewendete Entwicklungsprozess muss
um z. B. flüssige Navigationskarten mit 3D-Darstel- daher folgenden Anforderungen genügen:
16 lung oder grafische Animationen bei Menüwech- 1. Verwaltung und Konfigurierung einer großen,
seln zu ermöglichen. CD- und DVD-Laufwerke sich ständig ändernden Dokumentenmenge
17 sind zwar für das Abspielen von klassischen Da- (Lasten);
tenträgern noch in vielen Geräten vorhanden, 2. Identifikation von und Umgang mit wider-
werden aber bereits durch elektronische Medien sprüchlichen Lasten;
18 wie SD-Karten und USB-Sticks teilweise ersetzt. 3. Handhabung eines hohen Änderungsumfangs
Die umfangreichen Datenspeichermöglichkeiten während der Entwicklungsphase;
19 stimulieren den Bedarf an breitbandigen Schnitt- 4. hoher Neuigkeitsgrad der Anforderungen (nur
stellen zum schnellen Zuführen von Daten (USB, teilweise Verfügbarkeit von Erfahrungswerten);
20 WLAN). Bluetooth-Handys fordern den Einsatz der 5. Flexibilität zur Berücksichtigung von Entwick-
Bluetooth-Technologie, zumindest als Option selbst lungsprozessvorgaben der Auftraggeber (die
Literatur
1079 55
OEM verfolgen verschiedene Entwicklungs- 9 Otto, H.-U.: The ActMAP approach – specifications of in-
cremental map updates for advanced in‐vehicle appli-
modelle und machen sehr unterschiedliche
cations. Hannover (2005) Verfügbar unter: http://www.
Entwicklungsvorgaben). researchgate.net/publication/229052300_THE_ACTMAP_
APPROACHSPECIFICATIONS_OF_INCREMENTAL_MAP_UP-
Diese Randbedingungen führen zu großen Heraus- DATES_FOR_ADVANCED_IN-VEHICLE_APPLICATIONS
forderungen bei der Projektplanung und Aufwands- 10 Weblink zum FEEDMAP Projekt: http://www.mapchannels.
com/FeedMaps.aspx
abschätzung, insbesondere zu Projektbeginn, da das
11 Förster, H.J.: Das Automobil, ein Lebenselixier für alte Men-
detaillierte Bearbeiten und Klären der Gerätelasten schen Mai 2001. VDI‐Bericht, Bd. 1613. VDI‐Verlag, Berlin
selbst einen mehrmonatigen Arbeitsprozess nach (2001)
sich zieht. 12 Krüger, K., et al.: Optimierung der Kompetenz älterer Fahre-
Zur Handhabung werden im Entwicklungs- rinnen und Fahrer durch frühzeitige Navigationshinweise
und Knotenpunktsinformationen Tagung Berlin, Mai 2001.
prozess Datenbanksysteme zur Verwaltung von
VDI‐Bericht, Bd. 1613. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2001)
Kundenanforderungen eingesetzt, die den Prozess 13 Weblink zum ADASIS Forum: http://adasis.ertico.com/
von der Lastenbewertung über die Entwicklung 14 Nöcker, G., Mezger, K., Kerner, B.: Vorausschauende Fah-
bis hin zum Test unterstützen. Nur so kann eine rerassistenzsysteme 3. Workshop Fahrerassistenzsysteme,
vollständige Berücksichtigung über den gesamten Waltling, DE, 6.‐8. Apr., 2005. Technische Informationsbi-
bliothek/Universitätsbibliothek der Leibniz Universität
Entwicklungsprozess garantiert werden. Ansätze
Hannover, Hannover, S. 151–163 (2005)
zur Hardware- und Software-Strukturierung und 15 Eberhardt, R.: Car to Car Communication Consortium EuCar
Normierung in der Automobil-Industrie werden SGA, 23.10.2003. (2003)
sich zunehmend durchsetzen, die bei konsequenter 16 Systembeschreibung ETC Deutschland, Daimler Chrysler,
Umsetzung die Wiederverwendbarkeit und Aus- 2003
17 Verfügbar unter: http://www.vics.or.jp
tauschbarkeit von Komponenten erleichtern sollen
18 Visveswaran, A.: A status update on in‐car smartphone in-
(Beispiele hierfür sind AUTOSAR [17, 20] oder die tegration. SBD (2012). Verfügbar unter: http://www.sbd.
GENIVI Alliance [21]). co.uk/files/sbd/pdfs/TEL_3640_Smartphone_Guide.pdf
19 GSMA-mAutomotive: Connecting Cars: The Technology Ro-
admap. GSMA (2012) Verfügbar unter: http://www.gsma.
Literatur com/connectedliving/gsma-connecting-cars-the-techno-
logy-roadmap/
20 Zimmermann, W., Schmidgall, R.: Bussysteme in der Fahr-
Verwendete Literatur zeugtechnik – Protokolle und Standards, 2. Aufl. Vieweg‐
Verlag, Wiesbaden (2007)
1 Salas, G.: Highway Coding for Route Destination and Posi- 21 Weblink der GENIVI Alliance: https://www.genivi.org/
tion Coding Highway Research Board, Bd. 1642. (1968)
2 Kalman, R.E.: A New Approach to Linear Filtering and Pre- Weiterführende Literatur
diction Problems, Transactions of the ASME. Journal of
22 Weblink von Autosar: http://www.autosar.org
Basic Engineering 82(Series D), 35–45 (1960)
23 IDC (2013): Prognose zum Absatz von Smartphones welt-
3 Neukirchner, E.-P.: Fahrerinformations‐ und Navigationssys-
weit bis 2017 URL: http://de.statista.com/statistik/daten/
tem. Informatik‐Spektrum 14(2), 65–68 (1991)
studie/12865/umfrage/prognose-zum-absatz-von-smart-
4 Pilsak, O.: Routensuche, digitale Karte und Zielführung. In:
phones-weltweit
Talk held at seminar: Kfz‐Navigation Überblick über Ent-
wicklung und Funktion (1999)
5 Dijkstra, E.W.: A note on two problems in connexion with
graphs. Numerische Mathematik 1, 269–271 (1959). Ver-
fügbar unter: http://www-m3.ma.tum.de/foswiki/pub/
MN0506/WebHome/dijkstra.pdf
6 Hendriks, T., Wevers, K., Pfeiffer, H., Hessling, M.: AGORA‐C
Specification (2005)
7 Weblink zum AGORA Projekt: ISO 17572-3:2008; http://
www.iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/catalogue_de-
tail.htm?csnumber=45962
8 Weblink zum ACTMAP Projekt: http://www.transport-rese-
arch.info/web/projects/project_details.cfm?id=14953
1081 X
Zukunft der
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 56 Integrationskonzepte der Zukunft – 1083
Peter E. Rieth, Thomas Raste
Kapitel 59 Conduct-by-Wire – 1111
Benjamin Franz, Michaela Kauer,
Sebastian Geyer 1, Stephan Hakuli 1
Kapitel 60 H-Mode 2D – 1123
Eugen Altendorf, Marcel Baltzer, Martin
Kienle, Sonja Meier, Thomas Weißgerber,
Matthias Heesen, Frank Flemisch
Integrationskonzepte
der Zukunft
Peter E. Rieth, Thomas Raste
56.1 Einleitung – 1084
56.2 Bauliche Integration – 1084
56.3 Funktionale Integration – 1086
56.4 Domänenarchitektur – 1087
56.5 Regelung der Fahrzeugbewegung (Motion Control) – 1090
Literatur – 1092
samtgerätes. Die äußeren Abmessungen der MK [6]; dieser Ansatz hat potenziell eine sehr hohe
1 C1 werden von der Hüllkurve eines klassischen Leistungsfähigkeit, jedoch ist der Integrations-
8″/9″-Geräts nahezu vollständig umschlossen. Dies aufwand beim Fahrzeughersteller oft sehr hoch.
2 ist wichtig, um in den heutigen Bauräumen auch bei 2. Kooperativer Koexistenzansatz: Ein zentraler
einem Mischverbau mit konventionellen Systemen Koordinator aktiviert vordefinierte Betriebs-
keinen Packagingrestriktionen zu unterliegen. Be- modi bzw. Parameter in den Aktuatoren, z. B.
3 sonders vorteilhaft könnte sich in dem einen oder [7]; bei diesem Ansatz ist die Leistungsfähigkeit
anderen Fahrzeug die Tatsache erweisen, dass die nicht maximal, aber der Integrationsaufwand ist
4 MK C1 um ca. die Länge eines THz kürzer baut und durch weitgehende Entkopplung der Arbeiten
damit in einem Crashfall der Abstand zu den auf- von Fahrzeughersteller und Zulieferer über-
5 schlagenden Aggregaten ausreichend groß ist, um schaubar.
eine Intrusion des Pedalwerks in den Fahrgastraum
zu vermeiden oder abzumildern. Ebenso sind keine Die als „Global Chassis Control“ (GCC) bezeich-
6 Besonderheiten auf der dem Fahrgastraum zuge- nete Entwicklung hat als maßgebliches Ziel die
wandten Seite der MK C1 zu beachten, die das üb- Funktionsintegration für die Horizontaldynami-
7 liche Interface zum Pedalwerk beeinflussen. kregelung [8]. Aus historisch gewachsenen Bezie-
hungen sowie aus einkaufsstrategischen Gründen
wurden anfangs die Chassis-Subsysteme – nach
8 56.3 Funktionale Integration Komponenten aufgeteilt – in den Entwicklungs-
abteilungen bei den Fahrzeugherstellern und Zu-
9 Die Forderung nach mehr Verkehrs- und Fahrsi- lieferern als Stand-alone-Systeme behandelt. So
cherheit, nach mehr Fahrkomfort und gleichzeitig konnten in einem Fahrzeug mit Überlagerungs-
10 geringem Energieverbrauch verlangt nach innovati- lenkung, aktiven Stabilisatoren, elektronischer
ven Systemlösungen aus den Bereichen Chassis und Stabilitätsregelung ESC und elektronischem Diffe-
Antrieb. Die bisherige Entwicklung verlief nicht im- renzial bis zu vier eigenständige Horizontaldynami-
11 mer kontinuierlich, sondern ist durch mehrere Tech- kregler mit jeweils eigener Fahrzustandsschätzung,
nologiesprünge gekennzeichnet: Der erste Sprung, eigener Referenzgrößenberechnung und eigenem
12 den der Kunde als Fortschritt erkannte und dem- Fahrzustandsregler verbaut sein. In dieser als
entsprechend honorierte, war die Einführung von „Koexistenzansatz“ bezeichneten Funktionsarchi-
mechatronischen Systemen wie z. B. das ABS Ende tektur verfolgen die einzelnen Regler – abhängig
13 der siebziger Jahre oder das ESC Mitte der neun- von dem zu regelnden System – unterschiedliche
ziger Jahre. Da die Optimierung der mechatroni- Schwerpunkte der Regelstrategie (Komfort, Hand-
14 schen Einzelsysteme zunehmend an Grenzen stieß, ling und Sicherheit) und müssen hinsichtlich ihres
war der nächste Sprung zeitlich im ersten Jahrzehnt Aktionsbereichs so abgestimmt werden, dass sie
15 des 21. Jahrhunderts datiert, die funktionale Integ- sich nicht negativ beeinflussen können. Sie müs-
ration der Systeme, die, wie bereits geschildert, in sen quasi einen Sicherheitsabstand voneinander
der starken Zunahme durch Fahrerassistenz- und haben, womit kein optimales Gesamtregelergebnis
56 Verbrauchsoptimierungssysteme ihren Ursprung erzielt werden kann. Mit ESP II wurde erstmals die
haben. Über leistungsfähige Bussysteme vernetzt als „integrierter Ansatz“ dargestellte Funktionsauf-
17 mit Bremse, Lenkung, Antrieb und Dämpfer war teilung realisiert [8]: Bei diesem Ansatz besitzt jedes
nunmehr die Möglichkeit gegeben, die Zielkonflikte der Einzelsysteme Lenkung, Bremse, Fahrwerk und
zwischen aktiver Sicherheit, Fahrfreude, Fahrkom- Antriebsstrang eine Grundfunktion. Bezüglich der
18 fort und Effizienz besser zu beherrschen. Dabei gibt Horizontaldynamik bleibt diese Grundfunktion
es heute im Wesentlichen zwei Ansätze für die funk- auf eine reine Steuerung beschränkt, zum Beispiel
19 tionale Integration: geschwindigkeitsabhängige Lenkübersetzung oder
1. Vollintegrierter Ansatz: Ein zentraler Regler querbeschleunigungsabhängige Bremskraftvertei-
20 steuert das gewünschte Fahrverhalten und lung rechts/links. Dabei stehen die Funktionen im
koordiniert die notwendigen Aktuatoren, z. B. ständigen Austausch mit dem Gesamthorizontal-
56.4 • Domänenarchitektur
1087 56
dynamikregler im ESP II und melden diesem ihre basieren, können durch die Einbindung aus dem
momentane Stellreserve und -dynamik. Umfeldmodell im Sinne eines „vorausschauenden“
Der nächste Evolutionssprung kündigt sich Unfallschutzes verbessert werden, z. B. zur Crash-
durch die funktionale Integration von Umfeldsen- prädiktion oder zur Fußgängererkennung.
sorik an, [9]. Funktionen zur Längsführung, wie
Adaptive Cruise Control (ACC) (s. ▶ Kap. 46) und
Notbremsassistent (s. ▶ Kap. 47) oder zur Querfüh- 56.4 Domänenarchitektur
rung, wie Spurhaltung oder Warnung bei Fahrstrei-
fenwechsel oder rückwärtigem Verkehr (s. ▶ Kap. 49 Wenn das Funktionsnetzwerk feststeht, kann die
und 50), sind bereits im Einsatz. Neue Funktionen, Systemarchitektur ausgearbeitet werden. Eine we-
z. B. zur Assistenz in Baustellen oder beim Auswei- sentliche Herausforderung ist die Partitionierung
chen in Notsituationen, sind in der Entwicklung: der Funktionen auf die Steuergeräte; ein Prozess,
All diese Funktionen basieren auf Informationen der, obwohl z. B. in [10] schon ansatzweise mathe-
aus Umfeldsensoren (Radar (s. ▶ Kap. 17), Kamera matisch gelöst, heute noch sehr viel Erfahrung er-
(s. ▶ Kap. 20), Lidar (s. ▶ Kap. 18), Ultraschall (s. fordert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass starke
▶ Kap. 16)), deren Informationen zu einem Umfeld- Wechselwirkungen unter den Komponenten des
modell (s. ▶ Kap. 25) fusioniert werden. Zukünftig Systems auch zu starken Wechselwirkungen einer-
verfügbare sicherheitsrelevante Informationen seits bei der Entwicklung und Herstellung des Sys-
über Fahrzeug-zu-Fahrzeug- bzw. Fahrzeug-zu-In- tems aber auch andererseits bei Lieferantenstruktur
frastruktur-Kommunikation (Car2X; s. ▶ Kap. 28) und Zusammenarbeit führen. Änderungen an einer
werden ebenfalls wie ein Sensoreingang betrachtet, Komponente sind kaum möglich ohne Auswirkun-
wofür jedoch eine sehr genaue Positionsinformation gen auf alle anderen Komponenten – hier setzt die
des Fahrzeugs notwendig ist. Eine Positionierung Idee der Modularisierung an. Der Systementwurf
über die digitale Karte, wie sie in Navigationssyste- und die zugehörigen Realisierungsschritte werden
men durchgeführt wird, ist hier nicht möglich, da mithilfe von Regeln und Standards in Module zer-
die Kartendaten fehlerhaft sein können, evtl. sind legt, die einer der beiden nachfolgenden Kategorien
sie auch gar nicht vorhanden. Vielversprechend sind zugeordnet werden können:
Ansätze, durch die Kopplung der Informationen 1. nach außen sichtbare Module, z. B. Betriebs-
der Fahrdynamiksensoren mit dem GPS-Signal im systeme und andere Diensteschichten (z. B.
Fahrzeug eine genaue Positionierung des Fahrzeugs Middleware), oder Entwurfsparameter, wie z. B.
bei gleichzeitig höherer Verfügbarkeit zu erhalten, Schnittstellenspezifikationen oder Integrations-
s. ▶ Kap. 26. und Testprozeduren;
Im Bereich der passiven Sicherheit, also aller 2. nach außen unsichtbare Module, d. h. Kompo-
Funktionen, die die Unfallfolgen mindern, sind nenten, deren Entwurfsparameter lokal in den
heute eine Vielzahl von Funktionen im Fahrzeug jeweiligen Modulen und den zugehörigen Ent-
enthalten, die kontinuierlich optimiert und wei- wicklungsabteilungen verborgen bleiben.
terentwickelt werden: Zu nennen sind hier die
Crashsensierung (Front, Heck, Seite, Überschlag)
und die Aktivierung der entsprechenden Rückhal- 56.4.1 Konzepte zur Standardisierung
temaßnahmen (Airbags, Gurtstraffer, Kopfstützen). der Architektur
Zusätzlich kann ein automatischer Notruf (eCall)
ausgelöst und die Bremse aktiviert werden, um Eine erfolgreiche Modularisierung basiert auf de-
die Unfallfolgen im Falle eines Sekundärcrashs zu tailliertem Wissen über die gegenseitigen Abhängig-
verringern. Wichtig sind ebenso Maßnahmen zum keiten und Wechselwirkungen zwischen den Ent-
Schutz von Fußgängern, z. B. werden durch das wurfsparametern. Der Systemarchitekt wird dabei
Aufstellen der Motorhaube im Fall des Aufpralls
die Verletzungsfolgen gemindert. Die passiven Si-
cherheitsfunktionen, die primär auf Crashsensoren -
die folgenden Regeln und Standards erarbeiten:
Architektur, d. h. Festlegung, welche Module
und Komponenten Teil des Systems sind, wel-
1088 Kapitel 56 • Integrationskonzepte der Zukunft
.. Abb. 56.2 Darstellung
1 eines stark vernetzten
(links) und modularen
Systems (rechts) als gerich-
2 teter Graph und als Design
Structure Matrix (DSM). A
bis D: Systemkomponen-
3 ten, DR: Design Rules, I&T:
Integration and Test
4
5
6
7
8 che Rollen sie einnehmen und welche Module . Abbildung 56.2 verdeutlicht den Vorteil des
und Komponenten Quelle für nach außen modularen Designs anhand einer fiktiven Syste-
9
10 - sichtbare Standards sind;
Schnittstellen, d. h. detaillierte Beschreibung,
wie die Module zusammengefügt werden,
kommunizieren, Energie austauschen etc.,
marchitektur mit den vier Komponenten A, B, C,
D. In den gerichteten Graphen in . Abb. 56.2 oben
sind die Abhängigkeiten der Komponenten durch
Pfeile dargestellt. Äquivalent zum Graphen wird
d. h. die Schnittstelle als eine Komponente des hier die Matrixdarstellung in Form der sog. „De-
-
11 funktionalen Gesamtsystems; sign Structure Matrix“ (DSM) eingesetzt, vgl. [12].
Integration und Test, d. h. Anweisungen für den Mit einer DSM werden Beziehungen zwischen den
12 Zusammenbau des Systems und zur Feststel- Elementen eines Systems in einem kompakten und
lung, wie gut das System arbeitet und wie gut visuell vorteilhaften Format dargestellt: Eine DSM
eine Version eines Moduls relativ zu einer ist eine quadratische Matrix, in der die zu untersu-
13 anderen funktioniert. chenden Elemente in der Diagonalen aufgetragen
sind. Wenn zwischen zwei Elementen eine Bezie-
14 Modularisierung ist der erste Schritt hin zu einem hung besteht, wird diese in der Matrix mit einem
Mehrwert für das System. Investitionen in Modu- „x“ gekennzeichnet. Alternativ kann man Zahlen-
15 larisierung lohnen sich aber nur, wenn nach der werte verwenden, um z. B. die Stärke der Beziehung
Zerlegung die verborgenen Module/Komponenten zu dokumentieren. Die Matrix wird in einer vorher
permanent weiterentwickelt und gegen bessere aus- festzulegenden Richtung durchlaufen, wodurch die
56 getauscht werden. Die Zahl der hierfür notwendigen Informationen eines gerichteten Graphen abgebil-
Versuche hängt näherungsweise von der Größe und det werden; hier ist die Konvention „Eingang in
17 vom technischen Potenzial der Module/Komponen- Spalten/Rückwirkung unterhalb der Diagonalen“
ten ab. Dabei gilt der Grundsatz, dass große Module/ gewählt.
Komponenten weniger Entwicklungsprojekte erfor- Im Beispiel des stark vernetzten Systems sind
18 dern als kleine, weil die Kosten pro Experiment hoch die Schnittstellen proprietär, d. h. es gibt keine of-
sind im Vergleich zu den kleinen Modulen, [11]. Die fenen, industrieweit geltenden Regeln für die Ver-
19 Evolution der sichtbaren Module verlangt wegen der knüpfung der Komponenten. Die Konsequenz ist,
umfangreichen Auswirkungen im System hohe In- dass sich jede Änderung an einer Komponente auf
20 vestitionen bzw. Abstimmungsaufwände und daher alle anderen Komponenten auswirkt. Im Gegensatz
sind diese Module vergleichsweise beständig. dazu sind alle Abhängigkeiten der Komponenten
56.4 • Domänenarchitektur
1089 56
Interfaces
SWC SWC
Statically generated
(AUTOSAR Runtime
Middleware Environment)
Multicore OS Platform
.. Abb. 56.3 Steuergerätearchitektur mit Applikationssoftware (Software Components, SWC) und Plattformsoftware (Basic
Software, BSW) mit heutigen statischen Schnittstellen und zukünftigen dynamischen Schnittstellen
im modularen System idealerweise durch offene, in- hängig von der Hardware zu entwickeln. Bestandteil
dustrieweit bekannte Regeln und Standards (Design der Basissoftware ist eine Zwischenschicht (Middle-
Rules, DR) sowie Integrations- und Testprozeduren ware), die für eine Verbindung der Komponenten
(I&T) festgelegt. Die Komponenten sind dann zwar der Applikationssoftware untereinander und mit
weiterhin verborgene Module, sie können jedoch Diensten der Plattform, z. B. Kommunikation oder
völlig unabhängig voneinander weiterentwickelt Systemdienste, sorgt [14].
werden, solange die offenen Standards eingehalten Nach heutigem Standard werden die Zwi-
werden. In der Matrix wird dies dadurch deutlich, schenschicht und die Schnittstellen zur Applika-
dass kein „x“ in dem gekennzeichneten Bereich vor- tionssoftware statisch erzeugt als sog. „Runtime
handen ist. Änderungen an den verborgenen, nach Environment, RTE“. In zukünftigen Generationen
außen unsichtbaren Entwurfsparametern eines von Steuergeräten könnte die Applikationssoftware
Moduls haben somit keine Auswirkungen auf die dynamisch integriert werden, siehe . Abb. 56.3. Die
anderen verborgenen Module des Systems; erst Än- Motivation hierzu liegt darin, dass die Fahrzeugher-
derungen an den sichtbaren Entwurfsparametern steller zukünftig Software über Internetverbindun-
erzwingen auch Änderungen an den verborgenen gen auf die Steuergeräte aufspielen wollen, um ihren
Modulen. Kunden stets aktualisierte Funktionalitäten anbieten
zu können [15]. Die Basissoftware muss daher eine
Zwischenschicht enthalten, die Datenverteilungs-
56.4.2 Konzepte zur Standardisierung dienste (Data Distribution Service, DDS) anbietet.
der Schnittstellen Es existieren bereits offene Standards für Imple-
mentierungen von DDS, z. B. das Robot Operating
Der nächste Schritt ist die Festlegung der Schnitt- System (ROS) [16] und das Open DDS [17]; diese
stellen, wobei für die Domänenarchitektur die fol- Lösungen sind heute jedoch noch kein Standard in
-
genden beiden Ziele im Vordergrund stehen, [13]:
Komplexität durch möglichst wenige Informa-
tionen, die zwischen den Domänen ausge-
der Automobilindustrie.
3
OS / Services
Domain
4 F1 F2 F3 Controller ECU
SWC SWC Sensor Actuator ECU
.xml
Operating Strategy
Middleware ECU ECU Extract
5 OS / Services
Domain
6 Motion Control Controller ECU
SWC SWC ECU Actuator ECU
ECU .xml
7
Middleware
A1 A2 A3 SWC
Config.
OS / Services
8 SWC
BSW
9
.. Abb. 56.4 Integrationsprozess für eine Systemarchitektur mit Domänensteuergeräten als Integrationsplattformen und
Sensor-/Aktorsteuergeräten in den Subdomänen
10
Umpartitionierung und Hochintegration, die phy- Die Domänensteuergeräte sind bezüglich Re-
sikalische Kapselung der Domänen und der Schutz chenleistung (Single-, Dual-, zukünftig auch Multi-
11 von Know-how sind weitere Treiber für die Domä- core Controller), Speicherausbau und Sicherheits-
nenrechner. level (bis ASIL D) skalierbar, sie verfügen über eine
12 Zur Integration der Basis- und Applikationssoft- AUTOSAR-kompatible Softwarearchitektur und
ware hat der AUTOSAR-Standard eine neue Me- bieten die Möglichkeit, Softwaremodule verschie-
thodik eingeführt. Statt die Zuordnung der Software dener Parteien zu integrieren. Durch den modula-
13 zur Hardware für jedes Steuergerät neu zu kodie- ren Aufbau lassen sich Varianten mit reduzierten
ren, müssen jetzt vordefinierte Module nur noch Funktionsumfängen darstellen.
14 konfiguriert werden. Entsprechende Werkzeuge
unterstützen die Konfiguration und liefern als Er-
56.5 Regelung der Fahrzeug
15 gebnis XML-Beschreibungsdateien, die zwischen
bewegung (Motion Control)
Fahrzeughersteller und Zulieferer ausgetauscht
werden. Am Anfang der Entwicklung erstellt der
56 Fahrzeughersteller die Gesamtsystembeschreibung Die Regelung der Fahrzeugbewegung ist eine eigene
(System Description), in der z. B. die Topologie, die Domäne und erfordert aufgrund der großen Vari-
17 Kommunikationsdetails und die Partitionierung der antenvielfalt von Funktionen und Stellgliedern eine
Applikationssoftware auf die einzelnen Steuergeräte sorgfältige funktionale und bauliche Integration.
beschrieben sind. Aus der Systembeschreibung wird Ein Ansatz zur Strukturierung wird im Folgenden
18 für jedes Steuergerät die relevante Information ex- beschrieben:
trahiert (ECU Extract) und an den Zulieferer des Die horizontale Bewegung des massebehafteten
19 Steuergerätes weitergegeben. Dieser konfiguriert Systems „Fahrzeug“ wird bestimmt durch die Rei-
anschließend das Steuergerät (ECU Config) und fenkräfte in der Fahrbahnebene, die ihrerseits durch
20 erzeugt mithilfe von Codegeneratoren die ausführ- die aktuell anliegenden Radlenkwinkel und Rad-
bare Software, s. . Abb. 56.4. momente eingestellt werden. Entsprechend wird
56.5 • Regelung der Fahrzeugbewegung (Motion Control)
1091 56
Motion
Inertial Vehicle Motion Requests Control
Dyamic Vehicle Model
Data,
speed, Estimated
angle, side slip, Motion Request Vector (arbitrated speed,
pressure, offset acceleration, curvature/yaw rate, side slip, ...)
corrected Energy
torque, management
etc. data, etc…
Motion Control Functions
Actuator Abstraction
Actuators
die vertikale Bewegung durch die Fahrwerkskräfte von externen Systemen, wie z. B. Fahrerassistenz-
bestimmt. Das Grundprinzip von Motion Control systemen. Alle Anforderungen werden in Soll-Be-
ist die Betrachtung der umgekehrten Wirkrichtung: wegungsgrößen umgerechnet, die dann koordiniert
Ausgehend von einer gewünschten Bewegung wer- an die nächste Ebene weitergereicht werden.
den die zugehörigen Reifenkräfte und daraus die In der Regelfunktionsebene (Motion Control
Stellgrößen wie Lenkwinkel bzw. Lenkmoment so- Functions) kommen die Funktionen zur Ausfüh-
wie Antriebs- oder Bremsmomente für die Räder rung, die die Bewegung des Fahrzeugs in longitudi-
bestimmt. Störgrößen, wie Seitenwind oder geneigte naler, lateraler und vertikaler Richtung steuern. Das
Fahrbahn, sind durch Regelungen evtl. in Verbin- Ziel ist die konfliktfreie Optimierung von Sicher-
dung mit Störgrößenaufschaltungen zu kompen- heit, Komfort, Emotion und Effizienz. Der Ausgang
sieren. der Regelfunktionsebene ist ein auf das Gesamtfahr-
Die Bestimmung der Stellgrößen gelingt vor- zeug bezogener Stellvektor.
teilhaft durch Aufteilen des Regelungssystems In der Ansteuerebene (Actuator Abstraction)
in mehrere logisch separierte Ebenen mit ein- werden aus dem auf das Fahrzeug bezogenen Stell-
deutig definierten Schnittstellen untereinander, vektor die Stellgrößen für die einzelnen Aktoren
siehe . Abb. 56.5. Änderungen oder Ergänzun- ermittelt. Die Koordinierung der Wirkketten steht
gen des Systems sind jetzt einfacher und effektiver hier im Vordergrund, wozu die Ansteuerebene den
durchzuführen, da meist nur eine Ebene betroffen aktuellen Zustand und die Limitierungen der Stell-
ist und nicht das gesamte Regelungssystem. systeme genau kennen. Ebenso sind die maximalen
In der Anforderungsebene (Vehicle Motion Re- Reifenkräfte im Kamm’schen Reibungskreis zu be-
quests) werden die kontinuierlichen Bedienvorga- rücksichtigen.
ben des Fahrers aufgenommen. Zusätzlich können
diskrete Signale über Bedienhebel, Taster o. Ä. ein-
gelesen und verarbeitet werden. Die dritte Klasse
von Eingangsgrößen umfasst Bewegungsvorgaben
1092 Kapitel 56 • Integrationskonzepte der Zukunft
Literatur
1
1 Reichart, G., Vondracek, P., Bruckmeier, R.: Systemarchitek-
10 8 Schwarz, R., Bauer, U., Tröster, S., Fritz, S., Muntu, M., Schräb-
ler, S., Weinreuter, M., Maurischat, C.: ESP II – Fahrdynamik
der nächsten Generation. Teil 1: Komponenten und Funkti-
20
1093 57
Antikollisionssystem
PRORETA – Integrierte
Lösung zur Vermeidung
von Überholunfällen
Rolf Isermann, Andree Hohm, Roman Mannale, Bernt Schiele,
Ken Schmitt, Hermann Winner, Christian Wojek
57.1 Einleitung – 1094
57.2 Videobasierte Gesamtszenensegmentierung zur
Bestimmung des Manöverraums – 1094
57.3 Sensorfusion von Radar und Videosignalen – 1095
57.4 Situationsanalyse für Überholvorgänge – 1097
57.5 Realisierung von Warnungen und aktiven Eingriffen – 1098
57.6 Ergebnisse von Fahrversuchen – 1099
57.7 Zusammenfassung – 1099
57.8 Schlussbemerkung – 1100
Literatur – 1100
.. Abb. 57.3 Signalfluss
für die videobasierte
Objekterkennung und
Szenensegmentierung
Es ist ersichtlich, dass die Verwendung eines 57.3 Sensorfusion von Radar
CRF-Basismodells (Spalte 4) im Vergleich zu einer und Videosignalen
reinen filterbasierten Klassifikation (Spalte 3) ein
deutlich geglättetes Ergebnis liefert. Jedoch treten Ein Fahrerassistenzsystem für Überholmanöver
Probleme bei der Klassifikation von Fahrzeugen auf, setzt die umfassende Kenntnis der Objekte im Fahr-
deren Bildpunkte oft fälschlicherweise zu anderen zeugumfeld voraus. Zentrales Element sind hierbei
Klassen (z. B. Straße) zugeordnet werden. Durch Fahrzeuge des Gegenverkehrs. Um eine frühe Si-
die zusätzlich integrierten Merkmale beim Objekt- tuationserkennung und eine Detektionsreichweite
CRF (Spalte 5) wird die Segmentierungsgenauigkeit von 400 m zu erreichen, sind RADAR oder LIDAR-
für Fahrzeuge deutlich verbessert. Das dynamische Systeme geeignet. Im Projekt PRORETA 2 wurde
CRF-Modell (Spalte 6) kann dagegen auch Fahr- der Radarsensorik der Vorzug gegeben, da diese
zeuge, die zeitweise nicht detektiert werden können, aufgrund der spezifischen Signalverarbeitung eine
besser segmentieren. weitaus geringere Dämpfung bei weit entfernten
Zur Weiterverarbeitung in nachgeschalteten Objekten aufweist. Die geforderte Reichweite von
Fahrerassistenzfunktionen stehen somit die Seg- 400 m konnte im Rahmen des Projekts durch die
mentierung der Gesamtszene im Videobild sowie Modifikation eines Seriensensors erreicht werden.
Objektdetektionen aus einem bildbasierten Objekt- Um eine möglichst exakte Schätzung und un-
detektor zur Verfügung. terbrechungsfreie Detektion des Zustandsvektors
1096 Kapitel 57 • Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
.. Abb. 57.4 Beispielergebnisse für die Segmentierung von Landstraßenszenen mit den vorgestellten Modellen
52
für Fahrzeuge zu realisieren, wird ein Objekttra- eine solide Grundlage für die zuverlässige Funktion
cking mit einem Erweiterten Kalman-Filter (EKF) von Algorithmen, die dem Objekttracking nachge-
53 eingesetzt [8, 9, 10]. Dieses Filter ermöglicht auch lagert sind. . Abbildung 57.6 zeigt die Ergebnisse
die Fusion mit den Daten des oben beschriebenen der Detektion eines Gegenverkehrs-Fahrzeugs im
54 Objektdetektors, der im Erfassungsbereich bis 50 m Vergleich mit Ground-Truth Daten.
bessere Werte hinsichtlich der Lateralposition be- Die größte Lateralabweichung tritt hier im mo-
55 obachteter Fahrzeuge auf Landstraßen erreicht. Die deraten Bereich von etwa 2 m bei einer Entfernung
sich im Entfernungsbereich bis 50 m überdeckenden von ca. 260 m auf, wobei diese immer noch unter
Erfassungsbereiche beider Sensoren werden in einer einer Winkelabweichung von 0,5° liegt.
56 kooperativen Fusion zusammengeführt. Zudem verursachen Verlagerungen des Ra-
Eine Besonderheit im Bezug auf die Objekt- dar-Reflexionspunktes auf dem Zielfahrzeug auch
57 verfolgung ist die Anforderung, weit entfernte Abweichungen von etwa 1 m. Eine weitere Beson-
Objekte während eines Fahrstreifenwechsels ohne derheit im Bezug auf die Objekterkennung sind
Objektverlust verfolgen zu können. Dies ist ins- die auftretenden, hohen Relativgeschwindigkeiten.
58 besondere zu Beginn eines Überholvorgangs der Hier konnte die korrekte Funktion der Objektver-
Fall, . Abb. 57.5. Als Ergebnis erhält man eine folgung in realen Verkehrssituationen bis zu einer
59 kontinuierliche Objektverfolgung ohne Verlust der Relativgeschwindigkeit von –265 km/h experimen-
Objektspur, weil der erwartete Querversatz durch tell verifiziert werden und stellt somit ausreichende
60 die Gierbewegung des EGO-Fahrzeuges (A) bei der Reserven für die Beobachtung entgegenkommender
Assoziation berücksichtigt wird. Das Resultat bietet Fahrzeuge auf Landstraßen bereit.
57.4 • Situationsanalyse für Überholvorgänge
1097 57
.. Abb. 57.5 Tracking eines entfernten Objektes im Gegenverkehr während eines Fahrstreifenwechsels und Verlauf der x- und
y-Positionen in EGO-Koordinaten. Ein Trackverlust wird vermieden, jedes Objekt bleibt dabei lateral getrennt.
41
42
43
.. Abb. 57.7 Detektion von Überholmanövern mittels längs- und querdynamischer Indikatorgrößen
44
45
46
47 .. Abb. 57.8 Prädizierte Time-to-Collision (TTCpred) zum Gegenverkehr als Maß für den Sicherheitsabstand d bei Überhol-Ende
Die Differenz der erforderlichen Dauer treq und das Assistenzsystem akustische Warnungen, um den
der verfügbaren Zeit tavail kann als Basis für die Fahrer zu einem Abbruch des Überholmanövers zu
Warnintensität verwendet werden. Ist die Differenz bewegen. Der Fahrer reagiert nicht auf die Warnung
zwischen der erforderlichen Dauer treq und der ver- und die Manövererkennung detektiert das Eintreten
fügbaren Zeit tavail gerade Null, wird das Fahrzeug au- in den Überholfahrstreifen, worauf das System einen
tomatisch abgebremst, so dass der Fahrer wieder hin- geringen Bremsdruck zur Vorbereitung des Brems-
ter dem vorausfahrenden Fahrzeug einscheren kann. systems aufbaut. Im weiteren Verlauf nähert sich die
notwendige Dauer für einen Überhol-Abbruch der
verfügbaren, sich durch den herannahenden Ge-
57.6 Ergebnisse von Fahrversuchen genverkehr verringernden Zeitdauer an. Bei t ≈ 8 s
ist der letztmögliche Zeitpunkt für einen Überho-
Anhand des in . Abb. 57.10 illustrierten Fahrver- labbruch erreicht, und das System bremst automa-
suchs auf dem Testgelände der TU Darmstadt wird tisch bis ein Einscheren hinter dem Vorderfahrzeug
die Funktionsweise des Assistenzsystems beispiel- möglich ist. Die akustische Warnung endet mit der
haft demonstriert. Erkennung des abgeschlossenen Abbruchmanövers.
Das Fahrzeug folgt einem vorausfahrenden
Fahrzeug mit der Geschwindigkeit vA ≈ 60 km/h.
Das vorausfahrende Fahrzeug wird im Abstand von 57.7 Zusammenfassung
dAB ≈ 30 m detektiert.
In der Manövererkennung wird bei t ≈ 4,3 s er- Schwere Unfälle bei Überholvorgängen motivieren
kannt, dass das eigene Fahrzeug beschleunigt und die Entwicklung eines entsprechenden Fahreras-
zu einem Überholmanöver ansetzt. Kurz darauf tritt sistenzsystems. In der vorliegenden Arbeit wird
das entgegenkommende Fahrzeug aus der Verde- die Konzeption und praktische Erprobung eines
ckung durch das vorausfahrende Fahrzeug und wird Fahrerassistenzsystems für Überholsituationen be-
bei t ≈ 4,8 s in einem Abstand von dAC ≈ 185 m de- schrieben.
tektiert. In der Situationsinterpretation wird der am Um die hierzu notwendigen sensorischen In-
Ende des Überholmanövers zu erwartende zeitliche formationen aus dem Fahrzeugumfeld zu erfassen,
Abstand (TTC) berechnet. wurde die Fusion von Video- und Radardaten vor-
Da die vorausberechnete TTC unterhalb der gestellt, die hohe Zuverlässigkeit bei der Detektion
hier gewählten Schwelle TTCmin = 2 s liegt, startet weit entfernter Objekte mit einer genauen Schätzung
1100 Kapitel 57 • Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51 .. Abb. 57.10 Ergebnisse von Versuchsfahrten: Das Assistenzsystem assistiert beim Abbruch eines gefährlichen Überholmanövers
52
der Lateralposition und -geschwindigkeit näherer 57.8 Schlussbemerkung
Objekte vereinigt. Für die Detektion naher Objekte
53 wird der Einsatz eines videobasierten Fahrzeugklas- Dieser Beitrag entstand im Rahmen der For-
sifikators beschrieben. Dies ist die Basis, um eine schungskooperation PRORETA zwischen der Tech-
54 vorliegende Gefahrensituation aus der Verbindung nischen Universität Darmstadt und der Continental
einer signalbasiert erkannten Überholabsicht des AG. Das Forschungsprojekt wurde gemeinsam von
55 Fahrers sowie einer problematischen Konstellation den Instituten Automatisierungstechnik, Fahr-
der beteiligten Fahrzeuge zu detektieren. Wird eine zeugtechnik und Multimodale Interaktive Systeme
solche Gefahr erkannt, erfolgen Warnungen und durchgeführt. Die beteiligten Institute danken der
56 ein letztmöglicher Abbruch des Überholmanövers Continental AG für die großzügige Unterstützung
durch einen automatischen Bremseingriff, der dem und gute Zusammenarbeit.
57 Fahrer das Einscheren hinter dem vorausfahrenden Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Version des
Fahrzeug ermöglicht. Zeitschriftenartikels [14].
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts
58 PRORETA 2 erlauben, dem Fahrer eine Unter-
stützung zu bieten, um gefährliche Situationen bei Literatur
59 Überholmanövern rechtzeitig zu erkennen und un-
fallvermeidende Maßnahmen einzuleiten. [1] Bender, E., Darms, M., Schorn, M., Stählin, U., Isermann, R.,
Winner, H., Landau, K.: Antikollisionssystem Proreta – Auf
60 dem Weg zum unfallvermeidenden Fahrzeug. Automobil-
technische Zeitschrift (ATZ) 109(04), 336–341 (2007)
Literatur
1101 57
[2] Isermann, R.; Schiele, B.; Winner, H.; Hohm, A.; Mannale, R.;
Schmitt, K.; Wojek, C.; Lüke, S.: Elektronische Fahrerassis-
tenz zur Vermeidung von Überholunfällen – PRORETA 2.
VDI‐Berichte Nr. 2075, Elektronik im Kraftfahrzeug. Düssel-
dorf, 2009
[3] Mannale, R.; Hohm, A.; Schmitt, K.; Isermann, R.; Winner, H.:
Ansatzpunkte für ein System zur Fahrerassistenz in Über-
holsituationen. 3. Tagung Aktive Sicherheit durch Fahreras-
sistenz. Garching, 2008
[4] Wojek C.; Schiele, B: A dynamic conditional random field
model for joint labeling of object and scene classes. Eu-
ropean Conference on Computer Vision (ECCV). Marseille,
2008
[5] Wojek, C.: Monocular Visual Scene Understanding from
Mobile Platforms. Darmstadt, Technische Universität, Dis-
sertation 2010
[6] Torralba, A.; Murphy, K. P.; Freeman, W. T.: Sharing features:
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In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch Fah-
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[9] Darms, M.; Winner, H.: Validation of a Baseline System
Architecture for Sensor Fusion of Environment Sensors.
FISITA World Automotive Congress, Yokohama/Japan, 2006
[10] Hohm, A.: Umfeldklassifikation und Identifikation von
Überholzielen für ein Überholassistenzsystem. Fortschritt‐
Berichte VDI, Reihe 12, Nr. 727, Dissertation Technische
Universität Darmstadt 2010
[11] Schmitt, K.; Habenicht, S.; Isermann, R.: Odometrie und
Manövererkennung für ein Fahrerassistenzsystem für
Überholsituationen. 1. Automobiltechnische Kolloquium,
München, 2008
[12] Schmitt, K.: Situationsanalyse für ein Fahrerassistenzsys-
tem zur Vermeidung von Überholunfällen auf Landstra-
ßen. Fortschritt‐Berichte VDI, Reihe 12, Nr. 763, Dissertation
Technische Universität 2012
[13] Schmitt, K.; Isermann, R.: Vehicle State Estimation in Cur-
ved Road Coordinates for a Driver Assistance System for
Overtaking Situations. 21st International Symposium on
Dynamics of Vehicles on Roads and Tracks (IAVSD), Stock-
holm, 2009
[14] Hohm, A., Mannale, R., Schmitt, K., Wojek, C.: Vermeidung
von Überholunfällen. Automobiltechnische Zeitschrift
(ATZ) 112(10), 712–718 (2010)
1103 58
Kooperative
Fahrzeugführung
Frank Flemisch, Hermann Winner, Ralph Bruder, Klaus Bengler
-
11 integriert werden? tionsgraden vom Fahrer als integriertes Ganzes
Wie können autonome Fähigkeiten genutzt wahrgenommen und genutzt werden können.
12 werden, ohne an ihren Limitierungen und . Abbildung 58.1 zeigt eine starke Vereinfachung
13 - Risiken zu scheitern?
Wie kann der Mensch, der bisher die Fahr-
zeugführung übernommen hat, weiterhin
mit all seinen Limitierungen und Fähigkeiten
des Gestaltungsraumes der Kontrolle, bei dem aus
einer eindimensionalen Skala der Kontrollvertei-
lung diskrete Assistenz- und Automationsgrade
(Modi) definiert werden: Ein Beispiel dafür sind
-
14 sinnvoll eingebunden werden? die in [1] skizzierten Assistenz- und Automations-
Wie können Mensch und Assistenz- bzw. Au- stufen, beginnend mit einem manuellen Modus, in
15 tomationssysteme effizient und sicher zusam- dem der Mensch die vollständige Kontrolle über die
16 - menarbeiten?
Wie kann eine Bevormundung vermieden
und ausreichende Selbstbestimmtheit und
Wahlmöglichkeiten des Fahrers bei gleichzeitig
Fahrzeugführung und regelung besitzt, bis hin zu
einem hochautomatisierten bzw. temporär vollau-
tomatisierten Bereich, in dem zeitlich begrenzt nur
die Maschine Kontrolle ausübt.
17 hoher Gebrauchstauglichkeit, Datenschutz und Kooperativ bezieht sich auf die wichtigste Qua-
Assistiert/ Hoch-/
Semi- Teil-/Hoch-
Manuell Nieder- temporär Voll-
automatisiert automatisiert
automatisiert automatisiert
.. Abb. 58.1 Auf eine Dimension „Kontrollverteilung Fahrerautomation“ vereinfachter Gestaltungsraum der kooperativen
Fahrzeugführung (orientiert an [1, 2, 3])
Wa
hrn
eh
mu
fahrbezogene ng
Aufgabe
Absicht
Interaktion
Arbitrierung Aktion
Absicht
nicht-
fahrbezogene
Aufgabe
ng
h mu
h rne
Wa
.. Abb. 58.2 Links: Prototypischer Wechsel zwischen Aufgabentypen als Teil einer Kooperation; rechts: Kooperative Führung
von Fahrzeugen als integral ineinandergreifende Führungs- und Regelkreise nach [4]
Bevor in den zwei folgenden Beiträgen auf Wahrnehmung basierend Absichten bilden, die
konkrete Instanziierungen der kooperativen Fahr- dann in kooperative Handlung umgesetzt werden
zeugführung näher eingegangen wird (s. ▶ Kap. 59 (s. . Abb. 58.2). Kooperative Kontrolle und Füh-
und 60), skizziert dieser Übersichtsartikel Grund- rung beinhalten den Fall, dass Mensch und Compu-
konzepte und -philosophie der kooperativen Fahr- ter an der gleichen Kontrollstrecke wirken, was auch
zeugführung. „geteilte Kontrolle/Shared Control“ [7, 8] oder „ge-
teilte Autorität“ [9, 10] genannt wird. Kooperative
Kontrolle beinhaltet aber auch die Möglichkeit, Auf-
58.2 Kooperation gaben ganz oder teilweise an verschiedene Agenten
und Fahrzeugführung delegieren zu können, wie dies z. B. [11] bereits skiz-
ziert; weiterhin kann kooperative Kontrolle Aspekte
„Kooperation“ ist abgeleitet vom lateinischen „co“ von Adaptivität und Adaptierbarkeit beinhalten, wie
(zusammen) und „operatio“ (Arbeit, Arbeiten, Tun) dies z. B. [12] als adaptive Automation beschreiben.
und wird allgemein verstanden als „Zusammenar- Der Gebrauch des Wortes „Kooperation“ im Kon-
beit“ [5] oder „Aktion oder Prozess der Zusammen- text der Mensch-Maschine-Kooperation wurde
arbeit hin zu gemeinsamen Zielen“ [6]. Kooperative bereits durch [11, 13] oder [14] skizziert, in einem
Fahrzeugführung und -regelung wird hier verstan- Rahmenwerk für Mensch-Maschine Kooperation
den als die Zusammenarbeit von mindestens einem generalisiert (z. B. von [15]) und für die Fahrzeug-
Menschen und mindestens einem Computer bei führung angewandt z. B. durch [3, 16, 17, 18, 19]
der Führung eines oder mehrerer Fahrzeuge, wo- und [20]. Weitere Beispiele kooperativer und geteil-
bei sowohl Mensch als auch Automation auf ihrer ter Kontrolle beschreiben auch [8].
1106 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung
1
Umwelt
Mensch-Maschine-System
Navigation Führung Stabilisierung
2 Navigation
Manöver- Trajektorien- Steuerung und
Fahrer
3 Mensch-
Maschine-
Schnittstelle
Eingabe- Eingabe- Eingabe- Eingabe-
4 Aufgabe
gerät gerät gerät gerät
Ergebnis
Fahrzeug
5 Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät
7 Automation
-
als Komplexbegriff durch den Raum,
bzw. Cluster-Konzept
10 nicht notwendigerweise explizite, aber
-
11 zeugführung“ weniger als scharfe Definition gese- ten und Absichten,
hen, sondern vielmehr als Komplexbegriff (Clus- klare, möglicherweise dynamische Verteilung
12
13
terkonzept) verstanden. Das Clusterkonzept geht
zurück auf die fundamentale Kritik an der klassi-
schen Definitionstheorie von Ludwig Wittgenstein
und beschreibt ein Konzept anhand einer Liste und
-- der Kontrolle,
Vermeidung oder Arbitrierung von Konflikten,
Adaptivität und Adaptierbarkeit der Maschine
für eine gute Balance aus Stabilität und Agili-
Beschreibung von damit verbundenen Attributen tät.
14 (siehe z. B. [22, 23]). Daher wird kooperative Fahr-
zeugführung hier so verstanden, dass folgende As-
58.4 Gestaltungsraum
15 pekte jeweils einzeln nicht zwingend erforderlich
der kooperativen
sind, aber zu einer Kooperativität der Fahrzeug-
-
führung beitragen: Fahrzeugführung
16 autonome Fähigkeiten zur Führung, sowohl
auf Seite der Maschine als auch beim Men- Kooperative Aktivitäten können nach Ebenen un-
17
58
- schen;
intuitive Interaktion mit ausreichender äußerer
Kompatibilität, d. h. ausreichende Passung der
äußeren Schnittstellen zwischen Mensch und
terschieden werden, z. B. die Aktions-, Planungs-
und Metaebene [24, 25]: Betrachtet man zunächst
die Aktions- und Planungsebene, kann die Kont-
rolle auf verschiedenen Ebenen der Bewegungsauf-
19
20
- Maschine;
innere Kompatibilität zwischen Mensch und
Maschine, d. h. ausreichende Passung der
inneren, i. d. R. kognitiven Untersysteme des
gabe erfolgen. Dazu wurde ausgehend von den drei
Ebenen „Navigation, Führung und Stabilisierung“
[28] und weiteren Anregungen aus [26, 27, 29], ein
gemeinsames generisches Modell der Fahrzeug-
Menschen und der Maschine; insbesondere: führung mit vier Ebenen entwickelt (. Abb. 58.3).
58.5 • Parallele und serielle Aspekte der kooperativen Fahrzeugführung
1107 58
Fahrer
Steuerung
Manöver- Trajektorien-
Navigation und
führung führung
Regelung
Parallel
Fahrzeug
Seriell
Steuerung
Manöver- Trajektorien-
Navigation und
führung führung
Regelung
Automation
Bereits bei frühen Ansätzen der kooperativen 58.5 Parallele und serielle Aspekte
Fahrzeugführung [30, 31] zeigte es sich von Vor- der kooperativen
teil, die Führungsebene weiter nach Manöver- und Fahrzeugführung
Trajektorienführung zu unterscheiden. Manöver
(ausgeführte Wendung, taktische Bewegung [32]) Kooperative Fahrzeugführung kann über die Ebe-
wird hier, vergleichbar dem Oxford Dictionary [33], nen der Fahrzeugführung verschiedene Formen von
als ein räumlich und zeitlich zusammenhängendes Kontrollflüssen und Verteilungen einnehmen und
Schema der Bewegung des Fahrzeugs in Relation kombinieren. Die für das Verständnis wichtigsten
zur Umgebung verstanden. Ein Beispiel für ein Eigenschaften sind die der Serialität versus Paral-
Fahrmanöver ist der Fahrstreifenwechsel. Die An- lelität (siehe . Abb. 58.4): So können die Koope-
zahl der möglichen Manöver für eine Fahrmission rationspartner Mensch und Maschine seriell, d. h.
ist üblicherweise klein im Vergleich zu den vielen nacheinander agieren, indem z. B. der Mensch der
Möglichkeiten, ein Manöver zu instanziieren, z. B. Maschine einen Auftrag gibt, den die Maschine dann
als Trajektorie – also als Vektor von Ort und Zeit abarbeitet. Ein Beispiel ist die Manöverbeauftragung
einer potenziellen oder realen Bewegung eines aus- über eine gesonderte Manöverschnittstelle, realisiert
gewählten Punktes eines sich bewegenden Objekts, im Konzept Conduct-by-Wire (s. ▶ Kap. 59). Die
z. B. des Schwerpunkts. Kooperationspartner können auch parallel agie-
Ausgehend von ausreichenden Fähigkeiten von ren, z. B. indem sie beide Beiträge zu der gleichen
Mensch und Computer kann auf allen Ebenen der Aufgabe liefern: Ein Beispiel ist die Kooperation auf
Bewegungsaufgabe Kooperation zwischen Fahrer der Steuerungsebene im H-Mode (s. ▶ Kap. 60), bei
und Automation erfolgen: Die Rollenverteilung die- der sowohl der Fahrer als auch der Mensch gleich-
ser Kooperation kann statisch sein, kann sich aber zeitig, aber zu unterschiedlichen Anteilen auf ein
auch dynamisch über die verschiedenen Ebenen än- haptisches Stellteil, z. B. ein aktives Lenkrad oder
dern. Die Kontrollschleifen über die verschiedenen einen aktiven Sidestick wirken. Serielle und paral-
Ebenen beeinflussen einander, unterscheiden sich lele Aspekte können auch kombiniert werden, z. B.
aber auch in ihrer zeitlichen Charakteristik: Übli- im H-Mode, mit dem ein Manöver durch eine Geste
cherweise nimmt die Handlungsfrequenz von der am Stellteil sequenziell beauftragt werden kann, die
vergleichsweise niederfrequenten Navigation hin dann vom Fahrer parallel zur Aktion der Automa-
zur vergleichsweise hochfrequenten Regelung zu. tion noch „mitgefühlt“ und mitbeeinflusst werden
1108 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung
Situation S1 Situation S2
2
Wahrnehmung
[gut]
3 Kontrolle
Aktion
4 Interaktion
base-
system
Situation S3
Aktion
Gestalte,
5 Implementiere
Vorschriften und
Kontrolle
[schlecht]
Evaluiere Kontrolle,
weise
Verantwortung zu
Richtlinien
6 Erfahrungen aus
Wahrnehmung
der
7 Vergangenheit
9 .. Abb. 58.5 Kooperation zu Fähigkeiten, Autorität, Autonomie, Kontrolle und Verantwortung im Lebenszyklus eines koopera-
tiven Fahrzeugführungssystems, nach [10]
10
kann. Die Aspekte der Serialität und Parallelität mie, Kontrolle und Verantwortung, z. B. dass die zu-
können entscheidenden Einfluss auf die Zuverläs- gestandene Autorität nicht höher sein sollte als die
11 sigkeit, Adaptierbarkeit, Adaptivität und Resilienz Fähigkeiten. Weiterhin ergibt sich, dass Kontrolle
des Gesamtsystems, z. B. bei Ausfall von Untersys- nur mit ausreichenden Fähigkeiten und einem Min-
12 temen, haben. destmaß an Autonomie möglich und nur mit einem
Mindestmaß an Autorität sinnvoll ist und dass Fahrer
oder Automation vor allem nur dann die Verantwor-
13 58.6 Zusammenhänge tung übernehmen sollten, wenn ein Mindestmaß an
von Fähigkeiten, Autorität, Fähigkeiten, Autonomie und damit möglicher Kon
14 Autonomie, Kontrolle trolle über eine Situation vorhanden ist. Diese Ab-
und Verantwortung hängigkeiten sind dynamisch, so kann z. B. die Kon
in der kooperativen
15 Fahrzeugführung
trolle der Automation vom Fahrer autorisiert werden,
sinnvollerweise nur dann, wenn die Automation in
der Situation auch über die Fähigkeiten zur Kontrolle
16 Die Dynamik der Kooperation wird entscheidend verfügt. Andererseits sollte Kontrolle dann wieder an
geprägt durch die Fähigkeiten der Partner zur Si- den jeweils anderen Kooperationspartner zurückge-
17 tuationsbeeinflussung und zur Kooperation, der geben werden, wenn die Fähigkeiten zur Kontrolle
von außen während der Entwicklungsphase oder zu gering werden. Entscheidend dabei ist das Situa-
der vom anderen Partner zugestandenen Autori- tionsbewusstsein zu den Fähigkeiten des jeweiligen
58 tät und des Autonomiegrades, der Kontrolle über Partners und der Autoritäts- und Kontrollverteilung,
Sachverhalte der Situation und der im Nachhinein die durch geeignete Mensch-Maschine-Interaktion
19 evaluierten und eingeforderten Verantwortung wie entscheidend verbessert werden kann.
in . Abb. 58.5 dargestellt wird. Eine Übersicht zu diesen Zusammenhängen ge-
20 Dabei ergeben sich Doppel- und Mehrfachbin- ben [10], den Zusammenhang mit der rechtlichen
dungen zwischen Fähigkeiten, Autorität, Autono- Situation skizzieren [1].
Literatur
1109 58
.. Abb. 58.6 Horizontale horizontal
und vertikale Kooperation
in der Fahrzeugführung
vertikal vertikal
horizontal
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1 oxforddictionaries.com/definition/english/cooperation. 343–360 (2014)
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2 and machine: haptic display of automation during manual 23 Gottschalk-Mazouz, N.: Was ist Wissen? Überlegungen zu
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schreibung/Manoever. Letzter Abruf: 16.06.2014
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14 Modes in Car Driving for Safe Lateral Control in Bends:
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oxforddictionaries.com/definition/english/manoeuvre.
Letzter Abruf: 16.06.2014
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15 17 Biester, L.: Cooperative Automation in Automobiles. Diss.,
Humboldt‐Universität zu Berlin, 2008
35 Zimmermann, M., Bengler, K.: A Multimodal Interaction
Concept for Cooperative Driving Intelligent Vehicles Sym-
18 Holzmann, F.: Adaptive Cooperation Between Driver and posium (IV). IEEE, Gold Coast, QLD (2013)
16 Assistant System. Springer, Berlin (2007)
19 Flemisch, F., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler,
J.: Automation Spectrum, Inner/Outer Compatibility and
17 Other Potentially Useful Human Factors Concepts for As-
sistance and Automation. In: de Waard, D., Flemisch, F., Lo-
renz, B., Oberheid, H., Brookhuis, K. (Hrsg.) Human Factors
58 for Assistance and Automation. Shaker, Maastricht (2008)
20 Hakuli, S., Bruder, R., Flemisch, F., Löper, C., Rausch, H.,
Schreiber, M., Winner, H.: Kooperative Automation. In:
19 Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch Fahreras-
sistenzsysteme. Vieweg + Teubner, Wiesbaden (2009)
Conduct-by-Wire
Benjamin Franz, Michaela Kauer, Sebastian Geyer 1, Stephan Hakuli 1
59.1 Einleitung – 1112
59.2 Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug – 1112
59.3 Manöver und Fahrfunktionen – 1113
59.4 Fazit und Ausblick – 1120
Literatur – 1121
1 Der Beitrag zu dieser Veröffentlichung wurde während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Darmstadt erarbeitet.
.. Abb. 59.3 Grundlegende Aufgabenteilung bei Conduct-by-Wire auf Basis des einfachen Informationsverarbeitungsprozes-
ses nach [8]. Darstellung aus [9]
Entdeckung und Erkennung von Reizen aus der Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug [2]. Nach
Umgebung beteiligt sind. Auf Basis der erkannten Eingabe der Parameter werden diese ebenfalls vom
Reize gibt das Fahrzeug dem Menschen einen Ent- Fahrzeug auf Ausführbarkeit überprüft und selbst-
scheidungsraum vor, der die vom Fahrzeug in der ständig umgesetzt, da beispielsweise die tatsächlich
aktuellen Verkehrssituation sicher durchführbaren gefahrene Fahrzeuggeschwindigkeit nicht immer
Manöver beinhaltet (z. B. wird kein Fahrstreifen- der vom Fahrer eingestellten Wunschgeschwindig-
wechsel nach rechts angeboten, wenn kein rech- keit entspricht, sondern sich nach der rechtlichen
ter Fahrstreifen vorhanden ist). Der Fahrer wählt und physikalischen Geschwindigkeitsbegrenzung
anschließend aus diesem Entscheidungsraum richtet.
eine Option aus und übergibt diese mithilfe der
Mensch-Maschine-Schnittstelle an das Fahrzeug.
Das Fahrzeug übersetzt diese Entscheidung mit der 59.3 Manöver und Fahrfunktionen
Hilfe von Fahrfunktionen in Stellgrößen und führt
die Handlung aus. Im Konzept Conduct-by-Wire wird zwischen ex-
Die an das Fahrzeug übergebenen Manöverbe- pliziten und impliziten Manövern unterschieden
fehle können zusätzlich vom Fahrer parametrisiert (vgl. [2, 4, 15]). Explizite Manöver stellen in sich
werden. Hierfür stehen dem Fahrer insgesamt drei abgeschlossene Handlungseinheiten dar, die durch
Parameter zur Verfügung: die Wunschgeschwin- eine Aktion des Fahrers initiiert und im Anschluss
digkeit, die Exzentrizität im Fahrstreifen und die durch das Fahrzeug ausgeführt werden (z. B. ein
1114 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire
.. Abb. 59.4 Darstellung
1 der Übergänge zwischen
einem expliziten und
einem impliziten Manöver
2 sowie beim Übergang von
der bzw. zur herkömm-
lichen Fahrzeugführung [4]
3
4
5
6
7
.. Tab. 59.1 Manöver und Parameter von Con- Die für Conduct-by-Wire relevanten Manöver
wurden auf Basis von bestehenden Arbeiten (u. a.
8 duct-by-Wire (nach [9, 15])
[2]) durch Verwendung der Entscheidungspunkt-
Manöver
analyse (vgl. [4, 15]) identifiziert und für verschie-
9 dem Straßenverlauf folgen
(inklusive bremsen, stehen und
implizit
dene Nutzungskontexte (Autobahn-, Überland- und
anfahren)
Stadtfahrt) definiert. Weiterhin wurden den einzel-
10 geradeaus explizit
nen Manövern Fahrfunktionen zugeordnet, aus de-
nen das Fahrzeug das gewünschte Manöver zusam-
Fahrstreifenwechsel links/rechts explizit mensetzt. Eine Übersicht über alle Manöver und
11 abbiegen (halb) links/rechts explizit Parameter von Conduct-by-Wire kann . Tab. 59.1
entnommen werden. Im nachfolgenden Abschnitt
12 Parameter
wird die Entwicklung und Evaluation der Fahrfunk-
Wunschgeschwindigkeit tionen beschrieben.
13 Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug (1 s; 1,5 s;
2 s; 2,5 s)
59.3.1 Entwicklung und Evaluation
Exzentrizität im Fahrstreifen (20 % der Fahrstreifen-
14 breite links, 10 % links, keine, 10 % rechts, 20 % rechts) der Fahrfunktionen
15 Fahrstreifenwechsel rechts). Wie bereits eingangs Die dem Fahrzeug vom Fahrer übergebenen expli-
beschrieben, wird vor der Ausführung des explizi- ziten Manöverbefehle sowie die implizit vom Fahr-
ten Manövers die aktuelle Ausführbarkeit überprüft zeug ausgewählten Manöver werden von einer als
16 (z. B. überprüft das Fahrzeug bei einem Fahrstrei- Zustandsautomat ausgeführten Manöversteuerung
fenwechsel rechts, ob sich Fremdverkehr im Wech- interpretiert und zur Ausführung den Fahrfunktio-
17 selbereich auf dem Zielfahrstreifen befindet). Nach nen zugewiesen. Der Fahrfunktionskatalog besteht
Durchführung des expliziten Manövers wird vom aus elementaren, verkettbaren und entweder lon-
Fahrzeug selbstständig ein implizites ausgeführt gitudinal oder lateral wirkenden Funktionen, wie
18 (z. B. dem Fahrstreifen folgen). Im Gegensatz zu beispielsweise Geschwindigkeit halten, Einscheren
expliziten Manövern, die über einen definierten vorbereiten, Zielbremsen, Hindernis innerhalb
59 Start- und Endzeitpunkt verfügen, sind implizite der Fahrstreifengrenzen ausweichen, Fahrstreifen
Manöver Handlungseinheiten, die nicht durch den wechseln, Abbiegen u. v. m. Zu jedem Zeitpunkt ist
20 Fahrer initiiert werden und deren Dauer unbegrenzt genau ein Paar aus einer longitudinal und einer la-
ist (siehe . Abb. 59.4). teral wirkenden Funktion aktiv, deren Auswahl, Ak-
59.3 • Manöver und Fahrfunktionen
1115 59
.. Abb. 59.5 Iterativer
Falsifikationsansatz
tivierung, Deaktivierung und Parametrierung die und Lösungsstrategie ergibt einen simulierbaren
Aufgabe der übergeordneten Manöversteuerung ist. Versuchsablauf, der entweder bestanden oder nicht
Um seiner Aufgabe als Interpreter von Manöverein- bestanden wird. Eine erfolgreiche Absolvierung er-
gaben gerecht zu werden, hat der Fahrfunktionska- laubt nicht den Schluss auf die Vollständigkeit von
talog verschiedene Anforderungen zu erfüllen, von Funktionskatalog und Regelsatz, sie beweist ledig-
denen im Folgenden einige exemplarisch vorgestellt lich nicht die Unvollständigkeit und resultiert in
werden. der Erhöhung der Szenarienkomplexität oder der
Vollständigkeit Auswahl eines neuen Szenarios für den nächsten
Der Funktionskatalog hat für jede im zugelas- Test. Im Falle eines nicht erfolgreich absolvierten
senen Diskursbereich auftretende Situation eine Testszenarios gilt es zu überprüfen, ob die Ursache
Fahrfunktion bereitzustellen. Ist dies nicht möglich, in einer unzureichend implementierten Funktion
so hat der kontrollierte Rückfall auf eine manuelle oder im Fehlen einer Fahrfunktion oder eines Funk-
Form der Steuerung zu erfolgen. Da es jedoch un- tionsübergangs zu suchen ist.
zulässig ist, aus einer erfolgreich absolvierten Reihe Sicherheit
von Verkehrsszenarien den Schluss der Eignung Wegen der seriellen Anordnung von Fahrer
in jedweden Szenarien zu ziehen, folgt die Funkti- und Fahrfunktionen, in der dem Fahrer im Ge-
onsentwicklung einem Falsifikationsansatz: Es gilt, gensatz zu einer parallelen Anordnung bei aktiver
die universelle Hypothese der Vollständigkeit des Conduct-by-Wire-Funktionalität der mechanische
vorhandenen Funktionskatalogs und des zugehöri- Zugriff auf die Aktoren fehlt, muss die Implemen-
gen Regelwerks zu widerlegen. Mit anderen Worten tierung den an by-Wire-Systemen gestellten An-
ausgedrückt: Gesucht wird die Verkehrssituation, forderungen zur funktionalen Sicherheit gemäß
die mit dem zur Verfügung stehenden Funktions- ISO 26262 genügen.
umfang nicht absolvierbar ist. Leistungsfähigkeit und Ausführungsqualität
In . Abb. 59.5 ist der zugehörige iterative Ent- Im Vergleich zu einem konventionell geführten
wicklungsprozess dargestellt: Oben rechts begin- Fahrzeug darf die Qualität der Manöverausführung
nend wird der jeweils aktuelle Entwicklungsstand nicht zu Akzeptanzproblemen führen. Während
von Funktionskatalog und Manöversteuerung in bei autonomen Fahrzeugen eine im Vergleich zum
relevanten Testszenarien geprüft, die für die Simu- manuellen Fahren geringere Ausführungsqualität
lation auf die notwendigen Details reduziert und wegen des Mehrwerts aus der vollständigen Ent-
dann als Simulationsfall implementiert werden. kopplung von der Fahrzeugführungsverantwortung
Zu jedem Testfall gehört eine Lösungsstrategie in akzeptabel sein mag, steht die Ausführungsqualität
Form von simulierten ereignis- oder wegabhängi- bei der manöverbasierten Fahrzeugführung im stän-
gen Fahrereingaben. Die Kombination aus Testfall digen Wettbewerb zu dem in der Beobachter- und
1116 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire
scheidungsfindung durch den Fahrer, über einen mit anderen Verkehrsteilnehmern führte. Diese
Entscheidungsvorschlag durch die Automation, Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass eine klare
bis hin zu einer eigenständigen Entscheidungsfin- Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Automation
dung durch die Automation reichen. Unabhängig in Form der Systemausprägungen „Anzeige“ und
von der jeweiligen Systemausprägung ist das Ga- „Entscheidung“ zu bevorzugen ist.
te-Konzept um ein Sicherheitskonzept zu erwei- Insgesamt betrachtet bildet das Gate-Kon-
tern, das das Fahrzeug im Falle einer ausbleiben- zept die Grundlage für die Übertragung des Con-
den Entscheidung der beiden Interaktionspartner duct-by-Wire-Konzepts auf Knotenpunktszenarien
Fahrer oder Automation in einen sicheren Zustand, und somit auch auf komplexere, innerstädtische Sze-
den Stillstand am Gate, überführt. Die technische narien. Die unterschiedlichen Systemausprägungen
Umsetzung dieses Sicherheitsmanövers bietet die können hierbei als mögliche Entwicklungsstufen
Möglichkeit, den menschlichen Fahrer gemäß dem des entwickelten Interaktionskonzepts angesehen
Gestaltungsgrundsatz einer kooperativen Interak- werden. Beginnend mit einem niedrigen Automa-
tion zu integrieren, indem für die Entscheidungs- tisierungsgrad könnte die Migration vom heutigen
findung ausreichend Zeitpotenzial zur Verfügung assistierten zum teilautomatisierten Fahren erfol-
gestellt wird. Eine bevorzugte Regelstrategie stellt gen. In Abhängigkeit der Systemerfahrung der Nut-
beispielsweise die „Signalverzögerung“ dar [17]: zer und der technischen Entwicklung, insbesondere
Durch eine erste, leichte Verzögerung wird dem im Bereich der maschinellen Umfeldwahrnehmung,
Fahrer der Beginn des Annäherungsmanövers und ist eine Steigerung des Automationsgrades und so-
somit die Entscheidungsaufforderung signalisiert, mit eine Erweiterung des Funktionsumfangs der
ohne die Ausführung des aktuellen Manövers zu Automation denkbar. Aufbauend auf dem in die-
stark zu stören. Die zweite Verzögerungsstufe ent- sem Abschnitt vorgestellten Gate-Konzept wird im
spricht der für die Zielbremsung zum Gate erforder- nächsten Abschnitt die Entwicklung und Evaluation
lichen Verzögerung. einer konkreten Manöverschnittstelle für Conduct-
Eine Simulatorstudie mit 42 Probanden zeigt by-Wire vorgestellt. Hierbei basiert die Entwicklung
Unterschiede in der Bewertung verschiedener Sys- und Evaluation auf der höchsten Automationsstufe
temausprägungen des Gate-Konzepts durch poten- des Gate-Konzepts – Entscheidungsfindung durch
zielle Nutzer [17]: In dieser Studie konnten alle Pro- die Automation – so dass der Fahrer nur Entschei-
banden die ausgewählten repräsentativen Szenarien dungen bezüglich des zu fahrenden Manövers tref-
im Falle des niedrigsten – Anzeige des nächsten Ga- fen muss (z. B. „links abbiegen“). Die Durchführung
tes durch Automation und Entscheidung durch den der Manöver erfolgt durch das Fahrzeug.
Fahrer – und höchsten – eigenständige Entschei-
dungsfindung durch die Automation – untersuchten
Automationsgrades sicher absolvieren. Jedoch lässt 59.3.2 Entwicklung und Evaluation
sich der mittlere Automationsgrad, bei dem der Fah- der Manöverschnittstelle
rer zusätzlich zur Anzeige des nächsten Gates einen
Entscheidungsvorschlag von der Automation erhält, Vor allem in komplexen Kreuzungssituationen (z. B.
aufgrund der schlechteren Ergebnisse im Vergleich Manöver rechts abbiegen ist mehrfach vorhanden)
zu den anderen Systemausprägungen kritisch dis- können Manöver nicht mehr oder nur aufwendig
kutieren. So führt dieser Automationsgrad im Ver- mit herkömmlichen Bedienelementen (Lenkrad
gleich zum niedrigsten Automationsgrad, bei dem und Pedale) an das Fahrzeug übergeben werden [9].
der Fahrer die Entscheidung ohne Unterstützung Daher wurden seit 2008 verschiedene Interaktions-
der Automation trifft, zu längeren Entscheidungs- konzepte für Conduct-by-Wire iterativ entwickelt
zeiten. Andererseits wird diese Systemausprägung und evaluiert, die eine Manövereingabe zunächst
von einigen Probanden nicht wirklich angenom- auf der Autobahn und später auch in den bereits
men, wie die Betrachtung des Entscheidungszeit- beschriebenen komplexen Kreuzungssituationen
punkts zeigt oder führt gar zu sicherheitskritischen ermöglichen (u. a. [4, 9], [18]–[20]). Ausgehend
Irritationen, die in wenigen Fällen zu Kollisionen von Standards und Normen wurden zunächst Emp-
1118 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire
.. Abb. 59.9 Kontaktanaloges Head-up-Display der Gestaltungslösung pieDrive (nach [20]). Die auf dem Eingabegerät
dargestellten Inhalte dienen der Erklärung und sind in der umgesetzten Mensch-Maschine-Schnittstelle nicht sichtbar. 1: Das
Manöver „dem Straßenverlauf folgen“ ist aktiv und der Fahrer beginnt eine Manövereingabe. 2: Der Fahrer hat das Manöver
„Fahrstreifenwechsel links“ ausgewählt. 3. Der Fahrer hat den Fahrstreifenwechsel beauftragt, der nun aktiv ist.
der Wunschgeschwindigkeit um ein Kreissegment durch vier vertikale Balken sowie durch die Position
sowie ein Dreieck ergänzt, weiterhin wird um den des stilisierten Fahrzeugsymbols verdeutlicht.
numerischen Wert Geschwindigkeitsbegrenzung Zur Verdeutlichung des aktiven Manövers wird
ein Kreissymbol eingeblendet. zusätzlich zu dem Highlight im Manövermenü
Zwischen den drei Geschwindigkeiten wird die die zukünftige Fahrzeugtrajektorie über einen auf
Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug mithilfe der Straße aufliegenden Pfeil dargestellt (siehe
von maximal vier horizontalen Balken sowie einem . Abb. 59.9). Hierbei erfolgt die Darstellung der
stilisierten Fahrzeugsymbol angezeigt. Die Anzahl Trajektorie ortskorrekt.
der Balken repräsentiert hierbei die eingestellte Zeit- Um einen Manöverbefehl an das Fahrzeug zu
lücke (1 Balken: 1 s bis 4 Balken: 2,5 s). Das stilisierte übergeben, legt der Fahrer einen Finger auf das
Fahrzeugsymbol wird zusätzlich genutzt, um die Ex- Touchpad (siehe . Abb. 59.9 links). Im Head-up-
zentrizität des Fahrzeugs im Fahrstreifen darzustel- Display wird daraufhin der innere Kreis des Manö-
len. Die eingestellte Exzentrizitätsstufe wird hierbei vermenüs hellgrün hervorgehoben, anschließend
1120 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire
bewegt der Fahrer den Finger in Richtung des ge- neuen Manövern das Verkehrsgeschehen im Auge
1 wünschten Manöversegments (siehe . Abb. 59.9 und kann gegebenenfalls darauf reagieren.
Mitte). Ist ein Manöversegment erreicht, wird es im
2 Head-up-Display hellgrün hervorgehoben. Zusätz-
lich wird dem Fahrer im Head-up-Display über ei- 59.4 Fazit und Ausblick
nen zweiten auf der Straße aufliegenden, gestrichel-
3 ten Pfeil ortskorrekt angezeigt, welche Trajektorie Alle bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass
das Fahrzeug bei der Beauftragung des ausgewähl- es sich bei Conduct-by-Wire um ein vielverspre-
4 ten Manövers fahren würde. Zur Beauftragung des chendes Konzept zur teilautomatisierten Fahrzeug-
gewählten Manövers wird der Finger anschließend führung handelt. Dabei liegt die Stärke des Kon-
5 über dem zugehörigen Manöversegment abgeho- zepts in der Entlastung des Fahrers von eintönigen
ben (siehe . Abb. 59.9 rechts). Alternativ kann die und wenig anspruchsvollen Aufgaben, ohne einen
Auswahl durch die Wahl eines anderen Manöver- kompletten Rückzug aus der Fahraufgabe zu ermög-
6 segments korrigiert oder durch ein Abheben des lichen.
Fingers im inneren Halbkreis (Startzone) abgebro- Die bisherigen Studien ermöglichen zwar ein
7 chen werden. erstes Fazit, zeigen jedoch noch weiteren For-
Das pieDrive-Interaktionskonzept wurde in schungsbedarf zu dem Konzept auf (vgl. [9]): So
mehreren Fahrsimulatorstudien validiert (siehe wurden bisher nur kürzere Fahreinheiten oder
8 [9]): Hierbei fand unter anderem eine Überprü- wenige Fahrten untersucht – ohne jedoch zu un-
fung des Konzepts in einer Studie mit vier Untersu- tersuchen, wie sich das Fahrerverhalten ausschließ-
9 chungstagen pro Teilnehmer statt, um Veränderun- licher Verwendung von Conduct-by-Wire über
gen im Fahrerverhalten über die Zeit untersuchen längeren Zeitraum verändert. Hier ist durchaus
10 zu können. Es zeigte sich, dass die Probanden trotz denkbar, dass Fahrer Strategien entwickeln, um
einer ausschließlich theoretischen Einführung in über möglichst lange Strecken nicht an der Fahr-
das Konzept nur sehr kurze Lernzeiten benötigten, aufgabe beteiligt zu sein. Dies würde jedoch in ei-
11 um die Bedienung des Interaktionskonzepts zu be- nem Rückzug aus der Fahraufgabe resultieren und
herrschen. Dies wurde vor allem in einer signifikan- die Gesamtsicherheit des Systems senken, da der
12 ten Reduktion der Anzahl der von den Probanden Fahrer nicht mehr als Kontrollinstanz zur Verfü-
falsch eingegebenen Manöver deutlich, die notwen- gung stünde.
dig waren, um der vorgegebenen Zielroute zu folgen Weiterhin basieren alle dargestellten Ergebnisse
13 (Fehler an Entscheidungspunkten). Hierbei konnte auf Fahrsimulatorstudien, so dass noch keine Aus-
bereits in der ersten Versuchsfahrt eine signifikante sagen über die Funktionalität des Conduct-by-Wi-
14 Reduktion gezeigt werden. Die letzte der Versuchs- re-Systems im Realverkehr getroffen werden
fahrten erfolgte bei allen Probanden fehlerfrei; wei- können. Dies gilt sowohl für die erreichbare Zu-
15 terhin traten mit pieDrive keine Eingabefehler durch verlässigkeit eines solchen Systems, als auch für die
eine falsche Zuordnung der Fahrereingaben auf. notwendige Flexibilität in Handlungsausführung
Zusätzlich zeigte sich, dass es allen Fahrern bei abweichenden Verkehrsbedingungen.
16 möglich war, mit Conduct-by-Wire und pieDrive Auch wenn bisher versucht wurde, reale Ver-
alle Streckenelemente und alle simulierten Ver- kehrssituationen möglichst breit abzubilden, lag bis-
17 kehrssituationen innerhalb der Versuche zu bewäl- her der Fokus der Entwicklung auf der Fahrer-Fahr-
tigen. Dies gilt sowohl für die Fahrt auf Autobahnen zeug-Interaktion sowie den Fahrfunktionen für den
als auch auf Überlandstraßen und im Stadtverkehr. Standardfall. Besondere Szenen (z. B. Kreisverkehr
18 Die Analyse der Blickbewegungen zeigte außer- mit mehreren Fahrstreifen) oder kritische Situatio-
dem, dass die Trennung von Ausgabe- (Head-up- nen (z. B. Vorfahrt wird durch ein anderes Fahrzeug
59 Display) und Eingabeelement (Touchpad) äußerst genommen) wurden bisher nur am Rand betrachtet.
wirksam war, um die Blickabwendungszeiten von Der Umgang mit Nicht-Standardsituationen trägt
20 der Straße auf ein Minimum zu reduzieren. Damit jedoch einen wesentlichen Teil zu der Brauchbarkeit
behält der Fahrer auch während der Eingabe von des Systems im realen Straßenverkehr bei.
Literatur
1121 59
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Con- (Hrsg.) Handbuch der Ergonomie: Erg.‐Lfg. 7. Carl Hanser,
München (2002)
duct-by-Wire ein vielversprechendes Fahrzeugfüh-
13 Price, H.E.: The Allocation of Functions in Systems. Human
rungskonzept ist, das in der aktuellsten Umsetzung Factors: The Journal of the Human Factors and Ergonomics
einige Probleme der Interaktion mit bisherigen As- Society 27(1), 33–45 (1985)
sistenzsystemen löst (z. B. keine Priorisierung von 14 Sheridan, T.B.: Supervisory Control. In: Handbook of Hu-
Systemrückmeldungen mehr nötig, keine Blickab- man Factors and Ergonomics, S. 1025–1052. John Wiley &
Sons Inc, Hoboken, New Jersey (2006)
wendungszeiten wegen uneinheitlichen Bedienkon-
15 Schreiber, M., Kauer, M., Schlesinger, D., Hakuli, S., Bruder,
zepts). Zeitgleich weisen die bisherigen Forschungs- R.: Verification of a Maneuver Catalog for a Maneuver‐Ba-
ergebnisse darauf hin, dass Conduct-by-Wire als sed Vehicle Guidance System. In: Systems Man and Cyber-
Migrationsschritt zum vollautomatisierten Fahren netics (SMC), S. 3683–3689. IEEE International Conference,
geeignet sein könnte. Istanbul (2010)
16 Geyer, S., Hakuli, S., Winner, H., Franz, B., Kauer, M.: De-
velopment of a cooperative system behavior for a highly
automated vehicle guidance concept based on the Con-
Literatur duct‐by‐Wire principle. In: 2011 IEEE Intelligent Vehicles
Symposium (IV), S. 411–416. IEEE, New York (2011)
1 Winner, H., Heuss, O.: X‐by‐Wire Betätigungselemente 17 Geyer, S.: Entwicklung und Evaluierung eines kooperati-
– Überblick und Ausblick. In: Darmstädter Kolloquium ven Interaktionskonzepts an Entscheidungspunkten für
Mensch und Fahrzeug. Cockpits für Straßenfahrzeuge der die teilautomatisierte, manöverbasierte Fahrzeugführung.
Zukunft, S. 79–115. (2005) VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
2 Schreiber, M., Kauer, M., Bruder, R.: Conduct by Wire – Ma- 18 Kauer, M., Schreiber, M., Bruder, R.: How to conduct a car?
neuver Catalog for Semi‐Autonomous Vehicle Guidance. A design example for maneuver based driver‐vehicle inter-
In: Intelligent Vehicles Symposium, 2009 IEEE, S. 1279– action. In: 2010 IEEE Intelligent Vehicles Symposium (IV), S.
1284. IEEE, Xi'an, China (2009) 1214–1221. IEEE, San Diego, CA (2010)
3 Donges, E.: Aspekte der aktiven Sicherheit bei der Füh- 19 Franz, B., Kauer, M., Blanke, A., Schreiber, M., Bruder, R.,
rung von Personenkraftwagen. Automobilindustrie 27(2), Geyer, S.: Comparison of Two Human‐Machine‐Interfaces
183–190 (1982) for Cooperative Maneuver‐Based Driving. Work: A Journal
4 Schreiber, M.: Konzeptionierung und Evaluierung eines of Prevention, Assessment and Rehabilitation 41(1), 4192–
Ansatzes zu einer manöverbasierten Fahrzeugführung im 4199 (2012)
Nutzungskontext Autobahnfahrten. Dissertation, Institut 20 Franz, B., Kauer, M., Bruder, R., Geyer, S.: pieDrive – a New
für Arbeitswissenschaft, TU Darmstadt, 2012 Driver‐Vehicle Interaction Concept for Maneuver‐Based
5 Winner, H., Hakuli, S., Bruder, R., Konigorski, U., Schiele, Driving. In: Proceedings of the 2012 International IEEE In-
B.: Conduct‐by‐Wire – ein neues Paradigma für die Wei- telligent Vehicles Symposium Workshops. IEEE, Alcalá de
terentwicklung der Fahrerassistenz. In: 4. Workshop Fah- Henares, Spanien (2012)
rerassistenzsysteme, S. 112–125. Freundeskreis Mess- und 21 Franz, B., Kauer, M., Schreiber, M., Blanke, A., Distler, S., Bru-
Regelungstechnik Karlsruhe e.V., Karlsruhe (2006) der, R., Geyer, S.: Maneuver‐Based Driving Today and in the
6 Chapanis, A.: On the allocation of functions between men Future – Development of a New Human‐Machine Inter-
and machines. Occupational Psychology 39, 1–11 (1965) face for Conduct‐by‐Wire. In: Fahrer, Fahrerunterstützung
7 Parasuraman, R., Sheridan, T., Wickens, C.: A model for types und Bedienbarkeit VDI‐Bericht, Bd. 2134, VDI Velag GmbH,
and levels of human interaction with automation. Systems, Braunschweig (2011)
Man and Cybernetics, Part A: Systems and Humans, IEEE
Transactions on 30(3), 286–297 (2000)
8 Luczak, H.: Untersuchungen informatorischer Belastung
und Beanspruchung des Menschen. VDI‐Verlag, Düsseldorf
(1975)
9 Franz, B.: Entwicklung und Evaluation eines Interaktions-
konzepts zur manöverbasierten Führung von Fahrzeugen.
Dissertation, Institut für Arbeitswissenschaft, Technische
Universität Darmstadt, Darmstadt, 2014
10 Edwards, E., Lees, F.P.: Man and computer in process cont-
rol. Institution of Chemical Engineers, London (1973)
11 Fitts, P.M.: Human engineering for an effective air‐naviga-
tion and traffic‐control system (1951)
12 Kraiss, K., Schmidtke, H.: Funktionsteilung Mensch‐Ma-
schine. In: Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung
1123 60
H-Mode 2D
Eine haptisch-multimodale Bedienweise für die kooperative
Führung teil- und hochautomatisierter Fahrzeuge
60.1 Einleitung – 1124
60.2 Von der H-Metapher zum H-Mode – 1124
60.3 Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode – 1125
60.4 Systemarchitektur und Funktionsweise – 1129
60.5 Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse – 1134
60.6 Fazit und Ausblick – 1136
Literatur – 1136
Vorbild des H-Modes ist die Beziehung zwischen im Fahrstreifen. In diesem assistierten Modus
Mensch und Reit- oder Kutschpferd: Ein Pferd ver- übernimmt der Fahrer ein hohes Maß an direkter
fügt über eine leistungsfähige Sensorik, Kognition Kontrolle, d. h. seine lateralen und longitudinalen
und Aktorik, um sich autonom bewegen zu können; Stellaktionen werden sehr direkt auf das Fahrzeug
ein Reiter bzw. Kutscher kann in variablen Autono- übertragen. Die Aufgabe der Automation ist in die-
miegraden über Zügel auf die Bewegung des Pfer- sem Modus, den Menschen durch haptische Hin-
des Einfluss nehmen, wobei das Pferd selbstständig weise in entsprechende Richtungen zu unterstützen
auftretende Hindernisse vermeiden, den vorgege- – dies können z. B. Fahrstreifen-zentrierende Kräfte
benen Weg verfolgen oder direkter den Vorgaben bzw. Momente auf das Lenkrad sein.
des Reiters folgen wird. Dieser Vergleich wurde im Im teilautomatisierten „Loose Rein“ („lo-
Laufe der Jahre und mehrerer Forschungskoopera- ckerer Zügel“) wird sowohl die Längs- als auch
tionen zu einer Designmetapher ausgebaut – und die Querführung auf Trajektorien- sowie Stabili-
beschreibt als H(orse)-Metapher die grundlegenden sierungsebene weitgehend von der Automation
Rollen und Interaktionsformen für teil- und hoch- übernommen. Hierbei bleibt der Mensch jedoch
automatisierte, kooperativ kontrollierte Fahrzeuge sinnvoll eingebunden, z. B. indem er das zu fah-
und deren Anwender [6]. rende Manöver und die Randbedingungen – wie
Auf Grundlage der H-Metapher entstand das die Geschwindigkeit – beeinflusst. Unter anderem
Konzept des H-Modes, der die haptisch-multimo- kommen dabei Systeme zum Einsatz, die mit einem
dale Interaktion und Durchführung der Fahraufgabe aktiven Spurhalteassistenten (LKAS) und einer
durch den Menschen und ein hochautomatisiertes Abstandsregelung (ACC) vergleichbar sind, aber,
Fahrzeug beschreibt. Während die H-Metapher eine wie nachfolgend beschrieben, deutlich darüber
eher übergeordnete, metaphorische Beschreibung hinausgehen können. Im „Loose Rein“ werden die
einer kooperativen Fahrzeugführung darstellt, ist entsprechenden Stellaktionen durch die Automa-
der H-Mode eine konkrete Umsetzung der koope- tion sehr direkt auf das Fahrzeug übertragen, sind
rativen Fahrzeugführung als haptisch-multimodale jedoch in der Regel auf einem haptischen Stellteil,
Interaktionssprache für teil- und hochautomati- z. B. einem aktiven Lenkrad, Gaspedal und/oder
sierte Fahrzeuge. Sidestick, spürbar.
„Secured Rein“ („gesicherter Zügel“) beschreibt
das hoch- bzw. temporär-vollautomatisierte Fahren
60.3 Kooperative Fahrzeugführung – vergleichbar dem von Kutschfahrern auf siche-
mit dem H-Mode ren Strecken manchmal praktizierten Ablegen des
Zügels – auf Fahrzeuge übertragen. Hier kann der
Ein Aspekt der H-Metapher und damit des H-Mo- Mensch für eine definierte Zeit aus dem Führungs-
des ist die Beschreibung unterschiedlicher Auto- kreis aussteigen, während das Fahrzeug sonstige
mationsgrade und die Verteilung der Autorität Aspekte der Fahraufgabe autonom übernimmt.
zwischen Fahrer und Automation. Am Beispiel des Damit ein solcher Modus genutzt werden kann,
Zusammenarbeitens von Pferd und Reiter lässt sich muss bereits eine ausreichende Kommunikation
veranschaulichen, dass je nach Situation der Ein- zwischen Fahrzeug, Automation und Umwelt vor-
fluss auf die Bewegung unterschiedlich verteilt sein herrschen, da es einige Zeit dauern kann, bis der
kann; dieser Gedanke kann auf die automatisierte Mensch bei unvorhergesehenen Situationen wieder
Fahrzeugführung übertragen werden. aufmerksam in die Ausführung der Fahraufgabe
Im H-Mode kommen je nach Umsetzungsgrad integriert werden kann. Eine Möglichkeit, eine
zwei bis drei verschiedene Assistenz- und Automa- zuverlässige temporär vollautomatisierte Fahrt zu
tionsstufen zum Einsatz: In der Stufe „Tight Rein“ gewährleisten, könnte auf einer speziell zertifizier-
(„fester Zügel“) steuert der Mensch das Fahrzeug ten Straße, einer sogenannten „Secured Lane“, rea-
weitgehend alleine und erhält von der Automation lisiert werden. Ein entsprechendes Konzept wurde
Handlungsempfehlungen, bspw. in Bezug auf Ge- bspw. mit der „eLane“ im Projekt CityMobil vor-
schwindigkeitsänderungen oder Positionierung gestellt [7].
1126 Kapitel 60 • H-Mode 2D
automated
Manual Rein
ACC +
Fully
2 Assisted/
Lowly automated
Semi-
automated
Partially/
highly automated
Highly/temporarily
fully automated
(driver in the loop) (driver out of the
loop)
3
.. Abb. 60.1 Assistenz- und Automationsspektrum mit H-Mode-Automationsmodi
4
5
6
7
.. Abb. 60.2 Fahren im Tight Rein/niederautomatisiert
8
9 1
10 1 2 3
1
11 3 2
12 .. Abb. 60.3 Annähern an ein anderes Fahrzeug in „Tight Rein“
1 2 3 1
3 2
.. Abb. 60.4 Virtuellles Kiesbett/Lane Departure Prevention/Mitigation System in „Tight Rein“/niederautomatisiert
Griff
lockern
Eine alltägliche Situation im Straßenverkehr Fahrzeug kurz vor dem Abkommen von der Fahr-
ist das Annähern an ein vorausfahrendes Fahrzeug bahn, so wird die Automation versuchen zu brem-
(. Abb. 60.3). Das eigene Fahrzeug fährt bspw. mit sen (. Abb. 60.4, Phase 2). Bevor oder wenn das
einer höheren Geschwindigkeit als das vorausfah- Fahrzeug von der Fahrbahn abkommt, greift die
rende Fahrzeug; in dieser Situation ist eine Anpas- Automation ein und lenkt das Fahrzeug wieder zu-
sung des Fahrverhaltens in Bezug auf die Geschwin- rück auf die Fahrbahn (. Abb. 60.4, Phase 3); dies
digkeit bzw. die Wahl des Fahrstreifens nötig. kann auch mit kurzzeitigem Entkoppeln des Fahrers
Wenn der linke Fahrstreifen frei und ein Fahr- verbunden sein. Ist die Situation gelöst, wird dem
streifenwechsel erlaubt ist, schlägt die Automation Fahrer die Kontrolle zurückgegeben.
dem Fahrer in „Tight Rein“ vor, den Fahrstreifen Der Fahrer kann von „Tight Rein“ zum teil-
zu wechseln, z. B. mit einem schwachen Impuls im bzw. hochautomatisierten „Loose Rein“ wechseln,
Lenkrad („Tick“) sowie der Anzeige von Fahrstrei- indem er entweder den „Loose Rein“ Knopf am
fenwechseltrajektoren (. Abb. 60.3, Phase 1). Wech- Automationsdisplay drückt oder einfach den Griff
selt der Fahrer nicht rechtzeitig den Fahrstreifen, um das Lenkrad lockert und die Aktionen am
beginnt die Automation die Geschwindigkeit her- Lenkrad reduziert – bzw. in Richtung der Auto-
unterzusetzen, z. B. mit zunehmender Gegenkraft mationsaktionen harmonisiert (. Abb. 60.5). Die
auf dem Gaspedal (. Abb. 60.3, Phase 2). Wenn der Automation erkennt dieses Sich-Zurückziehen des
Fahrer immer noch nicht reagiert und eine Kollision Fahrers und übernimmt fließend die Kontrolle,
droht, greift die Automation mit einer Bremsung wobei der Fahrer diese Kontrolltransition jeder-
und einem Warnhinweis ein, vergleichbar mit einer zeit unterbrechen kann. Es ist noch eine offene
automatischen Notbremse (. Abb. 60.3, Phase 3). Forschungsfrage, ob diese fluide Transitionsmög-
Eine weitere kritische Situation ist das un- lichkeit vorher, z. B. bei Fahrbeginn, vom Fahrer
beabsichtigte Abkommen von der Fahrbahn explizit autorisiert wird (z. B. durch Drücken eines
(. Abb. 60.4). Wenn die Gefahr besteht, dass das Fluid-Knopfes, wie in . Abb. 60.5 dargestellt) oder
Fahrzeug mit seinem aktuellen Kurs von der Fahr- von Anfang an eingestellt ist und vom Fahrer ab-
bahn abkommen kann, so wird die Automation geschaltet werden kann.
den Fahrer z. B. durch einen schwachen Impuls In „Loose Rein“ fährt vor allem die Automa-
im Lenkrad „Tick“ darauf hinweisen, den Kurs zu tion, während der Fahrer in die Fahrzeugführung
korrigieren (. Abb. 60.4, Phase 1). Bleibt der Fah- eingebunden bleibt. In diesem Automationsmodus
rer weiterhin auf dem gleichen Kurs und steht das bringt der Fahrer allenfalls leichte Zusatzmomente
1128 Kapitel 60 • H-Mode 2D
1 am Lenkrad
Manöver durch
Spurablage Lenkgeste
2 anpassen einleiten
Geschwindigkeit /
3 Abstand anpassen
8 1
Ursprüngliche
Planung
1 2
9
3
3
10 2 Lenkgeste
(+Blinker) Endgülge
Planung
12 am Lenkrad auf, kann Geschwindigkeit, Abstand mation die Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs
und Ablage von der Fahrstreifenmitte durch leichte (. Abb. 60.7, Phase 2b) und versucht dem voraus-
Eingaben am Lenkrad und Gaspedal anpassen oder fahrenden Fahrzeug in einem sicheren, vom Fah-
13 Manöver – wie einen Fahrstreifenwechsel – durch rer anpassbaren Abstand zu folgen (. Abb. 60.7,
gestenhaft angedeutete Bewegung der Stellteile ini- Phase 3) – vergleichbar einem Abstandsassistenten
14 tiieren (. Abb. 60.6). (ACC) mit starkem LKAS.
Am Beispiel des Annäherns an ein Fahrzeug Eine Gabelung stellt einen weiteren Anwen-
15 auf der Autobahn erhält der Fahrer in „Loose Rein“, dungsfall für die kooperative Fahrzeugführung dar.
wenn der linke Fahrstreifen frei und ein Fahrstrei- Die Automation plant auf Basis von Navigationsda-
fenwechsel erlaubt ist, den Vorschlag, das vorausfah- ten eine Route und davon ausgehend die Trajektorie
16 rende Fahrzeug zu überholen – z. B. durch Anzeige (. Abb. 60.8, Phase 1). In diesem Beispiel entspricht
einer Fahrstreifenwechseltrajektorie und durch ei- das dem linken Weg und dieser würde, falls der Fah-
17 nen unaufdringlichen schwachen Impuls am Lenk- rer keine alternative Lösung präferiert, von der Au-
rad (. Abb. 60.7, Phase 1.). Deutet der Fahrer eine tomation abgefahren. Interagiert nun der Fahrer mit
Lenkbewegung in die entsprechende Richtung an dem Fahrzeug, indem er das Lenken nach rechts an-
18 (Manövergeste, . Abb. 60.7, Phase 2a), wird das ent- deutet (Lenkgeste) oder eine andere Fahrtrichtung
sprechende Überholmanöver durch die Automation anzeigt („blinkt“; . Abb. 60.8, Phase 2), erkennt die
19 durchgeführt. Dies kann je nach Ausführung durch Automation seine Intention und plant auf den rech-
ein notwendiges Betätigen des Fahrtrichtungsanzei- ten Weg um (. Abb. 60.8, Phase 3).
60 gers weiter abgesichert werden. Initiiert der Fahrer In dafür geeigneten Situationen bietet die Au-
keinen Fahrstreifenwechsel, verringert die Auto- tomation „Secured Rein“ an, den der Fahrer aus
60.4 • Systemarchitektur und Funktionsweise
1129 60
Bei zwei
Secured Lanes:
Überholen
Bei einer
Secured Lane:
Fahrzeug folgen
Fest greifen
und /oder
Hinfassen akv lenken
.. Abb. 60.10 Transitionen; links: „Secured Rein“ nach „Loose Rein“, rechts: „Loose Rein“ nach „Tight Rein“
„Loose Rein“ heraus dadurch aktiviert, indem kann, indem er die Hände vom Lenkrad nimmt.
er die Hände komplett vom Lenkrad wegnimmt Anschließend kann der Fahrer vom „Loose Rein“
(. Abb. 60.9). In „Secured Rein“ fährt die Automa- in den „Tight Rein“ wechseln: Ergreift der Fahrer
tion komplett eigenständig, der Fahrer kann andere stärker oder mit beiden Händen das Lenkrad und
Dinge tun. Die Idee dahinter ist, dass in Fahrum- erhöht seine Aktionen am Lenkrad, so erkennt dies
gebungen mit besonderer technischer Ausstattung die Automation und übergibt wieder fließend die
und -härtung eine temporäre Vollautomation auf Kontrolle an den Fahrer (. Abb. 60.10, rechts).
einer sogenannten „Secured Lane“ (in anderen
Projekten eLane bzw. iLane genannt) sichergestellt
werden kann. In diesem Falle übernimmt die Fahr- 60.4 Systemarchitektur
zeugautomation alle Fahrzeugführungsaufgaben und Funktionsweise
– von der automatisierten Auswahl von Fahrmanö-
vern bis hin zur Steuerung und Regelung. Als Umsetzung einer kooperativen Fahrzeugfüh-
Nähert sich das Fahrzeug einem anderen rung basiert der H-Mode auf den grundlegenden
Fahrzeug an (. Abb. 60.9), so wird die eigene Ge- Erkenntnissen, Prinzipien und Wirkmechanismen
schwindigkeit auf die Geschwindigkeit des voraus- zur gemeinsamen bzw. kooperativen Führung von
fahrenden Fahrzeugs angepasst. Wenn eine zweite, Bewegung, wie im Kapitel „Kooperative Fahrzeug-
parallele „Secured Lane“ zur Verfügung steht, kann führung“ ▶ Kap. 58 erläutert. Um den H-Mode in
die Automation auch selbstständig den Fahrstreifen Grundzügen umsetzen zu können, ist eine Kom-
wechseln. bination von automatischer Abstandsregulierung
Der Fahrer kann im „Secured Rein“ zum teil- (ACC) und Spurhalteassistenz (LKAS) bereits ein
bzw. hochautomatisierten „Loose Rein“ wechseln, guter Startpunkt: Auf diese Art und Weise lässt sich
indem er entweder den „Loose Rein“ Knopf am bereits eine integrierte longitudinale und laterale
Automationsdisplay drückt (vgl. . Abb. 60.2 bis Automation implementieren, welche um ein geeig-
. Abb. 60.10) oder mit mindestens einer Hand das netes Interaktionskonzept erweitert eine erste Stufe
Lenkrad ergreift (. Abb. 60.10, links). Die Automa- des H-Modes ergeben würde. Durch eine koopera-
tion erkennt dieses aktive Zugreifen und übergibt tive Systemarchitektur kann das Potenzial des hier
fließend wieder mehr Kontrolle, wobei der Fahrer vorgestellten Konzepts deutlich leistungsfähiger
diese Kontrolltransition jederzeit unterbrechen ausgeschöpft und realisiert werden. Wie im Kapitel
1130 Kapitel 60 • H-Mode 2D
1
Umwelt
Mensch-Maschine-System
2 Fahrer
- - -
Navigation Manöver- Trajektorien- Steuerung und
führung führung Regelung
3
Haptisch-Multimodale Schnittstelle
4 - Interakonsmediator Ergebnis
HMI
Mode Selecon
Aufgabe Maneuver Trajectory Control Fahrzeug
5
and
Selection and Adaption and Arbitration Unit
Arbitraon Unit
Arbitration Unit Arbitration Unit (Coupling Valve)
6 Automation
Navigations Manöver- Trajektorien-
Steuerungs-und
-rechner Regelungs-
US US
- - - rechner
7
Navigation Führung (Manöver / Trajektorien) Stabilisierung
8
9 .. Abb. 60.11 Kooperative Fahrzeugführung im H-Mode
10 zur kooperativen Fahrzeugführung vorgestellt, be- rung der Bewegungsaufgabe. Trotzdem bewegen
ruht eine solche Architektur auf den zwei Partnern sich beide gemeinsam und ergänzen sich durch
Fahrer und Automation, welche nach definierten ihre jeweiligen Fähigkeiten. Eine leistungsfähige
11 Regeln und Abfolgen in den Gesamtregelkreis der Automation ist Voraussetzung, um die kooperative
Fahrzeugführung eingebunden sind. Im vorherigen Fahrzeugführung im H-Mode umzusetzen.
12 Abschnitt wurden exemplarisch Nutzungsfälle die- Im H-Mode ist die Automation zur kooperativen
ser gemeinsamen Steuerung aufgezeigt und damit Fahrzeugführung kognitiv, d. h. vergleichbar und
verbundene Aspekte der Mensch-Maschine-Inter- kompatibel zur biologischen Kognition, aufgebaut.
13 aktion vorgestellt. Im Folgenden werden die Bau- Dadurch wird erreicht, dass sie sowohl innerlich als
steine der H-Mode-Interaktion und -Automation auch äußerlich kompatibel sowie kooperationsfähig
14 ausführlicher erläutert. . Abbildung 60.11 zeigt auf zum menschlichen Fahrer gestaltet ist [2, 8]. Eine
Basis des generischen kooperativen Regelkreises detailliertere Darstellung der inneren und äußeren
15 aus ▶ Kap. 58 die kooperative Fahrzeugführung im Kompatibilität findet sich in Kapitel „Kooperative
H-Mode als schematisches Systemschaubild. Fahrzeugführung“ ▶ Kap. 58 sowie in [4, 8, 9].
Die kognitive Automation im H-Mode ist auf
16 Basis von Modellen der menschlichen Kognition
60.4.1 Kognitive Automation in der Fahrzeugführung [10] konzipiert [2]: Dies
17 im H-Mode kann mit einem mehrschichtigen Ansatz erreicht
werden, der die verschiedenen Planungs- und
Das metaphorische Beispiel des Zusammenwirkens Ausführungshorizonte bei der Fahrzeugführung
18 von Pferd und Reiter verdeutlicht, dass es sich bei berücksichtigt. Zu diesem Zweck kann auf eta-
den beteiligten Partnern in der kooperativen Bewe- blierte Ansätze der menschlichen Kognition im
19 gungsführung um zunächst selbstständige Entitäten Zusammenhang mit automatisierten technischen
handelt: Sowohl der Mensch als auch sein Koopera- Systemen (z. B. [11, 12]) zurückgegriffen werden.
60 tionspartner verfügen über eine eigene Perzeption, Im H-Mode wird dabei von einem vierschichtigen
Kognition und eigene Möglichkeiten zur Realisie- Modell der Fahrzeugführung mit Ebenen zur Navi-
60.4 • Systemarchitektur und Funktionsweise
1131 60
dene Module untergliedert: So findet auf oberster ein aktives Lenkrad und ein aktives Gaspedal über-
1 Ebene der Interaktionsmediation die Verhandlung tragen werden [18]. Ob Stick oder Lenkrad/Gaspe-
der Kontrollverteilung in der „Mode Selection and dal, über den haptischen Kanal kann eine durch-
2 Arbitration Unit“ (Erweiterung der MSU nach gängige und gerichtete Interaktion stattfinden, die
[17]) statt. In einer nachgelagerten Ebene der In- eine Arbitrierung zwischen Fahrer und Automation
teraktionsmediation hingegen werden in jeweils vereinfacht. Die haptische Kopplung führt zu einer
3 eigenständigen Arbitration Units für jede einzelne Verkürzung der Reaktionszeit [19, 20] und kann das
Planungsebene der Fahrzeugführung die geplanten Situationsbewusstsein erhöhen [6, 21]: Eine weitere
4 Aktivitäten und Absichten arbitriert: Das durchzu- wichtige Komponente der Zustandskommunikation
führende Manöver in der „Manœuvre Selection and ist die visuelle Darstellung von Trajektorien. Dar-
5 Arbitration Unit“, die Anpassung der verfügbaren gestellte Trajektorien ermöglichen dem Menschen,
Fahrtrajektorien in der „Trajectory Adaption and die nächsten Fahraktivitäten der Automation zu
Arbitration Unit“ und die Kontrollausübung in der erkennen und ggf. zu beeinflussen, da eine direkte
6 „Control Arbitration Unit (Coupling Valve)“ [14]. und dauerhafte Rückmeldung über eingeleitete Ad-
aptierungen übermittelt werden sowie eingeleitete
7 60.4.2.2 Kommunikation von Aktivitäten in die Zukunft übertragen werden kön-
Absichten und Zuständen nen [14].
Neben der Arbitrierung von Verhandlungskonflik-
8 ten ist es Aufgabe des Interaktionsmediators, Ab- 60.4.2.3 Transitionen zwischen
sichten und Zustände eindeutig und durchgängig Automationsgraden
9 zwischen Mensch und Automation zu kommuni- Ein weiterer Schwerpunkt der zum H-Mode
zieren: So muss sichergestellt sein, dass sich Fahrer durchgeführten Arbeiten bezieht sich auf den dy-
10 und Automation stets bewusst sind, welche Ins- namisch-balancierten Wechsel der Kontrollver-
tanz welche Aufgabe übernimmt, ob ausreichend teilung zwischen Fahrer und Fahrzeugautomation
Ressourcen zur Bewältigung dieser Aufgaben zur – sogenannte Transitionen (vgl. . Abb. 60.12). Der
11 Verfügung stehen und ob und mit welchem Zeit- H-Mode umfasst zwei bis drei Automationsgrade,
horizont Kontrolle auch wirklich ausgeübt wird, um zwischen denen während der Fahrt dynamisch ge-
12 Kontrolldefizite bzw. einen Kontrollüberschuss zu wechselt werden kann (s. . Abb. 60.1). Eine Vari-
vermeiden. ante eines dynamisch-balancierten Wechsels stellt
Weiterhin soll sowohl dem Menschen als auch die zuvor beschriebene sogenannte fluide Transition
13 der Maschine bekannt sein, welche Absichten der dar; hierbei findet der Wechsel zwischen den Au-
jeweils andere Partner gerade verfolgt und wel- tomationsgraden nicht durch die explizite Anwahl
14 che Aktion zeitnah ausgeführt wird, z. B. welcher des Automationsgrades, sondern implizit über die
Trajektorie bei einer Gabelung gefolgt werden soll Aktivität bzw. Involvierung des Fahrers in die Fahr-
15 (. Abb. 60.8) bzw. ob ein Interaktionsmuster auf- aufgabe statt, z. B. durch Lockerlassen oder Fester-
grund einer speziellen kritischen Situation aktiv greifen des Stellteils. Der Übergang zwischen den
wird, wie bspw. das Verhindern des Abkommens beiden Kontrollverteilungen ist dabei nicht abrupt,
16 von der Fahrbahn (virtuelles Kiesbett, . Abb. 60.4) sondern fließend: Nimmt der Mensch die Hände
oder eine Kollisionsvermeidung (. Abb. 60.7). vollständig vom haptischen Kontrollgerät, wird in
17 Ein wichtiges Mittel zur Interaktion ist hierfür der fluiden Bedienform eine Transition zum „Se-
die haptische Interaktionsressource, die im H-Mode cured Rein“ eingeleitet. Fasst der Mensch das Kon-
hauptsächlich durch die Interaktion zwischen Fah- trollgerät leicht an, wird z. B. über eine Detektion
18 rer und Automation über aktive Stellteile realisiert auf der Basis kapazitiver Sensorik eine Transition
wird. Dabei kann es aus ergonomischen Gesichts- in den „Loose Rein“ initiiert und bei einem deutli-
19 punkten heraus sinnvoll sein, die zweidimensionale chen Zugreifen – Detektion über kraftempfindliche
Fahraufgabe durch ein Bedienkonzept mit zwei Widerstände – eine Transition in den „Tight Rein“.
60 Freiheitsgraden, z. B. einem Sidestick, umzusetzen. Aufgrund des Konflikts, dass gerade im „Tight Rein“
Andererseits kann der H-Mode auch sinnvoll auf eine sehr genaue Lenkung des Menschen erforder-
60.4 • Systemarchitektur und Funktionsweise
1133 60
Ai [failure corrected]
Failure Failure
Ai [failure]
MRM / Emergency
Ai [LR precondions
not longer fullfilled] Di[hands on] [driver
[driver aenve] aenve]
[driver
aenve]
Emergency
Ai [driver distracted] [hands on] Brake
|| [driver drowsy] Di [switch TR]
Di[switch LR]
Ai
Ai[SR precondions not longer fullfilled] [driver distracted]
|| [driver drowsy]
Ai [driver distracted]
|| [driver drowsy] Ai [standsll?]
.. Abb. 60.12 Zustandsautomat der Mode Selection and Arbitration Unit nach [14]
lich wird und dafür die Aufwendung der höchsten 60.4.3 Zusammenwirken
Greifkräfte notwendig ist, wurden die für eine Tran- der Interaktionsmodalitäten
sition erforderlichen Greifkräfte als Hysterese defi-
niert, so dass der Griff nach einer Transition, z. B. Ein wichtiger Bestandteil im Interaktionskonzept
nach dem „Tight Rein“, auf einen angenehmeren automatisierter Systeme stellt die Rückmeldung
Wert gelockert werden kann. Neben diesen norma- an den Fahrer dar: Sie sollte bevorzugt innerhalb
len Transitionsmöglichkeiten sind im aktuellen Pro- 200 ms erfolgen und multimodal ausgestaltet sein
totyp sogenannte „Not-Transitionen“ implementiert: [9, 22]. Dabei ist für eine sichere und schnelle Be-
Übt der Mensch bspw. sehr starke Kräfte auf die hap- dienung entscheidend, dass sich die Information
tischen Kontrollgeräte aus, wird dies dahingehend der einzelnen Kanäle nicht widerspricht und damit
interpretiert, dass der Mensch die Kontrolle – sowohl den Fahrer nicht verwirrt, sondern sich gegenseitig
in der Bedienform per Knopfdruck als auch der flui- ergänzt. So sollte dem Fahrer auf dem haptischen
den Bedienform – zurückerhalten möchte. Diese Kanal vermittelt werden, welche Handlung präfe-
Transition geschieht sofort, um möglichen, von der riert ist, und auf dem visuellen Kanal, warum diese
Sensorik der Automation nicht detektierten Gefah- Einschätzung vorliegt. Es besteht die starke Vermu-
ren ohne Zeitverlust begegnen zu können. tung, dass sich diese Kombination positiv auf die
Akzeptanz und das Systemverständnis auswirkt
[23]: Während die haptische Rückmeldung insbe-
sondere eine schnelle Reaktion des Fahrers fördern
soll [24], kann Information über den visuellen Ka-
1134 Kapitel 60 • H-Mode 2D
.. Abb. 60.15 Bewertung
des H-Modes, Usability-Un-
tersuchung 2011 [27]
60.6 Fazit und Ausblick Die Erkenntnisse aus H-Mode und den koope-
1 rativen Automationen in der Fahrzeugführung kön-
Der H-Mode – als eine mögliche Umsetzung der nen auch auf andere Domänen übertragen werden,
2 kooperativen Fahrzeugführung – ist inspiriert durch in denen maschinelle und menschliche kognitive
das Vorbild Reiter/Kutschfahrer – Pferd und bietet Fähigkeiten kooperativ zusammenwirken: So wurde
eine integrierte haptisch-multimodale Bedienweise der H-Mode auf dreidimensionale Bewegungsvor-
3 für teil- und hochautomatisierte Fortbewegungs- gänge zu einem H-Mode 3D erweitert, der eine An-
mittel aller Art. Der hier vorgestellte H-Mode 2D wendung im Bereich der Luftfahrt ermöglicht [38].
4 wurde speziell für Bodenfahrzeuge entwickelt und Mit zunehmender Vernetzung von Menschen,
integriert eine Reihe von Sicherheits- und Kom- Fahrzeugen und Infrastruktur erschließen sich viel-
5 fort-Systemen in drei Assistenz- und Automations- fältige Herausforderungen und Chancen für den
grade, zwischen denen fließend gewechselt werden Einsatz kognitiver und kooperativer Mensch-Ma-
kann. schine-Systeme. Die kooperative Fahrzeugführung
6 Ein vierter Automationsgrad „stark assistiert“ eines einzelnen Fahrzeugs bietet eine Basis für die
bzw. „semiautomatisiert“/ACC+ kann integriert systemische Erweiterung auf größere Kooperations-
7 werden, wenn man ihn aus Gründen der schlüssi- netzwerke.
gen Migration anbieten möchte (vgl. . Abb. 60.1).
H-Mode kann auch bereits eingesetzt werden, wenn
8 das temporär-vollautomatisierte Fahren („Secured Literatur
Rein“) z. B. aus Sicherheitsgründen noch nicht
9 angeboten werden kann oder wenn das gesamte 1 Gasser, T.M., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J.,
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer,
Verkehrssystem so sicher gestaltet („gehärtet“) ist,
M., Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., Vogt, W.: Rechtsfolgen
10 dass teilautomatisiert/„Loose Rein“ nur noch ein zunehmender Fahrzeugautomatisierung – Gemeinsamer
Durchgangsmodus zur höheren Automationsstufe Schlussbericht der Projektgruppe Bundesanstalt für Stra-
darstellt. Ebenso ist denkbar, dass sich der gesell- ßenwesen (BASt) (2012)
11 schaftliche Konsens dahingehend entwickelt, dass 2 Löper, C., Kelsch, J., Flemisch, F.O.: Kooperative, manöver-
basierte Automation und Arbitrierung als Bausteine für
das manuelle/niederautomatisierte Fahren aus Si-
hochautomatisiertes Fahren. In: Gesamtzentrum für Ver-
12 cherheitsgründen, z. B. in bestimmten Gebieten kehr Braunschweig (Hrsg.) Automatisierungs‐, Assistenz-
oder bei bestimmten Umweltbedingungen, gar systeme und eingebettete Systeme für Transportmittel, S.
nicht mehr angeboten wird. Dies mag aus heutiger
13 Perspektive noch futuristisch klingen, ist aber in der 3
215–237. GZVB, Braunschweig (2008)
Vanholme, B.: Highly Automated Driving on Highways ba-
sed on Legal Safety. Diss., University of Evry‐Val‐d’Essonne,
Luftfahrt bereits Realität, in der z. B. bei schlechter
14 Sicht auf dafür ausgerüsteten Flughäfen nur noch 4
2012
Flemisch, F.O., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler, J.:
hochautomatisiert mit einem ILS (Instrumented Automation spectrum, inner/outer compatibility and other
15 Landing System) gelandet werden darf. potentially useful human factors concepts for assistance
and automation. In: de Waard, D., Flemisch, F.O., Lorenz, B.,
Eine vorteilhafte Kombination von H-Mode
Oberheid, H., Brookhuis, K.A. (Hrsg.) Human Factors for as-
mit einer Erfassung der Fahreraufmerksamkeit (at-
16 tention monitor), wie im HAVEIt-Projekt gezeigt, 5
sistance and automation, S. 1–16. Shaker, Maastricht (2008)
Flemisch, F.O., Bengler, K., Winner, H., Bruder, R.: Towards
ist ebenfalls möglich, um z. B. einen eventuellen a cooperative guidance and control of highly automated
17 Missbrauch im teil-/hochautomatisierten Modus vehicles: H‐mode and conduct‐bywire. Ergonomics, Jour-
(„Loose Rein“) einzuschränken [37]. H-Mode kann, nal-Publikation. Taylor & Francis (2014)
6 Flemisch, F.O., Adams, C.A., Conway, S.R., Goodrich, K.H.,
wie hier dargestellt, auf einem normalen Lenkrad
18 und einem aktiven Gaspedal, aber auch mit einem
Palmer, M.T., Schutte, M.C.: The H‐Metaphor as a Guideline
for Vehicle Automation and Interaction Report No. NASA/
aktiven Sidestick, kleineren Fingersticks oder Len- TM‐2003‐212672. NASA Langley, Langley (2003)
19 krädern mit kombiniertem Gaspedal dargestellt 7 Toffetti, A., Wilschut, E.S., Martens, M.H., Schieben, A., Ram-
werden, was bereits erfolgreich untersucht wurde baldini, A., Flemisch, F.: CityMobil: Human factor issues
regarding highly automated vehicles on eLane. Transpor-
60 (z. B. [27]).
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1137 60
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14 Baltzer, M., Flemisch, F., Altendorf, E., Meier, S.: Mediating München, Garching (2008)
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17 Hoeger, R., Zeng, H., Hoess, A., Kranz, T., Boverie, S., Strauss, Ausgewählte Ergebnisse mit H‐Mode 2D 1.0. 54 Fachaus-
M., Jakobsson, E., Beutner, A., Bartels, A., To, T.-B., Stratil, schusssitzung Anthropotechnik: Fortschrittliche Anzei-
H., Fürstenberg, K., Ahlers, F., Frey, E., Schieben, A., Mose- gesysteme für die Fahrzeug‐ und Prozessführung. DGLR,
bach, H., Flemisch, F.O., Dufaux, A., Manetti, D., Amditis, A., Koblenz (2012)
Mantzouranis, I., Lepke Szalay, H.Z., Szabo, B., Luithardt, P., 28 Flemisch, F., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler, J.,
Gutknecht, M., Schömig, N., Kaussner, A., Nashashibi, F., Heesen, M.: Cooperative Control and Active Interfaces for
Resende, P., Vanholme, B., Glaser, S., Allemann, P., Seglö, F., Vehicle Assitsance and Automation FISITA World Automo-
Nilsson, A.: Deliverable D61.1Final Report. HAVEit: Highly tive Congress, München. (2008)
automated vehicles for intelligent transport (2011) 29 Heesen, M., Schieben, A., Flemisch, F.: Unterschiedliche Au-
18 Kienle, M., Damböck, D., Bubb, H., Bengler, K.: The ergono- tomatisierungsgrade im Kraftfahrzeug: Auswirkungen auf
mic value of a bidirectional haptic interface when driving die visuelle Aufmerksamkeit und die Kontrollübernahme-
1138 Kapitel 60 • H-Mode 2D
13 36
Feb. 2010. (2010)
Kelsch, J., Heesen, M., Löper, C., Flemisch, F.: Balancierte
Gestaltung kooperativer multimodaler Bedienkonzepte für
Autonomes Fahren
Richard Matthaei, Andreas Reschka, Jens Rieken, Frank Dierkes,
Simon Ulbrich, Thomas Winkle, Markus Maurer
In den USA wurden sowohl in Projekten der die notwendigen Anforderungen an die Hoch- oder
„California Partners for Advanced Transit and Vollautomatisierung.
Highways“ (PATH) [8] als auch an der Carnegie Die Defense Advanced Research Projects
Mellon University [9] automatisierte Fahrzeuge Agency (DARPA) der USA hatte sich zu Beginn der
entwickelt und deren Fähigkeiten präsentiert. Ein 2000er Jahre das Ziel gesetzt, fahrerlose, automa-
Höhepunkt ist in den 1990er Jahren in der Demons- tisierte Fahrzeuge für den militärischen Gebrauch
tration „No Hands Across America“ von 1995 zu zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde 2004 die
sehen, bei der die USA mit dem Versuchsträger erste DARPA Grand Challenge veranstaltet, in der
NavLab 5 durchquert wurden: Das eingesetzte as- fahrerlose Fahrzeuge eine Strecke in der Wüste Ne-
sistierende System übernahm die Querführung bei vadas absolvieren mussten. Die Vorbereitungszeit
4500 von 4587 gefahrenen Kilometern auf amerika- der Teams war offensichtlich zu kurz und so waren
nischen Highways [10]. die Ergebnisse nicht zufriedenstellend: Keines der
Im Rahmen des von der Europäischen Union Fahrzeuge erreichte das Ziel [18]. Im darauffolgen-
geförderten Projekts PROMETHEUS (PRO- den Jahr 2005 erhöhte die DARPA das Preisgeld und
graMme for a European Traffic of Highest Effi- die Teams bekamen erneut die Gelegenheit zur De-
ciency and Unprecedented Safety, 1987–1994) monstration: Dieses Mal erreichten mehrere Teams
wurden ähnliche Systeme entwickelt, die zu sehr das Ziel der 229 km langen Strecke durch die Wüste
leistungsfähigen Fahrzeugen führten. Die Uni- und der Wettbewerb wurde als Erfolg gewertet.
versität der Bundeswehr in München zeigte auf Als Sieger ging das Stanford Racing Team hervor,
Erprobungsfahrten mit den Versuchsträgern Va- dessen Versuchsträger Stanley die Strecke in knapp
MoRs und VaMoRs-P (VaMP) [11, 2, 12] automa- sieben Stunden absolvierte [18]. Die Fahrzeuge wa-
tisiertes Fahren; auch die Daimler-Benz AG zeigte ren hier ohne Sicherheitsfahrer unterwegs, konnten
mit den vergleichbaren Versuchsträgern VITA und aber durch eine Fernsteuerung gestoppt werden.
VITA II ähnliche Resultate [13, 14]. Eine besondere Die einzelnen Ansätze der verschiedenen Teams
Aufmerksamkeit erhielt die automatische Langstre- wurden in [19] veröffentlicht.
ckenfahrt von München nach Odense mit dem Ver- Da sich das Wettbewerbskonzept als erfolgreich
suchsträger VaMoRs-P im Jahr 1995. Von den ins- erwies, richtete die DARPA 2007 die DARPA Urban
gesamt 1758 gefahrenen Kilometern wurden 1678 Challenge aus: Anstatt durch eine Wüste wurden die
automatisch zurückgelegt; mit einer Automatisie- Fahrmissionen in einer vorstadtähnlichen Umge-
rung sowohl der Längs- als auch der Querführung bung mit weiteren Verkehrsteilnehmern absolviert
konnten Geschwindigkeiten bis 180 km/h erreicht und die weiteren Verkehrsteilnehmer wurden durch
werden. Zusätzlich wurden Fahrstreifenwechsel Stuntfahrer bewegt. Die Anforderungen an die Teil-
vom Sicherheitsfahrer ausgelöst und dann auto- nehmer waren dementsprechend höher und auch
matisiert ausgeführt [15]. Mit dem Versuchsträger der zivile Nutzen erschien hier größer zu sein, da es
ARGO des VisLab-Instituts der Università degli sich hauptsächlich um Pkws handelte, die sich in ei-
Studi di Parma erfolgten ebenfalls Langstrecken- ner Stadt mit den gültigen Verkehrsregeln bewegen
fahrten im Jahr 1998 [16]: Bei den mehrtägigen mussten. Auch dieser Wettbewerb wurde als Erfolg
Versuchsfahrten wurden etwa 1860 km automatisch gewertet, da einige Teams die gestellten Aufgaben
zurückgelegt, wobei die Automatisierung neben der lösten. Die gesamte Forschungsgemeinde erhielt ei-
Längs- und Querführung auch Fahrstreifenwech- nen Schub, der in vielen Projekten zur Fahrzeugau-
sel abdeckte, die vom Sicherheitsfahrer ausgelöst tomatisierung mündete. Das Team Tartan Racing
wurden [16]. der Carnegie Mellon University gewann den Wett-
In all diesen Projekten erfolgte die Überwa- bewerb, den zweiten Platz belegte das Stanford Ra-
chung der Fahrzeuge durch menschliche Fahrer, cing Team und den dritten das Team Victor Tango.
der Einsatzbereich beschränkte sich vorrangig auf Aufgrund der zahlreichen Teilnehmer und der be-
Autobahnen und autobahnähnlichen Straßen. Nach eindruckenden Resultate wurden die Erkenntnisse
dem heutigen Verständnis von Automatisierungs- in [20, 21, 22] ausführlich publiziert. Wie auch in
graden nach [17] erfüllte keiner der Versuchsträger den Grand Challenges waren die Fahrzeuge ohne
1142 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
Sicherheitsfahrer unterwegs, konnten aber ebenfalls Fahrens geht damit über die Umfänge des vollauto-
61 durch eine Funkverbindung gestoppt werden, wie matischen Fahrens im Sinne der BASt [17] hinaus.
auch im Projekt CarOLO der Technischen Uni- Die besondere Beschaffenheit des nicht-infra-
2 versität Braunschweig [23]. Der in diesem Projekt strukturgebundenen Straßenfahrzeugs erhöht die
eingesetzte Versuchsträger Caroline nahm als bestes verfügbaren Freiheitsgrade, wodurch das Fahrzeug
europäisches Fahrzeug am Finalevent teil. Im Finale flexibler nutzbar ist und einen größeren Umfang
3 wurden Caroline und andere Fahrzeuge mit zahlrei- an Missionen erfüllen kann. Gleichzeitig steigen
chen unvorhergesehenen Situationen konfrontiert, jedoch auch die Anforderungen an das Fahrzeug.
4 in denen ein menschlicher Eingriff notwendig war. Außerdem limitiert der infrastrukturunabhängige
Dadurch zeigte sich, dass nicht nur Caroline, son- Betrieb die verfügbare Energie zur Umsetzung der
5 dern auch die anderen Fahrzeuge noch nicht für den Mission sowie die Auswahl technischer Lösungs-
öffentlichen Straßenverkehr tauglich waren [23]. ansätze – bedingt durch den Bauraum und die
Im Anschluss an die DARPA Challenges präsen- bordeigene Energieversorgung. Ein Gegenbeispiel:
6 tierten viele der Teams Versuchsträger im öffentli- Eine Straßenbahn ist lediglich für die longitudinale
chen Straßenverkehr. Neben den Forschungsprojek- Führung verantwortlich, ist permanent mit Strom
7 ten an Universitäten stieg auch die Zahl der Projekte versorgt und kann nur eine signifikant geringere
bei Fahrzeugherstellern, Zulieferern und anderen Menge an Orten erreichen.
Unternehmen; einige dieser Projekte werden in Der Betrieb im öffentlichen Straßenverkehr
8 diesem Artikel genauer untersucht. Einen umfang- bedingt, dass sich das Fahrzeug den Verkehrsraum
reichen Überblick über weitere Aktivitäten auf dem mit anderen durch Menschen gefahrenen Fahr-
9 Gebiet der intelligenten Fahrzeuge bietet [24]. zeugen, anderen automatisierten Fahrzeugen, un-
geschützten Verkehrsteilnehmern, wie Radfahrern
10 61.1.3 Anforderungen an autonomes
und Fußgängern, sowie Tieren (Hunde, Katzen,
Wild, …) teilt. Der Einsatz im öffentlichen Stra-
Fahren im öffentlichen ßenverkehr erfordert zudem die Wahrnehmung
11 Straßenverkehr der Szenerie, also des statischen Umfeldes nach
[26], sowie der dynamischen Elemente – wie etwa
12 Unter dem Begriff des autonomen Fahrens wird hier andere Verkehrsteilnehmer, Zustände der Lichtsi-
(ähnlich der Vorstellung in [25]) die Fortbewegung gnalanlagen oder Witterungsbedingungen (nach
mithilfe eines nicht an eine dezidierte Infrastruktur [25]). Die Szene, als Ergänzung der Szenerie um die
13 gebundenen Straßenfahrzeugs verstanden (also ei- dynamischen Elemente, ist vor dem Hintergrund
nes Personen- oder Lastkraftwagens ohne Schienen- der eigenen Absichten zu interpretieren. Auf Ba-
14 führungssysteme), das ausschließlich durch die Ein- sis dieses Interpretationsergebnisses ist dann eine
gabe oder Adaption einer Mission vom Menschen Handlungsentscheidung – z. B. einer angepassten
15 bedient wird oder sich sogar eigenständig eine Mis- Fahrweise – zu treffen. Die Beschränkung auf den
sion zuweist (z. B. Fahrt zu einer Ladestation nach Straßenverkehr grenzt die zu erwartenden Szenen
erfolgreicher Transportmission): Die Mission be- ein: Es ist beispielsweise nicht damit zu rechnen,
16 steht dabei immer aus einer Transportaufgabe von dass ein autonomes Straßenfahrzeug einen geeig-
einem Standort A zu einem Standort B mit Trans- neten Weg durch einen sumpfigen Acker finden
17 port von Gütern, Personen oder nur dem Fahrzeug muss, ohne stecken zu bleiben oder die Pflanzen
selbst. Die Mission muss vom Menschen angepasst zu beschädigen.
werden können – z. B. durch die Auslösung eines Die autonome Fahrt im öffentlichen Straßenver-
18 Nothalts, der den Fahrgästen einen sicheren Aus- kehr erfordert auch die Einhaltung des lokal gülti-
stieg ermöglicht (wie in [25] beschrieben) oder gen Regelwerks (siehe auch S. 6 in [25]): Zumindest
19 durch die Wahl eines den aktuellen Bedürfnissen die Straßenverkehrsordnung (StVO) definiert somit
der Fahrgäste angepassten Zwischenziels – wie das den geforderten Umfang der Wahrnehmungs- und
20 nächstgelegene WC, ein Krankenhaus oder ein Re- Interpretationsleistung eines autonomen Straßen-
staurant der Wahl. Diese Definition des autonomen fahrzeugs bezüglich der Bedeutung von Verkehrs-
61.1 • Einleitung
1143 61
zeichen und Fahrbahnmarkierungen. Die Öffent- lichen Straßenverkehr robust gegenüber Manipu
lichkeit des Verkehrsraumes führt dazu, dass ein lationen und Missbrauch sein.
autonomes Fahrzeug schon allein durch seine An- In der Euphorie der zunehmenden Automati-
wesenheit mit dem Umfeld interagiert; für einen sierung der Fahrzeuge sollte aber der eigentliche
reibungslosen Ablauf im Straßenverkehr ist jedoch Nutzen nicht aus den Augen verloren werden: Im
darüber hinaus eine explizite Kooperation mit den Mittelpunkt stehen noch immer der Mensch und
anderen Verkehrsteilnehmern (automatisierten wie sein persönliches Bedürfnis nach individueller Mo-
herkömmlichen Fahrzeugen) erforderlich. Dazu bilität. Ein autonomes Fahrzeug, das zwar unfallfrei
werden hier ein eindeutiges Fahrverhalten, eine und gegebenenfalls auch regelkonform im Sinne
frühzeitige Kommunikation der Fahrentscheidung der StVO fährt, aber dessen Insassen kein Vertrauen
(z. B. Fahrstreifenwechsel ankündigen über Fahrt zur eingesetzten Technologie aufbauen und keinen
richtungsanzeiger oder C2X) sowie die Rücksicht- besonderen Fahrkomfort genießen können, wird
nahme auf Wünsche anderer Verkehrsteilnehmer vermutlich nicht akzeptiert werden.
(z. B. Reaktion des autonomen Fahrzeugs auf gesetz-
ten Fahrtrichtungsanzeiger durch Öffnen der Lücke
zum Vorderfahrzeug) gezählt. Für eine unfallfreie 61.1.4 Einordnung relevanter
Fahrt sind außerdem eine absolute Zuverlässigkeit Forschungsprojekte
der Umgebungswahrnehmung sowie der relativen
Lokalisierung zur Umgebung erforderlich. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf zivilen, vollau-
Die gemeinsame Nutzung des Verkehrsraumes tomatisierten Straßenfahrzeugen, zu denen hinrei-
mit dem Menschen erfordert zudem, dass sich die chend detaillierte Informationen veröffentlicht oder
autonomen Fahrzeuge an denselben optischen durch die Forscherteams den Autoren zugänglich
Merkmalen orientieren, an denen sich die Menschen gemacht wurden. Es wurden primär zivile Systeme
orientieren. Die Einführung anderer Technologien untersucht, da aufgrund unterschiedlicher Anfor-
würde neben den immensen Kosten immer das Ri- derungen (im Militärischen z. B. auch Robustheit
siko in sich tragen, dass die optische Realität für den gegen feindliche Angriffe, unwegsames Gelände
Menschen inkonsistent zu der Realität für das auto- usw.) sich technisch unterschiedliche Systeme für
nome Fahrzeug ist (vgl. auch [27] nach [28]). Diese die militärische und zivile Nutzung ergeben. Fer-
Diskrepanz wird derzeit schon beim Einsatz von lei- ner wurden nur Projekte untersucht, die das Ziel
der schnell veraltenden Kartendaten für das automa- einer prototypischen Umsetzung des hoch- oder
tische Fahren sichtbar, da sich die Informationen in vollautomatisierten Fahrens gemäß der Definition
der Karte im Falle veralteter Daten von der aktuell der Bundesanstalt für Straßenwesen (vgl. [17]) an-
wahrgenommenen Szenerie unterscheiden können. streben oder bereits umgesetzt haben. So wurde im
Die Anwesenheit des Menschen – und gegebenen- Rahmen dieses Buchkapitels bewusst darauf ver-
falls der Tierwelt – im Verkehrsraum schränkt au- zichtet, Projekte aus dem Bereich des assistierten
ßerdem die Menge der umsetzbaren technischen oder teilautomatisierten Fahrens, bei denen in der
Lösungsansätze ein: So können beispielsweise nur Zielsetzung des Projekts der Fahrer stets zu jeder
Lasersensoren verbaut werden, die auch augensicher Zeit eine Systemüberwachungsaufgabe übernehmen
und somit gesundheitlich unbedenklich sind. muss, zu berücksichtigen. Gleichwohl erreichen
Ein autonomes Straßenfahrzeug muss im Sinne genau genommen auch die derzeitigen Prototypen
eines verantwortungsvollen Verhaltens gegenüber zum hoch- bzw. vollautomatisierten Fahren nach
der Umwelt, sich selbst und den Fahrgästen eine ge- unserer Einschätzung im öffentlichen Straßenver-
naue Kenntnis der eigenen Fähigkeiten und Fertig- kehr lediglich die Stufe der Teilautomation (siehe
keiten besitzen. Dazu gehört auch die Kenntnis über dazu ▶ Abschn. 61.2.6). Darüber hinaus werden
den eigenen Systemzustand, sowohl dem Zustand nur Projekte, die explizit Straßenfahrzeuge – also
der Wahrnehmungskomponenten als auch dem Zu- Personenkraftwagen, Lastkraftwagen, Busse oder
stand der Aktorik (Stichwort: Onboard-Diagnose); Motorräder – einsetzen, im Rahmen dieses Kapi-
ferner muss das Fahrzeug beim Einsatz im öffent- tels betrachtet. Von der Betrachtung ausgeschlossen
1144 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
wurden damit eine Vielzahl von mobilen Robotik- Unterscheidungsmerkmal zwischen den Projekten
61 plattformen, humanoiden Robotern oder unbe- darstellen:
mannten Luftfahrzeugen. Projekte, über die bisher 1. Bordautonome Umfeld- und Selbstwahrneh-
2 nur Absichtserklärungen oder allgemein gehaltene mung: Das autonome Fahrzeug muss das lokale
Presseerklärungen veröffentlicht wurden, können Umfeld in der erforderlichen Vollständigkeit
mangels verfügbarer wissenschaftlicher Informa- erfassen und interpretieren bzw. zuordnen
3 tionen nicht diskutiert und mit anderen Projekten können. Dazu gehören: Fahrbahnmarkierun-
verglichen werden. Um den Teams eine gleichbe- gen inkl. ihrer fahrzeugrelativen Position und
4 rechtigte Möglichkeit zu bieten, ihre Ergebnisse im der Auswertung ihrer Symbolik, Verkehrszei-
Rahmen dieses Artikels einzubinden, wurde von chen, andere Fahrstreifenbegrenzungen wie
5 den Autoren ein Fragebogen (siehe ▶ Abschn. 61.4) Bordsteine etc., erhabene Hindernisse, Lichtsi-
entworfen, der vielen über Presse und Tagungen gnalanlagen, andere Verkehrsteilnehmer (Per-
bekannten Forschungseinrichtungen, Fahrzeug- sonen, Radfahrer, Motorradfahrer, Lkws/Busse,
6 herstellern und weiteren Unternehmen zugesandt Straßenbahnen, Rettungsfahrzeuge, Tiere), Wit-
wurde. An dieser Stelle möchten sich die Autoren terung sowie der eigene Zustand (Tankfüllung,
7 herzlich für die Rückmeldungen bedanken. Reifendruck, Raddrehzahl etc.).
Anhand der zuvor genannten Kriterien sowie 2. Missionsumsetzung: Die Missionsumsetzung
der Rückmeldungen aus den Fragebögen ergibt sich muss von einer groben Routenplanung bis hin
8 folgende Liste an Projekten, die in diese Untersu- zur Fahrzeugansteuerung alle Aufgaben umset-
9
10
--
chungen einbezogen wurden:
Sonderforschungsbereich 28 der Deutschen
Forschungsgemeinschaft,
Karlsruher Institut für Technologie – Ver-
zen können. Die Situationsbewertung wird in
diesem Kapitel ebenfalls der Missionsumset-
zung zugeordnet.
3. Lokalisierung: Das Fahrzeug muss wissen, wo es
-
suchsträger Annieway, sich global oder in einer Karte befindet.
Universität der Bundeswehr – Versuchsträ- 4. Nutzung von Kartendaten: Ohne Kartendaten
11
-
ger MuCAR 3, ist eine vollständige Routenplanung schwierig.
Technische Universität München – Ver- Der Einsatz von Kartendaten gibt aber auch
12
-- suchsträger MUCCI,
BMW AG – Projekt Connected Drive,
VisLab Institut der Università degli Studi di
indirekt Aufschluss über die Leistungsfähigkeit
der Umfeldwahrnehmung und Lokalisierung.
Derzeit wird häufig alles, was nicht wahrgenom-
-
13 Parma – Versuchsträger BRAiVE, men oder interpretiert werden kann, mittels
Carnegie Mellon University – Versuchsträger Kartendaten dem Fahrzeug zugänglich gemacht.
--
14 BOSS, Der Nachteil: Die Daten veralten zu schnell. Da-
Stanford University – Versuchsträger Junior 3, her ist es interessant zu kennzeichnen, wie sehr
15 Daimler AG – Automatische Fahrt auf der die Systeme auf Kartendaten angewiesen sind.
16 - Bertha-Benz-Route („Bertha-Benz-Fahrt“),
Technische Universität Braunschweig – Projekt
Stadtpilot mit Versuchsträger Leonie.
5. Kooperation: Das Fahrzeug muss sich in das
Gesamtverkehrsgeschehen integrieren und
kooperativ mit anderen Verkehrsteilnehmern
interagieren können; andernfalls wird es ein
17 Fremdkörper im gemischten Verkehr sein.
61.1.5 Schwerpunkt 6. Funktionale Sicherheit: Ohne den Menschen als
der Untersuchungen Rückfallebene muss sichergestellt sein, dass ein
18 autonomes Fahrzeug keinen Schaden anrichtet.
Auf Basis unserer Anforderungsdefinition an ein
19 „autonomes Straßenfahrzeug“ in ▶ Abschn. 61.1.3 Im Folgenden werden unterschiedliche Lösungsan-
wurden die folgenden zentralen Aspekte identifi- sätze in diesen Schwerpunkten vorgestellt. Es wird
20 ziert (siehe . Abb. 61.1), die ein autonomes Fahr- dabei bewusst auf die vielzähligen Veröffentlichungen
zeug beherrschen muss bzw. die ein relevantes im Bereich der Fahrerassistenz verzichtet, die nicht
61.2 • Stand der Forschung
1145 61
.. Abb. 61.1 Aspekte
eines autonomen Fahr- Kooperation Lokalisierung
zeugs. Die Abbildung zeigt
das Forschungsfahrzeug
Leonie aus dem Projekt Umfeld- und Selbst-
Stadtpilot der TU Braun- wahrnehmung
schweig.
Sicherheit
Digitale Karten
Missionsumsetzung
unvollständigen Auflistung wird deutlich, wie viel- mung des stationären Umfelds derzeit keine Rolle.
61 fältig die zu erwartende Umgebung ist. Alle stationären Informationen – insbesondere die
Aus den Projekten der Universität der Bundes- Begrenzungen der Fahrstreifen – werden über Kar-
2 wehr München stammen Ansätze in der Detektion tendaten in das System integriert. Eine Anpassung
von Straßenverläufen auch ohne Vorwissen aus dieser Begrenzungen an zusätzliche statische Hin-
Kartendaten (z. B. [32] und [33]). In [32] werden dernisse (z. B. parkende Lieferwagen) ist vorgese-
3 Ansätze vorgestellt, die auch Kreuzungen und hen (vgl. [23]), bislang aber nicht auf öffentlichen
Weggabelungen erkennen und modellieren kön- Straßen im Einsatz.
4 nen. Der Fokus dieser Aktivitäten liegt jedoch eher Auch bei der teilautomatisierten Fahrt eines
im Bereich unbefestigter Straßen; auch ein Abbild Mercedes-Benz S500 Intelligent Drive auf der Ber-
5 des Höhenprofils der Umgebung wird erzeugt (vgl. tha-Benz-Route wurde die Wahrnehmung der Fahr-
[34]). Eine weitere Besonderheit ist die Auslegung bahnmarkierungen maßgeblich über Kartendaten
der Wahrnehmungsalgorithmen auf widrige Be- gestützt (vgl. [29]); das stationäre Umfeld wurde
6 dingungen wie Teilverdeckung oder schlechte Sicht mittels Stereokameras erfasst. Inwieweit Verkehrs-
durch Schnee und Regen [32]. Lichtsignalanlagen zeichen beispielsweise erfasst werden, ist den vorlie-
7 und Verkehrszeichen können jedoch nach eigenen genden Unterlagen nicht zu entnehmen.
Angaben in der Antwort auf dem Fragebogen bei-
spielsweise nicht detektiert werden. 61.2.1.2 Wahrnehmung des
8 Im Rahmen des Projekts BRAiVE sind ebenfalls dynamischen Umfelds
umfassende Systeme zur Umfelderkennung inte- Weiter fortgeschritten ist insgesamt die Wahrneh-
9 griert: Den Ausführungen in [30] ist zu entnehmen, mung des dynamischen Umfelds: Neben allen an-
dass das Fahrzeug in der Lage ist, sämtliche itali- deren Verkehrsteilnehmern – wie Straßenbahnen,
10 enische Verkehrszeichen innerhalb von 100 ms zu Busse, Lkws, Pkws, Zweiräder, Krankenfahrstühle,
detektieren und zu klassifizieren; Fahrstreifen kön- Kinderwagen, Fußgänger etc. – zählen vor allem
nen sowohl mit einem Mono- als auch mit einem auch der Status von Lichtsignalanlagen sowie Wech-
11 Stereokamerasystem detektiert werden. Das System selverkehrszeichen dazu. Genau genommen ist so-
ist dabei in der Lage, zwischen weißen und gelben wohl für innerstädtische Szenarien als auch Über-
12 sowie durchgezogenen und gestrichelten Linien zu landstraßen die rechtzeitige Detektion von Tieren
unterscheiden. Ähnlich der Ansätze der Universi- ebenfalls erforderlich.
tät der Bundeswehr München kann ein Höhenpro- Über Bildverarbeitung ist das Versuchsfahrzeug
13 fil der Umgebung für Offroad-Navigation erzeugt BRAiVE in der Lage, vorausfahrende Fahrzeuge zu
werden: Ein Alleinstellungsmerkmal ist die Ein- detektieren und zu klassifizieren. Als Merkmal kom-
14 ordnung der aktuellen Domäne (Autobahn, Land- men dabei Symmetriebetrachtungen und die gezielte
straße, Stadt) anhand der detektierten Merkmale. Detektion von Rücklichtern zum Einsatz; mittels
15 Die Ansätze sind wohl auch in der Lage, Tunnel zu Lasersensoren kann der genaue Abstand bestimmt
detektieren; ferner wurde für spezielle Szenarien werden. Die Verfolgung ist auch in engen Kurven
eine Parklückendetektion entwickelt [30]. möglich und bei Nachtfahrten werden die Schein-
16 In [35] wurde ein Verfahren vorgestellt, dass auf werfer von entgegenkommenden Fahrzeugen via
einer Teststrecke um München durch Fusion von Bildverarbeitung detektiert. Auch die Überwachung
17 Laser- und Kameradaten eine korrekte Detektion der Blind-Spots erfolgt kamerabasiert; mittels Fusion
der Fahrbahnmarkierungen auf 100 % der Strecke von Laser und Kamera ist das Fahrzeug in der Lage,
ermöglicht. Lediglich die Anzahl der Fahrstreifen Personen in Gefahrenbereichen zu detektieren [30].
18 wurde aus gewöhnlichen Navigationskarten zur Mit den Arbeiten in [32] und [38] wurde ge-
Stützung herangezogen [35]. zeigt, wie Fahrzeuge auch bei schlechten Witte-
19 In [36] und [37] werden Ansätze vorgestellt, rungsbedingungen per Bildverarbeitung anhand
die sowohl die Position von Lichtsignalanlagen als signifikanter Konturmerkmale (Räder, Fenster-
20 auch von Verkehrszeichen anhand von Laserdaten scheiben, Fahrzeugsilhouette, Beleuchtungsele-
ermitteln. Im Projekt Stadtpilot spielt die Wahrneh- mente) im Bild gefunden und verfolgt werden kön-
61.2 • Stand der Forschung
1147 61
nen. Den Angaben zufolge sind die Ansätze auch grund der vorliegenden Literatur allein nicht an-
in der Lage, Querverkehr zu verfolgen; außerdem gegeben werden.
können Personen und Fahrzeuge als solche identi-
fiziert werden [39]. 61.2.1.4 Kontextmodellierung
Für die Detektion und Verfolgung von an- Basierend auf den einzelnen, zuvor genannten
deren Fahrzeugen auf der Autobahn konnten in Grundmodulen einer Umfeldwahrnehmung ist es
[40] Ergebnisse präsentiert werden: Der Versuch- notwendig, die Resultate aus den Modulen mitei-
sträger verfügt über eine lidar- und radarbasierte nander zu verknüpfen, um eine Modellierung des
360°-Rundumsicht und kann mit einer hohen lokalen Kontextes um das automatisierte Fahrzeug
Reichweite nach vorne die anderen Verkehrsteil- herum zu erreichen. In [47] wird der Kontext de-
nehmer detektieren [41]. finiert als „a combination of elements of the user’s
Das Team AnnieWay hat sich im vergangenen environment which the computer knows about“. Für
Wettbewerb der Cooperative Driving Challenge das automatisierte Fahren ist der Begriff des Nutzers
primär auf Autobahnszenarien beschränkt und mit dem automatisierten Fahrzeug selbst zu erset-
Radartechnologie zur Objektverfolgung verwendet zen. Es wurde eine Vielzahl an Ansätzen zur Kon-
[42]. Im Stadtpiloten kommen bisher hauptsächlich textmodellierung präsentiert: In [48, 49] und [50]
Laserscanner zur Wahrnehmung von anderen Ver- finden sich ausführlichere Diskussionen solcher
kehrsteilnehmern zum Einsatz [43]. Ansätze. In vielen Projekten erfolgt beispielsweise
eine Zuordnung der Verkehrsteilnehmer auf einen
61.2.1.3 Selbstrepräsentation Fahrstreifen (vgl. [23, 42, 29]), auch wenn dieser
Zur Wahrnehmung werden im Rahmen des Sys- Schritt nicht überall als Teil der Wahrnehmung be-
temverständnisses, das diesem Kapitel zugrunde griffen wird.
liegt, auch die Ermittlung des eigenen Fahrzeug- Im Stadtpilot-Projekt werden in dieser zentralen
zustandes und somit auch eine Repräsentation der Kontextmodellierung auch beispielsweise die Licht-
eigenen Leistungsfähigkeit gezählt: In vielen Pro- signalzustände abgebildet [23]. Im Rahmen der Ak-
jekten ist bereits eine Form der Eigenbewegungs- tivitäten der Universität der Bundeswehr München
schätzung integriert, die in die zeitliche Fusion der werden – laut der Antwort auf den Fragebogen
Umfelddaten sowie die Stützung einer globalen – erkannte Fahrstreifenverläufe, Kreuzungen und
Lokalisierung einfließt. Die hier gemeinte Selbst- dynamische Objekte in einem Szenenbaum abge-
wahrnehmung geht jedoch weit darüber hinaus legt, statische Hindernisse sind nur im metrischen
und berücksichtigt die Funktionsfähigkeit von allen Hindernisgitter (verbreitet auch „occupancy grid“
Sensoren, Aktoren, Hardware- und Softwarekom- genannt) repräsentiert.
ponenten sowie des Fahrzeugs insgesamt, wie es
beispielsweise in [15, 44] oder [45] in Grundzügen 61.2.1.5 Fazit
diskutiert wird. Zusätzlich zur grundsätzlichen Wie in [27] und [29] angedeutet, ist die maschi-
Funktionsfähigkeit werden auch die Qualität der nelle Umfeldwahrnehmung noch weit entfernt
Informationen und deren Korrektheit betrachtet: von einer vollständigen Umgebungserfassung. In
Die gewonnenen Informationen sind notwendig, ▶ Abschn. 61.2.6 werden Dilemmasituationen an-
um die eigenen Handlungsalternativen hinsichtlich gesprochen, die möglicherweise zu rechtlichen oder
ihrer sicheren Ausführbarkeit zu bewerten und ge- ethischen Entscheidungskonflikten führen können.
gebenenfalls einzuschränken. Im Projekt Stadtpilot Allerdings sind die derzeitigen Systeme im allge-
der Technischen Universität Braunschweig wurden meinen Fall nicht in der Lage, diese Dilemmasitu-
beispielsweise Sensorwerte genutzt, um die Witte- ationen wahrzunehmen: Die für eine derart umfas-
rungsbedingungen und somit auch die Straßen- sende Wahrnehmung erforderlichen physikalischen
bedingungen zu schätzen und in der Fahrzeugre- Größen werden von den Sensoren entweder nicht
gelung zu berücksichtigen [46]. Inwieweit dieser erfasst (z. B. misst ein Lasersensor lediglich Abstand
Punkt in den anderen Projekten eine – eventuell und Reflektivität, nicht aber Elastizität oder Masse)
sogar selbstverständliche – Rolle spielt, kann auf- oder die erforderlichen Algorithmen zur Informa-
1148 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
tionsextraktion sind noch nicht entworfen bzw. Bereits heute sind Kartendaten flächendeckend
61 nicht echtzeitfähig (z. B. in der Bildverarbeitung). als Navigationshilfe und teilweise bereits zur Stüt-
Die Fahrzeuge wissen nicht, wie viele Menschen an zung der Umfeldwahrnehmung (z. B. Verkehrszei-
2 Bord sind, und ob das Hindernis auf der Straße ein chenerkennung) im Fahrzeug vorhanden. Somit ist
Kind, ein Tier oder eine Mülltonne ist. Auch ist die es nicht verwunderlich, dass auch alle Ansätze der
Verfügbarkeit vieler vorgestellter Lösungen bisher von uns untersuchten Forschungsprojekte auf Kar-
3 nicht ausreichend für eine autonome Fahrt auf Basis tendaten angewiesen sind. Der Einsatz der Karten-
einer maschinellen Umfeldwahrnehmung. Um über- daten geht allerdings häufig über die reine Naviga-
4 haupt fahren zu können, behelfen sich daher viele tionsaufgabe hinaus und lässt sich im Wesentlichen
Forschergruppen mit Kartendaten, die sie manuell drei Zwecken zuordnen:
5 erstellen und so dem System die erforderliche Inter- 1. Erweiterung des Sichtbereichs/Horizonts (z. B.
pretationsarbeit abnehmen (siehe ▶ Abschn. 61.2.2). für Navigationsaufgaben),
Die Ansätze aus dem Projekt BRAiVE (vgl. [30]) 2. Stützen der Umfeldwahrnehmung/Kompen-
6 und die Ansätze der Universität der Bundeswehr sieren von Schwächen der Sensorik (z. B. durch
München (vgl. z. B. [32]) arbeiten primär wahrneh- Verwendung der in den Kartendaten hinterleg-
7 mungsbasiert und versuchen, online das Umfeld des ten Positionen und Typen der Fahrbahnmarkie-
Fahrzeugs zu verstehen und heben sich damit von rungen, Verkehrszeichen etc.),
anderen Projekten ab. 3. Stützen der Lokalisierung/Kompensation von
8 Schwächen der satellitenbasierten Lokalisierung
(z. B. map-aided localization).
9 61.2.2 Einsatz von Kartendaten
Die Kartendaten unterscheiden sich dabei unter an-
61.2.2.1 Begriffsdefinition
10 derem in der Art der abgelegten Merkmale (siehe
Im Folgenden wird unter dem Begriff der „Karte“ auch unterschiedliche Klassen der Landmarken
ein Abbild von stationären Umgebungsmerkmalen nach [51] und [52]) sowie deren geometrischer,
11 verstanden, das außerhalb des eigenen Fahrzeugs semantischer und topologischer Richtigkeit und
erstellt wurde. Mit dieser Einschränkung wird deut- Vollständigkeit. Die Geometrie beschreibt die Po-
12 lich, dass eine unmittelbare Kontrolle oder eine sition der Merkmale, die Semantik beschreibt die
Einschätzung der Güte der Daten schwer ist, da Bedeutung oder Klasse der Merkmale (Laternen-
sie von einem fremden System zu einem früheren pfosten, Baumstamm, Haus etc.) und die Topologie
13 Zeitpunkt aufgenommen wurden: So kann mangels beschreibt die Verknüpfung der Elemente unterei-
lückenloser Beobachtung nicht sichergestellt wer- nander, also z. B. das Straßennetz.
14 den, dass seit der Aufnahme keine Veränderungen
am stationären Umfeld aufgetreten sind. Damit ist 61.2.2.2 Kartendaten im derzeitigen
Kontext autonomen Fahrens
15 es vergleichsweise unerheblich, ob die Kartendaten
eine Stunde, eine Woche oder ein Jahr alt sind. Ein Im Rahmen der DARPA Urban Challenge wurde
autonomes System kann sich nach dem Verständ- das „Route Network Definition File“ (RNDF, vgl.
16 nis der Autoren aus Gründen der Absicherung zu- [53]) eingeführt: Das RNDF ist eine Kombination
mindest auf der Ebene der Fahrzeugstabilisierung, aus einer fahrstreifengenauen Karte für die Ab-
17 also insbesondere der Kollisionsvermeidung bzw. schnitte, in denen eine Straße zu finden ist und
Querführung in einem Fahrstreifen, nicht auf Kar- einer Beschreibung von sogenannten Zonen, die
tendaten verlassen. Das vermeintlich stationäre die Grenzen von unstrukturierten Bereichen so-
18 Umfeld ist für die in absehbarer Zeit verfügbare wie die Positionen von Parktaschen repräsentieren.
Aktualisierungsrate von Kartendaten zu dynamisch. Die Straßenbeschreibung beinhaltet alle Informati-
19 Für die Navigationsaufgabe sind Kartenfehler zwar onstypen – geometrisch, topologisch, semantisch:
ärgerlich, weil sie eventuell einen Umweg zur Folge Verlauf und Breite der Fahrstreifen (geometrisch),
20 haben oder nicht ans richtige Ziel führen, aber nicht Verknüpfung der Fahrbahnen und Fahrstreifen
unmittelbar sicherheitsrelevant. (topologisch) sowie die Typen der Fahrbahnmar-
61.2 • Stand der Forschung
1149 61
kierungen (semantisch). Insbesondere die geo- mit Fahrbahnmarkierungen generiert und wird im
metrische Information ist jedoch mit vereinzelten Dateiformat von OpenStreetMaps abgespeichert.
und global unpräzisen Stützstellen sehr rudimentär Sie beinhaltet neben dem Verlauf der Fahrstreifen-
gehalten, so dass einige Teams die Karten manuell begrenzungen die Fahrstreifentopologie, Vorfahrts-
editiert haben (z. B. [54, 55]). regeln und Lichtsignalanlagen [29].
Bei Team AnnieWay kamen im Rahmen der Co- Auch die Fahrt auf der Autobahn der BMW
operative Driving Challenge 2011 manuell erstellte, Group Forschung und Technik basierte auf Karten-
hochgenaue Karten mit Fahrstreifenverläufen daten mit zentimetergenauen Fahrbahninformatio-
zum Einsatz: Der rechte Fahrstreifen wurde mög- nen [57]. Der genaue Einsatzzweck wird nicht näher
lichst mittig abgefahren und die entsprechenden erläutert; anscheinend dienen die Kartendaten aber
GPS-Stützpunkte aufgezeichnet; die Berücksichti- sowohl zur Stützung der Lokalisierung als auch zur
gung der benachbarten Fahrstreifen für das Szena- Stützung der Wahrnehmung (vgl. Abb. 3 in [57]).
rio erfolgte durch eine modellbasierte Ergänzung. Während die Fahrten der VisLab Interconti-
Eingesetzt wurde die Karte für die Zuordnung von nental Autonomous Challenge (VIAC) mangels
detektierten Fahrzeugen, also zur Stützung der Um- verfügbaren Kartenmaterials noch ohne Kartenda-
feldwahrnehmung [42]. ten erfolgten, kommen in den nachfolgenden For-
Im Projekt Stadtpilot kommen noch detaillier- schungsaktivitäten um Broggi nun auch Kartenda-
tere und genauere Karten zum Einsatz (vgl. S. 97 in ten zum Einsatz: So wurde die Navigationsebene
[23]): Sie beinhalten ähnlich dem RNDF die topolo- (Broggi: long-term planning) eingeführt, die das
gischen Informationen in Form von Verknüpfungen Fahrzeug nach der hier gewählten Definition erst
zwischen den Fahrstreifen [56]; die geometrische zu einem autonomen Fahrzeug werden lässt. Dazu
Information wurde manuell aus hochgenauen Luft- wurden OpenStreetMap-Karten mit weiteren In-
bildern entnommen. Die abgelegten geometrischen formationen wie Anzahl Fahrstreifen, Fahrstreifen-
Merkmale stellen Verläufe der Fahrbahnbegrenzun- breite, Lichtsignalanlagen angereichert (vgl. S. 1412
gen dar. Die Karte wird sowohl zur Stützung der in [30]). Eine Stützung der Lokalisierung bzw. der
Umfeldwahrnehmung (vgl. S. 105 in [23]) als auch Wahrnehmung innerhalb des Sensorsichtbereichs
zur Stützung der Lokalisierung (vgl. S. 97 u. 101 in ist den Veröffentlichungen nicht zu entnehmen.
[23]) genutzt. Im Rahmen der Aktivitäten der Universität der
Die Bertha-Benz-Fahrt erfolgte ebenfalls mit Bundeswehr München kommen den Angaben zu-
hochgenauen Kartendaten, die „von größter Wich- folge lediglich ungenaue Straßenkartendaten (Ge-
tigkeit“ waren [29]. Laut der Darstellung in [29] nauigkeit von ca. 10 m) zum Einsatz; sie dienen der
wurden drei unterschiedliche Kartentypen einge- Routenplanung und gegebenenfalls der Generie-
setzt: Karten mit 3D-Punktlandmarken, Karten mit rung von initialen Kreuzungshypothesen. Die Da-
einem exakten Abbild der Fahrbahnmarkierungen ten werden beispielsweise aus OpenStreetMap ohne
(Seitenmarkierungen, Haltelinien und Bordsteine) eine weitere Attributierung mit Details der Fahrzeu-
und Tramschienen sowie Karten mit etwas abstra- gumgebung verwendet (siehe hierzu auch [33]).
hierter Information auf Fahrstreifenebene. Die Kar-
ten wurden für alle drei der oben genannten Zwecke 61.2.2.3 Fazit
(Lokalisierung und Stützung der Wahrnehmung in- Kartendaten spielen derzeit für das autonome Fah-
nerhalb und außerhalb des Erfassungsbereichs) ein- ren eine zentrale Rolle. Ihre Einsatzzwecke sind viel-
gesetzt. Der Kartierungsprozess der 3D-Punktland- fältig: Von reiner Unterstützung bei der Routenpla-
markenkarte erfolgt offline, aber vollautomatisch nung (z. B. [30] oder [33]) bis hin zur vollständigen
mit einem Stereokamerasystem. Die Projektion des Unterstützung der Wahrnehmung von Fahrbahn-
3D-Fahrzeugumfelds aus den Stereokameras auf markierungen (z. B. [23]) bzw. dem Ersatz einer
die Fahrbahnebene ist Grundlage für die Erstellung satellitengestützten Lokalisierung (z. B. [29] oder
der Karte mit Fahrbahnmarkierungen sowie der [36]) sind alle Formen der Integration von Karten-
fahrstreifengenauen Karte. Die fahrstreifengenaue daten zu finden. Dabei werden keine Strategien zum
Karte wurde durch manuelles Editieren der Karte Umgang mit kurzfristig veränderten Fahrbahnver-
1150 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
.. Abb. 61.2 Die derzeitigen optischen Kommunikationsmechanismen erlauben beispielsweise bei der Auffahrt auf die
Autobahn nur eine indirekte Kommunikation. Car-to-Car-Kommunikation würde eine direkte Übermittlung der Fahrerabsicht
erlauben.
Eine klassische Situation, die Kommunikation und projekt „Kooperative und optimierte Lichtsignal-
Kooperation erfordert, ist die Einfädelsiuation in steuerung in städtischen Netzen“ (KOLINE) auf
fließenden Verkehr z. B. an Autobahnauffahrten, wie dem Braunschweiger Stadtring gezeigt. Im Fokus
sie beispielhaft in . Abb. 61.2 skizziert ist. stand die Optimierung des Verkehrsflusses hinsicht-
Auch wenn der Begriff der Kooperation in der lich Lärmentwicklung und Ressourcenverbrauch im
Wissenschaft und im Bereich der Fahrerassistenz weit innerstädtischen Bereich – erreicht wurde dies mit
verbreitet ist, so ist er im Bereich des autonomen Fah- der Minimierung von Lärm- und Umweltbelastun-
rens nicht eindeutig definiert. Fasst man den Koopera- gen durch kooperative Verkehrsflussoptimierung
tionsbegriff weiter, lassen sich zwei Ausprägungsstu- [62]. Durch infrastrukturbasierte Sensorik und
fen erkennen: Die erste Stufe umfasst die Einhaltung die Telemetrie des Versuchsträgers wurden das
der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für eine Verkehrsaufkommen und die durchschnittliche
Fahrt im öffentlichen Straßenverkehr erforderlich Fließgeschwindigkeit bestimmt und eine optimale
sind. Dies sind im Wesentlichen die Vorgaben durch Anfahrstrategie bzgl. obiger Kriterien berechnet.
die StVO und umfassen kollisionsvermeidende Stra- Parallel wurde die Anpassung der Lichtsignalpha-
tegien und grundlegende Ansätze zur Verkehrsfluss- sen untersucht: Es konnte gezeigt werden, dass sich
steuerung, z. B. das Rechts-vor-links-Gebot oder das die Anzahl notwendiger Haltevorgänge um ca. 20 %
Reißverschlussverfahren. Die Kommunikation der reduzieren lässt; erreichte Kraftstoffeinsparungen
eigenen Absichten erfolgt dabei über die Signalein- lagen im mittleren einstelligen Prozentbereich [63].
richtungen des Fahrzeugs oder das jeweilige Verhal- Weitere Veröffentlichungen von Untersuchun-
ten der Verkehrsteilnehmer und dient als Kooperati- gen erfolgten im Rahmen der Grand Cooperative
onsanforderung gegenüber anderen Teilnehmern. Als Driving Challenge (GCDC) im Jahr 2011. Auch
zweite Stufe lassen sich Ansätze zur weitergehenden hier lag der Fokus auf der Optimierung des Ver-
Optimierung des Verkehrsverhaltens identifizieren, kehrsaufkommens durch automatische Pulkbildung
beispielsweise das bewusste Öffnen einer Lücke für auf Autobahnen (sog. Platooning) [64]. Die Kom-
Fahrzeuge, die den Fahrstreifen wechseln möchten. munikation wurde auf Basis einer Car2X-Plattform
Beide Stufen sind nicht an die explizite Verwendung realisiert. An dem Projekt waren insgesamt neun
von C2X – oder anderen Kommunikationsmechanis- Teams beteiligt, die jeweils ihre Ansätze für dieses
men gekoppelt, sondern können prinzipiell ebenfalls Szenario unter Beweis stellen mussten. Das Team
durch bordeigene Sensorik realisiert werden. AnnieWay ging als Sieger aus dem Wettbewerb her-
vor [42]; mit dem Wettbewerb wurde gezeigt, dass
61.2.3.2 Kooperation im derzeitigen dieses Szenario technisch beherrschbar ist.
Kontext autonomen Fahrens
Bisher sind kooperative Aspekte der zweiten Stufe 61.2.3.3 Fazit und Ausblick
im Bereich des autonomen Fahrens nur schwach Auch wenn die Verwendung expliziter Kommuni-
ausgeprägt. Erste Ansätze wurden im Forschungs- kationswege wie Car2X-Technologien zur Reali-
1152 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
sierung kooperativer Mechanismen grundsätzlich denkbare Ausprägung wäre die gemeinsame Aktu-
61 vielversprechende Möglichkeiten bietet, ist dieser alisierung von Kartendaten, wie in ▶ Abschn. 61.2.2
Ansatz mit Herausforderungen verbunden: Beim angesprochen.
2 Einsatz im öffentlichen Straßenverkehr muss immer
mit Verkehrsteilnehmern gerechnet werden, die
nicht über diese Kommunikationskanäle verfügen. 61.2.4 Lokalisierung
3 Diese Teilnehmer sind bei der Ausarbeitung der Ko-
operationsstrategien ebenso zu berücksichtigen wie Auch der Lokalisierung kommt eine Schlüsselrolle
4 direkt involvierte Verkehrsteilnehmer. zu: Ohne eine Lokalisierung des Fahrzeugs ist die
Gleichzeitig werden der Aspekt der Dateninte- Nutzung von Kartendaten unmöglich und ohne
5 grität und die Vermeidung von wissentlichem oder die Kenntnis der relativen Bewegung des eige-
unwissentlichem Missbrauch relevant, ebenso wie nen Fahrzeugs zwischen zwei Zeitpunkten ist die
Fragen der Datensicherheit. Die Verwendung die- Wahrnehmung des Umfelds zumindest signifikant
6 ser Technologien kann also nur eine Ergänzung zu erschwert. Auch die häufig im Kontext der Koope-
bordeigener Sensorik bilden. So ist eine zentrale ration diskutierte Kommunikation zwischen den
7 Erfahrung in [42], dass die endgültige Plausibilisie- Fahrzeugen erfordert größtenteils einen Austausch
rung der Kommunikationsdaten stets durch bordei- der Positionen, um eine Zuordnung der Nachrich-
gene Sensorik erfolgen muss. Bei der GCDC wurde ten zu ermöglichen.
8 ein bordeigener Radarsensor zur Plausibilisierung
der empfangenen Car2X-Nachrichten verwendet, 61.2.4.1 Erkenntnisse aus der DARPA
9 um fehlerhafte Daten anderer Verkehrsteilnehmer Urban Challenge
erkennen zu können (vgl. S. 8 in [42]). Aus der DARPA Urban Challenge folgt zum Thema
10 Die Umsetzung kooperativer Mechanismen kon- Lokalisierung die wesentliche Erkenntnis, die rela-
zentriert sich bisher primär auf diejenigen Bereiche, tive Eigenbewegung von der absoluten Lokalisierung
die sich aus den Regeln des öffentlichen Straßenver- strikt zu trennen [67]. Diese beiden Lösungen unter-
11 kehrs ergeben. Auch wenn der Einsatz weiterführen- scheiden sich in ihrem Optimierungsziel: Die rela-
der kooperativer Mechanismen prinzipiell Potenzial tive Eigenbewegung (in [67] „local frame“ genannt)
12 für eine ganzheitlichere Optimierung des öffentli- beschreibt einen sprungfreien Positionsverlauf von
chen Straßenverkehrs bietet und bereits in einigen einem beliebigen Startpunkt aus mit dem Ziel, zwi-
Forschungsprojekten untersucht wurde, sind Fragen schen zwei Zeitschritten möglichst exakt zu sein. Die
13 wie die effektive Umsetzung im Zusammenspiel mit langfristige Position kann jedoch driftbehaftet sein.
nicht-technisierten Verkehrsteilnehmern und As- Die absolute Lokalisierung (in [67] „global
14 pekte der Datensicherheit und -integrität nach wie frame“ genannt) hat hingegen zum Ziel, in einem
vor ungelöst. Auch die Berücksichtigung und die ortsfesten Koordinatensystem die beste Positions-
15 Kompensation von Fahrfehlern einzelner Verkehr- lösung zum aktuellen Zeitpunkt zu finden und
steilnehmer werden bisher nicht betrachtet. langfristig keine Drift aufzuweisen – dafür kön-
Als einer der nächsten Schritte im Bereich der nen kurzfristige Sprünge in der Position auftreten.
16 Kooperation scheint sich die Fusion von Sensor- Diese absolute, globale Lokalisierung ist in diesem
daten anderer Verkehrsteilnehmer und der Infra- Abschnitt Schwerpunkt der Vergleiche zwischen
17 struktur mit bordeigener Sensorik abzuzeichnen, den Projekten. Dabei geht es in den betrachteten
zusammengefasst im Begriff der kooperativen Projekten primär um die Lokalisierung in einer
Perzeption. Erste Ansätze wurden beispielsweise (globalen) Karte.
18 in der Forschungsinitiative „Kooperative Sensorik
und kooperative Perzeption für die präventive Si- 61.2.4.2 Lokalisierung im derzeitigen
19 cherheit im Straßenverkehr“ (KoFAS) im Jahre 2013 Kontext autonomen Fahrens
untersucht [65, 66], jedoch nach aktuellem Kennt- Als jüngste Veröffentlichung ist hier die Bertha-
20 nisstand bisher noch nicht für autonome Fahrzeuge Benz-Fahrt zu nennen. Die Lokalisierung erfolgt
im Sinne dieses Artikels eingesetzt. Eine weitere durch einen Abgleich der Merkmale mit einer
61.2 • Stand der Forschung
1153 61
rückwärtsgerichteten Mono-Kamera (siehe z. B. dem Ansatz nach eigenen Angaben Genauigkeiten
[68, 69]). Durch einen Abgleich der im Online-Bild von ca. 10 m bis 20 m in der GPS-Lokalisierung;
gefundenen Markierungen mit den in der Karte eine Stützung der Pose in der Karte erfolgt ebenfalls
hinterlegten Markierungen wird die exakte Position durch einen Abgleich mit Umgebungsdaten – aller-
des Fahrzeugs ermittelt. Dabei werden die Suchbe- dings auf einem sehr hohen Abstraktionslevel [33].
reiche für die Markierungen im Online-Bild gezielt
aus den Kartendaten vorgesteuert. Die Detektion 61.2.4.3 Fazit
der Fahrbahnmarkierungen erfolgt also mit de- Eine globale Position des Fahrzeugs ist in den meis-
tailliertem Vorwissen (siehe auch ▶ Abschn. 61.2.1 ten Projekten erforderlich, um externe Daten in das
sowie [29]). Ergänzend zu diesem Ansatz werden System zu integrieren. Zu diesen externen Daten
einzelne Bildmerkmale aus einem Mono-Bild mit gehören Kartendaten und C2X-Daten. Offenbar
einer 3D-Punktlandmarkenkarte abgeglichen (siehe reichen jedoch – zumindest in innerstädtischer Um-
z. B. [68]); nach eigenen Angaben kommt dieser gebung – die Genauigkeiten selbst der hochgenauen
Ansatz ohne GPS aus [29]. Hier stellt sich jedoch Ortungssysteme nicht aus, um eine Fahrzeugstabi-
die Frage, wie ohne GPS- oder alternative satelli- lisierung zuverlässig durchführen zu können [36].
tenbasierte Lokalisierung Kartendaten von oder mit Daher werden Kartendaten in einer hohen Genau-
anderen Verkehrsteilnehmern genutzt werden soll. igkeit und mit einem hohen Detailgrad eingesetzt,
In [36] werden prinzipiell zwei unterschiedliche um die Fahrzeugpose über Umfeldmerkmale stüt-
Herangehensweisen vorgestellt: Zum einen wurde zen zu können. In einigen Ansätzen ist auch gar
eine Lokalisierung mithilfe einer hochgenauen keine absolute globale Position erforderlich, son-
INS-DGPS-Plattform in den RNDF-Karten wäh- dern eine kartenrelative globale Position (z. B. [33]).
rend der DARPA Urban Challenge durchgeführt. Einige Projekte verfolgen das Ziel, das System
Fehler in den Karten sowie Fehler in der globalen unabhängiger von einer hochgenauen, satelliten-ba-
Ortung wurden mithilfe eines Abgleichs von Reflek- sierten Lokalisierungslösung zu gestalten, indem sie
tanzen der Fahrbahnmarkierungen und Bordstei- entweder mehr auf Kartendaten oder mehr auf die
nen aus Laserscannerdaten abgeglichen. Zum an- Umfeldwahrnehmung setzen.
deren dient eine vorab aufgezeichnete, vollständige
gitterbasierte Umgebung der Fahrbahnoberfläche
mit Reflektanzwerten eines Laserscanners – die off- 61.2.5 Missionsumsetzung
line in ihrer Position korrigiert wurde – bei erneuter
Überfahrt als Einpassungsreferenz zur Ermittlung Planung von Verhalten und eine unterlagerte Rege
der korrekten Pose (= Position + Ausrichtung). Dies lung sind Kernaspekte der Fahraufgabe, die ein auto-
geschieht ebenfalls durch einen Abgleich mit den nomes Fahrzeug per definitionem selbst beherrschen
Reflektanzwerten des Laserscanners. muss. In [72] bzw. in ▶ Kap. 2 wird die Fahraufgabe
Rein DGPS-getrieben hingegen fährt momen- in drei Ebenen unterteilt: Navigation, Führung und
tan das Fahrzeug Leonie im Projekt Stadtpilot: Dort Stabilisierung. Eine ähnliche Hierarchie findet sich
wurden Ansätze zum Abgleich von Kartendaten bei vielen Projekten im Bereich des autonomen
und Umgebungsdaten (Fahrbahnmarkierungen) Fahrens [30, 73, 74, 75]. Da sich so eine klare hi-
skizziert und auf dem Testgelände erprobt [70, 23], erarchische Gliederung der Aufgaben im Bereich
jedoch bisher nicht im autonomen Betrieb auf dem der Missionsumsetzung ergibt, orientiert sich die
Stadtring eingesetzt. folgende Diskussion ebenfalls an diesem Drei-Ebe-
Der Ansatz der Universität der Bundeswehr nen-Modell: Die Begriffe Navigation, Führung und
München ist grundsätzlich anders: Mit der Er- Stabilisierung werden entsprechend verwendet.
kenntnis „Never Trust GPS“ (vgl. [71]) wurde in der Die obere Ebene hat planenden Charakter:
Tradition von [51] ein System entwickelt, das sich Der Planungshorizont der Navigation umfasst die
nahezu vollständig auf die Wahrnehmung stützt gesamte Mission, so dass sie auch als strategische
und Kartendaten sowie GPS nur als ersten Hinweis Ebene bezeichnet wird. In der Führungsebene wer-
sowie zur Routenplanung einsetzt. Hier reichen den Fahrentscheidungen getroffen, bspw. durch
1154 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
Mission
Missionsplanung liche Kommunikation mit dem Fahrgast statt: Es
können hier die Zielorte oder spontane Zwischen-
3 haltepunkte dem Fahrzeug übermittelt werden.
Führung (Taksche Ebene) Üblicherweise werden auf dieser Ebene die Kar-
Mensch-Maschine-Schnittstelle
4
Szene
Situaonsbewertung tendaten als gerichteter Graph repräsentiert, so dass
Entscheidungsfindung
sich eine Mission mit Algorithmen zur Graphensu-
5 che planen lässt. Das Ergebnis ist eine hinsichtlich
Stabilisierung (Operave Ebene)
bestimmter Kriterien optimale Route.
Merkmale Der von Team AnnieWay [75] in der Urban
6 Trajektorienplanung
Challenge verwendete Algorithmus erstellt unter
Regelung Verwendung der gegebenen, fahrstreifengenauen
7 Karte (RNDF, vgl. ▶ Abschn. 61.2.2) eine – maßgeb-
Aktorik lich in Bezug auf die Fahrzeit – optimale, fahrstrei-
fengenaue Route, die bereits die zu fahrende Bahn
8
Lenkung Antrieb Bremsen
[76]. Eine solcher Zustandsautomat hat überge- ner Kreuzung ohne Lichtsignalanlage die Vorfahrt
ordnete Systemzustände wie das Durchführen von gewährt werden muss [74]. In [73] beschreibt das
Fahrstreifenwechseln und Überholvorgängen, das Team der Carnegie Mellon University seine Her-
Anfahren von Haltepunkten in Kreuzungen, das angehensweise an das Problem. Das zentrale Ele-
Entscheiden eines Überfahrens einer Lichtsignalan- ment ist ein Schätzer. Dieser ermittelt zum einen
lage beim Farbwechsel von Grün auf Gelb oder das durch Beobachtung der Ankunftsreihenfolge und
Durchführen von kooperativen Manövern – z. B. Berücksichtigung der Verkehrsregeln die Vorfahrts-
dem gezielten Öffnen einer Einscherlücke für das reihenfolge und identifiziert zum anderen durch Be-
Einfädeln eines Fremdfahrzeugs vor einem auto- obachtung des fließenden Verkehrs an Kreuzungen
matisierten Straßenfahrzeug an Autobahnauffahr- Lücken, die das Passieren der Kreuzung oder das
ten. Das Team Carolo der TU Braunschweig [76] Einfädeln in den fließenden Verkehr erlauben [73].
verwendete einen hybriden Ansatz aus einem tra- Die Verhaltensplanung zum Passieren von
ditionellen, regelbasierten Zustandsautomaten zur Kreuzungen mit Lichtsignalanlagen wird in [62]
Handhabung von abstrakten Manövern wie Parken, und [80] berücksichtigt: Per C2X-Kommunikation
Wenden oder für Kreuzungen und aus einem ver- werden verbleibende Signalzeiten der Ampeln über-
haltensbasierten DAMN-Arbitrationsmodell (vgl. tragen und eine energieoptimale Anfahrstrategie
[77]) zum regulären Fahren entlang von Straßen unter Berücksichtigung möglicher Rückstaulängen
und zur Hindernis- Kollisionsvermeidung. errechnet und als Fahrstrategie ausgeführt.
Der bei BMW im Rahmen des ConnectedDri- Aus Sicht der Autoren ist das Handhaben von
ve-Projekts zum hochautomatisierten Fahren auf Perzeptions- und Situationsprädiktionsunsicherhei-
Autobahnen in [41] und [57] gewählte Ansatz ten eine der zentralen Herausforderungen auf der
weicht von dem zuvor genannten Ansatz dahinge- Führungsebene. An der Carnegie Mellon Univer-
hend ab, dass Längs- und Querführung voneinander sität [81] wird ein analytisches Prädiktionsmodell
entkoppelt betrachtet werden. Es wird ein hybrider, bei der Bewertung von taktischen Fahrmanövern
deterministischer Zustandsautomat zur Definition eingesetzt. Die Trennung von Prädiktions- und Kos-
des übergeordneten Fahrverhaltens eingesetzt und tenmodell vereinfacht hier die Modellierung. Die
ein Entscheidungsbaum als hierarchischer Ent- Evaluation beschränkt sich auf simulierte Daten
scheidungsfindungsprozess durchlaufen. In diesem und Messunsicherheiten werden noch nicht berück-
Entscheidungsbaum wird aus einer Situationsinter- sichtigt. In [82] zeigt das gleiche Team die Berück-
pretation heraus ein Fahrwunsch ermittelt, dessen sichtigung von Unsicherheiten bei der Planung des
Durchführbarkeit überprüft wird; nach erfolgrei- Längs-Fahrverhaltens innerhalb eines Fahrstreifens
cher Prüfung wird in den Zustand gewechselt, der mittels eines Markov-Entscheidungsprozesses.
das entsprechende Fahrmanöver ausführt. An der TU Braunschweig wurde die Berück-
Ähnlich zum zuvor besprochenen Ansatz wird sichtigung von Perzeptions- und Prädiktions-
in [78] an der TU München ein Zustandsautomat unsicherheiten mittels partiell beobachtbarer
kombiniert mit einer Fuzzy-Logik zur Situations- Markov-Entscheidungsprozesse in einer ersten Im-
bewertung eingesetzt. An der Universität der Bun- plementierung für Fahrstreifenwechsel im Innen-
deswehr wird auf taktischer Ebene ein einfacher stadtverkehr gezeigt [43].
hierarchischer Zustandsautomat mit Metazustän-
den wie Konvoi-Fahren, Tentakel-Navigation (vgl. 61.2.5.3 Stabilisierung
▶ Abschn. 61.2.5.3) oder Wenden genutzt [79]. Die Stabilisierungsebene umfasst die Trajektorien-
Besonders herausfordernd für autonome Stra- berechnung und die Regelung der Stellgrößen für
ßenfahrzeuge ist das regelkonforme Verhalten die Fahrzeugaktorik (Lenkung, Antrieb, Bremse).
in Kreuzungssituationen. Im Rahmen der Urban Die Verfahren zur Trajektorienberechnung lassen
Challenge nutzte das Team Junior der Stanford Uni- sich in zwei Gruppen einteilen: Verfahren zur Be-
versität in einer Karte hinterlegte kritische Zonen rechnung in strukturierten Umgebungen, z. B. ent-
(„critical zones“), um zu überprüfen, ob vorfahrt- lang von Straßen, und Verfahren zur Berechnung
berechtigten Fahrzeugen vor einem Überqueren ei- in unstrukturierten Umgebungen. Letztere wurden
1156 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
zum Beispiel in der Urban Challenge zum Fahren ist über die Zeit konsistent. Da die Modellannah-
61 auf Parkplätzen oder zum Umfahren von Blockaden men über die zeitliche Veränderung des Umfeldes
genutzt [73, 74, 75]. Auf die Berechnung in struk- fehlerbehaftet sind, ist eine Rückführung über die
2 turierten Umgebungen wird im Folgenden näher Umfeldwahrnehmung erforderlich. Dadurch ent-
eingegangen. spricht die Grundcharakteristik dieses Ansatzes
Wie bei den meisten Teams der Urban Chal- nach Auffassung der Autoren nach wie vor einer
3 lenge wurde auch vom Team AnnieWay ein bahn- Regelung. Das Verfahren wurde im Versuchsträger
basiertes Konzept zur Bewegungsplanung verfolgt AnnieWay erprobt und kam ebenfalls bei Junior 3
4 [75]: Bei AnnieWay wird von der Führungsebene zum Einsatz [37].
eine Sollbahn vorgegeben, die einem Fahrstreifen- An der TU Braunschweig präsentierte Wille [23]
5 verlauf folgt, aber auch einen Fahrstreifenwechsel eine a priori ausgeführte Bahnplanung zur Berech-
beinhalten oder über eine Kreuzung führen kann. nung einer optimalen Bahn. Die Stanford University
Um der Bahn zu folgen, wird ein geschwindigkeits- demonstrierte zusammen mit dem Electronic Re-
6 unabhängiger Querregler verwendet. Die Trajekto- search Lab von Volkswagen [86] das GPS-basierte
rie ergibt sich erst aus der Längsregelung, die den Abfahren und Ausregeln einer Trajektorie an der
7 freien Vorausbereich der Bahn und somit die Bewe- Haftgrenze beim Pikes Peak Hill Climb.
gungen der anderen Fahrzeuge im Umfeld berück-
sichtigt. Eine zusätzliche reaktive Schicht überprüft 61.2.5.4 Fazit
8 die Bahn unter Verwendung einer gitterbasierten Im Bereich der Missionsumsetzung ergab sich bei
Belegungskarte auf Kollisionen mit Hindernissen vielen Teams eine Dreiteilung. Aus Sicht der Auto-
9 und wählt gegebenenfalls die günstigste der vor- ren liegt ein Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten
berechneten Alternativbahnen – in Anlehnung an im Feld der taktischen Verhaltensplanung und bei
10 die Fühler von Insekten auch als „tentacles“ [83] be- der Trajektorienberechnung. Auf taktischer Ebene
zeichnet – aus. Dieser reaktive Ansatz wird eben- werden von vielen Teams Ansätze zur Bewältigung
falls beim Versuchsträger MuCAR-3 [84] eingesetzt. von abstrakteren Manövern wie Fahrstreifenwech-
11 Dort wird allerdings keiner zuvor geplanten Bahn sel oder kooperative Fahrmanöver untersucht und
gefolgt, stattdessen fließt die Abweichung von ei- verbessert. Großer Forschungsbedarf liegt noch
12 ner vorgegebenen Route – bestehend aus globalen im Bereich der Situationsprädiktion, der Situati-
Wegpunkten – in die Berechnung der Kosten für die onsbewertung und generell im Umgang mit unsi-
tentacles ein [79]. In [30] wird ein ähnliches reakti- cherheitsbehafteten Informationen, insbesondere
13 ves Verfahren vorgestellt. wenn Absichten von anderen Verkehrsteilnehmern
Bei einer höheren Verkehrsdichte, zum Bei- geschätzt werden müssen. Auf Stabilisierungsebene
14 spiel im Stadtverkehr, ist eine trajektorienbasierte fokussiert sich die Forschung oft auf Aspekte der
Bewegungsplanung notwendig [85]. Ähnlich den Trajektorienberechnung. Viele Teams nutzen vor-
15 tentacles werden bei der Trajektorienberechnung ausplanende Ansätze, die Trajektorienbündel (wie
nach [85] zunächst Trajektorien mit minimalem z. B. die tentacles) in die Zukunft berechnen.
Ruck in Quer- und Längsrichtung generiert, die
16 in ihren Endzeitpunkten und Endpositionen vari-
ieren. Die Endpositionen variieren in Längs- und 61.2.6 Funktionale Sicherheit
17 Querrichtung zu einer vorgegebenen Referenzbahn,
typischerweise wieder einem Fahrstreifenverlauf. 61.2.6.1 Anforderungen
In einem zweiten Schritt wird die günstigste Tra- Die funktionale Sicherheit von autonomen Fahrzeu-
18 jektorie unter Berücksichtigung von prädizierten gen im öffentlichen Straßenverkehr wird aus Sicht
Bewegungen der anderen Verkehrsteilnehmer aus- der Autoren einer der wesentlichen Herausforde-
19 gewählt. Ist die Prädiktion der Verkehrssituation rungen bei der Einführung der Technologie sein.
korrekt und die Umfeldrepräsentation über die Es muss ein gesellschaftlicher Konsens gefunden,
20 Zeit konstant, entspricht dieses Verfahren einer op- wann ein autonomes Fahrzeug als sicher gilt –be-
timalen Steuerung und die berechnete Trajektorie ziehungsweise muss ein Niveau definiert werden,
61.2 • Stand der Forschung
1157 61
innerhalb dessen der Betrieb als sicher angesehen Fehler müssen Aktionen ausgeführt werden, die
werden kann und sich das Fahrzeug in einem siche- vorrangig die Gesundheit von Passagieren und an-
ren Zustand befindet. Bisher ist dies nicht der Fall, deren Verkehrsteilnehmern schützen. Sachschäden
wird aber beispielsweise im Projekt Villa Ladenburg sind zwar ebenfalls zu vermeiden, jedoch mit gerin-
der Daimler und Benz Stiftung erforscht [2]. gerer Priorität: Hierbei kann es zu Situationen kom-
Der Betrieb eines autonomen Fahrzeugs muss men, in denen gegen die Straßenverkehrsordnung
sowohl während des Normalbetriebs als auch in verstoßen werden muss, um einen Personenschaden
unvorhergesehenen Situationen und bei Auftreten zu vermeiden – beispielsweise durch Überfahren ei-
von technischen Fehlern, Fehlverhalten anderer ner durchgezogenen Linie zur Verhinderung eines
Verkehrsteilnehmer und schlechten Umweltbe- Unfalls. Es können sich auch Situationen ergeben,
dingungen möglichst sicher sein. Die Einhaltung in denen zwischen mehreren Handlungsalternati-
eines sicheren Zustands und die Überführung des ven mit möglichen Personenschäden entschieden
Fahrzeugs in einen sicheren Zustand zu jedem werden muss. Die Bewältigung dieser sogenannten
Zeitpunkt einer Fahrt sind notwendig, damit keine Dilemmasituationen erfordert eine schnelle recht-
Gefahr vom Fahrzeug für Passagiere und andere lich wie auch ethisch korrekte Verhaltensweise. Den
Verkehrsteilnehmer ausgeht. Ein möglicher sicherer Autoren ist keine Literatur bekannt, in der Ansätze
Zustand nach [87] ist beispielsweise der Stillstand genannt werden, die solche Situationen erkennen
eines Fahrzeugs an einem sicheren Abstellort, an und berücksichtigen.
dem das Fahrzeug keine Gefährdung für den Ver- Es treten hier noch ungelöste Fragen auf, die ei-
kehr darstellt – dies kann beispielsweise ein Sei- nen starken Bezug zur gesellschaftlichen Akzeptanz
tenstreifen der Autobahn, ein ausreichend breiter der Technologie haben: Hat die Sicherheit der Pas-
Straßenrand auf Landstraßen oder ein Parkplatz sagiere in einem autonomen Fahrzeug eine andere
sein. Im städtischen Straßenverkehr mit niedrigen Priorität als die Sicherheit weiterer Verkehrsteilneh-
Relativgeschwindigkeiten ist ein Halt auch auf ei- mer? Wie soll sich ein Fahrzeug entscheiden, wenn
nem normalen Fahrstreifen denkbar, jedoch nur ein Personenschaden unausweichlich erscheint?
dann, wenn keine Rettungswege blockiert werden. – Neben dem Stillstand sind weitere Aktionen zur
Die Erlangung eines sicheren Zustands ohne die Erlangung eines sicheren Zustands denkbar. Dazu
Übergabe an den menschlichen Fahrer ist technisch gehören eine Reduzierung der aktuellen Geschwin-
anspruchsvoll und einer der Hauptgründe, warum digkeit, eine Erhöhung von Sicherheitsabständen,
der Fahrer in heutigen Fahrerassistenzsystemen Änderungen bei der Planung von Fahrmanövern
eine überwachende Aufgabe einnehmen muss. – wie zum Beispiel eine verringerte Geschwindig-
Ein menschlicher Fahrer steht in einem autono- keit oder erhöhte Kurvenradien – und Änderungen
men Fahrzeug nicht unbedingt zur Verfügung, da bei der Auswahl von Fahrmanövern, einschließlich
der Betrieb sowohl mit als auch ohne Passagiere der Verhinderung von Fahrmanövern. Für Fah-
an Bord möglich ist. Der Einsatz von redundanten rerassistenzsysteme werden daher Aktionspläne
und dadurch hochverfügbaren Systemen erscheint zur Erlangung eines sicheren Zustands von [89, 90]
notwendig; beispielsweise erfordern ein Fahrstrei- vorgeschlagen. Diese werden zwar in Fahrerassis-
fenwechsel und das Anhalten auf dem Seitenstreifen tenzsystemen genutzt, jedoch auch dann, wenn der
der Autobahn eine funktionierende Umfeldwahr- menschliche Fahrer nicht auf eine Übernahmeauf-
nehmung, eine Bewertung von Handlungsalterna- forderung reagiert.
tiven hinsichtlich des auftretenden Risikos und eine Zusätzlich sind im Fehlerfall Aktionen zur
zuverlässige Umsetzung der Fahrentscheidungen. Selbstheilung sinnvoll, die die aktuelle Leistungsfä-
Diese Anforderung eines Anhaltens an einer siche- higkeit des Fahrzeugs wieder erhöhen können (vgl.
ren Stelle im Fehlerfall ist auch ein Bestandteil der dazu [91]). Die Erkennung von Dilemmasituatio-
Zulassung von autonomen Fahrzeugen in Nevada, nen, die Auswahl von Aktionen zur Verhinderung
USA [88]. von gefährlichen Situationen und die Reduzierung
Bei einer drohenden oder akuten Gefährdung von Unfallfolgen erfordern die Kenntnis der eige-
durch externe Ereignisse oder interne technische nen Leistungsfähigkeit eines autonomen Fahrzeugs.
1158 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
Zusammen mit der aktuellen Szene und deren mög- nicht möglich bzw. erfolgreich ist, erfolgt ein Not-
61 lichen Entwicklungen können Handlungsalterna- bremsmanöver [78].
tiven identifiziert und die beste davon ausgewählt Wie bereits erwähnt, zeigte das Fahrzeug BRA-
2 und umgesetzt werden, was unter anderem von [2, iVE automatisiertes Fahren im öffentlichen Stra-
92] und [93] gefordert wird. ßenverkehr 2012 bei einer Demonstration [30]: Auf
Teilen der Strecke war kein Fahrer am Fahrerplatz,
3 61.2.6.2 Funktionale Sicherheit jedoch konnte der Beifahrer durch eine Betätigung
im derzeitigen Kontext des Gangwählhebels ein Notbremsmanöver erzwin-
4 autonomen Fahrens gen. Dies lässt darauf schließen, dass das Fahrzeug
Im Folgenden werden die Versuchsträger der hier be- noch nicht über ein umfassendes Sicherheitssystem
5 trachteten Projekte hinsichtlich ihrer Sicherheitskon- verfügt, was im Fehlerfall oder bei externen Ereig-
zepte untersucht. Für alle gilt bisher, dass aufgrund nissen einen sicheren Zustand erreicht. Außerdem
der zuvor skizzierten, noch ungelösten technischen verfügt das Fahrzeug über eine Fernsteuerung, ge-
6 und ethischen Fragestellungen ein Sicherheitsfahrer nannt e-stop, die das Fahrzeug ebenfalls zum Anhal-
im öffentlichen Straßenverkehr notwendig ist, der in ten zwingen kann [94].
7 gefährlichen Situationen eingreifen kann und muss. Das Fahrzeug BOSS der Carnegie Mellon Uni-
Daraus folgt, dass bisher demonstriertes autonomes versity wurde nach der DARPA Urban Challenge
Fahren im öffentlichen Straßenverkehr nach [17] als weiter entwickelt. Insbesondere das mit SAFER
8 teilautomatisiert einzustufen wäre. (safety for real-time systems) betitelte Konzept zur
Im Projekt Stadtpilot der Technischen Univer- Redundanz von Softwarekomponenten erscheint
9 sität Braunschweig kann der Sicherheitsfahrer im geeignet, um Fehler in Softwarekomponenten
öffentlichen Straßenverkehr zu jedem Zeitpunkt durch Umschaltung auf redundante Komponenten
10 der Fahrt die Kontrolle über das Fahrzeug durch zu kompensieren [95]. Die Umschaltung zwischen
einen Eingriff in die Aktorik erlangen, wodurch er Komponenten erfolgt hierbei in Echtzeit. Da der
sofort das technische System überstimmt. Bei Sys- SAFER-Ansatz keine Hardware-Redundanz oder
11 temfehlern erhält der Sicherheitsfahrer die Kon- Sensor-Redundanz vorsieht, ist er als Erweiterung
trolle über das Fahrzeug und muss daher ständig für weitere Sicherheitsmaßnahmen zu sehen [95].
12 dem Verkehrsgeschehen aufmerksam folgen. Auf Als Nachfolger des Fahrzeugs Junior aus der
abgesperrtem Gelände sind auch Funktionen zur DARPA Urban Challenge entwickelten die Stan-
Degradation der Leistungsfähigkeit implementiert, ford University und das Volkswagen Electronic
13 die beispielsweise abhängig von der Qualität der Research Lab den Versuchsträger Junior 3: Das
ermittelten Position in der Welt eine Reduzierung Fahrzeug verfügt über sogenannte „silver switches“,
14 der Maximalgeschwindigkeit erzwingen. Auch die die eine Aktivierung des Fahrzeugführungssystems
Straßen- und Umweltbedingungen werden bereits steuern; sind diese „silver switches“ aktiviert, wer-
15 berücksichtigt und führen zu einer vorsichtigeren den die Steuerbefehle des Fahrzeugführungssys-
Fahrweise des Versuchsträgers [93, 46, 23]. tems an das Fahrzeug durchgereicht. Bei einem
Der Versuchsträger MuCAR-3 der Universität Fahrereingriff oder einer Deaktivierung wird die
16 der Bundeswehr in München ist in der Lage, sich Kontrolle an den Sicherheitsfahrer übergeben. In
selbst zu überwachen und seine Leistungsfähigkeit der „fail-safe“-Stellung der „silver switches“ wer-
17 zu reduzieren, was bis hin zu Notbremsmanövern den die Steuerbefehle nicht weitergegeben und die
erfolgt. Der vorhandene Sicherheitsfahrer kann Kontrolle obliegt dem Sicherheitsfahrer, wodurch
auch hier zu jedem Zeitpunkt eingreifen. Durch die ein teilautomatisierter Betrieb im Straßenverkehr
18 Überwachung von Lebenszeichen und die Plausibi- möglich ist. Zur Überwachung der Software wird
lisierung von Messwerten und Berechnungsergeb- ein Health-Monitor eingesetzt, der Fehlfunktionen
19 nissen von Hard- und Softwaremodulen werden von Softwarekomponenten überwacht. Anders als
Neustarts oder eine Rekonfiguration fehlerhafter beim SAFER-Ansatz wird hier keine Redundanz
20 Systemteile ausgelöst, womit ein gewisser Grad an verwendet, sondern es werden Selbstheilungsfunk-
Selbstheilung realisiert ist. Falls die Selbstheilung tionen, wie zum Beispiel Komponenten-Neustarts
61.3 • Ausblick und Herausforderungen
1159 61
ausgelöst. Als Besonderheit verfügt das Fahrzeug Bis vor kurzem wurden autonome Fahrzeuge
über eine Valet-Parking-Funktion, die auch fahrer- vorwiegend in technischen Fachkreisen diskutiert
los auf einem Parkplatz demonstriert wurde. Über und lediglich in Kinofilmen erreichten Zukunftsvi-
eine Fernsteuerung kann das Fahrzeug angehalten sionen vom fahrerlosen Fahren die Öffentlichkeit.
werden [96, 37]. Seit einiger Zeit hingegen wird die allgemeine Auf-
merksamkeit und Erwartung durch regelmäßige
61.2.6.3 Fazit Erfolgsmeldungen und kurzfristige Markteinfüh-
Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen – rungsversprechen in den Medien geschürt: In Zu-
speziell an einen fahrerlosen Betrieb – ist ein Si- kunft werden Fahrzeuge erwartet, die vollautoma-
cherheitssystem notwendig, welches das Fahrzeug in tisiert Missionen ressourceneffizienter und sicherer
einen sicheren Zustand überführen kann. Der Stand absolvieren als heute.
der Forschung zeigt, dass dies bisher in keinem der Der Stand der heutigen Fahrerassistenz, in Serie
Versuchsträger so zuverlässig realisiert wurde, dass oder im Forschungsstadium, lässt zunächst hoffen.
ein Sicherheitsfahrer entbehrlich wurde. Daher Viele neue Funktionen wurden in den letzten Jahren
sind die gezeigten Resultate als teilautomatisiert gezeigt und sind auch Teil dieses Buches. Basierend
einzustufen, da entweder ein Mensch am Steuer, ein auf unseren Recherchen scheint jedoch der Weg
Beifahrer oder eine Fernsteuerung notwendig sind. zum autonomen Fahren weiter zu sein, als derzeit
Lediglich in der DARPA Urban Challenge 2007 wur- teilweise kommuniziert wird. Möglicherweise liegt
den Versuchsträger gezeigt, die auch ohne menschli- die Ursache darin, dass die Leistungsfähigkeit des
chen Fahrer auskamen – jedoch kompensierten die Menschen insbesondere mit der Unterstützung
dort eingeschränkte Umgebung und die geschulten sorgfältig entwickelter Fahrerassistenzsysteme [68]
Stuntfahrer dieses Risiko. Zudem wurden die Fahr- häufig unterschätzt wird. Im Gegensatz zu Fahreras-
zeuge von den Veranstaltern überwacht, so dass im sistenzsystemen, die primär das Ziel verfolgen, auf
Notfall die Möglichkeit genutzt wurde, über Funk in Basis von Unfallanalysen identifizierte Lücken der
die Fahrzeugführung einzugreifen. menschlichen Fähigkeiten zu kompensieren [97,
Der Stand der Forschung liefert dennoch hilf- 98] oder Routinefahrsituationen unter der Überwa-
reiche Ergebnisse zur Bewältigung der Herausforde- chung des Menschen zu automatisieren, müssen für
rung. In den betrachteten Versuchsträgern werden autonome Systeme Fähigkeiten des aufmerksamen
unterschiedliche Sicherheitssysteme und -funktio- menschlichen Fahrers erreicht werden. Erst dann
nen eingesetzt: Eine Kombination all dieser unter- können autonome Systeme über die Fähigkeiten des
schiedlichen Sicherheitssysteme und -funktionen Menschen hinausgehen und zu einer weiteren Re-
stellt einen möglichen Schritt in Richtung einer duktion der Unfallzahlen führen [100].
umfassenden funktionalen Sicherheit für autonome Ein nicht zu unterschätzender Schritt besteht
Straßenfahrzeuge dar. darin, ein aktuelles Assistenzsystem so abzusi-
chern, dass es zukünftig in einem autonomen Fahr-
zeug ohne Beaufsichtigung durch den Fahrer – das
61.3 Ausblick heißt unter anderem fehlerfrei in allen Verkehrssi-
und Herausforderungen tuationen – erwartungsgemäß funktioniert. Dabei
ist die Wahrscheinlichkeit hoch, unvorhersehbare
Zweifelsohne ist autonomes Fahren ein spannendes Konstellationen nicht berücksichtigt zu haben, die
Thema, nicht zuletzt auch deshalb, weil es jeden von gegebenenfalls zu ausbleibenden oder inadäquaten
uns – ob Autofahrer oder Fußgänger – direkt be- Systemreaktionen führen.
trifft. Die Vision, als Endausbaustufe aller Fahreras- Die Abhängigkeit von automatisierten Karten-
sistenz ein Fahrzeug sich selbst zu überlassen, weckt aktualisierungen durch die autonomen Fahrzeuge
jedoch ambivalente Gefühle in der Gesellschaft – selbst hat weitere Konsequenzen zur Folge: Das
zwischen Neugier gepaart mit Forscherdrang und autonome Fahrzeug ist nicht mehr die oberste Ins-
Skepsis, eventuell sogar ängstliche Vorbehalte ge- tanz in einer Umgebung, sondern Teil eines über-
genüber der Technik. geordneten Systems, was wiederum Auswirkungen
1160 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
auf das Konzept der Fahrzeuge hat. Die Autoren 61.4 Anhang – Fragebogen zum
61 konnten Forschungsaktivitäten im Kontext des au- Thema „Automatische
tonomen Fahrens in dieser Richtung bisher nicht Fahrzeuge“
2 identifizieren.
Zudem sind die eingangs skizzierten Frage- 61.4.1 Organisation und Zielsetzung
stellungen ebenfalls noch völlig ungeklärt: Es gibt des Projekts
3 bisher beispielsweise keine Strategie, die Wahrneh-
mungs- bzw. Interpretationsleistung eines Systems In diesem Kapitel möchten wir allgemeine und
4 auf semantischer Ebene zu bewerten. Das Thema organisatorische Informationen zu Ihrem Projekt
Redundanz ist häufig noch nicht akut, da beispiels- erfahren.
5 weise in städtischer Umgebung selbst bei Bemü- 1. Wie lautet der Name des Projekts?
hung aller zur Verfügung stehenden Mittel nicht 2. Mit welchen universitären und/oder industriel-
einmal eine nicht-redundante Lösung umsetzbar len Partnern wird das Projekt realisiert?
6 ist. Im Gegensatz zur Stabilisierungsebene kann 3. Wann wurde das Projekt gestartet bzw. wie lange
hier aber vermutlich nicht auf Redundanzkonzepte arbeiten Sie bereits an diesem Projekt?
7 aus anderen Disziplinen – wie z. B. der Luft- und 4. Was ist das Ziel des Projekts?
Raumfahrttechnik oder Kraftwerkstechnik – zu- 5. Welche Randbedingungen und besonderen An-
rückgegriffen werden. forderungen gelten für Ihr Projekt?
8 Anpassungen in der Infrastruktur sind umstrit- 6. Welche Fahrten hat Ihr Demonstrationsfahr-
ten, weil sie äußerst kostenintensiv und bei techni- zeug wann im öffentlichen Straßenverkehr
9 schen Erweiterungen sogar wartungsintensiv sind. absolviert? In welchen Domänen (Autobahn,
Die Gesetzeslage wird derzeit teilweise für einen Landstraße, urbane Umgebung) wurde Ihr Sys-
10 Probebetrieb adaptiert, allerdings bisher nie ohne tem öffentlich demonstriert?
Sicherheitsfahrer. Somit sind per definitionem
sämtliche öffentliche Demonstrationen nach [17]
11 teilautomatisiert, auch wenn die gesteckten Ziele in 61.4.2 Umfeldwahrnehmung und
den Projekten hoch-, vollautomatisiertes oder sogar -repräsentation, Lokalisierung
12 autonomes Fahren vorgeben.
Das spricht einen wesentlichen Punkt in der Im folgenden Abschnitt möchten wir erfahren, auf
derzeitigen öffentlichen Diskussion an: Es besteht, welche Weise Ihr Fahrzeug sein Umfeld erfassen
13 wie eingangs erwähnt, derzeit kein Konsens über und verarbeiten kann.
den Funktionsumfang des autonomen Fahrens. 1. Erläutern Sie kurz das allgemeine Wahrneh-
14 Ferner scheinen Angaben zur Einführung des au- mungskonzept Ihres Systems.
tonomen Fahrens in vielen Fällen sehr optimistisch 2. Welche Sensortechnologien und -systeme wer-
15 zu sein – wohingegen die Einführung von teilauto- den in Ihrem System eingesetzt?
matisierten Systemen bereits angelaufen ist. 3. Wie und welche dynamischen Objekte kann Ihr
Das Forschungsprojekt „Villa Ladenburg“ der System wahrnehmen? Wie werden diese reprä-
16 Daimler und Benz Stiftung hat die fachübergrei- sentiert?
fende gesellschaftliche Diskussion für eine interdis- 4. Wie werden statische Objekte und Randbebau-
17 ziplinäre Betrachtung zur ganzheitlichen Entwick- ung erkannt und repräsentiert?
lung und Risikoakzeptanz angestoßen. In diesem 5. Ist Ihr System in der Lage, den Status von Licht-
Projekt wurden zahlreiche Fragen und Aspekte im signalanlagen wahrzunehmen? Wie wurde dies
18 Forschungs- bzw. Entwicklungsprozess identifiziert realisiert?
[101]. Langfristig könnte sich dann über einen er- 6. Welche Arten von Verkehrszeichen werden ma-
19 folgreichen Nachweis der überlegenen Verkehrssi- schinell erkannt?
cherheit bei Vollautomatisierung die gänzlich neue 7. Unter welchen Bedingungen werden Fußgänger
20 Frage stellen, ob der fehlerbehaftete Mensch wei- und Radfahrer von der Umfeldwahrnehmung
terhin selbstständig ein Fahrzeug lenken darf [2]. in Ihrem Demonstratorfahrzeug erfasst? Wel-
61.4 • Anhang – Fragebogen zum Thema „Automatische Fahrzeuge“
1161 61
che Sensorik und welche Algorithmen werden 1. Ist Ihr System in der Lage, autonom (ohne Be-
hierfür verwendet? diener, Unterstützung/Überwachung) Fahrstrei-
8. Auf welche Weise werden Fahrstreifen wahr- fenwechselmanöver auszuführen? Wie wird die-
genommen? Welche Bedingungen müssen die ses Manöver umgesetzt? In welchen Domänen
Fahrstreifen erfüllen, um als solche wahrge- kann es ausgeführt werden (Autobahn, Land-
nommen werden? straße, Stadt)?
9. Welche Anforderungen gibt es an querfahren- 2. Wie reagiert Ihr System auf Zustände von Licht-
den Verkehr an Kreuzungen, damit er sicher signalanlagen auf der relevanten Strecke?
maschinell wahrgenommen werden kann? Wer- 3. Welche Abbiegemanöver wurden umgesetzt? Ist
den Vorfahrtsregeln erkannt? ein Abbiegen in den fließenden Verkehr reali-
10. Ist Ihr System in der Lage, aus wahrgenomme- siert?
nen Daten die Topologie von Kreuzungen zu 4. Wie behandelt Ihr System Kreuzungen ohne
bestimmen? Wie wurde dies umgesetzt? Lichtsignalanlagen? Wie verhält sich Ihr System
11. Welche Intentionen anderer Verkehrsteilnehmer bei einem Kreisverkehr?
kann Ihr System maschinell erkennen? Welche 5. Sind autonome Ein- und Ausfädelvorgänge auf
Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Autobahnen/Bundesstraßen Teil der umgesetz-
12. Wie werden die eigenen Fähigkeiten und die ten Fähigkeiten? Wie wurde dies realisiert?
Leistungsfähigkeit des Systems repräsentiert 6. Welche Notmanöver sind in Ihrem System vor-
und überwacht? Wie beeinflussen die aktuellen gesehen (z. B. Notbremse des Vorderfahrzeugs,
Fähigkeiten das Verhalten des Systems? Fußgänger betreten die Fahrbahn)? Wie wird in
13. Wie erkennt Ihr Fahrzeug die Relativlage bezo- diesen Situationen reagiert?
gen auf den eigenen Fahrstreifen? Welche Vo- 7. Welche Konzepte zum Spurhalten/Folgen des
raussetzungen (Markierungen, geometrische Fahrstreifenverlaufs wurden umgesetzt?
Annahmen) müssen dafür erfüllt sein? 8. Sind Mechanismen zur impliziten und/oder ex-
14. Werden Informationen aus digitalen Karten pliziten Kooperation mit anderen Verkehrsteil-
verwendet? Welchen Detaillierungsgrad haben nehmern umgesetzt?
diese Karten? 9. Wie ist die Missionsplanung umgesetzt? Wird
15. Basiert die Lokalisierung in den digitalen Karten die Planung während des Betriebs durchgeführt
lediglich auf satellitengestützten Systemen oder oder wird auf vorberechnete Datensätze bzw.
wird auch andere Sensorik verwendet? Falls ja, vorgefertigte Missionen zurückgegriffen?
welche Systeme und Algorithmen werden zu- 10. Wie wird auf Eingriffe seitens des/der mensch-
sätzlich zur Lagebestimmung eingesetzt? lichen Fahrer reagiert?
16. Über welche Möglichkeiten der Kommunika- 11. Sind weitere Fähigkeiten oder Manöver umge-
tion mit anderen Verkehrsteilnehmern oder der setzt, die hier bisher nicht angesprochen wurden?
Infrastruktur verfügt Ihr System? 12. Ist Ihr System in der Lage, Domänenübergänge
17. Werden die wahrgenommenen Merkmale (Ob- zu absolvieren (z. B. Abfahrt von der Autobahn
jekte, Straßenverläufe, Randbebauung etc.) in in den urbanen Bereich)? Welche Bereiche sind
einem einheitlichen Umfeldmodell zusammen- hier abgedeckt?
geführt/abstrahiert? Wie ist dieses aufgebaut?
61.4.4 Sicherheitskonzepte
61.4.3 Funktionsumsetzung und
Aktionsausführung 1. Auf welche Basis stützt sich Ihr Sicherheitskon-
zept für die Benutzung im öffentlichen Straßen-
In diesem Abschnitt werden Informationen über verkehr?
umgesetzte Fähigkeiten und durchführbare Manö- 2. Auf welche Weise wurden die oben beschrie-
ver Ihres Versuchsträgers adressiert. benen Fähigkeiten auf ihre korrekte Funktion
getestet? Wie sieht der Testablauf aus?
1162 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
3. Wie verhält sich Ihr System bei Ausfall einer 10 Pomerleau, D., Jochem, T.: Rapidly adapting machine vision
61 oder mehrerer Komponenten oder Fähigkeiten?
for automated vehicle steering. IEEE Expert 11(2), 19–27
(1996)
Wie ist Ihr Degradationskonzept umgesetzt? 11 Dickmanns, E., Behringer, R., Hildebrandt, T., Maurer, M.,
2 Thomanek, F., Schiehlen, J.: The seeing passenger car ’Va-
MoRs‐P’. In: Intelligent Vehicles Symposium, S. 68–73. IEEE,
61.4.5 Systemarchitekturen Paris (1994)
3 12 Zapp, A. : Automatische Straßenfahrzeugführung durch
Rechnersehen. Dissertation, Universität der Bundeswehr
Beschreiben Sie die in Ihrem Projekt umgesetzte München, 1988
4 Systemarchitektur (funktional, Hardware, Soft- 13 Ulmer, B.: VITA‐an autonomous road vehicle (ARV) for col-
ware). Nennen Sie zentrale Designkriterien, die die lision avoidance in traffic. In: Intelligent Vehicles Sympo-
6 61.4.6 Besonderheiten
15 Maurer, M.: Flexible Automatisierung von Straßenfahrzeu-
gen mit Rechnersehen. Nummer 443 in Verkehrstechnik/
Fahrzeugtechnik Reihe 12. VDI–Verlag, Düsseldorf (2000)
7 Sind in ihrem Projekt weitere Besonderheiten um- 16 Broggi, A., Bertozzi, M., Fascioli, A.: ARGO and the MilleMig-
lia in Automatico Tour. IEEE 14(1), 55–64 (1999). Intelligent
gesetzt, die bisher hier nicht adressiert wurden?
Systems and their Applications
Falls ja, erläutern Sie diese kurz.
8 17 Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J.,
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer,
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11 2 Maurer, M.: Autonome Automobile – Wer steuert das Fahr-
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1164 Kapitel 61 • Autonomes Fahren
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88 Nevada Department of Motor Vehicles (NDMV): Adopted
Regulation of the Department of Motor Vehicles LCB File
No. R084‐11, 2012
89 Hörwick, M., Siedersberger, K.-H.: Aktionspläne zur Erlan-
gung eines sicheren Zustandes bei einem autonomen
Stauassistenten. In: 4. Tagung Sicherheit durch Fahreras-
sistenz, München (2010)
90 Hörwick, M., Siedersberger, K.-H.: Strategy and architecture
of a safety concept for fully automatic and autonomous
driving assistance systems. In: Intelligent Vehicles Sympo-
sium, S. 955–960. IEEE, San Diego (2010)
91 Ghosh, D., Sharman, R., Raghav Rao, H., Upadhyaya, S.: Self‐
healing systems – survey and synthesis. Decision Support
Systems in Emerging Economies 42(4), 2164–2185 (2007)
92 Isermann, R.: Fault‐Diagnosis Systems: An Introduction
from Fault Detection to Fault Tolerance. Springer‐Verlag,
Berlin, Heidelberg (2006)
93 Reschka, A., Böhmer, J., Nothdurft, T., Hecker, P., Lichte, B.,
Maurer, M.: A Surveillance and Safety System based on Per-
formance Criteria and Functional Degradation for an Au-
1167 62
Bei Erscheinen der ersten Auflage dieses Handbuchs Fahren noch erheblich mehr getan werden muss,
1 Fahrerassistenzsysteme im Jahr 2009 war bereits der worauf schon in den vergangenen Ausgaben an
größte Teil der beschriebenen Fahrerassistenzsys- dieser Stelle hingewiesen wurde, wird diesem As-
62 teme in Serie. Allerdings war die tatsächliche Ver- pekt ein ausführlicher Abschnitt gewidmet, der nun
breitung im Markt bis auf wenige Ausnahmen wie auch die verwendeten statistischen Grundlagen für
Bremsassistent, Einparkhilfe und Navigation noch die Bemessung von Absicherungsstrecken darlegt.
3 sehr gering. Durch die technologischen und ferti- Ebenso wird wieder ein Ausblick auf die Evolution
gungstechnischen Fortschritte konnten in den letz- der Fahrerassistenzsysteme gegeben, wenn auch in
4 ten Jahren die Herstellungskosten erheblich gesenkt einer neuen Darstellung als Dreieck des autonomen
werden, so dass heute erhältliche Assistenzpakete Fahrens. Abschließend werden, wiederum dem Po-
5 mit vier oder fünf Hauptfunktionen für den Fahr- sitionspapier entnommen, sehr konkrete Empfeh-
zeugkäufer oftmals nicht mehr Kosten verursachen lungen für die zukünftige Forschung gegeben, die
als frühere Einzelfunktionen. Zudem sind, wie in mehr als deutlich machen, dass dieses Themenge-
6 ▶ Kap. 3 beschrieben, bedingt durch Verbraucher- biet auch für die Zukunft noch viel Potenzial bietet,
tests wie das NCAP-Rating und durch regulative Be- aber auch noch reichlich Forschungsarbeit nach
7 stimmungen für schwere Nutzfahrzeuge Fahrzeuge sich zieht.
bereits in der Serienausstattung mit Assistenzfunk-
tionen ausgerüstet. Es ist also nicht schwer, mit
8 Kenntnis dieser Entwicklung vorherzusagen, dass 62.1 Stimuli der zukünftigen
Fahrerassistenzsysteme als Selbstverständlichkeit in Entwicklung
9 Neufahrzeugen zu finden sein werden und neben
den Maßnahmen zur Antriebseffizienz den größten 62.1.1 Datenkommunikation
10 Wertzuwachs im Straßenfahrzeug bereiten werden.
Bezogen auf die Ambitionen der Entwickler der ers- Das in den 90er Jahren begonnene Internet-Zeital-
ten Stunde könnte man konstatieren: Die Mission ter hat das Fahrzeug bisher nur in einem geringen
11 ist vollbracht. Aber natürlich ist die Entwicklung Maße erreicht. Schon heute lässt sich absehen, dass
nicht abgeschlossen und es fehlt, wie im Folgen- Datenverbindungen zu immer mehr Funktionalitä-
12 den gezeigt wird, nicht nur der letzte Schritt zum ten herangezogen werden, wobei der Schwerpunkt
autonomen Fahren: Zum einen lassen sich bei der aktuell eher im Infotainment-Bereich liegt und
Betrachtung der heutigen Ausführungen noch viele als direkte Fahrunterstützung der Navigationse-
13 inkrementelle Verbesserungsmöglichkeiten identi- bene vorbehalten ist. Trotzdem können die An-
fizieren, worauf hier nicht im Detail eingegangen wendungen des Infotainment-Bereichs wiederum
14 werden soll. Zum anderen steht die Entwicklung zu neuen Wünschen an die Fahrerassistenz füh-
von Fahrerassistenzsystemen unter dem Einfluss ren, die letztlich die durch Nutzung der Infotain-
15 anderer technologischer Entwicklungen und, min- ment-Technik verlorengehende Aufmerksamkeit
destens genauso wichtig, in Wechselwirkung mit durch maschinelle Aufmerksamkeit kompensiert.
den Entwicklungen der Gesellschaft. Diese Stimuli Das „fahrende Büro“ besitzt für Geschäftsleute und
16 auf die Entwicklung wurden 2012 von den Mitglie- Manager sicherlich einen hohen Reiz und für die
dern der Uni-DAS e. V. Vereinigung analysiert und Volkswirtschaft ein nicht vernachlässigbares Pro-
17 in einem Positionspapier beschrieben [1] (s. auch duktivitätspotenzial, weshalb davon ausgegangen
ein daraus entstandener Übersichtsartikel [2]). Die werden kann, dass ein Paket Mobil-Büro mit auto-
nächsten beiden Abschnitte bedienen sich inhaltlich matisiertem Fahren (zumindest in Teilbereichen mit
18 vollständig und zu einem großen Teil auch wörtlich hohem Zeitanteil) im Bereich der Geschäftswagen
dieses Ursprungswerks. Dass Testmethoden einen eine hohe Nachfrage erfahren würde.
19 größeren Stellenwert erhalten, kann zum einen Aber auch ohne „Kompensationsassistenz“ lässt
schon dieser Handbuchausgabe angesehen werden. sich durch Datenkommunikation verkehrsrelevan-
20 Sie bilden einen Schwerpunkt für die neu hinzu- ter Nutzen schaffen, z. B. eine Parkplatz-Allokation
gekommenen Kapitel. Da aber für das autonome noch vor Erreichen der Parkfläche oder die verbes-
62.1 • Stimuli der zukünftigen Entwicklung
1169 62
serte intermodale Anbindung an andere Verkehr- und Integritätsgarantie, für das noch nicht einmal
sträger wie Bahn oder Flugzeug. ein Konzept bekannt ist.
Während die Basistechnik für ein mobiles Büro Angesichts des hohen Fortschrittpotenzials für
durch Aktivitäten wie Cloud-Computing, IEEE die Fahrsicherheit sowie die Effizienz in Bezug auf
802.11p oder LTE ohne weitere Unterstützung in Energie, Verkehrsinfrastruktur und Zeit ist zu hof-
das Fahrzeug Einzug halten wird, ist eine kommu- fen, dass Netzwerke mit diesen Eigenschaften Wirk-
nikationsbasierte Fahrerassistenz auf den Ebenen lichkeit werden und von allen Verkehrsteilnehmern
der Bahnführung und Stabilisierung auf ein eigen- genutzt werden.
ständiges Netzkonzept angewiesen. In Feldversu-
chen wie SIM-TD [3] und weiteren Projekten wie
Ko-FAS [4] und Koline [5] werden die Grundla- 62.1.2 Elektromobilität
gen für eine flächendeckende Einführung gelegt.
Grundsätzlich ist die Einführung dieser Technik, Auch die Elektromobilität stellt neue Anforderun-
wie allgemein bekannt, immer vom Henne-Ei-Pro- gen an die Fahrerassistenz. So ist die frühzeitige
blem bedroht. Gelingt es jedoch, diese Hürde zu Sicherung eines kombinierten Abstell- und Lade-
überwinden, wird ein neues Fenster der Fahreras- platzes von hoher Bedeutung. Die Garantie der für
sistenz geöffnet, da die Informationsqualität über die beabsichtigte Fahrt benötigten Energie bleibt
die Verkehrsumgebung, Teilnehmer aller Art ein- vermutlich noch Jahrzehnte eine Herausforderung
geschlossen, erheblich steigt und damit auch die für die Elektromobilität, so dass die Art und Weise
Unterstützungsmöglichkeiten. Sollte es gelingen, der Nutzung sich von der heutigen unterscheiden
alle Verkehrsteilnehmer in bestimmten Bereichen wird. Dies betrifft den möglichst effizienten Um-
in ein Netzwerk einzubinden, könnte die Verkehr- gang mit dem „Gas“-Pedal in der mikroskopischen
sinfrastruktur erheblich verändert werden. Betrachtung ebenso wie die makroskopische Sicht,
So könnte eine Lichtsignalanlage durch einen für welche Transportaufgabe welches Verkehrs-
Funk-Access-Point ersetzt werden, der die Fahrzeuge mittel oder welches Geschäftsmodell genutzt wird.
möglichst optimal durch den Knotenpunkt routen Entsprechend werden sich die Assistenzfunktionen
würde. Natürlich wäre dies mit automatisierten Fahr- diesen veränderten Nutzungsformen anpassen und
zeugen noch effizienter und effektiver möglich als demzufolge Zusatzfunktionen für die Reichwei-
bei der Fahrzeugführung durch den Menschen. Das tensicherung bereitstellen sowie intermodale Mo-
Konzept sollte aber nicht davon abhängen. bilitätsassistenzdienste anbieten.
Mit genügend Bandbreite für hohe Datenraten Auch oft im Zusammenhang mit der E-Mo-
und hinreichender Integrität der Datenquellen und bilität diskutiert, aber auch für herkömmlich an-
des Kommunikationssystems lassen sich die Infor- getriebene Fahrzeuge relevant, ist das Ringen um
mationsquellen der Fahrzeuge und, wenn vorhan- ein geringes Fahrzeuggewicht zur Minderung der
den, von der Infrastruktur zu einer sehr detaillierten Fahrwiderstände. Ein wesentlicher Gewichtsanteil
dynamischen Karte fusionieren. Ähnlich zum IT- wird dem hohen Standard der passiven, unfallfol-
Cloud-Konzept könnte man hier von Cloud-Sen- genmindernden Sicherheit zugeschrieben. Eine ver-
sorik sprechen. Natürlich lassen sich auch Infor- besserte aktive, unfallvermeidende oder integrale,
mationsquellen aus „der großen Cloud“ einbinden, den Unfallablauf beeinflussende Sicherheit eröffnet
wie schon an den vielfältigen Aktivitäten von die Möglichkeit, bei den gewichtstreibenden passi-
Google&Co. abzulesen ist. Bei einem Cloud-Sen- ven Maßnahmen wieder zurückzurüsten.
sorik-Konzept könnten die Anforderungen an die
lokale Umfeld-Sensorik zurückgenommen wer-
den, z. B. bei der Reichweite, so dass vermutlich die 62.1.3 Gesellschaftliche Einflüsse
volkswirtschaftlichen Gesamtkosten trotz der In- und Marktentwicklungen
vestition in die Cloud-Technik eher sinken werden.
Aber die notwendige Voraussetzung für ein solches Technik verändert die Gesellschaft, wie das be-
Konzept ist ein verlässliches Netzwerk mit Service- kannte Beispiel der industriellen Revolution im
1170 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
19. Jahrhundert deutlich gemacht hat. Aber Technik hend kommen, dass Autos mit besonderen Design
1 kann auch als Abbild der Gesellschaft verstanden merkmalen attraktiv werden, die in Analogie als
werden: Sie spiegelt den Bedarf wider, der, wenn „iCar“ vermarktet werden könnten. Bei allen der-
62 die Technik dies zu akzeptierbaren Kosten abbilden artigen Produktwellen waren radikal geänderte Be-
kann, auch gedeckt wird. Dabei ist dieser Bedarf ge- dienkonzepte Schlüsselerfolgsfaktoren. Diese neuen
rade in Wohlstandsgesellschaften keineswegs auf die Bedienparadigmen prägten dann in schneller Folge
3 elementaren Bedürfnisse ausgerichtet. Mehr oder die Wettbewerbsprodukte, so dass sich oftmals in
weniger bewusst reflektiert die genutzte Technik weniger als drei Produktgenerationen eine Pro-
4 den individuellen „Way of Life“. Ändert sich dieser duktgruppe so veränderte, dass alles Vorherige nicht
über die Generationen, ändern sich mit ihnen auch mehr marktfähig war. Ein radikal geändertes Bedi-
5 die Produkte, oft parallel zum technischen Fort- enkonzept kann die über 110 Jahre evolutionierte
schritt: Zwei naheliegende Trends sind die Verän- Bedienung durch Lenkrad und Pedale hinter sich
derung der Demografie und die Neudefinition von lassen und mit neuen Elementen über Assistenz-
6 Statussymbolen. funktionen und (Teil-)Automatisierung die Fahr-
Die Welt der Älteren ändert sich zurzeit zeugführung neu erfinden. Fahrerassistenzsysteme
7 sehr stark. Früher oft durch Entbehrungen und bilden dann keine Zusatzausstattung mehr, sondern
schwierige Arbeitsbedingungen gesundheitlich ge- sind essenzieller Bestandteil des iCars. Gleicher Er-
schwächt, blieben sie mehrheitlich in einer familiä- folg wie bei den heutigen Vorbildern vorausgesetzt,
8 ren Umgebung mit nach außen weniger sichtbaren wären dann herkömmliche Fahrzeuge schlagartig
Aktivitäten. Heute entfällt die familiäre Umgebung nicht „klassisch“, sondern „alt“.
9 immer stärker, sei es durch höhere Wohnmobilität, Eine andere gesellschaftliche Veränderung
zunehmende Entfremdung oder Kinderlosigkeit. kommt aus der Veränderung der Wertschöpfungs-
10 Dafür erhöht sich der Anteil der „mobilen Alten“ kette: Heute erwirtschaften Unternehmen große
bzw. „aktiven Alten“ immer mehr. Diese Generation Gewinne durch Vermittlung von Produktlie
hat die Individualmobilität fast ihr ganzes Leben ge- ferungen, wie z. B. der Appstore, bei der als eigene
11 nutzt und wird diese nicht nur solange wie möglich Investition eine Vermittlungsplattform bereitge-
erhalten wollen, sondern aufgrund steigender Le- stellt wird, aber das Kunden-Lieferanten-Risiko
12 bensarbeitszeit erhalten müssen. Auch wenn heute anders als bei einem Händler nicht übernommen
noch schwer vorstellbar, werden zukünftige Gene- wird. Ebenso sind Milliarden von Euro durch das
rationen für sich die Cloud-Möglichkeiten nutzen Routing von Werbung zu verdienen. Diese Platt-
13 und daher intelligente Fahrzeuge erwarten, die den form-Geschäftsmodelle führen zu monopolartigen
jeweiligen Fahrfähigkeiten angemessene Unterstüt- Großunternehmen mit einer Marktmacht, die die
14 zung anbieten. anderen Zweige der Handelskette zu „Friss-oder-
Die junge Generation ist mit der Erfahrung stirb-Verhalten“ nötigen. Bisher gibt es nur wenige
15 groß geworden, dass die Verfügbarkeit von Indivi- erfolgreiche Plattformen zur Mobilität, wie z. B.
dualmobilität selbstverständlich ist: Dieser Grund, Mitfahrzentralen oder Gebrauchtwagenportale.
aber auch andere Gründe wie die zunehmende Ur- Smartphone-basierte Ansätze wie mytaxi [6] oder
16 banisierung können dazu führen, dass der Autobe- Uber [7] zeigen die Richtung, wie sich ein Produkt
sitz einen geringeren symbolischen Wert für den „Mobilität“ zu einer „Brokerware“ verändern kann.
17 eigenen Status besitzt. So erfüllen nun oft Reisen, Damit können Plattformen auch die Ausstattung
Gruppenzugehörigkeit, Immobilien, Designiko- bestimmen, was die individuelle Auswahlmög-
nen und Mobilgeräte dieses Darstellungsbedürfnis, lichkeit erheblich einschränken wird. Dies kann
18 welches früher mit dem Auto verbunden wurde. sich für die Fahrerassistenzentwicklung sowohl als
Die Auswirkungen eines solchen Trends sind nicht Hindernis als auch als Push auswirken. Bei einem
19 eindeutig: Zum einen könnte die Folge eine ratio- auf Kostenreduzierung optimierten Verkehrsmittel
nalere Wahl des Verkehrsmittels sein, bei dem der wird alles versucht werden, die gegebenen Anforde-
20 Besitz des eigenen Autos in den Hintergrund tritt. rungen möglichst kostengünstig zu realisieren, so
Aber es könnte auch zu Veränderungen dahinge- dass kein Budget für Innovationen vorhanden sein
62.2 • Herausforderungen und Auswirkungen
1171 62
wird. Zum anderen können aber zum Geschäfts- lung aufzeigen. Üblicherweise enden diese Road-
modell bestimmte Automatisierungen die tech maps mit dem vernetzten autonomen Fahrzeug, das
nische Basis bilden: sei es die fahrerlose Fahrt zu fahrerlos in beliebiger Umgebung fährt. Aber schon
einem Abstellplatz oder zum nächsten Kunden, sei dieser Weg ist als sehr dornenreich anzusehen, da
es das „mobile Bestellbüro“, bei dem ein Versand- viele Fragen aus dem zulassungs- und haftungs-
haus die Fahrt sponsert [8, 9]. rechtlichen Bereich mit diesem verbunden sind. Die
heute üblichen Freigabe- und Testmethoden reichen
bei weitem nicht aus, „denkende“ Maschinen frei
62.1.4 Kulturelle zu testen. Neuartige Metriken für die Messung der
und mediale Einflüsse Leistungsfähigkeit von Fahrrobotern im Vergleich
zu der des Menschen sind vonnöten. Da diese He-
Gesellschaftliche Veränderungen können auch rausforderung in den Augen vieler Experten noch
durch Übernahme von Traditionen oder neuen größer als die Entwicklung der Fähigkeit von ma-
Entwicklungen anderer Kulturen bewirkt werden. schineller Intelligenz für die autonome Fahrt ist
Durch die fortgeschrittene Globalisierung erhöht und als kritischer Pfad zum autonomen Fahrzeug
sich die Geschwindigkeit des Transfers. Der Fah- gewertet wird, werden diese Überlegungen in ▶ Ab-
rerassistenzsektor ist bezüglich Markt und Tech- schn. 62.3 weiter ausgeführt.
nologie bisher sehr stark deutsch und japanisch Die Wirtschaftlichkeit bildet den anderen zu
geprägt, weil sich hier die Kombination von Bereit- beachtenden Aspekt: Die weitere Entwicklung der
schaft und finanzieller Möglichkeit in Automobil- Technik erfordert hohe Investitionen über Jahr-
technik zu investieren sowohl auf der Kundenseite zehnte, die nur durch eine kontinuierliche Refinan-
als auch bei der Automobilindustrie findet. Da aber zierung über den laufenden Markt realistisch sind.
die gesättigten Märkte von den aufstrebenden über- Auch wenn Innovationen nicht über das Produkt
holt werden, kann von einer Änderung der Verhält- Automobil stimuliert werden, wie die Computer-
nisse ausgegangen werden. Die Kundenbedürfnisse oder Kommunikationstechnik zeigen, so sind doch
und die Nutzungsrandbedingungen sind andere, automobil-spezifische Technologien zu entwickeln,
die finanziellen Möglichkeiten und Zahlungsbereit- damit die Technik aus dem Labor oder Spezialan-
schaften sowie die regulativen Eingriffe nur schwer wendungen Eingang in das Volumenprodukt Auto-
abzuschätzen. Stauassistenz und mobiles Büro sind mobil findet, wie die Beispiele ESC und ACC-Ra-
für Megacitys in den aufstrebenden Ländern sicher- dar aus der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben.
lich von hohem Marktinteresse der begüterten Be- Werden die entwickelten Produkte nicht im Markt
völkerungsschicht. angenommen, sind auch die Weiterentwicklungen
Schlussendlich sollte die Rolle der Medien nicht immer schwerer zu finanzieren.
unterschätzt werden: So führte die Präsentation von Der Weg zum Käufer läuft über verschiedene
„Google’s self-driving car“ in den Medien sowohl Stationen mit ihren jeweils eigenen Gesetzen: So-
zu einer offensichtlichen Veränderung in der Ein- genannte Fachmagazine bejubeln eher den Sound
stellung der öffentlichen Wahrnehmung des auto- und die Kraftentfaltung eines Verbrennungsmo-
nomen Fahrens als auch zu einem Aufrütteln der tors, als sich mit der neuen Technik fachgerecht
etablierten automotiven Unternehmen, mehr in auseinanderzusetzen; aber auch die Handelskette
diese Richtung zu investieren. bis hin zum Autoverkäufer steht diesen Entwick-
lungen eher hilflos gegenüber und kompensiert die
Schwäche durch gewohntes Verkäufergerede (z. B.
62.2 Herausforderungen „ESP braucht der nicht, der ist auch ohne schon si-
und Auswirkungen cher“). Daher ist auch bei zukünftigen Produkten
immer mit diesem Gegenwind zu rechnen, womit
Beschränkt man sich auf die technischen Aspekte, das Entwicklungsrisiko nochmals steigt. Allerdings
lassen sich vergleichsweise einfache Roadmaps ab- sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die
leiten, die die verschiedenen Schritte der Entwick- Entwicklung nicht immer nutzerorientiert erfolgte
1172 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
und die Benutzung nicht optimal vorbereitet wurde, integrierten Verkehrssystem zur Effizienz des Stra-
1 vgl. ▶ Kap. 48. Dies wird bei einer Zunahme der As- ßenverkehrs beitragen. Aber sie werden auch Aus-
sistenzfunktionalität die Entwicklung integrierter, wirkungen auf die Verkehrsteilnehmer und sogar
62 kooperativer Bedien- und Anzeigekonzepte hin zu darüber hinaus haben. Je nach Geschwindigkeit
innovativen Fahrzeugführungskonzepten erfordern, der Einführung kann es zu einer Entmischung
um ein stimmiges Gesamtpaket anzubieten. zwischen modernen Hightech-Fahrzeugen auf der
3 Wie in ▶ Abschn. 62.1.3 diskutiert, wird die einen Seite und den immer noch fahrbereiten alten
Entwicklung nicht in einer statischen Gesellschaft Modellen auf der anderen Seite kommen, weil der
4 vorangetrieben, sondern in einer sich ändernden, Unterschied zwischen alt und neu erheblich größer
die wiederum andere Mobilitätsprodukte erwartet. ist als das heute der Fall ist. Diese Situation kann
5 Die Marktreaktion auf die geänderten Randbedin- über empfundene Privilegien als Kaufanreiz wir-
gungen kann sich in der Verschiebung der Ange- ken, aber auch zu belastenden Diskriminierungen
botspalette ausdrücken, aber auch in völlig neuen und Neiddebatten führen. Mit jeder Veränderung,
6 Geschäftsmodellen, wodurch neue Marktformen aber vor allem bei Marktveränderungen wird es
entstehen und sie die alten verdrängen. Assistenz- Gewinner und Verlierer geben. Hier sollte mit
7 systeme können dabei eine Schlüsselrolle spielen, hoher Sensibilität über eine Folgenabschätzung,
wenn sie zum richtigen Zeitpunkt mit dem pas- die deutlich über heutige Technikfolgenabschät-
senden Geschäftsmodell die Individualmobilität zung hinausgeht, der Weg rechtzeitig so gestaltet
8 revolutionieren. Gerade die gut etablierten Berei- werden, dass einerseits der technische Fortschritt
che der deutschen Automobilindustrie wären dann nicht behindert wird, andererseits möglichst viele
9 im höchsten Maße herausgefordert. Beispiele wie Gewinner der technischen Entwicklung erkennbar
die Umwälzungen im IT-Bereich (von der früheren sind.
10 Dominanz von IBM/DEC/Nixdorf über Microsoft/ Die Auswirkungen vernetzter autonomer Au-
Intel/Nokia zu Google/Apple/Facebook) zeigen, tomobile sind aufgrund der langfristigeren Per-
dass jahrzehntelanger Erfolg durch Veränderung spektive noch schwer abzuschätzen: Durch ihre
11 der Rahmenbedingungen und Geschäftsmodelle signifikante Erhöhung des Verkehrsflusses und
schnell vergänglich werden kann. der Fahrzeugsicherheit könnten „alte“ Fahrzeuge
12 Solange das Automobil wie heute genutzt wird, als Verkehrshindernis und -risiko angesehen wer-
ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Gewichte den, so dass eine zügige gesetzliche Verpflichtung
im Markt wesentlich verschieben. Da aber die Ent- zu „neuer“ Technologie diskutabel würde. Gleich-
13 wicklung der Fahrerassistenz, speziell die zu auto- zeitig entfiele die Notwendigkeit eines fußgängigen
nomen Fahrzeugen, andere Nutzungsmöglichkeiten Parkplatzes, da die Fahrzeuge selbst an entlegenere
14 bietet, so kann eine die heute dominierende Auto- Parkplätze fahren und wiederkehren könnten, so
welt bedrohende Veränderung ausgelöst werden. dass der Flächenverbrauch in Städten durch Park-
15 Natürlich lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten, plätze reduziert würde. Verkehrsraum würde zu
so dass Treiber aus anderen Bereichen schon für die einer temporär buchbaren Ressource werden, die
Umwälzungen sorgen werden, wie sich allein schon dynamisch im Netz gemakelt wird, so dass voll-
16 aus den Aktivitäten von Google ablesen lässt. Damit kommen neue Geschäftsmodelle sowohl für die
ergibt sich automatisch die Schlussfolgerung, dass Industrie als auch für die öffentliche Hand entste-
17 nur eine proaktive, die Zukunft mitgestaltende Ent- hen werden.
wicklung Schutz vor diesem Effekt bietet. Sie darf Die neue Qualität der durch autonome Auto-
sich nicht zu stark verzetteln, sie benötigt gute wis- mobile im wahrsten Sinne des Wortes gewonnenen
18 senschaftliche Grundlagen, um Fehlentwicklungen neuen Bewegungsfreiheit kann durchaus mit der
vorbeugen zu können, gute Randbedingungen für Einführung des Mobilfunks verglichen werden. Die
19 eine Einführung, ein positives Technikklima sowie zunächst nur für wenige Nutzer verfügbare Technik
eine aufgeschlossene Marktbetrachtung. ist nun allgegenwärtig und hat dabei die gesamte
20 Die zukünftigen Assistenzsysteme werden si- Kommunikation und dabei auch das gesellschaftli-
cherlich stark zur Verkehrssicherheit und in einem che Leben verändert.
62.3 • Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1173 62
62.3 Problemfeld Absicherung Sicherheitsbetrachtung. Daher bleiben die Unfälle
des autonomen Fahrens mit Personenschaden maßgebend, so dass die Hy-
pothese:
Unter autonomem Fahren wird die Übergabe der „Durch den breiten Einsatz des autonomen Fah-
Fahrzeugführungsfunktion und -autorität an eine rens wird der Schaden, verursacht durch die Anzahl
Maschine, im Weiteren auch Fahrroboter genannt, von Verletzten und Getöteten, nicht größer sein als
verstanden. Die Übertragung der Führungsfunktion ohne diese Fähigkeit.“
kann örtlich oder zeitlich begrenzt sein und eventu- abzusichern ist. Mit „breit“ ist gemeint, dass die
ell durch den Fahrer unterbrochen werden. Grund- Nutzung des autonomen Fahren in der gleichen
sätzlich ist das autonome Fahrzeug in der Lage, ohne Größenordnung liegt wie das menschengeführte
Mitwirken eines Menschen die Entscheidung über Fahren, zur Unterscheidung von Probephase (3 bis
den Weg, die Bahn und die Fahrdynamikeingriffe 4 Größenordnungen niedriger) oder Einführungs-
zu fällen (in der in ▶ Kap. 3 vorgestellten Definition phase (1 bis 2 Größenordnungen niedriger). Für die
entspricht es dem vollautomatisierten Fahren). An beiden anderen Kategorien sind unter Umständen
eine solche Funktion werden sowohl technisch als andere Maßstäbe anzulegen, wenn z. B. wegen des
auch gesellschaftlich bestimmte Anforderungen höheren Nutzens des autonomen Fahrens der Nut-
gestellt. Nach den heute und voraussichtlich auch zer ein höheres Eigenrisiko akzeptieren würde.
in Zukunft gültigen Rechtsgrundsätzen darf von Ein Beispiel dafür ist im Bereich der motorisier-
einem autonomen Fahrzeug keine größere Gefahr ten Zweiräder zu finden, die einem um mindestens
ausgehen als von einem von Menschen gesteuerten eine Größenordnung höheren Verletzungs- und
Fahrzeug. Dies gilt für alle am Straßenverkehr be- Todesrisiko pro zurückgelegtem Weg ausgesetzt
teiligten Gruppen und für alle Einsatzbereiche, in sind; sie akzeptieren dies mit der Nutzung, sei es
denen heute die Fahrzeuge von Menschen geführt aus dem Mangel an Alternativen oder aus Spaß am
werden. Motorradfahren. Ähnlich könnte es für bisher vom
Die bekannten Konzepte zum autonomen Fah- Fahren ausgeschlossene Personen vertretbar sein,
ren werden in ▶ Kap. 61 beschrieben. Von bisher mit einem gegenüber der nichteingeschränkten
keinem Konzept ist eine Strategie zur Absicherung Vergleichsgruppe unsicheren Fahrzeug mobil zu
bekannt, außer dass immer wieder darauf verwiesen sein. Solange aber die Gruppe mit unsicheren Fahr-
wird, welche Strecken oder welche Streckenlänge zeugen einen unbedeutenden Anteil an der Expo-
autonom gefahren wurde. Das mag zunächst sogar sition für andere Verkehrsteilnehmer belegt, kann
imponieren, allerdings sind diese Strecken hinsicht- die Zusatzgefährdung für andere Verkehrsteilneh-
lich einer allgemeinen Nutzung im Straßenverkehr mer als unerheblich gewertet werden. Allerdings
nahezu ohne Aussage, wie die im Folgenden ange- gibt es zwei Aspekte, die eine Maßstabfestlegung
stellten Überlegungen zeigen werden. erschweren: Im heutigen Individualverkehr kann
der Fahrer das Risiko beeinflussen. Bei autono-
mem Fahren sind er und die Mitinsassen passiv
62.3.1 Anforderungen an die dem „Fremdrisiko“ Fahrroboter ausgesetzt, wie
Absicherung von autonomem bei der Fahrt im öffentlichen Verkehr. In diesem
Fahren im breiten Einsatz Bereich liegt allerdings das Personenschadensri-
siko pro Strecke noch einmal eine Größenordnung
Soll das autonome Fahren tatsächlich die Straßen- niedriger, was natürlich auch noch zu neuen Dis-
verkehrssicherheit durch den breiten Einsatz von kussionen über das Akzeptanzniveau des Risikos
Fahrzeugen mit solchen Fähigkeiten verbessern, führen kann.
so muss das Sicherheitsziel sich am Status Quo der Im Folgenden wird nur der Ansatz betrachtet,
Straßenverkehrssicherheit messen. Da Sachschäden wie er für den breiten Einsatz gilt und für den als
gegenüber dem Nutzen (z. B. Arbeitszeit, Ausruhen, Referenz die allgemeine aktuelle Straßenverkehrs-
Unterhaltung) angerechnet werden können, sind sicherheit noch ohne breiten Einsatz autonomen
diese aus Sicht des Autors nahezu irrelevant für die Fahrens herangezogen wird.
1174 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
Statistische Betrachtung hier nur 5 %; d. h. man müsste bei einem gleich gu-
1 Als Eingangswerte dieser Berechnung wird die ten System mindestens so viel „Glück“ haben wie
mittlere Zahl von Unfällen der jeweiligen Kategorie die Irrtumswahrscheinlichkeit. Um eine realistische
62 i (z. B. mit Personenschaden oder detaillierter, mit Chance (z. B. 50 %) für den Nachweis zu haben,
Leicht- oder Schwerverletzten oder Getöteten) pro muss das autonome Fahren einen deutlich kleine-
Strecke si des Referenzsystems ai; ref D ki; ref =si; ref ren Erwartungswert für einen Unfall haben, doch
3 und des autonomen Fahrzeugs ai; aut D ki; aut =si; aut um wie viel? Damit wird der Erwartungswertfaktor
herangezogen. Somit ergibt sich bei einer Strecke ˛50 % gesucht, mit dem zu 50 % Wahrscheinlichkeit
4 s ein Erwartungswert von hkii;j .s/ D s ai;j . Als nicht mehr als k0 Ereignisse auftreten. Entsprechend
P0
erstes Ergebnis der Betrachtung wird die Aussage ist nun kkD0 P .k/ D 50 % nach zu lösen. Das
5 angestrebt, welche Strecke im Verhältnis zum Re- Ergebnis zeigt . Abb. 62.3.
ferenzniveau bei einer gegebenen Zahl von regist- Liegt der Erwartungswertfaktor bei etwa einem
rierten Unfällen ausreichen würde, um bei einer ak- Viertel, so kann der Fall mit 0 Ereignissen auf der
6 zeptierten Irrtumswahrscheinlichkeit den Nachweis dreifachen Referenzstrecke tatsächlich zu 50 % auf-
zu erbringen, dass das Unfallrisiko des autonomen treten. Bei einem „nur“ halb so guten System wie
7 Fahrens nicht größer als im Referenzfall ist. die Referenz treten hingegen 4 Ereignisse auf, die
Für die statistischen Berechnungen wird die gemäß . Abb. 62.2 eine mehr als neunfache Re-
Poisson-Verteilung P .k/ D k e =kŠ herange- ferenzstrecke nach sich zieht. Auf genau dieselbe
8 zogen, die sich für eine nicht erschöpfende Gesamt- Weise lassen sich andere Kombinationen bilden,
heit, also als Grenzwert der Binominalverteilung für wie in . Abb. 62.4 für Ereigniszahlen bis 5 gezeigt
9 unendliche Elemente, ergibt. Damit kann die Wahr- wird. Aus der halblogarithmischen Darstellung wird
scheinlichkeit berechnet werden, mit der k Ereig- deutlich, dass der Streckenfaktor in diesem Bereich
10 nisse bei einem Erwartungswert D hki auftreten. überexponentiell wächst, so dass allein daraus das
Wie . Abb. 62.1 zeigt, sind deutlich vom Erwar- Ziel abzuleiten ist, dass ein System, dass nach diesen
tungswert abweichende Auftretenszahlen gar nicht Maßstäben qualifiziert werden soll, einen Erwar-
11 so selten: So tritt beim Erwartungswert von drei tungswertfaktor ≤ 0,5 haben sollte, also mindestens
Ereignissen (Unfälle) zu etwa 5 % Wahrscheinlich- doppelt so gut wie die Referenz sein sollte.
12 keit überhaupt kein Ereignis (Unfall) auf. Oder im Für diese Bedingung (Erwartungswertfaktor
Falle eines Erwartungswerts von 6,3 sind 0 bis 2 Er- von ≤ 0,5) lässt sich für den ersten Test überschlä-
eignisse (Unfälle) zusammengenommen mit einer gig ein Streckenfaktor von 10 annehmen. Zwar wäre
13 Wahrscheinlichkeit von 5 % vertreten. bei einem Erwartungswertfaktor ˛50 % 0;23 die
Werden 5 % als akzeptierte Irrtumswahrschein- dreifache Strecke für eine 50 % Wahrscheinlich-
14 lichkeit "acc angelegt, wie in der empirischen Wis- keit ausreichend, allerdings kann von einem ersten
senschaft oft gemacht, so lässt sich schlussfolgern, Bestehen mit der dreifachen Strecke nicht davon
15 dass wenn auf der dreifachen Referenzstrecke kein ausgegangen werden, dass im Wiederholungsfall
Ereignis auftritt oder auf der 6,3-fachen Strecke die gleiche Strecke reichen würde, denn auch bei
höchstens 2 auftreten, dann wäre zu 95 % Wahr- ˛50 % D 0;5 kann mit 22 % Wahrscheinlichkeit das
16 scheinlichkeit der Erwartungswert des Systems pro Ergebnis von 0 Ereignissen pro dreifacher Refe-
Referenzstrecke ≤ 1. Dieses lässt sich auch für wei- renzstrecke erreicht werden. Erst eine etwa 10 bis
17 tere Ereigniszahlen berechnen, indem die Gleichung
P k0
20-fache Referenzstrecke lässt hier Sicherheit auf-
kD0 P .k/ D "acc numerisch nach gelöst wird. kommen, dass von einer so guten Grundannahme
Das Ergebnis zeigt . Abb. 62.2 für Ereigniszahlen für den Erwartungswertfaktor ausgegangen werden
18 k0 von 0 bis 5. kann, dass bei Folgetests tatsächlich ein geringerer
Sollte aber das autonome Fahren das gleiche Streckenfaktor ausreichen würde.
19 Risiko wie die Referenz besitzen, also die Erwar-
tungswerte i; ref D i; aut übereinstimmen, dann Referenzstrecke
20 wäre der Fall k0 D 0 ebenso unwahrscheinlich wie Nachdem der Streckenfaktor allgemein hergeleitet
die angenommene Irrtumswahrscheinlichkeit, also ist, existiert nun die Möglichkeit, die Referenzstre-
62.3 • Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1175 62
0,6
0,5
Erwartungswertfaktor α50%
0,4
0,3
0,2
0,1
0
0 1 2 3 4 5
Ereignisse k0
.. Abb. 62.1 Häufigkeit für das Auftreten einer bestimmten .. Abb. 62.3 Erwartungswertfaktor ˛50 % in Abhängigkeit der
Ereigniszahl k0 für zwei verschiedene Erwartungswerte vorgegebenen Ereignismaximalzahl k0
12
10
Streckenfaktor λref,acc für e = 5%
0
0 1 2 3 4 5
Ereignisse k0 .. Abb. 62.4 Streckenfaktor ref; acc für Nachweis mit 5 % Irr-
tumswahrscheinlichkeit als Funktion des Erwartungswertfaktors
.. Abb. 62.2 Streckenfaktor ref; acc, um den die Referenzstre- ˛50 %
cke multipliziert werden muss, um mit einer Irrtumswahr-
scheinlichkeit von 5 % und auftretenden Ereigniszahlen k0
nachzuweisen, dass der Erwartungswert für Unfälle kleiner ist
– zumindest für die Einführungsphase – nicht he-
1/Referenzstrecke ist
rangezogen werden. Denn es ist nicht bekannt, ob
das Verhältnis von Unfällen mit Personenschäden
cke für die Freigabe des autonomen Fahrens zu de- zu Unfällen mit nur Sachschäden auch mit Einfüh-
finieren. rung des autonomen Fahrens unverändert bleibt, so
Diese theoretisch notwendige Anzahl von Kilo- dass damit noch keine Hochrechnung auf Unfälle
metern für die Freigabe variiert, wie gezeigt wurde, mit Personenschäden erfolgen kann. Ansonsten
mit der Vergleichsgruppe und weiteren Faktoren. können die Sachschäden bei autonomem Fahren,
Diese in folgende Kategorien aufgeteilten Faktoren wie zuvor erwähnt, mit dem Nutzen aufgerechnet
werden nun beschrieben: werden, so dass dies eher eine Diskussion der Wirt-
schaftlichkeit als der Sicherheit darstellt.
Unfallfolgentyp (nur Sachschaden, Personenschaden: Unfälle mit Personenschäden sind zum über-
alle Verletzungstypen, nur Schwerverletzte, nur Ge- wiegenden Teil Unfälle mit Leichtverletzten. Somit
tötete) Die weitaus häufiger auftretenden Unfälle lohnt eine Unterscheidung zwischen der Gesamt-
mit Sachschaden ohne Personenschaden können zahl der Unfälle mit Personenschäden und der
1176 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
1 .. Tab. 62.1 Referenzstrecken in Abhängigkeit vom Einsatzbereich und den Unfallfolgen (Quelle: [10, 11] (gerundet)).
Bei Angaben zu Schwerverletzten und Getöteten beziehen sich die Zahlen auf Strecke/Person, da aber mehr als eine
Person pro Unfall in der Kategorie betroffen sind, ist dieser Wert eine untere Abschätzung
62 gesamt außerorts (ohne Autobahnen) innerorts Autobahnen
8
mit Leichtverletzten nicht. Natürlich besitzen die Unfallverursachung (keine Unterscheidung, nur
9 Unfälle mit Schwerverletzten und Getöteten die Hauptverursacher) Im Mittel ist ein Fahrzeugfüh-
höhere Relevanz. Sie sind in der Zahl um fast eine rer zu ca. 60 % der Hauptverursacher, wenn er in
10 (Schwerverletzte) oder zwei (Getötete) Größenord- einem Unfall verwickelt ist, wobei die mittlere Al-
nungen seltener, wodurch Referenzstrecken, die tersgruppe mit einem niedrigeren Anteil (ca. 50 %)
sich auf die Klasse beziehen, entsprechend stark als Hauptverursacher auftritt als die Gruppen der
11 steigen. jungen und alten Fahrer, vgl. [10]. Würden nur jene
Unfälle für eine Absicherung herangezogen, bei de-
12 Einsatzbereich (gesamt, nur außerorts (ohne Auto- nen Fahrer als Hauptverursacher auftreten, würde
bahnen), nur innerorts, nur Autobahnen) Gerade zu sich zunächst der Testaufwand entsprechend der
Beginn des automatisierten Fahrens ist mit einem verlängerten Strecke zwischen zwei „verursachten“
13 begrenzten Einsatzbereich zu rechnen, z. B. nur ein Unfällen um 5/3 erhöhen, wobei hier zu vermerken
Autobahnautomat. Daher sind die Referenzwerte ist, dass diese Strecke zumeist weit höher liegt als ein
14 dieser Einsatzbereiche zu verwenden. In . Tab. 62.1 Mensch in seinem Leben fahren kann.
finden sich die Referenzwerte für Pkws im Bezugs- Aber wie sieht es aus, wenn man trotzdem bei
15 raum Deutschland des Jahres 2013: Sie ergeben der Gesamtzahl der Unfälle bleiben will, da für die
sich über die Zahl der im Einsatzbereich zurück- Sicherheit die Verursacheraufteilung irrelevant ist?
gelegten Fahrleistung dividiert durch die Zahl der Zunächst wird angenommen, dass die Zahl der
16 Unfälle der jeweiligen Unfallklasse. Wenn nicht für nichtverursachten Unfälle sich nur wenig ändere,
alle Felder die Daten passend vorliegen, wurden sie da zumeist noch vom Menschen geführte Fahrzeuge
17 gemäß in der Tabellenlegende angegebener Weise diese verursachen. Somit kann selbst bei einem un-
geschätzt. fallverursachungsfreien autonomen Fahrzeug bes-
Anhand der in . Tab. 62.1 dargestellten Zahlen tenfalls einen Erwartungswertfaktor von 0,4 erreicht
18 sieht man zwei statistische Dilemmata: werden. Für den zuvor geforderten Erwartungswert-
Je schwerer und damit relevanter der Unfalltyp faktor von 0,5 darf das autonome Fahrzeug somit
19 ist, desto größer ist die Referenzstrecke. nur noch ein Sechstel so häufig Unfälle verursachen
Je einfacher die Funktion erscheint, z. B. für Au- (˛50 % D 0;5 D 40 % C 60 %=6 ). Alternativ bleibt
20 tobahnen, desto länger ist für den Sicherheitsnach- bei einem bezogen auf die Unfallverursachung dop-
weis zu fahren. pelt so gutem Fahrzeug nur ein Erwartungswert-
62.3 • Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1177 62
faktor von (˛50 % D 0;7 D 40 % C 60 %=2 ), was jekt unter Test von einer nur halb so hohen Zahl
zu einem etwa dreifach höheren Streckenfaktor verursachter Unfälle mit Personenschaden ausge-
ref; acc 27 führen würde. gangen (d. h. Erwartungswertfaktor ˛50 % D 0;5
Als Argument gegen die alleinige Wahl der ver- und somit Streckenfaktor ref; acc 10 ). Somit
ursachten Unfälle ist die Ungewissheit der zuvor multipliziert sich die Nachweisstrecke auf 240 Mio.
genannten Annahme, dass die Zahl der nicht ver- km. Hier ist zu betonen, dass dieser Wert nur einer
ursachten Unfälle nicht beeinflusst wird. Es ist noch von vielen anderen Werten ist; aber er ist stellver-
offen, ob das Verhalten der autonomen Fahrzeuge tretend für die Größenordnung, in die man sich
Fehler anderer Verkehrsteilnehmer mehr oder begeben müsste, wenn der Sicherheitsnachweis
weniger kompensiert als bisher die menschlichen „über Strecke“ erfolgen sollte und das Ziel bestehen
Fahrer. So ist denkbar, dass trotz deutlich weniger würde, das Risiko gegenüber der Vergleichsgruppe
verursachter Unfälle die Zahl der Gesamtunfälle, in zu senken.
denen autonome Fahrzeuge involviert sind, steigt,
weshalb aus diesem Grund wiederum die Gesamt- Schlussfolgerungen
zahl zu betrachten wäre. Nachweisstrecken in der zuvor skizzierten Größen-
ordnung übersteigen die technischen, personellen
Vergleichsfahrzeug (jeweils aktueller Fahrzeugbe- und wirtschaftlichen Möglichkeiten heutiger Unter-
stand, nur fortschrittliche Fahrzeuge) Auch die nehmen. Selbst wenn dieser Aufwand für ein erstes
Unterscheidung nach dem Vergleichsfahrzeug fällt System unter Umständen gewagt würde, so ist doch
nicht leicht. Das Referenzgeschehen bezieht sich zu bedenken, dass dieser Test mit mindestens einem
auf die Unfallhäufung aller Fahrzeuge einer Klasse Drittel des Anfangsaufwands nach jeder System-
(z. B. alle Pkws). Wie die Vergangenheit gezeigt hat, modifikation erneut durchlaufen werden müsste,
führte der automobile Fortschritt zu einem höheren was offensichtlich ökonomisch nicht vertretbar ist.
Sicherheitsniveau und damit zur Senkung der Zahl Selbst mit einem deutlich besseren System mit Er-
der Unfälle mit Personenschaden. Gerade das erst wartungswertfaktor ˛50 % 0;23 bleibt mindestens
seit kurzem begonnene Ausrollen der unfallvermei- noch ein Drittel des Aufwands, s. Unterabschnitt
denden und kollisionslindernden Sicherheitssys- zur Statistik am Anfang von ▶ Abschn. 62.3.1.
teme in die Breite des Marktes lässt eine erhebliche Diese Argumente lassen den Schluss zu, dass
Senkung der Unfälle mit Personenschäden erwar- mit den bekannten Testverfahren zur Risikomes-
ten. Aus diesem Grund müsste eine deutlich höhere sung über Dauerlaufstrecke keine ökonomisch
Referenzstrecke (1,2- bis 2-fach) als die durch das vertretbare Entwicklung bzw. Zulassung von auto-
aktuelle Unfallgeschehen herangezogene verwendet nomen Fahrzeugen möglich ist. Dieser Aspekt hat
werden. durchaus das Potenzial für einen „Showstopper“
und wird auch als „Freigabefalle des autonomen
Beispielberechnung Fahrens“ bezeichnet.
Trotz der vielen Möglichkeiten, die die Betrachtun- Als besondere Ironie dieses Dilemmas ist her-
gen zur Statistik und Referenz aufweisen, soll an auszustellen, dass die Nachweisstrecke besonders
einem Beispiel die Größenordnung der Nachweis- lang wird, wenn Situationen automatisiert werden,
strecke berechnet werden, wobei dies beileibe kein die scheinbar einfach sind, weil dort auch nur we-
Worst-Case-Szenario ist: nige Unfälle pro Strecke passieren. Im Umkehr-
Dazu wird ein Autobahnautomat gewählt. So- schluss leitet sich die Empfehlung aus Testbarkeits-
mit beträgt die aktuelle Referenzstrecke für Unfälle gründen ab, doch mit Einsatzbereichen besonderer
mit Personenschäden 12 Mio. km. Nimmt man Unfallträchtigkeit zu starten. Dies wird aber auch
nun die für die Statistik eher günstige Hauptverur- schon vor der Validierungsphase deutlich werden,
sacherunfallzahl an und einen sehr konservativen nämlich in der Entwicklungsphase. Mit jeder Ver-
Verbesserungswert moderner Vergleichsfahrzeuge besserungsstufe wird eine immer größere Strecke
von 1,2, so erhält man eine Referenzstrecke von benötigt, um die Sicherheit zu bessern. Daher sind
24 Mio. km (= 12 · 1,2/0,6). Ferner wird für das Ob- Aussagen über 100.000 km oder 1 Mio. km ohne
1178 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
Unfall mit Personenschaden aus technischer Sicht Maße die aktuelle Entscheidung korrekt sein mag,
1 höchst beeindruckend, aber kaum relevant im Ver- ist zeitabhängig und wird vermutlich nur in einfa-
gleich zu den zwei bis drei Größenordnungen hö- chen Situationen bestimmbar sein. Alle anderen in
62 heren Sicherheitszielen. dieser bestimmten Situation möglichen Aktionen
und Reaktionen werden sich in dieser Weise nir-
gendwo und niemals wiederholen, und selbst die
3 62.3.2 Ausweg aus dem Testdilemma Schlussfolgerung, ob die Reaktion richtig war, lässt
sich nicht aus dem Ergebnis der Situation ableiten.
4 Dieses Testdilemma kann nur überwunden werden, Selbst wenn im Anschluss an eine Reaktion ein
indem eine drastische Kürzung der erforderlichen Unfall passiert, so kann die Reaktion dennoch im
5 Strecke erreicht wird. Bei Komponentenhaltbarkeit- Sinne einer Schadensminderung richtig gewesen
stests ist es üblich, zum einen aus dem Betriebsbe- sein. Genauso ist es möglich, dass eine falsche Ent-
lastungskollektiv diejenigen Teile zu selektieren, die scheidung als solche nicht negativ auffällt und nicht
6 die Komponente relevant beanspruchen, und durch zum Unfall führt, da die Umgebungskonstellationen
das Weglassen der irrelevanten Anteile eine erhebli- günstig sind. Damit stellt sich jedoch die Frage, was
7 che Verkürzung zu ermöglichen. Zum anderen wird dem bisherigen Denken von „richtig oder falsch“
auf Beschleunigungsmethoden zurückgegriffen, entgegengesetzt werden kann. Die Antwort ist so
d. h. höhere Lasten oder stärker beanspruchende einfach im Prinzip, wie sie schwierig in der Um-
8 Umgebungsbedingungen zur Belastung des Bau- setzung ist: Der Fahrroboter muss die Fahraufgabe
teils angewendet. Eine Adaption dieser Strategien sicherer ausführen als die menschliche Vergleichs-
9 auf den Sicherheitsnachweis für das autonome Fah- gruppe, beispielsweise erfahrene und sich auf der
ren scheint allerdings schwierig, da die Ausfallme- Höhe ihrer Gesundheit befindliche Vielfahrer. Dazu
10 chanismen nicht auf einem Ausfall der Funktion muss die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrroboters
beruhen, sondern auf falschen Entscheidungen, die bestehend aus Perzeptions-, Kognitions- und Ak-
zu Unfällen führen. Natürlich ist eine Systemsimu- tionsleistung mindestens so hoch sein wie die der
11 lation, sei es als Software-in-the-Loop (SIL) oder als Vergleichsgruppe. Kann man diese Leistungsfähig-
Hardware-in-the-Loop (HIL) zur Absicherung der keit messen, so lässt sich der Fahrroboter freigeben;
12 Funktion denkbar und für die Entwicklung unver- auch auf andere Felder der Robotik kann diese Aus-
zichtbar. Es wird jedoch nicht annähernd möglich sage übertragen werden, wie z. B. humanoide Haus-
sein, die Vielfalt der im Straßenverkehr möglichen haltsroboter.
13 Varianten darzustellen, die einer Fahrstrecke von Eine allgemeine Metrik zum Ausdrücken der
mehreren Millionen Kilometern entspricht und Perzeptions-, Kognitions- und Aktionsleistungs-
14 für alle Nutzergruppen repräsentativ ist. Diese fähigkeit von Robotern und Menschen ist bisher
letzte Überlegung zum Testdilemma ist es aber, nicht bekannt: Ein Beispiel findet man jedoch bei
15 die einen Ausweg aufzeigt: Selbst wenn man alle den Spielen Schach und Go, einem Bereich, in dem
relevanten Zustände für ein Testprogramm darstel- der Computer die Leistungsfähigkeit des Menschen
len könnte, so wäre in manchen Situationen nicht erreicht und zum Teil schon übertroffen hat. Zwar
16 mehr entscheidbar, welche Systemreaktion richtig ist das Schachspiel grundsätzlich nicht probabilis-
oder falsch ist, da diese Frage nicht vom Ego-Sys- tisch, aber durch die schiere Zahl der möglichen
17 tem allein beantwortet werden kann. Insbesondere Zugkombinationen nicht in endlicher Zeit bere-
wenn die Aktionen und Reaktionen anderer Ver- chenbar, wodurch der Schachcomputer nach heu-
kehrsteilnehmer antizipiert werden sollen, kann ristischen Algorithmen Entscheidungen treffen
18 eine hundertprozentig richtige Annahme nicht er- muss, die zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht
wartet werden, da über die Reaktionsmodelle der als richtig oder falsch bewertet werden können.
19 einzelnen Verkehrspartner keine individuelle und Wenn er etwas „richtiger“ entscheidet, kann aber
momentane Korrektheit erreicht werden kann. Die erwartet werden, dass er mehr Partien gewinnen
20 Systemreaktionen nehmen somit probabilistischen wird als ein menschlicher Spieler. Diese erwartete
Charakter an, und die Bewertung, in welchem Spielstärke eines Go- oder Schachspielers wird
62.3 • Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1179 62
anhand seiner Elo-Zahl (offiziell: „FIDE rating“) merkenswerte Leistungsfähigkeit erreicht, wobei
ausgedrückt: Sie beschreibt die erwarteten Punkte- die Wahrnehmung sehr komplexer Situationen,
zahlen einer Partie und ist Teil eines von Arpad E. z. B. dem Verkehr um den Triumphbogen in Pa-
Elo entwickelten objektiven Wertungssystems [12]. ris, noch nicht gelingt. Fahrer, die nicht in Paris
Einschränkend für dieses Beispiel ist zu nennen, heimisch sind, fühlen sich allerdings in dieser Si-
dass zwar sowohl Computer als auch menschliche tuation möglicherweise ebenfalls überfordert und
Spieler eine Elo-Zahl erhalten, diese aber jeweils an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Gleichwohl
nur aus Partien zwischen gleichen Kategorien er- zeigt die verhältnismäßig geringe Anzahl an Un-
mittelt werden (Mensch vs. Mensch bzw. Computer fällen, die geschehen – harmlose Blechschäden
vs. Computer). Trotzdem lässt sich festhalten, dass ausgenommen – dass der Mensch auch solchen
für einen kleinen Bereich damit zwei der Vorausset- Situationen gewachsen ist. Vergleichsweise gering
zungen erfüllt sind, die an eine Metrik zur Freigabe ist momentan noch die maschinelle Kognitions-
von Roboterfunktionen gestellt werden: Zum einen leistung, insbesondere was die Entscheidungsfle-
ist mit der Elo-Skala ein (zumindest theoretischer) xibilität angeht. Vor allem erscheint es noch sehr
Vergleich menschlicher Leistungsfähigkeit mit der schwierig, den Lernprozess des Menschen nachzu-
des Roboters möglich, zum anderen ist mit dieser bilden. Diesen Lernprozess erlebt jeder Autofahrer
Metrik eine absolute Klassifizierung möglich, da nach seiner Fahrausbildung, und ohne diese Erwei-
mit der Elo-Zahl beispielsweise zugeordnet werden terung der Fahrfertigkeiten wären wir sicherlich
kann, ob jemand Amateur oder Großmeister ist. einem höheren Straßenverkehrsrisiko ausgesetzt.
Gäbe es eine solche Metrik auch für Fahrroboter, so Die Aufteilung in die drei Domänen könnte vor-
könnte in Übereinstimmung mit der ISO 26262 für teilhaft für eine Entkopplung der Bewertung ge-
bestimmte Automatisierungsgrade eine definierte nutzt werden: Eine Änderung im Sensorbereich
Fähigkeitsklasse festgelegt werden. kann allein auf der Perzeptionsmetrik zertifiziert
Allerdings kann dieser Ansatz aus dem Schach- werden, ohne dass es erforderlich wäre, die ande-
bereich nicht direkt auf den Fahrroboter übertragen ren zwingend mit zu zertifizieren. Aus gleichem
werden, da der Elo-Wert über den direkten Ver- Grunde kommt es zu einer entsprechenden Mo-
gleich, sprich über die Gewinn-/Verlustbilanz von dularisierung bei der Entwicklung der autonomen
Gegnern einer gegebenen Stärke, ermittelt wird. Fahrzeuge, vgl. ▶ Kap. 61 oder [13, 14].
Weiterhin wird nur die kognitive Leistung gemes- Zurückkehrend zu den vorigen Überlegun-
sen; die der Perzeption erfolgt idealisiert, denn dem gen, dass nur Fahrroboter, die den Menschen in
Schachcomputer wird die Stellung der Schachfigu- der Fahrzeugführung ersetzen, diesen hinsichtlich
ren korrekt und vollständig übermittelt, während der Sicherheit überlegen sein müssen, damit eine
im Straßenverkehr weder dem Fahrer noch dem Chance auf Zulassung besteht, lassen sich zwei
Fahrroboter alle Informationen in dieser Weise zur Schlussfolgerungen ableiten: Die Fahrroboter ha-
Verfügung stehen werden. Eine solche Fülle an In- ben noch ein großes Stück der Entwicklung vor sich,
formationen, wenn sie denn vorläge, wäre darüber doch unter der Voraussetzung einer anerkannten
hinaus in der Praxis nicht mehr zu filtern und zu Metrik für die Fahrleistungsfähigkeit können sie
verarbeiten. Für ein technisches System wie einen dem Menschen überlegen werden. Diese Metrik, die
Fahrroboter wäre daher die Gesamtaufgabe in drei durchaus sehr spezifisch für bestimmte Einsatzbe-
Domänen aufzuteilen und mit jeweils einer geson- reiche sein kann, ist unabdingbare Voraussetzung
derten Metrik zu belegen. für eine zielgerichtete Entwicklung der autonomen
Wie die Kapitel über die Aktorsysteme zeigen, Funktionen, und ihre Entwicklung stellt aus Auto-
reichen die maschinell möglichen Ausführungs- rensicht den kritischen Pfad der Entwicklung des
fähigkeiten schon sehr nahe an die menschlichen autonomen Fahrzeugs dar:
Fähigkeiten heran: In Teilbereichen gehen sie be- Solange keine Metrik in allgemein akzeptierter
reits darüber hinaus, wie z. B. die Einzelradrege- Form existiert, wird ein breiter Einsatz autonomer
lungen oder die Hinterachsverstellung. Zwar hat Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr nicht er-
auch die maschinelle Perzeption schon eine be- reicht werden.
1180 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
62.3.3 Möglicher Weg zu einer Metrik Die Metrik verwendet ökonomisch durchführbare
1 Testverfahren zur Einstufung. Gerade die Unbe-
Die Anforderungen an eine solche Metrik lauten: zahlbarkeit war, wie bereits zuvor geschildert, der
62 Grund für die Abkehr von der etablierten Frei-
Die Metrik ist valide für den jeweiligen Einsatzbe- gabemethodik. Das neue Verfahren muss daher
reich. Diese Anforderung lässt sich im Grunde deutlich kostengünstiger sein. Reale und virtuelle
3 nicht erreichen, denn erst mit dem Einsatz der Me- Testparcours mit hohem Schwierigkeitsgrad mö-
trik werden die benötigten Fähigkeiten vollständig gen hier einen Ausweg bieten, wobei die Schwie-
4 klar. Allerdings trifft dies auf heutige Entwicklungen rigkeiten repräsentativ für den Einsatzbereich sein
ebenso zu. Hier hilft man sich mit Übertragungen müssen.
5 aus ähnlichen Bereichen, doch dieser Lösungsweg
bedeutet gleichzeitig, dass viele Zwischenstufen Die Metrik darf selbst keine Handlungsmuster fa-
auf dem Weg zum autonomen Fahren eingeführt vorisieren, sondern gerade die Fähigkeit ermitteln,
6 werden müssen. Nur wenn genügend Erfahrungen in unbekannten Zuständen angemessen zu agie-
mit ähnlichen Systemen vorliegen, lässt sich die ren. Hiermit ist gemeint, dass kein Training auf die
7 Metrik eichen und mit vertretbarem Restrisiko auf Testmuster erfolgen darf, weil dies zu einer Minde-
die nächste Erweiterung übertragen: Die Validie- rung der Handlungsflexibilität führen würde. Dies
rungsstrategie bestimmt daher die Migrations- und ist auf jeden Fall zu verhindern, da gerade diese
8 Einführungsstrategie und nicht die Entwicklung der Flexibilität überhaupt die Extrapolation von einem
technisch möglichen Funktionen. Testparcours auf den gesamten Einsatzbereich er-
9 laubt.
Die Metrik erlaubt einen Vergleich der Fahrfähigkei- Alle genannten Anforderungen sind sehr an-
10 ten zwischen Mensch und Roboter. Dies ist vielleicht spruchsvoll. Da aus Autorensicht aber nur mit ei-
die am schwierigsten umzusetzende Anforderung, ner solchen Metrik die Einführung von autonomen
denn sie setzt voraus, dass menschliche Fähigkeiten Fahrzeugen in den öffentlichen Straßenverkehr
11 gemessen und in einer der Fahraufgabe angemes- möglich ist, wird ihre Entwicklung Zeitpunkt und
senen Weise gewichtet werden. Eine Aufteilung Strategie der Einführung bestimmen. Die noch zu
12 auf die drei Domänen wird zwar in arbeitswissen- leistenden Vorarbeiten haben durchaus die Grö-
schaftlichen Modellen durchgeführt, allerdings ßenordnung des Genom-Projekts und werden
lässt sich die Perzeptionsleistung nicht von der viele hundert Personenjahre an Forschung bean-
13 Kognitionsleistung trennen. Bei der Ausführungs- spruchen. Dafür erscheint eine Neuausrichtung der
leistung ist es dagegen möglich, auch wenn durch Computer-Intelligenz-Forschung erforderlich zu
14 Rückwirkungen eine Überkopplung auftreten kann. sein, da die aktuellen Forschungsaktivitäten diese
Aus diesen Gründen bleibt zumindest bis zur Eta- Thematik der Absicherung noch zu gering priori-
15 blierung der Metriken nichts anderes übrig, als die sieren.
kombinierte Leistung von Perzeption und Kogni-
tion von Mensch und Maschine zu vergleichen.
16 Sind die relevanten Niveaus für eine Einstufung 62.4 Evolution
erst einmal etabliert, so lässt sich die Aufteilung zum autonomen Fahren
17 von Perzeptions- und Kognitionsleistung bei Ma-
schinen separat betrachten. Abweichend zu den Darstellungen in den ersten bei-
den Auflagen, in denen eine Evolutions-Roadmap
18 Die Metrik lässt eindeutige Klassenstufen zu. Diese mit zeitlichen und funktionalen Abhängigkeiten
Anforderung wird für eine Zertifizierung benötigt, dargestellt wurde, wird hier ein Ansatz vorgestellt,
19 damit analog zu Automotive Safety Integrity Levels der von drei Evolutionsstartpunkten ausgeht. Wie
der ISO 26262 eine Einstufung erfolgen kann. Hier- ein Farbdreieck kann das autonome Fahren als
20 für sind geeignete Grenzwerte und Gewichtungen Komposition von drei Grundformen betrachtet
einzelner Merkmale zu erarbeiten. werden (s. . Abb. 62.5):
62.4 • Evolution zum autonomen Fahren
1181 62
.. Abb. 62.5 Evolution
zum autonomen Fahren,
ausgehend von den drei
Das Dreieck des ACC:
LKS:
Adapve Cruise Control
Lane Keeping Support
Startpunkten in den Ecken
zur Mitte des autonomen
autonomen L²A:
FSR-ACC:
Longitudinal & Lateral Assist.
Full-Speed-Range-ACC
Fahrens Fahrens
Einfache Szenarien: Ausgangspunkt dieser Richtung gert werden. Sobald nicht sichergestellt ist, dass der
bilden die beiden Systeme Adaptive Cruise Control Fahrraum über diese Distanz frei ist, kann über
(ACC, s. ▶ Kap. 46) und Lane Keeping Assist (LKAS, einen solchen Stillstand nicht nur eine sichere Si-
s. ▶ Kap. 49), deren Funktion sich auf die Frei- und tuation geschaffen werden, sondern eine Übergabe
Folgefahrt innerhalb eines Fahrstreifens bei höheren an einen Fahrer oder, per Fernbedienung, an einen
Geschwindigkeiten konzentriert. Die Limitierung Operator erfolgen, die dann die Verantwortung für
der Eingriffsstärke hinsichtlich Beschleunigung die Fahrtfortsetzung übernehmen.
(ACC) und Lenkradmoment (LKAS) erlaubt die
Automatisierung im Komfortbereich, nicht aber Hochrisiko-Situationen: Wie in ▶ Kap. 47 und
für Situationen mit höherer Eingriffsdynamik; das ▶ Kap. 48 dargelegt wurde, können automatische
gilt auch für die kombinierten Längs- und Quer- Eingriffe das Unfallrisiko erheblich senken, wenn
führungssysteme. Die Grundauslegung der Systeme die Fahrsituation derart kritisch einzustufen ist, dass
stützt sich auf die Übernahmefähigkeit des Fahrers. das Risiko ohne Eingriff höher erscheint als mit Ein-
griff. Die ersten Systeme dieses Evolutionsstrangs
Niedrige Geschwindigkeit: Ausgehend von der waren die kollisionsfolgenlindernden Notbremssys-
schon länger verfügbaren Parkunterstützung durch teme. Die Funktionalität wurde in Folgesystemen
aktive Querführung wird sich dieser Strang über auch für kollisionsvermeidende Bremsungen er-
die Vollautomatisierung des gesamten Einparkvor- weitert und auch Ansätze zum Notausweichen in
gangs bis hin zum automatischen Valet-Parking definierten Situationen sind absehbar. Ein Nothal-
entwickeln. Der große Vorteil der Automatisierung teassistent bei erkannter Fahrunfähigkeit des Fah-
des Fahrens bei niedrigen Geschwindigkeiten liegt rers aufgrund gesundheitlicher Probleme setzt diese
in der einfachen Fail-Safe-Strategie. Innerhalb ei- Ausrichtung fort, verlangt aber ein deutlich größe-
ner kurzen Distanz kann in den Stillstand verzö- res Reaktionsrepertoire.
1182 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
Kombinationen: Schon jetzt fassen Fahrerassis- abhängig davon, ob ein Fahrer verfügbar wäre oder
1 tenz(-pakete) Funktionalitäten aus den genannten nicht) auf konzeptionelle Grenzen, die nicht ohne
Startrichtungen zusammen. Beispiele sind Full „Import“ aus den anderen Ecken überschritten
62 Speed Range-ACC (s. ▶ Kap. 46) und der Stauas- werden können. Trotzdem bleiben noch viele Fra-
sistent (s. ▶ Kap. 52). Auch der spurkorrigierende gen der Technik, der rechtlichen Aspekte und der
Bremseingriff, der erst bei Erkennung von Gegen- Nutzerakzeptanz offen, die auch eine solche Evolu-
3 verkehr ein Fahrstreifenverlassen (s. ▶ Kap. 49) ver- tionsbetrachtung auf das Niveau eines, wenn auch
hindert, kann als Kombination angesehen werden. geschulten, Blicks in die Glaskugel verweist.
4 Eine als Safety-Corridor bezeichnete Funktionalität
im Projekt PRORETA 3 [15] setzt dies fort, in dem
62.5 Zukünftige
5 eine permanente Überwachung des Sicherheitsspiel-
Forschungsschwerpunkte
raums erfolgt und bei Annäherung an die Spiel-
raumgrenzen informierend und ggf. eingreifend
6 die Sicherheitsreserve zurückgewonnen wird. Mit Nach dem Überblick über zukünftige Einflüsse,
Cooperative Guidance sind Konzepte der manöver- detaillierter Beleuchtung der Absicherungsproble-
7 basierten kooperativen Automation, s. ▶ Kap. 58, matik und der Vorstellung des Evolutionsdreiecks
speziell des Conduct-by-Wire, s. ▶ Kap. 59, gemeint. zum autonomen Fahren werden abschließend die
Aufgrund der anders konzipierten Arbitrierung des Forschungsschwerpunkte für die Zukunft formu-
8 H-Mode-Konzepts, s. ▶ Kap. 60, sind die Grenzen liert. Diese als Handlungsempfehlung gedachten
zwischen einer Safety-Corridor-Funktion und einer Schwerpunkte sind ebenfalls dem Uni-DAS-Posi-
9 automatisierten Längs- und Querführung fließend, tionspapier [1] entnommen.
ohne aber der Vollautomation näherzukommen, nur
10 ist die Fahrereinbindung umfangreicher gestaltet.
62.5.1 Individualisierung
Die Kombination von Risikobewertung und
Niedriggeschwindigkeitsautomation könnte zu
11 einer erweiterten Anwendung eines City-Shuttles Noch ist die Fahrerassistenz zurzeit weder auf alle
(z. B. [16]) führen, wie sie in Modellversuchen in Verkehrsteilnehmergruppen ausgerichtet, noch ist
12 Singapur und Stanford [17] bereits erprobt wird. sie an individuellen Bedürfnissen oder Präferen-
Hierbei ist der Vorteil, dass solche Fahrzeuge nicht zen orientiert. Für bestehende Funktionalitäten
bisherige Fahrer-Fahrzeug-Einheiten automatisie- kann vermutlich in den meisten Fällen über ge-
13 ren, sondern damit neue Mobilitätsdienste geschaf- eignete Mensch-Maschine-Interaktionskonzepte
fen werden, die von vornherein fahrerlos ausgelegt dieses Defizit ausgeräumt und einem größeren
14 sind. Sie müssen sich weder in Hinblick auf die Nutzerkreis zur Verfügung gestellt werden. Aber
Fahrleistung noch hinsichtlich der Fahrsicherheit es fehlt nicht nur an adäquater Funktionsausle-
15 mit herkömmlich gefahrenen Automobilen mes- gung, sondern auch an Funktionen, die spezifisch
sen, da sie ein anderes Fahrprofil bedienen, für das die Notwendigkeiten einzelner Nutzergruppen
keine Referenzwerte existieren und dank der nied- adressieren. Besonders offensichtlich ist dieser
16 rigen Geschwindigkeit grundsätzlich ein geringeres Mangel im Bereich der älteren Autofahrer, für
latentes Grundrisiko unterstellt werden kann. Die die Fahrerassistenzsysteme der Schlüssel zu einer
17 technische Weiterentwicklung kann dann sukzes- möglichst langen individuellen Mobilität sind.
sive die Fahrgeschwindigkeit nach oben ausbauen Aber auch jüngere Autofahrer werden mit den
und auch die Einsatzbereiche vergrößern. bisherigen Ansätzen nicht erreicht, obwohl sie im
18 Unfallgeschehen eine weit überproportionale Rolle
Synthese Jede der zuvor genannten Richtungen spielen. Fahrerassistenzsysteme für Motorradfah-
19 liefert marktfähige Basisanwendungen und damit rer müssen sowohl für die Fahrzeugart als auch
die Grundlage für eine technologische Weiterent- die Nutzergruppe individualisierbar sein. Eben-
20 wicklung und zunehmender Funktionsreife. Aber falls sehr spezifisch ist die Gruppe der Lkw- und
alle stoßen in Hinblick auf autonomes Fahren (un- Busfahrer, die wegen der hohen Fahrleistung und
62.5 • Zukünftige Forschungsschwerpunkte
1183 62
-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Assistenzfunktionen, die die spezifischen
Anforderungen spezieller Nutzergruppen
adressieren, vordringlich ältere und jüngere
noch viel Potenzial für die Generierung eines hoch-
auflösenden und verlässlichen Umfeldmodells, das
die Basis für das Situationsverstehen bildet. Metho-
den zur Beschreibung des Umfelds einschließlich
Eine große Rolle wird dabei die Verhaltensvorher- Erst recht problematisch wird die Situation, wie in
1 sage des eigenen Fahrzeugs sowie der anderen Ver- ▶ Abschn. 62.3 ausführlich dargelegt, wenn Funk-
kehrsteilnehmer spielen, die nur über Absichts- und tionen vom Menschen zur Maschine übertragen
62 Verhaltensmodellierung eine hinreichende Qualität werden, bei denen auch auf nicht vorhergesehene
erreichen kann. Situationen reagiert werden muss. Hier wird dann
vor einer Markteinführung der Nachweis erbracht
-
3 Zukünftige Schwerpunktaufgaben: werden müssen, dass diese Aufgabe mit höchstens
Weiterentwicklung der Algorithmen zur dem gleichen Risiko übernommen wird wie zuvor
4 Fahrumgebungserfassung für komplexere vom Fahrer. Dies wirft gleich zwei Probleme auf: die
6
- -qualität;
Methoden und Algorithmen zum Situations-
sowieso, ebenso für die Kombination von Fahrer
und Assistenzsystem. Da von einer kurzfristigen
9
Verkehrsteilnehmer.
-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Test- und Bewertungsmethoden für die
maschinelle Wahrnehmung und für (teil-)
-
62.5.3 Bewertungsmethoden
10 automatische Assistenzfunktionen;
Konzepte für die Bewertung der Leistungsfä-
Konzentrierte sich die Fahrerassistenzforschung higkeit von menschlichem und maschinellem
11 in der Vergangenheit fast allein auf technologi- Fahren.
sche Durchbrüche, so verschiebt sich nun der
12 Schwerpunkt: Bewertungsmethoden erhalten ein
deutlich höheres Gewicht. Ohne geeignete und 62.5.4 Vernetzung
allgemein akzeptierte Bewertungsmethoden kön-
13 nen Funktionen mit einem Schadenspotenzial im Anders als die drei ersten Schwerpunkte konzent-
Falle eines Funktionsfehlers nicht in den Markt riert sich der vierte Bereich nicht auf die Assistenz
14 eingeführt werden. Herkömmliche Testmethoden im Fahrzeug, sondern auf die Einbindung in das
und -maßstäbe reichen bei weitem nicht aus, um gesamte Verkehrsnetzwerk. Mit vorhandenen In-
15 zukünftig immer komplexer werdende Assistenz- formationsnetzen, vor allem aber zukünftigen Ve-
funktionen mit maschineller Wahrnehmung abzu- hicle-to-X-Netzen, eröffnen sich viele neue Mög-
sichern. Daher finden sich heute nur „harmlose“ lichkeiten zur Gesamtoptimierung. Daher sollten
16 Assistenzfunktionen oder Funktionen mit sehr gut die bestehenden Ansätze zu einer Einführungsreife
überschaubarem Funktionsumfang wie die automa- weiterentwickelt werden, um schnellstmöglich über
17 tische Notbremsung im Markt. Das abzusehende den Austausch von Information, die Sicherheit der
Funktionswachstum und die Ausdehnung der Ein- einzelnen Teilnehmer zu erhöhen.
satzbereiche werden ohne eine entsprechende Wei- Daran sollten sich bald neue Zukunftskon-
18 terentwicklung der Test- und Bewertungskonzepte zepte anschließen, die ausgehend von einer hohen
auflaufen. Angefangen vom Test der maschinellen Durchdringungsrate von Fahrerassistenzsystemen
19 Perzeption über den Test des gewünschten wie ein optimales Verkehrssystem mit minimalem
auch des fehlerhaften Funktionsverhaltens bis hin Ressourceneinsatz und möglichst hoher Sicherheit
20 zur Akzeptanzbewertung fehlen Konzepte, die eine ermöglichen. Diese Konzepte sollten nicht nur ein-
wirtschaftlich vertretbare Durchführung erlauben. zelne Fahrten von A nach B betrachten, sondern
Literatur
1185 62
auch die Schnittstellen zum ruhenden Verkehr und einen gesellschaftlichen und ggf. auch politischen
zu anderen Verkehrsträgern für eine verbesserte Diskurs sorgen, ohne dass größere schon getätigte
Intermodalität einschließen. Aber auch die Assis- Investitionen damit gefährdet werden [20]. Auch
tenzsysteme müssen dafür geändert, insbesondere hinsichtlich der gesellschaftlichen Aspekte, bei-
kooperationsfähig werden, damit sie auch kollektiv spielsweise der gesellschaftlichen Auswirkung und
verbessert agieren können. Eine besonders reizvolle Wegbereitung des hochautomatisierten oder auto-
Vision ist die des „deterministischen“ Verkehrs, bei nomen Fahrens, wird zukünftig interdisziplinärer
dem in einem hohen Maße die Fahrt wie geplant Forschungsbedarf gesehen.
verläuft und der Verkehrsteilnehmer sich in einem
imaginären Raum-Zeit-Slot bewegt.
Danksagung
-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Einbindung der Vehicle-to-X-Netzwerke für Für die Übernahmemöglichkeit der ▶ Abschn. 62.1,
- mehr Sicherheit,
kollektive Bereitstellung verlässlicher lokaler
62.2 und 62.5 aus dem Uni-DAS-Positionspapier wird
den Kollegen der Uni-DAS e. V. herzlich gedankt.
- Verkehrsinformation,
kollektive Verkehrsführung auf Basis koopera-
Den Koautoren der ersten, Frau Dr. Gabriele
Wolf, und der zweiten Auflage, Herrn Dr. Weitzel,
- Vorhersagesicherheit,
Nutzungsoptimierung über Konzepte determi-
nistischer Verkehrssysteme.
gedankt.
Literatur
62.5.5 Gesellschaftliche 1 Bengler, K., Dietmayer, K., Färber, B., Maurer, M., Stiller, C.,
Forschungsaspekte Winner, H.: Die Zukunft der Fahrerassistenz – Ein Strategie-
papier der Uni-DAS. Uni-DAS e. V., Darmstadt (2014). http://
www.uni-das.de/documents/Strategiepapier_Uni-DAS.pdf
Die vorhergehenden Schwerpunkte zeigen die aus 2 Blumenthal, F.: Vernetzt und autonom. ATZ Agenda , 20–23
technischer Sicht erforderlichen Forschungsfelder (2013)
auf, die auf der Expertise der Autoren in diesen 3 simTD-Konsortium: Sichere Intelligente Mobilität – Testfeld
Deutschland; Projekt-Homepage http://www.simtd.de, Zu-
Technikbereichen gründen. Allerdings sind da-
griff Nov. 2014 (2014)
mit nicht alle relevanten Themen angestoßen. Die 4 Ko-FAS: Kooperative Sensorik und kooperative Perzeption
Fahrerassistenzsysteme reflektieren nicht allein für die präventive Sicherheit im Straßenverkehr http://
den technologischen Fortschritt, sondern werden www.kofas.de/, Zugriff Nov. 2014 (2014)
für Menschen entwickelt, die es kaufen und nutzen 5 Saust, F., Wille, J., Maurer, M.: Energy-optimized driving
with an autonomous vehicle in urban environments IEEE
sollen. Sie verändern die individuelle und auch kol-
Vehicular Technology Conference (VTC Spring), Yokohama,
lektive Sicherheit, sie verändern die Mobilität der Japan. (2012)
einzelnen ebenso wie von Gruppen. Die Entwick- 6 Intelligent Apps GmbH: Firmenhomepage https://www.
lung der Assistenzsysteme wird stimuliert durch die mytaxi.com, Zugriff Nov. 2014 (2014)
Marktakzeptanz oder auch zurückgeworfen, wenn 7 Uber Technologies, Inc.: Firmenhomepage https://www.
uber.com, Zugriff Nov. 2014 (2014)
gesellschaftliche Vorbehalte [18, 19] vorliegen. An-
8 Bläser, D., Arch, M., Schmidt, A.: Mobilität findet Stadt. Zu-
dererseits können Assistenzsysteme insbesondere kunft der Mobilität für urbane Metropolräume. In: Proff, H.,
mit hohem Automatisierungsgrad selbst eine Verän- Schönharting, J., Schramm, D., Ziegler, J. (Hrsg.) Zukünf-
derung des Verkehrsverhaltens induzieren und mit tige Entwicklungen in der Mobilität. Betriebswirtschaftli-
neuen Geschäftsmodellen die Mobilitätslandschaft che und technische Aspekte, S. 501–515. Springer Gabler,
Wiesbaden (2012)
erheblich verändern. Eine frühzeitige proaktiv
9 Terporten, M., Bialdyga, D., Planing, P.: Veränderte Kunden-
betriebene Technikfolgenabschätzung kann Kon- wünsche als Chance zur Differenzierung. Herausforderun-
fliktpotenziale schon im Ansatz aufzeigen und für
1186 Kapitel 62 • Quo vadis, FAS?
5 13
Pub, New York (1978)
Langer, D., Switkes, J., Stoschek, A., Hunhnke, B.: Enviro-
ment Perception in the 2007 Urban Challenge: Utility for
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Serviceteil
Serviceteil 1187
Glossar – 1188
Stichwortverzeichnis – 1201
Glossar
Stichwortverzeichnis