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ATZ/MTZ-Fachbuch

Hermann Winner
Stephan Hakuli
Felix Lotz
Christina Singer Hrsg.

Handbuch
Fahrer-
assistenzsysteme
Grundlagen, Komponenten und Systeme
für aktive Sicherheit und Komfort
3. Auflage
ATZ / MTZ-Fachbuch
Die komplexe Technik heutiger Kraftfahrzeuge und Motoren macht einen immer größer werdenden Fundus
an Informationen notwendig, um die Funktion und die Arbeitsweise von Komponenten oder Systemen zu
verstehen. Den raschen und sicheren Zugriff auf diese Informationen bietet die regelmäßig aktualisierte Reihe
ATZ/MTZ-Fachbuch, welche die zum Verständnis erforderlichen Grundlagen, Daten und Erklärungen anschau-
lich, systematisch und anwendungsorientiert zusammenstellt.
Die Reihe wendet sich an Fahrzeug- und Motoreningenieure sowie Studierende, die Nachschlagebedarf ha-
ben und im Zusammenhang Fragestellungen ihres Arbeitsfeldes verstehen müssen und an Professoren und
Dozenten an Universitäten und Hochschulen mit Schwerpunkt Kraftfahrzeug- und Motorentechnik. Sie liefert
gleichzeitig das theoretische Rüstzeug für das Verständnis wie auch die Anwendungen, wie sie für Gutachter,
Forscher und Entwicklungsingenieure in der Automobil- und Zulieferindustrie sowie bei Dienstleistern benö-
tigt werden.
Hermann Winner
Stephan Hakuli
Felix Lotz
Christina Singer
(Hrsg.)

Handbuch Fahrer­
assistenzsysteme
Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive
Sicherheit und Komfort
3., überarbeitete und ergänzte Auflage
Herausgeber
Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner Dipl.-Ing. Felix Lotz
Technische Universität Darmstadt Technische Universität Darmstadt
Fachgebiet Fahrzeugtechnik Fachgebiet Fahrzeugtechnik
Darmstadt, Deutschland Darmstadt, Deutschland

Dipl.-Ing. Stephan Hakuli Christina Singer, M.Sc.


IPG Automotive GmbH Technische Universität Darmstadt
Karlsruhe, Deutschland Fachgebiet Fahrzeugtechnik
Darmstadt, Deutschland

ISBN 978-3-658-05733-6    ISBN 978-3-658-05734-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-05734-3

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V

Einleitung

Ein Handbuch Fahrerassistenzsysteme soll selbstverständlich alle relevanten Aspekte adres-


sieren, die mit Fahrerassistenzsystemen verbunden sind. Doch welche sind das und wie lassen
sich diese ordnen? Diese Frage stellt sich für das Herausgeberteam mit jeder Auflage. Da ist
zum einen die Wahl, welche Assistenzfunktionalitäten vorkommen und mit welcher Detail-
liertheit sie beschrieben werden sollen. Der mit der ersten Auflage begonnene Weg einer Auf-
teilung der Funktionen in Stabilisierungs-, Bahnführungs- und Navigationsassistenz gemäß
dem 3-Ebenen-Modell von Donges aus dem Jahr 1982 und die Beschränkung auf Funktio-
nen, die die primäre Fahraufgabe unterstützen, konnte auch in der dritten Auflage fortgesetzt
werden. Allerdings zeigen sich auch erste Probleme mit der Aufteilung, wenn die Funktionen
mit einem hohen Automatisierungsgrad, die heute noch unter Zukunft der Fahrerassistenz-
systeme geführt werden, Realität werden. In jedem Fall lassen sich aber auch dann weiterhin
funktionsübergreifende technische Grundlagen wie Sensorik, Sensordatenfusion, Aktorik und
Mensch-Maschine-Schnittstelle jeweils in einer eigenen Kategorie behandeln. Mindestens
genauso wichtig wie die Darstellung der technischen Lösungen ist eine Einordnung über die
Grundlagen zur Assistenzsystementwicklung. Aufgrund der gewachsenen Bedeutung der Ent-
wicklungs- und Testmethodik wird diesen ab der dritten Auflage jeweils ein eigener Bereich
gewidmet. Somit ergibt sich folgende Gliederung der Kapitel:

Ausgangspunkt der Betrachtungen ist der Fahrer, der durch die Assistenzsysteme unterstützt
werden soll. In Teil I: Grundlagen der Fahrerassistenzsystem-Entwicklung wird daher die
Leistungsfähigkeit des Menschen und sein Verhalten bei der Fahrzeugführung beschrieben
sowie dargelegt, welche Auswirkungen auf die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen sich
daraus ergeben. Weitere Grundlagen, die im ersten Teil behandelt werden, sind rechtliche
Rahmenbedingungen sowie verkehrssicherheitstechnische und verhaltenswissenschaftliche
Aspekte von FAS sowie die Themen funktionale Sicherheit und AUTOSAR.

Teile II und III betrachten virtuelle Entwicklungs- und Testumgebungen für FAS sowie Test-
verfahren, die bei der Entwicklung und Bewertung von FAS zum Einsatz kommen.

Teil IV des Buches behandelt Sensorik für FAS und beschreibt die Herausforderungen, die sich
auf dem Gebiet des maschinellen Sehens stellen, während Teil V Konzepte für Datenfusion
und Umfeldrepräsentation vorstellt.

Brems- und Lenkstellsysteme bilden wesentliche Teile der Aktorik für Fahrerassistenzsys-
teme. Sie werden in Teil VI beschrieben.

Aufbauend auf Teil I beschäftigt sich Teil VII: Mensch-Maschine-Schnittstelle für Fahrer­
assistenzsysteme mit den Anforderungen an eine nutzergerechte Gestaltung der Mensch-­
Maschine-Schnittstelle sowie der Anzeigetechnologien, die dabei zum Einsatz kommen.

Die Teile VIII und IX: Fahrerassistenz auf Stabilisierungsebene bzw. Fahrerassistenz auf
Bahnführungs- und Navigationsebene enthalten eine detaillierte Darstellung von Systemen,
wie sie derzeit im Pkw- und Lkw-Bereich sowie bei Motorrädern und in der Landtechnik zum
Einsatz kommen.
VI Einleitung

Teil X: Zukunft der Fahrerassistenzsysteme schildert aktuelle Herausforderungen, denen


sich Forschung und Entwicklung im Bereich Fahrerassistenzsysteme stellen müssen, stellt
Forschungskonzepte vor und wagt mit einem abschließenden „Quo vadis, FAS?“ einen Blick
auf die zukünftigen Entwicklungen.

Wir wünschen allen Lesern viel Freude mit diesem Handbuch und hoffen, dass es sich für all
jene als nützlich erweisen wird, die es als Nachschlagewerk nutzen oder sich mit seiner Hilfe
in das spannende Thema der Fahrerassistenzsysteme einarbeiten wollen.

Darmstadt im März 2015

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner


Dipl.-Ing. Stephan Hakuli
Dipl.-Ing. Felix Lotz
Christina Singer M. Sc.
VII

Vorwort zur dritten Auflage

Zwischen dieser dritten Auflage und der ersten liegen gerade erst etwas mehr als fünf Jahre.
Trotzdem wurde in der ersten Besprechung im umgebildeten Herausgeberteam schnell deut-
lich, dass die dritte Auflage weitaus mehr als eine inkrementelle Weiterentwicklung ist. Die
hohe Dynamik der Fahrerassistenzentwicklung lässt vormals wichtig erscheinende Aspekte in
den Hintergrund treten, während sich viele neue Themen aufdrängen. So haben wir viele der
bisherigen Autoren gebeten, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und zum Teil größere
Änderungen durchzuführen. Dies reichte aber noch nicht aus: Es gab schlichtweg zu viele
Fortschritte in diesem Bereich, die in die neue Auflage ebenfalls einfließen mussten. Daher
freute es uns, noch weitere Autoren gewinnen zu können, die die Gebiete genauso hervorra-
gend vertreten können wie die bisherigen im Fall der beibehaltenen Themen. Leider standen
wir aber auch vor der Herausforderung, die neue Auflage nicht im gleichen Umfang wachsen
zu lassen, wie neue Themen hinzukamen. Wir mussten uns daher entschließen, Kapitel her-
auszunehmen oder erheblich zu kürzen, wenn wir den Eindruck hatten, dass die Inhalte nach
Jahren der dynamischen Entwicklung nicht mehr im Fokus stehen. Wir danken den Autoren
dieser Kapitel für das Verständnis hierfür, ebenso wie für die Beiträge in den beiden ersten
Auflagen, die auch weiterhin ihren eigenständigen Wert behalten.

Auch das Herausgeberteam wurde umgebildet und erweitert, um die vielfältigen administ-
rativen und qualitätssichernden Arbeiten zu schultern. Gabriele Wolf ist seit Längerem nicht
mehr im Themengebiet tätig und schied folglich auf eigenen Wunsch aus dem Team aus. Ich
danke ihr sehr für die große Unterstützung bei den ersten Auflagen und insbesondere für die
Initiative, das Wagnis des Handbuchs anzugehen. Stephan Hakuli hat trotz starker Einbindung
in seine aktuelle berufliche Tätigkeit die Kontinuität gehalten. Christina Singer und Felix Lotz
danke ich im Besonderen für die oft in den Abend- und Wochenendstunden durchgeführten,
unglaublich umfangreichen Arbeiten zur Koordination und Qualitätssicherung, um auch die
dritte Auflage mit dem gleichen Anspruch wie zuvor herauszugeben. Dabei konnten sich beide
auf die Zuverlässigkeit und Tatkraft von Herrn Yannick Ryma verlassen, der als studentische
Hilfskraft sowohl die Autoren als auch die Herausgeber in erheblichem Maße unterstützt hat.

Ganz besonders zu Dank verpflichtet bin ich den vielen Autoren, die bei der Erstellung dieser
Auflage mitgewirkt haben.

Dem Verlag Springer Vieweg danke ich für die Bereitschaft, dieses Handbuch herauszugeben
und den gewachsenen Umfang mitzutragen. Für die angenehme Zusammenarbeit und kom-
petente Betreuung in allen organisatorischen Fragen seien insbesondere Frau Elisabeth Lange,
Frau Gabriele McLemore und Herrn Ewald Schmitt gedankt. Das Lektorat für dieses Buch
wurde von Susanne Mitteldorf durchgeführt. Ihre sorgfältige und aufmerksame Prüfung hat
die hohe sprachliche Qualität der Texte ermöglicht, dafür sowie für die angenehme Zusam-
menarbeit bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen.
VIII Vorwort zur dritten Auflage

Abschließend möchte ich mich bei allen FZD-Mitarbeitern bedanken, die durch Korrektur­
lesen, fachliche Diskussionen oder sonstige hilfreiche Beiträge an der Entstehung dieses Buchs
mitgewirkt haben.

Darmstadt im August 2014

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner

Vorwort zur zweiten Auflage


Die erste Auflage des Handbuchs Fahrerassistenzsysteme erschien im Juli 2009 und aufgrund
des großen Erfolges, den das Buch erzielte, konnten bereits im September 2010 die Arbeiten an
der nun vorliegenden zweiten Auflage beginnen. Hierfür wurden die Inhalte der ersten Auflage
überprüft, einige kleinere Fehler korrigiert und notwendige Aktualisierungen vorgenommen.

Ich danke allen Autoren für die kritische Durchsicht ihrer Texte und meinen Mit-Herausge-
bern Herrn Stephan Hakuli und Frau Dr.-Ing. Gabriele Wolf, in deren Händen auch dieses
Mal die organisatorischen und operativen Aufgaben lagen.

Darmstadt im März 2011

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner

Vorwort zur ersten Auflage


Fahrerassistenzsysteme haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und sind fester
Bestandteil in vielen heutigen Fahrzeugmodellen aller Fahrzeugklassen. Forschung und Ent-
wicklung in Unternehmen und Universitäten beschäftigen sich mit der Optimierung der be-
stehenden Systeme und mit Weiterentwicklungen, die dem Fahrer ein noch höheres Maß an
Assistenz und Unterstützung bieten sollen. Zeugnis dieser Arbeiten legen die vielen wissen-
schaftlichen Veröffentlichungen und Tagungsbeiträge ab, doch eine umfassende Darstellung
des heutigen Stands der Technik sowie der Grundlagen für die Entwicklung solcher Systeme
suchte man bisher im deutschsprachigen Raum vergeblich. Zwar existieren einige Fachbücher,
die sich mit Fahrerassistenzsystemen beschäftigen, doch sind diese stark auf einzelne Aspekte
wie z. B. die Regelung solcher Systeme fokussiert. Aufbauend auf den Inhalten der Vorlesung
Fahrerassistenzsysteme, die ich seit 2002 am Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen
Universität Darmstadt (FZD) halte (seit dem Sommersemester 2008 mit erweitertem Umfang
unter dem Titel Mechatronik und Assistenzsysteme im Automobil), wurde die Gliederung des
vorliegenden Handbuchs Fahrerassistenzsysteme entwickelt.

Der Umfang der Thematik machte es erforderlich, die inhaltliche Arbeit auf viele Schultern
zu verteilen, und so halten Sie nun ein Werk in Händen, dessen 44 Kapitel von insgesamt
96 Experten aus Industrie und Wissenschaft geschrieben wurden. Diese Autoren sind es,
denen ich in erster Linie zu Dank verpflichtet bin, denn ohne ihre Bereitschaft, Zeit und
Mühen in die Erstellung der Manuskripte zu investieren, hätte dieses Buch nicht entstehen
können.
IX
Vorwort zur ersten Auflage

An einem solchen Projekt sind jedoch noch mehr Menschen beteiligt, und ich möchte es nicht
versäumen, allen in diesem Vorwort für ihren Beitrag zu danken.

Ganz besonders zu Dank verpflichtet bin ich meinen beiden Mit-Herausgebern Herrn Stephan
Hakuli und Frau Gabriele Wolf, in deren Händen die Organisation und alle operativen Auf-
gaben dieses Projekts von der Autorenbetreuung über die Zusammenarbeit mit dem Verlag
bis zur Erstellung des Gesamtmanuskripts lagen. Für ihr ausgezeichnetes Projektmanagement
und ihre Bereitschaft, diese zusätzlichen Aufgaben neben ihrer Arbeit als wissenschaftliche
Mitarbeiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik auf sich zu nehmen, danke ich ihnen sehr herz-
lich. Frau Wolf danke ich darüber hinaus, dass sie den Anstoß dazu gab, dieses von mir in
Gedanken schon länger gehegte Projekt in die Tat umzusetzen.

Dem Verlag Vieweg+Teubner danke ich für die Bereitschaft, dieses Handbuch herauszugeben.
Für die angenehme Zusammenarbeit und kompetente Betreuung in allen organisatorischen
Fragen sei insbesondere sei Frau Elisabeth Lange gedankt.

Das Lektorat für dieses Buch wurde von Susanne und Katharina Mitteldorf durchgeführt. Ihre
sorgfältige und aufmerksame Prüfung hat die hohe sprachliche Qualität der Texte ermöglicht,
und dafür sowie die angenehme Zusammenarbeit bedanke ich mich sehr herzlich bei ihnen.

Herrn Danijel Pusic danke ich für seine Mitarbeit bei der Konzeption des Buches und der Er-
arbeitung der Gliederung. Unterstützt wurden die Arbeiten an diesem Handbuch in vielfältiger
Weise durch die studentischen Hilfskräfte Herrn Johannes Götzelmann, Herrn Richard Hurst,
Frau Hyuliya Rashidova und Herrn Philip Weickgenannt. Auch ihnen sei gedankt.

Ich bedanke mich außerdem bei allen FZD-Mitarbeitern, die durch Korrekturlesen, fachliche
Diskussionen oder sonstige hilfreiche Beiträge an der Entstehung dieses Buchs mitgewirkt
haben.

Darmstadt im August 2008

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner


XI

Die Herausgeber

Herausgeber, vlnr.: Stephan Hakuli, Hermann Winner, Christina Singer, Felix Lotz

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner wurde 1955 in Bersenbrück, Niedersachsen, geboren.
Von 1976 bis 1981 studierte er Physik an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU)
in Münster/Westfalen. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut
für Angewandte Physik der WWU Münster, wo er 1987 zum Thema Dynamik der Domänen-
wände in metallischen Ferromagnetika promovierte.
Von 1987 bis 1994 arbeitete Hermann Winner bei der Robert Bosch GmbH in Karlsruhe,
Ettlingen und Schwieberdingen in der Vorentwicklung von Mess- und Informationstechnik
und dabei u. a. verantwortlich für die Projekte PROMETHEUS-Drive-by-Wire, die Elekt-
rohydraulische Bremse und Adaptive Cruise Control. In seiner Funktion als Leiter der Se-
rienentwicklung von Adaptive Cruise Control lag sein Schwerpunkt auf Systementwicklung
und Applikation und er führte das System schließlich zur Serienreife. In den Jahren 1993 bis
2001 war Hermann Winner außerdem Experte bei der ISO/TC204/WG14 – Vehicle/Road-
way Warning and Control Systems – davon fünf Jahre als Leiter der deutschen Spiegelgruppe
AK I.14 des FAKRA.
Seit 2002 ist Hermann Winner Inhaber des Lehrstuhls für Fahrzeugtechnik an der Tech-
nischen Universität Darmstadt und Leiter des gleichnamigen Fachgebiets (FZD). Er baute
dort die Forschung auf dem Gebiet der Fahrerassistenzsysteme aus, das heute eine der Kern-
kompetenzen von FZD darstellt. In zahlreichen Forschungsprojekten mit der Automobil- und
Zulieferindustrie zu den Themen Sensorik, Funktionsbewertungen von Notbrems-, Notaus-
weich- und Einbiege-/Kreuzen-Assistenz sowie zur Systemarchitektur von FAS konnte diese
Expertise unter Beweis gestellt werden. 2012 erhielt er von der IEEE ITS den Award for Ins-
titutional Leadership für seine Leistungen im Bereich der Fahrerassistenzsystementwicklung
und aktiver Sicherheit.

Stephan Hakuli studierte Physik an der TU Darmstadt und schloss 2005 als Diplomingenieur
der Physik ab. In seiner Diplomarbeit konzipierte und realisierte er ein Verfahren zur gescann-
ten Belichtung und Vermessung holographischer Head-up-Displays. Seit Dezember 2005 ar-
beitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik und koordinierte
zwei Jahre lang die Lehraktivitäten des Fachgebiets. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit
beschäftigt er sich mit Conduct-by-Wire, einem integrierten Fahrerassistenzkonzept für ma-
növerbasierte Fahrzeugführung. Seit 2011 ist er als Produktmanager für Engineering Services
bei der IPG Automotive GmbH tätig und befasst sich neben seiner Funktion als Fachreferent
für Fahrerassistenzthemen mit Verbesserungspotenzialen im Fahrzeugentwicklungsprozess,
die aus der Nutzung virtueller Prototypen und des virtuellen Fahrversuchs resultieren.
XII Die Herausgeber

Felix Lotz studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt sowie an der Virginia Polytechnic
Institute and State University. Seit 2007 war er bei FZD als Student in verschiedenen Projek-
ten im Bereich von Fahr- und Probandenversuchen eingebunden. Nach seinem Abschluss
als Diplomingenieur ist er seit Januar 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Ko-
operationsprojekt PRORETA 3 tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen dabei auf der
Entwicklung einer Systemarchitektur sowie der Verhaltensplanung und Test von automati-
sierten Fahrzeugen.

Christina Singer studierte Maschinenbau an der FH Südwestfalen, der TU Darmstadt sowie


an der Virginia Polytechnic Institute and State University. In ihrer Masterarbeit entwickelte
und bewertete sie Konzepte zur Verletzungsschwereprognose. Seit März 2011 arbeitet sie am
Fachgebiet Fahrzeugtechnik. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich mit
aufwandsreduzierten Applikations- und Freigabekonzepten von Bremsregelsystemen.
XIII

Inhaltsverzeichnis

Firmen- und Hochschulverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XL

Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIV

I Grundlagen der Fahrer­assistenzsystem­entwicklung

1 Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Bettina Abendroth, Ralph Bruder
1.1 Menschlicher Informations­verarbeitungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.1.1 Informationsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.2 Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.1.3 Informationsabgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.2 Fahrercharakteristik und die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3 Anforderungen an den Fahrzeugführer im System Fahrer-Fahrzeug-Umgebung. . . . . . . . 11
1.4 Bewertung der Anforderungen aus der Fahrzeug­führungsaufgabeim Hinblick
auf die menschliche Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2 Fahrerverhaltensmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Edmund Donges
2.1 Drei-Ebenen-Modell für zielgerichtete Tätigkeiten des Menschen nach
Rasmussen, 1983. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe nach Donges, 1982. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.3 Beispiel eines regelungstechnischen Modellansatzesfür die Führungs-
und Stabilisierungsebene der Fahraufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.4 Zeitkriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.5 Neuer Ansatz zur Quantifizierungvon fertigkeits-, regel- und wissensbasiertem
Verhalten im Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.6 Folgerungen für Fahrerassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

3 Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27


Tom Michael Gasser, Andre Seeck, Bryant Walker Smith
3.1 Kategorisierung und Nomenklatur der Systeme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2.1 Informierende Systeme (Kategorie A). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3.2.2 Kontinuierlich wirkende automatisierende Systeme (Kategorie B). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.2.3 Eingreifende Notfallsysteme (Kategorie C). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.3 Gesetzgebung in den USA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.4 Anforderungen an Fahrerassistenzsystemevor dem Hintergrund von „Ratings“
und gesetzlichen Vorschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.4.1 Typgenehmigungs­bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.4.2 Anforderungen durch Euro NCAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
XIV Inhaltsverzeichnis

3.4.3 Herstellerinterne Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49


3.4.4 Beyond NCAP – Berücksichtigung von neuen Sicherheitsfunktionen im Verbraucherschutz. . 49
3.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.5.1 Forschungsbedarf zur Mensch-Maschine-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.5.2 Forschungsbedarf zu Absicherungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.5.3 Forschungsbedarf bei der Identifizierung notwendiger Maßnahmen in der
Straßenverkehrsinfrastruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.5.4 Forschungsbedarf zur gesellschaftlichen Akzeptanz automatisierter Systeme im
Straßenverkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

4 Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen. . . . . . . . . . . . . . 55


Matthias Kühn, Lars Hannawald
4.1 Unfallstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.1.1 Unfallgeschehen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.1.2 Weltweites Unfallgeschehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
4.1.3 Unfallgeschehen nach Fahrzeugart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
4.2 Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4.2.1 Methoden zur Bewertung des Sicherheitspotenzials von FAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
4.2.2 Pkw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2.3 Lkw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2.4 Busse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2.5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

5 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen. . . . . . . . . . . 71


Bernhard Schlag, Gert Weller
5.1 Visuelle und kognitive Beanspruchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5.2 Situationsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
5.3 Mentale Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
5.4 Verhaltensadaptation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
5.5 Übernahmeproblematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

6 Funktionale Sicherheit und ISO 26262. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85


Ulf Wilhelm, Susanne Ebel, Alexander Weitzel
6.1 Aufgaben der funktionalen Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.1.1 Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.1.2 Ziele und Aufbau der ISO 26262. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.1.3 Abgrenzung zu anderen Normen und Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.1.4 Abgrenzung zur Behandlung von anderen Fehlerquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
6.2 Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6.2.1 Spezifikation von Sicherheitszielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
6.2.2 Spezifikation von Sicherheitsanforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
6.3 Erfüllung der Sicherheitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
6.3.1 Rückverfolgbarkeit der Anforderungsebenen („Traceability“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
6.3.2 Verifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
6.3.3 Validierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
XV
Inhaltsverzeichnis

6.4 Grenzen der ISO 26262. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99


6.4.1 Lücken in der Rückverfolgbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
6.4.2 Umgang mit Unwissen im Designprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
6.4.3 Validierung von Systemen mit funktionaler Unzulänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

7 AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Simon Fürst, Stefan Bunzel
7.1 Motivation für AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.2 Organisation der Partnerschaft AUTOSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
7.3 Die neun Projektziele von AUTOSAR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7.4 Die drei Bereiche der Standardisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.4.1 Softwarearchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
7.4.2 Entwurfsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
7.4.3 Anwendungsschnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7.5 Systemarchitektur – der virtuelle Funktionsbus (VFB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6 Softwarearchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6.1 Anwendungssoftware. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
7.6.2 Laufzeitumgebung (RTE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.6.3 Basissoftware (BSW). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.6.4 Systemkonfiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7.7 Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.7.1 Entwicklung verteilter Echtzeitsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7.7.2 AUTOSAR-Mechanismen für funktionale Sicherheit (ISO 26262). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
7.7.3 Virtualisierung in der Funktionsabsicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
7.7.4 Beherrschung von Komplexität und Entwicklungszeitverkürzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.7.5 Flexibilisierung von kooperativer und verteilter Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

II Simulation für Entwicklung und Test von


FAS / Virtuelle Entwicklungs- und Testumgebung für FAS

8 Virtuelle Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125


Stephan Hakuli, Markus Krug
8.1 Durchgängiges Testen und Bewerten im virtuellen Fahrversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
8.2 Effiziente Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Zulieferermittels einer
Integrations- und Testplattform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
8.3 In-the-Loop-Methoden und virtuelle Integration im V-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
8.4 Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
8.4.1 Spezifizieren mit Hilfe der virtuellen Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
8.4.2 Integrieren mit Hilfe der virtuellen Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
8.5 Grenzen der virtuellen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
8.5.1 Simulation von Umfeldsensorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8.5.2 Simulation der Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
XVI Inhaltsverzeichnis

8.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137


Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

9 Dynamische Fahrsimulatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139


Hans-Peter Schöner, Bernhard Morys
9.1 Allgemeiner Überblick über Fahrsimulatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
9.1.1 Einsatz von Fahrsimulatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
9.1.2 Beispiele für dynamische Fahrsimulatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
9.2 Aufbau eines dynamischen Fahrsimulators am Beispiel des Daimler-Fahrsimulators. . . 143
9.2.1 Bewegungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
9.2.2 Fahrer-Umfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
9.2.3 Bildsystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
9.2.4 Soundsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
9.2.5 Modelle der Fahrdynamik und der Umgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
9.2.6 Abbildung der Bewegung in den beschränkten Bewegungsraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
9.2.7 Kinetose (Simulatorkrankheit). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
9.2.8 Vorbereitungssimulatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
9.3 Versuchskonzeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
9.3.1 Zielstellung von Probandenuntersuchungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
9.3.2 Versuchsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
9.3.3 Versuchsvorbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
9.3.4 Ablenkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
9.3.5 Lerneffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
9.3.6 Probandenauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
9.3.7 Auswertung von Probandenversuchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.4 Problematik der Übertragbarkeit, der Realitätsnähe und des Gefahrenempfindens. . . . 152
9.4.1 Verfahren zur Validierung von Fahrsimulatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.4.2 Realitätsnähe und Gefahrenempfinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

10 Vehicle in the Loop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155


Guy Berg, Berthold Färber
10.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
10.2 Das Vehicle in the Loop. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
10.2.1 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
10.2.2 Funktionsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
10.3 Meilensteine der VIL-Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
10.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
XVII
Inhaltsverzeichnis

III Testverfahren

11 Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167


Patrick Seiniger, Alexander Weitzel
11.1 Systematik von Testverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
11.1.1 Testverfahren im Produktentwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
11.1.2 Unterscheidung anhand charakteristischer Eigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
11.2 Testverfahren für Gesetzgebung und Verbraucherschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
11.2.1 Anforderungen der Gesetzgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
11.2.2 Anforderungen aus dem Verbraucherschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
11.3 Eigenschaften der Testwerkzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
11.3.1 Pkw-repräsentierende Zielobjekte und Bewegungsvorrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
11.3.2 Fußgänger-repräsentierende Zielobjekte und Bewegungsvorrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
11.4 Realitätsnähe und Testaufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
11.5 Ausblick – was ist in EuroNCAP an Testverfahren zu erwarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

12 Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen . . . . . . 183


Jörg Breuer, Christoph von Hugo, Stephan Mücke, Simon Tattersall
12.1 Zielsetzung der nutzerorientierten Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
12.2 Versuchsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
12.2.1 Probanden- vs. Expertenversuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
12.2.2 Versuchspersonenauswahl und -anzahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
12.2.3 Prüfszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
12.2.4 Bewertungsparameter und -kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
12.3 Versuchsumgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
12.4 Durchführung und Auswertung von Feldabsicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
12.5 Exemplarische Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
12.5.1 Bewertung der Wirksamkeit von Sicherheitssystemen am Fahrsimulator. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
12.5.2 Bewertung der Beherrschbarkeit fehlerhafter Bremsungen gemäß ISO 26262. . . . . . . . . . . . . . 191
12.5.3 Bewertung der Wirksamkeit einer Sicherheitsfunktion auf dem Testgelände. . . . . . . . . . . . . . . 192
12.5.4 Bewertung und Optimierung eines Sicherheitssystems zur
Fahrerzustandsüberwachung in begleiteten Feldversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
12.5.5 Feldabsicherung radarbasierter Sicherheits- und Komfortsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

13 EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen. . . . . . 197


Norbert Fecher, Jens Hoffmann, Hermann Winner
13.1 Das Dummy Target EVITA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
13.1.1 Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
13.1.2 Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
13.1.3 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
13.1.4 Versuchsablauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
13.1.5 Leistungsdaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
13.2 Messkonzept im Versuchsfahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
13.3 Gefährdungen von Versuchsteilnehmern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
XVIII Inhaltsverzeichnis

13.4 Bewertungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201


13.4.1 Wirksamkeit eines Antikollisionssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
13.4.2 Probandenversuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
13.4.3 Bewertungskriterien für warnende Frontkollisionsgegenmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
13.4.4 Vergleiche von Antikollisionssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
13.4.5 Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
13.5 Einsatz in weiteren Studien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

14 Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207


Hans-Peter Schöner, Wolfgang Hurich
14.1 Motivation für den Einsatz koordinierter automatisierter Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
14.2 Anforderungen an Präzision und Reproduzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
14.3 Technische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
14.3.1 Im Fahrzeug: Lenk- und Pedalroboter, Positionsmessung, Safety-Controller,
Notbremseinrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
14.3.2 Im Leitstand: Steuerzentrale, Visualisierung, Koordination, Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
14.3.3 Sonstige Systeme: Daten- und Bildübertragung, Datensynchronisation, Luft-Bilder . . . . . . . . 212
14.4 Planung von Manövern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
14.4.1 Planung einzelner Trajektorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
14.4.2 Planung und Überprüfung koordinierter Trajektorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
14.4.3 Genauigkeit und Wiederholbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
14.4.4 Virtuelle Leitplanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
14.5 Selbstfahrende Targets. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
14.5.1 Soft-Crash-Target. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
14.5.2 Überfahrbarer Target-Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
14.6 Beispiele für automatisierte Fahrmanöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
14.6.1 Fahrerlose Manöver einzelner Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
14.6.2 Koordinierte Manöver mit mehreren fahrerlosen Fahrzeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
14.6.3 Manöver mit Fahrer, mit getriggerten beziehungsweise synchronisierten Targets. . . . . . . . . . 217
14.7 Zukünftige Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

IV Sensorik für Fahrerassistenzsysteme

15 Fahrdynamiksensoren für FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223


Matthias Mörbe
15.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
15.2 Allgemeine Auswahlkriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
15.2.1 Anforderungen Technikebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
15.2.2 Kommerzielle Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
15.3 Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
15.3.1 Sensoren und Einbauorte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
15.3.2 Raddrehzahlsensor DF. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
15.3.3 Lenkradwinkelsensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
15.3.4 Drehraten- und Beschleunigungssensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
XIX
Inhaltsverzeichnis

15.3.5 Bremsdrucksensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237


15.3.6 Bremspedalwegsensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

16 Ultraschallsensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Martin Noll, Peter Rapps
16.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2 Grundlagen der Ultraschallwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2.1 Piezoelektrischer Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.2.2 Piezoelektrische Keramiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16.3 Ultraschallwandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
16.3.1 Ersatzschaltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
16.4.1 Sensorbaugruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
16.5 Antennen und Strahlgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
16.5.1 Simulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
16.6 Entfernungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
16.6.1 Trilateration und Objektlokalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
16.7 Halter- und Befestigungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
16.8 Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
16.9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

17 Radarsensorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Hermann Winner
17.1 Ausbreitung und Reflektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
17.2 Abstands- und Geschwindigkeitsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
17.2.1 Grundprinzip Modulation und Demodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
17.2.2 Doppler-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
17.2.3 Mischen von Signalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
17.2.4 Pulsmodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
17.2.5 Frequenzmodulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
17.3 Winkelmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
17.3.1 Antennen-theoretische Vorbetrachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
17.3.2 Scanning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
17.3.3 Monopuls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
17.3.4 Mehrstrahler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
17.3.5 Dual-Sensor-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
17.3.6 Planar-Antennen-Arrays:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
17.4 Hauptparameter der Leistungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.1 Abstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.2 Relativgeschwindigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.3 Azimutwinkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4.4 Leistungsfähigkeit und Mehrzielfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
17.4.5 24 GHz vs. 77 GHz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
17.5 Signalverarbeitung und Tracking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
17.6 Einbau und Justage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
17.7 Elektromagnetische Verträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
XX Inhaltsverzeichnis

17.8 Ausführungsbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297


17.8.1 Bosch LRR3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
17.8.2 Bosch Radarsensoren der vierten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
17.8.3 Continental ARS 300. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
17.8.4 Continental SRR 200. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
17.8.5 Hella 24 GHz Mid-Range-Radar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
17.8.6 TRW AC1000. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
17.8.7 Valeo MBH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
17.9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

18 LIDAR-Sensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Heinrich Gotzig, Georg Geduld
18.1 Funktion, Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.1 Begrifflichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.2 Messverfahren Distanzsensor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
18.1.3 Weitere Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
18.1.4 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
18.1.5 Transmissions- und Reflexionseigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
18.1.6 Geschwindigkeits­bewegungs­ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
18.1.7 Tracking-Verfahren und Auswahl relevanter Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
18.2 Applikation im Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
18.2.1 Laserschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
18.2.2 Integration für nach vorne gerichtete Sensoren (zum Beispiel für ACC). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3 Zusatzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.1 Sichtweitenmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.2 Tag/Nacht-Erkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.3 Verschmutzungserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.4 Geschwindigkeitsermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.5 Fahrerverhalten/-zustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.3.6 Objektausdehnung/-erkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
18.4 Aktuelle Serienbeispiele:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
18.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

19 3D Time-of-Flight (ToF). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335


Bernd Buxbaum, Robert Lange, Thorsten Ringbeck
19.1 Einordnung und Erläuterung des Grundkonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
19.2 Vorteile und Applikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
19.3 Grundsätzliche Lösungen zur 3D-Erfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
19.3.1 Formerfassung mit optisch inkohärenter Modulationslaufzeitmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
19.3.2 Das PMD-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
19.4 Module eines PMD-Systems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
19.4.1 PMD-Imager: 2D-Mischer und Integrator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
19.4.2 Beleuchtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
19.4.3 Weiterverarbeitung (Merkmalsextraktion, Objekttracking). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
19.5 Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen des Gesamtsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
XXI
Inhaltsverzeichnis

20 Kamera-Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen, Nicolaj Stache, Maximilian Höpfl
20.1 Einsatzgebiete und Beispielanwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
20.1.1 Fahrer- und Innenraumüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
20.1.2 Umfelderfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
20.2 Kameras für Fahrerassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
20.2.1 Kriterien für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
20.3 Kameramodul. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
20.3.1 Aufbau eines Kameramoduls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
20.3.2 Optik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
20.3.3 Bildsensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
20.4 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
20.4.1 Systemübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
20.4.2 Monokamera-Architektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
20.4.3 Stereokamera-Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
20.5 Kalibrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
20.5.1 Kalibrierparameter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
20.5.2 Orte der Kalibrierung und Kalibrierverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
20.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

21 Maschinelles Sehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369


Christoph Stiller, Alexander Bachmann, Andreas Geiger
21.1 Bildentstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
21.1.1 Projektive Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
21.1.2 Bildrepräsentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
21.2 Bildverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
21.2.1 Bildverbesserung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
21.2.2 Merkmalsextraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
21.3 3d Rekonstruktion der Szenengeometrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
21.3.1 Stereoskopie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
21.3.2 Motion-Stereo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
21.3.3 Trifokal-Tensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
21.4 Zeitliche Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
21.4.1 Bayes-Filter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
21.4.2 Partikelfilter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
21.4.3 Zeitliche Verfolgung mit dem Kalman-Filter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
21.5 Anwendungsbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
21.5.1 Objektdetektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
21.5.2 Kreuzungserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
21.6 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

22 Stereosehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Uwe Franke, Stefan Gehrig
22.1 Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
22.1.1 Lokale Korrelationsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
22.1.2 Globale Stereoverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
XXII Inhaltsverzeichnis

22.2 Genauigkeit der Stereoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403


22.2.1 Subpixelgenaue Schätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
22.2.2 Effekte einer Dekalibrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
22.3 6D-Vision. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
22.3.1 Das Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
22.3.2 Dense6D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
22.4 Stixel-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
22.4.1 Optimale Berechnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
22.4.2 Bildverstehen in der Stixel-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
22.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

23 Kamerabasierte Fußgängerdetektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421


Bernt Schiele, Christian Wojek
23.1 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
23.2 Mögliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
23.3 Beschreibung des Funktionsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
23.3.1 Sliding-Window-Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
23.3.2 Merkmalspunkt- und körperteilbasierte Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
23.3.3 Systemorientierte Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
23.4 Beschreibungen der Anforderungen an Hardware und Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
23.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

V Datenfusion und Umfeldpräsentation

24 Fusion umfelderfassender Sensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439


Michael Darms
24.1 Definition Sensordatenfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
24.1.1 Ziele der Datenfusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
24.2 Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
24.2.1 Signalverarbeitung und Merkmalsextraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
24.2.2 Datenassoziation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
24.2.3 Datenfilterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
24.2.4 Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
24.2.5 Situationsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
24.3 Architekturmuster zur Sensordatenfusion von Umfeldsensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
24.3.1 Dezentral – Zentral – Hybrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
24.3.2 Rohdatenebene – Merkmalsebene – Entscheidungsebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
24.3.3 Synchronisiert – Unsynchronisiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
24.3.4 Neue Daten – Datenkonstellation – Externes Ereignis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
24.3.5 Originaldaten – Gefilterte Daten – Prädizierte Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
24.3.6 Parallel – Sequenziell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
24.4 Abschließende Bemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
XXIII
Inhaltsverzeichnis

25 Repräsentation fusionierter Umfelddaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453


Klaus Dietmayer, Dominik Nuß, Stephan Reuter
25.1 Anforderungen an Fahrzeugumgebungs­repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
25.2 Objektbasierte Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
25.2.1 Sensorspezifische Objektmodelle und Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
25.2.2 Zustands- und Existenzunsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
25.2.3 Grundlegende Verfahren des Multi-Objekt-Trackings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
25.2.4 Eigenlokalisierung und Einbeziehung von digitalen Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
25.2.5 Zeitliche Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
25.3 Rasterbasierte Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
25.3.1 Konzept der Rasterkarten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
25.3.2 Eigenbewegungsschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
25.3.3 Algorithmen zur Erzeugung von Belegungskarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
25.3.4 Behandlung von bewegten Objekten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
25.3.5 Effiziente Speicherverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
25.4 Architekturen und hybride Darstellungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
25.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

26 Datenfusion für die präzise Lokalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481


Nico Steinhardt, Stefan Leinen
26.1 Anforderungen an eine Datenfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
26.2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
26.2.1 Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
26.2.2 Lokalisierungssensoren und deren Eigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
26.3 Klassifizierung und Ontologien für Filter zur Sensordatenfusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
26.3.1 Klassifizierung der Anbindung von Sensoren an das Filter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
26.3.2 Klassifizierung der Schätzgrößen des Filters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
26.3.3 Klassifizierung verschiedener Filtertypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
26.4 Erweiterungen für Fusionsfilter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
26.4.1 Einbindung von Odometriemessungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
26.4.2 Kompensation von verzögerter Messwertverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
26.4.3 Plausibilisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
26.5 Datenqualitätsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
26.5.1 Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
26.5.2 Genauigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
26.6 Beispiel einer Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
26.6.1 Architektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
26.6.2 Bewegte Referenzsysteme/„Trägerplattform“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
26.6.3 Umsetzung Integritätsmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
26.6.4 Genauigkeitsmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
26.6.5 Exemplarische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
26.7 Ausblick und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
XXIV Inhaltsverzeichnis

27 Digitale Karten im Navigation Data Standard Format. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513


Ralph Behrens, Thomas Kleine-Besten, Werner Pöchmüller, Andreas Engelsberg
27.1 Ziele der Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514
27.2 Merkmale des NDS-Standards. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
27.3 Wachstum der Datenmenge durch neue Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
27.4 Struktur der Daten innerhalb einer NDS-Datenbank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
27.5 NDS Building Blocks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
27.5.1 Overall Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
27.5.2 Routing Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
27.5.3 SQLite Index (SLI). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
27.5.4 POI Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
27.5.5 Naming Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
27.5.6 Free Text Search Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
27.5.7 Phonetic/Speech Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
27.5.8 Traffic Information Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
27.5.9 Basic Map Display Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
27.5.10 Advanced Map Display . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
27.5.11 Digital Terrain Model Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
27.5.12 Orthoimages Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
27.5.13 3D Objects Building Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
27.5.14 Junction View Building Block. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
27.6 NDS-Datenbankstruktur/Generalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
27.7 Aufbau der NDS-Datenbank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
27.7.1 DataScript und RDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
27.7.2 NDS-Format-Erweiterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
27.7.3 NDS-Datenbank-Werkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
27.8 Zukunft des NDS-Standard. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

28 Car-2-X. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf
28.1 Motivation und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2 Datenkommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2.1 Funkkanal und Übertragungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
28.2.2 Frequenzallokation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
28.2.3 Standardisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.3 Systemübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.3.1 ITS Station. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
28.4 Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.1 Sicherheitsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.2 Aspekte der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
28.4.3 Schutzziele und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
28.4.4 Lösungsansätze und -mechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
28.4.5 Stand von Technik und Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5 Car-2-X Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5.1 Anforderungen und grundsätzliche Funktionsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
28.5.2 Anwendungsbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
28.5.3 Umsetzung und Erprobung im Projekt simTD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
XXV
Inhaltsverzeichnis

28.6 Ökonomische Bewertung und Einführungsszenarien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537


28.6.1 Wirkung und Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
28.6.2 Ökonomische Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
28.6.3 Einführungsszenarien und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

29 Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von


Fahrerassistenzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
Felix Klanner, Christian Ruhhammer
29.1 Aktuelle backendbasierte Fahrerassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
29.2 Was sind Backendsysteme?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
29.2.1 Digitale Karten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
29.2.2 Servertechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
29.2.3 Sendeeinheit im Fahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
29.3 Eigenschaften der Datenübertragung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
29.4 Nächste Generation backendbasierter Assistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
29.5 Extraktion von fahrerassistenzsystem­relevanten Informationen aus Flottendaten
im Backend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
29.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552

VI Aktorik für Fahrerassistenzsysteme

30 Hydraulische Pkw-Bremssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555


James Remfrey, Steffen Gruber, Norbert Ocvirk
30.1 Standardarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556
30.1.1 Betätigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556
30.1.2 Modulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
30.1.3 Radbremsen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
30.2 Erweiterte Architekturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
30.2.1 Regeneratives Bremssystem RBS-SBA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
30.2.2 Elektrohydraulische Bremse EHB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
30.2.3 Integrale Bremssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
30.3 Dynamik hydraulischer Bremssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

31 Elektromechanische Bremssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579


Bernward Bayer, Axel Büse, Paul Linhoff, Bernd Piller, Peter
Rieth, Stefan Schmitt, Bernhard Schmittner, Jürgen Völkel
31.1 Das EHCB–System (Electric Hydraulic Combined Brake, Hybrid-Bremssystem). . . . . . . . . 580
31.1.1 Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
31.1.2 Systemarchitektur und Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
31.1.3 Regelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
31.1.4 Hinterachs-Aktor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
31.2 Die Elektrische Parkbremse (EPB). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
31.2.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
31.2.2 System und Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
XXVI Inhaltsverzeichnis

31.2.3 Systemarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583


31.2.4 Aktorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
31.2.5 Schnittstellen des Steuergeräts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
31.2.6 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
31.3 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

32 Lenkstellsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring
32.1 Allgemeine Anforderungen an Lenksysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2 Basislösungen der Lenkunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2.1 Die hydraulische Hilfskraftlenkung (HPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
32.2.2 Die parametrierbare hydraulische Hilfskraftlenkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
32.2.3 Die elektrohydraulische Hilfskraftlenkung (EHPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
32.2.4 Die elektromechanische Hilfskraftlenkung (EPS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594
32.2.5 Elektrische Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
32.3 Lösungen zur Überlagerung von Momenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
32.3.1 Zusatzaktor für hydraulische Lenksysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
32.3.2 Elektrische Lenksysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
32.4 Lösungen zur Überlagerung von Winkeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.2 Funktionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
32.4.3 Stellervarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
32.4.4 Einsatzbeispiel BMW E60 – ZFLS-Aktor am Lenkgetriebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
32.4.5 Einsatzbeispiel Audi A4 – ZFLS-Aktor in der Lenksäule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
32.4.6 Einsatzbeispiel Lexus – koaxialer Lenksäulenaktor lenkwellenfest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
32.5 Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
32.5.1 Systemkonzept und Bauteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
32.5.2 Technik, Vorteile und Chancen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
32.6 Hinterachslenksysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
32.6.1 Grundfunktionen und Kundennutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
32.6.2 Funktionsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
32.6.3 Systemgestaltung / Aufbau des Systems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
32.6.4 Vernetzung / erweiterte Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617

VII Mensch-Maschine-Schnittstelle für Fahrerassistenzsysteme

33 Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion


von Fahrerassistenzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
Winfried König
33.1 Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
33.2 Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion(HMI)
von FAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
33.2.1 Unterstützung durch FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
33.2.2 Leistungen und Grenzen der FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
XXVII
Inhaltsverzeichnis

33.2.3 Benötigte Kompetenzen und Fachbereiche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623


33.2.4 Einflussfaktoren bei der Entwicklung von FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
33.2.5 Interaktionskanäle zwischen Fahrer, FAS und Fahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
33.2.6 Änderung der Beziehung Fahrer-Fahrzeug durch FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
33.2.7 Situationsbewusstsein und Absicht des Fahrers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
33.2.8 Inneres Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
33.2.9 Entlastung oder Belastung durch FIS und FAS?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
33.2.10 Verantwortung des Fahrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
33.2.11 Stärken von Mensch und Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
33.3 Systematische Entwicklung des HMI von FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
33.3.1 Die Entwicklung des HMI im FAS-Entwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
33.3.2 Unterstützungsbedarf des Fahrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
33.3.3 Leitlinien zur Entwicklung von FIS und FAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
33.3.4 Richtlinien für FIS – „European Statements of Principles on HMI“ (ESoP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
33.3.5 Normen zur Gestaltung von FIS und FAS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
33.3.6 Entwicklung von Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
33.3.7 ISO-Normen zu HMI im Kfz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
33.4 Bewertung von FAS-Gestaltungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
33.4.1 Bewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
33.4.2 Instrumente zur Beurteilung des Fahrerverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
33.4.3 Bewertungsumgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
33.4.4 Anwendung der Verfahren und Fehlermöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
33.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632

34 Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633


Ralph Bruder, Muriel Didier
34.1 Ein Arbeitsmodell von Mensch-Maschine-Schnittstellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634
34.2 Grundeinteilung der Schnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634
34.2.1 Bedienelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
34.2.2 Anzeige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
34.3 Gestaltungsleitsätze und -prinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
34.3.1 Gestaltungsleitsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
34.3.2 Gestaltungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
34.4 Gestaltungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641
34.5 Praxis und Gestaltungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645

35 Bedienelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder
35.1 Anforderungen an Bedienelemente für Fahrerassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
35.2 Bestimmung des Handlungsorgans, der Körperhaltung und der Greifart . . . . . . . . . . . . . . 649
35.3 Festlegung der Bedienteilart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
35.4 Vermeiden von unbeabsichtigtem und unbefugtem Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
35.5 Festlegung der räumlichen Anordnung und geometrische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . 652
35.6 Festlegung von Rückmeldung, Bedienrichtung, -weg und -widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . 652
35.7 Kennzeichnung der Stellteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
XXVIII Inhaltsverzeichnis

35.8 Alternative Bedienkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654


35.8.1 Gestenbedienung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
35.8.2 Blicksteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
35.8.3 Brain Computer Interface. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
35.8.4 Sprachsteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656

36 Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659


Peter Knoll
36.1 Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
36.1.1 Kommunikationsbereiche im Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
36.1.2 Displays für das Kombiinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
36.1.3 Head-up-Display (HUD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
36.1.4 Zentrale Anzeige- und Bedieneinheit in der Mittelkonsole. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
36.1.5 Displays für Nachtsichtsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
36.1.6 Zusatzdisplays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
36.2 Anzeigen für das Kraftfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
36.2.1 Elektromechanische Messwerke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
36.2.2 Aktive und passive Segmentdisplays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
36.2.3 Grafikanzeigen für Kombiinstrument und Mittelkonsole. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
36.3 Zukünftige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
36.3.1 Kontaktanaloges Head-up-Display . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
36.3.2 Laserprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

37 Fahrerwarnelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
Norbert Fecher, Jens Hoffmann
37.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
37.2 Menschliche Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
37.3 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
37.4 Anforderungen an Warnelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678
37.5 Beispiele für Warnelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
37.5.1 Warnelemente für die Längsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
37.5.2 Warnelemente der Querführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
37.6 Voreinteilung von Warnelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684

38 Fahrerzustandserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder
38.1 Einleitung und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.1 Definition des Begriffs „Fahrerzustand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.2 Einfluss eines kritischen Fahrerzustands auf das Unfallrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.1.3 Potenziale und Herausforderungen einer Fahrerzustandserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
38.2 Unaufmerksamkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
38.2.1 Definition von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
38.2.2 Messgrößen und Messverfahren zur Unaufmerksamkeitserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690
38.2.3 Anwendungsfälle einer Unaufmerksamkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
XXIX
Inhaltsverzeichnis

38.3 Müdigkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691


38.3.1 Definition von Müdigkeit bzw. Ermüdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
38.3.2 Messgrößen und Messverfahren zur Müdigkeitserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
38.4 Erkennung medizinischer Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694
38.4.1 Messgrößen und Messverfahren zur Erkennung medizinischer Notfälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694
38.4.2 Anwendungsfall „Nothalteassistent“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
38.5 Marktverfügbare Systeme zur Fahrerzustandsüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
38.6 Falsch- und Fehlalarmierung bei der Zustandserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698

39 Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701


Martin Liebner, Felix Klanner
39.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
39.1.1 Fahrerabsichtserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
39.1.2 Berücksichtigung des Situationsbewusstseins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
39.2 Einordnung bestehender Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
39.3 Rein prädiktive Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
39.3.1 Bewegungsmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
39.3.2 Kollisionserkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
39.3.3 Umgang mit Unsicherheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
39.4 Wissensbasierte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
39.5 Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
39.5.1 Fahrerabsichtserkennung mit diskriminativen Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
39.5.2 Fahrerabsichtserkennung mit generativen Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
39.5.3 Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712
39.6 Berücksichtigung des Situationsbewusstseins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
39.6.1 Vermeidung unnötiger Warnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
39.6.2 Detektion nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
39.6.3 Verbesserung der Fahrerabsichtserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
39.6.4 Vorhersage des weiteren Verkehrsgeschehens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
39.7 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717

VIII Fahrerassistenz auf Stabilisierungsebene

40 Bremsenbasierte Assistenzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723


Anton van Zanten, Friedrich Kost
40.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
40.2 Grundlagen der Fahrdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
40.2.1 Stationäres und instationäres Reifen- und Fahrverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
40.2.2 Kenngrößen der Fahrdynamik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
40.3 ABS, ASR und MSR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
40.3.1 Regelkonzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
40.4 ESP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
40.4.1 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
40.4.2 Eingesetzte Sensoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
XXX Inhaltsverzeichnis

40.4.3 Regelkonzept des ESP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730


40.4.4 Sollwertbildung und Schätzung fahrdynamischer Größen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735
40.4.5 Sicherheitskonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737
40.5 Mehrwertfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
40.5.1 Special Stability Support. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
40.5.2 Special Torque Control. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
40.5.3 Brake & Boost Assist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
40.5.4 Standstill & Speed Control. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
40.5.5 Advanced Driver Assistance System Support. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
40.5.6 Monitoring & Information. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
40.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753

41 Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755


Thomas Raste
41.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
41.2 Anforderungen an die Zusatzfunktion Stabilisierung mit Bremse und Lenkung. . . . . . . . 756
41.3 Konzept und Wirkprinzip der Brems- und Lenkregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
41.4 Funktionsmodule zum Lenkwinkeleingriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
41.5 Funktionsmodule zur Fahrerlenkempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
41.6 Spezifische Entwicklungs­herausforderungen und zukünftige Entwicklungen . . . . . . . . . 763
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765

42 Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767


Kai Schröter, Raphael Pleß, Patrick Seiniger
42.1 Fahrstabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
42.2 Bremsstabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771
42.3 Für Fahrdynamikregelungen relevantes Unfallgeschehen von Motorrädern. . . . . . . . . . . 773
42.4 Stand der Technik der Bremsregelsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774
42.4.1 Hydraulische ABS-Bremsanlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775
42.4.2 Elektrohydraulische Integralbremsanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776
42.4.3 Zusatzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
42.5 Stand der Technik der Antriebsschlupfregelungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
42.6 Stand der Technik der Fahrwerkregelsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
42.7 Zukünftige Fahrdynamikregelungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
42.7.1 Einflussmöglichkeiten auf gebremste Kurvenunfälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
42.7.2 Einflussmöglichkeiten auf ungebremste Kurvenunfälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793

43 Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795


Falk Hecker
43.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796
43.2 Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw. . . . . . . . . . . . 796
43.2.1 Nkw-spezifische Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796
43.2.2 Regelungsziele und -prioritäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
43.2.3 Systemaufbau, Steller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
43.2.4 Sonderfunktionen für Nkw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
XXXI
Inhaltsverzeichnis

43.3 Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw. . . . . . . . . 805
43.3.1 Nkw-spezifische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
43.3.2 Regelungsziele und -prioritäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
43.3.3 Fahrdynamikregelung für Gliederzüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808
43.3.4 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
43.3.5 Sonderfunktionen für Nkw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
43.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.1 Fahrdynamikregelung für Allradfahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.2 Weitergehende Adaptionsalgorithmen in der Fahrdynamikregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
43.4.3 Nutzung weiterer Steller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812

IX Fahrerassistenz auf Bahnführungs- und Navigationsebene

44 Sichtverbesserungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn
44.1 Häufigkeit von Verkehrsunfällen bei Nachtoder ungünstigen
Witterungsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816
44.2 Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzenfür
Sichtverbesserungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
44.3 Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung . . . . . . . . . . . . . . 822
44.3.1 Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der Lichtquellenentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
44.3.2 Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der adaptiven Lichtverteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
44.3.3. Sichtverbesserungssysteme auf der Basis der assistierenden Lichtverteilung. . . . . . . . . . . . . . . 829
44.4 Nachtsichtsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832
44.4.1 Sensorik für Nachtsichtsysteme im Kraftfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833
44.4.2 Anzeigen für Nachtsichtsysteme im Kraftfahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
44.4.3 Bildverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837
44.4.4 Vergleich der Systemansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838

45 Einparkassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank Schroven, Richard Auer,
Michael Rohlfs, Gerald Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters
45.1 Abstufungen der Einparkassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
45.2 Anforderungen an Einparkassistenzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
45.3 Technische Realisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
45.3.1 Informierende Einparkassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
45.3.2 Geführte Einparkassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844
45.3.3 Semiautomatisches Einparken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
45.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
XXXII Inhaltsverzeichnis

46 Adaptive Cruise Control. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851


Hermann Winner, Michael Schopper
46.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
46.2 Rückblick auf die Entwicklung von ACC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
46.3 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854
46.3.1 Funktionsanforderungen für Standard-ACC nach ISO 15622 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854
46.3.2 Zusätzliche Funktionsanforderungen für FSR-ACC nach ISO 22179 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855
46.4 Systemstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855
46.4.1 Beispiel Mercedes-Benz Distronic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856
46.4.2 Funktionsabstufungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856
46.5 ACC-Zustandsmanagement und Mensch-Maschine-Schnittstelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
46.5.1 Systemzustände und Zustandsübergänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
46.5.2 Bedienelemente mit Ausführungsbeispielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858
46.5.3 Anzeigeelemente mit Ausführungsbeispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860
46.6 Zielobjekterkennung für ACC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
46.6.1 Anforderungen an die Umfeldsensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
46.6.2 Messbereiche und Messgenauigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862
46.7 Zielauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
46.7.1 Bestimmung der Kurskrümmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
46.7.2 Kursprädiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868
46.7.3 Fahrschlauch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869
46.7.4 Weitere Kriterien für die Zielauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871
46.7.5 Grenzen der Zielauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872
46.8 Folgeregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872
46.9 Zielverluststrategien und Kurvenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
46.9.1 Annäherungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876
46.9.2 Überholunterstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
46.9.3 Reaktion auf stehende Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
46.9.4 Anhalteregelung, Spezifika der Low-Speed-Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878
46.10 Längsregelung und Aktorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878
46.10.1 Grundstruktur und Koordination Aktorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878
46.10.2 Bremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
46.10.3 Antrieb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
46.11 Nutzungs- und Sicherheitsphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883
46.11.1 Nachvollziehbarkeit der Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883
46.11.2 Systemgrenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
46.12 Sicherheitskonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
46.13 Nutzer- und Akzeptanzstudien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
46.13.1 Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
46.13.2 Nutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886
46.13.3 Kompensationsverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886
46.13.4 Habituationseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
46.13.5 Übernahmesituationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
46.13.6 Komfortbeurteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
46.13.7 Wirksamkeitsanalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
46.14 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
46.14.1 Aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
46.14.2 Funktionserweiterungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890
XXXIII
Inhaltsverzeichnis

47 Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893


Hermann Winner
47.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
47.2 Unfallschutz durch präventive Assistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
47.3 Reaktionsunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895
47.4 Notmanöver. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
47.5 Bremsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
47.5.1 Basisfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
47.5.2 Weiterentwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897
47.6 Warn- und Eingriffszeitpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
47.6.1 Fahrdynamische Betrachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899
47.6.2 Frontkollisionsgegenmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906
47.6.3 Nutzenpotenzial für Kollisionsgegenmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
47.6.4 Anforderungen an die Umfelderfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910
47.7 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912

48 Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen


für Frontkollisionen: Systeme zur Warnung,
zur Unfallschwereminderung und zur Verhinderung1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913
Andreas Reschka, Jens Rieken, Markus Maurer
48.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
48.1.1 Bedeutung und frühe Forschungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
48.1.2 Definitionen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
48.2 Maschinelle Wahrnehmung der Umgebung für Frontkollisionswarnung
und -verhinderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915
48.3 Thematische Eingrenzung und Abgrenzung zu anderen Systemen und Kapiteln . . . . . . 917
48.4 Aktuelle Systemausprägungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918
48.4.1 Das CU-Kriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919
48.4.2 Grundsätze der Fahrerwarnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 920
48.4.3 Abgestufte Unterstützung im Gefahrenfall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
48.5 Abstufung am Beispiel einer aktuellen Realisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923
48.6 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924
48.6.1 Funktionale Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925
48.7 Entwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926
48.7.1 Systematische Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926
48.7.2 Beispiel: Systematische Entwicklung einer automatischen Notbremsfunktion. . . . . . . . . . . . . . 928
48.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933

49 Querführungsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel, Falko Saust, Lars Kristian Klauske
49.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
49.2 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
49.3 Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
49.4 Vorschriften, Normen und Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
49.5 Systemkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
49.5.1 Umfeldsensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
49.5.2 Signalverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
XXXIV Inhaltsverzeichnis

49.5.3 Funktionsmodul LDW/LKA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943


49.5.4 Fahrerinformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
49.5.5 Aktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
49.5.6 Statusanzeige und Bedienelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
49.6 Beispielhafte Umsetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
49.6.1 „Lane Departure Warning“ von Volvo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951
49.6.2 „AFIL“ von Citroёn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
49.6.3 „Aktiver Spurhalte-Assistent“ von Mercedes-Benz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
49.6.4 „Lane Assist“ von VW. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
49.7 Systembewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
49.8 Erreichte Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
49.9 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 956

50 Fahrstreifenwechselassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer
50.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
50.2 Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
50.3 Klassifikation der Systemfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
50.3.1 Klassifikation nach Leistung der Umfelderfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
50.3.2 Systemzustandsdiagramm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
50.4 Beispielhafte Umsetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
50.4.1 „Toter Winkel Assistent“ von Citroën. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965
50.4.2 „Blind Spot Information System“ (BLIS) von Volvo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965
50.4.3 „Blind Spot Information System“ von Ford . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966
50.4.4 „Aktiver Totwinkel-Assistent“ von Mercedes Benz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967
50.4.5 „Audi Side Assist“/„Side Assist„von VW. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
50.4.6 „Side Assist Plus“ von VW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
50.4.7 Nutzfahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
50.5 Systembewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972
50.7 Weiterentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973

51 Kreuzungsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975
Mark Mages, Alexander Stoff, Felix Klanner
51.1 Unfallgeschehen an Kreuzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2 Kreuzungsassistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2.1 STOP-Schild-Assistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
51.2.2 Ampelassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978
51.2.3 Einbiege-/Kreuzenassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980
51.2.4 Linksabbiegeassistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
51.2.5 Kreuzungsassistenz für vorfahrtberechtigte Verkehrsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
51.3 Situationsbewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
51.4 Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
51.4.1 Assistenzmaßnahmen für den wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
51.4.2 Kreuzungsassistenz für vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988
XXXV
Inhaltsverzeichnis

51.5 Herausforderungen bei der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990


Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993

52 Stauassistenz und -automation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995


Stefan Lüke, Oliver Fochler, Thomas Schaller, Uwe Regensburger
52.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
52.1.1 Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
52.1.2 Nutzerakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
52.1.3 Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
52.2 Umfeldinformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 997
52.3 Ausprägungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
52.3.1 Stop-and-go-Assistent mit reiner Längsregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
52.3.2 Stauassistent (Fahrzeugfolge- und Fahrstreifenhalteassistent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999
52.3.3 Fahrstreifenfolgeautomat bis Grenzgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
52.4 Interaktion von Fahrer und System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003
52.4.1 Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003
52.4.2 Übergabe und Kontrollierbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004
52.4.3 Aspekte der marktfähigen Realisierbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
52.5 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007

53 Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009


Karlheinz Dörner, Walter Schwertberger, Eberhard Hipp
53.1 Anforderungen an die Fahrer von Nutzfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010
53.2 Wesentliche Unterschiede zwischen Lkw und Pkw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012
53.3 Unfallszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014
53.4 Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
53.5 Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020
53.6 Notbremssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024
53.7 Vorausschauendes Fahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025
53.8 Entwicklung für die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1026
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027

54 Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029


Marco Reinards, Georg Kormann, Udo Scheff
54.1 Fahrdynamische Assistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030
54.2 Prozess-Assistenzsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034
54.2.1 Traktor-Anbaugerät-Systemautomatisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034
54.2.2 Systemarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035
54.2.3 Traktor-Rundballenpresse-Automatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035
54.3 Automatisierung von Lenkfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037
54.3.1 Lenkassistenten für landwirtschaftliche Fahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038
54.3.2 Lenkassistenten für Anbaugeräte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1040
54.3.3 Automatische Wendemanöver und Werkzeuganpassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041
54.4 Kollaborierende Fahrzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042
54.5 Ausblick auf vollautomatisierte Fahrzeuge in der Landwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044
XXXVI Inhaltsverzeichnis

55 Navigation und Verkehrstelematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1047


Thomas Kleine-Besten, Ulrich Kersken, Werner Pöchmüller,
Heiner Schepers, Torsten Mlasko, Ralph Behrens, Andreas Engelsberg
55.1 Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048
55.2 Navigation im Fahrzeug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049
55.2.1 Ortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
55.2.2 Zieleingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053
55.2.3 Routensuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054
55.2.4 Algorithmen der Routensuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054
55.2.5 Zielführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057
55.2.6 Kartendarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1058
55.2.7 Dynamisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059
55.2.8 Korridor und Datenabstraktion (Datenträger). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1060
55.3 Offboard-Navigation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061
55.4 Hybrid-Navigation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061
55.4.1 Kartendaten – aktuell und individuell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1062
55.5 Assistenzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063
55.6 Elektronischer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065
55.7 Verkehrstelematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1066
55.7.1 Rundfunk-basierte Technologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067
55.7.2 Mobilfunk-basierte Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068
55.7.3 Telematik – Basisdienste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069
55.7.4 Car-to-Car-Kommunikation, Car-to-Infrastructure-Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1070
55.7.5 Mautsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071
55.7.6 Moderne Verkehrssteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1072
55.7.7 Zukünftige Entwicklung von Telematikdiensten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073
55.8 Smartphone-Anbindung im Automobil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073
55.8.1 Motivation der Smartphone-Integration im Automobil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073
55.8.2 Möglichkeiten der Smartphone-Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074
55.8.3 Semi-integrierter Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074
55.8.4 Vollintegrierter Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074
55.9 Aspekte des Mobilfunks für Navigation und Telematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075
55.9.1 Consumer-Elektronik (CE) versus Automobil-Elektronik (AE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1076
55.9.2 Aufbau des Navigationssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1076
55.9.3 Entwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1078
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079

X Zukunft der Fahrerassistenzsysteme

56 Integrationskonzepte der Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083


Peter E. Rieth, Thomas Raste
56.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084
56.2 Bauliche Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1084
56.3 Funktionale Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086
XXXVII
Inhaltsverzeichnis

56.4 Domänenarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087


56.4.1 Konzepte zur Standardisierung der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087
56.4.2 Konzepte zur Standardisierung der Schnittstellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089
56.4.3 Konzepte zur Standardisierung der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089
56.5 Regelung der Fahrzeug­bewegung (Motion Control). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1090
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1092

57 Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung


von Überholunfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093
Rolf Isermann, Andree Hohm, Roman Mannale, Bernt Schiele,
Ken Schmitt, Hermann Winner, Christian Wojek
57.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1094
57.2 Videobasierte Gesamtszenensegmentierung zur Bestimmung des Manöverraums . . . 1094
57.3 Sensorfusion von Radar und Videosignalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095
57.4 Situationsanalyse für Überholvorgänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097
57.5 Realisierung von Warnungen und aktiven Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1098
57.6 Ergebnisse von Fahrversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099
57.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099
57.8 Schlussbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1100
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1100

58 Kooperative Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103


Frank Flemisch, Hermann Winner, Ralph Bruder, Klaus Bengler
58.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104
58.2 Kooperation und Fahrzeugführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105
58.3 Kooperative Führung als Komplexbegriff bzw. Cluster-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106
58.4 Gestaltungsraum der kooperativen Fahrzeugführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106
58.5 Parallele und serielle Aspekte der kooperativen Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107
58.6 Zusammenhänge von Fähigkeiten, Autorität, Autonomie, Kontrolle
und Verantwortung in der kooperativen Fahrzeugführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1108
58.7 Ausblick: Vertikale und horizontale, zentrale und dezentrale Aspekte
der kooperativen Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109

59 Conduct-by-Wire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111
Benjamin Franz, Michaela Kauer, Sebastian Geyer, Stephan Hakuli
59.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112
59.2 Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112
59.3 Manöver und Fahrfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113
59.3.1 Entwicklung und Evaluation der Fahrfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114
59.3.2 Entwicklung und Evaluation der Manöverschnittstelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117
59.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121
XXXVIII Inhaltsverzeichnis

60 H-Mode 2D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123
Eugen Altendorf, Marcel Baltzer, Martin Kienle, Sonja Meier,
Thomas Weißgerber, Matthias Heesen, Frank Flemisch
60.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124
60.2 Von der H-Metapher zum H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124
60.3 Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125
60.3.1 Exemplarische Anwendungsfälle für den H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126
60.4 Systemarchitektur und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129
60.4.1 Kognitive Automation im H-Mode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130
60.4.2 Interaktionsmediation und Arbitrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131
60.4.3 Zusammenwirken der Interaktionsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133
60.5 Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1134
60.6 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1136
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1136

61 Autonomes Fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139


Richard Matthaei, Andreas Reschka, Jens Rieken, Frank Dierkes,
Simon Ulbrich, Thomas Winkle, Markus Maurer
61.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140
61.1.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140
61.1.2 Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140
61.1.3 Anforderungen an autonomes Fahren im öffentlichen Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1142
61.1.4 Einordnung relevanter Forschungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143
61.1.5 Schwerpunkt der Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144
61.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1145
61.2.1 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1145
61.2.2 Einsatz von Kartendaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148
61.2.3 Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150
61.2.4 Lokalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1152
61.2.5 Missionsumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1153
61.2.6 Funktionale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156
61.3 Ausblick und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159
61.4 Anhang – Fragebogen zum Thema „Automatische Fahrzeuge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160
61.4.1 Organisation und Zielsetzung des Projekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160
61.4.2 Umfeldwahrnehmung und -repräsentation, Lokalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160
61.4.3 Funktionsumsetzung und Aktionsausführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161
61.4.4 Sicherheitskonzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161
61.4.5 Systemarchitekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162
61.4.6 Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162

62 Quo vadis, FAS? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167


Hermann Winner
62.1 Stimuli der zukünftigen Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1168
62.1.1 Datenkommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1168
62.1.2 Elektromobilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169
62.1.3 Gesellschaftliche Einflüsse und Marktentwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169
62.1.4 Kulturelle und mediale Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171
XXXIX
Inhaltsverzeichnis

62.2 Herausforderungen und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171


62.3 Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173
62.3.1 Anforderungen an die Absicherung von autonomem Fahren im breiten Einsatz. . . . . . . . . . . 1173
62.3.2 Ausweg aus dem Testdilemma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178
62.3.3 Möglicher Weg zu einer Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180
62.4 Evolution zum autonomen Fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180
62.5 Zukünftige Forschungsschwerpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182
62.5.1 Individualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182
62.5.2 Maschinelle Perzeption und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183
62.5.3 Bewertungsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1184
62.5.4 Vernetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1184
62.5.5 Gesellschaftliche Forschungsaspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1187
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201
XL

Firmen- und Hochschulverzeichnis

Firmen
Audi AG Dr. Wolfgang Huhn
Bosch Engineering GmbH Dipl.-Ing. Matthias Mörbe
Bosch SoftTec GmbH Dipl.-Ing. Torsten Mlasko
Bundesanstalt für Straßenwesen Ass. jur. Tom Michael Gasser
DirProf. Andre Seeck
Dr.-Ing. Patrick Seiniger
BMW Group Dr.-Ing. Guy Berg
Dr.-Ing. Edmund Donges (vormals)
Dipl.-Ing. Simon Fürst
Dr.-Ing. Felix Klanner
Dipl.-Ing. Martin Liebner
M.Sc. Christian Ruhhammer
Dr.-Ing. Thomas Schaller
Carmeq GmbH Dr.-Ing. Lars Kristian Klauske
Continental AG Dr.-Ing. Alexander Bachmann
Dr.-Ing. Bernward Bayer
Dr.-Ing. Stefan Bunzel
Dipl.-Ing. Axel Büse
Dr.-Ing. Michael Darms
Dr. phil. nat. Oliver Fochler
Dipl.-Ing. Steffen Gruber
Dr.-Ing. Jens Hoffmann
Dr.-Ing. Andree Hohm
Dipl.-Ing. Maximilian Höpfl
Dipl.-Ing. Paul Linhoff
Dr.-Ing. Stefan Lüke
Dr.-Ing. Mark Mages
Dipl.-Ing. Roman Mannale
Dr. rer. nat. Stefan Menzel
Dipl.-Ing. Norbert Ocvirk
Dipl.-Ing. Bernd Piller
Dr.-Ing. Martin Punke
Dr.-Ing. Thomas Raste
Dipl.-Ing. James Remfrey
Dr.-Ing. Peter E. Rieth
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Ken Schmitt
Dipl.-Ing. Stefan Schmitt
Dipl.-Ing. Bernhard Schmittner
Dr.-Ing. Nicolaj Stache
Dipl.-Ing. Jürgen Völkel
Dipl.-Ing. Boris Werthessen
Daimler AG Dr.-Ing. Jörg Breuer
Dr.-Ing. Uwe Franke
Dr. Stefan Gehrig
Dr.-Ing. Sebastian Geyer
Dipl.-Ing. Wolfgang Hurich
Dr. Bernhard Morys
XLI
Firmen- und Hochschulverzeichnis

Dr. Stephan Mücke


Dr.-Ing. Uwe Regensburger
Dr. Hans-Peter Schöner
Dipl.-Ing. Michael Schopper
Dr. Simon Tattersall
Dipl.-Ing. Christoph von Hugo
Daimler und Benz Stiftung Dipl.-Ing. MBA Thomas Winkle
Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Dipl. Psych. Matthias Heesen
Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE
IF+F Ingenieurbüro für Fahrerassistenz und Prof. Dr.-Ing. Peter Knoll
Fahrerinformation
IPG Automotive GmbH Dipl.-Ing. Stephan Hakuli
John Deere GmbH & Co. KG Dr.-Ing. Georg Kormann
Dipl-Ing.(FH) MBA Marco Reinhards
Dr.-Ing. Udo Scheff
Knorr-Bremse SfN GmbH Dr. Falk Hecker
MAN Truck & Bus AG Dipl.-Ing. Karlheinz Dörner
Dipl.-Ing. Eberhard Hipp (vormals)
Dipl.-Ing. (FH) Walter Schwertberger
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme Dr.-Ing. Andreas Geiger
Max-Planck-Institut für Informatik Prof. Dr. Bernt Schiele
Dr.-Ing. Christian Wojek
Novartis Pharma AG Dr. Muriel Didier
Omron Electronics GmbH Georg Otto Geduld (vormals)
PMD Technologies GmbH Dr. Bernd Buxbaum
Dr.-Ing. Robert Lange
Dr.-Ing. Thorsten Ringbeck (vormals)
Robert Bosch GmbH Dipl.-Ing.(FH) Peter Brenner
Dipl.-Ing.(TH) Hendrik Büring
Dr.-Ing. Susanne Ebel
Dr.-Ing. Hendrik Fuchs
Dr.-Ing. Frank Hofmann
Dipl.-Ing. Ulrich Kersken
Dr.-Ing. Winfried König (vormals)
Dipl.-Ing. Friedrich Kost
Dr.-Ing. Hans Löhr
Dr. Martin Noll
Dipl.-Phys. Peter Rapps (vormals)
Dipl.-Ing. Gerd Reimann
Dr. rer. nat. Ulf Wilhelm
Dr. rer. nat. Gunther Schaaf
Dr. Anton van Zanten (vormals)
Robert Bosch Car Multimedia GmbH Dipl.-Ing. Ralph Behrens
Dr.-Ing. Andreas Engelsberg
Dr.-Ing. Thomas Kleine-Besten
Dr.-Ing. Werner Pöchmüller
Dipl.-Ing. (BA) Heiner Schepers
Unfallforschung der Versicherer Dr. Matthias Kühn
Valeo Schalter und Sensoren GmbH Dr. rer. nat. Heinrich Gotzig
Volkswagen AG Dr. rer. nat Richard Auer
Dr.-Ing. Arne Bartels
XLII Firmen- und Hochschulverzeichnis

Dr.-Ing. Stefan Brosig


Dr. Gerald Eckert
Dipl.-Ing. Sebastian Hamel
Dipl.-Ing. Reiner Katzwinkel
Dr.-Ing. Marc-Michael Meinecke
Dr.-Ing. Michael Rohlfs
Dipl.-Ing. Falko Saust
Dr.-Ing. Frank Schroven
Dipl.-Ing. Frank Schwitters
Dr.-Ing. Simon Steinmeyer
Dipl.-Ing. Ulrich Wuttke

Hochschulen
Hochschule München Prof. Dr. rer. nat. Markus Krug
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Prof. Dr.-Ing. Peter Knoll
Prof. Dr.-Ing. Christoph Stiller
RWTH Aachen Dipl.-Ing. Eugen Altendorf
Dipl.-Wirt.-Ing. Marcel Baltzer
Prof. Dr.-Ing. Frank Flemisch
M.A. Sonja Meier
Technische Universität Braunschweig Dipl.-Ing. Frank Dierkes
Dipl.-Ing. Richard Matthaei
Prof. Dr.-Ing. Markus Maurer
M.Sc. Andreas Reschka
M.Sc. Jens Rieken
Dipl.-Wirtsch.-Ing., MSIE (Georgia Tech) Simon Ulbrich
Technische Universität Darmstadt Dr.-Ing. Bettina Abendroth
Prof. Dr.-Ing. Ralph Bruder
Dr.-Ing. Norbert Fecher
Dr.-Ing. Benjamin Franz
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Rolf Isermann
Dr. phil. Michaela Kauer
Prof. Dr.-Ing. Tran Quoc Khanh
M.Sc. Ingmar Langer
Dr.-Ing. Stefan Leinen
Dipl.-Ing. Matthias Pfromm
M.Sc. Raphael Pleß
Dipl.-Ing. Kai Schröter (vormals)
Dipl.-Ing. Nico Steinhardt (vormals)
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Alexander Stoff (vormals)
Dr.-Ing. Alexander Weitzel (vormals)
Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner
Technische Universität Dresden Dr.-Ing. Lars Hannawald
Prof. Dr. Bernhard Schlag
Dr. rer. nat. Gert Weller
Technische Universität München Prof. Dr. phil Klaus Bengler
Dipl.-Ing. Martin Kienle
Dipl.-Ing. Thomas Weißgerber
XLIII
Firmen- und Hochschulverzeichnis

Universität der Bundeswehr München Prof. Dr. Berthold Färber


Universität Ulm Prof. Dr.-Ing. Klaus Dietmayer
Dipl.-Ing. Dominik Nuß
Dr.-Ing. Stephan Reuter
University of South Carolina Prof. Bryant Walker Smith, J.D., LL.M.
Autorenverzeichnis

Abendroth, Bettina, Dr.-Ing. Büring, Hendrik, Dipl.-Ing.


Technische Universität Darmstadt Robert Bosch GmbH

Altendorf, Eugen, Dipl.-Ing. Büse, Axel, Dipl.-Ing.


RWTH Aachen Continental AG

Auer, Richard, Dr. rer. nat Buxbaum, Bernd, Dr.


Volkswagen AG PMD Technologies GmbH

Bachmann, Alexander, Dr.-Ing. Darms, Michael, Dr.-Ing.


Continental AG Continental AG

Baltzer, Marcel, Dipl.-Wirt.-Ing. Didier, Muriel, Dr.


RWTH Aachen Novartis Pharma AG

Bartels, Arne, Dr.-Ing. Dierkes, Frank, Dipl.-Ing.


Volkswagen AG Technische Universität Braunschweig

Bayer, Bernward, Dr.-Ing. Dietmayer, Klaus, Prof. Dr.-Ing.


Continental AG Universität Ulm

Behrens, Ralph, Dipl.-Ing. Donges, Edmund, Dr.-Ing.


Robert Bosch Car Multimedia GmbH vormals BMW Group

Bengler, Klaus, Prof. Dr. phil Dörner, Karlheinz, Dipl.-Ing.


Technische Universität München MAN Truck & Bus AG

Berg, Guy, Dr.-Ing. Ebel, Susanne, Dr.-Ing.


BMW Group Robert Bosch GmbH

Brenner, Peter, Dipl.-Ing.(FH) Eckert, Gerald, Dr.


Robert Bosch GmbH Volkswagen AG

Breuer, Jörg, Dr.-Ing. Engelsberg, Andreas, Dr.-Ing.


Daimler AG Robert Bosch Car Multimedia GmbH

Brosig, Stefan, Dr.-Ing. Färber, Berthold, Prof. Dr.


Volkswagen AG Universität der Bundeswehr München

Bruder, Ralph, Prof. Dr.-Ing. Fecher, Norbert, Dr.-Ing.


Technische Universität Darmstadt Technische Universität Darmstadt

Bunzel, Stefan, Dr.-Ing. Flemisch, Frank, Prof. Dr.-Ing.


Continental AG RWTH Aachen
XLV
Autorenverzeichnis

Fochler, Oliver, Dr. phil. nat. Heesen, Matthias, Dipl. Psych.


Continental AG Fraunhofer-Institut für Kommunikation,
Informationsverarbeitung und Ergonomie
Franke, Uwe, Dr.-Ing.
Daimler AG Hipp, Eberhard, Dipl.-Ing.
vormals MAN Truck & Bus AG
Franz, Benjamin, Dr.-Ing.
Technische Universität Darmstadt Hoffmann, Jens, Dr.-Ing.
Continental AG
Fuchs, Hendrik, Dr.-Ing.
Robert Bosch GmbH Hofmann, Frank, Dr.-Ing.
Robert Bosch GmbH
Fürst, Simon, Dipl.-Ing.
BMW Group Hohm, Andree, Dr.-Ing.
Continental AG
Gasser, Tom Michael, Ass. jur.
Bundesanstalt für Straßenwesen Höpfl, Maximilian, Dipl.-Ing.
Continental AG
Geduld, Georg Otto
vormals Omron Electronics GmbH Huhn, Wolfgang, Dr.
Audi AG
Gehrig, Stefan, Dr.
Daimler AG Hurich, Wolfgang, Dipl.-Ing.
Daimler AG
Geiger, Andreas, Dr.-Ing.
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme Isermann, Rolf, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c.
Technische Universität Darmstadt
Geyer, Sebastian, Dr.-Ing.
Daimler AG Katzwinkel, Reiner, Dipl.-Ing.
Volkswagen AG
Gotzig, Heinrich, Dr. rer. nat.
Valeo Schalter und Sensoren GmbH Kauer, Michaela, Dr. phil.
Technische Universität Darmstadt
Gruber, Steffen, Dipl.-Ing.
Continental AG Kersken, Ulrich, Dipl.-Ing.
Robert Bosch GmbH
Hakuli, Stephan, Dipl.-Ing.
IPG Automotive GmbH Khanh, Tran Quoc, Prof. Dr.-Ing.
Technische Universität Darmstadt
Hamel, Sebastian, Dipl.-Ing.
Volkswagen AG Kienle, Martin, Dipl.-Ing.
Technische Universität München
Hannawald, Lars, Dr.-Ing.
Technische Universität Dresden Klanner, Felix, Dr.-Ing.
BMW Group
Hecker, Falk, Dr.
Knorr-Bremse SfN GmbH Klauske, Lars Kristian, Dr.-Ing.
Carmeq GmbH
XLVI Autorenverzeichnis

Kleine-Besten, Thomas, Dr.-Ing. Mannale, Roman, Dipl.-Ing.


Robert Bosch Car Multimedia GmbH Continental AG

Knoll, Peter, Prof. Dr.-Ing. Matthaei, Richard, Dipl.-Ing.


1) Karlsruher Institut für Technologie Technische Universität Braunschweig
2) IF+F Ingenieurbüro für Fahrerassistenz und
Fahrerinformation Maurer, Markus, Prof. Dr.-Ing.
Technische Universität Braunschweig

König, Winfried, Dr.-Ing. Meier, Sonja, M.A.


vormals Robert Bosch GmbH RWTH Aachen

Kormann, Georg, Dr.-Ing. Meinecke, Marc-Michael, Dr.-Ing.


John Deere GmbH & Co. KG Volkswagen AG

Kost, Friedrich, Dipl.-Ing. Menzel, Stefan, Dr. rer. nat.


Robert Bosch GmbH Continental AG

Krug, Markus, Prof. Dr. rer. nat. Mlasko, Torsten, Dipl.-Ing.


Hochschule München Bosch SoftTec GmbH

Kühn, Matthias, Dr. Mörbe, Matthias, Dipl.-Ing.


Unfallforschung der Versicherer Bosch Engineering GmbH

Lange, Robert, Dr.-Ing. Morys, Bernhard, Dr.


PMD Technologies GmbH Daimler AG

Langer, Ingmar, M.Sc. Mücke, Stephan, Dr.


Technische Universität Darmstadt Daimler AG

Leinen, Stefan, Dr.-Ing. Noll, Martin, Dr.


Technische Universität Darmstadt Robert Bosch GmbH

Liebner, Martin, Dipl.-Ing. Nuß, Dominik, Dipl.-Ing.


BMW Group Universität Ulm

Linhoff, Paul, Dipl.-Ing. Ocvirk, Norbert, Dipl.-Ing.


Continental AG Continental AG

Löhr, Hans, Dr.-Ing. Pfromm, Matthias, Dipl.-Ing.


Robert Bosch GmbH Technische Universität Darmstadt

Lüke, Stefan, Dr.-Ing. Piller, Bernd, Dipl.-Ing.


Continental AG Continental AG

Mages, Mark, Dr.-Ing. Pleß, Raphael, M.Sc.


Continental AG Technische Universität Darmstadt
XLVII
Autorenverzeichnis

Pöchmüller, Werner, Dr.-Ing. Schaaf, Gunther, Dr. rer. nat.


Robert Bosch Car Multimedia GmbH Robert Bosch GmbH

Punke, Martin, Dr.-Ing. Schaller, Thomas, Dr.-Ing.


Continental AG BMW Group

Rapps, Peter, Dipl.-Phys. Scheff, Udo, Dr.-Ing.


vormals Robert Bosch GmbH John Deere GmbH & Co. KG

Raste, Thomas, Dr.-Ing. Schepers, Heiner, Dipl.-Ing. (BA)


Continental AG Robert Bosch Car Multimedia GmbH

Regensburger, Uwe, Dr.-Ing. Schiele, Bernt, Prof. Dr.


Daimler AG Max-Planck-Institut für Informatik

Reimann, Gerd, Dipl.-Ing. Schlag, Bernhard, Prof. Dr.


Robert Bosch GmbH Technische Universität Dresden

Reinhards, Marco, Dipl-Ing.(FH), MBA Schmitt, Ken, Dipl.-Wirtsch.-Ing.


John Deere GmbH & Co. KG Continental AG

Remfrey, James, Dipl.-Ing. Schmitt, Stefan, Dipl.-Ing.


Continental AG Continental AG

Reschka, Andreas, M.Sc. Schmittner, Bernhard, Dipl.-Ing.


Technische Universität Braunschweig Continental AG

Reuter, Stephan, Dr.-Ing. Schöner, Hans-Peter, Dr.


Universität Ulm Daimler AG

Rieken, Jens, M.Sc. Schopper, Michael, Dipl.-Ing.


Technische Universität Braunschweig Daimler AG

Rieth, Peter E., Dr.-Ing. Schröter, Kai, Dipl.-Ing.


Continental AG vormals Technische Universität Darmstadt

Ringbeck, Thorsten, Dr.-Ing. Schroven, Frank, Dr.-Ing.


Vormals PMD Technologies GmbH Volkswagen AG

Rohlfs, Michael, Dr.-Ing. Schwertberger, Walter, Dipl.-Ing. (FH)


Volkswagen AG MAN Truck & Bus AG

Ruhhammer, Christian, M.Sc. Schwitters, Frank, Dipl.-Ing.


BMW Group Volkswagen AG

Saust, Falko, Dipl.-Ing. Seeck, Andre, DirProf.


Volkswagen AG Bundesanstalt für Straßenwesen
XLVIII Autorenverzeichnis

Seiniger, Patrick, Dr.-Ing. Wilhelm, Ulf, Dr. rer. nat.


Bundesanstalt für Straßenwesen Robert Bosch GmbH

Smith, Bryant Walker, J.D., LL.M. Winkle, Thomas, Dipl.-Ing., MBA


University of South Carolina Daimler und Benz Stiftung

Stache, Nicolaj, Dr.-Ing. Winner, Hermann, Prof. Dr. rer. nat.


Continental AG Technische Universität Darmstadt

Steinhardt, Nico, Dipl.-Ing. Wojek, Christian, Dr.-Ing.


vormals Technische Universität Darmstadt Max-Planck-Institut für Informatik

Steinmeyer, Simon, Dr.-Ing. Wuttke, Ulrich, Dipl.-Ing.


Volkswagen AG Volkswagen AG

Stiller, Christoph, Prof. Dr.-Ing.


Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Stoff, Alexander, Dipl.-Wirtsch.-Ing.


vormals Technische Universität Darmstadt

Tattersall, Simon, Dr.


Daimler AG

Ulbrich, Simon, Dipl.-Wirtsch.-Ing., MSIE


(Georgia Tech)
Technische Universität Braunschweig

van Zanten, Anton, Dr.


vormals Robert Bosch GmbH

Völkel, Jürgen, Dipl.-Ing.


Continental AG

von Hugo, Christoph, Dipl.-Ing.


Daimler AG

Weißgerber, Thomas, Dipl.-Ing.


Technische Universität München

Weitzel, Alexander, Dr.-Ing.


vormals Technische Universität Darmstadt

Weller, Gert, Dr. rer. nat.


Technische Universität Dresden

Werthessen, Boris, Dipl.-Ing.


Continental AG
1 I

Grundlagen der Fahrer­


assistenzsystem­
entwicklung
Kapitel 1 Die Leistungsfähigkeit des Menschen
für die Fahrzeugführung  –  3
Bettina Abendroth, Ralph Bruder

Kapitel 2 Fahrerverhaltensmodelle – 17
Edmund Donges

Kapitel 3 Rahmenbedingungen für die


Fahrerassistenzentwicklung – 27
Tom Michael Gasser, Andre Seeck, Bryant Walker Smith

Kapitel 4 Verkehrssicherheit und Potenziale


von Fahrerassistenzsystemen – 55
Matthias Kühn, Lars Hannawald

Kapitel 5 Verhaltenswissenschaftliche Aspekte


von Fahrerassistenzsystemen – 71
Bernhard Schlag, Gert Weller

Kapitel 6 Funktionale Sicherheit und ISO 26262  –  85


Ulf Wilhelm, Susanne Ebel, Alexander Weitzel

Kapitel 7 AUTOSAR – 105
Simon Fürst, Stefan Bunzel
3 1

Die Leistungsfähigkeit
des Menschen
für die Fahrzeugführung
Bettina Abendroth, Ralph Bruder

1.1 Menschlicher Informations­verarbeitungsprozess – 4


1.2 Fahrercharakteristik und die Grenzen
menschlicher Leistungsfähigkeit – 8
1.3 Anforderungen an den Fahrzeugführer im System
Fahrer-Fahrzeug-Umgebung – 11
1.4 Bewertung der Anforderungen aus der
Fahrzeug­führungsaufgabeim Hinblick auf die
menschliche Leistungsfähigkeit – 13
Literatur – 14

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
4 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

Die Arbeitsaufgabe Kraftfahrzeugführen zählt zu Frei von Interferenz wäre demnach die gleichzeitige
1 den vorwiegend informatorischen Tätigkeiten mit Verarbeitung visueller, räumlicher Bildinformatio-
dem Arbeitsinhalt, Informationen in Reaktionen nen (z. B. Zielführungsanzeige) und auditiver, ver-
2 umzusetzen. Der Fahrer führt hierbei in der Regel baler Informationen (Telefongespräch, Nachrichten
eine Steuerungstätigkeit mit kontinuierlicher Infor- im Radio), da diese unterschiedliche Sinneskanäle
mationsverarbeitung aus. und unterschiedliche Bereiche im Arbeitsgedächt-
3 Dementsprechend sind für die Fahrzeugfüh- nis nutzen. Experimentelle Untersuchungen haben
rung vor allem der Prozess der Informationsver- jedoch gezeigt, dass diese Freiheit von Interferenz
4 arbeitung sowie mit diesem in Wechselwirkung nicht uneingeschränkt gilt.
stehende Faktoren der individuellen Charakteristik Die menschliche Informationsverarbeitung wird
5 des Fahrers von Bedeutung. hier anhand eines kombinierten Stufen- und Res-
Zur Beschreibung der Zusammenhänge zwi- sourcenmodells erklärt (siehe . Abb. 1.1). Dieses
schen Fahrer, Fahrzeug und Umgebung dient das basiert auf den Verarbeitungsstufen Informations-
6 im Folgenden dargestellte einfache Systemmodell aufnahme (Perzeption), Informationsverarbeitung
(vgl. [1]). Dieses besteht aus den Elementen Fahrer i. e. S. (Kognition) und Informationsabgabe (Moto-
7 und Fahrzeug. Die Eingangsgröße Fahrzeugfüh- rik) [3]. Darüber hinaus wird berücksichtigt, dass
rungsaufgabe, die auch von den Umgebungsfakto- die zur Verfügung stehende Ressourcen­kapazität
ren beeinflusst wird, wirkt auf diese zwei Systemele- beschränkt ist.
8 mente. Darüber hinaus können Störgrößen wie z. B. Die Effizienz der drei Verarbeitungsstufen des
Ablenkungen durch den Beifahrer auftreten. Die Informationsverarbeitungsprozesses wird durch
9 Ausgangsgröße aus diesem System kann durch die die zur Verfügung stehenden Verarbeitungsres-
Systemleistungen Mobilität, Sicherheit und Komfort sourcen beeinflusst und benötigt die Zuwendung
10 beschrieben werden. von Aufmerksamkeit. Diese bewirkt die gezielte
Selektion von Informationen, die zu Inhalten der
bewussten Verarbeitung werden sollen. Denn das
11 1.1 Menschlicher Informations­ ständige Überangebot an Informationen übersteigt
verarbeitungsprozess die menschliche Verarbeitungskapazität, sodass der
12 Mensch bei Weitem nicht alles bewusst wahrneh-
Zur Erklärung der menschlichen Informationsver- men kann, was ihn auf der Ebene der Sinnesrezep-
arbeitung gibt es eine Vielzahl von Modellen, diese toren erreicht.
13 spezifizieren die allgemeine Annahme, dass das in Der Mensch kann seine gesamte Aufmerksam-
einem Rezeptor eintreffende Signal (Stimulus) in keit unterschiedlich auf die drei Stufen des Informa-
14 eine kognitive Repräsentation und in eine Reaktion tionsverarbeitungsprozesses verteilen, um relevante
des Menschen (Response) umgesetzt wird. Zu den Informationsquellen auszuwählen und diese Infor-
15 bekanntesten Modellen im Ingenieurbereich zäh- mationen weiter zu verarbeiten. Für jede Arbeitstä-
len die sequenziellen sowie die Ressourcenmodelle. tigkeit kann eine günstige Aufmerksamkeitsvertei-
Sequenzielle Modelle unterstellen, dass die Trans- lung vom Menschen erlernt werden, im Extremfall
16 formation von Stimulus in Response streng sequen- kann eine schlechte Aufmerksamkeitsverteilung
ziell abläuft, d. h. die nächste Stufe kann erst durch- menschliche Fehlhandlungen verursachen.
17 laufen werden, wenn die vorige abgeschlossen ist. Auf theoretischer Ebene können verschiedene
Ressourcenmodelle stützen sich auf die Annahme, Formen der Aufmerksamkeit in den Dimensionen
dass die Kapazität, die für verschiedene Aktivitäten Selektivität und Intensität unterschieden werden.
18 zur Verfügung steht, beschränkt ist und zwischen Mit der selektiven Aufmerksamkeitszuwendung
allen gleichzeitig ausgeführten Aufgaben aufgeteilt wird die Tatsache beschrieben, dass der Mensch
19 werden muss. Die Theorie der multiplen Ressourcen sich zwischen verschiedenen, miteinander konkur-
erweitert diese Sichtweise; gemäß dieser hängt das rierenden Informationsquellen entscheiden muss.
20 Ausmaß an Interferenz zweier Aufgaben davon ab, Im Rahmen der geteilten Aufmerksamkeit muss der
ob diese die gleichen Ressourcen beanspruchen [2]. Mensch verschiedene Reize simultan wahrnehmen,
1.1 • Menschlicher Informations­verarbeitungsprozess
5 1

.. Abb. 1.1 Systemmodell Fahrer-Fahrzeug-Umgebung (vgl. [1])

während er sich bei einem Aufmerksamkeitswech- onen parallel über alle Sinneskanäle aufnehmen,
sel von einem Reiz abwendet, um sich anschließend allerdings kann die gleichzeitige Verarbeitung ver-
einem anderen zuzuwenden. Die Intensität der Auf- schiedener Informationen die Leistung verschlech-
merksamkeit betrifft das Aktivierungsniveau, hier- tern. Die spezifischen Leistungsbereiche der Sin-
bei sind die herabgesetzte Vigilanz (niedriger Anteil nesorgane beeinflussen Quantität und Qualität der
relevanter Stimuli) und die Daueraufmerksamkeit aufgenommenen Informationen und somit auch alle
(hoher Anteil relevanter Stimuli) von Bedeutung. folgenden Informationsverarbeitungsschritte. Für
die Fahrzeugführung sind vor allem visuelle, akus-
tische, haptische und vestibulare Wahrnehmungen
1.1.1 Informationsaufnahme von Bedeutung. Auch der sensorische Speicher
(auch Ultrakurzzeitgedächtnis genannt) wird dem
Der Informationsaufnahme werden alle Prozesse Bereich der Informationsaufnahme zugeordnet. Im
zugeordnet, die das Entdecken und Erkennen von sensorischen Speicher werden ausschließlich physi-
Informationen betreffen. Dabei wird der Vorgang kalisch kodierte Informationen gespeichert. Visuelle
der internen Repräsentation der Umwelt als Wahr- Informationen werden im ikonischen, akustische im
nehmung bezeichnet. Dieses innere Abbild der Um- echoischen Speicher für einen Zeitraum zwischen
welt wird beeinflusst von der aktuellen Situation, in 0,2 s (ikonisch) und 1,5 s (echoisch) abgelegt [3].
der sich der Mensch befindet, und den Erfahrungen, Bei der visuellen Informationsaufnahme hat
über die dieser verfügt. Die Informationsaufnahme das Auge folgende drei Grundaufgaben: Adaptation
erfolgt über die Sinnesorgane. Der Mensch kann (Anpassung der Empfindlichkeit des Auges an die
eine Vielzahl gleichzeitig übermittelter Informati- jeweils herrschende Leuchtdichte), Akkommoda-
6 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

tion (Einstellung unterschiedlicher Sehentfernun- sodass ausreichend Zeit bleibt, um entsprechend


1 gen) und Fixation (Ausrichtung der Augen auf den dieser Informationen zu handeln. Dies ist nur über
Sehgegenstand, sodass die beiden Sehachsen kon- das Auge gewährleistet, da das Auge das einzige
2 vergent sind). Das Auge dient der Farb-, Objekt- weitreichende Rezeptorsystem des Menschen ist,
und Bewegungswahrnehmung sowie der Wahrneh- welches gezielt ausrichtbar ist [5].
mung von räumlicher Tiefe und Größe. Bei Aufgaben, die menschliches Verhalten im
3 Das Ohr erfüllt bei der Aufnahme auditiver Verkehr umfassen, wird die Informationsaufnahme
Informationen drei Grundfunktionen: Adaptation durch die Grenzen der Augenbewegungen stark do-
4 (Anstieg der Hörschwelle, der zur Differenzierung miniert. Der Bereich, aus dem der Fahrer Informa-
des Hörvorgangs erforderlich ist), auditorische tionen visuell aufnehmen kann, wird durch das Ge-
5 Mustererkennung (notwendig für Sprach- und Ge- sichts-, das Blick- und das Umblickfeld bestimmt. In
räuschidentifizierung) und akustische Raumorien- Abhängigkeit vom Abbildungsort des Objekts auf
tierung, die durch binaurales (beidohriges) Hören der Netzhaut wird foveales Sehen und peripheres
6 realisiert wird. Sehen unterschieden: Beim fovealen Sehen wird das
Bei haptischer Informationsaufnahme werden Objekt in der Netzhautgrube (Fovea) abgebildet,
7 der taktile und/oder der kinästhetische Wahrneh- nur in diesem Bereich bis zu einem Öffnungswin-
mungskanal genutzt. Über das taktile Wahrneh- kel von 2° können Objekte scharf gesehen werden.
mungssystem werden Verformungen der Haut Je entfernter das Bild von der Fovea ist, desto un-
8 wahrgenommen. Rezeptoren (Vater-Pacinsche schärfer erscheint ein Gegenstand. Im peripheren
Lamellen und Meißnersche Tastkörperchen) ver- Sehbereich können Bewegungen und Helligkeitsän-
9 mitteln in und unter der Haut Druck-, Berüh- derungen wahrgenommen werden. In der Literatur
rungs- und Vibrationsempfinden. Das kinästheti- sind unterschiedliche Ansichten zur Rolle und zum
10 sche Wahrnehmungssystem nimmt die Dehnung Beitrag des fovealen und des peripheren Sehens zur
von Muskeln und die Bewegung der Gelenke wahr. Informationsaufnahme beim Kraftfahrzeugführen
Verschiedene Arten von Rezeptoren, die sich an den zu finden. [5] nehmen an, dass die foveale Informa-
11 Muskelspindeln, im Bereich der Gelenke und der tionsaufnahme beim Fahrzeugführen unter hohen
Bänder befinden, ermöglichen die Empfindung von Belastungen, d. h. bei hoher Informationsdichte und
12 Körperbewegungen und von Stellungen der Körper- somit hohen Anforderungen an die Informations-
teile zueinander. verarbeitung, starkes Gewicht hat.
Die Orientierung im Raum wird dem Men- Die Größe des nutzbaren Sehfeldes ist bei gu-
13 schen über das vestibuläre Wahrnehmungssystem ten und schlechten Kraftfahrern unterschiedlich.
ermöglicht. Als Rezeptor wird der sich im Innenohr Während gute Fahrer ein nutzbares Sehfeld von
14 befindende Vestibularapparat genutzt. Dieser hat 9–10° besitzen, umfasst es bei schlechten Autofah-
darüber hinaus die Aufgaben, Informationen zur rern nur 6–7° [6]. Unter dem nutzbaren Sehfeld
15 Erhaltung des Gleichgewichts und die Auslösung wird eine variable räumliche Ausdehnung um die
der Stellreflexe zur Normalhaltung des Kopfes und Netzhautgrube herum verstanden, die den Bereich
der Augen zu geben. Beim Autofahren trägt der beschreibt, innerhalb dessen eine Person die für
16 vestibuläre Sinneskanal zur Wahrnehmung von eine bestimmte definierte Aufgabe erforderlichen
Geschwindigkeit und Beschleunigung des eigenen Informationen entdecken kann.
17 Fahrzeugs bei. Die Güte der visuellen Informationsaufnahme
Die meisten verkehrsrelevanten Informationen des Menschen wird durch die Art des Signals und
werden beim Autofahren visuell aufgenommen (ca. die Darbietungshäufigkeit beeinflusst. So unter-
18 80–90 %, z. B. [4]). Grundlage für richtige Hand- scheidet [7] kritische, neutrale und nicht-kritische
lungsentscheidungen des Fahrers ist eine möglichst Signale sowie nicht kritische und kritische Zusatz-
19 vollständige interne Repräsentation des relevanten signale. Bezüglich der Häufigkeit der Informati-
Verkehrsraums. Ebenso ist es für den Fahrer wich- onsdarbietung haben die Untersuchungen mehre-
20 tig, relevante Informationen zur Führung des Fahr- rer Autoren (eine Übersicht gibt [7]) ergeben, dass
zeugs schon aus großer Entfernung aufzunehmen, die Beobachtungsleistung um so besser ist, je mehr
1.1 • Menschlicher Informations­verarbeitungsprozess
7 1

reaktionsfordernde Signale pro Zeiteinheit dargebo- onen aus Lang- und Kurzzeitgedächtnis abgerufen
ten werden. Diese Regel gilt bis zu einer optimalen und mit den sensorisch aufgenommenen Merkmal-
Signalhäufigkeit von ca. 120 bis 300 Signalen pro strägern verglichen.
Stunde. Bei einer wesentlichen Überschreitung Die Unfallgefahr eines Autofahrers wird sowohl
dieser Signalhäufigkeit gerät der Beobachter in von der individuellen Akzeptanz als auch von Fehl-
eine Überforderungssituation mit dem Ergebnis, wahrnehmungen bezüglich Risiken im Straßen-
dass immer mehr Signale unbeantwortet bleiben. verkehr beeinflusst. Ein wesentlicher Aspekt des
[8] gehen mit ihrer „Theory of Pathway Inhibition“ Entscheidungsvorgangs innerhalb des Informati-
davon aus, dass sich gleichartige Reize behindern onsverarbeitungsprozesses ist die Tatsache, dass die
und somit durch heterogene Reize eine bessere Auf- Handlung ausgewählt wird, die unter Variation der
merksamkeitsleistung erreicht wird. äußeren Umstände den größten Nutzen unter Be-
achtung des damit verbundenen Risikos verspricht.
Der Begriff Risiko wird unterschiedlich definiert.
1.1.2 Informationsverarbeitung Oftmals wird er als Wahrscheinlichkeit, dass ein
nicht gewünschtes Ereignis eintritt, interpretiert.
Signale aus der Umgebung (z. B. Charakteristik So definieren z. B. [10] Risiko als das Verhältnis
der Fahrstrecke, andere Verkehrsteilnehmer, Wet- zwischen Größen, die negative Konsequenzen
ter- und Sichtbedingungen) sowie vom Fahrzeug von Ereignissen beschreiben, und Größen, die die
(z. B. Anzeigen, Stell- und Bedien­elemente und die Wahrscheinlichkeit eines Eintreffens der Bedingun-
Fahrzeugdynamik) werden von den menschlichen gen charakterisieren, unter denen diese Konsequen-
Rezeptoren aufgenommen, aufbereitet und auf der zen möglich sind. Diese Sichtweise schließt jedoch
Stufe der Informationsverarbeitung i. e. S. (Kogni- das Risikobewusstsein nicht mit ein. [11] sieht das
tion) weiterverarbeitet. Hier wird entschieden, ob Risiko deshalb als eine multidimensionale Charak-
eine Information zu einer Handlung führt (aktiver terisierung einer negativen Erwartung an, die sich
Fall) oder erduldet wird (passiver Fall). Diese Ent- aus einem probabilistischen Entscheidungsprozess
scheidung wird maßgeblich von der individuellen ergibt.
Charakteristik des Fahrers beeinflusst. Die Ent- Zur Erklärung der Risikowahrnehmung von
scheidungs- und Handlungsauswahl kann durch Autofahrern wurden zahlreiche Modelle entwickelt.
die drei aufeinander aufbauenden Verhaltensebe- Zu den bekanntesten zählen das ‚Zero Risk‘-Modell
nen, die gemäß [9] als fertigkeitsbasiert, regelba- [12] und das Modell der ‚Risikohomöostase‘ [13].
siert und wissensbasiert bezeichnet werden, erklärt Gemäß dem ‚Zero Risk‘-Modell handeln Menschen
werden (siehe ▶ Abschn. 2.1). Auf welcher Verhal- so, dass ihr subjektives Risiko null beträgt; dieses
tensebene die Informationsverarbeitung abläuft, ist Modell basiert auf der individuellen Motivation, die
von der Art der auszuführenden Aufgabe sowie der das Fahrerverhalten beeinflusst, und der Adaptation
individuellen Charakteristik des Fahrers, insbeson- an das im Straßenverkehr wahrgenommene Risiko.
dere seinen Erfahrungen im Bereich der gegebenen Die Theorie der ‚Risikohomöostase‘ geht davon aus,
Anforderungen, abhängig. dass der Mensch bei einer Reduzierung des objek-
Bei der kognitiven Verarbeitung von Informati- tiven Risikos (z. B. durch technische Maßnahmen)
onen spielt das Gedächtnis eine zentrale Rolle. Mit sein Verhalten soweit in Richtung „gefährlicher“
dessen Hilfe werden die Sinneseindrücke mit er- verändert, dass die subjektive Schätzung des Risi-
lernten und gespeicherten Strukturen des Denkens kos wieder die gleiche Distanz zum persönlich ak-
und Urteilens verglichen. Nach dem klassischen zeptierten Risiko erhält wie vor der Einführung der
Drei-Speicher-Modell besteht das Gedächtnis aus Maßnahme [13].
sensorischem Speicher (Ultrakurzzeitspeicher), Das ‚Modell der subjektiven und objektiven
Kurzzeitspeicher und Langzeitspeicher. Im Kurz- Sicherheit‘ stellt der subjektiv erlebten Sicherheit
und Langzeitgedächtnis werden die Informationen solche Formen der Sicherheit gegenüber, die phy-
aktiv bearbeitet. Während eines kontinuierlichen sikalisch messbar sind [14]. Das Gefahren-Vermei-
Prozesses werden die abgespeicherten Informati- dungs-Modell (Threat-Avoidance Model) [15] geht
8 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

davon aus, dass die Handlungen eines Fahrers bei Auswirkungen auf die Fahrleistung und -sicherheit
1 Wahrnehmung eines potenziell gefährlichen Ereig- erläutert. Es erfolgt eine Systematisierung in Eigen-
nisses vorrangig durch Abwägung des Nutzens und schaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten.
2 der Kosten aller Alternativen ausgewählt werden.
Als Hauptkomponenten bei der Risikowahr- Eigenschaften  Als Eigenschaften werden intrain-
nehmung sehen [10] einerseits Informationen über dividuell weitgehend zeitunabhängige (oder sich
3 potenzielle Gefahren in der Verkehrsumgebung und nur innerhalb sehr großer Zeiträume ändernde)
andererseits Informationen über die Fähigkeiten des Einflussgrößen verstanden. Als wichtigste für das
4 Systems Fahrer-Fahrzeug, die verhindern, dass das Autofahren relevante Eigenschaften werden häufig
Gefahrenpotenzial zu einem Unfall führt. Geschlecht, Alter und Persönlichkeitsmerkmale
5 genannt.
Während in einigen Untersuchungen ge-
1.1.3 Informationsabgabe schlechtsspezifische Unterschiede im Fahrerver-
6 halten festgestellt wurden, konnten in anderen Un-
In der dritten Stufe des Informationsverarbeitungs- tersuchungen keine Unterschiede im Hinblick auf
7 prozesses werden die auf der Stufe der Informati- das Risikoverhalten sowie das Geschwindigkeitsver-
onsverarbeitung i. e. S. getroffenen Entscheidungen halten bestätigt werden. Unterschiede sind aber in
in Handlungen umgesetzt. Diese Handlungen um- der Wahrnehmung des Unfallrisikos bei Männern
8 fassen beim Fahrzeugführen motorische Bewe- und Frauen festzustellen: Männer schätzen ihr Fahr-
gungen des Hand-Arm-Systems sowie des Fuß- können besser ein als Frauen, dabei neigen Frauen
9 Bein-Systems. Die physische Belastung im Sinne eher zu einer Unterschätzung ihrer Leistungsfähig-
einer arbeitsphysiologisch zu leistenden Arbeit ist keit, während Männer eher zu einer Überschätzung
10 im Vergleich zu den sich aus der Informationsauf- tendieren. Außerdem beurteilten männliche Fahrer
nahme und -verarbeitung ergebenden Belastungen bestimmte Verhaltensweisen als weniger gefährlich
gering und wird durch technische Unterstützungs- und weniger unfallträchtig als weibliche.
11 systeme im Fahrzeug (z. B. Servolenkung) immer Die Fähigkeiten des Menschen, sich sensorisch
weiter reduziert. zu orientieren, aufgenommene Informationen zu
12 verarbeiten und motorische Handlungen auszufüh-
ren, wandeln sich im Zuge des Alterungsprozesses,
1.2 Fahrercharakteristik innerhalb dessen die menschlichen Organe einer
13 und die Grenzen menschlicher Veränderung unterliegen. Die zunehmenden funk-
Leistungsfähigkeit tionalen Defizite können aufgrund der bei älteren
14 Fahrern in der Regel vorhandenen großen Fahrer-
Die menschliche Leistung ist allgemein charakte- fahrung zumindest teilweise kompensiert werden.
15 risiert durch die Arbeitsergebnisse und die Bean- Für die Definition des Begriffs „Ältere“ existieren
spruchung des arbeitsausführenden Individuums. verschiedene Ansätze. Oftmals orientiert man sich
Sowohl die Arbeitsergebnisse als auch die Bean- am kalendarischen bzw. chronologischen Alter;
16 spruchungen unterliegen inter- und intraindividu- demnach werden Menschen ab dem 60. oder 65.
ellen Streuungen: Nicht alle Personen erfüllen die- Lebensjahr zu den Älteren gezählt, obwohl die mit
17 selbe Aufgabe gleich gut, aber auch eine einzelne dem Alterungsprozess verbundenen funktionalen
Person kann Leistungsvariabilitäten aufweisen, Veränderungen mit erheblichen interindividuellen
wenn die Leistungserfüllung derselben Aufgabe zu Varianzen behaftet sind.
18 unterschiedlichen Zeitpunkten gemessen wird. Zu- Auch verschiedene Persönlichkeitsmerkmale des
rückzuführen sind diese Variabilitäten auf die indi- Fahrers beeinflussen sein Verhalten. So wurden Zu-
19 viduelle Charakteristik des Menschen und somit auf sammenhänge zwischen der Risikobereitschaft von
die unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen. Fahrern und der von ihnen gefahrenen Geschwin-
20 Im Folgenden werden für das Autofahren relevante digkeit sowie der Kraftschlussnutzung festgestellt.
menschliche Leistungsvoraussetzungen und ihre Fahrer, die emotional instabil, impulsiv und nicht
1.2  •  Fahrercharakteristik und die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit
9 1

.. Tab. 1.1  Mit dem Alter eintretende Veränderungen des visuellen Systems (↑ Zunahme; ↓ Abnahme)

Wirkung Ursache bzw. Einflussgrößen

↓ Akkommodationsbreite ↓ Flüssigkeit im Gewebe

↓ Statische Sehschärfe Beleuchtungsverhältnisse

↓ Dynamische Sehschärfe ↓ Akkommodationsgeschwindigkeit

↑ Trägheit der Sinneszellen

↑ Blendungsempfindlichkeit ↑ Funktionale Störungen der Netzhaut

↑ Adaptationszeit

↓ Kontrastsehen

↑ Erforderliche Leuchtdichte ↑ Eintrübung von Hornhaut, Linse und Glaskörper

↑ Einschränkung des Gesichtsfeldes

teamfähig sind, unterliegen einem höheren Unfall- Mit zunehmendem Alter verschlechtern sich
risiko als Menschen, die anpassungsfähig und emo- die Fähigkeiten der Rezeptoren, was insgesamt zu
tional stabil sind. Außerdem werden die selektive Einschränkungen im Bereich der Informationsauf-
Aufmerksamkeit, der Wahrnehmungsstil und die nahme führt.
Reaktionszeit als individuelle Merkmale genannt, So verändern sich die Augenbestandteile auf-
die als Indikatoren für die Unfallbeteiligung gelten. grund eines Flüssigkeitsentzugs im Gewebe durch
den Alterungsprozess. Die sich daraus ergebenden
Fähigkeiten  Als Fähigkeiten werden die verfügba- Wirkungen auf die visuellen Fähigkeiten sind in
ren intraindividuell zeitabhängig kurz- bzw. lang- . Tab. 1.1 zusammengefasst.
fristigen Änderungen verstanden; sie betreffen Die mit dem Alter fortschreitende Einschrän-
physiologische Organ- oder so genannte Grund- kung des Gesichtsfeldes verschärft die Problematik
funktionen des Menschen. des Bewegungssehens beim Autofahren, da die Be-
Durch die als Intelligenz bezeichneten geistigen wegung relevanter Objekte zunächst im peripheren
Fähigkeiten werden die Handlungen eines Fahrers Gesichtsfeld beobachtbar ist.
insbesondere auf der wissensbasierten Ebene be- Altersveränderungen des Hörvermögens beste-
einflusst. Der Begriff Intelligenz ist in der Literatur hen in einer Abnahme der Hörschwelle, vor allem
umstritten und wird dementsprechend auch nicht im Bereich hoher Frequenzen. Schwierigkeiten bei
einheitlich definiert. Nach einer weit gefassten der Frequenz- und auch der Intensitätsdiskrimina-
Definition wird unter Intelligenz die hierarchisch tion von Tönen sowie bei der Erkennung komple-
strukturierte Gesamtheit jener allgemeinen geisti- xer Geräusche wie z. B. Sprache unter schwierigen
gen Fähigkeiten verstanden, die das Niveau und die Wahrnehmungsbedingungen (z. B. Störgeräusche,
Qualität der Denkprozesse einer Persönlichkeit be- Verzerrungen) und teilweise erschwertes Rich-
stimmen. Mit Hilfe dieser Fähigkeiten können die tungshören sind weitere Altersveränderungen des
für das Handeln wesentlichen Eigenschaften einer Hörvermögens.
Problemsituation in ihren Zusammenhängen er- Mit zunehmendem Alter nimmt auch die taktile
kannt werden, so dass die Situation entsprechend be- Wahrnehmungsempfindlichkeit ab.
stimmter Zielvorstellungen verändert werden kann. Der Gleichgewichtssinn ist bei 20- bis 30-Jähri-
Aber auch die kognitiven und sensumotori- gen am besten ausgebildet und nimmt ab dem 40.
schen Fähigkeiten des Menschen sowie das Reakti- Lebensjahr stark ab, sodass sich dieser im Alter von
onsvermögen beeinflussen das Autofahren indirekt 60 bis 70 Jahren auf die Hälfte reduziert hat.
über die Auswirkungen dieser Merkmale auf den Der sensorische Speicher arbeitet mit zuneh-
Informationsverarbeitungsprozess. mendem Alter weniger effizient. Akustische Signale
10 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

weisen im echoischen Speicher eine höhere Zerfalls- von Handlungsroutinen ermöglicht wird. Während
1 geschwindigkeit auf, während visuelle Signale länger die Kontrolle über das Fahrzeug mit zunehmender
im ikonischen Speicher verbleiben. Dies führt bei Fahrerfahrung besser wird, führt die Erfahrung in
2 der Bereitstellung verkehrsrelevanter Informationen anderen Bereichen zur Ausbildung von Fehlern und
dazu, dass akustische Informationen nur in zeitlich schlechten Gewohnheiten, wie z. B. dem Nichtbe-
verkürztem Umfang zur Bearbeitung zur Verfügung achten der Spiegel, spätem Bremsen und dichtem
3 stehen und visuelle Reize wegen der Blockierung Auffahren. Bei Fertigkeiten, die die Kontrolle über
des ikonischen Speichers nur in beschränktem Um- das Fahrzeug widerspiegeln, haben sich Anfänger
4 fang aufgenommen werden können. als schlechter erwiesen als erfahrene Fahrer. Dies
In den einzelnen Bereichen der Aufmerksamkeit zeigt sich durch spätes Beschleunigen, schlechte
5 gibt es bei älteren Menschen Leistungsreduktionen, und inkonsistente Lenkbewegungen und langsame
diese ergeben in ihrer additiven Wirkung eine ins- Gangwechsel. Auch haben die Lenkbewegungen un-
gesamt schlechtere Aufmerksamkeitsleistung. Dies erfahrener Fahrer eine höhere Frequenz als die er-
6 führt dazu, dass Ältere ihre Handlungsentscheidung fahrener Fahrer. Das Blickverhalten unerfahrenerer
auf einer relativ kleineren Basis von Umgebungsin- Fahrer wird häufig als ineffizienter bezeichnet, da sie
7 formationen treffen müssen als jüngere Verkehrs- zu häufig Punkte im Nahbereich fixieren. So werden
teilnehmer, da sie nicht über alle potenziell wichti- entfernte Unfallgefahren von jungen, unerfahrenen
gen Informationen verfügen. Fahrern im Vergleich zu erfahrenen Fahrern relativ
8 Insgesamt zeigt sich, dass für ältere Fahrer vor schlecht erkannt, bei der Erkennung naher Gefah-
allem in komplexen und neuartigen Situationen, die ren bestehen jedoch keine Unterschiede zwischen
9 schnelles Handeln erfordern, Schwierigkeiten auf- diesen beiden Gruppen. Mit zunehmender Erfah-
treten können. Zusätzlich erschwerend wirken die rung lernen Fahrer, gefährliche Objekte und Ereig-
10 Einschränkungen bei der Informationsaufnahme, nisse anhand bestimmter Teile des Verkehrssystems
die zu einer teilweise verzögerten sensorischen Be- zu erkennen. Dies entspricht auch der Tatsache, dass
reitstellung relevanter Informationen führen, womit sich die visuellen Fixations- und Suchmuster von
11 für ältere Fahrer eine geringere Zeit für die Verar- unerfahrenen und erfahrenen Fahrern unterschei-
beitung verkehrsrelevanter Informationen und ent- den. Unterschiedliches Geschwindigkeitsverhalten
12 sprechender Handlungen bleibt. ergibt sich bei Kurvenfahrten in Abhängigkeit von
der Fahrerfahrung. Erfahrene Fahrer fahren schnel-
Fertigkeiten Unter Fertigkeiten werden Arbeits- ler in Kurven ein und verzögern in der Kurve stär-
13 funktionen des Menschen verstanden, die sowohl ker als unerfahrene.
durch mensch­ liche Grundfunktionen als auch Der Fahrstil wird sowohl durch die Fahrerfah-
14 durch den konkreten Gestaltungszustand der Ar- rung als auch durch die Persönlichkeit des Fahrers
beitsaufgabe und der Arbeitsumgebung bedingt geprägt. Unterschiedliche Formen des Fahrstils
15 sind. In Zusammenhang mit dem Autofahren haben wurden festgestellt. So kann dieser bei Führern von
die Fahrerfahrung und der Fahrstil (Klassifizierung Nutzfahrzeugen als „lahm-lasch“, „eckig-abrupt“
anhand der vom Fahrer gewählten Fahrzeuggrößen) oder „zügig-flott“ bezeichnet werden. Bei Pkw-
16 bzw. Fahrertyp (Klassifizierung anhand der beob- Fahrern wurden anhand von Kenngrößen für Ge-
achteten Verhaltensweisen des Fahrers) eine große schwindigkeit, Längsbeschleunigung, Abstand zum
17 Bedeutung. Vorausfahrenden die Fahrstile „eher langsam und
Die Fahrerfahrung kann unterschiedliche Aus- komfortbewusst“, „durchschnittlich mit hohem
wirkungen auf das Unfallrisiko haben. Mit wach- Sicherheitsbewusstsein“ und „schnell und sport-
18 sender Fahrerfahrung verbessern sich die Fahrfer- lich“ identifiziert. Auf Basis von Verhaltensbeob-
tigkeiten und das Erkennen sowie die Einschätzung achtungen wurden ähnliche Fahrertypen gefunden,
19 von Risiken. Eine Verbesserung der Fahrfertigkeit die als „unauffällige Durchschnittsfahrer“, „wenig
ist darauf zurückzuführen, dass mit zunehmender routinierte-unentschlossene Fahrer“, „sportlich-
20 Kilometerzahl die Anzahl erlebter unterschiedlicher ambitionierte Fahrer“ und „risikofreudig-aggres-
Fahrsituationen wächst und dadurch die Ausbildung sive Fahrer“ bezeichnet wurden.
1.3  •  Anforderungen an den Fahrzeugführer im System Fahrer-Fahrzeug-Umgebung
11 1
1.3 Anforderungen Scheibenwischers oder Einschalten des Fernlichts,
an den Fahrzeugführer charakterisiert. Tertiäre Handlungen stehen nicht
im System Fahrer-Fahrzeug- in direktem Zusammenhang mit der eigentlichen
Umgebung Fahrzeugführung, sie dienen eher dem Fahrkomfort
und umfassen z. B. die Regelung der Lüftung sowie
Die Anforderungen an den Fahrer ergeben sich aus der Klimaanlage oder die Bedienung des Radios.
der Fahrzeugführungsaufgabe, die von Faktoren aus Das 3-Ebenen-Modell von [17] (siehe ▶ Ab-
der Umgebung mitbestimmt werden. Hier steht die schn. 2.2) beschreibt eine Hierarchie der primären
Komplexität der vom Fahrer zu bewältigenden Si- Fahraufgaben auf oberster Ebene mit den Tätigkeiten
tuation im Vordergrund. Diese ergibt sich aus der Navigieren (Auswahl der Fahrt­route), Bahnführen
Charakteristik der Fahrstrecke und dem dynami- (Festlegung von Sollspur und Sollgeschwindigkeit)
schen Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer. und Stabilisieren (Anpassung der Fahrzeugbewe-
Wie der Fahrer diese Anforderungen bewältigt, ist gung an die festgelegten Führungsgrößen).
einerseits von seiner individuellen Charakteristik
und andererseits von der durch das Fahrzeug an- Diese Hierarchie spiegelt auch den zeitlichen Spiel-
gebotenen Fahrerunterstützung (Assistenzsysteme) raum, der zur Erledigung der jeweiligen Aufgaben
abhängig. In Abhängigkeit von Belastungshöhe und zur Verfügung steht, sowie die Fehlertoleranz wi-
-dauer treten Engpässe im Informationsverarbei- der. Während eine verspätete Entscheidung oder
tungsprozess des Fahrers auf, die entsprechend des ein Fehler auf der Navigationsebene in der Regel zu
Kontinuums des Verkehrsverhaltens nach [14] zu keiner kritischen Situation führt, können auf der
einer Abweichung vom so genannten „Normalver- Stabilisierungsebene durchaus kritische Fahrsitua-
halten“ bis hin zu kritischen Verkehrssituationen tionen oder sogar Unfälle entstehen.
und auch zu Unfällen führen können. Um diese
Engpässe zu identifizieren, werden im Folgenden Anforderungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe 
die Teilaufgaben der Fahrzeugführung und die sich Generell ergeben sich für den Menschen die An-
aus diesen ergebenden Anforderungen zusammen- forderungen einer Tätigkeit aus den Arbeitsaufga-
gestellt. ben. Unter Berücksichtigung der aufgabenunspe-
zifischen, situativen Arbeitsbedingungen entstehen
Teilaufgaben der Fahrzeugführung  Ansätze zur Be- objektiv beschreibbare Belastungen. Zu diesen situ-
schreibung der Fahrzeugführungsaufgabe durch ativen Faktoren zählen Dauer und zeitliche Zusam-
Teilaufgaben existieren auf unterschiedlicher De- mensetzung der Anforderungen einerseits sowie
taillierungsebene, zum Teil wurden sie für spezi- Einflüsse aus der Arbeitsumgebung andererseits.
elle Erklärungszwecke oder einzelne Aspekte der Um Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe zu
Fahrzeugführungsaufgabe abgeleitet. Im Folgenden ermitteln, wurden verschiedene Tätigkeitsanaly-
werden nur zwei häufig genannte Klassifizierungen severfahren entwickelt. Zur Analyse der Anforde-
aufgeführt. rungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe wurde
Eine Einteilung der Fahreraufgaben nach ihrer von [18] für den Straßenverkehr eine modifizierte
Bedeutung für die Erfüllung des Fahrtzwecks wird Version des Fragebogens zur Arbeitsanalyse (FAA,
von [16] vorgeschlagen. Primäre Tätigkeiten um- [19]) erstellt. Diese modifizierte Version berück-
fassen für die Durchführung der Fahrt unbedingt sichtigt die Bereiche Informationsverarbeitung
notwendige Tätigkeiten wie z. B. Lenken und Gas und Fahrzeugbedienung, ersterer wird weiter un-
Geben und werden maßgeblich durch den Stra- terteilt in Quellen der Information, Sinnes- und
ßenverlauf, andere Verkehrsteilnehmer und die Wahrnehmungsprozesse, Beurteilungsleistungen
Umgebungsbedingungen bestimmt. Sekundäre sowie Denk- und Entscheidungsprozesse. Insge-
Tätigkeiten sind durch die Informationsabgabe samt werden 32 Arbeitselemente für den Bereich
an die Umgebung – hierzu gehören beispielsweise Informationsverarbeitung und 7 Arbeitselemente
Blinken oder Hupen – sowie durch eine Reaktion für den Bereich der Fahrzeugbedienung ange­
auf die aktuelle Situation, wie z. B. Einschalten des geben.
12 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

1
Auf Grundlage des von [18] modifizierten FAA
sowie anhand des Teils erforderliche kognitive Leis- -- Verkehrsschilder
z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen,

2
3
tungen des Tätigkeitsbewertungssystem (TBS, [20])
werden die sich aus der Fahrzeugführungsaufgabe
ergebenden Anforderungen abgeleitet.
Bei der im Folgenden aufgeführten Liste von
-- Vorfahrtsregelungen, Wegweiser
Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche, Wetter
und Sichtbedingungen
z. B. Nässe, Verschmutzung, Schnee, Glatteis;
Anforderungen umfasst der Bereich Informations- Gegenlicht, Regen- bzw. Schneefall, Nebel
quellen, Sinnes- und Wahrnehmungsprozesse die
4
--
Orientierungsleistungen im Umgebungsbereich. B  Beurteilungsleistungen
Dazu werden wahrgenommene Sachverhalte als Längsabstände zu oder zwischen anderen
5 Signale erfasst und aufbereitet. Signale sind Reize, Verkehrsteilnehmern bzw. Objekten
die unterschieden und identifiziert werden, bei z. B. zum vorausfahrenden Fahrzeug, zwi-
einer bestimmten Ausprägung eine bestimmte schen zwei Fahrzeugen auf dem Nebenfahr-
6 Bedeutung für die Arbeitstätigkeit haben und ein streifen, zu Fußgängern, Radfahrern und

7
spezifisches Handeln als notwendig anzeigen. Die
Beurteilungsleistungen werden durch das Ableiten
von Diagnosen über Zustände erbracht, um geeig-
nete Maßnahmen zu finden. Dazu werden Reize
-- Hindernissen auf dem eigenen Fahrstreifen
Querabstände zu oder zwischen anderen Ver-
kehrsteilnehmern bzw. Objekten
z. B. zu Fahrzeugen auf „gleicher Höhe“, zu

-
8 ausgesondert, verglichen und Signalausprägungen Fahrzeugen am Fahrbahnrand
kombiniert. Die Entscheidungs- und Denkanfor- Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs und
9
10
derungen können einerseits aus diagnostischen
Leistungen, die die Ermittlung möglicher Varian-
ten umfassen, und andererseits aus prognostischen
Leistungen, die zur Auswahl zweckmäßiger Vari-
-- anderer Fahrzeuge bzw. Verkehrsteilnehmer
Antizipation kritischer Verkehrssituationen
Knappes Einscheren eines Fahrzeugs, Miss-
achtung der Vorfahrtsregelungen durch
anten dienen, bestehen. Die Fahrzeugbedienung andere, Kind läuft auf die Straße
11 geschieht im Rahmen von Verarbeitungsleistun-

--
gen. E  Entscheidungs- und Denkprozesse
12 Auswahl geeigneter Handlungen zur Naviga-
I  Informationsquellen, Sinnes- tion des Fahrzeugs

--
und Wahrnehmungsprozesse z. B. Entscheidung, welche Fahrtroute
13 Optische Anzeigen im Fahrzeug gewählt wird, Richtungsentscheidung an

14
z. B. Instrumente (z. B. Geschwindigkeitsan-
zeige), Stellung von Bedienelementen (z. B.
heizbare Heckscheibe), Informationen des -- Knotenpunkten
Auswahl geeigneter Handlungen zur Bahnfüh-
rung des Fahrzeugs
15
16
-- Bordcomputers (z. B. Außentemperatur)
Akustische Informationen
z. B. Sprachausgabe des Navigationssystems,
Martinshorn von Einsatz- und Rettungs-
z. B. Entscheidung über zu fahrende Ge-
schwindigkeit und einzuhaltenden Längsab-
stand, Überholmanöver, Wahl des Fahrstrei-
fens und der Querposition auf diesem

17
-- fahrzeugen
Akustische Nebeninformationen
z. B. Radio, Gespräche mit Beifahrer oder
--
F  Fahrzeugbedienung
Regelung der Fahrzeug-Längsbewegung zur
18
-- über Telefon
Andere Verkehrsteilnehmer

--
Stabilisierung des Fahrzeugs
z. B. Gas Geben, Bremsen, Schalten

19
-- z. B. Fahrzeuge, Fußgänger
Charakteristik der Fahrstrecke
Regelung der Fahrzeug-Querbewegung zur
Stabilisierung des Fahrzeugs

20
z. B. Quer- und Längsverlauf der Strecke,
Knotenpunkte, Fahrbahnbreite, Anzahl der
Fahrstreifen -- z. B. Lenken
Bedienung weiterer Funktionen
z. B. Licht, Scheibenwischer, Radio
1.4  •  Bewertung der Anforderungen aus der Fahrzeug­führungsaufgabe
13 1
1.4 Bewertung der Anforderungen Tag und in der Nacht können von großer Hellig-
aus der Fahrzeug­ keit, starker Blendung bis hin zu starker Dunkelheit
führungsaufgabeim Hinblick variieren, ebenso groß können die Unterschiede in
auf die menschliche der akustischen Umgebung sein: So gibt es Situati-
Leistungsfähigkeit onen im Fahrzeug ohne Nebengeräusche über Au-
ßengeräusche, die in das Fahrzeug dringen, bis hin
Abschließend werden die oben aufgeführten Anfor- zu Unterhaltungen oder lauter Musik im Fahrzeug.
derungsbereiche im Hinblick auf die Leistungsfä- Auch haptische Informationen im Fahrzeug sind
higkeit des Menschen mit dem Ziel bewertet, sinn- an mögliche Vibrationen, die vom Fahrzeug oder
volle Bereiche für eine technische Unterstützung des der Fahrbahn übertragen werden können, anzupas-
Fahrers aufzuzeigen. sen. Insbesondere bei der Gestaltung von visuellen
Informationen im Fahrzeug ist zu beachten, dass
Informationsquellen, Sinnes- und Wahrnehmungs- der Mensch Objekte nur bei Abbildung in der
prozesse  Die Wahrnehmung der für die Erfüllung Netzhautgrube (Fovea) bis zu einem Öffnungswin-
der Fahrzeugführungsaufgabe relevanten Informa- kel von 2° scharf sehen kann. Somit muss er für die
tionsquellen ist für den Fahrer von großer Wich- Aufnahme komplexer Informationen im Fahrzeug,
tigkeit: Er erstellt anhand dieser Informationen ein die über sehr einfach kodierte Signale hinausgehen,
internes Bild des aktuellen Zustands der Umgebung den Blick von der äußeren Fahrzeugumgebung weg
sowie seines Fahrzeugs, das Grundlage für seine bewegen, was mit einer visuellen Ablenkung des
Entscheidungen und Handlungen ist. Fahrers von der eigentlichen Fahrzeugführungs-
Daraus ergibt sich die Anforderung, dass die aufgabe einhergeht.
situationsabhängig relevanten Informationen im Ob relevante Informationen vom Fahrer wahr-
Fahrzeug sowie in der Umgebung auch vom Fahrer genommen werden oder nicht, hängt auch maß-
wahrnehmbar sein müssen. Dies betrifft zum einen geblich davon ab, ob er diesen Informationen
die durch den Einsatz von Fahrerunterstützungs- Aufmerksamkeit schenkt. Diese Zuwendung von
systemen neu hinzukommenden Informationen Aufmerksamkeit wird stark von der Gesamtsitu-
für den Fahrer und zum anderen den Bedarf für ation Fahrer-Fahrzeug-Umgebung geprägt. Hier
Systeme, die versuchen, Informationsdefizite des spielen z. B. die Anzahl und Art der miteinander
Fahrers aus der Umgebung zu kompensieren. konkurrierenden Informationen im Fahrzeug und
Menschliche Wahrnehmungsprozesse werden in der Umgebung, die mentale und/oder emotionale
durch Wahrnehmungsschwellen sowie die notwen- Beschäftigung des Fahrers mit nicht fahrtrelevanten
dige Zuwendung von Aufmerksamkeit begrenzt. Belangen sowie persönliche Erfahrungen des Fah-
Wahrnehmungsschwellen sind zum einen indivi- rers eine Rolle. Generell hat sich gezeigt, dass Fahrer
duell unterschiedlich, so ist z. B. das Alter auch ein eine bessere Aufmerksamkeitsleistung in Bezug auf
maßgeblicher Einflussfaktor, zum anderen sind sie nähere Objekte zeigen und dass Wechsel in der Auf-
von der Umgebung abhängig. Da Autofahren in merksamkeitszuwendung sich rascher und effizien-
sehr unterschiedlichen Umgebungen erfolgt, ist da- ter in „von fern nach nah“ als umgekehrt vollziehen.
rauf zu achten, dass im Fahrzeug dargebotene Infor-
mationen oberhalb der Wahrnehmungsschwellen Beurteilungsleistungen Beurteilungsleistungen
liegen bzw. relevante Informationen aus der Um- werden vom Fahrer zur Einschätzung von Abstän-
gebung, falls diese unter bestimmten Umständen den, Geschwindigkeiten sowie potenziell kritischer
nicht wahrgenommen werden können, technisch Situationen gefordert.
unterstützt werden (z. B. Nachtsichtsystem mit Da die Beurteilung absoluter Abstände für den
Markierung relevanter Informationen wie Fußgän- Menschen schwierig ist, nutzt der Fahrer unter-
ger). Insbesondere die visuellen, akustischen und schiedliche Informationen als Beurteilungsgröße
haptischen Informationen spielen bei der Fahrzeug- für Längsabstände. Die Blickwinkelgeschwindig-
führung eine große Rolle und sind ihrer Umgebung keit, die sich aus der Größe des vorausfahrenden
entsprechend zu gestalten. Die Lichtverhältnisse am Fahrzeugs sowie der Geschwindigkeitsdifferenz
14 Kapitel 1  •  Die Leistungsfähigkeit des Menschen für die Fahrzeugführung

und dem absoluten Abstand zu diesem Fahrzeug eine aufgrund der äußeren Verkehrssituation not-
1 berechnet, liefert dem Fahrer eine Aussage darü- wendigen Entscheidung gegeben ist, gelingt ihm
ber, wie sich der Abstand zu einem vorausfahren- diese besser als einem technischen System. Dies
2 den Fahrzeug verändert. Ebenso wird die Zeit bis liegt daran, dass dem Fahrer eine vollständigere,
zum Auftreten einer Kollision, Time to Collision wenn auch in einzelnen Aspekten unpräzisere Re-
(TTC), in die der absolute Abstand zum vorausfah- präsentation der Fahrumgebung zugänglich ist und
3 renden Fahrzeug sowie die Geschwindigkeitsdif- er mit zunehmender Fahrleistung auf immer mehr
ferenz eingeht, häufig als für den Fahrer relevante Erfahrungen mit solchen und ähnlichen Situationen
4 Beurteilungsgröße genannt. Es wird davon ausge- zurückgreifen kann.
gangen, dass die TTC die Aktionen des Fahrers Fahrer-Reaktionszeiten liegen im Bereich von
5 bestimmt [21]. 0,7 s bei erwarteten Situationen wie z. B. einer
Für die Blickwinkelgeschwindigkeit wird die Annäherungsfahrt, 1,25 s bei unerwarteten, aber
menschliche Wahrnehmungsschwelle für Bewe- gewöhnlichen Situationen (z. B. Bremsen des Vor-
6 gungen beim Fahren unter idealen Sichtbedingun- ausfahrenden) und bis zu 1,5 s bei überraschenden
gen zwischen 3 und 10 · 10–4 rad/s angegeben. Aber Situationen [23]. Je kritischer die Situation ist, desto
7 auch die Beobachtungsdauer hat einen Einfluss auf schneller erfolgt die Fahrerreaktion. Trägheit und
die Wahrnehmungsschwelle von Abständen sowie Reaktionsdauer des Menschen variieren in Abhän-
Geschwindigkeitsdifferenzen bei Folgefahrten [22]. gigkeit von Fahrsituation und Aufmerksamkeit. Der
8 Mit abnehmender Geschwindigkeitsdifferenz und Fahrer reagiert bei Kolonnenfahrt schneller und
abnehmender Beobachtungsdauer sinkt die Dis- wählt kleinerer Abstände.
9 tanz, ab der eine Geschwindigkeitsdifferenz erkannt
wird. Generell zeigt sich, dass Fahrer bei geringe- Fahrzeugbedienung  Die Bedienung des Fahrzeugs
10 ren Geschwindigkeiten tendenziell einen größeren zur Erfüllung der primären und sekundären Fahr-
als den notwendigen Sicherheitsabstand lassen, bei aufgaben stellt für den Fahrer gewöhnlich kein Pro-
höheren Geschwindigkeiten diesen allerdings un- blem dar. Die Regelung der Längs- und Querbewe-
11 terschreiten. gung läuft für den Fahrer auf der fertigkeitsbasierten
Auch akustische Informationen können zur Ebene ab, d. h. es handelt sich um automatische
12 Beurteilung der Entfernung anderer Fahrzeuge Prozesse, die kaum Aufmerksamkeit beanspruchen.
beitragen; allerdings kann es hier zu subjektiven Somit kann der Fahrer rasch und flexibel auf situ-
Fehleinschätzungen kommen, wenn beispielsweise ative Veränderungen reagieren. Ebenso verhält es
13 die Entfernung eines sehr leisen Lkw überschätzt, sich mit den sekundären Tätigkeiten, sofern diese
oder die eines sehr lauten Pkw unterschätzt wird. häufig vorkommen und vom Fahrer entsprechend
14 Die Antizipation kritischer Situationen wird gut geübt sind.
durch die Erfahrungen des Fahrers mit den je- Allerdings kann möglicherweise eine Über-
15 weiligen potenziell kritischen Situationen geprägt. forderung des Fahrers im Bereich der tertiären
Je nachdem welche Situationen der Fahrer bereits Fahraufgaben auftreten, insbesondere dann, wenn
erlebt und zum Inhalt seines Langzeitgedächtnis- Funktionen nur selten genutzt werden, komplexe
16 ses hinzugefügt hat, wird er eine kritische Situation Menüstrukturen für die Bedienung durchlaufen
auch anhand für diese Situation relevanter Merk- werden müssen oder der Fahrer mit selten auftre-
17 male als kritisch einstufen und entsprechend re- tenden Warnhinweisen konfrontiert wird.
agieren.
18 Entscheidungs- und Denkprozesse  Bei der Erfüllung
der Navigations- sowie der Bahnführungsaufgabe Literatur
19 muss der Fahrer auf Basis von Entscheidungs- und
Denkprozessen die für die jeweilige Situation ge- [1] Abendroth, B.: Gestaltungspotentiale für ein PKW‐Ab-
standsregelsystem unter Berücksichtigung verschiedener
20 eignete Handlung auswählen. Unter der Voraus-
Fahrertypen. Ergonomia, Stuttgart (2001)
setzung, dass dem Menschen ausreichend Zeit für
Literatur
15 1
[2] Wickens, C.D.: Engeneering Psychology and Human Perfor- [22] Todosiev, E.P.: The Action Point Model of the Driver‐Vehicle‐
mance. HarperCollins Publishers Inc., New York (1992) System. Ph. D. Dissertation. Ohio State University (1963)
[3] Schlick, C., Bruder, R., Luczak, H.: Arbeitswissenschaft. [23] Green, M.: “How Long Does It Take to Stop?” Methodologi-
Springer, Berlin u. a. (2010) cal Analysis of Driver Perception‐Brake Times. Transporta-
[4] Rockwell, T.: Skills, Judgment and Information Acquisition tion Human Factors 2(3), 195–216 (2000)
in Driving. In: Forbes, T.W. (Hrsg.) Human Factors in High-
way Traffic Safety Research. John Wiley & Sons, New York
(1972)
[5] Cohen, A.S., Hirsig, R., et al.: The Role of Foveal Vision in the
Process of Information Input. In: Gale, A.G. (Hrsg.) Vision in
Vehicles – III. Elsevier, Amsterdam u.a. (1991)
[6] Färber, B.: Geteilte Aufmerksamkeit: Grundlagen und An-
wendung im motorisierten Straßenverkehr. TÜV Rheinland,
Köln (1987)
[7] Schmidtke, H.: Wachsamkeitsprobleme. In: Schmidtke, H.
(Hrsg.) Ergonomie. Hanser, München, Wien (1993)
[8] Galinsky, T., Warm, J., Dember, W., Weiler, E., Scerbo, M.: Sen-
sory Alternation and Vigilance Performance: The Role of
Pathway Inhibition. Human Factors 32(6), 717–728 (1990)
[9] Rasmussen, J.: Skills, Rules, and Knowledge: Signals, Signs,
and Symbols, and Other Distinctions in Human Perfor-
mance Models. IEE Transactions on Systems, Man, and
Cybernetics, SMC‐13 (1983) 3, 257–266
[10] Brown, I.D., Groeger, J.A.: Risk Perception and Decision
Taking during the Transition between Novice and Experi-
enced Driver Status. Ergonomics 31(4), 585–597 (1988)
[11] Wagenaar, W.A.: Risk Taking and Accident Causation. In: Ya-
tes, J.F. (Hrsg.) Risk‐Taking Behaviour. John Wiley & Sons,
Chichester (1992)
[12] Näätänen, R., Summala, H.: Road‐user behaviour and traffic
accidents. North‐Holland Publishing, Amsterdam, Oxford
(1976)
[13] Wilde, G.J.S.: The Theory of Risk Homeostasis: Implications
for Safety and Health. Risk Analysis 2, 209–225 (1982)
[14] von Klebelsberg, D.: Verkehrspsychologie. Springer, Berlin
u. a. (1982)
[15] Fuller, R.: A Conceptualization of Driving Behaviour as Th-
reat Avoidance. Ergonomics 27(11), 1139–1155 (1984)
[16] Bubb, H.: Fahrerassistenz primär ein Beitrag zum Komfort
oder für die Sicherheit? VDI‐Bericht, Bd. 1768. VDI, Düssel-
dorf, S. 257–268 (2003)
[17] Donges, E.: Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Führung
von Personenkraftwagen. Automobil‐Industrie (1982),
183–190
[18] Fastenmeier, W.: Die Verkehrssituation als Analyseeinheit
im Verkehrssystem. In: Fastenmeier, (Hrsg.) Autofahrer und
Verkehrssituation. Neue Wege zur Bewertung von Sicher-
heit und Zuverlässigkeit moderner Straßenverkehrssys-
teme. TÜV Rheinland, Köln (1995)
[19] Frieling, E., Graf Hoyos, C.: Fragebogen zur Arbeitsanalyse
– FAA. Huber, Bern u. a. (1978)
[20] Hacker, W., Iwanowa, A., Richter, P.: Tätigkeitsbewertungs-
system – TBS. Handanweisung. Psychodiagnostisches Zen-
trum, Berlin (1983)
[21] Färber, B.: Abstandswahrnehmung und Bremsverhalten
von Kraftfahrern im fließenden Verkehr. Zeitschrift für Ver-
kehrssicherheit 32(1), 9–13 (1986)
17 2

Fahrerverhaltensmodelle
Edmund Donges

2.1 Drei-Ebenen-Modell für zielgerichtete Tätigkeiten


des Menschen nach Rasmussen, 1983  –  18
2.2 Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe
nach Donges, 1982  –  19
2.3 Beispiel eines regelungstechnischen Modellansatzes
für die Führungs- und Stabilisierungsebene
der Fahraufgabe – 20
2.4 Zeitkriterien – 22
2.5 Neuer Ansatz zur Quantifizierungvon fertigkeits-, regel-
und wissensbasiertem Verhalten im Straßenverkehr   –  23
2.6 Folgerungen für Fahrerassistenzsysteme  –  25
Literatur – 25

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
18 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle

Die aktive Teilnahme am Straßenverkehr als Fahrer bung unterschiedlicher Phasen des menschlichen
1 eines Kraftfahrzeugs ist eine komplexe Überwa- Lernverhaltens geeignet.
chungs- und Regelungsaufgabe, für deren Gelingen Die Führung von Kraftfahrzeugen im Straßen-
2 der Fahrer bei heutiger Rechtslage und heutigem verkehr gehört – im wahrsten Sinne des Wortes – zu
Stand der Technik voll verantwortlich ist. Um ihm den zielgerichteten sensumotorischen Tätigkeiten
für diese Aufgabenstellung die bestmöglichen Ar- des Menschen: Es gilt, das Fahrzeug mit seinen Pas-
3 beitsbedingungen zu verschaffen, muss die Aus- sagieren oder seinem Transportgut unter Nutzung
legung der technisch gestaltbaren Komponenten der verfügbaren sensorischen Informationen mit
4 des Straßenverkehrssystems die Anpassung an die Hilfe motorischer Eingriffe über die Betätigungsein-
besondere Leistungsfähigkeit des Menschen, aber richtungen des Fahrzeugs von einem Ausgangsort
5 auch an seine inhärenten Leistungsgrenzen zum zu einem Zielort zu bringen.
Ziel haben. Dies gilt in vollem Umfang auch für Komplexe Anforderungssituationen, die den
Fahrerassistenzsysteme. Menschen unvorbereitet treffen und ihm bisher
6 Um für eine derartige Anpassung geeignete untrainierte Handlungsweisen abverlangen, führen
Grundlagen zu schaffen, begann man in der den Menschen auf eine Ebene des „wissensbasierten
7 zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts [1] damit, Verhaltens“ (knowledge-based behaviour). Diese
Erkenntnisse über das Verhalten von Fahrern wäh- Verhaltensform ist im Kern dadurch gekennzeich-
rend der Fahraufgabe in Form von Fahrermodellen net, dass auf der Basis bereits vorhandenen oder
8 zusammenzufassen. Wegbereiter entsprechender noch zu erwerbenden Wissens in einem menta-
Forschungen im deutschsprachigen Raum war len Prozess verschiedene Handlungsalternativen
9 Fiala [2]. Fundierte Übersichten über derartige durchgespielt und auf ihre Brauchbarkeit für das
Ansätze sind beispielsweise in [3] und [4] zu angestrebte Ziel geprüft werden, bevor die best­
10 finden. Im Folgenden werden zwei Ansätze aus eingeschätzte Alternative eventuell als Regel für
unterschiedlichen Disziplinen beschrieben, die in zukünftige Fälle gespeichert und über motorische
den letzten drei Jahrzehnten Beachtung gefunden Reaktionen umgesetzt wird.
11 und eine Reihe von Folgeentwicklungen angesto- Die nächste Ebene des „regelbasierten Verhal-
ßen haben. tens“ (rule-based behaviour) unterscheidet sich
12 dadurch von der zuvor beschriebenen, dass die zu-
gehörigen situativen Gegebenheiten bei früheren
2.1 Drei-Ebenen-Modell Gelegenheiten schon häufiger aufgetreten sind und
13 für zielgerichtete Tätigkeiten der betreffende Mensch bereits über ein Repertoire
des Menschen nach Rasmussen, von gespeicherten Verhaltensmustern (Regeln) ver-
14 1983 fügt, dessen nach subjektiver Erfahrung effektivste
Variante abgerufen wird.
15 Zunächst soll an dieser Stelle ein aus der Ingeni- Die dritte Ebene wird als „fertigkeitsbasier-
eurpsychologie stammendes qualitatives, sehr allge- tes Verhalten“ (skill-based behaviour) bezeichnet.
mein auf menschliche Arbeit anwendbares Modell Sie ist durch reflexartige Reiz-Reaktions-Mecha-
16 für zielgerichtete Tätigkeiten behandelt werden. Es nismen charakterisiert, die in einem mehr oder
wurde 1983 von Rasmussen vorgestellt [5]. Das Mo- weniger lang dauernden Lernprozess eintrainiert
17 dell unterscheidet drei Kategorien unterschiedlich werden und dann in einem selbsttätigen, nicht
starker kognitiver Inanspruchnahme des Menschen mehr bewusste Kontrolle erfordernden stetigen
im Arbeitsprozess, deren Spannweite sich von all- Fluss ablaufen. Derartige eingespielte Fertigkeiten
18 täglichen Routinesituationen über unerwartete sind die zeitlich effektivsten Formen menschlichen
Herausforderungen bis hin zu seltenen kritischen Verhaltens. Sie sind typisch für routinemäßig wie-
19 Störfällen erstreckt. Diese Drei-Ebenen-Struktur ist derkehrende Handlungsabläufe, und sie lassen im
in . Abb. 2.1 links dargestellt. Zunächst für erfahre- Allgemeinen sogar einen gewissen Spielraum für
20 nes Personal im ausgelernten Zustand konzipiert, nicht unbedingt aufgabenbezogene Nebenbeschäf-
erwies es sich in der Folge auch als für die Beschrei- tigungen.
2.2  •  Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe nach Donges, 1982
19 2
Transportaufgabe

Koordinator
Wissensbasiertes Verhalten Fahrer Umwelt

Entschei-
Identifikation dungs- Planung Navigation Straßennetz
findung
Gewählte
Fahrtroute,
KoordinatorRegelbasiertes Verhalten zeitlicher Ablauf

Repertoire
Erkennung Assoziative Führung
von Verhal- Fahrraum
Zuordnung
tensregeln (Straße und
Verkehr)
Gewählte Führungs-
größen: Sollspur,
Koordinator Sollgeschwindigkeit Koordinator
Fertigkeitsbasiertes Verhalten Fahrzeug

Herausfiltern Reiz-
Reaktions- Stabilisierung Längs- und Fahrbahn-
von
Merkmalen Automatismen Querdynamik oberfläche

Istspur und Istgeschwindigkeit

Sensorische Signale Motorische Bereich sicherer Führungsgrößen


Informationen Aktionen
Alternative Fahrtrouten
Ref.: Rasmussen, 1983 Ref.: Donges, 1982

.. Abb. 2.1  Drei-Ebenen-Modell für zielgerichtete Tätigkeiten des Menschen nach Rasmussen und Drei-Ebenen-Hierarchie der
Fahraufgabe nach Donges

2.2 Drei-Ebenen-Hierarchie Fahrtroute anhand markanter Streckenmerkmale


der Fahraufgabe nach Donges, überwacht.
1982 Der eigentliche dynamische Prozess des Fahrens
spielt sich auf den Aufgabenebenen Führung und
In . Abb. 2.1 ist dieses aus einer psychologischen Stabilisierung ab. Die Eigenbewegung sowie be-
Herangehensweise entstandene allgemeine Klas- wegte fremde Objekte im Fahrraum verursachen eine
sifikationsschema für die Arbeitsprozesse des kontinuierliche Veränderung der Konstellation von
Menschen einer aus Ingenieursicht abgeleiteten sensorischen, insbesondere optischen Eingangsinfor-
Drei-Ebenen-Hierarchie der Fahraufgabe gegen- mationen für den Fahrer. In dieser visuellen Szenerie
übergestellt [6], . Abb. 2.1 rechts. und ihrer kontinuierlichen Veränderung sind so-
Die Navigationsaufgabe umfasst die Auswahl wohl die Führungsgrößen als auch die Istgrößen der
einer geeigneten Fahrtroute aus dem zur Verfügung Fahrzeugbewegung enthalten. Die Führungsaufgabe
stehenden Straßennetz sowie eine Abschätzung des besteht im Wesentlichen darin, aus der vorausliegen-
voraussichtlichen Zeitbedarfs. Wenn Informatio- den Verkehrssituation sowie aufgrund des geplanten
nen über aktuelle Störeinflüsse wie z. B. Unfälle, Fahrtablaufs die als sinnvoll erachteten Führungsgrö-
Baustellen oder Verkehrsstauungen vorliegen, kann ßen wie Sollspur und Sollgeschwindigkeit abzuleiten
eine veränderte Routenplanung erforderlich wer- und antizipatorisch im Sinn einer Steuerung (open
den. In einem bisher unbekannten Verkehrsraum loop control) einzugreifen, um günstige Vorbedin-
verlangt die Navigationsaufgabe einen Prozess der gungen für möglichst geringe Abweichungen zwi-
bewussten Planung und ist deshalb der Ebene des schen Führungs- und Istgrößen zu schaffen.
wissensbasierten Verhaltens zuzuordnen. In ei- Auf der Stabilisierungsebene hat der Fahrer
nem vertrauten Verkehrsraum hingegen kann die durch entsprechende korrigierende Stelleingriffe
Navigationsaufgabe als bereits erfüllt angesehen dafür zu sorgen, dass im geschlossenen Regelkreis
werden. Typisch für die Navigationsebene ist die (closed loop control) die Regelabweichungen stabi-
örtlich punktuelle bzw. zeitlich diskrete Aufgaben- lisiert und auf ein für den Fahrer annehmbares Maß
erfüllung durch den Fahrer, der die Einhaltung der kompensiert werden.
20 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle

Für diese beiden Ebenen der Fahraufgabe hat benhierarchie bringt der Mensch die hervorragende
1 sich die Abbildung in Form kontinuierlicher quan- Fähigkeit der vorausschauenden (antizipatorischen)
titativer Modelle auf regelungstechnischer bzw. sys- Wahrnehmung des Verkehrsraums mit, die ihn –
2 temtheoretischer Basis bewährt. Ein Beispiel hierfür wie in [10] experimentell nachgewiesen wurde – in
folgt im nächsten Abschnitt. die Lage versetzt, auch antizipatorisch zu handeln
Inwieweit sich die Teilaufgaben Führung und und damit systemimmanente Verzögerungszeiten
3 Stabilisierung in den unterschiedlichen Verhaltens- zu kompensieren.
kategorien aus [5] abspielen, hängt entscheidend In der Stabilisierungsebene bilden der Fahrer
4 von der individuellen Erfahrung des betreffenden als Regler und das Fahrzeug als Regelstrecke das
Fahrers und von der bereits erlebten Häufigkeit der bekannte, eng miteinander gekoppelte dynamische
5 jeweiligen Verkehrssituation ab. Ein Fahrerneuling System, dessen Stabilisierungsfunktion vom erfah-
wird seine Fahraktivität anfänglich sehr stark auf renen Fahrer auf der Ebene des fertigkeitsbasierten
der Ebene des wissensbasierten Verhaltens ausüben Verhaltens abgearbeitet wird.
6 und erst nach und nach mit wachsender Routine ein In . Abb. 2.1 sind die vorangehenden Überle-
Repertoire für Verhaltensregeln und die Fähigkeit gungen andeutungsweise durch die Dicke der grau
7 unbewusst ablaufender Fertigkeiten entwickeln. unterlegten Verbindungspfeile zwischen den drei
Sobald sich die entsprechende Erfahrung he- Ebenen der beiden Modellansätze dargestellt.
rausgebildet hat, wird die Teilnahme am Straßen- Die Aussagekraft der Kombination der beiden
8 verkehr zur alltäglichen Routine, die sich praktisch Modellansätze in . Abb. 2.1 geht deutlich über inge-
vollständig auf der Ebene des fertigkeitsbasierten nieurmäßige Ansätze zur Anpassung von Fahrzeug-
9 Verhaltens abwickeln lässt. Ein Eindruck über die und Verkehrstechnik an die Bedürfnisse des Men-
Dauer dieses Lernvorgangs lässt sich aus der Unfall- schen hinaus. Beispielsweise befruchten sie aktuell
10 beteiligung von Fahranfängern ableiten: Demnach in der Verkehrspsychologie die Entwicklung neuer
vergehen etwa 7 Jahre bzw. 100 000 km Fahrleistung Methoden für die Fahrschulausbildung [11, 12].
[7, 8], bis ein Fahrer den ausgelernten Zustand er-
11 reicht hat.
Erst das unerwartete Eintreten kritischer Bedin- 2.3 Beispiel
12 gungen zwingt den Fahrer aus dem störungsfreien, eines regelungstechnischen
subkortikal abarbeitbaren Verkehrsgeschehen Modellansatzes
heraus in die anspruchsvolleren Ebenen des re- für die Führungs-
13 gel- oder sogar wissensbasierten Verhaltens hinein. und Stabilisierungsebene
Die Ebene des wissensbasierten Verhaltens ist im der Fahraufgabe
14 Straßenverkehr immer dann als kritisch und unfall-
trächtig einzustufen, wenn die Fahrgeschwindigkeit Zur Nachbildung des Fahrerverhaltens im dynami-
15 und der Abstand zur Gefahrenstelle für das men- schen Kernprozess der Fahrzeugführung werden
tale Durchspielen von Handlungsalternativen nicht vor allem regelungstechnische Modelle entwickelt,
mehr genügend Zeit lassen. Entsprechend wird in z. B. [1, 2, 13, 14]. Das besondere Leistungsvermö-
16 [9] gefordert: „Im Straßenverkehr ist der Bedarf für gen dieses Ansatzes ermöglicht, ohne Kenntnis der
bewusstes Handeln zu minimieren!“ inneren Struktur der menschlichen Informations-
17 Wie die vorangehenden Überlegungen zeigen, aufnahme, -verarbeitung und -ausgabe kausale Zu-
kommt der Führungsebene der Fahraufgabe im sammenhänge zwischen den Eingangs- und Aus-
Hinblick auf die Sicherheit des Fahrtablaufs eine gangsgrößen des Menschen zu identifizieren. Eine
18 enorme Bedeutung zu, weil sich in ihr entscheidet, derart vereinfachende Beschreibung ist von vornhe-
ob die vom Fahrer ausgewählten Führungsgrößen rein mit der Einschränkung verbunden, dass sie nur
19 im objektiv sicheren oder unsicheren Bereich lie- die mit diesen Größen beobachtbaren Phänomene
gen, und ob der Fahrer aus den sensorischen Ein- erfassen kann und somit zwangsläufig unvollständig
20 gangsinformationen rechtzeitig die notwendigen ist. Sie hat dennoch wichtige, vor allem quantitative
Schlüsse ableiten kann. Für diese Ebene der Aufga- Erkenntnisse hervorgebracht, die das menschliche
2.3  •  Beispiel eines regelungstechnischen Modellansatzes
21 2

KoordinatorAntizipatorische Steuerung
Führungs-
Sollkrümmung
ebene TA

Koordinator +
Restgrösse + Lenk-
winkel
+
Kompensatorische Regelung

+ h1
0
τ
-
+
Stabilisierungs- + h2
0 +
τ
ebene -
+
h3
0 +
τ
-
Querabweichung
Gierwinkelfehler
Krümmungsdifferenz

.. Abb. 2.2  Blockschaltbild des Zwei-Ebenen-Modells für das Fahrerlenkverhalten

Übertragungsverhalten in den Dimensionen von nen Führung und Stabilisierung der Fahraufgabe in
Amplitude und Zeit beschreiben und klare Hin- zwei Teilmodelle: Die Führungsebene wird in Form
weise auf die Adaptationsfähigkeit des Menschen, einer „Antizipatorischen Steuerung“ (open loop
aber auch seine Leistungsgrenzen liefern. control) und die Stabilisierungsebene als „Kom-
Der früheste Ansatz eines Fahrermodells pensatorische Regelung“ (closed loop control) ab-
stammt aus Japan [1] (zitiert nach [3]) und be- gebildet, . Abb. 2.2. Daneben gibt es einen Beitrag
schreibt das Lenkverhalten bei Seitenwindstö- „Restgröße“, der die von den beiden Teilmodellen
rungen. Er beinhaltet bereits ein Prinzip zur nicht reproduzierten Anteile der Fahrerreaktion
Nachbildung der menschlichen Fähigkeit zur vor­ beinhaltet.
ausschauenden Wahrnehmung des Fahrraums in Dieses Fahrermodell beschreibt zunächst nur
Form einer Vorausschaulänge (preview distance). In den querdynamischen Anteil der Fahraufgabe, ist
Höhe dieser Vorausschaulänge versucht der Fahrer jedoch in seiner Grundstruktur auch für die Nach-
die Querabweichung zwischen Sollkurs und Fahr- bildung der Längsdynamik geeignet. Die experimen-
zeuglängsachse zu kompensieren. Im deutschspra- telle Datenbasis für dieses Modell stammt aus Simu-
chigen Raum wurde später für diesen Ansatz der latorversuchen auf einem kurvenreichen Rundkurs
Begriff „Deichselmodell“ gebräuchlich. ohne sonstigen Verkehr. Es umgeht die Ableitung
Im Unterschied dazu separiert das Fahrermo- einer Solltrajektorie und einer Sollgeschwindigkeit,
dell in [10] (Kurzfassung in [15]) die beiden Ebe- indem es die Testfahrer in der Versuchsanweisung
22 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle

auffordert, genau der Straßenmittellinie und einem Im Teilmodell „Kompensatorische Regelung“


1 vorgegebenen Geschwindigkeitsprofil zu folgen. Erst trägt der Gierwinkelfehler mit Abstand am stärksten
spätere Arbeiten wie z. B. [16] schufen die Grund- zur kompensatorischen Lenkreaktion bei, d. h. von
2 lagen für die Modellierung von Solltrajektorie und den drei rückgekoppelten Zustandsgrößen kann der
Sollgeschwindigkeit mithilfe von Optimierungskri- Gierwinkelfehler als Hauptregelgröße, die Krüm-
terien, die die Zielvorstellungen des Fahrers für den mungsdifferenz als D-Anteil und die Querabwei-
3 jeweiligen Fahrtzweck gewichten und das Verlassen chung als I-Anteil eines PID-Reglers interpretiert
des einzuhaltenden Fahrstreifens durch entspre- werden. Beim Verstärkungsfaktor der Krümmungs-
4 chende Grenzkriterien (constraints) vermeiden. differenz zeigt sich ein signifikanter Anstieg mit der
Eingangsgröße für das Teilmodell „Antizipato- Fahrgeschwindigkeit, d. h. entsprechend wächst der
5 rische Steuerung“ ist die um eine Antizipationszeit vorhaltende Beitrag im kompensatorischen Lenk-
vorgezogene Sollkrümmung der Sollspur (Stra- winkel. Gleichzeitig verkürzt sich die Fahrertotzeit
ßenmittellinie), die über einen Verstärkungsfaktor ebenfalls signifikant. Höhere Fahrgeschwindigkei-
6 und ein glättendes Verzögerungsglied den entspre- ten verlangen also schnellere Reaktionszeiten vom
chenden antizipatorischen Anteil der Lenkreaktion Fahrer. Das lässt sich auch mithilfe des Schnittfre-
7 produziert. Im Teilmodell „Kompensatorische Re- quenzmodells [17] erklären: Die Stabilitätsreserven
gelung“ werden parallel drei an der Fahrerposition der Fahrzeugquerdynamik nehmen mit wachsender
gemessene Zustandsgrößen Krümmungsdifferenz Fahrgeschwindigkeit ab und müssen im geschlos-
8 (Differenz der Krümmungen von Soll- und Istspur), senen Regelkreis durch verkürzte Fahrertotzeiten
Gierwinkelfehler (Winkel zwischen Tangente an die kompensiert werden, um eine ausreichende Stabi-
9 Sollspur und Fahrzeuglängsachse) und Querabwei- litätsreserve des Gesamtsystems Fahrer-Fahrzeug
chung zur Sollspur jeweils über einen zugehörigen aufrechtzuerhalten.
10 Verstärkungsfaktor und verzögert um dieselbe
Fahrertotzeit (Reaktionszeit im geschlossenen Re-
gelkreis) zurückgeführt. 2.4 Zeitkriterien
11 Die genannten Eingangsgrößen für beide Teil-
modelle können vom Fahrer aus statischen und be- Die gerade beschriebenen Korrelationen zwischen
12 wegten Mustern in der perspektivischen Außensicht dem Zeitverhalten des Fahrers und der Fahrge-
des vorausliegenden Fahrraums wahrgenommen schwindigkeit sind ein Beispiel für die Adaptati-
werden [10]. onsfähigkeit des Menschen an die jeweiligen Rand-
13 Die aus den Messergebnissen ermittelten Mo- bedingungen. Die identifizierten Mittelwerte der
dellparameter zeigen folgende Eigenschaften [15]: Antizipationszeit von 1 s und der Totzeit des Fahrers
14 Im Teilmodell „Antizipatorische Steuerung“ von 0,5 s sind Anhaltspunkte für die folgenden Be-
entspricht der Verstärkungsfaktor praktisch dem trachtungen zum Zeitverhalten.
15 Kehrwert der Fahrzeugverstärkung (auch als Lenk- . Abbildung 2.3 vermittelt einen Überblick über
empfindlichkeit des Fahrzeugs bezeichnet), weil die Zeithorizonte, die die drei Ebenen der Fahrauf-
Soll- und Istkrümmung der Fahrspur im stationären gabe charakterisieren.
16 Zustand nah beieinander liegen müssen. Die Anti- Der typische Zeithorizont der Navigationsebene
zipationszeiten der Lenkreaktion liegen weitgehend erstreckt sich von der möglichen Gesamtdauer einer
17 unabhängig von den Versuchsbedingungen in der Fahrt im Bereich einiger Stunden bis in die Region
Größenordnung von 1 s. Das bedeutet bezogen auf der Ankündigung bevorstehender Streckenände-
den oben erwähnten frühesten Fahrermodellan- rungen im Minutenbereich, z. B. durch Beschilde-
18 satz [1] eine proportional mit der Fahrgeschwin- rung. Auch heutige Navigationssysteme beginnen
digkeit wachsende Vorausschaulänge. Die Zeitkon­ entsprechend früh mit ersten Vorankündigungen,
19 stante des Verzögerungsglieds sinkt signifikant mit die dann während der Annäherung an den entschei-
wachsender Fahrgeschwindigkeit, d. h. der Anstieg denden Ort wiederholt und konkretisiert werden.
20 der antizipatorischen Lenkreaktion erfolgt umso Dann setzt als wesentlicher Teil der Führungsauf-
schneller, je höher die Fahrgeschwindigkeit ist. gabe unter günstigen Sichtverhältnissen bereits die
2.5  •  Neuer Ansatz zur Quantifizierung
23 2

Navigation

Führung

Stabilisierung

Einige ~ 1 min ~1s


Stunden Minuten- Sekunden-
bereich bereich
Antizipationszeit vor potentiell kritischem Zeitpunkt
Potentiell kritischer
Zeitpunkt

Unerwartete Ereignisse: Reaktionszeiten 2 Sekunden und mehr;


Zeithorizont der Führungsebene.
Taktzeiten im ms-Bereich (Stabilisierung): Nur durch technische Regelsysteme darstellbar.

.. Abb. 2.3  Typische Zeithorizonte der Navigations-, Führungs- und Stabilisierungsaufgabe

optische Wahrnehmung der Straßengeometrie und können deshalb nur durch technische Regelsysteme
der Verkehrssituation mit der Ableitung der Füh- dargestellt werden, wie dies z. B. im ABS, ASR und
rungsgrößen und der antizipatorischen Einleitung ESP realisiert ist. Reaktionszeiten auf unerwartete
von Stelleingriffen ein. Geschwindigkeitskorrekturen Ereignisse liegen im Bereich von etwa 2 bis 3 s, je
durch Lastwechsel oder Bremsbetätigung haben übli- nach Komplexität der Situation möglicherweise
cherweise einen größeren Vorlauf als Lenkaktionen. deutlich darüber. Wie wichtig frühzeitige Aktionen/
Wenn typische Antizipationszeiten für Stelleingriffe Reaktionen des Fahrers für die Unfallvermeidung
am Lenkrad im Bereich von 1 s liegen, muss die sind, schätzt Enke ab [19]: Etwa die Hälfte aller
Wahrnehmung der entsprechenden Gegebenheiten Kollisionsunfälle könnte durch Vorverlegung der
bereits deutlich früher beginnen, insbesondere bei Fahrerreaktion um eine halbe Sekunde vermieden
unerwarteten Ereignissen. D. h.: Informationssys- werden. Eine Beschleunigung der Fahrerreaktion
teme oder Warnsysteme, die eine kognitive Verar- um einen Zeitvorhalt in dieser Größenordnung
beitung erfordern, sollten eine Antizipationszeit scheint nur durch eine Stärkung von antizipatori-
von 2 bis 3 s möglichst überschreiten. Einer Arbeit schen Reaktionen erreichbar, also auf der Führungs-
neueren Datums entsprechend müssen beispiels- ebene der Fahraufgabe.
weise Warnsignale für Spurwechselentscheidungen
spätestens 2 Sekunden zuvor gegeben werden [18].
Wenn dies nicht realisierbar ist (z. B. aufgrund der 2.5 Neuer Ansatz
begrenzten Reichweite von Umfeldsensoren), kann zur Quantifizierung
nur eine spontan angeregte Reaktion durch eine intu- von fertigkeits-, regel-
itiv wirkende Handlungsempfehlung, beispielsweise und wissensbasiertem
in Form einer haptischen Anzeige wie beim Aktiven Verhalten im Straßenverkehr
Fahrpedal oder Lenkrad, helfen.
Typische Stelleingriffe zur Kompensation von Die Drei-Ebenen-Hierarchie des menschlichen Reak-
Regelabweichungen auf der Stabilisierungsebene tionsverhaltens von Rasmussen, wie in Abschnitt 2.1
erfolgen wie beschrieben mit einer Nacheilung von beschrieben, ist zunächst ein qualitatives Modell. In
einigen 100 ms, wobei Fahrertotzeiten im geschlos- [20] wird ein neuer, zugegebenermaßen gewagter
senen Regelkreis als Kennzahl für fertigkeitsbasier- Ansatz zur Annäherung an eine Quantifizierung
tes Handeln eher eine Untergrenze darstellen. Takt- der Begriffe fertigkeits-, regel- und wissensbasiertes
zeiten im ms-Bereich (schwarze Zone in . Abb. 2.3) Verhalten im Straßenverkehr eingeführt. Angeregt
24 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle

.. Abb. 2.4  g-g-Diagramm des Fahrer-


1 2 typs „normal“ aus [23]

1
2
0
ax [m/s2]

3
-1

4 -2

5 -3

-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5
6 ay [m/s2]

7 wurde dieser Vorschlag durch die messtechnische der Verkehrskompetenz des betreffenden Fahrers
Erfassung von Fahrverhaltenskollektiven, die bisher ermitteln.
in der deutschsprachigen Fachliteratur eher selten
8 dokumentiert worden sind [21, 22, 23]. Dieses Bild soll dazu dienen, in einem pragmati-

9
10
Zur Erläuterung dieses Ansatzes soll als Beispiel
. Abb. 2.4 aus [23] dienen.
Dieses Diagramm zeigt den Bereich von Quer-
und Längsbeschleunigungen, die zwölf Fahrer vom
-
schen Ansatz zu definieren:
Der fertigkeitsbasierte Bereich umfasst die
80-Perzentil-Einhüllende des Längs- und
Querbeschleunigungskollektivs eines individu-
Fahrertyp „normal“ während jeweils ca. zweiein-
halbstündiger Fahrten im öffentlichen Verkehr auf
- ellen Fahrers,
der regelbasierte Bereich reicht bis zum 95.

-
11 einer Versuchsstrecke mit kurvigen Landstraßen Perzentil, und
und Autobahnen genutzt haben. Die einhüllende Li- die darüber hinausgehenden Fahrzustände als
12 nie stellt dabei eine 85-Perzentil-Linie dar, d. h. alle seltene Ereignisse sind vor allem dem wissens-
Fahrer bleiben in 85 % der Fahrzeit unterhalb die- basierten Bereich zuzuordnen.
ser Hüllkurve. Die Hüllkurve selbst weist eine etwas
13 ausgerundete Kreuzform auf. Dies besagt, dass das (Die Zahlenwerte 80. und 95. Perzentil, die nicht im
untersuchte Fahrerkollektiv nur bedingt in der Lage Bild gezeigt werden, sind als willkürlich gewählte
14 ist, kombinierte Lenk-Brems- oder Lenk-Beschleu- Anhaltswerte zu verstehen, die gegebenenfalls expe-
nigungsmanöver auszuführen, sondern bevorzugt rimentell genauer abzusichern sind.)
15 entweder lenkt oder bremst oder beschleunigt. Für unterschiedliche Fahrertypen wird der je-
Diese Beobachtung wird durch andere Messergeb- weils individuelle Erfahrungshorizont vom eher
nisse von Fahrverhaltenskollektiven erhärtet. kleinen Umfang beim zurückhaltenden, vorsich-
16 Man stelle sich nun vor, dass in analoger Weise tigen Fahrer bis zum sehr ausgedehnten Fahrver-
die Häufigkeitsverteilung und die Hüllkurve des haltensrepertoire beim sportlich ambitionierten,
17 Verhaltenskollektivs für einen individuellen Fahrer dynamischen Fahrer reichen, . Abb. 2.5. Auch
registriert werden, und zwar nicht nur für Längs- intraindividuell kann der Fahrstil des Fahrers je
und Querbeschleunigung, sondern auch für andere nach Gemütslage in einer Spannweite von defen-
18 relevante, das Fahrerverhalten charakterisierende siv (innerhalb der 80-Perzentil-Einhüllenden) über
Messgrößen, wie z. B. inverser Abstand und Dif- offensiv (innerhalb der 95-Perzentil-Einhüllenden)
19 ferenzgeschwindigkeit gegenüber einem voraus- bis hin zu aggressiv (die 95-Perzentil-Einhüllende
fahrenden Fahrzeug. Auf diese Weise lässt sich überschreitend) variieren.
20 ein mehr oder weniger umfangreiches Abbild des Die bisher bekannten Messungen zeigen durch-
personalisierten Erfahrungshorizonts und somit gängig, dass auf trockener Fahrbahn die entspre-
2.6 • Literatur
25 2
2.6 Folgerungen
für Fahrerassistenzsysteme
Trockene Fahrbahn
Die Anwendung des Drei-Ebenen-Modells von Ras-
mussen und der oben beschriebene Versuch seiner
Dynamischer Quantifizierung fördern zwei wesentliche Erkennt-

-
Fahrer
nisse zutage:
Fahrerassistenzsysteme sollten mithelfen, eine
Sicherheitsreserve einerseits gegenüber der
Vorsichtiger Kraftschlussgrenze, andererseits aber insbe-
Schnee/Eis Fahrer sondere gegenüber dem Erfahrungshorizont

- der Fahrer aufrechtzuerhalten.


In kritischen dynamischen Situationen spannt
sich zwischen dem individuellen Erfahrungs-
horizont des Fahrers und der Kraftschluss-
grenze ein potenzieller Eingriffsbereich für
Fahrerassistenzsysteme auf. Dort kann die
.. Abb. 2.5  Fahrverhaltenskollektive und Kraftschlussgrenze überwiegend einkanalige Reaktionsweise des
(unterschiedliche Fahrertypen, veränderte Kraftschlussgren-
Fahrers (Lenken oder Bremsen bzw. Lenken
zen)
oder Beschleunigen) vor allem durch kombi-
chenden Fahrverhaltenskollektive im Verkehr auf nierte Lenk-Brems- oder Lenk-Beschleuni-
öffentlichen Straßen deutlich unterhalb der Kraft- gungsmanöver ergänzt werden.
schlussgrenze (Kammscher Kreis) bleiben. Wenn al-
lerdings Witterungsverhältnisse wie Fahrbahnnässe, Das Drei-Ebenen-Modell der Fahraufgabe mit den
Schnee oder Eis das Kraftschlusspotenzial erheblich quantitativen Ergebnissen der entsprechenden Fah-
vermindern, kann es dazu kommen, dass selbst das rermodelle weist vor allem die Führungsebene als
schmale Fahrverhaltenskollektiv des vorsichtigen vielversprechendes Feld für zukünftige Fahrerassis-
Fahrers die Grenze des Kammschen Kreises über- tenzsysteme aus. Auch hier treten zwei Auslegungs-
schreitet und das Unfallrisiko unter diesen Umstän-
den erheblich ansteigen kann, . Abb. 2.5.
Anhand dieses Bildes soll Folgendes hervorge-
hoben werden: Neben der physikalischen Grenze
-
kriterien hervor:
Für Fahrerassistenzsysteme mit informieren-
der, warnender oder handlungsempfehlender
Funktion sollte bei unerwarteten Ereignissen
des Kraftschlusspotenzials charakterisiert durch eine Antizipationszeit von mindestens zwei
den Kammschen Kreis gibt es eine zweite wesent-
liche Einflussgröße auf die Verkehrssicherheit, die
bisher wenig Beachtung gefunden hat: die Grenze
der Verkehrskompetenz des individuellen Fahrers,
- Sekunden eingehalten werden.
Reaktionsanforderungen, die im Zeitraum von
weniger als ein bis zwei Zehntelsekunden be-
antwortet werden müssen, können nur durch
die durch die Einhüllende des Fahrerverhaltens- automatisch eingreifende Technologien erfüllt
kollektivs und seiner Perzentile als jeweiliger Er- werden, wie z. B. heute bereits durch ABS, ASR
fahrungshorizont quantifiziert und für Fahreras- und ESP.
sistenzsysteme genutzt werden kann. Derartigen
Grenzen des Erfahrungshorizonts könnte aus sta-
tistischer Sicht bezüglich der Unfallrelevanz sogar Literatur
eine stärkere Bedeutung zukommen als der Kraft-
schlussgrenze, weil ihre Überschreitung ganzjährig [1] Kondo, M.: Richtungsstabilität (wenn Steuerbewegungen
hinzukommen). Journal of the Society of Automotive En-
in Gefahr ist.
gineers of Japan (JSAE), Jidoshagiutsu, Vol. 7(5,6), 104–106,
109, 123, 136–140. Tokyo (1953), (in japanisch, zitiert nach
[3])
26 Kapitel 2 • Fahrerverhaltensmodelle

[2] Fiala, E.: Lenken von Kraftfahrzeugen als kybernetische echte Verbesserungen? 2. Tagung „Aktive Sicherheit durch
1 Aufgabe. Automobiltechnische Zeitschrift 68, 156–162 Fahrerassistenz“, TU München, Garching bei München,
(1966) 4.–5. April 2006. (2006)
[3] Jürgensohn, T.: Hybride Fahrermodelle. Pro Universitate [21] Burckhardt, M.: Fahrer, Fahrzeug, Verkehrsfluß und Ver-
2 Verlag, Sinzheim (1997) kehrssicherheit – Folgerungen aus den Bewegungsgeset-
[4] Johannsen, G.: Fahrzeugführung und Assistenzsysteme. In: zen für Fahrzeug, Straße und Fahrer. In: Interfakultative
Zimolong, B., Konradt, U. (Hrsg.) Ingenieurpsychologie, Bd. Zusammenarbeit bei der Aufklärung von Verkehrsunfällen,
3 2, Hogrefe, Göttingen (2006) Bd. XXX, AFO, Köln (1977)
[5] Rasmussen, J.: Skills, Rules and Knowledge; Signals, Signs [22] Hackenberg, U., Heißing, B.: Die fahrdynamischen Leis-
and Symbols and other Distinctions in Human Perfor- tungen des Fahrer‐Fahrzeug‐Systems im Straßenverkehr.
4 mance Models. IEEE Trans. on Systems, Man and Cyberne- Automobiltechnische Zeitschrift 84, 341–345 (1982)
tics, Vol. SMC 13(3), 257–266 (1983) [23] Wegscheider, M.; Prokop, G.: Modellbasierte Komfortbe-

5 [6] Donges, E.: Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Füh-
rung von Personenkraftwagen. Automobil‐Industrie 27,
wertung von Fahrer‐Assistenzsystemen. VDI‐Ber. Nr. 1900,
17–36 (2005)
183–190 (1982)

6 [7] Anonym: Unfalldisposition und Fahrpraxis. Automobiltech-


nische Zeitschrift 78, 129 (1976)
[8] Willmes‐Lenz, G.: Internationale Erfahrungen mit neuen
7 Ansätzen zur Absenkung des Unfallrisikos junger Fahrer
und Fahranfänger. Berichte der Bundesanstalt für Straßen-
wesen, Heft M 144 (2003)
8 [9] Förster, H.J.: Menschliches Verhalten, eine vergessene In-
genieur‐Wissenschaft? Abschiedsvorlesung U. Karlsruhe,
Januar (1987)
9 [10] Donges, E.: Experimentelle Untersuchung und regelungs-
technische Modellierung des Lenkverhaltens von Kraftfah-
rern bei simulierter Straßenfahrt. Diss. TH Darmstadt (1977)
10 [11] Bahr, M., Sturzbecher, D.: Bewertungsgrundlagen zur Be-
urteilung der Fahrbefähigung bei der praktischen Fahrer-
laubnisprüfung. In: Winner, H., Bruder, R. (Hrsg.) Maßstäbe
11 des sicheren Fahrens/Darmstädter Kolloquium „Mensch +
Fahrzeug“, Technische Universität Darmstadt, 6./7. März
2013. Ergonomia Verlag, Stuttgart (2013)
12 [12] TÜV DEKRA arge tp 21: Innovationsbericht zur Optimie-
rung der Theoretischen Fahrerlaubnisprüfung – Berichts-

13 zeitraum 2009/2010, Dresden, 1. Auflage (2011)


[13] Weir, D.H., McRuer, D.T.: Dynamics of Driver Steering Con-
trol. Automatica 6, 87–98 (1970)

14 [14] Mitschke, M., Niemann, K.: Regelkreis Fahrer‐Fahrzeug bei


Störung durch schiefziehende Bremsen. Automobiltechni-
sche Zeitschrift 76, 67–72 (1974)
15 [15] Donges, E.: Ein regelungstechnisches Zwei‐Ebenen‐Modell
des menschlichen Lenkverhaltens im Kraftfahrzeug. Zeit-
schrift für Verkehrssicherheit 24, 98–112 (1978)
16 [16] Prokop, G.: Modeling Human Vehicle Driving by Model
Predictive Online Optimization. Vehicle System Dynamics
11(1), 1–35 (2001)
17 [17] McRuer, D.T.; Krendel, E.S.: The Man‐Machine System Con-
cept. Proc. IRE 50 (1962), 1117–1123
[18] Wakasugi, T.: A study on warning timing for lane change
18 decision and systems based on driver’s lane change
maneuver. ESV‐Konferenz 2005, Paper 05–0290
[19] Enke, K.: Possibilities for improving safety within the driver‐
19 vehicle‐environment control loop. ESV‐Konferenz 1979,
Berichtsband, 789–802
[20] Braess, H.-H., Donges, E.: Technologien zur aktiven Sicher-
20 heit von Personenkraftwagen – „Konsumierbare“ oder
27 3

Rahmenbedingungen für die


Fahrerassistenzentwicklung
Tom Michael Gasser, Andre Seeck, Bryant Walker Smith

3.1 Kategorisierung und Nomenklatur der Systeme  –  28


3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung  –  31
3.3 Gesetzgebung in den USA  –  43
3.4 Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme
vor dem Hintergrund von „Ratings“ und
gesetzlichen Vorschriften – 47
3.5 Fazit – 51
Literatur – 53

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
28 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Der Begriff der Fahrerassistenzsysteme im Sinn henden Unterscheidungen können für das techni-
1 der Kapitelbezeichnung wie auch des vorliegenden sche Systemverständnis wie auch für die rechtliche
Handbuches insgesamt soll hier die Fahrzeugau- Bewertung im Einzelfall von Bedeutung sein, [3] sie
2 tomatisierung mit erfassen. Für ein einheitliches richten den Blick aber bereits auf weitere oder an-
Verständnis wird im vorliegenden Kapitel zu- dere Elemente als die Fahrzeugsteuerung. Hier soll
nächst eine Kategorisierung von Systemen un- vorgeschlagen werden, für ein umfassendes Ver-
3 ter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf die ständnis von Fahrerassistenzsystemen und Fahr-
Fahrzeugführung vorgeschlagen. Die von der zeugautomatisierung die Aufgabenteilung zwischen
4 BASt-Projektgruppe „Rechtsfolgen zunehmen- Mensch und Maschine bei der Fahrzeugführung als
der Fahrzeugautomatisierung“ [1] entwickelte einzigen, zentralen Gesichtspunkt in den Fokus zu
5 Nomenklatur von Automatisierungsgraden wird nehmen.
darunter eingeordnet und dargestellt. Auf dieser Unter dem Aspekt der Fahrzeugführung lässt
Basis werden im Anschluss wichtige rechtliche sich die unterschiedliche Wirkweise von Systemen
6 Rahmenbedingungen, vor allem das Verhaltens- nämlich in einer für die rechtliche Kategorisierung
recht und das Haftungsrecht nach deutschem relevanten Hinsicht beschreiben und unterschei-
7 Recht dargestellt und die Bedeutung für die un- den:
terschiedlichen Kategorien erläutert. In einem
weiteren Abschnitt wird ein Überblick über den Kategorie A: Informierende Funktionen
8 aktuellen Stand der Gesetzgebung in bestimmten Informierende Funktionen wirken „mittelbar“,
Bundesstaaten der USA (Stand: Anfang  2014) nämlich über den Fahrer auf die Fahrzeugführung
9 gegeben, der zumeist den Einsatz von automati- ein und nehmen regelmäßig die gleichen Aufgaben
sierten Fahrzeugen mindestens zu Forschungs-, bei der Informationsaufnahme im Rahmen der
10 Entwicklungs- und Erprobungszwecken erlaubt. Fahrzeugführung wahr, die auch der Fahrer wahr-
Das vorliegende Kapitel wendet sich sodann den nehmen kann. Die Information wird dem Fahrer
übergreifenden Rahmenbedingungen des Ver- über die sog. Mensch-Maschine-Schnittstelle ver-
11 braucherschutzes in Europa zu. Das im Rahmen fügbar gemacht.
von Euro NCAP geschaffene Bewertungssystem
12 berücksichtigt zunehmend auch Fahrerassistenz- Kategorie B: Kontinuierlich wirkende automatisie-
systeme bei der Bewertung von Fahrzeugsicher- rende Funktionen
heit und entwickelt die Anforderungen beständig Kontinuierlich wirkende automatisierende Funk-
13 weiter. tionen lassen sich als unmittelbar eingreifend cha-
rakterisieren: Sie nehmen über längere Zeiträume
14 bzw. Fahrtabschnitte unmittelbaren Einfluss auf die
3.1 Kategorisierung Fahrzeugsteuerung; in ihrer Ausprägung als Assis-
und Nomenklatur der Systeme
15 tenz werden sie als „redundant-parallele“ Form der
Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine
Bereits von der Wortbedeutung ausgehend ist bei beschrieben [4]. Sowohl der Status des Systems
16 einem „Fahrerassistenzsystem“ auf das Zusammen- als auch Eingriffe in die Fahrzeugführung werden
wirken des Systems mit dem menschlichen Fahrer regelmäßig zugleich über eine Mensch-Maschi-
17 zu schließen. Allgemeingültiger und spezifischer ne-Schnittstelle als Information bereitgestellt, um
ist es, grundlegend auf verschiedene Formen der das arbeitsteilige Zusammenwirken von Mensch
Arbeitsteilung zwischen Mensch und Automatik und Maschine zu verbessern. Die Fahrzeugsteue-
18 abzustellen, vgl. [2]. Weitergehend wird häufig rung und jede Veränderung in der Fahrzeugsteu-
etwa die Abgrenzung von „autonomer Assistenz“ erung ist für den Fahrer aber zugleich unmittelbar
19 gegenüber der „Telematik“ beschrieben [3] oder es wahrnehmbar, teilweise über eine Rückkoppelung
erfolgt eine weitere Unterscheidung von konventi- der Bedienelemente (bspw. am Lenkrad), regelmä-
20 onellen Fahrerassistenzsystemen und solchen mit ßig aber zugleich durch die für den Fahrer spürbare
maschineller Wahrnehmung [4]. Solche weiterge- Fahrdynamik.
3.1  •  Kategorisierung und Nomenklatur der Systeme
29 3

Kategorie A: Kategorie B: Kategorie C:

Informierende und Kontinuierlich Eingreifende


warnende Funktionen automatisierende Notfallfunktionen
Funktionen (unfallgeneigte
Situation)

Wirken ausschließlich Haben unmittelbaren Haben unmittelbaren


„mittelbar“ über den Fahrer Einfluss auf die Einfluss auf die
auf die Fahrzeugführung Fahrzeugsteuerung Fahrzeugsteuerung in
(bewusste Übertragung unfallgeneigten
durch den Fahrer – Situationen, die der Fahrer
arbeitsteilige Ausführung). faktisch nicht mehr
Immer übersteuerbar, kontrollieren kann (i.d.R:
i.d.R. Komfortfunktionen Sicherheitsfunktionen)

Gestaltungsbeispiele: Gestaltungsbeispiele: Gestaltungsbeispiele:


• Verkehrszeichenassistenz • Adaptive • Automatisches
(bspw. Anzeige der Geschwindigkeitsregelung Notbremssystem
Geschwindigkeitsbegrenzung) (ACC) (systeminitiiert)
• Spurverlassenswarnung • Spurhalteassistenz (über • Ausweichsystem
(bspw. Vibration am Lenkrad) Lenkeingriffe) • Nothaltesystem (Fahrer
handlungsunfähig)

.. Abb. 3.1  Zusammenfassende Darstellung von drei übergeordneten Kategorien (nach Wirkweise)

Kategorie C: Eingreifende Notfallsysteme vorliegenden Kategorisierung. Als charakteristi-


Unter dem Gesichtspunkt der hier vorgeschlage- sches Beispiel sind insoweit Notbremsassistenten
nen Kategorisierung darf der Grundgedanke par- anzuführen.
alleler Aufgabenwahrnehmung durch Fahrer und Die plötzlich auftretende bspw. krankhafte
Maschine im Fall der eingreifenden Systeme nicht Handlungsunfähigkeit des Fahrers führt gleicher-
außer Acht gelassen werden: Bei eingreifenden Not- maßen zur Abwesenheit menschlicher Kontrolle
fallsystemen ist diese zeitgleiche Aufgabenwahrneh- und rechtfertigt die Einordnung dann wirksamer
mung tatsächlich nicht oder nicht mehr vollständig Systeme (bspw. die sog. Nothalteassistenz) ebenfalls
gegeben. Dem kommt für die Kategorisierung ent- in diese Kategorie (C) – auch wenn die Situation
scheidende Bedeutung zu: In plötzlich auftretenden noch nicht in vergleichbarer Weise als kollisions-
Notsituationen, die als kollisionsnah zu beschreiben nah, sondern allenfalls als abstrakt unfallgeneigt zu
sind, kann der Mensch nur zeitverzögert auf den beschreiben ist. Charakteristisch ist dann jedoch,
Reaktionsanlass hin handeln (sog. Reaktionszeit). In dass in diesen Fällen vom Fahrer keine (wesentli-
diesen Zeiträumen sind die eingreifenden Systeme che) Reaktion mehr zu erwarten ist.
– hier spezieller als Notfallsysteme bezeichnet –
dem Fahrer überlegen und ihre Wirkung unterliegt Diese drei übergeordneten Systemkategorien sind
vorübergehend nicht der menschlichen Kontrolle. in Tabelle (. Abb. 3.1) zusammenfassend darge-
Diese besondere Qualität der eingreifenden Not- stellt:
fallsysteme rechtfertigt ihre Berücksichtigung als Einer vertieften Betrachtung und Klassifizie-
eine eigenständige Systemklasse im Rahmen der rung wurde bislang die hier dargestellte (zweite)
30 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

.. Abb. 3.2 Vereinfachte
1 bast Nomenklatur kontinuier-
licher Fahrzeugautomati-
Vereinfachte Nomenklatur der BASt-Projektgruppe: sierung der BASt-Projekt-
2 • Vollautomatisierung: System übernimmt Quer- und
gruppe
Längsführung vollständig und dauerhaft, bei Ausbleiben

Automatisierungsgrad
3 der Fahrerübernahme wird das System selbsttätig in den
risikominimalen Zustand zurückkehren.
• Hochautomatisierung: System übernimmt Längs- und
4 Querführung, der Fahrer muss nicht mehr dauerhaft
überwachen. Der Fahrer muss die Steuerung erst nach
Aufforderung mit gewisser Zeitreserve übernehmen.
5 • Teilautomatisierung: System übernimmt Quer- und
Längsführung, der Fahrer muss weiterhin dauernd
6 überwachen und die Steuerung ggf. jederzeit übernehmen.
• Assistenz: Fahrer führt dauerhaft entweder die Quer-
oder die Längsführung aus. Die andere Fahraufgabe wird
7 in Grenzen vom System ausgeführt.
• Driver only: Fahrer führt Quer- und Längsführung aus.
8
9 Kategorie B der kontinuierlich automatisierenden Stufe 0  In dieser untersten Stufe des „driver only“
Systeme unterzogen. Im Rahmen und zum Zweck fehlt jedwede Automatisierung – hier steuert alleine
10 der Durchführung einer BASt-Projektgruppe der Fahrer die Längs- und Querführung des Fahr-
„Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisie- zeugs.
rung“ [1] wurden vier verschiedene Automatisie-
11 rungsgrade (zuzüglich Stufe „0“ bei Abwesenheit Stufe 1  Unter Fahrerassistenz als niedrigstem Auto-
von Automatisierung) beschrieben. Diese Eintei- matisierungsgrad werden Systeme verstanden, die
12 lung betrifft ausschließlich die zuvor dargestellte kontinuierlich eine Fahraufgabe automatisieren.
Kategorie B der kontinuierlich wirkenden automa- Der Fahrer führt dabei entweder die Längs- oder
tisierten Systeme. Die Darstellung, . Abb. 3.2, gibt Querführung des Fahrzeugs selbst aus, während die
13 die in der Projektgruppe gemeinsam entwickelte jeweils andere Fahraufgabe in Grenzen automati-
Nomenklatur vereinfacht wieder. siert wird.
14 Der kontinuierliche Anstieg des Automati-
sierungsgrades wurde im Rahmen der BASt-Pro- Stufe 2  Der niedrigste der drei ausdrücklich schon
15 jektgruppe unter Berücksichtigung der jeweils nach der Nomenklatur als „Automatisierung“
eintretenden Veränderung in der Fahraufgabe bezeichneten Automatisierungsgrade ist die Tei-
des Fahrers beschrieben. Die Klassifizierung er- lautomatisierung, wobei das System sowohl die
16 folgte damit zugleich unter dem Gesichtspunkt Längs- als auch die Querführung des Fahrzeugs für
der Aufgabenteilung zwischen Fahrer und System bestimmte Zeiträume oder Situationen übernimmt.
17 bei der Fahrzeugsteuerung und legt damit das be- Dem Fahrer kommt die Aufgabe zu, den umgeben-
reits zur Einteilung in die vorgeschlagenen drei den Verkehr und sein Fahrzeug unverändert und
(übergeordneten) Automatisierungskategorien fortlaufend weiter zu überwachen, um jederzeit
18 angewandte Verständnis nachfolgend zugrunde. zur sofortigen Übernahme der Fahrzeugsteuerung
Dieses wird für die kontinuierlich wirkenden au- – bspw. in Form korrigierender Eingriffe oder voll-
19 tomatisierenden Systeme in verschiedenen Stufen ständiger Übernahme – bereit zu sein. Die höchste
oder Level wie nachfolgend dargestellt weiter un- Ausbaustufe einer Teilautomatisierung fordert vom
20 terschieden: Fahrer daher keinerlei aktive Fahrzeugsteuerung
mehr, sondern nur Beobachtung, mentale Kontrolle
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
31 3

und unmittelbare bedarfsabhängige Korrektur bzw. besondere das von der amerikanischen „National
Übernahme der Fahrzeugsteuerung an den System- Highway Safety Administration“ (NHTSA) veröf-
grenzen sowie im Fehlerfall. fentlichte „Preliminary Statement of Policy Con-
cerning Automated Vehicles“ [5] sowie der von der
Stufe 3  Im Fall des höheren Automatisierungsgrades SAE-International durch das „On-Road Automated
der Hochautomatisierung muss der Fahrer erstmals Vehicle Standards Committee“ (einem Normie-
auch den umgebenden Verkehr und sein Fahrzeug rungsgremium) im Januar 2014 veröffentlichte Stan-
nicht mehr fortlaufend beobachten, sondern braucht dard J3016 „Taxonomy and Definitions for Terms
erst im Falle einer Übernahmeaufforderung durch Related to On-Road Motor Vehicle Automated Dri-
das System zur Übernahme der Fahrzeugsteuerung ving Systems“ [6]. Die Abstufung der Automatisie-
nach einer noch zu bestimmenden, relativ kurzen rungsgrade in die genannten Stufen bzw. Level wird
Vorlaufzeit bereit sein. Systemgrenzen werden in darin verwendet, jedoch ist einschränkend darauf
Stufe  3 alle vom System erkannt, jedoch ist die- hinzuweisen, dass die Begriffsverwendung in den
ses nicht in der Lage, aus jeder Ausgangssituation Stufen bzw. Level 3 und 4 abweicht und eine fünfte
selbsttätig in den risikominimalen Zustand zurück- Stufe (bzw. Level) beschrieben wird. Zur Orientie-
zukehren. Insoweit ist die Rückübernahme der Fahr- rung auf internationaler Ebene wird deshalb emp-
zeugsteuerung durch den Fahrer erforderlich. Dem fohlen, die zuvor beschriebene Nummerierung der
Fahrer ist es jederzeit möglich, die Fahrzeugsteue- Stufen besonders zu berücksichtigen, da diese im
rung unmittelbar wieder selbst zu übernehmen. Unterschied zu der Begriffsverwendung deckungs-
gleich ist und Missverständnisse vermeidet.
Stufe  4  Die Vollautomatisierung stellt den letzten
durch die BASt-Projektgruppe beschriebenen Auto-
matisierungsgrad dar: Auch bei diesem Automati- 3.2 Rechtliche
sierungsgrad muss der Fahrer die Ausführung der Rahmenbedingungen
Fahraufgabe nicht mehr überwachen. Charakteris- und Bewertung
tisch ist hier, dass im Unterschied zur Hochautoma-
tisierung auch bei Ausbleiben der Fahrerübernahme Hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingun-
das System aus jeder Ausgangssituation heraus in der gen hat sich bislang vor allem die BASt-Projekt-
Lage ist, selbsttätig wieder in den risikominimalen gruppe „Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugau-
Zustand zurückzukehren. Auch im Fall der Vollauto- tomatisierung“ [1] mit Systemen der Kategorie B in
matisierung ist dem Fahrer die Übernahme der Fahr- rechtlicher Hinsicht nach deutschem Recht ausei-
zeugsteuerung unmittelbar und jederzeit möglich. nandergesetzt und einige wichtige rechtliche Kon-
sequenzen aufgezeigt, ohne damit einen Anspruch
Nach oben – hinsichtlich eines nochmals höheren auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Darin wurde
Automatisierungsgrades – wurde die Nomenkla- zugleich auf Systeme der eingreifenden Notfallassis-
tur zum Zeitpunkt ihrer Erstellung bewusst offen tenz eingegangen – jedoch teilweise in Widerspruch
gelassen. Hintergrund war das Ziel, nur Automati- zu dem hier vorgeschlagenen Verständnis, wonach
sierungsgrade zu beschreiben, die in der beschrie- diese Systeme der Kategorie C zuzuordnen sind.
benen Ausprägung noch realistisch abzusehen sind. Nachfolgend wird der Versuch einer umfassenden
Der andauernden Diskussion ist zu entnehmen, Beschreibung des aktuellen Wissenstandes über alle
dass voraussichtlich in einer weiteren Stufe (dann: Kategorien unternommen; die rechtliche Bewertung
Stufe 5) ein nochmals höherer Grad an technischer erfolgt dabei unter Konzentration auf Aspekte des
Eigenständigkeit anzunehmen ist, der auch in Abwe- Verhaltens- und Haftungsrechts. Auf die Darstel-
senheit eines Fahrers zum Ausdruck kommen kann. lung weiterer Aspekte wird aufgrund der hier gebo-
Es ist weiterhin festzustellen, dass die interna- tenen Kürze und Übersichtlichkeit der Darstellung
tionale Entwicklung im Bereich der Klassifizierung weitgehend verzichtet; so wird bspw. nicht auf As-
ein gemeinsames Verständnis derzeit im Großen pekte des Strafrechts, des Grundgesetzes etc. ein-
und Ganzen erwarten lässt. Zu nennen sind ins- gegangen.
32 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Das hier behandelte Verhaltensrecht umfasst Verkehrseinrichtungen) den Weg in das Fahrzeug
1 Vorschriften, die ein menschliches Verhalten (der findet. In rechtlicher Hinsicht kann eine solche Ver-
Verkehrsteilnehmer) anordnen. Verhaltensrechtli- netzung des Fahrzeugs den Kreis der haftungsrecht-
2 che Vorschriften im Bereich des Straßenverkehrs lich Verantwortlichen potenziell erweitern. Auch
bestimmen das verkehrsgerechte Verhalten auch dann behält das nachfolgend beschriebene Wirk-
von Fahrern; Haftungsrecht wird hier im weiteren prinzip informierender Systeme aber Gültigkeit.
3 Sinn verstanden als die Pflicht zum Schadensersatz
aufgrund verschiedener Tatbestände. Nachfolgend 3.2.1.1 Verhaltensrechtliche
4 werden vor allem Tatbestände der Schadenser- Betrachtung
satzpflicht im Straßenverkehr und speziell im Fall Verhaltensrechtliche Gesichtspunkte sind für infor-
5 von Produktfehlern betrachtet: Dieser Fokus auf mierende Systeme von vergleichsweise untergeord-
das Verhaltens- und Haftungsrecht erscheint sinn- neter Bedeutung; da die bereitgestellte Information
voll, da Fahrerassistenzsysteme im hier zugrunde für eine kausale Wirkung auf den Geschehensablauf
6 gelegten weiteren Sinn mit unterschiedlicher Ar- stets ein Eingreifen des Fahrers erfordert, entspricht
beitsteilung indirekt oder direkt auf den Regelkreis dies uneingeschränkt dem Leitgedanken der Stra-
7 des Fahrer-Fahrzeugs einwirken. Die auf die Fahr- ßenverkehrsordnung. Dieser besagt, dass die zent-
zeugsteuerung bezogenen Vorschriften sind von rale Rolle der Fahrzeugsteuerung beim Fahrer liegt,
besonderem Interesse, weil sich in einigen Fällen der in dieser Aufgabe durch die Information, die das
8 grundlegende Veränderungen und Widersprüche System bereitstellt, unterstützt wird. Dem Fahrer
– abhängig von der Wirkweise des Systems – aus obliegt aber stets weiterhin die Entscheidung, ob er
9 rechtlicher Sicht aufzeigen lassen. überhaupt und in welcher Weise auf eine Informa-
tion oder Warnung reagiert.
10 3.2.1 Informierende Systeme
Unter dem Blickwinkel des Verhaltensrechts
sind die Ausgestaltung der sog. Mensch-Maschi-
(Kategorie A) ne-Schnittstelle des Systems sowie ihre Verwen-
11 dung durch den Fahrer von Bedeutung, womit
Für die rechtliche Würdigung ist zunächst die cha- ein Bezug zu Vorschriften der Straßenverkehrs-
12 rakteristische Funktionsweise informierender Sys- ordnung (StVO) besteht. So beschreibt etwa § 23
teme zu rekapitulieren: Wie dargelegt, wirken die Abs.  1  StVO die Pflicht der Fahrzeugführenden,
Systeme – da sie fahrerinformierend sind – aus- Sicht und Gehör unter anderem nicht durch „Ge-
13 schließlich mittelbar auf die Fahrzeugsteuerung räte“ zu beeinträchtigen. Die sich hieraus ergeben-
ein, indem sie den Fahrer informieren und warnen; den Anforderungen sind aber im Wesentlichen auf
14 dem Fahrer bleibt die geeignete Handlung überlas- Fälle beschränkt, die deutlich erkennbar nachteili-
sen. Ergänzend ist die Redundanz der Informations- gen Einfluss nehmen. Eine sichtbehindernde An-
15 bereitstellung zu berücksichtigen: Damit soll um- bringung von nachträglich in das Fahrzeug einge-
schrieben werden, inwieweit das System dem Fahrer brachten Systemen – wie sie beispielsweise im Fall
Informationen bereitstellt, die er ohne das System von mobilen Navigationsgeräten vorkommen kann
16 ebenso selbst hätte wahrnehmen können (was den – wird (im Rahmen des fallspezifischen Beurtei-
Regelfall darstellen wird) oder ob die Information lungsspielraums) in diesen Regelungsbereich fallen.
17 den Wahrnehmungshorizont des Fahrers in einem Grundsätzlich lässt die StVO nach aktuellem Stand
Bereich erweitert, der sich seiner unmittelbaren die Verwendung informierender Systeme in Eigen-
Wahrnehmung entzieht. verantwortung des Fahrers jedoch weitgehend zu –
18 Hier wird nicht darauf eingegangen, wo Infor- jedenfalls solange diese nicht dazu bestimmt sind,
mationen oder Warnungen erzeugt werden, ob sie Verkehrsüberwachungsmaßnahmen anzuzeigen
19 also fahrzeugautonom sind (bspw. auf fahrzeugeige- oder zu stören (§ 23 Abs. 1b StVO) oder die Geräte
ner Sensorik basieren) oder ob die Information über eine Telekommunikationsfunktion aufweisen und
20 eine Kommunikation mit anderen Einrichtungen diese zur Benutzung in der Hand gehalten werden
(in dritten Fahrzeugen oder in hierfür ausgerüsteten (§ 23 Abs. 1a StVO).
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
33 3

Hinsichtlich einer Ausgestaltung der Mensch- nicht unbemerkt geblieben sein kann, und keine
Ma­schine-Schnittstelle existieren Vorschriften nur Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Funktion
in Form einer rechtlich unverbindlichen EU-Emp- im Einzelfall gestört war.
fehlung, dem Europäischen Grundsatzkatalog zur
Mensch-Maschine-Schnittstelle (bzw. „European 3.2.1.2 Haftungsrechtliche
Statement of Principles“ (ESoP)) [7]. Die Empfeh- Betrachtung
lungen darin sind allgemein gehalten und lassen In haftungsrechtlicher Hinsicht ist die Mittelbarkeit
den Herstellern von informierenden Systemen die der Wirkung informierender und warnender Assis-
notwendigen Freiheiten bei der Gestaltung (i.  S. tenzsysteme ebenso von zentraler Bedeutung wie
einer Berücksichtigung wirtschaftlich notwendiger schon für die verhaltensrechtlichen Aspekte. Haf-
Differenzierungsmerkmale gegenüber anderen Her- tungsrechtlich ist sowohl unter dem Gesichtspunkt
stellern). Die Empfehlungen formulieren abstrakt, der Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB als
welche Gestaltungsziele unter dem Gesichtspunkt auch nach dem Produkthaftungsgesetz zunächst ent-
der Verkehrssicherheit zu berücksichtigen sind. Wie scheidend, ob ein Produkt als fehlerhaft einzuordnen
im Grundsatzkatalog zur Mensch-Maschine-Schnitt- ist. Heranzuziehen ist dabei die (objektiv zu ermit-
stelle einleitend formuliert, handelt es sich um Min- telnde) Darbietung des Produkts, die die berechtigte
destanforderungen, die ergänzend der Berücksichti- produktbezogene Erwartung bestimmt (vgl. § 3 Abs. 1
gung von – dort zumeist zitierten – Normen sowie lit. a) Produkthaftungsgesetz). Hierzu gehört unter
der nationalen Gesetzgebung bedürfen. Zu den weni- anderem die Bedienungsanleitung, die das System be-
gen darin enthaltenen Gesichtspunkten, die eine ver- schreibt (ebenso wie Werbeaussagen etc.). Wird – wie
bindliche Regelung möglich erscheinen lassen, und regelmäßig zu erwarten – im Fall informierender und
den damit verbundenen Herausforderungen, vgl. [8]. warnender Systeme beschrieben, dass dem Fahrer die
Hinsichtlich der Bußgeldbewehrung einzelner Aufgabe zukommt, bei Systemausfall, im Fehlerfall
Vorschriften der StVO ist auf eine Besonderheit hin- etc. geeignet zu reagieren, ist sehr fraglich, inwieweit
zuweisen, die sich letztlich aus der Redundanz der ausbleibende und fehlerhafte Warnungen und Infor-
Informationsbereitstellung ergibt; beispielsweise bei mationen überhaupt einen produkthaftungsrechtlich
einer Geschwindigkeitsübertretung im Fall von in- relevanten Anspruch begründen können. Die Inst-
formierenden Systemen – wenngleich eher theore- ruktion bestimmt dann nämlich in hohem Maße,
tisch. Wird der Fahrer auf eine aktuelle Übertretung welche Sicherheitserwartungen berechtigt sind. Im
verhaltensrechtlicher Vorgaben (etwa der geltenden Fall von Redundanz durch parallele Informationsauf-
Höchstgeschwindigkeit) durch ein informierendes nahme durch Fahrer und Assistenzsystem ist nicht
System aufmerksam gemacht (zusätzlich zu der für erkennbar, weshalb es dem Fahrer nicht möglich sein
ihn bereits wahrnehmbaren oder gesetzlich vorge- sollte, aufgrund eigener Informationen Fehler des As-
schriebenen Anordnung), sprechen die Indizien sistenzsystems auszugleichen.
zunächst dafür, dass eine vorsätzliche Übertretung Dies ist jedenfalls im Fall redundant-parallel
vorliegt (jedenfalls, wenn die Übertretung nach wirkender Assistenzsysteme plausibel, also dann,
der Warnung fortdauert). Da die Bußgeldkatalog- wenn dem Fahrer nur Informationen bereitgestellt
verordnung (BKatV) in vielen Fällen von fahrlässi- werden, die er ebenso selbst wahrnehmen kann.
ger Begehungsweise ausgeht, wären die Regelsätze Anders könnten insoweit Systeme zu bewerten
gemäß § 1 BKatV i. V. m. der Anlage, Abschnitt I sein, die die Informationslage des Fahrers in Berei-
gemäß § 3 Abs. 4a BKatV wegen vorsätzlicher Be- chen erweitern, die sich im relevanten Zeitpunkt
gehungsweise grundsätzlich zu verdoppeln. Dies der Informationsaufnahme und Handlungsaus-
entspricht insoweit auch der Vorgabe aus § 17 Abs. 2 führung der Wahrnehmung entziehen. In diesem
des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG). Fall ist nicht mehr in gleicher Weise von redun-
Hierfür könnte ausreichen, dass die Existenz eines dant-paralleler Aufgabenausführung auszugehen,
solchen Systems im Fahrzeug bekannt ist, die Funk- vielmehr bekommt die Information oder Warnung
tion so ausgestaltet ist, dass die Information vom als Grundlage für eine Steuerungshandlung eine an-
gewöhnlichen Fahrer in einer solchen Situation dere Qualität. Die zuvor beschriebenen berechtigten
34 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Erwartungen eines Fahrers lassen sich möglicher- 3.2.2.1 Verhaltensrechtliche


1 weise nicht in entsprechender Weise einschränken, Bewertung
so dass den Umständen des Einzelfalls hier insoweit Aus verhaltensrechtlicher Sicht sind grundlegend
2 entscheidende Bedeutung zu kommt. zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden: Einerseits
Für die sog. kooperativen Systeme ist die be- die Pflichten des Fahrzeugführers, das Fahrzeug je-
schriebene Wirkung mittelbarer Informationsbe- derzeit zu beherrschen, andererseits die (sehr kon-
3 reitstellung gleich, solange kein Fall der genannten krete) Frage nach der Pflicht eines Fahrzeugführers
fehlenden Redundanz vorliegt; auch hier wirkt sich zu beidhändiger Lenkung.
4 die Mittelbarkeit von Informationen und Warnun-
gen aus [9]. Die Frage einer möglichen Ausweitung Pflicht des Fahrzeugführers
zur Fahrzeugbeherrschung
5 des Kreises potenziell zur Haftung Verpflichteter
ist davon unabhängig und einzelfallbezogen zu be- Die Pflicht des Fahrzeugführers zur Fahrzeugbe-
rücksichtigen, ohne dass hierauf im vorliegenden herrschung findet sich ausdrücklich nur in § 3 der
6 Zusammenhang eingegangen werden kann. Straßenverkehrsordnung (StVO): Dort wird der
Fahrer verpflichtet, nur so schnell zu fahren, dass
7 er sein Fahrzeug „ständig beherrscht“ (§ 3 Abs. 1
3.2.2 Kontinuierlich wirkende Satz  1  StVO). Fahrer müssen demnach ihr Fahr-
automatisierende Systeme zeug stets „in der Hand haben“ und die Geschwin-
8 (Kategorie B) digkeit ist deshalb so zu wählen, dass subjektive
(Fahrfertigkeit, Fahrerfahrung etc.) und objektive
9 Die kontinuierlich wirkenden automatisierenden Gesichtspunkte (Fahrbahnzustand, Witterung,
Systeme der Kategorie B wurden in rechtlicher Streckenverlauf etc.) erwarten lassen, dass sie al-
10 Hinsicht durch die BASt-Projektgruppe unter len auftretenden, nicht völlig unwahrscheinlichen
Zugrundelegung der beschriebenen Automatisie- „Verkehrslagen […] gerecht […] werden“ [10]. Das
rungsstufen (vgl. ▶ Abschn. 3.1) bewertet [1]. Hin- der Straßenverkehrsordnung zugrunde liegende
11 sichtlich der nachfolgend dargestellten Ergebnisse Leitbild wird u. a. auch durch die Grundregel für
ist einleitend darauf hinzuweisen, dass die rechtli- jegliches Verkehrsverhalten, dem Vorsichts- und
12 che Bewertung von Funktionen, die – wenngleich Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 1 StVO geprägt,
nur vorübergehend – unabhängig von menschlicher welches bei der Interpretation aller speziellen an
Kontrolle steuern, nach geltendem Recht nur dann den Fahrzeugführer gerichteten Verhaltensgebote
13 widerspruchsfrei möglich ist, wenn sie mit der gel- und -verbote zu beachten ist [11]. Es erfasst auch
tenden Rechtsordnung insgesamt vereinbar sind. grundlegend jede nicht spezieller geregelte Ver-
14 Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse zeigen, nachlässigung von Fahraufgaben durch den Fahr-
dass ab Stufe 3, der Hochautomatisierung, dies un- zeugführer. Solche Verhaltensgebote finden sich
15 ter einigen Aspekten nicht der Fall ist. Die nachfol- in den nachfolgenden, spezielleren Vorschriften
gende Einzelbetrachtung hat dennoch ihren Wert der Straßenverkehrsordnung (Abstandsverhalten,
darin, Widersprüche aufzudecken und darzustellen, §  4  StVO; Überholen, §  5  StVO usw.). Den Vor-
16 welche Gesichtspunkte in rechtlicher Hinsicht min- schriften ist gemeinsam, dass sie sich an die Ver-
destens lösungsbedürftig sind. kehrsteilnehmer richten, soweit hier von Bedeutung
17 Die gemeinsame Bewertung der Projektgruppe also insbesondere an Fahrer von Kraftfahrzeugen
konzentrierte sich bislang auf die rechtlichen Aspekte im öffentlichen Straßenverkehr. Diese Vorschriften
des Verhaltensrechts sowie des Haftungsrechts, ohne dienen zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit
18 damit Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Viel- und Ordnung (vgl. § 6 Abs. 1 Ziff. 3 StVG).
mehr war bei Abfassung des Berichts bekannt, dass Der Begriff der Fahrzeugbeherrschung findet
19 weitere Aspekte – wie etwa die ausdrücklich genann- sich auch im Wiener Übereinkommen über den
ten Aspekte des Fahrerlaubnisrechts – hinzu treten. Straßenverkehr [12], welches die Zulassung von
20 Diese Beschränkung war aufgrund des bei Ausschrei- Fahrern und Fahrzeugen zum grenzüberschreiten-
bung absehbaren Standes der Technik sachgerecht. den Verkehr näher regelt (grenzüberschreitender
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
35 3

Bezug wird in nationalen Gesetzen bspw. in der fluss auf die Fahrzeugsteuerung nehmen. Insoweit
Anerkennung internationaler Führerscheine nach werden Aufgaben von technischen Systemen aus-
Art.  41 und Anhang  7 des Wiener Übereinkom- geführt, die nach zugrunde liegenden Annahmen
mens durch § 29 Abs. 2 Fahrerlaubnisverordnung sowohl der deutschen Straßenverkehrsordnung
(FeV) deutlich). In Artikel 13 Abs. 1 des Wiener wie auch des Wiener Übereinkommens (ohne dies
Übereinkommens wird gefordert, dass der Fahrer allerdings ausdrücklich festzustellen) allein dem
„unter allen Umständen sein Fahrzeug beherrschen“ Fahrer zugeordnet sind. Die Systeme übernehmen
können soll, „um den Sorgfaltspflichten genügen zu folglich – mit sehr unterschiedlicher Reichweite und
können und um ständig in der Lage zu sein, alle ihm abhängig vom Automatisierungsgrad – Aufgaben
obliegenden Fahrbewegungen auszuführen“. Die hier bei der Fahrzeugsteuerung, die nach den Vorstel-
gewählte Formulierung erfasst – insoweit § 3 StVO lungen des Gesetzgebers bzw. der Vertragsparteien
vergleichbar – das Geschwindigkeits- und Ab- allein dem Fahrer obliegen. Insoweit ist nach dem
standsverhalten des Fahrers als eine an ihn gerich- hier vertretenen Standpunkt zu untersuchen, inwie-
tete Verpflichtung. Im Anwendungsbereich weiter weit Systeme, welche solche steuerungsrelevanten
ist folglich Art. 8 des Wiener Übereinkommens rele- Aufgaben des Fahrers übernehmen, dem gesetzli-
vant, der in Absatz 1 bestimmt, dass jedes Fahrzeug chen bzw. vertraglichen Leitbild noch entsprechen.
einen „Führer“ haben muss und in Absatz 5 vorgibt, Dieses Vorgehen erscheint sinnvoll, weil die tech-
dass „jeder Führer (…) dauernd sein Fahrzeug be- nischen Vorschriften sich (bislang mit sehr weni-
herrschen (…) können [muss]“. Der „Führer“ wird in gen, eng umgrenzten und nur vereinzelt geregelten
Art. 1 lit. v) des Wiener Übereinkommens definiert, Ausnahmen im Bereich elektronischer Brems- und
als „(…) jede Person, die ein Kraftfahrzeug oder ein Lenksysteme) nicht auf steuerungsrelevante Vor-
anderes Fahrzeug (Fahrräder eingeschlossen) lenkt gänge beziehen.
(…)“. Sowohl Art.  8 als auch Art.  13 des Wiener
Übereinkommens befinden sich im „Kapitel II Ver- Fahrerassistenzsysteme (Stufe 1)
kehrsregeln“ und richten sich somit an diejenigen, Nach den zuvor dargestellten Begriffsbestimmun-
die Fahrzeuge führen. gen übernehmen Fahrerassistenzsysteme der Ka-
Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der tegorie B entweder nur Längs- oder Querführung
Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen wurde des Fahrzeuges, während der Fahrer den jeweils
auf Folgendes hingewiesen: Wenn nicht übersteu- anderen Teil der Fahraufgabe ausführt. Es ist
erbare Systeme zugelassen würden, die es dem wichtig zu verstehen, dass hier selbst die automa-
Fahrer unmöglich machen, sich pflichtgemäß zu tisierte Fahraufgabe nur eingeschränkt durch das
verhalten [3, 13] würde dies einen Widerspruch Fahrerassistenzsystem ausgeführt wird („in Gren-
zur Fahrzeugbeherrschung darstellen. Die hier be- zen“). Als Beispiel zur Veranschaulichung mag in-
trachteten Systeme der kontinuierlich automatisie- soweit die eingeschränkte maximale Beschleuni-
renden Systeme (Kategorie B) werden und können gungs- oder Verzögerungsleistung einer adaptiven
jederzeit übersteuerbar ausgelegt werden, so dass Geschwindigkeitsregelung (ACC; vgl. ▶ Kap. 46)
unter diesem Gesichtspunkt kein Widerspruch zur dienen oder die aufgebrachten Lenkmomente eines
Fahrzeugbeherrschung durch den Fahrzeugführer Spurhalteassistenten (vgl. ▶ Kap. 49), die begrenzt
entsteht. sind.
Zunächst ist auch grundlegend zu hinterfragen, Systeme der ersten Stufe, Fahrerassistenz, über-
inwieweit diese Vorschriften der Straßenverkehrs- lassen die Fahrzeugführung somit sehr weitgehend
ordnung und des Wiener Übereinkommens über- dem Fahrzeugführer und sind zudem jederzeit
haupt Wirkung für Fahrerassistenzsysteme und die übersteuerbar. Macht ein Fahrer von diesen Sys-
Fahrzeugautomatisierung ausüben können. Geht temen, die zumeist seinen Komfort erhöhen, be-
man vom Anwendungsbereich der Systeme aus, stimmungsgemäß Gebrauch, muss er einerseits
wird man feststellen, dass die vorliegenden Systeme die jeweils nicht automatisierte Fahraufgabe weiter
der kontinuierlichen Fahrzeugautomatisierung ausführen. Andererseits obliegt ihm die Aufgabe,
„eingreifend“ ausgelegt sind und unmittelbaren Ein- das System ständig in seinem Steuerungsverhalten
36 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

bezogen auf die automatisierte Fahraufgabe (Längs- lich wird. Wie im Fall von Fahrerassistenz ist ihm
1 oder Querführung) zu überwachen und zu korrigie- dies technisch jederzeit möglich. Dass im Fall der
ren. Fahrerassistenzsysteme weisen Systemgrenzen Teilautomatisierung die Steuerung des Fahrzeugs
2 auf, die erst im Zusammenwirken mit dem Fahrer nur im Fall der Korrektur oder Übernahme durch
eine sichere Fahrzeugsteuerung erlauben. Hinzu ein aktives Tun erfolgt und im Übrigen durch ein
kommt, dass der Fahrer nach der heute gewählten Unterlassen, schadet nicht: Letztlich handelt es sich
3 Auslegung von Fahrerassistenzsystemen als Rück- bei aktivem Tun wie bei einem Unterlassen nur „um
fallebene im Fall eines Systemfehlers dient. Die kon- unterschiedliche Erscheinungsformen willensgetra-
4 kret erforderliche Aufgabenausführung des Fahrers genen Verhaltens“ [15]. Da der Fahrer aufgrund
bei der Fahrzeugsteuerung verändert sich bei der fortlaufender Überwachung die Kontrolle über das
5 Nutzung von Fahrerassistenzsystemen hinsichtlich Fahrzeug nicht verliert, lässt sich der bestimmungs-
der aktiven Ausführung der vom System übernom- gemäße Gebrauch von Systemen der Teilautomati-
menen Aufgabe. Unverändert bleibt die Pflicht des sierung ebenfalls widerspruchsfrei mit seinen Fah-
6 Fahrers, alle steuerungsrelevanten Informationen rerpflichten gemäß der Straßenverkehrsordnung
parallel zum System aufzunehmen: Dem Fahrer vereinbaren.
7 ist es dadurch jederzeit möglich, die Steuerung des
Fahrzeugs zu übernehmen, da er im Übrigen auch Hochautomatisierung (Stufe 3)
technisch eine übergeordnete Rolle gegenüber dem Im Fall der Hochautomatisierung könnte der Fah-
8 System einnimmt. Steuerungsvorgänge durch den rer nach den getroffenen Begriffsbestimmungen
Fahrer „übersteuern“ stets das System, was sich wi- auch ohne fortlaufende Überwachung des Steue-
9 derspruchsfrei mit den Pflichten des Fahrers aus der rungsverhaltens das System bestimmungsgemäß
Straßenverkehrsordnung vereinbaren lässt. verwenden. Der Fahrer ist allerdings gefordert, die
10 Teilautomatisierung (Stufe 2)
Fahrzeugsteuerung nach Übernahmeaufforderung
durch das System innerhalb einer bestimmten Vor-
Der Begriff der Teilautomatisierung bezeichnet laufzeit zu übernehmen, weil das Fahrzeug zwar
11 nach den zuvor dargestellten Begriffsbestimmungen die Systemgrenze erkennt und den Fahrer dann zur
Systeme, die sowohl Längs- als auch Querführung Übernahme auffordert, jedoch nicht in der Lage ist,
12 des Fahrzeugs übernehmen, während der Fahrer aus jeder Ausgangssituation selbsttätig in den risi-
das Steuerungsverhalten des Systems fortlaufend kominimalen Zustand zurückzukehren.
überwacht. Soweit die Steuerung durch das System Der technische Aufwand für die Realisierung ei-
13 nicht mehr dem Fahrerwillen entspricht, korrigiert ner Hochautomatisierung ist groß. Ein Nutzen für
oder übernimmt der Fahrer. den Fahrzeugführer (als Komfortgewinn) resultiert
14 Die Veränderung der Fahraufgabe des Fahrers nur dann, wenn es dem Fahrer möglich ist, die für
ist insoweit erheblich, als der Fahrer in der höchs- die Bewertung des Steuerungsverhaltens des Systems
15 ten Ausbaustufe von Systemen dieses Automati- notwendige Informationsaufnahme einzustellen.
sierungsgrades bereits nicht mehr aktiv die Fahr- Die Straßenverkehrsordnung sieht keinen Fall vor,
zeugsteuerung ausführen muss. Das System ist der einem Fahrer erlaubt, sich während der Fahrt
16 aber – insofern den Fahrerassistenzsystemen gut von der Fahrzeugführung abzuwenden. Erfolgt dies
vergleichbar – noch so ausgelegt, dass dem Fahrer dennoch, entfällt die Fahrzeugbeherrschung durch
17 die Aufgabe zukommt, das Steuerungsverhalten den Fahrer mindestens vorübergehend: Es ist nicht
des Systems an Systemgrenzen und als Rückfal- davon auszugehen, dass der Fahrer dann weiterhin
lebene im Fehlerfall zu ergänzen. Dazu muss der unmittelbar in der Lage ist, die Fahrzeugsteuerung
18 Fahrer – wie im Fall von Fahrerassistenz, Stufe 1 zu übernehmen; erste Untersuchungen belegen dies
– alle für die Steuerung des Systems relevanten In- [15]. Es ist daher unter tatsächlichen Gesichtspunk-
19 formationen parallel aufnehmen. Nur dadurch ist ten nicht mehr von einer Fahrzeugbeherrschung
es ihm möglich, bestimmungsgemäß vom System durch den Fahrer auszugehen, wenn dieser sich ab-
20 Gebrauch zu machen und die Steuerung zu über- wendet (und diese Abwendung sich zeitlich nicht
nehmen oder zu korrigieren, wenn dies erforder- als völlig untergeordnet darstellt und gegebenenfalls
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
37 3

ausdrücklich vorgesehen ist – wie bspw. im Fall der mehr für eine Übernahme der Fahrzeugsteuerung
Rückschau zum nachfolgenden Verkehr im Rahmen zur Verfügung zu stehen braucht, da das System
des Abbiegens gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO). von sich aus in der Lage ist, in den risikominimalen
Aus rechtlicher Sicht liegt bei relevanter Abwen- Zustand zurückzukehren. Wie bei der Hochautoma-
dungszeit des Fahrers keine willensgetragene Hand- tisierung kann sich der Fahrer anderen Tätigkeiten
lung mehr in der Fahrzeugsteuerung. Im Unter- zuwenden, die noch nicht näher bestimmt worden
schied zur Teilautomatisierung handelt es sich hier sind. Dem Fahrer ist jedoch weiterhin möglich, die
nicht mehr ausschließlich um ein Unterlassen akti- Fahrzeugsteuerung jederzeit zu übernehmen.
ven Handelns, sondern um ein Verhalten des Fah- Aus rechtlicher Sicht entfällt – wie schon im Fall
rers, welches keinen Bezug mehr zu der Fahrzeug- der Hochautomatisierung – die Fahrzeugbeherr-
steuerung aufweist und sich somit nicht mehr als schung durch den Fahrer, soweit sich der Fahrer
menschliches Steuerungsverhalten einordnen lässt. bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Systems
Vielmehr handelt es sich während einer hochauto- von der Fahrzeugsteuerung abwendet. Auch im Fall
matisierten Fahrt um eine ausschließlich maschi- der Hochautomatisierung liegt dann in der Fahr-
nelle Fahrzeugführung: Sobald der Fahrzeugfüh- zeugsteuerung keinerlei willensgetragene Hand-
rer seine Aufmerksamkeit von der Fahrbahn- und lung des Fahrers mehr, sondern eine ausschließlich
Verkehrsbeobachtung abwendet, kann er das Steu- maschinelle Fahrzeugsteuerung, die ebenfalls nicht
erungsverhalten des Systems (das möglicherweise mehr als (menschlich) „redundant-parallele“ Form
durch andere Sinne teilweise wahrnehmbar bleibt) der Arbeitsteilung eingeordnet werden kann. Ge-
nicht mehr mit der konkreten Weiterentwicklung mäß der Straßenverkehrsordnung ergibt sich auch
der Verkehrssituation auf der Straße abgleichen. hier eine grundlegende Unvereinbarkeit mit den
Der menschliche Wille ist gerade nicht mehr mit Pflichten des Fahrzeugführers.
konkretem Bezug zur Fahrzeugsteuerung auf der
Straße versehen: Dies spricht sehr klar für ein voll- Pflicht des Fahrers zu beidhändiger
ständiges Fehlen der menschlichen Handlung in Lenkung
der konkreten Steuerungssituation (jedenfalls bei Ausdrücklich geregelt ist in der Straßenverkehrs-
bestimmungsgemäßem Gebrauch der Hochauto- ordnung nur, dass Fahrer einspuriger Fahrzeuge –
matisierung durch den Fahrer ohne fortlaufende Fahrradfahrer und Kraftradfahrer – nicht freihändig
Überwachung der Steuerung durch das System). Bei fahren dürfen, vgl. § 23 Abs. 3 S. 2 Straßenverkehrs-
einer derartigen Nutzung des Systems ist auch nicht ordnung. Eine vergleichbare Anordnung erfolgte
mehr von einer „redundant-parallelen“ Form der für Fahrer zweispuriger Fahrzeuge nicht, so dass
Arbeitsteilung auszugehen. Der Fahrer beobachtet es für die analoge Anwendung dieses Verbots an
das Steuerungsverhalten des Systems nicht mehr, es der Planwidrigkeit der Regelungslücke fehlt (§ 23
fehlt an der Ausführung einer auf die Fahrzeugfüh- Straßenverkehrsordnung regelt die sonstigen Pflich-
rung bezogenen Aufgabe. Die Fahrzeugführung ist ten, u. a. auch die von Fahrern mehrspuriger Fahr-
dann nicht mehr – durch den Fahrer – redundant zeuge, während das Verbot freihändigen Fahrens
oder in der konkreten Situation als parallel zu be- ausdrücklich auf die genannten Fahrer einspuriger
schreiben, da der Fahrer als Regler entfällt. Fahrzeuge beschränkt ist).
Bei Betrachtung unter verhaltensrechtlichen As- Eine Pflichtwidrigkeit freihändigen Fahrens im
pekten ergibt sich deshalb eine grundlegende Un- Fall eines mehrspurigen Fahrzeugs ergibt sich viel-
vereinbarkeit in rechtlicher Hinsicht; dies betrifft mehr aus § 1 Abs. 1 StVO: Dem liegt die Annahme
auch die Pflichten des Fahrers gemäß der Straßen- zugrunde, dass ein Verstoß gegen das Gebot ständi-
verkehrsordnung. ger Vorsicht und Rücksichtnahme auch darin liegen
kann, nicht beidhändig zu lenken. Diese Pflichtwid-
Vollautomatisierung (Stufe 4) rigkeit ist allerdings – ohne Hinzutreten einer kon-
Im Fall der Vollautomatisierung kommt gegenüber kreten Gefährdung gemäß § 1 Abs. 2 StVO – nicht
der Hochautomatisierung hinzu, dass der Fahrer verboten (und auch nicht ordnungswidrig i.  S.  v.
selbst nach einer Übernahmeaufforderung nicht § 24 StVG) [11].
38 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Hier eine Pflichtwidrigkeit anzunehmen, ist zwei Aspekte zu berücksichtigen: die Haftung (vor
1 folgerichtig, wenn man Fahrzeuge zugrunde legt, allem) nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und
die heutzutage im Straßenverkehr verwendet wer- die Haftung des Herstellers für fehlerhafte Produkte.
2 den: Es handelt sich in aller Regel um Fahrzeuge,
die Lenksysteme der Stufen 0 und 1 („driver only“ Haftung nach dem StVG
und assistiert) aufweisen. Bereits aufgrund der zu- Die zivilrechtliche Haftung des Fahrzeughalters
3 vor getroffenen Begriffsbestimmung wird deutlich, nach § 7 Abs. 1 StVG ordnet die haftungsrechtliche
dass selbst im Fall eines Fahrerassistenzsystems die Verantwortung für die Betriebsgefahr eines Kraft-
4 Automatisierung nur „in Grenzen“ erfolgt, so dass fahrzeugs dem Halter zu; die Betriebsgefahr umfasst
der Fahrer an Systemgrenzen und bei Systemausfall dabei sowohl Fahrfehler des Fahrzeugführers als
5 korrigierend eingreifen muss. Somit liegt die An- auch technische Defekte. Es ist anzunehmen, dass
nahme einer Pflichtwidrigkeit im Fall freihändigen auch der technische Defekt einer automatischen
Fahrens nahe, soweit Systeme Verwendung finden, Steuerung des Fahrzeugs – unabhängig vom Au-
6 die zur Bewältigung von Systemgrenzen und bei tomatisierungsgrad – ohne weiteres zur Betriebs-
Systemausfall ein Eingreifen des Fahrers ohne jeden gefahr zu rechnen ist, denn § 7 Abs. 1 StVG fasst
7 zeitlichen Verzug erfordern. Finden solche Systeme den „Fahrzeugbetrieb“ weit [3]. Letztlich sind die
Verwendung, ist das Fahren „Hands-off “ voraus- Anforderungen an den vom Geschädigten zu füh-
sichtlich ebenso pflichtwidrig wie das freihändige renden Beweis im Rahmen der Halterhaftung am
8 Fahren ohne Verwendung eines automatisierenden niedrigsten, weil nur der Betrieb des Fahrzeugs und
Lenksystems der Kategorie B. die kausale Schadensverursachung durch den Ge-
9 Fraglich bleibt jedoch, inwieweit eine Pflicht- schädigten bewiesen werden muss.
widrigkeit des Fahrens „Hands-off “ dann anzuneh- Neben dem Fahrzeughalter haftet in Fällen des
10 men ist, wenn ein Lenksystem alle sehr kurzfristig §  7 Abs.  1  StVG auch der Fahrzeugführer nach
wirkenden Störungen selbsttätig bewältigen kann § 18 StVG – wie im Übrigen auch gemäß § 823
oder die Auswirkungen in der konkreten Situation Abs. 1 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB zumeist i. V. m.
11 geringfügig bleiben. der StVO als Schutzgesetz, was hier nicht weiter
Wenn sich daher im Einzelfall eines höher au- vertieft wird. Nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG wird da-
12 tomatisierten Lenksystems im Zusammenwirken bei gegen den Fahrzeugführer gesetzlich vermutet,
mit einem Fahrer, der „Hands-off “ fährt, ergibt, schuldhaft bei der Fahrzeugführung gehandelt zu
dass alle Situationen ebenso gut beherrscht wer- haben. Das lässt sich bis einschließlich Automa-
13 den, wie dies im Fall des Fahrens „Hands-on“ der tisierungsgrad der Stufe 2 (Teilautomatisierung)
Fall ist, wäre nicht erkennbar, worin dann eine widerspruchsfrei anwenden. Bezüglich höherer
14 Pflichtwidrigkeit liegt. Eine vergleichbare Situation Automatisierungsgrade der Stufen 3 oder höher
kann dann eintreten, wenn die konkrete Fahrsitu- (ab Hochautomatisierung) erscheint die Verschul-
15 ation durch den Fahrer an Systemgrenzen und im densvermutung gegen den Fahrzeugführer jedoch
Fehlerfall „Hands-off “ noch ebenso gut bewältigt nicht mehr in allen Fällen sachgerecht: Bei einem
wird, wie dies „Hands-on“ möglich wäre – bspw. bei allein unfallursächlichen Fehlverhalten Dritter
16 sehr niedriger Geschwindigkeit (wie dies heute bei kann dem Fahrzeugführer bei konventioneller
Gebrauch von Systemen der Parklenkassistenz der Fahrzeugführung der Stufe 0 („driver only“) bis
17 Fall ist) oder erheblicher Fahrstreifenbreite und der einschließlich teilautomatisierter Fahrzeugführung
Abwesenheit anderer Verkehrsteilnehmer, die durch der Stufe 2 („teilautomatisiert“) zugemutet werden,
eine Systemgrenze oder den Systemausfall gefährdet sich von der Verschuldensvermutung durch den
18 werden könnten. Nachweis des Fehlverhaltens zu entlasten. Diese
Automatisierungsgrade erfordern seitens des
19 3.2.2.2 Haftungsrechtliche Fahrzeugführers laufende Verkehrsbeobachtung
Bewertung und (in den Stufen 1 und 2) eine Überwachung
20 In haftungsrechtlicher Hinsicht sind im Fall kon- der Systemregelung und gegebenenfalls eine sofor-
tinuierlich automatisierender Systeme vor allem tige Fehlerkorrektur bzw. Übersteuerung. Damit
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
39 3

kann vom Fahrer aber jederzeit erwartet werden, verträgen – auch zukünftige automatische Systeme,
ein unfallursächliches Fehlverhalten eines Dritten die von der Fahrzeug-Typgenehmigung (sodann)
zu beobachten und er wird hierzu Angaben ma- erfasst werden, mitversichert sein. Auch hierfür
chen können. wäre Grundvoraussetzung, dass die Rahmenbedin-
Grundlegend anders ist die Situation bei den gungen für den intendierten Gebrauch von Syste-
höheren Automatisierungsgraden ab der Hochau- men ab dem Automatisierungsgrad der Hochauto-
tomatisierung (Stufen 3 und höher), da der Fah- matisierung (Stufe 3 und höher) geschaffen werden.
rer – unter der Annahme, diese Nutzung wäre
überhaupt verhaltensrechtlich zulässig, vgl. zuvor Haftung des Herstellers für fehlerhafte
▶ Abschn. 3.2.2.1 – nicht in allen Fahrabschnitten Produkte
zu aufmerksamer Verkehrsbeobachtung verpflichtet Abgesehen von Ansprüchen gegen den Hersteller
ist. Die Aufgaben des Fahrers beschränken sich bei aufgrund von vertraglicher Haftung, die hier nicht
Nutzung einer Hochautomatisierung (Stufe 3) auf näher behandelt werden sollen, existiert eine Haf-
die Bereitschaft zur Rückübernahme der Fahrzeug- tung des Herstellers auch gegenüber jedem Dritten
steuerung nach einer angemessenen Vorlaufzeit. für Schäden, die kausal auf einem Produktfehler
Der Fahrer ist somit von jeder aktiven Fahrzeug- beruhen. Als relevante Anspruchsgrundlagen kom-
steuerung befreit und kann – solange er nicht aktiv men hier entweder die (verschuldensunabhängige)
das System übersteuert oder die Rückübernahme Gefährdungshaftung nach dem Produkthaftungs-
unterlässt – von vornherein während automatisier- gesetz oder die Produzentenhaftung nach §  823
ter Phasen nicht schuldhaft handeln. Hinzu kommt, Abs. 1 BGB (bzw. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem
dass der Fahrer, der sich bei bestimmungsgemäßer Schutzgesetz) in Betracht. Letztere löst eine Haftung
Verwendung des hochautomatisierten Systems wegen schuldhafter Verletzung einer Verkehrssiche-
(Stufe 3) abwendet, das Fehlverhalten eines Dritten rungspflicht bei In-Verkehr-Bringen des fehlerhaf-
nicht beobachten kann und somit mit dem Nach- ten Produkts aus, wenn der Schaden kausal auf der
weis belastet ist, dass zum Zeitpunkt des Zustande- Fehlerhaftigkeit beruht. Beide Anspruchsgrundla-
kommens des Unfalls eine automatische Steuerung gen haben sich inzwischen – auch aufgrund einer
aktiviert war. Beweislastumkehr im Rahmen des Verschuldenser-
Diese Situation ist aufgrund der nicht mehr fordernisses der Produzentenhaftung – weitgehend
gerechtfertigten gesetzlichen Vermutung wider- angenähert, so dass es sich erübrigt, hier auf die
sprüchlich, aber nicht untragbar, weil dem Fahrer Besonderheiten im Detail einzugehen.
der Entlastungsbeweis – gegebenenfalls unter Zu- Die Fehlerhaftigkeit ist der zentrale Begriff
hilfenahme technischer Mittel – zivilrechtlich ge- der Produkthaftung und muss vom Geschädigten
lingen kann. Zudem ist die Situation nicht grund- nachgewiesen werden. Automatisierende Systeme
legend anders zu bewerten als bei konventioneller setzen ab Stufe 1, assistiert, bis zu Stufe 3, hochau-
Fahrzeugführung („driver only“, Stufe  0), wenn tomatisiert, ein Zusammenwirken mit dem Fahrer
ein unfallursächliches Verschulden eines Dritten voraus, damit es zu einer sicheren Fahrzeugführung
zivilrechtlich nicht beweisbar ist. Durch die Mit- kommt. Dies ist notwendige Folge der Arbeitstei-
versicherung des Fahrzeugführers in der Kraftfahr- lung in der Fahrzeugführung bei den kontinuierlich
zeug-Haftpflichtversicherung (§ 2 Abs. 2 Ziff. 2 der automatisierenden Systemen dieser Automatisie-
Verordnung über den Versicherungsschutz in der rungsstufen. Seitens des Fahrers ist dafür Kenntnis
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (KfzPflVV)) und Bewusstsein hinsichtlich der Leistungsfähigkeit
kommt es letztlich nicht zu einer wirtschaftlich un- des jeweiligen Systems (vor allem hinsichtlich der
tragbaren Situation. Systemgrenzen) unabdingbar, um die notwendige
Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung um- Überwachung des Systems, korrigierende Eingriffe
fasst heute vor allem solche Systeme, die von der oder die Übernahme von Fahrzeugsteuerung zu
Fahrzeug-Typgenehmigung erfasst werden. In- erkennen und in die jeweils geforderte Bedien-
soweit dürften – unter Beibehaltung der heutigen handlung umzusetzen. In diesem Bereich ist die
Reichweite von Fahrzeug-Haftpflichtversicherungs- Instruktion des Fahrers entscheidend, um auf die
40 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Nutzererwartung sachgerecht Einfluss zu nehmen weit die Rückübertragung der Fahrzeugsteuerung


1 und den produkthaftungsrechtlichen Fehlertyp des auf den Fahrer betroffen ist.
„Instruktionsfehlers“ zu vermeiden. Für kontinuierlich wirkende automatisierende
2 Der weitere in diesem Zusammenhang produkt- Systeme bis einschließlich der Hochautomatisie-
haftungsrechtlich relevante Fehlertyp ist der Konst- rung (Stufe  3), die somit nicht in der Lage sind,
ruktionsfehler und hier insbesondere die Frage nach von sich aus in den risikominimalen Zustand zu-
3 dem anzulegenden Fehlermaßstab. Der BGH hat rückzukehren, ist daher bei der Bestimmung von
hierzu im Zusammenhang mit Systemen der passi- Fehlerhaftigkeit die Instruktion untrennbar mit
4 ven Sicherheit entschieden, dass ein Hersteller „(…) den Anforderungen im Rahmen der Konstruktion
bereits im Rahmen der Konzeption und Planung des verbunden und stets in der Gesamtschau zu lösen.
5 Produktes diejenigen Maßnahmen zu treffen [hat], Im Fall einer bestimmungsgemäßen Nutzung
die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich hoch- und vollautomatisierter Systeme (Stufen 3
und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind (…)“ und 4), die den getroffenen Begriffsbestimmungen
6 [16]. Zur Gefahrvermeidung muss das angewandt zufolge dem Fahrer erlauben würden, sich von der
werden, was nach Kenntnissen in Fachkreisen als Verkehrsbeobachtung abzuwenden (und unter
7 einsatzfähige Serienlösung zur Verfügung steht. der Voraussetzung, dass die sonstigen Rahmen-
Diese weite Anforderung findet ihre Begrenzung bedingungen für eine solche Nutzung geschaffen
in der Zumutbarkeit solcher Maßnahmen, die sich würden, vgl. zuvor ▶ Abschn. 3.2.2.1), sind die
8 nach dem vom Produkt ausgehenden Gefahrengrad Konsequenzen zu betrachten, die sich daraus er-
und wirtschaftlichen Auswirkungen der Siche- geben, dass der Fahrer sich (vorübergehend) nicht
9 rungsmaßnahme richtet [17]. mehr im Fahrer-Fahrzeug-Regelkreis befindet. Die
Lassen sich Gefahren nach dem Stand von getroffene Begriffsbestimmung wirkt hier auf die
10 Wissenschaft und Technik nicht vermeiden, „(…) Anforderungen an eine solche Systemkonstruktion
so ist der Hersteller grundsätzlich verpflichtet, die zurück: Systeme dieser hohen Automatisierungs-
Verwender des Produkts vor denjenigen Gefahren grade müssen – angesichts des Gefahrengrades,
11 zu warnen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch der von einem solchen autark regelnden System
oder nahe liegendem Fehlgebrauch drohen und die im Straßenverkehr ausgeht – so konstruiert sein,
12 nicht zum allgemeinen Gefahrenwissen des Benut- dass sie selbsttätig in der Lage sind, alle Situationen
zerkreises gehören (…)“ [16]. Zu den sich hieraus zu bewältigen, die während einer automatisierten
ergebenden Unsicherheiten, welche Maßnahmen Phase auftreten können.
13 für eine Gefahrvermeidung im Einzelfall zu er- Diese Feststellung führt notwendigerweise zu
greifen sind, kommt noch hinzu, dass die vorlie- der Annahme, dass jeder während hoch- oder
14 genden Aussagen sich direkt nur auf ein passives vollautomatisierter Phasen gleichwohl auftre-
Sicherheitssystem in Kraftfahrzeugen beziehen. Die tende Schaden auf einen kausal zugrunde liegen-
15 Aussagen werden sich daher nur eingeschränkt auf den Produktfehler schließen lässt. Allerdings gilt
automatisierte Steuerungen übertragen lassen, die diese Annahme nur, sofern dieser Schaden nicht
ein unmittelbares Zusammenwirken mit dem Fah- ausschließlich durch andere Verkehrsteilnehmer
16 rer voraussetzen. Soweit man jedoch davon ausgeht, verursacht oder durch eine Übersteuerungshand-
dass für kontinuierlich automatisierende Systeme, lung des Fahrers verursacht wird oder (speziell
17 wie solche der Assistenz und Teilautomatisierung für den Fall einer Hochautomatisierung gemäß
(Stufe 1 und 2), die eine permanente Überwachung Stufe  3) die Ursache nicht im Ausbleiben einer
durch den Fahrer voraussetzen, keine einsatzfähige Rückübernahme von Fahrzeugsteuerung durch
18 (technische) Serienlösung zur (technischen) Ge- den Fahrer nach „ausreichender Zeitreserve“ und
fahrvermeidung zur Verfügung steht, ist zu unter- sachgerechter Instruktion liegt. Diese Annahme
19 stellen, dass die Bedeutung und Reichweite der Ins- gilt naturgemäß nur unter Berücksichtigung pro-
truktion des Fahrers bei der Bedienung des Systems zessualer Gesichtspunkte, wie insbesondere die
20 weiterhin eine sehr hohe Relevanz hat. Dasselbe gilt Darlegungs- und Beweislast im Zivilverfahren [1].
für Systeme der Hochautomatisierung (Stufe 3), so- Funktionieren daher Systeme ab dem Automatisie-
3.2  •  Rechtliche Rahmenbedingungen und Bewertung
41 3

rungsgrad der Hochautomatisierung (Stufe 3) mit die Verwendung nicht übersteuerbarer Systeme im
dem Ergebnis eines Unfalls nicht einwandfrei in Straßenverkehr verbieten, weil diese den Fahrer im
Phasen bestimmungsgemäßer Fahrerabwendung, Einzelfall in unzulässiger Weise an der Erfüllung
wäre dies stets – soweit prozessual beweisbar – ge- seiner Pflichten im Straßenverkehr hindern kön-
eignet, Schadensersatzansprüche gegen den Her- nen [3, 13]. Die andere Auffassung bezweifelt von
steller auszulösen. vornherein die Anwendbarkeit dieser Verhaltens-
Ab dem Automatisierungsgrad der Hochauto- vorschriften auf Fahrerassistenzsysteme, da sie sich
matisierung (Stufe 3) ergibt sich die weitere wichtige im zweiten Kapitel des Wiener Übereinkommens
Fragestellung daraus, inwieweit solche Systeme noch über den Straßenverkehr befinden und demzufolge
Systemgrenzen aufweisen können. Auch hier lässt allein an den Fahrer richten, ohne eine Bedeutung
die getroffene Begriffsbestimmung den Rückschluss für Fahrerassistenzsysteme zu entfalten. Weiterhin
zu, dass Systemgrenzen in Form der beschriebenen findet sich – unbestritten – keine vergleichbare An-
Rückübernahme „nach ausreichender Zeitreserve“ ordnung im dritten Kapitel des Wiener Überein-
möglich sind. Jedoch sind Systemgrenzen, die eine kommens, das (technische) Fragen der Zulassung
unmittelbare Abschaltung, Fehlerkorrektur oder zum grenzüberschreitenden Verkehr beschreibt,
Rückübernahme durch den Fahrer bedingen, nicht vgl. [18].
denkbar oder jedenfalls nur sehr eingeschränkt Eine Entscheidung für eine dieser streitigen
möglich. Rechtsansichten wird aus heutiger Sicht für eingrei-
fende Notfallsysteme wohl dahinstehen, da ein rele-
vanter Anwendungsbereich derzeit nicht erkennbar
3.2.3 Eingreifende Notfallsysteme ist: Die im vorliegenden Abschnitt behandelten Sys-
(Kategorie C) teme, auch solche der eingreifenden Notfallsysteme,
werden heute alle übersteuerbar ausgelegt. Und
Eingreifende Notfallsysteme der Kategorie C wer- soweit bislang unklar war, ob Eingriffe von Not-
den zumeist ebenfalls als „Fahrerassistenzsysteme“ fallsystemen in zeitkritischen Situationen möglich
bezeichnet. Dem Wortsinn nach besteht hier kein sind, in denen ein Fahrer nur zeitverzögert zu einer
Widerspruch, da diese Systeme den Fahrer ebenfalls Übersteuerungshandlung in der Lage ist, wurde
unterstützen. Tatsächlich erfolgt die Unterstützung durch die sog. „General Safety Regulation“ (EG-Ver-
aber in Situationen, die eine besondere Qualität auf- ordnung 661/2009 v. 13.  Juli  2009) ein wichtiges
weisen, da der Fahrer in bestimmten Situationen nur Indiz hinzugefügt: Vorgeschrieben werden darin
zeitverzögert (oder bei krankhaft bedingter Hand- u. a. Systeme der Notbremsassistenz für Busse und
lungsunfähigkeit gegebenenfalls überhaupt nicht) auf Nutzfahrzeuge der Klassen M2, M3, N2 und N3, vgl.
einen konkreten Handlungsanlass im Straßenverkehr Art. 10 Abs. 1 EG-VO 661/2009. Zwar wird nicht
hin reagieren kann. Es ist deshalb gerade nicht von danach unterschieden, ob diese Eingriffe systemi-
einem arbeitsteilig wirkenden System auszugehen. nitiiert oder fahrerinitiiert erfolgen, doch spricht
seither vieles dafür, dass auch die weiterreichenden
3.2.3.1 Bedeutung der systeminitiierten Eingriffe jedenfalls nicht in Wi-
Übersteuerbarkeit derspruch zu den zitierten Vorschriften des Wiener
Die rechtliche Diskussion um diese Systeme wurde Übereinkommens über den Straßenverkehr stehen.
bislang vor allem in Bezug auf die Anforderung von Es ließe sich hieraus verallgemeinernd ablei-
Übersteuerbarkeit geführt, die aus Art. 8 Abs. 1 und ten, dass es auch in anderen Fällen fehlender fah-
Abs. 5 sowie Art. 13 Abs. 1 des Wiener Übereinkom- rerischer Handlungsfähigkeit möglich sein müsste,
mens über den Straßenverkehr (WÜ) hergeleitet zur Vermeidung eines Unfalls oder zur Minderung
wurde. Die in diesen Vorschriften formulierte An- der Unfallfolgen einzugreifen. Ein Widerspruch zu
forderung ständiger Kontrolle (Art. 8 Abs. 5 WÜ) verhaltensrechtlichen Vorgaben in diesen Sondersi-
und Fahrzeugbeherrschung (Art. 13 Abs. 1 WÜ) des tuationen wäre dann nicht zu erkennen, sofern der
Fahrers (Art. 8 Abs. 1 WÜ) wurde so ausgelegt, dass Fahrer – wenn auch nur theoretisch – die Möglich-
die getroffenen Vorschriften in technischer Hinsicht keit zur Übersteuerung hätte.
42 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

3.2.3.2 Sonderfall: tems ist der Kontrollverlust des Fahrers aufgrund


1 Nothalteassistenzsysteme medizinisch bedingter Insuffizienz und könnte auf-
Im Unterschied zu sonstigen Notfallsystemen greift grund verschiedener Indikatoren erkannt werden.
2 eine Nothalteassistenz in Situationen ein, die vor Ein Abbruch des Steuerungsvorgangs wäre jederzeit
allem durch die medizinisch bedingte Handlungs- möglich, indem das Nothaltemanöver vom Fahrer
unfähigkeit des Fahrers gekennzeichnet sind. Die abgeschaltet, respektive übersteuert wird [19].
3 Eingriffsdauer dieser Systeme ist im Unterschied Unter dem Gesichtspunkt des Verhaltensrechts
zu sonstigen Notfallsystemen (bspw. automatische wäre für ein solches System zu berücksichtigen, dass
4 Notbremsfunktionen, künftig möglicherweise auch es an einem handlungsfähigen Adressaten der Ver-
Ausweichsysteme etc.) nicht notwendigerweise als haltenspflichten – bspw. aus der StVO – fehlt. Dem
5 kurz und auch nicht zwingend als kollisionsnah zu Fahrer ist dieser Mangel an Fahrzeugbeherrschung
beschreiben. auch nicht vorwerfbar, solange zuvor keine eindeu-
Der Projektgruppenbericht hatte Nothalteassis- tigen Anzeichen bestehen, die dem Fahrer an seiner
6 tenzsysteme fälschlicherweise der Kategorie B zu- Fahrtüchtigkeit Zweifel aufkommen lässt.
geordnet (ohne diese Unterscheidung explizit vor- Unter dem haftungsrechtlichen Gesichtspunkt
7 zunehmen), aber unter ausdrücklicher Zuordnung der Halterhaftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist anzu-
zur Vollautomatisierung (Stufe  4) behandelt, vgl. nehmen, dass auch die Systemregelung eines No-
[1]. Den Charakteristika dieser Systeme wird dies thalteassistenten zum „Betrieb“ des Kraftfahrzeugs
8 nicht gerecht, da es sich gerade nicht um eine be- gehört, sofern das System – im Rahmen der Fahr-
wusst durch den Fahrer verwendete, kontinuierlich zeug-Typgenehmigung – für den Gebrauch im Stra-
9 wirkende Automatisierung im Sinne einer bewussten ßenverkehr zugelassen ist. Nach der Vorschrift der
(teilweisen) Übergabe der Fahraufgabe an das System Halterhaftung würde daher eine Haftungsverpflich-
10 handelt, sondern vielmehr um einen automatisierten tung ausgelöst. Im Rahmen des Fahrzeugbetriebs
Eingriff des Systems bei erkannter Handlungsunfä- ist zu berücksichtigen, dass zum Haftungsumfang
higkeit des Fahrers. Diese Umstände sowie die Unfä- auch die fortdauernde Betriebsgefahr eines stehen-
11 higkeit des Fahrers, in dieser Situation die geeignete den Kraftfahrzeugs auf Schnellstraßen – wie der
Steuerungshandlung selbst vorzunehmen, lassen es Autobahn – gehört. Soweit daher das anhaltende
12 angezeigt erscheinen, diese Systeme den eingreifen- oder stehende Fahrzeug aufgrund seiner geringen
den Notfallsystemen (Kategorie C) zuzuordnen. Fahrgeschwindigkeit (oder Stillstands) einen Scha-
Systeme der Nothalteassistenz sind zum Zeit- den kausal verursacht, wäre auch dies dem Fahr-
13 punkt der Abfassung dieses Kapitels nicht marktver- zeugbetrieb im Sinne der Vorschrift zuzurechnen.
fügbar. Szenarien, die diese Systemkategorie bislang Anders verhält es sich im Fall der Haftung
14 beschreiben, gehen davon aus, dass Nothalteassis- des Fahrers: Sofern für den Fahrer nicht mindes-
tenten bei physiologisch bedingtem Kontrollverlust tens absehbar war, dass eine Bewusstlosigkeit oder
15 des Fahrzeugführers ein vollautomatisches Abbrem- Handlungsunfähigkeit während der Fahrt eintreten
sen des Fahrzeugs in einen möglichst sicheren, den könnte, ist seitens des Fahrers kein Verschulden er-
sog. risikominimalen Zustand vornehmen, um Un- kennbar. Dieser Nachweis müsste allerdings nach
16 fälle zu vermeiden. Unter einem risikominimalen geltendem Haftungsrecht vom Fahrzeugführer ge-
Zustand wird beispielsweise auf Autobahnen mit mäß § 18 Abs. 1 S. 2 StVG erbracht werden und
17 mehreren Richtungsfahrbahnen ein moderates unterliegt damit den prozessualen Unsicherheiten
Verzögern verstanden, das – wenn dies aufgrund im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast eines
von Verkehrslage und Systemzustand mit geringe- Zivilverfahrens.
18 rem Risiko möglich ist – einen Fahrstreifenwechsel Im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflichtver-
bis zum Seitenstreifen mit einschließt. Dort wird sicherung ist davon auszugehen, dass auch Steue-
19 das Fahrzeug dann bis zum Stillstand verzögert. Ist rungsvorgänge eines Nothalteassistenten mitver-
ein Fahrstreifenwechsel nicht möglich, kommt das sichert wären, sofern diese zu einer Schädigung
20 Fahrzeug auf dem aktuell befahrenen Fahrstreifen Dritter führen (bei erneuter Unterstellung, dass
zum Stehen. Voraussetzung für den Eingriff des Sys- das System bspw. im Rahmen der Fahrzeug-Typge-
3.3  •  Gesetzgebung in den USA
43 3

nehmigung des Fahrzeugs für den Straßenverkehr in rechtlicher Hinsicht zugleich auf die rechtliche
zugelassen wäre). Versichert wird im Rahmen der Situation anderer Systeme der Kategorie C über-
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung allerdings tragbar sind: Die Ausgangslage, fehlende Hand-
der „Fahrzeuggebrauch“. Ein bewusster Gebrauch lungsfähigkeit des Fahrers und der daraus folgende
liegt in der Regelung des zuvor beschriebenen Not­ Charakter als nicht arbeitsteilig wirkende Systeme,
halteassistenten sicherlich nicht vor. Gleichwohl ist ist in beiden Fällen gleich. Eine wichtige Differen-
der Fahrzustand, der durch das System in den risi- zierung ist jedoch im Fall anderer Notfallsysteme
kominimalen Zustand zurückgeführt werden soll, (als Nothalteassistenzsysteme) zu machen: Der
offensichtlich durch den vorangegangenen Fahr- Fahrer ist in diesen Fällen an sich noch verfügbar,
zeuggebrauch unmittelbar ausgelöst. Der Zustand kann aufgrund der Randbedingungen aber nicht
wäre insoweit dem völlig unkontrollierten Schleu- mehr geeignet reagieren. Im Anwendungsfall der
dern eines Fahrzeugs aufgrund zu hoher Fahrge- Notfallsysteme hat der Fahrer die Situation ent-
schwindigkeit vergleichbar, wobei das Schleudern weder verkannt oder der Handlungsanlass wird
für den Fahrer ebenso unkontrollierbar sein kann sehr plötzlich erkennbar, so dass der Fahrer auf-
und gleichfalls auf den vorangegangenen Fahrzeug- grund der im Vergleich zum System geringeren
gebrauch (Fahren mit höherer Geschwindigkeit) menschlichen Leistungsfähigkeit nur verzögert
zurückgeht. Somit ist davon auszugehen, dass Steu- auf die Situation reagieren kann. Dies führt daher
erungsvorgänge von Nothalteassistenzen vom heu- zu einem weiteren wichtigen Gesichtspunkt: Die
tigen Versicherungsumfang umfasst sein würden. Fahrzeugsteuerung muss im Anschluss an den
In produkthaftungsrechtlicher Hinsicht wirkt Eingriff des Notfallsystems, möglicherweise be-
sich aus, dass Nothalteassistenten jenseits der reits nach Ablauf der Reaktionszeit, wieder auf den
fahrerischen Kontrolle bei physiologisch beding- Fahrer rückübertragen werden. Diese Rücküber-
ter Handlungsunfähigkeit des Fahrers wirken. tragung stellt eine weitere Herausforderung der
Die Steuerung des Fahrzeugs muss sich deshalb Mensch-Maschine-Interaktion dar: Zudem bedarf
in haftungsrechtlicher Hinsicht voraussichtlich der Gesichtspunkt der Übersteuerbarkeit in den
nicht – wie aber bei kontinuierlich wirkender Au- Fällen fehlerhafter Eingriffe durch das System be-
tomatisierung – dem Gefahrvermeidungsmaßstab sonderer Aufmerksamkeit, da eine Übersteuerung
unterwerfen, der für eine Hoch- oder Vollauto- des Fahrers sehr risikobehaftet sein kann und sei-
matisierung (Stufen 3 und 4) anzuwenden ist (vgl. tens des Systemherstellers die Aufrechterhaltung
▶ Abschn. 3.2.2.2). Vielmehr ist anzunehmen, dass der Letztentscheidungsbefugnis des verantwortli-
ein solches Produkt, sofern es zum Zeitpunkt des chen Fahrzeugführers regelmäßig beabsichtigt ist.
In-Verkehr-Bringens eine einsatzfähige Lösung
nach dem Stand von Wissenschaft und Technik
darstellt, dem anzulegenden Gefahrvermeidungs- 3.3 Gesetzgebung in den USA
maßstab entspricht – auch wenn es in Einzelfällen
aufgrund von fortbestehenden Systemgrenzen zu Während die Automatisierung von Fahrzeugen
Unfallschäden während eines Nothaltevorgangs überall auf der Welt diskutiert wird, wurden bislang
kommt. Dieses Ergebnis ist auch sachgerecht, da nur in einigen Bundesstaaten der USA die rechtli-
aus heutiger Sicht selbst lediglich noch ausreichend chen Rahmenbedingungen hierfür teilweise ange-
wirkende Nothalteassistenten zu einer Verbesse- passt. Im vorliegenden Abschnitt wird das grundle-
rung der Verkehrssicherheit beitragen können, um gende Verständnis dieser Entwicklung hinsichtlich
nicht die andernfalls zwangsläufig in diesen Fällen organisatorischer Zuständigkeiten und inhaltlicher
eintretende, stark risikobehaftete, völlige Steue- Wirkung der entsprechenden Rechtsakte beschrie-
rungslosigkeit in Kauf nehmen zu müssen. ben.
Die Gesetzgebung in Bezug auf das automa-
3.2.3.3 Übrige Notfallsysteme tisierte Fahren in den USA lässt sich nicht ohne
Abschließend bleibt anzumerken, dass die zuvor Einordnung in die rechtliche Gesamtsituation be-
gemachten Ausführungen zu Nothalteassistenten schreiben. Das Rechtssystem hat die Aufgabe, ei-
44 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Public .. Abb. 3.3 Taxonomie
1 einer Regulierung

Gesetzliche Wirkvorschrien Zivil- und strafrechtliche Sankonen


2
Gesetzliche Prozessanforderungen Gesetzlich angeordneter Rückruf

3 Gesetzliche Markteintrisbarrieren Anhörungen (Congress, NHTSA, NTSB)

4 Ex ante Ex post

Private Standards Deliksche Haung und


5 Mängelhaungsrecht
Branchenübliche Praxis
Image/ Reputaon
6 Versicherungsbedingungen
Konsumnachfrage

7 Private

8 nerseits Schäden durch präventive Maßnahmen, ßerachtlassung von Sorgfaltspflichten sowie Image-
die der Verkehrssicherheit dienen, zu vermeiden, schäden beim Hersteller, seinen Zulieferern und
9 andererseits entstandene Schäden, soweit möglich anderen Firmen. Diese Maßnahmen stehen selbst
zu ersetzen. Die Verantwortlichkeit im juristischen wiederum in Wechselwirkung zu den anderen Sek-
10 Sinn befasst sich mit Pflichten – unter anderem den toren: So können bspw. gesetzliche Versicherungs-
Vertrags- und Sorgfaltspflichten – sowie mit Folgen, anforderungen die Stellung der Versicherungsge-
unter anderem der Schuldfähigkeit und der zivil- sellschaft gegenüber den Versicherungsnehmern
11 rechtlichen Haftung. Die Verantwortlichkeit in die- stärken, Industrienormen Einfluss auf den Ausgang
sem Sinn ist auf der anderen Seite jedoch weder mit von Zivilprozessen nehmen und Anhörungen die
12 technischem Bedarf noch mit moralischer Pflicht Konsumnachfrage schwächen.
gleichzusetzen. Die formellen Parlamentsgesetze auf US-Bun-
. Abbildung 3.3 veranschaulicht dieses Ver- desebene sowie in den einzelnen Bundesstaaten
13 ständnis von „Regeln“ im Rahmen des Fahrzeug- sind nur ein – wenngleich bedeutender – Teil die-
baus in den USA und ordnet sie vier verschiedenen ser Regeln. . Abbildung 3.4 gibt eine Stufenord-
14 Sektoren zu [20]. Regeln können öffentlich (von den nung rechtlicher Normen in den USA wieder [21].
Behörden) oder privat (von einer natürlichen oder Die Bundesverfassung, die das Staatsorganisations-
15 juristischen Person) aufgestellt werden und pros- recht sowie Grundrechte von Einzelnen gegenüber
pektiv (vor einem Unfall) oder retrospektiv (nach dem Staat enthält, stellt dabei die höchste Ebene
einem Unfall) wirken. Öffentliche und prospektive dar. Auf zweithöchster Ebene stehen die vom
16 Maßnahmen schließen etwa gesetzliche Leistungs-, US-Kongress verabschiedeten Parlamentsgesetze,
Verfahrens- und Markteintrittsstandards ein. Öf- wie etwa das Verkehrs- und Kraftfahrzeugsicher-
17 fentliche und retrospektive Maßnahmen hingegen heitsgesetz von 1966, und bestimmte vom Senat
umfassen Strafen, gesetzlich angeordnete Rückruf- bestätigte Staatsverträge, darunter wohl auch die
maßnahmen und eventuelle Anhörungen (bspw. Genfer Konvention für Straßenverkehr von 1949.
18 „Congressional hearings“, „NHTSA investigations“ Aufgrund solcher Parlamentsgesetze wurden
usw.). Private und prospektive Maßnahmen bein- Bundesbehörden gegründet, unter anderem die
19 halten Verträge, Industrienormen und vom Versi- für Kraftfahrzeugsicherheit zuständige National
cherer vorgegebene Vertragspflichten. Private und Highway Traffic Safety Administration (NHTSA).
20 retrospektive Maßnahmen umfassen Zivilprozesse Diese Bundesbehörden führen ihre parlamentsge-
im Fall von Produktfehlern oder fahrlässiger Au- setzlichen Aufgaben aus, indem sie Verordnungen
3.3  •  Gesetzgebung in den USA
45 3

Bundesverfassung • Rechtsstaatsprinzip

Formelle Bundesgesetze und bes mmte • Verkehrs- und Krafahrzeugsicherheitsgesetz von 1966


interna onale Übereinkommen • Genfer Straßenverkehrsabkommen von 1949

Verordnungen von Bundesbehörden • Bundessicherheitsstandards für Krafahrzeuge (FMVSSs)

Verwaltungsakte der Bundesbehörden • NHTSA Untersuchungen

Verfassungen der Bundesstaaten • Unterschiedlicher Regelungsgehalt

Parlamentsgesetze des Bundesstaates • Verkehrsregeln und Parlamentsgesetze über autom. Fahren

Verordnungen der bundesstaatlichen


• Verordnungen über autom. Fahren in Nevada und demnächst in Kalifornien
Behörden
Verwaltungsakte der bundesstaatlichen
• Fahrerlaubniserteilung und Zulassung eines Fahrzeugs
Behörden

Gewohnheitsrecht • Allgemeines Deliktsrecht

(Industrienormen und
• (ISO / SAE / ANSI Standards)
private Standards)

.. Abb. 3.4  Stufenordnung gesetzlicher Normen in den USA

und Verwaltungsakte erlassen, die die nächsten Fast in jedem Bundesstaat existiert zudem eine noch
zwei Gesetzebenen darstellen. Die NHTSA erlässt niedrigere Ebene des Gesetzes: ein bundesstaatsspe-
bspw. die Bundessicherheitsstandards für Kraft- zifisches, nicht kodifiziertes und durch die Gerichte
fahrzeuge (FMVSSs), nach denen Fahrzeugherstel- weiterentwickeltes Gewohnheitsrecht, welches für
ler ihre neu verkauften Produkte selbst zertifizieren Fragen der zivilrechtlichen Haftung sehr wichtig ist
(anstatt die Genehmigung der Behörde zu erhalten, [22]. So war die eindeutige Urteilsfindung durch das
vgl. ▶ Abschn. 3.4.1), und leitet Untersuchungen Oberste Bundesgericht dahingehend bedeutungs-
möglicher Defekte ein, die in gesetzlich verpflich- voll, wie das Zusammenwirken von Bundessicher-
tend durchzuführende Rückrufaktionen münden heitsstandards und Gewohnheitsrecht hinsichtlich
könnten. Diese Regeln werden allesamt von den der Feststellung eines Produktfehlers in einer Pro-
Bundesgerichten als auch den bundesstaatlichen dukthaftungsverhandlung im Einzelnen zu bewer-
Gerichten unter Berücksichtigung ihres Stellen- ten ist [23, 24]. Weiterhin kommt hinzu, dass die
wertes angewendet und ausgelegt. Gemeinschaftsnormen und privaten Standards die-
Gegenüber den Bundesgesetzen nachrangig ses Gewohnheitsrecht beeinflussen können. Zuletzt
sind die jeweiligen Gesetze des Bundesstaates: Die muss ein wichtiger Grundsatz genannt werden, der
dort typischerweise umfassendere Verfassung, die sich durch das gesamte Rechtssystem (in den USA
Parlamentsgesetze und die Verordnungen und Ver- sowie in Deutschland) zieht: Alles, was nicht unter-
waltungsakte seiner Behörden sind auf dieser Ebene sagt ist, bleibt erlaubt [25].
von Bedeutung. Die Genehmigung, die Versiche- Die aktuelle Regulierung des automatisierten
rung sowie das Verhalten des nichtgewerblichen Fahrens erfolgt vor diesem Hintergrund. Im Fe-
Fahrers und seines Fahrzeugs sind üblicherweise bruar  2014 kündigte die NHTSA zurückhaltend
Fragen, die von den Bundesstaaten geregelt werden. an, sie „werde damit beginnen, Schritte zu unter-
Diese Gesetze werden verbindlich von den Gerich- nehmen, um die Fahrzeug-Fahrzeug-Kommuni-
ten des jeweiligen Bundesstaates, aber auch vorläu- kationstechnologie für Personenkraftwagen zu er-
fig von anderen Gerichten ausgelegt und angewandt. möglichen“ [26], die eventuell von Bedeutung für
46 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

.. Abb. 3.5  Stand der


1 bundesstaatlichen Gesetz-
gebung zum automatisier-
ten Fahren
2
3
4
5
6
7
8 automatisiertes Fahren sein wird. Die im Mai 2013 ten. Im Vergleich zu den Stufen der BASt, SAE und
von der NHTSA veröffentlichte und dem gesamten NHTSA unterscheiden also diese Parlamentsgesetze
9 US-Bundesverkehrsministerium zugeschriebene nur zwischen automatisierten und nichtautomati-
„Preliminary Statement of Policy Concerning Au- sierten Fahrzeugen – wobei der Begriff der Automa-
10 tomated Vehicles“ (vorläufige Erklärung der Strate- tisierung in Abweichung von den Definitionen der
gie automatisierte Fahrzeuge betreffend), die auch BASt-Projektgruppe wohl wesentlich enger gefasst
unverbindlich ist, äußert Hoffnung auf langfristi- ist und erst ab Stufe 3 (Teilautomatisierung) verwen-
11 gen Nutzen aus der Fahrzeugautomatisierung für det wird. Diese Gesetze stellen auch Anforderun-
die Verkehrssicherheit; diese beschreibt Automati- gen an automatisierte Fahrzeuge und ihre Fahrer,
12 sierungsgrade im narrativen Stil und nennt einige und einige kodifizieren eine gewohnheitsrechtliche
von der NHTSA veranlasste Forschungsprojekte Regel über die begrenzte Herstellerhaftung des ur-
[5]. Allerdings sei „ausführliche Regulierung“ der sprünglichen Herstellers eines später modifizierten
13 „selbstfahrenden Technologien“ nicht machbar Fahrzeugs oder Fahrzeugteils: Nevada und Kalifor-
angesichts ihrer „schnellen Evolution und großen nien verpflichteten ihre Straßenverkehrsbehörden,
14 Unterschiede“ und den Bundesstaaten werde im zusätzliche Verordnungen zu schaffen; Florida und
Moment nicht empfohlen, „den Betrieb der selbst- Michigan fordern dabei nur Berichte ihrer Behör-
15 fahrenden Fahrzeuge zu anderen Zwecken als der den bezüglich der Fahrzeugautomatisierung. Erst
Erprobung zuzulassen“ [5]. nach Veröffentlichung des NHTSA-Schreibens
. Abbildung 3.5 zeigt die Bundesstaaten, in de- schränkte Michigan die Betriebserlaubnis zu Erpro-
16 nen es (Stand: April 2014) Gesetzesvorlagen über bungszwecken ein; Kaliforniens Straßenverkehrsbe-
automatisierte Fahrzeuge gibt beziehungsweise hörde dagegen führt Verordnungen ein (dem bun-
17 gab [27]: Die Bundesstaaten Nevada, Florida, Ka- desstaatlichen Parlamentsgesetz entsprechend), die
lifornien und Michigan sowie das Territorium der auch dem allgemeinen Betrieb solcher Fahrzeuge
US-Hauptstadt Washington (District of Columbia) vorausgreifen.
18 erließen solche Parlamentsgesetze und ihre Regu- Obwohl diese Parlamentsgesetze von erhebli-
lierungsansätze stimmen nur teilweise überein. Alle cher symbolischer Bedeutung und auch praxisrele-
19 sehen einen menschlichen Fahrer solcher Fahrzeuge vant sind, sollten sie nicht überbewertet werden. In
vor und stellen klar, dass nur Fahrzeuge, die ohne den Bundesstaaten, die solchen Parlamentsgesetzen
20 die „Kontrolle oder Überwachung“ dieser Person nicht unterliegen, ist der Betrieb bestimmter auto-
auskommen, als automatisiert oder „autonom“ gel- matisierter Fahrzeuge deshalb nicht zwangsläufig
3.4  •  Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme
47 3

verboten und kontextabhängig wohl erlaubt [25]. UN-Regelungen (z. B. UN R 13-H), erstellt von der
Die entsprechenden Behörden in diesen Bundes- UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE)
staaten haben wahrscheinlich bereits die Berech- in Genf [29].
tigung, ähnliche Regeln ohne eine fahrzeugau- Welche Rolle die Typgenehmigungsbestimmun-
tomatisierungsspezifische parlamentsgesetzliche gen bei der Einführung von neuen Fahrerassistenz-
Basis zu schaffen und einige bemühen sich um eine systemen spielen, hängt davon ab, ob die Funktio-
Zusammenarbeit mit Schlüsselfirmen. Außerdem nen eines Fahrerassistenzsystems in einen von der
bleiben wichtige Fragen in den jüngsten Gesetzen Typgenehmigung geregelten Bereich fallen oder
offen, insbesondere das erforderliche Verhalten nicht. Beispielsweise gibt es im Bereich der Licht-
des menschlichen Fahrers während des automa- technik eine Vielzahl von Anforderungen, die bei
tisierten Betriebs. Denn rechtliche Unklarheiten der Typgenehmigung einzuhalten ist, so dass inno-
bestehen überall fort, so dass die Grundprinzipien vative Lichtsysteme meist erst dann (ohne Ausnah-
der Vernunft und Vorsicht, die dem Gewohnheits- megenehmigung) genehmigt werden können, wenn
recht sowie den bundesstaatlichen Verkehrsregeln die jeweiligen genehmigungsrechtlichen Randbe-
zugrunde liegen, sich in diesen Bereichen mit den dingungen entsprechend angepasst wurden. Andere
Technologien allmählich weiterentwickeln. Zu- Fahrerassistenzsysteme (z. B. aus dem Bereich der
dem werden sicherlich Gesetzgeber, Behörden und informierenden oder warnenden Systeme, wie die
Gerichte sowohl auf Bundesebene als auch in den Anzeige der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im
Bundesstaaten an der fortdauernden Klarstellung Fahrzeug oder ein Totwinkel-Assistent) können
von rechtlicher Verantwortlichkeit im weiteren Sinn ohne weiteres eingeführt werden, weil deren Funk-
mitwirken. tionen nicht oder nur zu einem geringen Teil in den
von Typgenehmigungsbestimmungen geregelten
Bereich fallen.
3.4 Anforderungen Damit elektronisch gesteuerte Assistenzsysteme,
an Fahrerassistenzsysteme die in sicherheitsrelevante und durch die Typgeneh-
vor dem Hintergrund migungsbestimmungen geregelten Fahrzeugkom-
von „Ratings“ und gesetzlichen ponenten und -funktionen eingreifen, genehmigt
Vorschriften werden können, wurde u. a. bei den Vorschriften zur
Fahrzeugbremse und zur Lenkanlage ein neuer Weg
Die Anforderungen an die Sicherheit von Fahrzeu- eingeschlagen. In Anhang 8 der UNECE-Regelung
gen, die sich in den Lastenheften für die Entwick- 13-H (Bremse) und in Anhang 6 der UNECE-Re-
lung neuer Fahrzeuge widerspiegeln, lassen sich in gelung  79 (Lenkanlage) wurden eher generische

-
folgende drei Gruppen einteilen:
Anforderungen aufgrund von Typgenehmi-
Anforderungen statt reiner Performance-Anfor-
derungen zu Sicherheitsaspekten definiert, die von

- gungsbestimmungen,
Anforderungen der Verbraucherorganisatio-
komplexen elektronischen Fahrzeugsteuerungssys-
temen im Rahmen der Typgenehmigung einzuhal-

- nen (z. B. Euro NCAP) und


herstellerinterne Anforderungen.
ten sind. Hierüber wird es beispielsweise ermög-
licht, das Fahrzeugbremssystem für Funktionen der
Fahrerassistenzsysteme ESC, ACC oder Brems- und
Notbremsassistent zu nutzen.
3.4.1 Typgenehmigungs­ Das Vorschreiben von neuen sicherheitsför-
bestimmungen dernden Fahrzeugsystemen und Ausstattungs-
merkmalen auf dem Weg der Typgenehmigung ist
Die Genehmigung von Fahrzeugtypen und -bau- häufig aufgrund der notwendigen nationalen und
teilen erfolgt heute nahezu ausschließlich auf in- internationalen Abstimmungsprozesse – insbeson-
ternationaler Ebene über EU-Richtlinien oder dere im Vergleich zu der schnell voranschreitenden
EU-Verordnungen, entworfen von der Europä- technischen Entwicklung neuer Fahrerassistenz-
ischen Kommission in Brüssel [28] oder über systeme – oft langwierig. Nach der Einführung
48 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

entsprechender Vorschriften kann aber über die tung auf Basis des Testergebnisses errechnet wird.
1 Typgenehmigungsbestimmungen das Sicherheits- Siehe hierzu auch ▶ Kap. 11.
niveau nahezu aller neuen Fahrzeuge beeinflusst Strategisches Ziel von Verbraucherorganisatio-
2 werden. nen ist, die herstellerinternen Anforderungen um
weitere aus Sicht der Verbraucher für sinnvoll er-
achtete Anforderungen zu ergänzen: Hierzu dient
3 3.4.2 Anforderungen durch Euro die Vergabe von Bewertungen, die den Wert eines
NCAP Fahrzeugs in den Augen der Verbraucher steigern
4 können. Eine schlechte Bewertung oder sogar das
Der Gesetzgeber definiert mit den Anforderungen Nichtvorhandensein einer Bewertung kann dazu
5 der Typgenehmigung lediglich Mindeststandards, führen, dass das Fahrzeug bspw. für Flottenkun-
die erfüllt werden müssen, um mit einem neuen den aufgrund interner Standards gar nicht beschafft
Fahrzeugmodell den Zugang zum Markt zu erhalten. werden kann. Damit verleihen diese Bewertungen
6 Entsprechend müssen alle in den Markt gebrachten dem abstrakten Gut „Verkehrssicherheit“ einen
Neufahrzeuge die gesetzlichen Anforderungen er- realen Marktwert, der Investitionen seitens des
7 füllen. Diese Tests für die Typprüfung sagen jedoch Fahrzeugherstellers rechtfertigt. Da dieser Prozess
zunächst nichts über die Unterschiede im Sicher- eine starke wirtschaftliche Bedeutung hat, ist ein
heitsniveau der verschiedenen typgenehmigten transparentes Bewertungsverfahren zwingend er-
8 Fahrzeugmodelle aus, die den Zugang zum Markt forderlich.
durch Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen Die Anforderungen an die Sicherheit von Fahr-
9 erlangt haben. An diesem Punkt setzt die Aufgabe zeugen, die vom Gesetzgeber und von Verbraucher-
der Verbraucherorganisationen an: Durch eigene organisationen aufgestellt werden, waren und sind
10 (Crash-)Tests soll das unterschiedliche Sicherheits- damit eine treibende Kraft für viele Innovationen in
niveau bereits genehmigter Fahrzeugmodelle ermit- der Fahrzeugtechnik. Beispielsweise sind in der Ver-
telt und als Verbraucherinformation differenziert gangenheit viele technische Innovationen zum passi-
11 publiziert werden. Aufgrund dieser Zielsetzung der ven Fußgängerschutz auf die entsprechenden neuen
Verbraucherorganisationen wird deutlich, dass es Anforderungen in der europäischen Gesetzgebung
12 wenig Sinn ergeben würde, wenn bei einem Ver- zurückzuführen. Dieses Beispiel zeigt jedoch auch,
braucherschutztest lediglich die Typgenehmigungs- dass die Anforderungen des Gesetzgebers und der
tests mit ihren Anforderungen wiederholt würden, Verbraucherorganisationen in der Vergangenheit
13 da das wenig differenzierende Ergebnis eines sol- maßgeblich auf den Bereich der passiven Fahrzeug­
chen Ansatzes für die Testfahrzeuge die Bewertung sicherheit bezogen waren. Innovationen im Bereich
14 „Test bestanden“ wäre. Eine brauchbare Differen- der aktiven Sicherheit und der Fahrerassistenzsys-
zierung der Produkte hinsichtlich ihrer Sicherheit teme, wie beispielsweise ESC, das nachweislich einen
15 wird häufig dadurch ermöglicht, dass sowohl die sehr großen Sicherheitsgewinn im realen Unfallge-
Testbedingungen als auch die Bewertungskriterien schehen hat, sind aufgrund der Kreativität und Leis-
verglichen mit dem Genehmigungstest verschärft tungsfähigkeit der Automobil- und Zulieferindustrie
16 werden. Ferner muss ein Verbrauchertest eine gra- entstanden. Obwohl in diesem Beispiel auch sichtbar
duelle Differenzierung der Produkte ermöglichen, wird, dass die Verbraucherinformation zu einer sehr
17 während der Test in der Gesetzgebung lediglich eine schnellen Verbreitung des ESC-Systems in fast allen
binäre Differenzierung in „bestanden“ oder „nicht Fahrzeugklassen geführt hat.
bestanden“ erlaubt. Im vergangenen Jahrzehnt gewannen Not-
18 Beim European New Car Assessment Pro- bremssysteme, die bestimmte Unfalltypen durch
gramme (Euro NCAP) [30] wird die graduelle Dif- automatisches Abbremsen beeinflussen oder den
19 ferenzierung der Testergebnisse dadurch erreicht, Fahrer durch geeignete Warnungen zum Bremsen
dass eine obere und untere Performance-Grenze animieren, stark an Bedeutung. Diese Dynamik
20 festgelegt wird und in diesen Grenzen mittels einer nahm Euro NCAP auf und verabschiedete im Jahr
linearen Interpolation („sliding scale“) die Bewer- 2014 ein Testverfahren für erste Notbremssysteme,
3.4  •  Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme
49 3

die auf die Beeinflussung von Auffahrunfällen im 3.4.4 Beyond NCAP –


Längsverkehr ausgelegt sind. Zudem wurde ange- Berücksichtigung von neuen
kündigt, ab dem Jahr 2016 auch Notbremssysteme Sicherheitsfunktionen
für den Fußgängerschutz zu bewerten, siehe z. B. im Verbraucherschutz
▶ Kap. 11.
Ein transparentes Bewertungsverfahren mit ei- Viele maßgebliche Innovationen im Bereich der
nem daraus resultierenden Marktwert der Sicher- passiven Sicherheit sind deshalb in den Markt ge-
heitswirkung erlaubt den Vergleich verschiedener kommen, weil entsprechende Prüfverfahren und
Maßnahmen, die dem gleichen Ziel dienen. Bei- Bewertungskriterien, die als Basis für gesetzliche
spielsweise kann der Schutz von Fahrzeuginsassen Vorschriften oder für die Bewertung bei Verbrau-
durch Rückhaltesysteme grundsätzlich dem Schutz cherschutztests dienen, die Entwicklung begünstigt
von Fahrzeuginsassen durch Notbremssysteme ge- oder sogar vorangetrieben haben. Im Gegensatz
genübergestellt werden, womit dem Hersteller die dazu werden viele Sicherheitssysteme im Bereich
Wahl der Mittel in der Fahrzeugsicherheit prinzipi- der aktiven und integrierten Sicherheit und im
ell freigestellt werden kann. Bereich der FAS allein durch die Kreativität der
Auch weiterhin werden viele bedeutsame In- Ingenieure in der Automobil- und Zulieferindust-
novationen zur Steigerung der Sicherheit im Stra- rie – auch mit der Hoffnung, diese vermarkten zu
ßenverkehr in den Bereichen der aktiven und können – entwickelt. Viele Experten schätzen, dass
integrierten Sicherheit und im Bereich der Fah- gerade in diesen Bereichen die größten Potenziale
rerassistenzsysteme entwickelt werden, die häufig zur weiteren Hebung der Verkehrssicherheit liegen
nur sehr eingeschränkt gesetzlich geregelt sind und und dass sich dieser Bereich weiterhin sehr dyna-
die in Verbraucherschutztests bisher auch nur rudi- misch entwickeln wird.
mentär getestet und bewertet werden können. Diese Vor diesem Hintergrund – und weil Euro
Erkenntnis stellt sowohl den Gesetzgeber als auch NCAP auch zukünftig eine maßgebliche Kraft bei
die Verbraucherschutzorganisationen vor stets neue der Bewertung von sicherheitsrelevanten Fahr-
Herausforderungen. zeugsystemen sein möchte – leitete Euro NCAP
die Entwicklung einer generischen Vorgehens-
weise bei der Erstellung neuer Testverfahren und
3.4.3 Herstellerinterne Bewertungskriterien für Systeme, die im Bereich
Anforderungen der aktiven und integrierten Sicherheit und im
Bereich der Fahrerassistenz anzusiedeln sind, ein
Herstellerinterne Anforderungen an die Sicherheit [31]. Diese Aktivität wird bei Euro NCAP mit dem
eines Fahrzeugs beinhalten immer die gesetzlichen Begriff „Beyond NCAP“ bezeichnet. Ein mögli-
Anforderungen der entsprechenden Region, in der ches Bewertungsverfahren gemäß dem Beyond
das Fahrzeug verkauft werden soll und häufig auch NCAP-Gedanken könnte die bekannten Crash-
ausgewählte Anforderungen, die aus dem Bereich test-Bewertungsverfahren ergänzen und somit zu-
der Verbrauchertests bekannt sind. Darüber hinaus sätzlich genutzt werden. Ziel der Entwicklung einer
haben aber viele Automobilhersteller auch eigene Beyond NCAP-Bewertungsmethode ist es, ein fle-
hausinterne Sicherheitsstandards, die über die An- xibles, transparentes und berechenbares Verfahren
forderungen des Gesetzgebers und der Verbrau- zu definieren, das in der Lage ist, Innovationen der
chertests hinausgehen und zum Teil auch weiterge- Fahrzeugsicherheit möglichst schon kurz nach der
hende oder andere Aspekte der Fahrzeugsicherheit Markteinführung mit einer Sicherheitsbeurteilung
betreffen. Diese zusätzlichen herstellerinternen auszuzeichnen. Diese Sicherheitsbeurteilung ver-
Anforderungen beruhen unter anderem auf der leiht der durch die neue Funktion erhöhten Sicher-
eigenen Einschätzung hinsichtlich der Produkthaf- heit des Fahrzeugs, wie die klassische Bewertung,
tung, der vermuteten Kundenwünsche und somit auch einen Marktwert.
der Marktstrategie oder auch auf Erkenntnissen aus Bei dem bisherigen Vorgehen zur Erstellung
eigener Unfallforschung. neuer Bewertungsbereiche spezifizierte Euro
50 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Today‘s NCAP Beyond NCAP


1
Problem Problem
2
Real World Crash/ Injury Real World Crash/ Injury
3 Evaluaon Mechanism Evaluaon Mechanism
NCAP
4 specifies NCAP Industry provides
evidence, soluon
and verifies
procedures and
5 verifies criteria
Expected Required Expected Required
Benefit Outcome Benefit Outcome
6
Industry Test Test
7 provides
the
procedures
& Criteria
procedures
& Criteria
soluon
8
.. Abb. 3.6  Vergleich der heutigen Bewertungsmethode mit der Beyond NCAP-Methode
9
NCAP sowohl das Bewertungsverfahren und NCAP-Methode ist ein vertrauensvoller und part-
10 führte auch die Bewertung selbst durch (siehe nerschaftlicher Umgang von Euro NCAP und In-
. Abb. 3.6, linke Seite). Der Fahrzeughersteller bot dustrie grundlegende Voraussetzung.
„lediglich“ eine technische Lösung an, die dann –
11 wenn sie bei Euro NCAP positiv bewertet wurde Einführung neuer Testverfahren Ziel von Euro
und das Bewertungsverfahren korrekt entwickelt NCAP im Beyond NCAP-Prozess ist neben der
12 war – auch einen Nutzen im realen Unfallgesche- Vergabe von Anreizen für die Einführung neuer
hen zeigte. Sicherheitsfunktionen im Wesentlichen die kon-
Gemäß dem Beyond NCAP-Gedanken soll tinuierliche Verbesserung des klassischen Bewer-
13 nun der Fahrzeughersteller nicht nur ein neues tungsverfahrens. Dies wird durch Sammlung und
Sicherheitssystem entwickeln und auf den Markt Bewertung der eingereichten Informationen und
14 bringen. Der Hersteller soll vielmehr auch wis- Bewertungsvorschläge erreicht, die dann bei ent-
senschaftlich abgesicherte Daten liefern, mit sprechender Reife eines Sicherheitssystems auch
15 denen er den zu erwartenden Nutzen im realen für die Entwicklung von neuen eigenen Testver-
Unfallgeschehen aufzeigt sowie ein Testverfahren fahren und der Identifikation dessen Stellenwerts
vorschlagen, mit dem das neue Sicherheitssystem innerhalb der Bewertung genutzt werden. Ein ers-
16 geprüft und bewertet werden kann. Euro NCAP tes Beispiel für den Erfolg des Beyond NCAP-Pro-
übernimmt in diesem Fall lediglich die Rolle, alle zesses ist eben jene 2014 erfolgte Einführung
17 gelieferten Informationen zu verifizieren (siehe von Tests für Notbremssysteme, nachdem das
. Abb. 3.6, rechte Seite), um auf dieser Basis eine erste Notbremssystem im Jahr  2010 erfolgreich
Bewertung durchzuführen. im Beyond NCAP-Prozess berücksichtigt wurde.
18 Durch eine robuste Beyond NCAP-Be- Diese Berücksichtigung in der Fahrzeugsicher-
wertungsmethode, die das existierende Euro heitsbewertung verleiht den Notbremssystemen
19 NCAP-Bewertungsverfahren ergänzt, können dann auch einen – im Vergleich zur Beyond
neue Sicherheitssysteme schneller bewertet und NCAP-Auszeichnung – deutlich höheren Markt-
20 durch ein unabhängiges Qualitätssiegel besser ver- wert, weil dieser neue Bewertungsbereich einen
marktet werden. Für eine funktionierende Beyond direkten Beitrag zur sogenannten „Sterne“-Bewer-
3.5 • Fazit
51 3

tung liefert. Hiermit werden ferner die Anforde- Mit den Instrumenten Beyond NCAP, „Fitment
rungen für eine sehr gute Bewertung weiter erhöht. Rates“ und ab 2016 „Dual Rating“ hat Euro NCAP
So fällt ein Fahrzeughersteller, der zukünftig nicht eine Lösung gefunden, mit der die Bewertung dem
in die neue Sicherheitstechnik investiert, im Ster- technischen Fortschritt kontinuierlich angepasst
ne-Rating hinter die Konkurrenz zurück. werden kann. Hierdurch soll das Ziel einer grö-
ßeren und schnelleren Marktdurchdringung von
Da die Einführung von neuen Sicherheitsfunktio- neuartigen Sicherheitssystemen (durch stimulierte
nen in der Regel vom Premium-Segment hinunter Nachfrage und damit höheren Produktionszahlen
zu den Fahrzeugen des Massenmarktes verläuft und einhergehend geringeren Fertigungskosten)
und dafür einige Jahre benötigt, kann eine für die erreicht werden.
Bewertung verpflichtende Einführung Hersteller
des Massenmarktes systematisch benachteiligen.
Zur Abfederung dieser Benachteiligung hat Euro 3.5 Fazit
NCAP das Konzept der „Fitment Rates“ eingeführt:
Für neu in die Bewertung eingeführte Funktionen Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass mit
wird innerhalb der ersten Jahre kein serienmäßi- der systematischen Unterscheidung von Fahreras-
ger Einsatz gefordert, sondern eine Ausstattungs- sistenzsystemen nach ihrer Wirkweise hier eine
rate, die sich in der Größenordnung zwischen 50 % umfassende Gliederung vorgeschlagen wird, die
und 70 % bewegt. Ab 2016 wird das Prinzip der sowohl technische, rechtliche und verhaltenswis-
„Fitment Rate“ durch ein „Dual Rating“ abgelöst: senschaftliche Aspekte der Systemwirkung berück-
Beim Dual Rating werden in der Basis-Bewertung sichtigt. Nach diesem Verständnis zeigt sich bei
nur die Sicherheitssysteme eines Fahrzeugmodells der im vorliegenden Kapitel vertieft betrachteten
berücksichtigt, die serienmäßig zu 100 % in Eu- rechtlichen Sicht auf kontinuierlich wirkende Sys-
ropa (EU-28) angeboten werden. Zusätzlich hat teme (Kategorie B), dass es zu Unstimmigkeiten
jedoch der Hersteller die Möglichkeit, eine zweite kommt, sobald ein Automatisierungsgrad erreicht
Bewertung für sein Fahrzeugmodell inklusive der ist, der vorsieht, den Fahrer auch aus der mental
Sicherheitssysteme zu erhalten, die lediglich über überwachenden Funktion im Fahrer-Fahrzeug-Re-
die Mehrausstattung und damit aufpreispflichtig gelkreis – ggf. auch nur zeitweise – zu entlassen.
angeboten werden. Hiermit eröffnet Euro NCAP Für die entsprechenden Automatisierungsgrade
der Fahrzeugindustrie die Möglichkeit für preis- (ab Stufe  3, Hochautomatisierung) ergeben sich
sensitive Modelle und/oder Märkte neue und teure Widersprüche mit geltendem Recht. Bislang wur-
Sicherheitsausstattung gegen einen Mehrpreis zu den – soweit erkennbar – ausschließlich in einigen
vermarkten und dafür das zweite, sogenannte Euro Bundesstaaten der USA Gesetze erlassen, die den
NCAP „Safety-Pack“-Rating zu verwenden. Die Betrieb solcher Fahrzeuge mit jeweils spezifischen
Verwendung des „Safety-Pack“-Ratings unterliegt Einschränkungen und Unterschieden erlauben.
jedoch folgenden Anforderungen, die ein Fahrzeug- Fahrzeugsysteme, die sich positiv auf die Fahr-
hersteller einzuhalten hat: zeugsicherheit auswirken, können aufgrund von
1. Die möglichen Sicherheitssysteme, die beim Typgenehmigungsbestimmungen im Bereich der
einem „Safety-Pack“-Rating Berücksichtigung UNECE als verpflichtend erklärt werden und finden
finden, legt Euro NCAP fest. so Eingang in nahezu alle Neufahrzeuge. Allerdings
2. Der Fahrzeughersteller verpflichtet sich, beide Be- ist das Instrument der Typgenehmigung vergleichs-
wertungen (Basis-Rating und „Safety-Pack“-Ra- weise unflexibel und die Verabschiedung neuer
ting) immer in der Werbung zu verwenden. oder geänderter Vorschriften ein langwieriger Pro-
3. Auch für das Sicherheitspaket wird von Euro zess, so dass nur unzureichend auf den schnellen
NCAP eine Mindestausstattungsrate gefordert, technischen Fortschritt im Bereich von Fahreras-
die der Fahrzeughersteller durch geeignete Mar- sistenzsystemen reagiert werden kann. Hier weisen
ketingmaßnahmen über die Produktionszeit des Bewertungssysteme unter dem Gesichtspunkt des
Fahrzeugmodells erreichen muss. Verbraucherschutzes – wie Euro NCAP – Stärken
52 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

auf, indem sie das Sicherheitsniveau von Fahrzeu- 3.5.2 Forschungsbedarf


1 gen für den Verbraucher transparent machen. Die zu Absicherungsstrategien
aktive und integrierte Fahrzeugsicherheit ist dabei
2 Gegenstand des sich laufend fortentwickelnden Be- Von ebenfalls überragender Wichtigkeit ist For-
reiches, der als „Beyond NCAP“ bezeichnet wird schungsbedarf zu Absicherungsstrategien, um
und sich bereits heute durch Anreize auf die Gestal- Technologien der Automatisierung mit einer mög-
3 tung von Fahrerassistenzsystemen wie auch auf die lichst hohen Systemsicherheit verfügbar zu ma-
Ausstattung von Fahrzeugen maßgeblich auswirkt. chen. Es stellt sich hierfür die Frage, wie Systeme
4 „Beyond NCAP“ kommt damit eine wichtige Son- abgesichert werden können, die ohne den Fahrer
derrolle bei der Betrachtung von Rahmenbedin- als laufend verfügbare Rückfallebene auskommen.
5 gungen der Fahrerassistenzsystem-Entwicklung zu. Dies ist bei kontinuierlich wirkendenden automati-
Unter dem Aspekt einer zunehmenden Auto- sierten Systemen ab dem Automatisierungsgrad der
matisierung von Fahrzeugen lässt sich aus Sicht Hochautomatisierung (Stufe 3) und höheren Auto-
6 der Forschung gegenwärtig in vier wichtigen Be- matisierungsgraden der Fall. Konkret geht es dabei
reichen Forschungsbedarf erkennen. Es geht dabei um die Frage, wie zukünftig zu schaffende Prüfver-
7 zunächst um die Leistungsfähigkeit des Fahrers im fahren ausgestaltet sein können, um den Nachweis
arbeitsteiligen Zusammenwirken mit Fahrerassis- der technischen Sicherheit und Verfügbarkeit zu
tenzsystemen, technisch um fahrzeugseitige und erbringen.
8 infrastrukturseitige Anforderungen für eine sichere
Funktion und übergreifend um die gesellschaftliche
9 Akzeptanz dieser Entwicklung als solcher. 3.5.3 Forschungsbedarf bei der
Identifizierung notwendiger
Maßnahmen in der
10 3.5.1 Forschungsbedarf zur Mensch- Straßenverkehrsinfrastruktur
Maschine-Interaktion
11 Ebenfalls zu identifizieren ist, ob und welche
Von überragender Wichtigkeit ist der Forschungs- Maßnahmen in der Straßenverkehrsinfrastruktur
12 bedarf zur Mensch-Maschine-Interaktion. Diese tatsächlich erforderlich wären, um bestimmte au-
Feststellung überrascht angesichts der einleitend tomatisierte Systeme zu ermöglichen. Dabei ist zu
beschriebenen Arbeitsteilung zwischen Mensch und berücksichtigen, dass die heute in Betracht gezoge-
13 Automatik nicht, die den Systemen so lange eigen ist, nen automatisierten Systeme sehr stark fahrzeug-
bis sehr hohe Automatisierungsgrade erreicht sein basiert sind und – wenn überhaupt und im Ver-
14 werden. Die Beantwortung hat zugleich erhebliche gleich mit dem heutigen Verkehrssystem – wenige
Rückwirkung auf den Bereich der Systementwick- weitergehende Anforderungen an die Infrastruktur
15 lung: So lässt sich bspw. die Frage nach produkthaf- stellen. Welche Maßnahmen aber im Einzelnen si-
tungsrechtlich notwendigen Gefahrabwendungs- cherheitsrelevant sein können, bedarf erst noch der
maßnahmen, auch gegenüber naheliegendem Untersuchung.
16 Fehlgebrauch der Systeme, aufgrund von Erkennt-
nissen im Bereich der Mensch-Maschine-Interak-
17 tion beantworten. Damit ergibt sich zugleich eine 3.5.4 Forschungsbedarf
größere Rechtssicherheit angesichts des produkt- zur gesellschaftlichen
haftungsrechtlichen Risikos einer Markteinführung Akzeptanz automatisierter
18 dieser Systeme. Zudem kann die Beantwortung von Systeme im Straßenverkehr
Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion Grund-
19 lagen dafür schaffen, die Sicherheitswirkung von Bereits heute ist absehbar, dass automatisierte Sys-
Systemen abzuschätzen – ein Gesichtspunkt, der vor teme die Verkehrssicherheit deutlich steigern kön-
20 dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Akzeptanz nen. Genauso ist aber absehbar, dass diese Systeme
dieser Entwicklung eine besondere Rolle spielt. ein bislang unbekanntes maschinelles Steuerungs­
Literatur
53 3

risiko in den Straßenverkehr tragen. Dieses maschi- 6 SAE International, „On‐Road Automated Vehicles Standards
Committee”: „Taxonomy and Definitions for Terms Related
nelle Steuerungsrisiko mag zwar deutlich geringer
to On‐Road Motor Vehicle Automated Driving Systems” Do-
sein als der Nutzen für die Verkehrssicherheit, al- kument Nr. J3016_201401 in Erarbeitung seit 16.07.2012,
lerdings stellt sich diesbezüglich die Frage, ob die- Kurzdarstellung im Internet veröffentlicht unter: http://
ses neuartige Risiko von der Gesellschaft akzeptiert www.sae.org/works/documentHome.do?comtID=TE-
wird. Die Analyse der heute bestehenden rechtli- VAVS&docID=J3016_201401&inputPage=wIpSdOcDe-
TaIlS (abgerufen am 21.01.2014) und Bryant Walker Smith:
chen Situation nach deutschem Recht zeigt, dass das
SAE Levels of Driving Automation. Im Internet verfügbar
bisherige Rechtssystem in einigen konkreten Fällen unter: http://cyberlaw.stanford.edu/loda (abgerufen am
nicht dafür ausgelegt ist, diese neuartige Form der 21.01.2014)
maschinellen Fahrzeugsteuerung sachgerecht zu 7 Empfehlung der Kommission vom 22. Dezember  2006
erfassen (vgl. zuvor ▶ Abschn. 3.2.2.1 und ▶ Ab- über sichere und effiziente bordeigene Informations‐
und Kommunikationssysteme: Neufassung des europäi-
schn. 3.2.2.2). Auch die in einigen Bundesstaaten
schen Grundsatzkatalogs zur Mensch‐Maschine‐Schnitt-
der Vereinigten Staaten derzeit vorgenommenen stelle, Amtsblatt der Europäischen Union, 2007, L 32/200
rechtlichen Änderungen schaffen – wenngleich (2007/78/EG)
teilweise deutlich eingeschränkt – einen rechtli- 8 Gasser, T.: Die Belastbarkeit des Fahrzeugführers – Rechts-
chen Rahmen für solche Systeme. Sie vertrauen lage und Lösungsvorschlag angesichts zunehmender elek-
tronischer Möglichkeiten. Straßenverkehrsrecht (SVR) Heft
dabei aber zugleich möglicherweise zu Unrecht auf
6, 201–206 (2008)
eine unerreichbare technische Perfektion, also die 9 Kanz, C., Marth, C., von Coelln, C.: Haftung bei kooperati-
Abwesenheit eines maschinellen Steuerungsrisikos. ven Verkehrs‐ und Fahrerassistenzsystemen, Forschungs-
Die Frage nach der Akzeptanz dieses maschinellen bericht zum Projekt FE 89.0251/2010. BASt (2013). http://
Steuerungsrisikos ist deshalb von Bedeutung und www.bast.de/cln_032/nn_42642/DE/Publikationen/
Download-Berichte/downloads/haftung-assistenzsys-
bedarf parallel der Aufarbeitung.
teme.html, (Abgerufen 29.01.2014)
10 Bouska, W., Leue, A.: Straßenverkehrs‐Ordnung
Textausgabe mit Erläuterungen, Allgemeiner Verwal-
Literatur tungsvorschrift zur Straßenverkehrs‐Ordnung sowie
verkehrsrechtlichen Bestimmungen des Bundes‐Immis-
sionsschutzgesetzes, 23.  Aufl. Jehle Verlag, Heidelberg
Verwendete Literatur (2009)
1 Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J., 11 König, P.: In: Hentschel, König, Dauer, (Hrsg.) Straßenver-
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer, kehrsrecht‐Kommentar, 42. Aufl. C. H. Beck‐Verlag, Mün-
M., Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., Vogt, W.: Rechtsfolgen chen (2013)
zunehmender Fahrzeugautomatisierung. Gemeinsamer 12 Deutsches Zustimmungsgesetz zum Wiener Übereinkom-
Schlussbericht der BASt‐Projektgruppe „Rechtsfolgen zu- men über den Straßenverkehr findet sich in BGBl II, 1977,
nehmender Fahrzeugautomatisierung“ Dokumentteil 1 Bd. S. 810 ff. Dort ist der Vertragstext in den Sprachen Englisch,
F 83. Wirtschaftsverlag NW, Bergisch Gladbach (2012) Französisch und Deutsch abgedruckt. Der Vertragstext ist
2 Kraiss, K.-F.: Benutzergerechte Automatisierung – Grund- in der ursprünglichen Fassung in allen authentischen Spra-
lagen und Realisierungskonzepte. In: at – Automatisie- chen (Chinesisch, Französisch, Russisch, Spanisch) in der
rungstechnik 46, Bd. 10, S. 457–467. Oldenbourg Verlag, United Nations Treaty Collection „B Road Traffic“ unter Zif-
München (1998) fer 19 abrufbar: https://treaties.un.org/pages/CTCTreaties.
3 Albrecht, F.: Fahrerassistenzsysteme zur Geschwindigkeits- aspx?id=11&subid=B&lang=en (abgerufen am 01.02.2014)
beeinflussung. Deutsches Autorecht (DAR) Heft 4, 186–198 13 Gasser, T.: Rechtliche Aspekte bei der Einführung von Fah-
(2005) rerassistenz‐ und Fahrerinformationssystemen. Verkehrs-
4 Maurer, M.: Entwurf und Test von Fahrerassistenzsystemen. unfall und Fahrzeugtechnik (VKU) Heft 4, 224–231 (2009)
In: Handbuch Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl. Vieweg+- 14 Wessels, J., Beulke, W.: Strafrecht Allgemeiner Teil (Rn. 93),
Teubner, Wiesbaden (2009). Kapitel 5 42. Aufl. C. F. Müller Verlag, Heidelberg (2012)
5 National Highway Traffic Administration (NHTSA): Prelimi- 15 Gold, C., Damböck, D., Lorenz, L., Bengler, K.: “Take over!”
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Mai 2013), (Abgerufen: 21.01.2014) eines Fahrzeugherstellers für die Fehlauslösung von Air-
bags“. Abrufbar unter der Entscheidungsdatenbank des
54 Kapitel 3  •  Rahmenbedingungen für die Fahrerassistenzentwicklung

Bundesgerichtshofes unter Verwendung von Aktenzei- 31 Seeck, A.: Die Zukunft der Fahrzeugsicherheitsbewertung
1 chen oder Entscheidungsdatum: http://juris.bundesge- für Typzulassung und Euro NCAP 6. Internationale VDI‐Ta-
richtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/list.py?Gericht=b- gung Fahrzeugsicherheit – Innovativer Kfz‐Insassen‐ und
gh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288 (abgerufen am Partnerschutz, Berlin, 18.‐19. Oktober 2007. (2007)
2 01.02.2014)
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Airbags. Zeitschrift: Produkthaftung International (PHi)
3 198, 196 (2009)
18 Bewersdorf, C.: Zulassung und Haftung bei Fahrerassistenz-
systemen im Straßenverkehr. Duncker & Humblot, Berlin
4 (2005)
19 Bartels, A.: Grundlagen, technische Ausgestaltung und An-

5 forderungen. BASt‐Forschungsbericht: FE 88.0006/2009.


Veröffentlicht im Bericht der BASt‐Projektgruppe, Doku-
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6 zeugautomatisierung Bd. F 83. Wirtschaftsverlag NW,


Bergisch Gladbach, S. 27–44 (2012)
20 Smith, B.W.: Regulatory Approaches. Transportation Rese-
7 arch Board Workshop on Road Vehicle Automation (2013).
http://bit.ly/1dUIvvn, (Abgerufen: 07.04.2014)
21 Smith, B.W.: Autolaw 3.0, Transportation Research Board
8 Workshop on Road Vehicle Automation (2012). http://
onlinepubs.trb.org/onlinepubs/conferences/2012/Au-
tomation/presentations/WalkerSmith.pdf, (Abgerufen:
9 07.04.2014)
22 Smith, B.W.: Proximity‐Driven Liability, November 2013, 102
Geo. L. Rev. (2014). http://ssrn.com/abstract=2336234, (Ab-
10 gerufen: 07.04.2014)
23 Geier v. American Honda Motor Co, 529 U.S. 861, 120 S. Ct.
1913, 2000
11 24 Williamson v. Mazda Motor of America, Inc., 131 S. Ct. 1131,
2011
25 Smith, B.W.: Automated Vehicles Are Probably Legal in the
12 United States, November 2012. 1 Tex. A&M L. Rev. (2014).
http://cyberlaw.stanford.edu/publications/automated-ve-

13 hicles-are-probably-legal-united-states,
07.04.2014)
(Abgerufen:

26 Pressemitteilung: U.S. Department of Transportation

14 Announces Decision to Move Forward with Vehicle‐to‐


Vehicle Communication Technology for Light Vehicles,
Februar  2014. Im Internet veröffentlicht unter: http://
15 www.nhtsa.gov/About+NHTSA/Press+Releases/2014/US-
DOT+to+Move+Forward+with+Vehicle-to-Vehicle+Com-
munication+Technology+for+Light+Vehicles (abgerufen
16 am 07.04.2014)
27 Weiner, G., Smith, B.W.: Automated Driving: Legislative and
Regulatory Action (2014). https://cyberlaw.stanford.edu/
17 wiki/index.php/Automated_Driving:_Legislative_and_Re-
gulatory_Action, (Abgerufen: 07.04.2014)
28 EG‐Richtlinien und Verordnungen abrufbar unter: http://
18 ec.europa.eu/enterprise/sectors/automotive/documents/
directives/motor-vehicles/index_en.htm (abgerufen am
01.02.2014)
19 29 ECE‐Regelungen abrufbar unter: http://www.unece.org/
trans/main/welcwp29.htm (abgerufen am 01.02.2014)
30 Euro NCAP abrufbar unter: http://www.euroncap.com/
20 home.aspx (zuletzt abgerufen am 01.02.2014)
55 4

Verkehrssicherheit
und Potenziale
von Fahrerassistenzsystemen
Matthias Kühn, Lars Hannawald

4.1 Unfallstatistik – 56
4.2 Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen  –  65
Literatur – 70

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
56 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

4.1 Unfallstatistik nur eingeschränkt getroffen werden können. Damit


1 beschreibt diese Datenbasis eher schwere Schaden-
Für eine in die Zukunft gerichtete Aussage zur Wir- fälle und ist nicht für alle Fragestellungen mit der
2 kung von Fahrerassistenzsystemen (FAS) auf die amtlichen Verkehrsunfallstatistik oder GIDAS ver-
Verkehrssicherheit, ist es unbedingt notwendig, das gleichbar.
Unfallgeschehen zu kennen und zu verstehen. Die Der Fokus der Fahrzeughersteller hingegen liegt
3 dabei erkannten Unfallmuster sollten dann von dem vornehmlich auf Unfällen mit Beteiligung von Fahr-
FAS durch seine spezielle Funktionalität adressiert zeugen der eigenen Marke. Bei der Datenerhebung
4 werden. Dazu ist es nötig, sich vom allgemeinen, allerdings wird dann eine große, GIDAS-ähnliche
mit geringer Detailtiefe versehenen, aber repräsen- Detailtiefe erreicht. Die Basis der Unfallerhebungen
5 tativen Blick auf das Unfallgeschehen eines Landes des ADAC bilden hauptsächlich die Einsätze der
ins Detail der Unfälle vorzuarbeiten. Dies wiederum Luftrettung; die Unfalldaten werden anschließend
bedarf verschiedener Qualitäten von Unfalldatener- um weitere Angaben von Polizei, Krankenhaus
6 hebungen, die in spezielle Unfallstatistiken münden. und Feuerwehr angereichert. Unfallanalysen des
Dieses Feld wird gesäumt durch die repräsentativen DEKRA basieren auf den durch Dritte beauftragten
7 Erhebungen des Statistischen Bundesamtes auf Ba- technischen Gutachten, die jedoch wiederum noch
sis der Verkehrsunfallanzeigen an einem Ende und um medizinische Daten ergänzt werden müssen,
den „In-DEPTH“-Analysen verschiedener Unfall- um ein umfassenderes Bild vom Unfall zu geben.
8 forschungen im Umfeld ihrer Verkehrssicherheits- Beiden Datenerhebungen gemein ist, dass hierbei
arbeit am anderen Ende. Das sind in Deutschland leichte Unfälle unterrepräsentiert sind.
9 vor allem die German In-Depth Accident Study
(GIDAS) und die Unfalldatenbank der Deutschen
4.1.1 Unfallgeschehen
10 Versicherer (UDB). Aber auch Fahrzeughersteller,
in Deutschland
der ADAC und der DEKRA sind hier aktiv. Mit
Ausnahme der amtlichen Verkehrsunfallstatistik
11 sind die Erhebungen der genannten Organisationen Betrachtet man nun das Unfallgeschehen in
nicht frei zugänglich. Dabei unterscheiden sich die Deutschland über die letzten Jahrzehnte, zeigt sich
12 einzelnen Erhebungen im Ergebnis durch die unter- eine nahezu kontinuierliche Abnahme der Anzahl
schiedlichen zur Verfügung stehenden Datengrund- der Getöteten (s. . Abb. 4.1).
lagen und dem verfolgten Einsatzzweck innerhalb Wurden im Jahr  1970 noch 21.332 Personen
13 und außerhalb der Organisationen. auf deutschen Straßen (alte Bundesrepublik und
In ihrer Detailtiefe und Aussagekraft steht hier DDR) getötet, so waren es im Jahr 2012 nur noch
14 GIDAS an erster Stelle: Die Datenerhebungen am 3600. Für das Jahr 2013 sind 3338 getötete Verkehr-
Unfallort für eine repräsentative Auswahl von Ver- steilnehmer dokumentiert. Hierbei sank die Zahl
15 kehrsunfällen in einer definierten Region sind ein- der Unfälle mit Personenschäden von 377.610 im
malig. Das gemeinschaftliche Forschungsprojekt Jahr 1970 auf 291.037 im Jahr 2013 [1]. All diese
der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Zahlen sind vor dem Hintergrund der steigenden
16 Forschungsgemeinschaft Automobiltechnik (FAT) Verkehrsleistung zu betrachten und umso positiver
ist somit sehr gut für die Zwecke der Unfallfor- zu bewerten: So stieg der Bestand aller Kraftfahr-
17 schung geeignet. Demgegenüber steht die UDB, die zeuge in Deutschland von 16,8 Mio. im Jahr 1970
Schadendaten der Versicherer zur Grundlage hat: auf 53,8 Mio. im Jahr 2012. Die von den Kraftfahr-
Die Daten basieren auf einer repräsentativen Aus- zeugen zurückgelegten Fahrleistungen verdreifach-
18 wahl von Kraftfahrt-Haftpflicht-Schäden mit einem ten sich nahezu von 251 Mrd. km im Jahr 1970 auf
Schadenaufwand von mindestens 15.000 Euro und 719,3 Mrd. km im Jahr 2012. Dabei ist der Pkw das
19 mindestens einem Personenschaden; diese werden dominierende Verkehrsmittel mit ca. 43 Mio. zuge-
allerdings nicht vor Ort durch die Unfallforschung lassenen Fahrzeugen im Jahr 2012, die 610,1 Mrd.
20 der Versicherer begutachtet. Das hat zur Folge, dass km zurücklegten, mithin etwa 85 % der Gesamt-
bestimmte Aussagen zum Fahrzeug etc. nicht oder fahrleistungen aller Kraftfahrzeuge.
4.1 • Unfallstatistik
57 4

.. Abb. 4.1  Entwicklung der Verkehrssicherheit anhand der


Zahl Getöteter im Straßenverkehr in Deutschland [1]

Erste Hinweise auf Handlungsfelder zur weite-


ren Erhöhung der Verkehrssicherheit in Deutsch-
land zeigt die Getötetenverteilung für das Jahr 2012
(s. . Abb. 4.2).
Es wird deutlich, dass 60 % der Getöteten auf
Landstraßen verunglücken. Bei mehr als einem .. Abb. 4.2 Verkehrstote in Deutschland nach Ortslage im
Jahr 2012 [2]
Viertel dieser Getöteten liegt ein Baumunfall zu-
grunde. Im Innerortsbereich werden etwas mehr
als 1000 Personen im Straßenverkehr getötet, bei
denen es sich hauptsächlich um ungeschützte Ver-
kehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer han-
delt. Die verbleibenden 387 Getöteten versterben
auf Autobahnen. Eine Betrachtung der Getöteten
nach der Art der Verkehrsteilnahme zeigt auf, dass
im Jahr 2012 in etwa die Hälfte der 3600 getöteten
(1791) Pkw-Insassen waren, etwa 20 % Motorrad-
aufsassen (679) und etwa 25 % nichtmotorisierte,
ungeschützte Verkehrsteilnehmer (520 Fußgänger
sowie 406 Radfahrer).
Ebenfalls anhand der Getötetenverteilung im .. Abb. 4.3  Verkehrstote in Deutschland nach Unfalltyp im
Jahr  2012 ist die Verteilung der Unfalltypen in Jahr 2012 [2]

. Abb. 4.3 dargestellt. Man erkennt den größten


Anteil an der Zahl der Getöteten beim Fahrunfall, letzten Verkehrsteilnehmer verunglückten inner-
gefolgt vom Unfall im Längsverkehr und dem Ein- orts, etwa zwei Fünftel verunglückten auf Landstra-
biegen/Kreuzen-Unfall. ßen und weniger als 10 % auf Autobahnen.
Gerade beim Fahrunfall, der definitionsgemäß Neben der Ortslage als unfallspezifischem Pa-
klassifiziert wird, wenn ein Kontrollverlust über das rameter lassen sich verschiedene beteiligtenspezifi-
Fahrzeug vorliegt, da die Geschwindigkeit nicht sche Parameter auswerten: Einen wichtigen Parame-
entsprechend dem Verlauf, dem Querschnitt, der ter stellt dabei das Alter des Unfallverursachers dar.
Neigung oder dem Zustand der Straße angepasst Bezogen auf alle Unfälle mit Personenschaden im
wird, erkennt man bereits den gewichtigen Anteil Jahr 2012 ergibt sich folgende Verteilung der Haupt-
der Fahrgeschwindigkeit am Unfallgeschehen. verursacher nach Altersgruppen (s. . Abb. 4.5):
Betrachtet man die Situation für die schwer- Man erkennt, dass im Alter von 18 bis 25 Jahren
verletzten Verkehrsteilnehmer im Straßenver- ein deutlich höherer Anteil an Unfallverursachern
kehr im Jahr 2012, so ergibt sich ein anderes Bild im Vergleich zu anderen Altersgruppen zu verzeich-
(s. . Abb. 4.4). Mehr als die Hälfte aller schwerver- nen ist. Der geringe Anteil an älteren Hauptverur-
58 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

ten Fußgänger erwartet. Dies gilt auch für die Zahl


1 der Getöteten und Schwerverletzten. Bezogen auf
alle schweren Personenschäden verzeichnen die
2 Anteile der Fußgänger sowie Pkw-Insassen starke
Rückgänge. Jedoch gewinnen vor allem die Krad-
nutzer sowie Radfahrer anteilsmäßig an Bedeutung.
3 Dies ergibt sich nicht aus einer Zunahme der Ab-
solutzahlen, vielmehr resultiert dies aus den unter-
4 schiedlichen Rückgängen an Verunglücktenzahlen
der verschiedenen Arten der Verkehrsbeteiligung.
5 Um zukünftig Unfälle noch besser zu verstehen
und Maßnahmen noch gezielter ergreifen zu kön-
nen, ist es notwendig, neben den Getöteten auch die
6 Gruppe der schwerstverletzten Verkehrsteilnehmer
zu betrachten. Verbesserte Fahrzeugtechnik und ein
7 besseres Rettungswesen führen u. a. zu einer Redu-
zierung der Zahl an Getöteten, allerdings zu einem
.. Abb. 4.4 Schwerverletzte Unfallopfer in Deutschland nach möglichen Anstieg der Zahl an Überlebenden mit
8 Ortslage im Jahr 2012 [2]
schwersten Verletzungen. Die Qualität der Ver-
kehrssicherheitsarbeit darf sich also nicht nur an der
9 sachern lässt sich teilweise auch mit der sinkenden Reduktion der Getöteten messen lassen. Studien­
Fahrleistung im Alter begründen. Somit können tat- ergebnisse legen nahe, dass etwa 10 % der amtlich
10 sächliche Altersrisikogruppen bei der Verursachung schwerverletzten Verkehrsteilnehmer lebensbedroh-
von Verkehrsunfällen nur fahrleistungsbereinigt an- liche Verletzungen erleiden. Dies entspricht für das
gegeben werden. Stellt man beispielsweise die Zahl Jahr 2012 etwa 6000 bis 7000 polytraumatisierten
11 der Unfallverursacher je Altersgruppe in Verhält- Personen [5]. Die heutige Kategorie der Schwerver-
nis zur Zahl der Nichtunfallverursacher je Alters- letzten nach amtlicher Statistik basiert nur auf dem
12 gruppe, erhält man ein relatives Risiko je Alters- Kriterium der stationären Krankenhausbehandlung
gruppe in einen Unfall als Verursacher involviert zu von mindestens 24 Stunden. Diese große Gruppe ist
sein. Mit der Annahme, dass sich die Fahrleistung folglich sehr heterogen und lässt keine Aussage über
13 innerhalb einer Altersgruppe zwischen Unfallver- die lebensbedrohlich Verletzten zu. Deshalb wird in
ursacher und Nichtunfallverursacher nicht unter- Deutschland an der Einführung einer Untergruppe
14 scheidet – wohl aber zwischen den Altersgruppen für Schwerstverletzte auf Basis der Maximum Abbre-
verschieden ist – lassen sich damit die Altersrisiko- viated Injury Scale (MAIS) gearbeitet, die dann u. a.
15 gruppen wie in (s. . Abb. 4.6) darstellen, bei denen eine zielgerichtete Unfallanalyse, die Entwicklung
der Einfluss der Fahrleistung bereits eliminiert ist. subgruppenspezifischer präventiver Maßnahmen
Zukünftig wird die Gestaltung der Megatrends und eine exaktere Schätzung der volkswirtschaftli-
16 motorisierter Individualverkehr, autonomes Fah- chen Kosten schwerer Verkehrsunfälle ermöglichen
ren, Elektromobilität und demografischer Wan- würde. In die gleiche Richtung zielt die für 2015 er-
17 del die Entwicklung der Verkehrssicherheit stark wartete europaweite Harmonisierung der Definition
beeinflussen. Prognosen für die Unfallzahlen der von schwerverletzten Straßenverkehrsunfallopfern
Jahre 2015 und 2020 gehen von einer Reduktion der auch auf Basis des MAIS [6].
18 Unfälle mit Personenschaden auf 279.000 Unfälle
bzw. 234.000 Unfälle aus [4]. Nach dieser Prognose
19 wird im Jahr 2015 mit 3212 bzw. 2497 Getöteten im
Jahr 2020 gerechnet, für die Jahre 2015 und 2020
20 wird demnach ein deutlicher Rückgang bei der Zahl
verunglückter Pkw-Insassen und der verunglück-
4.1 • Unfallstatistik
59 4

.. Abb. 4.5 Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden nach Altersgruppen im Jahr 2012 [2]

.. Abb. 4.6  Anteil Hauptverursacher (Pkw-Fahrer) von Unfällen mit Personenschaden nach Altersgruppen [3]
60 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

4.1.2 Weltweites Unfallgeschehen Zu jedem Getöteten weltweit kommen noch


1 einmal ca. 20–50 verletzte Verkehrsteilnehmer, de-
Der Rückgang bei der Zahl schwerverletzter und ren Verletzungsschweren von sehr leicht bis hinzu
2 getöteter Verkehrsteilnehmer der vergangenen Jahr- massiven Einschränkungen und Langzeitfolgen rei-
zehnte in Deutschland lässt sich weltweit nicht über- chen [7].
all bestätigen. In 88  Ländern konnte die Zahl der Die WHO schlägt dabei folgende Maßnahmen
3 Getöteten von 2007 bis 2010 reduziert werden. In zur Verringerung der Zahl an Unfällen und Getö-

4
5
87 Ländern dagegen stieg die Zahl der Getöteten im
gleichen Zeitraum. 2010 gab es ca. 1,24 Mio. Verkehr-
stote weltweit [7]. Der Report der World Health Orga-
nisation (WHO) stützt seine Auswertungen dabei auf
-
teten weltweit vor [7]:
Sicherheitsgurt – Die Benutzung des Sicher-
heitsgurtes würde das Risiko tödlicher Verlet-
zungen von Frontinsassen um 50 % und von

6
Angaben, die von jedem Land geliefert werden. Da
nicht alle Ergebnisse und Zahlen vergleichbar sind,
existieren noch eine Reihe von Umrechnungsmetho-
den. Im aktuellen WHO-Report konnten so 175 Län-
- Fondinsassen sogar um 75 % reduzieren.
Geschwindigkeit – Eine Reduzierung der
Durchschnittsgeschwindigkeit um 5 % hätte
eine Reduzierung der Zahl Getöteter von über
7
8
der weltweit in die Analyse einbezogen werden [7].
Schwierig dabei gestaltet sich zunächst die welt-
weit einheitliche Anwendung der 30-Tage-Defini-
tion: Diese besagt, dass als Getöteter klassifiziert
- 30 % zur Folge.
Alkoholkonsum – Eine strikte Einführung
einer Grenze von maximal 0,5 Promille
Blutalkoholkonzentration könnte bei strikter
wird, wer innerhalb der ersten 30 Tage an den Fol- Kontrolle die Zahl der Getöteten um 20 %
9
10
gen des Verkehrsunfalls verstirbt. Nur als Verletzter
wird statistisch erfasst, wer nach diesen 30 Tagen
verstirbt. Nur 51 % aller Länder nutzen dieses Kri-
terium bisher, andere Länder liefern teilweise nur
- reduzieren.
Motorradhelm – Eine verbindliche Vorschrift
zur Nutzung von Motorradhelmen reduziert
das Risiko, bei einem Unfall zu versterben, um
Zahlen von Getöteten, die direkt an der Unfallstelle 40 %, das Risiko schwerer Kopfverletzungen

-
11 verstorben sind. Für diese Länder wird die verein- um 70 %.
heitlichte Zahl an Getöteten, die innerhalb von Kinderrückhaltesysteme – Die Wahrschein-
12 30 Tagen an den Folgen des Unfalls verstorben sind, lichkeit tödlicher Verletzungen kann bei Nut-
durch Umrechnungsmethoden prognostiziert. zung von Kinderrückhaltesystemen um rund
Der Tod durch Verkehrsunfälle rangiert der- 70 % bei Babys und zwischen 54 und 80 % bei
13 zeit an achter Stelle der Todesursachen und in der Kindern reduziert werden.
Gruppe der 15- bis 29-Jährigen sogar an erster Stelle;
14 rund drei von vier Getöteten sind dabei Männer [7]. Diese Maßnahmen sollen in der aktuellen „Decade
Obwohl nur die Hälfte aller Fahrzeuge weltweit in for Action on Road Safety“ forciert werden. Bei
15 Ländern mit mittleren Einkommen zugelassen ist, gleichbleibender und nicht steigender Verkehrssi-
beläuft sich der Anteil an Getöteten hingegen auf cherheit prognostiziert man für das Jahr 2020 auf-
80 % [7]. Nahezu 23 % aller getöteten Verkehrsteil- grund des zunehmenden Verkehrs – insbesondere
16 nehmer weltweit sind Motorradfahrer, 22 % Fuß- in den Entwicklungsländern – einen Anstieg um
gänger und ca. 5 % Radfahrer. Diese ungeschützten mehr als 50 % auf dann weltweit 1,9 Mio. Verkehrs­
17 Verkehrsteilnehmer machen somit insgesamt die tote jährlich.
Hälfte aller weltweit Getöteten im Straßenverkehr
aus [7]. In Ländern mit durchschnittlich niedrigeren
18 Einkommen ist das Risiko, an einem Verkehrsunfall 4.1.3 Unfallgeschehen
zu sterben, mehr als doppelt so hoch wie in Län- nach Fahrzeugart
19 dern mit starker wirtschaftlicher Leistung. Auch in
Ländern mit hohen Durchschnittseinkommen sind Zum weiteren Verständnis des Unfallgeschehens
20 sozial schwächer gestellte Menschen stärker gefähr- der einzelnen Fahrzeugarten trägt ein Wechsel
det, im Straßenverkehr ums Leben zu kommen [7]. der Betrachtungsebene und das Heranziehen von
4.1 • Unfallstatistik
61 4

.. Tab. 4.1  Verteilung der Unfallarten in Abhängigkeit der Fahrzeugart auf Basis einer GIDAS-Auswertung [3]

Unfälle unter Beteiligung von: Pkw Lkw Bus Tram Motorrad Fahrrad

Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das anfährt, 4,1 % 5,0 % 3,7 % 3,7 % 5,0 %
anhält oder im ruhenden Verkehr steht

Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das voraus- 16,1 % 27,4 % 5,7 % 11,7 % 2,9 %
fährt oder wartet

Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das seitlich 4,7 % 10,6 % 7,6 % 7,4 % 5,3 %
in gleicher Richtung fährt

Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, das entge- 7,5 % 9,4 % 5,1 % 6,8 % 5,5 %
genkommt

Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug, 39,3 % 27,2 % 34,2 % 38,4 % 62,2 %


das einbiegt oder kreuzt

Zusammenstoß zwischen Fahrzeug und Fußgänger 11,0 % 6,9 % 23,1 % 2,6 % 4,3 %

Aufprall auf ein Hindernis auf der Fahrbahn 0,2 % 0,3 % 0,2 % 1,2 % 1,0 %

Abkommen von der Fahrbahn nach rechts 7,9 % 6,1 % 0,8 % 8,2 % 1,6 %

Abkommen von der Fahrbahn nach links 6,4 % 3,9 % 0,3 % 4,0 % 1,0 %

Unfall anderer Art 2,9 % 3,1 % 19,1 % 15,9 % 11,2 %

In-DEPTH-Unfalldaten bei. . Tabelle 4.1 zeigt eine 4.1.3.1 Pkw


Übersicht der Unfallarten für verschiedene Fahrzeuge Basierend auf 1641 Schadenfällen in der UDB kann
entsprechend einer GIDAS-Analyse [3]. Diese ver- das Pkw-Unfallgeschehen anhand der Unfallart cha-
deutlicht, dass bereits diese einfache Unterscheidung rakterisiert werden (s. . Abb. 4.7).
spezielle Unfallmuster für die einzelnen Fahrzeu- Dabei werden mehr als 50 % der Unfälle mit
garten hervortreten lässt. So ist der Anteil von Zu- Pkw-Beteiligung durch den Zusammenstoß mit ei-
sammenstößen mit anderen Fahrzeugen, die voraus- nem anderen Fahrzeug, das einbiegt oder kreuzt,
fahren oder warten, beim Lkw mit 27,4 % deutlich und dem Zusammenstoß mit einem anderen Fahr-
höher – verglichen mit den anderen Fahrzeugarten. zeug, das vorausfährt oder wartet bzw. anfährt, an-
Für den Bus und die Tram kristallisiert sich der Zu- hält oder im ruhenden Verkehr steht, beschrieben.
sammenstoß mit einem Fußgänger im Vergleich zu Die häufigsten zu Unfällen führenden Feh-
den anderen Fahrzeugarten als häufigeres Ereignis ler bei den Pkw-Führern sind . Abb. 4.8 zu ent-
heraus. Beim Fahrrad dominiert der Zusammenstoß nehmen. Es ist zu erkennen, dass das Abbiegen,
mit anderen Fahrzeugen, die einbiegen oder kreuzen, Wenden etc. mit dem Nichtbeachten der Vorfahrt
über alle anderen Unfallarten innerhalb des Fahrrads, in etwa gleichauf liegt, dicht gefolgt von nicht an-
aber auch über alle anderen Fahrzeugarten hinweg. gepasster Geschwindigkeit und ungenügendem
Für die weiterführenden vertieften Analysen für Sicherheitsabstand. Allen Fahrzeugarten gemein
das Unfallgeschehen verschiedener Fahrzeugarten ist, dass nicht näher spezifizierbare „andere Feh-
wurde die Unfalldatenbank der Versicherer (UDB) ler“ deutlich hervortreten. Dies zeigt zum einen,
herangezogen. Die UDB basiert auf Schadenfällen dass bei Kenntnis dieser Ursachen ein anderes La-
der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung und über- gebild abzuleiten wäre und zum anderen die natio-
steigt in ihrer Informationstiefe die der Bundessta- nale Verkehrsunfallstatistik bei der Beantwortung
tistik deutlich. Sie ist vergleichbar mit GIDAS, al- der Frage nach der Unfallursache an ihre Grenzen
lerdings ist ihre Aussagefähigkeit an einigen Stellen stößt – denn auch die Angaben zur z. B. nicht an-
eingeschränkt, da keine Analyse des Unfalls vor Ort gepassten Geschwindigkeit sind hier kritisch zu
durchgeführt wird. hinterfragen.
62 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

1 Pkw-Schadenfälle in der UDB [100%] Anteil


in %
nicht angepasste Geschwindigkeit 14 %
(1)
2 Zusammenstoß
mit anderem Fahr-
ungenügender Sicherheitsabstand 14 %

zeug, das einbiegt 34,5

3 oder kreuzt Nichtbeachten der Vorfahrt 17 %

(2)
Abbiegen, Wenden, Rückwärts- und Anfahren 18 %
Zusammenstoß
4 mit anderem
Fahrzeug, das andere Fehler 16 %
vorausfährt oder 22,2
5 wartet
anfährt, anhält oder
0% 5% 10 % 15 % 20 %
im ruhenden
6 Verkehr steht
.. Abb. 4.8  Die häufig­sten Unfallursachen bei Pkw-Unfällen
(3) mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
Zusammenstoß mit
7 anderem Fahrzeug,
das entgegenkommt
15,5
bilden das zweite typische Unfallmuster. Für diese
Analyse wurden 443  Schadenfälle mit Lkw-Be-
8 (4)
teiligung detailliert untersucht [8]. Bei den Ursa-
Zusammenstoß
zwischen Fahrzeug 12,1 chen der Unfälle dominieren der ungenügende
9 und Fußgänger Sicherheitsabstand und Fehler beim Abbiegen etc.
(s. . Abb. 4.10).
(5)
10 Zusammenstoß mit
4.1.3.3 Busse
anderem Fahrzeug, 6,9
das seitlich in glei- Die Analyse der Unfälle mit Beteiligung von
-
11 cher Richtung fährt
Kraftomnibussen ergab, dass es sich in etwa 30 %
(6) um Unfälle im Längsverkehr handelte, in 18 % um
12 Abkommen von
6,3
einen Abbiegeunfall und in 17 % um einen Fah-
der Fahrbahn nach runfall, bei dem der Fahrer die Kontrolle über sein
rechts/links
Fahrzeug verlor. Bezieht man den Einbiegen/Kreu-
13 zen-Unfall mit einem Anteil von etwa 15 % in die
(7)
Betrachtungen mit ein, so dominiert der Unfall an
14 Aufprall auf ein
Hindernis auf 0,1 Einmündungen und Kreuzungen mit etwa 33 %.
der Fahrbahn Die häufigsten Unfallursachen sind in Abbil-
15 dung . Abb. 4.11 dargestellt. Wie bereits erwähnt,
.. Abb. 4.7  Die häufigsten Pkw-Unfallszenarien entspre-
kann die Kenntnis der Ursachen in der dominieren-
den Gruppe der „anderen Fehler“ das Bild und da-
16 chend der Unfalldatenbank der Versicherer [8]
mit die Maßnahmenfindung erheblich beeinflussen.

17 4.1.3.2 Lkw 4.1.3.4 Motorisierte Zweiräder (MZR)


Für Unfälle mit Lkw-Beteiligung ergibt sich das in Motorradfahrer zählen zu den stark gefährdeten
Abbildung . Abb. 4.9 dargestellte Bild der häufigs- Verkehrsteilnehmern: Beschleunigung, Geschwin-
18 ten Unfallszenarien. digkeit, schmale Silhouette, Fehleinschätzungen
Die Analysen zeigen, dass der Zusammenstoß beim Führen eines Einspurfahrzeuges, aber auch
19 mit einem anderen Fahrzeug, das sich in gleicher andere Verkehrsteilnehmer verursachen Motorra-
Richtung bewegt, entweder seitlich oder voraus- dunfälle, die häufig für den Fahrer mit schweren
20 fahrend, etwa 50 % der Unfälle beschreibt. Unfälle oder tödlichen Verletzungen enden. Unter anderem
mit einbiegenden oder kreuzenden Fahrzeugen ist es auch deshalb sinnvoll, die Unfalldaten nach
4.1 • Unfallstatistik
63 4

Lkw-Schadenfälle in der UDB [100%] Anteil


in %
nicht angepasste Geschwindigkeit 12 %
(1)
Zusammenstoß
mit anderem ungenügender Sicherheitsabstand 17 %
Fahrzeug, das
31,6
vorausfährt oder Nichtbeachten der Vorfahrt 13 %
wartet
anfährt, anhält oder
Abbiegen, Wenden, Rückwärts- und Anfahren 17 %
im ruhenden
Verkehr steht
(2) andere Fehler 17 %

Zusammenstoß
mit anderem Fahr- 22,3
zeug, das einbiegt 0% 5% 10 % 15 % 20 %
oder kreuzt
.. Abb. 4.10  Die häufigsten Unfallursachen bei Lkw-Unfällen
(3) mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
Zusammenstoß mit
anderem Fahrzeug, 18,5
das seitlich in glei-
cher Richtung fährt
(4) 13 % ungenügender Sicherheitsabstand

Zusammenstoß mit
anderem Fahrzeug, 14,3
Abbiegen, Wenden,
das entgegenkommt 12 %
Rückwärts- und Anfahren

(5) 11 %
falsches Verhalten
gegenüber Fußgängern
Abkommen von
der Fahrbahn nach 5,1
rechts/links 36 % andere Fehler

(6)
Zusammenstoß 0% 10 % 20 % 30 % 40 %
zwischen Fahrzeug 4,4
und Fußgänger .. Abb. 4.11  Die häufigsten Unfallursachen bei Bus-Unfällen
mit Personenschaden im Jahr 2012 [2]
(7)
Aufprall auf ein chung unterteilt und mit Auswertungen der Un-
Hindernis auf 0,4
der Fahrbahn falldatenbank der Versicherer (UDB) angereichert
[8]. Das dafür zugrunde liegende Unfallmaterial
umfasst 880 Unfälle mit MZR.
.. Abb. 4.9  Die häufigsten Lkw-Unfallszenarien entspre-
chend der Unfalldatenbank der Versicherer [8] Die Analysen der Alleinunfälle (siehe
. Abb. 4.13) zeigen, dass 56 % aller Alleinunfälle
durch einen Sturz aus Geradeausfahrt entstehen, an
Hauptverursacher und Beteiligte zu unterschei- zweiter und dritter Stelle folgen das Abkommen von
den (s. . Abb. 4.12). Addiert man die Alleinunfälle der Fahrbahn nach rechts mit 26 % und das Abkom-
und die Unfälle mit zwei Beteiligten, die durch men von der Fahrbahn nach links mit 12 %. Diese
den MZR-Fahrer verursacht wurden, so lässt sich beiden Szenarien werden geprägt durch nicht ange-
die Aussage ableiten, dass 51 % aller Unfälle durch passte Geschwindigkeit in Kurven und ungünstige
MZR-Fahrer verursacht wurden. Witterungsbedingungen.
Um die typischen Unfallszenarien zu erkennen, Bei den Unfällen mit zwei Beteiligten, bei de-
wurden im Folgenden die Alleinunfälle sowie die nen der MZR-Fahrer als Hauptverursacher einzu-
Unfälle mit zwei Beteiligten nach Hauptverursa- stufen war (siehe . Abb. 4.14), ist das Szenario des
64 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

n = 44.066 .. Abb. 4.12 Unfallbetei-
1 Unfälle mit mehr
als zwei Beteiligen
ligung bei Unfällen mit
6%, n = 2.540
motorisierten Zwei­
rädern in Deutschland
2 mot. Zweirad im Jahr 2012 [2]
als Unfall-
verursacher*
3 33%, n = 9.931

4 Alleinunfälle
26%, n = 11.312
mot. Zweirad
5 Unfälle mit zwei Beteiligten
als Beteiligter*
67%, n = 20.283
68%, n = 30.214

6
7
*: ohne Mehrfachnennungen
8
9 .. Abb. 4.13 Unfallszena-
rien bei Alleinunfällen von
n = 61
motorisierten Zweirädern
10 [8]

11
12 Abkommen von der
Fahrbahn nach rechts
26%, n = 20

13 Sturz aus Geradeaus-Fahrt


56%, n =28

14 Abkommen von
der Fahrbahn
nach links
15 12%, n = 9

16
17 Sturz beim
Fahrstrefienwechsel
Sturz beim nach rechts

18 Fahrstreifenwechsel 6%, n = 2
nach links
2%, n = 2

19
20
4.2  •  Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen
65 4
.. Abb. 4.14 Unfallszena-
rien bei Unfällen mit zwei
Beteiligten und dem moto-
risierten Zweiradfahrer als
Hauptverursacher [8]

Zusammenstoß mit
seitlich in gleicher
Richtung fahrendem
Fahrzeug
Zusammenstoß mit
24%, n = 43
stehendem, parkendem
oder verkehrsbedingt
haltendem Fahrzeug
8%, n = 15
Zusammenstoß mit
entgegenkommendem
Fahrzeug
41%, n = 74 Zusammenstoß mit einem
von rechts kommendem
Fahrzeug
16%, n = 30

Zusammenstoß mit
einem von links
kommendem Fahrzeug
16%, n = 30
n = 181

Zusammenstoßes mit einem entgegenkommenden Zusammenstoß mit einem in gleicher Richtung fah-
Fahrzeug mit 41 % am häufigsten vertreten, gefolgt renden MZR mit 20 % und dem Zusammenstoß mit
vom Zusammenstoß mit einem in gleicher Richtung einem von rechts kommenden MZR mit 17 %.
fahrenden Fahrzeug mit 24 % und vom Zusammen-
stoß mit einem von rechts kommenden Fahrzeug
mit 16 %. Weitere Szenarien sind der Zusammen- 4.2 Sicherheitspotenzial
stoß mit einem stehenden, parkenden oder ver- von Fahrerassistenzsystemen
kehrsbedingt haltenden Fahrzeug mit 8 % sowie der
Zusammenstoß mit einem von links kommenden Fahrerassistenzsysteme sind elektronische Systeme
Fahrzeug mit ebenfalls 8 %. im Fahrzeug, die den Fahrer bei seiner Fahraufgabe
Die Auswertung der Unfälle mit zwei Betei- unterstützen sollen. Diese enthalten häufig die Prä-
ligten, bei denen der MZR-Fahrer als Unfallbetei- missen einer Steigerung des Fahrkomforts, der Si-
ligter hervorging (siehe . Abb. 4.15), zeigen den cherheit oder der Ökonomie des Fahrens. In diesem
Zusammenstoß mit einem von links kommenden Kapitel wird ausschließlich auf den Aspekt der Si-
MZR mit 32 % und den Zusammenstoß mit einem cherheit von Fahrerassistenzsystemen eingegangen.
entgegenkommenden MZR mit 29 % als die domi- In engem Zusammenhang mit der Sicher-
nierenden Unfallszenarien. Sie werden gefolgt vom heit von Fahrzeugen stehen Unfallsituationen. In
66 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

n = 378 .. Abb. 4.15 Unfallsze-
1 narien bei Unfällen mit
zwei Beteiligten und dem
motorisierten Zweiradfah-
2 rer als Beteiligten [8]

Zusammenstoß mit
3 entgegenkommendem
Motorrad Zusammenstoß mit
29%, n = 111 in gleicher Richtung

4 fahrendem Motorrad
20%, n = 75

5 Zusammenstoß mit
von rechts
Zusammenstoß mit
6 von links kommendem
kommendem
Motorrad
Motorrad 17%, n = 66
32%, n = 120
7
8
Zusammenstoß mit
stehendem oder
9 parkendem Motorrad
2%, n = 6

10
das zu späte Erkennen eines Bremsmanövers des
vorausfahrenden Fahrzeugs oder auch ein auf die
11 Straße rennendes Kind sein. Nach Eintreten die-
ser Situation folgt die Phase der Gefahr. Diese zwei
12 Phasen treten im täglichen Verkehrsgeschehen re-
lativ häufig auf, ohne dass dies jedes Mal zwingend
zu einem Unfall führt. Die kritische Schwelle eines
13 Unfalls wird erst mit dem Erreichen des Zeitpunkts
.. Abb. 4.16  Unfallablaufphasen nach dem ACEA-Modell
der Unvermeidbarkeit, besser bekannt als „point of
14 und Einordnung der Bereiche aktiver, passiver und tertiärer
Sicherheit und Fahrer­assistenz no return“, überschritten. Im Anschluss folgt die
Phase vor der Kollision die je nach Unfall relativ
15 der folgenden Abbildung ist ein Unfallablauf mit kurz ist. Nach dem Anprall folgt die Phase wäh-
seinen einzelnen Phasen schematisch dargestellt rend der Kollision und endet mit dem Stillstand
(s.  . Abb. 4.16). Diese Darstellung wurde vom aller Beteiligten in Unfallendlage – in dieser Phase
16 europäischen Dachverband der Automobilindu- entstehen üblicherweise die höchsten Belastungen
strie entwickelt (Association des Constructeurs und damit auch die Verletzungen der Beteiligten.
17 Européens d’Automobiles – ACEA). Demgemäß Die Phase nach der Kollision betrifft dann even-
durchläuft jeder Unfall verschiedene Phasen, be- tuelle Rettungsmaßnahmen, beispielsweise mit der
ginnend mit der Phase „Normalfahrt“, in der der Absetzung eines Notrufs.
18 Unfall für den Fahrer zwar noch nicht absehbar Man erkennt, dass sich der Bereich von aktiven
ist, jedoch bereits konditionelle Aspekte wie bei- Sicherheits- und Fahrerassistenzsystemen in den
19 spielsweise die bisherige Fahrtdauer schon auf vorkollisionären Phasen 1 bis 3 befindet und mit
den Fahrer einwirken. Diese Phase endet mit der dem ersten Anprall endet. Je nach Wirkbereich des
20 unfallauslösenden kritischen Situation, die jedem Systems kann erreicht werden, dass keine kritische
Unfall voransteht. Diese kritische Situation kann Situation mehr entsteht (z. B. das Navigationssys-
4.2  •  Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen
67 4

tem, das die Ablenkung des Fahrers von der Fahr- Einfluss eines FAS nicht mehr stattgefunden hätte.
aufgabe minimiert; Adaptive Cruise Control, die Zeigt die Analyse aber, dass er dennoch passiert
für die Einhaltung eines ausreichenden Abstands wäre, jedoch möglicherweise mit leichteren Unfall-
sorgt) oder die bereits eingetretene kritische Situa- folgen, so gilt dieser als positiv beeinflussbar.
tion entschärft (z. B. ESC) oder aber zumindest die Wesentlich genauer kann die Darstellung mit-
Aufprallenergie reduziert wird, wenn der Zeitpunkt tels Simulation durchgeführt werden: Auch hierbei
der Unvermeidbarkeit bereits überschritten ist (z. B. werden die Unfälle in einer prospektiven Betrach-
Bremsassistent). Durch diese Vielfalt und das breite tungsweise nach der Methode „Was wäre wenn …“
Wirkspektrum von Fahrerassistenzsystemen bedarf untersucht. Durch die mittlerweile sehr detailgetreu
es spezieller Methoden bei der Bestimmung des Si- abbildbare Unfallsituation in der Simulationsumge-
cherheitspotenzials. bung können auch Systeme in Hinblick auf Ihren
Nutzen bewertet werden, die in Ihrer Funktiona-
lität deutlich komplexer agieren. In Hinblick auf
4.2.1 Methoden zur Bewertung warnende und informierende Systeme ist zudem
des Sicherheitspotenzials noch die menschliche Reaktion in Form eines Fah-
von FAS rermodells abzubilden. Die Definition dieses Fah-
rermodells stellt dabei eine große Herausforderung
Das Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsys- dar, da nicht immer von einer adäquaten Reaktion
temen (FAS) kann auf unterschiedliche Art und des Fahrers ausgegangen werden kann. In der Stu-
Weise bestimmt werden. So kann beispielsweise ein die „Equal Effectivness for Pedestrian Safety“ [10]
retrospektiver Vergleich zwischen zwei Unfallgrup- wurde beispielsweise der Nutzen eines Bremsassis-
pen durchgeführt werden: „Fahrzeuge mit FAS“ vs. tenten in Bezug auf alle Fußgängerunfälle in GIDAS
„Fahrzeuge ohne FAS“. Lie et al. haben diesen An- untersucht. Dabei wurden in allen Unfallszenarien
satz für den Wirksamkeitsnachweis der „Electronic mit Pkws untersucht, welche positiven Auswirkun-
Stability Control“ (ESC) auf Basis von schwedischen gen ein Notbremsassistent durch die zu erwartende
Unfalldaten angewendet [9]. geringere Anprallgeschwindigkeit des Fahrzeugs
Für die im Folgenden dargestellten Ergebnisse am Fußgänger hat. Im Anschluss an diese Einzel-
wurde die alternative Methode „Was wäre wenn…“ fallbetrachtung von über 700 realen Fußgängerun-
verwendet [8]. Hierbei wird der Unfallablauf be- fallszenarien wurden die Reduzierungen der Zahl
trachtet – so wie er in der Realität stattfand – und schwerverletzter und getöteter Fußgänger mit den
dem errechneten Unfallablauf ein generisches Fah- bekannten Reduktionspotenzialen anderer Fußgän-
rerassistenzsystem gegenübergestellt. Generisch be- gerschutzmaßnahmen verglichen [10].
deutet in diesem Zusammenhang ein System, das Alternativ kann auch der Field Operational
frei zusammengestellte Systemeigenschaften besitzt Test (FOT) zur Analyse des Sicherheitspotenzials
und damit kein Produkt auf dem Markt abbildet. zum Einsatz kommen. Dieser wird hauptsächlich
Auf diese Weise kann ermittelt werden, welchen zur Evaluierung von neuen Technologien, z. B. auch
Einfluss ein bestimmtes Fahrerassistenzsystem auf FAS, eingesetzt [11]. Dazu wird das Fahrzeug mit
das Unfallgeschehen hätte, wenn alle Fahrzeuge umfangreicher Messtechnik ausgestattet, der Fahrer
mit dem betrachteten System ausgestattet wären. wird dann instruiert, beispielsweise einen Zeitraum
Zur Umsetzung dieser Methode müssen sowohl die mit eingeschaltetem bzw. ausgeschaltetem FAS zu
Unfallumstände als auch die Eigenschaften (Funkti- fahren. Möglich wurde diese Art der Verhaltensbe-
onalitäten) des zu untersuchenden Systems bekannt obachtung durch den rasanten technischen Fort-
sein bzw. für ein generisches System festgelegt wer- schritt in Bezug auf die Sammlung, Speicherung und
den. Das angewendete Mehrstufenverfahren im Analyse von großen Datenmengen und den immer
Rahmen dieser Methode unterschied hierbei nach kleiner werdenden Messinstrumenten. Aufgezeich-
zwei Aspekten: ob der Unfall vermeidbar oder nur net wird all das, was notwendig ist, um das Fahrver-
positiv beeinflussbar gewesen wäre. Ein Unfall gilt halten und die Funktionalität des FAS zu erklären
als theoretisch vermeidbar, wenn dieser durch den und zu beschreiben: beginnend beim Umfeld über
68 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

1 .. Tab. 4.2 Sicherheitspotenzial von FAS für Pkws


bezogen auf alle Pkw-Unfälle [8]
.. Tab. 4.3 Sicherheitspotenzial von FAS für Lkws
bezogen auf alle Lkw-Unfälle [8]

2 Theoretisches Sicherheitspotenzial FAS Theoretisches Sicherheitspotenzial FAS

Notbremsassistent (v) 17,8 % Notbremsassistent (v) 6,1 %


3 Fahrstreifenverlassenswarner (v) 4,4 % Notbremsassistent (reagiert auf 12,0 %
stehende Fahrzeuge) (v)
Totwinkelwarner (v) 1,7 %
4 v = vermeidbar
Abbiegeassistent für Fußgänger (v) 0,9 %

Abbiegeassistent für Radfahrer (v) 3,5 %

5 Fahrstreifenverlassenswarner (v) 1,8 %


die Fahrzeugbewegung (z. B. Beschleunigungen,
Geschwindigkeiten, Richtung, Fahrzeugstatus etc.) Totwinkelwarner (a) 7,9 %
6 bis hin zu Augen-, Kopf- und Handbewegungen so- v = vermeidbar, a = adressierbar
wie Pedalbetätigungen. Diese Daten beinhalten In-
7 formationen über die Wechselwirkungen zwischen
Fahrer, Fahrzeug, Straße, Wetter und Verkehr – nur die Unfälle zwischen Lkw und ungeschütztem
nicht nur unter Normalbedingungen sondern auch Verkehrsteilnehmer, so zeigt sich ein sehr großes
8 in kritischen Situationen und sogar im Falle eines Sicherheitspotenzial für einen Abbiegeassisten-
Unfalls. Die größte Herausforderung hierbei ist das ten mit Radfahrer- und Fußgängererkennung.
9 Auswerten der umfangreichen Datenmengen. Für die Fallanalyse wurde ein System angenom-
men, das die Bereiche vor und rechts neben dem
10 4.2.2 Pkw
Lkw überwacht und den Lkw-Fahrer warnt, falls
sich beim Anfahren oder während eines Abbiege-
vorgangs ein Fußgänger oder Radfahrer im kriti-
11 Für den Pkw zeigt sich ein Notbremsassistent als das schen Bereich befindet. Es wurde unterstellt, dass
vielversprechendste Fahrerassistenzsystem, gefolgt der Fahrer „optimal“ auf die Warnung reagiert.
12 vom Fahrstreifenverlassenswarner bzw. Spurhal- Für diesen Abbiegeassistenten zeigte sich, dass rund
teassistent und dem Totwinkelwarner (s. . Tab. 4.2). 43 % aller Lkw-Unfälle mit Radfahrern und Fuß-
Der Notbremsassistent gewinnt noch an Bedeutung, gängern vermieden werden könnten und dass ca.
13 wenn er in der Lage ist, auch Unfälle mit Fußgän- 31 % der bei Kollisionen mit Lkw getöteten Radfah-
gern und Radfahrern zu adressieren. Dann sind bis rer und Fußgänger vor dem Tode bewahrt werden
14 zu 43,5 % aller Pkw-Unfälle der Datenbasis ver- könnten.
meidbar [8]. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang weiter-
15 hin eine deutliche Abhängigkeit der Lkw-Aufbau-
art und somit des Einsatzzweckes vom ermittelten
4.2.3 Lkw Sicherheitspotenzial der einzelnen Fahrerassistenz-
16 systeme (s. . Tab. 4.4).
Auf Basis der oben beschriebenen Methode konnte
17 für den Lkw ebenfalls ein Notbremsassistent als das
Fahrerassistenzsystem mit dem größten Sicher- 4.2.4 Busse
heitspotenzial ermittelt werden [8]. Es zeigte sich,
18 dass sich dessen Potenzial verdoppelt, wenn er in Für Kraftomnibusse erweist sich wiederum der
der Lage ist, auch stehende Fahrzeuge vor dem Lkw Notbremsassistent als das System mit dem höchsten
19 zu erkennen. Gefolgt wird er vom Totwinkelwar- Sicherheitspotenzial (s.  . Tab. 4.5). Er wird gefolgt
ner und dem Abbiegeassistenten mit Radfahrerer- vom Totwinkelwarner und dem Abbiegeassistenten,
20 kennung, vorausgesetzt man bezieht die Wirkung der Fußgänger und Radfahrer erkennt. Auch beim
auf alle Lkw-Unfälle (s. . Tab. 4.3). Betrachtet man Bus zeigt sich eine deutliche Potenzialerhöhung,
4.2  •  Sicherheitspotenzial von Fahrerassistenzsystemen
69 4

.. Tab. 4.4 Sicherheitspotenzial von FAS für Lkws in Abhängigkeit der Aufbauart [8]

Theoretisches Sicherheitspotenzial für

FAS Solo-Lkw Lkw mit Anhänger Sattelzug

Notbremsassistent (v) 2,2 % 6,1 % 5,1 %

Notbremsassistent (reagiert auf stehende Fahrzeuge) (v) 7,9 % 10,7 % 9,5 %

Abbiegeassistent für Radfahrer (v) 4,2 % 0,6 % 2,9 %

Abbiegeassistent für Fußgänger (v) 0,5 % 0,9 % 0,8 %

Totwinkelwarner (a) 6,8 % 5,2 % 6,4 %

Fahrstreifenverlassenswarner (v) 1,6 % 1,8 % 1,3 %

v = vermeidbar, a = adressierbar

.. Tab. 4.5 Sicherheitspotenzial von FAS für Busse .. Tab. 4.6 Sicherheitspotenzial von FAS für Busse
bezogen auf alle Bus-Unfälle [8] in Abhängigkeit vom Einsatzzweck [8]

Theoretisches Sicherheitspotenzial FAS Theoretisches Sicherheits-


potenzial
Notbremsassistent (a) 8,9 %
FAS Linienbus Reisebus
Notbremsassistent (reagiert auf 15,1 %
stehende Fahrzeuge) (a) Notbremsassistent 11,9 % 4,5 %
Abbiegeassistent für Radfahrer und 2,3 % (a)
Fußgänger (v) Notbremsassistent 16,6 % 17,3 %
Fahrstreifenverlassenswarner (v) 0,5 % (reagiert auf ste-
hende Fahrzeuge)
Totwinkelwarner (a) 3,8 % (a)

v = vermeidbar, a = adressierbar Abbiegeassistent (v) 3,4 % –

Fahrstreifenverlas- 0,3 % 1,5 %


senswarner (v)
wenn der Notbremsassistent stehende Fahrzeuge Totwinkelwarner (a) 0,2 % 14,6 %
erkennen kann.
Auch hier ist das FAS-Potenzial abhängig vom v = vermeidbar, a = adressierbar

Einsatzzweck bzw. der Kraftomnibusart (. Tab. 4.6).


So profitiert der Reisebus beispielsweise deutlich Fahrzeugklassen zu finden sein und, wie die Zahlen
stärker vom Totwinkelwarner, wohingegen der Ab- zeigen, auch seine Berechtigung haben. Zukünftig
biegeassistent einen erhöhten Nutzen beim Linien- wird die Erweiterung der Funktionalität von Not-
bus aufweist. bremssystemen mit der Erfassung von Radfahrern
und Fußgängern das Sicherheitspotenzial ansteigen
lassen. Vor allem beim Lkw zeigt der Abbiegeassis-
4.2.5 Ausblick tent seine besondere Wirksamkeit zum Schutz von
Radfahrern und Fußgängern. Vor dem Hintergrund
Über die analysierten Fahrzeugarten hinweg kris- der Zunahme des Radverkehrsanteils steigt seine
tallisiert sich die Notbremse als das vielverspre- Bedeutung nochmals. Einen nächsten Entwick-
chendste FAS heraus. Es wird in verschiedenen Aus- lungsschritt kann das automatische Ausweichen in
prägungen und Funktionalitäten zukünftig in allen Notsituationen darstellen. Damit könnte die Effek-
70 Kapitel 4  •  Verkehrssicherheit und Potenziale von Fahrerassistenzsystemen

tivität von reinen Notbremssystemen in bestimmten 6 Auerbach, K.: Schwer‐ und schwerstverletzte Straßenver-
1 unfallkritischen Situationen erhöht werden, da rein
kehrsunfallopfer BASt‐Newsletter, Bd. 2. Bergisch Glad-
bach, Bergisch Gladbach (2014)
fahrdynamisch betrachtet ein Ausweichen noch zu 7 Global status report on road safety 2013 supporting a
2 einem späteren Zeitpunkt im Vergleich zum Brem- decade of action, © world health organization, 2013
sen erfolgen kann. Die Bewertung solcher Funktio- 8 Hummel, T., Kühn, M., Bende, J., Lang, A.: Fahrerassistenz-
nalitäten vor dem Hintergrund ihres Einflusses auf systeme – Ermittlung des Sicherheitspotentials auf Basis
3 die Erhöhung der Verkehrssicherheit steht noch aus,
des Schadengeschehens der Deutschen Versicherer For-
schungsbericht FS, Bd. 03. Gesamtverband der Deutschen
muss aber unbedingt erfolgen. Diese Aufgabe stellt Versicherungswirtschaft e. V., Berlin (2011)
4 allerdings noch höhere Anforderungen an die Qua- 9 Lie, A., Tingvall, C., Krafft, M., Kullgren, A.: The effective-
lität von Analysemethoden und die Unfalldaten. ness of ESC (Electronic Stability Control) in reducing real

5 Allgemein wird die Entwicklung der FAS vom life crashes and injuries 19th International technical Con-
ference on the Enhanced Safety of Vehicles Conference
Megatrend des hochautomatisierten Fahrens profi-
(ESV). International, Washington D. C. (2005)
tieren: Wir werden zukünftig Systeme in den Fahr-
6 zeugen finden, die die Grenze zwischen Komfort-
10 Hannawald, L., Kauer, F.: Equal Effectivness Study on Pe-
destrian Protection. TU Dresden, Dresden (2003)
und reinem Sicherheitssystem auf der einen und der 11 Benmimoun, M., Kessler, C., Zlocki, A., Etemad, A.: euroFOT:
7 Unterscheidung zwischen einzelnen FAS-Funktio- Feldversuch und Wirkungsanalyse von Fahrerassistenzsys-
temen – erste Ergebnisse 20. Aachener Kolloqium „Fahr-
nalitäten auf der anderen Seite verschwimmen las-
zeug‐ und Motorentechnik”, Aachen. (2011)
sen. Die Verkehrssicherheit wird davon profitieren,
8 wenn es nicht mehr nötig sein wird, als Fahrer ein
Verständnis der einzelnen FAS-Funktionalitäten zu
9 entwickeln, um Warnungen etc. richtig interpretie-
ren zu können. Vielmehr ist eine fließende Schutz-
10 zone um das Fahrzeug sinnvoll, die das natürliche
Verhalten des Fahrers in kritischen Situationen un-
terstützt. Dies alles muss mit der Weiterentwicklung
11 der Mensch-Maschine-Schnittstelle einhergehen,
um Warnungen oder Eingriffe so an den Fahrer an-
12 zupassen, dass eine Fehlinterpretation ausgeschlos-
sen ist. Die Unfallanalysen zeigen, dass heutige Sys-
teme noch über deutliche Schwachstellen verfügen.
13
14 Literatur

15 1 DESTATIS: Fachserie 8, Reihe 7. Statistisches Bundesamt,


Wiesbaden (2013)
2 DESTATIS: Fachserie 8, Reihe 7. Statistisches Bundesamt,

16 3
Wiesbaden (2012)
Hannawald, L.: Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden
GmbH, Analyse GIDAS Stand 31.12.2013, unveröffentlicht,
17 4
Dresden, 2014
Meyer, R., Ahrens, G.-A., Aurich, A.P., Bartz, C., Schiller, C.,
Winkler, C., Wittwer, R.: Entwicklung der Verkehrssicherheit
18 und ihrer Rahmenbedingungen bis 2015/2022 Berichte
der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bd. 224. Wirtschafts-
verlag NW, Bergisch Gladbach (2012)
19 5 Malczyk, A.: Schwerstverletzungen bei Verkehrsunfällen
Fortschritt‐Berichte VDI‐Reihe 12, Bd. 722. VDI‐Verlag,
Düsseldorf (2010)
20
71 5

Verhaltenswissenschaftliche
Aspekte von
Fahrerassistenzsystemen
Bernhard Schlag, Gert Weller

5.1 Visuelle und kognitive Beanspruchung  –  72


5.2 Situationsbewusstsein – 74
5.3 Mentale Modelle – 76
5.4 Verhaltensadaptation – 77
5.5 Übernahmeproblematik – 80
Literatur – 81

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
72 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

Um verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fah- Anstrengung wieder, den es erfordert, eine Aufgabe
1 rerassistenzsystemen beurteilen zu können, muss auszuführen. Der Schweregrad dieser Aufgabe bil-
der Begriff Fahrerassistenzsystem verhaltenswis- det die Belastung durch diese Aufgabe ab: Die Ge-
2 senschaftlich relevant definiert werden: Moderne samtbelastung ist die Summe der Belastungen durch
Fahrerassistenzsysteme sind solche Systeme, bei alle Aufgaben und Umgebungsbedingungen. Belas-
denen entscheidende Komponenten der mensch- tung und Beanspruchung können nicht gleichge-
3 lichen Kognition von den Systemen übernommen setzt werden – auch wenn es zunächst den Anschein
werden. Für Engeln und Wittig (2005, zitiert in [1]) hat. Dies liegt daran, dass die gleiche Belastung zu
4 sind diese entscheidenden Komponenten die Wahr- unterschiedlichen Beanspruchungen führen kann –
nehmung und die Evaluation – also die Bewertung je nachdem, über welche Ressourcen die betroffene
5 des Wahrgenommenen. Die reine Ausführung einer Person aktuell verfügt. Das Ausmaß bzw. die Ver-
Handlung zählt somit nicht zum Begriff der Fah- fügbarkeit der Ressourcen variiert innerhalb eines
rerassistenz. Menschen und unterscheidet sich auch zwischen
6 Die Übernahme oder Automatisierung dieser Menschen untereinander. So kann die gleiche Auf-
zentralen Komponenten der menschlichen Infor- gabe, zu unterschiedlichen Tageszeiten ausgeführt,
7 mationsverarbeitung durch ein technisches System zu unterschiedlicher Beanspruchung führen. Dies
verändert zwangsläufig die Fahraufgabe des Fahrers. gilt ebenso, wenn sich die Anzahl der gleichzeitig
Im Folgenden sollen positive und negative Aspekte ausgeführten Aufgaben ändert.
8 dieser Veränderung dargestellt werden. Hierzu wer- Eine formale Definition psychischer Belastung
den folgende Faktoren als relevant erachtet und im und Beanspruchung findet sich in der DIN Norm
9
--
Folgenden näher definiert:
visuelle und kognitive Beanspruchung,
-
EN ISO 10075-1 [2]:
Psychische Belastung: die Gesamtheit aller
10
- Situationsbewusstsein,
mentale Modelle.
erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den
Menschen zukommen und psychisch auf ihn

11
12
Veränderungen dieser Faktoren sind die Grundlage
für messbare Veränderungen des Fahrer- und Fahr-
verhaltens; diese Veränderungen werden als Verhal-
- einwirken.
Psychische Beanspruchung: die unmittelbare
(nicht die langfristige) Auswirkung der psychi-
schen Belastung im Individuum in Abhängig-
tensadaptation bezeichnet. keit von seinen jeweiligen überdauernden und
Eine Besonderheit ergibt sich aufgrund von augenblicklichen Voraussetzungen, einschließ-
13 Automatisierung durch den Wechsel zwischen ver- lich der individuellen Bewältigungsstrategien.
schiedenen Stufen der Automatisierung. In diesem
14 Zusammenhang spricht man von der Übernahme- Mit Blick auf Fahrerassistenzsysteme ist entschei-
problematik. dend, dass der Zusammenhang zwischen Belastung,
15 Das Kapitel gibt einen Überblick über die zu- Beanspruchung und Leistung nicht linear, sondern
vor genannten Punkte und stellt sie im Kontext der U-förmig (Belastung – Beanspruchung) bzw. um-
Unterstützung des Fahrers durch Fahrerassistenz- gekehrt U-förmig (Belastung – Leistung) ist (siehe
16 systeme (FAS) dar. . Abb. 5.1).
Dies bedeutet, dass sowohl Unterforderung als
17 auch Überforderung zu einer Leistungsabnahme
5.1 Visuelle und kognitive führen und der Mensch nur bei einem mittle-
Beanspruchung ren Belastungsniveau seine optimale Leistung er-
18 reicht. Die Leistung allein ist jedoch kein valider
Die Beanspruchung ist möglicherweise dasjenige Indikator für ungünstige Belastungen: Eine solche
19 verhaltenswissenschaftliche Konstrukt in Zusam- liegt bereits dann vor, wenn zusätzlicher Aufwand
menhang mit Fahrerassistenzsystemen, welches sich (englisch: effort) investiert werden muss, um ein
20 auch einem Laien am ehesten erschließt. Verein- hohes Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Dies
facht gesagt, gibt die Beanspruchung den Grad an ist in den Bereichen A1 und A3 in . Abb. 5.1 ver-
5.1  •  Visuelle und kognitive Beanspruchung
73 5

Eine Gefahr durch Überforderung beim Ein-


satz von Fahrerassistenzsystemen kann aus zwei
Gründen entstehen: Zum einen kann das Modell,
das sich der Nutzer von den Eigenschaften des Sys-
tems macht, fehlerhaft oder falsch sein (siehe ▶ Ab-
schn. 5.3 unter mentale Modelle). Zum anderen ent-
stehen durch die Assistenzsysteme neue und andere
Anforderungen. An erster Stelle ist hier die Gestal-
tung der Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI)
zu nennen. Abgesehen von der Aktivierung und
Einstellung des Systems muss dieses Interface dem
Fahrer mindestens den aktuellen Systemzustand
mitteilen. Bei normaler Fahrt geschieht dies im
.. Abb. 5.1  Zusammenhang zwischen Belastung, Beanspru- Regelfall visuell, da auditive Signale eher für War-
chung und Leistung [3] nungen vorgesehen sind (DIN EN ISO 15006 [6];
ISO 15623 [7]). Möglicherweise ist die Darstellung
anschaulicht. Nach de Waard [3] muss im Bereich zusätzlicher visueller Informationen im Kraftfahr-
A1 „state-related effort“ aufgebracht werden, im zeug problematisch, da der visuelle Kanal ohnehin
Bereich A3 „task-related effort“. Mit „state-related der am stärksten beanspruchte Kanal ist [8]. Neben
effort“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass der Erhöhung der visuellen Beanspruchung durch
sich der Mensch selber aktivieren muss, um einem die optische Darstellung von Informationen ergeben
drohenden Zustand der Unterforderung entgegen- sich die bekannten Probleme durch Ablenkung und
zuwirken (Überforderung durch Unterforderung). Abwendung, weswegen bei der Gestaltung derarti-
„Task-related effort“ meint dagegen, dass Anstren- ger Informationen mindestens auf die Einhaltung
gung investiert werden muss, um den zusätzlichen der entsprechenden Normen zu achten ist (DIN EN
Anforderungen der Aufgabe gerecht zu werden. ISO 15005 [9]).
Muss diese Anstrengung über einen längeren Zeit- Bei Abschätzung der Auswirkung des Einsat-
raum aufrechterhalten werden, führt dies in beiden zes von Fahrerassistenzsystemen auf die Beanspru-
Fällen zu einer Abnahme der Leistung, wie in den chung ist die Unterteilung in unterschiedliche Arten
Bereichen B und D gezeigt. In allen Fällen ist die der Beanspruchung zu berücksichtigen [10]: Diese
Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Ressour- Unterteilung geht zurück auf das sogenannte multi-
cen für die Abnahme der Leistung verantwortlich. ple Ressourcenmodell von Wickens (2002, zitiert in
Wie eingangs dargestellt, kann der Einsatz von [11]). Nach diesem Modell gibt es nicht eine einzige
Fahrerassistenzsystemen die Belastung durch die Ressource, sondern viele verschiedene Ressourcen,
Fahraufgabe verändern. Ob und in welchem Aus- die weitestgehend unabhängig voneinander sind.
maß dies geschieht, ist von den Charakteristika Wickens unterscheidet die Ressourcen je nachdem,
der Systeme abhängig. Da Assistenzsysteme per wie die Informationen kodiert sind („codes“), wie
definitionem den Fahrer entlasten sollen, ist bei de- sie dargestellt/ausgegeben werden („modalities“),
ren Einsatz eher mit möglicher Unterforderung zu wie sie verarbeitet werden („stages“) und wie die
rechnen [4]. Während Unterforderung bei vollstän- Antwort darauf erfolgt („responses“). [11].
diger Automatisierung kein Problem darstellt, weil Geht es um die Gestaltung von Fahrerassistenz-
sich der Fahrer anderen Aufgaben widmen kann, systemen, liegt das Ziel eines beanspruchungsge-
wird Unterforderung bei Teilautomatisierung zum rechten Einsatzes von Fahrerassistenzsystemen in
Sicherheitsproblem. Dies trifft insbesondere dann der Optimierung der Beanspruchung, nicht not-
zu, wenn der Fahrer unvorhergesehen die Kontrolle wendigerweise in deren Verminderung. Ansätze zur
übernehmen soll. Unterforderung ist eine typische Beanspruchungsoptimierung sind z. B. bei [12, 13]
Folge der Automatisierung, die oft einen hohen An- oder im Flugbereich, bei [14], dargestellt.
teil an Überwachungstätigkeiten zur Folge hat [5].
74 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

1
2
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 5.2  Rahmenmodell von Situation Awareness [18] nach [17]

9 Unabhängig von der Art der Beanspruchung » „Situational Awareness is the perception of the
können die Maße zu deren Erhebung in drei Kate-

--
elements in the environment within a volume
10 gorien unterteilt werden [3]: of time and space, the comprehension of their
Leistungsmaße,

-
meaning, and the projection of their status in
physiologische Maße, the near future.“
11 subjektive Maße.
Nach dieser Definition gibt es drei hierarchische
12 Ein Überblick über einzelne Verfahren findet sich Ebenen des Situationsbewusstseins: die Wahrneh-
bei [15]. In der DIN EN ISO  17287 [16] findet mung der Situation (Ebene 1), deren Verständnis
sich ebenfalls eine Übersicht über einzelne Erhe- (Ebene 2) und die Vorhersage der zukünftigen Si-
13 bungsmethoden. Maße zur Erhebung der visuellen tuation (Ebene 3). Diese drei Ebenen sind im Kon-
Aufmerksamkeit werden dort als eigene Kategorie text der Handlungsregulation im von Endsley [17]
14 aufgeführt. entwickelten Rahmenmodell des Situationsbewusst-
seins in . Abb. 5.2 dargestellt.
15 5.2 Situationsbewusstsein
Der hierarchische Aufbau von Situationsbe-
wusstsein bedeutet, dass eine höhere Ebene von
Situationsbewusstsein nicht erreicht werden kann,
16 Situationsbewusstsein im Sinne von „man muss ohne dass Situationsbewusstsein auf den niedrige-
wissen, was um einen herum passiert“ ist unzwei- ren Ebenen vorliegt. Ausgegangen wird bei dieser
17 felhaft zum sicheren Fahren eines Autos notwendig. hierarchischen Definition davon, dass alle Stufen
Obwohl der Begriff Situationsbewusstsein (englisch: des Situationsbewusstseins beim Menschen vorlie-
Situation Awareness) zunächst selbsterklärend gen müssen.
18 scheint, offenbaren gängige Definitionen doch eine Fahrerassistenzsysteme können den Fahrer auf
Vielschichtigkeit des Konstruktes, die über die All- allen drei Ebenen des Situationsbewusstseins unter-
19 tagsbedeutung hinausgeht. So definiert Mica Ends- stützen, sie können jedoch auch dazu führen, dass
ley Situation Awareness wie folgt (1988, zitiert aus Situationsbewusstsein verringert wird. Dies ist der
20 [17]): Fall, wenn fehlerhafte, ungenaue oder zu wenig bzw.
zu viele Informationen dargeboten werden oder
5.2 • Situationsbewusstsein
75 5

wenn die Informationen zum falschen Zeitpunkt auf die Auswirkungen auf die Situation Awareness
oder am falschen Ort dargestellt werden. geachtet werden. Wichtig ist, dass der Fahrer Rück-
In diesen Fällen wirken Fahrerassistenzsysteme meldung zum Systemzustand erhält und – sofern
zunächst unmittelbar auf die Aufmerksamkeit und keine vollständige Automatisierung vorliegt – aktiv
in der Folge mittelbar auf das Situationsbewusstsein. im Regelkreis gehalten wird.
Nach einem Modell von Wickens [19] ist Aufmerk- Die Messung von Situation Awareness kann
samkeit sowohl Filter als auch Ressource: Als Filter
wirkt die selektive Aufmerksamkeit, welche man
--
über drei Arten erfolgen [24]:
subjektive Maße,
sich am ehesten als Lichtkegel eines Scheinwer-
fers vorstellen könnte, der eben nicht gleichzeitig
alle notwendigen Objekte beleuchten kann. Wird
Aufmerksamkeit auf irrelevante Informationen
- situationsspezifische Fragen,
Leistungsmaße.

In der Regel erfolgt die Erhebung über eine situati-


gelenkt, werden andere relevante Informationen onsspezifische Befragung der Probanden. Wird die
nicht wahrgenommen (weitere Konzepte der Auf- Erhebung in der Simulation durchgeführt, wird die
merksamkeit werden in Strayer und Drews [20] Simulation angehalten (sogenanntes „Freezing“) und
und Müller und Krummenacher [21] vorgestellt). anschließend werden die Fragen gestellt. Eine Me-
Selektive Aufmerksamkeit hat also insbesondere thode dieser Art ist SAGAT („Situation Awareness
einen Einfluss auf die Ebene  1 des Situationsbe- Global Assessment Technique“), die von Endsley
wusstseins. Derjenige Teil von Aufmerksamkeit, entwickelt wurde [25]. Eine Voraussetzung bei der
der als begrenzte Ressource zu verstehen ist, wirkt Verwendung dieser Methode ist, dass Fragen vorab
dagegen gleichermaßen auf alle drei Ebenen des Si- für die spezifische Situation definiert werden müssen.
tuationsbewusstseins (zur Veranschaulichung von Eine Methode, die der ersten Kategorie zuzu-
Aufmerksamkeit als Ressource siehe auch den Bei- ordnen ist und somit weitgehend unabhängig von
trag von Abendroth und Bruder in ▶ Kap. 1). Sind der spezifischen Situation ist, stellt die SART („Situ-
die Ressourcen verbraucht oder werden sie durch ation Awareness Rating Technique“) (Taylor, 1990,
andere Handlungsanforderungen gebunden, stehen zitiert in [26]) dar. Diese Skala setzt sich aus zehn
entsprechend weniger Ressourcen zur Entwicklung Items zusammen, welche drei übergeordneten Kate-
eines guten Situationsbewusstseins zur Verfügung. gorien zugeordnet sind und jeweils auf einer sieben-
Obwohl Aufmerksamkeit als Ressource ebenso mit stufigen Rating-Skala beurteilt werden. Zu beachten
Beanspruchung in Verbindung steht, sind Situati- ist, dass sowohl subjektive Maße als auch situations-
onsbewusstsein und Beanspruchung unabhängig spezifische Fragen ein gewisses Maß an Bewusstheit
voneinander [22, 23]. voraussetzen. Dies ist jedoch nicht immer gegeben,
Neben spezifischen Effekten durch Fahreras- ohne dass deswegen geringe Situation Awareness
sistenzsysteme werden auch generelle Effekte der vorliegen müsste.
Automatisierung auf das Situationsbewusstsein Gugerty [27] unterscheidet deshalb zwischen
diskutiert. Hierbei nennen Endsley und Kiris [22] direkten Methoden – zu denen die oben genannten
folgende Gründe, welche zu mangelndem Situati- gehören – und indirekten Methoden. Zu den indi-

-
onsbewusstsein führen können:
Annahme eines falschen Rollenverständnisses
(weg vom aktiven Bediener hin zum Überwa-
rekten Methoden gehören Leistungsmaße, aus denen
dann das Ausmaß an Situation Awareness erschlos-
sen werden muss. Als Leistungsmaße können Reak-

- cher),
Wechsel von aktiver Informationsverarbeitung
tionszeiten, aber auch alle anderen Fahr- und Fah-
rerverhaltensmaße verwendet werden, sofern diese

- hin zu passivem Informationsempfangen,


fehlendes Feedback oder veränderte Qualität
des Feedbacks über den Systemzustand.
eine Relevanz für Situation Awareness haben. Ein
Beispiel für die Verwendung von Reaktionszeiten ist
die SPAM (Situation-Presence Awareness Method)
von Durso und Dattel [28], bei der den Probanden
Bei der Gestaltung von Automatisierung im Allge- Fragen gestellt werden und die Zeit bis zur (richti-
meinen und Fahrerassistenz im Speziellen muss also gen) Antwort als Maß für die Situation Awareness
76 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

verwendet wird. Für die Verwendung von Blickma- Mentale Modelle sind wichtig, weil sie Erwartun-
1 ßen in Zusammenhang mit Situation Awareness ra- gen steuern und diese Erwartungen wiederum das
ten Durso et al. [24] allerdings zur Vorsicht. Verhalten der Fahrer beeinflussen [31]. Sie haben
2 Insgesamt betrachtet kann das Ausmaß an Si- zusammen mit anderen Formen interner Repräsen-
tuation Awareness des Fahrers eine erhebliche Aus- tationen wie Schemata und Skripten verschiedene
wirkung auf die Leistung des Gesamtsystems haben. Vorteile, die die Effektivität und Effizienz im Um-

-
3 Es stellt eine wichtige Voraussetzung bei der Inter- gang mit Systemen positiv beeinflussen können [32]:
pretation von Situationen und für die Auswahl von Sie sind im Regelfall einfacher aufgebaut als
4
5
Handlungen dar. Fahrerassistenzsysteme können zu
einer positiven aber auch negativen Veränderung
der Situation Awareness beitragen. - die Realität.
Ihr Gebrauch findet eher automatisch als
bewusst statt und erfolgt somit schneller bei
gleichzeitig geringerem Verbrauch an menta-

6
7
5.3 Mentale Modelle

Im vorangegangenen Kapitel zu Situation Aware-


- len Ressourcen.
Sie lenken die Aufmerksamkeit automatisch
zu relevanten Stimuli und helfen so, Aufmerk-
samkeitsressourcen effizient zu nutzen.
ness wurde bereits geschildert, dass Fahrerassistenz-
systeme durch auffällige Warnsignale Aufmerksam- Aus diesen Gründen können mentale Modelle al-
8 keit auf sich ziehen können. In diesem Fall erfolgt lerdings ebenso die Ursache von Fehlern sein [33]:
die Lenkung der Aufmerksamkeit reizbasiert, also Sind diese unvollständig oder falsch, können auch
9 „bottom-up“. Aufmerksamkeit wird jedoch auch die darauf aufbauenden Handlungen fehlerhaft sein.
„top-down“ durch Erwartungen gelenkt. Erwartun- Da mentale Modelle über Signale aus der Umwelt
10 gen bilden sich aus der Vorstellung, die wir von der aktiviert werden, kann es bei der fehlerhaften In-
Funktionsweise von Systemen haben. Die Gesamt- terpretation von Signalen zur Aktivierung falscher
heit dieser Vorstellungen wird als mentales Modell mentaler Modelle kommen.
11 bezeichnet. Gerade im Bereich der Fahrerassistenzsysteme
Brewer [29] definiert mentale Modelle wie folgt: zeigt sich, dass die mentalen Modelle der Nutzer
12 von der Funktionsweise der Systeme falsch sein
» „A mental model is a form of mental representa- können (Jenness et al., 2008, zitiert aus [34]). Durch
zunehmende Erfahrung mit dem System können sie
13 tion for mechanical-causal domains that affords
explanations for these domains. (…) The infor- richtig kalibriert werden [34].
mation in the mental model has an analogical Die Erhebung von mentalen Modellen ist aus
14 relation with the external world: the structure of verschiedenen Gründen schwierig. Die mentalen
the mental representation corresponds to the Modelle unterscheiden sich untereinander ebenso
15 structure of the world. This analogical relation wie die zu untersuchenden Systeme. Sie müssen ver-
allows the mental model to make successful schiedene funktionale Zusammenhänge abbilden,
predictions about events in the world.“ (S. 5/6) da sie nicht eindimensional sind, und auch weitge-
16 hend standardisierte Verfahren müssen angepasst
Eine Definition, die explizit die Auswirkungen auf werden. Dennoch gibt es verschiedene Ansätze und
17 das Verhalten von mentalen Modellen einbezieht, Erfahrungen mit der Erhebung von mentalen Mo-
stammt von Wilson und Rutherford [30]: dellen; diese sind in [35] beschrieben. Im Regelfall
erfolgt die Erhebung demnach über Interviews oder
18 » „(…) a mental model is a representation formed vorgegebene Fragebögen, weitere Methoden sind in
by a user of a system and/or task, based on pre- [36] beschrieben.
19 vious experience as well as current observation, Abhängig vom mentalen Modell des Nutzers
which provides most (if not all) of their subse- eines Assistenzsystems ist, wie hoch das Vertrauen
20 quent system understanding and consequently ist, das der Nutzer dem System entgegenbringt.
dictates the level of task performance.“ (S. 619) Das Vertrauen sollte so kalibriert sein, dass es den
5.4 • Verhaltensadaptation
77 5
.. Abb. 5.3 Zusam-
menhang zwischen
Zuverlässigkeit (reliability),
Nachlässigkeit (compla-
cency), Vertrauen (trust)
und Fertigkeit (human
skill) (nach [38]).

tatsächlichen Systemeigenschaften entspricht [37]. changes to the road-vehicle-user system and


Ist dies nicht der Fall und das Vertrauen zu hoch which were not intended by the initiators of the
oder zu niedrig, kommt es zu negativen Verhal- change; Behavioural adaptations occur as road
tensfolgen, die Wickens et al. [38] als „mistrust“ users respond to changes in the road trans-
(zu niedriges Vertrauen) und „complacency“ (bei port system such that their personal needs are
zu hohem Vertrauen) beschrieben haben (siehe achieved as a result, they create a continuum of
. Abb. 5.3). effects ranging from a positive increase in safety
Mentale Modelle bestimmen durch ihre Rolle to a decrease in safety.“ (S. 23)
bei der Lenkung von Aufmerksamkeit ebenso
das Ausmaß an Situation Awareness. Sie wirken Im Bereich des Straßenverkehrs gibt es zahlreiche
demnach als Heuristik bei der Suche nach Infor- Beispiele für Verhaltensadaptation. Frühe Studien
mationen [39]. Da sich nur durch Erfahrung und zeigten unerwartete Verhaltensanpassungen auf
Feedback mentale Modelle anpassen lassen, ist es ABS [41] oder ACC [42, 43], auch für die Straßen-
wichtig, den Fahrer über den Systemzustand und breite konnten Effekte gezeigt werden [44]. Eine Zu-
über Systemgrenzen zu informieren. sammenfassung verschiedener Studien findet sich
im Bericht der OECD [40].
Während es unstrittig ist, dass es zu Verhal-
5.4 Verhaltensadaptation tensadaptation kommen kann, stellen sich zwei

Eine Anpassung des Verhaltens an geänderte Bedin-


-
weiterführende Fragen:
Welche Faktoren beeinflussen das Auftreten
gungen ist eine natürliche Reaktion des Menschen
und Voraussetzung für dessen Entwicklung. Diese
Eigenschaft kann jedoch zum Problem werden,
wenn sie bei der Planung von Veränderungen nicht
- und den Umfang der Verhaltensadaptation?
Wie sind die Auswirkungen von Verhaltensad-
aptation auf die Sicherheit zu bewerten?

berücksichtigt wird oder in einem unerwarteten Für die Bewertung der Verhaltensadaptation auf die
Umfang auftritt. Bevor einzelne Aspekte zur Erklä- Sicherheit ist das Verhältnis der intendierten Ver-
rung von Verhaltensadaptation dargestellt werden, haltensänderung (z. B. Entlastung des Fahrers) zu
soll Verhaltensadaptation definiert werden. Als all- den nicht intendierten Verhaltensänderungen rele-
gemein anerkannte Definition hat sich die folgende vant (siehe [45]): Nur wenn die Auswirkungen der
der OECD [40] durchgesetzt: intendierten Verhaltensadaptation absolut größer
sind als die Auswirkungen der nicht intendierten
» „Behavioural adaptations are those behaviours Verhaltensänderungen, ist die Maßnahme erfolg-
which may occur following the introduction of reich. Rothengatter [46] geht davon aus, dass diese
78 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

nicht intendierten Effekte normalerweise nicht aus- Risiko zu minimieren, sondern das angestrebte Aus-
1 reichen, um die positiven Effekte aufzuheben. Zu maß an Risiko zu erreichen. Während die Theorie
beachten ist aber auch, dass der Einfluss nicht inten- ursprünglich auf aggregierter Ebene für eine ganze
2 dierter Verhaltensadaptation eher unterschätzt wird Gesellschaft entwickelt wurde, wandte man sie bald
[47]. Methodisch betrachtet ist es nicht nur schwie- auf individueller Ebene an. Demnach vergleicht ein
rig, die jeweiligen Anteile aufzuschlüsseln, es ist Fahrer sein momentan empfundenes Risiko mit
3 ebenso schwierig, die Wirkung einzelner Maßnah- seinem individuellen Zielrisiko. Durch Anpassung
men von anderen Einflüssen zu trennen. Ansätze des eigenen Verhaltens (z. B. Erhöhung oder Verrin-
4 hierzu finden sich bei Noland [48]. gerung der Geschwindigkeit), versucht der Fahrer
Gerade weil es schwierig ist, Änderungen des Diskrepanzen zwischen diesen beiden Größen zu
5 Verhaltens in eine intendierte versus eine nicht-in- minimieren. Da das Zielrisiko als stabil angesehen
tendierte Komponente zu trennen, ist es notwendig wird, bedeutet eine Verringerung des subjektiven
zu verstehen, welche Faktoren zu Verhaltensadapta- Risikos – beispielsweise durch den Einsatz von
6 tion führen und wie diese beeinflusst werden kön- Fahrerassistenzsystemen – dass der Fahrer diesen
nen. Fahrerassistenzsysteme können einen Einfluss vermeintlichen Sicherheitsgewinn durch riskanteres
7 auf die Beanspruchung und das Situationsbewusst- Verhalten ausgleicht, um sich wieder seinem Zielri-
sein haben und diese Veränderungen können ihre siko anzunähern.
Ursache in falschen mentalen Modellen zur Funk- Eine zweite einflussreiche Theorie, die das sub-
8 tionsweise oder den Einsatzgrenzen von Fahreras- jektive Risiko als eine der relevanten Verhaltens-
sistenzsystemen haben. Erreichen diese Verände- determinanten annimmt, ist die Zero-Risk-Theo-
9 rungen eine kritische Grenze, resultiert daraus eine rie von Näätänen und Summala. Entgegen Wildes
Veränderung – oder Anpassung – des Verhaltens. Theorie postulieren die Autoren, dass der Fahrer
10 Diese Art der Anpassung wurde in den vorangegan- keineswegs ein bestimmtes Risikoniveau aufsucht.
genen Kapiteln beschrieben. Vielmehr erfolgt eine Steuerung und Regelung des
Neben der Verhaltensanpassung nach vorigem Verhaltens über Sicherheitsspielräume („safety mar-
11 Muster kann es auch zur Verhaltensanpassung auf- gins“, siehe [55]), während das subjektive Risiko
grund einer Veränderung motivationaler Größen normalerweise bei null liegt. Wie bei Wilde wird
12 kommen. Hier werden in erster Linie das erlebte Ri- das subjektive Risiko als Produkt der subjektiven
siko als relevante Variable genannt und das Streben Wahrscheinlichkeit und des subjektiven Wertes
danach, die Beanspruchung auf einem optimalen (SEU, „subjective expected utility“) eines unange-
13 Niveau zu halten. Folgende drei Theorien werden nehmen Ereignisses bestimmt. Im Gegensatz zu

14
-
dabei als besonders einflussreich angesehen:
Risikohomöostasetheorie (RHT) nach Wilde
Wildes Annahmen ist der Fahrer bestrebt, das Ri-
siko gering zu halten. Unfälle entstehen gemäß der

15 - [49, 50],
Zero-Risk-Theorie von Näätänen und Sum-
Theorie aufgrund von Wahrnehmungs- und Inter-
pretationsfehlern bei der Bestimmung des Risikos.

16 - mala [51, 52],


Task-Difficulty-Homöostase nach Fuller
[53, 54].
Anders als die vorangegangenen Theorien sieht
Fuller anfangs nicht das Risiko, sondern die Aufga-
benschwierigkeit als Verhaltensdeterminante. Fuller
nimmt zunächst an, dass der Fahrer – hauptsächlich
17 Im Folgenden werden die grundsätzlichen Annah- über die Anpassung der Geschwindigkeit und da-
men der einzelnen Modelle kurz geschildert; eine mit der Aufgabenschwierigkeit – versucht, ein be-
ausführliche Diskussion zu diesen Modellen findet stimmtes, festes Niveau der Aufgabenschwierigkeit
18 sich in Weller [31]. zu erreichen. Dieses Bestreben könnte im Modell
Als einflussreichste, aber auch umstrittenste von de Waard [3] (siehe . Abb. 5.1) in Bereich A2
19 Theorie gilt sicherlich Wildes Risikohomöostasethe- angesiedelt sein. Später bewegt Fuller das Konzept
orie. Diese postuliert, dass es in einer Gesellschaft weg von der Homöostase hin zur Allostase: Diese
20 ein angestrebtes Ausmaß an Risiko („target risk“) Änderung bezieht mit ein, dass sich die angestrebte
gibt. Ziel gesellschaftlichen Verhaltens ist es nicht, Zielschwierigkeit einer Aufgabe auch ändern kann.
5.4 • Verhaltensadaptation
79 5

.. Abb. 5.4  Prozessmodell der Verhaltensadaptation [56]

Fuller [54] nennt als Beispiel das Fahren mit Blau- tensadaptation auf motivationaler Basis über den
licht, währenddessen die Fahrer bereit sind, ein von subjektiven Nutzen, der sich aus einer Verhalten-
der normalerweise akzeptierten Aufgabenschwie- sänderung ergibt. Ausgangspunkt ist eine Verän-
rigkeit abweichendes Niveau anzustreben. Im Mo- derung der Fahrzeug- oder Fahrumwelt. Nur wenn
dell von de Waard (siehe . Abb. 5.1) würde dies diese Veränderung eine objektive Erweiterung des
etwa dem Bereich A3 entsprechen, d. h. kurzzeitig Handlungsspielraums erlaubt, kann es zu einer
wird bewusst eine gegenüber der optimalen Auf- Verhaltensanpassung kommen. Bei der Bewertung,
gabenschwierigkeit höhere Aufgabenschwierigkeit ob eine objektive Erweiterung des Handlungsspiel-
angestrebt. Dies ist kurzfristig ohne negative Aus- raums vorliegt, wird die Wahrscheinlichkeit eines
wirkungen möglich, führt aber langfristig zu nega- Unfalls als Grundlage gewählt. Hintergrund ist die
tiven Folgen. Auch wenn Fuller [54] wie die beiden Annahme, dass Fahrer bestrebt sind, in erster Linie
vorangegangenen Autoren schließlich ebenfalls zum bereits Kollisionen zu vermeiden, nicht nur die Ver-
Risiko als Verhaltensdeterminante zurückkehrt letzungsschwere zu verringern. Mit dieser Annahme
(„risk allostasis theory“, RAT), stellt sein anfäng- lässt sich erklären, warum passive Sicherheitssysteme
liches Konzept der Verhaltensanpassung über die im Regelfall zu weniger Verhaltensadaptation führen.
Aufgabenschwierigkeit einen wichtigen Beitrag zur Diese objektive Erweiterung des Handlungs-
Erklärung der Verhaltensadaptation nach Einfüh- spielraums muss wahrgenommen werden. Denkbar
rung von Fahrerassistenzsystemen dar. ist, dass Systeme, die nur sehr selten im tatsächlichen
Weller und Schlag [56] haben die zuvor darge- Notfall eingreifen, zu weniger Verhaltensadaptation
stellten Ansätze zur Erklärung von Verhaltensad- führen, weil sie dem Fahrer weniger bewusst sind.
aptation in einem Prozessmodell zusammengefasst Extern beeinflusst wird diese Wahrnehmung durch
(siehe . Abb. 5.4). Dieses Modell erklärt Verhal- Werbung, Systemeigenschaften wie Art und Um-
80 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

fang der Rückmeldungen durch das System und von sich der Fahrer auf die Assistenz, wird er seine
1 denjenigen Fahrereigenschaften, die bestimmen, ob aktive Suche nach Informationen verringern.
der Fahrer den Spielraum wahrnimmt. Schließlich Bei Ausfall der Assistenz oder in Situationen,
2 muss der Fahrer auch einen Nutzen aus einer Ver- die nicht vom Funktionsumfang abgedeckt
haltensanpassung antizipieren, was beispielsweise sind, führt dies zu Problemen aufgrund man-
3
4
dann der Fall ist, wenn der Fahrer bei gleichen Aus-
gangsbedingungen schneller fahren kann. Keinen
Nutzen erlebt der Fahrer möglicherweise, wenn er
zwar schneller fahren kann, dies aber mit abneh-
- gelnder Situation Awareness.
Längerfristig kann es bei ständigem Gebrauch
der Automatisierung zu einem Verlust von Fer-
tigkeiten, also zur Dequalifizierung kommen
mendem Komfort verbunden ist. Welche Maßstäbe (siehe . Abb. 5.3). Ist dies der Fall und stehen
5 der Fahrer hier anlegt, ist abhängig von Personen- notwendige Fertigkeiten nicht mehr zur Verfü-
merkmalen (zum Einfluss von Sensation Seeking gung, führt dies bei Übernahme zu Problemen.
auf Verhaltensadaptation, siehe [57]), Fahrmotive
6 (z. B. Zeitdruck, siehe [58]) und den Auswirkun- Die zuvor genannten Punkte sind eng mit den so-
gen der Fahrerassistenzsysteme auf psychologische genannten Ironien der Automatisierung verknüpft,
7 Merkmale, wie sie zuvor dargestellt wurden (siehe wie sie Bainbridge [60] definiert hat. Diese lassen

8
hierzu auch [59]). Der subjektive Nutzen ist defi-
niert als Möglichkeit zur Erreichung von Zielen,
wie sie sich aus den vorangegangen geschilderten
motivationalen Theorien zur Erklärung von Verhal-
-
sich wie folgt zusammenfassen:
Der Zweck der Automatisierung ist es, den
fehlerhaften Menschen zu ersetzen, doch
ist genau dieser fehlerhafte Mensch für die
9 tensadaptation ergeben. Entwicklung, Gestaltung und Umsetzung der

10 - Automatisierung zuständig.
Obwohl der Mensch als fehlerhaft gilt, soll er

-
5.5 Übernahmeproblematik die Automatisierung überwachen.
Gerade dann, wenn die Automatisierung ver-
11 Von Übernahmeproblematik spricht man, wenn sagt – also wahrscheinlich in hochkomplexen
der Mensch die Kontrolle über ein automatisiertes Situationen – soll der Mensch die Kontrolle
12 System übernimmt oder übernehmen muss. Dieser übernehmen.
Übergang ist aus verschiedenen Gründen problema-
tisch, die eng mit den bisher besprochenen Themen Lösen lassen sich diese Ironien nur durch eine

-
13 verknüpft sind: mensch­zentrierte Automation, wie sie etwa von Bil-
Die Unterstützung durch Fahrerassistenz- lings [61] beschrieben wird. Auch Bainbridge [60]
14 systeme als auch Automatisierung sollen die selbst schlägt Maßnahmen zur Vermeidung nega-
Belastung des Fahrers reduzieren. Diese Ent- tiver Effekte von Automatisierung vor, obschon er
15 lastung kann jedoch zu Unterforderung und darauf hinweist, dass es keine einfachen Lösungen
Deaktivierung führen (vgl. . Abb. 5.1). Soll geben kann.
der Fahrer unerwartet die Kontrolle überneh- Notwendig ist es, den Nutzer über den System-
16 men, kann es einige Zeit in Anspruch nehmen, zustand zu informieren und insbesondere Ausfälle

17
18
- bis er hierfür ausreichend aktiviert ist.
Je mehr die Fahraufgabe oder Teile der Fahr-
aufgabe automatisiert werden, desto weniger
muss sich der Fahrer selbst über die Fahrsi-
zu kommunizieren („automatic systems should fail
obviously“, [60], S. 777). Des Weiteren muss Auto-
matisierung konsistent und vorhersagbar sein: Ne-
ben der Information kann auch durch aktive Teil-
tuation informieren, da das Wissen über die habe des Menschen sichergestellt werden, dass der
gegenwärtige Fahrsituation extern abgebildet Fahrer „in the loop“ gehalten wird, einer zentralen
19 oder gespeichert wird. Als Beispiel kann hier Forderung von Endsley und Kiris [22] an eine feh-
ein Überholassistent dienen, der den Fahrer lervermeidende Automatisierung. Verschiedentlich
20 bei angedachtem Fahrstreifenwechsel vor wird auch der Einsatz adaptiver und adaptierbarer
Fahrzeugen im toten Winkel warnt: Verlässt Automation gefordert [62].
Literatur
81 5

Aus vorigen Ausführungen wird ersichtlich, nik zukommen. Hierbei ist es notwendig, die zuvor
dass das Auftreten der Übernahmeproblematik dargestellten Sachverhalte zu berücksichtigen und
stark vom Ausmaß und der Gestaltung der Auto- den Nutzer frühzeitig in den Entwicklungsprozess
matisierung abhängt. mit einzubeziehen.
Zu niedrige Beanspruchung und niedrige Situ-
ation Awareness führen gerade bei Überwachungs-
tätigkeiten zu Schwierigkeiten, wenn der Mensch Literatur
wieder die Kontrolle übernehmen soll. Besonders
problematisch ist dies, wenn die Automatisierung 1 Engeln, A., Vratil, B.: Fahrkomfort und Fahrgenuss durch
den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen. In: Schade, J.,
in verschiedenen Stufen ausgelegt ist: In diesem Fall
Engeln, A. (Hrsg.) Fortschritte der Verkehrspsychologie, S.
kommt zu der Schwierigkeit der einfachen Über- 275–288. VS Research, Wiesbaden (2008)
nahme das Problem der sogenannten Mode Awa- 2 DIN EN ISO 10075‐1: Ergonomische Grundlagen bezüglich
reness [63, 64] hinzu. Fehlende Mode Awareness psychischer Arbeitsbelastung. Teil 1: Allgemeines und Be-
oder Mode Errors liegen vor, wenn eine Automa- griffe. Beuth Verlag, Berlin (2000)
3 de Waard, D.: The Measurement of Drivers' Mental
tisierungsstufe angenommen wurde, die nicht vor-
Workload. The Traffic Research Centre VSC, University of
liegt. Kritisch wird die Übernahme dann, wenn sich Groningen, The Netherlands (1996). http://home.zonnet.
der Fahrer in hoch automatisiertem Zustand einer nl/waard2/dewaard1996.pdf [April, 2012]
anderen Aufgabe zuwendet und dann im Notfall die 4 Young, M.S., Stanton, N.A.: Attention and automation: New
Kontrolle übernehmen muss [65]. perspectives on mental underload and performance. The-
oretical Issues in Ergonomics Science 3(2), 178–194 (2002)
Um Probleme bei der Übernahme zu vermin-
5 Wickens, C.D., Hollands, J.G., Banburry, S., Parasuraman, R.:
dern und den Fahrer „in the loop“ zu halten, schla- Engineering psychology and human performance, 4. Aufl.
gen Parasuraman, Sheridan und Wickens [66] und Pearson, Boston (2013)
Parasuraman [67] eine differenzierte Automatisie- 6 DIN EN ISO 15006: Straßenfahrzeuge – Ergonomische
rung vor. Nach diesem Konzept soll der Grad der Aspekte von Verkehrsinformations‐ und Assistenzsyste-
men – Anforderungen und Konformitätsverfahren für
Automatisierung variieren, je nachdem, welche
die Ausgabe auditiver Informationen im Fahrzeug (ISO
Auswirkungen auf die Beanspruchung, die Situa- 15006:2011); Deutsche Fassung EN ISO 15006:2011. Beuth
tion Awareness, die Nachlässigkeit („complacency“) Verlag, Berlin (2002)
und die Dequalifizierung zu erwarten sind. Diese 7 ISO 15623: Intelligent transport systems – Forward vehicle
Auswirkungen werden für jede zu automatisierende collision warning systems – Performance requirements
and test procedures (ISO 15623:2013(E)). International Or-
Tätigkeit und getrennt für die einzelnen Stufen
ganization for Standardization, Geneve (2013)
der Handlungsausführung („information acquisi- 8 Sivak, M.: The information that drivers use: Is it indeed 90 %
tion“, „information analysis“, „decision and action visual? Perception 25(9), 1081–1089 (1996)
selection“, „action implementation“) betrachtet. 9 DIN EN ISO 15005: Ergonomische Aspekte von Fahrerinfor-
Als Entscheidungshilfen können sogenannte MA- mations‐ und ‐assistenzsystemen. Grundsätze und Prüf-
verfahren des Dialogmanagements. Beuth Verlag, Berlin
BA-MABA-Listen („Men Are Better At – Machines
(2003)
Are Better At“) oder Fitts-Listen dienen (Fitts, 1951, 10 Taylor, G.S., Reinerman-Jones, L.E., Szalma, J.L., Mouloua,
zitiert in [68]). So kann verhindert werden, dass M., Hancock, P.A.: What to automate: Addressing the mul-
Automatisierung undifferenziert erfolgt und nur tidimensionality of cognitive resources through system
diejenigen Teile einer Tätigkeit nicht automatisiert design. Journal of Cognitive Engineering and Decision
Making 7(4), 311–329 (2013)
werden, für die es noch keine technischen Möglich-
11 Wickens, C.D., McCarley, J.S.: Applied Attention Theory. CRC
keiten gibt (siehe Ironien der Automatisierung). Press, Boca Raton, FL (2008)
Gerade mit der Entwicklung hin zum hoch- 12 Piechulla, W., Mayser Gehrke, C.H., König, W.: Reducing
automatisierten Fahren – bei dem der Fahrer sich drivers’ mental workload by means of an adaptive man‐
in Grenzen anderen Aufgaben widmen kann und machine interface. Transportation Research Part F 6(4),
233–248 (2003)
der Übergang in den manuellen Modus mit einer
13 Hajek, W., Gaponova, I., Fleischer, K.-H., Krems, J.: Workload‐
Zeitreserve erfolgt – wird der Gestaltung der Über- adaptive cruise control – A new generation of advanced
nahmeaufforderung eine entscheidende Rolle bei driver assistance systems. Transportation Research Part F
der Akzeptanz und damit dem Erfolg dieser Tech- 20, 108–120 (2013)
82 Kapitel 5  •  Verhaltenswissenschaftliche Aspekte von Fahrerassistenzsystemen

14 Liu, D., Guarino, S.L., Roth, E., Harper, K., Vincenzi, D.: Ef- 30 Wilson, J.R., Rutherford, A.: Mental models: Theory and ap-
1 fect of novel adaptive displays on pilot performance and plication in human factors. Human Factors 31(6), 617–634
workload. The International Journal of Aviation Psychology (1989)
22(3), 242–265 (2012) 31 Weller, G.: The Psychology of Driving on Rural Roads. De-
2 15 Gawron, V.J.: Human performance, workload, and situatio- velopment and Testing of a Model. VS‐Verlag, Wiesbaden
nal awareness measures handbook, 2. Aufl. CRC Press, Boca (2010)
Raton (2008) 32 Weller, G., Schlag, B., Gatti, G., Jorna, R., van de Leur, M.:
3 16 DIN EN ISO 17287: Ergonomische Aspekte von Fahrerinfor- Internal report D8.1. Human factors in road design. State
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85 6

Funktionale Sicherheit
und ISO 26262
Ulf Wilhelm, Susanne Ebel, Alexander Weitzel

6.1 Aufgaben der funktionalen Sicherheit  –  86


6.2 Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme  –  88
6.3 Erfüllung der Sicherheitsanforderungen  –  94
6.4 Grenzen der ISO 26262  –  99
6.5 Zusammenfassung und Ausblick  –  102
Literatur – 102

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
86 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

6.1 Aufgaben der funktionalen 6.1.2 Ziele und Aufbau


1 Sicherheit der ISO 26262

2 6.1.1 Überblick Die ISO 26262 definiert Anforderungen an die Ent-


wicklung sicherheitskritischer Komponenten und
Bevor ein technisches Produkt für Verkauf und Systeme von Straßenkraftfahrzeugen. Dabei werden
3 Gebrauch freigegeben werden kann, ist immer der zurzeit nur Pkws bis 3,5 t eingeschlossen, allerdings
Nachweis zu führen, dass dieses ausreichend sicher sind angepasste Varianten für Nutzfahrzeuge [7, 8]
4 ist. In dieser allgemeinen Sicherheitsbetrachtung und motorisierte Zweiräder [9, 10] in der Entwick-
wird das Teilgebiet der korrekten und sicheren lung.
5 Funktion des Produkts als funktionale Sicherheit Das in der ISO 26262 beschriebene Vorgehen
bezeichnet [1]. orientiert sich am allgemeinen V-Modell der Pro-
Als Referenzgröße für die Bewertung, ob ein duktentwicklung [11]. Bereits zu Beginn des Pro-
6 Produkt sicher ist, dient das tolerierbare Grenz- duktlebenszyklus, in der Konzeptphase des jewei-
risiko. Liegt das Risiko, das von einem Produkt ligen Systems, sind die Gefahren, die durch eine
7 ausgeht, unterhalb des Grenzrisikos, kann es als Funktion entstehen können, zu bestimmen und
ausreichend sicher betrachtet werden. Das Risiko daraus die resultierenden Risiken zu quantifizie-
wiederum wird in der Ingenieurwissenschaft als ren. Abhängig von dieser Risikobestimmung wer-
8 das Produkt aus Eintretenswahrscheinlichkeit und den die Sicherheitsziele festgelegt und damit die
Schwere eines Schadens definiert [2]. Haben in den Anforderungen an Entwicklungsmethoden, Qua-
9 Ablauf eingebundene Personen – wie beispielsweise litätssicherung und Überwachung über den gesam-
Bediener einer Maschine – durch gezielte Handlun- ten Produktlebenszyklus definiert. Der vereinfachte
10 gen die Möglichkeit, den Schaden bei Auftreten ei- Ablauf des Sicherheitsentwicklungsprozesses nach
nes Fehlers abzuwenden, wird als zusätzlicher Fak- ISO 26262 mit den dazugehörigen originalen Kapi-
tor die Kontrollierbarkeit (zur Begrifflichkeit vgl. telüberschriften ist in . Abb. 6.1 dargestellt.
11 [3]) herangezogen. Die durch die ISO  26262 vorgegebene Me-
Das tolerierbare Grenzrisiko wird durch den thodik gewährleistet damit die Integration von
12 aktuellen Stand der Technik definiert. Der Herstel- Sicherheitsanforderungen bereits zu Beginn des
ler ist verpflichtet, im Schadensfall nachweisen zu Entwicklungsprozesses. Hierdurch werden die an-
können, dass sein Produkt zum Zeitpunkt des In- zuwendenden Entwicklungsmethoden anhand von
13 verkehrbringens dem Stand von Wissenschaft und sicherheitstechnischen Kriterien festgelegt. Insbe-
Technik unter Sicherheitsgesichtspunkten genügte sondere müssen die Anforderungen an die Qualität
14 [4]. Die Definition des verbindlichen Standes der des Sicherheitskonzeptes bereits definiert werden,
Technik wird häufig in Normen vorgenommen, die bevor die Produkteigenschaften detailliert spezifi-
15 die von Produkt und Hersteller zu erfüllenden An- ziert werden.
forderungen sowohl bezüglich der Produkteigen-
schaften als auch an Entwicklungsmethodik und
16 Dokumentation zusammenfassen. 6.1.3 Abgrenzung zu anderen
Anforderungen an die funktionale Sicherheit Normen und Richtlinien
17 von elektrischen, elektronischen und program-
mierbaren elektronischen Systemen im Allgemei- Um eine breite Anwendbarkeit auch auf unter-
nen fasst die technische Norm IEC/EN 61508 [5] schiedlichste Systeme zu ermöglichen, adressiert die
18 zusammen. Für den automobilen Bereich ist die da- ISO 26262 die Problemstellungen der funktionalen
raus abgeleitete ISO 26262 [6] die relevante Norm: Sicherheit auf abstrakter Ebene. Dadurch bietet sie
19 Sie enthält Definitionen, Richtlinien sowie Ent- zwangsläufig wenig konkrete Informationen zu den
wicklungs- und Kontrollmethoden zur funktiona- bei der Anwendung benötigten Methoden und Vor-
20 len Sicherheit von elektrischen und elektronischen gehensweisen, beispielsweise der Umsetzung von
(E/E)-Komponenten. Kontrollierbarkeitsabschätzungen und -prüfungen
6.1  •  Aufgaben der funktionalen Sicherheit
87 6

.. Abb. 6.1  Entwicklungsprozess nach ISO 26262 mit Originalüberschriften und mit Fokus auf die Systementwicklung

für die Risikoermittlung. Die Quantifizierung der Durch die funktionsübergreifende Formu-
einzelnen Einflussfaktoren des Risikos bestimmt je- lierung ist die ISO  26262 auch zu funktionsspe-
doch direkt die Gefährdungsbewertung und damit zifischen Normen zu Fahrerassistenzsystemen
die an das System bzw. die Funktion anzulegenden abgegrenzt. Diese Normen, wie beispielsweise die
Sicherheitsmaßstäbe. Folglich ist auch der jeweilige ISO  15622 für Adaptive Cruise Control (ACC),
Stand der Technik zu objektiven, allgemein aner- definieren die Funktionsbereiche, -umfänge und
kannten Bewertungsmethoden und -metriken zur Mindestanforderungen bezogen auf die jeweilige
Beurteilung von Fahrsituationshäufigkeit, Kontrol- Fahrerassistenzfunktion. Dabei werden auch Test-
lierbarkeit und Schadensschwere für eine Risikobe- methoden beschrieben, mit denen die Anforde-
urteilung zu beachten. Im Bereich von Fahrerassis- rungserfüllung überprüft werden kann.
tenzsystemen mit Umfeldwahrnehmung liefert hier
beispielsweise der „Code of Practice“ [12] aus dem
Projekt PReVENT einen Anhaltspunkt, der den 6.1.4 Abgrenzung zur Behandlung
Stand der Technik zu Bewertungsmethoden und von anderen Fehlerquellen
-metriken für diese Kategorie zusammenfasst und
dabei auch Vorgehensweisen zu Betrachtungen an Bei der Betrachtung der funktionalen Sicherheit von
der Mensch-Maschine-Schnittstelle liefert. In diesem Systemen nach den Vorgaben der ISO 26262 ist eine
Code of Practice sind beispielsweise umfangreiche Abgrenzung zu anders gearteten Fehlern vorzuneh-
Fragebögen enthalten, nach denen das Zusammen- men. Eine Grenze ist die Beschränkung auf elektri-
wirken von Assistenzsystem und Fahrer situations- sche/elektronische und programmierbare Systeme
abhängig und in 18 Kategorien (bspw. Vorherseh- (E/E-Systeme), so dass beispielsweise mechanische
barkeit, Vertrauen, Nachvollziehbarkeit) unterteilt, Fehler als Ursache für Risiken nicht berücksichtigt
bewertet werden kann. Der darin dokumentierte werden.
Stand der Technik, sei er auch schon einige Jahre alt, Ebenso betrachtet die Norm nur die funktiona-
bietet durch die Konkretisierung einen Bezugspunkt len Fehler (im Sinne einer Abweichung von einer
und Beispiele für die praktische Umsetzung der Ge- expliziten Spezifikation) eines Fahrerassistenzsys-
fährdungsanalyse und Risikobewertung. tems. Dies setzt voraus, dass eindeutig zwischen ei-
88 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

nem spezifikationsgerechten Zustand, der korrekten solange die Auswirkungen auf die Situation gleich
1 Funktion, und einem nichtspezifikationsgerechten oder zumindest ähnlich sind. In [14] wird dies als
Zustand, einem Fehler/Ausfall oder einem Versa- ganzheitlicher Ansatz bezeichnet, der eine verglei-
2 gen, differenziert werden kann. Diese Fehler sind chende Bewertung der Auswirkungen sowohl von
als solche identifizierbar und können z. B. durch technischen Fehlern als auch von funktionalen
eine Fehlererkennung mit sehr hoher Diagnoseab- Unzulänglichkeiten zulässt. Inwiefern allerdings
3 deckung und Abschalt- und Degradationsmaßnah- das zugrunde liegende akzeptierte Grenzrisiko und
men auf ein Minimum reduziert werden. damit die nach ISO 26262 anzuwendende Bewer-
4 Als fehlerhaft empfundene Eingriffe von Fah- tungsmetrik der resultierenden erlaubten Fehler-
rerassistenzsystemen mit Umfeldwahrnehmung raten in beiden Fällen gleichgesetzt werden darf,
5 entstehen jedoch nicht nur durch Versagen von wird aktuell noch diskutiert. So wird in [15] ein
E/E-Bauteilen oder eine fehlerhafte Software. Eine akzeptiertes Grenzrisiko auf Systemebene für beide
andere Art von Fehler tritt auf, obwohl alle Bauteile Fehlerarten gefordert, während [16] die funktiona-
6 sowie die Software innerhalb der Spezifikation funk- len Unzulänglichkeiten eindeutig der Gebrauchssi-
tionieren: Dabei reagiert das System in einer der cherheit zuordnet.
7 Situation nicht angemessenen Weise, weil die Sys-
temspezifikation nicht alle theoretisch möglichen
Fälle abdeckt, die im Fahrzeugbetrieb auftreten kön- 6.2 Sicherheitsanforderungen
8 nen. Die der Fahrsituation nicht angemessene Reak- an Fahrerassistenzsysteme
tion des Systems resultiert dabei beispielsweise aus
9 einer unvollständigen Situationswahrnehmung oder ISO 26262 fordert während der Konzeptionsphase
aus nicht eintretenden Prädiktions- bzw. Modellan- die Identifikation der von einem E/E-System ausge-
10 nahmen. Aufgrund der großen Anzahl möglicher henden Risiken und die Bewertung des Risikopoten-
Fahrsituationen können umfeldsensorbasierte Fah- zials. Dies erfolgt auf Basis der Gefährdungsanalyse
rerassistenzsysteme nach aktuellem Wissensstand und Risikobewertung (G&R), einer Methode, deren
11 aber weder so eindeutig spezifiziert noch so getestet Anwendung in Teil 3 der ISO 26262 normativ vor-
werden, dass fehlerhafte Eingriffe nur außerhalb der geschrieben ist (3–7 in . Abb. 6.1). Im Rahmen der
12 Spezifikation auftreten [13]. Eine abstraktere For- G&R werden auf Fahrzeugebene potenzielle Gefähr-
mulierung der Systemspezifikation verschiebt diese dungen ohne Berücksichtigung der Ursachen analy-
Problematik nur, da spätestens bei der technischen siert und die erkannten Risiken klassifiziert. Dabei
13 Umsetzung konkrete Systemreaktionen auf Basis bedeutet Fahrzeugebene nach [16] die Realisierung
vorliegender Umfeldinformationen festgelegt wer- ein oder mehrerer Systeme, auf die die ISO 26262
14 den müssen. Die weiterführende Diskussion dieser angewendet wird, und bezeichnet somit die oberste
Problematik findet sich in ▶ Abschn. 6.4 dieses Ka- Abstraktionsebene im Gesamtsystem „Fahrzeug“.
15 pitels. Zur Vermeidung der im Rahmen der G&R bestimm-
Auch wenn sich die technischen Ursachen für ten Gefährdungen fordert die ISO 26262 die Spe-
die beiden Fehlerarten unterscheiden, sind die für zifikation von Sicherheitszielen (3–5 in . Abb. 6.1).
16 den Fahrer wahrnehmbaren Effekte auf das Fahr- Diese geben den Rahmen für die Entwicklung des
zeug gegebenenfalls ähnlich (bspw. eine Fahrzeug- Sicherheitskonzepts vor. Die daraus abgeleitete hie­
17 verzögerung ohne ersichtlichen Grund). rarchische Struktur von Sicherheitsanforderungen
Das in der ISO 26262 definierte Vorgehen der ist in . Abb. 6.2 dargestellt. Die Sicherheitsziele wer-
Festlegung von Sicherheitsanforderungen anhand den auf Fahrzeugebene unter Berücksichtigung der
18 einer objektiven Risikobewertung kann für beide Einflüsse und Situationen aus der Umwelt bestimmt
Fehlerarten angewendet werden. Aus Sicht des und anschließend im Fahrzeugsystem an die an der
19 Fahrers und weiterer beteiligter Personen ist es in Gefährdung beteiligten Funktionen als funktionale
der jeweiligen Situation unerheblich, ob die Ursa- Sicherheitsanforderungen (3–8 in . Abb. 6.1) abge-
20 che einer Gefährdung in funktionalen Fehlern oder leitet. Diese Ableitung ist noch „lösungsfrei“ und
in Unzulänglichkeiten des Systems begründet ist, somit unabhängig von der konkreten Implemen-
6.2  •  Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme
89 6
.. Abb. 6.2 Hierarchische
Struktur von Sicherheits-
anforderungen

tierung. Erst auf der konkreten Systemebene erfolgt


die Realisierung einer oder mehrerer Funktionen,
adressiert über technische Sicherheitsanforderungen
- Häufigkeit der Fahrsituation (ausgesetzt sein,
engl. „exposure“): Wie häufig sind die Fahr-
situationen, in denen eine Gefährdung vom
(4–6 in . Abb. 6.1). Im Gegensatz zu funktionalen Fahrer oder anderen Verkehrsteilnehmern
Sicherheitsanforderungen beschreiben technische
Sicherheitsanforderungen die Implementierung
des Systems und werden im nächsten Ableitungs-
schritt zur Implementierung der Hardware (HW)
- auftreten kann?
Kontrollierbarkeit (engl. „controllability“):
Wie gut ist die Gefährdung vom Fahrer oder
anderen Verkehrsteilnehmern in der jeweiligen
und der Software (SW) entsprechend zu HW- und Fahrsituation kontrollierbar, damit der Scha-
SW-Sicherheitsanforderungen (Teil von 5 und 6 in
. Abb. 6.1) detailliert.
Im Folgenden wird am Beispiel der Fahreras-
sistenzfunktion „Automatische Notbremse (ANB)“
- den vermieden werden kann?
Schadensschwere (engl. „severity“): Wenn der
Schaden eintritt, wie groß ist dann die Schwere
der Auswirkung?
(engl. „Autonomous Emergency Braking – AEB“)
die hierarchische Struktur von Sicherheitsanforde- Die Darstellung in . Abb. 6.3 zeigt die Zusammen-
rungen genauer vorgestellt. Die ANB soll im Falle hänge der drei Risikoparameter in einem Risiko-
einer drohenden Kollision mit dem vorausfahren- diagramm. Anhand dieses Diagramms lässt sich
den Fahrzeug eine automatische Notbremsung darstellen, wie eine Risikobewertung durchgeführt
durchführen; je nach Stärke des Eingriffs wird die wird. Dabei setzt sich das Produkt Risiko aus den
Funktion zur Schadensverminderung oder zur Faktoren Schadensschwere (x-Achse) und Häufig-
Schadensvermeidung ausgelegt (siehe ▶ Kap. 47). keit (y-Achse) zusammen. Bezogen auf die zuvor er-
wähnten Risikoparameter wird die Schadensschwere
mit dem gleichnamigen Parameter bewertet. Die
6.2.1 Spezifikation Häufigkeit resultiert aus der Häufigkeit der Fahr-
von Sicherheitszielen situation und der Kontrollierbarkeit: Je höher die
Häufigkeit der Fahrsituation ist, umso größer ist auch
6.2.1.1 Grundlagen das resultierende Risikopotenzial. Nur durch eine
Die ISO 26262 gibt die Methodik zur Analyse und hohe Kontrollierbarkeit kann das Risiko noch ge-
Klassifikation von Gefährdungen normativ vor. Dies senkt werden, was dann gegeben ist, wenn die an der
erfolgt auf Basis von folgenden drei Risikoparame- kritischen Situation beteiligten Verkehrsteilnehmer
tern: die Möglichkeit haben, den Schaden zu vermeiden.
90 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

.. Abb. 6.3 Risikodia-
1 gramm

2
3
4
5
6
7
8
9 .. Tab. 6.1 ASIL-Bestimmungsmatrix

10 Kontrollierbarkeit (engl. „controllability“)

Schadensschwere Häufigkeit Fahrsituation C1 C2 C3


(engl. „severity“) (engl. „exposure“) (einfach) (normal) (schwierig)
11
S1 E1 (sehr niedrig) QM QM QM
(leicht/mittel)
12 E2 (niedrig) QM QM QM

E3 (mittel) QM QM A

13 E4 (hoch) QM A B

S2 E1 (sehr niedrig) QM QM QM

14 (schwer,
Überleben wahrscheinlich)
E2 (niedrig) QM QM A

E3 (mittel) QM A B
15 E4 (hoch) A B C

S3 E1 (sehr niedrig) QM QM A
16 (lebensgefährlich, Überleben
E2 (niedrig) QM A B
unwahrscheinlich)
E3 (mittel) A B C
17 E4 (hoch) B C D

18 Ergebnis der Risikobewertung ist das Risiko- ten Risikopotenzial. Ausgehend vom ASIL werden
potenzial, das mit einem ASIL (Sicherheitsinteg- normativ die Maßnahmen zur Vermeidung und
19 ritätslevel, engl. „Automotive Safety Integrity Le- Beherrschung von systematischen und zufälligen
vel“) in den Klassen QM, ASIL A, ASIL B, ASIL Fehlern festgelegt, um das Risikopotenzial so weit
20 C und ASIL D bewertet wird. Dabei entspricht zu reduzieren, dass das verbleibende Risiko un-
ASIL A dem niedrigsten und ASIL D dem höchs- terhalb des tolerierbaren Risikos liegt. Bei ASIL D
6.2  •  Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme
91 6

sind mehr Methoden und Maßnahmen anzuwen- nördlichen Regionen Europas sicherlich mit einer
den, um die Sicherheit zu gewährleisten, als bei höheren Aufenthaltsdauer bewertet werden als in
einem ASIL A. Wird eine Gefährdung jedoch nur den südlichen Regionen.
mit QM (Qualitätsmanagement) eingestuft, dann
reicht die Anwendung eines zertifizierten Quali- 6.2.1.2 Sicherheitsziele am Beispiel
tätsmanagementsystems aus und die Anwendung ANB
der ISO 26262 auf den weiteren Entwicklungspro- Die ANB-Funktion steuert den Aktor „Bremse“ an.
zess ist nicht erforderlich. Ausgehend von der Aktorfunktion „Bremsen“ kön-
Die ASIL-Einstufung wird konkret anhand der nen folgende Fehlfunktionen als potenzielle Gefähr-
Bewertung der einzelnen Risikoparameter nach dungen bestimmt werden:
. Tab. 6.1 bestimmt. Dabei ist jeder Risikopara- a) ungewollte automatische Bremsung,
meter in drei bis vier Klassen eingeteilt, wobei jede b) ungewollte Bremsverstärkung bei Fahrerbrem-
Klasse einer anderen Bedeutung entspricht. Im An- sung,
hang von Teil 3 der ISO 26262 gibt es informative c) keine Bremsung trotz Bremsanforderung,
Tabellen mit Hinweisen und Beispielen, mit wel- d) zu geringe Bremsung trotz Bremsanforderung,
chen Risikoparametern die Schadensschwere von e) Fahrzeug im Stillstand festgebremst.
Unfällen, Fahrsituationen und Kontrollierbarkeit
vom Fahrer zu bewerten sind. So werden Fahrsitu- Im ersten Schritt wird das Risikopotenzial der Ge-
ationen, die bei fast jeder Autofahrt auftreten (z. B. fährdungen der „Bremsfunktion“ unabhängig von
Fahrt auf Landstraße), mit E4 eingestuft und Fahrsi- der Fahrerassistenzfunktion bestimmt. Dies erfolgt
tuationen, die mindestens einmal im Monat auftre- auf Basis der G&R mit den Risikoparametern Scha-
ten (z. B. Fahren mit Anhänger, Stau), mit E3 – noch densschwere (S), Häufigkeit Fahrsituation (E) und
seltenere Fahrsituationen dann entsprechend mit E2 Kontrollierbarkeit (C) nach . Tab. 6.2. Dort werden
(z. B. Fahren auf Eis und Schnee) bzw. mit E1 bei für die Gefährdungen a) und b) ein ASIL C bestimmt,
sehr seltenen Situationen (Fahrzeug auf Rollenprüf- die Bewertung erfolgt ohne Berücksichtigung von Si-
stand). Allein schon dieses Beispiel zeigt, dass eine cherheitsmaßnahmen (z. B. Deaktivierung Bremsung
objektive Bewertung nicht immer möglich ist, da durch Fahrer oder Begrenzung des Bremseingriffs).
Fahrsituationen je nach betrachteter Umwelt auch Der ermittelte ASIL dient für die weitere Ent-
unterschiedlich bewertet werden können. So wird wicklung des Produkts als Maßstab für die Risiko-
beispielsweise eine Fahrt auf Eis und Schnee in den reduktion, wobei zur Vermeidung der Gefährdung

.. Tab. 6.2  G&R am Beispiel der Aktorfunktion „Bremsen“

Nr. Fehlfunktion Situation Gefährdung S Begründung E Begründung C Begründung ASIL


S E C

a) ungewollte Stadtfahrt/ Auffahrun- 2 Unfallstatistik 4 Dichter 3 Kontrollier- C


automatische Land- fall durch zeigt leichte Verkehr in fast barkeit durch
Bremsung straße/ nachfol- bis schwere allen Fahrsitu- zu geringen
(Annahme: Autobahn, gendes Verletzungen ationen Sicherheits-
Fahrzeug dichter Fahrzeug abstand
bleibt stabil) Verkehr schwierig für
mit zu nachfolgen-
b) ungewollte
geringem den Fahrer
Brems­
Sicher-
verstärkung
heitsab-
bei Fahrer-
stand
bremsung
(Annahme:
Fahrzeug
bleibt stabil)
92 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

an die einzelnen Systemanbieter. Das funktionale


1 .. Tab. 6.3  Sicherheitsziele am Beispiel der Aktorfunk-
tion „Bremsen“ Sicherheitskonzept (3–8 in . Abb. 6.1) beschreibt
die Annahmen und Lösungen, anhand derer die
2 Nr. Sicherheitsziel
(engl. „safety
Sicherer
Zustand (engl.
ASIL Ableitung der Sicherheitsziele in funktionale Sicher-
goal“) „safe state“)
heitsanforderungen vorgenommen wurde.
Die Lastenhefte mit den funktionalen Sicher-
3 a) Vermeide unge- automatische C heitsanforderungen werden vom Fahrzeugsys-
wollte Bremsung, Bremsung zu-
tem-Verantwortlichen erstellt, dies ist in der Regel
4 die zu einer Ge-
fährdung führt.
rücknehmen
der OEM. Die Systemanbieter sind dann in der
Pflicht, das Sicherheitskonzept so zu spezifizieren
b) Vermeide unge- Bremsverstär- C
5 wollte Bremsung, kung zurückneh-
und umzusetzen, dass die funktionalen Sicherheits-
die zu einer Ge- men
anforderungen an das System nicht verletzt werden.
Das technische Sicherheitskonzept enthält die Do-
6 fährdung führt.
kumentation der Ableitung der funktionalen Sicher-
heitsanforderungen zu technischen Sicherheitsan-
7 „Auffahrunfall“ Sicherheitsziele spezifiziert werden. forderungen. Dieses beinhaltet die konkrete Lösung
Diese sind als Sicherheitsanforderung auf höchster auf Systemebene zur Vermeidung der Verletzung
Abstraktionsebene („top-level safety requirements“) der funktionalen Sicherheitsanforderungen und
8 der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Sicher- damit implizit zur Vermeidung einer Verletzung
heitskonzepts. Zusätzlich muss zu jedem Sicherheits- des übergeordneten Sicherheitsziels.
9 ziel der „sichere Zustand“ („safe state“) spezifiziert
werden. Im Falle des Beispiels aus . Tab. 6.2 sind die 6.2.2.2 Sicherheitsanforderungen
am Beispiel ANB
10 Sicherheitsziele und der sichere Zustand in . Tab. 6.3
beschrieben. Ein Beispiel von Sicherheitsanforderungen der
Sicherheitsziele adressieren alle Systeme, die ANB-Funktion auf Fahrzeug- und auf Systemebene
11 direkt oder indirekt auf den betrachteten Aktor ist in . Abb. 6.4 enthalten. Bestandteile der Aktor-
zugreifen können und somit das Potenzial haben, funktion Bremsen sind das „System Fahrerassis-
12 die Gefährdungen a) bis e) zu verursachen. Die tenz (FAS)“ und das „System Elektronische Stabi-
hierarchische Struktur von Sicherheitsanforderun- litätsregelung“ (engl. „Electronic Stability Control
gen aus . Abb. 6.2 erfordert die Detaillierung der – ESC“). Das Sicherheitsziel „Vermeide ungewollte
13 Sicherheitsanforderungen von Fahrzeugebene bis Bremsung, die zu einer Gefährdung führt“ muss
auf HW- und SW-Ebene mit dem Ziel, die Sicher- nun so auf die beiden Systeme vererbt werden, dass
14 heitsziele zu erfüllen und somit die identifizierten dieses nicht verletzt wird. Dies bedeutet für das
Gefährdungen zu vermeiden. System FAS, dass eine unberechtigte ANB-Anfor-
15 derung, die zu einer Gefährdung führen kann, ver-
mieden werden muss. Durch die Limitierung der
6.2.2 Spezifikation ANB-Funktion in der Dauer und z. T. auch in der
16 von Sicherheitsanforderungen Stärke kann das Risikopotenzial reduziert werden,
da eine kürzere oder eine schwächere Bremsung
17 6.2.2.1 Grundlagen positiven Einfluss sowohl auf das Schadensausmaß
Sicherheitsanforderungen werden ausgehend von als auch auf die Kontrollierbarkeit hat. Die in der
den Sicherheitszielen auf jeder Ebene der Fahrzeug- ISO 26262 beschriebene G&R stößt an ihre Gren-
18 und Systemarchitektur spezifiziert, s.  . Abb. 6.2. zen, wenn es darum geht, diese Risikoreduktion
Auf Fahrzeugebene wird das sichere Verhalten der konkret zu bestimmen. In der Regel fällt es auf-
19 Funktion, welche potenziell das Sicherheitsziel ver- grund der groben Einteilung der Risikoparameter
letzten kann, in Form von funktionalen Sicherheits- und der damit verbundenen subjektiven Einschät-
20 anforderungen spezifiziert. Dies erfolgt für alle be- zung schwer, Bremseingriffe mit unterschiedlichen
teiligten Systeme und ist Bestandteil der Lastenhefte Bremsprofilen entsprechend ihrem Risikopotenzial
6.2  •  Sicherheitsanforderungen an Fahrerassistenzsysteme
93 6

.. Abb. 6.4  Hierarchische Struktur von Sicherheitsanforderungen am Beispiel ANB

zu bewerten. In diesem Fall können objektivierte teten Sicherheitsanforderungen reduziert werden,


Methoden wie beispielsweise Simulationen auf Basis was allerdings nur bei vorliegender Redundanz
der Bewegungsgleichungen oder Nutzung von Dau- möglich ist. Nach ISO 26262-9, Kapitel 5.4 kann
erlaufdaten und Unfallstatistiken weiterhelfen, um eine Dekomposition und somit die Reduktion des
die ASIL-Einstufung unterschiedlicher Bremsprofile ASIL nur durchgeführt werden, wenn die Sicher-
genauer zu bestimmen. heitsanforderung „vor Dekomposition“ (initiale
Angenommen der ANB-Eingriff ist so begrenzt, Sicherheitsanforderung) durch mindestens zwei
dass das Risikopotenzial auf ein ASIL A reduziert ausreichend unabhängige Elemente oder Subsysteme
werden kann: In diesem Fall wird diese ASIL-Ein- realisiert werden kann. Jede abgeleitete Sicherheits-
stufung zusammen mit der funktionalen Sicher- anforderung muss somit in der Lage sein, die ini-
heitsanforderung „Vermeide ungewollte Bremsan- tiale Sicherheitsanforderung „alleine“ zu erfüllen.
forderung innerhalb der ANB-Spezifikation“ an Dabei gelten Elemente oder Subsysteme als „aus-
das System FAS vererbt. Um jedoch zu vermeiden, reichend unabhängig“, wenn auf Basis der Analyse
dass aufgrund eines Fehlers eine ANB-Bremsung von abhängigen Fehlern (s. ISO 26262-9, Kapitel 7)
außerhalb der spezifizierten Grenzen durchgeführt kein Common Cause (CCF, s. ISO 26262-1, 1.14)
wird, müssen diese Grenzen ebenfalls abgesichert oder kaskadierender Fehler (Cascading Failure, s.
werden. In der Regel erfolgt die Begrenzung der ISO 26262-1, 1.13) ermittelt wird, der zu einer Ver-
ANB-Anforderung im System ESC mit einem ASIL letzung der initialen Sicherheitsanforderung führen
C, abgeleitet von der ursprünglichen Einstufung des kann. Common Cause bezeichnet dabei den Ausfall
entsprechenden Sicherheitsziels. aufgrund einer gemeinsamen Ursache, während ein
kaskadierender Fehler in seiner Folge weitere Fehler
6.2.2.3 Dekompositionsmethoden verursacht [16].
Neben der Vererbung von Sicherheitsanforderun- In . Abb. 6.4 wird der ASIL an die beteiligten
gen, bei denen der ASIL mindestens einer abge- Systeme vererbt, wobei das System ESC den ASIL
leiteten Sicherheitsanforderung zugeordnet wird, des übergeordneten Sicherheitsziels bekommt. Die
bietet die ISO  26262 auch die Möglichkeit der Reduktion des ASIL beim FAS-System erfolgt nicht
Dekomposition. Dabei kann der ASIL der abgelei- durch Dekomposition (hier liegt keine Redundanz
94 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

1
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3
4
5
.. Abb. 6.5  Anwendung Dekomposition am Beispiel ANB
6
vor), sondern durch eine Neubewertung des Risi- Diese Spezifikation auf allen Detaillierungsebenen
7 kopotenzials mit eingeschränkter Bremsfunktion. dient als Basis für den rechten Ast des V-Modells,
Aufgrund der Tatsache, dass der Sicherheitsmecha- der Verifikation und Validierung der Produkteigen-
nismus zur Absicherung der spezifizierten Grenzen schaften.
8 in einem unabhängigen Steuergerät umgesetzt wird,
ist es nach ISO 26262 durchaus zulässig, den ASIL
9 im System FAS auf das eigentliche Risikopotenzial 6.3.1 Rückverfolgbarkeit
zu reduzieren. Sollte aber rein hypothetisch im Sys- der Anforderungsebenen
(„Traceability“)
10 tem ESC kein ASIL C umgesetzt werden können, so
ist es denkbar, das ASIL C auf beide Systeme zu ver-
teilen, indem auch im System FAS die spezifizierten Geht man davon aus, dass die Sicherheitsziele va-
11 Grenzen abgesichert werden. Die ISO 26262 bietet lidiert wurden, ist laut ISO 26262 ein Produkt ge-
in Teil 9, Kapitel 5 verschiedene Möglichkeiten der nau dann sicher, wenn nachgewiesen werden kann,
12 Reduktion der ASIL-Einstufung an. Dabei soll aber dass die Lösung in Form der Spezifikation auf Im-
immer der initiale ASIL noch in Klammern mit an- plementierungsebene die Sicherheitsziele erfüllt.
gegeben werden. So kann beispielsweise ein ASIL Dementsprechend reicht es also nicht, genau zu
13 C dekomponiert werden in ein ASIL A (C) und ein beschreiben, welche Algorithmen implementiert
ASIL B (C). Für die Sicherheitsanforderungen an werden oder welche Hardware verwendet wird und
14 die ANB-Funktion würde sich dann die Änderung wie diese beschaffen ist. Diese Lösung muss zu Va-
in . Abb. 6.5 ergeben. lidierungszwecken mit den abstrakter spezifizierten
15 Eigenschaften, insbesondere den Sicherheitszielen,
eindeutig verknüpft werden. Eine solche lückenlose
6.3 Erfüllung Dokumentation zu erstellen, ist für komplexe Sys-
16 der Sicherheitsanforderungen teme durchaus herausfordernd.
Bei einem ersten Versuch, ein radarbasiertes
17 Nachdem die von einem Produkt ausgehenden Ri- ANB-System zu spezifizieren, könnten beispiels-
siken mithilfe einer G&R (3–7 in . Abb. 6.1) sys- weise folgende Anforderungen in ein Pflichtenheft
tematisch erarbeitet und aus den Sicherheitszielen eingehen:
18 Sicherheitsanforderungen abgeleitet wurden, muss a) Der Innenwiderstand des Heizdrahtes der Lin-
der ISO 26262 folgend die Produktentwicklung si- senheizung soll xx Ohm betragen.
19 cherstellen, dass diese auch umgesetzt werden. b) Der Radarsensor muss über eine "Fixed-be-
Dem zugrunde liegenden V-Modell [11] nach am-Antenne" Reflexpunkte detektieren.
20 muss dazu zunächst ein vollständiger Anforde- c) ANB darf in Situationen ohne Unfallgefahr
rungsbaum die Produkteigenschaften spezifizieren. nicht verzögern.
6.3  •  Erfüllung der Sicherheitsanforderungen
95 6

Systemebene, f) Das Fahrzeug darf durch unberechtigte


Bremseingriffe keine Unfälle verursachen.
Sicherheitsziel

Produkt- d) Der Fahrer muss


das ANB Verhalten jederzeit
c) ANB darf in Situationen
ohne Unfallgefahr nicht verzögern.
übersteuern können.
beschreibung

Implementierung,
g) Bei Auslösung des Bremslichtschalters
System muss eine automatische Notbremsregelung
e) Für das Objekttracking muss
b) Der Radarsensor muss über
eine "Fixed-beam-Antenne"
unterbrochen und die durch den Fahrer
angeforderte Verzögerung eingestellt werden. ein Kalmanfilter verwendet Reflexpunkte detektieren.
werden.

Elemente der
a) Der Innenwiderstand des Heizdrahtes
Implementierungsebene der Linsenheizung soll xx Ohm betragen.

.. Abb. 6.6  Die Anforderungen lassen sich in einem Anforderungsbaum strukturieren: Dies ist die Basis der Rückverfolgbarkeit

d) Der Fahrer muss das ANB Verhalten jederzeit die konkreteste Anforderung, die sich direkt auf
übersteuern können. eine HW-Implementierung bezieht.
e) Für das Objekttracking muss ein Kalmanfilter Nach Ableitung des funktionalen Sicherheits-
verwendet werden. konzepts (3–8 in . Abb. 6.1) wurde beispielsweise
f) Das Fahrzeug darf durch unberechtigte Brem- Anforderung d) als Sicherheitsanforderung einge-
seingriffe keine Unfälle verursachen. führt. Die sich stellende Kernfrage lautet hier, ob
g) Bei Auslösung des Bremslichtschalters (BLS) Einhaltung des Innenwiderstands nach Anforde-
muss eine automatische Notbremsregelung un- rung a) sicherheitsrelevant ist oder „nur“ durch
terbrochen und die durch den Fahrer angefor- Qualitätsaspekte motiviert ist. Hierzu ist es hilf-
derte Verzögerung eingestellt werden. reich, die Anforderungen in einem hierarchischen
h)  … Anforderungsbaum rückverfolgbar zu sortieren.
Die Knoten des Baumes verbinden dabei all-
Alle Beispielanforderungen sind valide Produktan- gemeine Anforderungen mit Anforderungen, die
forderungen, die sich aber auf sehr unterschiedli- diese konkretisieren: . Abb. 6.6.
chen Abstraktionsebenen befinden. Anforderung Mit jeder Konkretisierung wird der Lösungs-
f) entspricht einem generellen Sicherheitsziel. An- raum weiter eingeschränkt. Der Baum kann auch
forderungen c) und d) sind abstrakte Verhaltensbe- als Darstellung ineinander verschachtelter Lösungs-
schreibungen, die die konkreten HW- und SW-Lö- räume verstanden werden: . Abb. 6.7.
sungen noch nicht vorwegnehmen. Anforderung b) In dieser Darstellung wird der Nutzen der Tra-
und e) beschreiben HW-Komponenten und SW-Al- ceability besonders deutlich: Alle Methoden der
gorithmen, ohne Implementierungsdetails vorweg- ISO 26262 sind darauf ausgerichtet nachzuweisen,
zunehmen. Anforderung a) ist in diesem Beispiel dass die Konkretisierung und ihre Implementierung
96 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

1
2
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6
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9
10 .. Abb. 6.7  Der Anforderungsbaum als ineinander verschachtelte Lösungsräume. Die Anforderung „Das System darf keine
Unfälle verursachen“ definiert einen Lösungsraum, der durch die konkrete Lösung „Der Fahrer muss das System jederzeit über-
steuern können“ eingeschränkt wird.
11
Teilmenge der abstrakteren Spezifikationen sind. Im Ein vollständiger Satz solcher Anforderungen wird
12 Bild der Teilmenge ist eine Lösung genau dann nicht auch als Modell bezeichnet: Es ordnet jeweils einem
erlaubt, wenn sie den durch die abstrakte Anforde- „Eingang“ (engl. „input“) (Fahreraktivität, Umge-
rung aufgespannten Lösungsraum verlässt. bungssituation) einen „Ausgang“ (engl. „output“)
13 In der Praxis kommt es sehr oft vor, dass Hi- (Systemreaktion) zu.
erarchieebenen versehentlich vermischt werden: In der ISO  26262 sind grob vier Hierarchie­
14 Beispielsweise fordert der Entwickler auf der Ebene ebenen mit den entsprechenden Modellen definiert:
der Verhaltensbeschreibung des FAS-Systems schon 1. abstrakte Systemebene spezifiziert über die Si-
15 einen konkreten Algorithmus an. Dies führt zu frü- cherheitsziele (Anforderung f)),
hen, unnötigen Einschränkungen im Systemdesign 2. lösungsfreie Produktbeschreibung bestehend
und macht es auch schwerer, die Rückverfolgbar- aus funktionalen Sicherheitsanforderungen
16 keit sicherzustellen, ist aber für die Einhaltung der (Anforderung c), d)),
ISO 26262 unerheblich. Die ISO 26262 konzentriert 3. Anforderungen auf Implementierungsebene, die
17 sich auf die lückenlose Durchgängigkeit des Anfor- noch mehrere Module betreffen können, sich
derungsbaums bezüglich der Sicherheitsanforde- also noch nicht auf das kleinste architektonische
rungen. Element beziehen: technische Sicherheitsanfor-
18 Es bietet sich an, alle zu einem Lösungsraum derungen (Anforderungen b), e), g)),
gehörenden Anforderungen zu einer System- oder 4. eine das kleinste Strukturelement betreffende
19 Subsystembeschreibung zusammenzufassen. Bei- Implementierungsanforderung: HW-/SW-Si-
spielsweise befinden sich die Anforderungen c) und cherheitsanforderungen (Anforderung a) in
20 d) auf der gleichen Beschreibungsebene und be- diesem Beispiel nur auf HW-Ebene).
schreiben beide das Verhalten des „Features“ ANB.
6.3  •  Erfüllung der Sicherheitsanforderungen
97 6

Der hier beispielhaft skizzierte Anforderungsbaum Nicht mehr durchhalten lässt sich diese Tren-
ist natürlich insofern unvollständig, als sich mit- nung, falls das Sicherheitskonzept auch System-
hilfe dieser einfachen „Spezifikation“ kein System grenzen berücksichtigt, die sich beispielsweise auf
entwickeln lässt. Darüber hinaus sind aber auch Anforderung c) (ANB darf in Situationen ohne Un-
die Ableitungssprünge zu groß: Ist die Eigenschaft fallgefahr nicht verzögern) auswirken. Eine Falsch-
des Heizdrahtes wirklich nicht mit Anforderung f) detektion könnte trotz korrekter Implementierung
(keine unberechtigten Bremseingriffe) verlinkt? Das in HW und SW zu einem Fehlverhalten mit Sicher-
lässt sich aus den wenigen Textzeilen nicht eindeutig heitsrelevanz führen. In diesem Fall sind alle sich
beantworten. aus dem Sicherheitsziel ergebenden Anforderungen
Dieses Beispiel zeigt, wie groß die Herausfor- sicherheitsrelevant – explizit eben auch solche, die
derung eines vollständigen, eindeutig nachvollzieh- die Funktion der Teilsysteme spezifizieren.
baren Anforderungsbaumes gerade für komplexe In der aktuellen Version der ISO  26262 sind
Fahrerassistenzsysteme ist. Daher muss bei der Er- solche Systemgrenzen explizit aus dem Scope der
arbeitung des Anforderungsbaumes grundsätzlich Norm ausgenommen: „ISO 26262 does not address
großer Wert auf die strukturierende Systemarchi- the nominal performance of E/E Systems, even if de-
tektur gelegt werden. Bis auf die in der ISO 26262 dicated functional performance standards exist for
geforderten Hierarchieebenen ist es generell dem these systems.“ Die Herausforderungen, die sich
Systementwickler überlassen, wie viele Ableitungs- daraus an die Anwendung der ISO 26262 für Fah-
schritte auf dem Weg zum kleinsten Strukturele- rerassistenzsysteme ergeben, sind in [15] ausführ-
ment seiner Architektur vorzusehen sind. Kleine lich beschrieben. In dieser Veröffentlichung wird
Schritte machen den Einzelschritt leichter nachvoll- darauf hingewiesen, dass trotz einer vollständigen
ziehbar, lassen aber den Umfang der Spezifikation Einhaltung der ISO 26262 das verbleibende Rest-
sehr schnell anwachsen. risiko von Fahrerassistenzsystemen immer noch
Die ISO 26262 verlangt die lückenlose Rückver- oberhalb des tolerierbaren Risikos (vgl. . Abb. 6.3)
folgbarkeit nur bezüglich der in der G&R abgelei- liegen kann. Dies resultiert aus der funktionalen
teten Sicherheitsziele. Da ein gut dokumentierter Unzulänglichkeit und noch heute wird bei jedem
Anforderungsbaum aber nicht nur die Einhaltung Projekt für die Absicherung von Fahrerassistenzsys-
der Sicherheitsziele nachvollziehbar macht, sondern temen die gleiche Gretchenfrage gestellt: „Wie sicher
auch generell der Produktqualität hilft, ist die Forde- ist sicher genug?“ [17].
rung nach Rückverfolgbarkeit im Automobilbereich
auch ohne Sicherheitsbezug üblich.
Im hier dargestellten Beispiel entsteht ein funkti- 6.3.2 Verifikation
onaler Anforderungsbaum über die Performanzan-
forderungen der ANB-Funktion und ein getrennter Voraussetzung für eine belastbare Verifikation ist
Anforderungsbaum aus der Sicherheitsanforderung. die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene
Die ISO 26262 nimmt an vielen Stellen implizit an, vollständige Systemspezifikation auf den definierten
dass eine Fehlfunktion (engl. „malfunction“) auf Abstraktionsebenen.
Systemebene grundsätzlich immer durch einen Die Verifikation hat zum Ziel, die in den Mo-
Fehler (engl. „fault“), also eine Abweichung von dellen spezifizierte Input/Output-Relation an den
Implementierungsanforderungen verursacht wird. korrespondierenden Elementen des Produkts nach-
In diesem Fall lässt sich die Trennung zwischen Si- zuweisen. Dies ist die Domäne des anforderungsba-
cherheitsarchitektur und funktionaler Architektur sierten Tests.
besonders gut darstellen, da sich die Sicherheits- Ein abgeleitetes Modell, beispielsweise die Kon-
anforderungen im Kern auf die Überwachung der kretisierung von Anforderungen auf Implemen-
spezifizierten Implementierung und Reaktionen tierungsebene, ist äquivalent zu der abstrakteren
auf diese Überwachungen beschränkt. Die Sicher- Systemspezifikation. Dementsprechend würde es
heitsarchitektur schützt den funktionalen Teil des eigentlich ausreichen, nur das Modell auf Syste-
Systems vor Implementierungsfehlern. mebene am Produkt zu verifizieren. In der Praxis
98 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

1
2
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4
5
6
.. Abb. 6.8  Darstellung der hier gewählten Begriffsdefinition Validierung und Verifikation. Die Validierung fokussiert auf die
7 Korrektheit des Designschritts: im V-Modell vertikal. Die Verifikation stellt die Äquivalenz von Implementierung und Implemen-
tierungsmodell sicher: im V-Modell horizontal.

8 ist eine vollständige Verifikation bei komplexeren 6.3.3 Validierung


Modellen jedoch nicht möglich. Je abstrakter die
9 Spezifikation, desto mehr Input/Output-Relationen Die Verifikation beschäftigt sich im Kern mit dem
müssen überprüft werden; außerdem wird die Spe- Nachweis, dass zwei äquivalente Modelle auf der
10 zifikation auch erst auf der Implementierungsebene gleichen Abstraktionsebene – die Spezifikation und
wirklich eindeutig, nur hier kann ein gewisser Grad eine Implementierung dieser Spezifikation – sich
von Vollständigkeit praktisch erreicht werden. wirklich entsprechen.
11 Die ISO 26262 versucht diese Problematik auf Das aus der G&R abgeleitete Sicherheitsziel ist
zweierlei Arten zu entschärfen: Zum einen stützt jedoch bewusst so abstrakt und allgemein formu-
12 sich die Verifikation nicht nur auf einfache Test- liert, dass auch Designfehler, also fehlerhaft abge-
methoden oder Reviews, sondern empfiehlt je leitete Modelle, zu einer Verletzung dieser Top-Le-
nach ASIL-Einstufung weiterführende, stärker for- vel-Anforderungen führen können, vgl. . Abb. 6.8.
13 malisierte Methoden, die nach Stand der Technik Die Phase  4–9 Sicherheitsvalidierung (engl.
bekannt sind (z. B. Verifikation von Softwarecode „Safety Validation“) ist speziell der Aufgabe gewid-
14 durch Anwendung der „abstrakten Interpretation“). met, die Gültigkeit der Ableitungen aus abstrak-
Eine Vertiefung der unterschiedlichen Methoden teren Anforderungen sicherzustellen. Zusätzlich
15 würde den Rahmen dieser Übersicht bei Weitem soll die Vollständigkeit und Korrektheit der ei-
sprengen. Auch die ISO 26262 selbst verweist hier gentlichen Sicherheitsziele validiert werden. Dies
auf etablierte Methodenbeschreibungen. Zum an- umfasst beispielsweise auch die Überprüfung, ob
16 deren wird die Verifikation auf allen Abstraktions- das System im „sicheren Zustand“ vom Fahrer be-
ebenen wiederholt. Ein einfaches SW-Modul kann herrscht werden kann. Die geforderten Methoden
17 weitaus vollständiger getestet werden als ein kom- konzentrieren sich auf Systemtests am Produkt und
plexes, interagierendes System. Zu der Verifikation fokussieren insbesondere die Robustheit des Sys-
auf allen Abstraktionsebenen kommen auch spezi- tems gegenüber „faults“, d. h. Implementierungs-
18 fische Integrationstests zu jedem im Design identi- elementen, die fehlerhaft ihre Spezifikation nicht
fizierten Integrationsschritt. erfüllen.
19 In der Praxis entstehen nach [18] bereits 55 % al-
ler Fehler in der Anforderungs- und Entwurfsphase
20 bei der Konkretisierung der abstrakten Anforderun-
gen auf detaillierte technische Modelle. Diese Feh-
6.4  •  Grenzen der ISO 26262
99 6
.. Abb. 6.9  Das Design
verbindet abstraktes mit
dem konkreten Modell.
Der Abbildung zugrunde
liegt ein „Ableitungsmo-
dell“.

ler sind besonders schwer auszumachen, weil alle ten ein solches Ableitungsmodell im Rahmen des
folgenden Designschritte und die generell vollstän- Stands der Technik zugänglich ist. Auch wenn die-
digeren Tests der Implementierungsebenen einen ses nicht explizit in Form von Dokumenten gefor-
solchen Fehler nicht aufdecken können. dert ist, kann nur mit der Referenz auf ein solches
Die ISO 26262 stützt sich zur Entdeckung sol- Ableitungsmodell ein vollständiger Anforderungs-
cher Fehler besonders auf Reviews durch Experten. baum entstehen.
Ein nach Stand der Technik 100%iges Verständnis
des Designschritts durch die Experten ist dabei Vor-
aussetzung. Dementsprechend betont die ISO 26262 6.4 Grenzen der ISO 26262
auch den Wert einfacher Designs als Grundlage si-
cherer Systeme. Im vorangegangenen Beispiel konnte das Sicher-
Einem Designschritt, der ein abstraktes System- heitsziel „Der Fahrer soll die ANB-Regelung jeder-
modell in ein konkretes technisches Modell über- zeit übersteuern können“ mit einer vergleichsweise
führt, liegt immer ein Ableitungsmodell zugrunde. einfachen Lösung mithilfe des Bremslichtschalters
Nur mithilfe eines solchen Ableitungsmodells ist es erreicht werden.
möglich zu begründen, dass das konkrete Modell Wie verhält es sich aber, falls ein Notbremssys-
im Lösungsraum des abstrakten Modells liegt. Diese tem mit dem Ziel, Fußgänger zu schützen, das
Begründung ist die Basis der Validierung des kon- Sicherheitsziel „Nie in einer Situation ohne Un-
kreten Modells, s. . Abb. 6.9. fallgefahr auszulösen“ hat? In diesem Fall ist das
Wählt der Designer beispielsweise zur Erfüllung Sicherheitsziel gleich einer Systemanforderung, die
der Anforderung d) (Übersteuern) einen elektro- die eigentliche Funktion des Systems beschreibt.
mechanischen Bremslichtschalter, der über einen Eine von der Kernfunktion getrennte „Sicherheits-
A/D-Wandler in ein Steuergerät eingelesen wird, architektur“ ist deutlich schwieriger, wenn nicht un-
liegen dieser Entscheidung physikalische Modelle möglich. Die Rückverfolgbarkeit muss dementspre-
des Wirkprinzips des Schalters und des A/D-Wand- chend entlang des funktionalen Pfades sichergestellt
lers zugrunde. Diese Komponenten sind mithilfe werden, was in komplexen, interpretierenden und
der zugrunde liegenden Ableitungsmodelle so aus- prädizierenden Systemen zu intrinsischen Lücken
gelegt, dass diese, solange die zugrunde liegenden führen kann.
Hardwarebestandteile ihre Spezifikationen erfüllen,
ihre Aufgabe per Design immer erfüllen.
Die ISO 26262 nimmt implizit an, dass den das
System entwerfenden und den reviewenden Exper-
100 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

6.4.1 Lücken Das Versagen eines spezifischen Bauelements


1 in der Rückverfolgbarkeit nach einer bekannten Belastung führt zu einem
prinzipiell vorhersagbaren, systematischen Fehler:
2 Ein Teil der Systemaufgabe besteht darin, das Ver- Nach Auftreten des Fehlers lassen sich die Ursache
halten von Fußgängern in unterschiedlichen Situ- und der Fehlervorgang erklären. Allerdings müssen
ationen vorherzusagen: Das Systemmodell bildet für eine exakte Vorhersage die genaue Beschaffen-
3 demnach alle Situationen, in denen das Verhalten heit des Bauelements, gegebenenfalls sogar auf ato-
des Fußgängers zusammen mit dem Verhalten des marer Ebene, sowie das genaue Belastungsschema
4 Fahrers des eigenen Fahrzeugs nicht zu einem Un- über die Lebenszeit bekannt sein.
fall führen wird, auf die Systemreaktion „Nicht re- Da diese Informationen nach heutigem Stand
5 agieren“ ab. der Technik nicht für alle ausgelieferten Produkte
Hier stellt sich die Frage, ob es ein Ableitungs- bekannt sein können, erscheint das individuelle
modell geben könnte, das es ermöglicht, einen Algo- Versagen zufällig. Um die Bauelemente sicher aus-
6 rithmus abzuleiten, der den gemessenen Anfangs- zulegen, wird in der Entwicklung auf statistische
zustand der Situation auf den prädizierten Unfall Modelle zurückgegriffen. Die Unwissenheit über
7 abbildet. Dieses Modell müsste somit das Verhalten die individuelle Beschaffenheit des Bauteils wird
aller möglichen Fußgänger in allen denkbaren Situ- demgemäß über eine große Menge von Bauteilen
ationen vorhersagen können. Dies ist so allgemein gemittelt.
8 nicht möglich. Ähnlich wie das statistische Materialmodell
Die Lücke in diesem Modell liegt in der Un- kann auch in unserem Beispiel das individuelle
9 kenntnis der Absicht der relevanten Verkehrsteil- Verhalten des Fußgängers in einer spezifischen
nehmer. Situation statistisch modelliert werden. Resultat
10 Damit sind die Voraussetzungen für die her- ist ein Algorithmus, der über eine größere Menge
kömmlichen Validierungsmethoden, ein nach Stand ähnlicher Situationen häufig richtig („true positive“)
der Technik vollständiges Ableitungsmodell, nicht mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit die Situa-
11 gegeben. tion falsch einschätzt („false positive“). Eine falsche
Einschätzung, die zu einem unerwünschten, der
12 Spezifikation auf der abstrakten Systemebene wi-
6.4.2 Umgang mit Unwissen dersprechenden Verhalten führt, wird im Folgenden
im Designprozess als Fehler bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit eines
13 solchen Fehlverhaltens wird als „Restfehlerwahr-
In diesem Kontext stellt sich die Frage nach ver- scheinlichkeit“ bezeichnet.
14 gleichbaren „Lücken“ in herkömmlichen Systemen, Diese Restfehlerwahrscheinlichkeit ist bei Fah-
die auf komplexe Interpretationen oder Prädiktio- rerassistenzsystemen typischerweise über Modell-
15 nen verzichten. Charakteristisch für diese Lücke ist parameter einstellbar, s. . Abb. 6.10. Im Gegensatz
die Unkenntnis des Zustands eines Systemelements zu Freigaben von Designs basierend auf vollstän-
oder einer Umfeldeigenschaft. digen Ableitungsmodellen sind zum Zeitpunkt der
16 Die im vorigen Kapitel besprochene Validierung Freigabe „designbedingte“ Fehlermodi bekannt. Die
stützt sich auf ein vollständiges Verständnis des Ab- Auftretenswahrscheinlichkeit und damit die Rele-
17 leitungsmodells unter der Voraussetzung, dass die vanz werden mithilfe von Systemtests abgeschätzt.
dem Design zugrunde liegenden Hardwareanfor- Für die Auslegung eines solchen Systems wäh-
derungen eingehalten werden. Die Hardwareeigen- rend der Entwicklungszeit müssen Restfehlerwahr-
18 schaften nach der Herstellung lassen sich vor Frei- scheinlichkeiten vorgegeben werden, was auch für
gabe des Produkts grob überprüfen. Schwieriger ist die Auslegung von HW-Bauteilen üblich ist. Die
19 es jedoch, die Eigenschaften über einen längeren gängigen Methoden zur Modellierung der Fehler-
Zeitraum und unter nicht genau bekannten Um- häufigkeit auf Gesamtsystemebene definieren diese
20 welteinwirkungen zu modellieren. entweder über grobe Schätzungen quantitativ (Fault
6.4  •  Grenzen der ISO 26262
101 6

.. Abb. 6.10  Erkennungsleistung eines Klassifikators, durch Parameter einstellbar. Bei Reduktion der Fehlklassifikationen,
d. h. „false positive“-Wahrscheinlichkeit, reduziert sich die Erkennungsleistung, d. h. die „true positive“-Wahrscheinlichkeit.
Umgekehrt geht eine erhöhte Erkennungsleistung immer mit einer erhöhten Fehlklassifikationswahrscheinlichkeit einher. Der
Abstand zur Ursprungsgeraden entspricht der Selektivität und damit der Leistung des Klassifikators. Die maximale Selektivität
stellt einen Kompromiss zwischen Erkennungsleistung und Fehlklassifikationswahrscheinlichkeit dar

Tree Analysis, FTA) oder qualitativ (Failure Mode nachgewiesen werden. Leider gibt die ISO 26262
and Effect Analysis, FMEA). hier keine konkreten Hinweise zur Ableitung sol-
Die hier beschriebene Lücke in der Rückverfolg- cher Restfehlerraten. Für kritischere Funktionen
barkeit des Designs bezeichnet man häufig auch als kann der „Black-Box-Test“ schnell teurer als die
„funktionale Unzulänglichkeit“. gesamte Entwicklung werden oder im Zeitrahmen
einer Produktentwicklung nicht realistisch durch-
führbar sein. Eine besondere Herausforderung ist
6.4.3 Validierung von Systemen es auch nachzuweisen, dass die gefahrenen Testki-
mit funktionaler lometer ausreichend repräsentativ für die im Feld zu
Unzulänglichkeit erwartenden Situationen sind: Welche Fahrprofile,
unter welchen Witterungsbedingungen, in welchen
Für Systeme mit funktionaler Unzulänglichkeit Ländern, mit welchen Fahrern sind durchzuführen
muss die Einhaltung einer Obergrenze [17] für das [13]? Nicht immer sind statistische Modelle über
systemimmanente Restrisiko nachgewiesen wer- das Fahrerverhalten verfügbar, so dass hier häufig
den. Im einfachsten Fall kann hier ein statistischer auf plausible Experteneinschätzungen zurückgegrif-
„Black-Box-Test“ auf Systemebene durchgeführt fen werden muss.
werden, welcher die Fehlerwahrscheinlichkeit ohne Die statistischen Systemtests sind dementspre-
Wissen über Implementierungsdetails durch Ver- chend kein Ersatz für ein gut verstandenes und
suche auf einer statistischen repräsentativen Stich- möglichst aus belastbaren Modellen abgeleitetes De-
probe misst. Für Fahrerassistenzsysteme bedeutet sign. Während der Entwicklung muss darauf geach-
dies sehr viele Absicherungsstunden unter für die tet werden, Elemente, die sich vollständig ableiten
Funktion repräsentativen Fahrbedingungen. lassen, von Elementen zu trennen, bei denen Lücken
Bereits für vergleichsweise „unkritische“ Funk- im Ableitungsmodell nicht zu vermeiden sind. Im
tionen müssen, je nach Herleitung des akzeptablen Fußgängerschutzbeispiel müssen Abbildungseigen-
Restrisikos, schon Restfehlerraten von < 10−5/h schaften einer Kamera, die den Fußgänger erkennen
102 Kapitel 6  •  Funktionale Sicherheit und ISO 26262

soll, nicht statistisch modelliert werden. Eindeutige die Norm zulässt. Diese Einschätzung bestätigen
1 physikalische Modelle berechnen aus der Pixelzu- auch die Beiträge auf den speziell auf das Thema
ordnung einen Winkel zum Fahrzeug. Anders sieht „Funktionale Sicherheit“ ausgerichteten Tagungen
2 es aus, wenn das Verhalten des individuellen Fuß- in Deutschland, Nordamerika und Asien. So wird
gängers prädiziert werden muss: Hier ist es notwen- beispielsweise das Risikopotenzial gleicher Gefähr-
dig, das Unwissen über die Absicht des Fußgängers dungen noch verschieden eingestuft. Des Weiteren
3 statistisch zu modellieren. Der resultierende Algo- ist bis heute nicht klar, wie manche Anforderungen
rithmus wird die Absicht nicht in jeder Situation und Methoden konkret umzusetzen bzw. anzu-
4 korrekt einschätzen, so dass Restfehlerwahrschein- wenden sind (z. B. Durchführung einer SW-Sicher-
lichkeiten die unvermeidbare Konsequenz sind. heitsanalyse). Es bleibt eine Herausforderung für
5 die 2nd Edition der ISO 26262, deren Bearbeitung
Anfang 2015 begonnen hat, diesen Interpretations-
6.5 Zusammenfassung spielraum ein Stück weit einzugrenzen.
6 und Ausblick Für die Absicherung von Fahrerassistenzsys-
temen sollte in jedem Fall darauf geachtet werden,
7 Im ersten Teil dieses Kapitels wurde dargestellt, dass ein neuer Standard – sei es im Rahmen der
wie die ISO 26262 wichtige Vorgehensweisen zur 2nd Edition der ISO 26262 oder separat – Entwick-
Erreichung der funktionalen Sicherheit im Auto- lungsziele und nicht Lösungen standardisiert. Die
8 mobilbereich standardisiert. Dabei liegt der Fokus Fahrerassistenz steht erst am Anfang einer Entwick-
auf der Vermeidung von unerwünschtem oder ge- lung, die notwendig ist, um das volle Potenzial der
9 fährlichem Systemverhalten durch Hardware- und Möglichkeiten auszuschöpfen. Eine von Sicherheits-
Softwarefehler. bedenken motivierte frühe Erstarrung in definier-
10 Bei den immer komplexer werdenden Fahreras- ten „betriebsbewährten“ Lösungen hätte zur Folge,
sistenzsystemen gewinnen „funktionale Unzuläng- dass sich auch der Nutzen des betroffenen Systems
lichkeiten“ als Ursache für das Fehlverhalten von nicht weiterentwickeln kann. Dieser Versuch, mehr
11 Systemen jedoch immer mehr an Bedeutung. In Sicherheit zu gewährleisten, hätte das Gegenteil zur
diesem Fall liegt die Ursache in den Beschränkun- Folge: Weniger Unfallschutz und Sicherheit im Stra-
12 gen des Systemdesigns, den verwendeten Konzepten ßenverkehr.
selbst.
Eine der Voraussetzungen für die Validierung
13 von solchen Systemen mit funktionaler Unzuläng- Literatur
lichkeit ist die Vorgabe von Freigabezielen – in
14 Form von akzeptierten Restwahrscheinlichkeiten 1 Börcsök, J.: Funktionale Sicherheit, 3. Aufl. VDE‐Verlag, Of-
fenbach (2011)
für fehlerhafte Einschätzungen des Systems. Dies
2 DIN ISO 31000: Richtlinien und Prinzipien zur Implemen-
15 erfordert eine breite Unterstützung der akzeptierten tierung des Risikomanagements, 2009
Werte in der Gesellschaft. 3 Weitzel, A. (2013): Objektive Bewertung der Kontrollierbar-
Für die Hardware haben sich hier entweder er- keit nicht situationsgerechter Reaktionen umfeldsensorba-
16 probte Auslegungen oder akzeptierte Ziele etabliert. sierter Fahrerassistenzsysteme. Dissertation, TU Darmstadt
4 ProdHaftG § 3 Abs. 3 Gesetz über die Haftung für fehler-
Im Bereich der Auslegung der relativ neuen prädi-
hafte Produkte; Ausfertigungsdatum: 15.12.1989, zuletzt
17 zierenden Systeme im Bereich der Fahrerassistenz geändert durch Art. 9 Abs. 3 G v. 19.07.2002 I 2674; vgl.
muss sich ein solcher Standard noch herausbilden. auch BGH Urteil 16. Juni 2009 – VI ZR 107/08
Es ist schwer vorauszusagen, ob dies durch eine
18 Erweiterung der ISO 26262 oder gar in Form einer
5 IEC/EN 61508: Functional Safety of Electrical/Electronic/
Programmable Electronic Safety‐Related Systems (E/E/
PES), 2nd edition, 2010
separaten Initiative erreicht wird.
19 Nach aktueller Einschätzung wird selbst die
6 ISO 26262: International Standard Road vehicles – Functi-
onal safety, 2011
Anwendung der ISO 26262 in den einzelnen Un- 7 Dardar, R., Gallina, B., Johnsen, A., et al.: Industrial Experien-
20 ternehmen noch unterschiedlich interpretiert: ces of Building a Safety Case in Compliance with ISO 26262
IEEE 23rd International Symposium on Software Reliability
Dies liegt am hohen Interpretationsspielraum, den
Literatur
103 6
Engineering Workshops (ISSREW), Dallas, USA, 27.–30. No-
vember 2012., S. 349–354 (2012)
8 Teuchert, S.: ISO 26262 – Fluch oder Segen? ATZelektronik
7(6), 410–415 (2012)
9 Bachmann, V.; Zauchner, H.: Erste Erfahrungen mit dem Au-
tomotive‐Standard ISO 26262 und Ausblick auf die Adap-
tierung für Motorräder, Vortrag TU Darmstadt, 23.05.2013
10 Werkmeister, K., Englisch, H.: Die ISO 26262 für Motorrad
Erfahrungen bei der Umsetzung bei BMW Motorrad 9. In-
ternationale Motorradkonferenz Institut für Zweiradsicher-
heit e. V., Köln, 1.‐2. Oktober 2012. (2012)
11 V‐Modell: Verfügbar unter: http://www.cio.bund.de/DE/
Architekturen-und-Standards/V-Modell-XT/vmodell_xt_
node.html, Abruf am 16.06.2013
12 PReVENT: Code of Practice for the Design and Evaluation
of ADAS, 13.08.2009
13 Weitzel, A., Winner, H., Cao, P., Geyer, S., Lotz, F., Sefati, M.:
Absicherungsstrategien für Fahrerassistenzsysteme mit
Umfeldwahrnehmung. Forschungsbericht der Bundesan-
stalt für Straßenwesen, Bereich Fahrzeugtechnik. Verlag
neue Wissenschaft, Bremerhaven (2014). in Druck
14 Ebel, S., Wilhelm, U., Grimm, A., et al.: Ganzheitliche Ab-
sicherung von Fahrerassistenzsystemen in Anlehnung
an ISO 26262, Integrierte Sicherheit und Fahrerassistenz-
systeme 26. VDI/VW‐Gemeinschaftstagung, Wolfsburg,
06.‐07.10.2010., S. 393–405 (2010)
15 Spanfelner, B., Richter, D., Ebel, S., et al.: Challenges in ap-
plying the ISO 26262 for driver assistance systems, 5. Ta-
gung Fahrerassistenz, München, 15.‐16. Mai 2012. (2012)
16 Ross, H.-L.: Funktionale Sicherheit im Automobil. Carl‐Han-
ser Verlag, München Wien (2014)
17 Ebel, S., Wilhelm, U., Grimm, A., et al.: Wie sicher ist sicher
genug? Anforderungen an die funktionale Unzulänglich-
keit von Fahrerassistenzsystemen in Anlehnung an das
gesellschaftlich akzeptierte Risiko 6. Workshop Fahrerassis-
tenzsysteme, Löwenstein, 28.–30. September 2009. (2009)
18 Balzert, H.: Lehrbuch der Softwaretechnik – Softwarema-
nagement, 2.  Aufl. Spektrum Verlag, Heidelberg, S. 487
(2008)
105 7

AUTOSAR
Simon Fürst, Stefan Bunzel

7.1 Motivation für AUTOSAR  –  106


7.2 Organisation der Partnerschaft AUTOSAR  –  106
7.3 Die neun Projektziele von AUTOSAR  –  107
7.4 Die drei Bereiche der Standardisierung  –  109
7.5 Systemarchitektur – der virtuelle Funktionsbus (VFB)  –  112
7.6 Softwarearchitektur – 112
7.7 Auswirkungen und Besonderheiten
bei der FAS-Entwicklung  –  116
7.8 Zusammenfassung – 122
Literatur – 122

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
106 Kapitel 7 • AUTOSAR

7.1 Motivation für AUTOSAR wagen die Core Partner von AUTOSAR. Sie sind
1 verantwortlich für die Steuerung von AUTOSAR
Softwareentwicklung im Fahrzeugbau gewann in sowie für seine Verwaltung und Organisation. Da-
2 den letzten Jahrzehnten mehr und mehr an Be- rüber hinaus lädt AUTOSAR andere Firmen ein,
deutung. Immer anspruchsvollere Anforderungen sich zu beteiligen, ihre Erfahrung und ihr Wissen
an Sicherheit, Umweltschutz und Komfort führten einzubringen und im Gegenzug von AUTOSAR
3 zu einem massiven Anstieg der Anzahl elektroni- und damit vom Wissen und der Erfahrung aller
scher Systeme im Fahrzeug. Neben immer strik- Beteiligten zu profitieren. Es gibt verschiedene
4 teren gesetzlichen Auflagen, z. B. zu Emissionen Partnertypen: Core-Partner als auch Premium-,
und Sicherheit, untermauert die rasante Zunahme Development- und Associate-Partner sowie At-
5 von Fahrerassistenzsystemen den Trend zu im- tendees wie in . Abb. 7.1 dargestellt.
mer komplexeren elektronischen Systemen. Die Premium- und Development-Partner tragen
Funktionen von Fahrerassistenzsystemen setzen durch Wissen und aktive Teilnahme zur Entwick-
6 verlässliche simultane Interaktionen zwischen den lung von Konzepten und Spezifikationen bei und
vielfältigen Sensoren, Aktoren und Kontrollsyste- bestimmen dadurch den technischen Standard mit.
7 men voraus. Kaum verwunderlich ist, dass mitt- Associate-Partner profitieren, wie Premium- und
lerweile für mehr als 90 % aller Innovationen im Development-Partner auch, von der kommerziellen
Fahrzeug Elektronik und Software verantwortlich Nutzung des Standards. Forschungsinstitute und
8 sind (vgl. [1]). Firmen, die als Dienstleister von AUTOSAR beauf-
Diese rasante Entwicklung und die zuneh- tragt werden, können sich als Attendee engagieren.
9 mende Integration von Funktionen und Regelsys- Attendees beteiligen sich an der Entwicklung von
temen stellen eine Herausforderung für alle Fahr- AUTOSAR, haben aber keine Rechte an der kom-
10 zeughersteller dar. Um die wachsende Komplexität merziellen Nutzung der AUTOSAR-Spezifikationen.
und die steigende Anzahl der Abhängigkeiten auf Zwei Gremien der Core-Partner steuern die Or-
der einen Seite zu beherrschen, die Kosten auf der ganisation: das Executive Board und das Steering
11 anderen Seite aber im akzeptablen Rahmen zu hal- Committee. Das Executive Board ist das höchste
ten, müssen die Schnittstellen zwischen Hardware Entscheidungsgremium von AUTOSAR und legt
12 und Basissoftware sowie zwischen Anwendungs- die Strategie und den übergeordneten Zeitplan fest.
software und Systemdiensten standardisiert wer- Das Steering Committee koordiniert die täglichen,
den. nicht-technischen Unternehmungen und ist für die
13 AUTOSAR (AUTomotive Open System AR- langfristigen Ziele verantwortlich.
chitecture) arbeitet genau an dieser Standardisie- Für technische Angelegenheiten und für die Ko-
14 rung und hat mittlerweile mehrere Versionen des ordination der technischen Work Packages ist das
AUTOSAR Standards veröffentlicht, die in Serien- Project Leader Team verantwortlich. Ebenso wie das
15 projekten zum Einsatz kommen. Im Vordergrund Executive Board und das Steering Committee ist das
steht das Beherrschen der Komplexität durch Aus- Project Leader Team ein Core-Partner-Gremium.
tauschbarkeit und Wiederverwendung von Soft- Die Arbeit an den AUTOSAR-Spezifikationen
16 warekomponenten – wie beispielsweise bei Fah- findet in Work Packages statt, die je nach Bedarf
rerassistenzsystemen. in Untergruppen aufgeteilt sind. Hieran nehmen
17 Core-, Premium- und Development-Partner sowie
Attendees teil. . Abbildung 7.2 verdeutlicht die Ein-
7.2 Organisation der Partnerschaft ordnung der verschiedenen Gremien und Arbeits-
18 AUTOSAR gruppen zueinander.
Die AUTOSAR Support Functions unterstützen
19 Im Juli  2003 wurde AUTOSAR von führenden die Partner bei der Administration, dem Projekt-
Automobilherstellern und Zulieferern gegründet. und Qualitätsmanagement, dem Spezifikationsma-
20 Heute sind BMW, Bosch, Continental, Daimler, nagement und bei der technischen Entwicklung des
Ford, General Motors, PSA, Toyota und Volks- Standards.
7.3  •  Die neun Projektziele von AUTOSAR
107 7
.. Abb. 7.1  Struktur der
Core Partners
AUTOSAR-Partnerschaft [2]  Organizational control Associate Partners
 Users of the AUTOSAR
 Administrative control
standard
 Leadership of Working
Groups
Attendee
 Involvement in Working
 Involvement in Working
Groups
Groups

Premium Partners Development Partners


 Leadership of Working  Dedicated expertise
Groups contributions
 Involvement in Working  Involvement in Working
Groups Groups

Project Management
Technical
Executive Management
Board
Quality
Management

Support Functions
Steering
Committee Specification Management
Administration

Change
Management
Project Leader Communication
Legal Team Release
Team Team
Management

Work Packages Quality


Assurance

Engineering
… … … … …
Technical
Office

Project Organization
Core-Partner

Core-, Premium- and Development-Partner and Attendees

Sub-Contractors

.. Abb. 7.2  Struktur der AUTOSAR-Organisation [2]

Die technische Arbeit war zunächst zeitlich be- 7.3 Die neun Projektziele
grenzt und in Phasen untergliedert. Durch den gro- von AUTOSAR
ßen Erfolg und das weitere zukünftige Potenzial ar-
beitet die AUTOSAR Partnerschaft seit 2013 – nach Inhaltlich leitet sich die Arbeit der Partnerschaft aus
AUTOSAR Phase I, II und III – bis auf Widerruf dem übergeordneten Ziel ab, die Komplexität durch
zeitlich unbegrenzt. Wiederverwendung und Austauschbarkeit von Soft-
warekomponenten, wie beispielsweise Fahrerassis-
108 Kapitel 7 • AUTOSAR

tenzsystemen, zwischen Fahrzeugherstellern und Partnern. Durch die Definition von Datenaus-
1 Zulieferern zu beherrschen. tauschformaten und einer Architektur, die die
Dies führt zur Definition von neun Top-Zielen, Integration von Basis- und Anwendungssoft-
2 die als „Project Objectives“ bezeichnet werden: ware von verschiedenen Partnern erlaubt, soll
1. Übertragbarkeit von Software. AUTOSAR dies unterstützen.
OEM und Zulieferer sollen Software innerhalb 8. Standardisierung von Basissoftwarefunktionali-
3 der Fahrzeugnetzwerke wiederverwenden kön- tät von Steuergeräten (ECU) im Automobilbe-
nen. Dadurch ist es z. B. möglich, die gleiche reich.
4 Software auf unterschiedlichen Fahrzeugplatt- Die Basissoftware soll für unterschiedliche
formen und bei unterschiedlichen Automobil- Funktionsdomänen, Fahrzeughersteller und
5 herstellern zu verwenden. Zulieferer wiederverwendbar sein. So kann die
2. Skalierbarkeit für unterschiedliche Fahrzeuge Basissoftware als Produkt am Markt angeboten
und Plattformvarianten. werden.
6 AUTOSAR soll Mechanismen bereitstellen, da- 9. Unterstützung von relevanten internationalen
mit Softwaresysteme entwickelt werden können, Automobilstandards und etablierten techni-
7 die auf unterschiedliche Fahrzeuge, Fahrzeug- schen Lösungen.
plattformen und Hardware angepasst werden AUTOSAR soll mit existierenden und relevan-
können. Das heißt, AUTOSAR soll konfigurier- ten internationalen Standards kompatibel sein.
8 bar sein, so dass AUTOSAR-Systeme in unter- Dies ermöglicht den Einsatz von AUTOSAR in
schiedliche Fahrzeuge integriert werden können. heutigen und zukünftigen Fahrzeugsystemen.
9 3. Unterstützung einer Vielzahl von Funktions- Ein Beispiel ist die Unterstützung existierender
domänen. und zukünftiger Bussysteme wie FlexRay, CAN,
10 AUTOSAR soll die Verwendung von Soft- Ethernet etc.
warekomponenten in möglichst vielen Funktions-
domänen im Fahrzeug ermöglichen. Dies schließt Diese Projektziele werden in der „AUTOSAR Main
11 den Datenaustausch zu Nicht-AUTOSAR-Syste- Requirements Specification“ in übergeordnete An-
men mit ein, wie z. B. die Kommunikation mit forderungen an das System detailliert. Ein Beispiel
12 dem Infotainmentsystem eines Fahrzeugs. verdeutlicht das:
4. Definition einer offenen Architektur. Das Projektziel „Übertragbarkeit von Software“
Die AUTOSAR-Architektur soll gewartet, an- wird auf die folgenden Hauptanforderungen her-

-
13 gepasst und erweitert werden können. So kön- untergebrochen:
nen Fehler kontinuierlich behoben, zukünftige Die Softwarearchitektur von AUTOSAR soll in

-
14 Anforderungen und individuelle Erweiterungen funktionale Schichten gegliedert werden.
realisiert werden. AUTOSAR soll eine Entkopplungsschicht
15 5. Unterstützung der Entwicklung von zuverlässi- von der Hardware bereitstellen, um möglichst
gen Systemen. große Teile der Software hardwareunabhängig

16
17
Verfügbarkeit, Verlässlichkeit, Betriebssicher-
heit, Integrität, Wartbarkeit und Security sollen
durch AUTOSAR umsetzbar sein. So werden
beispielsweise Anforderungen an die funktio-
- zu gestalten.
AUTOSAR soll die freie Verteilung von An-
wendungssoftware im Bordnetz erlauben.

nale Sicherheit berücksichtigt. Von den übergeordneten Anforderungen werden die


6. Nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen. Haupteigenschaften und Kernfunktionen des Systems
18 Technologien zum effizienten Umgang mit na- abgeleitet, die sogenannten „Features“. Aus diesen fol-
türlichen Ressourcen sowie der Einsatz erneuer- gen wiederum die „Software Requirements Specifica-
19 barer Energien sollen unterstützt werden. tions“ (SRS). Die Detaillierung dieser Anforderungen
7. Zusammenarbeit zwischen zahlreichen Partnern. an die Software findet sich dann in den „Software
20 Die Automobilindustrie ist geprägt von der Specifications“ (SWS). Diese Zusammenhänge sind in
weitreichenden Zusammenarbeit zwischen . Abb. 7.3 dargestellt. Die „Software Specifications“
7.4  •  Die drei Bereiche der Standardisierung
109 7

Project Objectives Main Requirements Features Requirements Specifications

PO 1 Main10 Feature 1 SRS SWS

PO 2 Main11 Feature 2 SRS SWS

Detailing and Specification


PO 3 ... ... SRS SWS

Specification of Software

...
...
Concretization

PO 4 ... ...
SRS SWS
PO 5 ... ...
SRS SWS
PO 6 ... ...

PO 7 ... ... RS TPS

PO 8 ... ... RS TPS

PO 9 Main n Feature x RS TPS

Level 1 Level 2 Level 3 Level 4 Level 5

.. Abb. 7.3  Beziehung zwischen den AUTOSAR-Spezifikationen [2]

bilden schließlich die Grundlage für die Implemen- schiedene Fahrzeugproduktlinien und -varianten,
tierung des AUTOSAR-Standards in Software. die Möglichkeit, Anwendungen auf mehrere ECUs
zu verteilen und Softwarekomponenten aus unter-
schiedlichen Quellen zu integrieren, wie in ▶ Ab-
7.4 Die drei Bereiche schn. 7.6.4 dargelegt.
der Standardisierung Die BSW innerhalb der AUTOSAR-Software-
architektur ist weiter unterteilt in die Schichten
Die Standardisierung von AUTOSAR unterteilt sich „Services“, „ECU Abstraction“ und „Microcontrol-
in die drei Bereiche Softwarearchitektur, Entwurfs- ler Abstraction“, die in ▶ Abschn. 7.6.3 ausführlich
methodik und Anwendungsschnittstellen. beschrieben werden. Die Separation der Anwen-
dungsschicht von der BSW ist durch die RTE re-
alisiert, die Kontrollmechanismen zum Datenaus-
7.4.1 Softwarearchitektur tausch zwischen diesen Schichten enthält. Dies
bildet die Grundlage für eine komponentenorien-
Das Hauptkonzept der standardisierten ECU-Soft- tierte, hardwareunabhängige Softwarestruktur auf
warearchitektur, siehe . Abb. 7.4, besteht aus der Anwendungsebene mit Softwarekomponenten als
Trennung von hardwareunabhängiger Anwendungs- eigenständigen Einheiten.
software und hardwareorientierter Basic Software Beispielsweise wird die Funktion eines Fah-
(BSW). Dies wird erreicht durch die Software-Abs- rerassistenzsystems durch Softwarekomponenten
traktionsschicht Runtime Environment (RTE). umgesetzt, welche die Anwendung bilden. Die
Auf der einen Seite ermöglicht diese Abstrakti- einzelnen Softwarekomponenten kommunizieren
onsschicht die Entwicklung von OEM-spezifischen direkt nur mit der RTE. Damit gestaltet sich die
und wettbewerbsrelevanten Software-Anwendun- Kommunikation transparent, unabhängig davon, ob
gen wie Fahrerassistenzsystemen. Auf der anderen sie innerhalb eines Steuergerätes oder über Steuer-
Seite erlaubt sie die Standardisierung von OEM-un- gerätegrenzen hinweg stattfindet.
abhängiger BSW. Sie ist ferner die Voraussetzung Durch diese Unabhängigkeit wird es ermög-
für die Skalierbarkeit der ECU-Software für ver- licht, Softwarekomponenten ohne spezifisches
110 Kapitel 7 • AUTOSAR

Software
1 Components
Application Layer

2
Middle Ware Runtime Environment
3 Basic Software System Services Memory Communication I/O Hardware Complex
Services Services Abstraction Drivers

4
Services

Onboard Memory Communication


5 ECU
Abstraction
Device
Abstraction
Hardware
Abstraction
Hardware
Abstraction

Microcontroller Memory Communication I/O Drivers


6 Micro-
controller
Drivers Drivers Drivers
Abstraction

7 ECU
Resources Microcontroller

8 .. Abb. 7.4  AUTOSAR-Softwarearchitektur [2]

9 Wissen über die verwendete oder geplante Hard- (AUTOSAR-Schema) mit entsprechenden seman-
ware zu entwickeln bzw. die bestehenden Soft- tischen Randbedingungen definiert. Die Informa-
10 warekomponenten flexibel zwischen den ECUs zu tionen werden dann als formale Beschreibungen
verteilen. in AUTOSAR XML (.arxml)-Dateien gespeichert.
Zahlreiche Tools verwenden diese Beschreibungen
11 für die Konfiguration und Generierung von RTE
7.4.2 Entwurfsmethodik und BSW. Beispielsweise bietet die Softwarekom-
12 ponentenbeschreibung ein standardisiertes Kom-
Neben der Softwarearchitektur standardisiert ponentenmodell für Anwendungssoftware. Ein
AUTOSAR auch die Methodik der Softwareentwick- anderes Beispiel ist die Systembeschreibung. Sie
13 lung im Automobilbereich, vor allem, um die Zu- definiert die Beziehung zwischen der reinen Soft-
sammenarbeit der beteiligten Partner zu erleichtern. waresicht auf das System und der physikalischen
14 Die AUTOSAR-Entwurfsmethodik adressiert Systemarchitektur mit vernetzten ECU-Instanzen.
besonders Aspekte, die notwendig sind, um Soft- Sie beschreibt die Netzwerktopologie, die Kom-
15 warekomponenten in eine ECU und verschiedene munikation für jeden Kanal und die Zuteilung
ECUs in die gesamte Netzwerkskommunikation mit der Softwarekomponenten auf die verschiedenen
unterschiedlichsten Bussystemen zu integrieren. ECUs.
16 Sie definiert die Abhängigkeiten von Aktivitäten Das Prinzip der AUTOSAR-Entwurfsmethodik
für Arbeitsprodukte und unterstützt Aktivitäten, ist in . Abb. 7.5 dargestellt.
17 Beschreibungen und Nutzung von Werkzeugen in Neben der Grundfähigkeit, E/E-Systeme im
AUTOSAR. Die Methodik wird in der Entwicklung Automobilbereich zu beschreiben, gibt es viele
der Anwendungssoftware, siehe ▶ Abschn. 7.6.1, der Aspekte, die durch praktische Austauschformate
18 Laufzeitumgebung, siehe ▶ Abschn. 7.6.2, sowie in unterstützt werden müssen, wie Dokumentation,
der Systemkonfiguration, siehe ▶ Abschn. 7.6.4, an- Anforderungsverfolgung und Lebenszyklen ver-
19 gewandt. schiedener Artefakte.
Für Informationen, die in der AUTOSAR-Ent- Das integrierte Variantenmanagement erlaubt
20 wurfsmethodik entstehen oder verwendet werden, OEMs und Zulieferern darüber hinaus, grundle-
hat AUTOSAR ein formales Datenaustauschformat gende AUTOSAR-Produktlinien zu formulieren
7.4  •  Die drei Bereiche der Standardisierung
111 7

Component SWC
Component API Implementation
API e.g. app.h
Generator
ECU Configuration
Description

SW- System AUTOSAR


Component Configuration RTE Extract of RTE
Description Description ECU Configuration Generator

ECU OS, COM, …


AUTOSAR AUTOSAR OS Extract of
Resource ECU extract Generator
System ECU ECU Configuration
Description of System
Configuration Configuration
(HW only) Configuration e.g. OIL
Generator Generator

Basic SW
Basic SW Other Basic
ModuleBasic
A extract
SW
System – Module A extract SW Generator
ECU extract of ECUA Extract
Module
Constraint of ECU
of System configuration
of ECU
Description Decisions Decisions configuration
Configuration (e.g. scheduling) Configuration
(e.g. mapping)
List of MCAL –
Implementations Generator
Information / Database of SW
Components
Generation step: System per ECU
complex algorithm or engineering work

.. Abb. 7.5  Prinzip der AUTOSAR Entwurfsmethodik [2]

Software Application Actuator Sensor Application


Components Software Software Software Software
Component Component Component Application Layer Component
AUTOSAR AUTOSAR AUTOSAR AUTOSAR
Interface Interface Interface Interface

Middle Ware
Runtime Environment

.. Abb. 7.6 AUTOSAR-Anwendungsschnittstellen – die dargestellten Schnittstellensymbole sind in . Abb. 7.9 beschrieben. [2]

und diese Informationen, wann immer notwen- dungsschnittstellen in den Fahrzeugbereichen Ka-
dig, mit ihren Partnern auszutauschen. Denn das rosserie, Innenraum und Komfort, Antriebsstrang,
gemeinsame Verständnis und die abgestimmte In- Fahrwerk, sowie Insassen- und Fußgängerschutz.
terpretation über diese Varianten sind ein Schlüs- Dabei liegt der Fokus auf den Schnittstellenspezifi-
selelement für die erfolgreiche Zusammenarbeit in kationen für allgemein eingeführte Applikationen,
gemeinsamen Projekten. um die Wiederverwendung und den Austausch von
Softwarekomponenten zu ermöglichen. Schließlich
ist der Einsatz von standardisierten Anwendungs-
7.4.3 Anwendungsschnittstellen schnittstellen für die Wiederverwendung von An-
wendungen von entscheidender Bedeutung.
Die Anbindung der Anwendungskomponenten Die Schnittstellenspezifikationen werden von
an die RTE wird durch Anwendungsschnittstel- Experten aller AUTOSAR-Partner standardisiert.
len sichergestellt, wie in . Abb. 7.6 dargestellt. Dies umfasst beispielsweise verwendete Datenty-
AUTOSAR standardisiert zum einen den grundsätz- pen, Einheiten und Skalierungsfaktoren. Sie ermög-
lichen Schnittstellenmechanismus mit der Syntax lichen Software-Architekten und -Entwicklern, sie
und zum anderen auch die Semantik der Anwen- im Falle von Erweiterungen oder Wiederverwen-
112 Kapitel 7 • AUTOSAR

SWC Description .. Abb. 7.7 Überblick


1 Virtual Integration Application über die AUTOSAR-Ent-
Layer wurfsmethodik [2]
SWC 1 SWC 2 SWC 3 ... SWC n
2
Virtual
Functional Bus
3 Introduction of HW
Attributes
Tools supporting development
4 of software components
System
ECU
Descriptions Constraint
ECU
Description
5 Description

ECU Configuration ECU I ECU II ECU n

6 SWC 1 SWC 2 SWC 3


...
SWC n

RTE RTE RTE

7 BSW BSW BSW

System Gateway

8 Description FlexRay CAN

9 dungen von Softwarekomponenten unabhängig von ten sowohl die Mechanismen für die Kommunika-
einer spezifischen Hardware bzw. ECU zu nutzen. tion untereinander als auch die Mechanismen für
10 Anwendungen wie Fahrerassistenzsysteme die Nutzung der Dienste der Basissoftware zur Ver-
enthalten wettbewerbsdifferenzierende Merkmale. fügung, siehe . Abb. 7.7, oberer Teil. Die verschie-
Daher standardisiert AUTOSAR nicht das interne denen Mechanismen werden durch sogenannte
11 funktionale Verhalten einer Anwendung, wie z. B. Ports dargestellt (vgl. ▶ Abschn. 7.6.1).
Algorithmen, sondern die Informationen, die zwi- Die funktionale Systemarchitektur wird im
12 schen den Anwendungen ausgetauscht werden. Ty- weiteren Verlauf der Entwicklung auf eine physika-
pische Beispiele für Anwendungen sind Fahrerassis- lische Architektur, d. h. auf eine Steuergeräte- und
tenzsysteme, wie sie in ▶ Teil I beschrieben werden. Netzwerktopologie, abgebildet. Hierbei werden die
13 Softwarekomponenten den Steuergeräten zugewie-
sen; auf jedem Steuergerät wird die Funktion des
14 7.5 Systemarchitektur – VFB durch die RTE und die darunterliegende Ba-
der virtuelle Funktionsbus sissoftware realisiert, siehe . Abb. 7.7, unterer Teil.
(VFB)
15 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei
explizit darauf hingewiesen: AUTOSAR hat das
Zur Entwicklung der funktionalen Systemarchitek- VFB-Konzept spezifiziert. Für Entwickler anwend-
16 tur hat AUTOSAR das Konzept des virtuellen Funk- bar umgesetzt ist dieses Konzept in diversen auf
tionsbusses, des VFB, eingeführt. Der VFB erlaubt dem Markt verfügbaren Werkzeugen zur System-
17 es, die funktionale Interaktion von Anwendungs- architekturentwicklung.
komponenten systemweit – also bis hin zu einem
Gesamtfahrzeug – zu beschreiben. Diese Beschrei-
18 bung ist unabhängig von der tatsächlichen Steuer- 7.6 Softwarearchitektur
gerätearchitektur sowie dem realisierten Netzwerk.
19 Damit abstrahiert der VFB die Anwendungen von 7.6.1 Anwendungssoftware
der Hardware. Einzelne Anwendungen werden bei
20 AUTOSAR als Softwarekomponenten (SWC) be- Das Schichtenmodell der AUTOSAR-Softwarear-
schrieben. Der VFB stellt den Softwarekomponen- chitektur platziert Anwendungssoftware in Form
7.6 • Softwarearchitektur
113 7
.. Abb. 7.8 Kommuni-
kationspfade innerhalb ECU I ECU II
eines Steuergerätes und
SWC SWC SWC
zwischen mehreren Steu- Application
A B C
ergeräten [2]

Ports

RTE VFB RTE


AUTOSAR
Infrastructure
BSW BSW

Hardware

Communication Bus
Sensor
Communication Path

von Softwarekomponenten in der Anwendungs- das „Software Component Template“, beschrieben,


schicht, siehe . Abb. 7.6. Softwarekomponenten siehe . Abb. 7.9. Darin wird neben den Ports und
können zu Kompositionen gruppiert werden, die den Interfaces auch das sogenannte „Internal Beha-
sich wiederum nach außen wie eine Softwarekom- vior“ beschrieben. Dieser Begriff ist bei AUTOSAR
ponente verhalten. Durch dieses generische Kom- historisch gewachsen, führt aber leider immer wie-
ponentenkonzept lassen sich beliebig verschachtelte der zu Missverständnissen. „Internal Behavior“
Hierarchien von Softwarekomponenten als System beschreibt die Komponente hinsichtlich zeitlicher
realisieren. Die Anwendungssoftware kann somit oder ereignisbezogener Ablaufsteuerung (Events
sowohl hardwareunabhängig als auch hierarchisch und Scheduling). Dazu gehört auch die Definition
ausgelegt und entwickelt werden. der „Runnable Entities“, d. h. der kleinsten über das
Softwarekomponenten kommunizieren über unterlagerte Betriebssystem auf Ereignisse oder
Ports, die jeweils einen bestimmten Kommunikati- Zeiten hin einplanbaren Softwareeinheiten. Zum
onsmechanismus abbilden. Die wichtigsten Mecha- „Internal Behavior“ gehören ausdrücklich nicht die
nismen in der Kommunikation zwischen Anwen- in der Komponente zu implementierenden Algo-
dungen sind „Sender-Receiver“ für vom Sender der rithmen.
Daten initiierte Kommunikation sowie „Client-Ser- In der Praxis gibt es mehrere typische Wege, die
ver“ für vom Empfänger initiierte Kommunikation. Softwarekomponentenbeschreibung auszufüllen
Darüber hinaus gibt es weitere Ports zur Ablaufsteu- oder zu editieren: Viele Entwurfswerkzeuge für die
erung (External trigger events) oder zum Zugriff auf modellbasierte Entwicklung können direkt die zu
bestimmte Parameter (Kalibrierung, Betriebsmodi, einem grafischen Modell gehörige Softwarekom-
Non-Volatile-Memory). Jeder Port besitzt ein Inter- ponentenbeschreibung generieren bzw. erlauben
face, in dem die zu kommunizierenden Datentypen die Bearbeitung der entsprechenden Einträge da-
festgelegt sind. AUTOSAR hat eine präzise Abbildung rin. Auch der RTE-Generator (vgl. ▶ Abschn. 7.6.2)
der Ports auf die Programmiersprache C definiert. erlaubt in der Regel eine Bearbeitung der Soft-
. Abbildung 7.8 zeigt den Kommunikationspfad in- warekomponentenbeschreibung.
nerhalb eines Steuergerätes und zwischen Anwen- Für Anwendungen mit spezifischen Hardware-
dungen in unterschiedlichen Steuergeräten auf. anforderungen wie beispielsweise Software, die auf
Eine Softwarekomponente wird formal durch bestimmte Sensoren oder Aktoren angewiesen ist,
eine spezielle AUTOSAR-Beschreibung, durch hat AUTOSAR sogenannte Sensor-/Aktor-Soft-
114 Kapitel 7 • AUTOSAR

.. Abb. 7.9 AUTOSAR-­
1
SWC PPort, provides a Sender-Receiver Interface
Description Softwarekomponenten­
RPort, requires a Sender-Receiver Interface beschreibung [2]
Ports

2 Interfaces
Internal Behavior PPort, provides a Client-Server Interface, i.e. implements service
Runnable Entities
Events RPort, requires a Client-Server Interface, i.e. client of a service

3 PPort, provides a Calibration Interface


AUTOSAR
SWC
4
RPort, requires a Calibration Interface

PPort, provides data to AUTOSAR Service

5 RPort, requires data from AUTOSAR Service

PPort, provides AUTOSAR Service (in BSW only)

6 RPort, requires AUTOSAR Service as client

7
ware-Komponenten vorgesehen, bei denen derar- 7.6.3 Basissoftware (BSW)
tige Randbedingungen in der Softwarekomponen-
8 tenbeschreibung vermerkt werden können. Die Basissoftware stellt den Anwendungen über
die RTE alle Systemdienste und -funktionen zur
9 Verfügung. Die Funktionen der Basissoftware sind
7.6.2 Laufzeitumgebung (RTE) für die Anwendungen zwar essenziell, werden aber
10 typischerweise von einem Fahrzeugnutzer nicht
Die AUTOSAR-Laufzeitumgebung (Runtime En- wahrgenommen. Die Basissoftware gliedert sich
vironment, RTE) abstrahiert die Anwendungen weiter in Schichten mit zunehmender Abhängigkeit
11 von jeglichen Implementierungsdetails der Basis- von der Hardware: Service- bzw. Diensteschicht,
software und von der Hardware eines Steuergerätes. ECU-Abstraktionsschicht, Mikrocontroller-Ab-
12 Es stellt die Laufzeitimplementierung des VFB (vgl. straktionsschicht. Jede dieser Schichten enthält
▶ Abschn. 7.5) auf einer spezifischen ECU dar. Die wiederum einzelne Module, die jeweils einen von
RTE bietet allen Anwendungen eines Steuergerätes AUTOSAR genau spezifizierten Funktionsumfang
13 die Mechanismen für die Kommunikation unterei- abbilden. Insgesamt enthält die AUTOSAR-Basis-
nander sowie die Mechanismen für den Zugriff auf software rund 80 verschiedene Module, für die der
14 Dienste der Basissoftware. Dazu gehört auch die Be- Standard jeweils eine Anforderungs- und eine Soft-
reitstellung von Datenpuffern und Warteschlangen warespezifikation enthält. Darin sind das funktio-
15 für die Kommunikation. nale Verhalten des Moduls und seine Schnittstellen
Der tatsächliche Programmcode der RTE ist in C definiert. Somit sind zwei verschiedene, aber
von den Anwendungen, deren Kommunikation, standardkonforme Implementierungen eines Mo-
16 den verwendeten Basissoftwarediensten und dem duls direkt austauschbar. Die Parametrierung des
Scheduling abhängig. Der Code wird in der Praxis funktionalen Verhaltens eines Basissoftwaremoduls
17 vom RTE-Generator entsprechend den Informatio- bzw. seine Konfiguration verwendet den gleichen
nen aus den Softwarekomponentenbeschreibungen formalen Beschreibungsmechanismus wie Anwen-
erzeugt. dungskomponenten. Die Konfigurationsbeschrei-
18 Genau genommen ist die RTE eine „Middle- bungen der Basissoftwaremodule eines Steuergerä-
ware“-Schichttechnologie, die die Verschiebbarkeit tes werden in der ECU-Konfigurationsbeschreibung
19 von Komponenten der Anwendungsschicht über zusammengefasst.
ein dezentralisiertes Netzwerk ermöglicht.
20
7.6 • Softwarearchitektur
115 7
7.6.3.1 Services ger Signale in digitale Werte. Damit wird standar-
Die Schicht der Services umfasst Systemdienste disierte Hardware direkt vom AUTOSAR-Standard
wie Kommunikationsdienste, Diagnoseprotokolle, unterstützt.
Speicherdienste, Management der ECU-Betriebs- Die Schicht der komplexen Treiber dient zur
modi, aber auch das AUTOSAR-Betriebssystem Behandlung von Spezialfällen, z. B. zur Ansteue-
(OS) als ein eigenständiges Modul. Das AUTOSAR rung von komplexen Sensoren oder Aktoren mit
OS basiert auf dem Echtzeitbetriebssystemstandard besonderen Echtzeitanforderungen oder mit spe-
OSEK/VDX und wurde in einigen Bereichen erwei- zifischen elektromechanischen Hardwareanforde-
tert, in anderen auch eingeschränkt. Es wird statisch rungen. Solche Module werden von AUTOSAR
konfiguriert und skaliert und bietet prioritätsbasier- nicht als Basissoftwaremodule standardisiert, da
tes Echtzeitverhalten sowie die Behandlung von In- hierzu spezifisches Fachwissen und geistiges Ei-
terrupts. Zur Laufzeit sind diverse Schutzmechanis- gentum der Automobilhersteller oder der Zulie-
men für Speicherzugriffe bzw. für das Zeitverhalten ferer erforderlich wäre. Allerdings müssen die
verfügbar. Das AUTOSAR OS eignet sich auch für komplexen Treiber ebenso wie die standardisier-
kleine, leistungsschwächere Mikrocontroller, unter- ten Module den Anforderungen für Schnittstel-
stützt aber inzwischen auch den Multicore-Einsatz lenmechanismen in der AUTOSAR-Basissoftware
und die Verwendung mehrerer Speicherpartitionen genügen.
sowohl für Code als auch für Daten.
Die Module der Services sind – abgesehen vom
Betriebssystem – hardwareunabhängig. Diese Sys- 7.6.4 Systemkonfiguration
temdienste stehen den Anwendungen über die
RTE zur Verfügung. Auf darunterliegende Basis- Im AUTOSAR-Kontext bezieht sich „System“ auf
softwaremodule können Anwendungen nicht di- einen Verbund vernetzter Steuergeräte, der auch
rekt zugreifen. Dies ist den Services vorbehalten, sämtliche Steuergeräte eines Fahrzeugs umfassen
um im Rahmen ihrer Funktion auf ECU- oder kann. Die Systemkonfiguration schließt sich an die
Mikrocontroller-Ressourcen zuzugreifen. Ein Ser- Entwicklung der funktionalen Systemarchitektur
vicemodul und seine darunterliegenden Module auf der VFB-Ebene an, siehe . Abb. 7.10. Mit der
werden auch als funktionale Stacks bezeichnet, bei- Systemkonfiguration werden Designentscheidun-
spielsweise der Kommunikationsstack für FlexRay. gen zur tatsächlichen, physikalischen Architektur
Solche Stacks werden oft als Einheit implementiert des Systems getroffen. Diese Entscheidungen be-
und integriert. Dies unterläuft zwar das Abstrakti- treffen vor allem die Systemtopologie, d. h. welche
onsprinzip und reduziert die Flexibilität, ermög- Steuergeräte vorhanden und wie diese vernetzt
licht aber eine höhere Effizienz und Leistung einer sind. Zu den einzelnen Steuergeräten kommt eine
Implementierung. Beschreibung der verfügbaren Ressourcen bezüg-
lich Prozessorarchitektur, Prozessorkapazitäten,
7.6.3.2 Hardwareabstraktion Speicher, Schnittstellen, Peripherien oder Signa-
Die Schichten unterhalb der Services dienen lisierungsmethoden hinzu. Die Beschreibung der
der Hardwareabstraktion. Zunächst trennt die Netzwerktopologie reicht von den Bussystemen
ECU-Abstraktionsschicht das ECU-Layout (d. h. bis zur Kommunikationsmatrix einzelner Ka-
wie die Peripheriemodule mit dem Mikrocont- näle. Hinzu kommt auch die Festlegung, welche
roller verbunden sind) von den oberen Schich- Anwendungssoftwarekomponenten auf welchem
ten. Obwohl diese Schicht ECU-spezifisch ist, ist Steuergerät laufen sollen. All diese Informationen
sie unabhängig vom Mikrocontroller. Die nächste werden in der Systembeschreibung eingetragen: In
Abstraktionsstufe wird durch die Mikrocontrol- der Praxis erfolgt dies entweder mittels Systemar-
ler-Abstraktionsschicht erreicht, die mikrocontrol- chitekturdesigntools wie auch für das VFB-Design
lerspezifische Treiber umfasst. Diese Treiber sind – dann spricht man auch vom Systemgenerator –
beispielsweise I/O-Treiber für digitale Ein- und oder aber mittels der Konfigurationstools für die
Ausgänge oder ADC-Treiber zur Wandlung analo- Basissoftwaremodule.
116 Kapitel 7 • AUTOSAR

• Component modeling
Functional
1 architecture
• Data model development
• VFB Timing
VFB level Develop

2
VFB System Description

Physical • System topology • Internal behavior


3 architecture • Network, buses
• Mapping of
• Implementation
• Component timing
System & Design components to ECUs Develop
ECU level System Application Software Component
4
• BSW Implementation
5 • BSW Configuration
Deliver Generate
Basic Software ECU Extract
6
7 Build
Hardware Hardware
dependent independent
ECU Software

8 .. Abb. 7.10  Von der funktionalen Architektur zur ausführbaren Software [2]

9 Nach der Systemkonfiguration erfolgt die 7.7 Auswirkungen


weitere Konfiguration der einzelnen Steuergeräte und Besonderheiten
bei der FAS-Entwicklung
10 und schließlich auch die Softwareintegration un-
abhängig voneinander, d. h. nach Bedarf parallel.
Hierzu werden aus der Systemkonfiguration alle Der AUTOSAR-Standard wurde für die Entwick-
11 für ein bestimmtes Steuergerät relevanten Informa- lung der Software des gesamten elektrischen/elek-
tionen in die ECU-Beschreibung kopiert, was als tronischen Systems im Fahrzeug entworfen. Die
12 ECU-Extrakt der Systembeschreibung bezeichnet einzige Ausnahme bilden Infotainmentsysteme, da
wird. In der ECU-Beschreibung werden auch die deren Softwaregestaltung sehr nahe an der „Consu-
Konfigurationsbeschreibungen der einzelnen Ba- mer Electronic“ liegt, wodurch viele von deren
13 sissoftwaremodule aggregiert. Viele Parameter der grundsätzlichen Mechanismen wie beispielsweise
Basissoftwarekonfiguration ergeben sich direkt aus dynamische Speicherverwaltung verwendet werden.
14 der Systembeschreibung oder den Softwarekompo- Fahrerassistenzsysteme liegen damit im
nentenbeschreibungen. Die verbleibenden freien Anwendungsbereich des AUTOSAR-Standards.
15 Parameter werden mithilfe des Basissoftwarekonfi- Auf einige der speziellen Mechanismen, die der
gurationstools eingestellt. Bei den meisten Basissoft- AUTOSAR-Standard für die Fahrerassistenzsysteme
waremodulen wird nach der Konfiguration – wie bereithält, wird im Nachfolgenden eingegangen.
16 bei der RTE – der zur Konfiguration gehörige Code
von einem Generator erzeugt.
17 Die Implementierung der Anwendungssoft- 7.7.1 Entwicklung verteilter
warekomponenten – also die Erstellung der Algo- Echtzeitsysteme
rithmen und deren Codierung – kann völlig pa-
18 rallel zur Systemkonfiguration erfolgen, da dieser Fahrerassistenzsysteme sind häufig durch komplexe
Schritt hardwareunabhängig ist. Letztlich wird für Algorithmen, hohe Sicherheitsanforderungen und
19 jedes Steuergerät der gesamte Code der Basissoft- vielfältige Sensorik charakterisiert. Sie eignen sich
ware mit dem RTE-Code und dem Code aller An- besonders für eine Realisierung als verteiltes Echt-
20 wendungssoftwarekomponenten zur ECU-Software zeitsystem, weil z. B. Sensordaten auf einem Steu-
integriert. ergerät vorverarbeitet werden und der eigentliche
7.7  •  Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung
117 7

Regelalgorithmus auf einem anderen Steuergerät von einer Systembeschreibung und einer daraus
abgearbeitet wird oder weil Überwachungs- oder abgeleiteten Gefahrenanalyse und Risikobewer-
Diagnosefunktionen auf einem separaten Steuerge- tung – prozessorale und technische Anforderun-
rät implementiert sind. AUTOSAR vereinfacht die gen an die Entwicklung und die technischen Maß-
Entwicklung verteilter Echtzeitsysteme hinsichtlich nahmen eines elektrischen/elektronischen Systems

-
verschiedener Aspekte:
Die Implementierung von Anwendungssoft-
ware – die Codierung – ist entkoppelt vom
Entwurf der funktionalen und physikalischen
im Fahrzeug stellt (siehe ▶ Kap. 6). Diese werden in
einem funktionalen und daraus abgeleiteten, tech-
nischen Sicherheitskonzept im Rahmen der Ent-
wicklung des Systems spezifiziert. Aus dem techni-

- Architektur bzw. von der Systemkonfiguration.


Die AUTOSAR-Entwurfsmethodik erlaubt
eine flexible Verteilung von Anwendungs-
software auf mehrere Steuergeräte. Obwohl
schen Sicherheitskonzept leiten sich weiterhin auch
Anforderungen an die Software des Systems ab.
Band 6 der ISO 26262 enthält die entsprechenden
Anforderungen an die Entwicklung sicherheits-
die Systemkonfiguration und damit auch die relevanter Software. Da der AUTOSAR-Standard
Verteilung der Softwarekomponenten auf Steu- eine Entwicklungsmethodik und eine Softwarein-
ergeräte statisch ist, kann die Verteilung zwar frastruktur definiert, können durch ihn immer nur
nicht zur Laufzeit, aber vergleichsweise einfach Teilaspekte eines technischen Sicherheitskonzep-
während des Entwurfsprozesses geändert tes umgesetzt werden. Deswegen kann AUTOSAR

- werden.
Für Softwarekomponenten können Anfor-
derungen an Lauf- und Ausführungszeiten
berücksichtigt werden. So können Vorausset-
gemäß der Nomenklatur der ISO 26262 auch als
„Safety Element out of Context“ (SEooC) bezeich-
net werden (siehe [3], Part  10, Chapter  9). Dies
bedeutet, dass die konkreten Sicherheitsanforde-
zungen für einzelne Steuergeräte oder für das rungen in einem Entwicklungsprojekt mit den im
Gesamtsystem definiert werden, aber auch AUTOSAR-Standard getroffenen Annahmen zum
für andere verfügbaren Ressourcen. Diese technischen Sicher­heitskonzept zur Deckung ge-
Informationen sind während des gesamten bracht werden müssen.
Entwicklungsprozesses verfügbar und werden Bei der Entwicklung von AUTOSAR wurden
durch geeignete Softwareentwicklungswerk- typische technische Sicherheitskonzepte sowie die
zeuge berücksichtigt. Beispielsweise kann für technischen Anforderungen aus der ISO  26262
einen Spurhalteassistenten nun eine maximale analysiert und daraus abgeleitet eine Reihe von
Laufzeitverzögerung von 200 ms vorgegeben Mechanismen für die funktionale Sicherheit in den
und auf einzelne Ressourcen heruntergebro- AUTOSAR-Standard integriert. Besonders hervor-

- chen werden.
Die standardisierten Austauschformate für
Beschreibungen vereinfachen die Entwicklung --
zuheben sind hierbei:
Speicherpartitionierung,
Absicherung der Kommunikation von End- zu
eines verteilten Systems durch mehrere Ent-
wicklungspartner.
-- Endpunkt,
Überwachung der Ablaufprogramme,
defensives Verhalten.

7.7.2 AUTOSAR-Mechanismen In der Entwicklung sicherheitsrelevanter Fahreras-


für funktionale Sicherheit sistenzsysteme sollte beim Entwurf des technischen
(ISO 26262) Sicherheitskonzeptes darauf geachtet werden, die
von AUTOSAR bereitgestellten Sicherheitsmecha-
Die grundlegende Herangehensweise bezüglich der nismen einzusetzen, um einen zusätzlichen Ent-
funktionalen Sicherheit für Kraftfahrzeuge wird wicklungs- und Absicherungsaufwand zu vermei-
in der im November 2011 veröffentlichten Norm den.
ISO 26262 [3] beschrieben. Bei der ISO 26262 han-
delt es sich um eine Systemnorm, die – ausgehend
118 Kapitel 7 • AUTOSAR

1 Partition 0 Partition 1 Partition 4

Application Actuator Sensor Application


2 Software Software Software AUTOSAR Software
Component Component Component Software Component

3 AUTOSAR
Interface
AUTOSAR
Interface
AUTOSAR
Interface ..............
AUTOSAR
Interface

4 Runtime Environment

5 Standardized Standardized Standardized AUTOSAR AUTOSAR


Interface AUTOSAR Interface Interface Interface
6 Interface
ECU
Services Communication
Abstraction
7 Standardized Standardized Standardized
Standardized

Interface Interface Interface


Interface

Complex
Operating
8 System
Device
Drivers
Standardized
Interface
9 Basic Software
Microcontroller
Partition 5 Abstraction
10 ECU-Hardware

11 .. Abb. 7.11  AUTOSAR-Speicherpartitionierung [2]

12 7.7.2.1 Speicherpartitionierung hat, wird durch das Betriebssystem und die RTE
Die Speicherpartitionierung ermöglicht die kontrolliert beendet. Falls entsprechend konfigu-
Schaffung von Schutzgrenzen um eine Gruppe riert, werden alle Softwarekomponenten in dieser
13 von Softwarekomponenten. Gruppen von Soft- Partition neu gestartet. Dieselben Mechanismen tre-
warekomponenten werden hierbei in logische An- ten auch in Kraft, falls eine Softwarekomponente in
14 wendungspartitionen organisiert, wie in . Abb. 7.11 einer Anwendungspartition versucht, auf CPU-Re-
dargestellt. Sie haben begrenzten Schreibzugriff auf gister zuzugreifen, die nur im Überwachungsmodus
15 Speicher – einschließlich des Hauptspeichers und verändert werden dürfen.
nichtflüchtigen Speichers – und speicherbezogene
Hardware. Darüber hinaus laufen Anwendungen in 7.7.2.2 Absicherung
16 der Anwendungspartition im Anwendungsmodus der Kommunikation
der CPU, was bedeutet, dass sie begrenzten Zugriff von End- zu Endpunkt
17 auf spezielle Funktionsregister der CPU und auf Be- Das Konzept der Absicherung der Kommunika-
fehle im Überwachungsmodus haben. tion von End- zu Endpunkt geht davon aus, dass
Wenn eine Softwarekomponente, die in einer sicherheitsrelevanter Datenaustausch während
18 Anwendungspartition läuft, versucht, unberechtigt der Laufzeit gegen Auswirkungen von Fehlern
auf Speicher zu schreiben, entdeckt dies die Hard- im Kommunikationspfad zwischen zwei Soft-
19 ware-Speicherschutzeinheit (Memory Protection warekomponenten, die über einen physischen Bus
Unit, MPU) und verhindert den Zugriff. Dies führt kommunizieren, abgesichert werden soll. Dies sind
20 zu einer Unterbrechung der Ausführung und die beispielsweise zufällige Hardwarefehler wie beschä-
Anwendungspartition, die diesen Fehler verursacht digte Register im sendenden oder empfangenden
7.7  •  Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung
119 7

SWC 1 SWC 2
Sender Receiver
Application Application
1: Produce 9: Consume
Logic safe data elements Logic safe data elements

2: Invoke safe transmission 6: Invoke safe read


request to get the data element
E2E E2E
E2EPW_Write_<p>_<o>() E2EPW_Read_<p>_<o>()
protection protection
wrapper wrapper

3: Call E2E protect 4: Invoke RTE 7: Invoke RTE read 8: Call E2E check
on array RTE_Write_<p>_<o>() RTE_Read_<p>_<o>() on array
E2E_P0x_Protect() to transmit the data element to get the data element E2E_P0xCheck()

Runtime Environment Runtime Environment

E2E E2E
5: RTE communication (intra or inter ECU),
Lib Lib
either through COM, IOC, or local in RTE
Libraries Libraries

.. Abb. 7.12  Funktionsweise der End- zu-Endpunkt-Absicherung [2]

Netzwerkcontroller, Interferenzen durch elektroma- fen der Anwendungssoftware ab. Ein fehlerhafter
gnetische Wellen und systematische Fehler in der Programmablauf findet statt, wenn ein oder meh-
Softwareimplementierung der Kommunikation rere Programmbefehle entweder in der falschen
des virtuellen Funktionsbusses, z. B. in der RTE, im Reihenfolge, nicht zeitgerecht oder überhaupt nicht
Kommunikationssystem oder im Netzwerkstack. ausgeführt werden. Fehler in den Kontrollabläufen
Die Absicherung der Kommunikation von End- können aus systematischen Softwarefehlern oder
zu Endpunkt kann diese Fehler im Kommunikati- aus zufälligen bzw. systematischen Hardwarefeh-
onspfad entdecken und sie während der Laufzeit lern entstehen. Sie können zu Datenverfälschung,
handhaben: Die End- zu-Endpunkt-Bibliothek Programmabbrüchen und in letzter Konsequenz
von AUTOSAR stellt hierbei die Mechanismen zu Verletzungen von Sicherheitszielen führen.
zur Verfügung, welche die Anforderungen an eine Die Überwachung des Programmablaufs bein-
sicherheitsrelevante Kommunikation bis zur Auto- haltet grundsätzlich zwei Arten des Überwachens:
motive-Sicherheitsintegritätsstufe D (ASIL) erfüllen erstens die Überwachung des zeitlichen Verhaltens
können. Dazu werden Mechanismen wie Prüfsum- und zweitens die Überwachung der logischen Aus-
men (CRC), Nachrichten-IDs und Alive-Counter führungsreihenfolge von Programmblöcken.
verwendet. Die Kernfunktion zur Überwachung des Pro-
Diese Algorithmen der Absicherungsmecha- grammablaufs wird durch das AUTOSAR-Basis-
nismen sind in der Spezifikation der sogenannten softwaremodul Watchdog-Manager zur Verfügung
End- zu-Endpunkt-Bibliothek von AUTOSAR de- gestellt. Abhängig von der Sicherheitsrelevanz der
finiert und werden von den Softwarekomponenten Softwareeinheiten und den Sicherheitsanforderun-
bei Bedarf aufgerufen. . Abbildung 7.12 stellt die gen des Gesamtsystems kann eine überwachte Ein-
Funktionsweise in der Kommunikation zwischen heit eine Gruppe von Softwarekomponenten oder
zwei Anwendungssoftwarekomponenten vor. nur eine ausführbare Softwareeinheit innerhalb ei-
ner Komponente sein. Die überwachten Software-
7.7.2.3 Überwachung einheiten rufen an zuvor festgelegten Stellen den
des Programmablaufs Watchdog-Manager mit einem Kontrollcode auf.
Die Überwachung des Programmablaufs zielt auf Daraus kann dieser ermitteln, ob die überwachten
die Entdeckung von Fehlern in den Kontrollabläu- Softwareeinheiten in der richtigen Reihenfolge und
120 Kapitel 7 • AUTOSAR

in den zulässigen Zeitfenstern ausgeführt wurden. Beispiele von Mechanismen und Funktionen, die
1 Kommt es dabei zu einer Verletzung der Vorgaben, zum frühestmöglichen Zeitpunkt validiert werden
werden zuvor festgelegte Sicherheitsmechanismen müssen. Je später Fehler gefunden werden, desto auf-
2 ausgeführt, was bis zu einem sofortigen Reset des wendiger wird ihre Behebung, und desto größer das
Steuergerätes gehen kann. Risiko für das Entwicklungsprojekt. Es geht im Kern
um die Fragestellung: Wie können Funktionen, bei-
3 7.7.2.4 Defensives Verhalten spielsweise die eines Spurhalteassistenten, in der ver-
Defensives Verhalten von Software zielt darauf ab, wendeten Umgebung frühzeitig abgesichert werden?
4 Fehlerübertragung bzw. Fehlerausbreitung in der Eine wirksame Möglichkeit bietet die virtu-
Software zu verhindern. Es handelt sich dabei um eine elle Absicherung. In einer PC-Umgebung wird die
5 nicht-funktionale Eigenschaft der Software und wird AUTOSAR-Basissoftware integriert. Hierbei können
im Allgemeinen durch entsprechende Programmier- die Implementierungen verschiedener Hersteller in-
richtlinien und Code-Muster erreicht. Damit ist de- klusive kundenspezifischer Anpassungen integriert
6 fensives Verhalten der Basissoftware von AUTOSAR werden. Mithilfe von speziellen Anpassungen in der
eine Eigenschaft, die nicht der Standard selbst fest- Hardwareabstraktion ist das Verhalten der Basis-
7 legt, sondern die vom Implementierer des Standards und Anwendungssoftware vergleichbar mit dem im
sichergestellt wird. Eine typische Maßnahme ist Steuergerät und dessen integrierten Mikroprozessor.
beispielsweise die Absicherung gegen Verfälschung Die gesamte virtuelle Absicherungsplattform
8 von sicherheitsrelevanten Daten eines Moduls der kann entweder rein durch Software oder mit ver-
Basissoftware. Hierbei werden die entsprechenden bundenen Hardwarekomponenten realisiert wer-
9 Daten direkt vor dem Verlassen des entsprechenden den. Im letzteren Fall werden am PC Schnittstel-
Softwaremoduls mit einem Sicherheitscode versehen. lenkonverter angeschlossen, die die Verbindung mit
10 Beim erneuten Aufruf dieses Softwaremoduls wird den Fahrzeugschnittstellen sicherstellen. Des Weite-
der Sicherheitscode zu den Daten erneut ermittelt. ren enthält die Basissoftware die für die Hardware
Ist er nicht identisch zu dem zuvor abgespeicherten, kompatible „Microcontroller Abstraction“-Schicht
11 wurden die Daten in der Zwischenzeit unberechtigt mit den entsprechenden Hardwaretreibern.
verändert und das Softwaremodul kann eine entspre- Während der Entwicklung von Softwarekom-
12 chende Fehlerbehandlung auslösen. ponenten können auf der einen Seite deren Funk-
tionen noch vor der Integration in das Steuergerät
getestet und abgesichert werden. Auf der anderen
13 7.7.3 Virtualisierung Seite können die direkt auf dem PC-Betriebssystem
in der Funktionsabsicherung verfügbaren Entwicklungswerkzeuge, wie z. B. De-
14 bugger, benutzt werden, wodurch die Arbeitsabläufe
Der Aufwand für Tests zur Absicherung der Funk- effizienter gestaltet werden. Die standardisierte Ba-
15 tionsweise aller Komponenten steigt rapide an: Ver- sissoftware ermöglicht die Verwendung der Werk-
teilte Entwicklung der Softwarekomponenten durch zeuge für die AUTOSAR-Entwurfsmethodik, wie
Zulieferer und durch den Automobilhersteller, das unter ▶ Abschn. 7.4.2 beschrieben.
16 Parallelisieren der Entwicklung von Basissoftware Dieses System sichert die Funktionen von Soft-
und Softwarekomponenten sowie die anschlie- warekomponenten in einer frühen Entwicklungs-
17 ßende Integration auf mehrere Steuergeräte durch phase ab und kann dabei bestehende Software bzw.
den Automobilhersteller oder durch einen anderen Steuergeräte aus Serienfahrzeugen und neue Tech-
Zulieferer erfordert neue Wege in der Absicherung. nologien von beispielsweise Sensoren mit einbezie-
18 Die Funktion der Softwarekomponente an sich, ihr hen. Die vorgesehene Steuergerätehardware muss
Zusammenspiel mit der RTE und der Basissoftware, dabei noch gar nicht verfügbar sein.
19 die Wirksamkeit von Sicherheitsmechanismen, wie Sicherlich ist dies auch mit fahrzeughersteller-
in ▶ Abschn. 7.7.2 beschrieben, oder die Einhaltung spezifischer Software möglich. Doch nur AUTOSAR
20 von Anforderungen an die Laufzeit von Fahreras- ermöglicht die durchgängige Portierung und somit
sistenzsystemen, vgl. ▶ Abschn. 7.7.1, sind einige Wiederverwendung der Testfälle herstellerübergrei-
7.7  •  Auswirkungen und Besonderheiten bei der FAS-Entwicklung
121 7

fend für andere Projekte. Durch die standardisierten scher Softwarearchitekturen sind extensive multi-
Anwendungsschnittstellen, vgl. ▶ Abschn. 7.4.3, ist laterale Diskussionen und Verhandlungen nötig,
die Implementierung einer virtuellen Absicherungs- um die technischen Schnittstellen zwischen den
plattform zudem modular und strukturiert, so dass Liefergegenständen und den projektspezifischen
sie effizient realisierbar ist. Schnittstellen zwischen den Lieferanten zu klären.
Essenzielle Vorteile bietet die virtuelle Absiche- Die AUTOSAR-Entwurfsmethodik hilft, dies zu
rung bei der Einführung agiler Softwareentwick- vereinfachen. Aufgrund der standardisierten Aus-
lungsmethoden (vgl. [4]): Hierbei werden Funkti- tauschformate auf XML-Basis sowie der standardi-
onen in relativ kurzen Iterationen entwickelt und sierten Anwendungsschnittstellen sind Inhalte und
im Idealfall wird nach jeder Iteration eine getestete Zusammenspiel definiert.
und funktionsfähige Software geliefert. Für kom- Darüber hinaus ergibt sich die Möglichkeit,
plexe Systeme, die mit verschiedenen Partnern ent- durchgängige Toolketten zu nutzen. Die Elemente
wickelt werden, ist dies mit vertretbarem Aufwand der Entwurfsmethodik und die AUTOSAR-Spezifi-
nur durch eine virtuelle Absicherung zu erreichen. kationen an sich werden von Toolherstellern aufge-
Auch die im Rahmen agiler Entwicklung fast immer griffen. Zurzeit sind diverse Entwicklungstools auf
eingesetzte kontinuierliche Integration, verbunden dem Markt, die es ermöglichen, eine durchgängige
mit kontinuierlicher Validierung und Softwareliefe- Entwicklungslandschaft zu schaffen (vgl. [5]).
rung zwischen den Partnern, lässt sich mittels einer
virtuellen Absicherungsplattform wesentlich effizi-
enter realisieren. 7.7.5 Flexibilisierung
von kooperativer und verteilter
Entwicklung
7.7.4 Beherrschung
von Komplexität und Mit der Einführung einer standardisierten Basis-
Entwicklungszeitverkürzung software geht auch ein fundamentaler Wandel in
den Geschäfts- und Arbeitsmodellen einher: Auto-
Aus technischer Sicht stehen wir durch die steigende mobilhersteller verwenden nicht länger ihre eigene,
Zahl von Fahrerassistenzsystemen und dem steigen- meist proprietäre ECU-Basissoftware, sondern Mi-
den Grad der Vernetzung immer komplexeren Sys- kroprozessorhersteller, Zulieferer bzw. Softwarelie-
temen gegenüber. Dies birgt nicht nur Risiken in feranten entwickeln und testen die AUTOSAR-Ba-
der Entwicklung, sondern auch in der Absicherung sissoftware.
von Softwaresystemen. Der beschriebene modulare Die Anwendungen kommunizieren mit der Ba-
Aufbau von AUTOSAR ermöglicht es, wesentliche sissoftware über standardisierte Schnittstellen. Auf
Teile der Software wiederzuverwenden. Des Wei- diese Art und Weise werden viele Anwendungen ge-
teren bieten die in ▶ Abschn. 7.7.1 beschriebenen meinsam von vielen Automobilherstellern verwen-
strukturierten Entwicklungsmechanismen die det. Als Beispiel seien an dieser Stelle Anwendun-
Möglichkeit, eine hohe Anzahl von Anwendungen gen für Fensterheber oder Zentralverriegelungen
zu integrieren. Ein Steuergerät wird für neue An- erwähnt. Dies bedeutet, dass der Lieferant für eine
wendungen nicht neu entwickelt, sondern durch dieser Anwendungen nicht mehr kundenspezifische
Generierung und Konfiguration können vielmehr Produkte entwickelt, sondern mehrere Kunden mit
neue Anwendungen in eine bestehende Architektur dem gleichen Produkt anspricht. Diese Software-
integriert werden. Dies hat positive Auswirkungen anwendungen sind somit wiederverwendbar und
auf Qualität und Entwicklungszeit. durch ihre weitere Verbreitung auch stabiler.
Aus organisatorischer Sicht entsteht nun eine Wettbewerbsrelevante Anwendungen werden
neue Komplexität. Entwicklungsprojekte beziehen weiterhin herstellerspezifisch sein. Sie können
eine Vielzahl von Lieferanten ein und adressieren durch die Nutzung der bereits erwähnten standar-
eine große Anzahl an Schnittstellen zwischen den disierten Schnittstellen für verschiedene Modelle
Funktionsbereichen. In der Entwicklung spezifi- eines Herstellers verwendet werden.
122 Kapitel 7 • AUTOSAR

Die Entwicklung dieser wettbewerbsrelevanten Das Kernergebnis der AUTOSAR-Partnerschaft


1 Anwendungen kann sowohl beim Automobilher- liegt somit in der Spezifikation des AUTOSAR-Stan-
steller selbst, bei Lieferanten oder zusammen mit dards. Bereits dessen Implementierung unterliegt
2 Lieferanten erfolgen. Erleichtert wird dies durch die dem freien Wettbewerb.
formalen Beschreibungen der Softwarekomponen- Eine weitere grundlegende Änderung, die mit
ten, der Steuergeräte und des Gesamtsystems. Sie AUTOSAR eingeführt wurde, ist der Paradigmen-
3 liegen in standardisierten Austauschformaten vor wechsel für den Anwender: weg vom Implemen-
und ermöglichen so eine werkzeugunterstützte In- tieren der Software hin zum Konfigurieren und
4 tegration der Software. Generieren der Software. Damit können mit den ge-
Die Integrationsarbeit verlagert sich hierbei auf eigneten Werkzeugen aus den Systembeschreibun-
5 die Softwareebene und somit zum Automobilher- gen von AUTOSAR sehr schnell Umsetzungen in
steller, da er, um eine optimale Wiederverwendung Software erzeugt und somit ein bisher unerreichter
zu gewährleisten, die Architektur bzw. die Konfigu- Abstraktionsgrad in der Entwicklung der Software
6 ration des Steuergerätes und des Gesamtnetzwerks für Steuergeräte erreicht werden. Dieser Abstrak-
entwerfen muss. tionsgrad zusammen mit der Unabhängigkeit von
7 Betrachtet man nicht nur die Fahrerassistenz- spezifischer Hardware erlaubt eine neue Stufe der
systeme allein, sondern auch deren jetzige und zu- Wiederverwendbarkeit von Software. AUTOSAR
künftige Vernetzung miteinander – fahrzeugüber- ermöglicht damit eine Konzentration auf die Ent-
8 greifend, Fahrzeug mit Fahrzeug, Fahrzeug mit wicklung neuer, innovativer Kundenfunktionen, die
Verkehrssystemen oder internetbasierten Diensten heute vor allem im Bereich der Fahrerassistenzsys-
9 – wird deutlich, dass Innovationsgeschwindigkeit teme entstehen.
ein entscheidender Faktor für die erfolgreiche Ein-
10 führung solcher Systeme in Fahrzeugen ist. Die In-
Literatur
novationsgeschwindigkeit wird maßgeblich durch
Softwarewiederverwendung und gemeinschaftliche
11 Entwicklungen bestimmt. 1 Von der Beek, M.: Development of logical and technical ar-
chitectures for automotive systems. In: Software & Systems
Modeling 6(2), Springer Verlag, Berlin Heidelberg, 205–219
12 (2006)
7.8 Zusammenfassung 2 AUTOSAR Webseite: Verfügbar unter: http://www.autosar.

13 In den zehn Jahren seit Beginn seiner Entwicklung 3


org
ISO, ISO 26262 Road vehicles – Functional safety, Parts 1 –
10, First edition, 2011
hat sich AUTOSAR in der Fahrzeugindustrie als der
14 weltweite Standard für Softwareinfrastruktur, System-
4 Sims, C., Johnson, H.L.: Scrum: A Breathtakingly Brief and
Agile Introduction. Dymaxicon, Foster City, Calif. (2012)
beschreibung mit einem durchgängigen Entwurfspro- 5 ATZ Extra: 10 Years AUTOSAR, The Worldwide Automotive
15 zess und standardisierten Austauschformaten zwi- Standard for E/E Systems, Springer Verlag, October 2013
schen allen beteiligten Entwicklungspartnern (Stand
Oktober 2014: über 180 Firmen) etabliert. Damit sind
16 seit der Einführung von AUTOSAR-Release 4.0 im
Jahr 2009 in den nicht-differenzierenden Softwarean-
17 teilen der Steuergeräte im Fahrzeug die proprietären
Lösungen weitgehend abgelöst. Ein entscheidender
Grund für diesen Erfolg von AUTOSAR dürfte in dem
18 Grundprinzip der Partnerschaft liegen:

19 » Cooperate on standardization,
compete on implementation.
20
123 II

Simulation für
Entwicklung und Test
von FAS / Virtuelle
Entwicklungs- und
Testumgebung für FAS
Kapitel 8 Virtuelle Integration – 125
Stephan Hakuli, Markus Krug

Kapitel 9 Dynamische Fahrsimulatoren – 139


Hans-Peter Schöner, Bernhard Morys

Kapitel 10 Vehicle in the Loop  –  155


Guy Berg, Berthold Färber
125 8

Virtuelle Integration
Stephan Hakuli, Markus Krug

8.1 Durchgängiges Testen und Bewerten im


virtuellen Fahrversuch   –  126
8.2 Effiziente Zusammenarbeit zwischen
Hersteller und Zulieferermittels einer
Integrations- und Testplattform – 127
8.3 In-the-Loop-Methoden und virtuelle
Integration im V-Modell – 128
8.4 Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess  –  132
8.5 Grenzen der virtuellen Integration  –  136
8.6 Fazit – 137
Literatur – 138

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
126 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

Während Fahrdynamikregelsysteme trotz aller zeugentwicklungsprozess eine Test- und Bewer-


1 Komplexität und Variantenvielfalt mit großem Auf- tungsmöglichkeit für Spezifikationen und daraus
wand noch im realen Fahrversuch abgesichert wer- abgeleitete Lösungen herzustellen. Die Nutzung
2 den können, ist dies bei Fahrerassistenzsystemen geeigneter Simulationsverfahren ermöglicht eine
mit Umfeldwahrnehmung bereits heute bedingt effizientere Konzeption, Entwicklung und Applika-
durch die Systemkomplexität, die Komplexität der tion von Fahrzeugen und Fahrzeugkomponenten.
3 Testfälle und durch den nötigen Testumfang nicht Sie überbrücken und verkürzen die Zeit bis zur Ver-
mehr wirtschaftlich möglich. Auch bei vermeint- fügbarkeit von realen Fahrzeugprototypen. Mit dem
4 lich gleicher Durchführung ist die Wiederholbarkeit realen Fahrversuch und der Verlässlichkeit realer
von Tests unter exakt gleichen Rahmenbedingun- Versuchsergebnisse als Vorlage ist der Einsatz von
5 gen aufgrund zahlreicher potentieller und mitun- Simulationstechniken eine Optimierungsaufgabe, in
ter unbekannter oder nicht beachteter Einflüsse in der es den Modellierungs-, Parametrierungs- und
der Praxis unmöglich. Damit ist die Reproduzier- Simulationsaufwand ins Verhältnis zur gewonnenen
6 barkeit von Ergebnissen nicht gegeben, weil zum Effizienz zu setzen gilt.
einen funktionsrelevante Merkmale die nötige In- Der virtuelle Fahrversuch besteht wie sein re-
7 teraktion mehrerer Verkehrsteilnehmer beinhalten ales Gegenstück aus mehreren Komponenten. Die
können, zum anderen weil sie einem komplexen zentrale Rolle spielt ein virtueller Fahrzeugpro-
Zusammenspiel von Rahmenbedingungen wie totyp, dessen Bestandteile je nach Fortschritt im
8 der Blendung durch eine tiefstehende Sonne bei Entwicklungsprozess als Modelle, Software-Code
gleichzeitiger Reflexion auf nasser Fahrbahn unter oder als Hardware integriert sind. Durch definierte
9 einem bestimmten Winkel unterliegen können. Die Schnittstellen zwischen den Teilkomponenten des
Funktionen aktueller FAS greifen auf Umfeldinfor- virtuellen Fahrzeugs ist es für jede Komponente un-
10 mationen zu, die mitunter von mehreren Sensoren erheblich, in welchem Integrationsstadium sich die
unterschiedlicher Funktionsweisen gesammelt und jeweils anderen Komponenten befinden.
in einer Umfeldrepräsentation verarbeitet wurden. Das virtuelle Fahrzeug samt dessen Funktionen
11 Zur Erfüllung ihrer Funktionsziele bedienen sich wird von einem virtuellen Fahrer bedient, der über
diese Funktionen unterschiedlicher Aktoren und ein Verhaltensmodell parametriert wird, sowohl
12 Bestandteile der Mensch-Maschine-Schnittstelle. Open-Loop- als auch Closed-Loop-Manöver aus-
Aus dieser architektonischen Verteilung von Assis- führen kann und der wie im realen Fahrversuch
tenzfunktionen auf unterschiedliche Steuergeräte über Manöverschrittbeschreibungen instruiert wird,
13 und Fahrzeugkomponenten resultiert eine starke die er während des Fahrversuchs strecken-, zeit-
Vernetzung, die beim Testen zu berücksichtigen oder ereignisbasiert abarbeitet. Als konsequente
14 ist und die den Aufwand nach oben treibt. Dieses Weiterentwicklung des signalbasierten Testens ist
Kapitel wird aufzeigen, welche Vorteile sich aus der eine solche manöverschrittbasierte Ausführung des
15 virtuellen Integration ergeben, wie sie funktioniert Testauftrags mit einem konfigurierbaren Fahrerver-
und wo ihre Grenzen liegen. halten eine Voraussetzung für die Übertragbarkeit
der Simulationsergebnisse auf die Ergebnisse des als
16 Vorlage verwendeten realen Fahrversuchs.
8.1 Durchgängiges Testen Der virtuelle Fahrer bewegt das virtuelle Test-
17 und Bewerten im virtuellen fahrzeug auf einer virtuellen Fahrbahn in einem
Fahrversuch virtuellen Umfeld, das beispielsweise reale Stre-
ckenverläufe und deren Eigenschaften abbildet und
18 Die Leitidee des virtuellen Fahrversuchs ist die in dem er mit virtuellen Verkehrsteilnehmern in-
möglichst realitätsgetreue Übertragung des realen teragiert.
19 Fahrversuchs in die virtuelle Welt mit dem Ziel, Während in der frühen Konzeptphase noch alle
von den charakteristischen Stärken der Simulation Bestandteile des Fahrversuchs virtuell sind, erfolgt
20 in Sachen Reproduzierbarkeit, Flexibilität und Auf- im Laufe der Entwicklung durch die verschiedenen
wandsreduktion zu profitieren und früh im Fahr- Integrationsstadien, wie in . Tab. 8.1 dargestellt,
8.2  •  Effiziente Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Zulieferer
127 8

.. Tab. 8.1  Schrittweiser Übergang von der virtuellen in die reale Welt

MiL SiL ECU-HIL System-HIL Rollenprüfstand ViL Fahrversuch

Funktions-Code V R R R R R R

Steuergerät V V R R R R R

System V V V R R R R

Fahrzeug V V V V R R R

Fahrer V V V V V/R V/R R

Fahrdynamik V V V V V R R

Erlebbarkeit V V V V V R R

Fahrbahn V V V V V R R

Verkehr/Umfeld V V V V V V R

V: virtuell, R: real

ein schrittweiser Austausch von virtuellen gegen nen so bereits früh Designentscheidungen im rein
die zugehörigen realen Versuchsbestandteile, bis im virtuellen Versuch auf ihre Eignung zur Erfüllung
vollständig realen Fahrversuch auf der Straße mit der Gesamtfahrzeugeigenschaftsziele überprüft
realem Fahrer und echten Verkehrsteilnehmern die werden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung trägt
Simulationsanteile komplett der Realität gewichen diese Vorgehensweise dazu bei, dass zwischen den
sind. Integrationsstufen kein unnötiger Bruch in der Test-
Der virtuelle Fahrversuch umfasst jedoch nicht und Bewertungskette entsteht und Testergebnisse
nur die Abbildung einer Versuchskonfiguration in stufenübergreifend vergleichbar bleiben.
die virtuelle Welt, sondern auch die Übertragung Die Nutzung von virtuellen Fahrzeugprototy-
der Auswertungs- und Bewertungsmethodik aus pen im virtuellen Fahrversuch macht somit bereits
dem realen Fahrversuch in die Simulation. Die früh im Entwicklungsprozess Designentscheidun-
kontinuierliche Erfüllung von Spezifikationen auf gen im Gesamtfahrzeugkontext bewertbar und
Systemebene und darunter garantiert nicht für das trägt dazu bei, dass Spezifikationen für Systeme
erwünschte Verhalten des Gesamtfahrzeugs und und Komponenten wie im folgenden ▶ Abschn. 8.2
damit nicht für die Validität eines Produkts im beschrieben schon vor der Entstehung des ersten
Sinne von Tauglichkeit gemäß den Produktzielen, realen Prototypen auf ihre Eignung zur Erreichung
deren Erreichung erst im Freigabeversuch überprüft der Gesamtfahrzeugziele überprüft werden können.
wird. Ziel muss daher sein, entwicklungsbegleitend ▶ Abschn. 8.4 beleuchtet diesen Aspekt am Beispiel
Teillösungen sowohl gegen die zugehörigen Spezi- einer Funktionsentwicklung entlang des V-Modells
fikationen zu testen als auch im gleichen Kontext durch alle Integrationsschritte.
im Gesamtfahrzeugkonzept auf die Erfüllung der
gewünschten Eigenschaften für die Gesamtlösung
überprüfen zu können. Der wirkliche Mehrwert 8.2 Effiziente Zusammenarbeit
des virtuellen Fahrversuchs besteht deshalb darin, zwischen Hersteller
die im realen Fahrzeug bei der Freigabe gefahrenen und Zulieferermittels einer
Manöver und die zugehörigen Bewertungskriterien Integrations- und Testplattform
durchgängig durch die in ▶ Abschn. 8.3 am Beispiel
des V-Modells diskutierten Integrationsschritte bis Der virtuelle Fahrversuch auf Basis von virtuel-
zum Beginn der Konzeptphase zu überführen und len Fahrzeugprototypen sowie in der Simulation
schon dort verfügbar zu machen. Im Idealfall kön- abgebildeten Freigabemanöverkatalogen samt
128 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

zugehöriger Bewertungskriterien kann auch zum 8.3 In-the-Loop-Methoden


1 Effizienzgewinn in der Zusammenarbeit von Fahr- und virtuelle Integration
zeugherstellern und Systemzulieferern beitragen. im V-Modell
2 Der Zulieferer profitiert bei der Entwicklung und
Applikation einer Komponente von der Anwe- Fahrerassistenzfunktionen werden funktional wei-
senheit eines virtuellen Fahrzeugprototyps, da er testgehend in Software abgebildet. Daher ist es sinn-
3 für die Bewertung der Zielerreichung im Gesamt- voll, das aus dem Software Engineering bekannte
fahrzeugkontext unabhängiger von realen und V-Modell [3] oder seine Weiterentwicklung „V-Mo-
4 üblicherweise raren Prototypfahrzeugen wird. dell XT“ [4] als Entwicklungsprozess für Fahreras-
Während sich auf der Seite des Zulieferers die Frei- sistenzfunktionen zu verwenden. Das V-Modell
5 gabemanöverkataloge auf die Überprüfung und stellt grundsätzlich einen chronologischen Entwick-
Absicherung von zugesicherten Systemeigenschaf- lungsprozess dar. Der Ablauf ist dabei nicht linear
ten konzentrieren, können mittels vom Hersteller über der Zeitachse aufgetragen, sondern über die
6 übermittelter Manöverkataloge und Bewertungs- Form des Buchstabens V. Es wird dabei von einem
kriterien Entwicklungsstände auf ihre wahrschein- absteigenden und einem aufsteigenden Ast gespro-
7 liche Zielerreichung im Gesamtfahrzeugkontext chen. Der absteigende Ast enthält die Arbeitsschritte
überprüft werden, noch bevor diese Komponente der Analyse der Aufgabenstellung. Aus der Analyse
in einen realen Prototyp integriert und damit ve- resultieren schrittweise Spezifikationen für die zu
8 rifizierbar sind. entwickelnden Komponenten. Dabei ist wesentlich,
Für eine derartige Zusammenarbeit setzen Her- dass zunächst die Gesamtproduktanforderungen (oft
9 steller und Zulieferer die gleiche Integrations- und auch Kundenanforderungen genannt) analysiert und
Testumgebung ein. Ausgetauscht werden sowohl danach in eine logische Architektur überführt wer-
10 Fahrzeug- und Komponentenmodelle als auch den. Im Anschluss daran folgt die Entwicklung einer
in der Simulation implementierte Freigabema- technischen Architektur, die im weiteren Verlauf in
növerkataloge mit integrierter Auswertung nach Systeme und in Komponenten zerlegt und spezifi-
11 festgelegten Bewertungskriterien sowohl auf Ge- ziert wird. Parallel zu jedem dieser Schritte entste-
samtfahrzeug- als auch auf Komponentenebene. hen Testfallspezifikationen, die später zur Überprü-
12 Der Hersteller kann Fahrzeugdatensätze in ver- fung der Entwicklung verwendet werden. Der letzte
schlüsselter Form als „Black Box“ übergeben, die Schritt des absteigenden Astes markiert gleichzeitig
sich beim Zulieferer zwar in der Simulation ver- den ersten Schritt im aufsteigenden Ast. Auf ihm er-
13 wenden, nicht aber im Detail einsehen und verän- folgt die eigentliche Implementierung beziehungs-
dern und mit einem Ablaufdatum versehen lassen. weise Entwicklung der spezifizierten Komponen-
14 Die Baugruppe, die der Zulieferer entwickelt, ist ten. Der aufsteigende Ast beinhaltet alle Test- und
dabei von der Verschlüsselung ausgenommen und Integrationsschritte von der einzelnen Komponente
15 kann von ihm integriert und getestet werden. Im über das Gesamtsystem bis hin zum Akzeptanztest
Gegenzug kann ein Zulieferer Komponentenmo- beim Kunden. Er stellt also das Integrieren und Tes-
delle und Steuergerätesoftware in geschützter Form ten im Entwicklungsprozess dar. Jeder Schritt auf
16 und beispielsweise über den FMI/FMU-Mecha- dem absteigenden Ast hat eine Beziehung zu einem
nismus [1, 2] unabhängig von dem verwendeten Schritt im aufsteigenden Ast. Dabei entspricht die
17 Autorenwerkzeug mit dem Hersteller austauschen. Beziehung dem Verifizieren des im entsprechenden
Das ermöglicht dem Fahrzeughersteller mit der Prozessschritt erstellten Teilsystems gegenüber der
früheren Bereitstellung reiferer und frühzeitig im zugehörigen Spezifikation. Die jeweils verwendeten
18 Gesamtfahrzeugkontext validierter Komponenten Testfälle sind diejenigen, die während der Spezifikati-
zu planen, deren Übergabe mit weniger teuren und onsphase im absteigenden Ast entwickelt wurden. Im
19 mitunter zeitraubenden Iterationsschritten bis zur letzten Schritt erfolgt die Validierung, d. h. die Über-
Finalisierung verbunden ist. prüfung der Erfüllung aller Kundenanforderungen
20 sowie der Akzeptanztest. . Abbildung 8.1 zeigt den
generellen Entwicklungsprozess nach dem V-Modell.
8.3  •  In-the-Loop-Methoden und virtuelle Integration im V-Modell
129 8

Validierungsvorschrift
Kunden- Akzeptanztest
anforderungen
Validierung
Verifikationsvorschrift
Logische Kalibrierung
Architektur
Verifikation
Verifikationsvorschrift
Technische
Architektur Integrationstest
Verifikation
Verifikationsvorschrift
System-
Design Systemtest
Verifikation
Verifikationsvorschrift
Komponenten-
Design Komponententest
Verifikation

Implementierung

.. Abb. 8.1  Entwicklungsprozess nach dem V-Modell

Das V-Modell zeichnet sich durch eine leichte sichere Aussage über die Qualität der Entwicklung
Verständlichkeit und die Verbindung von Entwick- treffen zu können [5, 6]. Diese Aussage muss be-
lung und Qualitätsmanagement aus. Diese Verbin- gleitend zur Entwicklung immer weiter konkreti-
dung wird durch die Verwendung der Testfälle aus siert werden, um zunehmend zu einer stabilen Be-
der Spezifikationsphase in der Integrationsphase er- wertung zu gelangen. Um ausreichend Flexibilität
reicht. Ein nicht unerheblicher Nachteil des V-Mo- zu erhalten, sollte ferner eine kontinuierliche An-
dells ist allerdings, dass sich erst beim entsprechen- passung der Spezifikationen möglich sein, ohne die
den Schritt der Integration feststellen lässt, ob die zuvor erstellten Inhalte maßgeblich zu verändern.
zugehörige Spezifikation korrekt ist. Am markan- Die für dieses Vorgehen verwendeten Methoden
testen wird dies in Bezug auf Fahrerassistenzfunkti- stammen überwiegend aus dem Repertoire der
onen bei der Validierung der Gesamtfunktionalität, Entwicklung von eingebetteten mechatronischen
die aus der initialen Kundenanforderung entwickelt Systemen. In Frage kommen hier SiL, MiL- und
wurde. Erst im letzten Schritt des Entwicklungspro- HiL-Methoden [7].
zesses ist hierzu eine Validierung möglich. Sollte Der systematische Ansatz dieser Methoden
die Spezifikation der Kundenanforderung unvoll- entspricht der Ankopplung der zum jeweiligen Ent-
ständig oder gar fehlerhaft sein, sind alle nachfol- wicklungsschritt vorhandenen Modelle oder realen
genden Spezifikationen und deren Realisierung Komponenten an eine Nachbildung deren realer
davon betroffen. Dies kann formal erst im letzten Umgebung mit dem Ziel, ein bewertbares Gesamt-
Entwicklungsschritt nach dem V-Modell festgestellt system zu erhalten. Diese Nachbildung wird durch
werden. Dazwischen liegen in der Automobilindu- eine Simulationsumgebung in virtueller Form zur
strie typischerweise drei Jahre Entwicklungszeit Verfügung gestellt, in welche die real verfügbaren
und nicht selten Entwicklungskosten in Höhe von Modelle oder mechatronischen Systeme eingebettet
mehreren Millionen Euro. Eine notwendige Ände- sind. Da es bis zum Prozessschritt der Implemen-
rung bedeutet sehr wahrscheinlich eine Erhöhung tierung keine realen Komponenten gibt, muss die
der Entwicklungskosten und eine Verlängerung der Simulationsumgebung in der Lage sein, eine virtu-
Entwicklungszeit. elle Integration anzubieten. . Abbildung 8.2 zeigt
Um dieses Risiko zu verringern, müssen ent- die Verortung der jeweiligen Methode im V-Modell.
sprechende methodische Ergänzungen im Ent- Mit der Model-in-the-Loop-Methode (MiL)
wicklungsprozess vorgenommen werden mit dem lässt sich die Spezifikation der Kundenanforde-
Ziel, zu einem frühen Zeitpunkt eine ausreichend rung bis zum Schritt der logischen Architektur
130 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

1
Kunden- Akzeptanztest
2 anforderungen

Logische Ka
Kalibrierung

3
Architekturr

4 Technische
Architektur
Integrationste
Integrationstest

System- Systemtest
5 Design

Komponenten-
6 Design Komponententest

Implementierung

7
.. Abb. 8.2  In-the-Loop-Methoden im V-Modell
8
bestätigen. In dieser Methodik werden Algorith- Die Software-in-the-Loop-Methode (SiL) er-
9 men erstellt, die funktional dem Entwicklungsziel laubt eine Absicherung bis auf die Ebenen der
entsprechen. Sie haben allerdings noch keinen Be- einzelnen Komponenten. Erreicht wird dies durch
10 zug zur Hardware im Zielsystem. Diese Algorith- Übertragung der bereits erstellten Modelle in eine
men werden meist in Form von modellbasierter Simulationsumgebung, die den technischen Gege-
Software erstellt. Um diese Modelle zu validieren, benheiten des Zielsystems in Bezug auf Rechenleis-
11 werden sie in eine entsprechende Simulationsum- tung, Echtzeitverhalten oder Auflösungsgenauigkeit
gebung integriert und im virtuellen Fahrversuch sehr nahe kommt, aber noch zielhardwareunabhän-
12 getestet. Das bedeutet, dass alle dafür notwendigen gig ist [8]. Somit stellt die SiL-Methode eine Mög-
Komponenten (Umwelt, Fahrstrecke, Fahrdyna- lichkeit dar, die Spezifikationen der Einzelkompo-
mik, Antriebsstrang, Sensoren, Fahrermodell etc.) nenten eines Systems vor deren Implementierung zu
13 modular zur Verfügung stehen. Das erstellte Mo- prüfen und gegebenenfalls anzupassen.
dell wird zur Simulationsumgebung hinzugefügt, Wird der Entwicklungsprozess nach dem
14 um die neue Funktion erlebbar zu machen. Aus V-Modell durch die MiL- und Sil-Methoden in ei-
der Einbindung von Modellen in einen virtuellen ner leistungsfähigen Simulationsumgebung ergänzt,
15 Prototyp und damit in den Gesamtfahrzeugkontext entsteht im absteigenden Ast eine virtuelle Integ-
resultieren konkretere Anforderungsspezifikationen ration des Gesamtsystems. Es liegt zum Abschluss
und damit konkretere Testvorschriften, was mögli- des absteigenden Astes ein virtueller Prototyp vor,
16 che Überraschungen bei der Validierung vermeiden bei dem sowohl jede einzelne Komponente als auch
kann. Idealerweise ist die Simulationsumgebung mit die Gesamtfunktionalität in ihrer Wirkung und be-
17 einem Fahrsimulator gekoppelt, in dem die neu zu züglich ihrer Schnittstellen vollständig getestet und
entwickelnde Fahrerassistenzfunktion bereits von verifiziert werden können. Mit diesem virtuellen
Probanden bewertet werden kann. Abhängig vom Prototyp ist auch ein virtueller Fahrversuch wie in
18 Grad der Detaillierung dieser Methode ist bereits ▶ Abschn. 8.1 möglich. Daraus ergibt sich wiederum
eine weitreichende Aussage in Bezug auf die Kun- die Möglichkeit, die Auswirkungen von Toleranzen
19 denakzeptanz möglich. Zeitlich liegt dieser Schritt jeder einzelnen Komponente auf die Kundenfunk-
deutlich vor dem entsprechenden Schritt im klassi- tion zu testen. Da dies automatisiert und oftmals
20 schen V-Modell und ermöglicht damit eine deutli- schneller als in der tatsächlichen Zeit durchgeführt
che Senkung des Entwicklungsrisikos. werden kann, ist dieser virtuelle Prototyp ein sehr
8.3  •  In-the-Loop-Methoden und virtuelle Integration im V-Modell
131 8

leistungsfähiges Werkzeug zur Überprüfung der szenarien erneut angewendet werden können. Zum
einzelnen Spezifikationen und des Gesamtsystems. einen senkt das die Kosten, zum anderen können
Zudem lassen sich bei entsprechender Konfigura- die Ergebnisse zwischen den realen und virtuellen
tion des virtuellen Prototyps der Ausfall oder der Komponenten direkt verglichen werden. Im Falle
Missbrauch einzelner Komponenten im Hinblick von Abweichungen wird die Fehlersuche erleich-
auf das Gesamtsystem und dessen Funktionalität tert. Falls die Fehlersuche eine Änderung an einem
testen. Diese Möglichkeit macht ähnliche Tests an Modell des virtuellen Prototyps notwendig macht,
den später zur Verfügung stehenden realen Kompo- können die Auswirkungen zunächst erneut durch
nenten nicht überflüssig. Allerdings ist diese Mög- einen virtuellen Fahrversuch beurteilt werden.
lichkeit wesentlich flexibler, schneller und günstiger. Vehicle-in-the-Loop (ViL) steht für eine neuere
Zudem lassen sich daraus gewonnene Erkenntnisse Methode zur sinnvollen Ergänzung und Verbesse-
in die Spezifikation der Einzelkomponenten inte- rung der Entwicklung im V-Modell für Fahreras-
grieren. sistenzsysteme. Sie adressiert den Bedarf vieler
Das beschriebene Vorgehen ist nicht auf den Fahrerassistenzfunktionen an einen aufwendigen
Funktionsbereich der Fahrerassistenz beschränkt. Fahrversuch und einen hohen Anspruch an die
Allerdings ist diese Domäne für ein solches Vorge- funktionale Sicherheit. Diese Gruppe von Fah-

-
hen aus folgenden Gründen prädestiniert:
hohe Interaktion mit den Domänen
Mensch-Maschine-Schnittstelle, Antriebs-
rerassistenzfunktionen wird zunehmend an Be-
deutung und Umfang gewinnen. Ein wesentlicher
Grund dafür ist die ständig wachsende Anzahl von

- strang, Fahrdynamik,
hohe Anforderungen an die funktionale
Sicherheit und deren Nachweis mit zunehmen-
Fahrzeugderivaten, in denen Fahrerassistenzfunk-
tionen angeboten werden und damit auch bei im-
mer weiter zunehmendem Automatisierungs- und

- dem Automatisierungsgrad,
hohes Entwicklungsrisiko aufgrund neuartiger
Vernetzungsgrad abzusichern bleiben müssen. Die
ViL-Methode erlaubt den Betrieb des realen Ver-

- Sensorkonzepte und Algorithmen,


hohes Entwicklungsrisiko aufgrund von wenig
Erfahrung zur Kundenakzeptanz.
suchsfahrzeuges in einer virtuellen Umwelt. Die
Kopplung zwischen Fahrzeug und virtueller Um-
welt kann in zweierlei Weise geschehen. Entweder
wird dazu eine Schnittstelle zu der verwendeten
Mit der dritten in-the-Loop-Methode werden die Umfeldsensorik geschaffen und die reale Sensorik
entwickelten Modelle aus der SiL-Umgebung auf die ersetzt. An dieser Schnittstelle speist die Simulati-
realen Komponenten übertragen beziehungsweise onsumgebung simulierte Sensorsignale ein, die der
durch sie ersetzt. Die Methode wird daher als Hard- Sensorantwort aus einer realen Umgebung entspre-
ware-in-the-Loop (HiL) bezeichnet. Dieser Schritt chen, was immer dann von Vorteil ist, wenn reale
findet bei verteilten Systemen typischerweise in Sensorik nicht mit vernünftigem Aufwand durch
mehreren Stufen statt. Zunächst werden die einzel- künstliche Signale stimuliert werden kann. An-
nen Komponenten unabhängig gegen ihre jeweilige dernfalls kann die reale Sensorik beibehalten und
Spezifikation getestet. Auch hier wird eine Simulati- künstlich stimuliert werden, wie es beispielsweise
onsumgebung verwendet, die die Schnittstellen der mit Ultraschallsensorik realisierbar ist, die über
zu testenden Komponente zur Verfügung stellt. Sind Ultraschallwandler künstlich generierten Antwort-
alle Komponenten mit dieser Methode verifiziert, signalen ausgesetzt wird [9]. In beiden Varianten re-
werden sie abschnittsweise mit derselben Methode agiert das reale Versuchsfahrzeug auf Merkmale und
integriert, um deren Zusammenwirken zu verifizie- Ereignisse in der virtuellen Umgebung. Kritische
ren. Am Ende dieser Phase existiert das vollständige Fahrmanöver zu Hindernissen oder Objekten auf
System in realen Komponenten und ist bis auf die Kollisionskurs können so sicher und reproduzier-
Ebene der logischen Architektur gegenüber seiner bar getestet werden. Die geschaffene Schnittstelle
Spezifikation getestet. kann auch dazu genutzt werden, die Sensorsignale
Dabei ist wichtig, dass die bereits während der in einer Art zu erzeugen, wie sie aufgrund einer ge-
Erstellung des virtuellen Prototyps genutzten Test- änderten Position in einem Fahrzeugderivat oder
132 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

durch verschiedene Toleranzen entstehen würden. beziehungsweise deren Applikation. Die Entwick-
1 Dadurch ergibt sich mit dieser Methode die Mög- lungsprozesse der einzelnen Domänen im Fahrzeug
lichkeit, mit einem Versuchsträger entsprechende können sich durchaus unterscheiden, was den Ablauf
2 Derivate oder Toleranzen zu testen. Neben dem bis zu einem Synchronisationspunkt betrifft. Auch
wesentlich sicheren Versuchsbetrieb erlaubt dies die Menge der realisierten Teilfunktionalität kann
ein effektives Testen und Applizieren von Fahreras- sich durchaus von Domäne zu Domäne unterschei-
3 sistenzfunktionen. Daraus leitet sich ein erhebliches den. In Zukunft ist dieses Prinzip auch für den Ent-
wirtschaftliches Potential für den Fahrversuch im wicklungsprozess im absteigenden Ast des V-Modells
4 Bereich der Fahrerassistenz ab. zu erwarten. Gerade die gezeigte virtuelle Integration
Selten werden Fahrerassistenzfunktionen völ- ermöglicht die Verfügbarkeit eines virtuellen Proto-
5 lig neu entwickelt. Typischerweise existiert bereits typs zu jedem Zeitpunkt im Entwicklungsprozess.
eine Funktionalität, die verschiedene Komponenten Nur die Detaillierung unterscheidet sich zu den ver-
nutzt. Auf dieser Basis wird eine neue Funktion hin- schiedenen Zeitpunkten. Daher ist eine Koordina-
6 zugefügt. In derartigen Fällen ist es sehr hilfreich, tion der Integration von Funktionen auch schon im
wenn die bestehende Basis bereits in der beschrie- absteigenden Ast des V-Modells sinnvoll.
7 benen Form als virtueller Prototyp vorliegt. Die Die großen Potentiale der virtuellen Entwick-
Spezifikation der neuen Funktionalität kann darauf lung und Integration bei Fahrerassistenzfunktionen
basierend effizient in die vorhandene Struktur des wird den realen Fahrversuch nicht vollständig erset-
8 virtuellen Prototyps aus MiL- und SiL-Komponenten zen können. Das liegt zum einen daran, dass einige
integriert und getestet werden. Auch kann die neue Testszenarien erstmals im realen Fahrversuch ent-
9 reale Komponente die bestehende HiL-Infrastruk- deckt werden, da hier beliebige Situationen entste-
tur nutzen. Dieses Vorgehen stellt eine sehr hilfreiche hen können. Bei entsprechender Relevanz können
10 Qualitätsmaßnahme dar, da die Änderungen zum diese Testszenarien dann in den virtuellen Fahrver-
bereits getesteten System leicht nachvollziehbar und such übernommen werden, sofern die Abbildung
überprüfbar sind. Die existierenden Testfälle können der relevanten Ereignisse und Mechanismen auf-
11 bei entsprechender Interaktion der neuen Funktion wandsmäßig sinnvoll ist. Zum anderen ist die sub-
mit der existierenden Basis weiter verwendet wer- jektive Beurteilung von Fahrerassistenzfunktionen
12 den. Darüber hinaus erschließt sich daraus ein wirt- ein Aspekt, der nicht vollständig im virtuellen Fahr-
schaftliches Potential, da mit der vorhandenen Infra- versuch übernommen werden kann.
struktur einige Entwicklungsumfänge übernommen
13 werden können. Die Wiederverwendung dieser Inf-
rastruktur ist zudem ein Investitionsschutz. 8.4 Virtuelle Integration
14 Für komplexe Fahrerassistenzfunktionen kann im Entwicklungsprozess
der zugehörige Entwicklungsprozess nach dem
15 V-Modell nicht als alleiniger Prozess betrachtet Im Folgenden wird ein Beispiel angeführt, das zei-
werden. Fahrerassistenzfunktionen haben eine er- gen soll, wie die virtuelle Integration Teil des Ent-
hebliche Interaktion mit Funktionen aus anderen wicklungsprozesses nach dem V-Modell ist. Die
16 Domänen im Fahrzeug. Diese Interaktion erfordert Betrachtung wird unterteilt in die Spezifikations-
ein Domänen-übergreifendes Konzept bezüglich In- und die Integrationsphase. Dies entspricht einer
17 tegration und Test. Typischerweise wird dies heut- Aufteilung in den absteigenden und aufsteigenden
zutage damit erreicht, dass im aufsteigenden Ast Ast des V-Modells.
des V-Modells sogenannte Synchronisationspunkte
18 zwischen den Entwicklern aus den verschiedenen
Domänen vereinbart werden. Diese Synchronisati- 8.4.1 Spezifizieren mit Hilfe
19 onspunkte stellen die Integration aller Funktionen der virtuellen Integration
im Fahrzeug mit einer vereinbarten Teilfunktionali-
20 tät dar. Typische Teilfunktionalitäten sind dabei die Das folgende Beispiel zu einer Kundenanforderung
Verfügbarkeit aller System- oder Kundenfunktionen im Funktionsbereich Parken/Rangieren zeigt die
8.4  •  Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess
133 8

Erweiterung des Entwicklungsprozesses nach dem der benötigten Teilkomponenten und deren Rea-
V-Modell durch die virtuelle Integration auf. Es lisierbarkeit. Am wesentlichsten in diesem Schritt
wird zunächst für jeden Schritt im Entwicklungs- ist, dass die Kundenfunktion mindestens visualisiert
prozess nach dem V-Modell eine entsprechende Be- werden kann und so der Kunde und der Entwickler
schreibung angegeben. Die Beschreibung ist stark über eine gemeinsame Diskussionsbasis verfügen.
verkürzt und dient ausschließlich dem Verständnis Dies reduziert die Gefahr von Missverständnissen
der Methode. Als Ergänzung wird zu jedem Schritt und daraus resultierenden Versäumnissen im Ent-
die jeweilige Aktivität zur virtuellen Integration wicklungsprozess erheblich.
und deren Ergebnis als Mehrwert im Vergleich zum
klassischen Prozess nach dem V-Modell in jeweils 8.4.1.2 Logische Architektur
drei getrennten Abschnitten angeführt. V-Modell Die logische Architektur könnte folgen-
dermaßen formuliert werden: Erfassung von fest-
8.4.1.1 Kundenanforderung stehenden Objekten mit Hilfe der im vorderen und
V-Modell  Die Kundenanforderung wird formuliert hinteren Stoßfänger angebrachten Ultraschallsenso-
als: Vermeidung von Beschädigungen an den Fahr- ren. Nach der Erfassung werden die Objekte beim
zeugseiten durch Kollision mit einem feststehenden Verlassen des seitlichen Sichtbereichs der jeweils äu-
Objekt während eines Parkmanövers. Die maximale ßeren Sensoren über eine Objektverfolgung weiter
Fahrgeschwindigkeit liegt bei 10 km/h. Darüber ist lokalisiert, die auf der Fahrzeugbewegung basiert.
die Funktion inaktiv. Typische Fahrmanöver werden Ergibt die Lokalisierung bezogen auf die aktuelle
verbal formuliert und als Testfälle für die weitere Fahrgeschwindigkeit und den aktuellen Lenk-
Entwicklung festgelegt. winkel eine zu große Annäherung eines Objekts
an der Fahrzeugseite, so erfolgt die Ausgabe eines
Virtuelle Integration Es werden in der Simulati- Warnhinweises. Dieser Warnhinweis wird über ein
onsumgebung die zuvor als Testfälle definierten akustisches Signal realisiert. Entsprechende Testfälle
Fahrmanöver im virtuellen Fahrversuch konfigu- werden formuliert, die dieses Ereignis stimulieren.
riert, um die Kundenanforderung transparenter zu
gestalten. Die Sensoren des virtuellen Testfahrzeugs Virtuelle Integration  In der virtuellen Integration
haben ein ideales Verhalten in Bezug auf die Um- werden in diesem Schritt die zuvor simulierten Sze-
welterfassung. Die Simulation der Fahrmanöver narien konkretisiert und erweitert. Dies betrifft zum
gibt den Entwicklern einen wichtigen Hinweis auf Beispiel die Anpassung der simulierten Sensoren
die Vollständigkeit der Kundenanforderungen und entsprechend der Charakteristik eines Ultraschall-
auf beachtenswerte Details der Funktion. Steht ein sensors und die Integration eines Algorithmus zur
Fahrsimulator zur Verfügung, hat der Kunde die Objektverfolgung inklusive Ausgabe des Warnhin-
Möglichkeit, seine zunächst nur verbal formulierte weises in die Simulation. Die zu diesem Schritt im
Anforderung zu erleben und gegebenenfalls zu de- V-Modell entwickelten Testfälle werden simuliert.
taillieren. Steht kein Fahrsimulator zur Verfügung,
gibt dennoch die übliche idealerweise fotorealisti- Ergebnis Zum Abschluss dieses Entwicklungs-
sche Animation der Simulation dem Kunden einen schritts liegt durch die Verwendung der virtuellen
ersten Eindruck und die Möglichkeit, seine Anfor- Integration eine getestete logische Architektur der
derungen auf dieser Basis anzupassen. Kundenanforderung vor. Dies ermöglicht eine Aus-
sage, ob die Kundenanforderung in Bezug auf den
Ergebnis  Die virtuelle Integration ermöglicht in die- Datenfluss und die Funktionslogik im Rahmen der
sem Schritt eine wesentlich transparentere Diskus- vorhandenen Möglichkeiten realisierbar ist.
sion über die Formulierung der Anforderungen des
Kunden. Die Entwickler bekommen dadurch einen 8.4.1.3 Technische Architektur
ersten Eindruck von den Funktionsumfängen, die V-Modell Die technische Architektur besteht grund-
eine besondere Beachtung benötigen. Dies erlaubt sätzlich aus den Funktionsteilen Erfassen, Verarbei-
auch eine erste Abschätzung über die Spezifikation ten und Ausgeben. Der Umfang des Erfassens be-
134 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

zieht sich auf die Detektion von Objekten. Hier soll nenten. Die Schnittstellen können sowohl Steuerge-
1 auf die vorhandenen Ultraschallsensoren und de- räte-intern, über einen Fahrzeugbus oder über eine
ren Schnittstelle zum Fahrzeugbus zurückgegriffen direkte Hardware-Anbindung gestaltet sein.
2 werden. Für die Verarbeitung wird ein zusätzliches
Steuergerät in ein vorhandenes Steuergerätenetz- Virtuelle Integration  In der virtuellen Integration
werk integriert. Der Umfang der Ausgabe der In- wird in diesem Schritt die bereits in der Simulation
3 formation wird über eine entsprechende Nachricht vorhandene Gesamtfunktionalität in Teilumfänge
auf dem gleichen Fahrzeugbus realisiert, auf dem gegliedert. Die Teilumfänge entsprechen den im
4 auch die Sensorinformationen empfangen werden. System-Design festgelegten Tasks beziehungsweise
Die Verarbeitung der Nachricht erfolgt als akusti- der Modellverfeinerung von Sensoren und Aktoren
5 sche Warnmeldung über das Infotainment-System von einem idealen in Richtung eines realen Verhal-
des Fahrzeuges. Die hierfür genutzten und im Fol- tens. Dies geschieht durch eine entsprechende Mo-
genden nicht veränderbaren Schnittstellen werden dellierung in der Simulationsumgebung. Ist im Wei-
6 in ihren technischen Details beschrieben. Auch teren eine automatische Codegenerierung geplant,
in diesem Entwicklungsschritt werden Testfälle richtet sich diese für die Tasks nach den Vorgaben,
7 formuliert, die im Wesentlichen die Schnittstellen die sich aus dem verwendeten Programm ergeben.
zwischen den festgelegten Funktionsteilen prüfen. In der Simulation werden die zuvor formulierten
Tests der Schnittstellen durchgeführt.
8 Virtuelle Integration  Basierend auf den zuvor er-
stellten Simulationsmodellen resultiert aus der Ergebnis  Das System-Design ist auf der Ebene der
9 Aufteilung der bisher modellierten Kundenfunk- Komponentenschnittstelle mit Hilfe der virtuellen
tion in die beschriebenen Funktionsteile eine wei- Integration verifiziert. Dies ist ein wesentlicher
10 tere Detaillierung der Spezifikationen. Die Schnitt- Vorteil gegenüber dem klassischen Vorgehen im
stellen zwischen den Funktionsteilen werden den V-Modell, in dem dies zu diesem Zeitpunkt noch
tatsächlichen technischen Gegebenheiten in Bezug nicht möglich ist. Eine spätere Änderung der Kom-
11 auf zeitliches Verhalten und verfügbare Bandbreite ponentenschnittstelle bringt eine erhebliche Än-
angepasst und die zu diesem Schritt formulierten derung in ihrem Design mit sich. Diese Änderung
12 Testfälle erneut in der Simulation durchgeführt. kann zusätzlich zu Änderungen im System-Design
führen.
Ergebnis  Als Ergebnis aus diesem Schritt ist durch
13 die virtuelle Integration die Beurteilung der Auswir- 8.4.1.5 Komponenten-Design
kungen auf die Kundenfunktion möglich geworden, V-Modell In diesem Schritt werden die Black-
14 die sich durch deren Integration in ein vorhandenes box-Beschreibungen aus dem System-Design in
Steuergerätenetzwerk ergeben. eine detaillierte Komponentenspezifikation über-
15 8.4.1.4 System-Design
führt. In dieser Spezifikation ist der interne Daten-
und Kontrollfluss der jeweiligen Tasks beschrieben.
V-Modell Das System-Design konzentriert sich in Es liegt zum Abschluss eine Whitebox-Beschrei-
16 diesem Beispiel auf die Festlegung der Software- bung für jeden Task vor. Die dazu formulierten
architektur zur Realisierung der Kundenfunktion. Testfälle konzentrieren sich auf den Test der zu den
17 Hierbei wird die erforderliche Funktionalität in ver- jeweiligen Tasks gehörenden Algorithmen.
schiedene Tasks aufgeteilt und deren Schnittstellen
festgelegt. Es erfolgt eine Partitionierung der Tasks Virtuelle Integration  Gegebenenfalls wird in der vir-
18 auf die beteiligten Steuergeräte. Die Beschreibung tuellen Integration eine Anpassung der zuvor bereits
der Tasks wird als Blackbox-Beschreibung formu- auf Systemebene erstellten Funktionalität durchge-
19 liert. Benötigte Sensoren oder Aktoren werden in führt. Oftmals ist hier keine wesentliche Anpassung
ähnlicher Form spezifiziert. Die in diesem Schritt mehr notwendig, da das Komponenten-Design das
20 festgelegten Testfälle beziehen sich im Wesentlichen Resultat aus den vorherigen Entwicklungsschritten
auf den Test der Schnittstelle der einzelnen Kompo- ist, die alle bereits in der virtuellen Integration um-
8.4  •  Virtuelle Integration im Entwicklungsprozess
135 8

gesetzt wurden. Die formulierten Testfälle werden ergeben sich erhebliche Vorteile in Bezug auf die
auch hier in der Simulation durchgeführt. Qualität und Wirtschaftlichkeit dieses Prozess-
schritts.
Ergebnis  Durch die virtuelle Integration liegen als
Ergebnis der Funktionsspezifikation nun getestete
virtuelle Komponenten vor. Für die folgende Im- 8.4.2 Integrieren mit Hilfe
plementierung ergibt sich daraus der Vorteil, dass der virtuellen Integration
schon eine hinreichende Sicherheit über die Kor-
rektheit der Spezifikation zur Implementierung Es folgt nun die Beschreibung, wie die betrachtete
vorliegt. Kundenfunktion schrittweise nach dem V-Modell
integriert wird. Die Integration profitiert von der
Zwischenfazit Die im Beispiel verwendete Kun- entsprechenden Vorarbeit in Form der Vereinfa-
denfunktion wurde vom Autor mit Hilfe der be- chung des Ablaufs bei erhöhter Qualität.
schriebenen virtuellen Integration entwickelt. Zum
Einsatz kam dabei eine Integrations- und Test- 8.4.2.1 Komponententest
plattform [10] und ein Autorenwerkzeug [11] zur V-Modell  Die einzelne Komponente wird mit Hilfe
eigentlichen Funktionsentwicklung. Tatsächlich der HiL-Methode in einem Whitebox-Ansatz auf
wurden dadurch eine Vielzahl von kleineren und ihr Verhalten gemäß der Spezifikation verifiziert.
größeren Spezifikationsfehlern entdeckt und damit
frühzeitig behoben. Die Fehler betrafen überwie- Virtuelle Integration Es werden die identischen
gend fehlende Festlegungen oder fehlerhafte An- Testfälle wie im Schritt des Komponenten-Designs
nahmen. So wurde zum Beispiel die geometrische verwendet. Dazu ist es notwendig, dass die Simu-
Ausdehnung der verfolgten Objekte, das erforderli- lationsumgebung entsprechende I/O-Messtechnik
che zeitliche Verhalten zwischen der Objekterken- ansprechen kann. Im Unterschied zum Testen des
nung und Objektverfolgung oder das Verhalten bei Komponenten-Designs wird die Schnittstelle zur
zeitgleicher Mehrfachwarnung zunächst nicht fest- Komponente in diesem Schritt mit realen Signalen
gelegt beziehungsweise nicht korrekt angenommen. stimuliert beziehungsweise ausgelesen. Dieses Vor-
Diese Fehler dürfen als durchaus typisch gelten und gehen führt zu einer direkten Vergleichbarkeit der
können im klassischen Entwicklungsprozess nach Ergebnisse des Komponententests aus dem ab- und
dem V-Modell erst in den letzten beiden Schritten aufsteigenden Ast des V-Modells.
festgestellt werden. Die Vorteile der virtuellen In-
tegration konnten hier deutlich im realen Projekt Ergebnis  Die Wiederverwendbarkeit der Testfälle
gezeigt werden. und die Vergleichbarkeit der Testergebnisse zwi-
schen der virtuellen und realen Implementierung
8.4.1.6 Implementierung der einzelnen Komponenten ermöglicht die effizi-
V-Modell  Abhängig von der Komponente erfolgt ente Untersuchung und Bewertung von beobachte-
deren Implementierung. ten Abweichungen auf deren Ursache.

Virtuelle Integration  Da alle Komponenten bereits 8.4.2.2 Systemtest


vorliegen, ist in der virtuellen Integration zu die- V-Modell  Die Anzahl der gemeinsam getesteten
sem Entwicklungsschritt keine explizite Aktivität Komponenten wird schrittweise erhöht, bis alle
notwendig. Für den Fall, dass eine automatische Komponenten des getesteten Systems real einge-
Codegenerierung zum Einsatz kommt, wird sie hier bunden sind. Auch kommen die HiL-Methode
angewendet. und die Testfälle aus dem System-Design zur An-
wendung.
Ergebnis  Wird eine automatische Codegenerierung
eingesetzt, können die bisher erstellten virtuellen Virtuelle Integration Ähnlich wie im vorherigen
Komponenten direkt verwendet werden. Dadurch Schritt kann die Simulationsumgebung zur Durch-
136 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

führung der Testfälle genutzt werden. Aufgrund der 8.4.2.4 Applikation


1 modularen Gesamtstruktur, die sich aus dem V-Mo- V-Modell  Die Kundenfunktion wird im realen Ge-
dell ergibt, kann schrittweise die Anzahl der realen samtsystem appliziert. Im verwendeten Beispiel be-
2 Komponenten erhöht und in der Simulationsumge- trifft dies unter anderem den Warnabstand zwischen
bung entsprechend reduziert werden. Objekt und eigenem Fahrzeug. Idealerweise kommt
für diesen Schritt die ViL-Methode zum Einsatz.
3 Ergebnis  Die modulare Gesamtstruktur und deren
Abbildung als virtuelle Integration ermöglichen ei- Virtuelle Integration In Verbindung mit der
4 nen gezielten und reproduzierbaren Systemtest. Zu- ViL-Methode kann das reale Fahrzeug in diesem
dem ist es möglich, Variationen in der Reihenfolge Prozessschritt in eine virtuelle Umwelt integriert
5 des Systemtests durchzuführen. werden. Dadurch lassen sich Testvarianten, die sich
aus dem Fahrzeug und den Testfällen ergeben, sehr
8.4.2.3 Integrationstest viel effizienter applizieren.
6 V-Modell Im Integrationstest kommt erstmalig die
neue Kundenfunktionalität mit dem Gesamtsystem Ergebnis  Die Verwendung der virtuellen Integra-
7 in Verbindung. Der simulierte Umfang reduziert tion in Verbindung mit der ViL-Methode erlaubt
sich unter Umständen bis auf die Versuchsbestand- ein effizientes Applizieren der Kundenfunktion.
teile Fahrer und Umfeld. Für die im Beispiel verwen- Die Effizienz und Reproduzierbarkeit der dafür be-
8 dete Kundenfunktion werden hier die Integration nötigten Testfälle kann damit erheblich gesteigert
mit dem Infotainment-System durchgeführt und werden.
9 die im Prozessschritt der technischen Architektur
genutzten Testfälle angewandt. Auch hier findet die 8.4.2.5 Akzeptanztest
10 HiL-Methode ihre Anwendung. Bei entsprechend V-Modell  Im letzten Entwicklungsschritt nach dem
hoher Interaktion mit mehreren Funktionsdomä- V-Modell wird die Akzeptanz des Kunden für die
nen im Fahrzeug kann es auch sinnvoll sein, bereits neue Funktion getestet. Dies geschieht idealerweise
11 in diesem Schritt die Vehicle-in-the-Loop-Methode mit einem realen Fahrzeug in einer realen Umge-
einzuführen. bung. Die ViL-Methode kann durchaus noch instal-
12 liert sein, um dem Kunden Varianten oder Alterna-
Virtuelle Integration Für die Simulationsumge- tiven vorzustellen, die ansonsten eine physikalische
bung, in der die virtuelle Integration durchgeführt Änderung am Zielfahrzeug bedeuten würden.
13 wurde, ist dieser Schritt lediglich eine weitere Re-
duzierung der zur Verfügung gestellten Simulation. Virtuelle Integration  Die Virtuelle Integration spielt
14 Die Reduzierung betrifft vor allem die Funktions- bei diesem Schritt nur noch eine untergeordnete
bereiche des Fahrzeugs, die mit der neuen Kun- Rolle und kann durchaus auch komplett entfallen.
15 denfunktion interagieren. Die verwendete in-the-
Loop-Methode ist für die virtuelle Integration Ergebnis  Da die in diesem Entwicklungsschritt ver-
hier weitestgehend unbedeutend, da die virtuelle wendeten Testfälle bereits zu Beginn der Entwick-
16 Integration grundsätzlich nicht an einen Prüfstand lung mit Hilfe der Virtuellen Integration getestet
beziehungsweise ein Versuchsfahrzeug gebunden wurden, ist der größte Nachteil des V-Modells,
17 ist. Dies gilt auch für die verwendeten Testfälle, die nämlich die formal späte Validierung der Kunden-
sich zwischen den in-the-Loop-Methoden nicht anforderung, weitestgehend beseitigt.
unterscheiden.
18
Ergebnis  Die Kundenfunktion ist im Gesamtfahr- 8.5 Grenzen der virtuellen
19 zeug verifiziert. Wird die ViL-Methode verwendet, Integration
ist die Funktion bereits erlebbar. Die virtuelle In-
20 tegration erlaubt einen gezielten und schrittweisen Die beschriebene virtuelle Integration wird trotz der
Integrationstest. ausgewiesenen Vorteile heute noch nicht in jedem
8.6 • Fazit
137 8

Entwicklungsprojekt angewendet. Der hauptsächli- entweder noch die nötige Vollständigkeit oder eine
che Grund dafür ist die benötigte Realitätsnähe und anwenderübergreifende Akzeptanz fehlt.
Echtzeitfähigkeit der verwendeten Simulationsmo- Die Komplexität der simulierten Umwelt wird
delle. Dies betrifft vor allem die Simulation der Um- durch die Anzahl der darin enthaltenen Merkmale
feldsensorik und das eigentliche Umfeld. und der Anforderung an deren Abbildungsgüte ge-
trieben. Statische und dynamische Objekte im simu-
lierten Umfeld können in nahezu beliebiger Kombi-
8.5.1 Simulation von Umfeldsensorik nation und in beliebiger Interaktion auftreten. Die
daraus entstehende Menge an Szenarien ist genauso
Eine Voraussetzung zum sinnvollen Einsatz der unendlich wie die Anzahl von alltäglichen Szenen
virtuellen Integration ist die valide Abbildung des im Straßenverkehr. Für die Entwicklung einer Kun-
Umfelds und der Umfeldsensorik in der Simula- denfunktion und für die dazu verwendete Simula-
tion. Zu starke Vereinfachungen verletzen die Va- tion gibt es allerdings ressourcenbedingte Grenzen,
liditätsanforderung, was dazu führt, dass sich die die zu einer Reduktion auf eine endliche Anzahl von
Ergebnisse vom absteigenden nicht auf den aufstei- Szenarien hinausläuft. Daher wird es unter Umstän-
genden Ast des V-Modells übertragen lassen. Dies den notwendig sein, zu einer standardisierten und
entspricht der einleitend in ▶ Abschn. 8.1 erwähn- den Anforderungen genügenden Beschreibung
ten Optimierungsaufgabe. Ist die Abbildung von für der Umwelt für eine Simulation einen Katalog von
die Funktion benötigten komplexen physikalischen Szenarien zu definieren, die für typische Fahreras-
Effekten in der Simulationsumgebung zu aufwändig sistenzfunktionen relevant sind. Die Auswahl der
oder im Echtzeitkontext nicht möglich, kann das ein Szenarien für den Katalog muss so gewählt werden,
Ausschlusskriterium für die Anwendung der virtu- dass mit ihnen möglichst viele ähnliche Szenarien
ellen Integration sein. Ansätze zur Verbesserung abgedeckt werden. Die Reduktion auf eine endli-
befinden sich in Diskussion und Entwicklung [12, che Anzahl von Szenarien erscheint zunächst als
13, 14]. Bisher hat sich jedoch noch kein Ansatz als sehr starke Einschränkung und ist bedenklich im
vollständig zielführend in Bezug auf die Validität Hinblick auf die funktionale Sicherheit. Allerdings
des Umfeldmodells herausgestellt, da entweder die haben andere Industriebereiche oder Domänen im
Detaillierung oder der Rechenzeitbedarf nicht auf Fahrzeug bereits gezeigt, dass dieses Vorgehen zu
die Anforderungen passen. einer Effizienzsteigerung führen kann.

8.5.2 Simulation der Umwelt 8.6 Fazit

Parallel mit der Anforderung, die Umfeldsensorik Die virtuelle Integration ist grundsätzlich kein
valide zu simulieren, entsteht die Anforderung, die vollständig neuer Prozess in der Entwicklung von
Umwelt gleichermaßen realistisch in der Simula- Funktionen im Fahrzeug. Sie nutzt etablierte Pro-
tion abzubilden. Dies ist notwendig, um überhaupt zessmodelle und Methoden und erweitert sie unter
das Zusammenspiel aus Sensoren und Umwelt in Verwendung der Metapher des in ▶ Abschn. 8.1
der virtuellen Integration entsprechend abdecken beschriebenen virtuellen Fahrversuchs. Damit
zu können. Im Gegensatz zur Simulation von Um- bietet die virtuelle Integration ein Instrument, um
feldsensorik ist die Simulation der Umwelt auch komplexe, sicherheitskritische und hoch vernetzte
für andere Industriebereiche von Interesse. Daher Funktionalitäten für das Fahrzeug zu entwickeln.
existieren hier schon seit längerem Ideen und In- Fahrerassistenzsysteme besitzen zumeist diese Ei-
itiativen, die sich dem Ziel verschrieben haben, genschaften und profitieren damit in hohem Maße
eine einheitliche und ausreichende Spezifikation zu von der virtuellen Integration.
erstellen [15, 16]. Ein einheitlicher Standard oder Um die virtuelle Integration anwenden zu kön-
ein de-facto Standard hat sich bisher noch nicht nen, ist eine leistungsfähige und flexible Simulati-
herauskristallisiert, da den derzeitigen Aktivitäten onsumgebung notwendig. Die nötigen Eigenschaf-
138 Kapitel 8  •  Virtuelle Integration

ten dieser Simulationsumgebung gehen deutlich 4 V-Modell XT: http://www.cio.bund.de/Web/DE/Architek-


1 über die Simulation eines physikalischen Verhaltens
turen-und-Standards/V-Modell-XT/vmodell_xt_node.html
(09/2014)
hinaus und umfassen auch die Anbindung an ver- 5 Winner, H.: Challenges of Automotive Systems Engineering
2 schiedene reale Komponenten. Daher ist es sinn- for Industry and Academia. In: Maurer, M., Winner, H. (Hrsg.)
voller, wie in ▶ Abschn. 8.1 ausgeführt, von einer Automotive Systems Engineering. Springer, Heidelberg
Integrationsumgebung oder einer Integrationsplatt- (2013)
3 form für den virtuellen Fahrversuch zu sprechen.
6 Palm, H., Holzmann, J., Schneider, S.-A., Koegeler, H.-M.:
The future of car design – Systems engineering based op-
Die Simulation von physikalischem Verhalten ist ein timisation. ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 115(06),
4 Aufgabenteil der Integrationsplattform, sie umfasst 42–47 (2013)
aber auch die Art des Testens und die Möglichkeiten 7 Schäuffele, J., Zurawka, T.: Automotive Software Enginee-

5 der effizienteren Zusammenarbeit von Fahrzeug- ring, 5. Aufl. Springer Vieweg, Wiesbaden (2013)
herstellern und Systemzulieferern (▶ Abschn. 8.2).
8 Martinus, M., Deicke, M., Folie, M.: Virtual test driving –
Hardware independant integration of series software. ATZ
Grenzen der virtuellen Integration sind im We-
6 sentlichen bei der Simulation der Umfeldsensorik
Elektronik 8(05), 16–21 (2013)
9 Miquet, C., et al.: New test method for reproducible re-
und der Umwelt zu finden. Hier existiert derzeit al-time tests of ADAS ECUs: “Vehicle-in-the-Loop” connects
7 eine Detaillierung, die vor allem wegen aktueller real-world vehicles with the virtual world. In: Pfeffer, P.: “5th
International Munich Chassis Symposium 2014”. Springer,
Grenzen in der zur Verfügung stehenden Rechen-
Wiesbaden (2014)
leistung noch nicht für alle Anwendungen ausrei-
8 chend die reale Welt und die verwendeten Senso-
10 IPG Automotive GmbH: CarMaker. (2014). 05/2014
11 MathWorks: MATLAB (2014). 05/2014
ren abbildet. Trotz dieser Beschränkungen können 12 Schick, B., Schmidt, S.: Evaluation of video-based driver as-
9 Fahrerassistenzsysteme mittels der virtuellen Integ- sistance systems with sensor data fusion by using virtual
ration und unter Verwendung der in ▶ Abschn. 8.3
test driving FISITA World Automotive Congress, Beijing,
China. (2012)
10 dargestellten in-the-Loop-Methoden wesentlich 13 Roth, E., et al.: ADAS Testing using OptiX NVIDIA GTC, San
effizienter und risikoärmer entwickelt werden, wie Jose, USA. (2012)
es beispielhaft für die in ▶ Abschn. 8.4 entwickelte 14 Roth, E., Dirndorfer, T., Knoll, A., et al.: Analysis and valida-
11 Funktion dargestellt wurde. tion of perception sensor models in an integrated vehicle
and environment simulation. TUM Paper, 11–0301, 11–31.
Eine vollständige Virtualisierung der Funkti-
http://www6.in.tum.de/Main/Publications/Roth2011a.pdf
12 onsentwicklung in der Domäne der Fahrerassistenz 15 OpenDrive: http://www.opendrive.org/ (07/2014)
ist trotz aller Vorteile der virtuellen Integration auf 16 Infrastructure for Spatial Information in Europe: http://ins-
Basis des virtuellen Fahrversuchs jedoch auch in
13 ferner Zukunft nicht zu erwarten. Die notwendige
pire.ec.europa.eu (08/2014)

ständige Erweiterung von Testfällen, die im realen


14 Testbetrieb für relevant klassifiziert werden, und der
subjektive Eindruck von Probanden bleiben min-
15 destens zwei Gründe dafür, den realen Fahrversuch
neben dem virtuellen Fahrversuch als festen Pro-
zessbestandteil beizubehalten.
16
17 Literatur

18 Verwendete Literatur
1 FMI Development Group: FMI – The Functional Mock-up

19 Interface (2014)
2 Schneider, S.-A., Frimberger, J., Folie, M.: Reduced valida-
tion effort for dynamic light functions. ATZ Elektronik 9(2),

20 16–20 (2014)
3 V-Modell: http://de.wikipedia.org/wiki/V-Modell (09/2014)
139 9

Dynamische Fahrsimulatoren
Hans-Peter Schöner, Bernhard Morys

9.1 Allgemeiner Überblick über Fahrsimulatoren  –  140


9.2 Aufbau eines dynamischen Fahrsimulators am
Beispiel des Daimler-Fahrsimulators  –  143
9.3 Versuchskonzeption – 146
9.4 Problematik der Übertragbarkeit, der Realitätsnähe
und des Gefahrenempfindens  –  152
9.5 Zusammenfassung und Ausblick  –  153
Literatur – 154

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
140 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

9.1 Allgemeiner Überblick rerassistenzsystemen erlauben Fahrsimulationen


1 über Fahrsimulatoren eine genaue Einstellbarkeit und hohe Reprodu-
zierbarkeit der zu untersuchenden Fahrsituationen,
2 9.1.1 Einsatz von Fahrsimulatoren eine gefahrlose Darstellung kritischer Situationen
sowie eine einfache und schnelle Variation von
Fahrsimulatoren werden in der Automobilindustrie Fahrzeug- und Umgebungsparametern. Ergänzend
3 und in automobilen Forschungseinrichtungen für werden auf Prüfgeländen und im Straßenverkehr
verschiedenste Einsatzzwecke genutzt; insbesondere vielfältige Verkehrssituationen auf Basis der rea-
4 sind dabei die folgenden Schwerpunkte zu nennen len Fahrzeuge statt der modellhaft angenäherten
(mit steigenden Anforderungen an die Realitäts- im Fahrsimulator getestet. Gemeinsam mit solch
5
-
nähe der Bewegungssimulation):
funktionale Fahrzeugdemonstrationen, Werbe-
realen Erprobungen stellen Fahrsimulatoren in-
zwischen ein unverzichtbares Hilfsmittel für die

6
- maßnahmen mit Erlebnischarakter;
Untersuchung von Kabinen-, Anzeige- und
Bedienkonzepten (Erreichbarkeit, Übersicht-
effiziente und umfassende Absicherung von Assis-
tenzsystemen dar.

7
- lichkeit, Verständlichkeit, …);
Training für Fahrzeugführer (verbrauchsarme 9.1.2 Beispiele für dynamische

- Fahrweisen, Einsatzfahrzeuge, Formel 1, …); Fahrsimulatoren


8 Untersuchungen zur Unfallforschung (Unfall-

9
10
- rekonstruktionen, Verhaltensanalyse, …);
Erforschung des Fahrerverhaltens und
Erstellung von Fahrermodellen (Müdigkeit,
Aufmerksamkeit, Reaktionsvermögen, …) als
Einen Überblick über die historische Entwicklung
von Fahrsimulatoren findet man in [1]. Ein ers-
ter automobiler Fahrsimulator wurde in den 70er
Jahren von Volkswagen mit den drei Bewegungs-

11 - Basis für Offline-Simulationen;


Erprobung und Absicherung von Fahrerassis-
tenzsystemen (Wirksamkeit, Beherrschbarkeit,
freiheitsgraden für Gieren, Wanken und Nicken
realisiert. Das VTI (Swedish National Road and
Transport Research Institute) in Linköping [2] be-

12
13
- statistische Nutzenanalyse, …);
Entwicklung von Fahrwerken und Fahrdy-
namik-Regelsystemen (Variantenanalyse,
Parameter-Abstimmung, …).
schränkte sich ebenfalls auf ein Bewegungssystem
mit drei Freiheitsgraden, allerdings für Wanken,
Nicken und Querbewegung (s.  . Abb. 9.1a), er-
gänzt um Vibrationen in Wank-, Nick-, Längs-
und Hubrichtung. Daimler-Benz nahm 1985 in
Der Fokus aller dieser Anwendungen liegt auf der Berlin [3] ein in Anlehnung an Flugsimulatoren
14 Wechselwirkung des Menschen in der Aufgabe als konzipiertes System in Betrieb; es war mit ei-
Fahrer mit dem technischen System „Fahrzeug“, nem hydraulischen Hexapod (Stewart-Plattform
15 insbesondere in schwierigen Verkehrsszenarien mit allen sechs Freiheitsgraden) ausgestattet, das
(Fremdverkehr, Hindernisse, Gefährdungen, …) und seinerzeit den weltweit größten Bewegungsraum
unter Einbeziehung von variablen Umfeldsituationen ermöglichte (s.  . Abb. 9.1b). Inzwischen besitzt
16 (Fahrbahn, Wetter, Licht, …). Je nach Anwendung fast jeder große Automobilhersteller, ebenso wie
gibt es eine Vielzahl von technischen Realisierungen einige große Forschungsinstitute, einen eigenen
17 der Fahrsimulatoren, angefangen bei einer statischen dynamischen Fahrsimulator. Je nach Anwen-
Bildschirm-Lenkrad-Pedalerie-Kombination auf dungsschwerpunkt und Budgetrahmen wurden
PC-Basis bis hin zu dynamischen Großsimulatoren unterschiedliche Systemkonzepte ausgewählt, je-
18 mit perfektionierten Immersionstechnologien zur doch ist ein Hexapod, ergänzt um Linearachsen,
Vorspiegelung einer virtuellen Welt, sowohl bezüglich die häufigste Bauform.
19 Bewegungssystem als auch bezüglich der auditiven, Für eine Anwendung des Fahrsimulators
haptischen und visuellen Umgebungssimulation. als Entwicklungshilfsmittel für fahrdynamische
20 Bezogen auf den hier näher zu betrachtenden Untersuchungen ist die genaue Beurteilung der
Einsatz zur Erprobung und Absicherung von Fah- Querdynamikeigenschaften von größter Bedeu-
9.1  •  Allgemeiner Überblick über Fahrsimulatoren
141 9

.. Abb. 9.1  Erste dynamische Fahrsimulator-Konzepte: a VTI in Linköping (mit freundlicher Genehmigung von VTI), b Daim-
ler-Benz in Berlin (Quelle: a VTI Linköping, b Daimler AG)

tung. Aus diesem Grunde wurde bei einer Über- Iowa von 2000, [6]) der bisher größte Fahrsimula-
arbeitung des Daimler-Fahrsimulators in Berlin tor mit einem Bewegungsraum von 20 m × 35 m re-
im Jahre 1993 eine Querachse von 6 m Länge er- alisiert (s. . Abb. 9.2). Das Bildsystem muss zudem
gänzt, welche die Fahrzeugquerdynamik bei einem die schnellen Gierbewegungen ruckelfrei und vor
Spurwechselmanöver exakt abbilden kann [4]. Bei allem verzögerungsfrei darstellen können, um bei
Untersuchungen mit Probanden ist die Vermei- den Probanden ein insgesamt konsistentes Bewe-
dung der Kinetose (Simulatorkrankheit) wichtig; gungsempfinden hervorzurufen.
eine möglichst exakte Koordination von visuel- Die notwendige Größe zur Abbildung der Ab-
lem Erleben und Bewegungseindruck sind dafür biegemanöver geht auf Kosten der Dynamik, wo-
entscheidend. Neue, reibungsarme Hexapod-Ak- durch ein so großes System für die Untersuchung
toren, die Einführung digitaler Regelungen und schneller fahrdynamischer Manöver weniger ge-
ein vergrößertes Ausleuchtungsfeld des Projekti- eignet ist. Aufwand, Kosten und technische Be-
onssystems boten ab 2004 im Daimler-Simulator herrschbarkeit solch großer mechanischer Systeme
die Voraussetzung dafür. Durch die Abstimmung sind zudem für viele Anwender nicht akzeptabel, so
des Bild- und Bewegungssystems konnte die Aus- dass es eine Vielzahl von Lösungsansätzen gibt, mit
fallrate durch Kinetose bei den zahlreichen Pro- einem alternativen Bewegungssystem ähnliche Si-
bandenuntersuchungen auf unter 2 % reduziert mulatoreigenschaften zu erzeugen. Folgende gänz-
werden [5]. lich unterschiedliche Ansätze seien hier beispielhaft
Eine der größten Herausforderungen an das
Bild- und das Bewegungssystem von Fahrsimulato-
ren ist die realistische Darstellung von Abbiegema-
növern in Kreuzungen, die im Allgemeinen beim
-
genannt (s. . Abb. 9.3):
System „Desdemona“ der Fa. AMST mit einer
Realisierung bei TNO [7], welches auf der
Basis einer großen Zentrifuge und mehrerer
Fahren in Innenstadtszenarien auftreten. Dabei ineinander verschachtelter Drehachsen die
muss zunächst für ein exaktes Bewegungsemp- notwendigen Beschleunigungskräfte in sechs
finden ein großer Bewegungsraum bereitgestellt
werden, der in etwa die Größe des bei einer realen
Kreuzung überfahrenen Bereiches besitzt. Aus die-
sem Grund wurde 2006 bei Toyota (Hexapod auf
- Achsen bereitstellt;
Roboter-Arm-System der Fa. Kuka, mit einer
Realisierung beim Max-Planck-Institut in
Tübingen [8]; hier wird ein aus der Produk-
x-y-Schlitten, etwa baugleich mit dem NADS in tionstechnik verfügbares Bewegungssystem
142 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

1
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.. Abb. 9.2  Toyotas Fahrsimulator in Higashi-Fuji [6]

10
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19
20 .. Abb. 9.3  Fahrsimulatoren mit alternativen Bewegungskonzepten: a Desdemona [7], b MPI Tübingen [8, Cora Kürner,
Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik], c FZD TU-Darmstadt [9]
9.2  •  Aufbau eines dynamischen Fahrsimulators am Beispiel des Daimler-Fahrsimulators
143 9

eingesetzt, um die benötigten Beschleuni-


gungskräfte bereitzustellen; eine zusätzliche
lange Bewegungsachse wird durch ein Schie-

- nensystem bereitgestellt;
das Konzept des „Wheeled Mobile Driving
Simulator“ wird im Forschungsstadium an der
TU Darmstadt [9] verfolgt; das freifahrende
System verfügt auf einem ausreichend großen
freien Gelände über den notwendigen Bewe-
gungsraum bei relativ geringen Kosten.

9.2 Aufbau eines dynamischen


Fahrsimulators am Beispiel
des Daimler-Fahrsimulators

Im Jahre  2010 wurde bei Daimler in Sindelfin-


.. Abb. 9.4  Der Daimler-Fahrsimulator in Sindelfingen: Bewe-
gen ein Fahrsimulator in Betrieb genommen [10]
gungssystem (Quelle: Daimler AG)
(s. . Abb. 9.4), der aufbauend auf einer 30-jährigen
Erfahrung mit dem Vorgängersimulator in Berlin
konzipiert wurde. Die Detailauslegung erfolgte be- vern für Stadtfahrten wurde aufgrund der damit
züglich Dynamik für die Untersuchung von Fahr- einhergehenden Einschränkungen in der Dynamik
werkseigenschaften und bezüglich Variabilität und verzichtet; dies wird bei der Konzeption von Ver-
Realitätsnähe mit Blick auf Probandenuntersuchun- suchen durch Vermeidung von Abbiege-Szenarien
gen für Fahrerassistenzsysteme. berücksichtigt und bedeutet für die in der Praxis
auftretenden Fragestellungen nur eine untergeord-
nete Einschränkung.
9.2.1 Bewegungssystem Das gesamte Bewegungssystem wurde mit der
Zielsetzung einer möglichst geringen Reibung re-
Der Fahrsimulator basiert auf einem Bewegungs- alisiert. Die Lagerung des auf der Linearachse be-
system mit einer 12,5 m langen elektrisch ange- wegten Schlittens geschieht auf Luftlagern; dies er-
triebenen Linearachse und einem elektromecha- fordert eine hochpräzise Fertigung und Installation
nischen Hexapod. Mithilfe eines Drehtellers kann der Führungsschienen. Auch bei der Auslegung und
die Fahrzeugkabine im Inneren des Leichtbau- Regelung der elektromechanischen Hexapod-Ak-
CFK-Doms um 90° gedreht werden, so dass die toren wurde auf die Reibungskompensation große
Linearachse zur Darstellung von Fahrzeuglängs- Sorgfalt gelegt.
und -querbewegungen mit maximalen Beschleu-
nigungen bis zu 10 m/s² genutzt werden kann. Das
Bewegungssystem ist damit in der Lage, über Be- 9.2.2 Fahrer-Umfeld
schleunigungen in allen sechs Raum-Freiheitsgra-
den dem Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) Probandenuntersuchungen, wie sie zur Konzept-
des Probanden einen präzisen Bewegungseindruck findung und Absicherung von Assistenzsystemen
zu vermitteln. benötigt werden, erfordern im Besonderen, dass
Die Auslegung der Dynamik des Bewegungs- die Probanden sich ganz und gar wie in einer rea-
systems beruht im Wesentlichen auf den Anforde- len Fahrsituation fühlen. Deswegen ist der Zugang
rungen für Fahrdynamikuntersuchungen bis in den zum Dom des Fahrsimulators so gestaltet, dass der
Grenzbereich hinein. Auf eine zweite lange Achse Proband die Fahrsimulator-Technik nicht einsehen
zur verbesserten Realisierung von Abbiegemanö- kann; er findet im Dom ein auf der Straße stehendes
144 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

Fahrer. Zusätzlich sind die beiden Außenspiegel


1 der Fahrzeugkabine durch LCD-Displays ersetzt,
in denen für den Fahrerplatz richtige Sichten auf
2 die Umgebung dargestellt werden. In Kombination
mit der verwendeten Bild- und Verkehrssimulati-
onssoftware ist eine ganzheitlich realitätsnahe Dar-
3 stellung von Fahrsituationen und Fahrmanövern
bei Tag- und bei Nachtszenarien durch die folgend
4 genannten Kernelemente gewährleistet.
Für den realistischen Eindruck spielen Auflö-
5 sung, Schatten und Spiegelungen eine große Rolle;
hier hat es in den letzten Jahren erhebliche Fort-
schritte in der Darstellung von virtuellen Welten
6 gegeben. Die Darstellung von Lichtern sowie die da-
raus resultierende Beleuchtung in der Szene haben
7 insbesondere bei Fahrten in der Dunkelheit Bedeu-
tung. Für Fahrten auf Autobahnen und Landstraßen
.. Abb. 9.5  Der Daimler-Fahrsimulator in Sindelfingen: Fahr-
ist meist der Fremdverkehr in Form von bewegten,
8 zeug im Dom (Quelle: Daimler AG)
aber starren Fahrzeugen mit einfachen Modellen
für das Fahrerverhalten ausreichend. In städtischen
9 reales Fahrzeug vor, das sich von einem Serienfahr- Szenarien wird dagegen die Belebung von Straßen
zeug für ihn nicht unterscheidet (s. . Abb. 9.5). Dies mit naturgetreu bewegten Verkehrsteilnehmern, wie
10 gilt damit auch für die Bedienelemente des Fahr- z. B. Fußgängern oder Radfahrern, durch Ampeln
zeugs und für alle sonstigen sichtbaren und erleb- mit Lichtwechseln und vom Wind bewegten Ob-
baren Objekte. Der Proband setzt das Fahrzeug wie jekten immer wichtiger. Die Beeinflussbarkeit des
11 in der Realität auf der Straße in Bewegung; auch bei orts- und zeitgenauen Verhaltens von Verkehrsteil-
den Instruktionen an den Probanden wird darauf nehmern ist für die Gestaltung von Probandenver-
12 geachtet, dass die Wortwahl das Fahren eines echten suchen mit kritischen Verkehrsszenarien von ent-
Fahrzeugs impliziert. scheidender Bedeutung.
Tatsächlich sitzt der Fahrer in einer Kabine, die
13 aus einem Fahrzeug durch Ausbau aller nicht benö-
tigten Komponenten entstanden ist. In der Kabine 9.2.4 Soundsystem
14 sind andererseits Aktoren eingebaut, die das Pedal-
gefühl und das Lenkgefühl fahrgeschwindigkeitsab- Für den Probanden spielen die Fahrgeräusche eine
15 hängig realistisch nachbilden. Je nach Untersuchung wesentliche Rolle, um die Fahrsituation realitätsnah
werden verschiedene Pkw- und Lkw-Kabinen ein- zu erleben. Motor- und Fahrgeräusche werden des-
gesetzt; durch ein standardisiertes Anschlusssystem halb über ein Soundsystem abhängig von Motor-
16 sind die Kabinen schnell austauschbar. leistung, Drehzahl und Fahrgeschwindigkeit richtig
dargestellt; auch Straßenunebenheiten sollten sich
17 im Geräusch widerspiegeln. Dazu werden speziell
9.2.3 Bildsystem aufgenommene Geräusch-Samples aus Fahr- und
Prüfstandsversuchen je nach Fahrzustand adaptiert
18 Während der Proband über das Bewegungssystem und passend zusammengemischt [11]. Ohne solche
die Beschleunigungskräfte spürt, ist das Bildsystem Geräuscheindrücke ist die Geschwindigkeitsregel­
19 für den Eindruck der kontinuierlichen Bewegung aufgabe für Probanden deutlich schwieriger. Ge-
zuständig. Acht LCOS-Projektoren mit QXGA-Auf- räusche von vorbeifahrenden Fahrzeugen mit ihren
20 lösung (2048 × 1536 Pixel) erzeugen auf der Innen- vom Dopplereffekt erzeugten Spektralverschiebun-
fläche des Doms eine 360°-Rundumsicht für den gen müssen ebenfalls richtig nachgebildet werden,
9.2  •  Aufbau eines dynamischen Fahrsimulators am Beispiel des Daimler-Fahrsimulators
145 9

.. Tab. 9.1 Wahrnehmungsschwellen (Näherungswerte) [13]

Bewegung Richtung bzw. Beschleunigung Geschwindigkeit Frequenzbereich höchster


Achse Empfindlichkeit

translatorisch Longitudinal 0,17 m/s² – ca. 1 Hz

Lateral 0,17 m/s² – ca. 1 Hz

Vertikal 0,28 m/s² – ca. 1 Hz

rotatorisch Wanken 4–5°/s² ca. 3,0°/s ca. 1–10 Hz

Nicken 4–5°/s² ca. 3,6°/s ca. 1–10 Hz

Gieren 4–5°/s² ca. 2,6°/s ca. 1–10 Hz

um den Probanden die Verkehrssituationen reali- 9.2.6 Abbildung der Bewegung


tätsnah zu vermitteln. in den beschränkten
Bewegungsraum

9.2.5 Modelle der Fahrdynamik Aufgrund der physikalischen Zusammenhänge (der


und der Umgebung Weg ist das doppelte Integral der Beschleunigung
und damit der gefühlten Kräfte) kann eine Längs-
Das gesamte Fahrzeugbewegungsverhalten wird bewegung, die für ein reales Fahrzeug sehr lang sein
im Fahrsimulator in Echtzeit simuliert, da der Fah- kann, in einem Simulator nicht perfekt nachgebildet
rer als wesentliches Glied in den Regelkreis ein- werden. An dieser Stelle hilft es, dass der Mensch für
gebunden ist. Der Bewegungseindruck muss zum Beschleunigungskräfte im Vestibularorgan Wahr-
Fahrzeug passen. Deswegen sind je nach Fahrzeug nehmungsschwellen besitzt, unterhalb derer er diese
unterschiedliche Parametrierungen notwendig. Da nicht mehr wahrnimmt ([13], s.  . Tab. 9.1). Dies
bei Simulationen von Nutzfahrzeugen auch ganz an- erlaubt es, im Fahrsimulator eine langandauernde
dere Fahrzeugmodelle zum Einsatz kommen, ist bei Längsbeschleunigung oder -verzögerung durch ein
Daimler ein flexibles Interface des Fahrsimulators Verkippen des Domes mit einer Drehbeschleuni-
für verschiedene Echtzeit-Simulationsmodelle rea- gung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle nach-
lisiert. Fahrdynamik-Regelsysteme werden über das zubilden. Danach wirkt die Erdanziehungskraft mit
gleiche Interface angebunden. Für die Bereitstellung einer Komponente in Längsrichtung des Fahrzeugs
und Einbindung von Straßenmodellen sowie stati- und simuliert die Längsbeschleunigung. Wenn das
schen Umgebungsmodellen (Straßenszenen) wird Bildsystem die dazu passende Bewegungsdarstel-
ebenfalls vorzugsweise auf offene Standards (z. B. lung liefert, gelingt gegenüber dem Probanden die
„Open Drive“, [12]) zurückgegriffen. Sinnestäuschung. Dieser Vorgang wird „Tilt Coor-
Die Simulation von Assistenzsystemen erfordert dination“ genannt.
ein erweitertes Interface, da es hier meist auch um Auch kann der Mensch die absolute Größe von
die Berücksichtigung anderer Verkehrsteilnehmer Beschleunigungen nicht exakt bestimmen. Aus die-
geht: Zunächst muss der Umgebungsverkehr in sem Grund können die Beschleunigungskräfte in
geeigneter Form simuliert werden. Dies erfordert gewissem Maße (je nach Anwendung zwischen 0,6
Verhaltensmodelle der Verkehrsteilnehmer für und 1) skaliert werden, ohne den Bewegungsein-
alle relevanten Situationen. Zudem müssen die druck zu sehr zu verfälschen. Insgesamt erlauben
Ausgangsgrößen von Umfeldsensoren simuliert Tilt Coordination und Skalierung, die zu simu-
werden, welche aus der augenblicklichen Umge- lierende Bewegung in den Bewegungsraum des
bungssituation abgeleitet werden müssen. Hierzu Fahrsimulators so abzubilden, dass nach einem dy-
sind passende Modelle der Umgebungssensorik namischen Manöver der Fahrsimulator wieder in
notwendig. der Mitte seines Bewegungsraumes ankommt. Das
146 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

Filter, das eine solche Bewegungsumsetzung regelt, Situationen vermieden, die durch das Bewegungs-
1 wird als „Wash-Out“-Filter [13] bezeichnet. system nicht mit hoher Realitätsnähe nachgestellt
Zu beachten ist, dass die Wahrnehmungs- werden können.
2 schwellen gemäß . Tab. 9.1 davon stark abhängig
sind, ob der Proband sich auf das Bewegungsemp-
finden konzentriert, abgelenkt ist oder sogar die 9.2.8 Vorbereitungssimulatoren
3 Bewegung bewusst beeinflusst [14]. Für Bewertun-
gen von Fahrwerkssystemen, die immer von sehr Zur effizienten Vorbereitung neuer Versuche – auch
4 sensiblen und aufmerksamen Testfahrern durch- parallel zu laufenden Untersuchungen im dynami-
geführt werden, wird im Daimler-Fahrsimulator schen Simulator – werden bei Daimler zwei stati-
5 Tilt Coordination und Skalierung möglichst ver- sche Vorbereitungssimulatoren genutzt. Sie basie-
mieden; insbesondere wird die Querbewegung bei ren auf identischer Hard- und Software, verfügen
Spurwechsel- und Slalommanövern realitätsgetreu jedoch über kein Bewegungssystem. Das Umge-
6 nachgestellt. Bei Probandenversuchen für die Un- bungsbild wird hier mit bis zu sechs Kanälen rund
tersuchung von Fahrerassistenzsystemen hat sich um die Fahrzeugkabine projiziert. In diesen Simu-
7 eine Skalierung von 0,8 bewährt. latoren können Szenarien optimiert und in einen
geeigneten Ablauf gebracht werden. Sie sind auch
für Untersuchungen geeignet, bei denen die Bewe-
8 9.2.7 Kinetose (Simulatorkrankheit) gungsdarstellung nur eine geringe Bedeutung hat,
z. B. in bestimmten Bewertungen von Bedien- und
9 Die Simulatorkrankheit ist verwandt mit der Reise- Anzeigekonzepten.
und Seekrankheit und vor allem durch visuelle
10 Symp­tome sowie Desorientierung, kalten Schweiß
9.3 Versuchskonzeption
und im Extremfall auch durch Übelkeit gekenn-
zeichnet [15]. In der Sensory-conflict-Theorie wird
11 davon ausgegangen, dass die Symptome vor allem 9.3.1 Zielstellung von
dann entstehen, wenn vestibuläre und visuelle Sin- Probandenuntersuchungen
12 nesreize nicht miteinander kompatibel sind [16].
Etwa 5–10 % aller Menschen sind sehr empfindlich Während des Entwicklungsprozesses von Fahreras-
und 5–15 % unempfindlich gegenüber Kinetose. sistenzsystemen testen die Entwicklungsingenieure
13 Erfahrungsgemäß leiden Frauen häufiger als Män- (als „Experten“) regelmäßig neue Funktionen und
ner [17], erfahrene Piloten häufiger als unerfahrene Systeme. Ergänzend werden Versuche mit möglichst
14 oder junge Erwachse häufiger als ältere [18] an der unvoreingenommenen „Normalfahrern“ (Proban-
Simulatorkrankheit. Zur Analyse und Prophylaxe den) zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Prozess
15 der Kinetose siehe [25]. Dabei scheinen psychi- durchgeführt, um Aussagen über Wirksamkeit und
sche Faktoren und die aktive Vorbereitung auf die Akzeptanz dieser Funktionen bzw. Systeme und
Bewegung eine gewisse Rolle zu spielen; die Pla- deren Bedienkonzepten aus Sicht späterer Kunden
16 cebo-Wirksamkeit ist bei Menschen mit Kinetose und Nutzer zu gewinnen. Hieraus ergeben sich fol-
relativ hoch (45 %) [19]. gende Untersuchungszielstellungen von Probanden-
17 Die Kinetose kann nur effektiv vermieden wer-
den, wenn die Sinneseindrücke, insbesondere die
Beschleunigungskräfte und die visuell erlebten Be- -
versuchen in Fahrsimulatoren:
Fahrerverhalten bei Nutzung neuer Fahr-
zeugsysteme, u. a. Fahrerassistenzsysteme, vor

-
18 wegungen, präzise aufeinander abgestimmt sind. allem in kritischen Verkehrssituationen;
Bei den meisten Personen ist im Laufe der Zeit eine Beherrschbarkeit von Systemgrenzen sowie

--
19 gewisse Toleranz für falsch koordinierte Bewe- Ausfallszenarien;
gungsreize zu verzeichnen. Im Daimler-Fahrsimu- Optimierung innovativer Bedienkonzepte;
20 lator werden gerade bei Versuchen mit Fahrsimu- Bewertung des Systemnutzens für den Kun-
lator-unerfahrenen Probanden per Versuchsdesign den;
9.3 • Versuchskonzeption
147 9

- Analyse der Akzeptanz und des Nutzungsver-


- Auf welche Vergleichsbasis bezieht sich die
haltens neuer Systeme.

Im Vergleich zur Erprobung auf Prüfgeländen bzw. - Untersuchung (z. B. Vorgängersystem)?


Welche Messwerte sind zu ermitteln (Reakti-
onszeit, Brems-/Lenkverhalten, Fahrzeugab-
im Straßenverkehr weisen Fahrsimulatorversuche

--
folgende Vorteile auf:
- stand, …)?
Wie sieht die Strecke aus (Stadt, Landstraße,
kein reales Risiko für Fahrer und Umgebung;
hohe Reproduzierbarkeit der zu untersuchen-
- Autobahn, …)?
Welches Probandenkollektiv soll untersucht

-- den Situation;
Nutzung des Überraschungsmoments;
schnelle Variation von Fahrsituationen sowie
Fahrzeug- und Umgebungsparametern.
werden?

Aus den Versuchszielen sind Hypothesen abzulei-


ten und zu operationalisieren, die das erwartete
Versuchsergebnis widerspiegeln und durch den
Dem stehen als Nachteile das nur näherungsweise Versuch zu bestätigen oder zu widerlegen sind.
reale Fahrerlebnis, ein geringeres Gefährdungsbe- Eine typische Probandenfahrt dauert je nach
wusstsein und der zum Teil hohe Aufwand dieser Fragestellung 30 bis 45 Min. und besteht aus drei
Versuche gegenüber. Bedingt durch die geographi- Phasen:
sche Lage des Simulators ist die Zusammensetzung Die Eingewöhnungsphase von etwa 5 Min., in
des Probandenkollektivs in der Regel auf Proban- der sich der Proband auf das neue Fahrzeug und
den aus der näheren Umgebung beschränkt, so dass das Fahren im Simulator einstellt.
kulturell bedingte abweichende Verhaltensweisen Die Routine-Fahrt von etwa 20–40 Min., in der
von Probanden aus anderen Regionen nicht erfasst der Proband Vertrauen in die virtuelle Umgebung
werden. Ferner steht im Fahrsimulator die Analyse aufbaut, das zu untersuchende System in seiner re-
einer definierten und reproduzierbaren Situation gulären Funktionsweise kennen lernt und sich seine
im Vordergrund, während bei Erprobung im Stra- Aufmerksamkeit von der einer Prüfungssituation
ßenverkehr das Auftreten einer großen Zahl unter- zu Beginn auf ein normales Maß einer regulären
schiedlicher Nutzungssituationen hoher Varianz Autofahrt reduziert.
beabsichtigt ist. Abschließend folgt die im Versuchsbetrieb als
kritische Situation bezeichnete Situation, in der die
Reaktion des Probanden analysiert wird. Vor, wäh-
9.3.2 Versuchsdesign rend und nach der Fahrt finden je nach Zielstellung
Befragungen des Probanden statt.
Am Anfang eines jeden Versuchs steht die präzise Besonderes Augenmerk wird auf die Gestaltung
Definition und ggf. Priorisierung der Versuchsziele, der kritischen Situation gelegt, die – gemeinsam mit
ein in der Praxis häufig unterschätzter Arbeits- den Ergebnissen der Befragung – der Überprüfung
schritt. Hierbei sind folgende Aspekte zu beschrei- der Versuchshypothesen dient. Sie muss im realen

-
ben:
Welchem Ziel dient der Versuch? Welche der
oben genannten Untersuchungszielstellung
Straßenverkehr vorstellbar sein und sich – je nach
Versuchsziel – am Einsatzbereich des zu testenden
Systems, dessen Grenzen bzw. dessen Ausfallsze-

- liegt vor?
Welches System bzw. welche ggf. interagieren-
narien orientieren. Ferner ist die Kritikalität im
Spannungsfeld zwischen zu einfach beherrschbaren

- den Systeme werden untersucht?


Welcher Teilaspekt des Systems soll untersucht
werden (tägliche Nutzung, kritische Verkehrs-
und völlig unbeherrschbaren Situationen so zu wäh-
len, dass ein Erkenntnisgewinn durch den Versuch
erzielt werden kann. Das unvorbereitete Verhalten

- situation, Systemgrenzen, Systemausfall, …)?


Wie viele und welche Systeme, Systemausprä-
gungen oder Systemparametrierungen werden
untersucht?
in kritischen Situationen lässt sich bei Probanden
grundsätzlich nur einmal im Versuch bewerten.
Danach ergibt sich durch Antizipation weiterer,
ähnlich aufgebauter Situationen eine erhöhte Auf-
148 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

1
2
3
4
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6
7
8
.. Abb. 9.6  Kritische Situation 1 „Fußgänger rennt auf die Fahrbahn“ (Quelle: Daimler AG)
9
merksamkeit sowie ein Lerneffekt beim Probanden, nen. Das Assistenzsystem erkennt die Situation
10 so dass in weiteren Situationen nicht mit repräsen- in der Regel früher als der Fahrer und leitet den
tativen, auf das Verhalten im realen Straßenverkehr Bremsvorgang selbstständig ein. Es wurden die Un-
übertragbaren Ergebnissen gerechnet werden kann. fallhäufigkeit und -schwere einer Probandengruppe
11 Über eine geeignete Information zum zu un- mit und einer ohne Assistenzsystem miteinander
tersuchenden System vor der Fahrt sowie ein Erle- verglichen.
12 ben und Erlernen des Systems während der Routi- Die kritische Situation 2 in . Abb. 9.7 diente der
ne-Fahrt (Funktion, Bedienung, Grenzen) wird der Untersuchung des Bremsassistenten BAS PLUS mit
Proband vor der kritischen Situation hinreichend Kreuzungsassistent. Der Fahrer fährt auf einer Vor-
13 mit dem System vertraut gemacht, ohne das Über- fahrtstraße in der Stadt. Auch hier wird er durch ein
raschungsmoment in der kritischen Situation zu Ereignis auf der linken Fahrbahnseite (im Bild nicht
14 reduzieren. erkennbar) abgelenkt. Das von rechts kreuzende
In den . Abb. 9.6 und . Abb. 9.7 sind beispiel- Fahrzeug missachtet die Vorfahrt des Probanden
15 haft zwei typische kritische Situationen dargestellt: und fährt in die Kreuzung ein. Auch hier wurden
Die in . Abb. 9.6 dargestellte kritische Situation 1 die Unfallhäufigkeit und -schwere einer Proband-
wurde im Rahmen von Untersuchungen zum engruppe mit und einer ohne Assistenzsystem mit-
16 System PRE-SAFE® Bremse mit Fußgängererken- einander verglichen.
nung verwendet. Der Proband wird während einer Anschließend sind folgende technischen As-
17 Stadtfahrt durch heftig gestikulierende Personen pekte vor dem Hintergrund der Untersuchungs-
am linken Fahrbahnrand (im Bild nicht erkennbar)
abgelenkt. In diesem Moment rennt ein Fußgänger,
-
zielstellung zu definieren:
Wird ein bewegter oder ein stehender Fahrsi-

-
18 der zuvor vom Transporter am rechten Fahrbahn- mulator benötigt?
rand verdeckt war, unerwartet auf die Fahrbahn und Wird beim Einsatz eines bewegten Fahrsi-
19 bleibt dort direkt vor dem eigenen Fahrzeug stehen. mulators die Fahrzeugkabine in Längs- oder
Der Fahrer bremst mit einem gewissen zeitlichen Querausrichtung zur langen Achse des Bewe-
20 Versatz aufgrund der natürlichen Reaktionszeit und
der Ablenkung durch die gestikulierenden Perso-
- gungssystems orientiert?
Welche Kabine (Fahrzeugtyp) wird eingesetzt?
9.3 • Versuchskonzeption
149 9

-
.. Abb. 9.7  Kritische Situation 2 „Kreuzendes Fahrzeug von rechts“ (Quelle: Daimler AG)

Bildet das Fahrdynamikmodell die zu untersu- Die operative Versuchsvorbereitung beginnt


chenden Situationen in ausreichender Güte ab mit der Beauftragung zeitintensiver Entwicklun-

- oder sind Verfeinerungen nötig?


Sind besondere Einbauten in die Kabine
notwendig (Regelsysteme, Displays, Bedienele-
gen von Versuchskomponenten wie neuen Stre-
ckenelementen und Verkehrsmanövern, die nicht
in der Toolbox aus Standardversuchselementen

- mente, …)?
Kann die Strecke aus bestehenden Strecken­
elementen erstellt werden oder sind neue
vorhanden sind. Liegen diese Komponenten ge-
testet vor, findet am Vorbereitungssimulator die
Integration aller Versuchskomponenten inkl.

- Elemente zu entwickeln?
Wie sieht der Verkehr (Fahrzeuge, Fußgän-
möglicher Einbauten in die Kabine (Regelsysteme,
Displays, Bedienelemente, Kameras, Strecke, Ver-

- ger, …) im Umfeld aus?


Ist die Verkehrssimulation mit bestehenden
Manövern realisierbar oder sind neue zu ent-
kehrsmanöver,  …) statt. Anschließend wird der
Versuchsablauf optimiert, zunächst hinsichtlich
eines technisch einwandfreien Ablaufs, anschlie-

- wickeln?
Welche Messwerte und Videoaufzeichnungen
sind zu erfassen?
ßend hinsichtlich eines geeigneten Ablaufs zur
Beantwortung der Versuchsfragestellung. Hierbei
sind v. a. die Lernphasen und die kritische Situation
während der Routine-Fahrt zu optimieren. Dann
wird der Versuchsablauf für die unterschiedlichen
9.3.3 Versuchsvorbereitung zu testenden Systeme, Systemausprägungen oder
Systemparametrierungen sowie für die Vergleichs-
Grundlage eines jeden Versuchs ist ein strin- basis dupliziert.
gentes Projektmanagement inkl. Festlegung der Nun findet ein Wechsel der Kabine in den dyna-
Verantwortlichkeiten, des Zieltermins für die mischen Simulator statt. In einem Vorversuch mit
Untersuchung, der verfügbaren Simulatornut- einer kleineren Probandenanzahl wird final verifi-
zungszeiträume und die Festlegung eines klaren ziert, dass die Feinabstimmung des Versuchsablaufs
Zeitplans für die Vorbereitungs- und Durchfüh- zur Klärung der Untersuchungsziele geeignet ist,
rungsphasen. ggf. können noch Detailoptimierungen vorgenom-
150 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

.. Abb. 9.8 Ablenkung
1 des Probanden durch un-
erwartete Tiere am linken
Fahrbahnrand (Quelle:
2 Daimler AG)

3
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6
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8 .. Abb. 9.9 Ablenkung
des Probanden durch
einen tieffliegenden

9 Heißluftballon (Quelle:
Daimler AG)

10
11
12
13
14
15
men werden. Abschließend wird der Versuch durch tion eines Fahrers in einer solchen Situation zu
den beauftragenden Bereich abgenommen. bewerten bzw. den Nutzen eines Assistenzsystems
16 Parallel hierzu wird das Befragungskonzept er- zu quantifizieren, ist die Situation im Simulator re-
stellt, geeignete Probanden werden ausgewählt und produzierbar nachzubilden; Teil davon ist der Ein-
17 eingeladen sowie die an der Versuchsdurchführung satz reproduzierbarer Ablenkungen. Hierzu kom-
Beteiligten festgelegt und eingewiesen. men u. a. animierte Grafikelemente zum Einsatz,
die im realen Straßenverkehr vorstellbar sind und
18 die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich ziehen,
9.3.4 Ablenkungen z. B. unerwartete Tiere wie Kühe am Fahrbahn-
19 rand (s. . Abb. 9.8) oder ein Heißluftballon direkt
Unfälle entstehen häufig durch Unaufmerksamkeit über den Häusern auf der linken Fahrbahnseite
20 bzw. Abgelenktheit in einer unerwartet auftreten- (s. . Abb. 9.9). Die Grafikelemente müssen überra-
den kritischen Verkehrssituation. Um die Reak- schend auftreten und der Zeitpunkt des Auftretens
9.3 • Versuchskonzeption
151 9

.. Tab. 9.2  Fiktives Beispiel von Auswahlkriterien für Probanden

interne/externe Probanden firmeninterne Probanden aber keine Entwicklungsmitarbeiter

Altersverteilung 30 % unter 40 Jahren / 40 % zwischen 40 bis 60 Jahren / 30 % ab 60 Jahren

Geschlechterverteilung möglichst 60 % männlich / 40 % weiblich

gefahrene Fahrzeug­modelle  / keine Einschränkungen


-klassen / -hersteller

Sehhilfe kein Ausschluss

… …

Besonderes Fahrer mit geringer bis mittlerer Fahrerfahrung, d. h. Fahrleistung ≤ 15 Tkm/Jahr
oder Führerscheinbesitz unter 15 Jahren

mit einer nahezu zeitgleichen kritischen Verkehrs- chungsergebnis haben: eine zu geringe Sensibilisie-
situation – z. B. einem von rechts kommenden, rung des Probanden bildet das Wissen eines realen
ohne Vorfahrtsrecht auf die Kreuzung fahrenden Fahrers ungenügend ab, eine zu deutliche führt zu
Fahrzeug (s.  . Abb. 9.7) – präzise aufeinander ab- einer unrealistisch hohen Aufmerksamkeit des Pro-
gestimmt werden. Neben Grafikelementen außer- banden auf das Auftreten eines kritischen System-
halb des Fahrzeugs kommen auch realitätsnahe verhaltens während des Versuchs.
Bedienaufgaben im Fahrzeug (Telefonnummer aus
Verzeichnis heraussuchen, E-Mail schreiben, …)
sowie künstliche Ablenkungen (Taste-Drücken 9.3.6 Probandenauswahl
bei Aufleuchten eines Grafikelements im Sichtbe-
reich, …) zum Einsatz. Die Auswahl und Anzahl der Probanden hat gro-
ßen Einfluss auf die valide Interpretation der Ver-
suchsergebnisse und vor allem auf deren Übertrag-
9.3.5 Lerneffekte barkeit auf die Nutzung eines Systems im realen
Fahrzeug. Die relevanten individuellen Merkmale
In aller Regel haben sich Fahrer mit den Assistenz- der Probanden und deren Verteilung innerhalb
systemen ihres Fahrzeugs gut vertraut gemacht, des Probandenkollektivs (s.  . Tab. 9.2) sind des-
bevor sie in eine (selten auftretende) kritische halb vor dem Hintergrund der Zielstellung des
Verkehrssituation geraten. Bei der Bewertung der Versuchs und der definierten Versuchshypothesen
Bedienung eines Systems und dessen Nutzen ist gemeinsam mit dem Auftraggeber abzustimmen.
dies folglich zu berücksichtigen. In Fahrsimula- Die Probandengruppen, die die unterschiedli-
torversuchen hingegen werden die Probanden mit chen Systeme, Systemausprägungen oder Sys-
zukünftigen, ihnen unbekannten Systemen kon- temparametrierungen sowie die Vergleichsbasis
frontiert. Ein wesentlicher Aspekt des Versuchsde- (Kontrollgruppe) erleben, müssen hinsichtlich
signs besteht darin, das Kennenlernen des Systems, der Verteilung der relevanten Merkmale identisch
seiner Funktion, Bedienung und Grenzen in dem und jeweils repräsentativ für die zu untersuchende
zur Verfügung stehenden kurzen Versuchszeitraum Nutzergruppe sein.
nachzubilden. Hierzu werden Systembeschreibun- Zum Vergleich unterschiedlicher Systeme, Sys-
gen und Einweisungen durch den Versuchsleiter vor temausprägungen oder Systemparametrierungen
der Simulatorfahrt sowie das Erleben des Systems untereinander und relativ zu einer Vergleichsbasis
während der Routine-Fahrt und damit außerhalb sind 30 bis 50 Probanden je Gruppe angemessen;
einer kritischen Situation genutzt. Falsch dosierte die Absicherung eines Systems erfordert dagegen
Informationen und Eindrücke zu den Systemgren- deutlich größere Stichproben mit mehr als 100 Teil-
zen können maßgeblichen Einfluss auf das Untersu- nehmern ([20, 21], siehe auch ▶ Kap. 12).
152 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

9.3.7 Auswertung exakt übereinstimmen. Für die Untersuchung von


1 von Probandenversuchen Fahrerverhalten ist absolute Validität nicht zwangs-
läufig notwendig, die relative Validität jedoch von
2 Die aus den Versuchszielen abgeleiteten und opera- eminenter Bedeutung. Die meisten Validierungs-
tionalisierten Hypothesen (▶ Abschn. 9.3.2) bilden studien kommen zu dem Schluss, dass für die un-
die Grundlage der Auswertung. Diese Hypothesen tersuchten Simulatoren hinsichtlich der wichtigsten
3 können sich sowohl auf rein objektive Daten z. B. Fahrparameter (z. B. Geschwindigkeit oder laterale
den in der Simulation ermittelten Kraftstoffver- Position) relative Validität, nicht aber absolute Va-
4 brauch (Hypothese: Mit einem neuen Energiespar- lidität angenommen werden kann [23]. Aus diesem
programm wird weniger verbraucht werden.) bezie- Grund werden in allen Studien neue Systeme mit
5 hen als auch auf rein subjektive Daten (Hypothese: einer bestehenden Vergleichsbasis (z. B. Vorgänger-
Männer legen beim Neukauf eines Autos mehr Wert system) verglichen.
auf Leistung als Frauen.) oder eine Mischung aus Bei einer Validierungsstudie ist zu beachten,
6 beiden (Hypothese: Die Kaufwahrscheinlichkeit dass eine Validierung sich immer nur auf eine genau
eines neuen Energiesparprogramms hängt von der spezifizierte Situation und nur auf einen Simulator
7 erzielbaren Verbrauchsreduktion ab.). beziehen kann. Generalisierungen über Situationen
Während des Versuchs werden die objektiven oder Simulatoren sind nur eingeschränkt möglich.
Daten aus der Simulation als Messwerte, die sub- Zur Validierung können die Daten einer Fahrt
8 jektiven über die Befragung der Probanden mithilfe im Simulator mit den Daten einer naturalistischen
von Fragebögen gewonnen. Zur weiteren Auswer- Realfahrt (keine Untersuchungssituation) bzw. einer
9 tung werden häufig Programme wie Matlab für die instruierten Realfahrt (Untersuchungssituation z. B.
objektiven Daten und SPSS für die subjektiven Da- mit Versuchsleiter im Fahrzeug) verglichen werden.
10 ten verwendet. SPSS bietet dann die Möglichkeit, die Auch können Probanden zu Unterschieden befragt
Ergebnisse aus Matlab zu integrieren. Die Überprü- werden.
fung der Hypothesen erfolgt mithilfe statistischer Ein weiterer Ansatz der Validierung besteht in
11 Tests (z. B. Hypothesentests oder Korrelationen). der Untersuchung der Übertragbarkeit von Lernef-
Im ▶ Kap. 12 dieses Buches wird die Untersu- fekten zwischen Simulator- und Straßenfahrten,
12 chung des Bremsassistenten BAS Plus im Rahmen d. h. inwieweit sich im Simulator angeeignete Fähig-
eines Fahrsimulatorversuchs detailliert beschrieben. keiten auch auf realen Straßen beobachten lassen.
13
9.4 Problematik 9.4.2 Realitätsnähe
14 der Übertragbarkeit, und Gefahrenempfinden
der Realitätsnähe
und des Gefahrenempfindens
15 Grundsätzlich beeinflussen folgende Faktoren die

16
9.4.1 Verfahren zur Validierung
von Fahrsimulatoren -
Validität von Fahrsimulatoren:
technische Einschränkungen, z. B. im Bewe-
gungsraum oder bei der Umgebungsvisualisie-

17 In der Literatur hat sich die von Blauuw (1982) vor-


- rung;
Versuchsdesign inkl. Instruktion des Proban-

18
geschlagene Unterscheidung zwischen absoluter
und relativer Validität etabliert [22]: Unter abso-
luter Validität versteht man das Ausmaß, mit dem
die Daten des Simulators mit Realdaten numerisch
- den;
Versuchsleitereffekte, wie z. B. die Tendenz,
sich dem Versuchsleiter positiv darzustellen
(soziale Erwünschtheit), oder eine Beeinflus-

-
19 exakt übereinstimmen. Relative Validität  kenn- sung durch den Versuchsleiter;
zeichnet das Ausmaß, mit dem eine Manipulation andere Konsequenzen als im realen Stra-
20 eines Faktors den gleichen Effekt hat wie in einer ßenverkehr, wie z. B. bei Unfällen oder bei
Realstudie, auch wenn die Daten numerisch nicht Geschwindigkeitsüberschreitungen;
9.5  •  Zusammenfassung und Ausblick
153 9

- erhöhter Aufmerksamkeitsbedarf (Mental


Workload) z. B. für Spurhaltung und Ge-
elementen u. a. mit Lenkrad und Pedalerie. Die Sin-
neseindrücke während einer Autofahrt werden über

- schwindigkeitsregelung im Simulator;
Kinetose.

Nach Aussage der Probanden haben sie sich nach


die Visualisierung der Umgebung (u. a. Straße und
Umgebungsverkehr) und entsprechende Fahrzeug-
und Umgebungsgeräusche nachgebildet. Dynami-
sche Simulatoren bilden auch die auf den Fahrer
der beschriebenen Eingewöhnungsfahrt von etwa wirkenden Kräfte über ein Bewegungssystem nach.
5 Min. an den Simulator und das neue Fahrzeug ge- Die Ausgestaltung der genannten Komponenten
wöhnt, so dass sie weitgehend den Eindruck haben, variiert in der Praxis stark.
ein reales Auto zu fahren. Bei Ausrichtung der Fahr- Der Schwerpunkt der Fahrsimulatornutzung
zeugkabine quer zur Linearachse des Simulators in der Fahrzeugentwicklung liegt in der Analyse
werden das Fahr- und Lenkverhalten als sehr reali- des Zusammenspiels des Fahrers mit dem Fahr-
tätsnah, das Verhalten bei starken Beschleunigungs- zeug bzw. mit neuen Fahrzeugsystemen, wie z. B.
und v. a. Bremsvorgängen als etwas ungewohnt Assistenz- oder Fahrwerkregelsystemen. Diese
beschrieben. Nach längerer Simulatorfahrt geben Analysen dienen der Konzeptbewertung sowie
einige Probanden eine erhöhte Beanspruchung der Optimierung solcher Systeme und deren Be-
der Augen an. Beim beschriebenen dynamischen dien- und Anzeigekonzepten. Für diese Analysen
Fahrsimulator berichten nur wenige Probanden werden definiert ausgewählte Probandengruppen
von Anzeichen einer Kinetose, bei den unbewegten mit neuen Fahrzeugsystemen vertraut gemacht und
Vorbereitungssimulatoren liegt diese Rate höher. durchfahren anschließend eine oder mehrere Un-
Aus Messwerten ergibt sich eine gute Überein- tersuchungssituationen, in denen das Probanden-
stimmung der Reaktionszeiten im Simulator und verhalten anhand von Messwerten und Befragungen
auf der Straße. Die eigene Geschwindigkeit wird im erfasst und später analysiert wird. In der Regel wird
Simulator tendenziell zu gering eingeschätzt, so dass das Verhalten mehrerer Probandengruppen mit und
Probanden etwas schneller als beabsichtigt fahren ohne eine zu untersuchende Fahrzeugfunktion oder
[24]. Dem steht die Absicht der Probanden entgegen, mit unterschiedlichen Ausprägungen dieser Fahr-
sich im Simulator korrekt zu verhalten und folglich zeugfunktion miteinander verglichen.
die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit nicht Fahrsimulatoren haben sich als Werkzeug in der
zu überschreiten. Die Spurhaltung im Simulator ist Fahrzeugentwicklung fest etabliert, vor allem auf-
tendenziell weniger gut als in der Realität [22]. grund der Möglichkeit, das Fahrerverhalten in re-
Generell verhalten sich die Probanden im Fahr- produzierbaren Situationen gefahrlos untersuchen
simulator der Daimler AG intuitiv sehr realitätsnah, sowie Fahrzeug- und Umgebungsparameter einfach
was sich besonders deutlich bei potenziell gefährli- und schnell variieren zu können.
chem Verhalten zeigt: So kommt das gewollte Ver- In der Fahrzeugindustrie ist in Zukunft eine
lassen der Straße, das Überfahren von Bordsteinen weitere Verschiebung der Absicherungsaktivitäten
oder das Durchfahren von Leitplanken praktisch von der Straße hin zur Simulation und somit auch
nicht vor. Vor dem Verlassen des Fahrzeugs über- mithilfe von Fahrsimulatoren zu erwarten. Dies
zeugen sich die Probanden durch den Schulterblick, bedingt eine Professionalisierung des Betriebs von
ob sie die Tür gefahrlos öffnen können. Insgesamt Fahrsimulatoren hin zu effizienten Serviceeinrich-
lässt sich für die Untersuchungszielstellungen in der tungen. Die Untersuchungsinhalte der kommenden
Praxis eine sehr gute relative Validität beobachten. Jahre werden von Fragestellungen zum autonomen
Fahren und der integralen Betrachtung von Fahr-
zeug- und Entertainmentfunktionen geprägt sein.
9.5 Zusammenfassung An Universitäten und Forschungseinrichtungen ist
und Ausblick der Aufbau und Betrieb weiterer Fahrsimulatoren
abzusehen.
Ein Fahrsimulator besteht im Grundsatz aus einem Die technische Weiterentwicklung von Fahrsi-
Fahrerarbeitsplatz mit typischen Fahrzeugbedien­ mulatoren wird sich auf die Vermeidung heutiger
154 Kapitel 9 • Dynamische Fahrsimulatoren

Defizite wie in Kurvenfahrten mit großen Gierraten 12 Dupuis, M., Strobl, M., Grezlikowski, H.: OpenDRIVE 2010
1 oder eine beschränkte Einschätzbarkeit im Nach-
and Beyond – Status and Future of the de facto Standard
for the Description of Road Networks. In: Proc. Driving Si-
bereich z. B. durch den Einsatz von 3D-Visualisie- mulation Conference DSC Europe, Paris, S. 231–242. (2010)
2 rungen aber auch auf die weitere Verbesserung der 13 Zacharias, G.L.: Motion cue models for pilot‐vehicle analysis
Realitätstreue des Fahreindrucks konzentrieren. (1978). AMRL‐TR‐78‐2, May
Hierbei ist sowohl mit neuen Simulatorkonzepten 14 Nesti, A., Masone, C., Barnett-Cowan, M., Robuffo Giordano,
3 wie auch Detailoptimierungen bestehender Kon-
P., Bülthoff, H., Pretto, P.: Roll rate thresholds and perceived
realism in driving simulation Driving Simulation Confe-
zepte zu rechnen. Während es weiterhin eine große rence, Paris. (2012)
4 Zahl unterschiedlicher Simulatorkonzepte geben 15 Johnson, D.M.: Introduction to and review of simulator
wird, ist im Bereich der Komponenten wie z. B. sickness research. DTIC Document (2005)

5 Visualisierung oder Verkehrssimulation mit einer 16 Reason, J.: Motion sickness adaptation: a neural mismatch
model. Journal of the Royal Society of Medicine. Royal So-
stärkeren Standardisierung zu rechnen.
ciety of Medicine Press 71, 819 (1978)

6 17 Flanagan, M.B., May, J.G., Dobie, T.G.: Sex differences in


tolerance to visually‐induced motion sickness. Aviation,
Literatur space, and environmental medicine, Aerospace Medical
7 1 Slob, J. J.: State‐of‐the‐Art Driving Simulators, a Literature
Association 76, 642–646 (2005)
18 Reason, J.T., Brand, J.J.: Motion sickness. Academic press,
Survey. DCT 2008.107, DCT report, Eindhoven University New York (1975)
8 of Technology, 2008 19 Schmäl, F., Stoll, W.: Kinetosen. HNO 48, 346–356 (2000).
http://www.neuro24.de/schwind.htm
2 Nordmark, S., Jansson, J., Lidström, M., Palmkvist, G.: A
Moving Base Driving Simulator with Wide Angle Visual 20 Bubb, H.: Wie viele Probanden braucht man für allgemeine
9 System. The TRB Conference, Session on Simulation and Erkenntnisse aus Fahrversuchen? In: Landau, K., Winner, H.
Instrumentation for the 80 s. Washington, D.C. (1985) (Hrsg.) Fahrversuche mit Probanden – Nutzwert und Risiko
3 Breuer, J., Käding, W.: Contributions of Driving Simulators Fortschr.‐Ber. VDI Reihe 12, Bd. 557, VDI, Düsseldorf (2003)
10 to Enhance Real World Safety. In: Proceedings Driving Si- 21 Weitzel, A., Winner, H.: Ansatz zur Kontrollierbarkeitsbewer-
mulation Conference Asia/Pacific, Tsukuba (2006) tung von Fahrerassistenzsystemen vor dem Hintergrund
der ISO 26262 FAS 2012 – 8. Workshop Fahrerassistenzsys-
11
4 Käding, W., Hoffmeyer, F.: The Advanced Daimler‐Benz
Driving Simulator. Society of Automobile Engineers SAE teme, Walting im Altmühltal. (2012)
Technical Paper, Bd. 950175. SAE, Warrendale, PA (1995) 22 Blaauw, G.J.: Driving experience and task demands in si-
mulator and instrumented car: a validation study. Human
12 5 Käding, W., Zeeb, E.: 25 years driving simulator research for
active safety. In: Proc. International Symposium on Advan- Factors 24(4), 473–486 (1982)
ced Vehicle Control (AVEC 2010). Conference AVEC 2010, 23 Mullen, N., Charlton, J., Devlin, A., Bedard, M.: Simulator

13 Loughborough (2010)
6 Murano, T., Yonekawa, T., Aga, M., Nagiri, S.: Development
validity: behaviors observed on the simulator and on the
road. In: Fisher, D.L., Rizzo, M., Caird, J., Lee, J.D. (Hrsg.)
of High‐Performance Driving Simulator. SAE Int. J. Passeng. Handbook of driving simulation for engineering, medicine,

14 Cars ‐ Mech. Syst. 2(1), 661–669 (2009)


7 Wentink, M., Pais, R., Mayrhofer, M., Feenstra, P., Bles, W.:
and psychology. CRC Press, Boca Raton (2011)
24 Tenkink, E., Van der Horst, A.R.A.: Effects of road width
First Curve Driving Experiments in the Desdemona Simu- and curve characteristics on driving speed. Report IZF
15 lator. Driving Simulation Conference – Monaco (2008)
8 Nieuwenhuizen, F.M., Bülthoff, H.H.: The MPI CyberMotion
1991 C‐26. TNO Institute for Perception, Soesterberg (1991)
25 Schlender, D.: Simulatorkrankheit in Fahrsimulatoren. Zeit-
Simulator: A Novel Research Platform to Investigate Hu- schrift für Verkehrssicherheit 54(2), 74–80 (2008)
16 man Control Behavior. Journal of Computing Science and
Engineering 7(2), 122–131 (2013)
9 Betz, A., Winner, H., Ancochea, M., Graupner, M.: Motion
17 Analysis of a Wheeled Mobile Driving Simulator for Urban
Traffic Situations. Driving Simulation Conference – Paris
(2012)
18 10 Zeeb, E.: Daimler’s New Full‐Scale, High‐dynamic Driving
Simulator – A Technical Overview. In: Conference Proc.

19
Driving Simulation Conference Europe, Paris (2010)
11 Krebber, W., Sottek, R.: Interactive Vehicle Interior Sound
Simulation ISATA '00, Automotive & Transportation Tech-

20 nology, Dublin. (2000)


155 10

Vehicle in the Loop


Guy Berg, Berthold Färber

10.1 Motivation – 156
10.2 Das Vehicle in the Loop  –  156
10.3 Meilensteine der VIL-Entwicklung – 159
10.4 Fazit und Ausblick  –  161
Literatur – 163

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
156 Kapitel 10  •  Vehicle in the Loop

Das Vehicle in the Loop (VIL) schließt die Lü- aufgebaut werden muss. Gleichzeitig erfolgt mit-
1 cke zwischen Fahrsimulation und Realversuchen. hilfe von Fahrsimulatoren (Driver-in-the-Loop, vgl.
Durch die virtuelle visuelle Darstellung auf der ei- ▶ Kap. 9) eine Überprüfung des Fahrerverhaltens
2 nen Seite und der erlebten Haptik, Kinästhetik und sowie der Beherrschbarkeit.
Akustik durch die reale Fahrzeugbewegung auf der Zur endgültigen Absicherung muss das neue
anderen Seite bietet das VIL ein neues Verfahren System in einem realen Fahrzeug implementiert,
3 auf Basis einer erweiterten Realität, um Fahrerassis- getestet und evaluiert werden. Tests mittels Proto-
tenzsysteme effizient und sicher zu entwickeln sowie typen im realen Straßenverkehr mit Probanden sind
4 zu evaluieren. aus rechtlichen und sicherheitstechnischen Grün-
den oft nicht möglich. Die Absicherung zahlreicher
5 10.1 Motivation
sicherheitskritischer Funktionen (z. B. der automa-
tischen Notbremse bei Fußgängern) kann selbst auf
einer Teststrecke durch statische oder dynamische
6 Der Sicherheitsgewinn durch Fahrerassistenzsys- Objekte nur unzureichend nachgestellt werden. Mit
teme ist spätestens seit der Einführung von ESP zunehmender Komplexität der Fahrsituation, in der
7 (vgl.  ▶ Kap. 40) unumstritten. Erste Assistenzsys- das zu testende Assistenzsystem eingreift, wird es
teme wie ESC oder ABS griffen allerdings nur auf also immer schwieriger, das Zusammenwirken von
der untersten Regelungsebene des Fahrers, der Systemverhalten sowie Erleben und Verhalten des
8 Stabilisierungsebene, ein (vgl. ▶ Kap. 40). Systeme, Fahrers realistisch und zuverlässig zu bewerten.
die den Fahrer auf der Bahnführungsebene unter- Diese Lücke versucht das Vehicle in the Loop
9 stützen, wurden zunächst nur als Komfortsysteme (VIL) zu schließen. Hierfür wurde eine Test- und
ausgelegt und eingestuft. Aufgrund verbesserter Simulationsumgebung mit einem realen Fahrzeug
10 Umfeldwahrnehmung (vgl. ▶ Kap. 15) und Situati- verknüpft: Der Fahrer sieht über ein Visualisie-
onsinterpretation halten neue Assistenzfunktionen rungsmedium eine erweiterte oder virtuelle Reali-
der aktiven Sicherheit (z. B. ▶ Kap. 47) Einzug ins tät, so dass er eine direkte visuelle Rückmeldung aus
11 Fahrzeug, die in kritischen Verkehrssituationen auf der Simulationsumgebung erhält. Haptische, vesti-
der Manöverebene eingreifen, um einen drohen- buläre, kinästhetische und akustische Rückmeldun-
12 den Unfall zu vermeiden bzw. die Unfallschwere gen erhält er von der Interaktion mit einem realen
zu mindern. Jedoch erfordern entsprechende Sys- Fahrzeug. Das VIL ermöglicht somit ein reales Fah-
teme Absicherungsmethoden, die über den Nach- rerlebnis mit der Sicherheit und Reproduzierbarkeit
13 weis der technischen Funktionsfähigkeit und Zu- eines Fahrsimulators.
verlässigkeit hinausgehen. Die Entwicklung dieser
14 Kategorie von Fahrerassistenzsystemen stellt die
Hersteller vor neue Herausforderungen. Hierbei 10.2 Das Vehicle in the Loop
15 muss neben der Sensorik zur Umfeldwahrnehmung,
10.2.1 Anforderungen
des Regel-Algorithmus und der Aktorik für einen
Eingriff in die Fahrzeugführung auch die Interak-
16 tion mit dem Fahrer stärker als bisher berücksich- Der Betrieb des VIL erfordert eine Teststrecke, von
tigt werden. Für die effiziente und kostengünstige der Position und Verlauf der Fahrbahnen bekannt
17 Entwicklung sowie Absicherung hat sich, über die sind. Auf Grundlage des Streckenverlaufs muss vor
Entwicklung von realen Funktionen im Fahrzeug dem Betrieb des VIL eine virtuelle Welt erstellt wer-
hinaus, ein zweiter Entwicklungsast mit einer vir- den. Dabei müssen befahrbare Straßen in der vir-
18 tuellen Entwicklung etabliert. So werden bereits in tuellen Welt so gestaltet werden, dass diese Straßen
einer frühen Phase neue Algorithmen mithilfe von mit dem realen Streckenverlauf korrespondieren.
19 Software-in-the-Loop prototypisch entwickelt und Für eine exakte Lokalisierung des VIL-Ver-
getestet (vgl. ▶ Kap. 8) oder neue Sensoren sowie suchfahrzeugs wird eine DGPS-Referenzstation
20 Aktoren mithilfe von Hardware-in-the-Loop-Test- benötigt. Verfügt die Teststrecke nicht über eine
ständen evaluiert, ohne dass hierfür ein Fahrzeug DGPS-Referenzstation, können die benötigten
10.2  •  Das Vehicle in the Loop
157 10

Korrektursignale über einen kommerziellen Satel-


litenreferenzdienst empfangen werden.
Durch den kompakten und einfachen Aufbau
des VIL kann dieses in jedes Serienfahrzeug einge-
baut werden, so dass fahrzeugseitig keine aus dem
Funktionsprinzip des VIL resultierenden Anforde-
rungen bestehen.

10.2.2 Funktionsprinzip

Das VIL, das ein reales Fahrzeug in eine Simulati-


onssoftware einbindet, so dass der Fahrer ein Ver-
kehrsteilnehmer in der Simulation wird, ist nicht
vergleichbar mit dem VEHIL des TNO [1]. Bei Letz-
terem handelt es sich um einen Rollenprüfstand, in
dessen Umkreis mobile Plattformen Fremdverkehr
simulieren. Im Gegensatz zum VIL eignet sich das
VEHIL weniger zum Evaluieren des Fahrerverhal-
tens, sondern dient vor allem zum sicheren Testen
von Sensorik und Algorithmik. .. Abb. 10.1  Funktionale Architektur des VIL
Das allgemeine Funktionsprinzip des VIL ist an-
hand der Architektur sowie des Informationsflusses alsensorplattform, die an ein DGPS gekoppelt ist,
in . Abb. 10.1 dargestellt. Die benötigten Soft- und wird das reale Fahrzeug auf der Teststrecke loka-
Hardware-Komponenten sowie deren Funktion lisiert. Da der Streckenverlauf der virtuellen Welt
werden im Folgenden erläutert. in der Verkehrssimulation mit dem Streckenverlauf
der Teststrecke übereinstimmt, wird die kongruente
10.2.2.1 Verkehrssimulation Position des virtuellen Fahrzeugs in der virtuellen
Kern des VIL ist die Verkehrssimulation. Diese Welt berechnet, so dass sich das virtuelle Fahrzeug
ermöglicht es, Stadt-, Überland- oder Autobahn- analog dem realen Fahrzeug auf der Teststrecke in
fahrten – unter Berücksichtigung des Streckenlay- der virtuellen Welt bewegt.
outs der genutzten Teststrecke – darzustellen und
mithilfe von autonom agierendem oder program- 10.2.2.3 Visualisierung
mierbarem Fremdverkehr zahlreiche Verkehrssi- Der Fahrer, der das virtuelle Fahrzeug bewegt und
tuationen zu erzeugen. So besteht beispielsweise dabei die vestibuläre Rückmeldung des realen Fahr-
die Möglichkeit, sowohl einfache Folgefahrten und zeugs erhält, wird über ein Visualisierungsmedium
Auffahrszenarien als auch komplexe Kreuzungssi- in die Verkehrssimulation eingebunden. Das Me-
tuationen darzustellen. dium (vgl. . Abb. 10.2) wird dabei abhängig von der

10.2.2.2 Positionierung des


Versuchsträgers
in der Verkehrssimulation
-
Zielsetzung des Einsatzes gewählt:
Head Mounted Display (HMD)
Das HMD ist eine Visualisierungseinheit, die
am Kopf des Nutzers befestigt wird, so dass
Für das VIL wird die Bewegungssteuerung eines in geringem Abstand zu den Augen Displays
virtuellen Fahrzeugs aus der Verkehrssimulation für die Informationsdarstellung montiert sind
entkoppelt, so dass das Fahrzeug unabhängig von (vgl. . Abb. 10.2a). Durch den kurzen Abstand
der Verkehrssimulation gesteuert werden kann, zwischen Display und Auge ist die Sicht des
trotzdem aber für die Simulation als „aktiver Ver- Nutzers auf die Displays begrenzt. Um eine
kehrsteilnehmer“ sichtbar bleibt. Über eine Inerti- natürliche Sicht des Fahrers in Abhängigkeit
158 Kapitel 10  •  Vehicle in the Loop

1
2
3
4
5
.. Abb. 10.2  Mögliche Visualisierungsformen im VIL: a Fahrer mit HMD Visualisierung, b Bildschirm-Visualisierung
6
von der Kopfdrehung zu gewährleisten, muss che Versuchsaufbauten oder Hilfestellung von
7 der Bildausschnitt abhängig von der aktuellen weiteren Personen benötigt. Da der Entwickler
Kopforientierung angepasst werden. Hierfür durch die Nutzung eines einfachen Monitors
ist bei der Nutzung des HMD zusätzlich ein die reale Umgebung selbstständig überwachen
8 Headtracker im Fahrzeug verbaut, der die Kop- kann und keine Sichteinschränkungen hat, ist
forientierung des Fahrers während der Fahrt zudem die parallele Nutzung der Teststrecke
9 misst und das virtuelle Bild entsprechend der mit anderen Entwicklern möglich. Die redu-

10 - aktuellen Kopfposition und -lage ausrichtet.


Bildschirm
Weniger aufwendig – da hier kein Headtra-
cking benötigt wird – ist die Visualisierung
zierte Form des VIL wurde beispielsweise zur
Bewertung der Auslegung eines Baustellenas-
sistenten in [2] verwendet.

11 über einen Monitor im Blickfeld des Fahrers 10.2.2.4 Umfeldwahrnehmung


(vgl. . Abb. 10.2b): So hat der Fahrer die Mög- des Versuchsträgers
12 lichkeit, sich in der virtuellen Welt der Ver- in der Verkehrssimulation
kehrssimulation zu bewegen. Jedoch ist hierbei Neben dem Fahrer benötigt auch das Fahrzeug In-
der Immersionsgrad – der beschreibt, wie formationen zu relevanten Objekten aus der Ver-
13 stark der Nutzer sich in die virtuelle Welt hi- kehrssimulation, um – wie in der Realität – über As-
neinversetzt fühlt und die Realität ausblendet sistenzfunktionen auf Verkehrssituationen reagieren
14 – wesentlich geringer als bei der Nutzung eines zu können. So muss z. B. für eine Notbremsfunktion
HMD. Beim Einsatz eines einfachen Monitors die relative Position und Geschwindigkeit des vo-
15 ist somit nicht gewährleistet, dass der Fahrer rausfahrenden Fahrzeugs aus der Simulation zur
ein vergleichbares Verhalten wie in der Realität Verfügung gestellt werden, so dass die Funktion
zeigt, weswegen eine entsprechende Nutzung bei Unterschreitung der vorgegebenen Grenzen
16 zur Evaluation von Fahrerassistenzsystemen eine Notbremsung einleiten kann. Hierfür stellt die
tendenziell ungeeignet ist. Allerdings bietet Verkehrssimulation die gängigen Sensoren aus dem
17 ein einfacher Monitor in der Entwicklung die Automobilbereich in virtueller Form zur Verfügung:
Möglichkeit, eine Funktion auf einfache und Durch Positionierung virtueller Fahrzeuge in der
sichere Weise zu erleben, ein Gefühl für die Verkehrssimulation, die vom VIL gesteuert werden,
18 Funktion zu entwickeln sowie unterschiedliche wird den Funktionen auf Basis von Sensormodellen
Parameter und deren Auswirkungen auf die und Objektlisten entsprechende Information über
19 Fahrdynamik zu testen. Von besonderem Vor- eine Schnittstelle zur Verfügung gestellt. So besteht
teil ist hierbei, dass der Entwickler alleine in in der Entwicklungsphase die Möglichkeit, eine
20 kurzer Zeit mehrfach exakt die gleiche Fahrsi- Funktion mit den entsprechenden Daten über die
tuation erleben kann, ohne dass er umfangrei- Umfeldwahrnehmung der Verkehrssimulation zu
10.3 • Meilensteine der VIL-Entwicklung
159 10

speisen. Hierdurch ist sowohl der Fahrer als auch wicklung. Während Bock das VIL hauptsächlich als
das Fahrzeug in die Simulation eingebunden, so Entwicklungswerkzeug verstand, wurde das VIL an
dass neue Assistenzfunktionen in vielen Verkehrss- der UniBw in erster Linie als Evaluationswerkzeug
zenarien getestet werden können, ohne diese in der für Beherrschbarkeitsfragen von Fahrerassistenzsys-
Realität nachstellen zu müssen. temen gesehen.
Aufgrund der aufgetretenen Probleme bei der
„Augmented Reality“-Darstellung wurde das VIL in
10.3 Meilensteine der VIL- einer zweiten Version auf eine „Virtual Reality“-Vi-
Entwicklung sualisierung umgestellt [5]. Bei dieser Visualisie-
rungsform ist das verwendete HMD nicht trans-
Entwickelt wurde das VIL von Thomas Bock im parent, so dass der Fahrer von der Realität visuell
Rahmen seiner Promotion [3]. Als Verkehrssimu- entkoppelt ist. Stattdessen wird ihm im HMD ein
lation setzte er Virtual Test Drive von Vires [4] ein rein virtuelles Bild dargeboten (vgl. . Abb. 10.3).
und entschied sich bei der Visualisierungsform für Um das VIL für die Evaluation von Fahreras-
ein HMD im „Augmented Reality“-Modus. Hierbei sistenzsystemen zu verwenden, muss sichergestellt
besteht das HMD aus halbtransparenten Displays, sein, dass es ähnliches Fahrerverhalten wie beim re-
so dass der Fahrer die reale Umgebung durch die alen Fahren generiert. In mehreren Fahrversuchen,
Displays weiterhin sieht und sich in der realen Um- bei denen das Fahrerverhalten im VIL mit dem
gebung bewegen kann. Durch die gezielte Darstel- Fahrerverhalten in der Realität verglichen wurde,
lung virtueller Fahrzeuge auf den Displays wird die konnte die relative Validität für Verkehrssituationen
reale, leere Testrecke vor dem Fahrer mit virtuellen mit Längs- und Querverkehr nachgewiesen werden
Fahrzeugen überlagert, wodurch der Eindruck ent- [6, 7, 8, 9].
steht, dass sich die virtuellen Fahrzeuge vor dem Die Umstellung auf eine „Virtual Reality“
Fahrer in der Realität befänden. führte jedoch zu verstärktem Auftreten von Simu-
In einem Fahrversuch wies Bock nach, dass das latorkrankheit, die im „Augmented Reality“-Modus
VIL ein valides Werkzeug für die Entwicklung von noch nicht auftrat. Diese ist ein Phänomen, das sich
Fahrerassistenzsystemen ist [3]. Hierfür verglich er bei allen Fahrsimulationen mit „Virtual Reality“-Vi-
das Fahrerverhalten für unterschiedliche Verkehrss- sualisierung zeigt (vgl. ▶ Kap. 9). Es existieren zwar
zenarien im VIL und in der Realität: Die Ergebnisse viele Theorien zur Entstehung der Simulatorkrank-
belegten, dass die Probanden sich im VIL ähnlich heit, jedoch kann keine dieser Theorien den Verlauf
der Realität verhielten. Zudem war die subjektive und die erlebten Symptome der Simulatorkrankheit
Bewertung der Probanden positiv – so wurde die vollständig erklären. Unter anderem wird aber ver-
Realitätsnähe und die schnelle Gewöhnung an das mutet, dass HMDs und ihre jeweiligen Eigenschaf-
VIL gelobt. ten, wie Öffnungswinkel, Okularität, Auflösung
Allerdings gab es mit dem „Augmented Rea- usw. einen Einfluss auf die Entstehung der Simula-
lity“-Aufbau auch Probleme. So waren zum einen torkrankheit haben. Gleichzeitig beeinflussen diese
die dargestellten virtuellen Objekte bei starker Son- Eigenschaften des HMD auch die visuelle Wahrneh-
neneinstrahlung nur noch schwer erkennbar. Zum mung.
anderen führten kleine Fehler bei der Lokalisie- In einem weiteren Versuch wurde deswegen der
rung des Fahrerkopfes durch den Headtracker zu Einfluss unterschiedlicher HMD-Konfigurationen
Fehlplatzierungen der virtuellen Objekte im HMD, auf die Wahrnehmung und die Simulatorkrankheit
weswegen zum Teil der Eindruck entstand, dass die untersucht [6], um eine optimale Konfiguration
virtuellen Fahrzeuge durch die Straße fuhren oder für die Nutzung im VIL zu ermitteln. Verglichen
über dieser schwebten. wurden das NVIS nVisor SX111 mit einem Öff-
Anschließend übernahm die Carmeq GmbH nungswinkel von 102° horizontal auf 64° vertikal
den kommerziellen Betrieb des VIL und das Insti- und Stereodarstellung sowie das NVIS nVisor ST50
tut für Arbeitswissenschaft (IfA) an der Universität mit einem Öffnungswinkel von 40° horizontal auf
der Bundeswehr München (UniBw) die Weiterent- 32° vertikal. Das ST50 bietet sowohl Mono- als auch
160 Kapitel 10  •  Vehicle in the Loop

.. Abb. 10.3  Virtual Reali-


1 ty Darstellung im VIL

2
3
4
5
6
7
8
9 Stereodarstellung. Für den Vergleich der drei Konfi- dass die Latenz einerseits durch das verwendete
gurationen mussten die Probanden mit jeweils einer Headtrackingverfahren, das mindestens 70 ms be-
10 HMD-Konfiguration vier verschiedene Verkehrs- nötigt, um eine Kopfbewegung zu detektieren und
szenarien fahren, bei welchen sowohl die Tiefen- anzuzeigen, entsteht. Anderseits benötigt die Ver-
wahrnehmung als auch der Sichtbereich von Bedeu- kehrssimulation noch mal 50 ms, um die Kopfbe-
11 tung waren. Es zeigte sich, dass das Fahrerverhalten wegung in der „Virtual Reality“ darzustellen. Un-
und die Wahrnehmung der Probanden in allen drei ter Berücksichtigung weiterer Latenzen durch die
12 Konfigurationen miteinander vergleichbar waren. Visualisierungseinheit wird eine Gesamtlatenz im
Auch bei der Simulatorkrankheit wurden keine si- VIL von mind. 150 ms identifiziert. Um diese zu
gnifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen reduzieren, wurde das Headtracking, das bis dahin
13 Konfigurationen gefunden, wobei es eine Tendenz aus einem einzelnen, langsamen, optischen Headt-
gibt, die darauf hindeutet, dass die Probanden das racker (~ 70 ms bei 55 Hz) für die Erfassung der
14 System mit Stereodarstellung und großem Öff- Kopfposition und -ausrichtung eingesetzt wurde,
nungswinkel weniger gut vertragen. Dies zeigte sich um einen Drehratensensor erweitert. Im Gegensatz
15 auch bei der Befragung, in welcher das SX111 am zum optischen Tracker bietet der Drehratensensor
schlechtesten abschnitt. Da das große und schwere den Vorteil, die Drehgeschwindigkeit des Objekts,
HMD SX111 keine Vorteile bei der Wahrnehmung an dem er befestigt ist, ohne große Verzögerung und
16 gegenüber dem etwas kleineren ST50 hat, wurde in mit einer hohen Abtastrate (~ 2 ms bei 100–512 Hz)
weiteren Versuchen auf das große HMD verzichtet. zu messen. Da ein Drehratensensor jedoch nur die
17 Die Umstellung auf eine „Virtual Reality“-Dar- Drehgeschwindigkeit misst, fehlt die Information
stellung deckte jedoch eine deutlich wahrnehmbare über die aktuelle absolute Lage des Objekts.
Latenz zwischen einer Kopfbewegung des Fahrers Durch eine Fusion der beiden Datenquellen
18 und der Darstellung dieser im HMD auf. Da La- werden die Nachteile der einzelnen Sensoren kom-
tenz zum einen als Faktor für die Entstehung von pensiert und eine stabile, absolute Kopforientierung
19 Simulatorkrankheit vermutet wird, zum anderen in x-, y- und z-Richtung mit einer Latenz von we-
die Fahrerleistung beeinflusst, sollte diese bei der niger als 10 ms berechnet. Zur Kompensation der
20 Verwendung einer VR-Darstellung möglichst ver- Latenz bedingt durch die Simulationssoftware wird
mieden werden. Eine Analyse des Systems zeigt, zusätzlich auf Basis der aktuellen Kopflage und
10.4  •  Fazit und Ausblick
161 10

Drehgeschwindigkeit mithilfe einer gleichförmi- les Cockpit in der Darstellung anzuzeigen, stell-
gen Geschwindigkeitsannahme die Kopfrotation ten sich als wenig zielführend heraus, da es mit
extrapoliert, so dass die Latenz bei der Darstellung sehr viel Aufwand verbunden ist, die Arme und
von Drehbewegungen des Kopfes weiter reduziert Hände des Fahrers, die aktuelle Lenkradstellung
wird. Da beim Fahren Rotationsbewegungen des sowie die richtige Anzeige im Armaturenbrett zu
Kopfes den Hauptanteil der Bewegungen darstellen visualisieren. Diese Detailtreue wird aber benötigt,
und Translationen des Fahrerkopfes nur eine un- um den Immersionsgrad des Fahrers zu sichern.
tergeordnete Rolle bei der Wahrnehmung des Fah- Deswegen wurde in einem neuen Ansatz von „Aug-
rers einnehmen, wird die Position des Kopfes nach mented Reality“ auf Basis von „Video-See-Through“
wie vor nur über den langsamen optischen Tracker versucht, den realen Innenraum in das „Virtual Re-
verfolgt. Eine erste Evaluierung, bei der Probanden ality“-Bild zu integrieren. Hierfür wird am HMD
dieses neue Headtrackingverfahren mit dem alten eine Videokamera befestigt, die die aktuelle Sicht
Verfahren verglichen, zeigte, dass das neue Verfah- des Fahrers filmt. In einem Bildverarbeitungs-
ren von den Probanden bevorzugt wird und zu einer schritt wird im Videobild die Windschutzscheibe
wesentlich besseren Beurteilung der visuellen Dar- segmentiert und diese durch die aktuelle „Virtual
stellung im VIL führt [6]. Reality“-Ansicht aus der Verkehrssimulation er-
Die vorgestellten Erkenntnisse und Verbesserun- setzt. Hierzu wird die Windschutzscheibe mithilfe
gen zur Visualisierung im VIL wurden in weiteren eines 3D-Modells des Fahrzeugs über die aktuelle
Evaluationsstudien untersucht, um mögliche Aus- Kopflage des Fahrers berechnet. Dies hat den Vor-
wirkungen auf das Fahrerverhalten zu identifizieren. teil, dass die Segmentierung unabhängig vom Vi-
Hierfür wurde mithilfe einer Vergleichsstudie mit ei- deobild ist und somit die Verkehrssimulation im-
nem Realfahrzeug und dem VIL das Fahrerverhalten mer anstelle der Windschutzscheibe angezeigt wird.
in städtischen Umgebungen untersucht. Ein Szena- Das zusammengesetzte Bild wird dem Fahrer an-
rio, bei dem der Fahrer Gassen mit verschiedenen schließend im HMD dargestellt (vgl. . Abb. 10.4).
Breiten durchfahren muss, zeigte, dass die Fahrer So erhält der Fahrer die von ihm bekannte Sicht des
im VIL sich ähnlich zu den Fahrern im Realfahr- Fahrzeuginnenraums zurück und sieht neben dem
zeug verhielten. Die Fahrer beurteilten im VIL die realen Innenraum auch wieder seinen Körper und
Gassenbreite tendenziell kritischer und reduzierten die Bewegungen von Armen und Händen. Sobald
ihre Geschwindigkeit stärker als in der Realität. Da er aber aus der Windschutzscheibe blickt sieht er
die Unterschiede bei den subjektiven und objektiven wie im „Virtual Reality“-Modus die aktuelle An-
Daten gleiche Stärke und Richtung aufweisen, konnte sicht der Verkehrssimulation. Erste Versuche, das
jedoch relative Validität für das VIL bezüglich der beschriebene Verfahren umzusetzen, konnten das
Wahrnehmung von Gassenbreiten mit der veränder- Konzept grundsätzlich bestätigen, auch wenn das
ten Konfiguration nachgewiesen werden [10]. augmentierte Bild noch nicht als verzögerungsfrei
Durch die kontinuierliche Verbesserung des erscheint und die Segmentierung der Windschutz-
„Virtual Reality“-Ansatzes hat sich dieser gegenüber scheibe noch nicht fehlerfrei war [6].
der „Augmented Reality“-Visualisierung durchge-
setzt. Vor allem die Abhängigkeit der Darstellung
überlagerter virtueller Objekte von den Beleuch- 10.4 Fazit und Ausblick
tungsverhältnissen in der Realität begrenzt den
Einsatz dieser Technik. Mit dem Aufbau des VIL als Entwicklungswerkzeug
Allerdings hat die Umstellung auf die „Virtual für Fahrerassistenzsysteme stellte Bock ein neues
Reality“-Darstellung einen entscheidenden Nach- Verfahren vor, das die Reproduzierbarkeit und Si-
teil gegenüber dem „Augmented Reality“-Ansatz: cherheit einer Fahrsimulation und gleichzeitig das
So entfällt durch die komplette virtuelle Dar- Fahrerlebnis aus der Realität bietet [1]. Hiermit
stellung die Ansicht des Fahrzeuginnenraums, wurde eine neue Möglichkeit zur kostengünstigen
so dass der Fahrer nur die virtuelle Umgebung und effizienten Entwicklung von sicherheitskriti-
während der Fahrt sieht. Versuche, ein virtuel- schen Fahrerassistenzsystemen geschaffen.
162 Kapitel 10  •  Vehicle in the Loop

.. Abb. 10.4  Prinzip der


1 „Augmented Reality“-Dar-
stellung, zusammen-
gesetzt aus Video- und
2 „Virtual Reality“-Bild

3
4
5
6
7
8
9 Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Smartphone-Technik, ein Techniksprung bei
und Verbesserung in [6] wurde der Einsatzbereich den HMDs bevor. So zeigte Oculus VR einen ersten
10 des VIL als Methode zur Evaluation von Fahreras- HMD-Prototyp, der viele der bisherigen Visualisie-
sistenzsystemen erweitert, so dass heute eine valide rungsprobleme gelöst hat [11] und das VIL weiter
Absicherungsmethode für Assistenzfunktionen verbessern kann.
11 der aktiven Sicherheit als Ergänzung zur bekann- Gleichzeitig wird die Methode „Augmen-
ten Fahrsimulation sowie Realversuchen zur Ver- ted Reality“ auf „Video-See-Through“-Basis auf
12 fügung steht. Grundlage der erzielten Ergebnisse weiterentwi-
Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung ckelt. Durch eine bessere, stabilere und schnellere
des VIL soll das Fahrerlebnis noch realer und der Darstellung soll das Konzept zur Serienreife ge-
13 Immersionsgrad weiter gesteigert werden. Trotz- bracht werden, so dass zukünftige Nutzer des VIL
dem ist nicht zu übersehen, dass Simulatoren die wieder mit dem Innenraum interagieren können.
14 Wirklichkeit nie perfekt abbilden. Deshalb werden Aufgrund der kontinuierlichen Entwicklung von
in weiteren Vergleichsstudien von VIL und Reali- Darstellungsmedien ist auch eine Abkehr von
15 tät die Unterschiede im Fahrerverhalten analysiert, HMDs nicht ausgeschlossen. So ergeben sich z. B.
um auf Basis der Ergebnisse Transferfunktionen zu durch kontaktanaloge Displays, die von Fahrzeug-
erarbeiten, die im VIL erzeugte Ergebnisse auf die herstellern für eine großflächige Navigationsdarstel-
16 Realität abbilden [10]. lung erforscht werden [12], neue Möglichkeiten für
Während die Fahrdynamik im VIL der Realität die Darstellung im VIL.
17 entspricht, besteht weiterhin großer Entwicklungs-
bedarf bei der Visualisierung. So sind heute erhältli-
che HMDs noch immer zu groß und schwer, was zu
18 einem eingeschränkten Tragekomfort führt. Zudem
sind die verwendeten Displays meist zu träge und
19 entsprechen nicht dem Stand der Technik. Nach
dem großen VR-Boom in den 90er Jahren, seitdem
20 sich die Technik von HMDs nicht mehr signifikant
weiterentwickelt hat, steht nun, angetrieben von
Literatur
163 10
Literatur Weiterführende Literatur
1 Stoner, H., Fisher, D., Mollenhauer, M.: Simulator and Scena-
rio Factors influencing simulator sickness. In: Handbook of
Verwendete Literatur Driving Simulation for Engineering, Medicine and Psycho-
1 Verburg, D., van der Knaap, A., Ploeg, J.: VEHIL: Developing logy. CRC Press, Boca Raton, Florida (2011)
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posium IEEE, Bd. 2, S. 537–544. (2002) rück zur erweiterten Realität mittels video‐see‐through.
2 Schuldt, F., Lichte, B., Maurer, M., Scholz, S.: Systematische In: Tagungsband Fahrer im 21. Jahrhundert, S. 225–236.
Auswertung von Testfällen für Fahrfunktionen im modula- VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
ren virtuellen Testbaukasten 9. Workshop Fahrerassistenz-
systeme. (2014)
3 Bock, T.: Vehicle in the Loop – Test‐ und Simulationsum-
gebung für Fahrerassistenzsysteme. Dissertation an der
Technischen Universität München, Vieweg, 2008
4 Von Neumann-Cosel, K., Dupuis, M., Weiss, C.: Virtual Test
Drive provision of a consistent tool‐set for [D,H,S,V]‐in‐
the‐Loop. In: Proceedings of the Driving Simulation Con-
ference (2009)
5 Starke, A., Hänsel, F.: Vehicle in the Loop ‐ Fahrerassistenz-
systeme mit Virtual Reality im realen Fahrzeug testen, ent-
wickeln und erleben AAET – Automatisierungssysteme,
Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für Trans-
portmittel Symposium. (2011)
6 Berg, G.: Das Vehicle in the Loop – Ein Werkzeug für die
Entwicklung und Evaluation von Fahrerassistenzsystemen.
Dissertation der Universität der Bundeswehr München,
2014
7 Berg, G., Karl, I., Färber, B.: Vehicle in the Loop – Validierung
der virtuellen Realität. In: Tagungsband Fahrer im 21. Jahr-
hundert, S. 143–154. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2011)
8 Karl, I., Berg, G., Rüger, F., Färber, B.: Driving Behavior and
Simulator Sickness While Driving the Vehicle in the Loop:
Validation of Longitudinal Driving Behavior. IEEE Intelligent
Transportation Systems Magazine 5(1), 42–57 (2013)
9 Sieber, M., Berg, G., Karl, I., Siedersberger, K.-H., Siegel, A.,
Färber, B.: Validation of Driving Behavior in the Vehicle
in the Loop: Steering Responses in Critical Situations. In:
16th Intelligent Transportation Systems (ITSC) IEEE. S.
1101–1106. (2013)
10 Rüger, F., Purucker, C., Schneider, N., Neukum, A., Färber, B.:
Validierung von Engstellenszenarien und Querdynamik im
dynamischen Fahrsimulator und Vehicle in the Loop. In: 9.
Workshop Fahrerassistenzsysteme (2014)
11 Kushner, D.: Virtual Reality’s Moment – The Oculus Rift
could finally take VR to mainstream. In: IEEE Spectrum,
Special Report: 2014 Top Tech to Watch (2014)
12 Jansen, A.: Augmented Reality in zukünftigen Head‐Up
Displays – Prototypische kontaktanaloge Navigationsdar-
stellung im Versuchsfahrzeug. In: Tagungsband Fahrer des
21. Jahrhunderts, S. 189–200. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
165 III

Testverfahren
Kapitel 11 Testverfahren für Verbraucherschutz
und Gesetzgebung – 167
Patrick Seiniger, Alexander Weitzel

Kapitel 12 Nutzerorientierte Bewertungsverfahren


von Fahrerassistenzsystemen – 183
Jörg Breuer, Christoph von Hugo, Stephan
Mücke, Simon Tattersall

Kapitel 13 EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung


von Antikollisionssystemen – 197
Norbert Fecher, Jens Hoffmann, Hermann Winner

Kapitel 14 Testen mit koordinierten automatisierten


Fahrzeugen – 207
Hans-Peter Schöner, Wolfgang Hurich
167 11

Testverfahren
für Verbraucherschutz
und Gesetzgebung
Patrick Seiniger, Alexander Weitzel

11.1 Systematik von Testverfahren – 168


11.2 Testverfahren für Gesetzgebung
und Verbraucherschutz – 170
11.3 Eigenschaften der Testwerkzeuge – 174
11.4 Realitätsnähe und Testaufwand – 180
11.5 Ausblick – was ist in EuroNCAP an
Testverfahren zu erwarten?  –  181
Literatur – 181

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
168 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

Der Begriff Testverfahren bezeichnet eine Methode, 11.1 Systematik von Testverfahren
1 nach der ein Test eines Systems auf bestimmte Ei-
genschaften durchzuführen ist. Hierzu sind auch Zur Bewertung von Fahrerassistenzsystemen wird
2 erforderliche Werkzeuge, Hilfsmittel, Randbedin- eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden einge-
gungen und Auswertemethoden festzulegen. setzt. Die Verfahren variieren abhängig von der
Testverfahren sind ein wesentliches Werkzeug, Zielsetzung des Tests, wie beispielsweise welche
3 um zu prüfen, ob gewünschte Produkteigenschaften Systemfunktionalität gegen welche Kriterien geprüft
vorhanden sind, was selbstverständlich auch wäh- werden soll, und dem verfügbaren Entwicklungs-
4 rend der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen stand des jeweiligen Systems, resultierend aus fol-
gilt. Es existieren entwicklungsbegleitende und frei- gendem Ablauf des Entwicklungsprozesses:
5 gebende Tests, die im Wesentlichen in Eigenregie Er beginnt mit der allgemeinen Formulierung
vom Fahrzeug- oder Systemhersteller durchgeführt eines beabsichtigten Systemnutzens, aus dem dann
werden. Ferner gibt es Tests, die im Sinne einer un- Systemfunktionen und damit Anforderungen abge-
6 abhängigen Produktprüfung von externen Testor- leitet werden. Es folgt die Systemspezifikation und
ganisationen vorgenommen werden – sei es für die die Komponentenentwicklung. Die Erfüllung von
7 Genehmigung von Fahrzeugtypen zur Zulassung Anforderungen und die Darstellung des gewünsch-
zum Markt, im Rahmen der Anwendung der Norm ten Nutzens werden anschließend durch die Veri-
zur funktionalen Sicherheit (in beiden Fällen bei- fikation und Validierung des Systems im Rahmen
8 spielsweise durch technische Dienste) oder für die von Tests geprüft.
Kundeninformation, dann durchgeführt von Testin-
9 stituten für Verbraucherschutz.
Den Fokus dieses Kapitels stellen diese „exter- 11.1.1 Testverfahren im
Produktentwicklungsprozess
10 nen“ Testverfahren dar. Das angrenzende Gebiet des
entwicklungsbegleitenden Tests soll an dieser Stelle
lediglich zur Abgrenzung beschrieben werden, die Für den Überblick wird eine Einordnung anhand
11 erforderlichen Tests zum Nachweis der funktiona- des V-Modells der Produktentwicklung [2] vorge-
len Sicherheit (zwar Teil des Entwicklungsprozesses, nommen. Über den Verlauf der Entwicklung eines
12 aber gegebenenfalls auch von externen Organisatio- Systems nimmt der Abstraktionsgrad der mit dem
nen durchgeführt) finden sich in ▶ Kap. 6 sowie in jeweiligen Testverfahren zu prüfenden Systemeigen-
der Norm ISO 26262 [1]. schaften erst ab und dann wieder zu. Gleichzeitig
13 Ausgehend von einer Systematik der Testver- verschiebt sich die Zielsetzung von Fragen der Aus-
fahren werden Anforderungen aus der Entwicklung legung der Systeme zur Validierung der beabsichtig-
14 sowie aus Verbraucherschutz und Gesetzgebung ge- ten Eigenschaften.
nannt. Zur Verdeutlichung der Systematik werden Die Testverfahren sind hierbei in den horizonta-
15 Beispiele für Testverfahren ausgewählt und knapp len Ebenen des V-Modells jeweils durch zu prüfende
beschrieben; detailliertere Informationen hierzu Anforderungen an das jeweilige Fahrerassistenzsys-
finden sich unter anderem in den ▶ Kap. 12, 13, 14. tem definiert. Im linken Ast von . Abb. 11.1, wäh-
16 Neben den Auswertemethoden und Messgrö- rend der Produktdefinition und -auslegung, können
ßen sind die genutzten Testwerkzeuge der Kern Testverfahren zur Detaillierung von Anforderun-
17 eines Testverfahrens, so dass Anforderungen an gen, aber auch zu Machbarkeitsbetrachtungen die-
Werkzeuge genannt und erläutert werden. Abschlie- nen. Im rechten Ast steht dann die Verifikation der
ßend werden die Herausforderungen, die immer Anforderungen im Vordergrund bzw. auf höchster
18 komplexere vernetzte Fahrerassistenzsysteme an Ebene die Validierung der Produkteigenschaften.
zukünftige Testverfahren stellen, erörtert und Lö- Auf gleicher Ebene des V-Modells sind daher die
19 sungsmöglichkeiten skizziert. Anforderungen an die Testverfahren im rechten und
linken Ast unter Umständen ähnlich oder gleich.
20 Auch Anforderungen aus gesetzgeberischen Vorga-
ben oder Normen und Richtlinien können in diese
11.1 • Systematik von Testverfahren
169 11

.. Abb. 11.1  Einordnung von Normen und Richtlinien anhand eines modifizierten V-Modells

Schematik eingeordnet werden. . Abbildung 11.1 straktionsgrades können diese Testverfahren aber


zeigt das V-Modell mit Systemebenen und ordnet teilweise auch für die abschließende Validierung
Normen und Richtlinien zu. von Systemnutzen und Risiko eingesetzt werden.
Die in . Abb. 11.1 dargestellte höchste Ebene Zusätzlich zu diesen objektiven Verfahren kön-
ist nicht Bestandteil des V-Modells. In dieser Ebene nen jeweils ergänzend Expertenbewertungen her-
wird auf der linken Seite geprüft, welche Art von angezogen [5, 6] werden, insbesondere dann, wenn
Fahrerassistenzsystem einen Nutzen für die Ver- Eindeutigkeit mit den verfügbaren Verfahren nicht
kehrssicherheit bietet und dies einem gegebenen- zu erreichen ist oder der Aufwand dafür als nicht
falls zusätzlich durch das System entstehenden vertretbar hoch eingestuft wird.
Risiko gegenübergestellt. Auf der rechten Seite ist
dann der tatsächliche Nutzen nach Serieneinsatz des
Systems im öffentlichen Straßenverkehr zu bewer- 11.1.2 Unterscheidung anhand
ten. Die Übergänge zwischen den Stufen sind dabei charakteristischer
fließend: Eine eindeutige Trennung ist nicht immer Eigenschaften
möglich, insbesondere, weil für eine Risikobewer-
tung eine Konkretisierung der Systemausprägung Neben dieser allgemeinen und abstrakten Betrach-
notwendig ist, die die Definition von Anforderun- tung anhand des Produktentwicklungsprozesses
gen erfordert. werden Testverfahren häufig auf Grundlage cha-
In den frühen Phasen der Produktentwicklung rakteristischer Eigenschaften unterschieden. Für
werden auf Basis von Systemdefinitionen erste Nut- die Bewertung von Fahrerassistenzsystemen mit
zen- und Risikoabschätzungen durchgeführt, um Umfeldwahrnehmung ist jeweils eine relevante
die Realisierungschancen eines neuartigen Systems Einsatzsituation für das System zu erzeugen. Da
bewerten zu können. Zur Stützung dieser Abschät- die Systeme häufig nicht im öffentlichen Straßen-
zungen werden Studien zum Nutzen im Falle von verkehr getestet werden können, muss daher eine
berechtigten Eingriffen (siehe ▶ Kap. 13) und zum gleichwertige Situation in einer Testumgebung er-
Risiko einer Assistenzfunktion – beispielsweise in zeugt werden. Hierzu sind beispielsweise im Falle
Form der Kontrollierbarkeit im Falle von Fehlern von Tests für Notbremssysteme Objekte nötig, die
und nicht situationsgerechten Auslösungen [3, 4] stehende oder langsam fahrende Fahrzeuge reprä-
– durchgeführt. Aufgrund des vergleichbaren Ab- sentieren. Als Unterscheidungsmerkmal von Test-
170 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

1 .. Tab. 11.1  Systematik der Testverfahren

Eigenschaft mögliche Ausprägungen übliche Ausprägungen für Gesetz-


2 gebung und Verbraucherschutz

Systemkategorie Komfortsysteme, Sicherheitssysteme Sicherheitssysteme

3 Bewertungsebene Komponente, Gesamtfahrzeug Gesamtfahrzeug

Grad der Virtualisierung virtuell, teilvirtuell (Entwicklung), real real


4 Testumgebung Simulation, Labor, Versuchsstrecke, Versuchsstrecke
reale Straße (abgesperrt), reale Straße

5 Bewegungsart des Ego-Fahrzeugs stehend, selbstfahrend, fremdbewegt selbstfahrend

Repräsentation des Zielobjekts Pkw, Fußgänger, Fahrrad, Sonstiges


6 Bewegungsart des Zielobjekts stationär, selbstfahrend, fremdbewegt

Kollisionstoleranz des Zielobjekts keine, eingeschränkt für Notfälle, uneingeschränkt (mit Einschränkung
7 uneingeschränkt (im Bereich der getesteten Geschwindigkeit)
bestimmter Grenzen der Kollisionsge-
schwindigkeit)
8 Steuerung des Ego-Fahrzeugs Probanden, professionelle Testfah- professionelle Testfahrer,
rer, automatisiert mit Überwacher, automatisiert mit Überwacher
9 vollautomatisiert

Bewertungsgegenstand z. B.: Mensch-Maschine-Schnittstelle, Gesamtfahrzeugperformance,

10 biomechanische Eigenschaften,
Systemeigenschaften (Performance,
teilweise Vermeidung von Fehlaus-
lösungen
False Positives), Gesamtfahrzeugper-
11 formance, Fehlauslösungen bei False
Positives

Auswertemethode z. B.: Fragebogen, Fahrzeugmess- Fahrzeugmessgrößen


12 größen

Bewertungsmethode vergleichende Bewertung, absolute vergleichende Bewertung,


13 Bewertung absolute Bewertung

14 verfahren werden dann beispielsweise die Art dieser 11.2 Testverfahren


Zielobjekte, deren Bewegungssysteme oder auch der für Gesetzgebung
und Verbraucherschutz
15 Grad der Virtualisierung der Tests herangezogen.
Eine Zusammenfassung üblicher Unterscheidungs-
kriterien von Testverfahren ist in . Tab. 11.1 darge- Neben den Testverfahren, die innerhalb des Ent-
16 stellt, Mischformen sind darin ebenfalls möglich. wicklungsprozesses entstehen und angewendet
Die Systematik beinhaltet auch Ausprägungen, die werden, gibt es zwei wesentliche Arten von Test-
17 für Gesetzgebung und Verbraucherschutz unerheb- verfahren: solche, deren Bestehen für die Zulassung
lich sind – übliche Ausprägungen der Merkmale für eines Fahrzeugtyps erforderlich sind, und solche,
diesen Bereich sind daher in der letzten Spalte der die von Verbraucherschutzorganisationen zur ver-
18 Tabelle angegeben. gleichenden Bewertung von Produkten angewendet
werden.
19 Technische Typgenehmigungsvorschriften wer-
den zumindest für Großserienfahrzeuge heute fast
20 nur noch international geregelt, siehe ▶ Kap. 3. Test-
verfahren für die Typprüfung und dazugehörige
11.2  •  Testverfahren für Gesetzgebung und Verbraucherschutz
171 11

.. Tab. 11.2  Vergleich Testverfahren Gesetzgebung und Verbraucherschutz

Gesetzgebung Verbraucherschutz

Bewertungsergebnis bestanden/nicht bestanden graduell zur Einstufung angebotener


Produkte

Zweck des Testverfahrens Sicherstellung von Mindeststandards Förderung von Innovationen (Ver-
(Absicherung nach unten) schieben der Bestmarke nach oben),
Sicherstellen eines guten Niveaus in
der Breite

Notwendige Begründungen für In der Regel Kosten-Nutzen-Analyse keine


das System

Verfahren der Verabschiedung Mehrheitsentscheid von Vertragspart- In der Regel Einzel- oder Mehrheitsent-
nern (= Nationen) scheidung eines begrenzten Gremiums

Bestehenskriterien werden zumindest für die Ak- den die Verfahren von den Verbraucherschutzor-
tivitäten der UN während deren Definitionsphase ganisationen (unter Einbeziehung ihrer Mitglieder)
transparent kommuniziert (sämtliche Protokolle im Alleingang festgelegt. Verbraucherschutztests
der Arbeitsgruppen und ein Großteil des in die eignen sich daher insbesondere dafür, technische
Diskussion eingebrachten Arbeitsmaterials ist im Innovationen zu fördern, deren vermuteter Nutzen
Internet unter ▶ www.unece.org verfügbar). noch nicht in der für die Gesetzgebung erforderli-
Gemeinsame Zielsetzung von Gesetzgeber und chen Sicherheit nachgewiesen werden kann.
Verbraucherschutzorganisationen ist es, als notwen- Einen Vergleich der Erstellung von Testverfah-
dig erachtete Anforderungen an die Fahrzeugsicher- ren zeigt . Tab. 11.2.
heit – und gegebenenfalls an den Umweltschutz Für den Test einer Vielzahl von Fahrerassis-
– sowie teilweise auch als wichtig erachtete Sys- tenzsystemen gibt es Normen, die im Rahmen der
temspezifikationen – beispielsweise Nachtfähigkeit International Standardisation Organisation entwi-
von bestimmten Notbremssystemen, Details zur ckelt werden (bspw. die ISO 15622 für ACC [7]). Die
Robustheit – durchzusetzen. Die strategischen As- nationale Zuständigkeit für ISO-Normen ist unter-
pekte dieses Themas werden ebenfalls in ▶ Kap. 3 schiedlich und liegt in Deutschland beispielsweise
behandelt. Grundsätzlich unterscheiden sich beide für fahrzeugtechnische Normen beim Verband der
Herangehensweisen durch den Fokus. Automobilindustrie. Bedingt durch die in vielen
Technische Vorschriften müssen von allen Fahr- Staaten vorhandene Industrienähe der Normungs-
zeugen erfüllt werden, die im relevanten Markt zu- aktivitäten spielen ISO-Normen in Vorschriften und
gelassen werden sollen, und sind somit verpflich- im Verbraucherschutz eine sehr begrenzte Rolle,
tend für alle Fahrzeuge. Entsprechend hoch sind indem beispielsweise in Vorschriften für Testde-
die Hürden für die Einführung der Vorschriften. tails auf die Normen zurückgegriffen wird. Sie sind
Letztere decken daher lediglich Mindeststandards jedoch als Definition des Standes der Technik für
ab. In der Regel sind sichere und von allen Partnern Fragen der Produkthaftung auch für gerichtliche
anerkannte Analysen des Nutzens für den Einfüh- Entscheidungen relevant.
rungsprozess erforderlich. Das ist oftmals nur mög-
lich, wenn technische Systeme bereits zahlreich in
der Flotte vorhanden sind. 11.2.1 Anforderungen
Die Erfüllung von Anforderungen des Verbrau- der Gesetzgebung
cherschutzes ist für den Fahrzeughersteller hinge-
gen grundsätzlich freiwillig und ist mit vergleichs- Die europäische Union und viele andere Länder
weise geringen Hürden für die Einführung neuer sind Vertragspartner des Abkommens über die Har-
Bewertungsverfahren verbunden: In der Regel wer- monisierung der Fahrzeugvorschriften von 1958
172 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

1 .. Tab. 11.3  Übersicht über für Fahrerassistenzsysteme relevanten Fahrzeugvorschriften

Vorschrift Titel Testverfahren für Fahrerassistenzsystem


2 UN R 13 H einheitliche Bedingungen für die Anhang 9: Elektronische Fahrdynamik-Regelsysteme (ESC)
Genehmigung von Personenkraftwagen und Bremsassistenzsysteme
3 hinsichtlich der Bremsen Mindestanforderungen für die funktionale Sicherheit aller
FAS, die in die Bremse eingreifen.
Es ist geplant, die Anforderungen an ESC und BAS in eine
4 eigene UN R-Vorschrift zu überführen.

UN R 79 einheitliche Bedingungen für die Ge- Anhang 6: Spezielle Vorschriften für die Sicherheitsaspekte

5 nehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich


der Lenkanlage
komplexer elektronischer Fahrzeugsteuersysteme.
Es werden Grenzen für Lenkeingriffe definiert und Min-
destanforderungen an die funktionale Sicherheit der FAS

6 gestellt, die in die Lenkung eingreifen.

UN R 130 einheitliche Bedingungen für die Ge- Nur für Lastkraftfahrzeuge und Busse der Klassen N2, N3,
nehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich M2 und M3 (Fahrzeugklassen nach R.E.3 der UNECE [9])
7 des Fahrstreifenverlassenswarnsystems

UN R 131 einheitliche Bedingungen für die Ge- Nur für Lastkraftfahrzeuge und Busse der Klassen N2, N3,
8 nehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich M2 und M3 (Fahrzeugklassen nach R.E.3 der UNECE [9])
der fortschrittlichen Notbremssysteme

9
[8], bekannt durch die unter diesem Abkommen Da die Ergebnisse den Verkaufserfolg eines
10 entwickelten UN Regelungen (UN R) (früher: UN Fahrzeugs deutlich beeinflussen können, besteht
ECE-Regelungen). . Tabelle 11.3 gibt eine Über- die Forderung nach einem hochreproduzierbaren
sicht über die für Fahrerassistenzsysteme relevanten Verfahren mit transparenten Bewertungskriterien,
11 Regelungen. das oftmals über die technisch erforderliche Repro-
Dabei fällt auf, dass Notbremssysteme und duzierbarkeit (und damit über die Anforderungen
12 Fahrstreifenverlassenswarnsysteme bisher nur für der Typgenehmigung) hinausgeht.
schwere Nutzfahrzeuge und Busse vorgeschrie- Verbraucherschutztests werden weltweit von
ben sind. Grund hierfür sind die im Vergleich zu den New-Car-Assessment-Programmes (NCAP)
13 Pkw-Unfällen verheerenden Folgen von Auffah- und ihren Mitgliedern nach transparenten Verfah-
runfällen und Abkommensunfällen mit schweren ren durchgeführt und bewertet. Gelegentlich gibt es
14 Nutzfahrzeugen im Zusammenhang mit unauf- aber auch Tests ohne vorherige Information, deren
merksamen Fahrern. Zweck dann ist, einen Missstand medienwirksam
15 Die Anforderungen an die Wiederholbarkeit in aufzuzeigen (Beispiel: ADAC-Test zur Notbremsas-
den genannten Testverfahren sind vergleichsweise sistenz für Fußgänger, 2013 [10]). Eine Übersicht
gering und erlauben es daher in der Regel, Tests der verschiedenen New-Car-Assessment-Program-
16 ohne den Einsatz von Fahrrobotern durchzuführen. mes und deren Planungen für Tests von Fahrerassis-
tenzsystemen findet sich in . Tab. 11.4.
17 Die Testverfahren für Notbremsassistenz Pkw
11.2.2 Anforderungen – Pkw in JNCAP, KNCAP und IIHS basieren auf
aus dem Verbraucherschutz dem Testverfahren von Euro NCAP (siehe [11]);
18 nur Bewertung und teilweise auch die geforderten
Wesentliches Merkmal von Versuchen des Ver- Testgeschwindigkeiten unterscheiden sich. Der Test
19 braucherschutzes ist, dass diese Versuche grund- der Kollisionswarnung im US NCAP unterscheidet
sätzlich ohne fahrzeughersteller- oder system- sich hiervon allerdings deutlich.
20 herstellerspezifisches Wissen durchführbar sein Bewertungskriterium der Tests im Euro NCAP
müssen. für automatische Notbremssysteme und Kollisions-
11.2  •  Testverfahren für Gesetzgebung und Verbraucherschutz
173 11

.. Tab. 11.4  Weltweite NCAP für Fahrerassistenzsysteme

Name Region Initiator Fahrerassistenz

ANCAP Australien ANCAP, Canberra Notbremsassistenz Pkw – Pkw

ASEAN NCAP Südostasien keine

C-NCAP China keine

Euro NCAP EU-28 Euro NCAP, Brüssel Notbremsassistenz Pkw – Pkw (seit 2014), Notbremsas-
sistenz Pkw – Fußgänger (in Vorbereitung, geplant für
2016), Fahrstreifenverlassenswarner (seit 2014), Geschwin-
digkeitsbegrenzer in verschiedenen Ausprägungen (seit
2014)

JNCAP Japan NASVA, MLIT Notbremsassistenz Pkw – Pkw in Vorbereitung, Notbrem-


sassistenz Pkw – Fußgänger in Vorbereitung

KNCAP Korea Notbremsassistenz Pkw – Pkw (geplant für 2015), weitere


in Vorbereitung

LATIN NCAP Südamerika LATIN NCAP, Uru- keine


guay

US NCAP / USA NHTSA, Washington Kollisionswarnung, Fahrstreifenverlassenswarnung


5 Star Safety
Ratings

IIHS USA Insurance Institute Notbremsassistenz Pkw – Pkw


for Highway Safety,
Arlington

.. Tab. 11.5  Vergleich der Tests für Notbremsassistenz in Euro NCAP und US NCAP

Euro NCAP [11] US NCAP [12]

Szenario Testgeschwindigkeit 10–25 km/h (nur Testgeschwindigkeit 72 km/h (nur Kollisionswarnung)


„stehendes automatische Bremsung), 30–50 km/h Bestehenskriterium: Warnung bei TTC ≥ 2,1 s
Zielfahrzeug“ (beides), 55–80 km/h (nur Kollisionswar-
nung)

Szenario Geschwindigkeit des vorausfahrenden Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs


„fahrendes Fahrzeugs 20 km/h 36 km/h
Zielfahrzeug“ Testgeschwindigkeit 30–70 km/h Testgeschwindigkeit 72 km/h (nur Kollisionswarnung)
(automatische Bremsung), 50–80 km/h Bestehenskriterium: Warnung bei TTC ≥ 2,0 s
(Kollisionswarnung)

Szenario Fahrgeschwindigkeit beider Fahrzeuge Fahrgeschwindigkeit beider Fahrzeuge 72 km/h (nur


„bremsendes 50 km/h Kollisionswarnung)
Zielfahrzeug“ Abstand 12 und 40 m Abstand 30 m
Verzögerung 2 und 6 m/s² Bewertung Verzögerung 3 m/s²
jeweils automatische Bremsung und Bestehenskriterium: Warnung bei TTC ≥ 2,4 s
Kollisionswarnung

warnung ist die Geschwindigkeitsreduktion, die auf das stehende oder bewegte Zielobjekt gefahren
für verschiedene Testgeschwindigkeiten bestimmt wird. Die Testszenarien und die Charakteristik der
wird (siehe . Tab. 11.5), indem das Fahrzeug unter Bremsbetätigung sind pragmatisch aus verschiede-
reproduzierbaren Bedingungen mit Fahrrobotern nen Unfallanalysen und Studien abgeleitet.
174 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

Bei automatischen Bremsungen werden die 11.3.1 Pkw-repräsentierende


1 Fahrroboter so angesteuert, dass die Bremsung Zielobjekte
nicht übersteuert wird, um realistische Ergebnisse und Bewegungsvorrichtungen
2 zu erhalten.
Zum Test der Kollisionswarnung wird ein Heutige Notbremssysteme können Kollisionen
Bremsroboter eingesetzt: Hierzu wird vor den ei- nicht für alle Testgeschwindigkeiten und Testpara-
3 gentlichen Tests der Pedalweg d4 und die Pedalkraft meter vermeiden. Bei der Messung der Geschwin-
F4 des Testfahrzeugs entsprechend einer Verzöge- digkeitsreduktion im Fahrversuch wird es daher in
4 rung von 4 m/s² bestimmt. Im jeweiligen Test wird vielen Fällen zu Kollisionen kommen. Schon allein
1,2 s nach Ertönen der akustischen Warnung der aus Kosten- und Zeitgründen ist es daher sinnvoll,
5 Pedalweg innerhalb von 0,2 s auf den Wert d4 ein- für Pkw-Pkw-Unfälle ein kollisionstolerantes Ziel-
gestellt. Bei Erreichen dieses Wertes oder Erreichen objekt einzusetzen.
der Kraft F4 wird auf Kraftregelung mit Sollwert F4 Solche Zielobjekte sind in der Regel leicht und
6 umgeschaltet. Zur Aktivierung des Bremsroboters aus weichen Materialien wie Gummi, gefüllt mit
kommen in den einzelnen ausführenden Testinsti- Luft, um bei einem Anprall die Fahrzeugfront mit
7 tuten verschiedene Trigger zum Einsatz, die in der möglichst kleinen und über dem Kollisionsweg
Regel dann ansprechen, wenn sowohl Schallpegel gleichbleibenden Kräften zu beanspruchen. Gummi
als auch die akustische Frequenz des Warnsignals besitzt aber grundlegend andere RADAR-Reflexi-
8 (aufgenommen über ein Mikrofon) eine vorher fest- onseigenschaften als Metall. Daher werden in den
gelegte Schwelle überschreiten. Zielobjekten üblicherweise Maßnahmen zur Erhö-
9 Die Testergebnisse bei den jeweiligen Testge- hung der RADAR-Rückstrahlung eingebracht. Das
schwindigkeiten und Testarten werden anhand können Tripelspiegel sein (siehe ▶ Kap. 17) oder
10 einer Bewertungskurve zu einer Gesamtnote um- metallische Folienstücke, die passend geformt sind.
gerechnet und sind dann auch Teil der Sternebewer- Auch bezüglich der anderen Eigenschaften müssen
tung. Diese Bewertungskurve ist ebenfalls aus der Kompromisse eingegangen werden: die optische Re-
11 Relevanz verschiedener Ausgangsgeschwindigkei- flexion des Materials unterscheidet sich von Stahl
ten im Unfallgeschehen abgeleitet, beispielsweise und Glas, es sind nur einfache Formen möglich
12 gewonnen aus Daten der German In-Depth Acci- und Komponenten wie Räder sind nur begrenzt
dent Study GIDAS (▶ www.gidas.org). umsetzbar.
Das Bewertungskriterium im US NCAP ist der Das Bewegungssystem für das Zielobjekt muss
13 Zeitpunkt des Warnsignals. Dieser Test ist lediglich die innerhalb des Testverfahrens geforderte Wieder-
ein Bestehenstest, der über eine Berücksichtigung holbarkeit erreichen und darf dabei die Kollisionsei-
14 der Kollisionswarnung in der Sternebewertung ent- genschaften und Realitätsnähe des Zielobjekts nicht
scheidet. beeinflussen.
15 Innerhalb dieses Zielkonflikts zwischen reali-
tätsnahen Eigenschaften, Kollisionstoleranz und
11.3 Eigenschaften Beweglichkeit gilt es nun, ein den jeweiligen An-
16 der Testwerkzeuge forderungen entsprechendes Optimum zu finden.
Standard-Zielobjekt für die überwiegende
17 In Tests von Fahrerassistenzsystemen wird dem Zahl der Tests im Verbraucherschutz (Euro NCAP,
zu testenden Fahrzeug in der Regel mit den ge- IIHS, JNCAP, KNCAP, ANCAP) ist bisher das
eigneten Werkzeugen eine kritische Fahrsitu- „Euro NCAP Vehicle Target“ EVT, dargestellt in
18 ation vorgespielt und die Reaktion darauf aus- . Abb. 11.2.
gewertet. Wesentliche Bestandteile sind daher Es besteht aus Schaumstoff und luftgefülltem
19 Zielobjekte zur Darstellung von anderen Fahrzeu- Gummi und verfügt über in den Schaumstoff inte-
gen (Pkw-Pkw-Notbremsassistenz) und Personen grierte Tripelspiegel zur Generierung einer repräsen-
20 (Pkw-Fußgänger-Notbremsassistenz) mit passen- tativen Radarrückstrahlung (2,5 m² RCS bei 77 Ghz,
dem Bewegungssystem. siehe [11], Anhang 1). Es stellt ein Fahrzeugheck mit
11.3 • Eigenschaften der Testwerkzeuge
175 11

.. Abb. 11.2  Euro NCAP Vehicle Target (EVT) im Testeinsatz

.. Abb. 11.3  Darstellung des Kollisionsvorgangs bei Versuchen mit dem EVT

einer Tiefe von etwa 1 m dar und ist daher für zu- Ein weiteres Beispiel eines Bewegungssystems
künftige Tests, etwa in Kreuzungssituationen, nicht ist das von der Daimler AG im Versuchsaufbau Sim-
geeignet. Die Radar- und optischen Eigenschaften City eingesetzte selbstfahrende Vollfahrzeug-Ziel-
sind so abgestimmt, dass das EVT von allen aktuel- objekt (siehe ▶ Kap. 14). Hierbei werden luftgefüllte
len Fahrzeugen sicher als Ziel erkannt wird. Gummiteile um eine fern- oder programmgesteu-
Für Tests mit bewegtem Zielobjekt wird eine erte Zentralbox angeordnet. Die Gummiteile über-
überfahrbare Schiene von 21,4 m Länge als Anhän- nehmen die Kollisionsenergieabsorption und stellen
ger hinter einem Zugfahrzeug geführt. Auf dieser sicher, dass das Zielobjekt von üblicher Sensorik als
Schiene kann das Zielobjekt nach einer Kollision Fahrzeug erkannt wird.
abgebremst werden, siehe . Abb. 11.3.
176 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

.. Abb. 11.4 Fahrversuche
1 mit einem ersten Prototyp
eines Bewegungssystems
der BASt und Zielobjekt
2 ASSESSOR

3
4
5
6
7
8
Im von der Europäischen Union geförder- Anhänger ein Fahrzeugheck montiert, das visuell
9 ten Forschungsprojekt ASSESS wurde das Zie- einem realen Fahrzeug entspricht. Da dies aus Mas-
lobjekt ASSESSOR entwickelt. Der ASSESSOR segründen vollständig aus Kunststoff besteht, wird
10 basiert auf dem Zielobjektkonzept von SimCity, der Radarrückstrahlquerschnitt künstlich durch
die RADAR-Rückstrahlung ist an die gemessene Tripelspiegel erhöht. Im Gegensatz zu Sensor- und
Rückstrahlcharakteristik üblicher Kompaktklas- Systemperformancetests hat bei der Gestaltung der
11 senfahrzeuge angepasst. Im Gegensatz zum Sim- Radarrückstrahlcharakteristik die sichere Erken-
City-Konzept kann der ASSESSOR mit einer Viel- nung des Zielobjekts Vorrang gegenüber einer rad-
12 zahl von Bewegungssystemen betrieben werden, artechnisch realistischen Fahrzeugdarstellung (vgl.
beispielsweise mit dem selbstfahrenden Kart der . Abb. 13.1).
Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) [13], siehe
13 . Abb. 11.4.
Das Zielobjekt NHTSA SS_V [14] ist die Re- 11.3.2 Fußgänger-repräsentierende
14 produktion des Hecks eines Ford Fiesta aus CFK, Zielobjekte und
dessen RADAR-Rückstrahlung und sonstige Eigen- Bewegungsvorrichtungen
15 schaften sehr gut einem realen Fahrzeug entspre-
chen. Das Zielobjekt selbst ist nicht kollisionstole- Im Fall von Notbremssystemen, die auf Pkw-Fuß-
rant, aber vergleichsweise leicht. Kollisionstoleranz gänger-Unfälle ausgelegt sind, ist selbst in ferner
16 kann durch ein auf Straßenhöhe am Zielobjekt Zukunft nicht zu erwarten, dass alle Testfälle kol-
angebrachtes Schaumstoffkissen hergestellt wer- lisionsvermeidend geprüft werden können. Aus
17 den. Das Bewegungssystem ist dem des EVT (siehe ethischen Gründen stellt sich hier nicht die Frage
oben) sehr ähnlich. der Verwendung von Menschen als Zielobjekt. Ein
Ebenfalls nicht kollisionstolerant ist das Ziel- Zielobjekt (besser: Dummy) muss für übliche Sen-
18 objekt des EVITA-Verfahrens (siehe ▶ Kap. 13) – sorik als Mensch erscheinen und es erlauben, eine
Versuche sind lediglich bis zu einer TTC von etwa Kollision zu überstehen.
19 1 Sekunde durchführbar. Da das Werkzeug für Pro- Hierzu gibt es bisher zwei verschiedene Ansätze:
bandenversuche eingesetzt wird, muss insbesondere solche, bei denen der Dummy Sekundenbruchteile
20 der reale Bedrohungseindruck für den nachfolgen- vor einem Aufprall entfernt wird, und solche, bei
den Fahrer gewährleistet sein: Hierzu ist auf einem denen er besonders leicht und widerstandsfähig ist,
11.3 • Eigenschaften der Testwerkzeuge
177 11

so dass es bei Kollisionen keinen Schaden am Ver-


suchsfahrzeug und dem Dummy gibt. Im ersten Fall
ist es wichtig, dass der Dummy die entstehenden
großen Beschleunigungen in der Richtung des Weg-
ziehens aushält, üblicherweise wird der Dummy
durch eine vergleichsweise aufwendige Brücken-
konstruktion bewegt.
Im zweiten Fall ist die Formstabilität des
Dummys und das Abriebverhalten der Kleidung
wichtig – solche Konzepte kommen aber mit ver-
gleichsweise einfach aufgebauten, portablen Platt-
formlösungen zur Bewegung aus. Diese Plattform-
lösungen gibt es selbstfahrend oder riemengetrieben
und -geführt.
Dummys können darüber hinaus in sich statisch
sein oder durch bewegte Extremitäten den Gang ei-
nes Menschen nachbilden, was dann eine komple-
xere Mechanik erfordert.
.. Abb. 11.5  Fußgängerschutzanlage FGS der Firma 4a [16]
Statische Objekte unterscheiden sich schon
dadurch von Fußgängern, dass sie eben keine Be-
wegung aufweisen. Dieser Mangel ist für optische
Sensoren noch vertretbar, weil beispielsweise bei Der spanische Testanbieter und Entwicklungs-
winterlicher Kleidung eines realen Fußgängers auch dienstleister IDIADA hat eine ebenfalls fest verbaute
wenig Bewegung der Arme und Beine sichtbar ist. Brückenkonstruktion entwickelt, die zwar den Ein-
Jedoch könnten besonders neuartige RADAR-Sen- satz eines speziellen animierten Dummys, aber
soren die für sie stets erkennbare Bewegung der nicht die Möglichkeit eines Wegziehens erlaubt,
Extremitäten als Klassifizierungsmerkmal einset- siehe . Abb. 11.6. Die Anlagenkomplexität und die
zen [15] – solche Lösungen würden daher bei ei- Testkosten sinken hiermit.
nem nicht animierten Testaufbau systematisch be- Continental Safety Engineering bietet eine Brü-
nachteiligt sein. Es ist aber noch völlig unklar, ob ckenkonstruktion an, die über das bisher gesagte
animierte Lösungen ausreichend kollisionstolerant hinaus auch kurvige Dummybewegungen erlaubt
sein können. und transportabel ist, siehe . Abb. 11.7. Für den
Innerhalb dieses Lösungsfelds aus Kollisionsto- Aufbau der Anlage ist etwa ein halber Tag erfor-
leranz, Art der Bewegungseinrichtung und Komple- derlich.
xität des Dummys lassen sich die aktuell verfügba- Die Firma DSD bietet eine selbstfahrende Platt-
ren Ansätze einordnen: form an, die ihre Position anhand von DGPS und/
Die Firma 4a Engineering aus Österreich bietet oder Odometrie bestimmt. Damit sind sehr flexi-
eine im Wesentlichen aus Kohlefasermaterial ge- ble Dummy-Trajektorien möglich. Die Bauhöhe
fertigte Brückenkonstruktion an, die ein Entfernen dieser Plattform ist prinzipbedingt deutlich größer
des Dummys innerhalb von 150 ms erlaubt, siehe als die von riemengetriebenen Plattformen, siehe
. Abb. 11.5. Bei derart kleinen Zeiten ist nicht mit . Abb. 11.8.
einer deutlichen Beeinflussung der gemessenen Riemengetriebene Konzepte, wie beispielsweise
Geschwindigkeitsreduktion zu rechnen, es wird das „4a Surfboard“ (siehe . Abb. 11.9), erlauben
eine sehr hohe Testfrequenz erreicht und animierte prinzipbedingt kleinere Bauhöhen und bessere
Dummys sind problemlos möglich. Die Anlage Wiederholgenauigkeiten als selbstfahrende Platt-
muss jedoch fest verbaut werden und ist damit nicht formen, sind aber wegen der Riemenführung nicht
geeignet für Testinstitute, die auf verschiedenen sehr flexibel in der Darstellung der Fußgängertra-
Teststrecken Versuche durchführen. jektorie.
178 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 11.6  Fußgängerschutz-Testanlage von Applus IDIADA, Spanien [17]
7
.. Abb. 11.7 Fußgänger-
8 schutztestanlage der Firma
Continental [18]

9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
11.3 • Eigenschaften der Testwerkzeuge
179 11
.. Abb. 11.8  Bewegungssystem UFO der Fa. DSD, Österreich
(Quelle: B. Damhofer)

.. Abb. 11.9 Bewe-
gungssystem „Surf-
board“ der Fa. 4a [18, C.
Rodarius]
180 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 11.10  System Guided Softcrash-Target der Firma Anthony Best Dynamics [20]

8
11.4 Realitätsnähe und Testaufwand Beispiel für solche Relevanzuntersuchungen für
9 RADAR-Sensoren findet sich bei [15].
Die Entwicklung der Fahrerassistenzsysteme in den Erfolgt dieser Nachweis nicht, wird unter Um-
10 vergangenen Jahren zeigt, dass die Systeme immer ständen trotz exzellenter Funktions- und Sicher-
weiter vernetzt werden und immer größere Anteile heitsbewertungen unter künstlichen Bedingungen
der Fahrsituationen unterstützen oder sogar (teil-) nur ein geringer Sicherheitsfortschritt im realen
11 automatisiert bewältigen. Um dies zu ermöglichen, Straßenverkehr erzielt.
steigt die Menge von Informationen, die durch die Ebenso verhält es sich auch mit der Auswahl der
12 Systeme zur Fahrsituation erfasst, verarbeitet und zu testenden Szenarien. Auch deren Relevanz für
bewertet werden muss, beständig. Testverfahren den realen Verkehr muss jeweils nachgewiesen bzw.
für diese Fahrerassistenzsysteme müssen in der sogar quantifiziert werden. Mit steigender Anzahl
13 Lage sein, alle in der jeweiligen Situation benötig- von Sensoren und in die Funktion einbezogener
ten Informationen darzustellen oder zumindest mit Parameter in Fahrerassistenzsysteme mit Umfeld-
14 hinreichender Realitätsnähe zu simulieren. wahrnehmung steigt dadurch der Aufwand für die
Dadurch steigt der Aufwand für die Entwicklung Definition von Szenarien, die Durchführung von
15 und Darstellung von realen und relevanten Prüfsitu- Tests und den Relevanznachweis für das Feld.
ationen für Fahrerassistenzsysteme. Ebenso ist auch Mit zunehmender Anzahl von in die Situations-
der Nachweis notwendig, dass diese Situationen die bewertung eingehenden Parametern, wie beispiels-
16 Realität für eine Systemreaktion ausreichend genau weise Witterung oder Straßenkategorie, ist ebenso
abbilden. Für kollisionstolerante Zielobjekte z. B. hinsichtlich der Erfassung von Objekten nachzuwei-
17 ist dieser Nachweis insbesondere hinsichtlich der sen, welcher Anteil der realen Verkehrs- bzw. Un-
Eignung für die eingesetzte Sensorik und des Be- fallsituationen bei diesen Bedingungen adressiert
drohungseindrucks des Fahrers notwendig. Dabei wird. Bei unfallvermeidenden Systemen kann dies
18 ist beispielsweise die Anforderung zu erfüllen, dass auf Basis von Unfalldatenbanken erfolgen, insofern
die verwendeten Objekte nicht nur durch die Sen- die dort verfügbare Datenlage ausreichend detail-
19 sorik erfasst werden können, sondern auch, dass sie liert ist. Im Fall von teil- oder hochautomatisierten
als repräsentativ für das im Realverkehr anzutref- Systemen müsste hierfür ein als hinreichend zu be-
20 fende Kollektiv von Fahrzeugen, Fußgängern oder wertendes Fahrsituationskollektiv mit allen denkba-
weiteren Verkehrsteilnehmern anzusehen sind. Ein ren Einflussparametern herangezogen werden. Ein
Literatur
181 11

für solche Betrachtungen geeignetes Kollektiv ist ak- dass damit sehr hohe Relativgeschwindigkei-
tuell nicht bekannt. Alternativ wird daher bei diesen ten gefahrlos getestet werden können [20], siehe
Systemen eine hohe Zahl von Testkilometern unter . Abb. 11.10.
unterschiedlichsten Bedingungen absolviert, um Grundsätzlich sind die hier dargestellten Test-
eine ausreichende Abdeckung von Fahrsituations- verfahren eine punktuelle Methode, um wenige Ar-
konstellationen zu erreichen. Der Aufwand hierfür beitspunkte eines komplexen technischen Systems
ist jedoch sehr hoch (vgl. [19]) und die Übertrag- abzuprüfen – oftmals werden die Arbeitspunkte von
barkeit begrenzt. den Einsatzgrenzen der verwendeten Werkzeuge
vorgegeben. Generell wird dabei unterstellt, dass
die Leistung des Systems in den getesteten Arbeits-
11.5 Ausblick – was ist in EuroNCAP punkten auch auf andere Arbeitspunkte übertragbar
an Testverfahren zu erwarten? ist.
Insbesondere bei sehr komplexen, informati-
Testverfahren in Euro NCAP werden immer dann onsverarbeitenden Systemen könnte diese Unter-
entwickelt, wenn für eine Technologie eine Wirkung stellung auch falsch sein. Daher ist es zur Verbes-
auf das Unfallgeschehen erwartet wird und diese serung der Robustheit der Systeme sinnvoll, ein
in naher Zukunft am Markt zur Verfügung steht. deutlich breiteres Spektrum an Arbeitspunkten
Dies war bei Notbremssystemen für Pkw-Pkw- und in der Bewertung zu berücksichtigen. Denkbar ist
Pkw-Fußgänger-Unfällen der Fall. dabei der verstärkte Einsatz von Simulationen, ge-
Da Unfälle zwischen Pkws und Radfahrern und gebenenfalls auch für die Effektivitätsbewertung.
Unfälle im Querverkehr im Unfallgeschehen eben- Um die Zahl der Testfälle zu steigern, gibt es in der
falls stark vertreten sind, stellen passende Assistenz- passiven Sicherheit sogenannte Grid-Verfahren: der
systeme auch Kandidaten für die Einführung in die Fahrzeughersteller liefert eigene Messwerte zu einer
Fahrzeugbewertung dar – sofern sie verfügbar sein großen Anzahl von Testfällen und die Testinstitute
werden. überprüfen dann eine begrenzte, zufällig ausge-
Assistenzsysteme für Fahrradfahrer-Unfälle wählte Zahl dieser Testfälle.
sind aktuell bereits am Markt verfügbar. Die Ent-
wicklung von Testverfahren hierzu hat bereits
begonnen, eine Einführung der Tests in das Euro Literatur
NCAP-Rating ist für das nächste große Update der
Tests der aktiven Sicherheit mit Beginn des Jah- 1 ISO 26262: Road vehicles – Functional safety, 2012
2 V‐Modell: Verfügbar unter: http://www.cio.bund.de/DE/
res 2018 geplant – ebenso wie die Einführung von
Architekturen-und-Standards/V-Modell-XT/vmodell_xt_
Tests zur Nachtfähigkeit von Fußgänger-AEB. node.html, Abruf am 16.06.2013
Im Bereich der Fahrzeug-Fahrzeug-Not- 3 Kobiela, F.: Fahrerintentionserkennung für autonome Not-
bremssysteme werden dann auch Systeme bewer- bremssysteme, 1. Aufl. VS‐Verlag für Sozialwissenschaften,
tet, die Gegenverkehrs- und Querverkehrsunfälle Wiesbaden (2011)
4 Weitzel, A.: Objektive Bewertung der Kontrollierbarkeit
adressieren.
nicht situationsgerechter Reaktionen umfeldsensorba-
Für beide Test-Arten werden neue Werkzeuge sierter Fahrerassistenzsysteme, Dissertation TU Darmstadt,
erforderlich: dass Fußgänger-Dummys nicht für 2013
das Nachstellen von Fahrradfahrerunfällen geeignet 5 PReVENT: Code of Practice for the Design and Evaluation
sind, ist offensichtlich. Aber auch die heute verfüg- of ADAS; 13.08.2009
6 Fach, M., Baumann, F., Breuer, J., May, A.: Bewertung der
baren Zielobjekte für Pkw-Pkw-Notbremssysteme
Beherrschbarkeit von Aktiven Sicherheits‐ und Fahreras-
und die passenden Bewegungssysteme sind für sistenzsystemen an den Funktionsgrenzen. In: Integrierte
Querverkehrssituationen nicht geeignet. Sicherheit und Fahrerassistenzsysteme 26. VDI/VW‐Ge-
In naher Zukunft sind Ansätze zu erwarten, bei meinschaftstagung, Wolfsburg., S. 425–435 (2010)
denen ein Pkw-Zielobjekt aus kleinen Bausteinen 7 ISO 15622: Adaptive Cruise Control— Performance requi-
rements and test procedures (2010)
besteht und mit einer sehr flachen, überfahrbaren
8 United Nations Economic Commission for Europe Inland
Plattform bewegt wird. Prototypen haben gezeigt, Transport Committee: Agreement concerning the adop-
182 Kapitel 11  •  Testverfahren für Verbraucherschutz und Gesetzgebung

tion of uniform technical prescriptions for wheeled ve-


1 hicles, equipment and parts which can be fitted and/or be
used on wheeled vehicles and the conditions for reciprocal
recognition of approvals granted on the basis of these pre-
2 scriptions Revision, Rev. 2. Verlag Vereinte Nationen, Genf
(1995). Verfügbar unter: www.unece.org
9 United Nations Economic Commission for Europe Inland
3 Transport Committee: Revision of the Consolidated Reso-
lution on the Construction of Vehicles (R.E.3). Dokument
ECE/TRANS/WP.29/2010/45. Genf, 2010.
4 10 ADAC Pressemitteilung zum Test von Fußgänger‐Notbrem-
sassistenz, veröffentlicht am 14.11.2013

5 11 Euro NCAP: AEB Test Protocol Version 1.0 (2014). http://


www.euroncap.com/technical/protocols.aspx, Zugegrif-
fen: 13.02.2014

6 12 Forkenbrock, G.: A Test Track Protocol for Assessing For-


ward Collision Warning Driver‐Vehicle Interface Effective-
ness Report DOS HS, Bd. 811 501. NHTSA, Washington D.C.
7 13
(2011)
Seiniger, P., et al.: Development of a target propulsion sys-
tem for ASSESS 20th Conference on the Enhancement of
8 the Safety of Vehicles (ESV), June 2011. Washington D.C,
NHTSA, Washington D.C. (2011)
14 Buller, W., et al.: Radar Measurement of NHTSA's Surrogate
9 Vehicle "SS_V" Report No. DOT HS, Bd. 811 817. NHTSA,
Washington D.C. (2013)
15 Heuel, S.; Rohling, H.: Pedestrian Classification in Automo-
10 tive Radar Systems. 19th International Radar Symposion,
23.‐25.05.2012, Warschau, Polen.
Marx, B.: Bewertungsverfahren für Radareigenschaf-
11 ten von Personenkraftwagenkarosserie, Dissertation TU
Darmstadt, 2013
16 4a Engineering GmbH, Traboch, Österreich
12 17 Applus IDIADA Group, Santa Oliva, Spanien
18 Continental Teves AG & Co. oHG, Frankfurt am Main

13 19 Weitzel, A., Winner, H., Cao, P., Geyer, S., Lotz, F., Sefati, M.:
Absicherungsstrategien für Fahrerassistenzsysteme mit
Umfeldwahrnehmung Forschungsbericht der Bundesan-

14 stalt für Straßenwesen, Bereich Fahrzeugtechnik. Verlag


neue Wissenschaft, Bremerhaven (2014)
20 Anthony Best Dynamics Ltd: ABD DRI guided soft target
15 vehicle (2014). http://www.abd.uk.com/en/adas_soft_tar-
gets/abd_dri_guided_soft_target_vehicl, Zugegriffen:
14.02.2014
16
17
18
19
20
183 12

Nutzerorientierte
Bewertungsverfahren
von Fahrerassistenzsystemen
Jörg Breuer, Christoph von Hugo, Stephan Mücke, Simon Tattersall

12.1 Zielsetzung der nutzerorientierten Bewertung  –  184


12.2 Versuchsdesign – 184
12.3 Versuchsumgebung – 187
12.4 Durchführung und Auswertung von
Feldabsicherungen – 189
12.5 Exemplarische Anwendungen – 190
Literatur – 195

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
184 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

Assistenzsysteme sollen den Fahrer bei bestimmten Der Response Code of Practice (CoP [2], vgl.
1 Teilen der Fahrzeugführungsaufgabe durch Infor- ▶ Kap. 33) verdeutlicht, in welchen Phasen des
mationen unterstützen (Informationssysteme), von Entwicklungsprozesses Aspekte der Fahrer-Fahr-
2 bestimmten Teilaufgaben entlasten (Komfortsys- zeug-Interaktion (HMI) und der Beherrschbarkeit
teme) oder ihm helfen, kritische Fahrsituationen (Controllability) zu gestalten und zu bewerten sind.
sicherer zu bewältigen (Sicherheitssysteme). Sie Neben umfassenden Checklisten werden grund-
3 sollen und können den Fahrer jedoch nicht erset- sätzliche Anforderungen an Probanden- und Ex-
zen und können ihn auch nicht aus seiner Verant- pertenversuche formuliert, die zur Klärung offener
4 wortung für das sichere Führen eines Fahrzeugs Fragen und der finalen Absicherung erforderlich
entlassen. sind. Ziel ist die Sicherstellung und der Nachweis
5 Diese Definition macht deutlich, dass Assistenz- der Beherrschbarkeit des Fahrerassistenzsystems,
systeme sich in ihrem Zusammenwirken mit dem die als Wahrscheinlichkeit definiert wird, „dass der
Fahrer im realen Straßenverkehr bewähren müs- Fahrer mit einer Fahrsituation umgehen kann, ein-
6 sen, um eine hohe Wirksamkeit und Akzeptanz bei schließlich der Situation des ADAS unterstützten
gleichzeitig minimalen „Nebenwirkungen“ zu ent- Fahrens, an der Systemgrenze und einem System-
7 falten. Es bedarf daher entwicklungsbegleitender, versagen“ [2].
nutzerorientierter Bewertungsverfahren, die – über Fach et  al. [3] weisen darauf hin, dass dabei
rein technische Funktionstests auf Komponenten- zwischen dem fehlerhaften Betrieb im Sinne der
8 oder Fahrzeugebene hinaus – die Entwicklung und ISO 26262 [1] und dem fehlerfreien Betrieb eines
Bewertung von Assistenzsystemen aus Kundensicht Systems inklusive seiner sogenannten funktionalen
9 sicherstellen. Dazu zählen neben Gestaltungsemp- Unzulänglichkeiten unterschieden werden muss.
fehlungen, Normen und Checklisten insbesondere Hierunter fallen „Eingriffe, die zwar korrekt im
10 Probanden- und Expertenversuche in unterschiedli- Sinne der technischen Umsetzung der Funktion
chen Testumgebungen. sind, aufgrund von Systemgrenzen wie z. B. der
Das Kapitel erläutert die Eignung, Konzeption, nicht vollständigen Umfelderfassung bzw. der un-
11 Durchführung und Auswertung nutzerorientierter vollständigen Entscheidungskompetenz eines tech-
Probanden- und Expertenversuche in unterschied- nischen Systems in der jeweiligen Verkehrssituation
12 lichen Phasen des Entwicklungsprozesses inklusive jedoch nicht angebracht sind“ [3].
der abschließenden Feldabsicherung zur Serienfrei- Darüber hinaus definieren u. a. Breuer [4] und
13
14
gabe. Praxisbeispiele – auch aus dem Bereich der
Funktionssicherheit (ISO 26262 [1], vgl. ▶ Kap. 6)
– veranschaulichen den Einsatz der vorgestellten
Bewertungsmethoden. Systemtests für Funkti-
--
Eckstein [5] weitere Gestaltungsprinzipien:
schnelle Eingewöhnung,
erwartungskonformes und konsistentes Sys-
temverhalten (vgl. dazu § 3 Produkthaftungs-

15
onsabsicherung oder auch Ratings, die i. d. R. den
Fahrereinfluss bewusst ausschließen („open loop“),
- gesetz),
einfaches „Bedienen“ und klares Anzeigekon-
werden in ▶ Kap. 11 behandelt.

- zept,
Eingriffe von Sicherheitssystemen nur bei

--
16 sicher erkannter Unfallgefahr,
12.1 Zielsetzung Wirksamkeit im realen Straßenverkehr,
17 der nutzerorientierten Vermeidung vorhersehbaren Fehlgebrauchs
Bewertung (Zweckentfremdung).
18 Im Laufe der Entwicklung von Assistenzsystemen
sind eine Reihe nutzerorientierter Anforderungen 12.2 Versuchsdesign
19 zu berücksichtigen und empirisch zu überprüfen,
wobei sich in der Praxis die formale Trennung von Grundsätzlich müssen Messungen die Hauptgüte-
20 Entwicklung und Absicherung („Vier-Augen-Prin- kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität er-
zip“) bewährt hat. füllen [6]. [7] zufolge ergeben sich darüber hinaus
12.2 • Versuchsdesign
185 12

insbesondere in der Feldforschung Nebengütekrite- auf ein handhabbares Maß zu reduzieren (s. ▶ Ab-
rien, die u. a. die Sicherheit, Zumutbarkeit sowie Da- schn. 12.2.2).
tenschutzrechte der Versuchsteilnehmer umfassen.
Ausgangspunkt jeder Versuchsgestaltung ist die
Definition der Versuchsziele und die Erstellung der 12.2.2 Versuchspersonenauswahl
zu prüfenden Versuchshypothesen. Darauf aufbau- und -anzahl
end muss ein geeignetes experimentelles Versuchs-
design gewählt werden. Stichprobenauswahl Die Aussagekraft von Ver-
suchsergebnissen und ihre Übertragbarkeit auf die
Zielgruppe hängen entscheidend von der Größe
12.2.1 Probanden- und der Zusammensetzung der untersuchten Stich-
vs. Expertenversuche proben ab. Stichproben sollten bezüglich der für
die Versuchsfragestellung relevanten individuellen
Probandenversuche  Grundsätzlich ist aus Gründen Merkmale repräsentativ sein, d. h. die Häufigkeit
der Validität der Versuchsergebnisse eine Bewer- der Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten und
tung neuer Assistenzsysteme mit dem späteren Nut- Bedürfnisse sollte im untersuchten Kollektiv die
zer anzustreben und für die finale Feldabsicherung gleiche Verteilung wie in der Zielgruppe aufweisen.
unumgänglich. Dies gilt umso mehr, je stärker die Akzeptanz hängt stark von der Erfüllung der
Interaktion zwischen Fahrer und System Auswir- produktbezogenen Erwartungen und Bedürfnisse
kungen beispielsweise auf die Wirksamkeit und die ab und muss für die Zielgruppe der Käufer bewertet
Nutzung eines Systems hat. Auch die Bewertung der werden. Hierzu sind möglichst genau die relevanten
Beherrschbarkeit von Systemeingriffen und System- Merkmale der Kunden in geeigneter Ausprägungs-
grenzen kann valide nur mit Probanden erfolgen, breite im Kollektiv abzubilden.
wobei die Sicherheit der Versuchsdurchführung Bei vielen sicherheitsbezogenen Fragestellungen
Vorrang hat. Die Ermittlung des Nutzungsverhal- geht es dagegen eher um die Anpassung der Technik
tens – auch eines möglichen Fehlgebrauchs – sowie an Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen als
die subjektive Bewertung von Kundennutzen und Autofahrer. Die Zusammenstellung der Kollektive
Akzeptanz können per definitionem nur durch den orientiert sich hier also eher an diesen Dimensio-
„unbedarften“ Endnutzer erfolgen. nen der individuellen Leistungsvoraussetzungen
wie beispielsweise dem Reaktionsvermögen oder
Expertenversuche  Expertenversuche – in Abgren- der Fahrerfahrung.
zung zur kontinuierlichen Erprobung durch den
Entwickler – können dagegen insbesondere bei Stichprobenumfang Wenn die relevanten Merk-
Konzeptbewertungen, also sehr früh im Entwick- male noch nicht hinreichend bekannt sind, könnte
lungsprozess, hilfreich und notwendig sein. Ent- man ausreichend große Zufallsstichproben aus der
scheidend ist dabei die Bewertung aus Sicht des Nutzerpopulation ziehen. Wegen versuchsökono-
„Kunden“, die ein Abstraktionsvermögen auf den mischer Beschränkungen wird man jedoch in der
„Normalfahrer“ erfordert. Expertenversuche haben Regel mit kleineren Kollektiven arbeiten, die zudem
auch als Vorstufe bzw. zur Bewertung der Notwen- oft aus einem bestimmten Umfeld (z. B. Werksan-
digkeit von Probandenversuchen ihre Berechtigung. gehörige) zusammengestellt werden. Dabei müssen
Bei sicherheitskritischen Untersuchungen, z. B. die vermutlich relevanten individuellen Merkmale
der Beherrschbarkeitsbewertung fehlerhafter Syste- zumindest mit gleicher Häufigkeit in allen mögli-
meingriffe bei hohen Fahrgeschwindigkeiten, sind chen Kombinationen vertreten sein (Formeln und
Expertenversuche aus Sicherheitsgründen geboten. Beispiele bei [8]).
Gleichzeitig ergibt sich insbesondere in der Funk- Der Response-CoP [2] nennt aus praktischer
tionssicherheit aus versuchsökonomischen Grün- Testerfahrung eine Mindestanzahl von 20 gültigen
den die Notwendigkeit für Expertenversuche, um Datensätzen pro Szenario, um einen „grundlegen-
die Anzahl der notwendigen Versuchsteilnehmer den Hinweis für Validität“ liefern zu können. Wich-
186 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

tig ist, dass die Probanden „unbedarft“ sind, d. h. Prüfszenarien für die Bewertung der zu untersu-
1 dass sie nicht mehr Erfahrung und Vorwissen über chenden Aspekte abgeleitet werden. Diese sollten
das System haben als ein späterer Kunde. sich an der Auftretenswahrscheinlichkeit im Stra-
2 Betrachtet man die Controllability-Stufen der ßenverkehr orientieren, wobei eine begründete
ISO 26262 [1], ergibt sich für den Nachweis, dass Reduktion, beispielsweise über einen „worst ca-
90 % der Grundgesamtheit eine untersuchte kriti- se“-Ansatz, zielführend ist. Der Response-CoP [2]
3 sche Situation beherrschen (C = 2), über die Bino- legt dazu eine Systematik relevanter Fahrsituationen
mialverteilung bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung zusätzlicher Einflüsse von
4 von 5 % ein Mindeststichprobenumfang von 29 Pro-
banden, die alle den Versuch „bestehen“ müssen.
-
Fahrer, Fahrzeug und Umgebung nahe:
Use Cases, d. h. Nutzungssituationen des Assis-
5
6
Der Nachweis von C = 1 (99 %) kann wegen der
theoretisch notwendigen Stichprobengröße in der
Praxis nur durch Experten-Ratings erfolgen [9].
Repräsentative Kollektive sind auch angesichts
- tenzsystems,
Non Use Cases, d. h. Situationen, in denen das
Assistenzsystem nicht reagieren soll, dies aber
z. B. aufgrund sensorischer Einschränkungen

7
der bestehenden zeitlichen und finanziellen Rah-
menbedingungen bei der Entwicklung von Fahreras-
sistenzsystemen nur schwer zu erreichen. Man wird - ggf. dennoch tut („false positives“),
Systemgrenzen, entweder spezifiziert, wie z. B.
Geschwindigkeitsbereiche oder funktionale
8 beim Vergleich verschiedener Systemausprägungen
in der Regel mit 30 bis 50 sorgfältig ausgewählten
- Unzulänglichkeiten,
Systemfehler, wie Systemabbrüche, aber auch

9
10
Probanden auskommen, die beispielsweise gezielt
die Altersverteilung und Fahrerfahrung der Grund-
gesamtheit abdecken. Die finale Absicherung eines
Systems erfordert dagegen deutlich größere Stich-
-- Fehler im Sinne der ISO 26262 [1],
vorhersehbarer Fehlgebrauch,
zu ergänzen ist das Ausbleiben einer erwarte-
ten Systemreaktion („false negatives“).
proben mit zwischen 100 und 500 Teilnehmern.
Aufbauend auf einer vollständigen „Liste potenziell
11 Abhängige vs. unabhängige Stichproben Abhän- gefährlicher Situationen“ [2] ist eine Verdichtung
gige Stichproben, bei der jeder Teilnehmer mehrere auf die kritischsten Situationen vorzunehmen, um
12 Versuchsbedingungen durchläuft („within subject die Untersuchungen zu fokussieren.
design“), eignen sich besonders für den Vergleich Bei Versuchen auf Testgeländen kann aus Grün-
verschiedener Systemauslegungen. Eine Ausnahme den der Sicherheit und Reproduzierbarkeit eine Ab-
13 bildet die Untersuchung kritischer Fahrsituationen, straktion der Prüfszenarien erforderlich sein, auch
da nur im ersten Versuch ein unvorbereitetes Ver- wenn dies u. U. Rückwirkungen auf die Übertrag-
14 halten beobachtet werden kann. barkeit der Ergebnisse hat, z. B. Verwendung eines
Soll dagegen die Eignung einer Auslegung für „Crash targets“ (wie EVITA, vgl. ▶ Kap. 13) anstelle
15 bestimmte Teile der Nutzerpopulation ermittelt eines bremsenden Vorausfahrzeugs. Die Auswahl
werden, so sind unabhängige Stichproben („bet- und Ausgestaltung konkreter Versuchsszenarien er-
ween subject design“) zu wählen. Da hier neben der fordert – unter Berücksichtigung der allgemeinen
16 intraindividuellen auch die interindividuelle Streu- Anforderungen wie z. B. Sicherheit der Teilnehmer
ung zum Tragen kommt, erfordern sie grundsätzlich – Erfahrungen in der Absicherung und sollte durch
17 größere Stichproben, um statistisch signifikante Er- Vorversuche mit Experten und unbedarften Pro-
gebnisse zu erreichen. banden überprüft werden.
18
12.2.3 Prüfszenarien 12.2.4 Bewertungsparameter
19 und -kriterien
Während die Feldabsicherung gerade das Nutzer-
20 verhalten im realen Umfeld erfassen soll, müssen Aufbauend auf den Versuchshypothesen und den
für Probanden- und Expertenversuche zumeist gewählten Versuchsszenarien müssen – i. d. 
R.
12.3 • Versuchsumgebung
187 12

systemspezifische – Parameter festgelegt werden, allem standardisierte Fragebögen und Ratingskalen


deren Erfassung eine möglichst quantitative Be- sowie mündliche Befragungen zum Einsatz kom-
schreibung der Versuchsergebnisse erlauben und men. Für die Fahrerassistenzsysteme relevante Be-
im Falle von Beherrschbarkeitsuntersuchung ein
klares Kriterium für das „Bestehen“ (Pass-Fail-Kri-
terien) definieren. Grundsätzlich lassen sich ob-
jektive Bewertungsgröße/-parameter und subjek-
-
reiche sind:
körperliche Zustände wie z. B. Müdigkeit; bei
der Entwicklung des ATTENTION-Assist
wurde beispielsweise die Karolinska-Sleepi-
tive Bewertungen unterscheiden. Darüber hinaus ness-Scale (KSS, [10]) als externes Kriterium
gibt es vereinzelt Untersuchung mit i. d. R. sehr für die Güte der Müdigkeitsdetektion genutzt,
aufwendigen physiologischen Messungen oder da frühe Phasen der Müdigkeit nicht mittels
Fahrerverhaltensbeobachtungen (z. B. Blickbewe- Verhaltensindikatoren (z .B. Augenlidschlie-
gungserfassung), wenn es um die Quantifizierung
der Fahrerbeanspruchung oder detaillierte Analyse
- ßungen) zu ermitteln sind,
kognitive Zustände, wie z. B. Mental Workload
seines Verhaltens geht.

- (NASA-TLX [11] oder auch [12, 13]),


Akzeptanz bzw. Kaufabsicht von neuen Fah-
Objektive Bewertungsgrößen für Probanden- und
Expertenversuche  Für die Bewertung der Wirk-
- rerassistenzsystemen [14],
Beherrschbarkeit bzw. Kontrollierbarkeit von
samkeit und Beherrschbarkeit von Fahrerassis-
tenzsystemen werden zumeist objektive Mess-
größen verwendet, die ein Maß für die Güte der
Aufgabenbewältigung oder eine daraus abgeleitete
- Systemfehlern [15],
Sicherheitsempfinden, Kritikalität von Fahr-
und Verkehrssituationen [16].

Kenngröße z. B. für die Kritikalität einer Fahrsitu- In der Feldabsicherung hat es sich bewährt, dem

--
ation darstellen.
Fahrzeugreaktionen in Relation zur Umwelt;
Längsdynamik: z. B. Kollisionen im Längs-
verkehr, Kollisionsgeschwindigkeiten,
Probanden die Möglichkeit einer direkten Situati-
onsbewertung über Auslösung einer kurzen Mes-
sung inklusive Sprachaufzeichnung zu geben.

Restabstand und Time-to-Collision (TTC),

-
Abstandsverhalten im Folgeverkehr, 12.3 Versuchsumgebung
Querdynamik: z. B. seitliche Kollisionser-
eignisse, Abstand und TTC, Anzahl und Im Folgenden werden Vor- und Nachteile unter-
Größe von Fahrstreifenmarkierungsüber- schiedlicher Versuchsumgebungen genannt und
schreitungen, geworfene Pylonen, Streu- abschließend in . Tab. 12.1 gegenübergestellt. Sie

- maße der Spurhaltung,


Fahrerreaktionen und -handlungen, z. B. Re-
aktionszeiten und Reaktionsstärke an Lenkrad
reichen vom Fahrsimulator bis zur Feldabsicherung
und decken ein Spektrum zunehmender Realitäts-
nähe bei gleichzeitig abnehmender Kontrollierbar-

- und Pedalen;
Systemleistung im Zusammenspiel mit Fahrer
und Umwelt (Feldabsicherung), wie beispiels-
keit der Randbedingungen ab.

Versuche im Fahrsimulator Fahrsimulatorversuche

--
weise: eignen sich insbesondere zur frühen Konzeptbewer-
Verfügbarkeit und Nutzungsdauer, tung von Assistenzsystemen und zur gefahrfreien
Häufigkeit und Wirksamkeit von Warnun- Untersuchung der Wirksamkeit von Sicherheitssys-

-
gen und Eingriffen (Use Case), temen in unfallkritischen Fahrsituationen. Gleich-
Falsch-Positiv-Warn- und -Eingriffsraten. zeitig erlauben sie ein Höchstmaß an Reproduzier-
barkeit und Kontrolle der Versuchsbedingungen.
Subjektive Bewertung  Bei Experten- und Proban- Hauptnachteile liegen in der ggf. eingeschränkten
denversuchen lassen sich manche Aspekte nur Übertragbarkeit, z. B. durch die begrenzte Bewe-
durch Selbstauskunft der probandeneigenen Wahr- gungs- und Sichtdarstellung, reduzierte Gefahren-
nehmung bzw. des Empfindens erheben, wozu vor wahrnehmung, Rückwirkungen auf das Fahrerver-
188 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

1 .. Tab. 12.1  Vorteile verschiedener Versuchsumgebungen

Versuchsumgebung Vorteile
2 Fahrsimulator – genaue Einstellbarkeit und hohe Reproduzierbarkeit zu bewertender Szenarien
– bereits in frühen Entwicklungsphasen, insbesondere zur Konzeptbewertung einsetzbar
3 – große Variationsbreite von Umgebungsbedingungen (Fahrsituationen) und Systempara-
metern
– effektiv gefahrlose Darstellung kritischer Fahrsituationen
4 Testgelände (kont- – realitätsnahe Umgebung: echtes Fahrzeug ohne Einschränkungen bei Sicht und Fahrzeug-
rolliertes Feld) dynamik

5 – nur geringe Einschränkungen des Gefährdungsbewusstseins


– minimale Gefährdung der Probanden oder Dritter
– geografische Flexibilität: Versuche an unterschiedlichen Orten möglich

6 Probandenversuch – realistische Fahrumgebung


im realen Straßen- – realitätsnahe Fahraufgaben
verkehr – Lern- und Nutzungsverhalten von Systemen kann analysiert werden
7 – große geografische Flexibilität: Versuche an vielen Orten möglich
– Absicherungsdaten mit hoher Validität: Erprobung Fahrzeug und Assistenzsysteme unter

8 realen Bedingungen

Feldabsicherung – realistische Fahrumgebung


– freies Fahren ohne zusätzliche Fahraufgaben bzw. Einschränkungen
9 – Nutzungsverhalten sowie Lern- und erste Gewöhnungseffekte von Assistenzsystemen
können analysiert werden
– größte geografische Flexibilität: Versuche in Zielmärkten möglich
10 – ggf. Ermittlung unbekannter potenziell kritischer Situationen
– Absicherungsdaten mit höchster Validität: Erprobung Fahrzeug und Serienstand der Assis-

11
tenzsysteme unter realen Bedingungen ohne Versuchsleitereinfluss

12 halten sowie Simulatorkrankheit und eine begrenzte Nutzungsumfeld untersuchen. Bei einem hohen
Versuchsdauer (vgl. auch ▶ Kap. 9). Realitätsgrad lassen sich die Randbedingungen
über Versuchskonzeption und -durchführung nur
13 Versuche auf Testgeländen (kontrolliertes Feld) Ver- bedingt kontrollieren. Die Darstellung im Fahrzeug
suche auf dem Testgelände haben ihre Stärken in ist oft erst in späten Entwicklungsphasen möglich
14 der Untersuchung von Fahrsituationen, in denen bei und erfordert ggf. spezielle Sicherheitsvorrichtun-
weitgehender Kontrolle der Randbedingungen das gen beim Einsatz von Vorserienfahrzeugen.
15 Zusammenspiel des Fahrers mit der tatsächlichen
Fahrzeugreaktion von entscheidender Bedeutung Feldabsicherung des Serienstandes mit Proban-
für die Validität der Ergebnisse ist, gleichzeitig aber den  Während die intendierte Wirkung von Sicher-
16 eine Gefährdung der Teilnehmer oder Dritter wei- heitssystemen zunächst in Fahrsimulatorversuchen
testgehend ausgeschlossen werden soll. Komplexe und ggf. später anhand von realen Unfalldaten
17 Verkehrssituationen lassen sich jedoch kaum dar- bewertet werden kann, müssen Tests auf mögli-
stellen. Beispiele sind Beherrschbarkeitsuntersu- che Nebenwirkungen unter möglichst praxisnahen
chungen im Rahmen der Funktionssicherheit. Bedingungen im Feld stattfinden. So kann z. B. die
18 Minimierung der Falschalarm-Rate von Sicher-
Versuche im realen Straßenverkehr Assistenzsys- heitssystemen nur mit geeigneten Daten der Feld-
19 teme mit geringem Gefährdungspotenzial, wie absicherung erfolgen. Die Variabilität der Fahrer,
beispielsweise reine Warnsysteme, oder mit einem Verkehrssituationen und Umgebungsbedingungen
20 bereits hohen Reife- und Absicherungsgrad lassen soll – neben dem Nachweis der Beherrschbarkeit
sich in – zumeist begleiteten – Versuchen im realen – gleichzeitig sicherstellen, dass keine potenziell
12.4  •  Durchführung und Auswertung von Feldabsicherungen
189 12

kritischen Situationen unberücksichtigt bleiben. die aus der Analyse potenziell gefährlicher Situa-
Feldabsicherungen, die in der Regel unbegleitet tionen abgeleitet werden. Ein Taster für eine ma-
durchgeführt werden, erlauben außerdem eine ge- nuelle Auslösung („Fahrertrigger“) ermöglicht
naue Analyse des Nutzungsverhaltens sowie der Ak- darüber hinaus die Erfassung fehlender Systemein-
zeptanz neuer Systeme. Sie bilden eine wesentliche griffe und eine unmittelbare Situationsbewertun-
Grundlage für die finale Systemfreigabe. gen durch den Fahrer. Triggermessungen nutzen
typischerweise einen Ringspeicher, der es erlaubt,
Nachteilig ist u. a. der hohe Aufwand zur Erzielung Daten vor und nach dem relevanten Triggerereignis
einer aussagekräftigen Laufleistung sowie zur Aus- aufzuzeichnen, z. B. mit 40 s Vor- und 20 s Nachlauf.
wertung der großen Datenmengen. Sie können mehrere zehntausend Messkanäle, Vi-
deobilder zusätzlicher „Situationskameras“ sowie
Radar- und Kamerarohdaten beinhalten. Letzteres
12.4 Durchführung und Auswertung erlaubt die Nachsimulation des Systemverhaltens
von Feldabsicherungen mit modifizierten Funktionssoftwareständen, um
z. B. die Wirksamkeit einer Entwicklungsmaß-
Vor Beginn einer Feldabsicherung werden die an- nahme nachzuweisen.
gestrebte Gesamtlaufleistung und die erforderliche Feldabsicherungen, insbesondere von mehre-
geografische Streuung festgelegt. Entsprechend wird ren Systemen parallel, mit Laufleistungen von z. T.
eine Fahrzeugflotte mit den zu testenden, serien- über einer Million Kilometer, können mehrere
nahen Systemen, einer umfangreichen Messtechnik 10 Terabyte an Messdaten produzieren. Um solche
zur Aufnahme von Bus-, Steuergerät-Daten, Sen- Datenmengen erfolgreich zu verwalten und für das
sor-Rohdaten sowie zusätzlichen Messtechnik-Ka- Absicherungsteam und die Systementwickler in ge-
meras ausgestattet. Anschließend werden die Fahr- eigneter Weise aufzubereiten, wurde in der Merce-
zeuge im realen Straßenverkehr betrieben. des-Benz-Pkw-Entwicklung ein datenbankbasier-
Eine Möglichkeit besteht in einer sogenannten tes Messdatenmanagementsystem entwickelt [17].
„Kundennahen Fahrerprobung“ (KNFE) – hierbei Die Messdaten aus den Fahrzeugen werden durch
werden interessierte Unternehmensmitarbeiter einen automatisierten Verarbeitungsprozess auf ei-
per Los ausgewählt und ihnen beispielsweise für nem zentralen Server gesichert und Metainforma-
eine Woche ein Erprobungsfahrzeug zur Verfü- tionen in einer Datenbank abgelegt. Der Zugriff auf
gung gestellt. Ein Erprobungsdauerlauf, in dem die die Datenbank und die Messdaten erfolgt über eine
Fahrzeuge im Schichtbetrieb von professionellen spezielle Benutzeroberfläche.
Fahrern gefahren werden, eignet sich dagegen, um Bei der Auswertung liegt der Fokus auf zeit-
gezielt bestimmte Fahrsituationen wie z. B. im Stadt- lich punktuellen „Ereignissen“, wie beispielsweise
verkehr intensiv zu erproben. Systemwarnungen oder -eingriffen, Fahrerhand-
Bei der Konfiguration der Messtechnik hat es lungen wie starkes Bremsen oder Systembewertun-
sich bewährt, zwei Arten von Messungen im Paral- gen durch den Fahrer. Zu jedem Ereignis wird ein
lelbetrieb aufzuzeichnen: „Kurzvideo“ der Fahrzeugumgebung von ca. 10 s
Dauermessungen zeichnen einige hundert der Länge generiert, das auch Zusatzinformationen zu
wichtigsten Messsignale kontinuierlich über die Systemzuständen und Signalverläufen beinhaltet.
komplette Fahrt auf. Sie erlauben statistische Aus- So kann der Auswerter schnell und bequem die re-
wertungen wie z. B. die Erstellung von Geschwin- levanten Messungen und Ereignisse identifizieren
digkeitsprofilen, Warnraten etc. Insbesondere die und analysieren sowie seine Auswertungen in die
Bewertung von Komfortsystemen, die i. d. R. über Datenbank dokumentieren. Gleichzeitig dient die
längere Zeiträume kontinuierlich assistieren, erfor- Datenbank der Organisation des Arbeitsablaufes
dert Dauermessungen. und der Dokumentation der Absicherungsergeb-
Triggermessungen sind dagegen zeitlich be- nisse, die – neben den technischen Funktionsfrei-
grenzt und werden automatisch ausgelöst, wenn gaben – eine Grundlage der finalen Serienfreigabe
zuvor definierte Triggerbedingungen erfüllt sind, bilden.
190 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

1
2
3
4
5
.. Abb. 12.1  Zeitlicher Ablauf der Unterstützung in einer Situation mit Auffahrunfallgefahr durch COLLISION PREVENTION
6 ASSIST PLUS

7 12.5 Exemplarische Anwendungen nen eine Kollisionswarnung ausgibt und nötigen-


falls die Fahrerbremsung situationsgerecht verstärkt
Im Folgenden werden Praxisbeispiele für Proban- (Zielbremsung). Die PRE-SAFE® Bremse ergänzte
8 den- und Expertenversuche für alle genannten sukzessive eine automatische Teil- und, bei unaus-
Versuchsumgebungen dargestellt. Die Bewertung weichlicher Kollision, eine Vollbremsung. Heute
9 und Absicherung von Sicherheitssystemen für den gehört diese Grundfunktionalität im COLLISION
Längsverkehr zieht sich, neben Einblicken in die PREVENTION ASSIST PLUS (. Abb. 12.1) zur Se-
10 Untersuchung unterschiedlicher anderer Assistenz- rienausstattung fast aller Mercedes-Benz-Pkws. Zur
systeme, als roter Faden durch den Abschnitt. Die technischen Funktion vgl. ▶ Kap. 47.
Honorierung dieser aktiven Sicherheitssysteme im
11 Euro NCAP Rating ab 2014 [18] belegt die Aktuali- Kollisionswarnung und adaptive Bremsunterstützung
tät des Themas (vgl. dazu auch ▶ Kap. 11). (BAS PLUS)  Um die Wirksamkeit des BAS PLUS
12 bereits in der Konzeptphase zu bewerten, wurde
ein Fahrsimulatorversuch mit 110 Normalfahrern
12.5.1 Bewertung der Wirksamkeit durchgeführt. Diese mussten drei typische Folge-
13 von Sicherheitssystemen verkehrssituationen bewältigen, die laut Unfallsta-
am Fahrsimulator tistik besonders häufig zu Auffahrunfällen führen
14 (vgl. . Tab. 12.2). In einem Gruppenversuchsdesign
Viele Auffahrunfälle und Kollisionen mit schwä- stand der Hälfte der Probanden (Kontrollgruppe)
15 cheren Verkehrsteilnehmern könnten durch eine lediglich der pneumatische Bremsassistent BAS zur
Ausnutzung des technisch-physikalischen Verzö- Verfügung, der anderen zusätzlich der BAS PLUS
gerungspotenzials verhindert bzw. in ihrer Schwere inklusive einer Kollisionswarnung.
16 gemindert werden. Aus der Unfallursachenfor- Die Kombination von Kollisionswarnung und
schung ist bekannt, dass viele dieser Auffahrunfälle BAS PLUS konnte im Versuch die Unfallrate im
17 auf menschliche Faktoren zurückgeführt werden Vergleich zur Kontrollgruppe um bis zu 75 % sen-
können. So reagiert der Fahrer manchmal zwar ken. Selbst für Probanden, die zu spät reagierten,
schnell, aber zu zaghaft, er schätzt beispielsweise um einen Unfall noch zu vermeiden, konnte die
18 die Verzögerung des Vorausfahrers falsch ein und Unfallschwere deutlich reduziert werden: gegenüber
reagiert zu spät oder beispielsweise aufgrund von der Kontrollgruppe war die Kollisionsgeschwindig-
19 Ablenkung gar nicht. keit im Mittel um 35 % niedriger.
Bereits 2005 führte Mercedes-Benz daher den
20 adaptiven Bremsassistenten BAS PLUS ein, der Automatische Bremsung (PRE-SAFE®-Bremse)  In
mithilfe von radarbasierten Abstandsinformatio- ähnlicher Weise wurde die Wirksamkeit der zu-
12.5 • Exemplarische Anwendungen
191 12

.. Tab. 12.2  Versuchsszenarien zur Bewertung des BAS PLUS (adaptiver Bremsassistent)

Nr. Stra- Geschwindigkeit Ausgangs- Szenario


ßentyp zeitlücke zum
Vorfahrer

1 Auto- 130 km/h 1,45–1,55 s Fahrt auf linkem Fahrstreifen, einscherendes langsameres


bahn Fahrzeug von rechts mit TTC = 2,0 s

2 Auto- 130 km/h 1,45–1,55 s Folgefahrt: Vorausfahrer bremst 0,7 s lang mit 1 m/s² und
bahn erhöht dann die Verzögerung auf 8,5 m/s²

3 Land- 80 km/h 1,45–1,55 s Folgefahrt: Vorausfahrer bremst 1,0 s lang mit 1 m/s² und
straße erhöht dann die Verzögerung auf 9,0 m/s²

sätzlichen automatischen Teilbremsung am Fahr- 12.5.2 Bewertung


simulator mit 70 Probanden bewertet. Die beson- der Beherrschbarkeit
dere Herausforderung der Versuchskonzeption fehlerhafter Bremsungen
bestand darin, Versuchsszenarien zu generieren, gemäß ISO 26262
die eine Nichtbeachtung der Kollisionswarnung
wahrscheinlich machten. Nach mehreren wenig Im Folgenden werden kombinierte Experten- und
erfolgreichen Versuchen mit Ablenkungen durch Probandenversuche auf dem Testgelände und im
manuelle und kognitive Nebenaufgaben (z.  B. Fahrsimulator zur Bewertung der Beherrschbarkeit
Wechseln einer CD, Rechenaufgaben) erwies sich fehlerhafter autonomer Bremsungen vorgestellt (vgl.
ein einfaches Unfallszenario auf der Gegenfahr- auch [3]). Sie wurden in der Konzeptphase der PRE-
bahn einer Landstraße als sehr wirksame visuelle SAFE®-Bremse durchgeführt, um die Beherrsch-
Ablenkung. Analog zur Landstraßensituation des barkeit von Falschauslösungen und den ASIL nach
BAS PLUS-Versuchs erfolgte genau in diesem Mo- ISO 26262 zu bestimmen.
ment die plötzliche Bremsung des vorausfahrenden Die Beherrschbarkeit des Falscheingriffs im Sys-
Fahrzeugs. temfahrzeug wurde auf dem Testgelände bewertet.
Während der Geschwindigkeitsbereich bis 130 km/h
Die Mehrzahl der Probanden (53 %) reagierte so noch gefahrlos mit Probanden untersucht werden
schnell auf die optisch-akustischen Kollisions- konnte, wurde die Beherrschbarkeit bis zur oberen
warnungen, dass der Unfall mit Unterstützung Systemgrenze von 200 km/h durch Experten be-
des BAS PLUS verhindert werden konnte, weite- wertet. Die untersuchten Szenarien resultierten aus
ren 17 % gelang dies, obwohl sie erst während der der Gefahren- und Risikoanalyse. . Abbildung 12.2
automatischen Teilbremsung reagierten. 30 % der zeigt exemplarisch das Versuchssetup für einen sol-
Teilnehmer war so stark abgelenkt, dass sie nicht chen Probandenversuch auf dem Testgelände.
mehr rechtzeitig bremsten und es zum Auffahrun- Die Beherrschbarkeit für den Folgeverkehr
fall kam. Die Kollisionsgeschwindigkeit verringerte wurde am Fahrsimulator untersucht. Um Artefak-
sich durch die automatische Teilbremsung von ten – wie einem zu vorsichtigen Abstandsverhalten
durchschnittlich 45 auf 35 km/h. Die resultierende – entgegenzuwirken, wurden die Probanden durch
Reduktion der Crash-Energie um 40 % vermin- farbige Balken angeleitet, einem vorausfahrenden
dert das Verletzungsrisiko für Fahrer und Beifah- Fahrzeug in angemessenem und reproduzierba-
rer deutlich [19]. Weitere Versuchsszenarien aus rem Abstand zu folgen. Die Falschauslösung der
Konzeptuntersuchungen am Fahrsimulator zeigt Bremsung definierter Dauer im Vorausfahrzeug
▶ Kap. 9. erfolgte bei Geschwindigkeiten von etwa 40 km/h
und 130 km/h, wenn sich die Probanden innerhalb
eines definierten zeitlichen Abstandsfensters befan-
den. Objektives Beherrschbarkeitskriterium war die
192 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

.. Abb. 12.2 Versuchsse-
1 tup für die Untersuchung
fehlerhafter Bremseingriffe
mit Probanden auf einem
2 Testgelände [3]

3
4
5
6
7
8
9
10 Vermeidung des kritischen Ereignisses der Risiko- Reaktionszeit zwischen der Ansteuerung der Brems-
analyse (Auffahrunfall). Untersuchungen zur Be- leuchten des Vorausfahrzeugs und der Bremspedal-
herrschbarkeit von Gierstörungen durch einseitige betätigung der Probanden telemetrisch ermittelt.
11 Bremseingriffe finden sich in [3] sowie [20]. Um den Einfluss der interindividuellen Streuung
zu eliminieren, wurden die Reaktionszeiten auf das
12 individuelle Reaktionsvermögen jedes Probanden
12.5.3 Bewertung der Wirksamkeit bezogen, das in fünf analogen Bremsreaktionstests
einer Sicherheitsfunktion bei stehenden Fahrzeugen ermittelt wurde.
13 auf dem Testgelände . Abbildung 12.3 zeigt, dass blinkende Brems-
leuchten zu signifikant schnelleren Reaktionen
14 Auch das rückwärtige Signalbild beim Bremsen (≈ 0,2 s) als konventionelle Bremsleuchten oder
kann die Gefahr von Auffahrunfällen reduzieren, Warnblinker führen. Aus der Testgeschwindigkeit
15 indem es die Erkennung von Notbremsungen für von 80 km/h verkürzt sich dadurch der Anhalteweg
den Folgeverkehr verbessert und dessen Reaktions- rechnerisch um 4,40 m.
zeit verkürzt. Zur vergleichenden Bewertung unter- Basierend auf diesen Ergebnissen wurde bei
16 schiedlicher Ansätze wurden, unter so realitätsna- Mercedes-Benz-Pkws das sogenannte „Adaptive
hen Bedingungen wie versuchstechnisch möglich, Bremslicht“ serienmäßig eingeführt. Die geschwin-
17 Probandenversuche auf einem Testgelände durch- digkeitsabhängige Aktivierungsschwelle wurde aus
geführt [21]. Daten von Feldabsicherungen abgeleitet und be-
Die Aufgabe der 40 Probanden bestand darin, rücksichtigt das reale Verzögerungsverhalten von
18 mit 80 km/h einem vorausfahrenden Fahrzeug in Autofahrern.
einem Abstand von etwa 40 m zu folgen, was in ei-
19 ner Eingewöhnungsphase ausreichend geübt wurde.
Nach mehreren unkritischen Fahrmanövern löste
20 der Experte im vorausfahrenden Fahrzeug eine
Vollbremsung aus. Als Bewertungsgröße wurde die
12.5 • Exemplarische Anwendungen
193 12

der Fahrzeugdaten dienten als Außenkriterien u. a.


blinkende
physiologische Messungen und die subjektive Mü-
Bremsleuchten 7 Hz
digkeitsbewertung anhand der Karolinska-Sleepi-
ness-Scale [10].
blinkende
Bremsleuchten 4 Hz
12.5.5 Feldabsicherung
Warnblinker radarbasierter Sicherheits-
und Komfortsysteme
konvenonelle
Zur Bewertung und Optimierung der Wirksamkeit
Bremsleuchten
sowie zum Nachweis der Beherrschbarkeit und des
0,0 0,2 0,4 0,6 0,8
Ausbleibens negativer Nebenwirkung werden vor
Normierte Reakonszeit [s]
der Markteinführung neuer oder auch konzeptmo-
difizierter Assistenzsysteme bei Mercedes-Benz um-
.. Abb. 12.3  Normierte Reaktionszeiten (Reaktionszeit im fangreiche Feldabsicherungen mit Probanden durch-
Versuch – mittlere Reaktionszeit im Stand) auf rückwärtige Si- geführt [22]. . Tabelle 12.3 listet beispielhaft für
gnalbilder bei Vollbremsung des Vorausfahrzeugs (Mittelwerte
und Standardabweichung, n = 40) [21]
radarbasierte Sicherheits- und Komfortsysteme Trig-
gerbedingungen einer solchen Feldabsicherung auf.
Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf die
12.5.4 Bewertung und Optimierung Analyse einer Stichprobe von 936.000 km Feldda-
eines Sicherheitssystems zur ten (Deutschland 79 %, Südafrika 10 %, USA 9 %,
Fahrerzustandsüberwachung Großbritannien 2 %) und mehr als 100 Fahrern [23].
in begleiteten Feldversuchen . Abbildung 12.4 [23] zeigt beispielhaft das Ab-
standsverhalten bei Fahrt mit DISTRONIC PLUS,
Wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass auf einem ACC-System zweiter Generation, das auf Ba-
Autobahnen rund 25 % aller schweren Verkehrsun- sis von Dauermessungen ermittelt wurde.
fälle auf übermüdete Autofahrer zurückzuführen Die Auswertung von insgesamt 449 als notwen-
sind. Nach ersten Versuchen im Fahrsimulator zur dig/hilfreich bewerteten Kollisionswarnungen ergab,
Bewertung unterschiedlicher Ansätze der Müdig- dass die Fahrer in mehr als der Hälfte der Fälle zum
keitserkennung wurde 2009 bei Mercedes-Benz Zeitpunkt der Warnung die Bremse noch nicht betä-
erstmals der ATTENTION ASSIST eingeführt (vgl. tigt hatten. Der zeitliche Zusammenhang zwischen
▶ Kap. 38). Da das System neben Tageszeit und Warnbeginn und Bremspedalbetätigung belegt, dass
Fahrtdauer primär Änderungen im individuellen in mehr als 90 % der Situationen der Fahrer spätes-
Lenkverhalten des Fahrers analysiert, war die Ent- tens 0,8 s nach Warnbeginn die Bremse betätigte.
wicklung und Optimierung nur über aufwendige, Bezieht man die Aktivierung der adaptiven Brem-
begleitete Feldversuche mit einem breitgefächerten sunterstützung (BAS PLUS) und der automatischen
Probandenkollektiv von mehr als 550 Autofahrerin- Bremsung (PRE-SAFE® Bremse) in die Betrachtung
nen und -fahrern möglich. mit ein, ergibt sich die Häufigkeitsverteilung über
Die Entwicklungsstände wurden vor der fina- der Fahrgeschwindigkeit in . Abb. 12.5 [23]. Wäh-
len Feldabsicherung in begleiteten Nachtfahrtver- rend die Kollisionswarnung und der BAS PLUS auch
suchen unter definierten Randbedingungen wie bei sehr hohen Geschwindigkeiten ausgelöst wur-
Strecke, Tageszeit und Ablenkungsbedingungen be- den, traten automatische Bremsungen nur bis etwa
wertet. Die Versuche wurden stets durch einen spe- 50 km/h auf. Bei typischen Autobahn- und Land-
ziell geschulten Versuchsleiter als Beifahrer durch- straßengeschwindigkeiten (70–150 km/h) führte die
geführt, der aus Sicherheitsgründen über einen Hälfte der Kollisionswarnungen zur Auslösung einer
Fahrerbeobachtungsmonitor (IR-Kamera) und eine adaptiven Bremsunterstützung, wodurch die Wirk-
Zweit-Pedalerie verfügte. Neben der Aufzeichnung samkeit dieser Kombination belegt ist.
194 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

1 .. Tab. 12.3  Erfassung absicherungsrelevanter Fahrsituationen in der Feldabsicherung –


Beispielhafte Triggerbedingungen bzw. kontinuierliche Daten

2 Potenziell
gefährliche
Sicherheitssysteme: BAS PLUS inkl. Kolli-
sionswarnung, PRE-SAFE®-Bremse
Komfortsystem:
DISTRONIC PLUS
Situation
3 Use Cases Überschreitung vorgelagerter Kritikalitäts- Kontinuierliche Daten, z. B. zu Abstandsverhalten,
schwellen (TTC < x s) Beschleunigungen

4 Auslösung Kollisionswarnung
Auslösung adaptive Bremsunterstützung
Über-/Unterschreitung von Schwellen der Situati-
onsbewertung, z. B. zeitlicher Folgeabstand < x s
Auslösung automatischer Bremseingriff ggf. Fahrerübersteuerung,
5 übernahme-

Fehlende Use „Fahrertrigger“ bei vermisster Kollisions- „Fahrertrigger“, z. B. bei fehlender Verfügbarkeit,

6 Cases
(false negatives)
warnung
Überschreitung vorgelagerter Kritikalitäts-
später Reaktion …

schwellen (TTC < x)

7 indirekt: starke Fahrerbremsung

Non Use Cases Bewertung der Use Cases „Fahrertrigger“, z. B. bei Verzögerung auf Fahrzeug in
(false positives) „Fahrertrigger“ bei falscher Kollisionswar- Nachbarspur
8 nung oder Eingriff

Systemgrenzen Bewertung der Use Cases, z. B. funktional Erreichen definierter Systemgrenzen, wie maximale
9 und Funktio- berechtigte, aber vom Fahrer „ungewollte“ Verzögerung
nale Unzuläng- Warnungen Übernahmewarnungen
lichkeiten Fahrerübersteuerung
10 „Fahrertrigger“

Systemfehler Fehlermeldungen Fehlermeldungen


11 Misuse und Bewertung der Use Cases, z. B. provozierte Bewertung der Use Cases
Fehlgebrauch Warnungen

12 Subjektive „Fahrertrigger“ „Fahrertrigger“


Bewertung Fragebogen Fragebogen

13 100
90
14
80
15
km travelled [%]

70
60
16 50
40
17 30
20
18
10
19 0
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 2 2,2 2,4 2,6 2,8
Following Distance [s]
20
.. Abb. 12.4  Abstandsverhalten bei Nutzung eines ACC-Systems zweiter Generation [23]
Literatur
195 12
.. Abb. 12.5  Anzahl und 70
Art der Systemauslösung Warning
60
über der Ausgangsge-
Warning with BASplus
schwindigkeit (318 Situati- 50
Warning with BASplus & AEB
onen) [23]
40 Warning with AEB
30

20

10

10 00
90 90
60 0

16 160
40 0
30 0

50 0

15 150
80 0

14 140
70 0

13 130

17 170
20 0

80
11 110
0

12 120
-4

-6

-7
-5
-3

-8
-2
-1

-1

-1
-

-
-

-
-
-
-
10
0

0
0

0
0
0

0
0
Speed [km/h]

5 Eckstein, L.: Souveräne Interaktion mit Fahrerassistenzsys-


Der Vergleich der Aktivierungshäufigkeiten von temen. In: Technischer Kongress 2008 Verband der Deut-
BAS PLUS und PRE-SAFE®-Bremse zeigt – abgese- schen Automobilindustrie VDA. VDA, Frankfurt (2008)
hen von der geringen Bedeutung stehender „Hin- 6 Bortz, J.: Lehrbuch der Statistik für Human‐ und Sozialwis-
dernisse“ – dass die adaptive Bremsunterstützung senschaftler. Springer, Berlin usw (2005)
7 Laurig, W., Luttmann, A.: Planung und Durchführung von
im realen Verkehrsgeschehen etwa zehnmal so häu-
Feldstudien. In: Rohmert, W., Rutenfranz, J. (Hrsg.) Die Be-
fig ausgelöst wurde wie die automatische Bremsung. deutung von Feldstudien für die Arbeitsphysiologie. Fest-
Dies ist vor allem der Wirksamkeit der Kollisions- kolloquium aus Anlass des 75. Geburtstags von Herbert
warnung zuzuschreiben. Scholz, Dortmund 10. Juni 1987 Dokumentation Arbeits-
Dass sich die hier beispielhaft behandelten As- wissenschaft, Bd. 17, Dr. Otto Schmidt, Köln (1988)
8 Bubb, H.: Wie viele Probanden braucht man für allgemeine
sistenzsysteme für den Längsverkehr auch in der
Erkenntnisse aus Fahrversuchen? In: Landau, K., Winner, H.
Vermeidung und Folgenminderung von Auffahrun- (Hrsg.) Fahrversuche mit Probanden – Nutzwert und Risiko
fällen niederschlagen und dabei sogar dem Folge- Fortschr.‐Ber. VDI Reihe 12, Bd. 557, VDI, Düsseldorf (2003)
verkehr bessere Chancen zur Kollisionsvermeidung 9 Weitzel, A., Winner, H.: Ansatz zur Kontrollierbarkeitsbewer-
einräumen, belegen Ex-post-Validierungen anhand tung von Fahrerassistenzsystemen vor dem Hintergrund
der ISO 26262, FAS 2012 – 8. Workshop Fahrerassistenz-
von Ersatzteilabrufen [24]. Potenzialanalysen für Si-
systeme. UNI‐DAS e. V., Darmstadt (2012)
cherheitssysteme auf Basis von Unfalldaten sowie 10 Akerstedt, T., Gillberg, M.: Subjective and objective sleepi-
deren Ex-post-Validierung im realen Unfallgesche- ness in the active individual. Intern. J. Neuroscience 52,
hen behandelt ▶ Kap. 4. 29–37 (1990)
11 Hart, S., Staveland, L.: Development of NASA‐TLX (Task
Load Index): Results of empirical and theoretical rese-
arch. In: Hancock, P., Meshkati, N. (Hrsg.) Human mental
Literatur
workload, S. 139–183. North Holland Press, Amsterdam
(1988)
1 ISO 26262: Road vehicles – Functional safety. International 12 De Waard, D.: The measurement of drivers’ mental
Organization for Standardization. 2011 workload. PhD thesis, University of Groningen, Haren, The
2 RESPONSE Consortium: Code of practice for the design and Netherlands: University of Groningen, Traffic Research Cen-
evaluation of ADAS. RESPONSE 3: a PReVENT Project. 2006 tre, 1996
3 Fach, M., Baumann, F., Breuer, J., May, A.: Bewertung der 13 Wierwille, W., Tijerina, L., Kiger, S., Rockwell, T., Lauber, E.,
Beherrschbarkeit von Aktiven Sicherheits‐ und Fahreras- Bittner, A.: Heavy vehicle driver workload assessment –
sistenzsystemen an den Funktionsgrenzen. VDI Berichte, Task 4: Review of workload and related research (DOT HS
Düsseldorf (2010) 808 467). National Highway Traffic Safety Administration,
4 Breuer, J.: Fahrerassistenzsysteme: Vom Tempomat bis zum Washington, D.C. (1996)
Notbremsassistenten. In: Technischer Kongress 2007 Ver- 14 Schierge, F.: Welche Fahrerassistenz wünschen sich die
band der Deutschen Automobilindustrie VDA. VDA, Frank- Fahrer? VDI‐Berichte, Bd. 1919. VDI‐Verlag, Düsseldorf, S.
furt (2007) 207–219 (2005)
15 Neukum, A., Krüger, H.-P.: Fahrerreaktionen bei Lenksys-
temstörungen – Untersuchungsmethodik und Bewer-
196 Kapitel 12  •  Nutzerorientierte Bewertungsverfahren von Fahrerassistenzsystemen

tungskriterien VDI‐Berichte, Bd. 1791. VDI-Verlag, Düssel-


1 dorf (2003)
16 Neukum, A., Lübbeke, T., Krüger, H.-P., Mayser, C., Steinle,
J.: ACC‐Stop&Go: Fahrerverhalten an funktionalen System-
2 grenzen. In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) 5. Workshop Fah-
rerassistenzsysteme ‐ FAS 2008, S. 141–150. Fmrt, Karlsruhe
(2008)
3 17 Tattersall, S., Petersen, U., Breuer, J.: Ein Messdatenmanage-
mentsystem für die Feldabsicherung von neuen Fahreras-
sistenzsystemen. In: 28. VDI/VW‐Gemeinschaftstagung
4 „Fahrerassistenz und Integrierte Sicherheit 2012“ VDI‐Be-
richte, Bd. 2166, VDI-Verlag, Düsseldorf (2012)

5 18 Euro NCAP ASSESSMENT PROTOCOL – SAFETY ASSIST. Ver-


sion 6.0, 2013 http://www.euroncap.com/files/Euro-NCAP-
Assessment-Protocol---SA---v6.0---0-03d1ee92-316 f-4c23-

6 19
918d-76c7496ba833.pdf
Schöneburg, R., Baumann, K.-H., Fehring, M.: The efficiency
of PRE‐SAFE®‐systems in pre‐braked frontal collision situ-
7 ations Paper 11‐0207 22nd International Technical Confe-
rence on the Enhanced Safety of Vehicles, Washington, DC,
June 13–16. (2011)
8 20 Simmermacher, D.: Objektive Beherrschbarkeit von Gier-
störungen in Bremsmanövern. Dissertation TU Darmstadt,
2013
9 21 Unselt, T., Beier, G.: Safety Benefits of Advanced Brake
Light Design. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA)
(Hrsg.) International Society for Occupational Ergonomics
10 and Safety (ISOES), Federation of European Ergonomics
Societies (FEES) International Ergonomics Conference,
Munich, May 7th ‐ 9th. (2003)
11 22 Breuer, J.: Sicherheitsprognosen für neue Assistenzsysteme
– Stand und Herausforderungen. In: Bruder, R., Winner, H.
(Hrsg.) 4. Kolloquium Mensch & Fahrzeug. ergonomia Ver-
12 lag, Darmstadt (2009)
23 Breuer, J., Feldmann, M.: Safety Potential of Advanced

13 Driver Assistance Systems. In: 20. Aachen Colloquium Au-


tomobile and Engine Technology 2011. Aachener Kollo-
quium Fahrzeug- und Motorentechnik GbR, Aachen (2011)

14 24 Schittenhelm, H.: Advanced Brake Assist – Real World effec-


tiveness of current implementations. In: ESV Conference.
Seoul, Korea (2013)
15
16
17
18
19
20
197 13

EVITA – Das Prüfverfahren


zur Beurteilung von
Antikollisionssystemen
Norbert Fecher, Jens Hoffmann, Hermann Winner

13.1 Das Dummy Target EVITA  –  198


13.2 Messkonzept im Versuchsfahrzeug – 200
13.3 Gefährdungen von Versuchsteilnehmern – 200
13.4 Bewertungsmethode – 201
13.5 Einsatz in weiteren Studien  –  206
Literatur – 206

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
198 Kapitel 13  •  EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen

13.1 Das Dummy Target EVITA davon, ob der Proband auf das Manöver rechtzeitig
1 reagiert oder nicht, wird der Anhänger aktiv aus
Für in kritischen Situationen agierende FAS ist kein dem Kollisionsbereich gezogen. Im Frühjahr 2014
2 universell einsetzbares, einfaches Testverfahren für wurde der Anhänger grundlegend überarbeitet.
Realfahrten bekannt, bei dem Probanden ohne Ein- . Abbildung 13.1 zeigt EVITA 2.0.
schränkungen eingesetzt werden können.
3 In zwei Forschungsprojekten in Kooperation
mit Honda R&D Deutschland und der Forschungs- 13.1.3 Aufbau
4 initiative „Aktiv“ wurden verschiedene Ausprä-
gungen von Antikollisionssystemen entwickelt und Im Heck des Zugfahrzeugs befindet sich eine Seil-
5 bewertet. Für die Durchführung des Entwicklungs- winde mit einer reibkraftschlüssigen Windenbremse
prozesses ist eine eigene Bewertungsmethode mit und einem Elektromotor. Der Anhänger ist mit dem
einem top-down-Ansatz abgeleitet worden. Zugfahrzeug nur über das Seil der Winde verbun-
6 den. Das andere Ende des Seils ist an der Achsschen-
kellenkung der Vorderachse des Anhängers befes-
7 13.1.1 Ziele tigt. Die Scheibenbremsen des Anhängers werden
hydraulisch via Handbremshebel von einem Elektro-
Das Ziel der Entwicklung war eine Methode und ein motor betätigt. Im hinteren Bereich des Anhängers
8 Werkzeug für die Bewertung von Antikollisionssys- befindet sich das Heck eines Opel Adam. An diesem
temen im Längsverkehr. Die Anforderungsliste sah Heck ist ein Radarsensor befestigt. Im Zugfahrzeug
9 vor, die Bewegungsgrößen eines vorausfahrenden und im Anhänger befinden sich Rechner, die durch
Fahrzeugs aus der stationären Kolonnenfahrt mit Funkmodems miteinander verbunden sind. Als
10 einem unerwarteten Bremsmanöver darstellen zu Grundgerüst für das Dummy Target kommt ein Alu-
können. Das Risiko für die Probanden durfte bei dem minium-Fachwerkrahmen aus der Bühnentechnik
zu entwickelnden Testverfahren nicht höher ausfal- mit vier Einzelradaufhängungen eines Quads zum
11 len als bei anderen üblichen Fahrversuchsverfahren. Einsatz. Der große Nachlauf der Vorderachse sorgt
Weiteres Ziel bei der Entwicklung von EVITA (Ex- für einen ruhigen Geradeauslauf. In einem feuchtig-
12 perimental Vehicle for Unexpected Target Approach) keitsgeschützten Gehäuse befindet sich der lüfter-
war es, die minimale Beeinflussung der Probanden lose Rechner zusammen mit dem Funkmodem, der
durch das Werkzeug zu erreichen, weshalb Wert auf Energieversorgung und der Bremsensteuerung. Die
13 eine größtmögliche Übereinstimmung der Heckan- Bremsleuchten der Heckansicht sind funktionstüch-
sicht mit einem herkömmlichen Personenkraftwagen tig. Die Gesamtmasse des Dummy Target beträgt
14 gelegt wurde. Die Forderung nach der größtmögli- ca.  200 kg. . Abbildung 13.2 zeigt eine Übersicht
chen Übereinstimmung der Heckansicht mit einem über die Komponenten des Dummy Target.
15 bekannten Fahrzeug eröffnet neben der Durchfüh-
rung von Probandenversuchen auch die Möglichkeit
zur Nutzung für die Entwicklung und Bewertung von 13.1.4 Versuchsablauf
16 Sensorkonzepten für Antikollisionssysteme.
Im Ausgangszustand ist der Anhänger hinter dem
17 Zugfahrzeug kurzgekoppelt. Wird vom am Anhän-
13.1.2 Konzept gerheck montierten, rückwärtig messenden Radar
ein Fahrzeug (target object) in passendem Ver-
18 Das realisierte Konzept besteht aus der Kombina- suchsabstand detektiert, kann das Gesamtsystem
tion eines Zugfahrzeugs, einem Anhänger und ei- für eine Versuchsdurchführung aktiviert werden.
19 nem auffahrenden Fahrzeug. Während einer stati- Ein Befehl des Bedieners im Zugfahrzeug öffnet die
onären Folgefahrt bremst der Anhänger (Dummy Bremse der Seilwinde und betätigt die Bremsen des
20 Target genannt) für den im Versuchsfahrzeug fah- Anhängers. Das Zugfahrzeug fährt während dieses
renden Probanden überraschend ab. Unabhängig Vorgangs mit konstanter Geschwindigkeit weiter.
13.1  •  Das Dummy Target EVITA
199 13
.. Abb. 13.1  EVITA (bestehend
aus Zugfahrzeug und Dummy
Target)

.. Abb. 13.2  Komponenten des Dummy Target


200 Kapitel 13  •  EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen

Durch das Bremsen des Dummy Target wickelt


1 sich das Seil der Winde ab. Während der Anhänger
.. Tab. 13.1  Leistungsdaten EVITA

verzögert, berechnet die Verarbeitungseinheit des Maximale Differenzgeschwindigkeit 50 km/h

2 Abstandssensors permanent die Time-To-Collision zwischen auffahrendem Fahrzeug und


EVITA
(TTC). Die TTC ist eine aus Abstand und Relativ-
geschwindigkeit gebildete Größe: Maximale Bremsverzögerung von EVITA 9 m/s2
3 Kleinste TTC vor einem Versuchende 0,8 s
d
TTC D ; [TTC] = s (13.1)
4 vrel Übliche Testgeschwindigkeiten
(Ausgangsgeschwindigkeit)
50–130 km/h

Dabei gibt d den Abstand in m zum vorausfahren-


5 den Objekt und vrel die Relativgeschwindigkeit in
m/s an. Unterschreitet die TTC einen festgelegten den Radar-Daten eine zuverlässige Interpretation
Wert, schließt die Seilwindenbremse im Zugfahr- der Situation. Die zweite Kamera ist vom Kombiin-
6 zeug, und der Anhänger beschleunigt auf das mit strument aus auf das Gesicht des Fahrers gerichtet.
konstanter Ausgangsgeschwindigkeit fahrende Zug- Dadurch ist u. a. eine Zuordnung der Blickrichtung
7 fahrzeug. Die Beschleunigung des Anhängers dau- des Fahrers möglich. Die dritte Kamera ist auf die
ert bei maximaler Differenzgeschwindigkeit ca. 1 s. Pedalerie des Fahrzeugs fokussiert. Dies ermöglicht
Nach Beendigung des Versuchs bremst das gesamte die Analyse der Fußbewegungen des Fahrers und die
8 Gespann bis zum Stillstand ab. Bestimmung von Aktionszeiten, wie beispielsweise
die Umsetzzeit vom Gaspedal auf das Bremspedal.
9 Die Wiederholungsrate für jedes der drei Einzelbil-
13.1.5 Leistungsdaten der liegt bei 20 ms. Dasselbe Messsystem zeichnet die
10 CAN-Daten auf, sodass eine zeitliche Zuordnung von
Die Leistungsdaten von EVITA zeigt . Tab. 13.1. Bildern und Signalen gegeben ist. Als CAN-Daten
stehen die üblichen Fahrzeugdaten wie Geschwin-
11 digkeit, Quer- und Längsbeschleunigung, Daten des
13.2 Messkonzept vorausfahrenden Objekts sowie Daten aus der Be-
12 im Versuchsfahrzeug dienung des Fahrzeugführers wie Lenkradwinkel,
Bremspedalbetätigung und weitere zur Verfügung.
Mit der ausgewählten Methodik erfolgt die Messung
13 zur Güte von Frontkollisionsgegenmaßnahmen un-
abhängig vom Werkzeug EVITA. Das Messkonzept 13.3 Gefährdungen
14 zur Bestimmung der definierten Bewertungskrite- von Versuchsteilnehmern
rien ist vollständig im Versuchsfahrzeug umgesetzt,
15 das mit einem Antikollisionssystem ausgestattet Zur Bestimmung potentieller Systemfehlfunktio-
ist. Eine Umfeldsensorik klassifiziert das voraus- nen wurde eine System-FMEA durchgeführt und
fahrende Target EVITA als relevantes Zielobjekt. daraus Maßnahmen für den sicheren Betrieb abge-
16 Objektgrößen wie beispielsweise Abstand, Relativ- leitet. Während jeder Versuchsdurchführung laufen
geschwindigkeit und Relativbeschleunigung wer- automatisierte Sicherheitsprüfroutinen ab. Wird ein
17 den zur Berechnung der TTC gemessen. Über eine Fehler erkannt, wird das System in einen sicheren
Bedienschnittstelle werden von einem Versuchsbe- und stabilen Zustand überführt. Das Sicherheits-
gleiter Einstellungen zur Steuerung der Frontkolli- niveau wird durch das automatisierte Auslösen ei-
18 sionsgegenmaßnahmen vorgenommen. ner Notbremsung im folgenden Versuchsfahrzeug
Das Fahrzeug verfügt über ein Messtechnik- beim Erreichen einer TTC von 0,7  s zusätzlich
19 system zur kombinierten Erfassung von CAN- und erhöht. Die für die Durchführung der Versuche
Kameradaten. Es werden drei Kameras eingesetzt. eingestellte, minimal erreichbare TTC durch eine
20 Die erste Kamera ist auf das Vorfeld des Fahrzeugs kollisionsvermeidende Aktion von EVITA liegt bei
gerichtet. Sie ermöglicht im Zusammenhang mit 0,8 s (siehe . Tab. 13.1). Wird eine TTC kleiner als
13.4 • Bewertungsmethode
201 13

.. Abb. 13.3  Idealisierter Versuchsablauf als Geschwindigkeitsverlauf über der Zeit des Versuchsfahrzeugs

0,8 s erreicht, so muss von einer Fehlfunktion von tikollisionssystem. Neben der objektiven Wirksam-
EVITA ausgegangen werden. Sollte eine Kollision keit wird die von den Probanden beurteilte subjek-
trotz aller Vorkehrungen unvermeidbar sein, wird tive Wirksamkeit definiert. Diese per Fragebogen
aufgrund der geringen Masse des Dummy Target ermittelte Größe wird als Vergleich zwischen ver-
kein Schaden für Versuchspersonen erwartet. schiedenen Ausprägungen von Frontkollisionsge-
genmaßnahmen durch das Bilden einer Rangfolge
definiert.
13.4 Bewertungsmethode

Mit EVITA liegt das Werkzeug zum Erzeugen von 13.4.2 Probandenversuch
kritischen Unfallsituationen vor. Im Folgenden wird
eine der Hauptbewertungsgrößen zur Beurteilung Eine Erkenntnis aus in-depth studies ist, dass viele
der Güte von Antikollisionssystemen beschrieben. Fahrzeugführer vor einem Auffahrunfall abgelenkt
sind [1]. Daher werden die Probanden des auffah-
renden Versuchsfahrzeugs kurz vor einer Abbrem-
13.4.1 Wirksamkeit sung von EVITA mit einer Nebenaufgabe zu einer
eines Antikollisionssystems länger als 2 s dauernden Blickabwendung verleitet.
Durch den im Versuchsfahrzeug sitzenden Bedie-
Als objektive Beurteilungsgröße für die Wirksam- ner wird während der Blickabwendung des Pro-
keit eines Antikollisionssystems (speziell von Front- banden die Erzeugung der kritischen Auffahrsitu-
kollisionsgegenmaßnahmen) wird die Verringerung ation ausgelöst. Der Proband wird anschließend
der Geschwindigkeit des Ego-Fahrzeugs vor dem beim Erreichen einer vordefinierten TTC-Schwelle
Aufprall herangezogen. Dieses Kriterium stimmt beispielsweise von den Warnelementen des An-
mit dem generellen Ziel von Antikollisionssystemen tikollisionssystems alarmiert. . Abbildung 13.3
überein, entweder die Aufprallgeschwindigkeit zu zeigt idealisiert den Geschwindigkeitsverlauf des
reduzieren, oder die vollständige Vermeidung des Versuchsfahrzeugs über der Zeit. Erkennbar sind
Aufpralls zu erreichen. Je höher die Verringerung die Ablenkung des Probanden und die Bremsung
der Geschwindigkeit, desto wirksamer ist das An- des Dummy Target. Beim Erreichen der kritischen
202 Kapitel 13  •  EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 13.4  Definitionen der zeitlichen Bewertungskriterien

8 Schwelle wird beispielsweise eine Alarmierung des der Auslöseschwelle in einem ungebremsten Eich-
Fahrers oder ein sonstiger Eingriff ausgelöst. Typi- versuch ohne Proband bestimmt. Für eine typische
9 scherweise folgen dann eine Blickzuwendung durch Warnung mit dem TTC-Algorithmus beträgt der
den Probanden auf die Situation vor dem Ego-Fahr- Beurteilungszeitraum 2 s. Die Warnschwelle wurde
10 zeug und der Bremsbeginn. unter Kenntnis von Warnzeitpunkten bekannter
Aus Gründen der Reproduzierbarkeit wird dem Frontkollisionsgegenmaßnahmen definiert. So
Probanden der zulässige Abstand zur vorausfahren- können Warnelemente sowohl miteinander als
11 den EVITA über eine ampelähnliche Anzeige am auch mit autonomen Bremseingriffen verglichen
Heck von EVITA vorgegeben. Ist der Abstand zu werden.
12 groß, wird dem Fahrer ein blaues, bei zu geringem Als Hauptbewertungsgröße für die Güte von
Abstand ein rotes Signal angezeigt. Liegt der Ab- Frontkollisionsgegenmaßnahmen ist die Verrin-
stand im Bereich von 20 bis 25 m, so leuchtet die gerung der gedachten Aufprallgeschwindigkeit
13 Ampel grün. Nur in diesem Fall wird ein Versuch eingeführt, diese wird Wirksamkeit genannt. Dazu
durch die Abbremsung von EVITA ausgelöst. wird ab dem Zeitpunkt der Warnung durch das
14 Antikollisionssystem bis zum gedachten Aufprall
ein Beurteilungszeitraum definiert, an dessen Ende
13.4.3 Bewertungskriterien
15 für warnende Frontkollisions­
die abgebaute Differenzgeschwindigkeit bestimmt
wird. Handelt es sich um ein warnendes Antikolli-
gegenmaßnahmen sionssystem, so sind die Reaktionszeit des Fahrers
16 und die Höhe der eingeleiteten Verzögerung die
Für die Beurteilung der Wirksamkeit wird ein Be- wichtigsten Komponenten für eine hohe abgebaute
17 urteilungszeitraum festgesetzt. Der Zeitraum be- Differenzgeschwindigkeit. Im Beurteilungszeitraum
ginnt mit dem Zeitpunkt des Auslösens einer War- ist die Gesamtreaktionszeit in verschiedene Prozess-
nung oder eines Fahrzeugeingriffs. Er endet zum schritte unterteilt.
18 Zeitpunkt eines gedachten, ungebremsten Aufpralls In der Literatur gibt es zahlreiche Angaben zur
des Versuchsfahrzeugs auf das vorausfahrende, un- Bestimmung des Fahrerverhaltens in Gefahren-
19 unterbrochen bremsende Dummy Target. Dieser situationen, wozu Bäumler und Krause et  al. [2,
Aufprall ist „gedacht“, da von EVITA automatisch 3] einen Überblick geben. Die in diesem Kontext
20 eine Kollision vermieden wird. Der Endzeitpunkt verwendete Festlegung lehnt sich an die für die
wird in Abhängigkeit des TTC-Algorithmus und Versuchsverhältnisse allgemeingültige Defini-
13.4 • Bewertungsmethode
203 13

.. Tab. 13.2  Bewertungskriterien im Beurteilungszeitraum

Objektive Wirksamkeit Geschwindigkeitsänderung des Ego-Fahrzeugs

Blickzuwendungszeit Zeitdauer vom Zeitpunkt der Warnung bis zum Blick auf die Straße

Umsetzzeit Zeitdauer von der ersten Bewegung des Fußes vom Gaspedal bis zum ersten Kontakt mit
dem Bremspedal

Betätigungszeit Zeitdauer vom ersten Kontakt des Fußes mit dem Bremspedal bis zum Erreichen eines
Bremspedaldrucks von 60 bar

Störungsmaß Geschwindigkeitsänderung des Ego-Fahrzeugs vom Beginn einer Fehlwarnung ohne


Kollisionsgefahr

Subjektive Wirksamkeit Probandenbeurteiltes Maß für die Höhe einer kollisionsvermeidenden Wirkung eines
Warnelements

Subjektive Verzeihlich- Probandenbeurteiltes Maß für die Entschuldbarkeit eines Warnelements bei einer Fehl-
keit warnung/nicht berechtigten Warnung

tion von Burckhardt [4] bzw. Zomotor [5] an. Die Eingriff des Antikollisionssystems mit der kriti-
. Abb.  13.4 zeigt den zeitlichen Zusammenhang schen Situation konfrontiert und beispielsweise die
der Reaktionszeiten, des Beurteilungszeitraums, Geschwindigkeitsdifferenz bestimmt.
des typischen Geschwindigkeitsverlaufs und der Für die Bewertung der Wirksamkeit des Anti-
Wirksamkeit. kollisionssystems ist nur der erste Versuch des Pro-
60 bar entsprechen beim gewählten Versuchs- banden eine unbeeinflusste Basis. Bei allen weiteren
fahrzeug einer Verzögerung von 10 m/s2 und so- Versuchen hat der Proband trotz einer lückenhaften
mit der maximalen Verzögerung bei einem hohen Vorinformation über den eigentlichen Zweck der
Reibwert von 1,0 zwischen Fahrbahnoberfläche und Versuche den Versuchsgegenstand einer überra-
Reifen. Während des Beurteilungszeitraums werden schenden Notsituation verstanden, er gilt als vorein-
die Kriterien der . Tab. 13.2 beurteilt. genommen. Der Bewertung der Akzeptanz durch
den Fahrer kommt bei der Entwicklung von Fah-
rerassistenzsystemen mittlerweile eine große Beach-
13.4.4 Vergleiche tung zu [6]. Die weiteren Versuche nach der ersten
von Antikollisionssystemen Notsituation eignen sich zum Erzeugen weiterer Er-
kenntnisse, wie etwa dem Umgang mit Fehlwarnun-
Das einheitliche Bewertungsverfahren ist Grund- gen oder den vergleichenden Probandeneinschät-
lage für den Vergleich verschiedener Ausprägun- zungen zu Varianten von Antikollisionssystemen.
gen von Frontkollisionsgegenmaßnahmen. Für Die Einschätzung von Probanden zur erlebten Si-
die Bewertung werden mit einem entsprechend tuation und zur Bewertung von Fahrerwarnelemen-
geteilten Kollektiv von Probanden Testfahrten un- ten wird mit Fragebögen erhoben. Der Auswertung
ter Berücksichtigung verschiedener Ausprägungen dieser Fragebögen werden Hinweise zur Gestaltung
durchgeführt. Der Vergleich der über alle Proban- von Fahrerwarnelementen entnommen.
den gemittelten Geschwindigkeitsreduktionen im
Beurteilungszeitraum gibt die Wirksamkeit der Va-
rianten wieder. 13.4.5 Ergebnisse
Eine Beurteilung der absoluten Wirksamkeit ei-
nes Antikollisionssystems ist durch die Verwendung In verschiedenen Forschungsprojekten wurden mit
einer so genannten Baseline zu erreichen. Dabei dem Beurteilungswerkzeug EVITA Fahrerwarnele-
wird ein Teil des Probandenkollektivs ohne einen mente auf ihre Eignung für Antikollisionssysteme
204 Kapitel 13  •  EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 .. Abb. 13.5  Wirksamkeit der Warnelemente

untersucht. Im Rahmen dieses Kapitels werden die Bremsruck ist als Beschleunigungsrampe über eine
12 Ergebnisse der nachfolgenden Warnelemente vor- Zeitdauer von 0,5 s mit einem Maximum bei 5 m/s2
gestellt: realisiert. Die automatisierte Teilverzögerung wird
1. Reifenquietschen (Sound), mit 6 m/s2 bis zu einer Zeitdauer von 1,3 s aufgebaut.
13 2. Sitzvibration mit Symboldarstellung (Seat Vib- Die . Abb.  13.5 zeigt die im Fahrversuch be-
ration & Symbol), stimmte Wirksamkeit der getesteten Warnelemente
14 3. Bremsruck (Jerk) und im ersten Versuch. Bestimmt wird die Geschwindig-
4. automatisierte Teilverzögerung (Partial). keitsreduktion des Ego-Fahrzeugs im Beurteilungs-
15 zeitraum während der ersten Notbremssituation.
Diese Warnelemente werden einem Versuch ohne Aufgetragen ist die kumulierte Häufigkeit (Cu-
Warnung und ohne Eingriff gegenübergestellt mulative percentage) gegenüber der Wirksamkeit
16 (Baseline). Alle Warnelemente im Versuchsfahr- (Effectiveness). Die Grenzen der mittleren 50 % sind
zeug wurden 2 s vor einer drohenden Kollision ak- als horizontale Hilfslinien angegeben und entspre-
17 tiviert. Das Auditory Icon Reifenquietschen wird chen den Grenzen eines Boxplots (Grenze bei 25 %
über einen mittig im Armaturenbrett angeordneten und 75 %). Der Buchstabe N kennzeichnet die An-
Lautsprecher eingespielt. Die Lautstärke am Kopf zahl der Versuche. Die Sterne beschreiben die Signi-
18 des Fahrers beträgt 90 dB (A), die Dauer 0,95 s. Ein fikanzen (dies ist ein Maß für die Unterscheidbarkeit)
mittig unter dem Fahrersitz angeordneter E-Motor zwischen den Warnelementen. Je weiter rechts eine
19 mit einer Unwucht sorgt für eine Sitzvibration, Kurve liegt, desto wirksamer ist das Warnelement.
ein oberhalb des Kombiinstruments angebrachter Ersichtlich sind die Unterschiede zwischen den
20 Bildschirm stellt das blinkende rote Symbol dar. Gruppen „Seat Vibration & Symbol mit Baseline“
Die Größe des Symbols beträgt 75 × 50 mm. Der gegenüber „Sound und Jerk“ sowie gegenüber „Par-
13.4 • Bewertungsmethode
205 13

.. Abb. 13.6  Merkmaldiagramm der Warnelemente Sound, Jerk, Seat Vibration & Symbol

tial“. Seat Vibration & Symbol weist aus statistischer Aufgetragen sind die Bewertungskriterien
Sicht keinen signifikanten Unterschied gegenüber Wirksamkeit (Objective effectiveness), Blickzu-
einem Vergleichsversuch ohne Warnung auf (Base- wendungszeit (Visual distraction time), subjektive
line). Die Verläufe von Jerk und Sound ähneln sich, Wirksamkeit (Subjective effectiveness), Störungs-
die Hypothese der Gleichheit beider Verteilungen maß (Objective disturbance), Gesamtreaktionszeit
kann mit statistischen Methoden nicht widerlegt (Overall response time) und subjektive Verzeih-
werden. Jerk weist bezüglich der Wirksamkeit einen lichkeit (Subjective forgiveness) in Analogie zu
nahezu signifikanten Unterschied (Irrtumswahr- . Tab. 13.2. Für jedes Warnelement wird der Me-
scheinlichkeit 7 statt 5 %) zur Baseline auf. Partial dian aufgetragen. Je weiter ein Wert vom Zentrum
erreicht die höchste Wirksamkeit mit der gerings- (Schnittpunkt der Achsen) entfernt liegt, desto bes-
ten Streuung. Partial erzielt eine Wirksamkeit von ser ist das Kriterium erfüllt.
37 km/h, eine Erhöhung über diesen Wert hinaus Auf Grundlage des Merkmaldiagramms kön-
wird durch die Übersteuerung des Fahrers möglich. nen gewichtete Bewertungen für das Erzeugen
Ein Merkmaldiagramm eignet sich für die ver- von Empfehlungen festgelegt werden. So können
gleichende Darstellung unterschiedlicher Kriterien, beispielsweise die objektive Wirksamkeit und die
zusammengefasst in . Abb. 13.6 für drei Warnele- subjektive Verzeihlichkeit sehr hoch gewichtet wer-
mente aus der gleichen Versuchsreihe. den. In diesem Sinne erfolgt eine Empfehlung für
206 Kapitel 13  •  EVITA – Das Prüfverfahren zur Beurteilung von Antikollisionssystemen

das Warnelement Sound, da sowohl die objektive [6] Bubb, H.: Fahrversuche mit Probanden – Nutzwert und Ri-
1 Wirksamkeit als auch die subjektive Verzeihlichkeit
siko, Darmstädter Kolloquium Mensch & Fahrzeug, Darm-
stadt, 2003
größer sind als bei Jerk. Seat Vibration & Symbol [7] Hoffmann, J.: Das Darmstädter Verfahren (EVITA) zum Tes-
2 zeichnet sich durch eine geringere Wirksamkeit, ten und Bewerten von Frontalkollisionsgegenmaßnah-
aber auch eine hohe Verzeihlichkeit aus. men. Fortschritt‐Berichte, VDI Reihe 12, Nr. 693, Düsseldorf,
Zusammenfassend wurde durch die Definition 2008
3 der Bewertungskriterien eine klare Differenzierung
[8] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Die Prüfmethode für An-
tikollisionssysteme, 5. Workshop Fahrerassistenzsysteme,
verschiedener Frontkollisionsgegenmaßnahmen er- Walting, April 2008
4 reicht. Exemplarisch dafür stehen die Ergebnisse der [9] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Das Untersuchungswerk-
drei Warnelemente Sound Jerk und Seat Vibration & zeug für Gefahrensituationen, 3. Tagung aktive Sicherheit

5 Symbol. Es steht damit eine objektive Bewertung un- durch Fahrerassistenz, Garching, April 2008
[10] Winner, H.; Fecher, N.; Hoffmann, J.; Regh, F.: Bewertung
ter Einbeziehung des Fahrers zur Entwicklung von
von Frontalkollisionsgegenmaßnahmen – Status Quo, In-
Antikollisionssystemen zur Verfügung.
6 tegrated Safety, Hanau, Juli 2008.
[11] Fecher, N., Fuchs, K., Hoffmann, J., Abendroth, B., Bruder, R.,
Winner, H.: Fahrerverhalten bei aktiver Gefahrenbremsung.
7 13.5 Einsatz in weiteren Studien Automobiltechnische Zeitschrift 1 1(2), S. 144ff. (2009)
[12] Hoffmann, J.; Winner, H.: EVITA – Thetestingmethod for
collision warning and collision avoidance systems, FISITA
Bis Ende 2013 wurden umfangreiche Versuche mit
8 einer Anzahl von über 800 Probanden durchge-
2008, F2008–12–019
[13] Fecher, N.; Fuchs, K.; Hoffmann, J.; Bruder, R.; Winner, H.:
führt. Für die Übertragung der Erkenntnisse auf Analysis of the driver behavior in autonomous emergency
9 die Realität kommt der Evaluierung des Versuchs- hazard braking situations, FISITA 2008, F2008–02–030
aufbaus eine große Bedeutung zu. Die Auswertung
10 der Versuche zeigt, dass sich bei gewöhnlicher
Folgefahrt keine Auffälligkeiten im Fahrverhalten
der Probanden erkennen lassen, die auf den Ver-
11 suchsaufbau zurück zu führen sind. Bestätigt wird
diese Erkenntnis durch die per Fragebögen erho-
12 bene Einschätzung der Probanden. Somit ist das
Ziel, keine negative Beeinflussung der Probanden
durch den Versuchsaufbau zu erhalten, erreicht.
13 Eine autonome Teilverzögerung ist hochsignifikant
wirksamer, als die Baseline. Ergebnisse aus der An-
14 wendung der Methode finden sich in [7, 8, 9, 10,
11, 12, 13].
15
Literatur
16
[1] NHTSA Report 2001

17 [2] Bäumler, H.: Reaktionszeiten im Straßenverkehr; VKU (Ver-


kehrsunfall und Fahrzeugtechnik), Vieweg Verlag, Ausga-
ben 11/2007, 12/2007, 1/2008.
18 [3] Krause, R., de Vries, N., Friebel, W.-C.: Mensch und Bremse in
Notbremssituationen. VKU (Verkehrsunfall und Fahrzeug-
technik) Juni (2007)
19 [4] Burckhardt, M.: Reaktionszeiten bei Notbremsvorgängen
Fahrzeugtechnische Schriftreihe. Verlag TÜV Rheinland,
Köln (1985)
20 [5] Zomotor, A.: Fahrwerktechnik – Fahrverhalten. Vogel, Würz-
burg (1987)
207 14

Testen mit koordinierten


automatisierten Fahrzeugen
Hans-Peter Schöner, Wolfgang Hurich

14.1 Motivation für den Einsatz koordinierter


automatisierter Fahrzeuge – 208
14.2 Anforderungen an Präzision und Reproduzierbarkeit   –  209
14.3 Technische Umsetzung   –  210
14.4 Planung von Manövern  –  212
14.5 Selbstfahrende Targets – 213
14.6 Beispiele für automatisierte Fahrmanöver   –  216
14.7 Zukünftige Entwicklungen – 218
Literatur – 218

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
208 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

14.1 Motivation für den Einsatz Die systematische Erprobung solcher Sys-
1 koordinierter automatisierter teme bedeutet technisch, dass die Fahrzustände
Fahrzeuge eines Versuchsfahrzeugs auf einer vorgegebenen
2 Fahrbahn präzise eingestellt werden müssen: Ein
Fahrerassistenzsysteme unterstützen den Fahrer konkreter raumfester Kurs ist mit vorgegebener
einerseits auf langen Fahrten bei Routineaufgaben, Geschwindigkeit einzuhalten. Sind mehrere Fahr-
3 sie helfen dem Fahrer aber auch, in kritischen Si- zeuge involviert, ist die Gleichzeitigkeit ihrer Be-
tuationen rechtzeitig und richtig zu reagieren. Die wegungen einzuhalten. Menschliche Fahrer kön-
4 Assistenzsysteme der neuesten Generation reagie- nen diese Bedingungen in einem Fahrzeug noch
ren sogar selbstständig, wenn der Fahrer vor einem ausreichend präzise erfüllen, bei der gleichzeitigen
5 absehbar unvermeidbaren Unfall nicht rechtzeitig zeitlichen und räumlichen Koordination mehrerer
reagiert. Dazu müssen die Systeme komplexe Ver- Fahrzeuge stößt diese Versuchsmethodik jedoch
kehrssituationen beherrschen und Unfallsituationen schnell an ihre Grenzen. Die statistische Streuung
6 von unkritischen Konstellationen unterscheiden – von Fahrmanövern menschlicher Fahrer kann
dies ist auch eine Herausforderung an die Prüftech- zwar für einen Teil der Erprobung durchaus ge-
7 nik, mit der solche Systeme abgesichert werden. In wollt sein, für die systematische und effiziente
der Daimler-Forschung ist eine Prüfmethodik ent- Überprüfung der Einhaltung von Spezifikatio-
wickelt worden, mit der Assistenzsysteme präzise, nen, für den objektiven Vergleich verschiedener
8 reproduzierbar und sicher erprobt werden können. Systemvarianten oder gar die Durchführung von
Zur Erprobung und Absicherung dieser Sys- sicherheitskritischen Manövern ist eine höhere
9 teme verbleibt trotz der immer stärker zunehmen- Präzision und eine exakte Reproduzierbarkeit der
den virtuellen Entwicklungsmethoden (s. ▶ Kap. 8) Versuche notwendig.
10 ein nicht unerheblicher Bedarf an realen Versuchen Für konkrete einzelne Assistenzsysteme sind Er-
am Gesamtsystem in einer realen Umgebung. Die probungsmethoden entwickelt worden, die die Ver-
quantitative Absicherung erfordert dabei die Über- gleichbarkeit sicherstellen ([2, 3]) bzw. die Genau-
11 streichung eines weiten Parameterraumes: Eine He- igkeit und Wiederholbarkeit verbessern ([4, 5]; s.
rausforderung bei der Erprobung dieser Systeme ist ▶ Kap. 13); auch innovative Ansätze zur Reduktion
12 es, diesen einerseits möglichst vollständig und an- der Gefährdung von Fahrern wurden umgesetzt [6].
dererseits effizient abzudecken. Eine Analyse der generellen Anwendbarkeit auf mit
Im Vergleich zur Erprobung von fahrdynami- kommenden Assistenzsystemen zu adressierende
13 schen Regelsystemen, die auf fahrzeuginterne Zu- Unfallarten zeigte aber, dass einige Aufgabenstel-
standsgrößen reagieren, erfordert die Erprobung lungen ungelöst blieben. Es ergab sich somit die
14 von Assistenzsystemen die zusätzliche Berücksich- Aufgabe, ein Erprobungssystem zu konzipieren, mit
tigung von Zustandsgrößen außerhalb des Fahr- dem auch potenziell gefährliche Manöver mehrerer
15 zeugs. So spielt z. B. die relative Lage des Fahrzeugs Fahrzeuge präzise, koordiniert und sicher durchge-
zu den Fahrstreifenmarkierungen eine bedeutende führt werden können [7].
Rolle bei Fahrstreifenverlassenswarnsystemen. Die Durch die Automatisierung und eine damit
16 relative Geschwindigkeit sowie der Abstand von mögliche präzise Koordination von Fahrzeu-
mehreren Fahrzeugen untereinander sind zudem gen sollen konkrete Verbesserungen bei folgen-
17 maßgebend für adaptive Geschwindigkeitsregelsys- den Fahrmanöver-Kategorien erzielt werden
teme (ACC). Warnen die Systeme nicht nur, son- (s.. Abb. 14.1):
dern greifen sie verstärkend oder gar selbstständig 1. Für menschliche Fahrer schwer reproduzierbar
18 in das Verhalten des Fahrzeugs ein, sind diese Re- zu fahrende Manöver:
gelsysteme umfassend bezüglich einer Vielzahl von Beispiele hierfür sind Einscher- und Ausscher-
19 Fahr- und Umgebungssituationen abzusichern, um manöver bei unterschiedlichen Geschwindig-
spätere Gefährdungen der Fahrzeuginsassen auszu- keiten und Abständen der einzelnen Fahrzeuge.
20 schließen und eine Zertifizierung der Systeme zu 2. Risikoreiche Manöver mit Sachschäden bei
erlangen [1]. schon kleinen Parameter-Schwankungen:
14.2  •  Anforderungen an Präzision und Reproduzierbarkeit
209 14

.. Abb. 14.1  Manöver-Kategorien mit Verbesserungen durch automatisiertes Fahren (Quelle: Daimler AG)

Beispiele sind knappe Vorbeifahrten, insbe- Landstraßen) als Referenz herangezogen werden.
sondere zur Einstellung und Absicherung der Das Vorbeifahren an einem Hindernis sollte deswe-
Grenze zwischen gezielt ausbleibendem und gen mit einem Abstand von höchstens 20 cm mög-
gewolltem Eingriff von Kollisionsvermeidungs- lich sein. Für die Spurtreue eines Fahrzeugs ergibt
systemen. sich daraus die Forderung, eine vorgegebene Spur
3. Gefährliche, mit menschlichen Fahrern nicht mit einer Toleranz von +/−10 cm einzuhalten.
verantwortbare Manöver: Die longitudinale Genauigkeitsforderung ist ge-
Beispiele sind Fahrzeuge auf Kollisionskurs mit schwindigkeitsabhängig und damit deutlich schwie-
hohen Differenzgeschwindigkeiten, bei kreu- riger allgemein festzulegen. Für die Spezifikation
zenden Fahrzeugen aber auch schon bei relativ des Erprobungssystems wurde das reproduzierbare
niedrigen Geschwindigkeiten. Erreichen eines Wegpunktes innerhalb eines Zeit-
fensters von +/−20 ms festgelegt. Dies entspricht
zu festgelegten Zeitpunkten der Einhaltung von
14.2 Anforderungen an Präzision Wegpunkten mit einer Genauigkeit von beispiels-
und Reproduzierbarkeit weise 40 cm bei einer Geschwindigkeit von 20 m/s
(72 km/h).
Aus der Analyse der zu erprobenden Assistenz- Durch Einhaltung dieser Spezifikationen lassen
funktionen leiten sich die Spezifikationen für die sich für ein Fahrzeug reproduzierbare Bahnverläufe
zu fordernde Genauigkeit des Erprobungssystems und Fahrgeschwindigkeiten realisieren. Bei der
ab. Dabei ist zwischen der lateralen Genauigkeit Koordination mehrerer Fahrzeuge ist ihre zeitliche
und der longitudinalen Genauigkeit zu unterschei- Koordination essenziell. Eine gemeinsame Zeitbasis
den. Für die zu fordernde laterale Genauigkeit kann mit einer Toleranz in der Größenordnung von 1 ms
die Breite einer Fahrstreifenmarkierung (16 cm auf ist deswegen notwendig.
210 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

.. Abb. 14.2 Roboter
1 steuern Gas, Bremse und
Lenkung im Erprobungs-
fahrzeug (Quelle: Daimler
2 AG)

3
4
5
6
7
14.3 Technische Umsetzung die genannten Daten mit einer Wiederholrate von
100 Hz an die Roboter-Steuerung überträgt. Mit den
8 Als flexible Lösung für diese Aufgabe wurde in Zu- Korrekturdaten, die eine lokale GPS-Basisstation im
sammenarbeit mit der Firma Anthony Best Dyna- Abstand von 1 s an das INS per Funk sendet, wird
9 mics Ltd. ein System entwickelt, das folgenderma- die zeitliche Drift des Systems ständig korrigiert,
ßen aufgebaut ist (s. [8]; ähnliche Lösungen gibt es wodurch eine Messgenauigkeit der Fahrzeugposi-
10 mittlerweile auch von anderen Herstellern): tion von typischerweise ± 2 cm bei Messraten von
bis zu 100 Hz erreicht wird. Auch bei Ausfall des
GPS-Signals bleibt durch die hochgenauen Inertial-
11 14.3.1 Im Fahrzeug: sensoren die Fahrzeugposition für ca. 30 s mit einer
Lenk- und Pedalroboter, Genauigkeit von besser als 10 cm verfügbar, was
12 Positionsmessung, beispielsweise eine problemlose Durchfahrt unter
Safety-Controller, Brücken ohne GPS-Empfang ermöglicht.
Notbremseinrichtung Neben der Position liefert das Differential-GPS
13 auch ein hochgenaues Zeitreferenzsignal. Dieses Si-
Als Ersatz für den Fahrer werden in die zu erpro- gnal steht auf allen Fahrzeugen gleichermaßen zur
14 benden Fahrzeuge Aktoren eingebaut, die Fahr- Verfügung und wird für die Synchronisation der Ein-
pedal, Bremspedal und Lenkung analog zu einem zelmanöver genutzt. Insbesondere werden die Ma-
15 menschlichen Fahrer bedienen (s.. Abb. 14.2): Sol- növer aller Fahrzeuge auf dieser Basis zur gleichen
che Roboter sind schon seit einiger Zeit im Einsatz, Zeit bzw. mit einem definierten Zeitversatz gestartet.
um Fahrzeuge auf Rollenprüfständen in Fahrzyklen Die Fahrmanöver werden von einem Echtzeit-
16 zu betreiben (Pedalroboter) oder um bei Fahrdy- rechner, der sich ebenfalls im Fahrzeug befindet,
namikuntersuchungen reproduzierbar komplexe geregelt und überwacht. Beim Betrieb der Roboter-
17 Lenkmanöver (Lenkroboter) zu steuern. fahrzeuge mit Fahrer erfolgt die Bedienung des Sys-
Für eine präzise Regelung der Fahrzeugbewe- tems über einen mit dem Echtzeitrechner verbun-
gung mit der Vorgabe, dass sich ein Fahrzeug zu denen Tablet-PC, auf dem die zu fahrenden Kurse
18 einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten sowie die individuellen Reglereinstellungen für das
Ort mit definierter Geschwindigkeit und Fahrtrich- Fahrzeug gespeichert sind.
19 tung befinden soll, ist die Messung dieser Größen Für den unbemannten Betrieb der Fahrzeuge
von essenzieller Bedeutung. Hierzu kommt ein kommt ein zusätzlicher Safety-Controller zum
20 inertiales Navigationssystem (INS) zum Einsatz, Einsatz, der die ordnungsgemäße Funktion aller
das durch ein Differential-GPS gestützt wird und Komponenten im Fahrzeug sowie die Positionsre-
14.3  •  Technische Umsetzung
211 14

Im Leitstand werden die Fahrzeuge und ihre


Systeme überwacht und die Versuche geplant, die
notwendigen Informationen an die Fahrzeuge
übermittelt und die Fahrzeug-Manöver gestartet.
Bei koordinierten Manövern stellt der Leitstand si-
cher, dass die Fahrzeuge zueinander abgestimmte
Einzelmanöver fahren und diese zeitgenau starten.
Während eines Versuchs werden die Trajektorien –
damit ist hier der räumliche und der zeitliche Ablauf
der Fahrten gemeint – aller Fahrzeuge ständig au-
tomatisiert überwacht und für das Bedienpersonal
visualisiert. Die Funktionstüchtigkeit und die Kom-
munikation aller Systeme werden überwacht; bei
.. Abb. 14.3  Steuerung und Fernbedienung von automati- Bedarf kann der Versuch jederzeit über den PC mit
sierten Fahrzeugen aus dem Leitstand (Quelle: Daimler AG) der Base-Station-Software oder einen Notaus-Knopf
abgebrochen werden. Der vollständige Versuchsab-
gelung des Fahrzeugs ständig überwacht. Ein Fe- lauf (inkl. der Maßnahmen bei einem eventuellen
derspeicher-Notbremssystem sowie ein zusätzlicher Versuchsabbruch) ist bei Start des Manövers in al-
Schaltkontakt in der Stromversorgung der Motor- len Fahrzeugen bekannt, so dass die WLAN-Ver-
steuerung komplettieren die Sicherheitseinrichtung, bindung mit ihrer möglicherweise schwankenden
um im Störfall die Fahrzeuge sicher zum Stillstand Verfügbarkeit nicht im Regelkreis liegt und somit
bringen zu können. die Sicherheit nicht beeinträchtigt.
Aus dem Leitstand heraus kann auch ein ein-
zelnes Fahrzeug von Hand ferngesteuert gefahren
14.3.2 Im Leitstand: Steuerzentrale, werden: Über einen Videokanal wird im Steuer-
Visualisierung, Koordination, stand der Blick aus dem Fahrzeug dargestellt. Die
Sicherheit Steuerung des Fahrzeugs erfolgt über ein am Steu-
erpult befestigtes Lenkrad und eine Pedalerie. Das
Der Leitstand ist die Steuerzentrale für den Betrieb Bedienpersonal kann – trotz der dabei auftreten-
von unbemannten Fahrzeugen (s.. Abb. 14.3). Er den Latenzzeiten – somit ein Fahrzeug mit nied-
beinhaltet eine WLAN-Kommunikation zu allen rigen Geschwindigkeiten fernsteuern. Dies dient
Fahrzeugen mit einer Reichweite von derzeit ca. beispielsweise dazu, das Fahrzeug in eine geeignete
1 km. Des Weiteren befindet sich im Leitstand Startposition für ein automatisches Manöver zu be-
ebenfalls ein Safety-Controller, der mit den Con- wegen.
trollern in den Fahrzeugen permanent ein Watch- Aufgabe des Leitstandes ist es außerdem, die
dog-Signal austauscht. Ein PC zur Fernsteuerung Geländesicherheit zu überwachen. Ein umfassen-
der Tablets in den Fahrzeugen, ein PC mit der Ba- des Sicherheitskonzept unter Berücksichtigung der
se-Station-Software (über die vom Versuchsleiter Geländezugänglichkeit, der Zuverlässigkeit aller
die Manöver gestartet werden) sowie eine Bedien- technischen Systeme und der Absicherung gegen
konsole (Lenkrad und Pedalerie) zur manuellen Bedien- und Planungsfehler ist selbstverständlich
Positionierung der Fahrzeuge auf dem Gelände Voraussetzung für den Betrieb eines solchen Sys-
komplettieren den Leitstand. tems. Die Forderung einer räumlich ausreichenden
Die Steuerungszentrale ist in der Lage, bis zu und robusten Funkverbindung ist limitierender
fünf Fahrzeuge auf einem abgeschlossenen Prüfge- Faktor für die Größe des Betriebsbereiches für ko-
lände gleichzeitig zu betreiben und zu überwachen. ordinierte automatisierte Fahrzeuge.
Damit sind bezüglich der Szenarienkomplexität alle
in absehbarer Zukunft zu erwartenden Erprobungs-
szenarien realisierbar.
212 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

14.3.3 Sonstige Systeme: Daten- Simulation durchgespielt, um das Einhalten der


1 und Bildübertragung, fahrdynamischen Grenzen zu verifizieren. Hierbei
Datensynchronisation, ist notwendig, dass mathematische Fahrzeugmo-
2 Luft-Bilder delle vorliegen, die die Eigenschaften der fahrenden
Fahrzeuge hinreichend genau beschreiben.
Die Verfügbarkeit des GPS-Zeitreferenzsignals Die geplanten Trajektorien der einzelnen Fahr-
3 erlaubt die Dokumentation sämtlicher Daten in zeuge können einzeln und gemeinsam simuliert und
allen Fahrzeugen mit synchronen Zeitstempeln, visualisiert werden.
4 sowohl für Messdaten als auch für Videodaten.
Die Durchführung von präzise ablaufenden Ma-
14.4.2 Planung und Überprüfung
5 növern erlaubt auch die Positionierung und zeit-
koordinierter Trajektorien
gesteuerte Aktivierung von Kameras oder weiteren
getriggerten Objekten, wie beispielsweise Lichtsi-
6 gnalanlagen, Fußgänger-Dummys oder ähnliches. Die richtige Koordination mehrerer Fahrzeuge wird
Eine neue Möglichkeit ist die Dokumentation von ebenfalls durch die Simulation auf Kollisionsfreiheit
7 Manövern aus der Luft mit kameratragenden Hub- bzw. das Einhalten eines minimalen Fahrzeugab-
schrauberdrohnen: Da die Manöver an einem vor- stands überprüft. Durch Variation der Startverzö-
herbestimmten Ort und Zeitpunkt ablaufen, fliegt gerung zwischen zwei Fahrzeugen kann – je nach
8 die Hubschrauberdrohne gezielt an den Ort mit der Manöver – der Abstand der Fahrzeuge in der inter-
besten Aufnahmeperspektive. Somit ermöglicht die essierenden Phase des Manövers eingestellt werden.
9 Beobachtung aus der Luft eine sehr leicht auswert- Kritische Manöver mit mehreren Fahrzeugen wer-
bare Dokumentation der Verkehrssituation, insbe- den zuerst mit jedem einzelnen Fahrzeug nicht nur
10 sondere bei knappen Vorbeifahrten. simuliert, sondern auch mehrfach gefahren, sodann
die Simulations- und Messdaten verglichen und so-
mit sichergestellt, dass die Fahrten jederzeit kolli-
11 14.4 Planung von Manövern sionsfrei ablaufen. So können auch extrem knappe
Vorbeifahrten sicher und reproduzierbar gefahren
12 14.4.1 Planung einzelner Trajektorien werden.
Es muss bei koordinierten Fahrzeugen wei-
Für die Planung von Erprobungsmanövern gibt es terhin sichergestellt werden, dass ein Versuchsab-
13 mehrere Möglichkeiten: bruch jederzeit möglich ist und auch dabei keine
Trotz eingebauter Pedal- und Lenkroboter kön- sicherheitskritischen Situationen entstehen. Es darf
14 nen die Fahrzeuge auch mit menschlichen Fahrern beispielsweise nicht vorkommen, dass ein durch
gefahren werden. Hierdurch kann in einem Lern- Versuchsabbruch abgebremstes Fahrzeug die Tra-
15 modus das Steuerungssystem eine vom Fahrer ge- jektorie eines anderen Fahrzeugs blockiert. Dies
fahrene Fahrzeugtrajektorie aufzeichnen und für wird durch die Simulationshilfsmittel abgeprüft [7,
eine spätere automatische Wiederholung im Manö- 8, 9]. Jedem Fahrzeug kann zur Vermeidung sol-
16 verkatalog abspeichern. Einige Parameter, wie z. B. cher Situationen ein für jeden Zeitpunkt vorherbe-
Skalierung der Geschwindigkeit, seitlicher Versatz stimmtes Verhalten bei Versuchsabbruch vorpro-
17 des Manövers oder die Startzeit, können beim Ab- grammiert werden: sofortiges Abbremsen, zeitlich
rufen des Manövers gezielt variiert werden. verzögertes Abbremsen oder auch Beschleunigen,
Für koordinierte Manöver mehrerer Fahrzeuge Lenken und Bremsen in einer bestimmten Abfolge
18 ist meist die synthetische Planung im graphischen und Stärke.
Manöver-Editor effizienter: Aus vorgefertigten pa-
19 rametrierbaren Segmenten (Geradenstücke, Kreis-
bögen, Spurwechsel, Sinuskurven etc.) wird ein
20 auf die Fahrbahnen des Prüfgeländes abgebildetes
Gesamtmanöver geplant. Der Ablauf wird in einer
14.5 • Selbstfahrende Targets
213 14
14.4.3 Genauigkeit auch die Schaltpunkte eines Automatikgetriebes, die
und Wiederholbarkeit je nach Betriebszustand (Temperatur!) variieren kön-
nen, Einfluss auf die Längsgenauigkeit. Das Überwa-
Zur Verifikation des Steuerungssystems wurde mit chungssystem zeigt die aktuelle Abweichung an und
einem vom Differential-GPS unabhängigen Mess- kann bei zu hohen räumlichen oder zeitlichen Ab-
verfahren die erzielte Genauigkeit und Reproduzier- weichungen einen automatisierten Versuchsabbruch
barkeit von Fahrversuchen untersucht. Die vom Dif- auslösen. Diese Aspekte der Reproduzierbarkeit
ferential-GPS erreichte Messgenauigkeit von ± 2 cm müssen bei der Planung von Manövern mit hohen
bei ausreichender Satellitensichtbarkeit konnte auch Präzisionsanforderungen mitberücksichtigt werden.
als Regelgenauigkeit für die knappe Vorbeifahrt an Die Steuerungssoftware sieht sogenannte „Critical
feststehenden Hindernissen verifiziert werden. Bei Sections“ der Trajektorie vor, in denen besonders
Zielbremsungen auf ein Hindernis wurde mit hoher enge Toleranzen für die einzuhaltende Positions- und
Bremsverzögerung (z. B. 7,5 m/s²) eine Reprodu- Zeitgenauigkeit vorgegeben werden können.
zierbarkeit des Anhaltepunktes von ± 3 cm erzielt.
Voraussetzung für diese Genauigkeiten ist aller-
dings, dass eine Abstimmung des Reglers an den je- 14.4.4 Virtuelle Leitplanken
weiligen Fahrzeugtyp vorgenommen wurde und die
Fahrzeuge eine ausreichende Einregelstrecke für das Die automatisierten Fahrzeuge erlauben auch die
Erreichen der Sollposition und Sollgeschwindigkeit sichere Erprobung von Software und Hardware ein-
zur Verfügung haben. Bei Beschleunigungen und greifender Assistenzsysteme in der Entwicklungs-
sehr dynamischen Lenkmanövern können kurzzei- phase. Hierbei kommt es darauf an, den Systemen in
tig Abweichungen von der geplanten Trajektorie bis der jeweils gestellten Situation Raum zum Agieren
in den dm-Bereich auftreten. Diese sind aber beim zu geben. Ein exakt vordefinierter Kurs wäre in die-
mehrfachen Durchfahren des gleichen Manövers sen Fällen kontraproduktiv, da ein Korrektureingriff
reproduzierbar und somit kalkulierbar. des Fahrroboters vom Regler des zu erprobenden
Auch die Langzeitstabilität der Positionsgenau- Assistenzsystems als übersteuernder Fahrereingriff
igkeit wurde durch regelmäßiges Anfahren von interpretiert würde und ggf. zum Abbruch der As-
Referenzpunkten auf dem Prüfgelände verifiziert. sistenzfunktion führen würde.
Das mehrstündige Abfahren eines Musters im Neu- Durch sogenannte „virtuelle Leitplanken“ kann
schnee zeigt eindrucksvoll die Reproduzierbarkeit mit dem Fahrzeugroboter ein Korridor für das
der Fahrzeugregelung [10]. Insgesamt wird die Fahrzeug festgelegt werden, in dem die Erprobung
für viele Manöver geforderte laterale Genauigkeit von Brems- oder Lenkeingriffen des Assistenzsys-
(Spurtreue) von besser als ± 10 cm gut erreicht. Ins- tems vorgesehen ist. Erst wenn das Fahrzeug we-
besondere die Reproduzierbarkeit ist deutlich besser gen nicht ausreichender oder zu starker Eingriffe
als mit menschlichen Testfahrern. des Assistenzsystems diesen Korridor zu verlassen
Die longitudinale Genauigkeit ist abhängig von droht, greift das Robotersystem ein und bringt das
der Dynamik der geplanten Trajektorie und der Fahrzeug wieder auf Kurs oder bremst es ab.
Leistungsfähigkeit des Fahrzeugs. Bei schnellen Soll-
wert-Veränderungen ist eine zeitweilige Abweichung
wie bei jedem Regelsystem unvermeidlich. Die spe- 14.5 Selbstfahrende Targets
zifizierte Genauigkeit bezogen auf ein reproduzier-
bares Erreichen eines Wegpunktes innerhalb eines Reale automatisierte Fahrzeuge – also mit Fahrro-
Zeitfensters von ± 20 ms ist einhaltbar, allerdings ist botern ergänzte Fahrzeuge wie in ▶ Abschn. 14.3.1
bei der Planung der Trajektorie auf ausreichende Ein- beschrieben – sind für kollisionsfreie Verkehrssitu-
schwingzeiten zu achten. Die Wiederholbarkeit von ationen geeignet. Es ist jedoch naheliegend, dass für
Fahrmanövern ist in der Regel sehr gut; Regelabwei- die Erprobung von Verkehrsszenarien, bei denen
chungen nach Sollwertveränderungen sind hochgra- der Unfall nicht sicher vermieden werden kann,
dig reproduzierbar. Allerdings haben beispielsweise crashfähige Objekte einzusetzen sind. Viele der bis-
214 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
.. Abb. 14.4  Konzept des selbstfahrenden Soft-Crash-Targets (Quelle: Daimler AG)

13 her eingesetzten Crash-Targets können allerdings 14.5.1 Soft-Crash-Target


entweder nur geradlinig fahren oder sind an ein
14 Zugfahrzeug gekoppelt. Damit sind Untersuchun- Ein erstes diese Anforderungen erfüllendes Kon-
gen im Kreuzungsbereich und insbesondere mit zept zeigt . Abb. 14.4, [11]. Dieses crashtaugliche
15 abbiegenden Fahrzeugen nicht oder nur sehr ein- Fahrzeug besteht aus einem schmalen Chassis mit
geschränkt möglich. Ein vollständig selbstfahrendes Elektroantrieb und einer zu den Roboterfahrzeugen
Target-Fahrzeug löst diese Problematik. kompatiblen integrierten Steuerung, das somit vor-
16 Damit dies nahtlos funktioniert, sollte ein Kolli- hergeplante Trajektorien präzise abfahren kann. Die
sions-Target ebenso automatisiert steuerbar sein wie Fahrleistungen sind ausreichend, um Stadtverkehrs-
17 ein reales Fahrzeug, möglichst keine zusätzlichen szenarien realitätsnah darstellen zu können. Eine
Installationen in der Testumgebung erfordern und Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ist erreichbar,
18
--
zudem
von allen Seiten crashbar sein,
Beschleunigungen von etwa 4 m/s² und Verzöge-
rungen bis zu 8 m/s² sind realisierbar.

19
- eine dreidimensionale Struktur aufweisen,
ein visuelles Erscheinungsbild aus allen Rich-
Das Crash-Target weist rundherum deformier-
bare Luftkissen auf, die durch einen aufgeblasenen

20 - tungen wie ein reales Fahrzeug besitzen,


und eine einem realen Fahrzeug entsprechende
Radarsignatur aus allen Richtungen zeigen.
Gummischlauch an den Kanten in Form gehalten
werden; ansonsten sind diese Luftkissen durch Öff-
nungen an der Unterseite mit der Umgebung ver-
14.5 • Selbstfahrende Targets
215 14
.. Abb. 14.5 Crash-Kissen
des Soft-Crash-Targets mit
Dämpfer-Eigenschaften
(Quelle: Daimler AG)

bunden (s. . Abb. 14.5). Durch diese Konstruktion res Risiko eines Schadens bei einem Crash, kann
zeigen die Kissen bei Kollisionen eine Dämpfercha- das Konzept des selbstfahrenden, überfahrbaren
rakteristik und bauen die Differenzgeschwindigkeit Target-Trägers eingesetzt werden. Dieses Konzept
der Kollision mit einer relativ gleichförmigen Kraft wurde auf Anregung der Daimler AG von der Firma
und mit einer maximalen Knautschzone ab. Auf DSD entwickelt [12], etwa gleichzeitig entstand un-
diese Weise werden die Crashkräfte über die ge- abhängig davon bei der Firma Dynamic Research,
samte Crashdauer möglichst gleichmäßig verteilt Inc. [13, 14] eine sehr ähnliche Lösung.
und damit minimiert. Messungen belegen, dass Der Target-Träger kann bei einer Kollision vom
dies zu deutlich geringeren Crashkräften führt als Systemfahrzeug überfahren werden; ein auf den Trä-
bei einem aufgeblasenen „Balloon-Car“. ger aufgesetztes, leichtes Target wird dann weggesto-
Das selbstfahrende Soft-Crash-Target erlaubt ßen (s. . Abb. 14.6). Hohe Differenzgeschwindigkei-
Erprobungen von realen Systemfahrzeugen mit ten sind insbesondere bei Crashs im Längsverkehr
einem fahrenden Kollisionspartner, der beispiels- zu erwarten. Für solche Manöver ist es ausreichend,
weise auch für Abbiege-Situationen einsetzbar ist. von den beim Soft-Crash-Target eingesetzten vier
Da das Target auf eine fahrzeugähnliche Radarsi- Crash-Kissen nur das Heck- oder Frontkissen auf
gnatur eingestellt wurde und auch das Aussehen den Target-Träger aufzusetzen. Mit diesem Konzept
eines Fahrzeugs hat, ist es für radar- und kamera­ wurden Differenzgeschwindigkeiten beim Crash
basierte Assistenzsysteme einsetzbar. Durch die von über 100 km/h ohne Schäden am Systemfahr-
freie Programmierbarkeit der Trajektorien und das zeug durchgeführt. Der überfahrbare Target-Träger
rundum fahrzeugäquivalente Erscheinungsbild ist kann auch als Träger für Fußgänger- oder Fahr-
es für Erprobungen in allen denkbaren Verkehrss- rad-Dummys verwendet werden, vgl. ▶ Kap. 11.
zenarien nutzbar. Differenzgeschwindigkeiten beim Aufgrund der niedrigen Bauhöhe sind die Bo-
Crash von bis zu 50 km/h in Längsrichtung und denfreiheit und die Fahrleistung eines überfahr-
30 km/h in Querrichtung sind damit ohne Schä- baren Target-Trägers beschränkt. Der Einsatz ist
den für das Systemfahrzeug realisierbar. Die Steu- diesbezüglich deshalb nicht so flexibel wie beim
erungselektronik für das Fahrzeug und das Target Soft-Crash-Target. Da zudem der Target-Träger
ist crashtauglich aufgebaut und getestet. zwar überfahren werden kann, aber beispielsweise
nicht seitlich unter ein anderes Fahrzeug herun-
terfahren kann, kommt der genauen Koordination
14.5.2 Überfahrbarer Target-Träger des Target-Trägers eine besondere Bedeutung zu.
Insbesondere beim Einsatz des Target-Trägers in
Erfordern die Untersuchungen noch höhere Dif- Verbindung mit von Menschen gefahrenen queren-
ferenzgeschwindigkeiten oder ein noch geringe- den Versuchsfahrzeugen ist eine Korrektur des
216 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

.. Abb. 14.6 Überfahr-
1 barer selbstfahrender Tar-
get-Träger mit Heck-Target
(Quelle: Daimler AG)
2
3
4
5
6
7
8
Timing-Fehlers, den der menschliche Fahrer fast sen darf. Dazu müssen Fahrzeuge u. a. mit bis zu
9 zwangsläufig macht, für die Einhaltung des genauen 70 km/h über Rampen springen, Bordsteinkanten
Kollisionspunktes relevant und muss in der Steue- bei einer Vollbremsung überfahren oder simulierte
10 rung vorgesehen werden. Wildschweine rammen. Auch bei Schlechtweg-Er-
probungen zur Absicherung der Betriebsfestigkeit
der Fahrzeuge erleben sowohl Fahrzeug als auch
11 14.6 Beispiele für automatisierte Testfahrer extreme Belastungen. Diese Manöver
Fahrmanöver können nun mit den Roboter-Fahrzeugen automa-
12 tisiert gefahren werden – die Testfahrer werden von
14.6.1 Fahrerlose Manöver einzelner diesen Belastungen verschont.
Fahrzeuge
13
Automatisierte Fahrmanöver finden schon für Er- 14.6.2 Koordinierte Manöver
14 probungen mit einzelnen Fahrzeugen sinnvolle An- mit mehreren fahrerlosen
wendungen: Fahrzeugen
15 Kreis- und Kurvenfahrten: Bestimmte Assis-
tenzsysteme werden beispielsweise bei Erreichen Bei Erprobungen mit mehreren beteiligten Fahr-
einer spezifizierten Querbeschleunigung aktiviert. zeugen kommen die Vorteile des „koordinierten
16 Ein automatisiert gefahrenes Manöver mit festge- automatisierten Fahrens“ umfassend zur Geltung.
legter Geschwindigkeit und Bahnradius kann diese Ein großer Anteil der Erprobung von kollisionsver-
17 Querbeschleunigung höchst reproduzierbar und meidenden oder kollisionsmindernden Systemen
z. B. mit kontinuierlicher Steigerungsrate einstellen. entfällt auf die Absicherung von Situationen ähnlich
Die Durchführung solcher Manöver ist deutlich ef- dem eigentlichen Unfallszenario, in denen aber eine
18 fizienter als mit menschlichen Fahrern. Auslösung des Notbremssystems sicher vermieden
Misuse- und Schlechtweg-Erprobung: Die Absi- werden muss. Für solche Situationen sind meist
19 cherung von Insassenschutzsystemen erfordert die knappe Vorbeifahrten, z. B. mit einem Ausweichen
Erprobung von Situationen mit hoher Längs- und im letzten Moment, durchzuführen.
20 Vertikalbeschleunigung, bei denen die Airbag-Sen- Mit robotergesteuerten Fahrzeugen können
sorik nur unter bestimmten Bedingungen auslö- diese Versuche präzise, reproduzierbar und ge-
14.6  •  Beispiele für automatisierte Fahrmanöver
217 14

.. Abb. 14.7  Knappe Vorbeifahrt im Kreuzungsbereich mit 70 km/h (Quelle: Daimler AG)

fahrlos für Testfahrer und Material durchgeführt 14.6.3 Manöver mit Fahrer,
werden. Parameter wie Anfahrgeschwindigkeit, mit getriggerten
kleinster Abstand, Kurswinkel, etc. können leicht beziehungsweise
eingestellt werden. Eine neue Software-Version des synchronisierten Targets
Assistenzsystems oder eine neue Sensorvariante
kann mit exakt den gleichen Manövern erprobt Eine Erprobungsvariante mit koordinierten Fahr-
werden, so dass ein reproduzierbares und aussage- zeugen ist, dass nicht das gesamte Manöver vollau-
kräftiges Erprobungsergebnis erzielt wird. tomatisch mit Fahrrobotern gefahren wird, sondern
„Königsdisziplin“ für die Koordination von nur ein bestimmtes Teilmanöver, das nach einem
Fahrzeugen ist die knappe Vorbeifahrt im Kreu- Trigger-Zeitpunkt eine präzise Steuerung benötigt.
zungsverkehr (in Mercedes-Fahrzeugen mit Intel- Dieses bietet sich insbesondere an für Versuche
ligent Drive ist seit 2013 ein Assistenzsystem zur mit crashbaren Targets, die ein kritisches Manö-
Vermeidung von Unfällen mit querenden Fahr- ver ausführen, aber das Systemfahrzeug von einem
zeugen in Serie). Beim Kreuzungsverkehr werden menschlichen Fahrer gefahren wird. Dazu benö-
die höchsten Anforderungen an räumliche und tigt man im Systemfahrzeug keine Ausstattung mit
zeitliche Präzision gestellt (im Vergleich dazu sind Fahrrobotern, sondern nur die genaue Positions-
Situationen im Längsverkehr, also mit Überholern messung und eine Datenkommunikation mit dem
oder Gegenverkehr, oft allein durch räumliche Prä- anderen Fahrzeug bzw. dem Leitstand. Abhängig
zision beherrschbar). Zudem sind bei fehlerhafter von der relativen Position oder anderen Trigger-Be-
Ausführung des Manövers die Schäden groß; aus dingungen des Systemfahrzeugs wird beispielsweise
Gründen der Arbeitssicherheit werden solch knap- ein Fahrstreifenwechselmanöver des Crash-Targets
pen, schnellen Vorbeifahrten mit menschlichen initiiert, das ansonsten automatisiert eine Trajekto-
Fahrern nicht durchgeführt. Mit koordinierten au- rie abfährt, s. . Abb. 14.8.
tomatisierten Fahrzeugen konnten querende Kreu- Auf diese Weise kann ein selbstfahrendes
zungsfahrten mit bis zu 70 km/h und minimalen Crash-Target mit sehr geringem Planungsaufwand
Abständen von unter einem Meter sicher gefahren für präzise und wiederholbare Manöver eingesetzt
werden, s. . Abb. 14.7. werden.
218 Kapitel 14  •  Testen mit koordinierten automatisierten Fahrzeugen

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 .. Abb. 14.8  Einschermanöver mit koordiniertem Fahrzeug und Target (Quelle: Daimler AG)

14.7 Zukünftige Entwicklungen Literatur


11
Langfristig muss inzwischen über das Testen von 1 ISO 26262 (bzw. DIN‐ISO 61508): Road Vehicles – Functio-

12 hoch- und vollautomatisiert fahrenden Fahrzeugen


nal Safety, 2011
2 Gulde, D.: So testet AMS, Teil 9: Assistenzsysteme. Auto‐Mo-
nachgedacht werden. Die beschriebenen Verfahren, tor‐Sport Jahrgang (17), 32 (2010)
die mit den koordinierten automatisierten Fahrzeu-
13 gen im Einsatz sind, können dazu einen wichtigen
3 Huber, B., Resch, S.: Methods for Testing of Driver As-
sistance Systems. SAE Paper (2008). 2008‐28‐0020
Beitrag leisten: Auch ohne Eingriff eines Fahrers 4 Hoffmann, J., Winner, H.: EVITA – das Untersuchungswerk-
14 müssen die Fahrzeuge in der Lage sein, in allen
zeug für Gefahrensituationen. 3. Tagung Aktive Sicherheit
durch Fahrerassistenz, München (2008)
denkbaren Verkehrssituationen Unfälle zu vermei- 5 Ploeg, J.: VeHIL – Vehicle Hardware‐in‐the‐Loop. Testumge-
15 den. Das systematische Erproben und Durchspielen bung der Fa. TNO (2007). http://www.tno.nl/downloads/
von Varianten kritischer Situationen, das mit auto- Ploeg%20-%20SUMMITS-VeHIL-RealWorldPilot.pdf
matisierten Fahrzeugen effizient möglich ist, wird 6 Bock, T., Maurer, M., Färber, G.: Vehicle in the Loop (VIL)
16 ein notwendiger Baustein zur Absicherung auto-
– A new simulator set‐up for testing Advanced Driving
Assistance Systems. Driving Simulation Conference, Iowa
nomer Fahrfunktionen sein. Zu erwarten ist, dass City, IA (USA) (2007)
17 insbesondere die Szenarienkomplexität dabei weiter 7 Hurich, W., Luther, J., Schöner, H.P.: Koordiniertes Automa-
steigen und dazu die exakte Koordination mehrerer tisiertes Fahren zum Entwickeln, Prüfen und Absichern
Fahrzeuge unter Versuchsbedingungen notwendig von Assistenzsystemen. 10. Braunschweiger Symposium
18 wird. Ein robuster und sicherer Betrieb von auto-
– AAET. Intelligente Transport- und Verkehrssysteme und
-dienste Niedersachsen e.V., Braunschweig (2009)
matisierten Manövern gerade in der Entwicklungs-
19
8 Pick, A.J., Hubbard, M.J., Neads, S.J.: Near‐Miss Collisions
phase ist dabei die Herausforderung. Using Coordinated Robot‐Controlled Vehicles. In: Procee-
dings of the 10th International Symposium on Advanced

20 Vehicle Control, S. 634–639. AVEC, Loughborough (2010)


Literatur
219 14
9 Schretter, N., Sinz, W., Schöner, H.P.: Planung und Realisie-
rung von automatisierten Fahrmanövern zur Erprobung
von aktiven Sicherheitssystemen. 3. Grazer Symposium
Virtuelles Fahrzeug. GSVF, Graz (2009)
10 Schöner, H.P., Hurich, W., Luther, J., Herrtwich, R.G.: Koor-
diniertes Automatisiertes Fahren für die Erprobung von
Assistenzsystemen. Automobiltechnische Zeitschrift ATZ
01, 40 (2011)
11 Schöner, H.P., Hurich, W., Haaf, D.: Selbstfahrendes Soft
Crash Target zur Erprobung von Assistenzsystemen. 12.
Braunschweiger Symposium – AAET. Intelligente Trans-
port- und Verkehrssysteme und -dienste Niedersachsen
e.V., Braunschweig (2011)
12 Steffan, H., Moser, A., Ebner, J., Sinz, W.: UFO – ein neues
System zur Evaluierung von Assistenzsystemen. 13. Braun-
schweiger Symposium – AAET. Intelligente Transport- und
Verkehrssysteme und -dienste Niedersachsen e.V., Braun-
schweig (2012)
13 Zellner, J.W.: Guided Soft Target (2011). http://www.dynres.
com/prod_guidedtarget.html
14 ABD: http://www.abd.uk.com/en/adas_soft_targets/abd_
dri_guided_soft_target_vehicle, 2013
221 IV

Sensorik für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 15 Fahrdynamiksensoren für FAS  –  223
Matthias Mörbe

Kapitel 16 Ultraschallsensorik – 243
Martin Noll, Peter Rapps

Kapitel 17 Radarsensorik – 259
Hermann Winner

Kapitel 18 LIDAR-Sensorik – 317
Heinrich Gotzig, Georg Geduld

Kapitel 19 3D Time-of-Flight (ToF) – 335


Bernd Buxbaum, Robert Lange, Thorsten Ringbeck

Kapitel 20 Kamera-Hardware – 347
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen,
Nicolaj Stache, Maximilian Höpfl

Kapitel 21 Maschinelles Sehen – 369


Christoph Stiller, Alexander Bachmann, Andreas Geiger

Kapitel 22 Stereosehen – 395
Uwe Franke, Stefan Gehrig

Kapitel 23 Kamerabasierte Fußgängerdetektion – 421


Bernt Schiele, Christian Wojek
223 15

Fahrdynamiksensoren für FAS


Matthias Mörbe

15.1 Einleitung – 224
15.2 Allgemeine Auswahlkriterien – 224
15.3 Technische Sensorkenndaten für
Fahrerassistenzsysteme – 228
Literatur – 240

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
224 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

15.1 Einleitung Hierdurch wird die Vergleichbarkeit von Angebo-


1 ten wesentlich vereinfacht. Ein Modell für diese
Die Auswahl einer Sensorkomponente für ein Fah- Auswahlmatrix mit einer Technikebene und einer
2 rerassistenzsystem ist in vielen Bereichen unabhän- kommerziellen Ebene ist in . Abb. 15.1 dargestellt.
gig von dessen Funktion. Die Bedingungen richten Die Inhalte können beliebig ergänzt werden.
sich nach den Standards, die in der Kfz-Industrie Auf eine Gewichtung der einzelnen Faktoren
3 nach VDA oder ISO weltweit eingeführt sind, und sollte in einer ersten Auswahlrunde bewusst ver-
den Regeln, die die Systemlieferanten und Fahrzeug- zichtet werden. Damit wird sicher gestellt, dass je-
4 hersteller für sich selbst hieraus abgeleitet haben. des Kriterium mit gleicher Sorgfalt betrachtet wird.
Diese Standards werden als wesentliche Basis Sind in der finalen Auswahl zwei Angebote sehr
5 für die heute erreichte Qualität angesehen. Die ähnlich, kann jedoch eine Gewichtung für mehr
Qualität der Sensoren hat, neben der Bedeutung Transparenz sorgen. Neben den einfach messbaren
für die Verfügbarkeit der Systeme und des Fahr- Faktoren liegen natürlich eine Vielzahl so genannter
6 zeugs im eigentlichen Sinne, in vielen Fällen auch weicher Faktoren vor. Dazu zählen Verlässlichkeit
eine fundamentale Bedeutung für die Sicherheit des in mündlichen Absprachen, Vertrauen in die Ab-
7 Gesamtsystems. Der Aufwand und die Wirksamkeit sicherung der Geheimhaltungsvereinbarung, kurze
von Überwachungen der Sensorsignale sind hier- Reaktionszeiten bei Qualitätsthemen und – wenn
von abhängig. erforderlich – die Bereitschaft zur langfristigen Ko-
8 Sensoren im Kraftfahrzeug sind kein Selbst- operation.
zweck; sie liefern die für die Fahrerassistenzsys-
9 teme notwendigen Informationen. Da die Kosten
für diese Systeme ein entscheidender Faktor für ihre 15.2.1 Anforderungen Technikebene
10 Marktakzeptanz sind, müssen sowohl die Kosten für
die Sensoren als auch deren Anzahl bis auf das Not- Die Anforderungen an einen Sensor im Kraftfahr-

11
wendigste reduziert werden.
Die Auswahl eines Sensors für ein System glie-
--
zeug gliedern sich in vier Hauptgebiete:
Systemanforderungen

12
-
dert sich in zwei Hauptaspekte:
allgemeine Auswahlkriterien, die für jeden
--
Einbauanforderungen/Geometrie
Umweltanforderungen

13 - Sensor gelten
technische Daten für die gesuchte Funktion.

Die Zusammenstellung in diesem Kapitel soll erklä-


Gesetzliche Anforderungen und Normen.

Die Anforderungen werden von den Fahrzeug-


oder Systemherstellern in Lastenheften dokumen-
14 ren, was bei dieser Auswahl beachtet werden muss. tiert und unterliegen einem dokumentierten Ände-
Eine Vertiefung der Themen bleibt Spezialliteratur rungsdienst. Die stetig eingehenden Änderungen
15 und den firmeninternen Dokumentationen vorbe- sind das Ergebnis der fortschreitenden Entwick-
halten. Die angegebenen Daten für die Sensoren lung und müssen vor jeder Komponentenauswahl
sind den aktuellen Unterlagen für Fahrzeugherstel- erneut auf ihre Erfüllbarkeit hin geprüft werden.
16 ler entnommen worden. Die langjährige Beobachtung dieses Prozesses hat
Ein besonderer Dank gilt allen Kollegen für die eindeutig gezeigt, dass die Nichtbeachtung der
17 Unterstützung zu diesem Beitrag. Änderungen eine wesentliche Ursache für nach-
folgende Beanstandungen ist. Nun liegt aber die
Wahrheit nicht allein in der Erfüllung einer Än-
18 15.2 Allgemeine Auswahlkriterien derung, sondern in der Analyse und Bewertung
dieser Änderung, auch in Bezug auf die Wechsel-
19 Für den Auswahlprozess empfiehlt es sich, die ver- wirkung von Funktionen und weiteren Anforde-
schiedenen Anforderungen an Sensoren in einer rungen in anderen Bereichen oder Systemen. Eine
20 Matrix systematisch zusammenzustellen, und zwar gut geeignete Methode zur systematischen Un-
für jeden Anbieter in der gleichen Art und Weise. terscheidung dieser Wechselwirkung ist die von
15.2 • Allgemeine Auswahlkriterien
225 15

Technikebene Zur Komplexität dieses Themas trägt weiterhin


die Unterscheidung zwischen statischen und dyna-
System- Einbau-
Gesetzliche
Anforderungen
Umwelt- mischen Wechselwirkungen bei. Diese Komplexität
anforderungen anforderungen anforderungen
und Normen reicht soweit, dass auch bei der Grundlagenentwick-
Auswahlmatrix
lung von Systemen unbewusst Sensoreigenschaften
berücksichtigt worden sein können, die nicht im
Qualität
Liefer-
Preise Verpackung
Änderungs- Lastenheft beschrieben sind. Ändert sich im Laufe
mengen wesen
der Systemevolution der Sensor, z. B. in der verwen-
Kommerzielle Ebene
deten Technologie, so können daraus erst sehr spät
.. Abb. 15.1  Auswahlmatrix Sensorkomponenten für Fahrer­ im Entwicklungsablauf Komplikationen mit erheb-
assistenzsysteme lichen Auswirkungen auftreten.
Diese Tatsache führt dazu, dass die Lastenhefte
Toyota entwickelte DRBFM-Methode (Design Re- immer aufwendiger und die Ansprüche an das Ex-
view Based on Failure Mode). pertenwissen immer höher werden. Das Experten-
wissen muss dazu dienen, die Bedeutung der Para-
15.2.1.1 Systemanforderungen meter und ihre Toleranzen mit der Systemfunktion
Systemanforderungen teilen sich auf in die physi- in Zusammenhang zu stellen. Eine Hilfestellung
kalischen Größen, die sich aus der Wandlung der dazu leistet die Simulation, die jedoch auch an ihre
Messgröße ergeben, den elektrischen Schnittstellen Grenzen stößt. Dynamische Vorgänge im Fahrzeug
und der funktionellen Beschreibung im Systemzu- sowie sein Bordnetz können bisher nur in begrenz-
sammenhang. Für die Signalwandlung lassen sich tem Umfang im gesamten Systemverbund simuliert
in der Regel eindeutig messbare Parameter festle- werden. Solange die Sensor- und Bordnetzmodelle
gen. Jeder Parameter wird zusätzlich mit Toleran- nicht entsprechend verfeinert sind, wird eine Prü-
zen, Auflösungen und Genauigkeiten im Kontext fung auf Erfüllung der Systemanforderungen mit
mit den anderen Anforderungen dargestellt. Die realer Hard- und Software nicht zu umgehen sein.
Bedeutung der eindeutigen Messbarkeit muss her-
vorgehoben werden, denn sie bestimmt wesentlich 15.2.1.2 Einbauanforderungen
den Aufwand der Prüfungen in der Fertigung als Mit dem wachsenden Ausrüstungsgrad von Syste-
Bestandteil der Lieferbedingungen. Die Angabe von men zur Fahrdynamikregelung im weitesten Sinne
Größen, die erst durch die Weiterverarbeitung des etablieren sich immer mehr Anforderungen für
Signals im System beschreibbar werden, muss eine den Einbau von Sensoren in den Konstruktions-
Ausnahme von der Regel bleiben. vorgaben des Kraftfahrzeugs. Mit der Vielfalt der
Für die elektrischen Schnittstellen wurden für Fahrzeugformen gestaltet sich auch die Vielfalt
viele Anwendungen bereits Standards gebildet. Diese der Einbaubedingungen dazu passender Sensoren.
sollen gewährleisten, dass ein Sensor eines Anbieters Ein einheitlicher Trend lässt sich mit Blick auf die
auch von einem anderen Anbieter beliefert werden Baugröße erkennen: Je kleiner, also angepasster, ein
kann. Die Reduzierung auf diese Standards lässt Sensor gestaltet werden kann, umso günstiger für
diesen einfachen Austausch jedoch nur in wenigen den Fahrzeugkonstrukteur.
Fällen zu. Der Grund hierfür liegt in den zusätzlichen Die Grenzen werden durch die Handhabung
Bedingungen, die sich aus der Systemfunktion erge- in der Fahrzeugfertigung und im Service gesetzt.
ben und sich nicht ausschließlich auf elektrische oder Dies gilt insbesondere für die Befestigung mittels
mechanische Größenordnungen reduzieren lassen. Schrauben und die Zugänglichkeit von elektrischen
Für Sicherheitssysteme ist auch der Entwicklungs- Steckverbindungen.
prozess zu bewerten. Aus der Methodik, der Tiefe Die entscheidende Wechselwirkung zwischen
von durchgeführten Simulationen und den Herstell- Sensor und Fahrzeug ergibt sich jedoch aus dem
prozessentwicklungen leiten sich wichtige Bewer- Einbauort selbst. Der größte Fehler in der Bewer-
tungsgrundlagen für die FMEA (Failure Mode Effect tung der Tauglichkeit eines Sensors kann entste-
Analysis) und eine FTA (Fault Tree Analysis) ab. hen, wenn der Einbauort als statisch stabile Größe
226 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

betrachtet wird. Die auftretenden Schwingungen Neben der genannten Vielfältigkeit an Rand-
1 sind sowohl im Frequenzspektrum als auch in den bedingungen des Einbauortes ist die Änderung
Amplituden und Resonanzüberhöhungen abhängig des Fahrzeugs in seinem Entwicklungsablauf zu
2 von der Dynamik der Fahrbedingung. Aber auch nennen. Zum Zeitpunkt der System- und damit
die Handhabung des Fahrzeugs selbst spiegelt sich Sensorentscheidung existiert in der Regel nur ein
in diesem Profil wider. Eine nicht vollständige Liste getarnter Prototyp des Fahrzeugs auf der Basis eines
3 ohne Priorität in der Bedeutung soll verdeutlichen, Vorgängermodells. Für den sicheren Betrieb eines
worauf geachtet werden muss. Sensors sind aber insbesondere die Karosserie- oder
4 Achseneigenschaften der Serienausführung von Be-

5 -
Störungen am Sensoreinbauort:
Luftspaltänderungen am Raddrehzahlsensor
deutung. Eine Auflistung der Einflussfaktoren soll
zeigen, worauf in der Einbauortbewertung zu ach-

-- durch Achslast und Lagerspiel in der Kreisfahrt


Stöße durch Türenschlagen
ten ist.

--
6 Vibrationen durch Betätigung der Hand- Faktoren zur Bewertung des Einbauortes:

7 -- bremse
Stöße durch Sitzverstellungen
Blechstärken
Sicken, Vertiefung, Spannungszonen von

-
Impulse durch Wasserdurchfahrt bei hohen
Geschwindigkeiten
- Stanz-/Biegeteilen
Massen von weiteren Befestigungs- oder An-

--
8 Überfahren von Fahrbahnbegrenzungen auf bauteilen, z. B. Sitzen

9
-- Rennstrecken
Impulse durch Steinschlag auf Schotterpisten
Schwallwasser im Motorraum bei Wasser-
Durchbrüche

--
Teppiche und Dämmmaterial
Achsabstände und Ausbauvarianten
10
- durchfahrten
Stöße und Schläge durch Werkzeuge in der
--
Zweitürer/Viertürer/Kombiausführungen
Automatik-/Schaltgetriebeausführungen

11
- Fahrzeugmontage
Fahrbahnunebenheiten bei verschiedenen
--
Rechts-/Linkslenkerausführungen
Radlagerauswahl

12
- Fahrmanövern
Fahrbahnoberflächen und Reifeneigenschaf-
--
Achsaufhängungen
Feder-/Dämpferabstimmung des Fahrwerks

- ten,
Stöße/Schläge durch unbefestigte Gegenstände
-
Motorvarianten
Motorvibrationen bei Motorrädern

--
13 im Fußraum
Rechts-/Linkslenkerausführungen Besondere Beachtung ist auch den Anwendungen
14 Zusätzlich eingebaute Audioanlagen hoher von Sensoren zu schenken, bei denen der Fahr-

15 -Leistung
Ablage von Mobiltelefonen an nicht dafür
zeughersteller ein Gleichteilekonzept für mehrere
Plattformen verwirklicht. Die Verantwortung für

16 -vorgesehenen Orten
Temporäre magnetische Fremdfelder

Die Liste lässt sich für jeden Sensor ergänzen, und


die Tauglichkeit an nicht bewerteten Einbauorten
muss in diesem Fall beim Anwender des Sensors
liegen.
Aus den mehrdimensionalen Faktoren des Ein-
17 jede einzelne Situation repräsentiert die Erfahrun- bauortes ergibt sich ein erheblicher Aufwand in der
gen des Sensorherstellers, die er in seiner Konstruk- Applikation von Sensoren im Kraftfahrzeug. Die
tion berücksichtigt hat. Synthetische Untersuchun- Kosten dafür sind in der Auswahlmatrix mit zu be-
18 gen lassen sich nur begrenzt durchführen, weil sich rücksichtigen.
die Anregungsenergie nicht in jedem Fall erzeugen
19 und einkoppeln lässt. Zusätzlich kommen die Ver- 15.2.1.3 Gesetzliche Anforderungen
änderungen durch Alterung des Fahrzeugs hinzu, und Normen
20 deren Verlauf für den einzelnen Störfaktor teilweise Diese Anforderungen auf der Technikebene teilen
nicht herausgefiltert werden kann. sich auf in die Forderungen, die sich aus dem Sys-
15.2 • Allgemeine Auswahlkriterien
227 15

tem auf die Funktion ableiten, und die Anforderun- die Herstellprozesse der verwendeten Bauelemente
gen für die verwendeten Materialien. und Baugruppen erforderlich.
Die Systeme werden in Zukunft nach einer Si- Das Materialdatenblatt muss ein fester Bestand-
cherheitsnorm aus der ISO 26262 eingestuft. Dar- teil eines jeden Angebots einer Sen­sorkomponente
aus ergeben sich für die Sensoren in den Wirkketten sein. Die Ermittlung der Daten erfolgt mit aufwen-
ebenfalls Anforderungen, die sowohl die Technik digen Verfahren und bestimmt eine Zuliefereraus-
als auch den Entwicklungsprozess betreffen. Diese wahl mit.
Norm ist als ISO 26262 für Kraftfahrzeuge spezi-
fisch angepasst. 15.2.1.4 Umweltanforderungen
Durch die Mehrfachnutzung der Sensorsig- Unter diesem Begriff werden alle klimatischen und
nale von verschiedenen Systemen können sich dynamischen Anforderungen verstanden, die sich
auch Verschiebungen in Sicherheitsforderungen aus dem Betrieb im Kraftfahrzeug ergeben.
ergeben. Wird z. B. ein Lenkradwinkelsensor oder Die ISO-Norm 16750 und die Fahrzeugher-
ein Drehratensensor nicht nur vom ESP-System steller beschreiben in ihren Lastenheften, welche
genutzt, sondern von einer Überlagerungslen- Belastungen für den Sensor am Einbauort gelten.
kung oder einer Hinterachslenkung, steigt der Si- Das Ziel ist es, für die gesamte Betriebs- und Le-
cherheitsanspruch an die Signale dieser Sensoren. benszeit der Systeme einen fehlerfreien Betrieb zu
Dies kann dazu führen, dass die gesamte Signal- gewährleisten. In der Prüfung dieser Lastenhefte
verarbeitung im Sensor redundant erfolgen muss. und der Konvertierung in eine elektronische Schal-
Wenn diese Lenksysteme nicht in einer 100 %-Aus- tung, einer Bauelementeauswahl und elektromecha-
stattung vorgesehen werden, ist eine vereinfachte nischen Konstruktion liegt der höchste Anspruch
kostengünstigere Variante ohne Redundanz für die an den Entwickler. Die Erfüllung jedes Parameters
Baureihe des Fahrzeugs erforderlich. unter allen Bedingungen ist wirtschaftlich nicht
Unter dem Oberbegriff „umweltgerechtes De- vertretbar und auch technisch nicht sinnvoll. Der
sign“ werden die Stoffe mit Risikopotenzial in der Entwickler muss jeden Parameter in realen Bezug
Anwendung der Kraftfahrzeugtechnik zunehmend zum Betrieb des Fahrzeugs stellen. Dabei gelten alle
eingeschränkt oder ganz verboten. Der Her­steller Wechselwirkungen des Einbauortes mit seinen Um-
von Komponenten und seine Lieferanten müssen in weltbedingungen.
Materialdatenblättern gewährleisten, welche Stoffe Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Für einen
und welche Mengen in der Komponente enthalten Raddrehzahlsensor gilt eine maximale Temperatur.
sind. Auch Hilfsstoffe bei der Verarbeitung fallen Dieser Wert wird durch extreme Bremsentempera-
unter diese Regel, sofern die darin enthaltenen turen erzeugt und steigt sogar im Stillstand, in der
Stoffe später auch in dem gelieferten Produkt ent- Nachheizphase, noch an. Ein Temperaturschock
halten sind. kann entstehen, wenn danach eine Durchfahrt durch
Dabei ist es unerheblich, ob die nicht mehr zu- Schmutzwasser erfolgt, wobei dieses Schmutzwasser
gelassenen Stoffe sich so verteilen bzw. verdünnen, zudem noch mit Auftausalzen versetzt sein kann.
dass sie im gelieferten Produkt unter die Nachweis- Wurde diese Bedingung in einem Labor­test nicht
grenze fallen. Da die Normen einer jährlichen Än- nachgestellt, sind etliche Randbedingungen nicht
derung unterliegen, muss vor dem in Verkehr Brin- vollständig abgedeckt. Der Sensorkopf ist in einem
gen der Produkte überprüft werden, ob die neuen Achsträger eingebaut und damit vor der Strah-
Gesetze dies noch zulassen. Die Nachweispflicht lungswärme der Bremsscheibe geschützt. Die große
über Schadstofffreiheit liegt beim Lieferanten. Es Masse des Achsträgers erlaubt nur eine langsame
gibt besondere Regelungen z. B. hinsichtlich der Änderung der Temperatur durch seine Wärmeka-
Ersatzteile für ältere Fahrzeuge. pazität. Dies gilt in beiden Richtungen. Ob eine Be-
Für die Prüfung, ob die Anforderungen aus ge- netzung des Sensorkopfes mit Schmutzwasser bei
setzlichen Regelungen und Normen erfüllt werden, der Durchfahrt überhaupt erfolgt, hängt davon ab,
ist sowohl systemübergreifende Kenntnis des Ge- wie der Sensor an der Achse platziert ist. Es bleibt
samtfahrzeugs als auch tiefgehendes Wissen über zum Schluss noch die Frage der Häufigkeit dieses
228 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

Manövers: Wie viele Fahrzeuge werden unter die- international einheitlich definiert, siehe . Abb. 15.2.
1 sen Bedingungen betrieben, und wie häufig erfolgt Damit wird erreicht, dass die Beschriftungen der
eine solche Extrembremsung? Auf eine zahlenmä- Sensoren und die Definition der Parameter nicht
2 ßige Detaillierung wurde in diesem Beispiel bewusst zu unterschiedlichen Bewertungen führen.
verzichtet, weil nur die Komplexität der Zusammen-
hänge angedeutet werden sollte. 15.3.1.1 Raddrehzahl
3 Sonderfälle sind fehlende Abdeckungen, Schä- Für alle Fahrdynamiksysteme ist die Radbewegung
den an Kabeln und Steckerverbindungen, Anzugs- die Größe, mit der Radgeschwindigkeit, Radbe-
4 moment von Schrauben nicht nach Vorgabe, Ersatz- schleunigung und Raddrehrichtung bestimmt wer-
teile mit anderen Spezifikationen und der Einsatz den. Hieraus wird der Reibwert oder Radschlupf
5 im Motorsport. bestimmt und auch die Fahrzeuggeschwindigkeit
errechnet. Die Differenzgeschwindigkeit zwischen
Vorder- und Hinterrad bei Zweirädern ist eine Re-
6 15.2.2 Kommerzielle Ebene gelgröße der Traktionskontrolle. Die Dynamik der
Radbewegung ist die wichtigste Größe zur Regelung
7 In den Liefervereinbarungen wird auf Basis einer der Fahrzeugverzögerung und der Fahrstabilität auf
technischen Dokumentation und eines Zeichnungs- allen Fahrbahnen.
satzes von der Erfüllung aller Anforderungen an die
8 Funktion auf der Technik­ebene ausgegangen. 15.3.1.2 Lenkradwinkel
Abweichungen sind in Abweichlisten zu doku- Für die Regelung der Fahrzeugstabilität ist der
9 mentieren. Die Abweichungen werden üblicher- Lenkradwinkel als Eingangsinformation des Fah-
weise für eine Baureihe, eine Menge oder einen rerwunsches die Messgröße, auf die alle Fahrdyna-
10 Zeitraum vereinbart. mikmesswerte bezogen und plausibilisiert werden.
Es wird nicht der Lenkwinkel am Rad gemessen.

11
--
Die Hauptthemen auf dieser Ebene sind:
Qualität 15.3.1.3 Drehratensignal

12
--
Liefermengen
internationale Lieferungen
Die Drehbewegungen in allen drei Raumachsen
werden gemessen, um die Dynamik des Fahrzeug-

13 --
Nachlieferung
Verpackung
Änderungswesen.
körpers zu bestimmen. Für ESP-Systeme wird die
Bewegung um die z-Achse gemessen, für Überschla-
gerkennung die Rollbewegung um die x-Achse und
für Fahrwerkregelung die Nickbewegung um die
14 Die Konstruktion und die ausgewählten Technolo- y-Achse.
gien bestimmen die auf dieser Ebene abgeschlos-
15.3.1.4 Beschleunigungssensoren
15 senen Vertragsinhalte wesentlich. Der Entwickler
muss mit dem Einkauf des Kunden die besonderen Zur Erfassung der Beschleunigung und Verzö-
Randbedingungen identifizieren und Vereinbarun- gerung dient der x-Sensor. Damit können auch
16 gen festschreiben. statische Hangabtriebskräfte erfasst werden. Der
Beschleunigungssensor in der y-Achse misst die
17 radiale Beschleunigung in der Kreisfahrt und dient
15.3 Technische Sensorkenndaten statisch zur Messung von Fahrbahnneigungen. Be-
für Fahrerassistenzsysteme schleunigungssensoren in der z-Achse werden zur
18 Erfassung der Fahrzeugaufbaubewegung in Fahr-
15.3.1 Sensoren und Einbauorte werkregelsystemen verwendet.
19
Hauptfunktionen der Signale in den Systemen: Die 15.3.1.5 Bremsdrucksensoren
20 Kennzeichnung der Hauptachsen in Fahrtrichtung Zur Erfassung des vom Fahrer eingesteuerten
als x, Querrichtung als y und Hochachse als z ist Bremskraftwunsches wird der Druck im Haupt-
15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
229 15

YRS – Drehrate- u.
Beschleunigungs-
sensor (DRS)

SAS – Lenkradwinkel-
sensor (LWS) Y
X WSS – Raddrehzahl-
sensor (DF)

PS – Bremsdruck-
sensor (DS) TSS – Drehmoment-
sensor (TSS)

.. Abb. 15.2  Übersichtsbild Fahrzeug mit Sensoren und Darstellung der Maßachsen

bremszylinder gemessen. In Fahrdynamikregelsys- haptische Rückmeldung der Lenkbewegung zu er-


temen mit hohem Komfort werden auch die ein- möglichen [1].
zelnen Bremskreise oder sogar der Druck an jedem
Radbremszylinder gemessen. Für Abstandsregel-
systeme muss in jedem Fall der Druck nach dem 15.3.2 Raddrehzahlsensor DF
Speicher oder der Pumpe gemessen werden.
15.3.2.1 Funktions- und
15.3.1.6 Bremspedalwegsensoren Aufbaudarstellung
Bei bisherigen Bremssystemen ist der Fahrerbrems- Raddrehzahlsensoren waren seit der ersten ABS-
wunsch direkt an den hydraulischen Druckaufbau Anwendung 1978 mehrheitlich induktive Sensoren.
gekoppelt. Die rekuperativen Bremssysteme von Mit der Forderung, auch quasi bis null die Radge-
Hybrid- und Elektrofahrzeugen erfordern zusätz- schwindigkeit messen zu können, musste der pas-
lich die Erfassung des Fahrerbremswunsches mit sive durch einen aktiven Sensor ersetzt werden [2].
einem Pedalwegsensor, um das generatorische Von 1995 an haben diese Sensoren mit Messelemen-
Bremsen im Wechselspiel mit dem hydraulischen ten nach dem Hall- oder AMR-Prinzip die passiven
Bremsen zu steuern. fast vollständig verdrängt [3, 4]. Im Nutzfahrzeug
jedoch werden auch heute noch induktive Senso-
15.3.1.7 Drehmomentsensor Lenkung ren verwendet, wenn die Achskonstruktionen nicht
Für servounterstützte Lenkungen ist in die Lenk- angepasst wurden. In . Abb. 15.3 sind die Funktion
säule ein Drehmomentsensor integriert, um eine und der Aufbau der Sensoren im Prinzip dargestellt.
230 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

.. Abb. 15.3 Raddrehzahl-
1 sensoren

Sensorelement
2
Magnet
Magnet SSN
3 Sensorelement

4
S N
5 N S
Sensorelement
S N
6 N S

7 magnetisierte
Dichtung

8 Die technischen Daten der Raddrehzahlsensoren kleinen Flankenjitter ausgegeben werden. Dieser

9
10
--
beziehen sich auf folgende Teile:
Sensorkopf
Elektrische Leitung einschließlich Tüllen,
Befestigungselementen und einem Stecker
Jitter entsteht aus mechanischen Nebeneffekten in
den Radaufhängungen und dem thermischen Rau-
schen im Analogteil des Sensorelements, sowie der
analog/digital Umsetzung im Auswerteschaltkreis.

Der Sensorkopf wird zusätzlich noch in folgende 15.3.2.2 Technische Daten

--
11 Zonen aufgeteilt: Raddrehzahlsensor
Sensorzone Lagerzeit
12 Kabelzone
Kriterium Wert
Raddrehzahlsensoren werden auch als Drehzahl-
13 fühler bezeichnet. Die genaue Lage der einzelnen
Ab Fertigungsdatum 10 Jahre

Zonen ist in der Angebotszeichnung festgelegt. Lagertemperatur –40 °C … +50 °C


14 Die Achsenkonstruktionen fordern unter-
schiedliche Bauformen der Sensoren. Die entschei- Mindest-Lebenserwartung
15 dende Größe ist die Lage der Sensorelemente zum
Impulsrad, auch Encoder genannt. Mit aktiven Sen- Kriterium Wert
soren ist es auch möglich, die Drehrichtung des Ra-
16 des zu erfassen. Deshalb kann auch eine linke und
Unter Berücksichtigung
der Temperaturgrenzen
15 Jahre

rechte Einbaulage definiert werden.


17 Die Reifendrucküberwachung kann direkt
Betriebsdauer 12 000 h

durch eine Druckmessung in der Felge oder indi-


rekt über die Steifigkeit des Reifens als Feder/Mas- Umgebungstemperatur
18 sesystem bestimmt werden. Bei der indirekten Mes-
sung wird die Verschiebung der Resonanzfrequenz Kriterium Wert
19 des Reifens mit einem speziellen Algorithmus er-
für Sensorzone –40 °C … +150 °C
mittelt. Das Prinzip ist in . Abb. 15.4 dargestellt.
20 Dazu ist es aber erforderlich, dass die Raddrehzahl- für Kabelzone –40 °C … +115 °C

signale als Rechtecksignale mit einem besonders


15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
231 15
.. Abb. 15.4 Funktions-
darstellung indirekte
Reifendrucküberwachung
mit Resonanzverfahren

Torsionsresonanz des Reifens

Amplitude (willkürliche Einheiten)

Nenndruck

Reifen mit
Druckverlust

Frequenz [Hz]

Die Versorgungsspannung muss dabei im Bereich Prüfungen


von 4,5 V bis 20 V liegen. Die aufgeführten Prüfungen sind charakteristisch
für den Einbauort am Rad im Außenbereich des
Ausgangssignal Fahrzeugs; sie sind Einzelprüfungen und werden
Alle Raddrehzahlsensoren arbeiten mit zwei ge- jeweils an Neuteilen durchgeführt.
schalteten Strompegeln an einem Kabel mit zwei
Leitungen. Der untere Strompegel setzt sich aus der Prüfbedingungen
Eigenstromaufnahme des Sensorelements und einer Soweit nicht anders spezifiziert, gilt für alle nachfol-
geregelten Korrekturgröße zusammen. Der obere gend aufgeführten Prüfungen:
Strompegel wird durch eine zusätzlich geschaltete,
temperaturkompensierte Stromquelle als additive Prüfbedingung Wert
Größe dargestellt [5].
Prüfbedingungen gemäß IEC 68–1

Kriterium Wert Umgebungstemperatur 23 °C ± 5 °C

Relative Luftfeuchtigkeit 50 % ± 15 %


Signalfrequenz 1 … 2500 Hz
Spannungsversorgung Uv (DC) 12 V ± 0,1 V
Untere Signalhöhe IL 5,9 … 8,4 mA
Eingangskapazität Steuer­ ≤ 10 nF
Obere Signalhöhe IH 11,8 … 16,8 mA
gerät (inkl. Leitung)
Signalverhältnis IH / IL ≥ 1,9

Signalanstieg, -abfall mit 8 … 26 mA/µs


Nach Abschluss der jeweiligen Prüfungen müssen
EMV-Kondensator und de-
finierter Mess-Schaltung die Kenndaten gelten.
Tastverhältnis 0,3 ≤ t/T ≤ 0,7 Isolationswiderstandsmessung
Der DF wird in eine 5 %-ige NaCl-Lösung getaucht.
Zwischen einer Elektrode in der Lösung und den
232 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

1
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Abb. 15.5  Mögliche Einbauposition des Lenkradwinkelsensors

15.3.3 Lenkradwinkelsensoren
10 kurzgeschlossenen Steckerpins wird die Prüfspan-
nung für die Zeit der Prüfdauer angelegt. Der Ste-
ckerbereich befindet sich außerhalb der Sole. Eine weitverbreitete Bauform eines Lenkradwinkel-
11 sensors ist in . Abb. 15.5 dargestellt.
Prüfbedingung Wert Als kontaktloses Messprinzip, das eine Abso-
12 Prüfspannung 400 V DC
lutmessung gewährleistet, wird die CVH (Circular
Vertical Hall) oder GMR (Giant Magneto Resistive)
Prüfdauer 2s eingesetzt.
13 Prüfkriterium im Neuzu- ≥ 100 MΩ Die Erfassung des absoluten Winkels wird
stand (RIsol) mittels zweier Messzahnräder erreicht, die ein
14 Prüfkriterium über die ≥ 5 MΩ um zwei Zähne unterschiedliches Übersetzungs-
Lebensdauer (RIsol) verhältnis zur Nabe an der Lenksäule haben. Die
15 Breitbandrauschprüfung
Messzahnräder tragen Magnete, die in den gegen-
überliegenden angeordneten GMR-Elementen eine
dem Winkel proportionale Widerstandsänderung
16 Prüfbedingung Wert bewirken. Die Analogspannungen werden digita-
lisiert, und der phasenverschobene Spannungs-
Prüfbedingungen gemäß IEC 68–2-34
17 Festlegung der Hauptach- Kundendefinition
verlauf erlaubt über das Noniusprinzip eine ein-
deutige Zuordnung der Neubauposition innerhalb
sen
von z. B. drei Umdrehungen nach links oder rechts.
18 Prüfaufnahme Kundendefinition Die Zählweise geht von der Mittelposition, also der
Geradeausfahrt aus. Als Systemschnittstelle wird
19 Die Leitung wird im Abstand von 50 … 120 mm aus Systemsicherheitsbetrachtungen eine CAN-
vom DF-Kopf mit dem ersten Befestigungspunkt Schnittstelle verwendet. Über diese Schnittstelle
20 (Tülle, Blech) am mitschwingenden Teil der Prüf- kann auch die errechnete Lenkwinkelgeschwin-
aufnahme befestigt. digkeit übertragen werden. Durch eine mathema-
15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
233 15

360°

Messzahnrad mit
Nabe mit n Zähnen,
Lenkwinkel  Winkel 

Messzahnrad
mit n+2 Zähnen, 
Winkel  360°

360


Zahnradwinkel  und  [°]








360 720 1080 1420
Absoluter Lenkwinkel  °

.. Abb. 15.6  Grundprinzip des Noniusprinzips im Lenkradwinkelsensor

tische Operation kann ein Korrekturfaktor berech- Funktionale charakteristische Kennwerte


net werden, in . Abb. 15.6 als das gelbe und blaue Die angegebenen Werte sind nur dann gültig, wenn
Feld dargestellt. der Sensor an der Lenksäule zeichnungsgerecht
Die unterschiedlichen Einbaupositionen erfor- montiert ist.
dern eine individuelle Gestaltung der Mechanik. In-
nerhalb von Plattformen eines Herstellers definieren Nominaler Messbereich
sich aber auch Gleichteilekonzepte.
Funktion Wert
15.3.3.1 Technische Daten
Winkelbereich –780° … +779,9°
Lenkradwinkelsensor
Die CAN-Schnittstellenspezifikation ist vergleich- Lenkwinkelgeschwin- 0 … 1016°/s
digkeit
bar mit allen anderen Applikationen dieser Art im
Kraftfahrzeug und wird deshalb nicht extra darge-
stellt. Empfindlichkeit und Auflösung
Von besonderer Bedeutung für die Systemfunk-
tionen sind die Umsetzungen der mechanischen Funktion Wert
Größen mit ihren Toleranzen. Dies gilt insbeson-
Winkel: 1 Bit entspricht 0,1°
dere deshalb, weil der Lenkradwinkelsensor als Ein- (über Messbereich)
gangsgröße des Fahrerwunsches in den Systemen
Geschwindigkeit: 1 Bit 4°/s
mit anderen Signalen zu plausibilisieren ist. Wird entspricht (über Mess-
sogar eine Hinterradlenkung damit gesteuert, sind bereich)
erhöhte Anforderungen an Hysterese und Linearität
darzustellen. Diese Anwendungen fordern außer-
dem eine redundante Signalverarbeitung.
234 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

Nichtlinearität Drehmoment
1 Für alle Komponenten in Lenksystemen ist das zu
Funktion Wert addierende Drehmoment von großer Bedeutung.
2 Winkel (über Mess­bereich) –2,0° … +2,0°
Werden hohe Momente erzeugt, ist das Rückstell-
moment in die Geradeausfahrt über die Lenkgeo-
metrie nicht ausreichend.
3 Hysterese
Nullpunkt Wiederholgenauigkeit
4 Funktion Wert
Funktion Wert
Winkel (über Messbereich) 0° … 4°
5 Drehmoment (Durchschnitt ≤ 6 Ncm
über Messbereich)
Nullabgleich
6 Die Offset-Kalibrierung des Nullpunkts erfolgt
Temperatur +23 °C

über das CAN Interface, während das Lenkrad und Drehgeschwindigkeit 50 °/s ± 10 °/s

7 Fahrzeugrad in eine Richtung bewegt wird. Die In-


itialisierungsprozedur steht im Service Manual der
System-Applikation. 15.3.4 Drehraten- und
8 Beschleunigungssensoren
Nullpunkt Abweichung
9 15.3.4.1 Technische Daten Drehraten-
Funktion Wert und Beschleunigungs­
sensoren
10 Maximale Nullpunkt-Toleranz –5° … +5°
Messprinzip
zwischen mechanischer und
messtechnischer Sensorschnitt- Der Zweck dieser Sensoren ist, die Drehung eines
11 stelle Fahrzeugs um seine Achsen sowie Quer-, Längs-
und Vertikalbeschleunigungen zu messen. Damit
12 Nullpunkt Wiederholgenauigkeit wird eine eindeutige Bestimmung des dynamischen
Zustands im Raum möglich.
Das Sensorelement für die Drehraten ist in vie-
13 Funktion Wert
len Anwendungen in Oberflächenmikromechanik
Einschaltwiederholgenauigkeit –0,5° … +0,5°
[6, 7, 8, 9] hergestellt und mit einer Steuerung für
14 den Antrieb und der Auswerteschaltung verbun-
Lenkwinkelgeschwindigkeit den. Das Prinzip beruht auf dem gyroskopischen
15 Effekt. Ein elektrostatischer Kammantrieb versetzt
Funktion Wert eine seismische Masse in eine oszillierende Schwin-
gung. Eine Drehung des Fahrzeugs, z. B. um die z-
16 Maximale Geschwindigkeit
(< 5 s)
–2500 °/s …
+2500 °/s Achse (Hochachse), bewirkt eine Corioliskraft auf
einen Beschleunigungssensor, dessen kapazitive
17 Änderung gemessen werden kann. Eine synchrone
Signalverzögerung Demodulation der gemessenen Corioliskraft, wel-
che die Geschwindigkeit der seismischen Masse
18 Funktion Wert nutzt, generiert ein Signal, das proportional zur
Drehrate ist. Die Sensor­elemente für Beschleuni-
19 Verzögerungszeit zwischen
Zündung Ein und einem
≤ 200 ms
gungen bestehen ebenfalls aus Messelementen in
gültigen Ausgangssignal ohne Oberflächenmikro­mechanik.
20 Lenkbewegung In den seit einigen Jahren eingesetzten Sensor-
modulen werden die minimalen Ladungsmengen
15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
235 15

Power-IC
Sensor element Sensor element

5V
UBatt Supply Buffer Voltage z ax,, ay x az,, ay
Rev. Polarity Diode Regulator
GND 5V
ASIC ASIC

Window
CANH
Watchdog
CAN Choke µC CAN SPI µC CAN SPI
CANL
SPI

Micro-
Quartz
controller
(flash)

TxD
CAN_H CAN Master
Transceiver
CAN_L RxD

.. Abb. 15.7  Blockschaltbild eines mehrachsigen Inertialsensors für Motorräder mit CAN-Schnittstelle [11]

analog verstärkt und für die weitere Verarbeitung Einbauort


digitalisiert [10]. Diese Signalverarbeitung mit fest- Der Einbauort des Sensorclusters sollte so ausge-
verdrahteter Logik ist jedoch bezüglich der notwen- wählt werden, dass an dieser Stelle nur die dynami-
digen Änderungen auch in der Entwicklung sehr schen Bewegungen des Fahrzeugs auftreten. Hierzu
kosten- und zeitintensiv. Deshalb werden zusätzlich eignet sich insbesondere der Mitteltunnel oder der
kleinere Mikrokontroller integriert, sodass diese Bereich des Querträgers an der A-Säule. Bei Mo-
Änderungen mittels Software darstellbar sind. In torrädern ist ein Anbauort zu wählen, der von den
. Abb. 15.7 ist gezeigt, wie ein mehrachsiger Iner- Vibrationen des Motors weitgehend entkoppelt ist
tialsensor mit verschiedenen Sensormodulen aufge- [13]. Die Montage am Fahrzeugboden unter den
baut ist. Ein zusätzlicher, zentraler Mikrokontroller Sitzen muss mit besonderer Sorgfalt untersucht
gibt die Möglichkeit, bereits im Sensor komplexe werden. Auf Grund des Messprinzips des Sensors,
Berechnungen mit den gewonnenen Signalen durch- welches auf Beschleunigung basiert, müssen sekun-
zuführen. Die in . Abb. 15.8 aufgeführten Störfak- däre, störende Beschleunigungen mit hohen Ampli-
toren der Mikromechanik begrenzen insbesondere tuden und kritischen Frequenzbereichen, die nicht
die Empfindlichkeit und die erreichbare Auflösung. ursächlich auf der Fahrzeugbewegung beruhen, an
Sensormodule mit 6 DOF (Degree Of Freedom) wer- dieser Einbaustelle begrenzt werden. Verbindungs-
den für Multimedia-Anwendungen in Verpackun- punkte der Fahrzeugschweller und Querträger ha-
gen von 2 × 2 mm-Gehäusen realisiert und bilden die ben sich als effektiv bewährt. Eine Befestigung an
Grundlage für eine weitere Miniaturisierung in der dünnen Verkleidungen sollte vermieden werden.
Anwendung im Kraftfahrzeug [12]. Bezüglich der Lebensdauer ist eine spektrale Be-
Die Kommunikation zwischen dem Sensor und schleunigungsprüfung zweckmäßig, um sicher zu
dem Steuergerät wird mit einer CAN-Schnittstelle stellen, dass die möglicherweise auftretenden Vibra-
nach Kundenspezifikation ausgeführt. Damit ist eine tionen im Fahrzeug den Sensor nicht stören. Diese
mehrfache Nutzung von verschiedenen Systemen Prüfung ist um ein Vielfaches schwieriger, als übli-
möglich, und die Signalübertragung selbst ist stö- cherweise in einem Fahrzeug erwartet wird. Sie soll
rungssicherer. einen Langzeiteffekt (Fahrzeug-Lebensdauer) auf
236 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

.. Abb. 15.8 Drehraten- thermo-
1 messelement in Mikro- Coriolis
Beschleunigung
+ mechanisches
Rauschen
mechanik Blockschaltbild Synchronisations-
Signalauswertung mit demodulation
2 Störgrößen
Dreh-
C/V + TP
rate
3 elektrisches
Rauschen

4 C/V +
PLL
AGC

5 Antriebskreis Detektionskreis

6 den Sensor in einer kurzen Zeit simulieren. Eine ge- nem Fahrzeug tatsächlich auftretenden Beschleuni-
nerelle Beschleunigungsprüfung zur Überprüfung gungen sind nicht konstant und variieren bezüglich
7 der Funktion kann nicht definiert werden. Die in ei- Zeit, Frequenz, Temperatur und Amplitude.

Funktionsdaten
8 Drehrate

9 Funktion Minimal Typisch Maximal Einheit

Nominaler Messbereich –163 +163 °/s


10 Messbereichsgrenze –1000 +1000 °/s
Nominale Empfindlichkeit 200 LSB/°/s
11 Empfindlichkeitsfehler (bei Joperation über tlife) –4 ±2,5 +4 %
Nicht-Linearität –1 ±0,5 +1 °/s
12 Differenzielle Nicht-Linearität (in Schritten von –4 +4 %
5°/s)

13 Offset, absolut (über tlife, gemessen bei Jop) –3 ±1,5 +3 °/s


Offset Drift, Betrieb zu Betrieb (über tlife, gemessen –2,0 +2,0 °/s

14 bei Joperation)
Auflösung, absolut (Quantisierung) 0,1 °/s

15
Zeit bis Verfügbarkeit 0,75 1 s
Querempfindlichkeit –5 ±2,0 +5 %
Filtereckfrequenz (–3 dB) 15 Hz
16 Ausgangsrauschen 0,05 0,2 °/srms
Beschleunigungsempfindlichkeit –0,25 +0,25 °/s/g
17
18
19
20
15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
237 15
Beschleunigungssignal (Längs- und Querbeschleunigung)

Funktion Minimal Typisch Maximal Einheit

Nominaler Messbereich –4,2 +4,2 g


Messbereichsgrenze –10 +10 g
Nominale Empfindlichkeit 490,5 LSB/g
Empfindlichkeitsfehler (bei Joperation über tlife) –4 ±2,5 +4 %
Nicht-Linearität –0,072 ±0,036 +0,072 g
Offset (neuer Sensor, gemessen bei Jroom) –0,030 +0,030 g
Offset (über tlife, gemessen bei Joperation) –0,1 ±0,05 +0,1 g
Offset Drift, Betrieb zu Betrieb (über tlife, gemessen bei Joperation) –0,07 +0,07 g
Änderungsrate Offset –0,03 +0,03 g/min
Auflösung, absolut (Quantisierung) 0,01 g
Zeit bis Verfügbarkeit 0,150 0,250 s
Querempfindlichkeit –5 ±2,5 +5 %
Filtereckfrequenz (–3 dB) 15 Hz
Ausgangsrauschen 0,004 0,01 grms

15.3.5 Bremsdrucksensoren Wird über die Bremsanlage eine automatische Ab-


standsregelung gesteuert, ist der Systemdruck ein
Für alle Fahrdynamiksysteme, die über die hydrauli- Maß für die zu erreichende Verzögerung. Zur Kom-
sche Bremsanlage eingreifen, ist es erforderlich, den pensation der Temperaturabhängigkeit von Hyd-
im System aufgebauten Druck zu messen. Ein ein- raulikpumpen wird auch eine Temperaturmessung
faches ABS-System kommt auch mit einem Druck- integriert. Es muss dabei bedacht werden, dass diese
schätzmodell aus. Temperaturmessung nur den Wert am Montageort
Für ein einfaches ESP-System ist die Messung des Drucksensors repräsentiert und nicht im gesam-
des Hauptbremszylinderdrucks ausreichend. Für ten System. Als Messmittel für den Bremspedalweg
ESP-Systeme mit hohen funktionalen Anforde- ist der Drucksensor nicht zwangsläufig geeignet.
rungen werden Drucksensoren mit bis zu drei Bevor tatsächlich Druck aufgebaut wird, hat das
unabhängigen Kanälen (Hauptzylinder, 2 Brems- Bremspedal bereits einen Weg zurückgelegt. Dieser
kreise) eingesetzt. Das entscheidende Merkmal Weg ist notwendig, um Bohrungen zum Bremsflüs-
aller Drucksensoren in den Bremskreisen ist die sigkeitsspeicher freizugeben. Für die Nutzung als Si-
Betriebssicherheit der Dichtheit. Diese Dichtheit gnal zur Ansteuerung der Bremsleuchten und zur
muss mit einer mehrfachen Überlastsicherheit des Deaktivierung der Geschwindigkeitsregelung reicht
Berstschutzes gewährleistet sein. Auch minimale die Genauigkeit im Nullpunkt nicht in jedem Fall
Leckagen, die durch das Bremsflüssigkeitsreservoir aus, bzw. es wird erwartet, dass die Funktion schon
ausgeglichen werden, müssen unbedingt vermie- aktiviert ist, bevor ein Bremsdruck aufgebaut wird.
den werden. Die austretende Bremsflüssigkeit kann In allen bekannten Drucksensorkonstruktionen
durch korrosive Wirkung auf die Umgebung, z. B. wird der hydraulische Anschluss entweder über
eine angebaute Elektronik, zu schwerwiegenden eine Schraubverbindung, siehe . Abb. 15.9, oder
Fehlern führen. Deshalb sind Abdichtungen des über eine Einpressverbindung, siehe . Abb. 15.10,
Messelements durch Schweißverbindungen vorzu- sichergestellt. Spezifisch ist, dass das Luftvolumen
ziehen. Für Messzellen ist eine Driftüberwachung in im Sensor minimal ausgelegt ist, sodass keine be-
den Fällen vorzusehen, bei denen dem Absolutwert sondere Entlüftung notwendig ist. Die Bremsflüs-
des Drucks eine Sicherheitsfunktion zugeordnet ist. sigkeit ist in der Erstbefüllung entgast und somit in
238 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

Kontaktflächen
1 Gehäuse Steckerkontakt

Verstärkerplatine
2 Dichtung
Gehäuse

3 Feder
Messzelle
Verstärkerplatine

4 Dichtung
Distanzring MID Träger

Messzelle

5 Druckstutzen
Gehäuse
Bondbrücke

6
.. Abb. 15.9  Typischer Aufbau eines Drucksensors im Brems-
Kontakt-
7
regelsystem (Schraubversion)
klebung Druckstutzen

der Lage, dieses kleine Luftvolumen zu absorbieren.


8 Die Verstärker-IC sind auf diesen Anwendungsfall .. Abb. 15.10  Typischer Aufbau eines Drucksensors in MID
spezifisch entwickelt und verfügen über Abgleich- (Molded Interconnect Device) Technologie für ein Bremsre-
9 strukturen zur Anpassung von Empfindlichkeit, Off- gelsystem mit Einpresstechnik [14].
set und Temperaturgang. Dieser Abgleich wird in
15.3.5.1 Technische Daten
10 der Fertigung vorgenommen und über Druck (Luft)
Drucksensor
und Temperatur ausgeführt. In der Abdichtung ge-
genüber äußeren Einflüssen wird in der Konstruk- Elektrische Kennwerte
11 tion unterschieden, ob sich der Sensor im Hydrau- Falls keine andere Temperatur angegeben ist, wird
likaggregat oder außerhalb im Motorraum befindet. eine Umgebungstemperatur von –40 °C bis +120 °C
12 angenommen.

13 Funktion Minimal Typisch Maximal Einheit

Versorgungsspannung (normaler Betrieb) 4,75 5,0 5,25 V


14 Einschaltverzögerung (Ausgangssignal während dieser Zeit nicht 10,0 ms
spezifiziert)
15 Versorgungsspannungsbereich ohne Zerstörung –5,25 16,0 V

Stromaufnahme (normaler Betrieb) 9,0 20,0 mA


16 Unterspannungserkennung (Versorgungsspannung, Ausgangssi- 3,7 4,2 V
gnal auf Alarm geschaltet)
17 Überspannungserkennung (Versorgungsspannung, Ausgangssi- 6,0 7,5 V
gnal auf Alarm geschaltet)

18 Unterbrechungserkennung, Kabelbruch der Signal-, Masse- oder 96 % 100 % V


Versorgungsleitung (bezogen auf Versorgungsspannung)

19 Kurzschlusserkennung, Signal-/ Versorgungsleitung (bezogen auf


Versorgungsspannung)
96 % 100 % V

20 Kurzschlusserkennung, Signalleitung/Masse (bezogen auf Versor-


gungsspannung)
0 % 4 % V
15.3  •  Technische Sensorkenndaten für Fahrerassistenzsysteme
239 15

Funktion Minimal Typisch Maximal Einheit

Kurzschlusserkennung, Versorgungsleitung/Masse (Sensor mit 34 % V


Steuergerät verbunden, bezogen auf Versorgungsspannung)

Kurzschlusserkennung, Versorgungsleitung/Masse (Sensor ver- 100 % V


bunden mit Lastwiderstand, bezogen auf Versorgungsspannung)

Funktionsdaten
Funktionskennwerte

Funktion Minimal Typisch Maximal Einheit

Druckbereich, nominal 0 250 bar

Maximaler Druck 350 bar

Druck bei Zerstörung 500 bar

Maximaler Unterdruck –1,0 bar

Volumenanstieg 0,05 cm3

Resonanzfrequenz der Membrane 200 kHz

Untere Abschaltfrequenz 0 0 0 Hz

Obere Abschaltfrequenz (–3 dB); festgelegt durch feste Filter- 150 Hz


koeffizienten

Nominalfrequenz 100 Hz

Phasenfehler (bei Nominalfrequenz) 35 °

15.3.6 Bremspedalwegsensoren
2
1
Für die Messung des Bremspedalweges haben sich
magnetische Verfahren durchgesetzt [15]. In dieser
Anwendung ist eine berührungslose Erfassung der
Änderung und eine hohe Signalsicherheit wich-
tig. Die Änderungen können Drehbewegungen
oder Linearbewegungen sein, abhängig von der
Konstruktion der Bremsbetätigungseinheit, siehe
Bx
. Abb. 15.11. Der bewegte Magnet ist spezifisch an By
Magnet-
den zu messenden Weg in seiner Größe und Form feld IC

angepasst. Der gegenüber angeordnete Hallsensor


misst die Änderung der magnetischen Flussrich-
N S
tung sowohl in x- als auch in y-Richtung. Mit einer
arc-Tangensfunktion kann der Linearweg oder die
Winkeländerung errechnet werden. Die Auslegung .. Abb. 15.11  Funktionsdarstellung Bremspedalweg­sensor
und Anzahl der Magneten bestimmt den Mess- als linearer Wegsensor (1) oder Winkelsensor (2)
bereich und die Empfindlichkeit des Sensors. Die
Signale werden redundant, mit gekreuzten Kennli- spannung, ausgegeben. Die Plausibilisierung der
nien und Überwachungsbändern für die Erkennung Ausgangssignale wird aus dem Summensignal der
des Kurzschluss nach Masse und zur Versorgungs- Ausgangssignale erzeugt.
240 Kapitel 15  •  Fahrdynamiksensoren für FAS

Funktionsdaten
1 Bremspedalweg

2 Kriterium Wert Einheit

Spannungsversorgung 5,0 V
3 Stromaufnahme <30 mA

Ausgangssignal 1kHz (10...90%) PWM


4 Messbereich abhängig vom typ. 45 linear mm
Magnet
typ. 30 rotatorisch °
5 Auflösung 10 bit

6 Genauigkeit

Betriebstemperaturbereich –40 ... +120 °C

7
Funktionskennwerte
Bremspedalweg
8
Funktion Wert Einheit
9 Spannungsversorgung 5,0 V

10 Stromaufnahme <30 mA

Ausgangssignal 1kHz (10...90%) PWM

11 Messbereich abhängig vom


Magnet
typ. 45 linear mm

typ. 30 rotatorisch °

12 Auflösung 10 bit

Genauigkeit +/– 0,4 %

13 Genauigkeit bezogen auf 45mm typ. +/– 0,18 mm


Weg

14 Betriebstemperaturbereich –40 ... +120 °C

15 Literatur temtechnik und Sensortechnologie“, Böblingen, 25.–


26. 10. 2006

16 [1] Mörbe, M., von Hörsten, C.: Force and Torque Sensors. In:
[5] Welsch, W.: Intelligente Schnittstellen für Raddrehzahlsen-
soren. In: sensor4car‐Tagung „Sensorsystemtechnik und
Hesse, J., Gardner, J.W., Göpel, W. (Hrsg.) Sensors for Au- Sensortechnologie“, Böblingen, 25.–26. 10. 2006
tomotive Technology, Bd. 4, Wiley‐VCH Verlag, Weinheim
17 (2003)
[6] Golderer, W., et al.: Yaw Rate Sensor in Silicon Micromachi-
ning Technology for Automotive Aplications. In: Ricken,
[2] Mörbe, M., Zwiener, G.: Wheel‐Speed Sensors. In: Hesse, D.E., Gessner, W. (Hrsg.) Advanced Microsystems for Auto-
18 J., Gardner, J.W., Göpel, W. (Hrsg.) Sensors for Automotive
Technology, Bd. 4, Wiley‐VCH Verlag, Weinheim (2003)
motive Applications. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg,
New York (1998)
[3] Walter, K.; Arlt, A.: Drahtlose Sensorik – Anforderungen in [7] Willig, R.; Mörbe, M.: New Generation of Inertial Sensor
19 sicherheitskritischen Fahrdynamiksystemen. In: sensor-
4car‐Tagung „Sensorsystemtechnik und Sensortechnolo-
Cluster for ESP‐ and Future Vehicle Stabilizing Systems in
Automative Applications. SAE Permissions, Warrendale,
gie“, Fellbach, 24.–25. 10. 2007 USA 2003
20 [4] Mörbe, M.: Standardisierung von Sensorschnittstellen
– Chance oder Risiko. In: sensor4car‐Tagung „Sensorsys-
[8] Schier, J., Willig, R., Miekley, K.: Mikromechanische Senso-
ren für fahrdynamische Regelsysteme. ATZ 107, 11 (2005)
Literatur
241 15
[9] Axten, E., Schier, J.: Inertial Sensor Performance for Diverse
Integration Strategies in Automotive Safety. In: Valldorf, J.,
Gessner, W. (Hrsg.) Advanced Microsystems for Automotive
Applications. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York
(2007)
[10] Hagleitner, C., Kierstein, K.-U.: Circuit and Sytem Integra-
tion. In: Brand, O., Fedder, G.K. (Hrsg.) CMOS‐MEMS. Wiley‐
VCH Verlag, Weinheim (2005)
[11] Willig, R., Lemejda, M.: A new inertial sensor unit for dy-
namic stabilizing systems of powered two wheelers 9th
International Motorcycle Conference, Köln, 1.–2. 10. 2012.
(2012)
[12] Tille, T. et al.: Sensoren im Automobil V, Haus der Technik
Fachbuch Band 132, Expert Verlag, Renningen (2014)
[13] Mörbe, M.: Advanced systems for motorcycles based on
inertial sensors. In: 5th International Conference, Develop-
ment Trends of Motorcycles, Budrio, 18.–19. 10. 2012
[14] Carl Hanser Verlag, München: Kleines Teil, große Wirkung.
In: Form+Werkzeug 5/2011 S. 24, 25
[15] Walter, K.: Erfassung des Fahrerbremswunsches in Hybrid‐
und Elektrofahrzeugen. In: VDI‐Fachkonferenz „Innovative
Bremstechnik“, Stuttgart, 12.–13. 12. 2011
243 16

Ultraschallsensorik
Martin Noll, Peter Rapps

16.1 Einleitung – 244
16.2 Grundlagen der Ultraschallwandlung  –  244
16.3 Ultraschallwandler  – 246
16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz  –  248
16.5 Antennen und Strahlgestaltung  –  250
16.6 Entfernungsmessung – 252
16.7 Halter- und Befestigungskonzepte  –  255
16.8 Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit  –  256
16.9 Zusammenfassung und Ausblick  –  257
Literatur – 258

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
244 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

16.1 Einleitung piezoelektrische Effekt immer zusammen auftreten,


1 können Piezowandler sowohl zum Aussenden als
Ultraschallsensoren werden in unterschiedlichs- auch zum Empfangen von Schall eingesetzt werden.
2 ten Anwendungsbereichen eingesetzt. Beispielhaft
seien hier die Werkstoffprüftechnik, medizinische
Diagnostik, Unterwassersonar sowie industrielle 16.2.2 Piezoelektrische Keramiken
3 Näherungsschalter erwähnt. Die physikalischen
Grundlagen und zahlreiche Anwendungsbeispiele 16.2.2.1 Materialien
4 werden in der Literatur vielfältig beschrieben; [1, 2, In der heutigen Praxis zählen ferroelektrische Ke-
3, 4]. Die Verwendung im Automobil hat dagegen ramiken zu den weit verbreitetsten Werkstoffen mit
5 erst vergleichsweise spät mit der Einführung von ul- piezoelektrischem Effekt. Es gibt auch organische
traschallbasierten Einparkhilfesystemen Anfang der Materialien, die den piezoelektrischen Effekt auf-
neunziger Jahre eingesetzt und seitdem eine weite weisen. Doch spielt ihr Einsatz wegen ihrer gerin-
6 Verbreitung gefunden. geren Robustheit im Kraftfahrzeug bis heute keine
Dieses Kapitel dient daher einer detaillierten Be- Rolle.
7 trachtung der spezifischen Anforderungen und Aus- Die derzeit wichtigsten piezoelektrischen kera-
legung von Ultraschallsensorkomponenten für den mischen Werkstoffe basieren auf dem oxidischen
Einsatz im Bereich der Einparkassistenzsysteme. Mischkristallsystem Bleizirkonat und Bleititanat,
8 Einen breiteren Raum nehmen dabei zu Beginn die das als Bleizirkonattitanat (PZT) bezeichnet wird.
piezokeramischen Ultraschallwandler ein, die vor Die spezifischen Eigenschaften dieser Keramiken
9 allem aufgrund ihrer robusten Umwelteigenschaften wie die hohe Dielektrizitätszahl hängen vom mola-
für die Anwendung im Automobil besonders geeig- ren Verhältnis von Bleizirkonat zu Bleititanat sowie
10 net sind und sich breitflächig durchgesetzt haben. von der Substitution und Dotierung mit zusätzli-
chen Elementen ab. Daraus ergeben sich vielfältige
Modifikationsmöglichkeiten für Werkstoffe mit un-
11 16.2 Grundlagen terschiedlichsten Eigenschaften.
der Ultraschallwandlung Unterhalb der so genannten Curietemperatur
12 stellt sich innerhalb des Gitters einer Zelle eine
16.2.1 Piezoelektrischer Effekt Asymmetrie der Verteilung von positiver und ne-
gativer elektrischer Ladung ein. Daraus resultiert
13 Der 1880 von Jacques und Pierre Curie entdeckte ein permanentes elektrisches Dipolmoment der
piezoelektrische Effekt besteht aus einer linearen einzelnen Zelle (. Abb. 16.1). Die Ferroelektrizität
14 elektromechanischen Wechselwirkung zwischen ergibt sich durch die Herausbildung von Domänen
den mechanischen und den elektrischen Zuständen mit einheitlicher elektrischer Polarisation, die durch
15 in einem Kristall. Eine mechanische Deformation die Polung, d. h. das kurzzeitige Anlegen eines star-
des Kristalls erzeugt eine zu dieser Deformation ken elektrischen Gleichfeldes, ausgerichtet werden.
proportionale elektrische Ladung, die als elektri- Diese Polung ist mit einer Längenänderung der Ke-
16 sche Spannung abgegriffen werden kann (direkter ramik verbunden.
piezoelektrischer Effekt). Umgekehrt kann durch Im Zuge der Bestrebungen, im Kraftfahrzeug
17 Anlegen einer elektrischen Spannung an den Kris- auf Blei möglichst zu verzichten, wird auf dem Ge-
tall in diesem eine mechanische Deformation er- biet bleifreier piezoelektrischer Keramiken intensiv
zeugt werden (reziproker oder inverser piezoelekt- gearbeitet. Jedoch sind auf Grundlage dieser For-
18 rischer Effekt). Damit eignen sich piezoelektrische schungen kurzfristig noch keine Alternativen zu
Materialien prinzipiell zum Erzeugen mechanischer den heutigen Keramiken zu erwarten.
19 Schwingungen bzw. zum Erzeugen von Deformati-
onen durch Anlegen elektrischer Felder und umge- 16.2.2.2 Herstellung
20 kehrt als Sensoren für mechanische Schwingungen Ausgangspunkt der Herstellung piezoelektrischer
bzw. Deformationen. Da der direkte und der inverse Keramiken vom Typ PZT sind Oxide der Metalle
16.2  •  Grundlagen der Ultraschallwandlung
245 16
16.2.2.3 Hysterese
Analog zum Ferromagnetismus zeigen ferroelekt-
rische Materialien einen Zusammenhang zwischen
angelegtem elektrischen Feld E und Polarisation Pf
in Form einer Hysterese, wie in . Abb. 16.2 schema-
tisch dargestellt.
Beim Polarisieren wird die Neukurve durch-
fahren, und nach dem Abschalten des elektrischen
Feldes verbleibt die remanente Polarisation Pr .

16.2.2.4 Piezoelektrische Konstanten


Aufgrund der anisotropen Natur der gepolten Pi-
ezokeramiken sind die physikalischen Konstanten
wie Elastizität und Permittivität Tensoren, wobei
die Polungsrichtung in der Regel der z-Achse und
dem Index 3 zugeordnet wird. Die x- bzw. y-Achse
.. Abb. 16.1 Kristallgitter mit den Indizes 1 und 2 bezeichnen dazu senkrecht
stehende Achsen.
Blei, Titan und Zirkonium, die nach dem Mischen Die Dielektrizitätskonstante ε33/ε0 liegt typi-
kalziniert werden. Bei diesem thermischen Vorgang scherweise im Bereich zwischen 1500 und 3000.
entsteht durch die chemische Verbindung der Stoffe Eine weitere wichtige Kenngröße ist der Koppel-
das Mischkristallsystem. Das beim Kalzinieren ent- faktor, der das Verhältnis von umgewandelter Ener-
standene Material wird gemahlen und mit Zusatz- gie zu aufgewendeter Energie beschreibt. Im Falle
stoffen aufbereitet, woraus die so genannte grüne von Ultraschallwandlern mit dünnen piezokera-
Keramik entsteht. In diesem Zustand ist das kerami- mischen Scheiben ist der planare Koppelfaktor kp,
sche Material noch weich und kann leicht in die ge- der die Kopplung zwischen dem elektrischen Feld
wünschte Form gebracht werden. Nach der Herstel- in z-Richtung und den mechanischen Effekten in
lung der gewünschten Form erfolgt das Aufbringen x- bzw. y-Richtung beschreibt, von besonderer Be-
der Elektroden durch eine geeignete Metallisierung deutung.
der Keramikoberfläche. Gebräuchliche Verfahren Der Koppelfaktor beim Ultraschallwandler ist
sind elektrochemisches Abscheiden von Metallen, sowohl vom keramischen Material als auch von der
Bedampfen, Sputtern oder die Dickschichttechnik. Konstruktion des Ultraschallwandlers abhängig.
Bei letztgenanntem Verfahren wird eine Paste aus Angaben zum Koppelfaktor in Keramikdatenblät-
Metallpartikeln, organischen und anorganischen tern beziehen sich auf eine Standardscheibe und
Bindemitteln aufgesprüht oder aufgedruckt und liegen typisch im Bereich 0,6 bis 0,7.
anschließend eingebrannt. Es muss dabei beachtet
werden, dass die anorganischen Bestandteile des 16.2.2.5 Depolarisation
Binders zu einem gewissen Anteil in die Keramik Für den Einsatz von Piezokeramiken sind ihre be-
hineinwandern und die piezoelektrischen Eigen- sonderen Alterungseffekte zu beachten, die zur Ver-
schaften verändern. Die Formgebung der Elektroden änderung der Materialeigenschaften im Laufe der
erfolgt entweder durch Siebdruck oder im Falle des Nutzungsdauer (im Fahrzeug bis zu 20 Jahre) füh-
Aufsprühens durch nachträgliche Laserbearbeitung. ren können. Der hauptsächliche Alterungseffekt ist
Beim Polarisieren wird eine elektrische Gleich- dabei die allmähliche Depolarisation des Materials,
spannung an die Elektroden angelegt. Die Höhe der die bereits unmittelbar nach dem Polarisieren ein-
Spannung wird nach oben durch die Durchbruch- setzt und sich logarithmisch über der Zeit fortsetzt.
spannung in der Keramik begrenzt, nach unten durch Zur Stabilisierung des Materials kann eine Voral-
die spätere Betriebsspannung, wobei die Polarisati- terung durch Lagerung unter erhöhter Temperatur
onsspannung immer über derselben liegen muss. zum Einsatz kommen.
246 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

.. Abb. 16.2  Ferroelektrische Hystere-


1 seschleife

2
3
4
5
6
7
Weitere depolarisierende Mechanismen sind zukoppeln bzw. aus ihr wieder einzukoppeln. Die
8 thermischer, elektrischer und mechanischer Natur. mechanische Deformation der Piezokeramik selbst
Durch Erwärmen baut sich die piezoelektrische reicht dafür nicht aus, weswegen eine mechanische
9 Eigenschaft beschleunigt ab. Oberhalb der Curie- Verstärkung des Effekts erforderlich ist. Dies ge-
temperatur, die bei den gebräuchlichen Materialien schieht bei gebräuchlichen Kfz-Ultraschallabstands-
10 im Kfz-Bereich über 300 °C liegt, verschwindet der sensoren, indem ein piezokeramisches Plättchen
Piezoeffekt vollständig und entsteht auch nach dem flächig auf eine metallische Membran geklebt wird.
Abkühlen erst wieder nach erneuter Polarisation. In Wird zwischen die Elektroden eine Wechselspan-
11 der Praxis gilt die Faustformel, dass die Gebrauchs­ nung angelegt, so verändert es seinen Durchmesser
temperatur maximal die halbe Curie-Temperatur in und seine Dicke (. Abb. 16.3). Da das Plättchen auf
12 °C betragen darf. eine metallische Membran geklebt ist, übertragen
Auch durch Anlegen eines elektrischen Gleich- sich diese Änderungen in eine Biegeschwingung der
feldes entgegengesetzt zur Polarisationsrichtung Membran, die – wenn sie mit Resonanzfrequenz be-
13 entsteht eine Depolarisation. Gleichermaßen wirkt trieben wird – wesentlich größere Schwingungsam-
eine mechanische Kraft, die entgegengesetzt zur plituden erzeugt.
14 mechanischen Deformation, die während des Pola- In umgekehrter Weise führt eine auftreffende
risierens eingetreten ist, anliegt. Durch die mecha- Schallwelle zu einer Biegeschwingung der Memb-
15 nische Konstruktion des Ultraschallwandlers und ran und damit zu einer Durchmesseränderung des
durch seine elektrische Beschaltung muss sicher piezokeramischen Plättchens. Dadurch entsteht
gestellt werden, dass diese depolarisierenden Wir- zwischen den Elektroden eine elektrische Wechsel-
16 kungen über seiner Lebensdauer vernachlässigbar spannung, die verstärkt und elektrisch weiterver-
klein bleiben. arbeitet wird. Meistens werden Ultraschallwandler
17 sowohl zum Senden als auch zum Empfangen von
Ultraschall eingesetzt.
16.3 Ultraschallwandler Die schwingende Membran muss an ihrem
18 Rand fixiert werden. In der Praxis geschieht dies
Ultraschallwandler, die den Schall in Luft abstrahlen dadurch, dass man die piezokeramische Scheibe
19 bzw. aus der Luft wieder empfangen sollen, sind – auf den Boden eines Aluminium-Töpfchens klebt.
im Unterschied zu Anwendungen in Flüssigkeiten Der Boden wirkt als Membran, die stabilen Seiten-
20 und Festkörpern – auf relativ große Amplituden an- wände des Töpfchens fixieren die Membran außen.
gewiesen, um ausreichend Energie in die Luft aus- Die Schwingung konzentriert sich überwiegend auf
16.3 • Ultraschallwandler
247 16
.. Abb. 16.3  Planare Schwingung einer piezoke-
ramischen Scheibe

die Membran, jedoch nehmen die Seitenwände in


geringem Maße ebenfalls an der Bewegung teil. Das
ist insofern von Bedeutung, weil damit die Einspan-
nung des Topfes auf die Membranbewegung Ein-
fluss nimmt.
Die Membran wird üblicherweise auf der
Grundschwingung angeregt (siehe . Abb.  16.4).
Höhere Moden sind im Prin­zip auch nutzbar, füh-
ren jedoch zu starker Nebenkeulenbildung, die sich
negativ auf die räumli­chen Detektionseigenschaften
auswirkt.
Um den Wandler robuster und leichter be-
herrschbar zu machen, muss die Innenseite der
Membran gezielt akustisch bedämpft werden, z. B.
durch Einbringen eines Silikonschaums, dessen
Material und Zellstruktur an die Arbeitsfrequenz .. Abb. 16.4  FEM-Simulation der schwingenden Membran
angepasst sind. (in Resonanz angeregter Topfboden)

Zwar wird dadurch der Wirkungsgrad des Wandlers

-
reduziert, doch die Vorteile sind: 16.3.1 Ersatzschaltbild
Die schädliche Schallabstrahlung ins Sensorin-

- nere wird sofort absorbiert;


Robustheit gegenüber externen Belägen auf
der Membran (z. B. durch Schmutz oder
Feuchtigkeit) und frequenzverändernden Tem-
Ein piezokeramischer Ultraschallwandler kann in
der Nähe seiner Resonanz durch ein elektrisches
Ersatzschaltbild (. Abb.  16.5) dargestellt werden,
das aus einem seriellen Schwingkreis mit Parallel-
peratur-/Alterungseinflüssen wird erhöht. kapazität C0 besteht.
Dabei entsprechen den elektrischen Größen Cs
Für ultraschallbasierte Einparkassistenzsysteme und Ls die mechanischen Größen der Federsteifig-
hat sich eine Arbeitsfrequenz im Bereich um 40 keit der Membran und ihrer schwingenden Masse.
bis 50 kHz als der beste Kompromiss zwischen Rs bringt die Verluste durch Reibung, ferroelekt-
den konkurrierenden Forderungen nach guter rische Hysterese und Schallabstrahlung zum Aus-
Systemperformance (Empfindlichkeit, Reichweite druck. Die serielle Resonanzfrequenz ergibt sich zu
etc.) einerseits und hoher Robustheit gegenüber
Fremdschallgeräuschen andererseits erwiesen. 1
fs D p
Höhere Frequenzen führen zu geringeren Echo- 2 Ls  Cs
amplituden durch stärkere Luftschalldämpfung,
während für tiefere Frequenzen der Anteil von C0 ist die Plattenkapazität der Piezokeramik. Der
Störschallquellen in der Fahrzeugumgebung im- Wert für C0 ist im eingeklebten Zustand der Ke­
mer mehr zunimmt. ramik deutlich kleiner als vor dem Verkleben,
248 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

.. Abb. 16.5  Ersatzschaltbild eines Ultra-


1 schallwandlers mit Parallelabstimmung

2
3
4
5
6
7
wenn sich die mechanische Deformation ungehin­ während für das anschließende Ausklingverhalten
8 dert ausbilden kann. Zur Erhöhung der Bandbreite nochmals ca. 700 µs vergehen.
des Systems wird der Wandler paral­lel oder seriell
9 abgestimmt. . Abbildung 16.5 zeigt eine Parallelab-
stimmung: Der elektrische Parallel­kreis muss auf 16.4 Ultraschallsensoren für das Kfz
10 dieselbe Resonanzfrequenz abgestimmt sein wie
der mechanische Serienkreis. Die Grundfunktion eines Ultraschall-Einparkhilfe-
Da die Kapazität C0 der Piezokeramik eine aus- systems, die wichtigsten Merkmale der zugehörigen
11 geprägte positive Temperaturabhängigkeit aufweist, Komponenten und deren Zusammenwirken sind
ist es zweckmä­ßig, diesen Effekt durch eine parallele in [5] beispielhaft beschrieben. Im Folgenden wird
12 Kapazität mit negativer Temperaturabhängig­keit zu auf die Eigenschaften der Sensoren nochmals de-
kompensieren. Damit kann die Resonanzfrequenz taillierter eingegangen, da sie den Kern eines jeden
des elektrischen Kreises temperaturstabil gehalten Systems darstellen sowie Funktion und Qualität des
13 werden. Gesamtsystems grundlegend beeinflussen.
Wird ein Ultraschallwandler im Sende- und
14 Empfangsbetrieb eingesetzt, so ist es für die
Abstands­ messung zu nahe gelegenen Objekten 16.4.1 Sensorbaugruppen
15 notwendig, dass die Membranschwingung nach
dem aktiven Sendesignal in möglichst kurzer Zeit Die Hauptkomponenten des Sensors bestehen aus
zur Ruhe kommt, um das System mög­lichst rasch dem akustischen Wandlerelement (analog einer
16 wieder empfangsfähig werden zu lassen. Schnelles Kombination aus Lautsprecher und Mikrofon), der
Ausschwing- bzw. Abklingverhalten ist daher insbe- Elektronik und dem Gehäuse mit Steckverbindung.
17 sondere bei Einparkhilfeanwendungen ein wesent- Ein exemplarischer Aufbau ist in . Abb. 16.6 dar-
liches Qualitäts- und Funktionsmerkmal der dafür gestellt.
eingesetzten Ultraschallsensoren.
18 Umgekehrt ist es im Sendebetrieb von Vorteil, 16.4.1.1 Akustisches Wandlerelement
wenn die mechanische Schwingung der Membran Der akustische Teil des Ultraschallsensors wird
19 nach Anle­gen der elektrischen Wechselspannung im Wesentlichen aus einem topfförmigen Alumi-
möglichst rasch aufklingt. Damit sind kürzere Ul- niumkörper gebildet, auf dessen Innenboden die
20 traschallimpulse möglich. Praktische Werte für die Piezokeramikscheibe aufgeklebt ist. Beim Verbau
effektive Sendedauer liegen typisch bei ca. 300 µs, im Fahrzeug schließt dieser so genannte Membran-
16.4  •  Ultraschallsensoren für das Kfz
249 16

Piezokeramik ist durch die Verwendung dünner


Litzen oder Drähte so zu gestalten, dass darüber
keine akustische Kopplung auf die Leiterplatte er-
folgt.

16.4.1.2 Elektronik
Alle im Kfz eingesetzten Ultraschallabstandsen-
soren enthalten Elektronikkomponenten, deren
Umfang abhängig von der Systemauslegung (Parti-
tionierung Sensor und Auswertesteuergerät) stark
variieren kann. Eine grobe Klassifikation kann in

--
folgende drei Typen vorgenommen werden:
Sensoren mit rein analoger Schnittstelle

- Sensoren mit rein digitaler Schnittstelle


Sensoren mit zeitanaloger Datenschnittstelle

Sensoren mit rein analoger Schnittstelle wer-


den beim Senden mit einer Wechselspannung
angesteu­ert und liefern das rohe oder (vor-)ver-
stärkte analoge Echosignal an das übergeordnete
Steuergerät zu­rück. Der Elektronikumfang besteht
dabei aus einigen wenigen passiven und diskreten
aktiven Komponen­ten. Bei Sensoren mit rein di-
gitaler Schnittstelle wird dagegen direkt im Sen-
sor aus der Laufzeit des Ultraschallimpulses ein
Abstand errechnet und als Datum ans Steuergerät
gemeldet.
Am gebräuchlichsten sind Sensoren mit zeit-
.. Abb. 16.6  Schnittbild Sensormodul 1 Piezokeramik,
analoger Datenschnittstelle, die typischerweise
2 Membrantopf, 3 Entkopplungsring, 4 Kontaktträger, 5
Leiterplatte, 6 Übertrager, 7 ASIC-Baustein, 8 Gehäuse mit
durch einen Puls zum Senden angesteuert wer-
Steckverbindung den, des­sen Länge die Sendedauer vorgibt. Auf
der gleichen – bidirektionalen – Signalleitung lie-
topf mehr oder weniger bündig mit der Außenhaut fert die Elektronik zum Zeitpunkt des Empfangs
des Stoßfängers ab und ist in der Regel an die Farbe eines Echos einen Schaltimpuls an das Steuergerät
der Einbauumgebung angepasst. Entscheidend bei zurück. Die Abstandsinformation ist in der zeitli-
der Konstruktion und dem Aufbau des akusti- chen Differenz zwischen den zwei Schaltflanken
schen „Frontend“ ist die vollständige Entkopplung von Sende- und Echoimpuls enthalten. Die Emp-
der Membranschwingung von dem Sensorgehäuse findlichkeit der Echodetektion kann da­bei eine
und dem Einbauhalter im Fahrzeug. Deshalb wird programmierbare Zeit- bzw. Abstandsabhängig-
der Membrantopf in einen Entkopplungsring aus keit enthalten, um den unterschiedlichen Einbau-
weichem Silikon eingebettet, dessen akustische randbedingungen im Fahrzeugstoßfänger (Höhe,
Eigenschaften über dem gesamten Einsatztempe- Winkel, lateraler Einbauabstand, vorstehende An-
raturbereich – insbesondere bei tiefen Tempera- bauteile wie Anhängekupplung, Kennzeichenträ-
turen – nahezu unverändert bleiben. Das Design ger etc.) möglichst universell gerecht zu werden.
des Membrantopfes ist zu­dem so optimiert, dass Das Blockschaltbild mit den Hauptfunktionen
die Randschwingungen im Bereich der äußeren Sendesignalerzeugung, Echosignalaufbereitung
Einspannung möglichst kleine Amplituden auf- und Zeitablaufsteuerung eines solchen Sensors ist
weisen. Auch die elektrische Kontaktierung der in . Abb. 16.7 dargestellt.
250 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

1
2
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 16.7  Blockschaltbild Ultraschallsensor mit zeitanaloger Datenschnittstelle

16.4.1.3 Gehäuse einen großen effektiven Öffnungswinkel aufweisen


9 Das Sensorgehäuse hat neben dem Schutz des Wand- (ca. 120° bis 140° für die Erkennung eines Referen-
lers und der Elektronik vor Umwelteinflüssen die zobjekts im Nahbereich bis ca. 50 cm). Gleichzeitig
10 Aufgabe, die Steckverbindung zum Kabelbaum und muss jedoch der vertikale Öffnungswinkel so gering
das Verklipsen im Sensorhalter zu ermöglichen. In ausgelegt sein, dass Reflexionen von der Fahrbahn
der Regel wird wegen des Verbaus im Spritzwasser- – insbesondere bei schlechter Wegstrecke, z. B. ge-
11 bereich des Fahrzeugs das Gehäuse mit einem Ver- schottertem/gepflastertem Untergrund – keine Sig-
gussmaterial ausgefüllt, welches die Elektronik was- nale hervorrufen, die zu einer Pseudo-Hindernisan-
12 serdicht umschließt und gleichzeitig verhindert, dass zeige führen. In der Praxis hat sich für den Einbau
undefinierte Hohlräume das akustische Verhalten der Sensoren im Stoßfänger ein effektiver vertikaler
negativ beeinträchtigen. Das Vergussmaterial ist so Öffnungswinkel bewährt, der mit ca. 60° bis 70° nur
13 zu wählen, dass es unter Temperaturwechseln zu kei- ungefähr halb so groß ist wie horizontal.
nen Bauteil- oder Lotschäden der Elektronik kommt.
14
16.5.1 Simulation
16.5 Antennen und Strahlgestaltung
15
Kurze Entwicklungszeiten und unterschiedlichste
Die Richtcharakteristik oder das Antennendia- Einbaurandbedingungen der Sensoren im Stoßfän-
16 gramm eines Ultraschall-Einparkhilfesensors ist ger erfordern bereits in einem sehr frühen Projekt-
eines der entscheidenden Merkmale für die Qua- stadium eine effiziente und genaue Vorhersage der
17 lität der resultierenden Objektdetektion und der zu erwartenden akustischen Sensorperformance in
darauf aufbauenden Umfelderfassungsfunktion. Abhängigkeit vom Einbauort, Einbauwinkel und
Sie sollte räumlich homogen verlaufen, d. h. keine vor allem der jeweiligen Einbauumgebung. Ausge-
18 nennenswerten Interferenzeffekte oder Nebenkeu- reifte Simulationsmethoden, -modelle und -werk-
len aufweisen, um die Winkelabhängigkeit der Sen- zeuge sind hier das ideale Hilfsmittel, um verlässli-
19 sorperformance so gering wie möglich zu halten. che Aussagen bereits in der Designphase zu treffen,
Zur lückenlosen Überdeckung der Fahrzeugbreite ohne auf kostspielige und zeitaufwendige Anferti-
20 mit einer geringstmöglichen Zahl von Sensoren gung von prototypischen Teilen und darauf aufbau-
sollte außerdem die horizontale Schallverteilung enden Versuchen angewiesen zu sein.
16.5  •  Antennen und Strahlgestaltung
251 16
.. Abb. 16.8  3D-Simulation von Schalldruckver-
teilung bei planarem Sensoreinbau (homogener
Winkelverlauf ) und vertieftem Einbau, bedingt
durch Neigung von Stoßfängerfläche zu Mem-
branoberfläche (starke Einschnürung aufgrund
Interferenz-/Nebenkeulenbildung an vorstehen-
der Einbauumgebung)

Für die Schallabstrahlung hat sich in den letz- die räumlichen Empfangseigenschaften haben kann.
ten Jahren die Randelementmethode (englisch: Als Beispiel zeigt . Abb. 16.8 den Unterschied eines
Boundary Element Method, BEM) als am besten planaren Sensoreinbaus (links) gegenüber einem
geeignet bewährt. Hierbei wird im Gegensatz zur leicht vertieften Einbau (rechts), der in einer starken
Finite-Elemente-Methode (FEM) bei dreidimensio- Einschnürung der Schallkeule resultiert und somit
nalen Problemstellungen nur die schallabstrahlende eine sehr inhomogene Detektionsleistung nach sich
Oberfläche diskretisiert, nicht aber zusätzlich das ziehen würde. Mithilfe der Simulation können sol-
umgebende Volumen. Der notwendige Rechenauf- che unerwünschten Interferenzeffekte zwar nicht
wand wird dabei wegen der deutlich geringeren An- vollständig vermieden, jedoch weitestgehend mini-
zahl von Stützstellen signifikant reduziert. miert werden, indem die beeinflussende Geometrie
Die Abstrahlungseigenschaften eines im Fahr- gezielt auf eine möglichst homogene Abstrahlvertei-
zeugstoßfänger verbauten Ultraschallwandlers lung optimiert wird.
unterliegen mehreren Einflussgrößen. Zum einen Auf Basis der berechneten Abstrahlung kann
hängen sie wesentlich von der Schwingschnellever- dann unter Berücksichtigung der Luftschalldämp-
teilung auf der durch die Piezokeramik angeregten fung und der Schallreflexion an definierten Hinder-
Membran ab. Diese kann sowohl experimentell als nissen zusätzlich auch das Sichtfeld in Abhängigkeit
auch ebenfalls durch Simulation bestimmt werden von der Hindernisgeometrie bestimmt werden. So-
(siehe . Abb. 16.5). Zusätzlich sind die klimatischen wohl für die Schalldämpfung als Funktion vom Me-
Randbedingungen und dabei vor allem die Tempe- dium (hier: Luft), Temperatur und Feuchte (Was-
ratur zu beachten, da diese über die Schallgeschwin- serdampfgehalt der Luft) als auch für die Reflexion
digkeit Einfluss auf die Wellenlänge in Abhängig- an Objekten können Modelle der einschlägigen
keit der angeregten Frequenz nimmt. Letztendlich Literatur entnommen werden.
fließt noch die Geometrie in der unmittelbaren Da die Simulation, einschließlich Modellbil-
Umgebung des Wandlers ein. Insbesondere diese dung, bestimmten Grenzen und Bedingungen
Geometrie ist es, die je nach Stoßfängerdesign, unterworfen ist, sind regelmäßige Abgleiche der
Einbaukriterien, Halter- und Befestigungskon- Simulationsergebnisse mit realen Messungen zur
zept sehr starke Auswirkung auf die resultierende Validierung und Weiterentwicklung der Methoden
Schallabstrahlung und in gleicher Weise auch auf unerlässlich.
252 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

Kritischer sind die geometrischen Messunge-


1 nauigkeiten in Bezug auf die Begrenzungen des
Fahrzeugs, welche hauptsächlich durch Position,
2 Ausdehnung, Geometrie und Orientierung der zu
detektierenden Hindernisse relativ zum Sensor be-
stimmt werden. Dadurch hervorgerufene Messfehler
3 können leicht bis zu 20 cm und mehr betragen. Ent-
scheidend für die Reduzierung dieser geometrisch
4 bedingten Messfehler sind einerseits die Verwendung
mehrerer Sensoren über die gesamte Fahrzeugbreite
5 (typisch 4 oder 6) und andererseits die Anwendung
des so genannten Trilaterationsprinzips (siehe ▶ Ab-
schn. 16.6.1). Hierbei wird zu jedem Sendeimpuls ei-
6 nes Sensors sowohl das selbst empfangene Echosig-
nal (Direktecho, DE) als auch das von dem jeweiligen
7 .. Abb. 16.9  Beispiel für Signaldiagramm zweier benachbar- linken und/oder rechten Nachbarsensor empfangene
ter Sensoren (oben: Sender/Empfänger, unten: Empfänger) Echosignal (Kreuzecho, KE) für die Berechnung des
Hindernisabstands herangezogen. Dadurch lässt sich
8 16.6 Entfernungsmessung näherungsweise die Position des nächstgelegenen
Hindernisses innerhalb der Sensorebene bestimmen
9 Die Entfernungsmessung mittels Ultraschall nach und in Folge die tatsächliche Entfernung zum Fahr-
dem Puls/Laufzeitprinzip gestaltet sich wegen der zeug als Projektion auf den Stoßfänger berechnen.
10 vergleichsweise geringen Schallgeschwindigkeit . Abbildung 16.9 zeigt ein beispielhaftes Signal-
technisch sehr einfach. Auf Basis der elektronischen diagramm bestehend aus dem Sende-/Empfangssi-
Zeitmessung zwischen dem Start eines Sendeim- gnal eines aktiv betriebenen Senders (obere Bild-
11 pulses und dem Eintreffen des zurückkehrenden hälfte) und dem Empfangssignal eines benachbarten
Echosignals kann über die zugrunde liegende Luft- passiv betriebenen Empfängers (untere Bildhälfte).
12 schallgeschwindigkeit direkt die Entfernung zum Für beide Sensoren sind sowohl die digitalen
reflektierenden Hindernis berechnet werden. Signale auf der bidirektionalen Leitung zwischen
Die absolute Genauigkeit der Messung wird Sensor und Steuergerät als auch die zugehörigen
13 dabei von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Auf sensorinternen 50 kHz-Ultraschallsignale aufge-
der einen Seite sind dies die physikalischen Ab- zeichnet. Ein Gesamtsystem bestehend aus bis zu
14 hängigkeiten der Schallgeschwindigkeit von den 12 Sensoren im Front- und Heckstoßfänger muss
Eigenschaften der Luft als Ausbreitungsmedium. auf eine sorgfältig abgestimmte Zeitablaufsteuerung
15 Hier ist vor allem die Lufttemperatur die entschei- ausgelegt sein, die einerseits schnelle Wiederholra-
dende Einflussgröße, der gegenüber andere Para- ten für jeden einzelnen Sensor zulässt (notwendig
meter (z. B. Dichte) nahezu vernachlässigt werden zur Erreichung kurzer Gesamtmessdauern), ande-
16 können. Daneben spielt die Echostärke eine Rolle, rerseits aber wechselseitige Störungen durch falsche
da insbesondere bei kleinen Signalen eine Verzö- Zuordnung von Signalen unterschiedlicher Senso-
17 gerung in der Laufzeit des detektierten Signals in ren sicher vermeidet.
Kauf genommen werden muss. Diese entsteht durch
das zeitliche Aufklingen des Echosignals aufgrund
18 der begrenzten Bandbreite des piezokeramischen 16.6.1 Trilateration
Ultraschallwandlers. Wegen der vergleichsweise und Objektlokalisierung
19 geringen Anforderungen an die zentimetergenaue
Entfernungsbestimmung für Einparkhilfeanwen- Die sehr großen horizontalen Öffnungswinkel der
20 dungen sind all diese Abhängigkeiten jedoch ohne Sensoren und ihr vergleichsweise moderater Ein-
weiteres tolerierbar. bauabstand (typisch zwischen 40 cm und 70 cm)
16.6 • Entfernungsmessung
253 16

.. Abb. 16.10  Veranschaulichung des Trilaterationsprinzips zur Berechnung von Objektposition und Objektabstand D in Bezug
auf die Basislinie der beiden Sensoren S1 und S2 im Abstand d

resultieren in einer starken Überlappung der ef- Wie aus . Abb. 16.10 leicht erkennbar ist, ist diese
fektiven Erfassungsbereiche. Das ermöglicht neben Positions- und Abstandsberechnung zur Ver-
der reinen Entfernungsmessung die zusätzliche meidung von Kollisionsrisiken durch ungenaue
Positionsbestimmung der zu detektierenden Ob- Entfernungsanzeigen insbesondere für kleine
jekte relativ zum Fahrzeug. Das dabei angewandte Hindernisabstände sehr bedeutsam. Die relativen
Grundprinzip der Trilateration (siehe . Abb. 16.10) Abweichungen zwischen gemessenen (DE1, DE2)
errechnet den Schnittpunkt der beiden Kreisbögen und tatsächlichen Entfernungen (D) können gerade
mit den Radien DE1 und DE2 ( @ Laufzeiten der in diesem für den Fahrer interessantesten und nutz-
Direktechos), ausgehend von S1 und S2 im Abstand bringendsten Absicherungsbereich besonders groß
d. Die Höhe D des dabei entstehenden Dreiecks bil- werden.
det die Projektion auf die Basislinie und entspricht Die speziellen Herausforderungen bei der An-
somit dem anzuzeigenden Abstand des detektierten wendung dieses Prinzips im Bereich der Einparkas-
Objekts zum Stoßfänger. Die reale Krümmung des sistenz liegen darin, dass die zuvor gemachte An-
Stoßfängers in der Einbauebene der Sensoren kann nahme eines „punktförmigen“ Hindernisses (runder
dabei in erster Linie vernachlässigt werden oder Pfosten, Verkehrsschild, …) in der Praxis nur in we-
anhand eines Korrekturfaktors – z. B. im Bereich nigen Fällen zutrifft. Stattdessen können die zu de-
der Fahrzeugecken – mit eingerechnet werden. D tektierenden Objekte beliebige Größe, Gestalt oder
errechnet sich mit Hilfe des Satzes von Pythagoras räumliche Orientierung haben. Beispielhaft dafür
nach der Formel sind in . Abb. 16.11 drei einfache „Szenen“ für (a)
ein zylindrisches Objekt, (b) eine parallele Wand
q
.d 2 CDE12 DE22 /
2 und (c) eine schräge Wand dargestellt.
DD DE12  4d 2 Für die Beherrschung dieser Vielfalt an realen
Szenen von unterschiedlichen Objekttypen sorgt
eine algorithmische Verarbeitung aller zur Ver-
254 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

1
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.. Abb. 16.11  Darstellung der kürzesten Echolaufwege für Direktecho (DE) und Kreuzecho (KE) am Beispiel von zwei benach-
11 barten Sensoren und unterschiedlichen Objekttypen / - orientierungen.

fügung stehenden Echosignale, die in erster Linie zusätzlich noch die Schrägstellung „α“ in einfacher
12 lokale („punktförmige“) von ausgedehnten („wand- Weise ermittelt werden.
förmigen“) Hindernissen unterscheidet, auf die Mittels vier bzw. sechs Sensoren im vorderen
dann jeweils speziell angepasste Formeln für die Be- oder hinteren Stoßfänger können auf diese Weise,
13 rechnung des kürzesten Abstands zum Fahrzeug zur trotz der sehr schlechten räumlichen Auflösung
Anwendung kommen. Dabei ist die Einbeziehung eines jeden einzelnen Sensors, komplette Objekt-/
14 des Kreuzechos (KE) von Sensor X nach Sensor Y Umfeldkarten für die Einbauebene der Sensoren er-
und umgekehrt (KE12 / KE21 in . Abb. 16.11) von zeugt werden, in denen Position, Ausdehnung und
15 besonderer Bedeutung. Wie in den Teilabbildungen Orientierung von einem oder mehreren Objekten
von . Abb. 16.11 leicht zu erkennen ist, unterschei- vor bzw. hinter dem Fahrzeug gut wiedergegeben
det sich die Länge des Kreuzecholaufwegs von der werden. In Verbindung mit fortgeschrittenen Tra-
16 Summe der beiden Direktecholaufwege je nach Ob- ckingalgorithmen, die die über Radsensoren und
jekttyp relativ stark und kann daher als Kriterium Lenkwinkel erfasste Eigenbewegung des Fahrzeugs
17 für die Klassifizierung „Punkt / Wand“ herange- ständig mit den aktuellen Messdaten der Sensoren
zogen werden. Der rechnerische Zusammenhang abgleichen, lassen sich so bei ausreichender Rechen-
zwischen Kreuzechos und Direktechos ist für beide leistung genauere und zuverlässigere Einparkassis-
18 Fälle in . Abb. 16.11 mit angegeben. Die „Wandfor- tenzsysteme realisieren.
mel“ gilt dabei sowohl für eine gerade als auch für Bei zunehmender Verbreitung von „advanced
19 eine schräge Orientierung zum Basisabstand d. Ist maneuvering functions“ mit automatischen Lenk-
die Klassifizierung „Wand“ auf Grundlage der ge- und/oder Bremseingriffen sowie räumlich aufgelös-
20 messenen Echolaufzeiten einmal erfolgt, kann aus ten HMI-Darstellungen („Birds-Eye-View“), ist diese
den Laufzeitunterschieden zwischen DE1 und DE2 Methode der Objektlokalisierung nicht nur hinsicht-
16.7  •  Halter- und Befestigungskonzepte
255 16
.. Abb. 16.12  Typische Montagebeispiele für das
Sensormodul

lich Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Robustheit Schwingungs-, Temperatur-, Witterungs- und


Basis für eine signifikante Erhöhung des Kunden- Feuchtigkeitsbeständigkeit des fertig montierten
nutzens. Sie ermöglicht auch die Ausdehnung der Sensormoduls sowie die zuverlässige akustische
Anzeige und Kollisionsüberwachung auf den seit- Entkopplung der Membran von ihrer Einbauum-
lichen Bereich des Fahrzeugs im Sinne eines Flan- gebung spielen darüber hinaus eine zentrale Rolle
kenschutzes. Objekte, die einmal von den vorderen für die korrekte Funktion unter realen Betriebs-
oder hinteren seitlichen Sensoren links bzw. rechts bedingungen über der gesamten Lebensdauer des
des Fahrzeugs „geortet“ und in die Umfeldkarte ein- Fahrzeugs.
getragen wurden, können auch nach Verlassen des Die Montage im Stoßfänger mittels geeigneter
Detektionsbereichs weiter in ihrer Relativposition Halter und Befestigungstechniken ist in . Abb. 16.12
zum Fahrzeug verfolgt und angezeigt werden, wenn in zwei unterschiedlichen Ausprägungen gezeigt.
Lenkwinkel und gefahrene Wegstrecke in die Aus- Im oberen Beispiel wird der Halter auf der Innen-
wertung der Objektposition mit einbezogen werden. seite flächig mit dem Stoßfänger verklebt oder ver-
schweißt (die Ultraschallschweißtechnologie stellt
die heute am häufigsten in Serie eingesetzte Befes-
16.7 Halter- tigungsmethode dar). Im unteren Beispiel kann
und Befestigungskonzepte der Halter mithilfe geeignet angebrachter Laschen
direkt mit dem Stoßfänger verklippst werden. Das
Die konstruktive Gestaltung des Sensors und seine Sensormodul wird anschließend mit dem vormon-
Montage im Stoßfänger unterliegen vielfältigen tierten Entkopplungsring von hinten eingeschoben
Anforderungen. An erster Stelle ist das Design zu und im Halter verrastet.
nennen, das eine möglichst unauffällige und von Die separate Ausführung des aus akustischen
außen kaum sichtbare Integrationsmöglichkeit der Gründen notwendigen Entkopplungsrings ist erfor-
Sensoren unterstützen sollte. Damit einher geht die derlich, damit die vorstehende Sensormembran vor
Forderung, dass der sichtbare Teil des Sensors (die dem Verbau des Moduls rundum in der jeweiligen
schwingende Membran) in allen Stoßfängerfarben Stoßfängerfarbe lackiert werden kann.
lackierbar sein muss, ohne die Funktion zu beein-
trächtigen.
256 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

.. Abb. 16.13  FoV-Beispielmessung für


1 ein 4-Kanalsystem

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7
16.8 Leistungsfähigkeit per definiert wurde. Ein Beispiel einer solchen FoV-
8 und Zuverlässigkeit Messung zeigt . Abb. 16.13 für ein 4-Kanalsystem,
bei dem die Detektionsbereiche für die Direktechos
9 Die Erfolgsgeschichte der Ultraschallsensoren im der vier Sensoren jeweils durch eine separate Um-
Bereich der Einparkassistenzsysteme beruht auf randung sichtbar gemacht wurden.
10 einer Reihe von Merkmalen, in denen diese Tech- Die Messreichweite in diesem Beispiel ist für die
nologie anderen konkurrierenden Messverfahren beiden mittleren Sensoren auf 150 cm und für die
(z. B. Radar, Infrarot, kapazitive oder induktive äußeren auf 80 cm eingestellt und entspricht damit
11 Messtechnik) überlegen ist, z. B. kostengünstige einem typischen Anwendungsfall.
Herstellung und geringe Witterungsabhängigkei- Die zuverlässige Verfügbarkeit der Sensoren
12 ten. Außerdem ist die Erkennungsqualität in weiten kann in der Praxis durch zwei Faktoren einge-
Bereichen unabhängig von der Art der zu detektie- schränkt sein. Einerseits können starke akustische
renden Hindernisse. Relevante Materialen wie Me- Fremdstrahler im Bereich der Ultraschallarbeits-
13 tall, Kunststoff, Holz, Mauerwerk oder Glas sind an frequenz in unmittelbarer Fahrzeugnähe das Sig-
ihrer Oberfläche „schallhart“ und liefern daher bei nal-/Rauschverhältnis so weit absenken, dass keine
14 gleicher Geometrie annähernd gleich starke Reflexi- Messung mehr möglich ist. Praktische Relevanz
onssignale. Einschränkungen ergeben sich lediglich haben hier vor allem Pressluftgeräusche (z. B. Lkw-
15 bei teilweise schallabsorbierenden Materialien, die Druckluftbremsen) und metallische Reibgeräusche
jedoch in der Praxis kaum eine Rolle spielen (z. B. (z. B. von Schienenfahrzeugen). Andererseits kön-
Schaumstoff). Eine Besonderheit besteht hinsicht- nen eventuell vorhandene Schmutz-, Schnee- oder
16 lich der Erkennung von Personen, bei der je nach Eisschichten auf der Sensormembran eine Schall-
Kleidung mit einer geringfügig reduzierten Mess- brücke zum Stoßfänger bilden, die das Abklingver-
17 reichweite gerechnet werden muss. halten der Sendeanregung undefiniert verlängert.
Die Leistungsfähigkeit eines Sensors oder eines In beiden Fällen reagiert das System in der Regel
Sensorsystems lässt sich am besten mithilfe einer mit einer Störungsanzeige für den Fahrer, oder es
18 Field-of-View (FoV) oder Detektionsfeldvermes- wird ein Pseudohindernis mit einer kürzeren Ent-
sung aufzeigen und vergleichend bewerten. Dazu fernung als potenzielle reale Hindernisse angezeigt.
19 wird typischerweise ein Rohr mit 7,5 cm Durch- Kritische Situationen, in denen der Fahrer über
messer als Referenzobjekt verwendet, das in der so Kollisionsrisiken entweder gar nicht oder zu spät
20 genannten MALSO-Norm für die Auslegung von informiert wird, können somit weitgehend vermie-
Pkw-Einparkhilfesystemen [6] als Standardtestkör- den werden.
16.9  •  Zusammenfassung und Ausblick
257 16
16.9 Zusammenfassung der Funktion für Unterstützung zum Einparken in
und Ausblick Querparklücken.
Eine komplett neue Anwendung zeichnet sich
Piezokeramische Ultraschallsensoren für Einpark- im Bereich Side-View-Assist (SVA) ab, die ebenfalls
hilfesysteme wurden seit dem ersten Serieneinsatz mithilfe von Ultraschallsensoren den „Toten-Win-
im Jahr 1992 hinsichtlich ihrer mechanischen, akus- kel“ in einem Bereich von bis zu ca. 3 m unmittelbar
tischen und elektronischen Eigenschaften kontinu- neben und seitlich hinter dem Fahrzeug absichert.
ierlich weiterentwickelt. Heutige Seriensensoren Mitschwimmende oder langsam überholende Fahr-
besitzen einen kompakten und robusten Aufbau, zeuge können so bis zu einer Eigengeschwindigkeit
lassen sich sehr unauffällig in lackierte oder unla- von ca. 140 km/h erkannt und dem Fahrer beim
ckierte Fahrzeugstoßfänger integrieren, sind spezi- Einleiten eines Überholmanövers angezeigt werden.
ell in Bezug auf die optimale Winkelcharakteristik Die notwendige Ausblendung von Gegenverkehr
ihres akustischen Sende-/Empfangsverhaltens ab- und/oder stationären Hindernissen, z. B. Leitplan-
gestimmt und können auf elektronischem Weg in- ken, kann dabei durch geeignete Anbringung von
dividuell an Kundenwünsche und unterschiedliche je einem Sensor in der vorderen und hinteren Stoß-
Einbaubedingungen im Fahrzeug angepasst werden. fängerecke erreicht werden. Dazu werden die Echo-
Zukünftig mögliche Weiterentwicklungen im Hin- signale beider Sensoren in Bezug auf ihr zeitliches
blick auf eine verbesserte und erweiterte Funkti- Auftreten analysiert und plausibilisiert.
onalität sind z. B. bessere Eigendiagnosefähigkeit, Eine andere interessante Anwendung ergibt
Verkürzung der Mindestmessentfernung sowie sich aus einer Weiterentwicklung der Ultraschall-
optimierte Filtermechanismen zur Erhöhung des wandler vom reinen Abstandssensor zum zusätzli-
Signal-/Rauschverhältnisses. chen Winkelgeber. Basierend auf dem Laufzeitun-
Parallel zur Weiterentwicklung der Ultraschall- terschied einer reflektierten Wellenfront zwischen
sensorik sind in jüngster Zeit neue Fahrzeuganwen- zwei unmittelbar benachbarten Wandlerelementen
dungen und Mehrfachnutzungen für erweiterten (Dualsensor, bestehend aus Sender/Empfänger und
Funktionsumfang der „normalen“ Einparkhilfe in reinem Empfänger) kann direkt auf die Richtung
den Blickpunkt des Interesses der Fahrzeugher- des reflektierenden Objekts geschlossen werden
steller geraten. Basis dafür ist das sehr gute Preis-/ [7]. Diese Information lässt sich mit dem Lenkrad-
Leistungsverhältnis der in hoher Stückzahl gefer- einschlag verknüpfen, um so den Fahrer während
tigten Ultraschallsensoren. An erster Stelle ist hier des Einparkens auf Kollisionsgefahr abhängig vom
die genaue Parklückenvermessung von seitlichen Lenkwinkel – insbesondere im Bereich der Fahr-
Längsparklücken zu nennen, auf deren Basis ent- zeugecken – hinzuweisen.
schieden werden kann, ob ausreichend Platz zum Abschließend sei noch erwähnt, dass Nutzen
Einparken zur Verfügung steht. Dazu werden vorne und Akzeptanz aller zuvor beschriebenen Funktio-
in den seitlichen Stoßfängerecken angebrachte Sen- nen neben zuverlässigen und robusten Ultraschall-
soren zum Abtasten des linken und rechten Fahr- sensoren ebenso eine sehr aufwändige algorithmi-
bahnrandes verwendet. Diese erkennen parkende sche Signalverarbeitung sowie eine durchdachte
Fahrzeuge sowie deren seitliche Begrenzungen Anzeigestrategie voraussetzen. Alle drei Faktoren
und Eckenpositionen, vermessen die Parklücke bilden optimal aufeinander abgestimmt die Grund-
in der Tiefe auf mögliche Versperrung und liefern lage für eine weiter ansteigende Marktdurchdrin-
Informationen über den Abstand zum Bordstein. gung und erfolgreiche Einführung von innovativen
Darauf aufbauend sind bereits erste Serienanwen- Zusatzfunktionen ultraschallbasierter Fahrerassis-
dungen für das automatisch gelenkte Einparkma- tenzsysteme.
növer in Längsparklücken am Markt verfügbar. In
den nächsten Jahren wird mit einer ähnlich gro-
ßen Marktdurchdringung gerechnet, wie dies ab ca.
1998 bei den Standard-Einparkhilfesystemen der
Fall war. Ebenso angedacht ist eine Erweiterung
258 Kapitel 16 • Ultraschallsensorik

Literatur
1
[1] Bergmann, L.: Der Ultraschall und seine Anwendung in

2 Wissenschaft und Technik. Hirzel, Verlag, Stuttgart (1954)


[2] Lehfeldt, W.: Ultraschall kurz und bündig. Vogel‐Verlag,
Würzburg (1973)

3 [3] Kutruff, H.: Physik und Technik des Ultraschalls. Hirzel-


Verlag, Stuttgart (1988)
[4] Waanders, J.W.: Piezoelectric Ceramics, Properties and
4 Applications. Philips Components Marketing Communi-
cations, Eindhoven (1991)
[5] Robert Bosch GmbH: Sicherheits‐ und Komfortsysteme.
5 Vieweg Verlag, Wiesbaden (2004)
[6] ISO 17386:2004(E), Manoeuvring Aids for Low Speed Ope-
ration (MALSO)
6 [7] Ide, H.; Yamauchi, H.; Nakagawa, Y.; Yamauchi, K.; Mori, T.;
Nakazono, M.: Development of Steering‐Guided Park Assist
System, 11th World Congress on ITS, Nagoya 2004
7
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259 17

Radarsensorik
Hermann Winner

17.1 Ausbreitung und Reflektion  –  260


17.2 Abstands- und Geschwindigkeitsmessung  –  263
17.3 Winkelmessung – 279
17.4 Hauptparameter der Leistungsfähigkeit  –  288
17.5 Signalverarbeitung und Tracking – 291
17.6 Einbau und Justage  –  294
17.7 Elektromagnetische Verträglichkeit – 296
17.8 Ausführungsbeispiele – 297
17.9 Zusammenfassung und Ausblick  –  313
Literatur – 315

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
260 Kapitel 17 • Radarsensorik

Radar (Radio Detection and Ranging) hat seine große Anstrengungen unternommen, die Kosten in
1 Ursprünge in der Militärtechnik des Zweiten Welt- den Folgegenerationen zu senken. Erste Tendenzen
kriegs und blieb auch lange an militärische Anwen- zur Technikkonvergenz sind zu erkennen. Trotzdem
2 dungen gebunden. Der erste Einsatz im Verkehrsbe- bleiben noch große Unterschiede bei den einzelnen
reich für ein Geschwindigkeitsüberwachungssystem Lösungsfeldern, sodass in diesem Kapitel auf diese
hatte für viele Autofahrer zu eher negativen Erleb- Breite eingegangen werden muss. Dabei kann auch
3 nissen geführt. Aber auch für den Fahrer als nütz- nicht auf Berechnungen verzichtet werden, da Ra-
lich empfundene Anwendungen wurden schon dar ohne nachrichtentechnische Grundlagen nicht
4 früh angedacht, so wie ein Zeitschriftenartikel [1] verstanden werden kann. Trotzdem wird hier ver-
aus dem Jahre 1955 belegt. In den siebziger Jahren sucht, mit minimalen Vorkenntnissen die theoreti-
5 des 20. Jahrhunderts fand ein großes Forschungs- schen Überlegungen nachvollziehbar darzustellen.
projekt statt, dessen Ziel die Entwicklung von seri- Dadurch kann bei einem/r nachrichtentechnisch
entauglichen Radarsensoren für den Auffahrschutz gut vorgebildeten Leser/in Verwunderung darüber
6 war. Zwar hat dieses vom Bundesforschungsminis- aufkommen, dass die komprimiertere Fachsprache
terium geförderte Projekt die Radar-Entwicklung und Formeldarstellung nicht verwendet wird. Für
7 vorangebracht, für einen Serieneinsatz aber war die die hier verwendeten Radar-Grundlagen und De-
Zeit noch nicht reif. Erst zwanzig Jahre später wa- finitionen wurde auf Standardwerke [2, 3] zurück-
ren die technischen Voraussetzungen gegeben, um gegriffen, in denen sich viel weitgehendere Betrach-
8 Radar für die Fahrerassistenz einzusetzen. Im Jahre tungen zum Radar allgemein finden lassen. Durch
1998 war erstmals ein Fahrzeug mit Radar erhält- die bisherige Domäne des Radars in der militäri-
9 lich. Die Schlüsselfunktion war allerdings nicht die schen wie zivilen Luft- und Schifffahrt wurde der
Auffahrwarnung, sondern die Adaptive Geschwin- Themenbereich „Automotive Radar“ bisher kaum
10 digkeitsregelung ACC (s. ▶ Kap. 46), auch wenn die adressiert, so dass mit diesem Kapitel spezifisch ein
Auffahrwarnung bei diesem System als Funktions- Überblick über die automobile Radartechnik gege-
teil mit integriert war. In kurzen Abständen folgten ben wird, die aufgrund ihrer sich gegenüber den
11 weitere radarbasierte ACC-Systeme. oben genannten Einsatzbereichen stark unterschei-
Einen weiteren Schub erhielt die Radartechnik denden Anforderungen (kleinere Abstände, kleinere
12 etwa fünf Jahre später durch die Entwicklung der Dopplerfrequenzen, hohe Mehrzielfähigkeit, geringe
automatischen Notbremse (s. ▶ Kap. 47, 48) und der Baugröße, erheblich geringere Kosten) mit deutlich
Fahrstreifenwechselassistenz (s. ▶ Kap. 50). unterschiedlichen Lösungen aufwartet.
13 Für die Anwendung im Straßenverkehr stehen
zurzeit vier Bänder (24,0–24,25 GHz, 76–77 GHz
14 und 77–81 GHz sowie ein nur für den Nahbereich 17.1 Ausbreitung und Reflektion
geeignetes UWB-Band (s. ▶ Abschnitt 17.4.2) von
15 21,65–26,65 GHz) zur Verfügung. Bis auf das 77– Wenn Radarstrahlen den Sensor verlassen, ge-
81 GHz-Band werden auch alle genutzt. Derzeit do- schieht dies nicht als Kugelwelle mit in allen Raum-
miniert der 76,5 GHz-Bereich, der explizit für das richtungen gleicher Intensität, sondern in einer
16 Automotive-Radar geregelt wurde und weltweit zur gebündelten Weise. Dafür sorgt die Antenne (s. a.
Verfügung steht. Der 24 GHz-Bereich hat mittler- ▶ Abschnitt  17.3). Der so genannte direktive An-
17 weile auch einen größeren Marktanteil erreicht, vor tennengewinn GD beschreibt das Verhältnis zwi-
allem durch Mid-Range-Sensoren. schen der Intensität P(f, J)max im Raumwinkel der
Die Entwicklung der ersten Radar-Generation stärksten Abstrahlung und dem Wert Ptotal/4p eines
18 für das Auto war wie in vergleichbaren Innovations- homogenen Kugelstrahlers gleicher Gesamtleistung

fällen mit viel Lehrgeld verbunden. Aber trotz man- Ptotal D P .˚; #/d˚d# . Dabei sind f der Azimut-
19 cher Enttäuschung im Kampf um niedrige Kosten im winkel in der horizontalen Ebene und J der Eleva-
Laufe der Entwicklung wurde doch Bemerkenswer- tionswinkel in der vertikalen. Der Antennengewinn
20 tes erreicht. Anstatt im fünfstelligen Euro-Bereich ist umso größer, je stärker die Strahlen gebündelt
lagen die Kosten im dreistelligen. Trotzdem wurden werden. Der tatsächliche Antennengewinn G be-
17.1  •  Ausbreitung und Reflektion
261 17

.. Abb. 17.1  Beispiele gerichteter Reflektion a 90°-Reflektion an einer Platte, b ≠90°-Reflektion an einer Platte, c 90°-Doppel-
spiegel

.. Abb. 17.2 Geome-
rücksichtigt auch die Antennenverluste, die zumeist trie eines Corner Cube
Leitungsverluste sind. Die sich aus dem Produkt der Reflector
Gesamtsendeleistung und des Antennengewinns
ergebende Equivalent Isotropically Radiated Po-
wer (EIRP) ist für zwei Kriterien die entscheidende
Größe: zum einen für die Funkzulassung, bei der es
auf die Leistung im Raumwinkelbereich des Maxi-
mums ankommt (angegeben in dBm (EIRP), wobei auf. Bei A = 1 m2 und 76,5 GHz (l ≈ 4 mm) ergibt
sich dBm auf die Basis 1 mW bezieht), und zum an- sich ein RCS von σ ≈ 0,8 · 106 m2. Somit kann ein
deren für die maximale Reichweite. Kastenwagen mit planem Heck von 4 m2 zu ei-
Für Letzteres sind aber noch weitere Faktoren ner starken Rückstreuung mit einem RCS von
zu berücksichtigen. Ganz offensichtlich gehört das 12,5 · 106 m2 (im Fernbereich) führen, aber bei Dre-
Reflektionsvermögen des Radarziels dazu. Dieses hung um ein Grad bei einer Entfernung von etwa
wird als so genannter Radarquerschnitt (Radar 60 m völlig einbrechen, vgl. . Abb. 17.1a und 17.1b.
Cross Section RCS) σ angegeben. Im Produkt mit Die verbleibende Rückstreuung stammt dann nur
dem Quadrat der Wellenlänge, also σ l2, wird der noch von den Kanten oder den Achsteilen. Ein ide-
in einen Raumwinkel reflektierte Anteil von der auf aler Retroreflektor wird durch drei rechtwinklige
das Ziel homogen verteilt eingehenden Leistung be- Dreiecksflächen, die zu einander senkrecht stehen,
schrieben. Die Einheit von σ ist eine Fläche. Diese gebildet, ein so genannter Corner (Cube) Reflector.
Fläche entspricht genau der mittigen Querschnitts- Bei einem perfekt orientierten Corner Reflector
fläche pa2 eines Kugelreflektors mit dem Radius a. wird jede eintreffende Strahlung, deren Wellen-
Die für automobile Anwendung relevanten Ziele länge deutlich kleiner als die Abmessungen ist, in
im mittleren und ferneren Abstandsbereich weisen die Richtung zurückreflektiert, aus der die Strah-
Werte von σ = 1…10.000 m² auf. Sollen Fußgänger lung gesendet wurde, so wie es in . Abb. 17.1c für
im Nahbereich detektiert werden, so ist von deutlich den zweidimensionalen Fall dargestellt ist. Für ei-
kleineren Werten (σ = 0,01…0,1 m²) auszugehen. nen dreidimensionalen Corner-Reflektor, der aus
Die Streubreite hängt zum einen von der Art des drei senkrecht zueinander liegenden gleichschenk-
Zieles ab, aber noch stärker von der Geometrie und ligen, rechtwinkligen Dreiecken der Kantenlänge
p
der Orientierung. Eine zur Sende- und Empfangs- a und der Diagonalabmessung L D 2a gemäß
richtung senkrecht orientierte Metallplatte weist bei . Abb. 17.2 besteht, errechnet sich nach [4] ein
großen Abständen einen Rückstreuquerschnitt von RCS von
A2 r
plate D 4 (17.1) L4 4 2 (17.2)
2 CR D  2 , L D 3CR
3 
262 Kapitel 17 • Radarsensorik

Mit einer solchen Geometrie kann schon mit klei- Empfangsleistung führt, hat sie den Vorteil, dass
1 nen Abmessungen (L  =  35 cm) eine sehr starke Überreichweiten weitaus weniger zu befürchten
Reflektion von sCR ≈ 1000 m2 entsprechend einem sind als bei 76,5 GHz und damit die Radarstrah-
2 stark reflektierenden Lkw simuliert werden. Für len weniger „herumvagabundieren“ würden. Da
einen Pkw gelten 100 m2 (L ≈ 20 cm), für ein Mo- aber die Bänder um 60 GHz in weiten Teilen der
torrad 10 m2 (L ≈ 11 cm) und für einen Menschen Welt für militärische Zwecke genutzt werden, stand
3 1 m2 (L ≈ 6,2 cm) als typische Radarquerschnitte. In diese Option nicht zur Verfügung. Durch starken
den ISO-Normen für ACC [5] und FSRA [6] wird Regen insbesondere mit großen Tropfen, welche die
4 ein Radarquerschnitt von 10 ± 3 m2 für die Detek- Größenordnung der Wellenlänge erreichen, erfolgt
tionsfeldmessungen vorgeschrieben, wobei darauf eine durchaus starke Dämpfung, die zu einer erheb-
5 hingewiesen wird, dass damit 95 % der Fahrzeuge lichen Reichweiteneinbuße führt, wobei die erreich-
abgedeckt sind. Geringe Radarquerschnitte treten bare Sichtweite oft die für den Fahrer verbleibende
vor allem bei Fahrzeugen mit wegreflektierenden überschreitet. Neben der Dämpfungswirkung führt
6 planen oder konkaven Flächen auf. Große Werte starker Regen zu einem erhöhten Störpegel (Clut-
sind vor allem auf Winkelreflektoren zurückzufüh- ter). Zumeist wirkt er wie ein erhöhter Rauschpegel
7 ren. So zeigen die Stützpfosten von Leitplanken mit und senkt auf diese Weise das Signal/Rausch-Ver-
ihrem U-Profil recht hohe Radarquerschnitte, was hältnis (SNR) und damit die Reichweite. Es können
dazu führt, dass in der Objektliste sehr viele dieser aber auch Scheinziele generiert werden, wenn z. B.
8 Ziele auftauchen. Auch die Einstiegstreppen zu den Schwallwasser eines nebendran fahrenden Lkw die
Lkw-Fahrerkabinen sind als Tripelspiegel so stark Radarstrahlen reflektiert. Ein weiterer Störeffekt ei-
9 reflektierend, dass sie auch außerhalb des Radar- ner „Wasserumgebung“ tritt durch die Belegung der
hauptstrahls noch genügend Signalleistung zum Verdeckung (Radom) des Strahlaustrittsbereichs
10 Empfänger bringen. Die hohe Dynamik des Radar- auf. Wegen der hohen Dielektrizitätszahl hat Was-
querschnitts über vier bis fünf Größenordnungen ser eine hohe Brechwirkung auf mm-Wellen, sodass
führt zum einen dazu, dass eine Objektklassifika- eine ungleichmäßige Wasserbelegung zu ungewoll-
11 tion über den Radarquerschnitt ohne Erfolg bleiben ten „Linseneffekten“ führt, wodurch insbesondere
muss. Andererseits erhöht die Dynamik des Radar- die Bestimmung des Azimutwinkels stark verfälscht
12 querschnitts die Dynamikanforderung an den Emp- werden kann.
fangszweig, der daher nicht unter 70 dB liegen sollte Der hier letztgenannte Einflussfaktor auf die
und selbst dann nicht vor Übersteuerung sicher ist. Empfangsleistung ist die Mehrwegeausbreitung. Zum
13 Neben der Dynamik des Radarquerschnitts einen betrifft dies die vertikale Mehrwegeausbrei-
beeinflusst der radiale Abstand r (range) die Si- tung über die Reflektion an der Fahrbahnoberfläche.
14 gnalstärke am Empfänger. Wie schon betrachtet, Durch die bei größeren Entfernungen immer gerin-
bleibt die Leistung in einem Raumwinkelelement gen Streifwinkel erfolgt unabhängig von Polarisation
15 konstant, zumindest wenn Absorptionsverluste und Fahrbahnnässe die Reflektion nahezu vollständig
nicht berücksichtigt werden. Die Fläche dieses Win- [7]. Somit nehmen die Radarstrahlen unterschiedlich
kelsegments vergrößert sich mit dem Abstand zum lange Wege und kommen so mit unterschiedlichen
16 Quadrat, gleiches gilt für den reflektierten Strahl, Phasen beim Empfänger an: Unterscheiden diese
so dass bei Zielen außerhalb des Nahbereichs von sich um ungerade ganzzahlige Vielfache von 180°,
17 einem r–4-Abfall ausgegangen werden kann. Die so handelt es sich um eine destruktive Interferenz,
Absorption k in dB/km ist nur in wenigen Fällen bei Vielfachen von 360° um eine konstruktive Inter-
so hoch, dass sie mit zu berücksichtigen ist. Bei ferenz. Je nach Höhe des Radars und des Reflektions-
18 76,5 GHz liegt die atmosphärische Dämpfung un- schwerpunkts über der Fahrbahn tritt die destruktive
ter 1 dB/km, damit nur 0,3 dB für den Hin- und Interferenz in bestimmten Abständen auf, wodurch
19 Rückweg zu einem 150 m entfernten Ziel. Aller- die Detektionsleistung des Radars merkliche Einbu-
dings liegt bei 60 GHz ein Dämpfungsmaximum ßen zeigt. Dies ist zumeist nicht problematisch, da
20 mit etwa 15 dB/km vor, vgl. ▶ Kap. 18. Obwohl schon Ein- und Ausfedern des Zielfahrzeugs oder des
diese Dämpfung zu einer leichten Abnahme der eigenen Fahrzeugs, Fahrbahnunebenheiten und die
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
263 17

Ausdehnung der Objekte mit der Folge mehrfacher gleich dem für das Empfangen, also G t D Gr und
Reflektionen das Interferenzloch beseitigen und fer- G t  Gr D G 2. Damit eine Detektion erfolgen kann,
ner bei endlicher Relativgeschwindigkeit die damit muss das empfangene Signal mit hinreichendem Ab-
verbundene Interferenz-Abstandsbedingung zerstö- stand über dem Rauschen liegen. Je nach sonstiger
ren. Der vertikale Mehrwegeempfang äußert sich Signalauswertung zur Falschzielunterdrückung liegt
somit als Signalleistungs„schüttler“ mit dem Faktor die Schwelle um einen Faktor SNRthreshold von etwa 6
2
Vmp ; 0  Vmp  2 , so dass bei der Detektion grund- bis 10 dB über dem Rauschen (Leistung PN).
sätzlich mit einer stochastisch beschreibbaren Detek- Die erreichbare Reichweite rmax wird bestimmt,
tionsverlust- oder Drop-out-Rate zu rechnen ist. Bei indem die Empfangsleistung von Gl. (17.3) der De-
horizontaler Mehrwegeausbreitung erfolgt eine Spie- tektionsschwelle PN · SNRthreshold gleichgesetzt wird.
gelung an vertikalen, etwa parallel zur Fahrtrichtung Unter Vernachlässigung der Dämpfung, also k = 0,
liegenden Flächen; neben Wänden können vor allem lässt sie sich analytisch berechnen:
Leitplanken die horizontale Mehrwegeausbreitung
ermöglichen. Die Signalauslöschung bei negativer s
2  G t  Gr  Vmp
2 P
total
Interferenz ist dabei weniger störend als die Verfäl- rmax D
schung der azimutalen Richtungsinformation. Scan- .4/3  PN  SNRthreshold (17.4)
ner-Antennen (s. ▶ Abschnitt 17.3.2) mit schmalen
Radarkeulen reagieren darauf weniger empfindlich Bei endlicher Dämpfung muss die Reichweite nu-
als zwei- oder mehrstrahlige Antennen; allerdings merisch bestimmt werden. Trotzdem kann der
gibt es auch Verfahren [8] für Array-Antennen, die Einfluss der Dämpfung einfach abgeschätzt werden:
über die Annahme von zwei Zielen den reflektierten Kann von einer dämpfungsfreien Reichweite von
Pfad als separates (Geister-)Ziel ermitteln und so den 200 m ausgegangen werden, so reduziert sie sich bei
Einfluss auf den Hauptpfad reduzieren können. 21 dB/km auf 140 m ((200/140)4 ≈ 6 dB mal (1 km/
Beobachtet man den Verlauf der Empfangsam- (2 · 140 m)) ≈ 3,5), bei 60 dB/km auf 100 m und bei
plitude über einen längeren Abstandsbereich, so 240 dB/km auf 50 m. Grundsätzlich sind somit alle
lässt sich durch eine Transformation in den rezip- Faktoren, die die theoretische Reichweite des Radars
roken Abstandsbereich (also 1/r) eine harmonische bestimmen, bekannt. Bei der praktischen Anwen-
Periodizität feststellen, deren „Frequenz“ auf das dung sind aber weitere Grenzen durch die Signal-
Produkt von Sensorhöhe und Zielhöhe schließen verarbeitung gesetzt, wie im folgenden Abschnitt
lässt [9, 10], so dass eine unterfahrbare Brücke beschrieben wird.
von einem auf der Fahrbahn stehenden Hinder-
nis unterschieden werden kann. Allerdings kann
das stehende Hindernis über seitliche Reflektoren 17.2 Abstands- und
(z. B. über Leitplanken) ähnliche Muster erzeugen, Geschwindigkeitsmessung
da auch hier das Produkt der Normalabstände zur
Reflektorebene ähnlich groß sein kann. Zum Verständnis der Funktionsweise von Radar
Fasst man die in diesem Abschnitt beschriebe- ist ein Exkurs in die nachrichtentechnische Mathe-
nen Einflussfaktoren zusammen, so lässt sich da- matik nicht vermeidbar. Die in den folgenden Ab-
raus die maximale Reichweite für eine Detektion schnitten abgeleiteten mathematischen Zusammen-
herleiten. Die Leistung PR des empfangenen Signals hänge sind aus Sicht des Autors auf das Minimum
berechnet sich zu beschränkt und in einer eher populären Schreib-
weise dargestellt. Für eine noch tiefer gehende Be-
trachtung der Radartechnik sei auf Standardwerke
PR D 102kr=1000  2  G t  Gr  Vmp
2
zu Radar, wie z. B. das Buch von Skolnik [2] oder
 Ptotal = .4/3 r 4 (17.3) Ludloff [3], verwiesen.

Wird dieselbe Antenne für Senden und Empfang ver-


wendet, so ist der Antennengewinn für das Senden
264 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
5
6
7 .. Abb. 17.3  Idealisierte Modulationsbeispiele; links: aufmodulierter Puls, rechts: aufmoduliertes Sinussignal; oben: Amplitu-
denmodulation, unten: Frequenzmodulation

8 17.2.1 Grundprinzip Modulation und 17.2.2 Doppler-Effekt


Demodulation
9 Der Österreicher Christian Doppler sagte schon 1842
Die Abstrahlung von elektromagnetischen Wellen voraus, dass eine elektromagnetische Welle eine Fre-
10 und deren Empfang ist nur notwendige Vorausset- quenzverschiebung erfährt, wenn sich Beobachter
zung für die Funktion von Radar. Damit ist aber und Sender relativ zueinander bewegen. Das gleiche
nicht mehr als ein Träger für die Information ge- passiert auch, wenn der Radarstrahl von einem rela-
11 schaffen. Die Information selbst, die für eine Mes- tiv zum Radar bewegten Objekt reflektiert wird. So
sung eines Abstands benötigt wird, muss diesem legt ein Radarstrahl zu einer beliebigen Entfernung r
12 Träger sendeseitig aufmoduliert und empfangssei- und wieder zurück zum Empfänger eine reelle Zahl z
tig wieder demoduliert werden. Vereinfacht gesagt l von insgesamt z = 2r / l Wellenlängen zurück. Da-
muss dem abgestrahlten Wellenzug eine Kennzeich- mit stellt sich eine Phasenverzögerung von j = –2p z
13 nung für die Wiedererkennung und ein Zeitbezug ein. Ändert sich nun r mit rP, so erfährt auch die
zur Messung der Laufzeit mitgegeben werden. Diese Phase eine Änderung von 'P D 2 zP D 4 rP =.
14 Aufgabe wird als Modulation bezeichnet. Die Wie- Damit kann Gl. (17.5) für das empfangene Signal
dererkennung und die Ermittlung von zeitlichen ur (t) wie folgt umgeschrieben werden:
15 Zusammenhängen benötigt die Demodulation.
In einer allgemeinen Form lässt sich die ausge- ur .t/ D Ar  cos.2.f0  2r=/t
P C 'r /(17.6)
sandte Strahlung als harmonische Wellenfunktion
16 beschreiben: Der Doppler-Effekt drückt sich als die Frequenzän-
derung fDoppler aus, die proportional zur Relativge-
17 ut .t / D At  cos.2f0t C '0 /(17.5) schwindigkeit und zum Kehrwert der Wellenlänge
l = f0 / c (Lichtgeschwindigkeit c) ist, wobei die Fre-
Somit lassen sich mit den drei Variablen Am- quenzverschiebung bei Annäherung .rP < 0/ positiv
18 plitude A, Frequenz f0 und Phase j Modulationen ist und bei Entfernen negativ
durchführen. Die für Radaranwendungen im Auto-
19 mobil verwendeten Amplitudenmodulation (meist fDoppler D 2r= P 0 =c(17.7)
P D 2rf
als Pulsmodulation) und Frequenzmodulation sind
20 in . Abb. 17.3 in idealisierter Form zur Veranschau- Anmerkung: Neben der durch die Laufzeit beding-
ung dargestellt. ten Phasenverschiebung erfolgt eine Phasendrehung
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
265 17

bei der Reflektion. Bei idealer Totalreflektion, wie So wird aus dem Produkt des gesendeten Signals
sie für Metalle angenommen werden kann, beträgt (Gl. (17.5)) und des empfangenen (Gl. (17.6)) das
diese p, wie bei einer Invertierung. Da aber bei kei- Mischprodukt ut,r(t) :
ner Auswertung die absolute Phase herangezogen
wird, sondern nur Differenzen, spielt dieses Detail
(
2rP
  
1
praktisch keine Rolle. ut;r .t/ D At Ar cos 2 t
2 
Bei einer Trägerfrequenz von 76,5 GHz erhält 
man durch die Relativgeschwindigkeit rP in SI-Ein- C '0  ' r
heiten (also in m/s) eine Doppler-Verschiebung  (17.9)
von fDoppler D 510 Hz  rP bzw. bei der anderen 2rP
 
C cos 2 2f0  t
für Fahrerassistenz-Anwendungen gebräuchlichen 
Frequenz von 24 GHz etwa ein Drittel davon, näm- )
lich fDoppler D 161 Hz  rP . Für die Berechnung C '0 C ' r
mit km/h sind die Werte durch 3,6 zu teilen. Mit
einer angenommenen Relativgeschwindigkeit von
–70 m/s (–252 km/h) bei Annäherung betragen die Da das Summensignal (der zweite Term) sehr
maximalen Dopplerfrequenzen 35,7 kHz, so dass hochfrequent ist, wird dieser Anteil allein schon
für eine Messung gemäß dem Nyquist-Theorem durch die nicht für diese Frequenz ausgelegte Elek-
eine Abtastrate von mindestens 71,4 kHz zur ein- tronik (Leitungen, Verstärker) weggedämpft. So
deutigen Bestimmung benötigt wird. bleibt das niederfrequente Differenzsignal
Grundsätzlich lässt sich die Relativgeschwindig-
2rP
  
1
keitsinformation schon mit einer kontinuierlichen ult;r .t/ D Ar At cos 2 t
2 
Welle konstanter Frequenz ermitteln. Allerdings ist 
die Trägerfrequenz zu hoch für eine direkte Messung C '0  ' r (17.10)
der Verschiebung im Trägerband, die selbst bei maxi-
maler Relativgeschwindigkeit gerade ein Millionstel
der Trägerfrequenz beträgt. Tatsächlich wird mit dem übrig. Die Information über die Frequenzverschie-
im folgenden Abschnitt beschriebenen Mischen eine bung findet sich im Argument des Cosinus. Aller-
Messung bei viel niedrigeren Frequenzen möglich. dings wird nicht das Argument gemessen, sondern
die Cosinus-Funktion, die keine eindeutige Invers-
Funktion besitzt. So ist insbesondere das Vorzei-
17.2.3 Mischen von Signalen chen nicht zugänglich, da eine Cosinus-Funktion
mit einer positiven Frequenz identisch zu der mit
Mit dem Mischen wird in der Hochfrequenztechnik negativer Frequenz ist. Hier hilft die Mischung
der Vorgang einer Signalmultiplikation bezeichnet. mit einem zum Sendesignal um 90° verschobenen
Das Produkt zweier harmonischer, analog zu Gl. Signal, also eine Multiplikation anstatt mit der ur-
(17.5) mit der Cosinus-Funktion beschriebenen Si- sprünglichen Cosinus-Funktion nun mit der zum
gnale u1(t) und u2(t) der Frequenzen f1 und f2 und Sendesignal zugehörigen Sinus-Funktion.
Phasen j1 und j2 lässt sich per Additionstheorem
von harmonischen Funktionen gemäß Gl. (17.8) 1˚
auch als Summe zweier harmonischer Funktionen sin x  cos y D sin.x  y/
2 (17.11)
mit jeweils der Differenz- und der Summe der ur-
C sin.x C y/
sprünglichen Argumente beschreiben:
1
cos x  cos y D fcos.x  y/ C cos.x C y/g­ Somit steht nach Unterdrückung des Summensig-
2
nals ein auf Sinus-Basis beschriebenes Mischsignal
(17.8)
266 Kapitel 17 • Radarsensorik

die Multiplikation mithilfe von Analogmultiplizie-


1 rern ist bei diesen Frequenzen nur beschränkt mög-
lich (s. u.). Allerdings erlauben schnelle nichtlineare
2 Bauteile wie Shottky-Dioden (Metall/Halbleiter-
Übergang) eine so genannte Summenmischung.
Dazu werden die zwei zu mischenden Signale wie in
3 . Abb. 17.4 dargestellt zunächst additiv überlagert.
Die Spannungssumme u1 + u2 führt zu einem Strom,
4 der über den Widerstand als Spannungsabfall u12
gemessen werden kann.
5 .. Abb. 17.4  Prinzipdarstellung eines Zwei-Dioden-Summen- Die Kennlinie der beiden Dioden lässt sich
mischers einzeln wie auch in Summe als Taylorreihe entwi-
ckeln. Bei der hier vorgestellten Doppeldioden-An-
6 2rP
  
1 ordnung verschwinden im Idealfall die ungeraden
uQt;r .t / D Ar At sin 2 t
2  Terme, so dass folgende Terme übrig bleiben:
7 (17.12)

C '0  ' r
u12 D A2 .u1 C u2 /2
8 zur Verfügung. Zwar ist die Sinusfunktion eine C A4 .u1 C u2 /4 C    I(17.14)
ungerade Funktion, dies reicht aber ebenso wenig @n
9 wie das Cosinus-Mischsignal (Gl. (17.10)) aus, um
An D
nŠ@un
D.u/
zu unterscheiden, ob eine negative oder positive
u12 D A2 u21 C 2u1  u2 C u22 C
10
 
Dopplerverschiebung die Ursache für die Differenz-
Frequenz ist. C A4 u21 C 4u31  u2 C 6u21  u22 C(17.15)

Werden allerdings beide Signale erzeugt, so lässt
11
4
sich im Vergleich zueinander die Eindeutigkeit fin- C 4u1  u32 C u42 C    I
den: bei positiver Dopplerfrequenz, entsprechend
12 einer Annäherung, weist das direkt abgeleitete Si- Das gewünschte Produkt u1 · u2 findet sich im aus-
gnal (Index I: In-phase = Realteil) gegenüber dem multiplizierten quadratischen Anteil. Nahezu alle
aus dem um 90°-Phase verschobenen zweiten Signal anderen Mischprodukte führen zu hochfrequen-
13 (Index Q: Quadrature = Imaginärteil) ebenfalls die ten Signalen (genauso wie die ungeraden, falls die
90°-Phase auf, bei einer negativen Dopplerfrequenz Symmetrie nicht gegeben wäre). Allein die Pro-
14 hingegen um –90°. duktterme mit gleichem Exponenten (z. B. u21  u22
) liefern Beiträge zu einem niederfrequenten Signal
15 2rP uQt;r .t / (17.13)
   
2 t C 'r D arctan und können als Oberwellen zu Verfälschungen,
 ult;r .t/ insbesondere falschen Detektionen (False Positive
Fehler) führen. Daher sind die geraden Anteile der
16 Selbst bei verschwindender Dopplerfrequenz ist Taylorentwicklung mit höheren Potenzen als zwei
es mit Gl. (17.13) möglich, eine Differenzphase möglichst gering zu gestalten.
17 zu bestimmen. Das setzt allerdings voraus, dass Aktive Mischer mit so genannter Gilbert-Zelle
keine sonstigen Gleichanteile in den Signalen kommen dem idealen Multiplizierer schon recht
uQt;r .t /; ult;r .t/ enthalten sind. nahe. Bei hinreichend schnellen Feldeffekttransisto-
18 So wie bis hierhin beschrieben, ist das Mischen ren können die beiden Eingangssignale miteinander
eine einfache und überschaubare mathematische multipliziert werden, weil die Oszillatorspannung
19 Aktion. Für die technische Realisierung scheidet als Steuerspannung für die Verstärkung des anderen
eine digitale Multiplikation aus, da bezahlbare Empfangssignals eingesetzt wird. Für den Frequenz-
20 Analog/Digital-Wandler für die im Automobil ein- bereich 76–77 GHz reicht die Silizium-Technologie
gesetzten Radar-Frequenzen zu langsam sind. Auch nicht mehr aus. Stattdessen ist die Gallium-Arsenid-
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
267 17

(GaAs) oder seit kurzem die kostengünstigere Sili- verarbeitung auch als von-Hann- oder Hanning-
zium-Germanium-Technologie (SiGe) zu verwenden. Fenster bekannt ist.
Gegenüber passiven Mischern sind die beim Mischen
2  t
  
1
entstehenden Umwandlungsverluste geringer, so dass Fu .t/ D 1  cos
2 P
ein höheres Signal-Rausch-Verhältnis erreicht wird. (17.17)
für jt  t0 j < P=2 ; 0 sonst

17.2.4 Pulsmodulation Zwar verliert ein so geformter Puls 5/8 der Leis-
tung gegenüber einer Rechteckeinhüllenden mit
17.2.4.1 Anforderungen an Pulsdauer gleicher Maximalamplitude, die verbleibende kon-
und Bandbreite zentriert sich aber fast vollständig im Arbeitsband
Am einfachsten lässt sich die Pulsmodulation vor- zwischen
stellen, vgl. . Abb. 17.3 links oben. Dabei wird ein
kurzer Wellenzug der Pulslänge τP gebildet. Tech- f0  P1 < f < f0 C P1 I f D 2P1(17.18)
nisch wird dies durch einen schnellen elektroni-
schen Schalter realisiert, der von einem kontinu- Die benötigte Bandbreite 2P1 eines Pulses entspricht
ierlich betriebenen Oszillator gespeist wird. Ein damit dem doppelten Kehrwert der Pulslänge. Ein
derartiger idealer Puls benötigt eine zur Pulslänge weiterer Vorteil der Bandbegrenzung neben dem
reziproke Bandbreite, auch wenn die Schwingung Einhalten von Grenzwerten liegt in der Möglichkeit
innerhalb des Pulses genau der Gl. (17.5) entspricht. einer Bandpassfilterung auf der Empfangsseite, die
Tatsächlich ergibt sich das Signal aus einer Multi- zur Rauschreduktion nützlich ist. Denn die Empfän-
plikation einer ebenen Welle gemäß Gl. (17.5) und gerbandbreite sollte mindestens so groß wie die Ab-
einer Fensterfunktion, die für einen ideal schnell strahlbandbreite sein, damit kein empfangsbedingter
an- und abschaltenden Puls Laufzeitauflösungsverlust auftritt.
Wie kurz, oder besser, wie scharf begrenzt sollte
FRect .t/ D 1für jt  t0 j < P=2 ; 0 sonst(17.16) ein Radar-Puls für die Anwendung bei Fahreras-
sistenzsystemen sein? Für ein Long-Range-Radar
als Rechteckfenster um die Pulsmitte t0 beschrie- (LRR) sollten mindestens zwei Fahrzeuge in typi-
ben wird. Dies führt im Frequenzbereich zur schen Abständen getrennt erscheinen. Damit sollte
Faltung der diskreten Frequenzlinie f0 mit der als der Puls eine Länge XP von höchstens 10 m besitzen
Spaltfunktion sinc(p f · tP) = sin(p f · tP) / p f · tP be- oder eine entsprechende Maximaldauer von tP =
kannten Fouriertransformierten der Fensterfunk- XP/c ≈ 33 ns. Bei Einsatz des Radar als Short-Range-
tion (ohne Berücksichtigung des Vorfaktors). Da Radar (SRR) mit der Fähigkeit der Einparkunter-
die Spaltfunktion nur schwach (Amplitude mit stützung ist eine Ortsauflösung von 15 cm gefragt,
f –1) abfällt, fällt ein großer Teil der Pulsleistung weshalb der Puls nicht länger als das Doppelte, also
in Frequenzbänder, die für andere Anwendungen XP ≈ 30 cm, und folglich die Pulsdauer entsprechend
gedacht sind. Zwar lässt sich das Verhältnis In- nicht länger als tP ≈ 1 ns sein sollte. Folglich lie-
Band- zu Außer-Band-Leistung durch eine Ver- gen die Bandbreitenanforderungen bei mindestens
längerung des Pulses verbessern, allerdings senkt 60 MHz für LRR und 2 GHz für SRR. Diese Ab-
diese Maßnahme nicht die in die anderen Bänder schätzungen sind best-case-Überlegungen und für
gestreute Energie pro Puls, sofern der Pulsanstieg die Praxis um etwa den Faktor 2 zu erhöhen, um
bzw. -abfall nicht abgesenkt ist. Andererseits er- eine Bandverletzung auszuschließen.
möglicht gerade die Steilheit bei Beginn und Ende Ein Nachteil der Pulsmodulation ist das ungüns-
die Laufzeitunterscheidung. Die gesamte Leistung tige Verhältnis von Spitzenleistung zur mittlerer
zwischen Anstieg und Abfall ist weitgehend nutzlos Leistung. Zur Verbesserung des Signal/Rausch-Ab-
für eine Entfernungsmessung. Ein guter Kompro- stands und damit zur Erhöhung der Empfindlich-
miss ist eine Form der Pulseinhüllenden gemäß keit werden Pulsfolgen „abgefeuert“, über die dann
einer Cosinus-Glocke, die in der digitalen Signal- gemittelt wird. Zwar lassen sich über sogenannte
268 Kapitel 17 • Radarsensorik

zip des Mischers verwendet. Dabei wird allerdings


1 nicht direkt auf das sogenannte Basisband (also um
Frequenz 0) herunter gemischt, sondern eine Zwi-
2 schenfrequenz erzeugt. Dieses lässt sich entweder
durch einen lokalen Oszillator erreichen, der zum
Sendesignal eine feste Frequenzdifferenz aufweist,
3 oder durch denselben Oszillator, wenn dessen
.. Abb. 17.5  Prinzipschaltbild eines nicht-kohärenten Radars;
1 Oszillator, 2 Pulssteuerung, 3 Pulsmodulator, 4 Verstärker Frequenz nach Aussenden des Pulses um eine be-
4 und Bandpassfilter, 5 Gleichrichter, 6 Tiefpassfilter, 7 Kompara- stimmte Frequenzdifferenz umgeschaltet wird. Die
tor, 8 Mikroprozessor Zwischenfrequenz liegt etwa bei 100–200 MHz. In
5 diesem Bereich sind Verstärker, Filter und ADC mit
Pseudo-Random-Folgen die Pulse auch in kürzerem vertretbarem Aufwand zu realisieren. Ferner ist die
zeitlichen Abstand aussenden, dies aber erfordert Pulsform noch abbildbar. Die Zwischenfrequenz
6 eine sehr aufwendige Eingangselektronik. Einfacher kann mit einem AD-Wandler direkt abgetastet
ist es so lange zu warten, bis ausgeschlossen wer- werden.
7 den kann, dass ein Puls aus einer früheren Sendung Von der Zwischenfrequenz werden, wie oben
noch empfangen werden kann. Dazu ist ein Mehr- beschrieben, jeweils der Real- und der Imaginärteil
faches der maximalen Nutzlaufzeit heranzuziehen gebildet. Wird das in . Abb. 17.6 dargestellte Signal-
8 (für LRR kann diese bei 150 m Entfernungsbereich Paar mit 10 ns Zykluszeit abgetastet, so bekommt
mit 1 µs angegeben werden, für SRR etwa 0,1 bis man für jeden Abtastzeitpunkt ein Wertepaar, das
9 0,2 µs). Damit ergibt sich eine Pulsfolgefrequenz für als die Koordinaten eines Vektors in einer komple-
SRR von ca. 1 MHz und für LRR von ca. 250 kHz. xen Ebene interpretiert werden kann. Bei einer spä-
10 17.2.4.2 Nicht-kohärente
teren Messung (ti) werden diese Vektoren gemäß Gl.
(17.13) um einen Winkel 2ti .2r=/
P weiter gedreht
Demodulation (s. . Abb. 17.7). Der Betrag der Vektoren repräsen-
11 Eine einfache Demodulation könnte analog zu der tiert die Pulsstärke zu der mit dem Abtastzeitpunkt
bei Ultraschallsensoren oder Lidar verwendeten tS gegebenen Laufzeit tof = tPC – tS, bezogen auf den
12 nicht-kohärent durchgeführt werden. Das empfan- Zeitpunkt tPC der Pulsmitte. Dieser Laufzeit ent-
gene Signal wird wie in . Abb. 17.5 dargestellt ver- spricht der Abstand
stärkt, durch einen der Pulsbandbreite entsprechen-
13 den Bandpass um die Trägerfrequenz f0 gefiltert,
1
rD c  tof , c: Lichtgeschwindigkeit (17.19)
dann eine Gleichrichtung vorgenommen, damit aus 2
14 der Wechselspannung ein der Amplitude entspre- sodass den einzelnen Abtastzeitpunkten die Be-
chender Gleichanteil entsteht, der im nachfolgenden deutung von so genannten Range-Gates zukommt.
15 Tiefpass als Ausgangssignal zur Verfügung steht. Entsteht das Signal wie im Beispiel der . Abb. 17.7
Dieses Signal wird dann abgetastet und im Mikro- durch Reflektion desselben Objekts, ist die Drehge-
prozessor verglichen oder gleich mit vorgegebenen schwindigkeit der Vektoren gleich, da alle die glei-
16 Schwellwerten im Komparator, wie in . Abb. 17.5 che Dopplerverschiebung zeigen. Die Range-Gates
(Block 7) gezeigt. Diese Demodulationstechnik ist (und damit der Abtastzyklus) sollten angemessen
17 leicht durch Fremdpulse zu stören und kann aus- zur Pulsbreite so nahe liegen, dass über mehrere
schließlich Laufzeitmesssungen durchführen, ohne Gates eine Schwerpunktbildung und somit eine
aber den für die weitere Signalverarbeitung sehr be- Abstandsinterpolation ermöglicht werden kann, die
18 deutsamen Doppler-Effekt nutzen zu können. zu Abstandsauflösungen von deutlich weniger als
ein Zehntel der Pulslänge führen kann. Um dies zu
19 17.2.4.3 Kohärente Puls- erreichen, sollten die Range-Gates höchstens um die
Demodulation Hälfte der Pulslänge auseinanderliegen. Wesentlich
20 Bei der kohärenten Puls-Demodulation (auch kürzere Range-Gates werden aus Kostengründen
Puls-Doppler-Verfahren genannt) wird das Prin- vermieden, da die damit verbundene höhere Ab-
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
269 17
.. Abb. 17.6 Zwischen-
frequenz-Signale (Realteil I
und Imaginärteil Q) zweier
aufeinander folgender Pul-
se (oben, unten) eines sich
nähernden Einzelreflektors
(idealisiert)

.. Abb. 17.7 Durch
tastfrequenz den ADC verteuert, ohne dass wirk- Dopplerverschiebung
lich eine höhere Informationsqualität erreicht wird. bewirkte Drehung des
Die Wiederholung der Pulse ist aus zwei Grün- Zeigers in der komple-
den erforderlich. Zum einen enthält ein Einzelpuls xen Q/I-Ebene
nur eine geringe Energie, so dass zur Erhöhung des
Signal-Rausch-Verhältnisses eine Wiederholung
sowohl kostengünstiger als auch hinsichtlich der So ist bei 76,5 GHz für rP D 1m=s eine Mess-
Frequenzzulassung unkritischer ist als eine Erhö- zeit von etwa 2 ms erforderlich.
hung der Pulsleistung. Zum anderen soll die Dopp- Bei einer exakt periodischen Pulswiederholung
lerfrequenz eindeutig abgetastet werden, woraus können sowohl Scheinziele durch Überreichweiten
sich nach ▶ Abschnitt 17.2.2 mindestens eine Puls- entstehen als auch Störeinstrahlungen durch andere
wiederholung von 71,4 kHz ergibt. Die Gesamtlänge Radarsensoren. Abhilfe kann hier eine pseudo-zu-
TM der Pulsfolgen führt zur Auflösung der Doppler- fällige Variation der Pulswiederholzeiten schaffen
frequenz von (vgl. [11]), d. h. der Folgepuls variiert gegenüber der
mittleren Zykluszeit um mindestens eine Range-
1 (17.20) Gate-Dauer, damit bei wiederholtem Puls die Stö-
fDoppler D ;
TM rung oder die Überreichweite in ein anderes Range-
und damit zur Relativgeschwindigkeitsauflösung Gate fällt.
von Grundsätzlich lassen sich mit einer kohärenten
Puls-Demodulation auch kleine Abstände unterhalb
c (17.21) der Pulslänge messen, wenn der Empfangszweig
rP D :
2f0 TM auch simultan zur Pulsaussendung bereit steht.
270 Kapitel 17 • Radarsensorik

17.2.5 Frequenzmodulation
1
Bei der Frequenzmodulation wird die Frequenz f0
2 als Funktion der Zeit variiert, wobei klar zu stellen
ist, dass es sich nicht um eine absolute und somit
konstante Frequenz handelt, sondern um eine Mo-
3 mentanfrequenz f0(t) = w0(t)/2p. In diesem Kapitel
wird Frequenzmodulation auf alle Verfahren bezo-
4 gen, bei denen die Information über die Laufzeit
durch Frequenzvariation erreicht wird.
5 Der grundsätzliche Aufbau von FM-Radar ist
in . Abb. 17.8 dargestellt. Für die Funktionsweise
zwingend ist die Variation der Frequenz mittels
6 eines spannungsgesteuerten Oszillators, der direkt
oder über eine Regelschleife (z. B. Phase-Locked-
7 Loop, PLL) die gewünschte Modulation ermöglicht.
Das empfangene Signal wird mit dem aktuell aus-
gesendeten Signal gemischt, gefiltert, abgetastet und
8 gewandelt. Für die Signaltrennung von Sendezweig
.. Abb. 17.8  Blockschaltbild eines Radars mit Frequenz-
und Empfangszweig können wahlweise räumlich
9 modulation. Oben: in einer bistatischen Ausführung mit
getrennten Antennenzuführungen für Sende- und Empfangs- getrennte Zuleitungen (. Abb. 17.8 oben) oder spe-
strahl; unten: in monostatischer Ausführung mit Zirkulator- zielle nicht-reziproke Koppler (. Abb. 17.8 unten)
10 Kopplung verwendet werden, die richtungsselektiv koppeln.

Werden, anders als in . Abb. 17.5 dargestellt, die- 17.2.5.1 Frequenzumtastung,


11 selbe Antenne und derselbe Oszillator für Sende- Frequency-Shift-Keying (FSK)
und Empfangszweig gewählt, so kann erst nach Bei der Frequenzumtastung wird die Momentanfre-
12 Abschluss des Sendepulses auf Empfang geschaltet quenz des Signals in Stufen variiert. In einfachster
werden. Somit ist für Objektabstände bis zur hal- Variante werden nacheinander zwei Wellenzüge der
ben Pulslänge nicht der volle Puls beobachtbar. Da Länge Dt mit den Momentankreisfrequenzen w1 und
13 aber noch Teile des Pulses detektiert werden, kann w2 ausgesendet und simultan dazu das empfangene
zumindest die Objektpräsenz innerhalb dieser Zone Signal mit einem dem Sendesignal abgeleiteten Si-
14 erkannt werden, allerdings ohne die Möglichkeit gnal gemischt. Dieses ergibt gemäß Gl. (17.10) die
der Abstandsbestimmung, wohl aber der Relativ- folgenden Basisband-Mischprodukte
15 geschwindigkeit, da diese in allen Bereichen des
1

!i
Pulses ermittelbar ist. ult;r;i .t / D Ar At cos P
2rt
2 c
Die Stärken der kohärenten Puls-Demodulation
16 sind eine unabhängige Abstands- und Relativge-

C '0  'r;i ; (17.22)
schwindigkeitsmessung, die mit einer im Vergleich
17 zu anderen Verfahren geringen mittleren Sende- i D 1; 2
leistung auskommt. Dagegen spricht die benötigte
hohe Empfangsbandbreite, wodurch dieses Prinzip In dieser Gleichung wurde 2pl durch wi/c substitu-
18 leichter störbar ist als die nachfolgend beschriebe- iert, damit die durch die Frequenzänderung bewirk-
nen Verfahren, sowie der beträchtliche Aufwand bei ten Effekte deutlich werden. Zur Vereinfachung wird
19 den Schaltelementen. zunächst angenommen, dass kein Dopplereffekt
vorliegt, also das detektierte Objekt keine Relativ-
20
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
271 17

geschwindigkeit rP aufweist. Dann ergibt sich in Ab-


hängigkeit des Abstands eine Phasenänderung von

2r
'r;i D '0  'r;i D tof  !i D !i ;
c (17.23)
i D 1; 2
.. Abb. 17.9  Prinzip der Frequenzumtastung (Frequency-
und damit in der Differenzbetrachtung Shift-Keying, FSK) mit mehreren Stufen
2r
'r;2  'r;1 D tof  ! D !; Damit ergeben sich Stufenhöhen Df von maximal
c (17.24) 188 kHz @ 400 m. Dieser Abstandswert liegt zwar
! D !2  !1 außerhalb der betrachteten Abstandszielbereiche. Es
kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass gut re-
Der Phasenunterschied ist also umso größer, je grö- flektierende Objekte auch aus diesem Entfernungs-
ßer der Abstand r und je höher die Differenzkreis- bereich erfasst werden. Die minimale Anzahl der
frequenz ist. Nun gilt aber auch hier, dass eine Phase Stufen nmin ergibt sich aus dem Verhältnis rmax / rmin
nicht eindeutig bestimmbar ist. Man misst zunächst von maximalem zu minimalem Abstand.
nur die mit der Amplitude multiplizierten Cosinus-
rmax
Werte, in diesem Falle zwei Werte. Eine I/Q-Mi- nmin D (17.27)
schung, wie in ▶ Abschnitt 17.2.3 und 17.2.4.3 ge-
4rmin
zeigt, würde hier Abhilfe leisten, allerdings auch die
Kosten für die Demodulationshardware erheblich Erweitert man die obige Betrachtung auf relativ zum
erhöhen. Alternativ kann mit weiteren Frequenz- FSK-Radar bewegende Objekte, so bleiben alle Aus-
sprüngen analog zu . Abb. 17.9 eine erste Aussage sagen weiter erhalten. Allerdings ist das Signal der
zum Abstand getroffen werden. Damit der Cosinus- einzelnen Stufe kein Gleichsignal, sondern variiert
Bogen als solcher erkannt werden kann, müssen die gemäß Gl. (17.22) mit der Dopplerfrequenz
n Stufen zusammen eine Phasenänderung von min-
fi
destens 45° (p/4) bewirken. Somit bestimmt sich fDoppler;i D 2rP.(17.28)
der Gesamthub der Frequenzstufen n · Df aus der c
minimalen messbaren Entfernung rmin zu
Zwar unterscheidet sich die Dopplerfrequenz jeder
'r;n  'r;1 D tof  n! D Stufe wegen der unterschiedlichen Grundfrequenz
(17.25) fi, die Änderungen sind aber so gering (< 10–5), dass
2rmin  c
n! D ) nf  bei einer Fourieranalyse die Dopplerfrequenzen in
c 4 16rmin
dieselbe Frequenzzelle fallen. Dennoch können sich
durch die Unterschiede Phasenverschiebungen auf-
Dies führt zu einem Hub n · Df von 625 kHz @ summieren, die aber vorherbestimmbar sind und
30 m bzw. 18,75 MHz @ 1 m. Diese Werte können damit auch kompensiert werden können.
als Anhaltspunkt für die minimal benötigte Band- Im Prinzip können die Objekte allein anhand
breite zur Abstandsmessung dienen. Die Zahl der der Dopplerfrequenz detektiert werden, allerdings
Stufen ergibt sich aus dem Eindeutigkeitskriterium ist das Vorzeichen der Dopplerverschiebung nicht
bei maximal anzunehmendem Objektabstand rmax. bekannt. Dieses lässt sich aus der Phasendifferenz
So darf die Phasenänderung zwischen zwei Stufen zwischen den Stufen bei den gefundenen Dopp-
nicht größer als 180° (p) sein. lersignalen ableiten. Vergrößert sich die Phase bei
Erhöhung der Sendefrequenz, dann liegt eine po-
'r;iC1  'r;i D tof  ! D sitive Dopplerfrequenz vor, also ein sich näherndes
2rmax c (17.26) Objekt. Verringert sich dagegen die Phase, bleibt
! D  ) f 
c 4rmax als sinnvolle Erklärung nur eine negative Doppler-
272 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
.. Abb. 17.10  FSK mit fünf ineinander geschachtelten Fre-

5 quenzstufen [Quelle: TRW]


.. Abb. 17.11  Frequenz-Zeitverlauf für Linear Frequency
Modulation Shift Keying (LFMCW/FSK) nach [12]
frequenz, da ein negativer Abstand ausgeschlossen
6 werden kann.
Die Auflösung der Relativgeschwindigkeit ist Trennfähigkeit ist allerdings bei einem derartigen
7 nur abhängig von der Messzeit, die für eine Stufe Verfahren notwendig, da wegen des geringen Fre-
zur Verfügung steht. Werden die Stufen wie oben quenzhubs keine Trennfähigkeit bezüglich des Ab-
beschrieben nacheinander durchgeführt, so steht stands gegeben ist. Besitzen also mehrere Objekte
8 bei einer Gesamtmesszeit T pro Stufe nur eine die gleiche Relativgeschwindigkeit, sodass sie in
Messdauer von TM = T / n zur Verfügung. Bei vielen dieselbe Relativgeschwindigkeitszelle eingeordnet
9 Stufen führt dies zu einer erheblichen Verschlech- werden, so ist nicht mehr erkennbar, dass es sich
terung der Relativgeschwindigkeitsauflösung. Bei um mehrere Objekte handelt. Der in einem solchen
10 wenigen Stufen bietet sich an, die Tatsache aus- Fall ermittelte Abstandswert ist sehr unzuverlässig,
zunutzen, dass die notwendige Abtastrate für den wobei der betragsmäßig stärkste Reflektor die ande-
Dopplereffekt so gering ist, dass in den Messpausen ren dominiert. Bei sich bewegenden Objekten ist die
11 zwischen zwei Abtastzeitpunkten Messungen mit Wahrscheinlichkeit gering, dass mehrere Objekte ge-
anderen Sendefrequenzen durchgeführt werden. Im meinsam in dieselbe Zelle fallen. Bei stehenden Ob-
12 ▶ Abschnitt 17.2.2 wurde eine minimale Abtastrate jekten hingegen ist dies immer dann der Fall, wenn
von 71,4 kHz ermittelt, die Pause beträgt somit fast sich deren Radialgeschwindigkeit rP nicht durch ei-
14 µs. Die Laufzeit für ein 300 m entferntes Objekt nen unterschiedlichen azimutalen Zufahrtswinkel ˚
13 beträgt dagegen nur 2  µs. Theoretisch lassen sich des mit der Fahrgeschwindigkeit v bewegten Radar-
noch sechs weitere Messungen einschieben, prak- fahrzeugs unterscheidbar macht, wenn also
14 tisch noch vier, wie in einem Praxisbeispiel siehe ˇ ˇ
. Abb. 17.10 gezeigt ist. Die Signale entsprechen ˇrPi  rPj ˇ < rP
15 einer Treppenfunktion, wobei für die Auswertung ˇ ˇ
, v ˇcos ˚i  cos ˚j ˇ < c=2f0T .(17.29)
die Werte zu der gleichen Stufenhöhe zu einem
Analysedatensatz zusammengefasst werden. Somit
16 ist es auch nicht nötig, die Messzeit auf die verschie- gilt. Bei einer Geschwindigkeit von v = 10 m/s des
denen Stufen zu verteilen, sondern bei allen Stufen Radarfahrzeugs (f0 D 6; 5 GHz; T D 40 ms ) fallen
17 wird ein T-langer Datensatz ausgewertet und somit alle stehenden Hindernisse innerhalb eines azimu-
resultiert gemäß Gl. (17.21) eine Relativgeschwin- talen Sichtbereichs von ±5,6° in dieselbe Geschwin-
digkeitsauflösung von rP D c=2f0 T entsprechend digkeitszelle wie die stehenden Hindernisse auf der
18 rP D .1m=s/=.510Hz  T / bei 76,5 GHz. Mit einer Mittenlinie. Daher ist ein solches Verfahren für die
Messdauer von 40 ms kann eine Geschwindigkeits- Detektion von stehenden Hindernissen ungeeignet.
19 zelle von etwa 1/20 m/s erreicht werden. Damit kön- Das Zusammenfassen mehrerer Frequenz-
nen Objekte unterschieden werden, die drei Zellen stufen erlaubt noch weitere Signalverbesserungs-
20 Differenz zeigen, also Geschwindigkeitsunterschiede maßnahmen. So kann der Abtastzeitpunkt für das
von nur 3/20 m/s oder etwa 0,5 km/h. Diese hohe empfangene Signal mit einem definierten Verzug
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
273 17

1 2!i
ult;r;i;A .ti;A / D At Ar cos rP
2 c

2m!
C r ti;A C
c

2r
C !0;A ;
c
(17.32)
i D 1; : : : ; n:

Für die zweite Treppe ergibt sich analog das gleiche


Ergebnis, wobei der Index A durch B zu ersetzen
ist. Dabei ist zu beachten, dass die Abtastzeitpunkte
ti,B = t0 + Dt0 +2iDt0 zu ti,A um Dt0 versetzt sind und
die Startkreisfrequenz w0,B um DwBA zu w0,A verschie-
den ist. Für beide Fälle erhält man eine zeitdiskrete
.. Abb. 17.12  Bestimmung des Abstands und der Relativge-
schwindigkeit beim Verfahren Linear Frequency Modulation
Datenreihe, die nach der Fouriertransformation bei
Shift Keying (LFMCW/FSK) nach [12] derselben Kreisfrequenz

2
zum Beginn der Stufe gelegt werden, sodass Über- !obj D P (17.33)
.m! r C !0 r/
reichweiten von Objekten mit größeren Laufzei- c
ten als dieser Verzugszeit ausgeschlossen werden
können. eine (komplexe) Amplitude liefert. Die zur Verein-
fachung durchgeführte Näherung des Vorfaktors für
17.2.5.2 FMSK die Dopplerfrequenz, der Trägerfrequenz wi, mit der
Eine ebenfalls auf Frequenztreppen basierende Startfrequenz w0, führt bei Modulationshüben von
Modulation nennt sich Linear Frequency Modu- 100 MHz und der Trägerfrequenz 76,5 GHz nur zu
lation Shift Keying (LFMCW/FSK) [12]. Diese ist Fehlern (wi – w0) / wi im Promillebereich.
in . Abb. 17.11 dargestellt. Einer Frequenztreppe A In beiden Treppen findet sich bei wobj eine Am-
mit nS Stufen folgt zeit- und frequenzversetzt eine plitude gleichen Betrags, aber mit unterschiedlicher
Frequenztreppe B. Für Treppe A ergibt sich analog Phase
zu Gl. (17.22) und Gl. (17.23) ein Mischsignal
2
'BA D P (17.34)
.!BA r C !0 t0 r/;
 c
1 2!i
ult;r;i;A .ti;A / D At Ar cos P i;A
rt
2 c
2r
 von einem geschwindigkeitsabhängigen Teil wegen
C !i;A ; (17.30) des Zeitversatzes und zusätzlich von einem ab-
c
standsabhängigen Teil wegen des Frequenzversat-
i D 1; : : : ; n: zes. Beide Informationen, die Frequenz des Signals
wobei (Gl. (17.33)) und die Phasendifferenz zwischen den
komplexen Amplituden der beiden Treppen (Gl.
!i;A D !0;A C iA  !
(17.34)) sind eine Linearkombination von Relativ-
D !0;A C ii;A  m! ; geschwindigkeit und Abstand und lassen sich ent-
ti;A D t0 C 2it0 I(17.31) sprechend in einem rP  rDiagramm jeweils als
i D 1; : : : ; nS ; Geraden darstellen (siehe auch . Abb. 17.12).

mit den Abtastzeitpunkten ti,A und der Treppenstei- c !obj m! (17.35)


rP D   r;
gung der Kreisfrequenz mw = Dw / (ti+1 – ti). Wieder 2 !0 !0
in Gl. (17.30) eingesetzt,
274 Kapitel 17 • Radarsensorik

c !obj; max  2c !0 rP
1 c 'BA
rP D  
!BA (17.36)
r:
rmax D
2

m!
2 !0 t0 !0 t0 2 nS 2
c 2T  c !0 rP
2 D  M
Sofern die zweite Treppe nicht exakt in der Mitte 2 m! (17.41)
der ersten liegt, also mw Dt0 ≠ DwBA, gibt es einen c !0 rP
3 Schnittpunkt beider Geraden, wodurch eine eindeu-
D
4m!  t0

m!
;

tige Bestimmung sowohl des Abstands als auch der


4 Relativgeschwindigkeit möglich wird: die Zahl der Treppenstufen nS bestimmt das Verhält-
nis rmax/Dr zwischen maximalem Messabstand und
c t0  !obj  'BA (17.37)
5 rD 
2 m!  t0  !BA
; der Abstandsauflösung. Eine Dopplerverschiebung
führt entsprechend Gl. (17.33) zu einer Ausdehnung
oder Verkürzung des maximalen Messabstands, ent-
6 rP D
c

m!  'BA  !BA  !obj (17.38)
; sprechend dem zweiten Term von Gl. (17.41).
2!0 m!  t0  !BA Bei der Anwendung dieser Gleichungen (17.37)
7 und (17.38) ist darauf zu achten, dass die Kreisfre-
Da die Dauer der Treppen die Messzeit TM = 2nDt0 quenz wobj vorzeichenbehaftet ist. Ohne Einsatz ei-
bestimmt, lässt sich gemäß Gl. (17.21) eine Relativ- nes I/Q-Mischers ist das Vorzeichen der Frequenz
8 geschwindigkeitszelle von aber nicht bekannt, sodass über Annahmen das
Vorzeichen zu bestimmen ist. Dabei können posi-
9 rP D
c (17.39) tive Abstände vorausgesetzt werden, sodass die Ob-
4f0 nS t0 jektfrequenzen bei positiver Steigung positiv sind.
10 Dies gilt zumindest solange .m! r C !0 r/ P > 0 ist.
angeben. Die Abstandsauflösung hängt ebenfalls Bei positiver Treppensteigung folgt daraus, dass für
von der Messdauer ab, da auch die Abstandsauflö- Objekte unterhalb einer
11 sung über die Frequenzauflösung gemäß Gl. (17.33)
bestimmt wird. Die Messzeit kürzt sich aber wieder m! (17.42)
ttc;min D .Pr=r/min D :
12 heraus, wenn stattdessen der Gesamtfrequenzhub !0
fsweep = mw TM / 2p diese Bedingung nicht mehr gegeben ist. ttc steht
für Time-to-Collision, die übliche Bezeichnung des
13 c !obj c 2=TM c
r D  D  D ;(17.40) Quotienten von Abstand und negativer Relativge-
2 m! 2 m! 2fsweep schwindigkeit. Für ein Beispiel mit einer ttc,min = 1 s
14 und 76,5 GHz Trägerfrequenz ist eine Steilheit von
verwendet wird. Dieser Ausdruck gilt uneinge- mw = 2p · 76,5 GHz/s erforderlich entsprechend ei-
15 schränkt auch für andere Verfahren und entspricht ner Frequenzrampe von 76,5 MHz in 1 ms. Grund-
der Heisenbergschen Unschärferelation, bei der das sätzlich tritt dieser Effekt des Vorzeichenwechsels
Produkt aus Zeitauflösung und Frequenzauflösung auch bei einer negativen Rampensteigung auf mit
16 mindestens den Wert 1 ergeben muss. Für eine be- einer entsprechenden „Fluchtzeit“, wobei keine An-
stimmte Zeitauflösung (hier Laufzeit) ist also eine wendung im Bereich der Fahrerassistenzsysteme
17 bestimmte Mindestbandbreite nötig. bekannt ist, die so schnell „fliehende“ Objekte er-
Die Treppenstufenhöhe 2mw · Dt0 bestimmt zum kennen muss. Daher kann eine negative Treppe mit
größten Teil den maximal messbaren Abstand ge- einer betragsmäßig erheblich geringeren Rampen-
18 mäß Nyquist-Theorem und Dt0 = TM / 2nS zu steigung betrieben werden.
Als letzten Parameter ist DwBA zu wählen. Als
19 Mindestforderung gilt, einen nullwertigen Nenner
in den Gl. (17.37) und (17.38) zu vermeiden, also
20 DwBA ≠ mw Dt0 zu wählen. Weiterhin ist zu beachten,
dass nach Gl. (17.34) die Phasendifferenz eindeutig
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
275 17

Da wie in ▶ Abschnitt 17.2.5.1 beschrieben, die


für die maximale Dopplerfrequenz notwendige Ab-
tastfrequenz noch genügend Zeitraum für Zwischen-
messungen erlaubt, können noch weitere Treppen
ineinander geschachtelt werden. So lässt sich die An-
ordnung von . Abb. 17.10 mit einer „Makrotreppe“
verbinden, wobei entsprechend der vorherigen
Überlegung der Versatz (die kleine Treppe) entge-
gen der Richtung der großen Treppe gewählt wird,
s. . Abb. 17.13. Dadurch kann zum einen gegenüber
dem Doppeltreppen-FMSK der Winkelversatz DjBA
nun über vier Differenzen statt einer deutlich besser
ermittelt werden und zum anderen gegenüber dem
.. Abb. 17.13  Frequenz-Zeitverlauf einer Kombination von FSK wegen des mit der Makrotreppe verbundenen
FSK und LFMCW/FSK, gestrichelt: die zu einem Datensatz
höheren Frequenzhubs auch eine Mehrzielfähigkeit
zusammengefassten Messpunkte
im Abstand erreicht werden, womit das Verfahren
auch für stehende Ziele tauglich wird.
im Bereich von 0 … 2p bleibt, so dass dieser Bereich
mindestens für Abstände bis rmax bei .rP D 0/ reichen 17.2.5.3 Dauerstrich-Frequenz­
muss, wenn die Mehrdeutigkeiten nicht durch an- modulation (Frequency
dere Plausibilisierungsverfahren aufgelöst werden Modulated Continuous Wave,
sollen. Hieraus ergibt sich die Bedingung für FMCW)
Eine vielfach verwendete Modulationsform ist die
c
j!BA j  D 4m!  t0(17.43) lineare Dauerstrich-Frequenzmodulation. Dabei
rmax wird die Momentanfrequenz kontinuierlich und
rampenförmig verändert
Mit etwas Reserve für die Änderung durch den
Dopplereffekt wDoppler,max · Dt0 ergibt sich die Aus- !.t / D !0 C m! .t  t0 /:(17.45)
legung von j!BA j < 106 s , also etwa 160 kHz
Frequenzsprung, wobei bei einer positiven Trep-
pensteigung ein negatives DwBA zu einem höhe- Damit erhält man nach Mischung von Empfangs-
ren Steigungsunterschied führt als ein positives. und Sendesignal
Da Abstand und Relativgeschwindigkeit gemäß
. Abb. 17.12 als Schnittpunkt zweier Geraden be- 1

2!0
stimmt werden, ist eine Orthogonalität bzgl. der ult;r;i .t/ D A t Ar cos rP
2 c
Fehlerrobustheit optimal, d. h. die Steigung der ei- 
2m!
nen Geraden sollte gleich dem negativen Kehrwert C r tC
der anderen Steigung sein, wobei beide Größen c
 2 
auf die Auflösungszelle (Dr nach Gl. (17.40) und 2r 2r (17.46)
C !0 C m! :
rP nach Gl. (17.39)) normiert werden. Mit den Gl. c c
(17.35) und (17.36) erfolgt dann die Festlegung ei-
nes optimalen einen zu Gl. (17.32) ähnlichen Ausdruck, wobei
eine konstante Phasenverschiebung von +(2r / c)2 mw
!BA;opt D m! t0 ;(17.44) durch die stetig ansteigende Sendefrequenz hinzu-
kommt, die aber ohne weitere Bedeutung bleibt.
d. h. die zweite Treppe beginnt um eine halbe Stufe Obwohl nun die Frequenz im Gegensatz zu den im
nach unten versetzt (vgl. [12]). vorherigen Abschnitt vorgestellten FMSK-Treppen
kontinuierlich verändert wird, liefert ein zu diskre-
276 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 17.15  FMCW mit einer negativen Rampe bei
8 .. Abb. 17.14  FMCW mit einer positiven Rampe bei einem
sich nähernden Objekt. Links oben: Gesendetes und empfan- einem sich nähernden Objekt. Links oben: Gesendetes und
genes Signal; rechts oben: Spektraldarstellung der Differenz- empfangenes Signal; rechts oben: Spektraldarstellung der

9 frequenz; unten: zu einer Frequenz zugehörige Abstands- und


Relativgeschwindigkeitswerte
Differenzfrequenz; unten: zu der detektierten Frequenz
zugehörige Abstands- und Relativgeschwindigkeitswerte für
beide Rampen

10 c m!;1 !obj;2  m!;2 !obj;1 (17.48)


ten Zeitpunkten abgetastetes Signal dieselbe Diffe- rP D  :
renzfrequenz wie bei der Treppenform, so dass Gl. 2!0 m!;1  m!;2
11 (17.33) gültig bleibt und eine Linearkombination Bei der Anwendung dieser Gleichungen ist wie
von Abstand und Relativgeschwindigkeit beschreibt. vorherig darauf zu achten, dass die Kreisfrequenzen
12 Ohne Vergleich mit der Phase einer anderen Rampe vorzeichenbehaftet sind. In identischer Weise gilt
ist die Phaseninformation hingegen nicht nutzbar. hier die Einschränkung gemäß Gl. (17.42).
Da nur die Frequenzinformationen auswertbar Das Mehr-Rampen-FMCW-Verfahren ist sehr
13 sind, lässt sich das Verfahren anschaulich gemäß einfach, solange nur ein Objekt detektiert wird.
. Abb. 17.14 verdeutlichen. Die Differenzfrequenz Dann sind die wobj,i eindeutig zuzuordnen. Dies
14 ist bei einer positiven Rampensteigung umso größer, gelingt ohne Weiteres nicht mehr, wenn mehrere
je größer der Abstand ist und je mehr sich ein Objekt Objekte detektiert werden. Wie in . Abb. 17.16
15 entfernt. Die Mehrdeutigkeit der Linearkombination dargestellt, sind Fehldeutungen möglich. Das erste
lässt sich auflösen, wenn eine weitere Rampe mit ei- Rampenpaar (durchgezogene Linien) erzeugt von
ner anderen Steigung mw vorliegt. Bei einer negati- zwei Objekten vier Schnittpunkte, von denen nur
16 ven Rampe, s. . Abb. 17.15, ist die Differenzfrequenz zwei korrekt sind. Durch eine oder mehrere zu-
ebenfalls umso so größer, je größer der Abstand ist. sätzliche Rampen mit unterschiedlichen Steigun-
17 Allerdings vergrößert sich die Differenz nicht mit gen lässt sich die Mehrdeutigkeit auflösen, zumin-
sich entfernenden Objekten, sondern mit sich annä- dest für eine kleine Anzahl von Objekten, in dem
hernden. Dies drückt sich in einer Linearkombina- man nur die Detektionen gelten lässt, die einen
18 tion, die in einem rP  rDiagramm zu einer nega- Schnittpunkt aller Rampen zeigen. Im Beispiel
tiven Steigung führt, aus. Wie in . Abb. 17.15, unten . Abb. 17.16 mit zwei zusätzlichen Rampen der
19 dargestellt, schneiden sich die Geraden bei halben Steigung finden sich im rP  rDiagramm
vier weitere Geraden. Aber nur zu den korrekten
c !obj;1  !obj;2 (17.47)
20 rD 
2 m!;1  m!;2
; Objekten schneiden sich alle Geraden der vier
Rampen. Bei Szenen mit einer Vielzahl gewünsch-
17.2  •  Abstands- und Geschwindigkeitsmessung
277 17
.. Abb. 17.16 Mehrdeu-
tigkeit der Zuordnung
bei FMCW für zwei Ziele.
Durchgezogene Kreise:
korrekte Zuordnung;
gestrichelte: falsche
Zuordnung und deren
Auflösung durch zwei
zusätzliche Rampen;
gestrichelte Geraden:
Linearkombination für die
zweite Doppelrampe

ter und ungewünschter Ziele wie die Leitplanken-


pfosten kann es trotzdem vorkommen, dass Mehr-
fachschnittpunkte festgestellt werden, die nicht
real korrespondieren. Als weiteres Kriterium für
die Unterdrückung von Falschzuordnungen kann
die Gleichheit der Amplituden herangezogen wer-
den, wobei hier vorausgesetzt werden muss, dass
die Rückstreuamplitude in den folgenden Rampen
auch wirklich nahezu gleich ist. Zwar kann diese
Annahme in Einzelfällen nicht zutreffen, die Fol-
gen sind aber gering, da einzelne Ausfälle (Drop- .. Abb. 17.17  Frequenz-Zeitverlauf für die Chirp Sequence
outs) vom nachfolgenden Tracking aufgefangen Modulation (Puls-Kompression)
werden. Trotz dieser Maßnahmen bleibt die Zu-
ordnungsmehrdeutigkeit die Achillesferse dieses ner Sequenz gleicher linearer Frequenzrampen
Verfahrens. besteht, s. . Abb. 17.17. Dieses Verfahren kombi-
Eine weitere Schwäche ist die fehlende Kohä- niert die Vorteile aller bisher beschriebenen Ver-
renz über die verschiedenen Rampen hinweg. Für fahren. In kurzen Abständen werden nR gleiche
die Qualität der Relativgeschwindigkeit ist die Mess- lineare Frequenzrampen wiederholt, die, wenn sie
dauer TR der einzelnen Rampen relevant, nicht die wie in . Abb. 17.17 dargestellt, frequenzsteigernd
gesamte Messdauer. Die kleinste Geschwindigkeits- (Up-Chirp) sind, im akustischen Bereich als Zir-
zelle wird gemäß Gl. (17.21) über die Dauer TR,max pen (Chirp) hören würden. Der Hub der Rampen
der längsten Einzelrampe bestimmt. beträgt typisch fchirp = 30 … 300 MHz. Die Wieder-
holrate richtet sich nach der Dopplerfrequenz und
17.2.5.4 Chirp Sequence Modulation sollte etwa 80 kHz betragen, wenn Mehrdeutigkei-
(Multi-Chirp, ten vermieden werden sollen, die aber wie vorher
Pulskompression) mehrfach erwähnt, auch durch Plausibilitätsbe-
Die im Folgenden beschriebene Modulation hat trachtung im Tracking behoben werden können, so
mehrere Bezeichnungen. Hier wird sie als Chirp dass durchaus niedrigere Wiederholraten möglich
Sequence Modulation bezeichnet, weil sie aus ei- sind. Obwohl für die einzelnen Rampen Gl. (17.33)
278 Kapitel 17 • Radarsensorik

gilt, gibt es trotzdem eine eindeutige Zuordnung res als eine zwei-dimensionale Fouriertransforma-
1 vom Abstand zur Frequenzzelle tion des Datenfelds, bei dem Messdaten einzelner
Chirps die Spalten bilden und die Folgechirps die
2 !obj D
2
c
m! r,(17.49) Zeilen. Das Ergebnis liegt in einem zwei-dimensi-
onalen Spektrum vor, dessen Elementarzelle durch
weil die Rampen so kurz sind, dass eine Doppler- Dr = c / 2fchirp und rP D c=2f0 TM beschrieben wird.
3 verschiebung innerhalb der Rampendauer nicht re- Die Ausdehnung des Feldes wird durch die Abtast-
levant wird und somit eine strenge Korrespondenz frequenz fs und die Chirpfolgefrequenz nR / TM be-
4 zwischen wobj und r herrscht. Diese Beziehung gilt stimmt.
für alle folgenden Rampen, solange das Ziel in der
c
5 Gesamtmesszeit innerhalb der Abstandszellenaus- rmax D
4m!
fs ;
dehnung bleibt. Diese Bedingung kann durchaus
bei einer hohen Relativgeschwindigkeit und einer nR rP nR c (17.51)
6 langen Gesamtmessdauer TM verletzt werden, wenn
jrj
P max D
2
D 
TM 4f0
nämlich
7 r c
Die Chirp Sequence Modulation erreicht eine best-
jrj
P > D (17.50) mögliche Ausnutzung der Signalleistung, der Band-
TM 2TM fchirp breite und der Messzeit. Die Qualität der Messung
8 wird neben dem Rauschen des Empfangszweigs
ist. Bei einer hohen Abstandsauflösung von 1 m (ent- nur durch die Qualität der Frequenzerzeugung
9 sprechend fchirp = 150 MHz) und einer Messdauer von bestimmt, denn Nichtlinearität, hohes Phasenrau-
20 ms tritt dies oberhalb jrj
P D 50 m=s auf. Trotz sol- schen und Ungenauigkeiten bei der Rampenwie-
10 cher Grenzen kann davon gesprochen werden, dass derholung (Zeit- und Frequenzfehler) führen zum
die Frequenzzellen Abstandszellen entsprechen, die „Auslaufen“ der Detektion-Peaks und verschlech-
in zur kohärenten Pulsdemodulation (Puls-Doppler) tern die Detektionsfähigkeit, vor allem am Rande
11 ähnlicher Weise als Range-Gates aufgefasst werden. des Detektionsfelds, also bei großen Abständen und
Zu jeder Zelle existiert nach der Fouriertransfor- Relativgeschwindigkeiten.
12 mation wie bei der Puls-Doppler-Auswertung in Der Nachteil der Chirp-Sequence-Modulation
▶ Abschnitt 17.2.4.3 eine komplexe Amplitude. Diese ist die hohe Abtastrate (> 2 rr
max
 TnMR ) und die re-
Amplitude beschreibt in den folgenden Rampen in sultierend große Zahl an Messwerten  2 rr
13  nR
max

gleicher Weise wie die Pulsfolgen in der komplexen für die zweidimensionale Fouriertransformation.
Ebene einen Kreis mit der der Dopplerfrequenz zu- So entstehen fast leere Datenfelder mit mehr als
14 gehörigen Kreisgeschwindigkeit wDoppler. Eine Fou- 100.000 Stützpunkten für die maximal 100 Ob-
riertransformation der komplexen Amplituden der jekte, entsprechend besteht hier der Wunsch,
15 Rampenfolge mit derselben Abstandszelle liefert die Datenrate zu senken. Dies ist auf Kosten von
daher direkt die Dopplerfrequenz und zwar sowohl Alias-Effekten möglich, z. B. durch Reduktion der
für mehrere Ziele in derselben Abstandszelle und un- Chirp-Wiederholfrequenz. Die sich damit einge-
16 terschiedlicher Relativgeschwindigkeit als auch mit handelte Relativgeschwindigkeitsmehrdeutigkeit
Vorzeichen, da nun ein komplexer Datensatz trans- lässt sich für Einzelziele durch Vergleich mit der
17 formiert wird. Die Analogie zur Puls-Doppler-Aus- Abstandsableitung beheben. Diese Maßnahme ver-
wertung führt daher auch zur Bezeichnung Pulskom- sagt allerdings, wenn Ziele mit einem Geschwin-
pression, weil nun die gesamte Energie der Rampe auf digkeitsunterschied von einem Vielfachen der zur
18 ein Range-Gate konzentriert wurde und somit gegen- Chirp-Wiederholfrequenz korrespondierenden
n c
über einer ca. tausendfach kleineren Pulsdauer ein Geschwindigkeit vchirp D 2f0RTM verschmelzen –
19 erheblich besseres Signal-Rausch-Verhältnis erreicht wie beispielsweise ein Ziel, das mit vchirp entlang
wird, ohne die Spitzenleistung dafür anzuheben. einer Leitplanke fährt. Die Folgen sind falsch be-
20 Der beschriebene Ansatz mit zwei aufeinander stimmte Beschleunigungen des Zielobjekts und
folgenden Fouriertransformationen ist nichts ande- daraus abgeleitet auch falsche Reaktionen z. B. ei-
17.3 • Winkelmessung
279 17

ner ACC. Abhilfe können variable Chirp-Wieder- der Sende- mit der Empfangscharakteristik. So lange
holfrequenzen leisten, um zumindest über mehrere die Sendeantenne nicht weit von der Empfangsan-
Messzyklen die Eindeutigkeit wiederherzustellen. tenne entfernt ist, kann die Zweiwege-Charakteristik
In jedem Fall muss bei einer reduzierten Chirp- als das (i. A. komplexe) Produkt der Einwege-Cha-
Wiederholfrequenz beachtet werden, dass die rakteristik beschrieben werden. Bei Verwendung ei-
Frequenz-Abstandszuordnung um einen Relativge- nes monostatischen Einstrahl-Konzepts, also wenn
schwindigkeitsanteil korrigiert werden muss, ana- der Sendestrahl durch dieselbe Antenneneinheit
log zum FMCW-Verfahren (vgl. Abb. 17.14). Neben läuft wie das Empfangssignal, ergibt sich das (bei
der Reduktion der Chirp-Wiederholfrequenz kann nicht um Antennenmitte spiegelsymmetrischer Be-
auch bei der Abtastung innerhalb eines Chirps mit legungsfunktion komplexe) Quadrat E2(f, J) .
Unterabtastung eine Reduktion des Datenaufkom- Für drei einfache, symmetrische eindimen-
mens erreicht werden. Natürlich fallen auch dabei sionale Fälle von Belegungsfunktionen ist die
entsprechende Alias-Nebenwirkungen an. sich daraus ergebende Antennencharakteristik in
. Abb. 17.18 dargestellt. Die Abszisse verwendet
die normierte Größe F = (lA / l)sinf und ist somit
17.3 Winkelmessung durch das Verhältnis von Aperturweite lA (Anten-
nenöffnungsweite) und Wellenlänge skaliert.
17.3.1 Antennen-theoretische An diesen Beispielen lässt sich bereits der
Vorbetrachtungen Konflikt zwischen möglichst starker Bündelung
der Hauptkeule und möglichst geringer Höhe der
Vor der Beschreibung der Winkelbestimmung Nebenkeulen ablesen. Wie in einer Tabelle bei [2]
werden benötigte Grundlagen zur Strahlform von aufgeführt ist, kann je nach Belegungsfunktion ein
Radarsensoren eingeführt. Die Strahlcharakteristik zum Winkelauswertungskonzept passender Kom-
der elektrischen Feldstärke E(f, J) im Fernfeld, d. h. promiss gewählt werden, vgl. . Abb. 17.19. Eine
bei Abständen, die viel größer als die Wellenlänge für die Unterdrückung der ersten Nebenkeule op-
sind, ergibt sich (vgl. [2]) als inverse Fouriertrans- timale Charakteristik weist das Hamming-Fenster
formierte der Antennenbelegungsfunktion A(x, y), auf, bei dem am Rand noch 8 % der in der Mitte
wobei der Azimutwinkel f zur Belegung in x-Rich- herrschenden Amplitude verbleibt. Trotz solcher
tung und der Elevationswinkel J zur y-Richtung Optimierungsstrategie müssen die Antennen etwa
korrespondiert. Der nach links positive Azimut- achtzigfach größer als die Wellenlänge mal dem
winkel f liegt in der Sensor-Horizontalebene des Kehrwert der Hauptkeulenbreite pro Grad sein, ein
in ZS-Richtung orientierten Sensors und der Ele- Grad Hauptkeulenbreite verlangt eine etwa lA = 80 l
vationswinkel J beschreibt den Winkel zur ZS-XS- große Aperturweite, entsprechend 32 cm bei 1° und
Ebene (nach oben positiv). Für eine ebene Antenne 77 GHz.
parallel zur XS-YS-Ebene ergibt sich gemäß [2] Als weitere unerwünschte Nebenwirkung ei-
ner hohen Nebenkeulenunterdrückung kommt

eine Absenkung des Antennengewinns hinzu (s. a.
E.˚; #/ D A.x; y/
. Abb. 17.18), denn die Unterdrückung wird immer
2 (17.52) durch eine zum Rand der Antenne hin sinkende Be-
ej  .sin .x˚ Cy#//
dxdy
legungsfunktion erwirkt. Entsprechend sinkt die ef-
fektive Antennenfläche, die Hauptkeule wird breiter
mit  2 D ˚ 2 C # 2 und somit die Leistung auf einen breiteren Bereich
verteilt, was wiederum zu einer Abnahme der Inten-
Diese Gleichung beschreibt zunächst die Feldstär- sität in der Mitte des Strahls führt.
keverteilung im Fernfeld für eine mit der Belegungs- Für Long-Range-Radaranwendungen wie ACC
funktion A(x, y) abgestrahlten Welle, gilt aber in (s. ▶ Kap. 46) ist für die Gesamtabdeckung ein Win-
gleicher Weise für den Empfang. Somit gilt für die kelbereich ˚max von etwa 10°… 20° Azimut und
Winkelabhängigkeit eines Sensors die Multiplikation 3° Elevation gefordert. Eine Trennfähigkeit hin-
280 Kapitel 17 • Radarsensorik

.. Abb. 17.18 Berech-
1 nete eindimensionale
Antennencharakteristik für
eine Rechteckbelegungs-
2 funktion und eine einfache
sowie eine quadrierte
Cosinus-Halbglocke,
3 normiert auf die Gesamt-
leistung. Die Abszissenva-
riable F = (lA / l)sinf ist der
4 auf das Verhältnis lA / l der
Aperturweite zur Wellen-

5 länge normierte Sinus des


Abstrahlwinkels.

6
7
8
9 sichtlich der Elevation wäre zur Unterscheidung
einer Brücke von einem stehenden Fahrzeug – Hö-
10 henunterschied etwa 2 m – wünschenswert. Dafür
aber wäre eine Trennfähigkeit im Fernbereich von
1° (= 2 m/116 m) und folglich eine Antenne von
11 mindestens 30 cm erforderlich, was hinsichtlich des
verfügbaren Bauraums indiskutabel ist. Somit be-
12 schränkt sich die Winkelauswertung im Fernbereich
auf den Azimut. Für die in den letzten Jahren stark
zugenommene Anwendung von Radar im Nahbe-
13 reich, insbesondere für Full Speed Range-ACC (s.
▶ Kap. 46) oder für Kollisionsschutzsysteme, sind
14 auch stehende Hindernisse zu klassifizieren. Daher
wird für diese Funktionen nicht nur ein deutlich
15 ausgeweiteter azimutaler Bereich (30°… 60°) be-
.. Abb. 17.19  Nebenkeulenunterdrückung vs. Breite der
nötigt, sondern auch eine Auflösung in Elevation
Hauptkeule (bei –3 dB, Einweg) nach [2]
gewünscht. Hier kann man insbesondere mit einer
16 Planar-Antenne (s. ▶ Abschnitt 17.3.6) mit vertret-
baren Abmessungen die Messung der Elevation er- Planarantenne mechanisch so schnell geschwenkt,
17 reichen und somit die viel zitierte Cola-Dose von dass innerhalb eines Mess- und Auswertezyklus
höheren Objekten unterscheiden. (50 … 200 ms) der gesamte azimutale Erfassungs-
bereich überstrichen wird. . Abbildung 17.20 zeigt
18 das Prinzip. Die Radarkeule hat wegen der oben be-
17.3.2 Scanning schriebenen Abhängigkeit zur Aperturweite min-
19 destens 2° Hauptkeulenbreite, wenn die Apertur-
Das vom Verständnis einfachste Verfahren zur weite nicht größer als 15 cm werden soll. Die Keule
20 Winkelbestimmung ist das mechanische Scan- wird in etwa 1°-Schritten über den Messbereich „ge-
ning. Dazu wird eine Strahlablenkeinheit oder eine schoben“. Statt einer wirklich diskreten Schrittsteu-
17.3 • Winkelmessung
281 17

kann eine noch kleinere Schrittweite gewählt wer-


den und somit die Bewegungsunschärfe verkleinert
werden. Dagegen spricht aber, dass die Aufteilung
der Messzeit in viele, den Winkelsegmenten zuge-
ordnete Intervalle die Trennschärfe für die Dopp-
lerauswertung verschlechtert. Damit wird auch klar,
dass ein mechanischer Scanner hinsichtlich der
Relativgeschwindigkeitsmessung prinzipbedingt
schlechter sein wird als eine die gleiche Messzeit
messende Mehrstrahlanordnung.
Weiterhin ist zu bemerken, dass der azimutale
Auswertebereich kleiner als der Scanbereich ist,
denn für eine Schwerpunktbestimmung muss zu-
mindest am Rande ein Abfall erkennbar werden.
Daher ist der tatsächliche Winkelbereich zu beiden
Rändern hin um etwa eine halbe Strahlbreite gerin-
ger als der Scanbereich. Der große Vorteil des Scan-
ningverfahrens ist neben der hohen Genauigkeit,
aufgrund des im Vergleich zu anderen Konzepten
schmaleren Strahls, auch die Fähigkeit, Objekte
hinsichtlich des Winkels zu trennen. Eine Bestim-
mung der lateralen Objektausdehnung ist nur bei
kleineren Abständen sinnvoll möglich, da auch ein
schmaler Strahl von 2° Breite in 50 m etwa 1,8 m
ausgedehnt ist und somit schon so breit ist wie ein
.. Abb. 17.20  Scanner-Prinzip zur Winkelbestimmung. Pkw.
Oben: enger gebündelter Strahl überstreicht den Gesam-
Allerdings lässt sich noch etwas erreichen, wenn
terfassungsbereich und detektiert das Punktziel; Mitte: die
azimutale Winkelcharakteristik des gebündelten Strahls; die Antennencharakteristik, z. B. durch Vermessen
unten: Ergebnis für ein Punktziel am Ende der Herstellung, bekannt ist. Mithilfe von
Dekonvolutions-Algorithmen können sowohl die
erung erfolgt eine kontinuierliche Scanbewegung, Werte für Auflösung als auch die Trennfähigkeit im
um geräuscherzeugende Beschleunigungen zu günstigen Fall um etwa einen Faktor ½ verbessert
vermeiden und mit geringeren Stellleistungen aus- werden, vgl. [10].
zukommen. Die Messwerte werden dann trotzdem
einer diskreten Winkelposition zugeordnet, nämlich
der Mitte der Scanpositionen innerhalb eines Mess- 17.3.3 Monopuls
fensters, die zu diesem Winkelsegment zugeordnet
ist. Zwar erhöht sich die Unschärfe, die sich durch Das Monopuls-Verfahren basiert auf einer Doppel-
die Keulenbreite ergibt, um eine „Bewegungsun- antennen-Anordnung, siehe . Abb. 17.21, wobei
schärfe“. Da aber zur Vermeidung von Leckage- diese zumeist nur für den Empfang eingesetzt wird,
Effekten die Messdaten gefenstert werden, d. h. am während der Sendestrahl mittels einer einzelnen
Anfang und am Ende des Messintervalls stark redu- separaten Antenne emittiert wird.
ziert werden, ist die effektive Bewegungsunschärfe Die (Empfangs-)Antennen können sich durch
auf etwa 30 % vermindert. Weiterhin kommt zugute, die Strahlcharakteristika unterscheiden oder ein-
dass sich die Unschärfen näherungsweise (bzw. ex- fach nur aufgrund der Position, die bei azimutaler
akt bei einer Gauß-Charakteristik von Antenne und Winkelmessung horizontal um G · l verschoben ist.
Fensterfunktion) geometrisch addieren, sodass der Für zwei benachbarte, sonst gleiche Antennenfelder
Verlust an Schärfe nur etwa 10 % beträgt. Natürlich findet man einen Phasenunterschied von
282 Kapitel 17 • Radarsensorik

Somit lässt sich aus dem Verhältnis Differenz- zu


1 Summensignal der Azimutwinkel bestimmen, ohne
dass dafür eine phasenempfindliche Messung erfor-
2 derlich ist:
jA j
!
arctan jA
3 ˚ D arcsin

˙j

(17.55)

4 Allerdings ist wegen der Eindeutigkeit die Beschrän-


kung auf Winkel Dj = 2pG sinf < p/2 erforderlich.
5 Daraus folgt die Dimensionierungsvorschrift von
4G sinfmax < 1. Bei einem Maximalazimut von fmax
= 30° wären die Antennen genau um 0,5 l entfernt,
6 bei 6° etwa 2,5 l.
Eine weitere Möglichkeit des Monopulsverfah-
7 rens besteht im Amplitudenvergleich bei unter-
schiedlicher Strahlcharakteristik. In üblicherweise
zur Mitte symmetrischer Anordnung besitzen die
8 Strahlen außerhalb des Nullwinkels die Maxima,
haben aber beim Nullwinkel wegen der Symmetrie
9 eine gleiche Amplitude. Der Quotient der Ampli-
tudenbeträge
10
– jA2 j D jAj
jA1 j D
11 + jA2 j D jAj
jA1 j D
kann wieder zunächst als etwa lineares Maß des
12 Azimutwinkels herangezogen werden. Kann von ei-
ner konstanten Rückstreuung zwischen zwei aufei-
nanderfolgenden Messungen ausgegangen werden,
13 so reicht die wechselweise sequentielle Auswertung.
.. Abb. 17.21  Monopuls-Prinzip zur Winkelbestimmung.
Dieses Verfahren wird daher auch Sequential Lobing
14 Oben: Bildung der Summen- und Differenzsignale; Mitte: die
azimutale Winkelcharakteristik der so gebildeten Strahlen; genannt.
unten: typische Kennlinie Azimutwinkels vs. Quotient der Wird wie in . Abb. 17.21 zuvor dargestellt, das
15 Amplitudenbeträge von Differenz- und Summensignal bei
kleineren Winkeln
Differenz- und Summensignal direkt gebildet, dann
überlagern sich Phasenunterschied und Amplitu-
denunterschied, wodurch sich eine noch steilere
16 ' D 2 sin ˚(17.53) Kennung zwischen Azimutwinkel und Quotient
|AD| / |AS| ergibt.
17 in Abhängigkeit des Azimutwinkels. Für die Das hier beschriebene Messverfahren ist für ein-
Amplituden des Differenzsignals bedeutet dies, zelne Punktziele akkurat. Allerdings können schon
dass statt der Originalamplituden A1 und A2 mit zwei Ziele auf eine in demselben Messzyklus nicht
18 jA1 j D jA2 j D jAj für Differenz- und Summen- erkennbaren Weise unsinnige Werte erzeugen. Da-
signal ein mit dem Sinus bzw. dem Cosinus des Pha- her ist bei Verwendung dieses Verfahrens darauf zu
19 senunterschieds gewichteter Betrag gemessen wird: achten, dass durch eine gute Abstands- und/oder
Relativgeschwindigkeitstrennung die Wahrschein-
20 jA j D 2 jAj sin
'
I jA˙ j D 2 jAj cos
' lichkeit sehr gering wird, dass der Azimut von zwei
2 2 (17.54) oder mehr Zielen stammt.
17.3 • Winkelmessung
283 17

.. Abb. 17.23  Zwei-Wege-Antennendiagramm eines Drei-


strahl-Puls-Doppler-Radars, Beispiel Continental ARS200 [11]

.. Abb. 17.22  Mehrstrahl-Prinzip zur Winkelbestimmung. ist in . Abb. 17.22 dargestellt. Die Winkelauswer-
Oben: überlappende Keulen; Mitte: die azimutale Winkelcha-
tung erfolgt durch den Vergleich mit der sensor-
rakteristik der einzelnen Strahlen; unten: von einem Punktre-
flektor resultierende Leistung in den einzelnen Strahlen
spezifischen normierten Antennencharakteristik,
die in einem nicht-flüchtigen Speicher abgelegt ist.
Beispiele realer Winkelcharakteristika sind in den
Werden das Differenz- und das Summensignal . Abb. 17.23 und 17.24 dargestellt.
simultan gemessen und ist eine komplexe Ampli- Nur der mittige Strahl von . Abb. 17.23 zeigt
tudenbestimmung möglich, dann besteht grund- eine starke Nebenkeulenunterdrückung. Die
sätzlich doch die Möglichkeit einer Signalplausi- Nachbarkeulen zeigen jeweils zur Gegenseite ihrer
bilisierung über die Differenzphase zwischen AD Hauptorientierung deutlich erhöhte Nebenzipfel
und AS. Dazu bedient man sich der Trennung der auf, die damit auf eine asymmetrische Belegungs-
Einflüsse (Amplitudencharakteristik und Phasen- funktion hinweist, die von der außermittigen Be-
unterschied). Da unterschiedliche Amplitudencha- strahlung herrührt, vgl. auch ▶ Abschnitt  17.8.3.
rakteristika auch zumeist mit Phasenunterschieden Beim Vierstrahler in . Abb. 17.24 sind alle Strahlen
verbunden sind, ist eine Speicherung der Gesamt- asymmetrisch, die äußeren in besonderem Maße.
charakteristik (Amplitudenverhältnis, Phasenun- Zur Ermittlung der Charakteristik werden am
terschied) in Abhängigkeit vom Azimutwinkel Ende der Sensor-Produktion automatisiert Kenn-
sinnvoll. Ein weiterer Vorteil ist die Verdopplung felder mittels Zielsimulatoren bestimmt. Die ge-
des Eindeutigkeitsbereichs der Phasenauswertung messenen Signalleistungen |Ai|2 des i-ten Strahls
auf ±p, da bei arctan-Berechnung auch die Vorzei- (i = 1 … n) werden auf die Summe der Leistungen
chen der komplexen Amplituden genutzt werden aller Strahlen normiert
können.
jAi j2
ai D
P
n
jAj j2
17.3.4 Mehrstrahler j D1

Die Verwendung von Mehrstrahlern ermöglicht so dass bei einem Punktziel, das sich im Azimutwin-
die Verbesserung des Monopulsverfahrens. Zum kel f0 befindet, die Kreuzkorrelation
einen wird bei gegebener Einzelstrahlbreite der
Messbereich ausgedehnt. Zum anderen kann in den n
X
meisten Fällen eine wie oben beschriebene Mehr- K.˚ / D ai  anorm;i .˚ /(17.56)
zielverfälschung erkannt werden. Das Grundprinzip i D1
284 Kapitel 17 • Radarsensorik

.. Abb. 17.24 Zwei-Wege-
1 Antennendiagramm eines
Vierstrahl-FMCW-Radars,
Beispiel Bosch-LRR2 [13]
2
3
4
5
6
7
mit dem entsprechend normierten Winkeldia- zuvor beschriebenen Weise (Gl. (17.56)) ausgewer-
8 gramm anorm,i bei einer Verschiebung ft = f0 ma- tet werden können.
ximal und einen Wert von nahe 1 annimmt. Ist der Simultaner Empfang bei Mehrstrahlern heißt,
9 Maximalwert deutlich kleiner als 1, dann kann da- dass zunächst nur die Empfängerseite mehrstrahlig
von ausgegangen werden, dass die Voraussetzung ist, während der Sendestrahl entweder aus einem
10 eines Einzelreflektors nicht gegeben ist und somit separaten Sendezweig kommt oder sich wie im Bei-
dem ermittelten Winkel nicht vertraut werden darf. spiel aus ▶ Abschnitt 17.8.1 aus der Überlagerung
Allerdings kann eine Auswertung gemäß Gl. (17.56) von mehreren Sendezweigen ergibt. Grundsätzlich
11 auch bei K(f0) ≈ 1 zu Verfälschungen führen, wenn lassen sich auch die Sendezweige verändern, z. B.
praktisch nur eine Keule eine hohe relative Emp- durch Schalter, allerdings werden damit zumeist
12 fangsleistung aufweist. Daher kann alternativ das auch die Mischer der entsprechenden Zweige
sogenannte Antennenmatching auf dB bezogen log- lahmgelegt, die für die Auswertung der empfange-
arithmisch ausgeführt werden und dann daraus der nen Signale benötigt werden. Außerdem muss für
13 Korrelationskoeffizient bewertet werden. Dies ver- eine solche sendes­eitige Veränderung analog zum
langt jedoch einen hinreichenden Signal-Rausch- Scanning-Verfahren Messzeit zur Verfügung gestellt
14 Abstand aller Werte. werden, wodurch entweder länger gemessen oder
Auch bei Mehrstrahlkonzepten kann man von die Messzeit auf verschiedenen Strahlkonfiguratio-
15 den Phasenunterschieden gemäß Gl. (17.53) pro- nen aufgeteilt wird, wobei dies zu einer Verschlech-
fitieren, wenn das reflektierte Signal simultan auf terung der Relativgeschwindigkeitsmessung führt.
mehreren Kanälen empfangen wird. So erhält man Der simultane Betrieb von Mehrstrahlern mit
16 bei einem n-Strahler n–1 zusätzliche Informationen. Phasenauswertung kann auch als eine (einfache)
Eine Möglichkeit, diese auszuwerten, besteht darin, Form des digitalen Beamforming bezeichnet wer-
17 dass einem Strahl k, z. B. dem Mittenstrahl oder bei den, da die sequentielle Suche nach der höchsten
gerader Strahlanzahl einem der beiden mittleren, Korrelation abläuft, wie wenn nacheinander die An-
die Referenzphase zugeordnet wird. Dann lassen tenne mit ihrer Phasen- und Amplitudenkennung
18 sich aus der Differenzphase ' zu jedem der an- virtuell in die Suchrichtung gelenkt wird. Allerdings
deren Strahlen jeweils Real- und Imaginärteile bleibt die Sendecharakteristik unverändert, solange
19 AQ;i D jAi j cos '=2 und AI;i D jAi j sin '=2 nicht auch die Sendezweige verändert werden. Dies
bestimmen. So stehen bei simultanem Empfang ei- kann neben dem Schalten der Sendezweige auch
20 nes n-Strahlers insgesamt 2n–1 Informationen für durch gezielte Phasenverschiebungen zwischen
die Winkelbestimmung zur Verfügung, die in der den Einzelantennen der Sendezweige geschehen.
17.3 • Winkelmessung
285 17
.. Abb. 17.25  Doppel-Radar-Anordnung mit asymmetri-
schen Vierstrahl-Radarsensoren [14]

.. Abb. 17.26 Detektions-
abdeckung der Doppel-
Radar-Anordnung mit
asymmetrischen Vierstrahl-
Radarsensoren [14]

Solche meist als planare Phased-Arrays ausgeführte zeugaußen gerichtet sind, während die leistungs-
Antennen ermöglichen eine Vielzahl an Auswerte- stärkeren zentralen Keulen weitgehend parallel nach
methoden, auf die in ▶ Abschnitt 17.3.6 weiter ein- vorn ausgerichtet sind, vgl. . Abb. 17.25. Es ergeben
gegangen wird. sich vor allem drei Vorteile: eine breite Abdeckung
von Beginn an (d. h. nach der ersten Abstandszelle),
etwa ± 20° Sicht im Nahbereich und eine Überlap-
17.3.5 Dual-Sensor-Konzept pung im Hauptbereich, vgl. . Abb. 17.26. Die Über-
lappung kann sowohl zur Fehlererkennung als auch
Das in der Veröffentlichung [14] vorgestellte, mitt- zur Verbesserung der Signalverarbeitung, vorrangig
lerweile auch in Serie befindliche Konzept bündelt der Azimutwinkelbestimmung, eingesetzt werden.
zwei Radarsensoren zu einem integralen Dual-Sen- Dass für eine solche Anordnung nun zwei Einbau-
sor-Konzept. Dabei kommen zwei fast spiegelbild- plätze gefunden werden müssen, kann sowohl nega-
lich asymmetrische Antennencharakteristika zum tiv als auch positiv bewertet werden, insbesondere
Einsatz, bei denen die für eine breite Nahbereichs- positiv, wenn bei sichtbarem Einbau die „Radar-
ausleuchtung zuständigen Nebenkeulen nach fahr- Augen-Symmetrie“ erreicht werden soll. Nachteilig
286 Kapitel 17 • Radarsensorik

sind die doppelten Kosten gegenüber einem Einzel- nen. Auf die gesteuerte Phasenverschiebung wird
1 sensor, wobei der Verzicht auf zusätzliche Nahbe- beim Digital Beam Forming verzichtet und parallel
reichssensorik die Bilanz aufbessern kann. oder seriell der Datenstrom zu den Einzelanten-
2 nenelementen gespeichert und erst in der digitalen
Nachverarbeitung hinsichtlich der Phasendifferenz
17.3.6 Planar-Antennen-Arrays: ausgewertet.
3 Aus der Anzahl und dem Abstand der Einzel-
Planar-Antennen besitzen zwei für die Praxis rele- antennen lassen sich die Grenzen ableiten: Mit der
4
5 -
vante positive Eigenschaften:
Die Bautiefe der Sensoren wird erheblich
verkleinert. Sie wird nicht mehr wesentlich
von der Antenne dominiert, sondern vom Tie-
Schrittweite ist der maximale eindeutige Bereich
festgelegt (sin ˚ zwischen ˙1=2 ) und mit der
auf λ bezogenen Gesamtbreite (n , Anzahl n der
Empfangsarrayelemente) die Breite der Winkelzelle
fenbedarf für die anderen elektronischen und  sin ˚ D 1=n . Eine komplexe Fouriertransfor-
6 mechanischen (wie Stecker) Komponenten, so mation über die Empfangsamplituden, die zu den

7
8
- dass Bautiefen von 15…30 mm resultieren.
Es lassen sich Arrays bilden, mit denen sich
Sende- und oder Empfangscharakteristik der
Antenne steuern lassen.
einzelnen Antennenelementen bei gleicher Ab-
stands- und Geschwindigkeitszelle vorliegen, liefert
somit ein Winkelspektrum (genau genommen muss
hierfür noch die arcsin-Funktion darauf angewen-
det werden). Für eine Antenne mit 1° Winkelzelle
Die häufigste Anordnung ist eine einzelne Sende- würde sich selbst bei λ = 4 mm (entspricht 77 GHz)
9 antennenfläche, die aus gemeinsam gespeisten, der eine Gesamtbreite von 23 cm ergeben. Diese Abmes-
Wellenlängendimension angepassten „Patches“ be- sungen übersteigen das tolerierte Einbaumaß erheb-
10 steht, und mehreren (≥ 4) Empfangsantennenflächen lich. Legt man zwei Sendeantennen jeweils an die
(ebenfalls aus einer Vielzahl von „Patches“ beste- linke und rechte Seite mit halbem Abstand zu den
hend). Aufgrund der wiederholten Flächenform der Empfangsantennen, so kann die Zahl der benötig-
11 Empfangsantennen ist die Empfangscharakteristik ten Empfangsantennen halbiert werden – also statt
für Ziele im Fernfeld gleich. Bei einem Einzelziel (in 1 Tx + 8 Rx nun 2 Tx + 4 Rx. Natürlich erfordert
12 derselben Abstands- und Relativgeschwindigkeits- dies einen Multiplex bei der Demodulation, da ent-
zelle) ergibt sich zwischen den einzelnen Empfangs- weder nur jeweils eine Tx-Antenne aktiv sein darf
antennen (Index i 2 Z, Versatz  ) wie beim Mo- oder diese in einen wechselweisen Summen- und
13 nopuls-Prinzip (vgl. ▶ Abschnitt 17.3.3) eine Phase Differenzbetrieb versetzt werden. Bei Letzterem
von ' D i2 sin ˚ zzgl. eines bei allen gleichen wird eine Tx-Antenne mal mit dem zur anderen
14 willkürlichen Phasenoffsets, der deshalb vernachläs- Tx-Antenne phasengleichen Sendesignal angesteu-
sigt werden kann. Kommt ein weiteres Ziel hinzu, so ert und mal mit einem invertierten. Setzt man ein
15 überlagern sich die komplexen Amplituden, die von bistatisches Element an den Rand des Rx-Arrays, so
den beiden Zielen erzeugt werden, so dass nun auch reicht eine Tx-Antenne an der gegenüberliegenden
die Amplituden der einzelnen Array-Elemente nicht Seite (im gleichen Abstand wie zwischen den einzel-
16 mehr betragsmäßig gleich sind. Es entspricht einer nen Rx-Antennen), wie im Anwendungsbeispiel in
linearen Superposition eines komplexen Signals, das ▶ Abschnitt 17.8.2 ausgeführt.
17 von den Einzelantennen diskret mit der Schrittweite Die Breite des eindeutigen Sichtfeldes kann
 „abgetastet“ wird, mit sin ˚ als korrespondierende durch eine hohe Zahl an Antennenelementen
Variable im Fourierraum. vergrößert werden, wobei neben den Kosten für
18 Bei Anpassung der Phasendifferenz durch vari- jeden neuen Signalkanal auch Platzprobleme für
able Phasenschieber lassen sich Antennenelemente die Empfangsfläche entstehen, die allerdings durch
19 zu elektronisch gesteuerten Antennen (ähnlich „ineinandergreifende“ oder schräg gestellte Felder
Phased-Array) mit hoher Richtwirkung zusammen- nur teilweise ausgeglichen werden können. Prak-
20 schalten. Werden diese Phasenschieber kontinuier- tisch bleibt die Zahl der Arrays auf Werte von
lich angesteuert, ergibt sich ein elektronisches Scan- vier bis acht beschränkt. Wenn die Antennenele-
17.3 • Winkelmessung
287 17

mente auch in vertikaler Richtung versetzt wer- trächtigt ist: Die systematischen Fehler bestehen im
den, ist auch eine Winkelmessfähigkeit in Eleva- Wesentlichen aus Unterschieden der Kanäle in Ver-
tion möglich. Dem Nonius-Prinzip ähnlich kann stärkung (Betrag) und Phase sowie Kopplungen der
mithilfe eines zusätzlichen kleinen Versatzes für Antennenelemente. Diese können durch Kalibra-
eine Teilmenge der Rx-Antennen der Eindeutig- tion am Bandende der Fertigung durch Laborgeräte
keitsbereich erweitert werden, so dass sowohl mit oder per Auto-Kalibrierung im Feld über die Rück-
hoher Richtwirkung im engen Winkelbereich eine führung statistischer Größen kompensiert werden
Fernbereichsmessung durchgeführt werden kann (z. B. wie in [8] oder [16] beschrieben). Der Einfluss
als auch eine Nahbereichsmessung in einem wei- von Rauschen lässt sich nur verringern, indem An-
ten Winkelbereich. In [15] sind viele der oben ge- nahmen über das Zielverhalten herangezogen wer-
nannten Ansätze dargestellt und weiter im Detail den, sei es über die maximale Zahl der Ziele, die in
beschrieben. der Abstand- und Geschwindigkeitszelle betrachtet
Jede „Ortsfrequenz“ des Fourierspektrums ent- werden müssen, oder über deren zeitliche Konstanz,
spricht einer virtuellen Antenne, so dass aus acht so dass über mehrere Messungen der Winkel ge-
diskreten Antennenelementen nach der diskreten schätzt werden kann.
Fouriertransformation acht virtuelle „Antennen- Durch die geringe Grundauflösung (große Win-
Keulen“ geformt werden. Allerdings darf nicht kelzelle) bedingt ist oft schon das Auftreten eines
vergessen werden, dass eine diskrete Fouriertrans- zweiten Ziels für die Bestimmung der Winkellage
formation bestimmte Annahmen voraussetzt: Dazu problematisch. Auswege bieten hier parametrische
gehört neben dem Abtasttheorem (Eindeutigkeits- Auswerteverfahren, die auf Basis der Hypothese
bereich) auch die Annahme der periodischen einer bestimmten Zielanzahl eine beste Schätzung
Fortsetzung der Signale, die transformiert werden. für diese angibt. Als bekannte Verfahren sind hier
Diese Annahme ist hier sicherlich nicht gegeben. MUSIC (Multiple Signal Classification) und ESPRIT
Somit erhält man eine Unschärfe im Spektrum (Estimation of Signal Parameters via Rotational In-
durch Auslaufen (Leckage) des Signals, das sich variance Techniques) zu nennen, die dafür allerdings
wie nur schwach abfallende Nebenkeulen äußert. mehrere Datensätze zur Berechnung benötigen,
Das übliche Gegenmittel, die Fensterung mit am dann aber auch die zuvor genannte Auflösungs-
Rande abnehmenden Fenstern wie das van Hann- grenze unterschreiten können. Nonlinear-Least-
Fenster, führt nur zu einer Absenkung der (effekti- Square (NLS)-Methoden können bereits mit einem
ven) Verstärkung der äußeren Antennenelemente, Datensatz sehr leistungsfähig Winkel der Ziele be-
womit die effektive Breite und die Auflösung sinkt. stimmen, sofern die Ziele nicht innerhalb der Auf-
Neben den nachfolgend beschriebenen Methoden lösungsgrenze liegen. Diese und weitere Methoden
der Trennung von mehreren Objekten lassen sich werden in [17] beschrieben und verglichen. In [18]
aus den Originalinformationen (komplexe Ampli- wird ein Multiple Target Identification (MUTI)-
tuden zu jedem Antennenelement) einfacher inter- Verfahren vorgestellt, das zunächst ermittelt, ob in
pretierbare Winkelinterpretationen ableiten, wenn der Elementarzelle (vgl. ▶ Abschnitt 17.4.4) mit glei-
man den Kunstgriff des „Zero-Padding“ einsetzt, chem Abstand und Relativgeschwindigkeit mehrere
bei dem die gleiche oder eine ganzzahlig vielfache Targets vorliegen. In den meisten Fällen wird dies
Zahl an Null-Elementen hinzugefügt wird. Diese nicht der Fall sein, so dass für diese Vielzahl ein we-
wirkt wie eine spektrale Interpolation, so dass bei nig rechenaufwendiges Bestimmungsverfahren für
gleicher Zahl an Nullen doppelt so viele virtu- die Winkellage genutzt werden kann, z. B. nach dem
elle Keulen zur Verfügung stehen, wobei sich die einfachen Phasen-Mono-Puls-Prinzip. Erst wenn die
tatsächliche Auflösung nicht verändert hat (jede Ein-Ziel-Bedingung nicht erfüllt ist, werden rechen-
zweite Keule entspricht exakt der Originalkeule aufwendigere Verfahren wie das schon genannte
ohne Zero-Padding). NLS-Verfahren genutzt.
Alle Mehrfachantennenanordnungen besitzen Für sendeseitige Arrays müssen die Phasen-
eine hohe Empfindlichkeit, wenn der Signalpfad zentren zwischen den Antennenelementen defi-
durch systematische oder zufällige Fehler beein- niert gesteuert werden; Phasennetzwerke können
288 Kapitel 17 • Radarsensorik

dies abhängig von den Einspeisestellen leisten. Die Zehnerpotenzen schwankt und zudem Mehrwege-
1 Butler-Matrix ist so ein Netzwerk, das in einer qua- Interferenzen diese Grenze alles andere als scharf
dratischen Anordnung mit zumeist 2n Eingängen wirken lassen.
2 und genauso vielen Ausgängen es ermöglicht, eine Der minimale Abstand kann nur dann klei-
definierte Phasendifferenz zwischen den benach- ner als das Trennfähigkeitsintervall sein, wenn auf
barten Antennenelementen (=Ausgänge) zu erzeu- die Mehrzielfähigkeit im Abstand verzichtet wird.
3 gen, wenn genau einer der Eingänge mit Leistung „Umklapp-Effekte“, wie in ▶ Abschnitt 17.2.5.2 (Gl.
beaufschlagt wird. Damit kann durch Umschalten (17.42)) und 17.2.5.3 beschrieben, können zu einer
4 des Sendezweigs auf einen der Eingänge der Sen- von der Relativgeschwindigkeit abhängigen Ver-
destrahl neu ausgerichtet werden, wie ein Scanner größerung des Minimalabstands führen. Bei Puls-
5 mit diskreten Winkelstufen. Radar-Systemen, die für Senden und Empfangen
dieselben Antennenzweige verwenden, kann erst
nach Abklingen des Sendepulses gemessen werden,
6 17.4 Hauptparameter woraus ein etwa der Pulslänge entsprechender Be-
der Leistungsfähigkeit reich resultiert, in dem der Abstand nicht korrekt
7 bestimmt werden kann, wohl aber ab ca. 25 % der
Auch wenn sich aus dem Funktionsverständnis, ins- Pulslänge ein Ziel detektiert wird.
besondere der Modulation und der Winkelauswer-
8 tung, die wichtigsten Größen der Leistungsfähigkeit
ergeben, so sind sie hier in einer kurzen Übersicht 17.4.2 Relativgeschwindigkeit
9 zusammengefasst.
Für die Zellengröße rP und damit für die Trennfä-
10 17.4.1 Abstand
higkeit wie auch für die Genauigkeit der Relativge-
schwindigkeit ist die ununterbrochene Messzeit TM
entscheidend, vgl. z. B. Gl. (17.21) und (17.39). Für
11 Die Leistungsfähigkeit der Abstandsmessung ist die maximale und minimale Relativgeschwindigkeit
hauptsächlich durch die Frequenzbandbreite fBw ist die Abtastung des Dopplereffekts maßgeblich.
12 der Modulation gegeben, vgl. z. B. Gl. (17.18) und Allerdings ist eine Mehrdeutigkeit durch eine zu
(17.40) und bestimmt die Abstandszellengröße niedrige Abtastfrequenz durchaus kompensierbar,
wenn über die Abstandsdifferentiation eine Zuord-
13 c (17.57) nung zu den Mehrdeutigkeitsbereichen gelingt.
r 
2fBw
14
und damit die Trennfähigkeit. 17.4.3 Azimutwinkel
15 Die Messgrenze für den maximalen Abstand
wird bei Radar mit Frequenzmodulation im We- Für die Leistungsfähigkeit der Azimutwinkelbestim-
sentlichen durch die Abtastrate (vgl. Gl. (17.51) mung ist keine einfache Relation anzugeben. Ideal
16 bestimmt, während sie bei Puls-Doppler-Radar wäre zwar ein azimutal schmaler Strahl, der elektro-
durch die Länge des abgetasteten Empfangssignals nisch oder mechanisch einen möglichst breiten azi-
17 gegeben ist. mutalen Sektor abtastet. Bei Monopuls- und Mehr-
Die maximale Entfernung bezogen auf ein Stan- strahlkonzepten ist eine breite Ausleuchtung nur
dardziel hängt neben den Modulationsparametern durch ebenfalls breite Einzelstrahlen möglich. Als
18 auch von der Sendeleistung, der Antennengüte Qualitätsmerkmal wird hier der Gesamtmessbereich
(Verstärkung 0°) und dem Signal/Rausch-Abstand
19 der Empfängerelektronik ab, vgl. Gl. (17.4), ▶ Ab- ˚max D ˚max  ˚min(17.58)
schnitt  17.1. Dabei ist zu bedenken, dass in der
20 Praxis die Reflektivität der Objekte um mehrere
17.4  •  Hauptparameter der Leistungsfähigkeit
289 17

und die für die Trennfähigkeit relevante Azimut-


zellengröße

˚max (17.59)
˚min D
Nazimut  1

definiert über die Zahl der unabhängigen Infor-


mationen Nazimut, herangezogen. Für einen Scanner
ergibt sich Dfmin durch die Strahlbreite des Einzel-
strahls, für ein sequentielles n-Strahlkonzept Dfmin
= Dfmax / (n – 1), für ein simultanes Konzept mit
Phasenauswertung Dfmin = Dfmax / (2n – 2). Für ein
Sequential Lobing und Monopuls ist Dfmin = Dfmax,
da keine Mehrzielinformation vorliegt, es sei denn,
dass simultan bei Monopuls beide Signale gemessen
werden und eine Trennung von Phasenunterschied
und Amplitudenunterschied genutzt wird (dann ist
Nazimut = 3).

17.4.4 Leistungsfähigkeit .. Abb. 17.27  Visualisierung der Trennfähigkeit als Zellvolu-


und Mehrzielfähigkeit men in den Dimensionen Abstand, Relativgeschwindigkeit
und Azimutwinkel

Ein Radar für den automobilen Einsatz als Um-


feldsensor kann auf eine Mehrzielfähigkeit nicht der sich in 100 m Abstand vom Sensor aufhält. Fer-
verzichten. Dazu ist eine geeignete Trennfähigkeit ner wird für eine Trennung angenommen, dass ein
in mindestens einer der Dimensionen Abstand, Abstand von drei Zellen benötigt wird. Theoretisch
Relativgeschwindigkeit und Azimutwinkel notwen- wäre zwar auch der Abstand von zwei Zellen ausrei-
dig. Je nach Konzept wird die Trennfähigkeit mal chend, aber die Fensterung und die Strahlunschärfe
beim Abstand und mal bei der Relativgeschwindig- lassen dies kaum zu.
keit besonders priorisiert. Im übertragenen Sinne
wird für eine in der Praxis hohe Mehrzielfähigkeit r  1;5m; rP  0;1m=s; ˚  0;7ı :(17.60)
ein möglichst geringes „Zellvolumen“ angestrebt,
womit das Produkt der Zellengrößen der drei Di- Hier zeigt sich, dass eine Mehrzielfähigkeit allein
mensionen gemeint ist, auch wenn diese unter- auf Winkelbasis nicht mit einbaukompatiblen An-
schiedliche Einheiten besitzen. Etablierte, für eine tennen (Aperturweite müsste > 45 cm sein) möglich
Volumenbetrachtung benötigte Umrechnungs- und ist. Die Trennfähigkeit auf Basis des Abstands allein
damit Gewichtungsfaktoren sind nicht bekannt und kommt an Grenzen, wenn sich mehrere Objekte in
vermutlich nicht immer sinnvoll. Dies gilt vor al- nahezu gleichem Abstand aufhalten; die Trennfähig-
lem bei weit auseinander liegenden Fällen, wenn keit nach der Relativgeschwindigkeit versagt bei ste-
z. B. ein Sensor, der gleichmäßig kleine Zellengrö- henden Objekten. Daher wird eine Trennung nach
ßen hat, mit einem Sensor, der nur eine Dimension Abstand und nach Relativgeschwindigkeit ange-
auflöst, aber dies sehr genau kann, verglichen wer- strebt. In . Abb. 17.27 ist schematisch der Bereichs-
den soll. Im Folgenden werden Anhaltswerte für quader frmin    rmax ; rPmin    rPmax ; ˚min    ˚max g ,
die benötigte Zellengröße eines Long Range Radar der sich aus den Minimal- und Maximalwerten er-
angegeben, die für sich allein eine ausreichende gibt, dargestellt und aus den einzelnen Zellvolumina
Mehrzielfähigkeit ergeben. Hier wird von der fr; r; P ˚g besteht. Daraus lässt sich die quali-
Längsausdehnung eines kleinen Pkw ausgegangen, tative Aussage ableiten, dass die Leistungsfähigkeit
290 Kapitel 17 • Radarsensorik

umso höher ist, je größer das Bereichsvolumen und 17.4.5 24 GHz vs. 77 GHz
1 je kleiner das Zellvolumen ist.
Allerdings ist zu beachten, dass neben den prin- Das Frequenzband von 24,0–24,25 GHz erlaubt ne-
2 zipbedingten Grenzen weitere Verschlechterungs- ben dem 76–77 GHz-Band ebenfalls eine Radarnut-
gründe existieren. Insbesondere kann die Frequenz- zung im Straßenverkehr. Vorteile dieses Bandes sind
erzeugung und -modulation zur Verschlechterung die verlustärmere Leitungsführung und die kosten-
3 beitragen. Sowohl eine nichtkonstante Amplitude günstigeren Komponenten, auch wenn der Abstand
über die ununterbrochene Messzeit als auch Pha- mit zunehmendem Einsatz von SiGe-Komponenten
4 senrauschen oder Nichtlinearitäten führen zur Ver- bei 77 GHz zurückgehen wird. Nachteilig ist die
breiterung der Frequenzpeaks und reduzieren die Zunahme der Relativgeschwindigkeitszelle anzuse-
5 Trennfähigkeit. hen, weil die Dopplerfrequenz proportional mit der
Neben der Trennfähigkeit spielt die Auflösung Trägerfrequenz skaliert. Der größte Unterschied aus
für die Qualität eine große Rolle. Hierzu werden der niedrigeren Frequenz resultiert aus der höheren
6 benachbarte Zellen zu einer Peak-Schwerpunkt- Wellenlänge (λ ≈ 12 mm), die wiederum zu einer
bestimmung herangezogen, wodurch Auflösungen Verbreiterung der Strahlcharakteristik führt, wenn
7 von etwa 1/10 der Zellenbreite möglich werden. die Antennengröße beibehalten werden soll. Der
Allerdings gilt dies wiederum nur für Punktziele. Antennengewinn ist kleiner und die Winkelauflö-
Reale Ziele verursachen dagegen erheblich über sung verschlechtert sich. Daher ist der Einsatz von
8 diesem Wert liegende Streuungen. Wechselnde Re- 24 GHz für den Mid-Range bis 100 m prädestiniert.
flektionsschwerpunkte führen sowohl longitudinal Auch für den Nahbereich ist es gut geeignet, wenn
9 als auch lateral zu Sprüngen von mehreren Metern, eine breite Strahlcharakteristik gewünscht ist. Aller-
aber auch in der Relativgeschwindigkeit entstehen dings ist durch die Bandbegrenzung unterhalb von
10 Streuungen, wenn Relativbewegungen detektiert 0,5 m die Detektion kaum möglich, so dass ein im
werden wie bewegliche Teile oder Transportgut mit Band bleibendes 24 GHz-Radar die Einparkhilfe-
einem relativen Freiheitgrad, z. B. Autos auf Auto- sensoren nicht überflüssig machen kann.
11 anhängern. Diese Streuungen können so stark sein, Einen nur temporär geduldeten Ausweg bot
dass ein Objekt in mehreren Zellen detektiert wird. die Ultra-Wide-Band-(UWB) Technik. Bei dieser
12 Durch zumeist heuristische Ansätze müssen dann Technik wird zwar auch mit einer Trägerfrequenz
diese Zellen wieder zu einem gemeinsamen Objekt von 24,15 GHz gearbeitet. Allerdings werden sehr
gebündelt werden. kurze energiearme Pulse ausgesendet. Die nur
13 Neben der Leistungsfähigkeit, Objekte zu de- etwa 0,5 ns langen Pulse führen zu einer effektiven
tektieren, spielt die Robustheit gegenüber Artefak- Nutzbandbreite von 5 GHz (→ UWB Band 21,65–
14 ten eine wichtige Rolle. So sind weder sogenannte 26,65  GHz). Zwar bleiben sie mit der auf diese
Geisterziele gewünscht – also Objekterkennungen Gesamtbreite verteilten Energie unterhalb der Zu-
15 ohne existierendes Objekt – noch verfälschte Werte lassungsschwellen der benachbarten Bänder, aller-
zu existierenden Objekten. Nichtlinearitäten in der dings findet dies noch keine Akzeptanz. So ist in der
Signalkette können zu Vertretern der ersten Gruppe Nähe von Radioastronomiestationen UWB-Radar
16 führen, nicht aufgelöste Mehrdeutigkeiten und In- abzustellen, woraus sich eine Zwangskopplung mit
terferenzen zur zweiten Gruppe. Eine weitere er- einem Ortungssystem ergibt.
17 wartete Fähigkeit ist die Unterdrückung von Zielen, Seit dem 1. 7. 2013 ist die Indienststellung eines
die über- oder unterfahrbar sind, wie beispielsweise 24 GHz-UWB-Radars nur noch im reduzierten Fre-
Gully-Deckel oder Brücken, zumindest im Bereich, quenzbereich 24,25 – 26,65 GHz, ab 1.1.2018 über-
18 in dem die Auslösung einer Notbremsung auf ein haupt nicht mehr in Europa erlaubt. Daher steht nur
stehendes Ziel nicht mehr ausgeschlossen ist, vgl. noch der 77–81 GHz-Bereich zur Verfügung, auch
19 ▶ Kap. 47. Die angesprochene Robustheit lässt sich wenn dies mit zunächst noch höheren Kosten ver-
leider nicht durch Angabe von Design-Parametern bunden und ebenfalls nicht in allen Ländern dieses
20 vorhersagen, da die Bekämpfungsmaßnahmen Band zugelassen ist. Dieses neue Band ist bezüg-
„tief “ in den Auswertealgorithmen vergraben sind. lich der anderen Grenzwerte so großzügig bedacht,
17.5 • Signalverarbeitung und Tracking
291 17

.. Tab. 17.1  Generalisierte Arbeitsschritte der Radar-Signalverarbeitung

Verarbeitungsschritt Erläuterung

Signalformung Modulation (Frequenztreppen oder Rampen, Pulsgenerierung), Strahlumschaltung oder


-formung

Vorverarbeitung und Demodulation, Verstärkung, digitale Datenerfassung


digitale Datenerfassung

Spektralanalyse Zumeist ein- oder zweidimensionale (Fast-) Fouriertransformation der digitalen Daten,
dabei enthalten die Frequenzlage und die komplexen Amplituden die Information über
Abstand, Geschwindigkeit und Azimutwinkel.

Detektion Erkennen von Peaks im Spektrum, zumeist mittels Vergleich mit einer adaptiven
Schwelle.

Matching Zuordnung von detektierten Peaks zu einem Objekt

Azimutwinkelbestim- Ermittlung des Azimutwinkels über den Vergleich der Amplituden verschiedener Emp-
mung fangszweige mit Antennencharakteristik

Bündelung (Clustering) Zusammenfassung von Detektionen, die vermutlich zu einem Objekt gehören.

Tracking Aktuelle Objektdaten zu vorher bekannten Objekten zuordnen (= Assoziation), um eine


zeitliche Datenspur (Track) zu erhalten, die gefiltert und aus denen die Objektdaten für
die nächste Zuordnung prädiziert werden

dass auch andere Modulationsverfahren als UWB . Abb. 17.10, . Abb. 17.11 und . Abb. 17.13 oder
möglich sind, um eine geringe Abstandszelle zu er- die Rampengenerierung gemäß . Abb. 17.14 bis
reichen. Details dazu finden sich in der Schnittstel- . Abb. 17.17. Wird auch die Antennencharakteristik
lenbeschreibung [19] der Bundesnetzagentur. dynamisch verändert (z. B. durch Scanning gemäß
Einen Zwischenweg bietet das 24 GHz-Band mit . Abb. 17.20), so ist auch dies zur Signalformung
dem sogenannten Wideband Low Activity Mode zu rechnen.
(WLAM), vgl. [20]. Hiermit werden von 24,05 Der erste Verarbeitungsschritt mit empfangenen
bis 24,50 GHz insgesamt 450 MHz Bandbreite zur Signalen besteht in der Vorverarbeitung und digi-
Verfügung gestellt, um für kurze Zeit für die Au- talen Datenerfassung. Dieser Schritt kombiniert die
tokalibrierung, für Notbremssituationen und für Demodulation und die digitale Datenerfassung und
Rückwärtsparken eine bessere Funktionalität zu enthält oftmals Anpassungsfilter, um z. B. die mit
bieten als mit den dauerhaft gebotenen 200 MHz- dem Abstand verbundene Empfangsleistungsabsen-
Schmalband-Radargeräten. kung zu kompensieren. Die analogen Signale wer-
den nach Demodulation und Verstärkung abgetastet
und in digitale Werte gewandelt. Dabei können so-
17.5 Signalverarbeitung wohl klassische Parallelwandler als auch S-D-Wand-
und Tracking ler Verwendung finden. Letztere sind 1-Bit-Wandler
mit Oversampling und nachgelagertem Digitalfilter.
Die Signalverarbeitung erfolgt auch für verschie- Diese sind allerdings nicht geeignet, wenn während
dene Modulations- und Antennenkonzepte weit- der Messung der Eingangskanal umgeschaltet wird
gehend in gleicher Abfolge, die in . Tabelle 17.1 (Multiplexbetrieb).
aufgeführt sind. Die Datenmenge entspricht der Zellenzahl ge-
Am Beginn steht die Signalformung. In allen mäß . Abb. 17.27, also ein Messwert pro Zelle. Sie
Konzepten fällt darunter die Signalmodulation, kann je nach Konzept zwischen tausend und einer
z. B. die Treppengenerierung gemäß . Abb. 17.9, Million Werten liegen.
292 Kapitel 17 • Radarsensorik

In allen modernen ACC-RADAR-Sensoren Reflektionen eines realen Objekts die Detektion.


1 spielt die per Fouriertransformation durchgeführte Zum einen können sie schwächer reflektierende
Spektralanalyse eine wichtige Rolle bei der Vor- Objekte in benachbarten Frequenzbereichen ver-
2 verarbeitung der Signale. Vereinfacht betrachtet decken, wenn nämlich die Sendefrequenz nicht
ist die Fouriertransformation eine rechenintensive ideal dem Modulationsverlauf folgt. Ursachen da-
Umwandlung vom Zeitbereich in den Frequenz- für sind das Phasenrauschen des Oszillators und
3 bereich und umgekehrt. Aus einer in Zeitschritten Linearitätsfehler bei FM-Verfahren. Außerdem
definierten Folge von Messwerten wird eine in Fre- führen Abweichungen von der Mischerkennlinie,
4 quenzschritten definierte Folge von ‚Messwerten‘, s. ▶ Abschnitt 17.2.3, zu Harmonischen, wie dies
die das Frequenzspektrum bestimmt. Moderne auch in . Abb. 17.28 sichtbar wird. Zwar haben die
5 Signalprozessoren sind leistungsfähig genug, um „harmonischen Ziele“ größere Abstände, aber auch
diese Transformation auch mit vielen Messpunkten entsprechend vervielfachte Relativgeschwindigkei-
(Größenordnung 1000) in wenigen Millisekunden ten, wodurch aus solchen artifiziellen Objektdaten
6 durchzuführen. Allerdings wird diese hohe Trans- durchaus größere Objektverzögerungen für die
formationsgeschwindigkeit nur erreicht, wenn die Annäherung berechnet werden können als für das
7 Anzahl bestimmte Werte annimmt. Beim klassi- Originalobjekt.
schen Fast-Fourier-Transformation-Algorithmus Unter Matching versteht man die Zuordnung
(FFT) muss sie eine Potenz von 2 sein (z. B. 512, von detektierten Peaks zu einem Objekt, wobei so-
8 1024, 2048). wohl die Zuordnung verschiedener Spektren (von
Üblich ist eine Fensterung in Verbindung mit z. B. verschiedenen Messrampen eines FMCW-
9 der Spektralanalyse, um zu vermeiden, dass durch RADAR) eines Strahls als auch die Zuordnung von
Begrenzung des Messfensters Artefakte entstehen Peaks verschiedener Strahlen gemeint sein kann.
10 (so genannte Leckage-Fehler). Auch wenn dazu un- Dabei können auch Objektdaten vergangener Mess-
terschiedliche Fensterfunktionen verwendet werden reihen hinzugezogen werden, um bei der Zuord-
können, die auf unterschiedlichen Kriterien opti- nung durch Plausibilitätsbetrachtungen bei mögli-
11 miert sind, so führt dies zu einer effektiven, in je- cher Mehrdeutigkeit selektiver werden zu können.
der Dimension etwa 1,5-fachen Zellenvergrößerung Dies trifft im besonderen Maße auf das Matching
12 mit entsprechend verschlechterter Genauigkeit und von FMCW zu.
Trennfähigkeit. Die Azimutwinkelbestimmung erfolgt über die
Die Detektion ist die Suche nach besonderen (komplexen) Amplituden der Peaks, die in verschie-
13 Merkmalen in den gemessenen Datenreihen. Oft denen Strahlen von einem Objekt gemessen wur-
sind es Peaks in einem Spektrum, sei es ein Fre- den. Bei Kenntnis der Winkelcharakteristik und
14 quenz- oder ein Laufzeitspektrum. Hier gilt es, die der Strahlrichtung kann die Winkellage des Objekts
Reflektionssignale einzelner Objekte zu erkennen bestimmt werden. Bei einem Scanner-Konzept mit
15 und von denen anderer Objekte zu unterschei- kontinuierlicher Winkelgeschwindigkeit kann der
den. Wegen der stark unterschiedlichen Signal- Winkel allerdings auch schon bei der Detektion er-
stärken der verschiedenen Objekte, aber auch mittelt werden.
16 desselben Objekts zu verschiedenen Zeiten muss Gerade bei hoch auflösenden Radarsensoren
ein Schwellenalgorithmus gefunden werden, der entsteht „zu viel“ Information. So werden bei klei-
17 einerseits möglichst alle Peaks, die von realen Ob- ner Abstandszelle von einem Lkw schnell einmal 5
jekten stammen, findet, aber unempfindlich gegen bis 10 Reflektionen detektiert oder bei hoher Ge-
Peaks ist, die durch Rauschen oder Störsignale schwindigkeitsauflösung Relativbewegungen eines
18 entstanden sind. Daher werden zumeist adaptive zusammenhängenden Objekts (Zugmaschine, An-
Schwellen eingesetzt, wie das Beispielspektrum aus hänger, Ladung oder Gliedmaßen von Fußgängern).
19 . Abb. 17.28 zeigt. Entstehen systematische Peaks, Daher wird versucht mittels einer heuristischen
die nicht auf äußere Reflektionen zurückzuführen Bündelung (Clustering) die Detektionen desselben
20 sind, sind diese ebenso zu maskieren wie eventuelle Objekts zu verbinden und als nur ein Objekt in der
Bodenreflektionen. Leider erschweren auch starke Messliste zu führen.
17.5 • Signalverarbeitung und Tracking
293 17
.. Abb. 17.28 Beispiel-
spektrum einer FMCW-
Messung. Neben dem
eigentlichen Ziel bei der
etwa 95. Frequenzlinie
finden sich ein Nahbe-
reichs-Echo (bei den ersten
Linien) vom Horn des
Zielsimulators und die
Oberwelle des Ziels (bei
Linie 190) wieder [Quelle:
Bosch]

Unter Tracking versteht man die Bildung des ist, dass eine oder mehrere Übereinstimmungen in
zeitlichen Zusammenhangs einzelner Messereig- nachfolgenden Messungen benötigt werden, bevor
nisse zu quasikontinuierlichen „Spuren“ einzelner dieses Objekt für eine Anwendung (z. B. ACC) als
Objekte. Die Detektion und die nachfolgende Bün- Zielobjekt infrage kommt.
delung führen zunächst zu einzelnen Objekthypo- Kann für ein bestehendes Objekt keine Hypo-
thesen, die vorläufig nur für diesen einen Zyklus gel- these aus der aktuellen Messung zugeordnet wer-
ten. Im Tracking wird als nächstes die Zuordnung den, so sinkt die Objektqualität. Nach mehrmali-
zu Hypothesen vorheriger Zyklen versucht (Assozi- gem Ausfall fällt die Qualität unter einen definierten
ation). Üblicherweise sind diese Objekthypothesen Schwellwert, woraufhin dieses Objekt aus der Ob-
in Listen organisiert und haben Object Identifier als jektliste entfernt wird. Neben diesen grundsätzli-
„individuelles“ Kennzeichen. Für die Assoziation chen Fällen müssen mögliche Mehrdeutigkeiten
werden die Zustandsgrößen der bisher bekannten berücksichtigt werden wie beispielsweise dass ein
Objekte (z. B. Abstand oder laterale Lage) auf den aktuelles Objekt in das Suchfenster anderer Objekte
Zeitpunkt der aktuellen Messung prädiziert. Dann fällt oder dass mehrere Einzelobjekte der Liste zu
erfolgt die Zuordnung der aktuellen Objekthypothe- einem einzigen realen Objekt gehören.
sen zu den bisherigen, wobei ein Suchfenster um die Neben der Assoziation erfolgt mit dem Tra-
prädizierten Werte gelegt wird, da sowohl Mess- als cking eine zumeist sehr anwendungsspezifische
auch Prädiktionsfehler anzunehmen sind. Lässt sich Zustandsdatenfilterung, oftmals mit der Assozia-
zu einem bisherigen Objekt in diesem Suchfenster tion verbindbar als Kalman-Filter, der den für die
ein aktuell erkanntes Objekt zuordnen, so wird die Assoziation notwendigen Schritt der Prädiktion
Spur fortgesetzt. Gleichzeitig wird die Objektqua- schon implizit enthält. Die Zustandsgrößen von
lität erhöht oder bleibt auf hohem Niveau. Bleiben mit aktiven Sensoren erfassten Objekten enthalten
Objekte der aktuellen Messung übrig, so werden immer den Abstand in x- und y-Richtung, die Re-
neue Objekte in der Objektliste generiert und mit lativgeschwindigkeit, die Beschleunigung in Längs-
den Messdaten der aktuellen Messung initialisiert. richtung und manchmal die Quergeschwindigkeit.
Allerdings beginnt dieses Objekt seine Spur mit Werden die Zustandsgrößen des Egofahrzeugs hin-
einer niedrigen Objektqualität, die i. A. so gering zugezogen, so lassen sich auch die absoluten Ob-
294 Kapitel 17 • Radarsensorik

jektgrößen für Geschwindigkeiten und Beschleu- Radom genannt, dass die Radarstrahlen nur we-
1 nigungen bilden und in der Objektliste mitführen. nig abgeschwächt werden und dass die Winkel-
Damit lässt sich auch die Unterscheidung zwischen charakteristik zu keiner unerwarteten Änderung
2 (mit)fahrendem, stehendem oder entgegenkom- führt. Kunststoffe als Abdeckung sind eher un-
mendem Objekt durchführen. Da durch das Tra- problematisch. Wenn die Dicke ein Vielfaches
0 0 p
cking den Objekten eine Historie zugrunde liegt, der Wellenlängenhälfte  =2I . D = r "r
3 kann diese auch zur Unterscheidung von stehenden ; bei 77  GHz =2  2 mm , für Kunststoff ist
und „angehaltenen“ Objekten erfolgen. Diese ge- r D 1I "r  ≈ 2…2,5) beträgt, verstärken sich die
4 nannten Unterscheidungen stellen die Hauptklas- bei der Austrittsfläche reflektierten Anteile, wenn
sen einer, wenn auch einfachen, Klassifikation dar. sie ebenfalls auch von der Eintrittsfläche wieder
5 Die Nichtreaktion herkömmlicher ACC-Systeme zurückgeworfen werden. Bei größeren Winkeln
auf stehende Objekte beruht gerade auf dieser verringert sich aber die Differenz der Laufzeiten
Klassifizierung und nicht auf der oftmals genann- zwischen direktem und zweifach reflektiertem Si-
6 ten, aber dennoch falschen Behauptung, dass mit gnal, so dass die Überlagerung zu Veränderungen
Radar keine stehenden Objekte detektiert werden der resultierenden Phase führen kann. Weiterhin
7 könnten. hängen die Transmissions- und die Reflektions-
In modernen Radarsensoren reicht die genannte rate an den Grenzflächen selbst von dem Winkel
Grobklassifikation längst nicht mehr aus. Auch (und der Polarisation) ab, so dass die durch die
8 wenn die Empfangsamplituden einer Einzelmes- Abdeckung bedingten Veränderungen in der Sig-
sung kaum Aussagekraft besitzen, so liefert die Be- nalverarbeitung zumindest bei größeren Winkeln
9 obachtung der Rückstreuamplituden über der Zeit, berücksichtigt werden müssen. Nichtmetallischer
insbesondere wenn sich der Abstand dabei stark än- Lack ist unproblematisch, Metallic-Lack kann da-
10 dert, hilfreiche Information zur Klassifikation der gegen zu erheblichen Problemen führen. Dabei
Ziele. Wie in ▶ Abschnitt 17.1 erwähnt, kann die ist die Nachlackierspezifikation, die dreimaliges
durch die Mehrwegereflektion entstehende Schwan- Lackieren erlaubt, besonders problematisch. Na-
11 kung gezielt genutzt werden, um auf die Höhe des türlich ist eine metallische Verdeckung völlig un-
Ziels zu schließen. geeignet, solange die Eindringtiefe kleiner als die
12 Im Anschluss an die genannten Signalverarbei- Materialdicke ist. Sehr dünne Schichten (< 1 µm)
tungsschritte beginnt die Situationsinterpretation, können aber wieder transparent für mm-Wellen
die in einfachster Weise die Selektion eines Radar- sein, ohne ihre metallisch spiegelnde Eigenschaft
13 ziels aus der Objektliste übernimmt. Die Zielaus- für optische Wellen zu verlieren. Dies wird aus-
wahl wie auch eine weitergehende Situationsinter- genutzt, um metallische Strukturen (Kühlergrill,
14 pretation hängen stark von der Anwendung ab und Markenlogo) auf Kunststoffflächen nachzubilden.
sind als Teil dieser zu beschreiben. Die Zielauswahl Somit kann eine optisch nur noch schwer erkenn-
15 für ACC ist entsprechend in ▶ Kap. 46 unter ▶ Ab- bare Radar-Abdeckung konstruiert werden.
schn. 46.7 zu finden. Üblicherweise sind die Radarsensoren an drei
Punkten befestigt, gut sichtbar am Beispiel von
16 . Abb. 17.29. Ein Halter fungiert dabei als Kopp-
17.6 Einbau und Justage lungselement zur Karosserie oder dem Fahrwerk.
17 Über die Verschraubung mit dem Halter lässt sich
Für den Einbau des Radarsensors kommen grund- der Sensor sowohl in Azimut φ als auch in Elevation
sätzlich zwei Konzepte infrage: mit oder ohne ϑ drehen, womit am Ende des Fahrzeugprodukti-
18 optische Abdeckung der Antenne. Eine optische onsprozesses oder in der Werkstatt die Ausrichtung
Abdeckung ist sicherlich designfreundlicher als erfolgen kann.
19 eine direkte Sichtbarkeit des Radarsensors, auch Insgesamt sind drei Fehlerquellen für Azimut

20
wenn argumentiert werden kann, dass nur so das
„Statussymbol Radarsensor“ zur Geltung kom-
men kann. Wichtig ist für die Abdeckung, auch -
φerr und Elevation ϑerr zu betrachten:
Fehler in der sensorinternen Ausrichtung
(φerr,intern, ϑerr,intern)
17.6  •  Einbau und Justage
295 17

.. Abb. 17.29  Bosch Fernbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation (LRR3, LRR4, MRR) [Quelle: Bosch]

- Fehler bei der Ausrichtung des Sensors am direkten Methode der Messung des Azimutnullwin-

- Fahrzeug (φerr,Montage, ϑerr,Montage)


Ausrichtungsfehler des Sensorträgers = Ego-
fahrzeug durch einen von der Konstrukti-
onslage abweichenden Nickwinkel ϑerr,veh bzw.
kels durch den Sensor bei Verwendung eines in die
Yv-Zv–Ebene gestellten Spiegels lässt sich der Sum-
menfehler φerr,Montage + φerr,intern kompensieren.
Beim Azimutwinkel ist eine Offsetermittlung im
einen auch bei Geradeausfahrt auftretenden Betrieb unerlässlich, da sich der statische Schwimm-
Schwimmwinkel φerr,veh („Dackellauf “) winkel („Dackellauf “) erst bei der Fahrt zeigt, wenn
er nicht vorher über einen Rollenprüfstand ermit-
Die Fehlausrichtungen in der Elevation führen bei telt wurde. Darüber hinaus verbleibt immer noch
den heute eingesetzten Radar-Sensoren „nur“ zur Unsicherheit bei den anderen Winkelfehlern. We-
Reduktion des Erfassungsbereichs oder einer ver- gen der hohen Empfindlichkeit der Zielauswahl auf
ringerten Genauigkeit der Azimutwinkel, nicht aber Azimutfehler sind Azimutoffsetschätzverfahren
zu systematischen Messfehlern. Damit ist auch keine notwendig. Basisinformationen dieser Schätzer sind
permanente Überprüfung der Ausrichtung erfor- die gemittelten Gradienten der gemessenen Querab-
derlich. Somit reicht die Ausrichtung am Ende der lage in Abhängigkeit vom longitudinalen Abstand,
Produktion oder in der Werkstatt auf „Horizontali- korrigiert um die durch die Drehung P des ACC-
tät“ der Sensorachse. Mit einem sensorgehäusesei- Fahrzeugs um den Kreismittelpunkt M verursachte
tigen Spiegel oder einer auf dem Sensor montierten Scheinbewegung des Objekts.
Libelle lässt sich ϑerr,Montage kompensieren. Mit einer
Referenzmessung mit einem Metallspiegel, bei der 
@YS
 P  .r  XMS /
die Spiegelebene in drei Stellungen gewechselt wird, ˚err D  (17.61)
kann sogar der Summenfehler ϑerr,Montage + ϑerr,intern @r 
kompensiert werden.
Auch für den Azimutwinkel ist eine Vorein- XMS ist der Abstand vom Sensor zum auf die X-
stellung im Werk oder in der Werkstatt zu leisten. Achse projizierten Momentanpol der Drehung und
Dazu wird eine Referenz für die Xv-Richtung des berücksichtigt den Schwimmwinkel. Bei schräglauf-
Fahrzeugs über in der Fahrwerksvermessung übli- freier Fahrt ist XMS gleich dem negativen Abstand
che Verfahren hergestellt. Über Spiegelung mit ge- von Hinterachse zum Sensor. Ansonsten ist XMS aus
häuseseitigen Reflektoren (vgl. . Abb. 17.29) lässt fahrdynamischen Modellbetrachtungen zu ermit-
sich φerr,Montage ausgleichen, sofern vom Zulieferer teln.
sichergestellt wurde, dass die Sensorachse passend Alternative Ansätze, den azimutalen Sensoroff-
auf die Gehäuseachse ausgerichtet wurde. Bei der set zu bestimmen, z. B. mithilfe der Annahme, dass
296 Kapitel 17 • Radarsensorik

die Zielobjekte im Mittel ohne lateralen Querversatz tig. Schon normale Quarz-Zeitbasen können die
1 zum ACC-Fahrzeug fahren, können hinzugenom- dafür notwendige hohe relative Genauigkeit (Dt / t
men werden. Sie leiden aber unter der starken Ver- = 2 · 10–7, Df /f = 1,2 · 10–8) kaum leisten. Wenn dann
2 einfachung dieser Annahmen. noch die Zykluszeit durch gewollte Streuung oder
Besitzt der Radarsensor eine breite Azimutab- durch asynchrone Zyklen schwankt, dann sinkt die
deckung, so kann eventuell auf eine Feinjustage ab Wahrscheinlichkeit für wiederholte Fehler auf so
3 Werk oder Werkstatt verzichtet werden. Die mit- niedrige Werte, dass solche Störungen in der Praxis
laufende Azimutoffsetschätzung müsste dann aber nicht zu „Geisterzielen“ führen. Allerdings können
4 schnell und sicher konvergieren. andere Radarsensoren mit ihrer Strahlung rausch-
Eine Online-Elevationsoffsetschätzung ist vom ähnlich interferieren und somit zu einem Verlust
5 Continental ARS 300 bekannt, ▶ Abschnitt 17.8.3. der Empfindlichkeit beitragen.
Dabei wird gezielt die gemessene Entfernung des Die hier genannte Aussage findet sich auch
Bodenechos ausgenutzt. Eine verstellbare Elevati- als Ergebnis des 2010 bis 2012 durchgeführten
6 onsschwenkvorrichtung kippt kurzzeitig die Radar- europäischen MOSARIM-Projektes [21] wieder,
strahlen 7° gen Boden und misst die Entfernung der in dem sowohl experimentell als auch per Simu-
7 Bodenechos. Bei bekannter Einbauhöhe lässt sich lation die Sensitivität gegenüber der Einstrahlung
daraus die Elevation ermitteln und somit korrigie- anderer Radarsensoren untersucht wurde. Da
ren. Allerdings wird auch hier angegeben, dass nur mittlerweile Radarsensoren eine hohe Verbrei-
8 ein Elevationsfehlwinkel von 0,5° toleriert wird. tung erreicht haben und sowohl vorwärts als auch
rückwärts zur Fahrzeugrichtung gerichtet sind,
9 hat die Wahrscheinlichkeit von Interferenzstörung
17.7 Elektromagnetische ebenso zugenommen, weshalb Gegenmaßnah-
Verträglichkeit
10 men notwendig erscheinen (vgl. Work Package 5.1
von [21]). Besonders effektiv – allerdings nur für
Grundsätzlich gelten für einen Radarsensor die frequenzmodulierende Radarsensoren geeignet –
11 Anforderungen, die für Steuergeräte im Kfz gelten. sind Subbänder innerhalb heutiger Bandbreiten,
Neben der Konformität zur Frequenzregulierung ist die entweder dynamisch angesprungen oder nach
12 auf eine Unempfindlichkeit gegenüber Störungen Ausrichtung separiert werden. Letzteres adressiert
durch andere Radarsensoren zu achten. den besonders kritischen Fall der gegenseitigen
Die Störung durch andere Sensoren kann die Störung hintereinanderfahrender Fahrzeuge, die
13 Eingangsstufe übersteuern. Daher sind diese so sich anders als entgegenkommende über lange Zeit
auszulegen, dass diese Störung sich nicht auswirkt stören können. Auch die Polarisationswahl könnte
14 oder zumindest erkannt wird und ggf. als Störungs- zur Interferenzvermeidung herangezogen werden,
anzeige dem Fahrer angezeigt wird. Eine Falschmes- allerdings käme eine entsprechende Normung für
15 sung mit der Folge von Geisterzielen ist kaum zu be- die schon im Markt vertretenden Lösungen zu spät.
fürchten, da kein Ziel als relevante Ausgangsgröße Für gepulste Verfahren, zu denen auch die Chirp-
gewählt wird, das nur einmal detektiert wurde (s. Sequence-Modulation und FSK-Varianten mit
16 Abschnitt 17.5 über Tracking). wiederholten Treppen gerechnet werden können,
Die Wahrscheinlichkeit, synchron von einem bietet ein zeitlicher Jitter in der Wiederholung eine
17 anderen Radarsensor gestört zu werden, ist äußerst Unterdrückungsmöglichkeit (s. a. [16]), da schon
gering und wird mit dem nächsten Beispiel belegt. eine Verschiebung von 100 ns bei einem anderen
Bei im zeitlichen Abstand von ca. 100 ms wieder- System die Ziellage um 15 m ändert, aber für die
18 holten Messungen müssten die Relativgeschwin- Abtastung der Frequenz bei 77 GHz nur einen re-
digkeit und der Abstand sich für eine erfolgreiche lativen Fehler von 5 ∙ 10–3 m/s bewirkt.
19 Assoziation nur wenig von den prädizierten Werten
unterscheiden (max. 5 m bzw. 2 m/s). Dafür wäre
20 eine Reproduktionsgenauigkeit der Störung von
etwa 20 ns in der Zeit und 1 kHz der Frequenz nö-
17.8 • Ausführungsbeispiele
297 17

.. Abb. 17.30  Einsatzgebiete von Radarsensoren in der Fahrzeugumfeldsensorik (5R1V) [Quelle: Bosch]

17.8 Ausführungsbeispiele len. Falls der Sensor als Einzelradarsensor genutzt


werden soll, wird eine symmetrische Abstrahlcha-
17.8.1 Bosch LRR3 rakteristik mit jeweils gleich hohen inneren und
äußeren Keulen angestrebt. Für eine Radarsensor-
Seit 2009 ist die dritte Generation des Bosch Long- Doppelanordnung nach . Abb. 17.25 werden die
Range-Radarsensors im Einsatz. Wie bereits bei Keulen eines Sensors unsymmetrisch gestaltet, um
den Vorgängergenerationen handelt es sich um ei- in der Überlagerung der Ausleuchtbereiche beider
nen 76,5 GHz-Radar mit integriertem Steuergerät. Sensoren eine erweiterte Abdeckung zu erreichen.
Durch die hohe Integration der benötigten Kom- Außer den MMICs befindet sich auf HF-Pla-
ponenten konnte ein kompaktes Gehäuse mit nur tine noch ein Radar-ASIC, der für die Erzeugung
etwa 1/4 l Volumen realisiert werden (. Abb. 17.31). der Signalmodulation sowie der Abtastung der
Ein Aluminium-Druckguss-Zwischenträger nimmt vier Empfangskanäle zuständig ist. Dabei erfolgt
dabei eine HF- und eine NF-Leiterplatte auf. die Analog-Digital-Wandlung auf der Basis eines
Die Erzeugung der hochfrequenten Sendeleis- übertaktenden Sigma/Delta-Wandlers und eines
tung erfolgt erstmals monolithisch integriert auf Ba- Dezimationsfilters. Die weitere Signalverarbeitung
sis von SiGe (Silizium-Germanium)-MMICs. Zwar inklusive der Spektralanalyse läuft dann auf der
verwendeten andere Hersteller schon früher mono- Niederfrequenzleiterplatte auf einem μ-Controller
lithische mm-Wellen-ICs, allerdings bisher auf Ba- ab, der auch über die üblichen Funktionen eines
sis des teuren GaAs (Gallium-Arsenid). SiGe bietet automobilen Controllers verfügt. Weiterhin ist auf
jedoch aufgrund einer breiteren Anwendungsbasis dieser Leiterplatte noch ein Multifunktions-ASIC
kostengünstigere Fertigungsbedingungen. Durch vorhanden, das Überwachungs-, Diagnose- und
die Integration bieten sich vielfältige neue Möglich- Spannungsversorgungsfunktionen übernimmt.
keiten im Bereich der Transceiver, was insbesondere Die Sensorhardwarearchitektur des LRR3 ist in
beim LRR3 für die Empfangselektronik genutzt . Abb. 17.32 dargestellt.
wurde. Hierbei kommen Gilbert-Zellen-Mischer Weitere Fortschritte gegenüber Vorgängersen-
zum Einsatz, die zum einen die Konvertierungsver- soren wurden insbesondere auch im Bereich der
luste gering halten und somit eine geringere Peak- Winkelbestimmung erzielt, wobei durch Verbes-
Leistung erlauben. Zum anderen ermöglichen sie serungen im Bereich der Algorithmik und durch
auf einfache Weise, die Mischerverstärkung der ein- gezielte Veränderung der Antennencharakteristik
zelnen Empfangszweige zu modifizieren und somit im Vergleich zur zweiten Generation der Winkel-
eine angepasste Antennencharakteristik einzustel- bereich ausgedehnt werden konnte. Im mittleren
298 Kapitel 17 • Radarsensorik

.. Abb. 17.31  Aufbau der


1 Bosch Radarsensoren MRR
und LRR3 [Quelle: Bosch]

2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
.. Abb. 17.32  Hardware-Architektur des Bosch LRR3-Sensors [Quelle: Bosch]
17.8 • Ausführungsbeispiele
299 17

Entfernungsbereich (30–100 m) sind damit insge- alisiert werden. Die technischen Kenngrößen der
samt 20°, im Nahbereich unterhalb 30 m sogar 30° Produktvarianten sind im Vergleich zu den Werten
messbar. Weitere Kenngrößen dieses Sensors kön- der Vorgängergeneration in . Tab. 17.2 dargestellt.
nen . Tab. 17.2 entnommen werden. Als weitere In . Abb. 17.31 sind die einzelnen Baugruppen
Hardware-Neuerung ist ein FlexRay-Transceiver und das Gehäusekonzept des MRR dargestellt. Of-
zu nennen, womit nun neben CAN eine weitere fensichtlich ist im Vergleich mit dem LRR3-Sensor
Busschnittstelle vorhanden ist. das geänderte Antennensystem mit planaren Pat-
charrays ohne Linse. Das Blockschaltbild des MRR
ist in . Abb. 17.33 zu sehen. Auf der Unterseite der
17.8.2 Bosch Radarsensoren vergrößerten HF-Platine ist nun neben dem Radar-
der vierten Generation ASIC auch der µ-Controller untergebracht.
Weiterhin wurden die in der vierten Genera-
Um die stark gestiegene Anzahl unterschiedlicher tion eingesetzten Technologien und Fertigungs-
Anwendungsgebiete sowie die zunehmende Funkti- verfahren entsprechend den stark gestiegenen
onsvielfalt abdecken zu können, wurde ein Baukas- Produktionszahlen weiterentwickelt: Dazu zählt
tensystem entwickelt [22]. Neben den rein sensori- beispielsweise auch der Übergang zu Standardlöt-
schen Aspekten ist hierbei auch ein hohes Maß an prozessen für die SiGe-MMICs. . Abbildung 17.35
Flexibilität bezüglich der Integration in eine umfas- zeigt die HF-Platine mit der Antennenstruktur und
sende Systemarchitektur zu berücksichtigen [23]. In den gelöteten Sende- und Empfangs-MMICs. Die
. Abb. 17.30 ist beispielhaft eine Konfiguration zur in der Abbildung rechts zu sehenden Empfangs-
Fahrzeugumfelderfassung mit fünf Radarsensoren antennenfelder (insgesamt vier Spalten) bilden
dargestellt. Dazu werden in der vierten Radargene- ein „ausgedünntes“ Array mit den Abständen von
ration die Produktvarianten LRR4, MRR sowie ein dem 0,5-, 2,0- und 3,0-Fachen der Wellenlänge
MRR Dualmode (rear/corner) angeboten. Entspre- (jeweils auf die linksseitige Spalte bezogen). Somit
chende Produktabbildungen sind in . Abb. 17.29 wird trotz der Beschränkungen auf vier Spalten
zu sehen. eine Winkeleindeutigkeit von ±90° und eine Be-
Der LRR4 ist dabei die konsequente Weiter- ambreite (Trennfähigkeit) von arcsin(1/3) ≈ 20°
entwicklung des Fernbereichsradars LRR3 mit erreicht, wie es ansonsten von sieben gleichmäßig
Linsenantenne und sehr hoher Reichweite. Um im Abstand von λ/2 angeordneten Spalten erreicht
der zunehmenden Verbreitung radarbasierter As- würde. Zur Winkelschätzung wird das paramet-
sistenzsysteme Rechnung zu tragen, wurde zusätz- rische Deterministic Maximum Likelihood-Ver-
lich die Variante MRR mit einem planaren Anten- fahren verwendet, so dass die Trennfähigkeit von
nensystem und reduzierter Reichweite entwickelt. zwei Zielen auf deutlich kleinere Winkelbereiche
Zur Realisierung zukünftiger Anforderungen im verbessert werden kann – in diesem Fall auf 7°.
Bereich Fußgängerschutz [24] kann dabei nach Die unterschiedliche Größe der Patches in der ver-
Bedarf auf eine alternative Sendeantenne mit brei- tikalen Anordnung (Taperung) dient zur Reduktion
tem Öffnungswinkel umgeschaltet werden (siehe von Nebenkeulen in der Elevation.
. Abb. 17.34 links). Das Prinzip zweier geschalteter Für die Fernbereichsanwendung werden insge-
Sendeantennen wurde auch beim MRR rear um- samt zehn Sendespalten eingesetzt, für den Nahbe-
gesetzt, wobei in diesem Fall die Hauptstrahlrich- reich zwei, jeweils im λ/2-Abstand. Beim MRR rear
tungen in unterschiedliche Richtungen ausgebildet werden jeweils fünf Sendespalten eingesetzt, die von
werden. Damit kann beispielsweise ein Hecksensor phasenversetzten Sendesignalen gespeist werden, so
mit erweitertem Sichtbereich realisiert werden, der dass sich dadurch eine Hauptabstrahlrichtung von
einerseits rückwärtig annähernden Verkehr bis ca. –45° für die eine und ca. +45° für die andere
etwa 80 m Entfernung und andererseits querende Antenne ergibt.
Objekte mit derselben Reichweite detektieren kann Bei der Realisierung erweiterter Sicherheitssys-
(. Abb. 17.34, rechts). Weitere Einsatzgebiete kön- teme (vgl. ▶ Kap. 47 und 48) spielt die Klassifizie-
nen durch Variationen des Antennenlayouts re- rung stationärer Objekte eine zentrale Rolle. Eine
300 Kapitel 17 • Radarsensorik

1 .. Tab. 17.2  Technische Daten der Bosch Weitbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation

Generation 3 Generation 4
2 Bosch Produktvariante LRR3 LRR4 MRR MRR rear/corner

3 2009 2015 2013 2014

Allgemeine Eigenschaften

4 Abmessungen (B × H × T)/ 74 × 77 × 58 78 × 81 × 62 60 × 70 × 28
mm³ Maße inkl. Befesti-
gungsohren
5 Masse 285 g 240 g 190 g

Zyklusdauer < 125 ms 60 ms 60 ms


6
Hochfrequenzmodul

7 Frequenzerzeugung MMIC/SiGe,
bonded
SiGe-MMIC, eWLB Package Standardlötprozess
18,9 GHz-Referenzoszillator, PLL
18,9 GHz-Referenz-
8 oszillator, PLL

Strahlformung Patch + dielek- Patch + dielek- bistatisch, Patch Arrays,

9 trische Linse,
monostatisch
trische Linse,
monostatisch
inkl. Digital Beam Forming

Abgestrahlte Leistung 33 dBm (EIRP) < 29 dBm < 34 dBm < 18 dBm
10 (EIRPpeak)

Signaleigenschaften
11 Frequenzbereich 76–77 GHz 76–77 GHz

Modulationsverfahren FMCW FMCW


12 Rampenhöhe (typisch) 500 MHz 425 MHz 425 MHz 425 MHz/
700 MHz
13 Rampen (Anzahl/typ. 4 (6,5/1/7/ 5 (2,1..9,6 ms) 5 (1,3..5,9 ms) 4 (1,1..4,6 ms)
Dauer) 11,5 ms)

14 Anzahl Messbereiche 1 1 2 2

Art der Winkelmessung 4-Strahl-Konzept 6-Strahl-Konzept 4-Kanal mit Phasenauswertung


15 (Azimut)

Art der Winkelmessung – Amplituden-Mono-Puls (2Tx)


(Elevation)
16
Detektionseigenschaften

17 Entfernungsbereich 0,5 … 250 m 0,36 … 250 m 0,36 … 160 m 0,36 / 0,23 …


80 m

Entfernungszelle 0,3 m 0,36 m 0,36 m 0,36 / 0,23 m


18 Relativgeschwindigkeits- –80 … +30 m/s –80 … +30 m/s –80 … +80 m/s
bereich
19 Relativgeschwindigkeits- 0,2 m/s 0,2 m/s 0,33 m/s 0,43 m/s
zelle
20
17.8 • Ausführungsbeispiele
301 17

.. Tab. 17.2 (Fortsetzung) Technische Daten der Bosch Weitbereichsradarsensoren der dritten und vierten Generation

Generation 3 Generation 4

Bosch Produktvariante LRR3 LRR4 MRR MRR rear/corner

Az. Messbereiche 12° Long-range 12° (200 m) 12° (160 m) s. FoV


20° Mid-range 20° (100 m) 18° (100 m)
30° Short-range 30° (30 m) 58° (60 m)
90° (25 m)

Az. Winkelzelle (definiert 2° 2° 3,5° –


über 1/2 der Trennfähig-
keit von zwei Punktzielen)

Az. Genauigkeit Punktziel 0,1° 0,1° 0,2° 0,3°

Elev. Genauigkeit (typ.) – 0,2° 0,6° –

Elev. Keulenbreite (6dB) 5° 4,5° 13° 13°

.. Abb. 17.33  Hardware-Architektur des Bosch MRR-Sensors [Quelle: Bosch]


302 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 17.34  Typische Detektionsbereiche des MRR-Sensors als Frontsensor (links) bzw. Hecksensor (rechts). Es sind jeweils
beide Antennenschaltzustände dargestellt. [Quelle: Bosch]
7
.. Abb. 17.35  HF-Leiterplatte des Bosch MRR-Sensors mit

8 Antennenstrukturen und SiGe-MMICs, von links: 10 Streifen


für TX1, dann 2 für TX2, dann RX1 bis 4 [Quelle: Bosch]

9
10
11
12
.. Abb. 17.36 Elevations-
13 winkelmessung auf Roh-
signalebene bei Zufahrt
auf ein Bodenobjekt (rot)
14 bzw. auf ein Ziel etwas
unterhalb der Sensorhöhe
(blau). Die Messungen
15 wurden mit einem MRR-
Sensor durchgeführt.
[Quelle: Bosch]
16
17
18
19
20
17.8 • Ausführungsbeispiele
303 17

.. Abb. 17.37  Außenansicht und Aufbau des Radarsensors


ARS 300 von Continental [Quelle: Continental]

Möglichkeit stellt die Messung des Objektwinkels .. Abb. 17.38  Antennenkonzept des Radarsensors ARS 300
auch in Elevationsrichtung dar. Dazu kann in den von Continental, oben: Seitenansicht (Elevation), unten Wal-
Varianten LRR4 und MRR die zweite Sendean- zenanordnung für azimutales Scanning [Quelle: Continental]
tenne verwendet werden, wenn deren Elevations-
hauptrichtung dazu von der der anderen abweicht somit auch in Elevationsrichtung schwenken, was
(Amplituden-Mono-Puls). In . Abb. 17.36 sind zur Elevationsoffsetidentifikation und-korrektur
diesbezüglich die Rohmesswerte bei Zufahrt auf genutzt wird. Diese Reflektoranordnung wird nicht
zwei Objekte unterschiedlicher Höhe dargestellt, von einzelnen Feeds gespeist, sondern von einem
wobei die Entfernung jeweils auf das betreffende dielektrischen Leck-Wellenleiter. Dieser Wellenlei-
Objekt bezogen ist. Die roten Messpunkte stellen ter führt die Mikrowellen ohne Austritt, sofern sie
den Elevationswinkel eines Zieles dar, das am Bo- nicht an der Unterseite durch die Rillen der Walze
den liegt und als überfahrbar klassifiziert werden eine Streuung erfahren. Die Streuamplituden al-
soll. Die blauen Messwerte gehören zu einem Ziel, ler Rillen, die den Wellenleiter verlassen, bilden
das sich leicht unterhalb der Sensorhöhe befindet zusammen eine ebene Wellenfront, die durch den
und somit als Hindernis gesehen werden soll. In Rillenabstand ausgerichtet wird. Ist der Abstand der
dieser Messung kann damit zumindest im Nahbe- Rillen kleiner als die Wellenlänge im Wellenleiter,
reich anhand des Elevationswinkels klar zwischen dann wird die ausgeleitete Welle bei einer Speisung
den beiden Objektklassen getrennt werden. Zu be- von der linken Seite nach links weisen, bei größeren
achten ist hierbei, dass die Messung erhöhter Ziele Abständen dreht sich die Abstrahlung nach rechts.
den in ▶ Abschn. 17.1 beschriebenen systematischen Daher variieren die Rillenabstände in Umfangsrich-
Einflüssen durch Bodenreflexionen unterworfen ist. tung. Diese Art des Scannings erfordert keine Rück-
drehung wie beim Schwenken einer Antennenfläche
und erzeugt vernachlässigbar geringe Massenkräfte.
17.8.3 Continental ARS 300 Neben dem Scanning für den zentralen Sichtbe-
reich (17°) werden die seitlichen Bereiche ebenfalls
Beim ARS 300 (. Abb. 17.37) wird ein mechani- per Scanning erfasst; dazu sind auf der Trommel (s.
sches Scanning-Prinzip eingesetzt, das mit einer . Abb. 17.38 unten) asymmetrisch weitere Rillenbe-
Walze und Trans- sowie Twistreflektor arbeitet. reiche hineingefräst. Der Versatz auf der Trommel
Letzteres wird, wie . Abb. 17.38 zeigt, auch zur berücksichtigt den Versatz, der bei seitlicher Aus-
Bündelung wie eine Offsetparabolantenne ver- leuchtung für einen in etwa mittigen Strahlengang
wendet. Der Twistreflektor ist beweglich und kann nötig ist, d. h. der Bereich ist zur Gegenseite des
304 Kapitel 17 • Radarsensorik

1 .. Tab. 17.3  Technische Daten der Radarsensoren von Continental

Continental ARS300 SRR 200


2 Allgemeine Eigenschaften

Abmessungen (B × H × T) (mit Befestigung 141 × 96 × 47 mm3 112 × 83,2 × 25 mm3


3 und Buchse)

Masse < 500 g 290 g


4 Zyklusdauer 66 ms 40 ms

Messdauer im Zyklus 35 ms für FRS, 20 ms


5 16 ms für NRS

Hochfrequenzmodul
6 Frequenzerzeugung GaAs-MMIC (ARS300) bzw. SiGe-MMIC
SiGe-MMIC (ARS301),

7 frei laufender VCO

Abgestrahlte Leistung 3 mW average 12,7 dBm (EIRP)


(peak, average)
8 Signaleigenschaften

9 Frequenzbereich 76–77 GHz 24,05…24,25 GHz (ISM band)

Modulationsverfahren Chirp Sequence

10 Pulsdauer/Rampenhöhe u. -dauer 187,5 MHz


(750 MHz @low speed), 16 µs
187,5 MHz, 9 µs

11 Puls-/Rampenwiederholrate 50 kHz 12,5 kHz (pro Kanal)

Anzahl Messbereiche 3 (1 × FRS, 2 × NRS) 1

12 Art der Winkelmessung Scanning Digital Beam Forming, eff. 8 Kanäle

Detektionseigenschaften
13
Entfernungsbereich 1…200 m FRS 0.3…100 m @ ± 40°
1…60 m NRS 0.3…65 m @ ± 60°
14 (0,25…50 m @low speed) 0.3…35 m @ ± 90°

Entfernungszelle 1m 1m
15 (0,25 m @low speed)

Relativgeschwindigkeitseindeutigkeits- –74…+25 m/s –40…+40 m/s

16 bereich

Relativgeschwindigkeitszelle 0,77 m/s FRS 0,3 m/s


1,53 m/s NRS
17 Messbereich Azimut ∆φmax 17° FRS ± 75° measurement
56° NRS ± 90° detection
18 Keulenbreite φlobe (3 dB-Einweg) 2,5° FRS 20°
8° NRS (virtuelle Keule)

19 Winkelzelle ∆φ 1° FRS 14°


3,125° NRS (≈ arcsin(1/4))

20
17.8 • Ausführungsbeispiele
305 17

.. Tab. 17.3 (Fortsetzung) Technische Daten der Radarsensoren von Continental

Continental ARS300 SRR 200

Elevation ϑspec 4,3° (Keulenbreite) ± 12° @ - 6 dB


± 16° @ - 10 dB

Genauigkeit Punktziel (Azimut) 0,1° ± 2° for ± 30°


± 4° for ± 60°
± 5° for ± 75°

Besonderheiten

ARS300: Fähigkeit zur Selbstjustage in Azimut und Elevation


SRR 200: Fähigkeit zur Selbstjustage in Azimut (wegen großer Elevationsöffnung für Elevation keine Selbstjustage
nötig)

Abkürzungen: FRS: Far-Range-Scan; NRS: Near-Range-Scan

Ausleuchtbereichs verschoben. Die Strahlbreite be- kleiner. Im Nahbereich erfolgt eine gröbere Seg-
trägt im Azimut 2,5° (im Nahbereichsscan 8°), in mentierung von 3,125°, so dass trotz der geringeren
der Elevation 4,3°. Durch den schwenkbaren Twist- Gesamtmessdauer von 16 ms eine Geschwindigkeits-
reflektor kann der ARS300 bezüglich der Elevation zelle von 1,5 m/s gehalten werden kann.
optimal ausgerichtet werden und stationäre Nick- Bei niedrigen Geschwindigkeiten wird eine
winkel oder Dejustagen ausgleichen. Reichweite von weniger als 50 m benötigt. Folge-
Die Modulation ist im Gegensatz zu früheren richtig kann eine Fokussierung auf den Nahbereich
Generationen eine Chirp-Sequence-Modulation, erfolgen und durch Erhöhung des Modulationshubs
die auch als Pulskompression bezeichnet wird, vgl. (hier Vervierfachung) eine bessere Abstandsauflö-
▶ Abschn. 17.2.5.4. Dieser Ansatz nutzt optimal die sung und -trennfähigkeit erreicht werden.
Messzeit aus, auch wenn dafür die Kosten für eine Mit dem ARS300 wird ein leistungsfähiges
hohe Abtastrate (≈ 40 MHz) getragen werden müs- Radar angeboten, das durch eine sehr breite Aus-
sen, wobei dieser Ansatz für den ARS200 auch schon leuchtung zusätzliche Nahbereichssensoren für
benötigt wurde. Wie in . Tab. 17.3 angegeben, wird Stop&Go oder Notbremsfunktionen überflüssig
zwischen einem Near-Range-Scan (bis 60 m) und macht. Durch das Scannen wird eine gute laterale
einem Far-Range-Scan (bis 200 m) unterschieden. Auflösung erreicht und eine sogar bis 80…100 m
Dabei wird beim Near-Range-Scan nur bis zu 60 m reichende laterale Objekttrennfähigkeit möglich.
ausgewertet, wodurch die Abtastrate nur noch ein Diese Leistung kann selbstredend nicht ohne den
Drittel betragen muss. Der zentrale Bereich wird von Preis einer breiteren Apertur und folglich breiterem
beiden Scans überfahren, wodurch eine Zuordnung Gehäuse (s. . Abb. 17.37) erzielt werden, wobei an-
der beiden Messreihen erleichtert wird. Die Ge- dererseits die Kompaktheit angesichts der Funktion
schwindigkeitszelle ist beim zentralen Sichtbereich – als hoch anzusehen ist.
also im Far-Range – kleiner, da eine längere Messzeit Der ARS300 wurde hinsichtlich Kosten und
für diese Messung zur Verfügung steht. Prinzipbe- Performance weiterentwickelt, ohne das Grund-
dingt muss für die Winkelbestimmung mit Scanning prinzip der Antenne und der Frequenzmodulation
die Messzeit auf die einzelnen Winkelsegmente – hier zu ändern. Für die seit 2012 produzierte Variante
auf 17 Winkelschritte – aufgeteilt werden. Daher er- ARS301 wurden die Hochfrequenzerzeugung von
gibt sich eine Messzeit von 35 ms/17 ≈ 2 ms pro Seg- GaAs auf SiGe umgestellt und die Umfelderfas-
ment. Allerdings ist die Radarkeule breiter, so dass sungsalgorithmen weiter optimiert.
für die Relativgeschwindigkeit eine größere Messzeit
zur Verfügung steht. Daher ist die angegebene Zel-
lengröße von 0,8 m/s (entsprechend 2,56 ms) auch
306 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
5
6
7 .. Abb. 17.39  Gehäuse und Abmessungen des Continental
SRR 200 [Quelle: Continental]

8 17.8.4 Continental SRR 200

9 Die äußeren Abmessungen des im 24 GHz-


Bereich arbeitenden Short-Range-Radar SRR
10 200 zeigt die . Abb. 17.39. Es basiert auf einem .. Abb. 17.40  RF-Board mit Antennenlayout (oben) und Lei-
terbahnstrukturen (unten) des Continental SRR 200 [Quelle:
Planar-Antennen-Array-Konzept: Dafür werden
Continental]
drei Rx-, ein Tx- und ein Rx/Tx-Antennenfeld
11 verwendet, wobei, wie in ▶ Abschn. 17.3.6 be-
schrieben und in . Abb. 17.40 zu sehen ist, die holt wird. Die sich durch das sequenzielle Akqui-
12 Transmitter-Elemente außen liegen, so dass sich rieren der Antennenkanäle ergebenden zeitlichen
effektiv eine 8-Kanaligkeit für das Digital Beam Verschiebungen können bei der weiteren Verarbei-
Forming ergibt. Das Digital Beam Forming ist tung kompensiert werden. Wie auch die anderen
13 über eine DFT der Länge 16 implementiert – es SRR-Sensoren eignet sich der SRR 200 für den
werden also noch acht Nullkanäle hinzugefügt; Nah- und Mittelbereich nach vorne, zur Seite und
14 dieses Zero-Padding bringt zwar signaltheoretisch nach hinten.
betrachtet keinen Informationsgewinn, aber das
15 daraus resultierende „überabgetastete“ Beamspek-
17.8.5 Hella 24 GHz Mid-Range-Radar
trum erlaubt eine einfacher zu implementierende
Auswertung. In . Abb. 17.41 sind die aus der DFT
16 entstehenden 16 virtuellen Keulen dargestellt. Die von Hella entwickelten Sensoren auf Basis der
Auf die Signalverarbeitung lässt das in . Abb. 17.42 24 GHz Radar Narrow-Band-Technologie sind
17 gezeigte Blockschaltbild schließen. Die Modulation mittlerweile im Generationsstand 2 und 3 im Markt
erfolgt als Chirp-Sequence ähnlich zum ARS300. vertreten, vgl. . Tab. 17.4. Grundsätzlich lassen sich
Es werden jeweils vier Chirps abwechselnd auf mit dieser Technologie auch Long-Range-Sensoren
18 TX1 und TX2 gesendet. Die Rx-Zweige werden umsetzen; die in diesem Abschnitt vorgestellten
zwar parallel gemischt, aber anschließend wird Sensoren adressieren ausschließlich Heckfunktio-
19 per Multiplex immer nur einer weiter ausgewer- nen und haben dementsprechend eine Mid-Range-
tet, wobei der selektierte Kanal von Chirp zu Chirp Ausprägung der Antennencharakteristik. Zu den
20 geändert wird. Damit werden sequenziell alle acht genannten Heckfunktionen gehört neben der
Antennenkanäle akquiriert, was 256-mal wieder- Fahrstreifenwechselassistenz unter anderem auch
17.8 • Ausführungsbeispiele
307 17
Antenna Pattern
-20

-25

-30
Power of digital beams [dB] (unscaled)

-35

-40

-45

-50

-55

-60

-65

-70
-90 -80 -70 -60 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Azimuth angle [°]

.. Abb. 17.41  Antennendiagramm für die 16 virtuellen Keulen nach dem Digital Beam Forming aus den acht realen Kanälen
und den acht mit Null aufgefüllten Datensätzen, Continental SRR 200 [Quelle: Continental]

Rx1 Rx2 Rx3 Rx4/Tx2 Tx1

Power Car
IF
Driver Interface
HF

/P A
D
MCU
1/2

Chirp Modulation
A
MUX MUX FPGA
D
LF

RAM

.. Abb. 17.42  Blockschaltbild des Continental SRR 200 [Quelle: Continental]


308 Kapitel 17 • Radarsensorik

1 .. Tab. 17.4  Kenndaten der Hella 24 GHz Radar Generationen 2 und 3

Hella Generation 2 Generation 3


2 Allgemeine Eigenschaften

Abmessungen (B × H × T) 105 × 89 × 34 mm³ 98 × 78 × 26 mm³


3 Masse 270 g 160 g

4 Zyklusdauer 50 ms

Messdauer im Zyklus 36 ms

5 Hochfrequenzmodul

Frequenzerzeugung 24 GHz VCO-MMIC

6 abgestrahlte Leistung < 13 dBm av.

Signaleigenschaften
7 Frequenzbereich 24,05 GHz–24,25 GHz

Modulationsverfahren FMSK Modifiziertes FMSK


8 Rampenhöhe und Chirp-Dauer ca. 100 MHz, 36 ms ca. 200 MHz, 36 ms

Chirp-Typen up, down, konstant


9 Art der Winkelmessung bistatisches, simultanes Mono-Puls-Konzept

10 Detektionseigenschaften

Entfernungsbereich s. . Abb. 17.45 s. . Abb. 17.45

11 Entfernungszelle 1,5 m 0,75 m

Relativgeschwindigkeitsbereich –70 m/s...+70 m/s

12 Relativgeschwindigkeitszelle 0,16 m/s

Messbereich Azimut s. Abb. s. Abb.


13 Keulenbreite 28° @ -10 dB 100° @ -10 dB

Spezifizierte Elevation 16° @ -10 dB 18° @ -10 dB


14 Genauigkeit Punktziel 0,5°

15
der Rear-Cross-Traffic Alert für die Erkennung von Die in . Abb. 17.43 und . Abb. 17.44 (jeweils
Querverkehr beim Rückwärtsausparken. links) gezeigte Generation 2 gibt den prinzipiellen
16 Als Modulationsprinzip wird das in ▶ Abschn. Aufbau des Radarsensors wieder. Ein hinsichtlich
17.2.5.2 dargestellte Linear Frequency Modulation des Strahlengangs neutrales Radom deckt die pla-
17 Shift Keying (LFMSK/FSK)-Verfahren ab der Gene- nare Antenne ab. Diese besteht aus Sende- und
ration 3 in einer modifizierten Variante mit nicht- Empfangszweig und ist in Mikrostreifenleitertech-
zeitkonstanten Sende-Bursts verwendet. Für einen nik realisiert. Die Antenne befindet sich als Teil der
18 hinsichtlich Frequenzregulierung problemlosen Leiterplattenstruktur auf der Oberseite der Radar-
und weltweiten Einsatz ist die Modulationsband- Front-End-Platine (RFE) und besteht aus 1 Tx-
19 breite auf maximal 200 MHz beschränkt (24,05- und 3 Rx-Elementen. Auf der Unterseite befindet
24,25 GHz bei einer Sendeleistung < 13 dBm avg. sich der Rest der HF-Elektronik – zum Teil noch
20 EIRP). Zur Winkelbestimmung wird auf das simul- in diskreter Ausführung, zum Teil bereits in hoch-
tane Monopulsverfahren gesetzt. integrierter Form als GaAs-MMIC. Im Wesentli-
17.8 • Ausführungsbeispiele
309 17

.. Abb. 17.43  Explosionsdarstellung Hella Radar 24 GHz – zweite (links) und dritte Generation (rechts) [Quelle: Hella]

.. Abb. 17.44  Hella Radar 24 GHz – Vergleich zweite und dritte Generation. links: zweite Gen., sichtbar: Radom, RFE-Board
(Antennenseite), DSP-Board. rechts: dritte Gen., sichtbar: Radom, Leiterkarte (Antennenseite), Abschirmung [Quelle: Hella]

chen befinden sich hier die LNAs, die komplexen Schaltung, inklusive Schaltnetzteil, Kommunikation,
Mischer und Bandpass-Filter. Die HF-Schirmung Auswerteelektronik und HF-Schaltung auf nur einer
sorgt dafür, dass HF-Strahlung wie gewünscht nur Leiterkarte platziert. Die Radarantenne ist dabei, wie
zur Radom-Seite emittiert wird. Die Auswerteein- bereits bei Generation 2 gezeigt, als Mikrostreifenlei-
heit mit Steckerleiste ist darunter angebracht. Auf terstruktur auf der Oberseite der Leiterkarte unter-
dieser Signalverarbeitungsplatine realisiert ein DSP gebracht. Dieser kompakte Aufbau wurde durch den
die Radar-Signalverarbeitungsschritte wie Rohsig- Einsatz hochintegrierter HF-Komponenten (SiGe-
nalverarbeitung, Winkelbestimmung und Tracking MMICs) sowie durch entsprechende Gestaltung
sowie die Überwachung und Diagnose des RFE. des Layouts und der Platzierung der Komponenten
Weiterhin setzt ein Mikrocontroller Basissoft- auf der Leiterkarte ermöglicht. Um der wachsen-
wareanteile und -funktionen um. Ein Schaltnetzteil den Bedeutung von Funktionen, die im seitlichen
liefert die benötigten Betriebsspannungen. Bereich der Fahrzeugumgebung messen, gerecht zu
Die Generation 3, gezeigt in . Abb. 17.43 und werden, wurde die Sendeantennencharakteristik in
. Abb. 17.44 (jeweils rechts), basiert auf dem glei- Richtung Rundumsicht entsprechend neu ausgelegt,
chen Radarverfahren. Im Gegensatz zur Generation siehe . Abb. 17.45. Damit lassen sich nicht nur im
2 wurde hier konsequent das Gerätedesign in Rich- longitudinalen und lateralen Fahrzeugbereich Ob-
tung Baugrößenverkleinerung und Kostenoptimie- jekte detektieren, sondern auch unter 45°. Mit ei-
rung vorangetrieben. So ist die gesamte elektronische ner solchen Antennencharakteristik lassen sich bei
310 Kapitel 17 • Radarsensorik

.. Abb. 17.45 Gegenüber-
1 stellung der Detektionsbe-
reiche (Beispiel: Erfassung
von rückwärtigem
2 Querverkehr). Integra-
tion von jeweils zwei
Radarsensoren im Heck
3 des Ego-Fahrzeugs (rechts/
links) und Sensorausrich-
tung nach schräg hinten
4 [Quelle: Hella]

5
6
7
8
9
10
11
12 .. Abb. 17.46  AC1000 von TRW [Quelle: TRW] .. Abb. 17.47   3D-Explosionsdarstellung des AC1000 von
TRW [Quelle: TRW]

entsprechender Sensoranordnung Rundumsicht-


13 systeme realisieren. Auf der Empfangsseite reichen können mehrere Objekte mit gleicher Relativge-
2 Rx-Antennenelemente aus. Natürlich zieht eine schwindigkeit sowie in gleicher Entfernung – aber
14 derartige Erweiterung des Sensorsichtbereichs eine in unterschiedlichen Winkeln – getrennt und simul-
Anpassung der Software, insbesondere im Bereich tan verfolgt werden. Wie in . Abb. 17.48 zu sehen,
15 der Rohsignalverarbeitung, des Trackings und der erlaubt die Digital Beam Forming (DBF)-Methode
Hypothesenbildung, nach sich. eine Anpassung des Strahls an die Fahrgeschwin-
digkeit und damit an die jeweilige Fahrsituation
16 bzw. die Anwendung. Die aktuelle Ausführung des
17.8.6 TRW AC1000 vorausschauenden AC1000 arbeitet mit drei Modi:
17 Bei höheren Geschwindigkeiten (> 70 km/h Fahrge-
Die modulare Radarfamilie AC1000 von TRW schwindigkeit) wählt der Sensor den Fernbereichs-
(. Abb. 17.46) arbeitet im 77 GHz Frequenzband modus mit reduziertem Öffnungswinkel und maxi-
18 und nutzt dafür die Silizium-Germanium (SiGe)- maler Reichweite, beispielsweise für eine adaptive
Technologie. Die detaillierte Darstellung des Sen- Geschwindigkeitsregelung auf der Autobahn. Bei
19 sors ist in . Abb. 17.47 gezeigt, die Spezifikation mittleren Geschwindigkeiten wird ein weiter Öff-
in . Tab. 17.5. Die Winkelauswertung basiert auf nungswinkel eingestellt, um der komplexen städ-
20 dem Prinzip der digitalen Strahlformung mit vier tischen Umgebung Rechnung zu tragen und z. B.
Empfangskanälen (vgl. ▶ Abschn. 17.3.6). Dadurch Fußgänger, die plötzlich auf die Fahrbahn treten,
17.8 • Ausführungsbeispiele
311 17

.. Tab. 17.5  Technische Daten des Radarsensors AC1000 von TRW

TRW AC1000 (vorausschauende Variante)

Allgemeine Eigenschaften

Abmessungen (B × H × T) 75 × 77 × 38 mm³

Masse < 300 g

Zyklusdauer 40 ms

Messdauer im Zyklus 39 ms

Signaleigenschaften

Frequenzbereich 76–77 GHz

Modulationsverfahren FMFSK

Modulationshub 200/400 MHz

Burst-Hub und -Dauer 0,32 MHz, 2,5 µs (1,25 µs möglich)

Anzahl Messbereiche 3

Art der Winkelmessung Digital Beam Forming

Detektionseigenschaften

Entfernungsbereich 0,5…180 m

Entfernungszelle Δr 0,375 m (City mode)/0,75 m (ACC mode)

Relativgeschwindigkeitsbereich > ±61 m/s

Relativgeschwindigkeitszelle Δr < 0,06 m/s

Messbereich Azimut Δϕmax > 70° (im Low-speed mode)

Einbautoleranz Elevation ±5°

.. Abb. 17.48  Sichtfeldanpassung mittels digitaler Strahlfor-


mung beim AC1000 von TRW, Angaben auf Farbskala in dB
[Quelle: TRW]
312 Kapitel 17 • Radarsensorik

17.8.7 Valeo MBH


1
Der von Valeo seit 2012 für die Anwendungen
2 Fahrstreifenwechselassistent (Lane Change Assist)
und Querverkehrwarnung (Cross Traffic Alert) an-
gebotene Multi Beam High-Performance (MBH)-
3 Radarsensor arbeitet nach dem LFMCW-Prinzip
im 24 GHz Bereich. Besonderes Merkmal des Valeo
4 MBH Sensors ist seine Multibeam-Sendeantenne (s.
. Abb. 17.49), die den Erfassungsbereich in sieben
5 Bereiche unterteilt, vgl. . Abb. 17.50. Die genauen
Zielwinkel werden auf Empfangsseite nach dem
Phasenmonopulsverfahren gemessen, wobei durch
6 die Selektivität der Sendestrahlen eine hohe Pha-
senempfindlichkeit möglich wird, da die Eindeu-
7 tigkeitsforderung für die Phasendifferenz fallen-
gelassen werden kann. Dies ist in . Abb. 17.49 an
dem großen Abstand von 3/2λ zwischen den Emp-
8 fangsantennen zu sehen und dem daraus folgenden
Eindeutigkeitsbereich von ±arcsin(1/3) ≈ ±20° im
9 Mittenbereich.
Beim LFMCW-Prinzip handelt es sich um eine
10 dem Chirp Sequence-Verfahren ähnliche Modula-
tion. Zwischen 16 und 64 Frequenzrampen werden
mit einer Dauer von ¼ ms und einer Bandbreite von
11 .. Abb. 17.49   Antenne des Valeo Multi Beam High-Perfor- ≈ 190MHz in einem Fenster konstanter Sendestrahl-
mance-Radars [Quelle: Valeo] richtung ausgesendet. Dabei wird die Anzahl dyna-
12 misch festgelegt, um die Winkelbereiche von hohem
Interesse besser auflösen zu können. Bei dem Mess-
besser erkennen zu können. Der dritte Betriebs- zyklus von 70 ms können so z. B. drei Strahlen mit
13 modus mit einer eigenen Sendeantenne ist speziell 64 und vier mit 16 Bursts betrieben werden. Der
für niedrige Geschwindigkeiten ausgelegt und bietet Eindeutigkeitsbereich der Relativgeschwindigkeit
14 einen besonders großen Öffnungswinkel. Zur Mo- einer Einzelmessung liegt bei einer Chirp-Rate von
dulation wird ein FMCW und FSK kombinierendes 4 kHz bei etwa ±12 m/s, weshalb weitere Maßnah-
15 Verfahren verwendet, wie es in ▶ Abschn. 17.2.5.2 in men zur Herstellung der Eindeutigkeit eingesetzt
. Abb. 17.13 beschrieben wird. Somit wird eine ein- werden.
deutige direkte Zuordnung von Relativgeschwindig- Die Sendeantenne besteht, wie . Abb. 17.49
16 keit und Abstand erzielt, so dass eine nachträgliche zeigt, aus acht Patchreihen à sechs Patches. Die acht
Geisterzielentfernung entfallen kann. Reihen werden durch ein 8-kanaliges passives But-
17 Durch die mit der neuen AC1000-Technologie lermatrix-Phasennetzwerk, also mit acht Eingängen
erreichte Skalierbarkeit lassen sich Radare dieses und acht Ausgängen, gespeist. Mit Umschalten des
Typs für 360° – also Front-, Heck- und Seitenbe- Sendezweigs auf einen der Eingänge lassen sich ins-
18 reich – je nach Konfiguration und Montageort ein- gesamt acht Sendestrahlen unterschiedlicher Rich-
zeln oder gruppiert einsetzen. tung erzeugen.
19 Die Empfangsantenne besteht aus zwei Patch-
reihen à sechs Patches. Die Empfangssignale der
20 beiden Patchreihen werden durch zwei parallele
Empfangskanäle separat ausgewertet. In der Signal-
17.9  •  Zusammenfassung und Ausblick
313 17

.. Abb. 17.50   Phasendiagramm Antenne (berechnet) [Quelle: Valeo]

verarbeitung wird für jedes Zielecho die Phasendif-


ferenz zwischen den beiden Kanälen ermittelt und
aus der Phasendifferenz der Zielwinkel geschätzt.
Das Empfangssignal wird heruntergemischt, gefil-
tert und A/D-gewandelt. Alle weiteren Verarbei-
tungsschritte einschließlich der Warnfunktion fin-
den in einem DSP statt.
Der ungefähr 28 mm dicke Sensor
(. Abb. 17.51, Aufbau s. . Abb. 17.52) wird zur Re-
alisierung oben genannter Zielfunktionen als Paar
jeweils an der rechten und linken hinteren Ecke
des Fahrzeugs hinter dem Stoßfänger verbaut. Die
Zusammenfassung der Eigenschaften befindet sich .. Abb. 17.51   Außenansicht des Valeo MBH-Radar [Quelle:
in . Tab. 17.6. Valeo]

geprägt, so sind erste Konvergenzen hinsichtlich der


17.9 Zusammenfassung Modulation und der Frequenzerzeugung zu sehen.
und Ausblick Trotzdem wird es noch lange dauern, bis ein Zu-
stand ähnlich dem von ABS erreicht ist, bei dem
Die Radar-Technologie hat die Entwicklung der die Geräte verschiedener Hersteller kaum noch zu
Fahrerassistenzsysteme weit nach vorn gebracht. unterscheiden sind.
Aber auch die Radar-Technologie selbst wurde Die stete „Bedrohung“ der Radartechnologie im
durch die Anwendung im Automobil beeinflusst. Automobil, die Lidartechnologie (s. ▶ Kap. 18), hat
Heute liegen Erfahrungen für eine Volumenpro- in den letzten Jahren ebenfalls große Fortschritte
duktion von komplexen Radargeräten vor, die mit gemacht. Trotzdem bleiben komplementäre Leis-
den Felderfahrungen die aktuelle Entwicklung be- tungsunterschiede weiter bestehen: Radar profitiert
gleiten. Waren die Radarsensoren der ersten Gene- in besonderem Maße von der Fähigkeit, den Dopp-
ration verschiedener Zulieferer von hoher Diversität lereffekt messen zu können, und von der höheren
314 Kapitel 17 • Radarsensorik

1
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Abb. 17.52   Explosionsdarstellung Valeo MBH-Sensor [Quelle: Valeo]

10 Danksagung
Wetterrobustheit. Demgegenüber ermöglicht Radar
nur eine geringe Raumwinkelauflösung bei akzep-
11 tabler Antennengröße. Eine Verbesserung dieser Si- Der Autor dankt den Herren Dr. Hermann Budden-
tuation verspricht die Terahertz-Technik, die aber dick von Bosch, Dr. Markus Wintermantel von Con-
12 technologisch noch in den Kinderschuhen steckt. tinental, Martin Mühlenberg von Hella, Dr. Alois
Mit halber Wellenlänge könnten Keulenbreiten von Seewald von TRW und Dr. Urs Lübbert von Valeo
1° erreicht werden, womit sich die Objektbegren- für die fachliche Unterstützung und die Bereitstel-
13 zungen in durchaus befriedigender Qualität bestim- lung der technischen Abbildungen.
men ließen.
14 Vielleicht geht die Technik auch einen ande-
ren Weg, wenn das Ein-Sensor-Konzept verlassen
15 wird und sich der diversitären Multi-Sensorik mit
Sensordatenfusion genähert wird. Hier könnte die
Kombination Radar plus Kamera ein „Dreamteam“
16 werden, das kaum noch Wünsche offen lässt, die
z. B. von einem Lidar erfüllt werden könnten. In ei-
17 ner Kombinationslösung können sich die Anforde-
rungen an das Radar ändern und eventuell zu einer
„Abrüstung“ des Radars bei einer Kostengesamtop-
18 timierung führen.

19
20
Literatur
315 17

.. Tab. 17.6  Technische Daten des Valeo Multi Beam High-Performance-Radars

Valeo MBH

Allgemeine Eigenschaften

Abmessungen (B × H × T) 70 × 102 × 28,1 mm³

Masse 240 g

elektrische Leistungsaufnahme typisch: 2,5 W @ 13V

Zyklusdauer 70 ms

Messdauer im Zyklus 39 ms

Signaleigenschaften

Frequenzbereich 24,05–24.25 GHz (ISM)

Sendeleistung < = 20 dBm EIRP

Modulationsverfahren FMCW

Modulationshub 190 MHz

Burst-Anzahl und Dauer 16 bis 64, 250 µs

Anzahl Messbereiche 1

Art der Winkelmessung Mono-Puls, 7 Sendekeulen à 30°

Detektionseigenschaften

Entfernungsbereich > 70 m

Entfernungszelle Δr 0,8 m

Relativgeschwindigkeitsbereich 95 m/s

Relativgeschwindigkeitszelle 1,6…0,4 m/s

Messbereich Azimut Δϕmax 150°

Genauigkeit Winkel 1°…2° (abhängig vom Winkel)

Keulenbreite Elevation ±10° (10 dB)

7 Schneider R.: Modellierung der Wellenausbreitung für ein


Literatur
bildgebendes Radar, Dissertation Universität Karlsruhe,
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316 Kapitel 17 • Radarsensorik

12 Meinecke, M.-M., Rohling, H.: Combination of LFMCW and


1 FSK Modulation Principles for automotive radar systems
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13 Kühnle, G., Mayer, H., Olbrich, H., Swoboda, H.-C.: Low-Cost
2 Long-Range-Radar für zukünftige Fahrerassistenzsysteme
Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik,
2002., S. 561 (2002)
3 14 Lucas, B., Held, R., Duba, G.-P., Maurer, M., Klar, M., Freundt,
D.: Frontsensorsystem mit Doppel Long Range Radar 5.

4 Workshop Fahrerassistenzsysteme, Walting. (2008)


15 Wintermantel, M.: Radarsystem mit Elevationsmessfähig-
keit Offenlegungsschrift, Bd. WO2010/000254 A2. (2010)

5 16 Massen, J., Möller, U.: Abschlussbericht des BMBF-Projektes:


„RoCC“ Radar-on-Chip for Cars – Teilvorhaben Continental
79GHz SiGe Nahbereichsradarsensorik, Förderkennzeichen
6 13N9824 (2012)
17 Stoica, P., Moses, R.L.: „Spectral Analysis of Signals”. Prentice
Hall Inc., Upper Saddle River, NJ (2005)
7 18 Koelen, C.: Multiple Target Identification and Azimuth
Angle Resolution based on an Automotive Radar, Disser-
tation TU Hamburg-Harburg. Shaker Verlag, Aachen (2012)
8 19 Bundesnetzagentur: SSB LA 144 – Schnittstellenbeschrei-
bung für Kraftfahrzeug-Kurzstreckenradare (Short Range
Radar, SRR), Juli 2005
9 20 ETSI EN 302 858-1 V1.3.1 (2013-11): Electromagnetic com-
patibility and Radio spectrum Matters (ERM); Road Trans-
port and Traffic Telematics (RTTT); Automotive radar equip-
10 ment operating in the 24,05 GHz up to 24,25 GHz or 24,50
GHz frequency range; Part 1: Technical characteristics and
test methods, http://www.etsi.org/deliver/etsi_en\302800
11 _302899\30285801\01.03.01_60\en_30285801v010301p.
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12 21 -: More Safety for All by Radar Interference Mitigation, EU-


Projekt 248231, 2010-2012 (2013)
22 Hildebrandt, J., Kunert, M., Lucas, B., Classen, T.: Sensor Se-

13 tups for future Driver Assistance and Automated Driving


Frankfurt, Germany. Proceedings IWPC. (2013)
23 Classen, T., Wilhelm, U., Kornhaas, R., Klar, M., Lucas, B.: Sys-
14 temarchitektur für eine 360 Grad Fahrerassistenzsensorik
UniDAS Workshop Fahrerassistenzsysteme. Tagungsband,
Bd. 8. (2012)
15 24 Schubert, E., Kunert, M., Menzel, W., Fortuny-Guasch, J.,
Chareau, J.-M.: Human RCS Measurements and Dummy
Requirements for the Assessment of Radar Based Active
16 Pedestrian Safety Systems International Radar Symposium
IRS. (2013)
25 Menzel, W.; Pilz, D.: Mikrowellen-Reflektorantenne, Patent
17 WO 99/43049, 1999
26 Freundt, D., Lucas, B.: Long Range Radar sensor for high-
volume driver assistance systems market SAE paper, Bd.
18 2008-01-0921. SAE International, Warrendale, PA (2008)
27 Weber, R., Kost, N.: 24-GHz-Radarsensoren für Fahrerassis-
tenzsysteme. ATZ Elektronik (2), 2–0 (2006)
19
20
317 18

LIDAR-Sensorik
Heinrich Gotzig, Georg Geduld

18.1 Funktion, Prinzip – 318


18.2 Applikation im Fahrzeug  –  328
18.3 Zusatzfunktionen – 329
18.4 Aktuelle Serienbeispiele: – 330
18.5 Ausblick – 333
Literatur – 334

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
318 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

18.1 Funktion, Prinzip Bei der „Time of Flight“-Messung werden ein


1 oder mehrere Lichtpulse ausgesendet und an ei-
18.1.1 Begrifflichkeit nem evtl. vorhandenen Objekt reflektiert. Die Zeit
2 bis zum Empfang des reflektierten Signals ist dann
LIDAR: Light Detection And Ranging ist ein op- proportional der Entfernung: Bei einer Geschwin-
tisches Messverfahren zur Ortung und Messung digkeit des Lichts von ca. 300.000 Kilometern pro
3 der Entfernung von Objekten im Raum. Prinzipiell Sekunde (in Luft) beträgt die zu messende Laufzeit
ähnelt dieses System dem Radarverfahren, wobei bei einem Abstand von 50 Metern (entspricht bei
4 allerdings anstelle von Mikrowellen beim LIDAR 100 Kilometern pro Stunde = Tacho-Halbe) etwas
Ultraviolett-, Infrarot- oder Strahlen aus dem Be- über 3 × 10−7 Sekunden oder 333 Nanosekunden.
5 reich des sichtbaren Lichts (daher LIDAR) verwen- (vgl. . Abb. 18.2)
det werden. (vgl. . Abb. 18.1)
c0  t
6 d D
2
18.1.2 Messverfahren Distanzsensor
7 d = Abstand in m
Es gibt verschiedene Messverfahren beim Einsatz c0 = Lichtgeschwindigkeit (300.000 m/s)
von Infrarotsensoriken. Die im Fahrzeug meist be- t = Zeit in s
8 nutzte Methode ist die „Time of Flight“-Messung.
Die Zeitdauer von der Aussendung des Licht(La- Die zu erwartende Pulsantwort eines festen und ein-
9 ser)-Impulses bis zum Empfang der rückgestreuten zelnen Objekts (z. B. Fahrzeug) hat die Form einer
Strahlen ist dabei proportional der radialen Ent- Gaußkurve.
10 fernung zwischen Messsystem und detektiertem Da der ausgesandte Lichtimpuls die Entfernung
Objekt. zwischen Sender und Empfänger zweimal durchlau-

11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
.. Abb. 18.1 Frequenzspektrum
18.1 • Funktion, Prinzip
319 18

.. Abb. 18.2 Laufzeitmessung

fen muss, repräsentiert die Zeit t die doppelte Entfer-


nung zum Objekt. (vgl. . Abb. 18.2 und . Abb. 18.3)
Befinden sich mehrere Objekte in einem Mess- Laser Puls
kanal, so können bei entsprechendem Auswertever- Erzeugung
(Tx)
fahren und genügend großem Abstand zwischen
den Objekten auch mehrere Objekte erfasst werden
– man spricht dann von Mehrzielfähigkeit des Sys-
tems. (vgl. . Abb. 18.4)
Empfänger
Besteht eine erhöhte Dämpfung der Atmosphäre (Rx)
– zum Beispiel durch Nebel bedingt – so werden
einzelne Pulse an den Wassertröpfchen in der Luft
reflektiert. (vgl. . Abb. 18.5) Je nach optischer Aus- t
τ
legung des Systems kann dies zu Sättigungsverhal-
t0 t1
ten im Empfänger führen, so dass ein Messen dann
nicht mehr möglich ist. .. Abb. 18.3  Pulsantwort eines Objekts
Heutige Sensoren jedoch haben eine dynami-
sche Anpassung der Empfindlichkeit und zusam-
men mit der Mehrzielfähigkeit im Messkanal kön-
nen dann „weiche“ atmosphärische Störungen mit
dahinter liegenden Objektantworten vermessen
werden. Dabei hilft die Tatsache, dass bei einem
weichen Objekt wie Nebel die Entfernungsechos
aus verschiedenen „Tiefen“ des Nebels empfangen
werden. Die Verschmelzung der einzelnen Puls-
antworten über eine längere Messdistanz (Zeit-
fenster) führt zu einem flachen, ausgedehnten
Empfangsecho (vgl. . Abb. 18.6). Somit wird ne-
ben der Laufzeitmessung der zeitliche Verlauf der
empfangenen Pulsantwort (im einfachsten Fall eine
einzelne Gaußkurve) zur Auswertung verwendet, .. Abb. 18.4  Pulsantwort zweier Objekte
auch lassen sich genauere Informationen über die
Art des detektierten Objekts extrahieren. der „Signallänge“ x bzw. der Analyse der zeitlichen
So lässt sich zum Beispiel das Signal von Nebel Abnahme von Φr(t) (vgl. . Abb. 18.6) lässt sich die
oder Gischt von dem eines Fahrzeugs unterschei- herrschende Sichtweite abschätzen.
den (siehe . Abb. 18.7). Die Form dieses Signals Die Reichweitenperformance wird maßgeblich
gibt hier eine Auskunft über den Absorptionsgrad von der Intensität des ausgesendeten Lichtpulses
der atmosphärischen Störung, aus der Messung und der Empfindlichkeit des Empfängers beein-
320 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

.. Abb. 18.5 „Weiches“
1 Objekt (Nebel)

2
3
4
Qv: vertikale Strahldivergenz (rad)
5 Qh: horizontale Strahldivergenz (rad)
At: Empfangslinsenfläche (m²)
Pt: Laser Leistung (W).
6
7 18.1.3 Weitere Funktionalität

Grundsätzlich können LIDAR-Sensoren neben


8 der reinen Abstandsmessung auch für eine ein-
geschränkte visuelle Erkennung von Objekten
9 .. Abb. 18.6  Signalantwort „weiches“ Objekt (Nebel) verwendet werden. Hier wird dann zusätzlich die
Lichtintensität entsprechend ausgewertet. Die Per-
10 flusst, wobei die Pulsleistung durch die Augensi- formance ist sensorbedingt schlechter als die einer
cherheitsanforderungen beschränkt ist. Weitere Kamera, da Kameras zum einen eine höhere Auf-
Parameter, wie beispielsweise Transmission der At- lösung haben und zum anderen einen weiten Fre-
11 mosphäre, die Größe oder Reflektanz des Objekts quenzbereich detektieren, des Weiteren hängt sie
sind hingegen nicht beeinflussbar. maßgeblich vom Kontrast der zu detektierenden
12 Die empfangene Lichtintensität kann für den Objekte (z. B. Linien auf Straßen) ab.
Fall, dass die Strahlauftrittsfläche kleiner als das
Objekt ist, wie folgt beschrieben werden:
13 18.1.4 Aufbau
KK  A t  H  T 2  P t
Pr D 2 3
14
:
  R  .Qv =4/  .˚=2/2 Prinzipiell sind heutige LIDAR-Abstandsmessgeräte
nach dem gleichen Schema aufgebaut. Unterschiede
15 Im Fall, dass das Ziel (bei größerer Entfernung) gibt es in der Art der Erzeugung von mehreren
kleiner als die Strahlauftrittsfläche ist, gilt folgender Messkanälen (Strahlen) bzw. der Umsetzung einer
Zusammenhang: Strahlablenkung bei „sweependen“ (in Abhängigkeit
16 z. B. der Kurvenkrümmung nachgeführt) und scan-
KK  A t  H  T 2  P t nenden Verfahren.
Pr D
17 2  R4  .Qv  Qh =4/  .˚=2/2
18.1.4.1 Sendezweig
mit: Beim LIDAR wird für die aktive Distanzmessung
18 Pr = Intensität des empfangenen Signals (W) eine Laserquelle, die typischerweise im Bereich
KK: Reflektanz des gemessenen Objekts zwischen 850 nm bis ca. 1 µm emittiert, eingesetzt.
19 Φ: Winkel der Objektreflexion (rad) Um eine möglichst hohe Zieltrennung von mehre-
H: Objektbreite (m) ren Echos zu gewährleisten, sollte der Messimpuls
20 Ar: Zielgröße (m²) so kurz wie möglich gehalten werden. Bei diesen
T: Transmission der Atmosphäre Überlegungen spielt auch die zu gewährleistende
18.1 • Funktion, Prinzip
321 18

.. Abb. 18.7  Unterscheidung Regen – Fahrzeug

.. Abb. 18.8  OSRAM SPL


LL90 – Treiberstufe im
Gehäuse des Halbleiterla-
sers [1]

Augensicherheit eine wesentliche Rolle, da das In- 18.1.4.2 Empfangszweig


tegral des Pulses die emittierte Energie darstellt. Die Die Empfindlichkeit des Empfängers entscheidet
Strahlungsspitzenleistung der verwendeten Hoch- maßgeblich über die erreichbare Performance des
leistungsdioden kann durchaus 75 W [1, 2] und zu definierenden Sensors. Grundsätzlich ist die
mehr erreichen, die Pulslänge liegt typischerweise Empfindlichkeit eines Sensorbauteils über die Emp-
in einem Bereich von ca. 4 bis 30 ns: Bei einer akti- fängerfläche zu erreichen; Limitation hierfür ist die
ven Fläche am Halbleiterlaser von ca. 200 × 10 µm² Apertur bzw. die Güte der Optik. Um die geforder-
entspricht dies einer Flächenleistung am Laser von ten Genauigkeiten im Zentimeterbereich zu erzie-
ca. 35 GW/m². len, wird eine hohe Messgeschwindigkeit gefordert:
Um die hohe Abstrahlleistung störsicher zu be- Bei einem Messbereich von ca. 10 cm bis ca. 150 m
werkstelligen, wird die Treiberstufe des Lasers so beträgt die Lichtlaufzeit zwischen 0,1 ns bis zu
nah wie möglich und somit direkt im Gehäuse des 1,0 µs. Eine weitere Herausforderung ist die „Blen-
Halbleiterlasers verbaut (vgl. . Abb. 18.8). Weitere dung“ durch das Umgebungslicht. Bei Tag verur-
Herausforderungen sind die Temperaturentwick- sacht das von der Sonne verbreitete Lichtspektrum,
lung an den Grenzschichten zum Gehäusekunststoff das ebenfalls einen erheblichen Anteil im Infrarot-
und die Stromzufuhr (Betriebsspannung 12 V) zum bereich beinhaltet, einige Größenordnungen mehr
Bauteil. an Lichtleistung als ein Abstandssensor. Durch ge-
eignete Filtermaßnahmen wird der Gleichlichtanteil
(verursacht durch die Sonneneinstrahlung) unter-
322 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

ting“ Verfahren angewandt. Hierbei wird, über einen


1 zeitlich gesteuerten Multiplexer, das empfangene
Signal digitalisiert und in einzelne „Speicherzellen“
2 (Range Gates) abgelegt (vgl. . Abb. 18.9). Jede Spei-
cherzelle entspricht einem „Range Gate“ bzw. einem
„Entfernungsschritt“ von zum Beispiel 1,5 m. Durch
3 die Addition von mehreren Sendepulsen ergibt sich
eine Gaußsche Verteilung der Range Gates um den
4 tatsächlichen Messpunkt.
Um die Genauigkeit der Zeitmessung zu erhö-
5 hen, wird in der Prozessoreinheit des Sensors der zu
erwartende Empfangspuls rekonstruiert und dessen
Scheitelpunkt ermittelt: So kann aus einer doch re-
6 .. Abb. 18.9  Digitalisieren mittels Parallel-Gating
lativ groben Zeit- (Entfernungs-) und Amplituden-
drückt. Diese Maßnahmen werden vornehmlich auflösung eine Entfernungsauflösung im Zentime-
7 hardwareseitig ausgeführt. terbereich erreicht werden. Eine weitere Erhöhung
Als Empfangsdioden werden PIN-Dioden (po- der Genauigkeit ist durch die zeitliche Analyse der
sitive intrinsic negative diode) oder Avalanchedi- errechneten Entfernungen möglich.
8 oden (avalanche photodiode, auch APD genannt) Über die Anzahl der Sendepulse pro Messung
eingesetzt [3]. kann die Empfindlichkeit des Sensorsystems gestei-
9 Avalanchedioden werden als Photodio- gert bzw. gesteuert werden. Mit dem beschriebenen
den-Halbleiterdetektoren zum Zählen einzelner Verfahren kann eine Messdynamik von über 50 dB
10 Photonen eingesetzt, wozu sie beispielsweise mit bzgl. des optoelektronischen Stroms erreicht wer-
einem großen Vorwiderstand in Sperrrichtung be- den. Dies ist notwendig, um auch schlecht reflek-
trieben werden. Durch die hohe Feldstärke reicht tierende Objekte in der angestrebten Entfernung zu
11 ein einzelnes Photon, um ein Elektron freizusetzen, detektieren.
das beschleunigt vom Feld in der Sperrschicht ei- . Abbildung 18.10 zeigt den prinzipiellen Auf-
12 nen Lawineneffekt auslöst (sog. Durchbruch). Der bau heutiger Abstandssensoren. In Abhängigkeit
Widerstand verhindert, dass die Diode durchbro- von den geforderten Stückzahlen werden einzelne
chen bleibt (passives Quenching) – die Diode geht Teilelemente als ASIC verbaut.
13 dadurch wieder in den gesperrten Zustand über. Neben dem Hardware-Aufbau eines Abstands-
Dieser Vorgang wiederholt sich periodisch und sind sensors werden einzelne Funktionen in Software ab-
14 Messfrequenzen bis zu 100 MHz sind möglich. gebildet. Wie zuvor erwähnt erfolgt ein großer Teil
Die PIN-Diode wird in der Optoelektronik der Signalauswertung, wie z. B. die Abstands- und
15 hauptsächlich für die optische Nachrichtentech- die Relativgeschwindigkeitsermittlung per Software.
nik für Lichtwellenleiter als Fotodioden verwen- Ebenfalls im Block „Signalauswertung“ werden In-
det. PIN-Dioden sind hierbei aufgrund der dicken formationen über die Sichtweite und Systemgrenzen
16 i-Schicht (schwach dotiert, leitend – intrinsische erzeugt (vgl. . Abb. 18.11).
Leitfähigkeit) temperaturstabiler und kostengüns- Die Laseransteuerung sorgt für das Timing von
17 tiger, aber weniger empfindlich, da in dieser mehr Mess- und Empfangskanal.
Ladungsträger gespeichert werden können. Spit-
zenwerte für die Empfindlichkeit liegen zwischen
18 −40 dBm und −55 dBm bei 850 nm Wellenlänge.
Zur Verbesserung der Performance wird die
19 APD häufig als ASIC umgesetzt.
Um die örtliche Auflösung von wenigen Zenti-
20 metern zu erreichen, wird nach der Verstärkung des
Signals unter anderem das sogenannte „Parallel-Ga-
18.1 • Funktion, Prinzip
323 18

.. Abb. 18.10  Prinzipieller Aufbau eines LIDAR-Abstandssensors

18.1.5 Transmissions-
und Reflexionseigenschaften

Wie bei allen aktiven und passiven Messverfahren


spielt die Transmission bzw. die Dämpfung der At-
mosphäre eine wichtige Rolle bei der Systemaus-
legung und der dadurch erzielbaren Leistung der
Sensoren. Während bei passiven Verfahren – wie
beispielsweise Kameras – die Strecke vom Objekt
zum Sensor nur einmal zurückgelegt werden muss,
ist bei aktiven Verfahren die Strecke Sensor – Objekt
zweimal zurückzulegen.
Die Transmissionseigenschaften der Atmo-
.. Abb. 18.11  Prinzipielle Softwarefunktionen
sphäre werden durch deren Bestandteile und deren
Aggregatszustände maßgeblich beeinflusst (vgl.
. Abb. 18.1).
. Abbildung 18.12 stellt eine Vereinfachung der
Messstrecke in der Atmosphäre (l) dar. Es ist dabei
zu beachten, dass diese Strecke der einfachen Ent-
fernung vom Abstandsensor zum Objekt entspricht.
324 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

der Reflexion an einem Objekt wieder zu empfan-


1 0 gen (detektieren).
r Dabei ist zu beachten, dass gewöhnlich das Ob-
2 jekt (Fahrzeug) ähnlich einem Lambert-Reflektor
seine Energie diffus in den halben Raumwinkel
(180°) abstrahlt. (vgl. . Abb. 18.13)
3 Beim Lambert-Reflektor ist die Rückstreuung
l der Energie nicht gerichtet, sondern wird im Raum-
4 winkel (innerhalb einer „Kugel“) inhomogen ver-
teilt. Genutzt werden kann nur der Teil der zurück-
5 t gestreuten Energie, der direkt in den Empfänger des
Sensors zurückgestrahlt wird. Dies sind in der Pra-
.. Abb. 18.12  Absorption, Reflexion, Transmission
xis bestenfalls 20 % (in der Regel deutlich weniger)
6 der am Objekt reflektierten Energie.
Das Licht muss nach der Reflexion am Objekt (vgl. Da, wie erwähnt, die mittlere Sendeleistung be-
7 . Abb. 18.13) die Strecke erneut in umgekehrter schränkt ist, kann man als Abhilfemaßnahme den
Richtung zurücklegen. Strahl stärker bündeln, um die Energiedichte zu er-
Der Sender strahlt dabei die Lichtleistung Φ0 ab. höhen, oder einen höher verstärkenden Empfänger
8 Durch die Atmosphäre (enthaltende Wassertröpf- einsetzen. Die Bündelung hat den Nachteil, dass bei
chen, Staubpartikel etc.) werden Teile des Lichts zu kleinen Raumwinkeln der Strahl auf eine homo-
9 diffus reflektiert (Φr); des Weiteren wird ein Teil gene Fläche am Fahrzeug treffen kann (z. B. nur die
absorbiert (Φa; in Wärme umgewandelt), bis dann Stoßstange) und infolgedessen durch Totalreflexion
10 am Ende der Strecke nur noch die Lichtleistung Φt der gesamte Strahl wegreflektiert werden kann.
zur Verfügung steht. Totalreflexion (vgl. . Abb. 18.14) tritt dann auf,
wenn schmale Strahlen (siehe auch „Lambert-Re-
11 ˚0 D ˚r C ˚a C ˚ t flektor“ – . Abb. 18.13) eingesetzt werden, die auf
eine schräge Fläche treffen. Abhilfe kann durch auf-
12 Reflexionsgrad %r D ˚r =˚0 geweitete Strahlen oder mehrere Strahlen geschaf-
fen werden. Optimal dabei ist, im Erfassungsbereich
Absorptionsgrad %a D ˚a =˚0 Kanten oder senkrecht zum Sender gerichtete Teile
13 zu beleuchten.
Transmissionsgrad  D ˚ t =˚0 Diese Maßnahmen sind teilweise kontrapro-
14 duktiv (vgl. Energiedichte-Problematik). Das Pro-
Mit blem „mehrere Empfangsstrahlen“ wird durch die
15 Φ0 – Ausgesandte Lichtleistung Verwendung von scannenden Systemen mit vie-
Φr – Reflektierte Lichtleistung len Sende-/ Empfangskanälen (mehrere hundert)
Φa – Absorbierte Lichtleistung teilweise kompensiert, führt aber auch zu höheren
16 Φt – Empfangene Lichtleistung Kosten.
l – Wegstrecke durch die Atmosphäre
17
Der Anteil der durchgelassenen Strahlung wird als 18.1.6 Geschwindigkeits­bewegungs­
Transmissionsgrad (τ; vgl. Gl. 18.7) bezeichnet. Die ermittlung
18 Abschwächung setzt sich im Allgemeinen zusam-
men aus Absorption, Streuung, Beugung und Re- Für Fahrerassistenzsysteme werden Informatio-
19 flexion und ist wellenlängenabhängig. (vgl. Gl. 18.4) nen über die Ego-Geschwindigkeit, die Relativge-
Eine große Herausforderung bei der Lasermes- schwindigkeit zu Objekten sowie die Bewegung
20 stechnik besteht darin, die wegen der Anforderung von Objekten im relevanten Umfeld benötigt. Die
an die Augensicherheit stark limitierte Energie nach Bestimmung der Ego-Geschwindigkeit (Wert und
18.1 • Funktion, Prinzip
325 18

.. Abb. 18.14 Totalreflexion

Um eine bessere Vorhersage treffen zu können,


.. Abb. 18.13 Lambert-Reflektor
wie sich die Umfeldsituation in der Zukunft ent-
Richtung) erfolgt in der Regel durch Auswertung wickelt, muss die Veränderung der Bewegung der
von Lenkwinkelsensor und Raddrehsensor. Prin- relevanten Objekte bekannt sein. Leitet man daher
zipiell ist auch beim LIDAR der Dopplereffekt zur die Geschwindigkeit ein weiteres Mal ab, so kann
Ermittlung der Relativgeschwindigkeit zu den de- die Relativbeschleunigung ermittelt werden: (vgl.
tektierten Objekten nutzbar. Jedoch verhindern die Gl. 18.10)
erhöhten Anforderungen und die dadurch verbun-
denen Kosten beim Messen der Dopplerfrequenz im d 2 RN
aErel D :
Lichtspektrum die Umsetzung. dt 2
Aus diesem Grund bedient man sich der Diffe-
rentiation von zwei, idealerweise jedoch mehreren aErel: Relativbeschleunigung in m/s2
aufeinanderfolgenden Abstandsmessungen: (vgl.
Gl. 18.8 und 18.9) Bedingt durch einen eventuellen Abstandsfehler
wird der Fehler beim Beschleunigungssignal durch
dRE RE die erneute Differentiation verstärkt. Für eine evtl.
vErel D D lim
dt t !0 t Regelaufgabe muss das Signal entsprechend gefiltert
werden.
Voraussetzung ist, dass die Abstandsinformation
eindeutig, d. h. immer vom gleichen Objekt/Ob-
jektpunkt stammt. Je nach Lidartyp ist R entweder 18.1.7 Tracking-Verfahren
ein rein radialer Abstandswert oder er beinhaltet und Auswahl relevanter Ziele
zusätzlich noch Richtungsinformationen. Die ho-
rizontale Winkelauflösung für scannende Systeme Der Begriff Tracking (dt. Nachführung) umfasst alle
liegt typischerweise im Bereich ≤ 0,5°. Unter Ver- Bearbeitungsschritte, die der Verfolgung von Ob-
nachlässigung von vertikalen Informationen ergibt jekten dienen. Ziel dieser Verfolgung ist zum einen
sich dann die Extraktion von Informationen über den Verlauf
der Bewegung und die Lage eines Objekts und zum
RE2  RE1 anderen die Verminderung von negativen Einflüs-
vErel D
t2  t1 sen, herrührend von zumeist zufälligen Messfehlern
(Messrauschen). Die Genauigkeit der bestimmten
vErel: Relativgeschwindigkeit in m/s Lage- und Bewegungsinformation hängt neben dem
RE: Abstand in m verwendeten Tracking-Algorithmus auch von der
t: Zeit in s Genauigkeit der Messungen bzw. dem Messfehler
und der Abtastrate der zyklischen Messungen ab.
Möglich wird dieses Verfahren nur, wenn eine sehr Generell kann die Zielauswahl auf zwei ver-
exakte Abstandsmessung zugrunde liegt. Genauig- schiedene Arten durchgeführt werden: Entweder
keitssteigerungen lassen sich durch geeignete Filter erfasst man den gesamten Bereich und wählt dann
wie beispielsweise Zustandsbeobachter oder Kal- mittels Fahrstreifenzuordnung und/oder weiterer
man-Filter erreichen. Selektionsmerkmale ein relevantes Ziel aus (siehe
326 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

1
2
3
4
5
6
7
8
.. Abb. 18.15  Vergleich von unterschiedlichen Tracking-Verfahren, a z. B. Multibeam starr (Anzahl bzw. Wert des Öffnungswinkels
9 kann variieren), b z. B. Multibeam SWEEP (Gesamtöffnungswinkel, Anzahl bzw. Wert des Einzelöffnungswinkels können variieren)

10 ▶ Kap. 46) oder man beschränkt sich beim Erfas- .. Tab. 18.1 „Tracking”-Verfahren


sen von Objekten von Beginn an auf den relevanten
Bereich der zu erwartenden Fahrtrajektorie. Beide Variante 1 Variante 2
11 Verfahren haben Vor- und Nachteile, wie die Gegen- Abbildung . Abb. 18.15 (a) . Abb. 18.15 (b)
überstellung im Folgenden zeigt (vgl. . Abb. 18.15
12 sowie . Tab. 18.1).
Beschrei-
bung
Erfassung von
Objekten im
Erfassung von
Objekten im
Die Leistungsfähigkeit eines ACC-Sensors wird gesamten Erfas- gesamten Erfas-
neben der Messempfindlichkeit vor allem durch
13 die Güte der Ermittlung des relevanten Objekts
sungsbereich sungsbereich

Diskriminierung Informationen
bestimmt. Dies setzt eine leistungsfähige Fahrtra- der Ziele anhand über Abstand
14 jektorienbestimmung voraus (siehe ▶ Kap. 46). Das des ermittelten und Richtung
Tracking lässt sich grundsätzlich in folgende Verar- Fahrschlauches der Messung nur

15 beitungsschritte unterteilen: im relevanten


Bereich

18.1.7.1 Prädiktion (Extrapolation/ Vorteil Erfassung aller geringe Rechen-


16 Schätzung) Objekte leistung

In diesem Verarbeitungsschritt erfolgt die (rech- Nachteil Rechen- und Erfassung abhän-
17 nerische) Vorhersage der Lage- und Bewegungs- Speicheraufwand
auch für nicht
gig von der Güte
der Blickwinke-
informationen zum einen anhand der bekannten
relevante Objekte lermittlung
Vergangenheit in Abhängigkeit physikalischer
18 Eigenschaften des relevanten Objekts (Dynamik)
und zum anderen auch durch Annahmen, wie sich bahnbegrenzungen etc.). Für die Prädiktion ist
19 die Objekte in Zukunft verhalten werden. Grund- wichtig, dass die Lage- und Bewegungsinformati-
sätzlich interessieren hier sowohl andere aktive onen je nach Umgebung (Autobahn, urbanes Um-
20 Verkehrsteilnehmer (Fahrzeuge, Personen etc.) als feld etc.) und Ego-Geschwindigkeit hinreichend
auch statische Objekte (stehende Fahrzeuge, Fahr- genau sind, um eine entsprechende Applikation
18.1 • Funktion, Prinzip
327 18
.. Abb. 18.16 Kalman-Fil-
ter-Prinzip lnitialisierung des
Zustandsvektors
und der
Kofaktormatrix

Aufdatierung der Aufdatierung der


geschätzten Größen geschätzten Größen
mit Beobachtung ohne Beobachtung

bestanden

Prädiktion Signifikanztest
nicht bestanden

(z. B. Ausweichassistent) sicher durchführen zu heitssystem/Notbremsen oder Komfortsystem/


können. ACC) werden dann die Filter angepasst.
Die Qualität der Modelle bzw. der Grad der An-
18.1.7.2 Assoziation (Verknüpfung näherung an die Realität bestimmt entscheidend
von Objekten) das Ergebnis des Trackings. Üblicherweise wird bei
Insbesondere wenn sich mehrere Objekte im beob- LIDAR-Abstandssensoren ein Kalman-Filter einge-
achteten Raum befinden (Multi-Target-Tracking) setzt.
und diese sich nicht eindeutig über verschiedene
Messzyklen differenzieren lassen, übernimmt diese 18.1.7.4 Das Kalman-Filter –
Komponente die Zuordnung eines in früheren Funktionsprinzip
Messzyklen beobachteten Objekts zu einem aktu- Das Kalman-Filter [4, 5] wird dafür verwendet, Zu-
ell gemessenen Objekt. Fehler in diesem Bearbei- stände oder Parameter des Systems aufgrund von
tungsschritt können sich besonders schwer auf die teils redundanten Abstands- und Relativgeschwin-
Ergebnisse auswirken (vrel, arel etc.). Deutliche Ver- digkeitsmessungen, die von Rauschen überlagert
besserungen bieten scannende Systeme, welche über sind, zu schätzen.
eine Winkelauflösung im Bereich von 0,1° verfügen. Das Filter besitzt eine sog. „Prädiktor-Korrek-
tor-Struktur“, d. h. zunächst wird auf Basis der Syste-
18.1.7.3 Innovation (Verknüpfung meingangsdaten die wahrscheinlichste neue Position
von Realmessung und Geschwindigkeit prädiziert und diese dann mit
und Prädiktion) den tatsächlichen Messdaten verglichen. Die Diffe-
Die Bestimmung der aktuellen Lage und anderer renz der beiden Werte wird gewichtet und dient der
bewegungsrelevanter Informationen erfolgt einer- Korrektur des aktuellen Zustands.
seits durch die Prädiktion und andererseits durch Vereinfacht lässt sich das Abstandsmesssystem
aktuelle Messungen. Der Innovationsschritt führt linear beschreiben (s. . Abb. 18.16) und basiert auf
beide Ergebnisse gewichtet zusammen. Die Gewich- einem Zustandsraummodell mit Zustandsgleichung
tung kann sowohl dynamisch als auch statisch er- [6]:
folgen: Eine Verschiebung der Anteile hin zur Prä- x.k/ D Ax.k  1/ C Bu.k/ C Gv.k  1/
diktion glättet die Ergebnisse stärker, eine größere
Gewichtung der Messung führt zu Ergebnissen, die Prädiktion Beobachtungsgleichung [7]:
sich schneller auf Veränderungen der Messwerte
einstellen. Je nach Funktion bzw. Situation (Sicher- z.k/ D H x.k/ C w.k/
328 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

Bei konstanter Geschwindigkeit (arel = 0) kann die 18.2 Applikation im Fahrzeug


1 Längsbewegung mit folgendem Zustandsvektor:
18.2.1 Laserschutz
2 3
2 6 7
d
xD6 7 Grundsätzlich werden im Fahrzeug nur LIDAR-Sen-
4vrel 5 soren, zertifiziert nach Laserschutzklasse 1, verbaut.
3 arel Maßgeblich für die Ermittlung der Laserschutzklas-
sen ist die ICE 60 825-1, Amendment 2:2001.
4 und der Systemmatrix Die Erläuterung von Details dieses Standards
2 3 führen in dieser Abhandlung zu weit. Wesentliche
5 6
1 Tk 0
7
Grundlage ist die emittierte Energie des Sensors
6
A D 40 1 07 und somit die Energiebilanz auf der Netzhaut des
5 menschlichen Auges. Da das verwendete Frequenz-
6 0 0 0 spektrum nahe dem für den Menschen sichtbaren
Bereich liegt, wirkt das Auge mit seiner Linse wie
7 beschrieben werden. ein fokussierendes Brennglas. Der Laser ist jedoch
Werden mehrere Objekte gleichzeitig verfolgt, für den Menschen nicht sichtbar, so dass die natür-
müssen die Objekte eines Messschritts der richti- lichen Schutzmechanismen des Auges (z. B. Schlie-
8 gen Objektbahn zugeordnet werden. Hierzu wird ßen der Pupillen) nicht funktionieren. Die vom La-
das Kalman-Filter um einen Assoziationsschritt er- ser des LIDAR ins Auge eingebrachte Energie führt
9 weitert. Eine anschauliche Lösung ist die Methode zur Erwärmung der Netzhaut und im schlimmsten
der nächsten Nachbarn. Unter Berücksichtigung der Fall zur Verbrennung der Sehzellen (thermischer
10 unsicherheitsbehafteten Messung und Abweichun- Netzhautschaden).
gen von der Annahme konstanter Geschwindigkeit Die Berechnung der maximal zulässigen Abs-
ergibt sich ein Suchbereich des Objekts in der neuen trahlenergie berücksichtigt die Fähigkeit, die Energie
11 Messung. Durch Schätzung des neuen Messwerts im Gewebe weiterzuleiten (Wärmeableitung). Somit
mit dem Kalman-Filter lässt sich das Messfenster gibt es Kriterien, welche die durchschnittliche Er-
12 präzisieren: Einem Track zugeordnet wird jeweils wärmung ebenso wie die kurzfristige, durch einzelne
das Objekt mit der geringsten Differenz zwischen Pulse verursachte Erwärmung, berücksichtigen.
Prädiktion und Messung. Die Messdaten werden Folgende technische Randbedingungen sind

-
13 anschließend für den Innovationsschritt des Kal- Kriterien, welche die Augensicherheit beeinflussen:
man-Filters verwendet. Wellenlänge (typisch für den automobilen

-
14 Messwerte außerhalb des Messbereichs werden Einsatz sind 850 nm bis ca. 1 µm),
direkt verworfen, ebenfalls werden nur einmal ge- Ausgangspulsspitzenleistung (typisch zwischen
15 fundene Objekte als Fehlmessung vom Tracking
ausgenommen. Kann dem erstmals detektierten
- 10 W und 75 W),
Ausgangsdurchschnittsleistung (typisch zwi-

16
17
Objekt hingegen im nächsten Messschritt ein Mess-
wert zugeordnet werden, wird ein neuer Pfad initia-
lisiert. Wird einem bestehenden Track kein Objekt
zugeordnet, erfolgt die Prädizierung über weitere
-- schen 2 mW und 5 mW),
Dutycycle (Puls/Pausen Verhältnis),
refokussierbare Austrittsfläche (typisch bei
Verwendung von Lichtleitern sind Bruchteile
Messschritte. Der Track wird beendet, falls sich zu- von mm2, beim Laser selbst sind dies nur
künftig keine weiteren Messungen mehr zuweisen einige µm2).
18 lassen; mehrere eng benachbarte Objekte mit ähn-
licher Relativgeschwindigkeit können zusammen- Details hängen stark von der jeweiligen Auslegung
19 gefasst werden (Clustering). Eine Fehlinterpretation des Sensors ab. Insbesondere sind die Dutycycles,
lässt sich allerdings erst rückwirkend ausschließen, Ausgangspulsleistungen und die refokussierbaren
20 weshalb die zwei Messwerte zunächst getrennt ge- Austrittsflächen bei den einzelnen etablierten Pro-
halten werden. dukten stark unterschiedlich.
18.3 • Zusatzfunktionen
329 18
18.2.2 Integration für nach vorne und Nacht, nachdem die Sonne um mehrere Grö-
gerichtete Sensoren (zum ßenordnungen höhere Infrarotstrahlung aussendet
Beispiel für ACC) als die vom LIDAR aktiv emittierte.
Dieses Signal, geeignet aufbereitet, ist als Zu-
Generell stellt die Integration ins Fahrzeug bezüglich satznutzen zur Steuerung von Fahrlicht einsetzbar
der Position keine nennenswerten Schwierigkeiten (vgl. Tag/Nacht- bzw. tunnelabhängiges Steuern des
dar: Grundsätzlich kann ein LIDAR überall in der Fahrlichtes).
Front platziert werden. Bevorzugt sind jedoch Po-
sitionen in der Horizontalen zwischen den Schein-
werfern und in der Vertikalen zwischen der oberen 18.3.3 Verschmutzungserkennung
Dachkante bis zur Stoßstange (vgl. . Abb. 18.17).
Dabei spielt es keine Rolle, ob der Sensor im Zu den Grundfunktionen der Selbstdiagnose eines
Außenbereich oder hinter der Windschutzscheibe Abstandssensors gehört die Erkennung des Ver-
platziert ist. Bedingt durch die Erkennung von Ver- schmutzungsgrades des Sensors an dessen Sender
schmutzung können ggf. der Fahrer informiert oder und Empfänger. Zwar führt dieses Signal in den
aber direkt Reinigungsmaßnahmen eingeleitet wer- meisten aller Fälle nicht zu einer Aufforderung den
den. Im Gegensatz zu einer Kamera wird jedoch „nur“ Sensor zu reinigen, das Signal kann jedoch einfach
Energie übertragen und kein Wert auf ein „klares“ zu einer automatischen Triggerung der Reinigung
Bild gelegt, was die Anforderungen an eine saubere der Scheinwerfer oder der Windschutzscheibe ge-
Sensoroberfläche erheblich verringert. Je nach Ein- nutzt werden.
bauort bzw. der Integration unter aerodynamischen
Gesichtspunkten kann eine geringe Beeinträchtigung
der Sensorperformance durch sehr dunkle Verunrei- 18.3.4 Geschwindigkeitsermittlung
nigungen (z. B. Insekten) auf dem Sensor erfolgen.
Heutige LIDAR-Sensoren haben ein ausgeklügeltes
Tracking und verfolgen bis zu 20 und mehr Objekte
18.3 Zusatzfunktionen auf und neben der Fahrbahn. Die Vermessung von
Abstand und Relativgeschwindigkeit von Objekten
Mit dem LIDAR ist es möglich, weitere Sensorfunk- neben der Fahrbahn wie bspw. Begrenzungspfosten
tionen zu realisieren. lassen die Ermittlung der Eigengeschwindigkeit des
Fahrzeuges mittels Abstandssensors zu.

18.3.1 Sichtweitenmessung
18.3.5 Fahrerverhalten/-zustand
So ist die zuvor erwähnte „Weichziel“-Erkennung
relativ einfach dafür zu verwenden, in Abhängig- Wird das LIDAR im aktuellen Fahrzustand nicht
keit der Absorption eine der Sichtweite analoge Ge- als aktives Regelsystem genutzt, kann über das
schwindigkeitsempfehlung zu berechnen. Bedingt Abstandsverhalten in Kombination mit dem Lenk-
durch die Wellenlänge, die nahe der des für den verhalten auf den Fahrerzustand rückgeschlossen
Menschen sichtbaren Lichts liegt, ist die gemessene werden und dieser dem Fahrer geeignet mitgeteilt
Reflexion und Absorption in der Atmosphäre der werden (Müdigkeit, Unaufmerksamkeit etc.).
menschlichen Sichtbehinderung vergleichbar.

18.3.6 Objektausdehnung/-
18.3.2 Tag/Nacht-Erkennung erkennung

Die im Empfänger messbare Hintergrundbeleuch- Werden Daten eines scannenden LIDAR mit sehr
tung unterscheidet sich signifikant zwischen Tag hoher Winkelauflösung aufgenommen, kann durch
330 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15 .. Abb. 18.17  Beispiele verschiedener Strahlsensorik: a Multibeam starr, b Multibeam SWEEP, c Multibeam verteilt, d Single­
beam SCAN

16 eine weitere mathematische Analyse der ermittelten rung, bspw. der optischen Eigenschaften, ist jedoch
Entfernungspunkte teilweise eine räumliche Aus- grundsätzlich verschieden (s. . Abb. 18.18 und
17 dehnung von realen Objekten erfolgen sowie eine . Abb. 18.19 bzw. . Tab. 18.2 und . Tab. 18.3).
Erkennung der Art des Objekts. Hella setzt auf ein Mehrstrahlprinzip, was durch
mehrere unabhängige Sende- und Empfangskanäle
18 dargestellt wird. Dabei wird ein Array von Laserdi-
18.4 Aktuelle Serienbeispiele: oden im Mulitplexverfahren angesteuert, über die
19 Empfangsoptik werden die Informationen über ein
Die zuvor gezeigten Sensoren erfüllen allesamt PIN-Dioden-Array erfasst. Die Winkelauflösung
20 die geforderten Ansprüche für moderne ACC, entspricht dabei mehr oder weniger der Strahlbreite
FSRA oder sogar Pre-Crash-Systeme. Die Realisie- der einzelnen Sende-/ Empfangskanäle. Bis zu 16
18.4 • Aktuelle Serienbeispiele:
331 18

.. Tab. 18.2 Serienbeispiele I

AIS200 – Continental gen2 – OMRON gen3 – OMRON

Wellenlänge 905 nm 905 nm 905 nm

Augensicherheit Klasse 1 (IEC825) Klasse 1 (IEC825) Klasse 1 (IEC825)

Abgestrahlte Leistung 40 W (Peak) 3,5 mW 12 W (Peak) 5 mW 12 W (Peak) 5 mW
(Average) (Average) (Average)

Erfassungsbereich ±15° (Azimuth/hor.) ±11° (Azimuth/hor.) ±15° (Azimuth/hor.)

6,5° (Elevation/vert.) 3° (Elevation/vert.) 10° (Elevation/vert.)

SCANN SWEEP 3D SCANN

Auto Alignment vertikal

Anzahl Strahlen 15…30 5 1

Min. Kurvenradius 100 m 300 m 100 m

Entfernungsbereich 1…180 m 1…180 m 1…150 m

Größe L × B × H 88 × 72 × 57 mm3 180 × 89 × 60 mm3 140 × 68 × 60 mm3

Geschwindigkeitsgenauigkeit 1 km/h 1 km/h 1 km/h

Besonderheiten Winkelauflösung 0,01°

.. Tab. 18.3 Serienbeispiele II

SiemensVDO IDIS® – Hella ScaLa – VALEO

Wellenlänge 905 nm 905…920 nm 905 nm

Augensicherheit Klasse 1 (IEC825) Klasse 1 (IEC825) Klasse 1 (IEC825)

Abgestrahlte Leistung 50 W (Peak) 75 W (Peak)


< 7 W (Average)

Erfassungsbereich 30° (15° ± 7,5° sweep) 16° (Azimuth/hor.) 145° (Azimuth/hor.)

5° (Elevation/vert.) 3° (Elevation/vert.) 3,2° (Elevation/vert.)

SWEEP mehrstrahlig

Auto Alignment x

Anzahl Strahlen 16 580

Min. Kurvenradius 100 m

Entfernungsbereich 1…200 m 1…150 (200) m 1…150 m

Größe LxBxH 220 × 110 × 30 mm 3


105 × 105 × 76,5 mm 3
105 × 60 × 100 mm3

Geschwindigkeitsgenauigkeit ± 0,1 km/h 1 km/h 1 km/h

Besonderheiten direkte Windschutzschei- Distanzauflösung


ben-Montage < 0,1 m
(wie Regensensor)
Microscanning: 0,5° mit 2 Hz
332 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

1
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a b c

5 .. Abb. 18.18  a AIS200 – Continental, b gen2 – OMRON, c gen3 – OMRON

6
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9 a b c

.. Abb. 18.19  a SiemensVDO, b IDIS® – Hella, c ScaLa – VALEO


10
zontaler Lage erzeugt werden. Die „Blickrichtung“
11 des Strahlenbündels wird aufgrund des geschätzten
Straßenverlaufs/Kurvenradius lateral nachgeführt.
12 Der Vorteil lässt sich an wenigen Laserdioden und
wenig bewegten Teilen erkennen. Der Nachteil liegt
darin, dass die Detektion von der Güte der Fahrtra-
13 jektorienschätzung abhängig ist.
OMRONs dritte Generation versucht die Nach-
14 teile der zweiten zu eliminieren: Der Erfassungsbe-
reich wird auf 30 × 10 Grad erweitert; das „Sweepen“
15 .. Abb. 18.20  Hella IDIS® – 12-Kanal-Laser wird zum Scannen, wobei immer der gesamte la-
terale Erfassungsbereich detektiert und somit auch
dieser Paarungen werden dabei eingesetzt, um den vermeintlich nicht interessante Bildausschnitte er-
16 entsprechenden lateralen Öffnungswinkel zu gene- fasst werden. Einzigartig ist ebenfalls die Möglich-
rieren (vgl. . Abb. 18.20). [8] keit zwei weitere Ebenen in horizontaler Richtung
17 Ein weiteres in der Praxis eingesetztes Verfahren zu detektieren. Dies ermöglicht den Einsatz des Sen-
ist das „Sweepen“ von „Strahlbündeln“, wie es von sors auch in Mittel- und Kompaktklassefahrzeuge,
OMRON in der zweiten Generation realisiert wurde. die nicht über eine Niveauregulierung verfügen.
18 Dabei werden fünf unabhängige Sende-/Empfangs- Der Mechanismus ist so robust wie einfach; ähnlich
kanäle über eine bewegliche Optik lateral in Abhän- des schwingenden Scherkopfs eines Rasierapparats
19 gigkeit zum Straßenverlauf geschwenkt. Die fünf werden dabei ausschließlich die Optiken der Sende-
Sende-/Empfangskanäle werden mittels Lichtleiter und Empfangskanäle stimuliert. [9]
20 modelliert. Dabei können je nach Kanal unter- Continentals letzte Serienlaserentwicklung, ein-
schiedliche Öffnungswinkel in lateraler und hori- gebracht durch die Übernahme der Fa. Siemens-
18.5 • Ausblick
333 18

VDO, verwendet ebenfalls das bereits erwähnte 18.5 Ausblick


„Sweepen“ (siehe OMRON 2te. Gen) der gesamten
Strahlenkombination (5  Strahlen). Einzigartig ist Generell sind in den letzten Jahren folgende Ent-
jedoch der dem „Sweep“-Bereich überlagerte „Mik- wicklungsrichtungen erkennbar:
roscan“, der eine exakte Bestimmung der Fahrzeug- a) Die Anzahl der Firmen, welche LIDAR-Senso-
kanten möglich macht. Einscherende Fahrzeuge ren für den automotive Bereich weiterentwi-
können so früher „relevant“ für das ACC-System ckeln, hat abgenommen.
berücksichtigt werden – nur einer der Vorteile. b) Wie im Automobilbereich üblich, wird auch
Eine Spiegeloptik ermöglicht die flache Bauweise für LIDAR kleinere, leichtere, günstigere, bes-
des Sensors, der direkt, wie ein Regensensor, an die sere Performance gefordert – vor allem in der
Windschutzscheibe angebracht wird. Es entstehen Oberklasse. Zum anderen werden bedingt durch
keine ungenutzten optischen Freiräume wie z. B. anstehende Regulierungen wie NCAP und Euro
Sichttrichter vor dem Sende- und Empfangsbereich NCAP kostenoptimierte Sensoren entwickelt,
und er kann so platzsparend im Rückspiegelbereich welche auf diese Anforderungen optimiert be-
integriert werden. Dieser Einbauort liegt im Wisch- ziehungsweise reduziert sind.
bereich der Scheibenwischer und wird daher stets c) Waren in der Vergangenheit Fahrerassistenz-
vor Verschmutzung geschützt. Im Gegensatz dazu systeme wie ACC, Pre-crash usw. den Ober-
müssen Laser-Sensoren im Außeneinbau im Winter klassefahrzeugen vorbehalten, ist nun eine
durch die starke Versalzung oder im Regen durch deutliche Tendenz auch bei der Ausrüstung in
die Wassertröpfchen eine erhebliche Dämpfung der Mittel- und Kompaktklasse spürbar – nicht
verkraften. Unterschiedliche Reichweiten, je nach zuletzt begleitet durch ein erhöhtes Medienin-
Witterung, sind die Folge. Das ACC-System funk- teresse in den einschlägigen Fachzeitschriften.
tioniert unter Umständen spürbar unterschiedlich. Diese Tendenz fordert umso mehr kostenopti-
[10] mierte Sensoren zur Realisierung von Komfort-
Aktuell wird ein neues Sensormodul entwickelt, und Sicherheitsfunktionen, wobei vermehrt
das für einen Serienstart in 2015 vorgesehen ist: LIDAR-Sensoren zum Einsatz kommen.
„SRL-CAM400“. Hier wird eine CMOS-Kamera mit d) Für Entwicklungen, die sich mit dem Thema
einem LIDAR in eine kompakte Einheit integriert, „autonomes Fahren“ [13] (vgl. auch ▶ Kap. 61)
welche im Spiegelfuß Platz findet. Der Aufbau ist beschäftigen, das durch die „DARPA Urban
skalierbar vorgesehen, je nach Fahrzeugklasse und Challenge“ bekannt wurde, wird als Hauptsen-
Anforderungen an die Performance. [11] sor ein Laserscanner z. B. Velodyne LIDAR [14]
VALEO hat in 2010 eine Kooperation mit der eingesetzt. Da autonomes Fahren in nahezu
Firma Ibeo geschlossen mit dem Ziel, die Ibeo-La- jeder Roadmap von Fahrzeugherstellern zu
serscanner-Technologie (LUX 2010) so weiterzuent- finden ist, sind auch von diversen Firmen die
wickeln, damit sie den Anforderungen im Automo- entsprechenden Aktivitäten gestartet worden,
bilbereich gerecht wird. LIDAR-Sensoren zu entwickeln, die den au-
Der VALEO LIDAR ScaLa berücksichtigt die tomobilen Anforderungen genügen und eine
Anforderungen hinsichtlich vollautomatisierten ähnliche Performance wie das zuvor genannte
Fahrens, d. h. eine breite Abdeckung mit einem System aufweisen.
horizontalen Öffnungswinkel von 145°, einer Win- e) Sensoren zur Aufnahme von Referenzdaten, den
kelauflösung von 0,25° und einer max. Entfernung sog. „Ground-Truth-Daten“, für die Systemva-
bis zu 150 m. lidierung von sich in Serie befindlichen bzw.
TOYOTA Research hat sich mit der Entwick- Serienentwicklungen der Applikationen im Be-
lung eines neuen LIDAR-Sensorsystem beschäftigt reich „teil-/vollautonomes Fahren“ setzten ver-
und die Performance mittels eines Proof-of-Con- stärkt auch Laserscanner, wie z. B. der Velodyne
cepts-Prototypen dargestellt. Er hat eine Reichweite LIDAR, ein.
von 100 m mit 10 Frames pro Sekunde und einer
Auflösung von 340 × 96 Pixel. [12]
334 Kapitel 18 • LIDAR-Sensorik

Literatur
1
Verwendete Literatur
2 1 OSRAM SPL LL90 – Treiberstufe im Gehäuse des Halbleiter-
lasers – Internet Recherche/Produktinformation Fa. OSRAM

3 2
„APN_Operating_SPL_LLxx_041104.pdf“
Impulslaserdioden – Informationen der Fa. Laser COMPO-
NENTS über Impulslaserdioden http://www.lasercompo-
4 3
nents.com/de/produkt/impulslaserdioden-bei-905-nm/
Information über die Detektion kleinster Lichtmengen mit
Avalanche Photodioden http://www.lasercomponents.
5 com/fileadmin/user_upload/home/Datasheets/lc/veroef-
fentlichung/opt_apd_receiver_module.pdf; http://catalog.
osram-os.com
6 4 Wikipedia – die freie Enzyklopädie – Internetrecherche:
Kalmanfilter, http://de.wikipedia.org
5 Schetler, D.: Kalman Filter zur Rekonstruktion von Mess-
7 signalen (2007). http://users.informatik.haw-hamburg.
de/~ubicomp/projekte/master06-07/schetler/report.pdf
6 Berges, A., Cathala, T., Mametsa, H., Rouas, F., Lamiscarre,
8 B.: Apport de la simulation aux études de radar pour ap-
plications en vision renforcée. Revue de l’électricité et de

9
l’électronique: REE; revue de la Société des Électriciens et
des Électroniciens 4, 35–38 (2002)
7 Luo, R., Kay, M.: Multisensor Integration and Fusion in In-

10 telligent Systems. IEEE Transactions on Systems, Man, and


Cybernetics 19, 901–931 (1998)
8 Höver, N., Lichte, B., Lietaert, S.: Multi‐beam Lidar Sensor

11 for Active Safety Applications. In: SAE Paper 06AE‐138,


Transactions Journal of Passenger Cars. SAE International,
doi:10.4271/2006–01–0347 (2006)
12 9 Arita, S., Goff, D., Miyazaki, H., Ishio, W.: Wide Field of View
(FOV) and High‐Resolution Lidar for Advanced Driver As-
sistance Systems SAE Technical Paper, Bd. 2007‐01‐0406.
13 10
(2007)
Mehr, W.: Continental – Segment Advanced Driver As-
sistance Systems, 2. August 2008
14 11 Continental integriert Kamera‐ und Infrarotfunktionen in
einer kompakten Einheit (Pressemitteilung) http://www.
continental-corporation.com/www/presseportal_com_
15 de/themen/pressemitteilungen/3_automotive_group/
chassis_safety/press_releases/pr_2012_10_17_srl_cam_
de.html
16 12 IEEE Journal of Solid‐State circuits, Vol. 48, No. 2, February
2013

17
13 Verfügbar unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Google_
driverless_car – Internetrecherche über Google Self Dri-
ving car

18 14 Verfügbar unter: http://velodynelidar.com/lidar/lidar.aspx

Weiterführende Literatur

19 15 Tischler, K.: Charakterisierung und Verarbeitung von Ra-


dardaten für die Informationsfusion. In: XVIII. Messtechni-
sches Symposium der Hochschullehrer für Messtechnik e.
20 V. S. 3–12. KIT Scientific Publishing, Freiburg (2004)
335 19

3D Time-of-Flight (ToF)
Bernd Buxbaum, Robert Lange, Thorsten Ringbeck

19.1 Einordnung und Erläuterung des Grundkonzeptes  –  336


19.2 Vorteile und Applikationen  –  336
19.3 Grundsätzliche Lösungen zur 3D-Erfassung  –  337
19.4 Module eines PMD-Systems  –  340
19.5 Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen
des Gesamtsystems – 344
Literatur – 346

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
336 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

19.1 Einordnung und Erläuterung 3D-Wahrnehmung nachempfunden ist. Allerdings


1 des Grundkonzeptes ist der algorithmische Aufwand bei diesem Ansatz
enorm. Der menschliche Beobachter interpretiert
2 Trotz steigender Verkehrsdichte ist die Zahl der Ver- 2D-Bilder scheinbar mühelos dreidimensional,
kehrsunfälle mit Personenschäden in den letzten Jah- tatsächlich aber nur sehr begrenzt gemäß seines a
ren gesunken. Um zukünftige Fahrzeuge sowohl für priori-Wissens. Für die reale 3D-Prüfung stehen
3 die Insassen als auch für andere Verkehrsteilnehmer ihm jedoch – meist unbewusst – die triangulativen
noch sicherer zu machen, wird eine zunehmend drei- Hilfen der Augenwinkelstellung und der Autofokus-
4 dimensionale Umfelderfassung durch das Fahrzeug Adaption zur Verfügung.
notwendig. Eine entsprechende 3D-Sensorik ist in Neuartige 3D-Ansätze, so genannte PMD-Ver-
5 der Lage, gefährliche Situationen vorausschauend zu fahren, werden seit etwa einem Jahrzehnt intensiv
erkennen, den Fahrer bestmöglich zu unterstützen untersucht. Die Abkürzung PMD steht dabei für
und somit Unfälle zu vermeiden. Aber auch im Falle den Begriff Photomischdetektor (engl. Photonic Mi-
6 eines nicht mehr zu vermeidenden Unfalls lässt sich xer Device) und beschreibt die Fähigkeit des neuen
das Verletzungsrisiko für alle Beteiligten minimieren. Empfängers, bereits im Pixel eines Bildsensors zu
7 Bislang wurden die vielfältigen Applikationen je- korrelieren, d. h. einen elektrooptischen Misch- und
weils durch eine applikationsspezifische Sensorein- den anschließenden Integrationsprozess (Mischung
heit abgedeckt. So findet man heute beispielsweise + Integration = Korrelation) durchzuführen. Diese
8 reine Entfernungsmesssysteme (wie Long-Range Eigenschaft erlaubt die pixelweise Korrelation eines
und/oder Short-Range Radar-, Lidar- oder Ultra- modulierten optischen Signals mit einer elektroni-
9 schallsensoren) oder reine opto-elektronische (2D-) schen Referenz und damit eine 3D-Entfernungs-
Kamerasysteme (Hochdynamik-Bildaufnehmer) in messung nach dem Lichtlaufzeitverfahren (engl.
10 verschiedenen Automobilreihen. Zunehmend wird Time-of-Flight, ToF) in jedem Video Frame. Heute
die Fusion der unterschiedlichen Sensordaten über befinden sich bereits verschiedene Produkte der
entsprechend optimierte Algorithmik angestrebt ToF-Technologie für unterschiedliche Märkte in
11 – ein Ansatz, der die Unzulänglichkeiten der ein- Massenproduktion.
zelnen Sensorinformationen zu umgehen versucht. Diese neuen PMD-Abstandssensoren liefern zu-
12 Dieser Lösungsansatz ist verständlich, da es bislang sätzlich zu konventionellen Helligkeitsinformatio-
nicht möglich war, mit nur einem System gleichzei- nen ein Amplitudenbild der aktiven IR-Beleuchtung
tig Bilder aufzunehmen (2D) und Entfernungen zu und die Abstandsinformation zum betrachteten
13 messen (2D + 1D = 3D), da bei der konventionel- Objekt in jedem Pixel. Dabei ist insbesondere die
len 2D-Projektion die Tiefeninformation der realen inhärente Unterdrückung von unkorrelierten Licht-
14 3D-Szene verlorengeht. Was bisher fehlte, war eine signalen (vor allem von Sonnenlicht, aber auch von
universelle Sensorik, welche ohne bewegte Teile und eventuellen Störsendern) ein Alleinstellungsmerk-
15 mit nur einer einzelnen Aufnahme Bild- und Ab- mal, welches die PMD-Technologie von anderen
standsinformation erfassen und dabei hochgenau, ToF-Ansätzen deutlich unterscheidet.
kompakt und gleichzeitig preiswert sein kann.
16 Eine solche echte dreidimensionale Detektion
liefert im Gegensatz zu herkömmlicher 2D-Ka- 19.2 Vorteile und Applikationen
17 mera-Bildsensorik oder 1D-Abstandssensorik (z. B.
Radar) die absoluten Geometriemaße der Objekte, PMD-Systeme gewinnen die Entfernungswerte di-
die unabhängig vom Oberflächenzustand, von der rekt in jedem Pixel, d. h. sie benötigen keine hohe
18 Entfernung, Drehung und Beleuchtung sind, d. h. Rechenleistung in der Nachbearbeitung. Dies und
sie sind rotations-, verschiebungs- und beleuch- der monokulare Aufbau des Systems machen PMD-
19 tungsinvariant. Systeme kostengünstiger und kompakter in der
Einer der ersten Versuche zur Realisierung ei- Baugröße als herkömmliche Technologien.
20 ner 3D-Kamera war der Ansatz des elektronischen Die mittels einer 3D-PMD-Kamera sofort und
Stereo-Sehens, der einem Teil der menschlichen ohne massiven Rechenaufwand detektierbaren
19.3  •  Grundsätzliche Lösungen zur 3D-Erfassung
337 19
.. Abb. 19.1  Messprinzip zur berüh-
rungslosen 3D-Erfassung

mehrdimensionalen Szenenparameter ermögli- winkel beispielsweise sind stark applikationsabhän-


chen eine zuverlässige Plausibilisierung von Objek- gig und daher individuell anzupassen.
ten und ihren relativen Bewegungsvektoren. Da die
Position von Objekten und die zugehörigen mögli-
chen Trajektorien frühzeitig erkannt werden, steigt 19.3 Grundsätzliche Lösungen
die Zuverlässigkeit der Situationsinterpretation. Der zur 3D-Erfassung
Fahrer kann bestmöglich unterstützt werden, und
im Falle einer unvermeidlichen Kollision kann das Die notwendige Weiterentwicklung automobiler Si-
Verletzungsrisiko durch aktive Sicherheitsmaßnah- cherheits- und Komfortsensoren zur Erhaltung der
men entscheidend minimiert werden. industriellen Wettbewerbsfähigkeit erfordert zu-
nehmend die schnelle, präzise und berührungslose
Bereits heute arbeiten verschiedene Automobilher- Vermessung der dimensionellen Szenenparameter in
steller mit PMD-Sensorik an den unterschiedlichs- Echtzeit. . Abbildung 19.1 zeigt die drei wichtigsten

--
ten Applikationen:
Fahrerassistenzsystem
berührungslosen 3D-Entfernungsmessverfahren.
Mikrowellensensoren eignen sich insbesondere

-- Fußgängerschutz
PreCrash
für die Vermessung relativ weit entfernter Objekte
in Szenen mit einer vergleichsweise geringen Orts-

--
ACC Stop&Go
Automatische Notbremse
frequenz. Für eine hoch aufgelöste dreidimensio-
nale Objektdetektion reicht im Allgemeinen die

-
Gestikbedienung HMI
Occupant Crash Protection (FMVSS 208,
OOP), Smart Airbag
beugungsbegrenzte Winkelauflösung nicht aus.
Eine runde Antenne mit dem Durchmesser D er-
zeugt bei gleichmäßiger Anregung eine Strahlungs-
keule („Airy Pattern“) mit dem Öffnungswinkel 2α,
Während Robustheit, Kompaktheit und ein günsti- wobei gilt: sin α = 1,22 l/D. Selbst bei extrem kurzer
ger Preis typische Anforderungen an heutige Systeme Wellenlänge l = 3 mm (f = 100 GHz) und relativ
sind, kommt insbesondere in der Fahrzeugsicherheit großer Strahlungsapertur z. B. D = 12,2 cm beträgt
der Erfassung von dynamischen Verkehrsszenen eine mit α = 30 mrad der minimale Strahldurchmesser
große Bedeutung zu. Dabei ist eine hohe Bildwieder- schon in einem Meter Abstand 60 mm, ähnlich wie
holfrequenz essentiell für den Einsatz im automoti- in ▶ Abschnitt 12.3 beschrieben. Radarsysteme sind
ven Umfeld. PMD-Kameraeinheiten erzeugen einen damit für eine lateral hoch aufgelöste Objektdetek-
permanenten Datenstrom mit derzeit bis zu 100 3D- tion schon in Entfernungen von einigen wenigen
Bildern pro Sekunde und ermöglichen somit eine Metern ungeeignet [1].
schnelle und sichere Interpretation auch bei hohen Gleiches gilt grundsätzlich für die Strahlungs-
Eigengeschwindigkeiten und dynamischen Szenen. keule eines Ultraschallsenders; hier kommt zusätz-
Systemanforderungen wie Reichweite und Öffnungs- lich die Druck- und Temperaturempfindlichkeit der
338 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

1 - Interferometrie: Die Tiefeninformation wird


prinzipiell ebenfalls über die Laufzeit, hier pri-
mär über die Phasenlaufzeit, und zwar durch
2 zeitlich kohärente Mischung und Korrelation
relative Auflösung rr

der reflektierten 3D-Objektwelle mit einer


Referenzwelle ermittelt.
3
Sobald periodische Strukturen – zeitlich oder räum-
4 lich – zur 3D-Bilderfassung eingesetzt werden, ent-
stehen bei allen drei Verfahren Interferogramme,
5 die mathematisch mit den gleichen Algorithmen
(z. B. Phase-Shift-Algorithmus) ausgewertet werden

6
7
r

.. Abb. 19.2  Relative Auflösung (Tiefenauflösung im


-
können, vgl. . Abb. 19.2:
Beim Triangulationsansatz interferieren bei-
spielsweise beim Streifenprojektionsverfahren
die Ortsfrequenzen der projizierten Streifen
räumlich mit den Ortsfrequenzen des CCD-

-
Verhältnis zum Messbereich) von Verfahren der optischen
Arrays.
8 Formerfassung
Bei der CW-Laufzeitmessung interferiert
Schallgeschwindigkeit und die hohe Reflexivität die Hochfrequenz-Modulation zeitlich mit
9 bzw. Spiegelung technischer Oberflächen erschwe- dem HF-Mischsignal des Detektors. Beim so
rend hinzu. genannten Homodynempfang einer 3D-Szene
10 Durch die sehr viel kleinere Wellenlänge der mit 2D-Mischer ergibt dieser Korrelationspro-

11
Lichtwellen, selbst bis in den fernen Infrarotbereich
hinein, besitzen optische 3D-Messsysteme eine hohe
Lateral- bzw. Winkelauflösung. Die Gewinnung der
Tiefeninformation beruht hier im Wesentlichen auf
- zess ein HF-Modulationsinterferogramm.
In der Interferometrie entsteht dieser Misch-
und Korrelationsprozess von Objekt- und Refe-
renzwelle durch zeitlich kohärente Überlagerung
12 dem Triangulations- oder Laufzeitprinzip. Die in und Quadrierung der Objekt- und Referenzfeld-
Sonderfällen auswertbare quadratische Abnahme stärke, weil die Lichtenergie für den quanten-
der Strahlungsintensität und andere radiometrische elektronisch erzeugten Fotostrom verantwortlich
13 Verfahren werden im Folgenden außer Acht gelas- ist. Mischung und Korrelation finden je nach
sen [1]. Detektorart in den CCD-Pixeln, in einem Film
14 oder in der Retina des Auges statt.
Wie in . Abb. 19.1 dargestellt, werden in der op-
15 tischen Formerfassung vor allem drei Prinzipien

-
unterschieden: 19.3.1 Formerfassung mit optisch
Triangulation: Der Abstand eines rückstreu- inkohärenter
16 enden Oberflächenpunktes wird mittels der Modulationslaufzeitmessung
anliegenden Winkel einer bekannten optischen
17 Basis über die geometrischen Zusammenhänge Der Abstand oder die Tiefe r (r = Range) kann über

18 - bestimmt.
CW- und Puls-Laufzeitmessung: Die Grup-
penlaufzeit der Einhüllenden des modulierten
optischen Signals, also die Modulationslaufzeit
die Echolaufzeit tof eines vom Sensor gerichtet abge-
strahlten und empfangenen Lichtsignals mit

r = c ⋅ tof / 2
19 des Echos zwischen Messsystem und rück-
streuendem Oberflächenpunkt, wird be- ermittelt werden. Dieser Zusammenhang gilt glei-
20 stimmt. Dabei sollten die optischen Trägerwel- chermaßen für die so genannte Laufzeitmessung als
len vorzugsweise inkohärent sein. auch für die klassische Interferometrie.
19.3  •  Grundsätzliche Lösungen zur 3D-Erfassung
339 19
.. Abb. 19.3  Hierarchie der
wichtigsten Messprinzipien auf der
Basis der optischen HF-Modulations-
Interferometrie

Im ersten Fall wird die Laufzeit des Modulationssi- Formerfassung zusätzlich einen 2D-Spiegelscanner.
gnals, d. h. die Gruppenlaufzeit der Lichtwelle, ge- Bei einer modulierten Lichtebene (s. . Abb. 19.3,
messen, was im Allgemeinen durch die Korrelation 2.2) genügt ein 1D-Scanner. Durch 3D-Beleuchtung
mit einem geeigneten Referenzsignal geschieht. Da- (s. . Abb. 19.3, 2.3) mit einem modulierten Licht-
her unterscheidet die Aufgliederung in . Abb. 19.3 volumen, das einen 2D-Empfangsmischer voraus-

--
nach den entsprechenden Modulationssignalen die
Pulsmodulation (1), die
CW (continuous wave)-Modulation (2) und
setzt, wird kein Scanner mehr benötigt. Ein solches
Verfahren erzeugt ein HF-Modulations-Interfero-
gramm, das die 3D-Tiefeninformation enthält.

- die
Pseudo-Rausch-Modulation (3).

Das Hauptproblem liegt hier in der extrem hohen


(3): Die Pseudo-Rausch (PN)-Modulation ver-
einigt den Vorteil eines quasi-stationären CW-Be-
triebs mit der Mehrfachzielauflösung der Pulsmo-
dulation durch die Pulskompressionseigenschaft der
Lichtgeschwindigkeit von 300 m/µs bzw. 300 mm/ Autokorrelationsfunktion des PN-Signals.
ns, die entsprechend hohe Zeitauflösungen der Die inkohärente Modulationslaufzeitmessung
Empfangsmesstechnik erfordert. (. Abb. 19.4) weist neben dem optischen einen
(1): Bei der Pulsmodulation findet die Zeitmes- großen elektronischen Laufzeitanteil im Hochfre-
sung z. B. durch Korrelation von Start- und Stopp- quenzteil vor der Korrelation auf. Insbesondere der
Signal mit einem parallel laufenden Zähltakt statt. Empfangsverstärker und der Mischer haben typi-
Sie vermag vorteilhafterweise Mehrfachziele zu scherweise so hohe Zeitfehler, dass sie fortlaufend
unterscheiden. Nachteilig sind das Einschwingver- z. B. durch mechanische Kalibrierung oder durch
halten von Pulslaserdioden und die hohen Band- einen zweiten, nicht dargestellten Referenzkanal
breite- und Dynamikanforderungen an den Emp- kompensiert werden müssen.
fangsverstärker. Die Pulsmodulation wird zum In zwingender Konsequenz bedeutet dies für
Beispiel in Lidarsystemen eingesetzt. Laufzeitmesssysteme, den hochfrequenten Misch-
(2): Die Modulationslaufzeit der Sinusschwin- prozess entweder in den optischen Bereich oder
gung kann über heterodyne oder homodyne Mi- zumindest direkt in den optischen Detektor zu le-
schung ermittelt werden. Aufgrund der Vielfalt der gen, um so die gravierenden Fehler und Kosten, die
Modulationsarten wird im Folgenden nur die ho- durch den Breitbandverstärker, den elektronischen
modyne Sinus-Modulation weiter beschrieben. Ein Mischer und durch das Senderübersprechen verur-
1D-Gerät (s. . Abb. 19.3, 2.1) benötigt für die 3D- sacht werden, zu vermeiden.
340 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

.. Abb. 19.4  Prinzip der optisch inkohärenten


1 Modulationslaufzeitmessung (HF-Modulations-
Interferometrie).

2
3
4
5
6
7
8 Aktiv-Pixel-Matrix in CMOS-Technik auf dem
gleichen Chip durchgeführt werden, wie mit dem
9 PMD-Einzelelement in . Abb. 19.6 angedeutet. Eine
entsprechende PMD-Matrix mit x × y-Pixeln liefert
10 so neben der xy-Grauwertinformation pixelweise
zusätzlich die r-Information. Eine nähere Erläute-
rung des Funktionsprinzips folgt in ▶ Abschn. 19.4.1.
11 Diese vergleichsweise junge 3D-Technologie
ermöglicht daher eine neue Generation leistungs-
12 .. Abb. 19.5  3D-Bildaufnahme mit optischem 2D-Mischpro- fähiger optischer 3D-Sensoren und flexibler, preis-
zess (EOM = Elektro-Optischer Modulator) in der Empfangsa- günstiger, robuster und extrem schneller 3D-Lauf-
pertur zeitkameras.
13
19.3.2 Das PMD-Prinzip
14 19.4 Module eines PMD-Systems
. Abbildung 19.5 zeigt den Empfangsteil einer 3D-
15 Kamera mit einem optischen 2D-Mischer, z. B. einer Ein PMD-Sensorsystem besteht aus einer PMD-
Pockels-Zelle, der in der Empfangsapertur ein pha- Empfangseinheit (PMD-Chip mit der dazuge-
senabhängiges quasistationäres Intensitäts-Interfe- hörigen Peripherie-Elektronik, Empfangsoptik,
16 rogramm erzeugt. Die Mischung des reflektierten Auswerteeinheit und Netzteil) und einer aktiven
Messsignals mit dem Referenzsignal findet hier Beleuchtungseinheit.
17 durch die Transmissionsmodulation der Pockels- Mit jedem dieser Komponenten können die
Zelle bereits im optischen Bereich statt. Das Misch- Sensorparameter wie der Messbereich, das Sicht-
ergebnis wird von der nachfolgenden CCD-Matrix feld FoV (Field-of-View), die Bildwiederholrate,
18 pixelweise aufintegriert, wodurch letztlich die Kor- die Lateral- und die Tiefenauflösung applikations-
relation zwischen dem Mess- und dem Referenzsi- spezifisch angepasst werden. Eine Kamera für vo-
19 gnal entsteht. rausschauende Sicherheitsapplikationen erfordert
Die Intensitätsdetektion und die Mischung bzw. beispielsweise eine höhere Reichweite und aufgrund
20 die Korrelation können auch parallel durch Modi- hoher Geschwindigkeiten ebenfalls eine hohe Bild-
fikation eines CCD-Chips oder vorzugsweise einer wiederholrate.
19.4  •  Module eines PMD-Systems
341 19

.. Abb. 19.6  1D-Laufzeitmessung mit dem Photomisch-


detektor (PMD): Die Korrelationsoperation erfolgt direkt im
optischen Empfangselement.

Im Folgenden werden die einzelnen Kompo-


nenten eines Laufzeitsystems im Detail beschrieben.

19.4.1 PMD-Imager: 2D-Mischer


und Integrator

Der PMD-Chip ist das Herzstück des Systems, wel-


ches die 3D-Bildaufnahme ermöglicht. Die Anzahl
der Pixel definiert wie bei konventionellen 2D-
Bildsensoren die spatiale Auflösung des Systems.
Zusätzlich zur Helligkeitsinformation in Form des
.. Abb. 19.7  Vereinfachter Querschnitt und Funktionsprinzip
Grauwertes wird pro Pixel ebenfalls die Distanz des PMD
zum korrespondierenden Objektpunkt durch eine
elektrooptische Laufzeitmessung detektiert. rechts, zu einem anderen Zeitpunkt nach links zeigt
Das Funktionsprinzip des PMD wird anhand und damit die photogenerierten Ladungsträger ein-
eines vereinfachten Modells des CMOS-Sensors er- mal zur rechten und einmal zur linken Auslesediode
läutert. Der Sensor integriert den Mischprozess von leitet.
optischem und elektrischem Signal inhärent in ei- Wenn das durch die Photogates in das Substrat
nem Pixel und kann damit den so genannten „Smart einfallende Licht selbst keine Modulation aufweist,
Pixeln“, also CMOS-Pixeln mit integrierter Funktio- wie dies im Allgemeinen bei Umgebungslicht der
nalität (bzw. Intelligenz) zugerechnet werden. Fall ist, dann werden die photogenerierten La-
. Abbildung 19.7a zeigt eine vereinfachte sche- dungsträger im Takt der Modulationsspannung
matische Darstellung eines PMD-Elements. Die gleichmäßig auf die rechte und linke Auslesediode
lichtdurchlässigen, aber elektrisch leitenden Photo- verteilt. Am Ende des Modulationsprozesses sind
gates in der Mitte der Darstellung (gelb) sind vom die Ladungsmengen bzw. die Ausgangsspannungen
Halbleiter-Substrat über ein dünnes Gateoxid iso- an beiden Auslesedioden wie in . Abb. 19.7b dar-
liert. Links und rechts von den Photogates befinden gestellt gleich groß. Betrachtet man die Differenz
sich die Auslesedioden, die mit der Ausleseelektro- des links und rechts aufintegrierten Signals, so wird
nik verbunden sind. Die Bewegungsrichtung der diese folglich zu null.
photogenerierten Ladungsträger im Substrat kann Moduliert man hingegen aktiv eine Licht-
über eine Gegentakt-Modulationsspannung beein- quelle (die zugehörige Beleuchtungseinheit der
flusst werden, die an den oben beschriebenen Pho- ToF-Kamera) mit der gleichen Frequenz wie das
togates bzw. Modulationsgates angelegt wird. Diese Gegentakt-Modulationssignal, dann ändern sich
Spannung generiert im Substrat eine dynamische die Ausgangsspannungen (Ua und Ub) unter-
Potenzialverteilung, die zu einem Zeitpunkt nach schiedlich, und zwar abhängig vom Phasenversatz
342 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

1
2
3
4
.. Abb. 19.8  Komponenten eines modularen PMD-Kamerasystems. Die gelben Blöcke symbolisieren den von Fremdlicht
5 generierten Ladungsanteil, die roten Blöcke den Signalanteil des aktiven Lichts. Die SBI-Schaltung eliminiert einen Großteil der
Fremdlicht-Ladungspakete (b). a) Dynamikbereich ohne SBI. b) Dynamikbereich mit SBI

6 zwischen dem modulierten Lichtsignal und dem In . Abb. 19.8a sind die Speicherbereiche im Pi-
Gegentakt-Modulationssignal an den PMD-Gates xel fast völlig durch Fremdlicht generierte Ladungs-
7 (. Abb. 19.7c). Betrachtet man nun für diesen Fall träger gefüllt. Der für die Entfernungsmessung rele-
die Differenz der links und rechts aufintegrierten vante Signalanteil ist folglich sehr klein. Durch diesen
Signale, so hängt diese direkt von der Phasenlage geringen Signalhub werden die Messergebnisse unge-
8 des empfangenen optischen Signals ab. Die Entfer- nauer bzw. das Entfernungsrauschen größer.
nung vom Sensor zum Objekt kann über diese Pha- Da das Fremdlicht im Gegensatz zum aktiven
9 seninformation berechnet werden. Die Leistungs- Signal jedoch unkorreliert ist, werden durch die
fähigkeit bzw. die physikalischen Grenzen dieser PMD-spezifische Korrelationseigenschaft an bei-
10 Entfernungsmessung werden in ▶ Abschn. 19.5 den Auslesedioden annähernd gleiche Fremdlicht-
eingehend betrachtet. anteile an Ladungsträgern generiert, d. h. es entsteht
Der Standard-CMOS-Prozess, in dem die heu- ein Gleichanteil, der auf beiden Ausgangskanälen
11 tigen PMD-Chips gefertigt werden, bietet neben identisch ist. Die SBI-Schaltung erkennt diesen
der hochgenauen Zeit- bzw. Phasenmessung von Gleichanteil des Ausgangssignals und entfernt ihn,
12 optischen Signalen zudem die Möglichkeit, zusätz- was eine deutliche Erhöhung der Sensordynamik
liche Funktionen im Chip oder sogar pro Pixel zu zur Folge hat (. Abb. 19.8b).
realisieren. Ein Beispiel ist die Unterdrückung von Da auch hohe Temperaturen in erster Linie
13 Stör- bzw. Fremdlicht, die so genannte SBI-Schal- nur den Dunkelstrom bei CMOS-Bildsensoren an-
tung (Suppression of Background Illumination), die heben, erlaubt die SBI-Funktionalität gleichzeitig
14 3D-Messungen auch unter härtesten Sonnenlicht- den Einsatz der PMD-Sensorik unter erschwerten
bedingungen bis zu 150 klux ermöglicht. Temperaturbedingungen. Der Dunkelstrom erzeugt
15 Vor allem das bei Außenraumanwendungen nämlich, genau wie Fremdlicht, nur Signalanteile,
vorhandene Sonnenlicht stellt an Systeme mit ak- die unkorreliert sind und daher von der SBI-Schal-
tiver Beleuchtung hohe technische Anforderungen, tung eliminiert werden.
16 denn dieses kann in vielen Fällen ein sehr viel hö- Zusammen mit weiteren Maßnahmen wie einer
heres Signal als die aktive Beleuchtung im Sensor spektralen optischen Filterung des aktiven Signals
17 generieren und so durch eine Verringerung der aus dem Umgebungslicht, einer Burst-Überhöhung
Dynamik für das aktive Licht zu einer Verschlech- der Lichtquelle und einer Integrationszeitsteuerung
terung der Sensorperformance und im schlimmsten ist eine PMD-Kamera unempfindlich auch gegen
18 Fall zur Sättigung führen. extreme Fremdlichtverhältnisse, wie z. B. Sonnen-
Durch das integrierte SBI-Verfahren ist es in ei- licht.
19 nem PMD möglich, die aktive modulierte Beleuch-
tung vom übrigen Umgebungslicht zu unterschei-
20 den. . Abbildung 19.8 veranschaulicht das Prinzip
dieses Verfahrens.
19.4  •  Module eines PMD-Systems
343 19
.. Abb. 19.9  Aktuelle PMD-Beleuchtung für
Außenraumanwendungen

19.4.2 Beleuchtung kömmliche Halogen-Glühlampen) ablösen werden,


gewinnt dieser Ansatz eine immer größere Attrak-
Neben der eigentlichen PMD-Empfangseinheit be- tivität.
nötigt jedes optische Time-of-Flight-Verfahren eine
aktive Beleuchtung, vgl. . Abb. 19.9. Hier kommt es
darauf an, dass diese mit hinreichender Bandbreite 19.4.3 Weiterverarbeitung
moduliert werden kann (typischerweise mehr als (Merkmalsextraktion,
10 MHz). Infrage kommen neben Licht emittieren- Objekttracking)
den Dioden (LEDs) auch Laserdioden. Hier gewin-
nen neben den Kanten-emittierenden Lasern, die Objektbildung und Szeneninterpretation
beispielsweise im roten Wellenlängenbereich bei Die Kamera errechnet nach der Rohdatenverarbei-
Distanzmessgeräten bekannt sind, auch vertikal tung ein eindeutiges Entfernungsbild ihres Sichtbe-
emittierende Laserdioden bzw. Diodenarrays für reichs, das durch die Optik und die aktive Beleuch-
die PMD-Time-of-Flight-Messung zunehmend an tung bestimmt ist. Die Auslegung dieses Sichtfeldes
Bedeutung. wird maßgeblich von den Anforderungen der Fahr-
Als Beispiel einer Fahrzeugintegration wurde zeugfunktion bedingt.
eine IR-Lichtquelle im Kühlergrill eines Versuchs- Die Vorverarbeitung der Rohdaten des Bild-
trägers verbaut. Die Ansteuerung dieser so genann- aufnehmers ist sehr einfach und stellt keine gro-
ten Lichtleiste erfolgt über eine störungsresistente ßen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der
LVDS-Verbindung (LVDS = Low Voltage Differen- ausführenden Recheneinheit. Es werden lediglich
tial Signal), bei der ein differenzielles Triggersignal Amplituden und Abstandswerte berechnet. Eben-
die Phaseninformation zur Beleuchtung übermit- falls erfolgt in diesem Schritt die Verifikation und
telt. Neben dem Modulationssignal werden ferner Selektion der Abstandswerte, die Plausibilisierung
auch Diagnosedaten der Beleuchtungseinheit über der Messdaten und die Belichtungssteuerung. Auf
einen LIN-Bus an die Kamera zurückgeliefert. Die dem eindeutigen Entfernungsbild setzt eine 3D-
Lichtquellen bestehen aus LED-Modulen hoher Bildverarbeitung zur Objektbildung auf, die je
Leistung mit aufgesetzten Optiken, die zusammen nach Funktion entsprechend den Anforderungen
eine optische Leistung von ca. 20–40 W erreichen ausgelegt werden kann. Als Resultat dieser Weiter-
können. Die gesamte Lichtleiste ist mit einer im In- verarbeitung entsteht eine Objektliste, welche die
frarotbereich transparenten Abdeckung versehen. dynamischen Objekte mit einer Verfolgung (Tra-
Damit lässt sich dem Designanspruch der Fahrzeug- cking) direkt an ein entsprechendes Steuergerät
hersteller Rechnung tragen. übertragen kann. Hier findet die Auswertung der
PMD-spezifische IR-Lichtquellen können auch Fahrszene statt, und es werden – ggf. zusammen
direkt mit anderen Beleuchtungseinrichtungen mit anderen fusionierten Sensordaten – die Aktoren
des Fahrzeugs integriert oder sogar kombiniert entsprechend angesteuert.
werden. Hier kommen z. B. das Tagfahrlicht oder In den folgenden Abbildungen unterschiedli-
die Hauptscheinwerfer infrage. Da LED-basierte cher Verkehrsszenen sind die Rohdaten und die
Hauptscheinwerfer mittelfristig die heute üblichen Objektbildung des oben beschriebenen Systems
Beleuchtungstechnologien (Xenon-Licht oder her- dargestellt. Man erkennt die Position der detek-
344 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

.. Abb. 19.10  Links: Entfernungsrohdaten und


1 die daraus resultierende Objektbildung einer
PMD-Kamera in einer virtuellen 3D-Darstellung.
Rechts: Das konventionelle Videobild mit zeit-
2 synchron betrachteter Szene.

3
4
.. Abb. 19.11  Erfassung eines Rollschuhläufers

5
(umrandet) als Objekt ab seinem Eintritt in den
Erfassungsbereich der Kamera. Im rechten,
konventionellen Videobild wird das im 3D-Bild

6 erfasste Objekt ebenfalls markiert (siehe gelbe


Markierung) und getrackt.

7
8 tierten Objekte im 3D-Raum und kann aus den mitliefert, der für die Objekterkennung genutzt
Änderungen die Bewegungsvektoren im Raum werden kann.
9 eindeutig extrahieren. In . Abb. 19.10 wird der
Schritt vom Entfernungsbild zur Interpretation
19.5 Leistungsfähigkeit
10 des relevanten Objekts dargestellt, indem drei
und Leistungsgrenzen
Fußgänger als Objekte erkannt und deren Position
bestimmt wird. des Gesamtsystems
11 Aufgrund der beim PMD inhärent vorhandenen
3D-Information sind die oben dargestellten Bildver- Bei jedem Entfernungsmesssystem, das nach dem
12 arbeitungsschritte mit sehr einfachen Algorithmen Lichtlaufzeitverfahren funktioniert, wird die erziel-
darstellbar, wodurch auch mit wenig Rechenleistung bare Messgenauigkeit (Reproduzierbarkeit) maß-
ein sehr schnelles Objekttracking möglich ist. Die geblich durch die Menge des empfangenen Lichts
13 folgenden Abbildungen zeigen einen Rollschuh- beeinflusst. Folglich sind bei der Systemauslegung
läufer als relevantes Objekt, das über einen Entfer- die nachfolgend aufgelisteten Parameter für die

-
14 nungsbereich von 3 m getrackt wird (. Abb. 19.12). Leistungsfähigkeit entscheidend:
Die Entscheidung, ob es sich um ein relevantes Empfindlichkeit des Empfängers (Quanteneffi-
15
16
Objekt handelt oder nicht, wird direkt nach Eintritt
des Objekts in das Sichtfeld des Sensors getroffen
(. Abb. 19.11). Dies belegt die Schnelligkeit der
Bildverarbeitung.
-- zienz und Fläche),
Lichtstärke der Empfangsoptik,
effiziente, lichtstarke aktive Beleuchtung (ent-
scheidend ist vor allem die optische Leistung
Das gleiche Tracking funktioniert auch bei der verwendeten Beleuchtung. Damit sind
17 höheren Relativgeschwindigkeiten, z. B. bei einer kleine Blick-/Öffnungswinkel vorteilhaft für
Autobahnfahrt (. Abb. 19.13). Bemerkenswert eine höhere Reproduzierbarkeit).
ist hierbei, dass das Tracking auch noch funktio-
18 niert, obwohl die Objekte in 50 m Entfernung nur Zwangsläufig lässt sich in der Regel auch eine deutlich
noch mit wenigen Pixeln erfasst werden, wie im bessere Reproduzierbarkeit für Ziele hoher Reflexivi-
19 Videobild zu erkennen ist. Möglich wird diese tät erzielen. Da die Reichweite (nicht zu verwechseln
Genauigkeit dadurch, dass jedes Pixel neben der mit dem 2π- Eindeutigkeitsbereich der Phasenmes-
20 Helligkeitsinformation auch einen Entfernungwert sung) durch ein festzulegendes Reproduzierbarkeits-
limit definiert wird, hängt sie ebenfalls maßgeblich
19.5  •  Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen des Gesamtsystems
345 19
.. Abb. 19.12  Verfolgung der Position des
Rollschuhfahrers (umrandet, Entfernung von
30 m). Wie in . Abb. 19.11 werden die im 3D-
Raum erfassten Objekte auch im 2D-Kamerabild
markiert.

mit den beschriebenen Einflussgrößen zusammen. ßen können daher sehr oft vernachlässigt werden.
So kann beispielsweise ein und dasselbe System mit Nphase zeigt die Anzahl der Rohwertmessungen bei
einem Retroreflektor 10- bis 100-mal höhere Reich- sequentiellem Phasenshift an, und λmod ist die Wel-
weiten erzielen als auf diffus reflektierende Ziele. lenlänge der Modulationsfrequenz.
Da in einem PMD-System mit jeder Messung Bei der Auslegung bildgebender 3D-ToF-Ka-
neben der Distanz gleichzeitig auch die Modula- meras gilt es stets, einen Kompromiss zwischen
tionsamplitude der aktiven Beleuchtung und der erzielbarer Tiefengenauigkeit und lateraler Auflö-
Grauwert (Maß für Umgebungslicht und aktives sug zu finden. Die Realisierung immer kleinerer
Licht auf dem Ziel) eines jeden Pixels geliefert wer- Pixel ermöglicht zwar höhere Lateralauflösungen,
den, ist zu jedem ermittelten Entfernungswert auch reduziert aber gleichzeitig die Empfindlichkeit der
das zugrunde liegende Signal- zu Rausch-Verhältnis Pixel und somit auch die Tiefenreproduzierbarkeit.
(SNR) bekannt. Da ein fester Zusammenhang zwi- Typische Pixelgrößen liegen heute, anders als bei
schen SNR und der statistischen Messunsicherheit Dr 2D-Imagern, bei Kantenlängen zwischen 40 µm und
besteht, liefert jeder Entfernungswert quasi gleich- 500 µm. Damit lassen sich ToF-Bildempfänger von
zeitig eine Art Konfidenzinformation mit. Dies ist einigen wenigen 1000 Bildpunkten bis zu wenigen
ein großer Vorteil, vor allem für die Entscheidungs- 100 000 Bildpunkten realisieren. Diese verhältnis-
findung einer nachfolgenden Algorithmik. mäßig großen Pixel eröffnen umgekehrt ungewöhn-
Wie in [1] und [2] näher beschrieben, lässt sich liche Freiheitsgrade im Design der Empfangsoptik.
die Messunsicherheit Dr eines PMD-Laufzeitsys- Hier ist es oftmals möglich, sehr lichtstarke Optiken
tems mit folgender Gleichung berechnen: großer Apertur zu realisieren, da die Abbildungs-
qualität eine untergeordnete Rolle spielt.
1 1 mod
r D p  S
p (19.1) Neben dem Leistungsbudget, das oben quali-
Nphase ktot  N 8 tativ und in [2] quantitativ beschrieben ist, spielt
bei der CW-Laufzeitmessung mit Phaseshift-Ver-
Darin ist ktot der gesamte Mischkontrast nach der fahren vor allem die Modulationsfrequenz fmod eine
Demodulation. ktot entsteht aus dem Produkt des entscheidende Rolle für die Messauflösung. Sie ist
(De-)Modulationskontrastes des PMD-Empfängers sozusagen der Übersetzungsfaktor, mit dem eine
mit dem Modulationskontrast der aktiven Beleuch- – durch die empfangene Leistung und die System-
tung. S ist die Anzahl der Signalelektronen des ak- empfindlichkeit bestimmte – Phasengenauigkeit in
tiven Lichts, und N repräsentiert die Anzahl der eine Entfernungsgenauigkeit transformiert wird.
Rauschelektronen. N beinhaltet neben dem Schro- Dieser Sachverhalt drückt sich in Gleichung (5.2)
trauschen aller im PMD empfangenen, optisch im Parameter λmod aus. Es gilt:
und thermisch generierten Ladungsträger auch c
eine äquivalente Rauschelektronenzahl der übrigen mod D (19.2)
fmod
Rauschquellen des Systems (u. a. Reset-, Verstärker-
und Quantisierungsrauschen). Für sehr viele Appli- Bei der bislang beschriebenen Betrachtung wurde
kationen, vor allem auch im Automotivebereich, ist jeweils nur auf die erzielbare Genauigkeit eines ein-
aber das Schrotrauschen der Sonnenstrahlung die zelnen Pixels eingegangen. Diese Betrachtungsweise
dominante Rauschquelle. Die anderen Rauschgrö- ist sicherlich dann angemessen, wenn eine genaue
346 Kapitel 19 • 3D Time-of-Flight (ToF)

.. Abb. 19.13  Entfernungsrohdaten und


1 Objekt-Training einer PMD-Frontkamera bei
einer Autobahnfahrt

2
3
4
Profilvermessung gefragt ist. Sehr oft geht es aber Literatur

5 nicht darum, die exakte Form von Objekten zu ver-


[1] Lange, R.: 3D Time‐of‐flight distance measurement with
messen, sondern um die räumliche Wahrnehmung
custom solid‐state image sensors in CMOS/CCD techno-
und Situationseinschätzung, also das, was man un-
6 ter 3D-Sehen (im Gegensatz zum 3D-Messen) ver-
logy. Diss. Universität Siegen, 2000
[2] Möller, T., Kraft, H., Frey, J., Albrecht, M., Lange, R.: Robust
steht. Die Betrachtungsweise des 3D-Sehens ist auch 3D Measurement with PMD Sensors. Range Imaging Day,
7 bei vielen Fahrerassistenz- Systemen angemessen. Zürich (2005)
[3] Schwarte, R.; Heinol, H.; Xu, Z.; Li, J.; Buxbaum, B.: „Pseudo‐
Hier kommt es darauf an, frühzeitig und zuverlässig
noise (PN) laserradar without scanner for extremely fast
Objekte zu erkennen und diese zu klassifizieren.
8 Da es sich bei einer PMD-Kamera um ein
3D‐imaging and navigation“, MIOP 97 (Microwaves and
Optronics), Stuttgart, 22–24 April 1997
instantan paralleles Video-Messsytem mit bei-
9 spielsweise einigen 10  000 3D-Punkten handelt,
ist schnell einzusehen, dass eine ausschließliche
10 Betrachtung nur der Genauigkeit eines einzelnen
Pixels der Leistungsfähigkeit und Charakteristik des
Gesamtsystems nicht gerecht wird. Die hohe Frame-
11 rate, der bildgebende 3D-Aspekt und das zusätzlich
gelieferte Grauwertbild haben maßgeblichen Anteil
12 an der Erkennungssicherheit des Messsystems.
Mithilfe von Algorithmen kann beispielsweise
über mehrere 3D-Punkte des Zielobjekts gemittelt
13 werden. Dadurch wird die Genauigkeit der Positi-
onsbestimmung des Objekts erhöht. Darüber hin-
14 aus steigt diese Genauigkeit weiter, wenn ein Objekt
einmal über mehrere Frames getrackt wurde.
15 Mit aktuellen PMD-Sytemen im Kfz werden
Reichweiten von etwa 50–70 m bei 100 Hz Frame-
rate erreicht. Bei geringeren Reichweiten lassen sich
16 Genauigkeiten bis in den Millimeter-Bereich erzie-
len. Mit immer empfindlicheren PMD-Sensoren,
17 zunehmender Effizienz von LED- und Laserquel-
len sowie stetiger Weiterentwicklung der Detekti-
onsalgorithmik sind weitere Steigerungen der Leis-
18 tungsfähigkeit von PMD-Kamerasystemen in naher
Zukunft sicher.
19
20
347 20

Kamera-Hardware
Martin Punke, Stefan Menzel, Boris Werthessen, Nicolaj Stache,
Maximilian Höpfl

20.1 Einsatzgebiete und Beispielanwendungen  –  348


20.2 Kameras für Fahrerassistenzsysteme  –  352
20.3 Kameramodul – 355
20.4 Systemarchitektur – 362
20.5 Kalibrierung – 365
20.6 Ausblick – 367
Literatur – 367

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
348 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

Heutige Verkehrsumgebungen wie Verkehrs- und Funktionen, z. B. mittels Gesten- und Blicksteue-
1 Hinweiszeichen, Fahrbahnmarkierungen und Fahr- rung.
zeuge sind für die Wahrnehmung mit dem mensch-
2 lichen Auge ausgelegt (auch wenn erste Ansätze
zur automatischen Beurteilung durch elektroni- 20.1.1 Fahrer-
sche Sensorsysteme im Fahrzeug existieren, siehe und Innenraumüberwachung
3 ▶ Kap. 51). Dies geschieht beispielsweise durch un-
terschiedliche Formen, Farben oder eine temporale Zur Anwendung von Kameras im Fahrzeuginnen-
4 Änderung der Signale. raum gibt es spezielle Anforderungen, die sich von
Es liegt daher nahe, auch für die maschi- denen der Umfelderfassung unterscheiden. Der
5 nelle Wahrnehmung die Umwelt ähnlich wie das Fahrer als Objekt, das mit der Kamera erfasst wird,
menschliche Auge zu erkunden. Hierzu sind Kame- befindet sich sehr viel näher an der Kamera als
rasysteme imstande, da sie eine vergleichbare spek- Objekte im Umfeld des Fahrzeugs. Um eine Funk-
6 trale, räumliche und temporale Auflösung bieten. tion in allen Fahrsituationen sicherzustellen, z. B.
Zusätzlich zur „Nachbildung“ des menschlichen bei Nacht oder schnellen Lichtwechseln, wird eine
7 Sehens können bestimmte Kamerasysteme Zu- künstliche Beleuchtung eingesetzt. Diese wird im
satzfunktionen bieten, u. a. Aufnahmen in anderen nahinfraroten Wellenlängenbereich gewählt, der für
Spektralbereichen für Nachtsichtfunktionen oder den Fahrer unsichtbar ist.
8 eine Entfernungsmessung.
20.1.1.1 Fahrerüberwachung
9 und Blicksteuerung
20.1 Einsatzgebiete Fahrerassistenzsysteme sind hilfreich und entlasten
und Beispielanwendungen
10 den Fahrer. Gleichzeitig verändern sie aber auch die
Rolle des Fahrers: Der Mensch wird vom klassischen
Aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten „Macher“ vielfach zum „Überwacher“, der Fahrer
11 werden Kamerasysteme im Automobil sowohl zur kann in einer Art Moderator-Rolle gesehen werden.
Innenraumüberwachung als auch zur Umfelderfas- In dieser Rolle überwacht er die Rückmeldungen
12 sung verwendet [1]. Im folgenden Abschnitt wird der verschiedenen (Assistenz-)Systeme und greift
auf diese Einsatzgebiete eingegangen und die Be- zum Start, zur Anpassung der Funktion oder auch
sonderheiten der Umsetzung mittels Kameraerfas- bei der Funktionsübergabe zwischen Fahrer/Fahr-
13 sung aufgezeigt. zeug ein. Das Ziel der Entwicklung ist eine ganzheit-
Ein erstes Fahrerassistenzsystem, das mit Kame- liche Mensch-Maschine-Schnittstelle (engl. human
14 ras realisiert wurde, war die sogenannte Rückfahr- machine interface – HMI), bei der Informationen
kamera. Der Fahrer wird dabei durch die Anzeige über den Fahrer, dessen Zustand und Intention in
15 des Echtzeitvideos auf einem Monitorsystem in sei- das situationsangepasste Interaktionskonzept inte-
nem Fahrverhalten unterstützt. Erweiterte Funkti- griert werden.
onen mittels maschinellen Sehens werden u. a. bei Ausgehend von der Müdigkeitserkennung ha-
16 der automatischen Fernlichtfunktion eingesetzt. ben sich die Anwendungsfelder für eine auf den
Bei diesen Systemen wird nicht mehr das Videobild Fahrerkopf orientierte Innenraumkamera stark er-
17 dargestellt, sondern eine Funktion direkt aus dem weitert. Es lassen sich Funktionen, wie die Identifi-
Kamerabild abgeleitet. kation des Fahrers – z. B. zum Aufruf individueller
Zusätzlich werden auch Kameras im Innenraum Profile oder Präferenzen – adaptive Warnungen in
18 des Fahrzeugs eingesetzt, wobei vor allem zwei Abhängigkeit von Kopfposition und Blickverhalten
Funktionen von Bedeutung sind: Erstens die Fah- sowie eine Augmentierung des HMIs (Augmentie-
19 rerüberwachung zur Erkennung des Fahrerzustands rung: Eine Überlagerung von HMI-Informationen
und der Fahrerintention, zweitens die Nutzung von mit Objekten aus dem Fahrzeugumfeld), z. B. im
20 Kamerasystemen im Rahmen einer erweiterten Augmented Reality-Head-up-Display, verwirkli-
Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Steuerung von chen.
20.1  •  Einsatzgebiete und Beispielanwendungen
349 20

.. Abb. 20.1  Blickwinkel von Innenraumkameras zur a) Fahrerüberwachung und b) Handgestenerkennung (Quelle: Continen-
tal)

Ein skalierbarer Ansatz mit einer oder mehre- 20.1.2 Umfelderfassung


ren Kameras ermöglicht es, den Winkelbereich der
Erfassung und die Genauigkeit der Kopfpositions- Ziel der Umfelderfassung des Automobils ist die
und Blickrichtungsbestimmung je nach Einsatzge- möglichst vollständige Erkennung aller relevan-
biet festzulegen. In . Abb. 20.1a) ist ein möglicher ten Verkehrsteilnehmer, der Straßenszene und der
Blickwinkel einer Monokamera im Fahrzeuginnen- Verkehrszeichen, um daraus entsprechende Folge-
raum dargestellt. rungen zu ziehen. Hierbei kommt eine Vielzahl von
verschiedenen Sensortechnologien in Betracht, die
20.1.1.2 HMI-Handgestensteuerung in ihrer Kombination sowohl die Erkennung als
Dem Fahrer stehen heute verschiedenste Eingabe- auch deren Zuverlässigkeit sicherstellen.
möglichkeiten zur Verfügung: Die Bedienung kann In . Abb. 20.2 ist eine solche Situationserfas-
über traditionelle Knöpfe, Drehdrucksteller oder sung dargestellt: Zu sehen sind die Erfassungsfelder
moderne Touchoberflächen erfolgen. Ausgehend verschiedenster Sensoren am Automobil. Dabei sind
von Touchoberflächen bieten Kamerasysteme zu- die Sensoren so ausgelegt, dass sowohl die Blick-
sätzlich die Möglichkeit, die Annäherung und die felder überlappen als auch unterschiedliche Reich-
Position der Hand des Fahrers sowie einzelne Hand- weiten erzielt werden. In diesem Beispiel erfolgt die
gesten zu erkennen. Erfassung durch Kamerasysteme als auch Nah- und
Zwei Technologien kommen zur Erkennung Fernbereichsradare.
von Handgesten zum Einsatz: Zum einen kann ein Inzwischen werden auch verschiedene Sensor-
konventionelles 2D-Bild benutzt werden, zum an- typen in ein gemeinsames Gehäuse integriert. Ein
deren ein 3D-Tiefenbild, das z. B. über einen Time- Beispiel hierfür ist die SRLCam (. Abb. 20.3) von
of-Flight (TOF)-Sensor (vgl. ▶ Kap. 19) erzeugt wird. Continental, in der ein Nahbereichslidar (engl.
Beide Kameras unterscheiden sich beim Sensor und Short Range Lidar – SRL) mit einer Multifunktions-
der Nahinfrarotbeleuchtungseinheit. TOF-Kameras kamera kombiniert wird. Dadurch wird sowohl ein
haben eine geringere Auflösung, bieten aber ande- kompakter und preisgünstiger Sensor geschaffen als
rerseits prinzipbedingt den Vorteil einer dritten auch die Sicherheit der Notbremsfunktion erhöht,
Dimension, die eine Objekt- und Bewegungser- da mit einer Sensorfusion gearbeitet wird (siehe
kennung vereinfacht. . Abbildung 20.1b) zeigt den auch ▶ Kap. 24). Ein weiteres Beispiel ist die Kombi-
Bildöffnungswinkel einer Kamera im Fahrzeugin- nation eines Radar- und Kamerasystems (RACam)
nenraum zur Handgestenerkennung. der Firma Delphi [2].

20.1.2.1 Frontview-Kameras
Frontview-Kameras werden meist hinter der Wind-
schutzscheibe des Automobils in Höhe des Rück-
350 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 .. Abb. 20.2  Umfelderfassung durch verschiedene Sensorsysteme (Quelle: Continental)

12 spiegels (oder auch im Rückspiegel [3]) integriert:


Diese Position hat den großen Vorteil des weiten
Blickfelds und des Schutzes durch die Windschutz-
13 scheibe. Des Weiteren wird der Bereich der Kamera
von den Scheibenwischern überstrichen und somit
14 eine weitgehend störungsfreie Sicht gewährleistet.
Eine Ausnahme bilden Kamerasysteme, die eine
15 Detektion im fernen Infrarotbereich ermöglichen.
Diese Systeme werden aufgrund der geringen Schei-
bentransmission in diesem Spektralbereich im
16 Scheinwerfer oder Kühlerbereich verbaut [4].

17 Kameras im sichtbaren Spektralbereich


Der überwiegende Teil der derzeitig eingesetzten
Systeme arbeitet im sichtbaren Spektralbereich,
18 d. h. ähnlich wie das menschliche Auge. Wie bereits
erläutert werden so die Verkehrsmerkmale, die für
19 .. Abb. 20.3  Kombination eines Kamerasystems mit einem
Lidarsensor (Continental SRLCam) (Quelle: Continental) den Menschen relevant sind, auch vom Kamerasys-
tem aufgenommen.
20 Ziel der Funktion des Fernlichtassistenten ist
das automatische Auf- bzw. Abblenden des Fern-
20.1  •  Einsatzgebiete und Beispielanwendungen
351 20

lichts. In weiterentwickelten Systemen sind zudem Autobahnen, ist eine hohe Auflösung des Systems
eine stufenlose Leuchtweitenregelung sowie das notwendig. Bei der Fußgängerdetektion hingegen
gezielte Ausblenden bestimmter Bereiche – z. B. kommt es eher auf ein möglichst großes Blickfeld
mittels segmentierter LED-Scheinwerfer (engl. light an. Für alle Aspekte ist eine hohe Empfindlichkeit
emitting diodes) – möglich. Für die verschiedenen des Kamerasystems äußerst wichtig.
Lichtregulierungsfunktionen werden mit der Ka- Insbesondere bei der Objekterkennung haben
mera der vorausfahrende sowie der entgegenkom- Stereokamerasysteme viele Vorteile: Durch die
mende Verkehr analysiert. Wichtig für die Funktion Generierung einer Tiefenkarte können verschie-
ist die Fähigkeit der Kamera – zumindest die Farbe denste Objekte detektiert und die Entfernung zum
der Rücklichter und der Frontscheinwerfer eines Fahrzeug direkt gemessen werden; außerdem ist
Fahrzeugs – zu unterscheiden: Daher kommen hier so eine Freiraumerkennung möglich, die befahr-
farbsensitive Kamerasysteme zum Einsatz (Details bare Bereiche ausweist. Eine zusätzliche Funktion,
in ▶ Abschn. 20.3.3). Eine weitere Voraussetzung für die mit einer Stereokamera umsetzbar ist, stellt die
diese Funktion ist die Notwendigkeit eines hohen Fahrbahnzustandserkennung dar. Auf diese Weise
Dynamikbereichs des Kamerasystems, da bei der kann sich das Fahrzeug frühzeitig auf Schlaglöcher
Anwendung bei Nacht extreme Unterschiede in etc. einstellen [7].
den Lichtintensitäten auftreten (siehe auch ▶ Ab-
schn. 20.2.1). Kameras im infraroten Spektralbereich
Bei der Verkehrszeichenerkennung werden Ein Nachteil von Kameras, die im sichtbaren Spekt-
relevante Verkehrszeichen (z. B. Geschwindigkeits- ralbereich arbeiten, ist die noch unzureichende Emp-
beschränkungen, Einbahnstraßenkennzeichnung) findlichkeit bei sehr schlechten Lichtverhältnissen.
aufgenommen, ausgewertet und die Information Eine mögliche Alternative bzw. Ergänzung ist der
dem Fahrer zur Verfügung gestellt. Die Verkehrs- Einsatz von Kameras, die im infraroten Spektralbe-
zeichenerkennung erfordert eine hohe Leistungsfä- reich arbeiten (siehe auch ▶ Kap. 44). Hier kommen
higkeit des Kamerasystems [5]. Die Verkehrszeichen derzeit vor allem zwei Ansätze zum Einsatz: Im ers-
müssen mit einer hohen Auflösung (> 15 Pixel/°) ten wird mittels spezieller Scheinwerfer (LED oder
aufgenommen werden, damit die Zeichenerken- Halogen) mit infrarotem Licht die Verkehrsszenerie
nung optimal funktioniert. Da die Verkehrszeichen beleuchtet; das Kamerasystem ist mit Filtern verse-
am Rand der Straße stehen und sich das Automobil hen, so dass das Kamerabild nur für diese Wellen-
dazu mit einer hohen Geschwindigkeit bewegt, ist länge empfindlich ist. Eine weitere Möglichkeit ist
eine kurze (< 30 ms) Belichtungszeit notwendig, um der Einsatz von Spezialkameras, die im fernen Infra-
eine Bewegungsunschärfe zu vermeiden. rotbereich (FIR) empfindlich sind. Mit diesen Kame-
Um die Sicherheit zu erhöhen, werden viele ras kann direkt das Wärmestrahlungsbild von Fuß-
Fahrzeuge mit einer Fahrstreifenerkennung aus- gängern und Tieren erfasst und somit eine gezielte
gestattet (siehe auch ▶ Kap. 49): Wichtig ist hierbei Assistenzfunktion ausgelöst werden. Nachteilig sind
eine sehr hohe Erkennungsrate auch bei Dunkel- allerdings die hohen Kosten, da diese Kamerasysteme
heit und schlechten Straßenverhältnissen. Auch für nicht auf herkömmlichen Bildsensoren basieren [4].
diese Funktion ist es von Vorteil, wenn das Kame-
rasystem Farben unterscheiden kann, da so eine 20.1.2.2 Umfeldkameras
Detektion von verschiedenfarbigen Markierungen Im Vergleich zu den Frontview-Kameras besitzt die
auf einer Straße, z. B. im Baustellenbereich, möglich Klasse der Umfeldkamerasysteme andere Zielset-
ist (siehe auch ▶ Abschn. 20.2.1). zungen: Umfeldkamerasysteme decken oft einen
Für Funktionen, die auf andere Verkehrsteilneh- großen Blickwinkel ab und stellen zudem dem Fah-
mer (z. B. Kraftfahrzeuge, Fußgänger, Radfahrer) rer das aufgenommene Bild zur Verfügung.
reagieren, ist eine robuste Objekterkennung not-
wendig. Hier sind verschiedenste Aspekte für das Rückfahrkameras
Kamerasystem relevant [6]: Für eine große Reich- Das Kameramodul von Rückfahrkameras ist zu-
weite, beispielsweise für die Fahrzeugdetektion auf meist in der Heckklappe in der Höhe des Num-
352 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

.. Abb. 20.4 Schema
1 Bildverarbeitung
einer prinzipiellen Kamera-
architektur (Quelle: Martin
Punke)
2
Optik Bildsensor

3 Bildausgabe

4
mernschilds integriert, der Videostrom wird dann 20.2 Kameras
für Fahrerassistenzsysteme
5 auf einem Monitor im Armaturenbrett dargestellt.
Zum einen werden durch diese Systeme Unfälle
durch das Übersehen von Personen vermieden, zum Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt, ist die
6 anderen unterstützen erweiterte Systeme den Fah- Einsatzbreite von Kamerasystemen in Fahrzeugen
rer beim Parkvorgang durch die Einblendung eines sehr vielfältig. Daher gibt es auch die unterschied-
7 Rückfahrkorridors (siehe ▶ Kap. 45). lichsten Varianten von Kamerasystemen. Im folgen-
den Abschnitt werden einige Aspekte für die Ausle-
Surround View-Kamerasysteme gung näher behandelt.
8 Surround View-Systeme sind mit vier oder mehr Eine prinzipielle Kameraarchitektur ist in
Kameras rund um das Fahrzeug ausgestattet; die . Abb. 20.4 dargestellt. Ein Gegenstand bzw. eine
9 Videoinformationen der Kameras werden zu einer Szene wird durch eine Abbildungsoptik auf den
zentralen Verarbeitungseinheit übertragen und pro- Bildsensor projiziert, die Pixel des Bildsensors wan-
10 zessiert. Kameramodule für diese Systeme werden deln die Photonen in ein elektronisches Ausgangssi-
üblicherweise mit sogenannten Fisheye-Objektiven gnal um, das durch eine Prozessoreinheit verarbeitet
ausgestattet, die ein horizontales Blickfeld von mehr wird. Im Falle einer bildlichen Darstellung für den
11 als 180° erlauben. Aus den Kamerabildern wird eine Benutzer erfolgt dann die Ausgabe auf einem Dis-
360°-Ansicht der Umgebung generiert und dem play.
12 Fahrer als Einparkhilfe auf einem Monitor zur Ver-
fügung gestellt. In Zukunft wird hier nicht nur das
vereinfachte Parken im Fokus stehen, sondern auch 20.2.1 Kriterien für die Auslegung
13 die Nutzung der Kamerabilder zur Objektdetektion
und allgemeinen Umfelderfassung in Ergänzung zur Zur Auslegung eines Kamerasystems ist sowohl die
14 Frontview-Kamera. Betrachtung der einzelnen Teile als auch des Ge-
samtsystems notwendig. Viele Leistungsparameter
Spiegelersatz
15 werden dabei von mehreren Teilen des Systems be-
Der Ersatz von normalen Außenspiegeln durch einflusst.
Kamerasysteme ist ein Ansatz, der in Zukunft Die Optik des Kamerasystems ist äußerst wich-
16 eine größere Rolle spielen dürfte. Dieser Ansatz ist tig für eine gute Gesamtleistung: Sie beeinflusst u. a.
vorteilhaft für den Kraftstoffverbrauch – weniger die mögliche Auflösung, das Blickfeld, die Schär-
17 Luftwiderstand – und eröffnet ganz neue Desig- fentiefe, die Farbwiedergabe und auch die Empfind-
nmöglichkeiten. Ähnlich wie bei den Surround lichkeit des Systems. Da ein optisches System nie
View-Systemen ist auch hier eine hochdynami- perfekt abbildet (siehe ▶ Abschn. 20.3.2), müssen
18 sche und farbtreue Wiedergabe des Kamerabildes mögliche Fehler, wie z. B. eine Verzeichnung, kor-
auf innenliegenden Displays notwendig. Diese rigiert werden.
19 Einsatzmöglichkeit von Kamerasystemen wird im Die optische Abbildung wird durch den Bild­
internationalen Standard ISO/DIS16505 behandelt sensor in digitale Werte umgewandelt. Daher ist
20 [8]. die Auslegung und Anpassung der Optik zum Bild­
sensor entscheidend für die Bildqualität: Der Sen-
20.2  •  Kameras für Fahrerassistenzsysteme
353 20

Horizont dungen sind Werte von mehr als 40° sinnvoll (vgl.
VFOV . Abb. 20.5 a).
Ein weiterer Aspekt bei der Wahl des Blickfelds
ist der Einfluss von Bewegungsunschärfe im Bild.
a Bei großen Feldwinkeln ändert sich die Position
des Objekts im Bild während der Belichtungszeit
stark, was sich in einer unscharfen Abbildung in den
Randbereichen bei längeren Belichtungszeiten aus-
drückt. Somit wird der maximal nutzbare Öffnungs-
winkel auch durch diesen Effekt eingeschränkt.
HFOV Das vertikale Blickfeld wird vor allem durch
die Einbauhöhe und die minimale Detektionsent-
fernung im Nahbereich bestimmt: In einer beispiel-
haften Rechnung für einen Pkw ergibt sich so ein
Winkel α von 18° unterhalb des Horizonts bei einer
Höhe h von 1,3 m und einer Entfernung d von 4 m
100

b (vgl. . Abb. 20.5 b).


.. Abb. 20.5 Vertikales a und horizontales b Blickfeld einer
Frontview-Kamera (Quelle: Martin Punke) ˛ D tan1 .h=d /:

sor beeinflusst vor allem die Auflösung – über die In Surround View-Systemen kommen fast aus-
Pixelanzahl – das Blickfeld – über die Anzahl und schließlich Kameramodule mit einem horizonta-
Anordnung der Pixel – den Dynamikumfang, die len Blickfeld von > 180° zum Einsatz. Dies ist be-
Farbwiedergabe und ganz entscheidend die Emp- dingt durch die erwünschte 360°-Darstellung des
findlichkeit (siehe ▶ Abschn. 20.3.3). Fahrzeugumfelds. Um aus den Einzelbildern ein
Im nächsten Schritt der Verarbeitungskette wird Gesamtbild zu berechnen, ist eine Überlappung
die Bildqualität durch die Bildverarbeitung im Pro- zwischen den Blickfeldern der Kameras notwen-
zessor geprägt. Außerdem hängt die Performance dig.
der Bildverarbeitung des maschinellen Sehens ganz Im Bereich der Fahrerüberwachung ist die Ab-
entscheidend von der Leistung der Verarbeitungs- bildung des Kopfes wichtig: Unter Berücksichtigung
einheit ab. von unterschiedlichen anatomischen Vorgaben und
Einbausituationen ergibt sich ein Blickfeld von ca.
20.2.1.1 Blickfeld 40°–50°. Für eine Gestenerkennung, beispielsweise
Das Blickfeld eines Kamerasystems (engl. Field of über ein Kameramodul in der Dachfunktionsein-
View – FOV) spielt eine wichtige Rolle für die An- heit, werden meist größere (> 50°) Blickfelder ge-
wendung und wird im Wesentlichen durch die Op- wählt, um dem Fahrer mehr Freiheit bei der Ges-
tik und den Bildsensor definiert. Man unterscheidet tenbedienung zu ermöglichen.
dabei das Blickfeld in horizontaler und vertikaler
Richtung (HFOV, VFOV). 20.2.1.2 Auflösung
Bei Frontview-Kamerasystemen spielt meist Die mögliche Auflösung eines Kamerasystems ist
das horizontale Blickfeld die größere Rolle. Die ein komplexes Zusammenspiel aus der Auflösung
verschiedenen Assistenzfunktionen benötigen al- der Optik und des Bildsensors sowie der Bildver-
lerdings unterschiedlich breite horizontale Blick- arbeitung. Für die Auslegung eines Kamerasystems
felder: Relativ große HFOV-Werte werden von der ist eine rein theoretische Betrachtung als erster
Fahrstreifenerkennung – bei engen Kurvenradien Schritt nötig: Dabei wird das aufzulösende Objekt
– und der Objektdetektion benötigt – z. B. zur De- betrachtet (z. B. ein Fahrzeug in 100 m Entfernung),
tektion von einscherenden Fahrzeugen oder auf die die notwendige Auflösung für die Bildverarbeitung
Fahrbahn laufenden Fußgängern. Für diese Anwen- (z. B. 10 Pixel pro Fahrzeugbreite) und dann über
354 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

1
2
3
4 .. Abb. 20.6  Effekt einer abnehmenden Auflösung am Beispiel eines Verkehrszeichens (480 × 650/72 × 96/36 × 48/24 × 32/18 × 24/
12 × 16) (Quelle: Boris Werthessen)

5
Auflösung ist neben den geometrischen Anforde-
rungen die zur Verfügung stehende Rechenleistung
6 zur Bildverarbeitung.

7 20.2.1.3 Farbempfindlichkeit
Betrachtet man die im ADAS-Bereich (engl. Advan-
ced Driver Assistance Systems) überwiegend einge-
8 setzten CMOS-Bildsensoren werden vor allem der
sichtbare (engl. visible – VIS) und der nahe Infrarot
9 (engl. near infrared – NIR)-Spektralbereich genutzt.
Eine Trennung in verschiedene Farbkanäle erfolgt
10 über entsprechende Farbfilter auf dem Bildsensor
(siehe ▶ Abschn. 20.3.3).
Wie in ▶ Abschn. 20.1 Beispielanwendungen
11 beschrieben, ist die Farbwiedergabe von großem
Vorteil bei Anwendungen im Bereich der Frontview-
12 und Umfeldkameras. Während es im Bereich Um-
feldkameras auf die möglichst realitätsnahe Darstel-
lung des Kamerabildes auf einem Monitor ankommt,
13 .. Abb. 20.7  Bedeutung der Farbtrennung für die Erkennung ist es bei den Frontview-Anwendungen nützlich,
von Farbbahnmarkierungen (Quelle: Continental) einzelne Farbkanäle unterscheiden zu können.
14 Ein Beispiel zur Bedeutung der Farbtrennung ist
die geometrischen Beziehungen eine notwendige in . Abb. 20.7 dargestellt: Während ein Kamerasys-
15 Auflösung in Pixel pro Grad definiert. Übliche tem mit Farbinformationen (a) eindeutig zwischen
Werte liegen bei > 15 Pixeln pro Grad, um die As- gelben und weißen Fahrbahnmarkierungen unter-
sistenzfunktionen im Bereich Umfelderfassung ab- scheiden kann, ist dies im monochromen Bild (b)
16 zubilden. Insbesondere die Verkehrszeichenerken- nicht mehr möglich.
nung stellt hohe Anforderungen an die Auflösung,
17 um z. B. auch Zusatzzeichen erkennen zu können. 20.2.1.4 Dynamikumfang
In . Abb. 20.6 ist der Effekt einer unterschiedlichen Der Dynamikumfang (engl. dynamic range – DR) ei-
Auflösung dargestellt: Während Form und Warn- nes Kamerasystems beschreibt die Fähigkeit, sowohl
18 symbol aus den rechten Bildern noch zu extrahieren dunkle als auch helle Bereiche im Bild wiederzuge-
sind, wird dies mit Piktogramm und Schrift im Zu- ben. Begrenzt wird die Dynamik in dunklen Bild-
19 satzzeichen nicht mehr gelingen. Im Bereich Fahrer- bereichen von der Rauschgrenze des Bildsensors, in
überwachung können z. T. höhere Auflösungen not- hellen Bildbereichen von der Sättigungsgrenze des
20 wendig sein, um z. B. ein Eyetracking zu realisieren. Bildsensors. Neben dem Bildsensor definiert auch
Ein wichtiger Aspekt bei der Wahl der optimalen die Dynamik der Kameraoptik und des optischen
20.3 • Kameramodul
355 20
.. Abb. 20.8 Darstellung
einer Verkehrsszene mit
hohem Dynamikumfang
(Quelle: Continental)

Pfades das Gesamtsystem. Die Dynamik der Optik


wird z. B. durch Streulicht negativ beeinflusst, zu-
sätzlich können insbesondere bei starkem Gegen-
licht Effekte wie Geisterbilder und Blendenflecken
auftreten, die die Bildaufnahmequalität verringern.
Im optischen Pfad können Elemente – wie z. B. die
Windschutzscheibe – den Gesamtdynamikumfang
des Systems begrenzen.
Verkehrssituationen im Bereich Fahrerassis-
tenzsysteme sind durch große Helligkeitsunter-
schiede gekennzeichnet: Beispiele sind Szenen
mit tiefstehender Sonne (siehe . Abb. 20.8), Ein-/
Ausfahrten von Tunneln und Parkhäusern sowie
entgegenkommende Fahrzeuge bei Nacht. So kann
.. Abb. 20.9  Schematischer Aufbau eines Kameramoduls
eine Fahrbahnmarkierung bei Nacht eine Leucht- (Quelle: Martin Punke)
dichte L von < 10  cd/m² aufweisen, während die
Scheinwerfer eines Fahrzeugs in der gleichen Szene
eine Leuchtdichte von bis zu 100.000 cd/m² haben bination aus Objektiv, Bildsensor, Elektronik und
[9]. Aufgrund dieser Problematik ist ein möglichst Aufbautechnik bezeichnet. Es ist natürlich auch
hoher Dynamikumfang des Kamerasystems not- möglich, innerhalb des Kameramodulaufbaus
wendig. Bei entsprechender Auslegung (siehe auch noch weitere Komponenten unterzubringen, wie
▶ Abschn. 20.3.3) können Systeme mehr als 120 dB beispielsweise Bildverarbeitungsprozessoren.
Dynamik innerhalb eines Bildes erzielen. Der Dy-
namikbereich ist dabei folgendermaßen definiert:
  20.3.1 Aufbau eines Kameramoduls
LMAX
DR.dB/ D 20  log10 :
LMIN Die wichtigsten Bestandteile des Kameramoduls
sind die Optik und der Bildsensor, die durch einen
entsprechenden mechanischen Aufbau verbunden
20.3 Kameramodul sind. Zusätzlich sind elektronische Komponenten
und eine Verbindung zum Bildverarbeitungsprozes-
Kameramodule können sehr unterschiedlich aus- sor notwendig. Wie in . Abb. 20.9 gezeigt, werden
geführt sein; als Kameramodul wird hier die Kom- die Einzelteile mittels variabler Aufbau- und Verbin-
356 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

dungstechnik (AVT) zu einem kompakten Modul Als Träger für den Bildsensor und andere Elek-
1 zusammengefügt. tronikkomponenten kommen Leiterplatten aus or-
Die Optik besteht dabei aus verschiedenen Lin- ganischem Material, flexible Leiterkarten oder auch
2 sen, die in einem Objektiv verbaut sind. Teil des Keramikträger in Frage. Auf den Träger werden
optischen Systems ist oft ein Infrarotfilter (engl. in- Bildsensoren in gehäuster oder ungehäuster Form
frared cut-off filter – IRCF), der nur die sichtbaren montiert.
3 Anteile des Lichtspektrums passieren lässt. Den un- Die Ausrichtung der Optik zum Bildsensor
teren Teil des Kameramoduls bilden der Bildsensor, bzw. der mechanischen Konstruktion des Kame-
4 die Leiterplatte und die elektronischen Bauteile. ramoduls kann über eine Vielzahl von Mechanis-
Für das grundlegende Design eines Moduls sind men erfolgen. Verbreitet sind Ansätze, die mittels
5 natürlich die Auslegungsparameter wie Auflösung einer aktiven Mehrachsen-Justage die Optik opti-
und Dynamikbereich entscheidend. Für ein robus- mal zum Bildsensor ausrichten und dann mit einer
tes Design sind insbesondere die Umwelteinflüsse Klebeverbindung fixieren. Von Vorteil ist hier die
6 während der Lebensdauer wie Temperaturwechsel exakte Justage; als Alternative kommt eine Justage
und Luftfeuchtigkeit zu beachten. Die unterschied- nur in Richtung der optischen Achse in Frage, die
7 lichen Anwendungen führen zu verschiedenen An- mittels eines Schraubgewindes einfach realisierbar
forderungen an das Moduldesign, da eine Kamera ist. Jedoch wird bei dieser Methode eine mögliche
im Bereich Surround View direkten Kontakt mit Verkippung der optischen Achse zum Bildsensor
8 der äußeren Umgebung hat, während Module für nicht korrigiert.
Frontview und Innenraumüberwachung nur im
9 Fahrgastraum eingesetzt werden.
20.3.2 Optik
20.3.1.1 Elektronik
10
Bildsensoren verfügen über eine Vielzahl von analo- Die Optik für Kameramodule besteht im Allge-
gen sowie digitalen Ein- und Ausgängen. Die wich- meinen aus einem an die Anwendung angepassten
11 tigsten sind die Spannungsversorgung für die analo- Objektiv, Filterelementen und dem Objektivge-
gen und digitalen Teile des Bildsensors, das externe häuse. Das Objektivdesign im Fahrassistenzsektor
12 Zeitgebersignal (Takt), digitale Steuerungsein- und unterliegt neben den eigentlichen Objektivanforde-
-ausgänge, die Schnittstellen für die Konfiguration rungen hauptsächlich den beiden Kriterien Kosten
und die Bilddatenübertragung zur Recheneinheit. und Robustheit, was sich sowohl in der Wahl der
13 Die Übertragung von Einstellungen (z. B. Inte- Materialien für Linsen und Gehäuse als auch in Art
grationszeit) erfolgt über ein Konfigurationsbus- und Anzahl der Einzellinsen äußert. So muss die
14 system mit einer geringen Bandbreite. Über eine Konstruktion sicherstellen, dass die Abbildungsei-
parallele oder serielle Schnittstelle kann die Über- genschaften wie Bildschärfe über den Temperatur-
15 tragung der Bilddaten erfolgen. Da die Datenraten bereich möglichst konstant bleiben.
mit größerer Pixelanzahl und höherer Bildwieder-
holrate stark zunehmen, wird verstärkt auf schnelle 20.3.2.1 Herstellung und Aufbau
16 serielle Schnittstellen, wie z. B. dem Camera Serial Als optische Materialien für Kameraobjektive wer-
Interface (CSI) [10], zurückgegriffen. den bevorzugt Flint- und Krongläser verwendet;
17 auch Kunststofflinsen werden eingesetzt, allerdings
20.3.1.2 Aufbau- nicht für die Gesamtheit der Linsen im Objektiv.
und Verbindungstechnik Grund hierfür ist die höhere Temperaturabhängig-
18 Um die Anforderungen an die Einhaltung der op- keit der Materialeigenschaften der Kunststoffe.
tischen Parameter über die Lebenszeit des Kamera- Glaslinsen mit sphärischen Oberflächen werden
19 moduls zu gewährleisten, ist die Wahl der geeigne- üblicherweise durch Schleifmethoden hergestellt.
ten Aufbau- und Verbindungstechnik sehr wichtig: Mittels alternativer Verfahren wie dem Linsenpres-
20 Zum einen ist hier die Verbindung des Bildsensors sen können auch Glasasphären realisiert werden.
zur Leiterplatte von Bedeutung, zum anderen die Kunststofflinsen werden durch Spritzgießen in sphä-
Ausrichtung der Optik zum Bildsensor. rischen und asphärischen Formen hergestellt [11].
20.3 • Kameramodul
357 20

Ein Kameraobjektiv für Fahrerassistenzsysteme weit entferntes Abblendlicht bei Nacht, wird nicht
besteht im Allgemeinen aus einem Metall- oder als Punkt, sondern als Intensitätsverteilung (engl.
Kunststoffgehäuse, das gegen eindringende Feuch- point spread function – PSF) über einige Mikrome-
tigkeit versiegelt ist. Das Gehäuse besteht üblicher- ter abgebildet [12]. Ein weiterer Einfluss ist durch
weise aus schwarzem Material oder ist schwarz die Aufteilung des Bildes in Pixel gegeben, die die
beschichtet, um Streulichteinflüsse zu minimieren. PSF bzw. das Gesamtbild diskretisieren (Sampling).
Des Weiteren kommt ein Filter zur Unterdrückung Typischerweise achtet man daher bei einem Kame-
von UV- und Infrarot-Strahlung für Kameras im radesign darauf, dass die oben erwähnte Intensitäts-
sichtbaren Spektralbereich zum Einsatz. Kameras verteilung ungefähr die Fläche eines Pixels abdeckt.
für die Nutzung im Nahinfraroten sind oft mit ei- Eine Abbildung durch ein Objektiv hat immer
nem Bandpassfilter ausgestattet, der nur die Strah- einen bestimmten Bereich entlang der optischen
lung der aktiven NIR-Beleuchtung passieren lässt. Achse, in dem die Bildschärfe den Anforderungen
Alle optischen Oberflächen sind mit Antireflexi- der Funktion entspricht. Diese sogenannte Schär-
onsbeschichtungen versehen, um störende Bildar- fentiefe ist entsprechend der geringen F-Zahl im-
tefakte zu verhindern. mer eingeschränkt. Durch eine Justage nahe dem
Hyperfokalabstand bei der Modulherstellung erzielt
20.3.2.2 Merkmale man dennoch scharfe Abbildungen im gewünsch-
Die Auslegung der Optik wird durch die Anwen- ten Bereich. Allerdings ist darauf zu achten, dass
dung bestimmt, wobei insbesondere die Merkmale ein ausreichend großer bildseitiger Schärfebereich
wie Blickfeld, Lichtempfindlichkeit, Verzeichnung vorhanden ist, um Temperatureinflüsse auf den Fo-
und Schärfe eine Rolle spielen. Das Blickfeld der kuspunkt zu kompensieren.
Optik ist durch die effektive Brennweite vorgegeben. Die Merkmale eines Objektivs werden durch
Im automobilen Umfeld kommen nur Objektive mit Abbildungsfehler negativ beeinflusst: So führen
festen Brennweiten zum Einsatz. sphärische und chromatische Aberrationen, Koma,
Astigmatismus und Bildfeldwölbung zu geringerer
Optiken für Frontview-Kameras Bildschärfe, da sie kombiniert die PSF vergrößern
Meist ist eine hohe Lichtempfindlichkeit des Kame- [13]. Chromatische Aberrationen wie ein Farbquer-
rasystems notwendig, daher werden Objektive mit fehler beeinflussen die Farbwiedergabe. Die Abbil-
einer kleinen F-Zahl – d. h. großer Blendenöffnung dungsfehler in der Optik können durch ein opti-
– eingesetzt, um schlechten Beleuchtungsbedingun- miertes Design und den Einsatz von asphärischen
gen gerecht zu werden und kurze Belichtungszeiten Linsenelementen minimiert werden [12]. Zusätzlich
zu erzielen. F-Zahlen kleiner 2 sind typisch. Um zu den Abbildungsfehlern können Reflexionen und
eine hohe Lichtempfindlichkeit des Objektivs bei Streuung an optischen und mechanischen Ober-
gleichzeitig guter Abbildungsqualität zu erzielen, flächen in der Optik Streulicht oder Geisterbilder
sind allerdings aufwendigere Objektivkonstruktio- hervorrufen [14].
nen (z. B. mit mehr Linsen) notwendig. Bildverzeichnungen im Bereich von einigen
Die Schärfe eines Objektivs wird über die Mo- Prozent können toleriert werden, da diese nicht re-
dulationstransferfunktion (MTF) beschrieben. Die levant oder einfach per Software korrigiert werden
MTF beschreibt die Kontrastwiedergabe bei ver- können und daher eine verzeichnungsfreie (und
schiedenen Ortsfrequenzen im Bild. Generell gilt, teure) Optik nicht nötig ist. Bildverzeichnungen
dass die Detektion von Objekten gewährleistet sein müssen allerdings bei der Anwendung in einer Ste-
muss, ohne einen zu hohen Überschuss an Schärfe reokamera sorgfältig kompensiert werden (siehe
bereitzustellen, da dieser mit zusätzlichen Linse- ▶ Abschn. 20.5).
nelementen und damit Kosten verbunden ist. Die
Abbildung der Umgebung wird im Ausgabebild auf- Optiken für Surround View-Kameras
grund verschiedener Einflüsse nicht perfekt wieder- In diesem Bereich wird typischerweise ein sehr
gegeben: Zum einen beschränken Abbildungsfehler großes Blickfeld benötigt. Damit einhergehend tritt
der Linsen im Objektiv die mögliche Bildschärfe, insbesondere zum Bildrand eine größere Bildver-
d. h. selbst eine ideale Punktlichtquelle, wie z. B. ein zeichnung auf, die korrigiert werden muss. Diese
358 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

Korrektur ist wichtig, weil üblicherweise zwei oder Da die Bildinformation dem Sensor bereits di-
1 mehrere Kameras zusammenarbeiten, um eine gital zur Verfügung steht, kann diese sowohl extern
Rundumsicht zu generieren: Für diese Rundum- als auch intern verwendet werden, um zum Beispiel
2 sicht müssen Korrespondenzen in den einzelnen ein Histogramm der aufgenommenen Szene zu er-
Kamerabildern gefunden werden, um sie richtig stellen, eine automatische Belichtungssteuerung zu
zusammenzufügen. Auch der Helligkeitsabfall zum realisieren, hochdynamische Aufnahmen zu gene-
3 Bildrand hin (Vignettierung) muss beachtet und rieren oder die Funktionssicherheit zu garantieren.
kompensiert werden. Typischerweise ist die erste Eine gute Basis zur Charakterisierung eines
4 Linse im Objektiv direkten Umwelteinflüssen ausge- Bildsensors bieten Standards wie EMVA 1288 und
setzt und muss entsprechend robust ausgelegt sein. ISO-Standards (12232, 12233, 14524, 15739, 16067).
5 Optiken für Innenraumkameras 20.3.3.1 Empfindlichkeit und Rauschen
Optische Parameter für Kameras zur Fahrerbeob- Die Empfindlichkeit des Bildsensors wird im We-
6 achtung sind dafür ausgelegt, den Kopf des Fahrers sentlichen von seinem Rauschverhalten beeinflusst.
mit einem Abstand von ca. 40 cm bis 100 cm zur Daher ist ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl
7 Kamera abzubilden. Da mit einer aktiven Beleuch- eines Sensors dessen Rauschverhalten über den ge-
tung gearbeitet wird und eine hohe Schärfentiefe im forderten Temperaturbereich.
Nahbereich notwendig ist, werden typischerweise Das Rauschen eines Bildsensors setzt sich aus
8 Objektive mit einer F-Zahl größer 2 genutzt. dem temporären, signalbasierten und räumlichen
Rauschen (engl. temporal, photon shot und spatial
9 noise) zusammen [17, 18, 19].
20.3.3 Bildsensor Bei sehr geringen Signalhöhen dominiert tem-
10 poräres Rauschen, das sich u. a. aus Reset-, ther-
Es gibt zwei grundsätzliche Ansätze digitaler Bild­ mischem Rauschen und Quantisierungsrauschen
sensoren – CCD (engl. Charge Coupled Device) und zusammensetzt.
11 CMOS (engl. Complimentary Metal-Oxid Semicon- Reset-Rauschen beschreibt Unterschiede in der
ductor). CCD-Sensoren, die bis Ende des letzten Menge der Ladungen beim Start der Integration
12 Jahrhunderts über große Vorteile in ihrem Rausch- und kann mittels Correlated Double Sampling (CDS)
verhalten gegenüber CMOS-Sensoren verfügten, kompensiert werden. Hierbei wird zusätzlich der
kommen im Fahrerassistenzbereich heute kaum Reset-Level beim Beginn der Integration gemessen
13 noch zum Einsatz. Die Vorteile der CMOS-Senso- und vom tatsächlich generierten Signal subtrahiert.
ren überwiegen heute und Nachteile beim Rausch- Dunkelstromrauschen wird durch Ladungen,
14 verhalten wurden kompensiert [15, 16]. die durch Wärmeenergie entstehen, erzeugt. Mit
APS (engl. Active Pixel Sensor) sind in steigender Temperatur steigt diese Rauschkompo-
15 CMOS-Technik aufgebaut, die Begriffe APS und nente nicht-linear an.
CMOS-Sensor werden hier gleichbedeutend verwen- Bei mittleren und hohen Signalpegeln domi-
det. Im Folgenden werden die Merkmale Empfind- niert Photon Shot Noise, das die statistische Vertei-
16 lichkeit, Auflösung, Erhöhung des Dynamikumfangs lung der Anzahl einfallender Photonen beschreibt:
sowie die Reproduktion von Farbe mittels Farbfiltern Photon Shot Noise berechnet sich aus der Wurzel des
17 und Verschlusskonzepte von APS erläutert. generierten Signals und bestimmt damit auch das
Während bei CCD-Sensoren und PPS (engl. maximale Signal-zu-Rausch-Verhältnis (engl. signal
Passive Pixel Sensor) Ladungen für die Wandlung to noise ratio – SNR). Es entsteht bereits außerhalb
18 in eine Spannung zu einem gemeinsamen Knoten des Sensors und kann daher nicht korrigiert werden.
geführt werden müssen, haben APS aktive Pixel Quantisierungsrauschen entsteht durch die Un-
19 im Sinne der pixelindividuellen Ladungswandlung genauigkeit bei der Wandlung des elektrischen Sig-
in eine Spannung sowie integrierte Analog-Digi- nals in ein diskretes digitales Signal und kann durch
20 tal-Wandler, welche die Spannung in ein digitales eine höhere Bittiefe des Analog-Digital-Wandlers
Signal umsetzt. reduziert werden.
20.3 • Kameramodul
359 20

Räumliches Rauschen (engl. spatial noise) be- helligkeiten vorteilhaft, um zum Beispiel eine dunkel
schreibt relativ statische Unterschiede im Offset bekleidete Person auch nachts zu detektieren. Dies
und in der Verstärkung einzelner Pixel (engl. fixed wird durch eine A/D-Wandlung des Signals mit ei-
pattern noise – FPN), die durch Variationen in der ner Bittiefe von 8–10 bit bei einfacheren und 12 bit
Strom-Spannungswandlung der aktiven Pixel ent- und mehr bei höherwertigen Systemen erreicht.
stehen bzw. als Spalten-FPN in der Verstärker- und HDR-Sensoren (engl. High Dynamic Range) arbeiten
A/D-Wandlerschaltungen der jeweiligen Spalten. intern oftmals mit weit höheren Bittiefen, die dann
Ebenso wie beim Dunkelstromrauschen besteht hier zur vereinfachten Übertragung auf eine Bittiefe von
eine nicht-lineare Abhängigkeit zur Temperatur des typischerweise 10–14 bit komprimiert werden.
Sensors [18, 19, 20].
Zeitliche Auflösung  Die Bildwiederholrate be-
20.3.3.2 Auflösung zeichnet das Zeitintervall zwischen zwei Aufnah-
Die Güte eines digitalen Videos ergibt sich neben men. Eine niedrige Bildwiederholrate birgt die
der räumlichen Auflösung aus der Kontrastauflö- Gefahr, dass auf Ereignisse nicht oder zu spät re-
sung und der zeitlichen Auflösung. Diese beschrei- agiert werden kann, und erschwert das Tracking von
ben die Anzahl der Pixel, auf die ein Objekt abge- Objekten. Eine hohe Bildwiederholrate erhöht die
bildet wird, die Anzahl der Grauwerte, in die eine Anforderungen an die Schnittstelle und die weitere
Szene aufgelöst werden kann, und den zeitlichen Bildverarbeitung. Typische Werte liegen bei etwa
Abstand zweier Bilder [19]. 30 Bildern pro Sekunde.

Räumliche Auflösung  Soll eine Struktur mittels 20.3.3.3 Dynamikumfang


eines Bildsensors rekonstruiert werden, muss diese Die nutzbare Dynamik eines Bildsensors ist durch
auf mehreren Pixeln abgebildet werden. Die nötige die Spanne an Lichtintensitäten definiert, die digital
Anzahl der Pixel je Winkelbereich bestimmt sich aufgelöst werden kann, also von der eindeutigen Un-
daher aus der Anforderung an die aufzulösende terscheidung von Signal und Rauschen bis zur Sätti-
Struktur, die benötigte Gesamtzahl der Pixel be- gung. In der realen Welt sind Situationen mit Dyna-
stimmt sich aus dem FOV und der gewünschten mikumfängen von etwa 120 dB, entsprechend einem
Auflösung in Pixeln pro Winkelbereich (vgl. ▶ Ab- Kontrastverhältnis von 1 : 1.000.000 zu erwarten [21].
schn. 20.2.1). Lineare Sensoren weisen eine Dynamik von
Um eine hohe Anzahl an Pixeln auf einem etwa 60–70 dB auf, können also häufig nicht den
Bildsensor zu realisieren, kann entweder die Sili- gesamten Dynamikbereich der Szene darstellen.
ziumfläche vergrößert werden, bei Beibehaltung Hochdynamische HDR-Sensoren erreichen Dyna-
des Pixelpitches (Abstand zwischen den Pixelmit- mikumfänge von etwa 120 dB.
telpunkten), oder der Pixelpitch verringert werden, Im Folgenden werden zwei zeitbasierte (Late-
bei Beibehaltung der Siliziumfläche. Aus Kosten- ral Overflow und Multi Exposure) und ein räum-
gründen wird zumeist der letztere Weg gewählt. Aus liches (Split Pixel) HDR-Konzept vorgestellt. Bei
Sicht des Signal-zu-Rausch-Verhältnisses ist eine zeitbasierten Verfahren erfolgen mehrere Teilinte-
Beibehaltung des Pixelpitches vorzuziehen, da bei grationen oder mehrere Einzelintegrationen nach-
kleiner werdenden Pixeln der Füllfaktor abnimmt einander, während räumliche Verfahren mehrere
und temporäres Rauschen zwar mit abnehmendem räumlich getrennte Sub-Pixel zeitgleich integrieren
Pixelvolumen ebenfalls geringer wird, allerdings [18, 19, 21].
nicht proportional zu diesem abnimmt [19, 20].
Die Nachteile kleiner werdender Pixel müssen also Lateral Overflow  Hier wird mittels Teilresets nur
durch neue Pixeldesigns und verbesserte Herstell- ein gewisser Pegel an Ladung im Pixel zugelassen
prozesse kompensiert werden. (Teilsättigung), der im Laufe der Integrationszeit
stufenweise in mehreren Schritten angehoben
Kontrastauflösung  Zur Erkennung von Objekten wird, wobei die zeitliche Differenz zum erneuten
ist eine möglichst hohe Differenzierung von Objekt- Anheben des Pegels immer geringer wird [21]. Bei
360 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

bewegten Objekten ergeben sich durch die mehr-


1 malige Teilintegration und Überlagerung zu einem
Gesamtbild Bewegungsartefakte, wenn Teilsättigun-
2 gen erreicht werden.
Als Vorteil des Verfahrens gilt, dass die hochdy-
namische Information direkt zur Verfügung steht
3 und damit keine Information zwischengespeichert
werden muss, was das Verfahren sehr gut für Glo-
4 bal Shutter-Sensoren anwendbar macht (siehe ▶ Ab-
schn. 20.3.3 Elektronischer Verschluss).
5
Multi Exposure  Bei diesem Konzept werden nach- .. Abb. 20.10  Schema eines CMOS-Bildsensors mit
einander mehrere Einzelintegrationen mit unter- RGB-Farbfiltern (Quelle: Martin Punke)
6 schiedlicher Empfindlichkeit (beeinflusst durch In-
tegrationszeit und Verstärkung) durchgeführt und 20.3.3.4 Farbwiedergabe
7 diese Informationen miteinander verrechnet. Bei Ein fotoempfindliches Element kann lediglich die
bewegten Objekten ergeben sich auch hier durch Information liefern, dass Elektronen durch auftref-
die mehrmalige Integration Bewegungsartefakte, da fendes Licht erzeugt wurden, ohne eine Information
8 diese sich während der einzelnen Integrationen an über die Wellenlänge des eintreffenden Lichtes lie-
verschiedenen Positionen im Bild befinden. Wichtig fern zu können. Die meisten digitalen Bildsensoren
9 bei diesem Verfahren ist daher eine geringe Zeit- sind also im Prinzip monochrome Sensoren und
differenz zwischen zwei Einzelintegrationen und können nur Grauwerte liefern.
10 eine auf die Anwendung passende Verrechnung zu Um einem Pixel eine Farbinformation zuordnen
einem HDR-Bild [22]. zu können, müssen daher verschiedene Farbfilter
Vorteile hat das Multi Exposure-Verfahren bei (engl. Color Filter Array – CFA) in den optischen
11 der SNR-Performance, da CDS und andere Korrek- Pfad eingefügt werden, so dass ein einzelnes Pixel
turmaßnahmen für jede Einzelintegration erneut nur für den roten (R), grünen (G) oder blauen (B)
12 durchgeführt werden können. Wellenlängenbereich empfindlich ist. Um jedem
Pixel eine RGB-Farbinformation zu geben, erfolgt
Split Pixel  Beim Split Pixel-Konzept (geteiltes Pixel) eine Interpolation mit umliegenden Pixeln mit
13 wird ein Pixel in zwei oder mehrere Sub-Pixel unter- unterschiedlichen Farbfiltern. Durch die Farbfilter
teilt. Diese erreichen unterschiedliche Empfindlich- wird allerdings auch ein großer Teil der einfallenden
14 keiten durch verschieden große fotoempfindliche Lichtleistung absorbiert, was zu einer niedrigeren
Flächen (typische Verhältnisse etwa 1 : 4 bis 1 : 8), effektiven Empfindlichkeit führt. Je nachdem, ob
15 verschiedene Verstärkungsstufen oder unterschied- also Empfindlichkeit, Schärfe oder Farbtreue im
liche Integrationszeiten der Sub-Pixel. Fokus der Entwicklung stehen, empfehlen sich ver-
Großer Vorteil dieses Konzepts ist die zeitlich schiedene Ansätze.
16 parallele Aufnahme der Information in verschiede- Das Bayer-CFA (RGGB) ist ein klassisches Farb-
nen Dynamikbereichen, was zu geringeren Bewe- kamerakonzept mit ausgereiften Ansätzen zur
17 gungsartefakten führt, als dies bei Lateral Overflow- Farbrekonstruktion bei minimaler Reduktion der
bzw. Multi Exposure-Verfahren der Fall ist. Schärfe durch Interpolation der Farbe [24]. Ein
Nachteilig ist, dass die Dynamik hier aus le- Bayer-CFA besteht aus zwei diagonal gegenüberlie-
18 diglich zwei Einzelintegrationen erzeugt wird, was genden Grün-Filtern und jeweils einem Rot- und
wahlweise eine geringere Gesamtdynamik oder eine Blau-Filter (siehe . Abb. 20.10). Im Bereich Front-
19 starke Komprimierung der Dynamik ergibt [22, 23]. view findet auch das Rot-Monochrome-CFA (RCCC)
Weiterhin ergibt sich ein etwas schlechterer Füllfak- Anwendung. Drei Pixel ohne Farbfilter (engl. clear
20 tor, da zwei Fotodioden mit Schaltung im Pixelpitch – C) werden ergänzt durch ein Rot-Pixel. Dies erhält
untergebracht werden müssen. die Empfindlichkeit der Pixel und ergibt ein hoch
20.3 • Kameramodul
361 20

Zeitpunkt 1 Zeitpunkt 2 Zeitpunkt 3 Zeitpunkt 4 Zeitpunkt 5 Gesamtbild

.. Abb. 20.11 Unterschied Electronic Rolling Shutter (ERS) und Global Shutter (GS) am Beispiel eines Quaders mit Bewegungs-
richtung nach rechts. ERS nimmt Bewegung in verschiedenen Zeilen an verschiedenen Zeitpunkten auf, GS alle Zeilen an einem
Zeitpunkt. (Quelle: Boris Werthessen)

aufgelöstes Grauwertbild. Die Reproduktion von Nachteil des Global Shutters ist die Notwen-
Farbe erfolgt aber lediglich im Sinne „Nicht-Rot“. digkeit, die Bildinformation zwischenzuspeichern,
Je weniger Signal das rote Pixel im Vergleich zu den bis sie ausgelesen wird. Hieraus ergibt sich die
Pixeln ohne Farbfilter liefert, als desto blauer wird Notwendigkeit zusätzlicher Transistoren je Pixel
die Farbe angenommen. Ausreichend ist dies in der und analoger Speicherbereiche (engl. Sample and
automobilen Anwendung zur Unterscheidung von Hold). Dies führt zu parasitären Effekten und man
Frontlichtern (Weiß) und Rücklichtern (Rot) [5]. benötigt außerdem zusätzliche Chipfläche. Der da-
raus folgende schlechtere Füllfaktor führt zu einem
20.3.3.5 Elektronischer Verschluss höheren Rauschpegel im Vergleich zum Electronic
Bei digitalen Kameras gibt es üblicherweise kei- Rolling Shutter, bei dem die Information direkt aus-
nen mechanischen Verschluss, der die Integrati- gegeben wird [18].
onszeit bestimmt. Es kommt ein elektronischer Beim Electronic Rolling Shutter (ERS) wird die
„Verschluss“ zum Einsatz, bei dem das Pixel zu Integration jedes Pixels einzeln, im Abstand eines
Beginn der gewünschten Integrationszeit in seine Arbeitstaktes, gestartet und nach der Integrations-
Ausgangslage zurückgesetzt und am Ende der In- zeit auch einzeln wieder gestoppt und direkt ausge-
tegrationszeit das erzeugte Signal ausgelesen wird. lesen [18, 25]. Der Verschluss „rollt“ über die ein-
Verwendet werden heute Global und Rolling Shut- zelnen Pixel hinweg, wodurch zu jedem Takt nur die
ter, die sich im zeitlichen Ablauf unterscheiden Information eines einzelnen Pixels zur Verfügung
[18, 19]. steht, das direkt ausgelesen werden kann. Dadurch
Beim Global Shutter (GS) wird die Aufnahme kann auf die Sample and Hold-Schaltung verzichtet
aller Pixel eines Pixelarrays gleichzeitig gestartet werden, was dem ERS große Vorteile beim SNR ge-
und gestoppt. Vorteil dieser Technologie: Bewegte genüber dem GS bringt. Weiterhin ist CDS bei ERS
Objekte behalten dadurch, abgesehen von Bewe- einfacher integrierbar [18].
gungsunschärfe, ihre Form im aufgenommenen Nachteil des sequenziellen Integrierens der Pixel
Bild bei (siehe . Abb. 20.11, untere Darstellung). ist die zeitliche Differenz zwischen den Bildzeilen:
Auch zufällig gepulste Lichtquellen wie LED-Fahr- So wird bei einem Objekt, das sich horizontal durch
zeugbeleuchtungen oder aktive Wechselverkehrs- das Bild bewegt, der obere Teil des Objekts zu einem
zeichen erzeugen beim GS ein homogenes Resul- früheren Zeitpunkt aufgenommen als der untere
tat, solange die Pulse während der Integrationszeit Teil, was zu dem bekannten Effekt von verzerrten
auftreten. oder „schiefen“ Objekten führt. Bei der Aufnahme
362 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

.. Abb. 20.12 System-
1 komponenten eines
Bild- Bild- Kommunikations FAS-Kamerasystems (Quel-
aufnahme verarbeitung -schnittstelle le: Martin Punke)
2
Bild-
3 aufnahme-
regelung
Optik Elektronik

4 Mechanik

5
gepulster Lichtquellen (aktive Wechselverkehrszei- zum Fahrzeug. Dies ist in . Abb. 20.12 schematisch
chen) kommt es zu dem Effekt, dass einzelne Pulse dargestellt. Kamerasysteme können sowohl als ein-
6 nur von einigen Zeilen gesehen werden. zelne Einheit, die alle Komponenten enthält, aus-
. Abbildung 20.11 zeigt die Position eines be- gelegt sein, als auch als Systeme, die Komponenten
7 wegten Quaders sowie die Zeile (hellgrau), deren getrennt verwenden (z. B. eine Kameramodul mit
Integration zu verschiedenen Zeitpunkten während einer externen Bildverarbeitungseinheit).
der ERS-Aufnahme gestartet wurde (oben). Fügt
8 man aus den Aufnahmen der einzelnen Zeilen ein 20.4.1.1 Bildaufnahme
Bild zusammen, ergibt sich eine verzerrte Darstel- Die Bildaufnahme erfolgt durch ein oder mehrere
9 lung des Quaders. Beim GS (unten) erfolgt die Inte- Kameramodule im Fahrzeug. Die Bilddaten des Ka-
gration aller Pixel zu einem Zeitpunkt, der Quader meramoduls werden durch die Bildaufnahmerege-
10 wird unverzerrt dargestellt. lung beeinflusst und dann an die Bildverarbeitung
weitergeleitet. Es können auch zusätzliche bild(vor)
verarbeitende Funktionen direkt auf dem Bildsensor
11 20.4 Systemarchitektur integriert werden. Man spricht dann von einem Sys-
tem on Chip (SOC)-Sensor. Hierbei muss allerdings
12 Um die Ansprüche an alle geforderten Funktionen abgewogen werden, ob der Mehrbedarf an Leistung
zu erfüllen, erfordert die Systemarchitektur die kor- sowie damit verbundener Wärmeentwicklung – und
rekte Auslegung der Hardware- und Software-Kom- somit Erhöhung des Bildsensorrauschens – die In-
13 ponenten sowie der Bildverarbeitungsalgorithmen; tegration sinnvoll macht.
hinzu kommen die mechanische Auslegung des Im Falle der Vorverarbeitung auf dem Bildsen-
14 Systems und die mechanische und elektronische sor oder bei Kameramodulen mit einer externen
Verbindung mit dem Fahrzeug. Verarbeitungseinheit werden die Bilddaten u. a.
15 Da Kamerasysteme für Fahrerassistenzfunk- über spezielle Schnittstellen basierend auf dem
tionen sicherheitsrelevante Bauteile im Fahrzeug LVDS-Standard (engl. low-voltage differential sig-
darstellen (z. B. durch Bremseingriff) muss das naling) oder über Ethernet in komprimierter Form
16 System auch die ISO-Norm 26262 („Road vehicles – (z. B. als Mjpeg oder im H.264-Standard) übertra-
Functional safety“) erfüllen [26]. Dabei sind je nach gen.
17 Funktion verschiedene ASIL-Stufen (engl. automo-
tive safety integrity level) umzusetzen. 20.4.1.2 Bildaufnahme-Regelung
Die Regelung des Kamerabildsensors ist notwendig,
18 um in allen Umgebungssituationen die optimalen
20.4.1 Systemübersicht Bildparameter einzustellen. Die zwei wichtigsten
19 Regelungssysteme sind die Belichtungssteuerung
Ein Kamerasystem besteht aus den Komponenten und der Weißabgleich.
20 zur Bildaufnahme, der Bildaufnahme-Regelung, Zur Anpassung an unterschiedliche Beleuch-
der Bildverarbeitung und der Kommunikation tungssituationen ist die Belichtungssteuerung so
20.4 • Systemarchitektur
363 20

ausgelegt, dass sowohl in den dunklen Bildberei- Datenraten auch eine gleichzeitige Übertragung von
chen noch Strukturen zu erkennen sind als auch Bilddaten möglich.
die hellen Bildbereiche nicht gesättigt sind. Vor-
aussetzung ist natürlich ein entsprechend großer 20.4.1.5 Elektronik
Dynamikumfang des Kameramoduls. Die Auslegung der Elektronik folgt den allgemein
Die Kontrolle des Weißabgleichs erfolgt, um bei hohen Anforderungen in der Automobilindustrie
unterschiedlichen Farbtemperaturen der Beleuch- u. a. hinsichtlich Lebensdauer und elektromagne-
tung der Szene eine konstante Farbwiedergabe zu tischer Störfestigkeit/Verträglichkeit. Die großen
erreichen. So müssen beispielsweise weiße Fahr- Datenmengen, die mit komplexen Algorithmen in
bahnmarkierungen sowohl im Tageslicht als auch Echtzeit zu bearbeiten sind, führen zu einer Sys-
bei Tunnelfahrten mit zum Teil gelblicher Beleuch- temauslegung, bei der meist mehrere Prozessoren
tung als weiß erkannt werden. oder Multikernprozessoren zum Einsatz kommen
[5]. Die Abführung der daraus resultierenden Ver-
20.4.1.3 Bildverarbeitung lustleistung bildet eine Herausforderung für den
In der Bildvorverarbeitung erfolgen die Aufberei- Wärmeabtransport im Fahrzeugeinbauraum und
tung des Kamerabildes und erste Verarbeitungs- muss schon bei der Elektronikauslegung und dem
schritte. Bei Einsatz eines RGB-Bildsensors wird Gehäusedesign berücksichtigt werden.
ein Farbbild durch ein sogenanntes Demosaicing
-Verfahren rekonstruiert. Als weiterer Schritt er- 20.4.1.6 Mechanik
folgt eine Gammakorrektur, d. h. Eingangswerte Das Gehäuse des Kamerasystems bildet die
im Bild werden über einen Transformationsschritt Schnittstelle zwischen Elektronik und Kamera-
in andere Ausgangswerte überführt. Hintergrund modul zum Fahrzeug; es muss thermisch stabil
dieser Operation ist entweder die Anpassung an und leicht zu verbauen sein. Außerdem bildet das
ein bestimmtes Wiedergabesystem oder auch Gehäuse meist die Schirmung der Elektronik zur
die verbesserte Bildverarbeitung. Im Falle einer besseren elektromagnetischen Verträglichkeit. Im
Anzeige auf einem Display wird außerdem übli- Falle der Frontview-Kamera sitzt das Gehäuse
cherweise eine Rauschreduzierung, eine Kanten- hinter der Windschutzscheibe. Um Reflexionen
verstärkung und eine Farbkorrektur durchgeführt an den Scheibengrenzflächen und am Gehäuse
[14, 27]. zu vermeiden, wird oft eine Streulichtblende zwi-
Werden die Bilddaten für Aufgaben des maschi- schen Kameramodul und Windschutzscheibe ein-
nellen Sehens herangezogen, erfolgen oft eine Ver- gesetzt. Bei den Kamerasystemen, bei denen das
zeichnungskorrektur, die Berechnung des optischen Kameramodul direkten Kontakt zur Umwelt hat
Flusses und im Falle einer Stereokamera die Rekti- (z. B. Surround View) muss das Gehäuse außer-
fizierung sowie die Erstellung der Disparitätskarte. dem gegen eindringende Feuchtigkeit versiegelt
Aus den vorverarbeiteten Bildern werden in der sein.
Bildverarbeitung die gewünschten Informationen
extrahiert (vgl. auch ▶ Kap. 21 und 22).
20.4.2 Monokamera-Architektur
20.4.1.4 Kommunikation
Über die Kommunikationsschnittstellen des Kame- Eine exemplarische Monokamera-Architektur für
rasystems erfolgt der Datenaustausch zu anderen ein Frontview-Kamerasystem ist in . Abb. 20.13
Steuergeräten im Fahrzeug. Als Fahrzeugbussysteme dargestellt. Der Bildaufnehmer wird über einen
sind vor allem der CAN-Bus (engl. Controller Area Kommunikationsbus geregelt und die Bilddaten
Network), der Flexray-Bus und der Ethernet-Stan- werden über eine parallele Schnittstelle zur Bild-
dard verbreitet. Während CAN- und Flexray-Busse verarbeitungseinheit übertragen. Eingesetzt wird
nur zur Kontrolle des Kamerasystems und Ausgabe hier ein digitaler Signalprozessor (engl. Digital Sig-
von beispielsweise Objektlisten verwendet werden, nal Processor – DSP), der die Videoverarbeitung in
ist beim Einsatz von Ethernet aufgrund der höheren Echtzeit durchführen kann. In anderen Systemen
364 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

Daten- .. Abb. 20.13 Architektur
1 schnittstelle eines Monokamerasystems
Kamera- (Quelle: Martin Punke)
DSP
modul
2
3
Kontrollbus

IPC
4 Fahrzeugbus
Mikrocontroller Heizung

5
6 Daten- .. Abb. 20.14 Architektur
schnittstelle eines Stereokamerasys-
7 Kamera-
modul
DSP tems (Quelle: Martin
Punke)
Kontrollbus

8
IPC

9 Fahrzeugbus

Mikrocontroller
10
Heizung
Kamera- Kontroll-
modul bus
IPC
11
IPC
schnittstelle
Daten-

12 IPC
FPGA DSP

13
14 werden auch FPGAs (engl. Field programmable gate 20.4.3 Stereokamera-Architektur
arrays) oder dedizierte ASICs (engl. Application Spe-
15 cific Integrated Circuit) verwendet [27]. Unterstützt Ein Stereokamerasystem unterscheidet sich von ei-
wird die Bildverarbeitungseinheit durch schnelle nem Monokamerasystem im Wesentlichen durch
Speicherbausteine, die einerseits zur Zwischenspei- ein weiteres Kameramodul und zusätzliche Re-
16 cherung von prozessierten Daten als auch zur Spei- cheneinheiten. Die komplexen Stereofunktionen
cherung von mehreren Bildern beim Einsatz von machen eine deutliche höhere Rechenleistung not-
17 Tracking-Algorithmen genutzt werden. wendig.
Der Mikrocontroller übernimmt die Belich-
tungssteuerung, die Steuerung der Windschutzschei- 20.4.3.1 Aufbau einer Stereokamera
18 benheizung, die Kommunikation am Fahrzeugbus Der grundsätzliche Aufbau einer Stereokamera ist
und weitere Steuerungs- und Überwachungsfunkti- in . Abb. 20.14 zu sehen. Die beiden Bildsensoren
19 onen. Zwischen Mikrocontroller und DSP erfolgt die werden hier wiederum von einem Mikrocontroller
Kommunikation durch eine IPC-Schnittstelle (engl. angesteuert, die Bildsignale werden im Vorverarbei-
20 Inter Processor Communication). tungsschritt zu einem DSP und einem FPGA über-
tragen. Im FPGA gehen die Rektifizierung, die Be-
20.5 • Kalibrierung
365 20

rechnung der Disparitätskarte und die Berechnung Mit der Größe eines Bildpunkts auf dem Bild­
des optischen Flusses vonstatten. Auf einem DSP sensor sP ergibt sich der Abstand zum Objekt zC zu:
erfolgt dann die Objektbildung, d. h. Identifizierung bf
von Fußgängern, Fahrzeugen etc. zC D d sP
:
Ein zweiter DSP dient zur Umsetzung der
ADAS-Funktionen wie Fahrspurerkennung und Nach Ableitung ist der absolute Entfernungsfehler
Verkehrszeichendetektion. Die Kommunikation dann:
zum Fahrzeug läuft mittels eines Mikrocontrollers
ab. Auch hier stehen den Bildverarbeitungseinhei- d sP zC2
z D :
ten jeweils schnelle Speicher zur Verfügung. bf

20.4.3.2 Unterschiede zu Für den Fehler der Disparitätsschätzung Δd sind


Monokamerasystemen Genauigkeiten von unter einem Pixel erzielbar.
Neben den Unterschieden in der Bildverarbeitung Eine beispielhafte Rechnung eines Kamerasys-
stellen Stereokamerasysteme weitere besondere tems mit einer Brennweite von 5 mm, einer Pixel-
Anforderungen an die Systemarchitektur: Die Bild- größe von 3,75 µm, einer Basisbreite von 200 mm
aufnahme mittels beider Kameramodule muss syn- und einem Disparitätsfehler von 0,25 Pixeln ergibt
chronisiert verlaufen, um einen Einfluss durch eine einen Fehler der Entfernungsmessung von 2,3 m
zeitliche und damit räumliche Verschiebung der bzw. 4,7 % bei einem Objektabstand von 50 m.
Bilder zu vermeiden. Verbesserungen sind durch eine höhere Auflö-
Ein weiterer Unterschied sind die gesteigerten sung des Bildsensors bei kleinerer Pixelgröße, einer
Anforderungen hinsichtlich der Montage und Ka- größeren Basisbreite oder einer größeren Brenn-
libration des Kamerasystems. So müssen die beiden weite möglich. Eine Veränderung dieser Parameter
Kameramodule sehr präzise in allen Raumachsen bedingt allerdings auch eine Änderung der Syste-
(Nick-, Gier- und Rollwinkel) zueinander ausge- mauslegung. So wird durch eine größere Brenn-
richtet und dann stabil im Gehäuse montiert sein. weite das Blickfeld der Kamera eingeschränkt; die
Jede Änderung der optischen Blickrichtung der Basisbreite sollte durch die Anforderungen an das
Kameras zueinander kann zu einer Dekalibrierung Design möglichst klein gehalten werden. Eine klei-
des Systems und damit zum Ausfall der Funktion nere Pixelgröße wiederum kann eventuell zu einer
führen. Daher ist die Gehäusemechanik darauf aus- geringeren Empfindlichkeit des Systems führen. Zu-
gelegt, auch bei unterschiedlichsten Umweltbedin- sätzlich erhöht sich die notwendige Rechenleistung
gungen stabil zu sein und es erfolgen verschiedene bei höheren Auflösungen signifikant.
Kalibriermaßnahmen (siehe ▶ Abschn. 20.5).

20.4.3.3 Auslegung 20.5 Kalibrierung


Ein wichtiges Kriterium für die Nutzung eines Ste-
reokamerasystems ist die Genauigkeit der Tiefen- Wenn Fahrerassistenzfunktionen wie die Verkehrs-
schätzung. Über eine präzise Tiefenschätzung lassen zeichenerkennung, die Spurhaltefunktion oder der
sich Funktionen wie ein kamerabasierter Notbrem- Fernlichtassistent richtig funktionieren sollen, ist
sassistent oder eine automatische Abstandsregelung eine korrekte Interpretation der Bildaufnahmen des
realisieren, die auf die Abstandsinformation vom verwendeten Kamerasystems wichtig. Um dies zu
Fahrzeug zum Objekt angewiesen sind. gewährleisten, sind Zusatzinformationen über die
Wichtige Parameter in einem achsparallelen Ste- Aufnahmen nötig, die durch das Verfahren der Ka-
reosystem sind die Brennweite der Kameras f und librierung bestimmt werden können. Diese Infor-
der Abstand zwischen den Kameras (Basisbreite mationen, oder auch Kalibrierparameter, dienen ty-
b). Die sogenannte Disparität d ergibt sich aus dem pischerweise nicht nur zur besseren Interpretation,
Abstand der Bildpunkte, die durch die Projektions- sondern auch zu einer Kompensation möglicher
linien vom Bildpunkt P auf die Bildsensoren fallen. Abweichungen von der definierten Norm. So kann
366 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

beispielsweise die Kennlinie über das Ansprechver- Kameramodulcharakterisierung – Kameraproduk­


1 halten des Sensors nachträglich linearisiert werden. tionslinie  Zur Bestimmung der OECF können Auf-
Dieser Abschnitt geht genauer darauf ein, wel- nahmen mit verschiedenen, definierten Beleuch-
2 che Parameter typischerweise kalibriert werden, wo tungsstärken, aber konstanten Belichtungszeiten
diese Kalibrierung stattfindet und wie die Kalibrie- durchgeführt werden; alternativ kann auch die Be-
rung vorgenommen werden kann. leuchtungsstärke konstant gehalten und die Belich-
3 tungszeit variiert werden. Mit beiden Verfahren wird
die vom Sensor aufgenommene Strahlungsenergie in
4 20.5.1 Kalibrierparameter bestimmter Weise variiert und als Kennlinie gegen
die Sensorantwort aufgetragen. Mit der Kennlinie ist
5 Kalibrierparameter sind Variablen eines geeigne- das Verhalten für jeden vermessenen Sensor bekannt,
ten Modells des Bildgebungssystems, die durch ein so dass mögliche Fehler kompensiert und Produkt-
Kalibrierverfahren bestimmt werden können und schwankungen ausgeglichen werden können.
6 das System auf diese Weise ausreichend genau be-
schreiben. Dabei kann man verschiedene Klassen Intrinsische Kamerakalibrierung – Kameraproduk­
7 unterscheiden, je nachdem welche Eigenschaften tionslinie Die Kalibrierung in der Produktionsli-
des Systems modelliert werden sollen. Die nachfol- nie der Kamera bietet sich auch an, um die intrin-
gende Aufstellung gibt einen Überblick: sischen Parameter zu bestimmen. Typischerweise
8 wird hierzu ein dreidimensionaler Target-Aufbau

9
-
Kameramodulcharakterisierung
OECF (engl. opto electronic conversion func-
mit Schachbrettmuster-Targets verwendet. Anhand
des bekannten Setups und der Auswertung der in

10 - tion, Sensorkennlinie)
Dunkelstromrauschen, defekte Pixel
der Kameraaufnahme detektierten Schachbrett­ecken
können Modellparameter bestimmt werden, mit de-
nen sich die Kamera beschreiben lässt. In den meisten
Fällen reichen hier ein einfaches Lochkameramodell

--
Geometrische Kamerakalibrierung
11 Intrinsische Kameraparameter und ein Verzeichnungsmodell niedriger Ordnung
Kamerahauptpunkt aus. Eine bekannte Methode zur Bestimmung dieser
12
13
-- Brennweite
Verzeichnung
Pixelskalierung
intrinsischen (und auch extrinsischen) Parameter ist
beispielsweise das Verfahren nach Tsai [28].

Im Falle eines Stereokameramoduls werden beide

14
15
--
Extrinsische Kameraparameter
Kameraposition
Kameraorientierung
Kameras intrinsisch kalibriert sowie die Lage und
Orientierung der Kameras relativ zueinander be-
rechnet.

Extrinsische Kamerakalibrierung – Fahrzeugproduk­


20.5.2 Orte der Kalibrierung tionslinie  Während der Produktion befindet sich
16 und Kalibrierverfahren die Kamera noch nicht in der endgültigen Position
im Fahrzeug. Eine Kalibrierung der extrinsischen
17 Wo und wann eine Kalibrierung der Kamera statt- Parameter ist erst im verbauten Zustand sinnvoll.
findet, richtet sich nach den zu kalibrierenden Pa- Anhand eines einfachen Targets, dessen Position
rametern und den daraus resultierenden Anforde- relativ zur Kameraeinbauposition bekannt ist, lässt
18 rungen. Grundsätzlich wird die Kamera bereits im sich die Kameraorientierung bestimmen. Die Ka-
Produktionsprozess hinsichtlich Sensorcharakteri- meraeinbauposition wird dabei als gegeben ange-
19 sierung und der intrinsischen Parameter kalibriert. nommen oder über externe Messmittel bestimmt.
Hierzu werden in die Produktionslinie Kalibrierauf-
20 bauten eingefügt, mit denen es möglich ist, unter Extrinsische Kamerakalibrierung – im Fahrbetrieb Eine
reproduzierbaren Bedingungen zu messen. Kalibrierung in der Fahrzeugproduktion ist aus Auf-
Literatur
367 20

wandsgründen nicht immer erwünscht. Darüber größeren Auflösungen der Bildsensoren. Höhere
hinaus ist die Kameraorientierung relativ zur Welt Bildwiederholraten und verbesserte Empfindlich-
im Fahrzeug nicht konstant. Wechselnde Beladungs- keiten sind zusätzliche Entwicklungen im Bereich
zustände des Fahrzeugs können die Orientierung der Kamerasensorik. Durch diese technologischen
beeinflussen. Die Kameraparameter müssen aber Verbesserungen werden sich Kamerasysteme in
auch in diesem Fall exakt vorliegen, daher wird die verschiedensten Anwendungsgebieten im Fahrzeug
Kameraorientierung auch während des laufenden Be- fest etablieren.
triebs kalibriert. Je nach Fangbereich des verwendeten
Verfahrens und nach Einbautoleranz kann damit auf
die extrinsische Kalibrierung in der Produktionsli- Literatur
nie komplett verzichtet werden. Um die Kalibrierung
online zu bestimmen, gibt es eine Reihe von Mög- 1 Loce, R., Berna, I., Wu, W., Bala, R.: Computer vision in road-
way transportation systems: a survey. J. Electron. Imaging
lichkeiten: Günstig ist es beispielsweise, auf die Er-
22(4), 041121 (2013)
gebnisse von ohnehin auf dem Fahrerassistenzsystem 2 Homepage der Firma Delphi: http://delphi.com/manufac-
laufenden Funktionen zurückzugreifen und daraus turers/auto/safety/active/racam/, Zugriff am 10.01.2014
die Kalibrierwerte zu berechnen. Ein Beispiel, mit ei- 3 Homepage der Firma Gentex: http://www.gentex.com/
nem Structure From Motion-Ansatz zu kalibrieren, ist automotive/products/forward-driving-assist, Zugriff am
10.01.2014
in [29] beschrieben.
4 Källhammer, J.: Night Vision: Requirements and possible
roadmap for FIR and NIR systems. Proc. SPIE 6198, 61980 F
Stereokamerakalibrierung – im Fahrbetrieb  Bei Ste- (2006)
reokameras kommt es besonders auf eine genaue 5 Stein, G., Gat, I., Hayon, G.: Challenges and Solutions for
Kalibrierung der Orientierung und Lage der Ka- Bundling Multiple DAS Applications on a Single Hardware
platform. Israel Computer Vision Day (2008)
meras zueinander an: Auch wenn diese Parameter
6 Raphael, E., Kiefer, R., Reisman, P., Hayon, G.: Development
in der Kameraproduktion bereits bestimmt wur- of a camera‐based forward collision alert system. SAE Int.
den, so ist im laufenden Betrieb eine Nachjustage J. Passeng. Cars – Mech. Syst. 4(1), 467 (2011)
erforderlich, da mechanische Einflüsse und Tem- 7 Homepage der Firma Daimler: http://www.mercedes-benz.
peraturschwankungen sonst die Messgenauigkeit zu com/de/, Zugriff am 10.01.2014
8 ISO/DIS 16505: Road vehicles – Ergonomic and perfor-
stark herabsetzen können. Neben den erwähnten
mance aspects of Camera‐Monitor Systems – Require-
Monokalibrierverfahren können auch speziell auf ments and test procedures
Stereokameras abgestimmte Verfahren eingesetzt 9 Hertel, D.: Extended use of incremental signal‐to‐noise
werden: Diese stellen die Transformationsmatrix ratio as reliability criterion for multiple‐slope wide‐dyna-
von der rechten Kamera zur linken Kamera iterativ mic‐range image capture. Journal of Electronic Imaging
19(1), 011007 (2010)
so ein, dass in den Aufnahmen extrahierte Merk-
10 Homepage der MIPI‐Alliance: http://www.mipi.org/speci-
malskorrespondenzen die sogenannte Epipolarbe- fications/camera-interface, Zugriff am 10.01.2014
dingung erfüllen [30]. 11 Fischer, R.: Optical System Design. McGraw‐Hill, New York
(2008)
12 Sinha, P.K.: Image Aquisition and Preprocessing for Ma-
20.6 Ausblick chine Vision Systems. SPIE Press, Washington (2012)
13 Hecht, E.: Optics. Addison Wesley Longman, New York
(1998)
Die Technologie im Bereich Kamerasysteme entwi- 14 Reinhard, E., Khan, E., Akyüz, A., Johnson, G.: Color Imaging.
ckelt sich rasant. Ein Grund dafür ist der Bereich A. K. Peters, Wellesley (2008)
der Unterhaltungselektronik mit seiner Forderung 15 Miller, J., Murphey, Y., Khairallah, F.: Camera performance
considerations for automotive applications. Proc. SPIE
nach immer leistungsfähigeren und kostengüns-
5265, 163 (2004)
tigeren Bildsensoren, Optiken und Rechnerplatt- 16 El Gamal, A., Eltoukhy, H.: CMOS image sensors. IEEE Cir-
formen. Dieses Potenzial wird in Zukunft auch im cuits and Devices Magazine 21(3), 6 (2005)
Fahrzeugumfeld verstärkt genutzt werden. Höhere 17 Holst, G., Lomheim, T.: CMOS/CCD Sensors and Camera
Rechenleistungen ermöglichen sowohl Fortschritte Systems. SPIE Press, Washington (2011)

in der Bildverarbeitung als auch den Einsatz von


368 Kapitel 20 • Kamera-Hardware

18 Yadid-Pecht, O., Etienne-Cummings, R.: CMOS Imagers:


1 From phototransduction to image processing. Kluwer
Academic Publishers, Dordrecht (2004)
19 Fiete, R.: Modelling the Imaging Chain of Digital Cameras.
2 SPIE Press, Washington (2010)
20 Theuwissen, A.: Course "Digital Camera Systems" – Hand
out, CEI.se, Finspong, 2008
3 21 Darmont, A.: High Dynamic Range Imaging, Sensors and
Architectures. SPIE Press, Washington (2012)
22 Solhusvik, J., Yaghmai, S., Kimmels, A., Stephansen, C.,
4 Storm, A., Olsson, J., Rosnes, A., Martinussen, T., Willassen,
T., Pahr, P., Eikedal, S., Shaw, S., Bhamra, R., Velichko, S., Pa-

5 tes, D., Datar, S., Smith, S., Jiang, L., Wing, D., Chilumula, A.: A
1280×960 3.75um pixel CMOS imager with Triple Exposure
HDR. In: Proc. of 2009 International Image Sensor Work-

6 shop (2009)
23 Solhusvik, J., Kuang, J., Lin, Z., Manabe, S., Lyu, J., Rhodes,
H.: A Comparison of High Dynamic Range CIS Technologies
7 for Automotive Applications. In: Proc. of 2013 International
Image Sensor Workshop (2013)
24 Brainard, D.: Bayesian method for reconstructing color
8 images from trichromatic samples. In: Proceedings of the
IS&T 47th Annual Meeting (1994)
25 Baxter, D.: A Line Based HDR Sensor Simulator for Motion
9 Artifact Prediction. Proc. of SPIE 8653, 86530 F (2013)
26 ISO 26262: Road vehicles – Functional safety
27 Nakamura, J.: Image Sensors and Signal Processing for Di-
10 gital Still Cameras. CRC Press, Boca Raton (2006)
28 Tsai, R.: A versatile camera calibration technique for high‐
accuracy 3D machine vision metrology using off‐the‐shelf
11 TV cameras and lenses. IEEE Journal of Robotics and Auto-
mation 3(4), 323 (1987)
29 Civera, J., Bueno, D., Davison, A., Montiel, J.: Camera Self‐Ca-
12 libration for Sequential Bayesian Structure From Motion. In:
Camera Self‐Calibration for Sequential Bayesian Structure

13 From Motion (2009)


30 Zhang, Z.: Determining the Epipolar Geometry and its
Uncertainty: A Review. International Journal of Computer

14 Vision 27(2), 161 (1998)

15
16
17
18
19
20
369 21

Maschinelles Sehen
Christoph Stiller, Alexander Bachmann, Andreas Geiger

21.1 Bildentstehung – 370
21.2 Bildverarbeitung  – 372
21.3 3d Rekonstruktion der Szenengeometrie  –  378
21.4 Zeitliche Verfolgung – 383
21.5 Anwendungsbeispiele – 385
21.6 Zusammenfassung und Ausblick  –  391
Literatur – 392

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
370 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

Eine Kamera bildet die dreidimensionale (3d) bezeichneter Ursprung in der Blendenöffnung
21 Welt auf einen zweidimensionalen Bildaufnehmer platziert wird, dessen Z-Achse – im Weiteren
ab. Somit entsteht bei der Bildaufnahme ein In- auch als optische Achse bezeichnet – senkrecht
22 formationsverlust um eine ganze Dimension. Für zur Bildebene und die X- und Y-Achse senkrecht
eine Reihe von Messaufgaben, vornehmlich in der dazu parallel zur Zeilen- bzw. Spaltenrichtung des
Klassifikation von Objekten, ist eine zweidimensio- Strahlungsaufnehmers orientiert sind. Anstelle
23 nale (2d) Information bereits ausreichend. In einer der Bildkoordinaten in der Ebene des Aufnehmers
Vielzahl anderer Aufgaben der Fahrerassistenz ist wählt man mathematisch eleganter eine dazu par-
24 hingegen die 3d Information unverzichtbar, um bei- allele Bildebene im Abstand 1 vor der Lochblende.
spielsweise Sicherheitsabstände zielgenau zu regeln. Das Bild in dieser Ebene unterscheidet sich vom
Entsprechend wird in oft rechenintensiven Bildaus- realen Kamerabild nur um eine Skalierung mit der
25 werteverfahren die 3d Szenengeometrie und Dyna- negativen Brennweite –f, so dass das Bild nicht mehr
mik rekonstruiert. Begünstigt durch den anhalten- um 180° gedreht erscheint. Man bezeichnet dieses in
26 den Preisverfall von Kamera und Auswertehardware den Bildkoordinaten x D .x; y/T definierte virtu-
einerseits und der vielfältigen aus Bildfolgen extra- elle Bild als das Bild einer kalibrierten Kamera. Aus
27 hierbaren Information andererseits, werden Bild- dem Bild kann man die Projektionsgleichung
sensoren in einer beständig wachsenden Vielzahl
0 1 0 1
von Anwendungen eingesetzt.
28
x X
Während höhere Lebewesen auch zuvor un- R ein  2 IR(21.1)
 @y A D @ Y A fur
bekannte Umgebungen nahezu ausnahmslos und 1 Z
29 mit verblüffender Leichtigkeit visuell wahrnehmen
und diese Wahrnehmung erfolgreich zur Naviga- ersehen, die – wie in der Systemtheorie üblich
30 tion nutzen, ist das Wahrnehmungsvermögen ma-
schineller Bildsensoren bislang auf eng begrenzte
– als von physikalischen Einheiten befreite Zahlen-
wertgleichung formuliert wird. Als wichtigste Kon-
Domänen beschränkt. Selbst mit dem dadurch for- sequenz dieser Projektion kann eine Kamera nur
31 mulierbaren Vorwissen ist maschinelles Sehen der Verhältnisse (d. h. Winkel) zwischen 3d Koordina-
menschlichen Leistungsfähigkeit derzeit noch weit ten bestimmen. Absolute Entfernungsangeben lassen
32 unterlegen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über sich hingegen aus Kamerabildern nur dann bestim-
grundlegende Methoden der Bildinterpretation, so- men, wenn zusätzlich die Skale  bekannt ist. Man
wie über das Potenzial und die Grenzen von Bild- bezeichnet Kameras deshalb als maßstabsblind. Im
33 sensoren. Die theoretischen Grundlagen werden Umfeld des Automobils sind zur Maßstabsrekonst-
dabei durch zahlreiche Praxisbeispiele illustriert. ruktion häufig die Einbauhöhe der bewegten Kamera
34 oder der Abstand in einer Stereoanordnung bekannt.
Nach Einführung homogener Koordinaten
21.1 Bildentstehung
T
35 xQ D x y 1 reduziert sich die Projektions-


gleichung zu fast schon täuschender Einfachheit


21.1.1 Projektive Abbildung
36 xQ Š X;(21.2)
Die Projektion der meisten Kameras lässt sich durch
37 das in . Abb. 21.1 dargestellte Modell einer Lochka- wobei Gleichheit „Š” in homogenen Koordina-
mera beschreiben, deren Blendenöffnung so klein ten bedeutet, dass eine von Null verschiedene reelle
angenommen wird, dass in der Ebene des Strah- Zahl  existiert, so dass Qx D X gilt. Das resultie-
38 lungsaufnehmers ein scharfes Bild entsteht. In der rende zu . Abb. 21.1 äquivalente geometrische Ka-
Praxis wird diese Blende durch eine Optik ersetzt, meramodell ist in . Abb. 21.2 dargestellt.
39 die ein lichtstärkeres Bild erzeugt. In der Bildverarbeitung werden üblicherweise
Die geometrische Beschreibung der Projek- Rechnerkoordinaten xR D .xR ; yR /T verwendet,
40 tion erfolgt im sog. 3d Kamerakoordinatensystem
X D .X; Y; Z/T dessen als optisches Zentrum
deren Koordinatenursprung in der linken oberen
Bildecke liegt und die so skaliert werden, dass der
21.1 • Bildentstehung
371 21
.. Abb. 21.1 Lochkamera­
modell der projektiven y' f
Abbildung

x' Z
x

X
y

Abstand benachbarter Bildpunkte 1 beträgt, damit


alle Bildpunkte ganzzahlige Rechnerkoordinaten
aufweisen (. Abb. 21.3). Bezeichnet man den Pi-
xelabstand in horizontaler bzw. vertikaler Richtung
auf dem Aufnehmer mit x; y, so sind die Rech-
nerkoordinaten im Vergleich zu den Bildkoordina- Z
ten um die bezogenen Brennweiten x

X
y (21.3)
f f
fx D I fy D I y
x
Y
skaliert und um den Bildhauptpunkt .. Abb. 21.2  Geometrisches Kameramodell mit projektiver
.x0 ; y0 /T verschoben. Eine solche Abbildung Abbildung
wird in homogenen Koordinaten linear, d. h. mit
xQ R D .xR ; yR ; 1/T gilt Zusammengefasst ergibt sich die Abbildung eines
0 1 Punktes in 3d Weltkoordinaten XW auf 2d Rech-
fx 0 x0 nerkoordinaten xR als, in homogenen Koordinaten,
B C
xQ R D CQx mit C D B C
@ 0 fy y0 A ;(21.4) lineare Abbildung
0 0 1
QW
xQ R Š PX mit P D CM;(21.6)
wobei die intrinsische Kalibriermatrix C die
intrinsischen Kameraparameter, das sind der Bild- wobei M D R t die ersten drei Zeilen der
 

hauptpunkt und die Brennweiten, beinhaltet. extrinsischen Kalibriermatrix MQ umfasst. P stellt so-
Schließlich mag das Weltkoordinatensystem mit eine 3 × 4 Matrix dar, die als Projektionsmatrix
nicht an der Kamera orientiert sein, sondern an- bezeichnet wird [1]. An der ungleichen Dimension
wendungsorientiert um die Rotationsmatrix R ge- der Matrix in Zeilen- bzw. Spaltenrichtung wird
dreht und um den Translationsvektor t verschoben der Informationsverlust der projektiven Abbildung
sein, X D RXW C t. In homogenen Koordinaten deutlich.
XQ D .X; Y; Z; 1/T , X
Q W D .XW ; YW ; ZW ; 1/T
wird auch diese Gleichung linear
21.1.2 Bildrepräsentation
Q D R t ;(21.5)
 
XQ ŠM QX QW mit M
0 1
Während die im vorherigen Abschnitt beschrie-
Q die sechs
wobei die extrinsische Kalibriermatrix M bene Projektion ein in Ort, Zeit und Amplitude
Freiheitsgrade einer starren Bewegung im 3d Raum kontinuierliches Signal erzeugt, werden Bilder
beinhaltet. durch Abtastung und Quantisierung digitalisiert.
372 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

∆x .. Abb. 21.3  Intrinsische Parameter einer Kamera


xR
21
22 ∆y

(x0, y0)T
23 x
yR

24
25
y

26
27 Dabei erfolgt die Ortsdiskretisierung bereits durch Gleichziehen mit den rund 120 Megarezeptoren auf
das Pixelraster auf dem Bildaufnehmer. Da natür- der menschlichen Retina im Wege stünde. Zur Ver-
liche Bilder an scharfen Kanten unbegrenzt hohe arbeitung dieser wachsenden Datenmengen wer-
28 Ortsfrequenzen beinhalten, wird dabei streng ge- den neben programmierbaren Prozessoren digitale
nommen das Abtasttheorem verletzt. Jedoch wir- Logikbausteine mit hohem Parallelisierungsgrad an
29 ken die sensitiven Flächen der einzelnen Pixel, die Bedeutung gewinnen.
Optik und häufig der A/D-Wandler als Tiefpass,
30 so dass Aliasingeffekte weitestgehend unterdrückt
werden. 21.2 Bildverarbeitung
Grauwerte werden i. Allg. mit 8 bit linear quan-
31 tisiert, jedoch sind im Fahrzeugumfeld höhere Dy- Unter dem Begriff Bildverarbeitung versteht man
namiken wünschenswert, weshalb es neben nicht- die Aufbereitung, Analyse und Interpretation von
32 linearen Kennlinien auch bereits lineare 14 bit visuellen Informationen. Da die Komplexität hö-
Darstellungen von Grauwerten gibt. Der Wert eines herer Bildverarbeitungsprozesse, wie zum Beispiel
Bildpunktes kann neben dem Grauwert auch andere Fahrstreifen- oder Objekterkennungsalgorithmen,
33 Information, wie Farbe, repräsentieren. Allerdings jedoch überproportional mit der Menge eingehen-
haben sich derartige Kameras im Automotive Be- der Daten steigt, werden diesen höheren Prozessen
34 reich noch nicht durchgesetzt. eine meist großflächige Bildvorverarbeitung und
Das Moore’sche Gesetz, nach dem sich die eine Merkmalsextraktion vorgeschaltet. Die Bild-
35 Rechenleistung von Steuergeräten bei gleichblei-
bender Komplexität etwa alle zwei Jahre verdop-
vorverarbeitung reduziert die bei der Bildaufnahme
unvermeidlichen Fehler und bereitet anschließend
pelt, scheint analog auch für die Pixelanzahl von die Bildsignale anwendungsspezifisch auf. Die
36 Bildaufnehmern zu gelten. Entsprechend würde Bildsignale können dabei durch unterschiedlichste
die Kostenrelation zwischen Kamera und Steu- Filteroperationen oder mit Hilfe von Transformati-
37 ergerät etwa konstant bleiben. In jedem Falle er- onen gezielt manipuliert werden. Irrelevante oder
zeugen Kameras bereits in heutigen Automobilen sogar störende Information soll dabei weitestge-
den höchsten Datenstrom. So verursacht ein mo- hend eliminiert werden. Nach einer erfolgreichen
38 nochromes VGA Bildsignal mit 640 × 480 Pixeln, Vorverarbeitung der Bilddaten können dann re-
einer Bildrate von 25 Hz und 8 bit pro Pixel Grau- levante Merkmale extrahiert und dem jeweiligen
39 wertquantisierung bereits eine Datenrate von über höheren Auswerteprozess zugeführt werden. In
60 Mbit/sec. Die Tendenz geht deutlich in Richtung ▶ Abschn. 21.2.2 wird eine Auswahl der in heutigen
40 von Megapixel Kameras. Es gibt aus heutiger Sicht
keine physikalische Grenze, die dem langfristigen
Fahrerassistenzsystemen angewendeten Bildmerk-
male vorgestellt.
21.2 • Bildverarbeitung
373 21

.. Abb. 21.4  Einige Beispiele für Bildoperatoren. Links: Originalbild; Rechts: a) Binarisierungsoperator (Punktoperator); b) Bino-
mialfilter (lokaler Operator); c) Fouriertransformation (globaler Operator); d) Rotation (geometrischer Operator);

21.2.1 Bildverbesserung Glättungsfilter. Dafür werden meistens Gauß- oder


Binomialfilter verwendet. Das einfachste Binomi-
Durch die Bildverbesserung werden aus dem auf- alfilter in einer Dimension ist gegeben durch die
genommenen Bildsignal mithilfe verschiedenster Faltungsmaske 21 Œ1 1. Durch die wiederholte
Operationen relevante Informationen aufgewertet Anwendung dieser Faltungsmaske ergeben sich
oder extrahiert und dem nachfolgenden Bildverar- Binomialfilter höherer Ordnung. So ist das Bino-
beitungsprozess weitergeleitet, vgl. . Abb. 21.4. Die mialfilter siebter Ordnung in einer Dimension
Operationen in der Bildverarbeitung lassen sich gegeben durch 1281 Œ1 7 21 35 35 21 7 1.
in drei Klassen einteilen: Punktoperatoren, lokale Für höhere Ordnungen approximieren Binomial-
Operatoren und globale Operatoren. Die Gliede- filter mit guter Näherung Gauß-förmige Filter. Die
rung richtet sich nach der Anzahl der Bildpunkte, für die Anwendung auf Bilder notwendigen zweidi-
die eine Operation beeinflussen. mensionalen Faltungsmasken werden nicht explizit
Punktoperatoren beziehen sich bei der Verar- berechnet, da die Filter linear separierbar sind. Die
beitung des Grau- oder Farbwerts eines Bildes aus- zweidimensionale Glättung eines Bildes mit einem
schließlich auf einen Bildpunkt. Beispiele hierfür Binomialfilter wird stattdessen durch die aufeinan-
sind z. B. Histogrammspreizung, Egalisierung oder derfolgende Anwendung eines horizontalen und
verschiedene Schwellwertverfahren. Die räumlichen vertikalen Binomialfilters implementiert. Eine de-
Beziehungen der Grauwerte in der näheren Umge- tailliertere Diskussion zur Glättung mit Gauß- und
bung werden hier jedoch nicht erfasst. Binomialfiltern findet sich in [2].
Lokale Operatoren berechnen einen neuen Farb- Globale Operatoren betrachten für die Trans-
oder Grauwert eines Bildpunktes auf Basis einer ört- formation eines Pixels das gesamte Bild, wie bei-
lich begrenzten Region um den betrachteten Bild- spielsweise bei der Fouriertransformation oder der
punkt. Sie werden auch Nachbarschaftsoperatoren Houghtransformation.
oder FIR Filter (finite impulse response) genannt Eine eigene Klasse von Operatoren bilden die geo-
und arbeiten direkt auf dem Bildsignal. Beispiele metrischen Operatoren. Sie sind verantwortlich für
für lokale Operatoren sind z. B. morphologische die geometrische Manipulation eines Bildes. Bei-
Filter, Glättungsfilter oder Gradientenfilter zur spiele sind Drehung, Skalierung oder Spiegelung.
Hervorhebung von Grauwerttexturen. Ein wichti- Dabei bleiben die Intensitätswerte des Bildes erhal-
ger lokaler Bildoperator ist die Faltung mit einem ten. Die Bildpunkte werden lediglich versetzt.
374 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

21.2.2 Merkmalsextraktion Danach wird ein verbreiteter Algorithmus zur


21 Kantendetektion und ein verbreiteter Algorithmus
Nach der Korrektur und Aufbereitung des Bild- zur Eckendetektion vorgestellt. Kanten und Ecken
22 signals durch die Vorverarbeitung lassen sich beinhalten die wesentliche Bildinformation. So
aus dem Signal Merkmale gewinnen. Merkmale können Menschen Bildinhalte bereits hervorragend
sind lokal beschränkte, aussagekräftige Teile ei- aus Strichzeichnungen erkennen, die ausschließlich
23 nes Bildes die eine symbolische oder empirische Bildkanten darstellen.
Beschreibung von Eigenschaften des Bildes oder Der Gradient eines Bildes g.x; y/ ist definiert
24 eines im Bild enthaltenen Objektes liefern. Merk- durch
male können auf verschiedensten Bildprimitiven
bestimmt werden. Beispielsweise bildet der Gra-
25 dientenbetrag des Bildsignals ein Merkmal für rg.x; y/ D

gx .x; y/
 " @g.x;y/ #
D @g.x;y/
@x :(21.7)
gy .x; y/
Objektkonturen. Objekttypische Verteilungsmus- @y
26 ter einer messbaren Größe liefern einen Hinweis
auf Bildregionen, die das entsprechende Objekt Da das Bild nur in ortsdiskreter Form vor-
27 abbilden. Das Ziel einer Merkmalsextraktion ist liegt, werden die partiellen Ableitungen durch
es somit, die für die jeweilige Anwendung wich- FIR Filter mit meist wenigen Filterkoeffizienten
tigen strukturellen Eigenschaften aus der um- approximiert. Eine übliche Approximation ist
28 fangreichen Bildinformation in einem kompakten @g.x;y/
 g.xC1;y/g.x1;y/ . Das Bild wird
@x 2
Merkmalsvektor hervorzuheben, während die für dabei mit dem Filter 21 Œ1 0  1 gefaltet. Der
29 die Anwendung irrelevante Information aus dem sogenannte Sobeloperator verwendet diese Appro-
Bild herausgefiltert wird. Dieser Vorgang führt zu ximation um Ableitungen zu berechnen, und glättet
mit einem Filter 41 Œ1 2 1T zusätzlich in der
30 einer enormen Datenreduktion und findet seine
Analogie in der menschlichen visuellen Wahrneh- senkrecht zur Ableitung stehenden Richtung. Ins-
mung. Dort werden bereits durch netzhautnahe gesamt approximiert der Sobeloperator damit die
31 Schichten spezifische Rezeptorenfelder gebildet, Ableitung des Bildsignals durch die zweidimensio-
die etwa Kanten, Bewegung oder lokale Maxima nale Faltung mit einer 3 × 3 Filtermaske
32 extrahieren.
2 3
Merkmale lassen sich grob in die beiden Grup- 1 0 1
pen der Einzelbildmerkmale und Korrespondenz- @g.x;y/
 g.x; y/   18 42 25 :(21.8)
33 merkmale einteilen: Einzelbildmerkmale sind un-
@x
1
0
0 1
mittelbar aus dem Grauwertmuster eines einzelnen
34 Bildes bestimmbar, während Korrespondenzmerk- Aus dem Gradientenbild werden durch Kan-
male die Bildpositionen der Projektion desselben tendetektoren zusammenhängende Linienstruk-
35 Raumpunktes auf verschiedenen Bildern zueinan-
der in Beziehung setzen.
turen extrahiert, die lokal maximalen Gradienten-
betrag aufweisen. Als prominenter Vertreter wird
nachfolgend der Canny-Kantendetektor vorgestellt
36 21.2.2.1 Einzelbildmerkmale [3], vgl. . Abb. 21.5. Zuerst wird hierfür eine Glät-
Die wichtigsten aus einem Einzelbild extrahier- tung des Eingabebildes vorgenommen. Dieser
37 baren Merkmale bilden Kanten und Ecken. Beide Schritt dient der Unterdrückung von sporadischen
Merkmale sind durch eine deutliche Änderung des rauschinduzierten hohen Gradienten, die zu falsch
Bildsignals über den Bildkoordinaten charakteri- positiv detektierten Kanten führen könnten. Dazu
38 siert. Die Änderung des Bildsignals ist mathema- wird das Bild z. B. mit der oben beschriebenen Bi-
tisch durch den Gradienten beschrieben. Die am nomialmaske gefaltet. Im nächsten Schritt wird der
39 häufigsten verwendeten Algorithmen zur Merk- Gradient des geglätteten Bildes berechnet. Aus dem
malsextraktion verarbeiten entsprechend Gradi- Gradienten wird die lokale Orientierung ˛ als po-
40 enten. Im Folgenden wird zunächst die Bildung
des Gradienten als lokaler Operator diskutiert.
tenzielle Kantenrichtung einer potentiell vorhan-
denen Kante in jedem Pixel berechnet
21.2 • Bildverarbeitung
375 21

.. Abb. 21.5  Links: Originalbild; Rechts: Ergebnisbild des a) Canny-Kantendekektors; b) Harris-Eckendetektors

 
gy .x;y/
˛ D arctan (21.9)
XX
gx .x;y/ S.x; y/ D w.u; v/
u v
und auf Vielfache von 45° quantisiert. Ferner "
.gx .x C u; y C v//2
wird ein Maß für die Kantenstärke berechnet. Die-
ses Maß kann z. B. der Betrag des Gradienten sein. gx .x C u; y C v/gy .x C u; y C v/
Als Zwischenschritt wird nun eine Suche nach lo- #
gx .x C u; y C v/gy .x C u; y C v/
kalen Maxima durchgeführt. Pixel bekommen die 2
gy .x C u; y C v/

Kantenstärke Null zugewiesen, falls ein nicht in (21.10)
Kantenrichtung liegendes Nachbarpixel existiert,
das eine höhere Kantenstärke besitzt. Damit ist wobei w.u; v/ eine um .0;0/ zentrierte Ge-
sichergestellt, dass bei der folgenden Verarbeitung wichtungsfunktion darstellt. Der zum größeren
nur Kanten gefunden werden, die nicht breiter als Eigenwert des Strukturtensors gehörende Ei-
ein Pixel und somit präzise lokalisiert sind. Die genvektor zeigt in Richtung der lokalen Orien-
berechnete Kantenstärke der übrigen Bildpunkte tierung und der Eigenwert stellt ein Maß für die
wird dann mit zwei gegebenen Schwellwerten ver- Ausprägung dieser Orientierung dar. Der zum
glichen. Liegt die Kantenstärke höher als der höhere kleineren Eigenwert gehörende Eigenvektor
Schwellwert, so wird der entsprechende Bildpunkt zeigt entsprechend in die dazu senkrechte Rich-
als Kante markiert. Liegt die Kantenstärke niedriger tung der minimalen Orientierung. Auch hier
als der niedrigere Schwellwert, so wird er als Kante stellt der Eigenwert ein Maß für die Ausprägung
abgelehnt. Liegt die Kantenstärke zwischen den der Orientierung in dieser Richtung dar. Mit-
beiden Schwellwerten, dann wird der Bildpunkt als hilfe des Strukturtensors können entsprechend
Kante detektiert, wenn es in Kantenrichtung mit die Bildpunkte als Ecken detektiert werden, de-
einem zuvor als Kantenpixel klassifizierten Pixel ren Strukturtensor zwei große Eigenwerte auf-
benachbart ist. Auf diese Weise wird eine Hyste- weist. Zur Berechnung wird die Eckenstärke
rese bei der Kantendetektion realisiert, die zu einer E.x; y/ D det.S.x; y//    .spur.S.x; y//2
stabileren Detektion kontinuierlicher Kantenzüge mit  2 Œ0;04I 0;15 gebildet. Pixel mit einer ho-
führt. Die gefundenen Kanten können in einem hen Eckenstärke werden als Ecken erkannt. Al-
nächsten Schritt z. B. auf bestimmte Formen un- ternativ zur Berechnung der Eckenstärke können
tersucht werden. auch direkt die Eigenwerte von S.x; y/ untersucht
Weitere wichtige primitive Bildmerkmale sind werden. Eine Ecke liegt dann vor, wenn beide Ei-
Ecken, deren Lokalisierung exemplarisch an- genwerte hinreichend groß sind. Die gefundenen
hand des Harris-Eckendetektors aufgezeigt wird. Ecken können in einem weiteren Verarbeitungs-
Zunächst wird der Gradient des Eingabebildes schritt z. B. zur Korrespondenzsuche zwischen
bestimmt. Es folgt die Berechnung des Struktur- Bildern verwendet werden. Eine detailliertere
tensors Diskussion zur Kantendetektion und zum Struk-
turtensor ist in [4] und [2] zu finden.
376 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

21.2.2.2 Korrespondenzmerkmale Skalarprodukt der zugehörigen Vektoren kann dabei


21 Die Kenntnis der Projektion eines realen Punktes in als Kriterium für eine gute Korrespondenz heran-
verschiedenen Bildern einer Bildfolge oder mehre- gezogen werden. Während eine einfache Methode
22 rer Kameras lässt Rückschlüsse auf dessen Position der Zuordnung darin besteht, Korrespondenzen in
im 3d Raum zu. Entsprechend bildet die Suche nach absteigender Reihenfolge ihres Ähnlichkeitsmaßes
Korrespondenzen in mehreren Bildern die Grund- zuzuordnen, lassen sich auch global optimale Ver-
23 lage zur Rekonstruktion der durch die Projektion fahren wie der Kuhn-Munkres-Algorithmus (auch
verloren gegangene 3d Information. Die Bestim- bekannt als “Ungarische Methode”) heranziehen.
24 mung von Korrespondenzmerkmalen kann als eine Stellvertretend für deskriptorbasierte Verfahren
Suchaufgabe aufgefasst werden, bei der zu einem wird im folgenden der SIFT-Ansatz näher erläutert.
Element der einen Ansicht das dazu korrespondie- Andere Deskriptoren wie SURF, BRIEF, DAISY oder
25 rende Element der anderen Ansicht gesucht wird [5, DIRD folgen einem ähnlichen Prinzip, können aber
6]. Die Suchverfahren können grob in drei Klassen durch effiziente Berechnungen und Approximatio-
26 eingeteilt werden: Deskriptorbasierte Verfahren, nen Rechenzeitvorteile bieten.
Gradientenverfahren und Matching Verfahren. Das SIFT-Verfahren berechnet im ersten Schritt
27 Detektoren und Deskriptoren salienter
eine Bildpyramide durch Glättung und Verkleine-
rung des Eingabebildes. Auf jeder der Skalen wer-
Bildpunkte den daraufhin Minima und Maxima der Faltung mit
28 Deskriptorbasierte Verfahren wie SIFT [7], SURF einem Gauß-Differenzfilter bestimmt. Um die An-
[8], BRIEF [9], DAISY [10] und der gelernte De- zahl der gewonnen Punkte zu reduzieren und Min-
29 skriptor DIRD [11] arbeiten typischerweise in drei destabstände zwischen Ihnen einzuhalten kommt
aufeinanderfolgenden Stufen: Zunächst werden das sogenannte “Non-Maximum-Suppression”
30 markante Punkte wie Ecken [4] oder Blobs [7] im
Bild detektiert welche sich mit hoher Wahrschein-
Verfahren zum Einsatz. Um Rotationsinvarianz
zu gewährleisten wird ein Histogramm der Grau-
lichkeit auch in anderen Bildern der gleichen Szene wertgradienten in einem Fenster um den Merkmal-
31 finden lassen. Nach dieser Diskretisierung wird für spunkt erstellt. Das Fenster zur Beschreibung des
jeden der selektierten Punkte ein Deskriptor berech- Merkmalspunktes wird daraufhin in Richtung des
32 net, welcher möglichst diskriminativ und zugleich maximalen Gradienten ausgerichtet.
robust gegenüber Beleuchtungsänderungen, Ro- Zur eigentlichen Beschreibung wird ein loka-
tationen, Translationen, Änderungen in der Skale ler Bildbereich um den Merkmalspunkt herum
33 sowie moderaten Verzerrungen ist. Letztere treten in gleichmäßige Quadrate aufgeteilt. Jeder dieser
auf, wenn sich die Position der Kamera zwischen Teilbereiche lässt sich dann robust durch ein His-
34 den zwei Bildern signifikant verändert hat, und wer- togramm der Gradientenorientierung beschreiben,
den durch die projektive Abbildung verursacht. Oft wie in . Abb. 21.6 dargestellt. Die Histogramme
35 existieren Varianten der Deskriptoren (U-SIFT, U-
SURF), welche nur einen Teil der vorgestellten Inva-
werden anschließend normalisiert und zu einem
Vektor mit 128 Einträgen zusammengefasst, wel-
rianzeigenschaften aufweisen. So ist es beispielsweise cher der Beschreibung des Merkmalspunktes
36 bei Videosequenzen oft sinnvoll gänzlich auf die Ro- dient. Im Gegensatz zum direkten Vergleich von
tationsinvarianz zu verzichten, da die zwischen zwei Intensitäten oder Grauwertgradienten gewähr-
37 Zeitschritten auftretende Rotation als vernachläs- leisten Histogramme eine robustere Merkmals-
sigbar angesehen werden kann. Mit dem DIRD De- beschreibung da sich ihre Form durch geringfüge
skriptor wurde hierfür ein Verfahren vorgeschlagen, Rotation, Translation oder Verzerrung des zugrun-
38 das einen Deskriptor mit einer beliebigen Auswahl deliegenden Bildes nur geringfügig ändert. Diese
von Eigenschaften anhand vorgegebener Trainings- Eigenschaft machen sich auch die sogenannten
39 beispiele aufgabenspezifisch lernt. Im dritten und HoG-Merkmale (Histogram of oriented gradients)
letzten Schritt werden die Korrespondenzen zweier zunutze, welche im Bereich der Objekterkennung,
40 Bilder einander anhand ihrer Deskriptoren zugeord-
net. Ein kleiner euklidischer Abstand bzw. ein großes
insbesondere der Personenerkennung, häufig zum
Einsatz kommen.
21.2 • Bildverarbeitung
377 21
.. Abb. 21.6  SIFT Deskriptor. Links: Gradienten;
Rechts: Histogramme der Gradientenrichtung

Gradientenverfahren dass Gleichung (21.11) nur für (infinitesimal) kleine


Bei Gradientenverfahren wird i. Allg. die Intensität Verschiebungen gilt. Gradientenverfahren werden
der Grauwerte im Bild als orts-zeitabhängige Funk- daher meist bei der Bewegungsbestimmung von
tion g.x; y; t / der Bildkoordinaten .x; y/ und der Punkten zeitlich sequentieller Bildfolgen eingesetzt,
Zeit t durch eine Reihenentwicklung approximiert. in denen ein geringer optischer Fluss angenommen
In [2] wird ein gradientenbasiertes Verfahren vor- werden kann, sowie im Nachgang an pixelgenaue
gestellt, das auf einer Taylorapproximation erster Korrespondenzverfahren, die auf den zuvor be-
Ordnung des Intensitätsbildes im Sinne der sog. schriebenen Deskriptoren oder den nachfolgend be-
Kontinuitätsgleichung des optischen Flusses be- schriebenen Matching Verfahren basieren können.
ruht. Dabei wird angenommen, dass die Intensität
eines auf die Bildebene projizierten Raumpunktes Matching Verfahren
über die Zeit konstant bleibt. Damit lässt sich die Bei Matching Verfahren werden Korrespondenzen
Kontinuitätsgleichung des optischen Flusses for- nur innerhalb der durch das Bildraster vorgegebe-
mulieren nen Bildpositionen gesucht. Um die Korrespondenz
zu einem Bildpunkt zu finden, wird eine kleine um-
rg T v C gt D 0;(21.11) liegende Region aus dem ersten Bild mit entspre-
 T chenden um mögliche Korrespondenzkandidaten
T
worin v D .u; v/ D dx dt
; dy
dt den opti- platzierten Regionen im zweiten Bild verglichen.
 T
schen Fluss, rg D @g ;
@x @y
@g den Ortsgradient Die Korrespondenz ergibt sich dann durch die im
und gt D dg dt
die partielle Ableitung der Intensität Sinne eines bestimmten Maßes ähnlichste Region.
in zeitlicher Richtung bezeichnen. Diese Gleichung Da das Korrespondenzproblem innerhalb homogen
sagt aus, dass der Bildgradient entlang der Bewe- oder periodisch texturierter Bildregionen nicht ein-
gungstrajektorie verschwindet. Gleichung (21.11) deutig gelöst werden kann, ist es sinnvoll, den Such-
stellt nur eine skalare Bedingungsgleichung für die raum auf markante Bildstrukturen einzuschränken.
beiden gesuchten Parameter des optischen Flusses Bei diesen sogenannten merkmalsbasierten Verfah-
dar. Für eine eindeutige Bestimmung von Korres- ren beschränkt man den Suchraum auf eine Unter-
pondenzen mit Hilfe von Gleichung (21.11) werden menge von Merkmalen im Bild. Merkmale können
deshalb zusätzliche Annahmen benötigt. Diese be- unter anderem Ecken- oder Liniensegmente sein.
stehen meist in einfachen Modellen für die Bewe- Mit dem oben vorgestellten Harris-Eckendetektor
gung in einer Bildregion. Im einfachsten Fall wird wurde ein hier häufig verwendeter Merkmalsdetek-
angenommen, dass der optische Flussvektor v in tor bereits vorgestellt.
einem Bildblock konstant ist. Diese Annahme und Als Region wird oft ein symmetrisches Fens-
die nachfolgende Least Square Schätzung des op- ter, beispielsweise ein rechteckiger Block, verwen-
tischen Flusses führt zum bekannten KLT-Tracker det, dessen Bildpunkte im Referenzbild durch die
[12], der bei hohen Bildraten und kleinen Bewe- Menge B D fxR1; ; : : : ; xR n g bezeichnet seien.
gungen sehr gute Ergebnisse liefert. Der schnellen Entsprechende Verfahren werden daher oftmals
und subpixelgenauen Korrespondenzbestimmung Block-Matching genannt. Bezeichnet man das Refe-
derartiger Verfahren steht der Nachteil gegenüber, renzbild und das zweite Bild mit g1 .x/ und g2 .x/,
378 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

und beschreibt man die Korrespondenz durch die ten Fahrzeugs immer einen unbestimmbaren Frei-
21 Verschiebung d D .d1 ; d2 /T, so bewertet beispiels- heitsgrad einer vollständigen Dimension aufweist.
weise das SAD-Abstandsmaß (sum of absolute dif- Wenngleich zur Bestimmung dieser verbleibenden
22 ferences) den absoluten Fehler zweier Bildblöcke Unsicherheit verschiedene Heuristiken einsetzbar
sind (z. B. Fahrt über Ebene mit bekannter Kame-
P
SAD.d/ D jg1 .xR /  g2 .xR C d/j:(21.12) rahöhe), bieten diese für sicherheitskritische Fahr-
23 xR 2B funktionen kaum die notwendige Verlässlichkeit.
Im Gegensatz dazu liefert ein Stereokamerasys-
24 Das SAD-Abstandsmaß bildet somit die tem1 unmittelbar die Tiefeninformation zu fast allen
L1-Norm der Grauwertdifferenzen. Andere Nor- Bildpunkten und kombiniert somit Informationen
men sind ebenfalls als Abstandsmaß gebräuchlich. über Geometrie und Textur einer Szene in einem
25 Der Korrelationskoeffizient zwischen den Grauwer- Sensor. Zur Beschreibung eines Stereokamerasys-
ten beider Bildblöcke kann als einfaches Ähnlich- tems wird das in ▶ Abschn. 21.1.1 eingeführte ma-
26 keitsmaß verwendet werden: thematische Modell einer monokularen Lochka-
mera um eine zweite Kamera erweitert. Für beide
(21.15)
.d/ D
27 P
.g1 .xR /  bN1 /.g2 .xR C d/  bN2 /
Kameras wird die oben beschriebene intrinsische
xR 2B
und extrinsische Kalibrierung als bekannt voraus-
D s s : gesetzt. In ▶ Abschn. 21.3.1 werden die Grundlagen
28 P 2
.g1 .xR /  bN1 / 
P 2
.g2 .xR C d/  bN2 / zur Stereoskopie beschrieben. Im Falle statischer
xR 2B xR 2B
Szenen kann die Stereoauswertung auch aus zwei
29 zeitlich nacheinander aufgenommenen Bildern ei-
Dabei bezeichnet bNi den mittleren Grauwert im ner bewegten Kamera erfolgen. Die Erweiterung der
30 betrachteten Bildblock. Der Korrelationskoeffizient
bildet somit ein gegen Skalierung mit einem kon-
Stereoauswertung für allgemeine zeitlich nacheinan-
der aufgenommene Bilder wird in ▶ Abschn. 21.3.2
stanten Faktor und Summation eines konstanten vorgestellt. Eine Verallgemeinerung auf drei Kame-
31 Offsets invariantes Ähnlichkeitsmaß zwischen Bild- ras, bei der Korrespondenztripel untersucht werden,
regionen. Durch Maximierung dieses Ähnlichkeits- führt zum Trifokal-Tensor in ▶ Abschn. 21.3.3.
32 maßes gewonnene Korrespondenzen sind gegen Be-
leuchtungsänderungen weitgehend unempfindlich.
21.3.1 Stereoskopie
33
21.3 3d Rekonstruktion Die Stereoskopie gehört zu den passiven Verfahren
34 der Szenengeometrie der 3d Szenenrekonstruktion. Hierbei werden zwei
oder mehr Bilder der gleichen Szene von verschiede-
35 In vielen Anwendungen zielen Kameras in Fah-
rerassistenzsystemen auf die 3d Rekonstruktion des
nen Kamerapositionen aus aufgenommen. Aus der
Lage eines bestimmten Szenenpunktes in mindes-
Fahrzeugumfelds. Bei Monokameras ist dies jedoch tens zwei Bildern, lässt sich seine räumliche Position
36 infolge der bekannten bearings-only Ambiguität nur bei Kenntnis der intrinsischen und extrinsischen
begrenzt möglich. Diese fundamentale Eigenschaft Kalibrierungsparameter der Kameras bestimmen.
37 projektiv abbildender Sensoren besagt, dass es durch Für die Korrespondenzanalyse selbst wurden im
ausschließliche Messung von Richtungen aus mit letzten Abschnitt bereits einige Verfahren erläutert.
einem bewegten Sensor nur möglich ist, eine ver- In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass mit
38 gleichbare Bewegung eines verfolgten Objekts bis auf Informationen über die Kalibrierung und bekannter
einen verbleibenden Freiheitsgrad zu bestimmen. Lage der Kameras zueinander weitere Korrespon-
39 Für ein mit konstanter Geschwindigkeit fahrendes denzbedingungen formuliert werden können, die
Automobil bedeutet dies beispielsweise, dass die mit eine effiziente Stereoauswertung erlauben.
40 einer monoskopischen Kamera gemessene Position
und Geschwindigkeit eines ebenfalls unbeschleunig- 1 von griechisch stereós: hart, fest, körperlich, räumlich
21.3  •  3d Rekonstruktion der Szenengeometrie
379 21

Ein Stereosystem besteht aus zwei Kameras mit Basisbreiten und einer damit zunehmend schwieri-
optischen Zentren Cl und Cr, die in ihrem Erfas- ger werdenden Korrespondenzsuche, da bei großer
sungsbereich denselben Szenenpunkt XW abbilden. Basisbreite Verdeckungen häufiger auftreten und
Die Indizes l für links und r für rechts werden zur Verzerrungseffekte bei der Abbildung stärker aus-
Unterscheidung der beiden Kameras in der Stereo- geprägt sind.
anordnung verwendet. Aus praktischen Gründen Die Schnittpunkte von t mit den beiden Bild-
wird das Weltkoordinatensystem oft so gewählt, ebenen werden als Epipole el und er bezeichnet.
dass es mit einem der beiden Kamerakoordinaten- Die optischen Zentren Cl und Cr spannen somit
systeme zusammenfällt. Im weiteren Verlauf soll mit XW eine Ebene auf, die als Epiploarebene be-
angenommen werden, dass das Weltkoordinaten- zeichnet wird und in der beide Bildpunkte xl und
system mit dem Kamerakoordinatensystem der xrliegen, vgl. . Abb. 21.7. Durch diese geometrische
rechten Kamera übereinstimmt, d. h. die extrinsi- Anordnung kann die sogenannte Epipolarbedingung
schen Parameter der rechten Kamera ergeben sich formuliert werden die den Suchaufwand für Stereo-
zu Rr D I, tr D 0 und die der linken Kamera zu korrespondenzen von der gesamten Bildebene auf
Rl D R, tl D t. Die jeweiligen Projektionsmatrizen eine (Halb-)Gerade reduziert.
lauten somit Sind xl und xr Abbildungen des selben Raum-
punktes XW , dann liegt xl auf der Halbgeraden, wel-
Pr D Cr ŒI; 0 che durch die von xr bestimmten Epipolarlinie durch
Pl D Cl ŒR; t D Cl M:(21.14) den Epipol im gleichen Bild gegeben ist.
Mathematisch lautet die Epipolarbedingung
Die Positions- und Orientierungsänderung der
linken Kamera, relativ zur weltfesten, rechten Ka- xQ T
l
 E  xQ r D 0 mit E D t R(21.17)
mera kann somit durch eine starre Transformation
ausgedrückt werden. Die Transformation beschreibt worin der Operator t die Abbildung des Vektors t
eine Überführung des Raumpunktes XW hinsicht- auf folgende antisymmetrische Matrix darstellt.
lich des Kamerakoordinatensystems des rechten
2 3 2 3
Kamerakoordinatensystems in das linke Kamer- tx 0 tz ty
akoordinatensystem t D 4ty 5 D 4 tz 0 tx 5(21.18)
tz  ty tx 0
Ql Š M
X QXQr
mit X Q W D .XW ; YW ; ZW ; 1/T :(21.15)
Qr D X Die Matrix E wird Essentielle Matrix genannt und
ist bei kalibrierten Kameras vollständig durch die
Die Abbildung eines Punktes in 3d Weltkoordi- Position und Orientierung der beiden Kameras be-
naten XW auf 2d Rechnerkoordinaten der linken, stimmt. Die Essentielle Matrix wurde erstmals von
bzw. rechten Kamera xR;l, xR;r wird in homoge- Longuet-Higgins [13] vorgestellt. Sie beschreibt die
nen Koordinaten durch folgende lineare Abbildung geometrische Beziehung zweier korrespondierender
beschrieben: Punkte in den beiden Ansichten des Stereokame-
rasystems in Bildkoordinaten.
QW
xQ R;r Š Pr X Für Rechnerkoordinaten ergibt sich die Epipo-
Q W :(21.16)
xQ R;l Š Pl X larbedingung in ähnlicher Form mit Hilfe der Fun-
damentalmatrix F
Für den dreidimensionalen Verschiebungsvek-
tor t der Kameras gilt t D Cl  Cr. Er wird oft auch T
xQ R;l  F  xQ R;r D 0
als Basis mit der Basisbreite b D jtj bezeichnet und
drückt den Abstand zwischen den optischen Zen- mit F D CT 1
l t RCr :(21.19)
tren der beiden Kameras aus. Bei der Wahl von b
muss ein Kompromiss gefunden werden zwischen F enthält somit die intrinsischen und extrinsi-
einer möglichst hohen Tiefenauflösung bei großen schen Parameter der euklidischen Transformatio-
380 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

.. Abb. 21.7  Epipolargeo-
21 metrie einer Stereokamera
Xw

22
xl xr
23 Cl
eL eR
Cr
CL cR

24
25 [R|T]

26 nen beider Kameras. Zur Bestimmung von F und einem rektifizierten Stereosystem. Eine detaillierte
E aus gegebenen Korrespondenzpaaren gibt es in Beschreibung gängiger Rektifizierungsverfahren ist
27 der Fachliteratur eine Fülle linearer und nichtline- in [6] beschrieben.
arer Ansätze. Zu den linearen Verfahren gehört der Da Korrespondenzen bei einem achsparallelen
8-Punkt-Algorithmus, der für hinreichend genaue Stereosystem in derselben Bildzeile liegen, führt die
28 Punktkorrespondenzen zufriedenstellende Ergeb- unterschiedliche Perspektive der Kameras hinsicht-
nisse liefert. Es zeigt sich jedoch in der Literatur, lich des Szenenpunktes zu einer rein horizontalen
29 dass durch Verwendung von klassischen nichtline- Verschiebung in der Abbildung. Dies kann durch
aren Verfahren aus der numerischen Mathematik folgende Umformung von Gleichung (21.2) für
den Raumpunkt X D .X; Y; Z/T in den jeweiligen
30 bessere Ergebnisse zu erzielen sind. Zur nichtline-
aren Schätzung können etwa das Gauß-Newton- Bildkoordinaten unmittelbar erkannt werden2.
Verfahren oder die Levenberg-Marquardt-Optimie- ! ! !
31 rung genannt werden [14]. Die Essentielle Matrix x
D
f Xl
D
f Xr C b
besitzt fünf Freiheitsgrade. Diese ergeben sich aus y Zl Yl Zr Yr
32
l
3 Drehwinkeln in R und 3 Translationen in t, wobei ! ! (21.20)
die Skale jtj für die homogene Matrix E irrelevant x f Xr
D
und auch nicht beobachtbar ist. Entsprechend sind Zr Yr
33
y
r
minimal fünf Punktkorrespondenzen zu ihrer Be-
stimmung erforderlich [15]. Da die vertikale Koordinate y in beiden Abbil-
34 Gleichung (21.17) bzw. (1.19) stellen eine Bedin- dungen identisch ist, ergibt sich folgende Beziehung
gungsgleichung für korrespondierende Bildpunkt- für die Verschiebung der Abbildung
35 paare dar, welche den Suchraum auf eine Dimension
entlang der Epipolarlinie reduziert. Jedoch stellen  D xl  xr
die i. Allg. schräg verlaufenden Epipolarlinien in f b (21.21)
 
f Xr fb f Xr
36 der Bildebene eine für die Suche ungünstige Struk- D
Zr
C
Zr

Zr
D
Zr
:
tur dar. Durch eine Transformation, Rektifikation
37 genannt, in der die zueinander verdrehten Stereo- Die Verschiebung  wird als Disparität be-
bildebenen und Kamerakoordinatensysteme virtu- zeichnet und in der Einheit Pixel angegeben. Die
ell komplanar ausgerichtet werden, kann erreicht
38 werden, dass korrespondierende Epipolarlinien
horizontal und auf gleicher Höhe verlaufen. Nach 2 Streng genommen wird hier das Bild einer kalibrierten
39 der Rektifikation erhält man also die Bilder, die Kamera betrachtet, deren Bildenbene den Abstand f zum
optischen Zentrum aufweist. Diese zusätzliche Skalierung
eine Stereoanordnung mit Rr D I, tr D 0, Rl D I, der Bildkoordinaten mit der Brennweite ist üblich, um
40 tl D .b; 0;0/Taufgenommen hätte. Man spricht dann Bildkoordinaten in Pixel und metrische Entfernungen in
von einer achsparallelen Stereogeometrie bzw. von Meter auszudrücken.
21.3  •  3d Rekonstruktion der Szenengeometrie
381 21
.. Abb. 21.8  Rektifiziertes Stereosystem Xw

xl xr

f f

Cl Cr

3d Rekonstruktion entsteht durch Umstellen der wegung zumindest eine Mehrdeutigkeit in einem
Gleichungen (21.20) und (21.21) Freiheitsgrad.
Wir gehen im Folgenden von einem objektfesten
Z
f
D b

,ZD bf

:(21.22) Koordinatensystem aus. Durch die Eigenbewegung
der Kamera verändert ein als statisch anzunehmen-
Damit stellt die Disparität ein Maß für die der Raumpunkt seine Position X.t / über der Zeit t.
Raumtiefe des Punktes X dar und verhält sich um- Vom Zeitpunkt t zum Zeitpunkt t C 1 verschiebe
gekehrt proportional zu ihr. Für Punkte im Unend- sich der Raumpunkt um
lichen verschwindet insbesondere die Disparität.
Durch lineare Fehlerfortpflanzungsrechnung lässt D.t C 1/ D X.t C 1/  X.t /:(21.24)
sich die Auswirkung kleiner Fehler in der Dispari-
tätsschätzung d auf den resultierenden Fehler in Die durch die Kamerabewegung entstehende 2d
der Entfernungsschätzung abschätzen Verschiebung des entsprechenden Bildpunktes auf
der Bildebene ist gegeben durch
d:(21.23)
dZ 2
dZ D d
d D Z
bf
d.t C 1/ D x.t C 1/  x.t/
Der Betrag der Entfernungsschätzung wächst D .X.t C 1/  .X.t///:(21.25)
somit quadratisch mit der Entfernung an. Entspre-
chend ist die 3d Rekonstruktion aus der Disparität d bezeichnet den Verschiebungsvektor an der
im Nahbereich hochgenau, während sie für große Stelle x im Bild, verursacht durch die Bewegung der
Entfernungen unbrauchbar wird. Kamera relativ zu Raumpunkt X. Die Projektion
eines Raumpunktes auf die Bildebene, wie in Glei-
chung (21.6) beschrieben, wird hier abgekürzt aus-
21.3.2 Motion-Stereo gedrückt mit ./. Bei einem Kamerasystem, dessen
Bewegung im Raum durch die Rotationsmatrix R
Im Unterschied zur klassischen Stereogeometrie, und den Translationsvektor t beschrieben wird, ist
bei der zwei Kameras lateral zueinander verscho- die Trajektorie des Raumpunktes X.t / gegeben durch
ben sind, wird beim sogenannten Motion-Stereo
Verfahren eine einzelne, bewegte Kamera verwen- X.t C 1/ D R.t C 1/X.t / C t.t C 1/:(21.26)
det. Für unbewegte Umgebungen lässt sich die 3d
Position der entsprechenden Raumpunkte eindeu- Die Epipolarbedingung (1.17) beschränkt mög-
tig aus Korrespondenzen bestimmen. Ist die Vor- liche 2d Verschiebungsvektoren eines starren Ob-
aussetzung unbewegter Umgebungen jedoch nicht jekts auf eine Dimension. . Abbildung 21.9 zeigt
erfüllt, so verbleibt beim Motion-Stereo Verfahren den für Automotive Anwendungen typischen Son-
in der 3d Rekonstruktion von Position und Be- derfall, bei dem die Rotationsbewegung vernach-
382 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

.. Abb. 21.9  Motion-Stereo Anordnung


21 X für rein translatorische Kamerabewegung
T
t D .tx D 0; ty D 0; tz ¤ 0/ entlang der opti-
X(t+2)
X(t+1)
X(t) schen Achse
22 C C C

23
D(t+2) D(t+1)

24
lässigt wird, womit die Rotationsmatrix zur Iden- realen Welt stammen können. Sie ist jedoch nicht
titätsmatrix wird: R.t C 1/ D I . Weiterhin wird hinreichend, d. h. es sind Korrespondenztupel über
25 angenommen, dass sich die Kamera nur entlang der mehrere Bilder möglich, die sämtliche Epipolarbe-
optischen Achse bewegt dingungen zwischen beliebigen Bildpaaren erfüllen,
26 Für starre Objekte mit unbekannter Bewegung aber dennoch nicht von einem Punkt der realen
kann die Epipolarbedingung erst nach Schätzung der Welt stammen können.
27 Epipolarmatrix zur Einschränkung des Suchraums Eine hinreichende Bedingung wird erst mit den
wirksam genutzt werden. Dies hat zur Folge, dass Trifokaltensor erreicht, der die Anordnung von
korrespondierende Punkte zunächst im gesamten drei Kameras beschreibt. Anschaulich betrachtet,
28 Bildraum gesucht werden müssen, was mit kosten- beinhaltet die durch den Trifokaltensor aufgestellte
aufwändigen Operationen verbunden ist. Darüber trilineare Bedingung folgende Teilbedingungen, vgl.
29
30
hinaus ist an vielen Bildpunkten kein eindeutiger
Verschiebungsvektor d bestimmbar, da durch den
Apertureffekt entstehende Mehrdeutigkeiten bei der -
. Abb. 21.10:
Die Einhaltung der Epipolarbedingungen
zwischen dem ersten und zweiten Bild nach

31
projektiven Abbildung auf der Bildebene nicht auf-
gelöst werden können. Ein entscheidender Vorteil
von Motion-Stereo im Vergleich zur Standard-Ste-
reoskopie ist die mit zunehmender Zeit wachsende
- Rotation R12 und Translation t12 der Kamera
Die Einhaltung der Epipolarbedingungen
zwischen dem zweiten und dritten Bild nach
erneuter Rotation R23 und Translation t23 der
32
33
Basislänge. Die Basislänge von Stereoanordnungen
ist aus baulichen Gründen beschränkt. Beim Mo-
tion-Stereo akkumuliert sich die Basislänge aus der
Relativbewegung der Kamera über der Zeit. Dies
- Kamera
Die identische Rekonstruktion der Entfernung
aller Punkte X von der zweiten Kamera, unab-
hängig davon, ob die Entfernung aus den ersten
steigert die Genauigkeit und Reichweite des Sensor- oder letzten beiden Bildern rekonstruiert wurde.
34 systems mit zunehmender Zeit. Besonders attraktiv
für Anwendungen im Fahrerassistenzbereich ist die Formal werden diese Bedingungen symmetrisch
35 gleichzeitige Auswertung von stereoskopischer Dis-
parität und Motion-Stereo. Während stereoskopisch
ausgedrückt, wodurch sich ein System redundanter
Forderungen an die Korrespondenzen in drei Bil-
instantan eine 3d Rekonstruktion im Nahbereich dern x1 ; x2 ; x3 ergibt:
36 möglich ist, akkumuliert das Motion-Stereo Ver-
fahren mit zunehmender Zeit Verschiebungsinfor- f .T; x1 ; x2 ; x3 / D 0:(21.27)
37 mation und erreicht so eine hohe Reichweite [16].
Der Trifokaltensor T umfasst 27 Elemente von
denen jedoch nur 18 unabhängig sind. In der Praxis
38 21.3.3 Trifokal-Tensor zeigen sich die trilinearen Bedingungen der bloßen
bildpaarweisen Auswertung gemäß der Epipolar-
39 Die Erfüllung der Epipolarbedingung (1.17) bzw. bedingung deutlich überlegen. Ihre inhärente Re-
(1.19) zwischen Korrespondenzen in beliebigen dundanz verbunden mit der Beschränkung auf die
40 Bildpaaren stellt eine notwendige Bedingung dafür
dar, dass die Korrespondenzen von einem Punkt der
gleichzeitige Einschränkung der Auswertung auf
Bildtripel lassen darauf basierende Verfahren aber
21.4 • Zeitliche Verfolgung
383 21
.. Abb. 21.10  Trilineare Bedingungen

in der Regel trotz der formalen Vollständigkeit hin- zeugt Beobachtungen entsprechend der Beobach-
ter Bündelausgleichsverfahren zurückstehen [17]. tungsgleichung

Yk D gk .Xk ; vk /:(21.29)
21.4 Zeitliche Verfolgung
Darin ist vk die Realisation des stochastischen
Der mit der projektiven Abbildung einhergehende Beobachtungsrauschens V. Die Aufgabe besteht in
Informationsverlust kann durch zeitliche Verfol- der schritthaltenden Schätzung der Wahrschein-
gung von Bildmerkmalen in 2d oder 3d zum Teil lichkeitsdichte p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / für den aktuel-
kompensiert werden. Ausgehend vom Bayes-Filter, len Zustand unter Berücksichtigung aller bisheriger
welches das allgemeingültigste Verfolgungsverfah- Beobachtungen bis zum aktuellen Zeitpunkt k. Aus
ren darstellt, werden in diesem Kapitel als prakti- dieser Wahrscheinlichkeitsdichte wird dann eine
kable Approximationen das Partikelfilter und das ausgezeichnete Realisation (z. B. das Maximum oder
Kalman-Filter beschrieben. der Mittelwert) als optimale Schätzung X O k gewählt.
Die Aufgabe der zeitlichen Verfolgung besteht
darin, aus Beobachtungen Yk die interessierenden
Größen Xk zu schätzen. Dabei sind sowohl die Be- 21.4.1 Bayes-Filter
obachtungen als auch die zu schätzenden Größen im
Allgemeinen vektorwertig. Beobachtungen und zu Schreibt man zunächst aufgrund der Definition
schätzende Größen sind zeitlich veränderlich und der bedingten Wahrscheinlichkeit (Satz von Bayes)
werden zu diskreten Zeitschritten k D 0; 1; 2; : : : formal
erfasst. Der Zusammenhang der zu schätzenden
p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / (21.30)
Größen Xk mit den gegebenen Beobachtungen Yk 
wird im Zustandsraum modelliert. Die Dynamik p.Yk jXk ; Y0 ; : : : ; Yk1 /p.Xk jY0 ; : : : ; Yk1 /
D
des Zustands Xk wird durch eine allgemeine Sys- p.Yk jY0 ; : : : ; Yk1 /
temgleichung
so erhält man unter der Annahme, dass die ak-
Xk D fk .Xk1 ; sk /(21.28) tuelle Beobachtung Yk bei gegebenem Zustand Xk
von früheren Beobachtungen unabhängig ist3
beschrieben. Dabei ist sk die Realisation des
stochastischen Systemrauschens S. Das System er- 3 Diese Annahme ist äquivalent zur Abgeschlossenheit des
Zustands im Wiener’schen Sinne.
384 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / standsraumbeschreibung an, so wird eine beson-


21 D c  p.Yk jXk /  p.Xk jY0 ; : : : ; Yk1 /:(21.31) ders effiziente Verarbeitung durch das Kalman-Filter
möglich. Weiterführende Literatur zu der diskutier-
22 Dabei ist die Normalisierungskonstante c der ten Thematik findet sich in [18, 19, 20, 21].
Kehrwert des Nenners, und somit eine vom Zustand
Xk unabhängige reelle Zahl. Den letzten Faktor
23 kann man zunächst formal umschreiben 21.4.2 Partikelfilter

24 p.Xk jY0 ; : : : ; Yk1 /


Z
Dieser Abschnitt gibt eine Einführung in das Par-
tikelfilter. Zur Auswertung von Gleichung (21.33)
D p.Xk ; Xk1 jY0 ; : : : ; Yk1 /d Xk1
approximieren Partikelfilter die Wahrscheinlich-
25 Z
(21.32) keitsdichte p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / durch eine end-
D p.Xk jXk1 ; Y0 ; : : : ; Yk1 / liche Summe von Diracstößen mit Gewichten
P
26 p.Xk1 jY0 ; : : : ; Yk1 /d Xk1:
wki : p.Xk jY0 ; : : : ; Yk /  wki  ı.Xk  Xik /. Die
i
Paare Xik ; wki aus Gewicht wki und zugeordnetem
27 Unter der Annahme, dass der Zustand einem Zustand Xk werden Partikel genannt. Im Innova-
i

Markow-Prozess entspringt, und die Beobach- tionsschritt sind dann die Gewichte unter Berück-
tungen bei gegebenem Zustand unabhängig von sichtigung der neuesten Beobachtung zu aktualisie-
28 vorherigen Beobachtungen sind (vgl. Fußnote 3), ren
erhält man die rekursive Gleichung des Bayes- p.Yk jXik /p.Xik jXik1 / i
29 Filters wki /
q.Xik jXik1 ; Yk /
wk1
X
p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / mit wki D 1: (21.34)
30 Dc  p.Yk jXk /
(21.33) i
Z
 p.Xk jXk1 /p.Xk1 jY0 ; : : : ; Yk1 /d Xk1 : Die Importancedichte muss beim Entwurf des
31 Partikelfilters gewählt werden. Eine übliche Wahl ist
q.Xik jXik1 ; Yk / D p.Xik jXik1 /, wodurch Gleichung
P i
32 (21.34) zu wki / p.Yk jXik /wk1 mit
i
Das Bayes-Filter stellt damit einen sequentiel- wk D 1
i
len Zustandsschätzer dar, der in jedem Zeitpunkt wird. Der Zustand bzw. die Unsicherheit der
die folgenden beiden Schritte umfasst. Im Prädikti- Schätzung lassen sich dann wie folgt ermitteln
33 onsschritt wird die Schätzung X O k1 des vorherigen Ok D
X
X wki  Xik und
Zeitpunkts auf den aktuellen Zeitpunkt k prädi-
34
i
ziert. Dazu wird das Integral in Gleichung (21.33) X h ih iT
ausgewertet. Zur Unsicherheit der vorherigen PO k D O k Xik  X
wki  Xik  X O k :(21.35)

35 Schätzung kommt dabei weitere Unsicherheit des i

Systemrauschens hinzu. Im nachfolgenden Innova-


tionsschritt wird die Prädiktion durch die aktuelle Weiterführende Themen zum Partikelfilter sind
36 Beobachtung Yk verbessert, wobei die Likelihood die Degeneration der Samples, das dadurch erforder-
vor dem Integral in Gleichung (21.33) ausgewertet liche Resampling und das Sample-Impoverishment.
37 wird.
Die sequentielle Auswertung der Beobachtun-
gen ermöglicht elegante und effiziente Implemen- 21.4.3 Zeitliche Verfolgung
38 tierungen. I. Allg. ist die Wahrscheinlichkeitsdichte mit dem Kalman-Filter
p.Xk jY0 ; : : : ; Yk / nicht analytisch geschlossen
39 darstellbar. Für den allgemeinen Fall approximie- Für den Fall, dass die Systemdynamik sowie die
ren die sogenannten Partikelfilter die Wahrschein- Beobachtungsgleichung linear sind und ferner das
40 lichkeitsdichte. Nimmt man weiter gaußverteilte
Wahrscheinlichkeitsdichten und eine lineare Zu-
Beobachtungsrauschen, das Systemrauschen als
weiß und normalverteilt betrachtet werden kön-
21.5 • Anwendungsbeispiele
385 21

nen, lässt sich Gleichung (21.33) einfach und effizi- Umformung der Gleichungen (21.37) und (21.38)
ent im sogenannten Kalman-Filter implementieren. die implizit enthaltenen Matrixinversionen effizi-
Zu jedem Zeitpunkt k wird die Normalverteilung ent umsetzt. Auf parallelisierbaren Signalprozesso-
vollständig durch ihren Mittelwert X O k und die Ko- ren lässt sich diese Variante mit deterministischem
varianzmatrix Pk beschrieben. Laufzeitverhalten besonders effizient implemen-
Im Prädiktionsschritt des Kalman-Filters wird tieren. Eine weit verbreitete Filtervariante basiert
die Schätzung des vorherigen Zeitschritts X O k1, auf dem Bierman-Thornton-UD Algorithmus, der
Pk1 anhand des linearen Systemmodells auf den deutlich niedrigere Laufzeiten aufweist, da keine
aktuellen Zeitschritt projiziert Wurzelfunktion berechnet wird [22, 23]. Das Ver-
fahren ist aufgrund der niedrigeren numerischen
O
X O
k D FXk1 Dynamik auch robuster bzgl. Rundungsfehlern
und PO  O T
k D FPk1 F C PS
(21.36) bzw. der Gefahr von indefiniten Kovarianzschät-
zungen. Durch den vermehrten Einsatz von Pro-
mit der Dynamikmatrix F und der Kovarianz- zessoren mit Fließkommaarithmetik rücken diese
matrix des Systemrauschens PS. Im nachfolgenden weit verbreiteten Verfahren jedoch zunehmend in
Innovationsschritt wird schließlich die neueste Be- den Hintergrund.
obachtung Yk berücksichtigt.

X O
Ok D X O T O  T 1
k C Pk G .PV C GPk G / 21.5 Anwendungsbeispiele
O k1 /
.Yk  GFX (21.37)
War die Anzahl an kamerabasierten Fahrerassis-
tenzsystemen (kFAS) bis vor wenigen Jahren noch
PO k D PO  O T
k  Pk G überschaubar und vorrangig auf das Fahrzeug-
 1 
.PV C GPO k GT / GPO k (21.38) Premiumsegment ausgerichtet, haben die meisten
Fahrzeughersteller heute ausgewählte Funktionen
mit der Beobachtungsmatrix G und Kovarianz- je nach Modell selbst in kleineren Fahrzeugklas-
matrix des Beobachtungsrauschens PV. sen im Programm. Der Premiumbereich wird
Die Voraussetzungen in der oben gezeigten hier auch in Zukunft eine wichtige Rolle bei der
Herleitung können in der Praxis bestenfalls nä- Entwicklung neuer und innovativer FAS hin zum
herungsweise garantiert werden. Eine nahelie- hochautomatisierten Fahren einnehmen, jedoch
gende Einschränkung ist die Beschreibungskraft haben gesetzliche Regelungen und ein verändertes
der verwendeten System- und Beobachtungsmo- Sicherheitsverständnis bei Kunden und Behör-
delle, welche aus Gründen der rechentechnischen den zu einer neuen Marktsituation geführt. Als
Handhabbarkeit die reale Welt meist nur appro- Beispiel sei hier das neue Bewertungsschema des
ximativ abbilden. Die daraus resultierenden Un- Europäischen Neuwagen-Bewertungs-Programms
genauigkeiten führen oft zu einem divergierenden Euro NCAP (European New Car Assessment Pro-
Verhalten des Filters, welches in der Praxis durch gramme) für die Jahre 2013 bis 2017 genannt, wo-
sog. Parameter-Tuning verhindert werden kann. rin Notbremsassistenten und Spurassistent stärker
Bei der konkreten Auslegung eines Filters gehört bei den Prüf- und Bewertungsprotokollen berück-
dieser Schritt zu einem festen Bestandteil des sichtigt werden. In . Abb. 21.11 wird der Markt
Entwicklungsprozesses. Eine weitere Einschrän- für kFAS anhand der Indikatoren Kosten und
kung bei der Implementierung des Filters sind Performanz beispielhaft gegliedert. Es zeigt sich,
die Rundungsfehler von digitalen Rechenwerken, dass neben der eigentlichen Leistungsfähigkeit ei-
welche wiederum zu einer drastischen Divergenz nes Systems zunehmend auch die Flexibilität und
des Filters führen können. Eine numerisch stabile Applizierbarkeit eine wichtige Rolle spielen wird.
und effiziente Variante des Kalman-Filters für Pro- Um angemessen auf mögliche Marktentwicklun-
zessoren mit Fixpunktarithmetik basiert auf der gen reagieren zu können, muss auch die Entwick-
Cholesky Zerlegung, welche durch algebraische lung neuer Erkennungs- und Detektionsalgorith-
386 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

.. Abb. 21.11  Der Markt für


Performanz

21 eingeschränkte
Verfügbarkeit Innovation Komfort
kFAS gegliedert nach den Indi-
katoren Kosten und Performanz
Single-Sensor kleines
22 Konzept Marktvolumen

23 fragil
Risiko Premium
Längs-/
visual ACC Querführung
24 hohe Verfügbarkeit

25 kostengetrieben Sicherheit/
Komfort
26 großes
Marktvolumen
Fusionssysteme
ACC+
27 Standard Sicherheit
NCAP hohe Verfügbarkeit
28 Serienausstattung Redundanz
Minimalanforderung
Robust
29
Kosten
30
men dies berücksichtigen. In der Vergangenheit welches in den weiterverarbeitenden Schichten
31 wurden einzelne FAS-Funktionen vom Sensor bis Szeneninterpretation und Verhaltensentscheidung
hin zur Aktorik als in sich abgeschlossene Systeme auf die jeweilige Funktion abgestimmt wird [24,
32 verstanden und entwickelt. Mit zunehmender 25].
Marktdurchdringung kann eine solche Strategie Neben der Datenfusion unterschiedlicher Sen-
jedoch nicht erfolgreich sein, da neben der stetig soren, die heute bereits eine wichtige Rolle spielt,
33 ansteigenden Zahl neuer FAS, der jeweilige Zugang bietet ein Kamerasystem selbst – aufgrund der
zu dem entsprechenden Marktsegment auf diese Auslegung des Verkehrsraums auf die mensch-
34 Weise nicht mehr beherrschbar ist. liche Wahrnehmung – eine ideale Plattform für
Durch die Trennung von funktionsübergrei- die Bereitstellung und Fusion bzw. Interpretation
35 fender Umfeldwahrnehmung und spezifischer
Auslegung der jeweiligen Funktion kann die Ska-
unterschiedlicher Erkennungsergebnisse hin zu ei-
ner konsistenten Abbildung der Szene im Umfeld
lierbarkeit des Gesamtsystems wesentlich erhöht des Fahrzeugs. Dieses an die Szeneninterpretation
36 werden. Weiterhin erlaubt diese Architektur eine gereichte Szenenmodell kann in sechs logische
Partitionierung der Algorithmen auf dem Steu- Gruppen unterteilt werden [26] und fungiert als
37 ergerät und über verschiedene Steuergeräte ver- zentrale Instanz für Umfelddaten im gesamten
teilt. Auch sollte die Absicherungskomplexität Fahrzeug, was auch als Single Point of Truth be-
einer modernen FAS-Funktion nicht unterschätzt zeichnet wird.
38 werden, die durch die Entkopplung von Wahr- Das befahrbare Fahrzeugumfeld wird explizit
nehmung und Funktion deutlich reduziert wird. durch den sog. Freiraum beschrieben. Hierfür exis-
39 Die Umfeldwahrnehmung, bestehend aus Sensor, tieren unterschiedliche Modelle, die sich von der
sensornaher Signalverarbeitung und Datenfusion klassischen Objekterkennung dadurch unterschei-
40 hat die Aufgabe, ein generisches und in sich kon-
sistentes Abbild der Verkehrsszene bereitzustellen,
den, dass sie vorrangig die statische Umgebung des
Fahrzeugs beschreiben [27, 28, 29]. Weiterhin ist in
21.5 • Anwendungsbeispiele
387 21

dem Modell Information über die Fahrbahngeo- Fluss genutzt, um Objekthypothesen zu generie-
metrie (z.  B. Bordsteine), Bodenmarkierungen, ren. Dabei wird für jeden Bildpunkt der Flussvek-
Verkehrszeichen und prädiktive Streckendaten tor bestimmt, der die Bewegung des projizierten
(z.  B. Navigationsdaten) enthalten, worauf hier Szenepunktes in der Bildebene beschreibt. In der
nicht näher eingegangen werden soll. Zuletzt sei anschließenden Bewegungssegmentierung erfolgt
noch die wichtige Kategorie der beweglichen bzw. die Gruppierung von Punkten, die ähnliche Be-
bewegten Objekte wie Fußgänger oder Fahrzeuge wegungsvektoren aufweisen. Meist wird nur dann
genannt, die im Folgenden näher beschrieben wer- ein Bewegungssegment in die Liste der Objekthy-
den soll. pothesen aufgenommen, wenn sich seine Form in
der Bildebene über einen längeren Beobachtungs-
zeitraum als stabil erweist. Die Falschdetektions-
21.5.1 Objektdetektion rate kann dadurch zwar reduziert werden, ist aber
weiterhin sehr hoch.
Prinzipiell können Verfahren zur Objektdetektion Erscheinungsbasierte Verfahren erfassen im Ge-
in die Teilschritte Detektion und Verifikation ein- gensatz dazu die Charakteristik eines Objekttyps
geteilt werden. auf der Basis eines Trainingsdatensatzes. Dieser
Ziel der Detektion ist es, in einem datengetrie- Datensatz beinhaltet unterschiedliche Ausprägun-
benen Prozess nach aktuell im Bild vorkommenden, gen eines einzelnen Objekttyps und drückt die un-
stabilen Gruppen von Merkmalen zu suchen, die terschiedlichen Erscheinungen eines Objektes aus.
mögliche zu erkennende Objekte beschreiben. Auf- In einem Trainingsschritt werden aus den Trai-
grund des oft geringen Abstraktionsgrades der Da- ningsbildern charakteristische Merkmale erzeugt.
ten und der Beschränkung der Betrachtung auf nur Eine Sammlung von solchen Merkmalen wird
einen bestimmten Zeitpunkt ergibt sich hier meist dann zusammengefasst zu einer Gesamtbeschrei-
eine hohe Fehldetektionsrate, welche in den meis- bung des Objekttyps. Um einen Merkmalsvektor
ten Fällen akzeptabel ist, da fehlerhafte Objekthy- eindeutig einem Objekttyp zuordnen zu können,
pothesen in der anschließenden Verifikation durch muss entweder ein Klassifikator trainiert oder die
zeitliche Integration bzw. höher abstrahierte Daten Wahrscheinlichkeitsverteilung der Merkmale mo-
eliminiert werden. Bestimmte Objekteigenschaften delliert werden. In [32] wird eine Sammlung von
wie z. B. die Symmetrieeigenschaft von Fahrzeugen, Haar-Merkmalen verwendet, welche die Erschei-
der Schatten unterhalb eines Fahrzeugs oder cha- nung eines Objekts in der Bildebene beschreiben.
rakteristische Grauwert- bzw. Farbverläufe können Als Klassifikator wurde hier der AdaBoost-Algo-
ebenfalls zur Einschränkung des Suchbereichs ge- rithmus gewählt. Um die Charakteristik eines Fahr-
nutzt werden [30, 31]. zeugs zu beschreiben, werden in [33] Gabor-Filter
Bei disparitätsbasierten Verfahren zur Hypothe- verwendet. Die bei Fahrzeugen stark ausgeprägten
sengenerierung können beliebig geformte Objekte Kanten und Linien in einer bestimmten Anordnung
detektiert und deren Position und Lage in der Szene können durch richtungssensitive Gabor-Filter effizi-
bestimmt werden. Infolge der quadratisch mit der ent bestimmt werden. Als Klassifikator wurde hier
Entfernung anwachsenden Standardunsicherheit eine Support-Vector-Machine (SVM) benutzt. In
der Entfernungsmessung liefern disparitätsbasierte [34] und [35] werden Verkehrsteilnehmer durch
Verfahren im Nahbereich zuverlässige Hypothesen eine Sammlung von Bildfragmenten beschrieben,
und sind im Fernbereich kaum anwendbar. Außer- die Teile der jeweiligen Objektklasse enthalten. Ein
dem wird die Gruppierung einzelner Objektpunkte großer Vorteil dieser Beschreibung ist die kompo-
im Disparitätsbild meist durch Lücken im Dispari- nentenbasierte Architektur, welche eine Teilverde-
tätsbild erschwert. ckung des Objekts zulässt. Der wesentliche Nachteil
Bewegungsbasierte Verfahren nutzen die in erscheinungsbasierter Verfahren ist das aufwändige
einer monokularen Bildfolge vorhandenen In- Anlegen einer repräsentativen Datenbank für jeden
formationen, um Objekte zu detektieren. Meist Objekttyp und das teilweise zeitintensive Training
wird der in ▶ Abschn. 21.2.2 vorgestellte optische des Klassifikators selbst.
388 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

Durch die Kombination der oben vorgestellten Bildung einer konsistenten und einheitlichen Sze-
21 Verfahren kann die Beschreibungskraft hinsichtlich nenrepräsentation, wie in . Abb. 21.12 beispielhaft
der Hypothesengenerierung immens gesteigert wer- gezeigt. Durch Plausibilisierung erfolgt ein Abgleich
22 den. Durch die Verzahnung von Klassifikation und von Umfeldmodellen, welche die gleichen Aspekte
sensornaher Signalverarbeitung kann so z. B. die der realen Welt beschreiben, jedoch aus unter-
stereobasierte Schätzung der Objektgeometrie und schiedlichen Wahrnehmungskategorien stammen.
23 -ausdehnung für bestimmte Objektklassen verbes- Hierdurch erfolgt eine Eigendiagnose der geschätz-
sert werden, da die Genauigkeit eines Klassifikators ten Szene auf deren Basis eine verbesserte Zustands-
24 hier meist höher ist. schätzung der einzelnen Modelle erreicht werden
Aufgabe der Verifikation ist es, die fehlerhaften kann. So können Objekte mit erkannten Fahrstrei-
und ungenauen Objekthypothesen aus dem ersten fen in Bezug gesetzt werden, um deren Richtigkeit
25 Schritt zu plausibilisieren und durch zeitliche Inte- und Sinnhaftigkeit bzgl. Dynamik, Geometrie und
gration, wie in ▶ Abschn. 21.4 beschrieben, zu ver- Klasse zu überprüfen. Im Gegenzug kann die ent-
26 bessern. Zur Plausibilisierung können vordefinierte, sprechende Objekthypothese auch genutzt werden,
meist parametrisierbare Modelle verwendet werden. um das Fahrstreifenerkennungsmodul selbst zu
27 Diese Modelle oder Schablonen werden dann mit stützen. Auch ist es denkbar, über die Fußpunkte
den Bilddaten verglichen und auf ihre Ähnlichkeit der Objekte in der Objektliste die Schätzung der
hin überprüft. Beispielsweise lassen sich für Fahr- Straßengeometrie zu stützen und umgekehrt. Für
28 zeuge 3d Drahtgittermodelle erstellen, deren Pro- die Absichts- bzw. Handlungserkennung bei Fuß-
jektion in die Bildebene zu Kantenmustern führt. gängern kann es hilfreich sein, wo in der Szene und
29 Dieses Muster wird dann im kantensegmentierten in welchem Kontext der Fußgänger sich befindet.
Grauwertbild der Szene gesucht. Modellbasierte Auch steht die Bewegung eines Fahrzeugs mit dem
30 Verfahren haben sich in einfachen Verkehrssze-
narien, in denen die Vielfalt der Objekte und der
geschätzten Fahrstreifenverlauf in gegenseitigem
Bezug zueinander, da davon ausgegangen kann,
Betrachtungswinkel der Kamera eingeschränkt dass sich Fahrzeugführer an Verkehrsregeln halten.
31 sind, vielfach bewährt. Als weitere Möglichkeiten Naheliegend erscheint auch die Plausibilisierung
zur Verifikation von Objekthypothesen können z. B. von Freiraumerkennung und Objekterkennung ge-
32 das Vorhandensein von Nummerntafeln, Lichtern geneinander.
und Scheiben [32] oder der umschließenden Kontur
gleich bewegter Punkte [36] benutzt werden.
33 In dem für die zeitliche Integration benötigten 21.5.2 Kreuzungserkennung
Prädiktionsschritt ist die Unterscheidung zwischen
34 nicht-lebenden physischen Objekten und Subjekten, Neben der Detektion und Verfolgung anderer
die zu eigenständigen Verhaltensentscheidungen in Verkehrsobjekte, die durch Verfahren wie den in
35 der Lage sind, hilfreich. Während bei nicht-leben- ▶ Abschn. 21.5.1 beschriebenen erfolgen, sind für
den physischen Objekten die Prädiktion durch Ex- Fahrerassistenzfunktionen vor allem strukturelle
trapolation auf Basis physikalischer Gesetze erfolgt, Informationen, wie Geometrie und Topologie des
36 kann es bei Subjekten erforderlich sein, Intentionen, zu befahrenden Streckenabschnittes von Bedeu-
Handlungen und Handlungsalternativen zu iden- tung. Die Gewinnung solcher Informationen ohne
37 tifizieren [37]. So kann je nach Objektklasse das weitreichende bauliche Eingriffe in die Straßenin-
Bewegungsmodell der Objekthypothese angepasst frastruktur ausschließlich durch die am Fahrzeug
werden, um dessen spezifische Bewegungscharakte- befindlichen Sensoren erfordert insbesondere in
38 ristik abzubilden. Anwendung findet dies heute u. a. komplexen Szenarien die Bewältigung einiger
bei der Unterscheidung von Fußgängern, Fahrrad- Herausforderungen. Straßenkreuzungen, beispiels-
39 fahrern, Motorrädern und Pkws bzw. Lkws. weise, können komplexe Geometrien annehmen
Die Bündelung der Information im Szenenmo- und oft werden wichtige Hinweise auf die Geo-
40 dell über eine spezifische Funktion bzw. Wahrneh-
mungskategorie hinweg ermöglicht weiterhin die
metrie, wie zum Beispiel Fahrbahnmarkierungen
oder andere Verkehrsteilnehmer, durch Objekte im
21.5 • Anwendungsbeispiele
389 21
Ergebnis der bildweisen Berücksichtigung des Berücksichtigung des Berücksichtigung der
Objektdetektion 3d Szenenmodells 3d Trackingmodells 3d Verdeckungsanalyse

.. Abb. 21.12  Entnommen aus [38]. Gelb umrahmt sind die detektierten Objekte der Kategorien Fahrzeug (oben) und Fuss-
gänger (unten) gezeigt. Durch die von links nach rechts zunehmende Plausibilisierung der Eingangsdaten des Szenenmodells
können widersprüchliche Eingangsgrößen identifiziert und das Modell insgesamt robuster gemacht werden

Sichtfeld verdeckt. Während automatisches Fahren Ziel der probabilistischen Inferenz ist es, die
auf Schnellstraßen [39, 40] sowie das Überqueren wahrscheinlichste Topologie (Anzahl der Kreu-
einfacher in digitalen Karten annotierten Kreu- zungsarme) sowie Geometrie (Position, Orientie-
zungen (DARPA Urban Challenge) basierend auf rung und Breite von Straßen) zu schätzen und dabei
Fahrbahnmarkierungserkennungsverfahren sowie gleichzeitig alle Verkehrsteilnehmer ihrem jeweili-
unter Zuhilfenahme von Laserscannern bereits er- gen Fahrstreifen zuzuordnen. Die ganzheitliche Be-
folgreich gezeigt wurden, bleibt die Behandlung des trachtung spielt hierbei eine entscheidende Rolle:
allgemeinen innerstädtischen Falls trotz verschie- Während die Position von Fahrbahnmarkierungen
dener erfolgreicher wiederum kartenunterstützter und Gebäuden am Fahrbahnrand Rückschlüsse auf
Experimente, wie der von Daimler und dem KIT/ die mögliche Position von Verkehrsteilnehmern
FZI ausgeführten Bertha-Benz Fahrt [41], nach wie zulässt, erlaubt im Umkehrschluss die Verfolgung
vor ein schweres Problem. Einfache Farb-, Textur- dynamischer Objekten Aussagen über die mögliche
und Fahrbahnmarkierungsmerkmale reichen nicht Kreuzungstopologie und -geometrie. Diese Merk-
mehr aus, da diese oftmals hochgradig verdeckt, male sind komplementär. Während in verkehrsrei-
beschädigt oder schlicht nicht vorhanden sind. Die chen Szenen oft die Sicht auf Fahrbahnmerkmale
Komplexität und Vielfalt der möglichen Szenarien verdeckt ist, liefern diese in verkehrsarmen Szena-
erfordert somit eine ganzheitliche Modellierung rien wichtige Informationen. Weitere Merkmale wie
unter Berücksichtigung aller dynamischer und sta- Fluchtpunkte oder Belegungsgitter der Umgebung
tischer Objekte sowie deren Zusammenspiels. können den Inferenzprozess zusätzlich unterstüt-
Ein solch ganzheitliches Modell zur Interpreta- zen.
tion von Kreuzungsszenarien basierend auf Stereo- Konkret werden in [42, 43] folgende in
Videosequenzen wird in [42, 43] vorgestellt. Ein . Abb. 21.13 illustrierten Merkmale in ein Ge-
auf dem Dach des Versuchsträgers AnnieWAY [44] samtmodell integriert und auf ihre Nützlichkeit hin-
angebrachtes Kamerasystem liefert die zur Auswer- sichtlich der Schätzung der Kreuzungsgeometrie,
tung benötigten Sensorinformationen. Durch eine -topologie sowie der Zuordnung von Verkehrsteil-
probabilistisch generative Modellierung, welche die nehmern zu einzelnen mitgeschätzten Fahrstreifen
3d Szenengeometrie sowie die Position und Orien- in 113 repräsentativ ausgewählten und herausfor-
tierung von Objekten in der Szene beschreibt, kön- dernden Kreuzungsszenarien untersucht. Als Merk-
nen Unsicherheiten der Kamerasensoren (wie zum male kommen zum Einsatz:
Beispiel Erkennungsfehler oder Unsicherheiten in Fahrzeugtrajektorien: Die Bewegungen von an-
der Tiefe) angemessen berücksichtigt werden. deren Verkehrsteilnehmern in der Szene bilden ein
starkes Merkmal, welches Hinweise auf die Position
390 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

21
22
23
24
25 .. Abb. 21.13  Monokulare Merkmale wie Fahrzeugtrajektorien, Fluchtpunkte, Semantische Bildsegmentierung sowie Stereo-
Merkmale wie 3d Szenenfluss und Belegungsgitter erlauben eine ganzheitliche Szenenanalyse im Kreuzungsbereich und Rück-
schlüsse über die zu befahrende Geometrie, Topologie sowie die Position und Bewegung der anderen Verkehrsteilnehmer.
26
von Straßen, Fahrstreifen, Abbiegestreifen und den Fluchtlinien ins Bild mit Hilfe eines Voting- oder
27 aktuellen Status von Lichtsignalanlagen liefert. Mit- RANSAC-Verfahrens. Die in 3d parallel verlaufen-
hilfe einer Stereokamera können Fahrzeuge detek- den Fluchtlinien begünstigen im probabilistischen
tiert und unter Zuhilfenahme der in ▶ Abschn. 21.4 Modell eine ähnliche Orientierung der nächstgele-
28 vorgestellten Verfahren in 3d verfolgt werden. Ne- genen Straßenarme, während ein Ausreißermodell
ben Tiefeninformationen können zur Verifizierung dafür sorgt, das Fehldetektionen entsprechend be-
29 von Objekthypothesen ansichtsbasierte Verfahren handelt werden können.
herangezogen werden. Sowohl die Kameraposition Semantische Bildsegmentierung: Weitere Hin-
30 in Kombination mit der Fahrbahnebene als auch
Stereodaten liefern hierbei Rückschlüsse auf die
weise auf die Kreuzungsgeometrie werden durch
die Ansichtsbasierte Klassifizierung des Bildes in
Entfernung des Objektes zur Kamera. Die Objek- die drei Kategorien Straße, Hintergrund (Gebäude,
31 torientierung kann aus der Ansicht sowie aus der Vegetation) sowie Himmel gewonnen. Ein Vergleich
Bewegung gewonnen werden. Bei gegebener Kreu- einer virtuell erzeugten Segmentierung mit der ge-
32 zungstopologie und -geometrie werden Fahrzeug- gebenen Bildevidenz liefert somit einen weiteren
trajektorien genau dann als wahrscheinlich model- Beobachtungsterm des probabilistischen Gesamt-
liert, wenn Sie ihre Bahn und Orientierung in einem modells. Insbesondere gut sichtbare und segmen-
33 Fahrstreifen liegen. Zudem können die Fahrtrich- tierbare Himmelsbereiche lassen Rückschlüsse über
tung und die Fahrzeugdynamik berücksichtigt wer- die Position von “Straßenschluchten” zu. Dies ge-
34 den. Parkende Fahrzeuge am Straßenrand werden schieht unter Hinzunahme vereinfachender Annah-
durch ein entsprechendes Modell abgedeckt. men wie etwa einer durchschnittlichen Häuserhöhe
35 Fluchtpunkte: Die Erkennung von Fluchtlinien
und Fluchtpunkten erleichtert die präzise Orientie-
von etwa 4 Stockwerken.
Szenenfluss: Während die zuvor genannten
rungsschätzung der einmündenden Straßen einer Merkmale auch ausschließlich aus monokularen
36 Kreuzung, da viele Kanten im Bild (beispielsweise Sequenzen gewonnen werden können, liefern Ste-
Fahrbahnmarkierungen, Fassadenbegrenzungen, reokameras wertvolle Tiefeninformationen wie
37 Mauerwerk und Fenster) 3d Linien entsprechen, die in ▶ Abschn. 21.3 beschrieben. Diese können bei-
mit den Straßenrichtungen übereinstimmen. Dabei spielsweise zur Berechnung von Szenenfluss genutzt
werden Linien im Bild durch Ballung von Kanten- werden. Hierbei wird eine Korrespondenz zwischen
38 pixeln erkannt. Anhand ihrer Grauwerteigenschaf- linkem und rechtem Kamerabild jeweils für das zeit-
ten können diese in strukturtragende Kanten und lich aktuelle und nächste Bild hergestellt. Dadurch
39 Ausreißer klassifiziert werden, um den Einfluss von ergibt sich für einen physikalischen Weltpunkt die
Fehlern durch Schlagschattenwurf einzudämmen. 3d Position zu zwei aufeinanderfolgenden Zeit-
40 Die Verifikation von Fluchtpunkthypothesen erfolgt
anschließend durch die Rückprojektion möglicher
punkten und somit ein 3d Verschiebungsvektor (im
Gegensatz zu den in Kapitel 1.2.2 beschriebenen 2D
21.6  •  Zusammenfassung und Ausblick
391 21

optischen Flussvektoren). Nach der Kompensierung 21.6 Zusammenfassung und Ausblick


um die Kameraeigenbewegung, welche aus visueller
Odometrie gewonnen werden kann, bleiben nach Mit maschinellen Sehsystemen finden Sensor-
Schwellwertbildung nur noch die 3d Flussvektoren systeme Eingang in unsere Automobile, die dem
der dynamischen Objekte in der Szene übrig. Von Wahrnehmungsprinzip des Menschen hinsichtlich
Verkehrsteilnehmern erzeugte Bewegungsvektoren der verwendeten visuellen Information am nächs-
werden dann – ähnlich den Fahrzeugtrajektorien – ten kommen. Begünstigt durch den anhaltenden
als wahrscheinlich betrachtet, wenn Sie hinsichtlich Preisverfall von Kamera und Auswertehardware
Position und Orientierung mit Fahrstreifen über- werden Bildsensoren in einer beständig wachsen-
einstimmen. den Vielzahl von Anwendungen eingesetzt. Ein
Belegungsgitter: Die statische Umgebung spielt entscheidender Vorteil von Videosensoren im Ver-
bei der Wahrnehmung der Szene als Ganzes eine gleich zu anderen Umfeldsensoren ist dabei die
wichtige Rolle: So findet sich im innerstädtischen wohl umfangreichste Darstellung von Information.
Bereich oft dichte Bebauung am Fahrbahnrand, und Gleichzeitig bildet die Analyse der umfangreichen
eine Straße, die mitten durch oder unter einem Haus Bildinformation eine große Herausforderung an die
verläuft, ist eher als unwahrscheinlich zu betrachten. Signalverarbeitung.
Zur Registrierung der statischen Szenenelemente aus Für die Anwendung in Fahrerassistenzsyste-
dichten Disparitätskarten lassen sich sogenannte men haben Bildsensoren ein besonders hohes Po-
Belegungsgitter nutzen. Hierbei wird ausgehend
vom Kamerazentrum für jeden Pixel der Sichtstrahl
verfolgt, bis ein Objekt erreicht ist. Unter Zuhilfe- -
tenzial, da:
es durch das passive Messprinzip keine ge-
setzlichen Einschränkungen hinsichtlich der
nahme des Bresenham Algorithmus werden die ent-
sprechenden Gitterzellen dann als jeweils belegt oder
frei markiert. Der Zustand der Zellen kann über ein - Zulassung im Straßenverkehr gibt,
die Infrastruktur und das Verkehrsgeschehen
auf visuelle Wahrnehmung ausgerichtet ist und
binäres Bayes-Filter zeitlich verfolgt werden. Freie
Bereiche stellen im probabilistischen Modell poten-
tielle Kandidaten für Straßenabschnitte dar. - somit nur bildgebend voll zu erfassen ist,
der Informationsgehalt des Sensorsignals ein
ungleich höheres Abstraktionspotential auf-
Während jedes dieser Merkmale für sich ge-
nommen das Inferenzergebnis stützt, zeigt die in
[42] durchgeführte Auswertung, dass sich die bes-
ten Ergebnisse durch Kombination aller zuvor dis-
- weist als herkömmliche Umfeldsensoren,
aufgrund zur Nähe der menschlichen Wahr-
nehmung ein hohes Maß an Transparenz be-
züglich der Funktion videobasierter Fahreras-
kutierten Merkmale erreichen lassen. Als wichtigste sistenzsysteme erreichbar ist.
Merkmale wurden dabei die Fahrzeugtrajektorien,
der Szenenfluss sowie die Bewegungsgitter festge- In diesem Kapitel wurden der Aufbau und die Funk-
stellt, wobei Fahrzeugtrajektorien und Szenenfluss tionsweise von Kameras und zugehörigen Steuer-
teilweise redundant sind, während die statischen Be- geräten für Maschinelles Sehen in Fahrzeugen be-
legungsgitter jeweils komplementäre Informationen schrieben. Als charakterisierende Eigenschaft der
enthalten. Die Fluchtpunktmerkmale helfen dabei, Bildaufnahme wurde der, durch die Abbildung der
die Straßenorientierung zu präzisieren, spielen aber 3d Welt auf eine 2d Bildebene entstehende, Informa-
wie die semantische Bildsegmentierung sonst eine tionsverlust um eine ganze Dimension betrachtet.
eher untergeordnete Rolle. Ein beispielhaftes Schätz- Mit der Einführung homogener Koordinaten lassen
ergebnis der Kreuzungstopologie und -geometrie ist sich solche geometrischen und perspektivischen
in . Abb. 21.13 dargestellt. Für eine mathematische Transformationen auf elegante Weise mathematisch
Formulierung der Modellierung und umfangreiche kompakt ausdrücken und liefern für eine Vielfalt der
Experimente sei auf [42, 43] verwiesen. auftretenden Abbildungen eine lineare Beschreibung.
Die für die Abbildungsbeschreibung notwendigen
Größen sind dabei durch die intrinsischen und ext-
rinsischen Kalibrierparameter der Kamera gegeben.
392 Kapitel 21 • Maschinelles Sehen

Für die Interpretation und Analyse der visuellen 4 Harris, C.G., Stephens, M.: A Combined Corner and Edge
21 Information gibt es eine Reihe anwendungsspezi-
5
Detector, 4th Alvey Vision Conference, S. 147–151 (1988)
Stiller, C., Konrad, J.: Estimating Motion in Image Sequen-
fischer Bildverarbeitungsverfahren. Diese werden ces – A tutorial on modeling and computation in 2D mo-
22 meist modular ausgeführt, wobei erste Vorverar- tion. IEEE Signal Processing Magazine 7, 70–91 (1999). 9,
beitungsstufen das Bildsignal selbst aufbereiten und 116–117
korrigieren. Schließlich werden durch geeignete 6 Trucco, E., Verri, A.: Introductory Techniques for 3–D Com-
23 Operatoren aufgabenspezifische Merkmale extra-
puter Vision. Prentice Hall, New York (1998)
7 Lowe, D.G.: Distinctive Image Features from Scale-Invariant
hiert und übergeordneten Verarbeitungsschritten Keypoints. International Journal of Computer Vision 60(2),
24 bereitgestellt. Diese arbeiten dann auf der stark 91–110 (2004)
verdichteten Merkmalsinformation. Als für die 3d 8 Bay, H., Tuytelaars, T., van Gool, L.: SURF: Speeded up robust
Rekonstruktion besonders aussagekräftige Merk- Features, European Conference on Computer Vision (2006)
25 male wurden hierbei Punktkorrespondenzen vor-
9 Calonder, M., Lepetit, V., Ozuysal, M., Trzcinski, T., Stretcha,
C., Fua, P.: BRIEF: Computing a Local Binary Descriptor Very
gestellt. Durch zeitliche Verfolgungsverfahren lässt
26 sich Bildinformation schritthaltend akkumulieren
Fast. IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine
Intelligence 34(5), 1281–1298 (2012)
und stabilisieren, ohne vergangene Bilder langfristig 10 Tola, E., Lepetit, V., Fua, P.: DAISY: An Efficient Dense De-

27 speichern oder gar verarbeiten zu müssen. Ausge- scriptor Applied to Wide-Baseline Stereo,". IEEE Transac-
tions on Pattern Analysis and Machine Intelligence 32(5),
hend vom Bayes-Filter wurden hier als praktikable
815–830 (2010)
Realisationen das Partikelfilter und das Kalman-
28 Filter beschrieben und um Implementierungshin-
11 Lategahn, H., Beck, J., Kitt, B., Stiller, C.: How to Learn an
Illumination Robust Image Feature for Place Recognition
weise ergänzt. IEEE Intelligent Vehicles Symposium. (2013)
29 Praxisnahe Anwendungsbeispiele und eine 12 Shi, J.; Tomasi, C.: Good features to track. IEEE Conf on Com-
puter Vision and Pattern Recognition, 1994, Seattle
Übersicht aktueller Forschungsarbeiten zur Ob-
13 Longuet-Higgins, H.C.: A computer algorithm for reconst-
30 jekt- und Kreuzungserkennung zeigen das Zu-
sammenwirken und die Leistungsfähigkeit der
ructing a scene from two projections. Nature 293, 133–135
(1981)
beschriebenen Verfahren. Um gleichzeitig die An- 14 Scheer, O.: Stereoanalyse und Bildsynthese. Springer, Hei-
31 forderungen und die Komplexität zukünftiger FAS delberg (2005)
15 Nistér, D.: An Efficient Solution to the Five-Point Relative
zu beherrschen, erscheint es notwendig, die klas-
Pose Problem. IEEE Trans. Pattern Anal. Mach. Intell. 26(6),
32 sische Bildverarbeitung in eine Gesamtarchitektur 756–777 (2004)
einzubetten, mit deren Hilfe Information innerhalb 16 Dang, T., Hoffmann, C., Stiller, C.: Visuelle mobile Wahrneh-
einer Wahrnehmungskategorie verdichtet und über mung durch Fusion von Disparität und Verschiebung. In:
33 die einzelne Erkennungsfunktion hinweg plausibili- Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit
maschineller Wahrnehmung, S. 21–42. Springer, Heidel-
siert werden kann.
34 17
berg (2005)
Dang, T., Hoffmann, C., Stiller, C.: Continuous stereo self-ca-
libration by camera parameter tracking. IEEE Transactions
Danksagung
35 18
on Image Processing 18(7), 1536–1550 (2009)
Barker A.; Brown D.E; Martin W.N.: Bayesian Estimation and
the Kalman Filter, Technischer Bericht IPC-94-002, 5, 1994
Die Autoren danken Dr. Christian Duchow für
36 wertvolle Beiträge zu einer frühen Version dieses
19 Chen Z.: Bayesian Filtering: From Kalman Filters to Particle
Filters, and Beyond. Technischer Bericht, 2003
Kapitels. 20 Meinhold, R.J., Singpurwalla, N.D.: Understanding the Kal-
37 21
man Filter. The American Statistician 37(2), 123–127 (1983)
Welch, G., Bishop, G.: An Introduction to the Kalman Filter.
Literatur Technischer Bericht. http://www.cs.unc.edu/~welch/kal-
38 man/kalmanIntro.html
22 Ghanbarpour Asl, H., Pourtakdoust, S.H.: UD Covariance
1 Faugeras, O.: Three dimensional computer vision: A geo-
Factorization for Unscented Kalman Filter using Sequential
39 2
metric viewpoint. MIT Press, Cambridge, MA (1993)
Jähne, B.: Digitale Bildverarbeitung. Springer Verlag, Hei-
Measurements Update, International Journal of Enginee-
ring and Natural. Sciences 1, 4 (2007)
delberg (1997)
23 Liu, Y., Bougani, C.S., Cheung, P.Y.K.: Efficient mapping of
40 3 Canny, J.: A computational approach to edge detection.
IEEE Trans. Pattern Anal. Mach. Intell. 8(6), 679–698 (1986)
a Kalman Filter into an FPGA using Taylor Expansion In-
Literatur
393 21
ternational Conference on Field Programmable Logic and Robots in Field Factory Service and Space 1994, Houston,
Applications., S. 345–350 (2007) Texas
24 Grewe, R., Komar, M., Hohm, A., Hegemann, S., Lüke, S.: En- 40 Franke, U.: Real time 3d-road modeling for autonomous
vironment Modelling for Future ADAS Functions 19th ITS vehicle guidance, 7th Scandinavian Conference on Image
World Congress. (2012) Analysis, 1991, Aalborg, Dänemark
25 Stiller, C., Puente Leon, F., Kruse, M.: Information fusion for 41 Ziegler, J.; Bender, P.; Lategahn, H.; Schreiber, M.; Strauß,
automotive applications – An overview. Information Fu- T.; Stiller, C.: Kartengestütztes automatisiertes Fahren auf
sion 12(4), 244–252 (2011) der Bertha-Benz-Route von Mannheim nach Pforzheim,
26 Schöttle, M.: Zukunft der Fahrerassistenz mit neuen E/E- Fahrerassistenzworkshop UniDAS, Walting, April 2014
Architekturen. ATZ Elektronik 6(4), 8–15 (2011) 42 Geiger, A., Lauer, M., Wojek, C., Stiller, C., Urtasun, R.: 3D
27 Saarinen, J., Andreasson, H., Stoyanov, T., Luhtala, A.J.: Nor- Traffic Scene Understanding from Movable Platforms IEEE
mal distributions transform occupancy maps: Application Transactions on Pattern Analysis and Machine Intelligence.
to large-scale online 3d mapping IEEE International Con- (2014)
ference on Robotics and Automation. (2013) 43 Geiger, A.: Probabilistic Models for 3D Urban Scene Under-
28 Grewe, R., Hohm, A., Lüke, S., Winner, H.: Umfeldmodelle: standing from Movable Platforms, PhD Thesis, Karlsruhe
standardisierte Schnittstellen für Assistenzsysteme. ATZ- Institute of Technology, 2013
elektronik 7(5), 334–339 (2012). Springer Automotive Me- 44 Geiger, A., Lenz, P., Stiller, C., Urtasun, R.: Vision meets Ro-
dia botics: The KITTI Dataset. International Journal of Robotics
29 Triebel, R., Pfaff, P., Burgard, W.: Multi-level surface maps for Research 32(11), 1229–1235 (2013)
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30 Bertozzi, M., Broggi, A., Castellucio, S.: A real-time oriented
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object detection and an adaptive model-based classifi-
cation IEEE Intelligent Vehicles Symposium., S. 143–148
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32 Papageorgiou, C., Poggio, T.: A trainable System for Object
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34 Mohan, A., Papageorgiou, C., Poggio, T.: Example-based
object detection in images by components. IEEE Transac-
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35 Bachmann, A., Dang, T.: Improving Motion-Based Object
Detection by Incorporating Object-Specific Knowledge. In-
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37 Liebner, M., Klanner, F., Baumann, M., Ruhhammer, C.,
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38 Wojek, C., Walk, S., Roth, S., Schindler, K., Schiele, B.: Mono-
cular Visual Scene Understanding: Understanding Multi-
Object Traffic Scenes IEEE Transactions on Pattern Analysis
and Machine Intelligence. (2013)
39 Dickmanns E.D.: The 4D-approach to visual control of au-
tonomous systems. IAA NASA Conference on Intelligent
395 22

Stereosehen
Uwe Franke, Stefan Gehrig

22.1 Lokale und globale Verfahren der


Disparitätsschätzung – 398
22.2 Genauigkeit der Stereoanalyse  –  403
22.3 6D-Vision – 407
22.4 Stixel-Welt – 412
22.5 Zusammenfassung – 418
Literatur – 419

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_22, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
396 Kapitel 22 • Stereosehen

Als in den frühen 90er Jahren im Rahmen des mit zwei „Augen“ eine vollständige dreidimensionale
21 europäischen Projekts PROMETHEUS die ersten Erfassung der Umgebung anhand eines einzelnen
Gehversuche zu kamerabasierten Fahrerassistenz- Bildpaares, unabhängig vom Bewegungszustand
22 systemen unternommen wurden, konnten sich nur des Beobachters und auch in Szenen, in denen sich
sehr wenige Optimisten vorstellen, dass diese Tech- andere Verkehrsteilnehmer bewegen. Dies ermög-
nologie keine 25 Jahre später eine wichtige Rolle in licht sehr anspruchsvolle Fahrerassistenzsysteme
3 der Praxis spielen würde, ja sogar manche ambitio- wie das bereits erwähnte automatische Bremsen
nierten Systeme wie das vollautomatische Bremsen auf Fußgänger, aber auch die Unfallvermeidung bei
4 auf Fußgänger erst ermöglichen würde. Doch kein querenden Objekten und teilautomatisierte Fahr-
anderer Sensor konnte so sehr vom allgemeinen funktionen im Stau. Darüber hinaus ermöglicht die
5 Fortschritt profitieren wie Kameras mit der dazu- Stereobildverarbeitung die präzise Vermessung der
gehörigen Auswerteelektronik. dreidimensionalen Fahrbahnoberfläche und damit
Die Kosten für eine Kamera sind von anfangs die situationsgerechte Ansteuerung aktiver Federsys-
6 2000 DM und mehr auf wenige 10 € gefallen. Die teme. Aus diesen Gründen kommen Stereokameras
Dynamikprobleme der in der Anfangsphase ver- seit 2013, beginnend mit den Mercedes Ober- und
7 wendeten CCD-Sensoren, die bei Gegenlicht kaum Mittelklassefahrzeugen, zum Einsatz.
verwertbare Bilder lieferten und daher jede Prä- In der Literatur wird die Stereoanalyse allge-
sentation von Forschungsergebnissen gefährdeten, mein als weitgehend gelöstes Problem betrachtet.
8 gehören dank der für moderne Consumer-Kameras Der „Outdoor“-Bereich Straße und der Einsatz in
entwickelten CMOS-Imager der Vergangenheit an. sicherheitskritischen Fahrerassistenzsystemen stellt
9 Gleichzeitig hat sich die verfügbare Rechenleistung jedoch besondere Anforderungen an praxistaugli-
in dieser Zeit um mehr als fünf Größenordnungen che Verfahren. Zu nennen sind hierbei vor allem
10
11
erhöht, wie dies vom Moore'schen Gesetz prognos-
tiziert wurde. Entscheidend dazu beigetragen hat
die FPGA-Technologie, auf die sich die in vielen Fäl-
len sehr aufwändigen, frühen Verarbeitungsstufen
-
folgende Punkte:
Robustheit: In Straßenszenen kommt es
aufgrund von Beleuchtungs- und Witterungs-
einflüssen zu vielfältigen Störungen der Bilder,
eines bildverstehenden Systems gut abbilden lassen. die von den meisten in der Literatur beschrie-
12 Die enormen Fortschritte auf der Hardwareseite benen Ansätzen nicht behandelt werden.
gehen mit Innovationen auf der Seite der Algorith- Hierzu zählen u. a. Blendungen und Reflektio-
13
-
men einher. Aus Sicht der Autoren zählen hierzu:
die Einführung des Kalman-Filters in die Se-
quenzbildverarbeitung durch Dickmanns (vgl.
nen, Unschärfe durch Wasser auf der Scheibe
oder Gischt, die teilweise Abdeckung durch
Scheibenwischer, Schnee, Dunkelheit usw.

-
14 z. B. [1]), wodurch dynamische Randbedin- . Abb. 22.1 zeigt vier Beispiele.
gungen optimal in die Verarbeitung einfließen Präzision: Der angestrebte (relative) Messbe-
15
16
- können,
die Fortschritte im Bereich des maschinellen
Lernens (vgl. ▶ Kap. 23), wodurch Bildsta-
tistiken und große Bilddatenbanken nutzbar
reich ist ungewöhnlich groß und bewegt sich
meistens ab der Stoßstange (weniger als 2 m)
bis 50…80 m. Dies erfordert eine sehr hohe
Genauigkeit der Disparitätsschätzung, die von

17
- werden,
der Schritt von lokalen Ad-hoc-Verfahren
zu global optimierenden Ansätzen, die mit
mathematisch fundierten Methoden optimale
- den üblichen Benchmarks nicht gefordert wird.
Echtzeitfähigkeit: Nur hohe Abtastraten erlau-
ben schnelle Reaktionen. Deshalb wird eine
Verarbeitung mit 25–30 Hz angestrebt. Viele

-
18 Lösungen finden und der in der Literatur publizierten Verfahren
die Einführung der stereoskopischen Bildverar- benötigen aber auch heute noch Rechenzei-
19 beitung als Basis für ein robustes Bildverstehen. ten von mehreren Sekunden bis Minuten auf

20 Im Gegensatz zu den lange Jahre verfolgten mono-


kularen, also einäugigen Ansätzen erlaubt das Sehen - Hochleistungs-PCs.
Langzeitstabilität: Sehsysteme sollen ein Fahr-
zeugleben halten. Für ein Stereokamerasystem
Kapitel 22 • Stereosehen
397 22

.. Abb. 22.1  Sicherheitskritische Applikationen der Fahrerassistenz stellen hohe Anforderungen an die Robustheit der Algo-
rithmen. a Bei Regen kommt es zu Blendungen und Schmiereffekten aufgrund von Wasser auf der Scheibe. b Bei Nacht können
durch die Scheibenwischer generierte Schlieren zu typischen Störungen führen. c Schneefall und nasse Straßen erschweren die
Schätzung der Stereo-Disparitäten. Abbildungen entnommen aus dem HCI-Benchmark von D. Kondermann, Uni Heidelberg
[2] d Die tiefstehende Sonne kann massive Reflexe in der Scheibe generieren, die nicht zu fehlerhaften Hindernisdetektionen
führen dürfen

bedingt das u. a. die Fähigkeit der Online-Kali- Die Gliederung des vorliegenden Kapitels orien-
brierung in unbekannten Szenen, um Parame- tiert sich an der Verarbeitungskette von in der
teränderungen infolge von Temperatur- und Praxis erfolgreich eingesetzten Verfahren der ste-

- Alterungseffekten begegnen zu können.


Leistungsaufnahme: Aus Kostengründen be-
steht der Wunsch, Sensorik und Verarbeitung
in einem Steuergerät zu realisieren. Montiert
reoskopischen Szenenanalyse. Zunächst werden die
signaltheoretisch motivierten lokalen Ansätze der
Disparitätsschätzung neueren global optimierenden
Ansätzen gegenübergestellt. Da die erreichbaren
man ein solches Stereokamerasystem hinter Messgenauigkeiten und die Robustheit der Schät-
dem Rückspiegel, setzt dies der Leistungsauf- zung für den Erfolg der Bildanalyse hinsichtlich
nahme der Hardware sehr enge Grenzen, da Objekterkennung und Vermessung entscheidend
es sonst zu einer Überhitzung des Systems sind, wird in ▶ Abschn. 22.2 dieser wichtige Aspekt
kommen würde. diskutiert. Gerade die Forderung nach Schätzver-
fahren, die auch unter im Straßenverkehr häufig
anzutreffenden widrigen Sichtbedingungen verläss-
398 Kapitel 22 • Stereosehen

liche Resultate liefern, wird in der Literatur häufig Verfahren die im Automobilbereich auftretenden
21 vernachlässigt. Ein wesentlicher Grund liegt in der großen Verschiebungen nur mit hohem Aufwand zu
Tatsache, dass sich die Forschung an Benchmarks messen sind. Zum Vergleich der publizierten Stereo-
22 orientiert, die mangels Ground-Truth Messtechnik verfahren wurde die Middlebury-Webseite (▶ http://
bei widrigen Verhältnissen im Outdoor-Bereich vision.middlebury.edu/stereo/) eingerichtet, auf der
fehlen. man 2014 über 150 Stereoverfahren vergleichen
3 Die Stereoanalyse liefert zu jedem (vermesse- konnte. 2012 wurde auch solch ein Benchmark für
nen) Bildpunkt eine 3D-Koordinate. Verfolgt man das Fahrzeugumfeld publiziert [4]. Dieser Datensatz
4 solche Punkte zeitlich, kann man zusätzlich ihre enthält Bilder mit typischen in Straßenszenen auftre-
Bewegung in der Welt schätzen. Dies führt auf das tenden Problemen wie z. B. Reflektionen. Da manche
5 in ▶ Abschn. 22.3 „6D-Vision“ beschriebene Prin- der führenden Verfahren empfindlich auf solche Stö-
zip einer raumzeitlichen Bildanalyse, das eine leis- rungen reagieren, ergeben sich bei den Rankings in
tungsfähige Grundlage für die sichere und schnelle den genannten Benchmarks Unterschiede.
6 Erkennung bewegter Objekte darstellt. Vor allem Für den automobilen Einsatz der Disparitäts-
querbewegte Objekte wie Autos oder auf die Straße schätzung ist immer die Berechnung in Echtzeit
7 laufende Kinder können so zuverlässig detektiert von entscheidender Bedeutung, was dazu führt,
werden. dass bis vor kurzem nur sogenannte lokale Verfah-
In den letzten Jahren zeigt sich im Bereich der ren betrachtet wurden.
8 Forschung ein zunehmender Trend zu Superpixeln.
Mit dem Ziel, die Szene trotz ständig steigender
9 Auflösung der Imager kompakt dreidimensional 22.1.1 Lokale Korrelationsverfahren
zu repräsentieren und eine robuste Basis für eine
10 rechenzeiteffiziente Weiterverarbeitung zu schaffen, Wie in ▶ Kap. 21 gezeigt, arbeitet die bekannteste
wurde die sog. Stixel-Welt entwickelt. Diese reguläre Methode der Disparitätsschätzung mit Korrelatio-
und den Straßenszenen angepasste Repräsentation nen unabhängig für jeden Bildpunkt. Unabhängig
11 wird in ▶ Abschn. 22.4 vorgestellt und darauf auf- bezieht sich hierbei auf „unabhängig von den Ergeb-
bauende Schritte zur finalen Objektdetektion be- nissen benachbarter Punkte“. Dabei wird zu jedem
12 schrieben. Damit schließt sich der Kreis vom ein- Bildpunkt im Referenzbild (hier das linke Bild) der
zelnen Pixel bis zum Objekt. Das Kapitel endet mit korrespondierende Bildpunkt im Suchbild (rechtes
einer Zusammenfassung und Hinweisen zu weiter- Bild) ermittelt, der den gleichen Punkt in der Welt
13 führenden Forschungen. abbildet. Dafür muss eine Ähnlichkeit zweier Bild-
punkte bestimmt werden.
14 Zur Bestimmung der Ähnlichkeit zweier Bild-
22.1 Lokale und globale Verfahren punkte gibt es eine Vielzahl an Ansätzen, von denen
der Disparitätsschätzung
15 hier nur die Ähnlichkeitsmaße basierend auf Grau-
werten aufgeführt werden. Das einfachste Ähn-
In ▶ Kap. 21 wurden die Grundlagen der Ste- lichkeitsmaß ist die Differenz zweier Grauwerte im
16 reo-Disparitätsschätzung eingeführt. In diesem Ab- linken (gl) und rechten (gr) Bild:
schnitt werden weitere Ähnlichkeitskriterien, die
17 im automobilen Umfeld verbreitet sind, diskutiert ABS.d / D jgl .x/  gr .x  d /j : (22.1)
und Optionen zur klassischen Disparitätsoptimie-
rung via Korrelation aufgezeigt. Entsprechend der Diese Differenz wird Zeile für Zeile für alle Dispari-
18 in [3] eingeführten Taxonomie unterscheiden wir tätshypothesen im rektifizierten Bild (s. ▶ Kap. 21)
zwischen den Aspekten Ähnlichkeitsmaße, Dispari- berechnet. Nach der Rektifizierung sind die Bilder
19 tätsoptimierung und Subpixel-Disparitätsschätzung. in der Standard-Stereogeometrie ausgerichtet, d. h.
Wir beschränken uns auf ortsdiskrete Stereoverfah- korrespondierende Punkte liegen auf derselben
20 ren, die den Disparitätsraum in diskreten Dispa- Bildzeile, daher verzichten wir auf den Zeilenindex
ritätsstufen abtasten, da bei ortskontinuierlichen y, wenn alle Daten in der gleichen Zeile ausgewer-
22.1  •  Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung
399 22

tet werden. Im automobilen Umfeld wird stets bis


Disparität 0 (unendlich weit entfernt) geprüft. Im d  .x/ D minZSAD.x; d /(22.4)
d
Nahbereich ergibt sich die maximale Disparität
durch die kleinste zu vermessende Entfernung. Ein beliebtes Ähnlichkeitsmaß, das neben dem
Da es selbst bei hochdynamischen Kameras Disparitätswert auch ein Maß der Übereinstimmung
kaum Intensitätswerte mit mehr als 12 bit gibt, ist liefert, ist die bereits in ▶ Kap. 21 beschriebene, nor-
dieses Ähnlichkeitsmaß immer mehrdeutig. Außer- mierte, mittelwertfreie Kreuzkorrelationsfunktion.
dem können die Kameras nicht so präzise radiome- Der Wertebereich der normierten Kreuzkorrelati-
trisch abgeglichen werden, dass der gleiche Welt- onsfunktion liegt zwischen -1 und 1. Gute Korres-
punkt in beiden Kameras mit dem exakt gleichen pondenzen haben Werte nahe 1, dementsprechend
Grauwert abgebildet wird. Die Mehrdeutigkeit kann wird bei diesem Ähnlichkeitsmaß das Maximum
durch Hinzunahme einer Bildumgebung B, meist ein ermittelt. Daraus lässt sich neben dem Disparitäts-
rechteckiger Block, reduziert werden, wie dies bereits wert selbst auch ein Maß für dessen Zuverlässigkeit
in ▶ Kap. 21 für das Ähnlichkeitsmaß Sum-of-Ab- ermitteln. Meist werden nur Korrespondenzen mit
solute-Differences (SAD) erläutert wurde. Alternativ % .d / > 0;7 akzeptiert. Obwohl dieses Maß sehr
kann man die Berechnung der Ähnlichkeit des Ma- gut die Übereinstimmung der zwei Bildausschnitte
ßes Sum-of-Squared-Differences (SSD) heranziehen: beschreibt, ist sicherzustellen, dass kontrastreiche
X 2 Bildausschnitte nicht auf (fast) homogene Struktu-
SSD.d / D gl.x;y/  gr .x  d; y/ : ren korreliert werden. Selbst Korrespondenzen mit
x;y2B (22.2) %.d / nahe 1 können Fehlkorrespondenzen sein, da
periodische Strukturen im Bild vorliegen können,
Bei dieser Berechnung führt ein Grauwertunter- die ohne zusätzliches Wissen nicht korrekt zugeord-
schied desselben Weltpunkts von nur wenigen Grau- net werden können.
wertstufen in den beiden Kameras bereits zu deutli- Die Bildumgebung wird typischerweise aus Ef-
chen Abweichungen von der perfekten Ähnlichkeit 0. fizienzgründen rechteckig gewählt und liegt zwi-
Die Autoren bevorzugen daher das Ähnlichkeitsmaß schen 3 × 3 bis 9 × 9 Bildpunkten, je nach Bildauf-
SAD, das lokal große Abweichungen (Ausreißer im lösung.
Grauwertbild) weniger stark bewertet und somit in Ein kritischer Aspekt für die Anwendung von
der Praxis robuster ist. Unabhängig vom gewählten Stereoverfahren im Fahrzeug ist die präzise Kali-
Maß können stets auch andere Strukturen bessere brierung der Kameras zueinander über einen lan-
Ähnlichkeitsergebnisse erzielen und damit eine Fehl- gen Zeitraum. Die obigen Ähnlichkeitsmaße sind
korrespondenz erzeugen. Das passiert nicht nur bei darauf angewiesen, dass die korrespondierenden
periodischen Strukturen im Bild (z. B. Laternenpfos- Punkte exakt auf der gleichen Bildzeile nach der
ten, Brückengittern usw.), sondern auch wenn beide Rektifizierung (s. ▶ Kap. 21) liegen. Ähnlichkeits-
Kameras radiometrisch nicht korrekt abgeglichen maße auf einzelnen Bildpunkten (z. B. ABS, Gl. 22.1)
werden konnten. Im zweiten Fall kann dem Prob- sind besonders sensitiv bzgl. leichter Kalibrierfehler.
lem durch Subtraktion der jeweiligen Mittelwerte Wenn die Epipolargeometrie um eine Zeile verscho-
der Bildschirmumgebung B begegnet werden (am ben ist, wird bei der Korrespondenzsuche nie der
Beispiel der absoluten Differenz gezeigt): korrespondierende Punkt/Grauwert getroffen, da
X ˇˇ die Suche entlang der falschen Bildzeile läuft. Eine
ZSAD.d / D ˇ.gl .x; y/  bl / größere Bildumgebung reduziert die Sensitivität auf
x;y2B Kalibrierfehler durch Wirkung als räumlicher Tief-
ˇ
ˇ pass, führt aber zu höherem Rechenaufwand und
 .gr .x  d; y/  br /ˇ :
(22.3) zu dem sogenannten „Foreground Fattening“: Da
nahe Objekte meist kontrastreicher als der Hinter-
Für alle vorgestellten Ähnlichkeitsmaße lässt sich grund sind, werden Bildpunkte direkt neben einem
der optimale Disparitätswert d  einfach durch Be- solchen Objekt gerne fälschlicherweise dem Vorder-
stimmung des Minimums über d ermitteln: grund zugeordnet.
400 Kapitel 22 • Stereosehen

21
22
3
4
5
6
7 .. Abb. 22.2  Farbcodiertes Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) überlagert auf dem Originalbild. Das Disparitätsbild liefert
nicht für jeden Bildpunkt ein Ergebnis (kein farbiges Overlay). Einzelne Ausreißer (rote Punkte im Hintergrund) sind zu sehen

8 Durch Verzicht auf die konkrete Grauwertin- neare Transformationen der Grauwerte im linken
formation und Nutzung von Rangstatistiken kann und rechten Bild zu sein, was in der Praxis durch
9 man robuster gegen kleine Fehler in der Rektifi- Streuungen bei der Empfindlichkeit der Kameras
zierung werden [5]. Die Hamming-Distanz der häufig vorkommt. In [6] wird die Überlegenheit
10 Census-Transformation ist ein beliebtes Ähnlich- des Ähnlichkeitsmaßes v. a. bei Nutzung in globalen
keitsmaß, das etwas toleranter gegenüber kleinen Stereoverfahren aufgezeigt.
Rektifizierungsfehlern und darüber hinaus sehr Konsistenz-Checks: Die vorgestellten lokalen
11 effizient zu berechnen ist. Hierbei werden für je- Verfahren können in texturlosen Bereichen keine
den Punkt in einer Umgebung Bits generiert, die eindeutigen Ergebnisse liefern. Durch Vorschalten
12 codieren, ob der Grauwert des Zentralbildpunkts eines sogenannten Interest-Operators, oft durch
in der Mitte größer ist (1) oder nicht (0) im Ver- ein Kantenfilter realisiert (z. B. Canny-Filter aus
gleich zum aktuell betrachteten Bildpunkt. Diese ▶ Kap. 21), kann man die Stereoanalyse auf Be-
13 Transformation ordnet so jedem Bildpunkt einen reiche mit ausreichendem Kontrast beschränken.
Bitstring zu, dessen Länge durch die Anzahl der be- Außerdem kann man durch zweimaliges Berech-
14 trachteten Bildpunkte in der Nachbarschaft gegeben nen der Disparität mit wechselndem Referenzbild
ist. Durch Vergleich dieser Bitstrings kann man die unzuverlässige Korrespondenzen herausfiltern:
15 Ähnlichkeit von Bildpunkten bestimmen, am ein- Wenn der Bildpunkt (x) im linken Bild die Dispa-
fachsten durch die Hamming-Distanz (Anzahl der rität d als Ergebnis hat, muss der Bildpunkt (x-d)
verschiedenen Bits im Bitstring): im rechten Bild die Disparität –d haben, wenn es
16 sich um eine korrekte Korrespondenz handelt. Die-
CENSUS .d / sen sogenannten Rechts-Links-Check (RL-Check)
17 
D HAM TC .gl ;x /  TC .gr ;xd /
 kann man auch ohne doppelte Durchführung der
(22.5) Disparitätssuche durchführen [7]. Bei Anwendung
im Auto muss man immer mit Verdeckungen durch
18 den Scheibenwischer rechnen, da die Kamera in
Dabei repräsentiert TC .gl ;x / das Census-transfor- der Regel im gewischten Bereich der Windschutz-
19 mierte Bild an der Stelle x auf Basis der Grauwerte scheibe angeordnet ist. Ein Scheibenwischer ist auf-
des linken Bildes gl. Die geringste Hamming-Dis- grund der Nähe immer nur in einem Bild zu sehen
20 tanz ergibt die beste Disparitätsschätzung. Census und die daraus resultierenden (fehlerhaften) Dispa-
hat zusätzlich die Eigenschaft, invariant gegen li- ritäten werden im RL-Check eliminiert.
22.1  •  Lokale und globale Verfahren der Disparitätsschätzung
401 22

. Abb. 22.2 zeigt ein Beispielergebnis eines lo- Für die Modellierung der Glattheitsenergie hat sich
kalen Korrelationsverfahrens, wobei als Ähnlich- folgendes Prinzip bewährt: Große Tiefensprünge
keitskriterium ZSAD mit einer 7 × 7-Maske ver- werden mit einer konstanten Energie P2 bestraft,
wendet wurde. Unzuverlässige Ergebnisse wurden kleine Änderungen der Disparität mit einer gerin-
mittels des RL-Checks entfernt. Trotz des Checks geren Energie P1:
bleiben rote (nahe) Punkte in texturlosen Regionen
erhalten, die eindeutig fehlerhaft sind. 8̂
<0; if jd1  d2 j D 0
Esmoot hness D P1 ; if jd1  d2 j D 1

22.1.2 Globale Stereoverfahren P2 ; if jd1  d2 j > 1

Die Korrelationsverfahren sind auf ausreichende Hierbei sind d1 und d2 die Disparitäten benachbar-
Kontraste im Bild angewiesen, um Ergebnisse mit ter Bildpunkte. Die geringere Energie P1 soll schräge
möglichst wenigen Falschmessungen zu liefern. Dies Flächen, die eine langsam veränderliche Disparität
ist in Straßenszenen auf der Fahrbahn, im Himmel aufweisen, korrekt rekonstruieren. Das einfachere
und auf homogenen Fahrzeugflächen kaum gege- Gibbs-Potenzial, das häufig in globalen Stereover-
ben. Diesem Problem versuchen globale Stereover- fahren eingesetzt wird, lässt sich durch Setzen von
fahren zu begegnen. P1 D P2 auf obige Formel zurückführen. Solch eine
In typischen Szenen ändert sich die Tiefe nur Energieoptimierung kann effizient in einer Richtung
langsam und stetig an schrägen Ebenen oder bleibt (z. B. entlang einer Zeile) durchgeführt werden. Diese
konstant auf Flächen, die parallel zum Kamerasys- Methode betrachtet jede Zeile unabhängig und ist
tem stehen (fronto-parallel). Die einzigen sprung- als „Scanline-Optimization“ in der Literatur bekannt.
haften Tiefenänderungen entstehen an Objektgren- Wenn man den optimalen Disparitätswert am Ende
zen. Mit dieser Annahme, dass sich die Tiefe in der der Zeile ermittelt, wird mittels Backtracking die
Szene nur selten ändert, kann man eine weitere optimale Disparität für jede Spalte bis zum Zeilen-
Bedingung neben der Ähnlichkeit formulieren, um anfang ermittelt. Dieses Verfahren nutzt damit das
auch für texturschwache Regionen eine korrekte Prinzip der dynamischen Programmierung und ist
Disparität zu ermitteln. Die Klasse der sogenann- unter „Dynamic-Programming-Stereo“ bekannt [8].
ten globalen Stereoverfahren kann man in 1D-opti- Sowohl „Scanline-Optimization“ als auch „Dyna-
mierende entlang einer Zeile und 2D-optimierende mic-Programming-Stereo“ lassen sich effizient in
Verfahren über das gesamte Bild einteilen. Steuergeräten umsetzen, allerdings entstehen bei den
Resultaten Streifen-Artefakte, da unabhängig Zeile
22.1.2.1 1D-Optimierung für Zeile optimiert wird. Bei dem in . Abb. 22.3 ge-
Durch die Annahme der abschnittsweise konstan- zeigten Resultat wurde Census mit einer Fenstergröße
ten Tiefe kommt zum sogenannten Datenterm des von 9 × 7 Bildpunkten als Datenterm verwendet.
Ähnlichkeitsmaßes ein Glattheitsterm hinzu, der
Abweichungen von der konstanten Tiefe bestraft. 22.1.2.2 2D-Optimierung
Die Disparitätsoptimierung wird als Energieopti- Die störenden Streifeneffekte können vermieden
mierung interpretiert, bei der eine Energieminimie- werden, wenn die Optimierung die Disparitätsun-
rung durchgeführt wird. Die Gesamtenergie E t ot al terschiede aller benachbarten Bildpunkte berück-
besteht aus der Ähnlichkeit Edat a und einer Glatt- sichtigt, also eine zweidimensionale Optimierung
heitsenergie Esmoot hness, die für alle Bildpunkte im durchgeführt wird. Es gibt mehrere Ansätze, das
Bild aufsummiert wird. Energieminimum zu finden, die beiden gängigsten
X Verfahren sind im Folgenden skizziert.
E t ot al D .Edat a C Esmoot hness / GraphCut: Die Optimierungsmethode GraphCut
x;y führt eine Optimierung (Energieminimierung) auf
einem Graph durch. Dabei werden die Bildpunkte als
Knoten interpretiert und die Verbindungen zwischen
402 Kapitel 22 • Stereosehen

21
22
3
4
5
6
7 .. Abb. 22.3  Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels Dynamic-Programming, überlagert
auf dem Originalbild. Wegen der zeilenweise unabhängigen Optimierung weist das Disparitätsbild Streifen-Artefakte auf, wel-
che in gering texturierten Bereichen noch stärker ausgeprägt sind
8
9
10
11
12
13
14
.. Abb. 22.4  Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels GraphCut, überlagert auf dem Origi-
15 nalbild. Ein visuell fehlerfreies Disparitätsbild wird geliefert, jedoch beträgt die Rechenzeit über 10 s pro Bildpaar (Stand 2014)

benachbarten Punkten als Kanten. GraphCut wird als Datenterm verwendet. Die Rechenzeit ist von der
16 häufig für die Vordergrund-Hintergrund-Segmen- Anzahl der Bildpunkte und der Anzahl der Dispari-
tierung eingesetzt. Für dieses binäre Problem (2 La- tätshypothesen abhängig. Für in der Fahrerassistenz
17 bels) findet GraphCut immer die optimale Lösung, übliche Bildgrößen und 128 Disparitätsstufen ergibt
d. h. das globale Energieminimum. Die Erweiterung sich eine Rechenzeit, die den Einsatz dieses sehr ele-
auf mehr als 2 Labels führt zu einem iterativen Lö- ganten Verfahrens in der Praxis (noch) verbietet. Die
18 sungsverfahren mittels GraphCut ohne Optimali- Optimierungsmethode „Belief-Propagation“ löst die
tätsgarantie, liefert aber in der Praxis sehr gute Er- gleiche Aufgabenstellung wie GraphCut und liefert
19 gebnisse. Die Interpretation der Labels im Stereofall bei vergleichbaren Parametern ähnliche Ergebnisse
sind diskrete Disparitäten [9]. Ein Beispielergebnis [10] bei vergleichbarem Rechenaufwand.
20 zeigt . Abb. 22.4. In diesem Beispiel wurde wie oben Semi-Global-Matching: Mit Semi-Global-­
Census mit einer Fenstergröße von 9 × 7 Bildpunkten Matching (SGM) werden die Streifen-Artefakte der
22.2  •  Genauigkeit der Stereoanalyse
403 22

.. Abb. 22.5  Disparitätsbild (rot = nah … grün = fern) einer Disparitätsschätzung mittels SGM, überlagert auf dem Originalbild.
SGM liefert in Echtzeit ein visuell fehlerfreies Disparitätsbild, das dem Resultat von GraphCut ähnlich ist

1D-optimierenden Verfahren beseitigt, gleichzeitig Vergleichen der Disparitätshypothesen mit denen


aber deren Recheneffizienz beibehalten. Es wird der Nachbarpunkte und der Favorisierung glatter
eine „Scanline-Optimization“ wie oben beschrieben Lösungen findet sich bei allen Punkten die korrekte
durchgeführt, nur diesmal in mehrere Richtungen Disparität als kompatible Lösung, auch wenn die
(typischerweise 8) und die Ergebnisse aufsummiert Disparitätsminima der Bildpunkte nicht alle über-
[11]. Bei diesem von Hirschmüller 2005 vorgeschla- einstimmen.
genen Verfahren wird die 2D-Optimierung durch Eine Erweiterung auf Farbbilder ist einfach
mehrere, unabhängige 1D-Optimierungen appro- möglich. Für Anwendungen in der Fahrerassistenz
ximiert und man erhält vergleichbare Ergebnisse hat sich der Einsatz von Farbe bei der Ähnlichkeits-
wie bei GraphCut zu einem Bruchteil des Rechen- berechnung jedoch nicht bewährt, da der Mehrauf-
aufwands. wand in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Der
Die Glattheitsenergie wird oft auch an den Nutzen der Farbinformation führt bei leicht fehler-
Grauwert adaptiert: Falls eine starke Grauwertkante behafteter Farbkonstanz zwischen linkem und rech-
vorliegt, wird P2 reduziert, da ein Tiefensprung an tem Bild zu schlechteren Ergebnissen als robuste
dieser Stelle wahrscheinlicher ist. Als Ähnlichkeits- Ähnlichkeitsmaße wie ZSAD [15].
maß wurde von Hirschmüller ursprünglich „Mu-
tual Information“ eingesetzt, ein bildpunktbasiertes
Maß, das sich als sehr anfällig für Kalibrierfehler 22.2 Genauigkeit der Stereoanalyse
erweist. Im Fahrzeugumfeld und bei Echtzeitimple-
mentierungen wird bevorzugt Census als Ähnlich- Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen
keitskriterium verwendet. Für SGM existieren Echt- globalen Verfahren liefern ganzzahlige Disparitäten.
zeitimplementierungen auf Intel-Prozessoren [12], Da die Entfernung Z umgekehrt proportional zur
Grafikkarten (GPU) [13] und rekonfigurierbarer Disparität d ist. Es gilt:
Hardware (FPGA) [14]. Dieses Verfahren wird bei
den Stereokamerasystemen von Daimler eingesetzt. Z D f B=d,  (22.6)
Ein Beispielergebnis ist in . Abb. 22.5 zu sehen.
Das Erfolgsgeheimnis dieser einfachen Strate- führt dies zu unerwünschten Quantisierungseffek-
gie kann man sich folgendermaßen vorstellen: Ein- ten der geschätzten Entfernungen, die nur im Nah-
zelne Bildpunkte bilden in texturarmen Regionen bereich toleriert werden können. . Abbildung 22.6a
nur schwache und mehrdeutige Minima. Durch zeigt den Quantisierungseffekt.
404 Kapitel 22 • Stereosehen

.. Abb. 22.6 3D-Rekonst-
21 ruktion auf Basis von SGM
zu der Disparitätskarte
aus . Abb. 22.5. a ist das
22 triangulierte Ergebnis
ohne Subpixelschätzung
gezeigt, b das Ergebnis mit
3 Subpixelschätzung. Wenn
keine Subpixelschätzung
durchgeführt wird, „zerfällt
4 das entgegenkommende
Auto“ in zwei Teile

5
6
7
8
9
10
11
12
Der einfache Ausweg, durch eine große Brenn- 22.2.1 Subpixelgenaue Schätzung
13 weite und/oder eine entsprechend große Basisbreite
diesem Problem zu begegnen, widerspricht den Zie- Leitet man die Disparitätsentfernungsbeziehung
14 len großer Blickwinkel und designverträglicher (ge- (vgl. Gl. 22.6) ab, erhält man:
ringer) Basisbreiten. Alternativ kann man die Auf-
f B Z2
15 lösung des Imagers erhöhen. Damit steigt jedoch @Z
D 2 D :
f  B (22.7)
der Rechenzeit- und Speicheraufwand und die für @d d
Nachtfunktionen wichtige Sensitivität des Imagers
16 sinkt, wenn man aus Kostengründen die Fläche des Man sieht, dass bei triangulierenden Verfahren die
Imagers konstant hält. durch kleine Unsicherheiten in der Disparität her-
17 Da in der Fahrerassistenz gleichzeitig hohe vorgerufene Entfernungsunsicherheit quadratisch
Reichweiten und hohe Messgenauigkeiten ange- mit der Entfernung zunimmt. Diese Unsicherheit
strebt werden, ist eine subpixelgenaue Schätzung als Funktion des Abstands für ein Stereokame-
18 der Disparität erforderlich. Gleichzeitig induzieren rasystem mit f  B D 250m  px , was ungefähr
in der Praxis nicht vermeidbare geringe Dekalibrie- der Situation der von Daimler eingesetzten Kamera
19 rungen zusätzliche, systematische Fehler. Diesen (1024 Bildpunkte horizontal, Blickwinkel ca. 50°,
Problemen widmet sich der folgende Abschnitt. Basisbreite B ca. 20 cm) entspricht, führt zu Ent-
20 fernungsunsicherheiten von mehreren Metern in
Bereichen oberhalb 50 m.
22.2  •  Genauigkeit der Stereoanalyse
405 22

.. Abb. 22.7  Disparitätsverlauf bei Zufahrt auf ein Hindernis. Dargestellt sind die Referenzdisparität einer künstlichen Szene
und die mittels SGM gemessenen Disparitäten. Dabei treten Abweichungen von bis zu 0,3px Disparitäten auf, da aufgrund des
Glattheitsterms ganzzahlige Disparitäten überproportional bevorzugt werden

Unabhängig vom Stereoverfahren kann mit gerin- Die erzielbare Genauigkeit der Subpixel-Dispa-
gem Aufwand eine bildpunktweise Subpixelschätzung ritätsschätzung ist unabhängig von der Kalibrierung
durchgeführt werden. Die bekannteste Form der Sub- beschränkt. Während theoretische Publikationen
pixelschätzung führt eine Taylor-Entwicklung zweiter für optimale Bedingungen Disparitätsgenauigkei-
Ordnung am Ort des Minimums der Ähnlichkeits- ten auf 0,05 Bildpunkte voraussagen, haben auch
funktion durch. Das Minimum dieses quadratischen perfekt kalibrierte Systeme im Mittel für alle ver-
Polynoms markiert die verbesserte Schätzung der messenen Punkte einer Szene eine Genauigkeit von
Disparität. Für lineare Ähnlichkeitsfunktionen, wie ungefähr 0,25  Bildpunkten bei Verwendung von
z. B. SAD und Census, hat sich der sogenannte Equi- ortsdiskreten Stereo-Verfahren.
angular-Fit bewährt [16]. Die optimale Disparität ist Wenn bessere Schätzungen benötigt werden,
hierbei der Schnittpunkt zweier Geraden, die durch ist dies mit erhöhtem Rechenaufwand möglich.
die Ähnlichkeitswerte des gefundenen Minimums In [17] wird die Energieoptimierung auch auf
und der benachbarten Stützstellen gegeben sind. Subpixelebene durchgeführt (z. B. in Viertel-Bild-
2001 hat Shimizu in [16] beschrieben, dass die punkt-Schritten).
skizzierte subpixelgenaue Schätzung der Disparität
die Tendenz hat, ganzzahlige Disparitäten zu bevor-
zugen. Der Effekt hängt vom Ähnlichkeitsmaß und 22.2.2 Effekte einer Dekalibrierung
vom Kontrast der betrachteten Pixelumgebung ab.
Im ungünstigsten Fall kann bei hohem Kontrast der Die vorangegangenen Aussagen zur Varianz der
Fehler bis zu 0,15px Disparitäten betragen. Mit der Disparitätsschätzung gehen von einem idealen Ka-
richtigen Wahl der Interpolationstechnik kann der merasystem aus, bei dem sowohl alle Linsenfehler
Effekt unter 0,1px Disparitäten gehalten werden. als auch die nie ideale Ausrichtung der beiden Ka-
Gravierender ist dieser Pixel-Locking-Effekt bei meras zueinander (äußere Orientierung) perfekt
global optimierenden Verfahren, die bei der Subpi- korrigiert worden sind (Rektifizierung). Verfahren
xelinterpolation nicht nur die Ähnlichkeitskosten, zur Schätzung der relevanten Parameter sind in
sondern auch die Glattheitskosten interpolieren. ▶ Kap. 21 beschrieben.
Dort entstehen Abweichungen bis zu 0,3px Dispa- Da die verwendeten Linsenmodelle die Rea-
ritäten (s. . Abb. 22.7). lität nur annähernd genau wiedergeben und die
406 Kapitel 22 • Stereosehen

21
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3
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12
13 .. Abb. 22.8  Disparitätskarte einer parallelen Wand mit horizontalen Strukturen bei guter Kalibrierung (a) und bei leichter
Dekalibrierung (b), wodurch die Wand als sehr weit entferntes Hindernis wahrgenommen wird

14 eingesetzten Kalibrierverfahren Restfehler haben, Kalibrierung, . Abb. 22.8b das Ergebnis mit einem
verbleiben auch bei sorgfältiger Systemauslegung Epipolarfehler von nur 0,2 Bildpunkten. Die Wand
15 systematische Restfehler. Fehlerhafte Nick- und steht plötzlich wesentlich weiter weg als vorher.
Rollwinkel beeinträchtigen direkt die Korrespon- Schielwinkelfehler: Gravierender sind die Aus-
denzanalyse. wirkungen kleiner Fehler des relativen Schielwinkels
16 Nick- und Wankwinkelfehler: Sobald die kor- beider Kameras, die sich in einem Disparitätsoffset
respondierenden Punkte nach Rektifzierung nicht d äußern. Befindet sich ein Objekt in der Entfer-
17 mehr exakt auf der gleichen Bildzeile zu liegen nung Z mit Disparität d, gilt für den Schätzwert ZO :
kommen, wird die Korrespondenzsuche gestört. Für
Z
Strukturen mit überwiegend vertikaler Struktur fällt ZO D
18 das Problem nicht auf. Der Effekt tritt verstärkt an .1 C d
d
/
:
(22.8)
zunehmend horizontalen Strukturen auf und führt
19 zu ungültigen – oder schlimmer noch – zu falschen Wie . Abb. 22.9 verdeutlicht, ist dieser Effekt bei
Disparitäten. Ein extremes Beispiel mit viel horizon- größeren Entfernungen nicht zu vernachlässigen.
20 taler Struktur ist in . Abb. 22.8 dargestellt. . Ab- Die gezeigten Kurven gelten für die bereits oben
bildung 22.8a das korrekte Ergebnis bei perfekter beschriebene Stereokamera. Unterschätzt man bei-
22.3 • 6D-Vision
407 22
.. Abb. 22.9 Geschätzte
Entfernung aufgetragen
über der wahren Entfer-
nung als Funktion des
Disparitätsfehlers d

spielsweise bei einem Objektabstand von 60 m die Fahrzeugs – abhängig von der Entfernung, wenn
Disparität um nur einen Bildpunkt, überschätzt sich beide Fahrzeuge mit jeweils 50 km/h nähern.
man die Entfernung um ca. 20 m! Bleiben diese Feh- Beträgt der Disparitätsoffset einen Bildpunkt, kann
ler unerkannt, können sie bei der Sensordatenfusion man für Lkw innerorts eine Geschwindigkeit jen-
zu Problemen führen. seits der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen
Noch gravierender wirken sich kleine Dispa- messen.
ritätsoffsets aus, wenn man aus einer Abstandsän- Die Betrachtungen zeigen, dass sehr sorgfältig
derung eines Objekts (vgl. ▶ Abschn. 22.3) auf die mit Schielwinkelfehlern in Stereokamerasystemen
Geschwindigkeit schließen will. Beträgt die Relati- umgegangen werden muss, spätestens wenn die Ge-
vgeschwindigkeit vrel, so resultiert für die Schätzung schwindigkeit bewegter Objekte gemessen werden
vrel
vO rel :D  2 : soll. Da sich die äußeren Parameter einer Stereoan-
1 C d d ordnung durch Alterung, vor allem aber infolge von
vrel
vO rel D  2 : Temperaturschwankungen verändern, ist im Fahr-
1 C dd (22.9) zeug eine Online-Kalibrierung zwingend erforder-
lich. Durch Vergleich mit einem Referenzsensor ist es
Meist wird man an der absoluten Geschwindigkeit in der Praxis möglich, den Disparitätsfehler kleiner
vf des beobachteten Objekts interessiert sein. Zieht als 0,1 Bildpunkte zu halten, was auch in kritischen
vO rel
 
vOman
f D vego deshalb
1  2 die (exakt)
: bekannte Eigenge- Konstellationen zu tolerierbaren Schätzfehlern führt.
vrel
schwindigkeit ab, erhält man

vO rel 22.3 6D-Vision


 
vOf D vego 1  2 :
vrel (22.10)
Idealerweise liefert die Disparitätsschätzung zu
Folgt man mit niedriger Relativgeschwindigkeit jedem Bildpunkt eine erwartungstreue Schätzung
einem vorausfahrenden Fahrzeug (ACC-Anwen- der 3D-Position. Fahrerassistenzsysteme, insbe-
dungsfall), sind die Fehler vernachlässigbar. Ganz sondere automatische Notbremssysteme, erfordern
anders ist das im Fall entgegenkommender Fahr- aber vor allem die Detektion bewegter Objekte in
zeuge, wie . Abb. 22.10 zeigt. Dargestellt ist die ge- Bruchteilen einer Sekunde sowie eine möglichst
schätzte Geschwindigkeit des entgegenkommenden zuverlässige Schätzung ihres Bewegungszustands,
408 Kapitel 22 • Stereosehen

.. Abb. 22.10 Geschätzte
21 Geschwindigkeit eines
sich mit 50 km/h dem
gleich schnell fahrenden
22 Beobachter nähernden
Fahrzeugs in Abhängigkeit
vom Disparitätsfehler d.
3 In größeren Entfernungen
sind die Fehler extrem

4
5
6
7
8
.. Abb. 22.11 Kritische
Kreuzungssituation, die
9 Zeit bis zur Kollision mit
dem hinter dem parken-
den Auto auf die Straße
10 laufenden Kind beträgt
ca. 1 s

11
12
13
14
15
um die Kritikalität einer Situation bewerten zu Daher ist es nötig, die dreidimensionale Bewe-
können. Der naheliegende Ansatz, zunächst in den gung einzelner Bildpunkte direkt zu messen, um so
16 Disparitätsbildern „relevante“ Objekte zu finden bewegte Objekte ohne kritische Segmentierungs-
und diese dann zu tracken, hat sich in der Praxis schritte detektieren zu können. Geeignete Schätz-
17 als nicht tauglich erwiesen. Die mit zunehmen- verfahren sind Inhalt dieses Abschnitts.
der Entfernung quadratisch anwachsende Ent-
fernungsunsicherheit macht die Objekttrennung
18 bereits in mittleren Entfernungen problematisch 22.3.1 Das Prinzip
und führt in vielen Fällen zu einem Verschmelzen
19 von Objekten. Wenn aber in der in . Abb. 22.11 Ein großer Vorteil des Sensors „Kamera“ liegt in der
gezeigten Situation Auto und Kind als ein Objekt Tatsache, dass zu nahezu jedem beobachteten Bild-
20 wahrgenommen werden, kann die drohende Ge- punkt der korrespondierende Bildpunkt im nächs-
fahr nicht erkannt werden. ten Frame gefunden werden kann. Verfahren des
22.3 • 6D-Vision
409 22

optischen Flusses bzw. des Feature-Trackings sind mit dem mittelwertfreien Gauß'schen Rauschterm
seit vielen Jahren Gegenstand intensiver Forschun- !E, der Zustandstransitionsmatrix
gen und werden entsprechend gut verstanden. Für
jedes zeitlich korrespondierende Bildpunktpaar, für " #
Rk tk Rk
das man die 3D-Positionen kennt, kann man durch Ak D
033 Rk
Differenzieren prinzipiell den Bewegungsvektor (22.14)
ermitteln. Angesichts der großen Entfernungsunsi-
cherheit der einzelnen Messungen und den kleinen und der Kontrollmatrix
Zeitabständen von typischerweise 40 ms sind die so
erzielten Schätzungen nur bedingt aussagekräftig. 2 3
Dies kann durch eine Vergrößerung des zeitlichen TE
6 k7
Abstands der betrachteten Bildpaare verbessert 607
6 7
Bk D 6 7 :
werden, was aber nicht im Sinne einer schnellen 607
Reaktion bei plötzlich auftauchenden Objekten ist. 4 5
0
Die zentrale Idee des 6D-Vision-Verfahrens [18] (22.15)
besteht darin, im Sinne des „länger Hinsehens“ in-
teressante Bildpunkte über mehrere Frames zu ver- Der Messvektor z D .u; v; d /T setzt sich aus der
folgen und die beschriebene Unsicherheit durch vom Tracker bestimmten aktuellen Bildposition
zeitliche Integration kontinuierlich zu verringern, .u; v/T und der vom Stereosystem gemessenen
gleichzeitig aber, zu jedem Zeitpunkt eine optimale Disparität d zusammen. Das einfach zu linearisie-
Schätzung bereitzustellen. Hierzu wird angenom- rende nichtlineare Messmodell lautet dann:
men, dass sich die Punkte als Teile massebehafteter 2 3 2 3
Körper kurzfristig geradlinig im Raum bewegen. u Xf
Mathematisch elegant lässt sich diese Auf- 6 7 1 6 7
6 7
z D 4v 5 D 6 Yf 7
gabenstellung mithilfe des Kalman-Filters lösen Z 4 5 C vE:
(vgl. ▶ Kap. 21). Dazu werden die 3D-Position d bF (22.16)
pE D .X; Y; Z/T eines beobachteten Bildpunkts
und sein Geschwindigkeitsvektor vE D .XP ; YP ; Z/
P T Die Kompensation der Eigenbewegung bewirkt,
zu einem sechsdimensionalen
T Zustandsvektor dass für stationäre Punkte eine korrekte Geschwin-
xE D X; Y; Z; XP ; YP ; ZP zusammengefasst. Nach digkeit v D 0 gemessen wird. Verfügt das Fahrzeug


einem Zeitintervall t lautet die Position zum Zeit- über eine geeignete Inertialsensorik, können die für
schritt k C 1: die Kompensation der Eigenbewegung erforderli-
chen Größen der Translation und Rotation direkt
pEkC1 D RpEk C TE C tRE
vk ;(22.11) verwendet werden. Eine vereinfachende Annahme
einer reinen planaren Kreisbewegung und die Ver-
wobei R die Rotation und T die Translation der wendung des in nahezu jedem Fahrzeug verbauten
Szene, d. h. die inverse Kamerabewegung darstel- Gierratensensors birgt das Problem, dass Nickbe-
len. Für den Geschwindigkeitsvektor ergibt sich bei wegungen des Fahrzeugs vom Algorithmus als mit
angenommener konstanter Bewegung: der Entfernung zunehmende Auf-Ab-Bewegung
der getrackten Bildpunkte fehlinterpretiert werden.
vEkC1 D RE
vk :(22.12) Alternativ können diese Parameter mittels geeigne-
ter Verfahren der Ego-Motion-Schätzung ermittelt
Damit resultiert das zeitdiskrete lineare Systemmo- werden. Die Autoren setzen seit vielen Jahren er-
dell des Kalman-Filters folgreich das von Badino [19] entwickelte Verfahren
ein.
xEk D Ak xEk1 C Bk C !E(22.13) Für das Tracken der Bildpunkte stellt die Lite-
ratur verschiedene Verfahren bereit. Infrage kom-
men für 6D-Vision vor allem Deskriptor-basierte
410 Kapitel 22 • Stereosehen

21
22
3
4
.. Abb. 22.12  Die vier stark vergrößerten Bildausschnitte zeigen das Resultat der 6D-Vision Schätzung für die Situation

5 aus . Abb. 22.11. Die Pfeile deuten jeweils auf die entsprechend der geschätzten Bewegung erwartete Position in 500 ms

Feature-Tracker (vgl. ▶ Kap. 21). Die Autoren ver- Orientierung der geschätzten Bewegung sehr gut
6 wenden eine bereits 2004 publizierte Variante von mit der Realität überein.
Stein [20], die beliebig große Verschiebungen in Das beschriebene Kalman-Filter schätzt die Po-
7 konstanter Zeit liefert und in der Echtzeitvariante sition und Geschwindigkeit des jeweils verfolgten
eine Dichte von 10 % der Bildpunkte erreicht. In der Bildpunkts. Zu Beginn der Track-Kette stellt sich die
Praxis ist entscheidend, dass der eingesetzte Tracker Frage der Initialisierung des Filters. Die initiale Po-
8 mit den oft schwankenden Bildhelligkeiten und den sition ist direkt über die Stereo-Messung verfügbar.
auftretenden großen Bildverschiebungen zurecht- Die initiale Geschwindigkeit kann jedoch nicht aus
9 kommt. Bei Kurvenfahrten und entgegenkommen- einer einzelnen Positionsmessung ermittelt werden,
den Fahrzeugen treten durchaus Verschiebungen sondern muss über geeignete initiale Geschwindig-
10 von mehr als 100 Pixeln/Frame auf. Nutzt man aus, keitshypothesen und -varianzen ermittelt werden.
dass das Kalman-Filter im Prädiktionsschritt eine Dieser Aspekt wird in [18] detailliert beschrieben.
relativ gute Vorhersage des erwarteten Ortes eines
11 Bildpunkts bereitstellt, kann man sogar sehr erfolg-
reich mit robusten Varianten des beliebten Kana- 22.3.2 Dense6D
12 de-Lukas-Tomasi-Trackers [21] arbeiten.
. Abb. 22.12 illustriert die Leistungsfähigkeit des Im vorangegangenen Abschnitt wurde 6D-Vision
skizzierten Ansatzes. Die Pfeile zeigen die zu einzel- für einzelne Bildpunkte formuliert, die in Raum
13 nen getrackten Punkten geschätzten Bewegungszu- und Zeit lokalisiert werden können. Aus Grün-
stände, dabei deuten sie jeweils auf die entsprechend den der Robustheit und Präzision nachfolgender
14 der geschätzten Bewegung erwartete Position in Schritte der Szeneninterpretation ist eine möglichst
500 ms. Aus Darstellungsgründen wurde auf die Wie- hohe Dichte vermessener Bildpunkte anzustreben;
15 dergabe jedes zweiten Bildes der Sequenz verzichtet, idealerweise liegt für jeden Bildpunkt der vollstän-
deshalb liegen zwischen den einzelnen gezeigten dige Orts- und Bewegungsvektor vor. Dazu ist es
Bildern jeweils 80 ms. In vielen Versuchen konnte notwendig, für möglichst jeden Bildpunkt sowohl
16 nachgewiesen werden, dass in der Praxis 200 ms aus- den optischen Fluss (vgl. ▶ Kap. 21) als auch die
reichen, um kritische Situationen sicher zu erkennen. Stereo-Information zu ermitteln. Das beschriebene
17 In dem dargestellten Fall fuhr das eigene Fahrzeug SGM-Verfahren liefert bereits für nahezu jeden
mit ca. 30 km/h und wäre ohne Eingriff mit der auf Bildpunkt die essenzielle Tiefeninformation in
die Straße laufenden Person kollidiert. Echtzeit. Auch dichte optische Flussverfahren sind
18 Ein weiteres Beispiel gibt . Abb. 22.13. Darge- in der Literatur schon länger bekannt, wurden je-
stellt ist eine Situation, in der eine Fahrradfahrerin doch lange aufgrund der notwendigen Rechenzeit
19 unvorsichtig vor dem sich nähernden Fahrzeug ab- sowie mangelnder Robustheit nicht eingesetzt.
biegt. Es zeigt sich, dass die Annahme einer gerad- Klassische Verfahren zur Bestimmung des
20 linigen Bewegung in der Praxis erlaubt ist – obwohl dichten optischen Flusses nutzen die sogenannte
das Fahrrad noch in der Kurvenfahrt ist, stimmt die „Constant Brightness-Assumption“, d. h. die Inten-
22.3 • 6D-Vision
411 22

.. Abb. 22.13 Bild b eines 3D-Viewers zeigt die 6D-Vision-Interpretation für die in a wiedergegebene Situation einer abbiegen-
den Fahrradfahrerin. Auch hier deuten die Pfeile auf die in 500 ms erwarteten Positionen der getrackten Bildpunkte. Die Farben
codieren wieder die Entfernung von Rot (nah) nach Grün (fern)

sitätswerte zeitlich korrespondierender Bildpunkte hinsichtlich Mess- und Modellierungsfehlern führt.


werden als identisch angenommen. Hieraus leitet Gerade die Annahme eines konstanten Flusses ist in
sich direkt ein Kostenterm ab, der in Abhängig- Verkehrsszenen nicht gegeben und führt zu starkem
keit der Verschiebungsvektoren jedes einzelnen Überglätten.
Bildpunkts minimiert wird. Zudem werden wie Zach et al. [22] haben gezeigt, dass ein dichtes
bei den globalen Stereoverfahren über einen Glatt­ optisches Flussverfahren auch in hoher Auflösung
heitsterm benachbarte Verschiebungsvektoren in in Echtzeit auf handelsüblichen PCs berechnet wer-
Beziehung gesetzt. In der Vergangenheit wurden den kann. Sie nutzen dazu die enorme Rechenleis-
aus Gründen der Rechenzeit Abweichungen qua- tung moderner Grafikkarten aus. Das umgesetzte
dratisch bestraft, was zu einer erhöhten Sensibilität TV-L1-Verfahren arbeitet auf dem Prinzip der to-
412 Kapitel 22 • Stereosehen

talen Variation und bestraft Abweichungen nicht Geschwindigkeitsfeld bei verrauschten Daten deut-
21 quadratisch, sondern mit dem Absolutbetrag. Dies lich schlechter als das Dense6D-Ergebnis.
führt zu einem deutlich verbesserten Flussfeld, ist Einen Eindruck der erzielbaren Dichte gibt
22 jedoch aufgrund der Annahme konstanter Intensi- . Abb. 22.14.
tätswerte anfällig für wechselnde Belichtungs- und
Beleuchtungsverhältnisse. Müller et al. [23] zeigten
3 jedoch, dass durch die Nutzung des Census-Opera- 22.4 Stixel-Welt
tors die Bestimmung des dichten optischen Flusses
4 selbst in Szenen mit großen Belichtungsänderungen Dank der Echtzeitfähigkeit dichter Stereoverfahren
robust möglich ist. stehen den nachfolgenden Verarbeitungsschritten
5 Trotzdem neigt selbst das TV-L1-Verfahren in heute ca. 500.000 3D-Punkte pro Frame zur Ver-
der Praxis zu einem Überglätten und weist Schwie- fügung (Stand: 2014). In den kommenden Jahren
rigkeiten bei großen Flussvektoren auf. Müller [24] ist eine Steigerung auf 1 bis 2 Mio. Punkte zu er-
6 hat daher zwei wichtige Änderungen am Flussalgo- warten. Gleichzeitig wird diese Information von
rithmus vorgeschlagen: Zur Schätzung von großen immer mehr Erkennungsmodulen (Fußgänger,
7 Flussvektoren werden die Messungen eines lokalen Radfahrer, Autos, stationäre Hindernisse, befahr-
Flussschätzverfahrens [20] als weiterer Kostenterm barer Freiraum, Spurerkennung, Ampelerkennung,
einbezogen. Zudem wird in der Glattheitsbedin- Höhenprofil der Fahrbahn etc.) zur Steigerung der
8 gung nicht ein konstantes Flussfeld gefordert, son- Performance verwendet. Ohne weitere Maßnahmen
dern die Abweichung zu dem erwarteten Flussfeld- führen diese Trends zu extremen Anforderungen an
9 verlauf bestraft. Dieser lässt sich bei Annahme einer Rechenleistung und Bandbreite.
stationären Welt einfach anhand der aktuellen Tie- Dieses Problem lässt sich durch die Einführung
10 feninformation und der bekannten Eigenbewegung einer kompakteren Repräsentation umgehen, die
errechnen. Bildpunkte zu Superpixeln zusammenfasst. Eine
Sind der optische Fluss und die Stereo-Infor- für Straßenszenen sehr gut geeignete Repräsenta-
11 mation für nahezu jeden Bildpunkt verfügbar, so tion ist die bereits 2009 von Badino et al. [26] vor-
lässt sich auch das beschriebene 6D-Vision-Ver- geschlagene „Stixel-Welt“, eine sehr kompakte und
12 fahren anwenden. Rabe et al. [25] haben 2010 aussagekräftige Repräsentation der dreidimensio-
unter dem Namen Dense6D eine echtzeitfähige nalen Welt. Wie in . Abb. 22.15 gezeigt, wird die
Variante präsentiert, die für jeden Bildpunkt den komplette 3D-Information der Szene durch wenige
13 6D-Zustandsvektor bestimmt. Die einzelnen Kal- hundert schmale rechteckige Stäbe approximiert,
man-Filter werden hierbei in einer zweidimensio- die durch Fußpunkt, Entfernung und Höhe be-
14 nalen Struktur organisiert, die dem jeweiligen Bild schrieben sind. Trackt man diese Stixel über die
entspricht. Durch die Berechnung des Flussfeldes Zeit, lässt sich wie oben skizziert ihr Bewegungszu-
15 vom aktuellen zum vorherigen Bild kann für je- stand ermitteln. Dank der geringen Zahl von Stixeln
den Bildpunkt der entsprechende Vorgänger iden- können anschließend bewegte Objekte mit global
tifiziert und somit die Track-Kette fortgeschrieben optimierenden Verfahren segmentiert werden (Stix-
16 werden. mentation). Die einzelnen Schritte bis zu den ge-
Alternativ zu obigem Verfahren können auch suchten Objekten werden im Folgenden dargestellt.
17 aus zwei aufeinander folgenden Bildern einer Ste-
reosequenz simultan optischer Fluss und Dispari-
tätsänderung für jeden Bildpunkt ermittelt werden. 22.4.1 Optimale Berechnung
18 Diese Verfahren sind unter dem Begriff „Scene
Flow“ bekannt. Aus der Disparitätsänderung lässt Straßenszenen werden von (annähernd) horizon-
19 sich dann mit der Ursprungsdisparität die Ge- talen und vertikalen Flächen dominiert. Die wich-
schwindigkeit des Bildpunkts relativ zum Beobach- tigste horizontale Fläche ist die Fahrbahn bzw. Bo-
20 ter berechnen. Wie Rabe et al. [25] in ihrer Unter- denebene, auf der Objekte wie Autos, Fußgänger,
suchung zeigen, ist das auf diese Weise ermittelte Gebäude und Büsche mit annähernd vertikalen
22.3 • 6D-Vision
413 22

.. Abb. 22.14  Resultat der Dense6D-Berechnung für die eingeblendete Kreuzungssituation. Die Farben kodieren den Betrag
der Bewegung, Grün steht für statisch, Gelb für geringe (Mutter mit Kinderwagen) und Rot (abbiegendes Fahrzeug) für höhere
Geschwindigkeiten. Die Vektoren zeigen wieder die in 500 ms erwartete Position der getrackten Bildpunkte

.. Abb. 22.15  Repräsentation der Szene aus . Abb. 22.5 durch Stixel. Die Entfernungen sind farbig kodiert, weiße horizontale
Balken definieren die Oberkante der Stixel. Die Pfeile auf dem Boden deuten Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der
Stixel an
414 Kapitel 22 • Stereosehen

.. Abb. 22.16  Idee der Sti-


21 xel-Welt: Der lila dargestell-
te Disparitätsverlauf längs
einer Spalte wird durch
22 konstante Abschnitte
(Objekte, rot gekennzeich-
net) und einen linearen,
3 der Fahrbahnoberfläche
entsprechenden Verlauf
(grün gekennzeichnet)
4 approximiert

5
6 Flächen stehen. Nur in Ausnahmefällen, wie z. B. zu finden. Das bedeutet, unter allen denkbaren Lö-
bei Brücken, berühren diese Objekte nicht den Bo- sungen L wird das wahrscheinlichste Labeling L
7 den. Die Stixel-Welt hat das Ziel, genau diese Eigen- gesucht, formal:
schaften zu nutzen, um eine kompakte und robuste
Beschreibung zu generieren.
8 Das leistungsfähigste derzeit bekannte Verfah-
L D argmaxP .LjD/:
L (22.17)
ren zur Berechnung dieser Repräsentation wurde
9 von Pfeiffer et al. in [27] vorgestellt. Er formuliert Mit der Bayes'schen Regel lässt sich die A-posteri-
die Berechnung als klassisches Maximum-a-poste- ori-Wahrscheinlichkeitsdichte umformulieren zu
10 riori-Problem, das er mittels dynamischer Program- P .LjD/ D P .DjL/P .L/=P .D/: Damit lässt sich
mierung löst. Dazu betrachtet er einzelne schmale das Optimierungsproblem in
Streifen von typischerweise 5–9 Bildpunkten un-
11 abhängig von den Nachbarn, wodurch sich unab- L D argmaxP .DjL/P .L/:
hängige, eindimensionale Optimierungsprobleme L (22.18)
12 ergeben.
. Abb. 22.16 illustriert an zwei Beispielen den umschreiben. Dabei ist P .DjL/ die Wahrschein-
Grundgedanken der Stixel-Welt. Die blaue Linie lichkeitsdichte des beobachteten Disparitätsvektors
13 markiert in beiden betrachteten Bildausschnit- für ein beliebiges Labeling L und repräsentiert so
ten die betrachtete Spalte bzw. den betrachteten den Datenterm der Optimierung. Der zweite Term
14 Streifen. Die in dieser Spalte gemessenen Dispa- P .L/ trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle
ritäten sind violett dargestellt. Angestrebt wird denkbaren Objektanordnungen gleich wahrschein-
15 eine Segmentierung in die Klassen „Objekt“ und lich sind und ermöglicht so, Vorwissen bzw. Statis-
„Fahrbahn“. Pixel einzelner Objekte haben in der tik über den typischen Aufbau von Straßenszenen
Approximation eine konstante Disparität, wäh- elegant bei der Optimierung zu berücksichtigen.
16 rend Pixel der Klasse „Fahrbahn“ einem durch Dies entspricht dem Glattheitsterm globaler Ste-
die Kamerageometrie gegebenen linearen Dispa- reo- und Flussschätzverfahren, ohne sich dabei aber
17 ritätsverlauf gehorchen. Das linke Beispiel zeigt ausschließlich auf die Forderung nach glatten Lö-
den Standardfall eines dominanten Vordergrund- sungen zu beschränken. Vielmehr können in dieser
objekts vor einem Hintergrundobjekt. Im rechten Verteilungsdichte weitere Randbedingungen (engl.:
18 Beispiel erwarten wir eine Repräsentation durch constraints) berücksichtigt werden. Als besonders

19
20
drei Objekte und zwei als „Fahrbahn“ gelabelte
Abschnitte.
Aufgabe der Optimierung ist, bei gegebenem
Disparitätsbild D die „wahrscheinlichste“ modell-
-
wichtig erweisen sich:
Bayes'sches Informationskriterium: innerhalb
einer Spalte werden meist nur sehr wenige Ob-
jekte gefunden, Lösungen mit einer geringen
konforme Approximation des Disparitätsverlaufs Anzahl von Objekten sind zu favorisieren.
22.4 • Stixel-Welt
415 22

- Gravitations-Constraint: Schwebende Objekte


sind unwahrscheinlich. Daher sollten Objekte
mit einem Fußpunkt nahe der Straße diese
Die auf diese Weise generierte Stixel-Welt ist
eine approximierende Repräsentation der 3D-Da-
ten, die eine gegebene Situation detailliert wieder-

- auch berühren.
Ordering-Constraint: Je höher ein Objekt (Sti-
xel) im Bild angeordnet ist, desto weiter ent-
fernt ist es in der Regel. Für vertikal übereinan-
gibt. In der Praxis weist sie mehrere positive Eigen-

-
schaften auf:
Robustheit: Die implizit stattfindende Mitte-
lung aller Disparitäten unter einem Stixel führt
der angeordnete Stixel bedeutet dies, dass diese zu einer deutlichen Reduktion des Disparitäts-
entfernungsmäßig gestaffelt sind. Brücken, rauschens. Dank der robusten Formulierung
Bäume und andere Objekte, die diese Randbe- des Disparitätsrauschens können lokale Fehler
dingung verletzen, können selbstverständlich der Disparitätsanalyse automatisch erkannt und
trotzdem korrekt approximiert werden, wenn eliminiert werden. Größere spontan auftretende
der Datenterm hinreichend aussagekräftig ist. Fehler, die zeitlich nicht konsistent sind, werden

Eine genauere Formulierung des wichtigen Prior-


terms P .L/ ist [27] zu entnehmen. Da es sich bei
dem Optimierungsproblem um ein eindimensi-
- durch die zeitliche Kopplung unterdrückt.
Kompaktheit: Die Stixel-Welt erweist sich als
extrem kompakt. Da ein Bild mit der 4D-In-
formation im Mittel durch 300–600 Stixel
onales Problem handelt, kann es effizient mittels repräsentiert werden kann, reichen wenige
dynamischer Programmierung gelöst werden. Aus Kilobyte zur vollständigen Beschreibung der
Gründen der Effizienz wird außerdem von einer gesamten geometrischen Information ein-
Unabhängigkeit der einzelnen Disparitätsmessun-
gen ausgegangen. Um gegenüber Ausreißern, die
auch bei sehr guten Stereoalgorithmen nicht ver-
meidbar sind, robust zu sein, wird P .DjL/ als Su-
- schließlich der Bewegungsvektoren aus.
Explizite Darstellung: Die Repräsentation ar-
beitet den Inhalt der Szene heraus. Betrachtet
man das oben gezeigte Beispiel ohne das un-
perposition einer Normalverteilung und einer die terlagerte Grauwertbild, sind Menschen ohne
Ausreißerwahrscheinlichkeit repräsentierenden Probleme in der Lage, den Inhalt der Szene zu
Gleichverteilung modelliert. erfassen. Die inhärente Klassifikation in Straße
. Abb. 22.15 zeigt für die in ▶ Abschn. 22.1 be- und Objekt liefert direkt den für die Planung
trachtete Situation die so gewonnene Stixel-Welt. von Trajektorien wichtigen freien Fahrraum in
Die Farben kodieren auch hier die Entfernung. hoher Qualität.
Weiße horizontale Balken definieren die Ober-
kante des Vordergrundstixels, die Fahrbahnfläche Die Stixel-Welt repräsentiert 3D-Daten und ist
ist grau wiedergegeben. Die Fahrzeuge sind klar damit nicht auf Stereo-Disparitäten beschränkt.
vom Hintergrund abgetrennt, der Baum rechts, Beispielsweise können auch Daten eines hochauf-
der das Gravitations-Constraint verletzt, ist korrekt lösenden Laserscanners wie dem vielfach als Re-
approximiert. ferenzsensor eingesetzten Velodyne HD64 damit
Im vorgestellten Beispiel deuten Pfeile auf dem repräsentiert werden.
Boden Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung
der Stixel an. Begreift man einen Stixel als großen
Pixel, lässt sich das 6D-Vision-Prinzip ohne Ände- 22.4.2 Bildverstehen in der Stixel-
rung anwenden. Für Aufgaben der Fahrerassistenz Welt
reicht hier ein 4-dimensionaler Zustandsvektor
aus, da auf eine Schätzung der Zustände Höhe und Im Rahmen der Fahrerassistenz hat die Bildverar-
Vertikalbewegung verzichtet werden kann. Damit beitung mehrere Aufgaben:
entfällt auch die Notwendigkeit, die Nickbewegung a) Detektion aller bewegter Objekte und Schätzung
der Kameras exakt zu kennen. Diese „dynamische ihres Bewegungszustands,
Stixel-Welt“ ist die Basis für sich anschließende b) Klassifikation dieser Objekte (Fußgänger, Auto,
High-Level-Vision-Module. Fahrradfahrer etc.),
416 Kapitel 22 • Stereosehen

21
22
3
4
5
6 .. Abb. 22.17  Segmentierung der dynamischen Stixel-Welt in einzelne, unabhängig bewegte Objekte

7 c) Ermittlung des freien Fahrraums und Barth hat bereits 2009 in [29] gezeigt, wie damit der
d) Erkennung der Absichten anderer Verkehrsteil- vollständige Bewegungszustand einschließlich der
nehmer. Gierrate entgegenkommender Fahrzeuge geschätzt
8 werden kann.
Die vorgestellten Prinzipien sind die Basis für die
9 Sehsysteme der nächsten Generation, die darauf 22.4.2.2 Objektklassifikation
aufbauend die genannten Aufgaben sehr effizient Eine Stärke des Sensors Kamera ist, dass interessie-
10 lösen können. rende Objekte wie Fußgänger und Fahrzeuge auch
in sehr komplexen Szenen anhand ihres Aussehens
22.4.2.1 Stixmentation (engl.: „appearance“) erkannt werden können. An-
11 Die erste Aufgabe erfordert eine Segmentierung der gesichts der Bedeutung der Fußgängererkennung
dynamischen Stixel-Welt in bewegte Objekte vor ei- ist ihr ein separates Kapitel (▶ Kap. 23) gewidmet.
12 nem stationären Hintergrund. Eine einfache lokale Problematisch ist, dass der Aufwand für diese Klassi-
Schwellwertoperation, die die Geschwindigkeit ein- fikation linear mit der Anzahl der zu prüfenden Hy-
zelner Stixel betrachtet, ignoriert die Tatsache, dass pothesen steigt. Deshalb sind leistungsfähige Mecha-
13 Objekte aus einer Gruppe von Stixeln mit ähnlichen nismen einer Aufmerksamkeitssteuerung wichtig.
Eigenschaften bestehen. Analog zur Disparitätsana- Die Stixel-Welt ermöglicht eine besonders ef-
14 lyse liefern auch hier global optimierende Verfahren fiziente Reduktion der Hypothesen. Dabei wird
bessere Resultate. für jedes Stixel angenommen, dass es das mittlere
15 Dazu fasst Erbs in [28] die Stixel als die Knoten Stixel eines gesuchten Objekttyps, z. B. eines Autos,
eines „Conditional Random Field“ (CRF) auf und ist. Abstand und Position des Stixels legen dann die
formuliert darauf ein Optimierungsproblem, das er Größe der zu klassifizierenden „Region-of-Interest“
16 mithilfe der GraphCut Methode löst. Ist man nur an (ROI) fest. Passt die Stixelhöhe zur Hypothese, wird
der Trennung vom stationären Hintergrund inter- eine Klassifikation durchgeführt. In . Abb. 22.18
17 essiert, kann dieses binäre Problem optimal gelöst sind die so gefundenen ROIs dargestellt. Ihre An-
werden. Erbs beschreibt ein iteratives Vorgehen, das zahl liegt typischerweise in der Größenordnung von
auch bei unbekannter Anzahl bewegter Verkehr- einigen hundert ROIs. Enzweiler zeigt in [30], dass
18 steilnehmer diese schrittweise findet und einzeln dieser Ansatz nicht nur extrem effizient ist, sondern
annotiert. sogar bessere Resultate als eine ungesteuerte Suche
19 Wie in . Abb. 22.17 zu sehen, können so die liefert. Der Grund liegt in der Tatsache, dass alle re-
bewegten Fahrzeuge sicher segmentiert werden. Es levanten Hypothesen generiert werden, gleichzeitig
20 ist empfohlen, auf den so gefundenen Stixel-Grup- aber weniger Anfragen an den Klassifikator gestellt
pen einen objektspezifischen Tracker aufzusetzen. werden, der in der Regel eine nicht verschwindende
22.4 • Stixel-Welt
417 22

.. Abb. 22.18  a Anhand der Stixel-Welt gebildete Regions-of-Interest für die Klassifikation von Fahrzeugen. b zeigt die erkann-
ten Fahrzeuge nach einer lokalen Filterung, bei der weitere positive Antworten eliminiert wurden

Falsch-Positiv-Rate hat. Damit erhält man ein Sys- Der aktuelle Trend in der Bildverarbeitung be-
tem mit gleicher Detektionsleistung bei reduzierter steht darin, ein Bild in sogenannte „Superpixel“ zu
Wahrscheinlichkeit von Falschdetektionen. zerlegen, denen anschließend Attribute wie z. B.
Das Resultat der Klassifikation ist in Fahrbahn, Fahrzeug, Gebäude, Vegetation etc. zu-
. Abb. 22.18b wiedergegeben. Der skizzierte An- geordnet werden. Diese Verfahren werden in der
satz lässt sich einfach auf viele Objektklassen wie neueren Literatur als „Scene-Labeling“ bezeichnet.
die bereits erwähnten Fußgänger, aber auch Zwei- Die Zuordnung von Attributen zu den Superpixeln
radfahrer, Leitpfosten, Baken usw. übertragen. beruht im Allgemeinen auf einem geeigneten Klas-
sifikator, der Farb- und Texturinformationen ana-
22.4.2.3 Scene Labeling lysiert.
Klassifikationsverfahren, die rechteckförmige, die Scharwächter zeigt in [31], dass die Stixel-Welt
Objekte umschreibende ROIs auswerten, sind in der eine effiziente Basis für das Scene-Labeling darstellt.
Literatur intensiv untersucht und bei Systemen wie Die Gruppierung von Stixeln liefert Bildsegmente,
Gesichtserkennung oder Verkehrszeichenerkennung die im Vergleich zu Grauwert-basierten Superpixeln
im Einsatz. Sie sind auf solche Fälle beschränkt, in stärker mit tatsächlichen Objektgrenzen überein-
denen das gesuchte Objekt sauber von einem sol- stimmen und in vielen Fällen größere Segmente for-
chen Bereich eingeschlossen wird. Bei Verdeckun- men. Bei der Klassifikation verwendet er zusätzlich
gen (Fußgänger hinter einem parkenden Auto nur die Stereo-Höheninformation. Für eine möglichst
teilweise zu sehen), einer dichten Anordnung von robuste und effiziente Kodierung der Merkmale
Objekten (Reihe eng parkender Autos am Straßen- wird auf sogenannte Random Forests [32] zurück-
rand) oder ausgedehnten Objekten (Häusern, Leit- gegriffen. Die auf diese Art für innerstädtische
planken) sind diesem Ansatz Grenzen gesetzt. Straßenszenen generierten Ergebnisse waren zum
418 Kapitel 22 • Stereosehen

21
22
3
4
5
6
7 .. Abb. 22.19  Beispiel einer automatisch gelabelten Verkehrsszene. Die Farben kodieren Fahrzeuge in Grün, Personen in Rot,
Gebäude in Violett, Himmel in Blau und Fahrbahn in Braun

8 Zeitpunkt der Publikation den bekannten Verfahren Auch die Stixel-Welt und die darauf aufbauende
deutlich überlegen. Bildinterpretation hat ihre Leistungsfähigkeit in der
9 . Abb. 22.19 zeigt das Resultat für eine typische Praxis unter Beweis gestellt. Sie war die Basis des
Innenstadtszene. Die hier verwendeten Attribute Bildverstehens im Rahmen der Bertha-Benz-Fahrt
10 sind: Fahrbahn, Fahrzeuge, Person, Gebäude und im August 2013, bei der ein Mercedes Benz S500 In-
Himmel. Die Wahl der Klassen ist anwendungs- telligent Drive die bekannte Route von Mannheim
spezifisch. Im Autobahnumfeld wäre eine Klasse nach Pforzheim mit seriennaher Sensorik vollauto-
11 „Leitplanke“ sicher relevanter als die Klasse „Ge- matisch zurückgelegt hat. Dank der extrem kompak-
bäude“. ten Repräsentation der Umgebung konnten auch auf-
12 wendige Analyseverfahren ohne zeitliche Probleme
durchgeführt werden [34]. Das Thema „Autonomes
22.5 Zusammenfassung Fahren“ wird in ▶ Kap. 61 vertieft.
13 Die Vision vom automatischen Fahren und
Die im vorliegenden Kapitel beschriebenen Verfah- der Wunsch nach noch leistungsfähigeren Fah-
14 ren der Stereo-Bildverarbeitung sind das Resultat rerassistenzsystemen führen zu weiter steigenden
langjähriger Forschungen und haben sich in der Anforderungen an die Genauigkeit und Robust-
15 Praxis bestens bewährt. Semi-Global-Matching heit der Stereoanalyse. Neue Ansätze zur Dispari-
und das Prinzip der 6D-Vision kommen seit 2013 tätsanalyse [35] bzw. für den Scene Flow [36] sind
in den Intelligent-Drive-Paketen der Ober- und noch nicht echtzeitfähig, können sich aber in den
16 Mittelklassefahrzeugen von Mercedes Benz zum KITTI-Benchmarks deutlich an eine führende Po-
Einsatz. Die für den effizienten, vollautomatischen sition setzen.
17 Fußgängerschutz eingesetzten Klassifikatoren Eine Alternative ist die in [37] vorgeschlagene
profitieren dabei massiv von der dichten Stereoin- zeitliche Kopplung der Disparitätsanalyse, die vor
formation. Bei gleicher Erkennungsrate führt die allem in Fällen starker Störungen (vgl. . Abb. 22.1)
18 Fusion von Grauwertinformation und Disparitäts- hilft, die Falsch-Positiv-Rate einer Hindernisdetek-
information zu einer Reduktion der Falschalarm- tion zu reduzieren. . Abbildung 22.20 zeigt in der
19 rate um mehr als den Faktor  5 [33]. An diesem oberen Reihe das aktuelle Stereobildpaar sowie das
Beispiel wird der Vorteil einer stereobasierten Bild- ohne (dritte Spalte) und mit (vierte Spalte) zeitli-
20 verarbeitung gegenüber einer monokularen Lösung cher Kopplung gewonnene Disparitätsbild. Leichte
besonders deutlich. Unterschiede sind nur in der linken unteren Ecke
Literatur
419 22

.. Abb. 22.20  Die obere Reihe zeigt von links nach rechts: ein bei Regenwetter aufgenommenes Stereobildpaar, die Dispa-
ritätsanalyse im Einzelbild und das Resultat der zeitlich gekoppelten Schätzung. Die untere Reihe zeigt die Situation einen
Zeitschritt später, wenn der Scheibenwischer einen großen Teil des linken Bildes bedeckt. Die Verbesserungen der Disparitäts-
schätzung mit dem in [37] beschriebenen Verfahren werden deutlich, das gezeigte Resultat ist visuell nahezu fehlerfrei

6 Hirschmüller, H., Scharstein, D.: Evaluation of Stereo


des Disparitätsbildes sichtbar. Die untere Reihe gibt Matching Costs on Images with Radiometric Differences.
die Situation im nächsten Zeitschritt wieder. Der IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine Intelli-
Scheibenwischer verdeckt einen erheblichen Teil gence 31(9), 1582–1599 (2009)
des Bildes, was zu markanten Fehlern in der Dispa- 7 Mühlmann, K., Maier, D., Hesser, J., Männer, R.: Calcula-
ting Dense Disparity Maps from Color Stereo Images, an
ritätsschätzung führt. Dank der zeitlichen Kopplung
Efficient Implementation, CVPR Workshop on Stereo and
ist das rechts gezeigte Resultat nahezu fehlerfrei. Multi‐Baseline Vision, S. 30–36 (2001)
Es ist abzusehen, dass sich Stereokamerasysteme 8 Belhumeur, N.: A Bayesian approach to binocular ste-
in den kommenden Jahren schnell in modernen reopsis. International Journal on Computer Vision 19(3),
Fahrzeugen verbreiten werden, da sich eine Vielzahl 237–260 (1996)
9 Boykov, Y., Veksler, O., Zabih, R.: Fast approximate energy
von Objekterkennungsaufgaben sehr viel effizienter
minimization via graph cuts. IEEE Transactions on Pattern
und robuster lösen lassen, als dies mit einem mo- Analysis and Machine Intelligence 23(11), 1222–1239
nokularen System möglich ist. Heutige FPGA-Lö- (2001)
sungen werden durch ASIC-Implementierungen 10 Tappen, M., Freeman, W.: Comparison of Graph Cuts with
abgelöst werden und so mit sehr geringer Leistungs- Belief Propagation for Stereo, using Identical MRF Parame-
ters, International Conference on Computer Vision (ICCV)
aufnahme Disparitätsbilder mit mehreren Megapi-
(2003)
xeln berechnen können. Die wachsende Bildpunkt- 11 Hirschmüller, H.: Stereo Processing by Semi‐Global
zahl wird dann sowohl höhere Reichweiten als auch Matching and Mutual Information. IEEE Transactions on
größere Blickwinkel ermöglichen. Pattern Analysis and Machine Intelligence 30(2), 328–341
(2008)
12 Gehrig, S., Rabe, C.: Real‐time Semi‐Global Matching on
the CPU, CVPR Embedded Computer Vision Workshop, San
Literatur
Francisco, CA (2010)
13 Banz, C., Blume, H., Pirsch, P.: Real‐time semi‐global
1 Dickmanns, E., Zapp, A.: A curvature‐based scheme for im- matching disparity estimation on the GPU, ICCV Workshop
proving road vehicle guidance by computer vision. SPIE on Mobile Computer Vision, Barcelona, Spain (2011)
727, 161–168 (1986) 14 Gehrig, S., Eberli, F., Meyer, T.: A Real‐Time Low‐Power
2 Meister, S., Jähne, B., Kondermann, D.: Outdoor stereo ca- Stereo Engine Using Semi‐Global Matching, International
mera system for the generation of real‐world benchmark Conference on Computer Vision Systems, Liege, Belgium
data sets. Journal of Optical Engineering 51(02) 021107– (2009)
1–021107–6 (2012) 15 Bleyer, M., Chambon, S.: Does Color Really Help in Dense
3 Scharstein, D., Szeliski, R.: A Taxonomy and Evaluation of Stereo Matching? International Symposium 3D Data Pro-
Dense Two‐Frame Stereo Correspondence Algorithms. In- cessing, Visualization and Transmission (3DPVT), Paris,
ternational Journal of Computer Vision (IJCV) 7–42 (2002). France, S. 1–8 (2010)
Kluwer, May 16 Shimizu, M., Okutomi, M.: Precise sub‐pixel estimation on
4 Geiger, A., Lenz, P., Urtasun, R.: Are we ready for Autono- area‐based matching, International Conference on Com-
mous Driving? The KITTI Vision Benchmark Suite, Compu- puter Vision (ICCV) (2001)
ter Vision and Pattern Recognition (CVPR) (2012) 17 Gehrig, S., Badino, H., Franke, U.: Improving Sub‐Pixel Ac-
5 Hirschmüller, H., Gehrig, S.: Stereo Matching in the Pre- curacy for Long Range Stereo. Journal of Computer Vision
sence of Sub‐Pixel Calibration Errors, Computer Vision and and Image Understanding 116(1), 16–24 (2012)
Pattern Recognition (CVPR) (2009)
420 Kapitel 22 • Stereosehen

18 Franke, U., Rabe, C., Badino, H., Gehrig, S.: 6D‐Vision: Fusion
21 of Stereo and Motion for Robust Environment Perception,
DAGM Symposium 2005, Wien (2005)
19 Badino, H., Franke, U., Rabe, C., Gehrig, S.: Stereo Vision‐
22 Based Detection of Moving Objects under Strong Camera
Motion, VisApp, Portugal (2006)
20 Stein, F.: Efficient Computation of OpticaL Flow, DAGM
3 Symposium (2004)
21 Shi, J., Tomasi, C.: Good features to track, Computer Vision
and Pattern Recognition (CVPR), 1994, Seattle (1994)
4 22 Zach, C., Pock, T., Bischof, H.: A Duality Based Approach for
Realtime TV‐L1 Optical Flow, DAGM Symposium (2007)

5 23 Müller, T., Rabe, C., Rannacher, J., Franke, U., Mester, R.: Illu-
mination‐Robust Dense Optical Flow Using Census Signa-
tures, DAGM Symposium (2011)

6 24 Müller, T., Rannacher, J., Rabe, C., Franke, U.: Feature‐ and
Depth‐Supported Modified Total Variation Optical Flow
for 3D Motion Field Estimation in Real Scenes, Computer
7 Vision and Pattern Recognition (CVPR) (2011)
25 Rabe, C., Müller, T., Wedel, A., Franke, U.: Dense, Robust, and
Accurate Motion Field Estimation from Stereo Sequences
8 in Real‐time, European Conference on Computer Vision
(ECCV) (2010)
26 Badino, H., Franke, U., Pfeiffer, D.: The Stixel World ‐ A Com-
9 pact Medium Level Representation of the 3D‐World, DAGM
Symposium (2009)
27 Pfeiffer, D., Franke, U.: Towards a Global Optimal Multi‐Layer
10 Stixel Representation of Dense 3D Data, British Machine
Vision Conference (BMVC) (2011)
28 Erbs, F., Schwarz, B., Franke, U.: From Stixels to Objects, IEEE
11 Intelligent Vehicles Symposium, Brisbane (2013)
29 Barth, A., Franke, U.: Estimating the Driving State of Onco-
ming Vehicles from a Moving Platform Using Stereo Vision,
12 IEEE Transactions on ITS (2009)
30 Enzweiler, M., Hummel, M., Pfeiffer, D., Franke, U.: Efficient

13 Stixel‐Based Object Recognition, IEEE Intelligent Vehicles


Symposium, Alcala de Henares (2012)
31 Scharwächter, T., Enzweiler, M., Franke, U., Roth, S.: Efficient

14 Multi‐Cue Scene Segmentation, DAGM Symposium, Saar-


brücken (2013)
32 Moosmann, F., Triggs, B., Jurie, F.: Fast Discriminative Visual
15 Codebooks using Randomized Clustering Forests. In: Ad-
vances in neural information processing systems (2007)
33 Enzweiler, M., Gavrila, D.M.: A Multi‐Level Mixture‐of‐Ex-
16 perts Framework for Pedestrian Classification, IEEE Trans.
on Image Processing (2011)
34 Franke, U., Pfeiffer, D., Rabe, C., Knöppel, C., Enzweiler, M.,
17 Stein, F., Herrtwich, R.G.: Making Bertha See, ICCV Work-
shop Computer Vision for Autonomous Driving, Sydney,
Australia (2013)
18 35 Yamaguchi, K., McAllester, D., Urtasun, R.: Robust Monocu-
lar Epipolar Flow Estimation, Computer Vision and Pattern
Recognition (CVPR) (2013)
19 36 Vogel, C., Roth, S., Schindler, K.: Piecewise Rigid Scene Flow,
International Conference on Computer Vision (ICCV) (2013)
37 Gehrig, S., Reznistkii, M., Schneider, N., Franke, U., Weickert,
20 J.: Priors for Stereo Vision under Adverse Weather Condi-
tions, ICCV Workshop Computer Vision for Autonomous
Driving, Sydney, Australia (2013)
421 23

Kamerabasierte
Fußgängerdetektion
Bernt Schiele, Christian Wojek

23.1 Anforderungen – 422
23.2 Mögliche Ansätze – 423
23.3 Beschreibung des Funktionsprinzips  –  424
23.4 Beschreibungen der Anforderungen
an Hardware und Software  –  432
23.5 Ausblick – 433
Literatur – 434

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
422 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

Die Detektion oder Erkennung von Fußgängern Pose zu bestimmen. Folglich sind für unter-
21 im Straßenverkehr ist eines der wichtigsten, zu- schiedliche Detektionsbereiche und System-
gleich aber auch eines der schwierigsten Probleme funktionen unterschiedliche Verfahren und
22 der Sensorverarbeitung. Um dem Fahrer optimale Modelle vorzuziehen. . Abbildung 23.1 zeigt
Assistenz leisten zu können, sind idealerweise alle eine Szene mit einer Mehrzahl unterschiedlich
Fußgänger unabhängig von Sichtverhältnissen ro- skalierter Fußgänger, die von einer gängigen

-
23 bust zu erkennen. Dies wird jedoch durch verschie- Onboard-Kamera aufgenommen wurden.
denste Umweltfaktoren erschwert. Problematisch Robustheit: Robustheit spielt für alle An-
24 sind insbesondere wechselnde Wetter- und Sicht- wendungsszenarien eine wesentliche Rolle;
verhältnisse, schwierige Beleuchtungssituationen insbesondere ist die Funktionalität für unter-
und Straßenverhältnisse. Des Weiteren erschweren schiedliche Wetter- und Sichtbedingungen
25 individuelle Kleidung und die Verdeckung von Fuß- zu erreichen. Gleichzeitig müssen Systeme
gängern beispielsweise durch parkende Autos die zur Fußgängererkennung unabhängig von
26 Detektionsaufgabe. Weiterhin zeichnen sich Fuß- Kleidung und Artikulation der Fußgänger
gänger im Vergleich zu vielen anderen Objekten in funktionieren. Damit einhergehend ist auch
27 Straßenverkehrsszenen durch einen hohen Grad an die Auswahl des richtigen Sensors: Während
Artikulation aus, die insbesondere die Anwendung Fußgänger bei Tag in sichtbarem Licht gut zu
umrissbasierter Verfahren erschwert. erkennen sind, lässt die Sichtbarkeit bereits
28 bei Dämmerung nach. Im Gegensatz dazu
Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Erken- registrieren Infrarotkameras auch Teile des un-
29 nungsaufgaben abhängig vom eingesetzten Sensor- sichtbaren Lichtspektrums. Während bei Tag

30 --
typ unterscheiden:
videobildbasierte Verfahren – für den Tag,
infrarotkamerabasierte Verfahren – für die
Nacht.
Hintergrundstrukturen oftmals eine ähnliche
Signatur haben wie Fußgänger, sind diese bei
Nacht aufgrund der emittierten Wärmestrah-
lung deutlich zu erkennen und Infrarotkame-

-
31 ras herkömmlichen Kameras vorzuziehen.
Während sich die Sensoren durch das aufgenom- Blickwinkelinvarianz: Fußgänger müssen
32 mene Lichtspektrum unterscheiden, haben sich in unabhängig vom relativen Blickwinkel der Ka-

33
der Praxis jedoch ähnliche grundsätzliche Verfah-
ren für die Bearbeitung bewährt.
- mera zum Fußgänger erkannt werden können.
Teilweise Verdeckung: In realistischen An-
wendungen ist die Verdeckung von Fuß-
gängern kaum zu vermeiden. Insbesondere
34 23.1 Anforderungen in komplexen Innenstadtszenarien ist ein
funktionierendes System auf die Behandlung
35
36
Wie bereits eingehend erwähnt sind an ein System,
das für die robuste Erkennung von Fußgängern im
Straßenverkehr eingesetzt wird, hohe Anforderun-
gen zu stellen. Insbesondere ist die Behandlung der
- entsprechender Situationen auszurichten.
Posenschätzung: Um die Bewegungsrichtung
von Fußgängern besonders schnell zu bestim-
men, ist es notwendig, die Pose zu schätzen.

37 -
folgenden Aspekte von hoher Bedeutung:
Auflösung und Größe der Fußgänger im Vi-
deobild: Die Auflösung des Videobilds und die
Brennweite der verwendeten Kamera beein-
Insbesondere wenn die Zeit bis zum Zusam-
menprall kurz ist, der Fußgänger sich also in
kurzen Entfernungen zum Fahrzeug befindet,
ist dieser Aspekt von großer Wichtigkeit, um

-
38 flussen ganz wesentlich die Menge darstellbarer eine sinnvolle Reaktionsstrategie zu erhalten.
Information (vgl. ▶ Kap. 20). Während auf 2D- vs. 3D-Modellierung: Während 2D-An-
39 niedrigauflösenden Bildern Fußgänger selbst sätze, die die Umwelt in Bildkoordinaten mo-
von Menschen mit Mühe erkannt werden dellieren, gute Ergebnisse für kleine Fußgänger
40 können, ist es möglich, aus hochauflösenden
Bildern neben der Position im Bild auch die
in größerer Entfernung erzielen, geht damit
auch Unsicherheit in Bezug auf die genaue
23.2 • Mögliche Ansätze
423 23

.. Abb. 23.1  Innenstadtszene mit Fußgänger in unterschied-


licher Auflösung (normalisierte Darstellung)

Position im Verhältnis zum eigenen Fahrzeug


einher. Deshalb ist für den Nahbereich die Mo-
dellierung insbesondere der Posenschätzung in
Weltkoordinaten erstrebenswert.

23.2 Mögliche Ansätze


.. Abb. 23.2 Sliding-Window-Objektdetektion

Für die Erkennung von Fußgängern lassen sich in Bei AdaBoost handelt sich es um ein Klassifi-
der Literatur im Wesentlichen drei grundsätzliche kationsverfahren, das einen so genannten „starken“

--
Ansätze unterscheiden. Dies sind:
„Sliding-Window“-Ansätze
Merkmalspunkt- und körperteilbasierte An-
Klassifikator aus einer gewichteten Summe schwa-
cher Klassifikatoren kombiniert. Schwache Klassi-
fikatoren sind oftmals Entscheidungsbaumstümpfe

- sätze
Systemorientierte Ansätze.

Beim „Sliding-Window“-Ansatz wird ein Fenster


mit einem einzelnen Entscheidungsknoten. Diese
schwachen Klassifikatoren trennen die Daten beim
Training rundenweise lokal entlang der diskrimina-
tivsten Dimension.
vordefinierter, fester Größe sukzessive über das Im Gegenteil dazu optimieren Support-Vektor
Eingabebild bewegt. Dabei wird jeder Ausschnitt Maschinen den globalen Klassifikationsfehler, in-
durch einen Klassifikator dahingehend individuell dem sie eine Hyperebene bestimmen, die die Trai-
beurteilt, ob er einen Fußgänger enthält oder nicht. ningsdaten gemäß der statistischen Lerntheorie
Um Skaleninvarianz, also die Unabhängigkeit des optimal trennt. Dabei können so genannte Kerne
Fußgängers auf dem Eingabebild von der Größe eingesetzt werden, um ein nicht-lineares Abstands-
des Klassifikationsfensters, zu erreichen, wird das maß zu definieren und die Trainingsdaten damit
Eingabebild so lange reskaliert und erneut getestet, in einem höherdimensionalen Raum optimal zu
bis seine Dimension kleiner als die des Detektions- trennen.
fensters ist (vgl. . Abb. 23.2). Bei Merkmalspunkt-basierten Ansätzen werden
Besonders populär sind dabei Ansätze, die Gra- zunächst markante Bildpunkte extrahiert. Dies kön-
dientenhistogramme verwenden, um die Genera- nen einerseits Eckpunkte mit einem großen Intensi-
lisierung über verschiedene Instanzen zu ermög- tätsgradienten in zwei Richtungen sein [6] oder aber
lichen [1, 2, 3]. Die globale, starre Beschreibung kreisförmige Regionen [8]. Mithilfe der Laplace-
eines Fußgängers mithilfe eines Fensters mit vor- funktion lässt sich anschließend eine kanonische
gegebenem Seitenverhältnis stellt die wesentliche Skala ermitteln [7]. Die ermittelten Punkte werden
Limitierung dieser Verfahren dar. Dem kann zum dann mittels so genannter Merkmalsdeskriptoren
Beispiel durch die Unterteilung des Fensters in Teile näher charakterisiert [9] und in einem darauf auf-
entgegengewirkt werden. setzenden Verfahren zu einem Modell kombiniert.
Als Klassifikatoren kommen zumeist AdaBoost- Zur Gruppe dieser Verfahren zählen zum Beispiel
[4] und Support-Vektor Maschinen (SVM) zum das „Implicit Shape Model“ (ISM) von Leibe et al.
Einsatz [5]. [10], Seemann et al. [11, 12] sowie Andriluka et al.
424 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

[13]. Ein Vergleich verschiedener Deskriptoren ist Ein wesentlicher Unterschied der oben ein-
21 bei Seemann et al. [14] zu finden. geführten Methoden in der Modellierung liegt in
Nahe verwandt hiermit sind die körperteilba- der Verwendung verschiedener Merkmale. Auch
22 sierten Ansätze, mit welchen versucht wird, einzelne variieren die eingesetzten Klassifikationsmethoden
Körperteile wie Gliedmaßen und Torso separat zu oftmals zwischen AdaBoost und SVMs mit un-
erkennen. Diese werden dann mittels probabilisti- terschiedlichen Kernen. . Tabelle  23.1 gibt einen
23 scher Modelle fusioniert. Der Vorteil dieser Ansätze Überblick zu Kombination der Originalarbeiten.
besteht in der Robustheit gegenüber Verdeckung Wie aus dieser Tabelle ersichtlich ist, wurden
24 und einer guten Generalisierung für verschiedene viele der möglichen Kombinationen aus Bildmerk-
Artikulationen. mal und Klassifikator nicht evaluiert. Außerdem
Schließlich sind an dieser Stelle noch die syste- erschwert die Verwendung unterschiedlicher Da-
25 morientierten Ansätze zu nennen. Bei diesen wird tensätze die Vergleichbarkeit zusätzlich. An dieser
im Unterschied zu den bisher genannten Systemen Stelle sollen nun die verschiedenen Kombinationen
26 Vorwissen bezüglich der konkreten Anwendung im erschöpfend auf einem etablierten Datensatz mit
automobilen Umfeld ausgenutzt, um ein System zu einer Detektionsfenstergröße von 64 × 128 Pixel
27 konstruieren. Beispielhaft hierfür ist die Annahme verglichen werden.
einer ebenen Grundfläche, auf der sich sowohl das Zu Beginn sollen die verwendeten Merkmale
Fahrzeug als auch die Fußgänger bewegen. Außer- kurz vorgestellt werden. Haar-Merkmale aus [20]
28 dem wird oftmals ein Vorarbeitungsschritt zur Auf- kodieren lokale Bildintensitätsunterschiede. Die
merksamkeitssteuerung eingesetzt, der interessante verwendeten Größen der Filtermaske sind 16 und
29 Bereiche im Bild automatisch bestimmt. Wichtigster 32 Pixel, wobei die einzelnen Masken jeweils zu 75 %
Vertreter dieser Gruppe ist das PROTECTOR-Sys- überlappen und dadurch eine übervollständige Dar-
30 tem von Gavrila und Munder [15].
Im Bereich der infrarotkamerabasierten Fuß-
stellung ermöglichen. Es werden die in . Abb. 23.3
gezeigten Filter (zweite bis vierte Basisfunktion)
gängererkennung bei Nacht dominieren die Sliding- verwendet; der Gleichanteil (erste Basisfunktion)
31 Window-basierten Verfahren. So adaptieren sowohl wird vernachlässigt. Um Belichtungsunterschiede
Mählisch et al. [16] als auch Suard et al. [17] ähnliche auszugleichen, werden alle Einzelantworten durch
32 Ansätze und Merkmale, die sich für den sichtbaren die mittlere Filterantwort für den entsprechenden
Bereich des Spektrums bereits bewährt haben. Ber- Filtertyp normalisiert. Aufgrund unterschiedlicher
tozzi et al. [18] verwenden außerdem die Wärmeab- Kleidung ist außerdem nur der Betrag der Filterant-
33 strahlcharakteristik zur Detektion von Fußgängern. wort von Bedeutung. Eine weitere Verbesserung
kann durch eine globale L2-Längennormalisierung
34 erzielt werden.
23.3 Beschreibung Haar-ähnliche Merkmale aus [21] stellen eine
des Funktionsprinzips
35 Verallgemeinerung der Haar-Merkmale zu allge-
meinen rechteckigen Merkmalen dar, die an belie-
Wie bereits erwähnt, eigenen sich unterschiedliche biger Stelle in beliebiger Größe im Detektionsfenster
36 Verfahren je nach Auflösung des Videobilds unter- vorkommen können (vgl. . Abb. 23.4).
schiedlich gut, um die eingeführten Anforderungen Diskriminative Merkmale werden beim Er-
37 zu erfüllen. Im Folgenden soll nun je eine Arbeit aus lernen des Modells durch AdaBoost ausgewählt.
jeder Kategorie näher betrachtet werden. Grundlage hierfür ist eine effiziente Berechnung
der Merkmale mithilfe von Integralbildern. Die
38 exponentiell ansteigende Anzahl von möglichen
23.3.1 Sliding-Window-Ansätze Merkmalspositionen und -größen stellt den limi-
39 tierenden Faktor dieses Merkmals dar. Deshalb wer-
Für die Verfahrensgruppe der „Sliding-Window“- den für die nachfolgende Evaluierung Merkmale für
40 Ansätze soll die Performanzanalyse von Wojek und
Schiele [19] vorgestellt werden.
ein Fenster der Größe 24 × 48 Pixel bestimmt und
dann auf die Größe des Detektionsfensters skaliert.
23.3  •  Beschreibung des Funktionsprinzips
425 23

.. Tab. 23.1  Kombinationen von Bildmerkmalen und Fensterklassifikatoren

Merkmal/ SVM mit Kern AdaBoost Sonstige Evaluations-


Klassifikator kriterium

Haar-Wavelets [20] Polynomial-Kern ROC

Haar-ähnliche Wavelets Kaskadiert mit Ent­ ROC


[21] scheidungsbäumen

HOG [2] Linearer und RBF- FPPW


Kern

Shapelets [22] Mit Entscheidungsbäumen FPPW

Shape Context [23] ISM RPC

.. Abb. 23.3 Haarfilterbank .. Abb. 23.4  Haar-ähnliche Merkmale

Auch hierbei zeigt sich, dass die Vernachlässigung Bei Shapelets handelt es sich um ein weiteres
des Vorzeichens der Filterantworten von Vorteil ist. gradientenbasiertes Merkmal, das für lokale Be-
Außerdem ist eine L2-Längennormalisierung der reiche des Detektionsfensters automatisch erlernt
ausgewählten Merkmalsantworten einer Mittel- und wird. Die Auswahl der Gradienten erfolgt dabei
Varianznormalisierung überlegen. durch AdaBoost, dem auf Bildbereichen der Größe
Als weiteres Merkmal wurden Histogramme 5 × 5 Pixel bis 15 × 15 Pixel die Gradienten in meh-
über Gradientenorientierungen (HOG) von Dalal rere Richtungen (0°, 90°, 180°, 270°) als Eingabe zur
und Triggs vorgeschlagen [2]. Hierfür werden zu- Verfügung stehen. . Abbildung 23.6 veranschau-
nächst die Gradienten in x- und y-Richtung be- licht die ausgewählten, diskriminativen Gradienten.
rechnet und anschließend in so genannte Zellen- Auch hierbei wird Belichtungsinvarianz durch Nor-
histogramme (über 8 × 8 Pixel) eingetragen, wobei malisierung der Gradienten bezüglich der lokalen
sowohl in räumlichen Koordinaten als auch bezüg- Nachbarschaft erreicht; dabei ist stets auf adäquate
lich der Orientierungen interpoliert wird. Anschlie- Regularisierung zu achten, um Rauschen nicht zu
ßend werden alle Zellenhistogramme bezüglich der verstärken.
Nachbarzellen normalisiert, um lokale Belichtungs- Das Shape Context-Merkmal wurde ursprüng-
unterschiede auszugleichen. Um die Dominanz ei- lich als Deskriptor für Merkmalspunkte von [23]
nes einzelnen Histogrammeintrags zu verhindern, vorgeschlagen und mit großem Erfolg im ISM
hat sich ein zusätzlicher Hystereseschritt als nützlich Framework von Seemann et  al. [14] eingesetzt.
erwiesen [7]. Der Merkmalsvektor entsteht schließ- Das Merkmal basiert auf Kanten, die mithilfe ei-
lich durch die Konkatenation aller Histogrammein- nes Canny-Kantendetektors extrahiert werden.
träge (siehe . Abb. 23.5). Diese werden dann in einer Log-Polar-Darstellung
426 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

.. Abb. 23.5 HOG-
21 Merkmale

22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
.. Abb. 23.6 Shapelet-Merkmale

35 kodiert, wobei die räumliche Lage durch neun


verschiedene Einträge charakterisiert ist (siehe
36 . Abb. 23.7). Um das Merkmal für den Sliding-
Window-Ansatz zu adaptieren, wurde es für Git-
37 terpunkte im Abstand von 16 Pixel berechnet. Um
.. Abb. 23.7 Shape-Context-Merkmale
die Gesamtdimension zu reduzieren, wird zusätz-
lich noch eine Hauptkomponentenanalyse durch-
38 geführt. ningsbeispiele verwendet. Die Performanz ist in
Im ersten Schritt werden nun die einzelnen . Abb. 23.8 als Precision-Recall-Kurve dargestellt.
39 Merkmale in Kombination mit unterschiedlichen Dabei ist Recall definiert als
Klassifikatoren evaluiert. Grundlage der Evaluation
#korrekte Detektionen
40 ist der „INRIAPerson“-Datensatz aus [2]. Zunächst
werden 2416 positive und 12180 negative Trai- #korrekte Detektionen C #fehlende Detektionen
23.3  •  Beschreibung des Funktionsprinzips
427 23

.. Abb. 23.8  Evaluation der Merkmale mit unterschiedlichen Klassifikatoren

Precision ist definiert als Bootstrapping eine deutlich bessere Leistung er-
zielt, ohne eine ähnliche. In Kombination mit einer
#korrekte Detektionen . linearen SVM als Klassifikator ergibt sich ebenfalls
#korrekte Detektionen C #falsche Detektionen
eine zu HOG-linSVM vergleichbare Performanz.
Es ist ersichtlich, dass unabhängig von der Wahl Für die Kombination von Dense Shape Context-
des Klassifikators die gradientenbasierten Merk- Merkmalen mit Haar-Merkmalen ergibt sich ohne
male HOG und Shape Context die besten Ergeb- Bootstrapping für lineare SVMs und AdaBoost
nisse erreichen. Außerdem ist ersichtlich, dass Haar ähnliche Performanz. Allerdings profitiert in dieser
und Haar-ähnliche Merkmale ähnlich gute Perfor- Kombination die lineare SVM stärker von der Boot-
manz liefern, was aufgrund des ähnlichen Designs strappingprozedur und erreicht eine deutlich bes-
der Merkmale wenig überraschend ist. Außerdem sere Gesamtleistung als HOG-linSVM. AdaBoost
bleibt festzuhalten, dass durch die Verwendung ei- hingegen erreicht nur eine ähnlich gute Performanz.
nes RBF-Kerns die Ergebnisse zumeist verbessert
werden können.
Im anschließenden Schritt wird ein so genann- 23.3.2 Merkmalspunkt-
ter „Bootstrapping“-Schritt durchgeführt. Dieser und körperteilbasierte Ansätze
trainiert zunächst ein Initialmodell und testet da-
mit alle Negativbilder, um zusätzliche, schwierig zu Merkmalspunkt-basierte Ansätze eignen sich be-
klassifizierende Negativbeispiele zu finden. Diese sonders für größere Fußgänger. In den hier disku-
werden dann den ursprünglichen Trainingsbeispie- tierten Ansätzen beträgt eine typische Größe z. B.
len hinzugefügt und die Anzahl damit vervielfacht. 100 Pixel und mehr. Im Gegensatz zu Sliding-Win-
Außerdem zeigt die Analyse der Einzeldetektoren, dow-basierten Detektoren findet die Modellierung
dass diese unterschiedlichen Instanzen detektieren der Fußgänger lokal anstatt global statt, weshalb
und somit eine Kombination unterschiedlicher diese Gruppe von Ansätzen wesentlich robuster
Merkmale vielversprechend ist. Die Ergebnisse gegenüber Verdeckung und Artikulation ist. Ei-
hierzu finden sich in . Abb. 23.9. Als Vergleichs- nige der Ansätze erlauben außerdem die Schät-
maßstab dient die Kombination von HOG-Merk- zung der Körperpose [11, 12, 13], sodass gleich-
malen mit einer linearen SVM (HOG-linSVM). zeitig die Bewegungsrichtung des Fußgängers
Es zeigt sich, dass eine Kombination von HOG- mitgeschätzt werden kann. In diesem Abschnitt
und Haar-Merkmalen eine bessere Gesamtleistung soll auf den besonders erfolgreichen Implicit Shape
erzielen kann als HOG-linSVM. Allerdings ist die Model (ISM)-Ansatz von Leibe und Schiele [24]
Performanz von der Wahl des Klassifikators ab- und dessen Erweiterungen [10, 11, 13, 14] einge-
hängig. In Kombination mit AdaBoost wird mit gangen werden.
428 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

.. Abb. 23.9  Performanz von Merkmalskombi-


21 nationen (Haar und Shape-Context-Merkmale)

22
23
24
25
26
27
28
29
30
31 .. Abb. 23.10  Lernverfahren zum Erstellen des visuellen Wörterbuchs

32 Das visuelle Wörterbuch stellt für diese Gruppe große Datenmengen gut geeignet ist. Als nächstes
von Ansätzen den zentralen Bestandteil dar. Es ent- werden die visuellen Wörter zurück in die Trai-
hält eine Ansammlung von Objektbestandteilen, die ningsbilder projiziert und deren räumliche Ver-
33 aus einer Trainingsmenge von Bildern extrahiert wer- teilung relativ zum Objektzentrum in einer nicht
den. Dafür wird zunächst ein Merkmalspunktdetek- parametrischen Form gelernt. Besonders wichtig
34 tor benutzt, um markante Bildpunkte zu bestimmen. ist hierbei, dass es sich um ein sternförmiges Mo-
Prinzipiell kommen dafür Harris-Laplace, dell handelt, sodass die Abhängigkeiten für jeden
35 Hessian-Laplace [25], DOG-Detektor [7] oder eine
beliebige Kombination dieser infrage. Der Detektor
Wörterbucheintrag individuell gelernt werden und
keine Modellierung der Abhängigkeiten zwischen
liefert einerseits die x-y-Position im Bild, aber auch Wörterbucheinträgen stattfindet. Der Verzicht auf
36 eine generische Skala, d. h. Größe des Merkmals. die Modellierung gegenseitiger Abhängigkeiten zwi-
Im nächsten Schritt wird die Größe der Merk- schen Wörterbucheinträgen erlaubt außerdem die
37 male normalisiert und anschließend mittels eines Verwendungen einer sehr kleinen Trainingsmenge
Deskriptors beschrieben. Auch für die Wahl des (210 Instanzen). . Abbildung 23.10 gibt einen Ge-
Deskriptors existieren mehrere Möglichkeiten [9, samtüberblick über das vorgestellte Lernverfahren.
38 14]. Die meistbenutzten sind SIFT [7], Shape Con- Im Folgenden wird die Erkennung von Fußgän-
text [23] oder einfach die Grauwertpixelwerte. Die gern mithilfe des erlernten visuellen Wörterbuchs
39 Deskriptoren werden anschließend zu visuellen beschrieben. . Abbildung 23.11 gibt einen Gesamt-
Wörterbucheinträgen geclustert. Dafür kommt ein überblick zur ISM-Detektionsprozedur.
40 agglomeratives Reciprocal nearest neighbor pairs
(RNN)-Clusteringverfahren zum Einsatz, das für
Auch hier werden zunächst, wie bereits für die
Lernprozedur beschrieben, Merkmalspunkte ext-
23.3  •  Beschreibung des Funktionsprinzips
429 23
.. Abb. 23.11  Überblick über die ISM-
Detektionsprozedur

rahiert und mittels Deskriptoren näher charakteri- Für das oben beschriebene allgemeine Detekti-
siert. Anschließend werden diese mit den Einträgen onsverfahren gibt es mehrere, speziell auf Fußgän-
das visuellen Wörterbuchs verglichen und in einen ger zugeschnittene Erweiterungen. In [10] kombi-
probabilistischen Abstimmungsraum eingetragen. nieren Leibe et al. das lokale Detektionsverfahren
Dabei stellen die lokalen Maxima dieses Raums de- mit einem globalen Verifikationsschritt. Bei diesem
tektierte Objektpositionen dar. Um diese effizient wird die abschließend erhaltene Segmentierung
zu bestimmen, wird eine skalen-adaptive Mean- der Hypothesen mit den bekannten Silhouetten
Shiftsuche durchgeführt. der Trainingsmenge mittels Chamfermatching
Schließlich können nun diejenigen Merkmal- verglichen. Durch die Kombination von globalen
spunkte ins Bild zurückprojiziert werden, die die umrissbasierten Silhouettenmerkmalen und der
gefundenen Maxima stützen. Daraus ergibt sich durch lokale Merkmale gestützten ISM-Detektion
neben der Objektposition und -größe auch eine kann eine insgesamt verbesserte Performanz er-
grobe Segmentierung der Fußgänger. Basierend auf reicht werden.
der bekannten Vordergrund/Hintergrundsegmen- In [11] erweitern Seemann et al. den probabilis-
tierung der Trainingsdaten lässt sich pro Pixel nun tischen Abstimmraum um eine zusätzliche diskrete
die Wahrscheinlichkeit bestimmen, dass dieser zum Dimension, die die Artikulation des detektierten
Vordergrund gehört. Dazu werden mit jedem Ein- Fußgängers beschreibt. Dazu wird für jeden Ein-
trag des visuellen Wörterbuchs Segmentierungen trag des visuellen Wörterbuchs zusätzlich vermerkt,
gespeichert, die dann entsprechend ihrem Beitrag mit welcher Artikulation dieser auftreten kann.
zur Detektionshypothese berücksichtigt werden. Dadurch kann im Detektionsschritt das artikulati-
Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für Vordergrund onskonsistente Auftreten von lokalen Merkmalen
gegen Hintergrund entscheidet schließlich über die sichergestellt werden. Merkmale am Kopf sind z. B.
Objektsegmentierung. konsistent mit fast allen Artikulationen, Merkmale
Insbesondere bei Verdeckung und dem Auf- am Fuß nur für ganz spezifische Artikulationen,
treten mehrerer eng beieinander liegenden Hypo- sodass eine weiche Zuweisung von Vorteil ist. Dies
thesen kommt es zu inkonsistenten Beiträgen im wird durch die experimentelle Validierung belegt.
Verlauf des probabilistischen Abstimmverfahrens. Dieser Ansatz übertrifft die Ergebnisse, die mit der
Insbesondere kann dies dazu führen, dass Teile ei- globalen Chamferverifikationsstrategie erzielt wer-
nes Fußgängers Hypothesen stützen, die zu einem den.
anderen Fußgänger gehören, oder dass falsche Hy- In [12] schlagen Seemann und Schiele vor, den
pothesen zwischen eng aneinander liegenden De- Beitrag der lokalen Merkmalspunkte in Abhän-
tektionen entstehen. Es hat sich allerdings gezeigt, gigkeit des lokalen Kontexts zu modellieren. Dazu
dass diese Mehrdeutigkeiten sehr effizient mithilfe wird für jeden Eintrag im visuellen Wörterbuch
der inferierten Segmentierung in einer MDL (Maxi- gespeichert, an welcher Stelle er auf der Silhouette
mum Description Length)-Formulierung aufgelöst der Trainingsinstanz auftritt. Zum Detektionszeit-
werden können. punkt wird dann überprüft, ob innerhalb eines
430 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

21
22
23
24
25
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27
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29
30
31
32
33 .. Abb. 23.12  Menschlicher Bewegungsablauf im Gaussian Process Latent Variable-Modell

benutzerdefinierten Radius der Kontext, der durch der hohen Korrelation der verschiedenen Posen-
34 andere Wörterbucheinträge beschrieben wird, über- parameter möglich. In dieser Darstellung ist es
einstimmt. Für den Spezialfall, dass der Radius un- sehr gut möglich, ein dynamisches Modell für den
35 endlich gesetzt wird, ist dieser Ansatz mit dem ori-
ginären ISM-Ansatz identisch. Verglichen mit den
menschlichen Bewegungsablauf zu erlernen (siehe
. Abb. 23.12).
beiden vorherigen Ansätzen erreicht dieser Ansatz Dieses wird für das dynamische Modell in ei-
36 eine weiter verbesserte Performanz. nem Tracking-Framework ausgenutzt, das keine
Eine Weiterentwicklung von ISM für dynami- Markov-Annahme macht. Zusätzlich wird ein ins-
37 sche Bildsequenzen wird von Andriluka et al. in tanzenspezifisches Farbmodell erlernt, um Fußgän-
[13] vorgeschlagen. Für diesen Ansatz wird auf ger trotz vollständiger, längerer Verdeckung wieder
die globale Modellierung von Fußgängern als ein zu identifizieren. Selbst ohne zeitliche Integration
38 Objekt verzichtet. Stattdessen werden einzelne ist dieses körperteilbasierte Modell ISM überlegen;
Köperteile wie Füße, Arme, Oberkörper und Kopf unter Hinzunahme der zeitlichen Entwicklung ist
39 einzeln detektiert. Daraus lässt sich die Pose re- eine weitere Steigerung der Erkennungsgenauigkeit
konstruieren, die mithilfe einer nicht-linearen Ab- möglich (siehe Vergleich in . Abb. 23.13). . Abbil-
40 bildung in einen niederdimensionalen 2D-Raum
[26] abgebildet wird. Diese Abbildung ist aufgrund
dung 23.14 zeigt einige Beispieldetektionen für die-
sen Ansatz.
23.3  •  Beschreibung des Funktionsprinzips
431 23
.. Abb. 23.13  Performanzvergleich auf Vide-
osequenzdaten der ISM-Varianten [12, 13] und
HOG [2]

.. Abb. 23.14  Beispieldetektionen für den körperteilbasierten ISM-Ansatz mit zeitlicher Integration

23.3.3 Systemorientierte Ansätze den mittels Chamfermatching [28] initiale Fußgän-


gerhypothesen generiert. Es handelt sich dabei um
Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen De- ein instanzbasiertes Matchingverfahren. Um den
tektoren, die unabhängig von einer Anwendung Berechnungsaufwand niedrig zu halten, sind die
funktionieren, existieren weitere Ansätze, die An- verschiedenen Musterinstanzen hierarchisch in drei
wendungswissen mit in die Entwicklung eines Ge- Ebenen geclustert. Hierbei kommt das bereits be-
samtsystems einbringen. Als Beispiel hierfür ist das kannte „Sliding-Window“-Verfahren zum Einsatz.
System von Gavrila und Munder anzuführen [15]. Um den Berechnungsaufwand weiter zu reduzie-

--
Es setzt sich aus den Einzelkomponenten
stereobasierte Aufmerksamkeitssteuerung,
ren, wird nur an Bildpositionen detektiert, an de-
nen ein Fußgänger durchschnittlicher Größe in die

-- umrissbasierte Detektion,
texturbasierte Fußgängerklassifikation,
Szenengeometrie passt. Dabei wird angenommen,
dass sowohl Kamera als auch der zu detektierende

- stereobasierte Fußgängerverifikation,
Tracking
zusammen (vgl. . Abb. 23.15).
Um den Verarbeitungsaufwand für weitere
Fußgänger auf der gleichen Ebene stehen.
Anschließend werden die Initialhypothesen
mittels eines Texturverfahrens verifiziert. Die Tex-
tur wird dabei mittels künstlicher neuronaler Netze
Schritte gering zu halten, werden die Stereobilder modelliert [29]; als Klassifikator kommt eine SVM
zunächst rektifiziert und ein dünn besetztes Dispa- zum Einsatz. Dabei werden im Vergleich zu her-
ritätsbild berechnet [27]. Im nächsten Schritt wer- kömmlichen Feed-Forward-Netzen Gewichte in
432 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

21
22
23 .. Abb. 23.15  Verarbeitungsschritte für das PROTECTOR-System

lokalen rezeptiven Feldern gemeinsam benutzt, wesentlich höhere Falscherkennungsrate insbe-


24 wodurch dieses Verfahren mit weniger Trainings- sondere auf strukturiertem Hintergrund bei deren
instanzen auskommen kann, ohne dabei aber an Deaktivierung belegt. Schränkt man den Detekti-
Performanz einzubüßen. onsbereich auf +/– 1,5 m Lateralabstand von der
25 Um die Anzahl an Falschdetektionen weiter Fahrzeugmittelachse ein, werden alle Fußgänger er-
zu verringern, wird anschließend ein weiterer Ve- kannt, wobei etwa 5 Falschdetektionen pro Minute
26 rifikationsschritt durchgeführt, der die Stereobild- auftreten. Gavrila und Munder zeigen außerdem,
information ausnutzt. Dabei wird im Bereich der dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit durch Um-
27 Umrissmaske, die die Hypothese generiert hat, ein parametrisierung der Aufmerksamkeitssteuerung
Polynom zweiten Grades über die Verteilung der um ca. 40 % gesteigert werden kann. Allerdings
Kreuzkorrelationswerte im Bereich der geschätzten leidet die Erkennungsleistung darunter, was sich in
28 Tiefe im zweiten Stereobild gefittet. Anschließend einem 6- bis 8-prozentigen Rückgang der System-
werden die Hypothesen verworfen, die der erwar- genauigkeit widerspiegelt.
29 teten Verteilung nicht entsprechen.
Schließlich werden die Hypothesen mithilfe
23.4 Beschreibungen
30 eines Kalman-Filters zeitlich geglättet. Der Status-
vektor der einzelnen Tracks besteht dabei aus den der Anforderungen
Bildkoordinaten, der Größe der entsprechenden an Hardware und Software
31 Detektion und der geschätzten Tiefe. Außerdem
wird zusätzlich jeweils die entsprechende erste Ab- Aufgrund der hohen Datenmenge ist auch der
32 leitung modelliert. Um Mehrdeutigkeiten bei der Verarbeitungsaufwand für komplexe Detektions-
Assoziation von Messungen zu bestehenden Tracks systeme, wie sie für die Erkennung von Fußgängern
zu vermeiden, wird Kuhns klassische Methode [30] notwendig sind, auch nicht völlig unerheblich. Ein
33 angewandt. Um die entsprechende Kostenmatrix elementares Konzept zur Beschleunigung bestehen-
zwischen Tracks und Messungen aufzubauen, wird der, gut funktionierender Algorithmen ist daher die
34 eine gewichtete Linearkombination des Chamfer- Parallelisierung und die Verwendung von Spezial-
ähnlichkeitsmaßes und dem Abstand der Objekt- hardware, wie z. B. Field Programmable Gate Arrays
35 zentren verwendet.
Auch die experimentelle Validierung findet für
(FPGA) oder Application Specific Integrated Circuits
(ASIC). Prinzipiell sind auch moderne Grafikkar-
das Gesamtsystem statt. Im Gegensatz zu den meis- ten zur Parallelisierung bestehender Algorithmen
36 ten anderen Arbeiten wird die Leistungsfähigkeit geeignet. Insbesondere durch die Bereitstellung
hier im Hinblick auf die Erkennung von Fußgän- moderner Programmierparadigmen wie Compute
37 gern in 3D-Koordinaten validiert. Dabei wurden Unified Device Architecture (CUDA) von NVidia
Fußgänger in den 2D-Eingangsbildern annotiert oder Stream SDK durch ATI können bereits zu
und dann mittels der bekannten Szenengeometrie in frühen Entwicklungszeitpunkten entsprechende
38 den 3D-Raum zurückprojiziert. Das System wurde Konzepte auf einfachem Weg überprüft werden.
für den Detektionsbereich 10 m bis 25 m und einem Während unoptimierte Implementierungen der
39 Kameraöffnungswinkel von 30° getestet. oben vorgestellten Detektionsalgorithmen auf Stan-
Es zeigt sich insbesondere, dass die stereoba- dardhardware meist eine Laufzeit von mehreren
40 sierte Aufmerksamkeitssteuerung wesentlich zur
Gesamtperformanz beiträgt. Dies wird durch die
Sekunden pro Bild haben, ist schon durch den Ein-
satz moderner Grafikhardware der Einsatz in Echt-
23.5 • Ausblick
433 23

zeitanwendungen möglich. Eine empirische Studie


.. Tab. 23.2  Reine Algorithmenlaufzeiten in Milli­
von Wojek et al. [31] zeigt, dass für Sliding-Window- sekunden (ohne Bildakquise)
Verfahren sehr viele Bestandteile parallelisiert und
dadurch schneller ausgeführt werden können. Wojek Bearbeitungsschritt/ CPU GPU Be-
Implementierung schleu-
et al. erreichen für eine minimale Fußgängergröße nigung
von 96 Pixel eine mittlere Berechnungszeit von 38 ms
pro Bild bei einer Auflösung von 640 × 480 Pixel, was Randerweiterung 10,9 1,19 9,15
26 Hz entspricht. Um eine entsprechend hohe Verar- Gradienten­ 3083,9 20,71 148,9
beitungsgeschwindigkeit zu erreichen, wurde der Ab- berechnung
stand zwischen den bearbeiteten Skalen vergrößert. Histogramm­ 4645,3 24,44 190,1
Eine entsprechende Analyse zeigt jedoch, dass dies berechnung
nicht auf Kosten der Detektionsleistung geschieht.
Normalisierung 95,8 5,67 16,9
. Tabelle 23.2 stellt die Bearbeitungszeiten ei-
ner Standardimplementierung der beschleunigten Klassifikation 970,1 27,15 35,7

Implementierung (mit kleinem Skalenabstand) ge- Bildskalierung 128,5 2,47 52,0


genüber. Summe 8934,5 81,63 109,5
Aus obiger Tabelle wird die enorme Wichtigkeit
der Parallelisierung ersichtlich, durch die eine Be-
schleunigung um den Faktor 109,5 erreicht werden Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Detektor-
kann. Es zeigt sich, dass insbesondere die aufwen- kaskaden zu verwenden und nur diskriminative
dige Berechnung der Bildmerkmale davon profitie- Merkmale über Teilbereiche des Detektorfensters
ren kann und die größte Beschleunigung erfährt. zu berechnen. Voraussetzung hierfür ist allerdings
Auch merkmalspunkbasierte Algorithmen wie ISM, eine sehr effiziente Berechnung der Merkmale, um
deren Laufzeit auf Standardhardware ebenfalls im das ohnehin aufwendige Training durchführen zu
Bereich von Sekunden liegt, kann aller Voraussicht können [21, 33].
nach durch den Einsatz von Parallelhardware be-
schleunigt werden. Die meiste Zeit wird für diesen
Ansatz zur Verifikation der Initialhypothesen benö- 23.5 Ausblick
tigt, der die rechenintensive pixelweise Segmentie-
rung der Kandidatenhypothesen erfordert, die sich Obwohl in den vergangenen Jahren beachtliche
aber sehr gut parallelisieren lassen dürfte. Erfolge im Bereich kamerabasierter Fußgängerde-
Zusätzlich ist zu beachten, dass die angeführten tektion erzielt wurden, ist die Leistungsfähigkeit
Laufzeiten versuchen, Fußgänger an allen möglichen für den Betrieb in Automobilanwendungen noch
Positionen in allen möglichen Größen zu detektie- nicht vollkommen ausreichend. So geben Gavrila
ren. Durch Techniken wie Aufmerksamkeitssteue- und Munder für das PROTECTOR-System 0,3 bis
rung oder die Annahme einer einheitlichen, ebenen 5 Falschdetektionen pro Minute an. Außerdem ist
Grundfläche, wie im Abschnitt zu systemorientier- der Erfassungsbereich auf maximal 25 m begrenzt,
ten Ansätzen besprochen, lässt sich die Anzahl der was für viele Anwendungen wohl noch nicht aus-
durchzuführenden Operationen weiter drastisch reichend sein dürfte. Dies steht in Zusammenhang
reduzieren und die Laufzeit somit beschleunigen. mit der schlechter werdenden Erkennungsleistung
Schließlich gibt es neben der Parallelisierung für Fußgänger bei niedriger Auflösung, die weiter
von Operationen noch weitere Möglichkeiten Sli- verbessert werden muss. Dies kann zum Beispiel
ding-Window-Detektoren zu beschleunigen. Dies durch ein verbessertes Verständnis der Gesamt-
geschieht allerdings teilweise unter Einbußen bei szene erfolgen. Auch Bewegungsinformation wie
der Detektorleistung. Zum Beispiel ermöglichen zum Beispiel optischer Fluss wird in gegenwärtigen
Grob-nach-Fein-Verfahren eine höhere Verarbei- Systemen kaum genutzt. Eine Einbeziehung könnte
tungsgeschwindigkeit, sind allerdings durch eine insbesondere bei kreuzenden Fußgängern zur Ver-
untere Mindestdetektionsgröße begrenzt [32]. besserung der Detektionsleistung führen.
434 Kapitel 23 • Kamerabasierte Fußgängerdetektion

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437 V

Datenfusion und
Umfeldpräsentation
Kapitel 24 Fusion umfelderfassender Sensoren  –  439
Michael Darms

Kapitel 25 Repräsentation fusionierter Umfelddaten  –  453


Klaus Dietmayer, Dominik Nuß, Stephan Reuter

Kapitel 26 Datenfusion für die präzise Lokalisierung  –  481


Nico Steinhardt, Stefan Leinen

Kapitel 27 Digitale Karten im Navigation Data


Standard Format – 513
Ralph Behrens, Thomas Kleine-Besten, Werner
Pöchmüller, Andreas Engelsberg

Kapitel 28 Car-2-X – 525
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf

Kapitel 29 Backendsysteme zur Erweiterung


der Wahrnehmungsreichweite von
Fahrerassistenzsystemen – 541
Felix Klanner, Christian Ruhhammer
439 24

Fusion umfelderfassender
Sensoren
Michael Darms

24.1 Definition Sensordatenfusion – 440


24.2 Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung  –  442
24.3 Architekturmuster zur Sensordatenfusion
von Umfeldsensoren – 446
24.4 Abschließende Bemerkung – 450
Literatur – 450

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440 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

Es existieren Fahrerassistenzsysteme, die ausschließ- Auf diese Weise ist es möglich, Fehlinterpretationen
21 lich auf Einzelsensorlösungen aufbauen. Als Beispiel zu reduzieren und die Genauigkeit bezüglich der la-
lassen sich die Anwendungen Adaptive Cruise Con- teralen Ablage zu erhöhen. Zudem kann eine robus-
22 trol, die z. B. mit einem Radar- oder einem Lasersen- tere Fahrstreifenzuordnung und damit Bestimmung
sor arbeitet, und Lane Departure Warning nennen, des relevanten Objekts mithilfe der Daten des Vide-
welche zumeist auf Videosensorik basiert. osensors vorgenommen werden.
23 Wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, Die Leistungsfähigkeit derartiger Datenfusions-
haben die jeweiligen Sensortechnologien spezifi- ansätze bestätigen verschiedene Forschungsarbeiten
24 sche Vor- und Nachteile: So lässt sich mit einem (siehe z. B. [1, 2, 3, 4, 5]), in Serienfahrzeugen wird
Radarsensor der longitudinale Abstand und die die Fusion von Umfeldsensordaten eingesetzt (siehe
Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahr- z. B. [6]). Dies trifft sowohl auf das hier aufgeführte
25 zeugs für die Anwendung Adaptive Cruise Control Beispiel von Radar- und Kamerasensor zu, als auch
mit ausreichender Genauigkeit bestimmen (siehe auf weitere Kombinationen, wie z. B. von Nah- und
26 ▶ Kap. 17). Die Auswahl des relevanten Objekts Fernbereichsradar. Die Idee der Fusion lässt sich da-
zum Abstandhalten lässt sich allerdings aufgrund bei auch auf weitere Sensortechnologien erweitern.
27 der lateralen Auflösung, Mehrdeutigkeiten in der Gegenstand der Forschung und Entwicklung sind
Signalsauswertung und einer fehlenden Fahrbahn- z. B. die Fusion von verschiedenen bildgebenden
markierungserkennung nur so präzise durchführen, Sensoren sowie die Fusion der Daten von Umfeld-
28 dass Nebenspurstörungen beim Betrieb des Systems sensoren mit gespeicherten Kartendaten.
in Kauf genommen werden müssen. Zudem ist eine Der folgende Text führt in die Grundlagen der
29 Klassifikation des detektierten Objekts nur einge- Sensordatenfusion für Fahrerassistenzsysteme ein.
schränkt möglich, sodass üblicherweise in die Re- Zunächst wird der Begriff der Sensordatenfusion
30 gelung nur Objekte einbezogen werden, bei welchen
eine Bewegung erkannt wurde.
definiert, und es werden die Ziele der Fusion dar-
gelegt. Danach werden die Hauptkomponenten der
Die fehlende Information kann beispielsweise Umfelddatenverarbeitung mit Blick auf eine Fusion
31 durch die Daten eines Videosensors bereitgestellt der Daten mehrerer Sensoren erläutert. Schließlich
werden (siehe ▶ Kap. 21). Über die Fahrbahnmar- werden etablierte Architekturmuster zur Sensorda-
32 kierungserkennung sind Informationen vorhan- tenfusion vorgestellt. Teile des Texts dieses Kapitels
den, die zur Fahrstreifenzuordnung hinzugezogen orientieren sich dabei an den Ausführungen in [1].
werden können. Über Klassifikationsalgorithmen
33 lassen sich Fahrzeuge im Videobild von übrigen
Objekten unterscheiden, mithilfe von Bildverarbei- 24.1 Definition Sensordatenfusion
34 tungstechniken kann die Position von Fahrzeugen
im Videobild bestimmt werden. Im Gegensatz zur Nach Steinberg et al. wird der Prozess der Datenfu-
35 Radarsensorik lässt sich die Entfernung und Ge-
schwindigkeit nicht messen und muss daher ge-
sion wie folgt definiert:
“Data fusion is the process of combining data or
schätzt werden. Die erreichbare Genauigkeit ist mit information to estimate or predict entity states.” [7]
36 aktueller Sensorik dabei insbesondere im Fernbe- Es wird der allgemeine Begriff der Entität ver-
reich signifikant geringer. Die Funktion eines rein wendet, der ein abstraktes Objekt beschreibt, dem
37 auf Videosensorik basierenden Adaptive Cruise Informationen zugeordnet werden können. Im Be-
Control Systems ist daher im Vergleich auf einen reich der Fahrerassistenzsysteme kann sich dies z. B.
kleineren Geschwindigkeitsbereich eingeschränkt. auf einen realen, im Fahrzeugumfeld befindlichen
38 Durch die Kombination der Informationen Gegenstand wie beispielsweise ein beobachtetes
beider Sensoren können die Vorteile beider Tech- Fahrzeug beziehen oder auch auf eine einzelne Zu-
39 nologien zusammengeführt werden. So kann z. B. standsvariable wie z. B. den Nickwinkel.
die Entfernungsmessung des Radarsensors mit der Der folgende Text bezieht sich hauptsächlich
40 Klassifikationsinformation und der Messung der
Fahrzeugposition im Videobild kombiniert werden.
auf den ersten Fall, sodass direkt der Begriff Ob-
jekt verwendet wird. Der Fokus liegt auf der Track-
24.1 • Definition Sensordatenfusion
441 24

Schätzung, häufig auch als Tracking bezeichnet, gleicher Sensoren mit unterschiedlichen Sichtberei-
sowie der Objekt-Diskriminierung (siehe auch [8]). chen handeln kann. Ein besonderes Augenmerk ist
Unter Track-Schätzung wird dabei die Schätzung hierbei in der Datenverarbeitung auf die Randberei-
der Zustände eines Objekts im regelungstechnischen che des Erfassungsbereichs zu legen (siehe z. B. [3]).
Sinn verstanden (z. B. Position, Geschwindigkeit). Zum anderen kann es sich um Daten handeln,
Die Objekt-Diskriminierung wird wiederum in De- die sich auf das gleiche Objekt beziehen. Hierbei
tektion und Klassifizierung unterschieden [8]. Im kann der Informationsgehalt erhöht werden, indem
Rahmen der Detektion wird entschieden, ob ein Ob- unterschiedliche Eigenschaften detektiert werden.
jekt vorhanden ist, bei der Klassifizierung wird ein Es ist möglich, dass erst die Kombination der Ein-
Objekt einer vordefinierten Klasse zugeordnet (z. B. zelinformationen die gesuchte Information für eine
Fahrzeug, Person). Die vorgestellten Überlegungen Anwendung liefert.
lassen sich aber auch auf abstrakte Objekte verallge- Der Einsatz unterschiedlicher Sensortechnolo-
meinern (siehe hierzu auch die Diskussion in [9]). gien kann zudem die Robustheit des Gesamtsystems
hinsichtlich der Detektion einzelner Objekte, die mit
einer einzelnen Sensortechnologie ggf. nicht zuver-
24.1.1 Ziele der Datenfusion lässig detektiert werden können, erhöhen. Beispiels-
weise durchdringt die Strahlung eines Lasersensors
Oberstes Ziel der Datenfusion ist es, Daten von Glas oder die Strahlung eines Radarsensors verschie-
Einzelsensoren so zusammen zu führen, dass Stär- dene Materialien aus Plastik, ohne dass der jeweilige
ken gewinnbringend kombiniert und/oder einzelne Gegenstand detektiert wird. Durch die Kombination
Schwächen reduziert werden. Die folgenden Aspekte der Sensoren wird die Wahrscheinlichkeit reduziert,
lassen sich dabei unterscheiden (siehe auch [10, 11]): den Gegenstand gar nicht zu detektieren.

24.1.1.1 Redundanz 24.1.1.3 Zeitliche Aspekte


Redundante Sensoren liefern Informationen über Die Akquisitionsgeschwindigkeit des Gesamt-
dasselbe Objekt. Hierdurch kann die Güte der systems kann durch einen Fusionsansatz erhöht
Schätzung verbessert werden. Die Abhängigkeit der werden. Dies kann zum einen durch die parallele
Messfehler muss dabei im Schätzalgorithmus berück- Verarbeitung von Informationen der Einzelsenso-
sichtigt werden (siehe z. B. [12]). Eine Gefahr ist die ren erreicht werden, zum anderen durch eine ent-
mehrfache Einbringung von Artefakten und Fehlin- sprechende zeitliche Gestaltung des Akquisitions-
terpretationen in den Fusionsprozess (siehe unten). vorgangs (z. B. abwechselnd messende Sensoren).
Durch Redundanz kann zudem die Fehlertole- Durch eine erhöhte Genauigkeit bzw. das Ein-
ranz bzw. Verfügbarkeit des Systems erhöht werden. bringen komplementärer Informationen kann zu-
Dies bezieht sich zum einen auf den Ausfall einzel- dem die Dynamik der Schätzung beeinflusst wer-
ner Sensoren, wobei allerdings vorausgesetzt wer- den. Zu beachten ist hierbei, dass unterschiedliche
den muss, dass das System ohne die Informationen Anwendungen unterschiedliche Anforderungen an
des ausgefallenen Sensors noch immer Daten mit Dynamik und Genauigkeit der Schätzung haben
ausreichender Qualität zur Verfügung stellen kann. können und es auch in einem Sensorfusionssytem
Zum anderen bezieht sich dies auf Artefakte bzw. sinnvoll sein kann, für die verschiedenen Anwen-
Fehlinterpretationen einzelner Sensoren. Durch dungen unterschiedliche Schätzalgorithmen vorzu-
eine Redundanz kann der Einfluss eines einzelnen sehen (siehe ▶ Abschn. 24.2.1).
Fehlers auf das Gesamtsystem reduziert werden.
24.1.1.4 Kosten
24.1.1.2 Komplementarität Beim Entwurf eines jeden Sensorsystems sind die
Komplementäre Sensoren bringen unterschiedliche, Kosten ein ausschlaggebender Faktor für die prak-
sich ergänzende Informationen in den Fusionspro- tische Umsetzbarkeit. Durch den Einsatz eines
zess ein. Dies kann zum einen aus räumlicher Sicht Fusionssystems können die Kosten im Vergleich
erfolgen, wobei es sich dabei auch um Informationen zu einem Einzelsensor reduziert werden. Eine
442 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

generelle Gültigkeit dieser Aussage ist allerdings aus dem Umfeld des Fahrzeugs über Sensoren erfasst
21 nicht möglich, da z. B. auch durch die Entwicklung (siehe . Abb. 24.1). Im ersten Schritt, welcher als Mes-
neuer Algorithmen zur Auswertung der Daten eines sen bezeichnet wird, werden im Empfangselement des
22 Einzelsensors oder durch eine Weiterentwicklung Sensors (Signalaufnahme) Nutzsignale (Energie) über-
der Hardware Verbesserungen erzielt werden kön- lagert durch Störsignale (Rauschen) empfangen und
nen. Die Entscheidung für die Entwicklung eines in Rohsignale (z. B. Spannungen, Ströme) gewandelt.
23 Einzel- oder Mehrsensorsystems wird daher immer Die Rohsignale werden als physikalische Messgrößen
multidimensional sein und die bereits genannten interpretiert (z. B. Intensitäten, Frequenzen etc.), wel-
24 Aspekte mit einbeziehen. che schließlich die Rohdaten des Sensors bilden. Im
Maßgeblich beeinflusst werden die Kosten eines Rahmen der Signalverarbeitung werden dabei (phy-
Sensorfusionssystems durch den Aufbau der Archi- sikalische) Annahmen für die Interpretation getroffen
25 tektur des Systems (siehe z. B. [13, 14]). Bisher ist (z. B. maximaler Empfangspegel, Impulsformen etc.).
dabei keine einheitliche Architektur im Automobil- Werden diese verletzt, entstehen so genannte Arte-
26 bereich festgelegt, die einen verbindlichen Standard fakte, welche eine systembedingte Schwäche darstellen.
oder einen De-facto-Standard darstellt. Dies er- Im zweiten Schritt, der als Wahrnehmen be-
27 schwert die unternehmensübergreifende Zusammen- zeichnet wird, werden aus den Rohdaten auf Ba-
arbeit zwischen Zulieferern und Fahrzeugherstellern, sis von Annahmen bzw. Heuristiken Merkmale
die gezielte Entwicklung von auf eine gemeinsame extrahiert (z. B. Kanten, Extremwerte), aus denen
28 Architektur angepassten Sensoren und Algorithmen Merkmalshypothesen zu einer Objekthypothese,
sowie die Migration zu neuen Assistenzfunktionen einem angenommenem Objekt, abgeleitet werden.
29 und Sensorengenerationen (siehe auch [13]). Aufgrund der Anwendung von Heuristiken kann es
Für die praktische Umsetzbarkeit ist die Mo- hier zu einer Fehlinterpretation kommen.
30 dularität und kostengünstige Erweiterbarkeit des
Systems von Bedeutung. Hiermit soll eine Migra-
Wird die Information mehrerer Sensoren in den
Schätzprozess eingebracht, ist es notwendig, eine ge-
tion zu neuen Assistenzfunktionen kostengünstig meinsame Referenz für die Information zu finden.
31 realisierbar sein und die vor allem aus Sicht der Die Aufgabe wird insbesondere dann erschwert,
Fahrzeughersteller wichtige Möglichkeit gegeben wenn die Informationen nicht orthogonal bzw. un-
32 werden, von verschiedenen Zulieferern Sensoren abhängig voneinander sind.
bzw. Softwaremodule beziehen zu können. Ein Grundproblem ist dabei, die Daten in ein
Koordinatensystem mit einem gemeinsamen Be-
33 zugspunkt zu überführen. Bei einem Einzelsensor
24.2 Hauptkomponenten können sich z. B. Fehler in der Justage nur als ver-
34 der Sensordatenverarbeitung nachlässigbarer Offset auswirken, bei einem Mehr-
sensorsystem kann eine Fehljustage dazu führen,
35 Im Folgenden werden die Hauptkomponenten der
Sensordatenverarbeitung zusammengefasst. Die
dass die Daten verschiedener Sensoren einander
nicht zugeordnet werden können oder systemati-
Aufteilung in Komponenten ist allgemein und gilt sche Fehler bzw. Abweichungen auftreten. Die Qua-
36 zunächst auch für ein Einzelsensorsystem. Die Be- lität der Schätzung kann dadurch abnehmen (siehe
sonderheiten, die bei der Entwicklung eines Mehr- unten). Geeignete Justageprozesse und (Online-)
37 sensorsystems zu beachten sind, werden an den Algorithmen sind daher ein zentrales Entwicklungs-
entsprechenden Stellen herausgestellt. thema eines Multisensorsystems.
Hinzu kommt, dass mit verschiedenen Senso-
38 ren unterschiedliche Attribute vermessen werden
24.2.1 Signalverarbeitung können, ohne dass dies gewollt sein muss. Dies
39 und Merkmalsextraktion tritt insbesondere bei nicht orthogonalen Sensoren
auf. Wird beispielsweise die Entfernung zu einem
40 Im Rahmen der Signalverarbeitung und Merkmals-
extraktion (siehe auch [15]) werden Informationen
Fahrzeug mit einem Laser- und einem Radarsensor
vermessen, kann es sein, dass unterschiedliche Teile
24.2  •  Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung
443 24
.. Abb. 24.1 Messen
und Wahrnehmen
[Quelle: [1], S. 9]

erfasst werden: Der Lasersensor erfasst die rücksei- während der Datenassoziation den bereits im Sys-
tigen Reflektoren eines Lkw, der Radarsensor die tem bekannten Objekthypothesen zugeordnet (siehe
Hinterachse. Auch bei identischen Sensoren kann z. B. [12]). Die Qualität der Schätzung wird dabei
dieser Effekt beobachtet werden. Dies resultiert un- durch den Prozess der Datenassoziation maßgeb-
ter anderem daraus, dass ein Objekt aus unterschied- lich beeinflusst. (siehe [12, 2, 3]). Wird eine falsche
lichen Blickwinkeln detektiert wird. Hinzu kommen Zuordnung getroffen, tritt ein Informationsverlust
sensorspezifische Artefakte bei der Messung, die sich ein, oder es werden fehlerhafte Informationen in
auch bei identischen Sensoren auswirken können. den Schätzprozess eingebracht (siehe z. B. [3]).
Auch in der Wahrnehmung sind bei einem
Multisensorsystem Besonderheiten zu beachten. Hall und Llinas teilen den Prozess der Datenasso-
So entsprechen z. B. idealerweise die extrahierten ziation in die folgenden drei Schritte ein (siehe [18]
Merkmalshypothesen verschiedener Sensoren dem- und . Abb. 24.2; spezielle Algorithmen mit Anwen-
selben, realen Objekt. Aufgrund von unterschied- dung in der Fahrzeugtechnik findet man z. B. in [2,
lichen Auflösungen der Sensoren und Fehlinter- 4, 16]):
pretationen beispielsweise bei der Segmentierung 1) Generierung von Zuordnungshypothesen.
der Daten (siehe hierzu z. B. [16, 2]) kann schon die Prinzipiell mögliche Zuordnungen von Merk-
Objekthypothese bei verschiedenen Sensoren un- malshypothesen zu Objekthypothesen werden
terschiedlich ausfallen. Bei einem System mit nicht gefunden. Ergebnis sind eine bzw. mehrere Ma-
synchronisierten Sensoren stammen die extrahier- trizen mit prinzipiell möglichen Zuordnungen
ten Merkmale zudem von unterschiedlichen Zeit- (Zuordnungsmatrizen).
punkten. Um die Daten der verschiedenen Sensoren 2) Evaluierung der Zuordnungshypothesen. Die
kombinieren zu können, sind daher zumindest eine gefundenen Zuordnungshypothesen werden
gemeinsame Zeitbasis und ausreichend genaue Zeit- mit dem Ziel einer quantitativen Bewertung
stempel notwendig (siehe auch [17]). bzw. einer Rangfolge evaluiert. Ergebnis sind
Die Aspekte der zeitlichen und räumlichen Zu- quantitative Werte (z. B. Kosten) in der Zuord-
ordnung der Daten verschiedener Sensoren wird in nungsmatrix bzw. den -matrizen.
der Literatur auch unter dem Punkt „Registrierung 3) Auswahl der Zuordnungshypothesen. Aus den
von Sensoren“ zusammengefasst (siehe z. B. [13]). bewerteten Zuordnungsmöglichkeiten wird eine
Auswahl getroffen, auf der die weitere Datenver-
arbeitung und damit insbesondere die Datenfil-
24.2.2 Datenassoziation terung aufbaut.

Die in der Signalverarbeitung und Merkmalsex- Die drei Verarbeitungsschritte müssen nicht ge-
traktion gewonnenen Merkmalshypothesen werden trennt implementiert werden, vielmehr können sie
444 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

21
22
23
24
25
26
.. Abb. 24.2  Aufteilung des Prozesses Datenassoziation [Quelle: [1], S. 45]
27
voneinander abhängen. Allerdings wird empfohlen, kannt sein, allerdings gestaltet sich die Auswahl der
die Schritte im Entwicklungsprozess voneinander korrekten Zuordnungen hiermit schwieriger.
28 zu entkoppeln (siehe [15]). Bei der Gestaltung der Zur Auswahl der prinzipiell möglichen Hypo-
Algorithmen spielt die Qualität und Leistungsfähig- thesen sind z. B. die folgenden Methoden anwend-
29 keit der zur Verfügung stehenden Ressourcen (wie bar (siehe z. B. [15]):
z. B. Rechenkapazität, Auflösung und verwendbare Mustererkennungsalgorithmen. Unter Ver-
30 Rohdaten des speziellen Sensors, Artefakte und
mögliche Fehlinterpretationen) eine Rolle. Je nach
wendung der Rohsignale und Rohdaten lassen sich
Zuordnungen ausschließen (z. B. über Korrelations-
Randbedingungen sind verschiedene Lösungen techniken).
31 möglich (siehe [13]). Gating-Techniken. Beispielsweise über physika-
Die Hypothesengenerierung selbst lässt sich in lische Modelle kann ein Bereich, in dem sich Ob-
32 zwei Teilschritte untergliedern: Aufstellung der Zu- jekthypothesen bzw. davon abgeleitete Merkmals-
ordnungshypothesen und Auswahl der prinzipiell hypothesen zum aktuellen Messzeitpunkt mit einer
möglichen Hypothesen. Zur Aufstellung der Zuord- bestimmten Wahrscheinlichkeit befinden, berech-
33 nungshypothesen können verschiedene Methoden net werden (Prädiktion). Aus dem aktuellen Mess-
herangezogen werden. Dies sind z. B. (siehe [15]): zyklus stammende Merkmalshypothesen, die außer-
34 Physikalische Modelle. Sichtbereiche und Ver- halb eines solchen Bereichs liegen, werden nicht zur
deckungen des verwendeten Sensors können be- entsprechenden Objekthypothese assoziiert.
35 rechnet werden. Objekthypothesen, die signifikant
außerhalb des Sichtbereichs liegen, werden nicht in
Zur Hypothesenevaluierung können u. 
probabilistische Modelle basierend auf der Bayes-
a.

die Hypothesengenerierung mit einbezogen. Theorie, possibilistische Modelle basierend auf der
36 Szenenwissen. Das Verhalten und der poten- Dampster-Shafer-Theorie, neuronale Netze oder
zielle Aufenthaltsort von Objekten auf Basis des auch Ad-hoc-Techniken, wie z. B. eine ungewichtete
37 Wissens über die beobachtete Szene kann genutzt Abstandsberechnung zwischen einer Prädiktion der
werden, wie z. B. Bereiche zum Auffinden von Stra- Merkmale und den Merkmalen selbst, herangezo-
ßenmarkierungen oder Verkehrsschildern. gen werden (siehe z. B. [15]).
38 Probabilistische Modelle. Die erwartete Anzahl Zur Hypothesenauswahl existiert schließlich
an Fehldetektionen kann in den Prozess mit einbe- eine Vielzahl mathematischer Algorithmen (siehe
39 zogen werden. [15]). Mit zunehmender Dimension und insbeson-
Ad-hoc-Methoden. Ein Beispiel hierfür ist das dere dann, wenn Daten aus mehreren Zyklen in die
40 Aufstellen aller möglichen Zuordnungsmöglich-
keiten. Hierzu braucht kein weiteres Vorwissen be-
Auswahl mit einbezogen werden, ist die Lösung be-
sonders rechenaufwendig.
24.2  •  Hauptkomponenten der Sensordatenverarbeitung
445 24

Von der Komplexität beherrschbar sind Ein- mit dem Wissen über die Entstehung der Daten
fach-Hypothesen-Ansätze, die bei der Hypothesen­ und damit der Hardware des eingesetzten Sensors
auswahl nur die Daten des aktuellen Zyklus be- zusammen. In einem modularen Aufbau kann es
rücksichtigen. Stüker gibt einen Überblick über daher sinnvoll sein, die Assoziationsalgorithmen in
verschiedene Zuordnungsverfahren (siehe [3]). Eine sensorspezifischen Modulen zu kapseln (siehe z. B.
häufig vorzufindende Problemstellung ist dabei die [1]).
Zuordnung von n Objekthypothesen zu m Merk-
malshypothesen mit m ≥ n, wobei einer Objekthy-
pothese genau eine Merkmalshypothese zugeordnet 24.2.3 Datenfilterung
wird.
Hierzu existieren exakte Verfahren, die die Die extrahierten und einer Objekthypothese zuge-
Summe der Kosten in der Zuordnungsmatrix mini- ordneten Merkmalshypothesen werden in einem
mieren. Ein Beispiel ist der Munkres-Algorithmus, Filter- bzw. Schätzalgorithmus weiterverarbeitet.
der einen Aufwand von O(n2 m) hat (siehe [4]). Da- Dieser wird eingesetzt, um die Informationen zu
neben existieren weniger aufwendige Algorithmen, verbessern oder auch neue Informationen zu ge-
die nur eine Näherungslösung liefern. Ein Beispiel
ist das iterative Nächster-Nachbar-Verfahren, das
sukzessive die Zuordnungen mit den geringsten
Kosten bzw. der höchsten Wahrscheinlichkeit wählt
--
winnen (siehe [20, 21]). Beispiele sind:
Trennung von Signal und Störung;
Rekonstruktion von Zustandsgrößen, die nicht
direkt gemessen werden können.
und einen Aufwand von O(m2 log2 m) hat (siehe
[4]). Je nach Sensortechnologie finden verschiedene Einen Überblick zu Filteralgorithmen für die Sens-
Algorithmen Anwendung (siehe [1]). ordatenfusion geben z. B. [12, 2, 8] (siehe ▶ Kap.
Wie die Ausführungen zeigen, kann die Daten- 25). Die Gestaltung und Anpassung der Parame-
assoziation durch sensorspezifische Algorithmen ter des Filters findet dabei nach für den jeweiligen
optimiert werden. Ohne einen Zugriff auf die Roh- Anwendungsfall festzulegenden Optimierungskri-
daten und eine Berücksichtigung der sensorspezifi- terien statt (siehe [21]). Ist der Filter Teil eines Re-
schen Gegebenheiten kann die Güte der Datenasso- gelkreises, beeinflusst er das dynamische Verhalten
ziation abnehmen (siehe auch [1]). des Gesamtsystems (siehe z. B. [22, 23]). Die Pa-
Die Datenassoziation hängt zudem mit der rameter des Filters müssen in diesem Fall an die
Merkmalsextraktion und Objekthypothesenbildung Anforderungen des Regelkreises angepasst werden
zusammen. Auch hierbei existieren verschiedene (z. B. ACC-Folgeregler). Hierbei muss ein Kompro-
sensorspezifische Möglichkeiten, die einzelnen Pro- miss zwischen der Dynamik des Filters und dem
zesse zu optimieren bzw. aufeinander abzustimmen, erzielbaren Schätzfehler eingegangen werden (siehe
um schließlich zu einer im Sinne der vorhandenen [22]). Wird als Regler ein Zustandsregler eingesetzt,
Ressourcen bestmöglichen Zuordnung von Merk- sichert das Separationstheorem ([22, 23]) zumin-
malshypothesen zu Objekthypothesen zu gelangen. dest die Stabilität des Gesamtsystems, insofern der
Hierbei ist es möglich, Artefakte wie z. B. Doppel- Schätzer stabil ist. Regler und Beobachter können
messungen im Rahmen der Datenassoziation zu dann getrennt voneinander entworfen werden
erkennen und aus dem Fusionsprozess herauszu- (siehe [22, 23]), was Vorteile in der Architektur
halten (siehe z. B. [19]). mit sich bringt.
Wissen über die Entstehung der Daten, wie z. B. Um Kosten zu sparen, können die Daten eines
mögliche Artefakte und typische Fehlinterpretatio- Multisensorsystems verschiedenen Anwendungen
nen, kann damit zur Optimierung der Algorithmen zur Verfügung gestellt werden (siehe z. B. [1, 9]).
eingesetzt werden. Daneben können auch spezielle Hierbei ist darauf zu achten, dass in Abhängigkeit
Ausprägungen einer Sensortechnologie, wie bei- der Sensorgenauigkeit Bereiche existieren können, in
spielsweise das Auflösungsvermögen, beim Entwurf denen verschiedene Anwendungen nicht mit einem
der Algorithmen berücksichtigt werden. Das Design gemeinsamen Filteralgorithmus betrieben werden
der Algorithmen zur Datenassoziation hängt daher können bzw. bei einem gemeinsamen Betrieb der An-
446 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

wendungen mit einem Filter ein Kompromiss gefun-


21 den werden muss, der hinsichtlich der Dynamik nicht
optimal für die Einzelanwendungen ist (siehe [1]).
22 Die Entwicklung der Algorithmen zur Daten-
filterung lässt sich nicht komplett unabhängig von
der Gestaltung der Datenassoziation durchführen.
23 Dies trifft zum einen auf den Designprozess zu, in
dem zueinander kompatible Algorithmen gefunden
24 werden müssen (siehe [12]), zum anderen auf das
Laufzeitverhalten, da die Dynamik der Datenfil-
terung die Güte des Assoziationsprozesses beein-
25 flusst. Auch hier kann es in Abhängigkeit der Sen-
.. Abb. 24.3  Dezentrale Architektur [Quelle: [1], S. 16]

sorgenauigkeit vorkommen, dass unterschiedliche tungsfähigkeit des Umgebungserfassungssystems


26 Filteralgorithmen für die Anwendungen und die berücksichtigt werden als auch die Randbedingun-
Datenassoziation sinnvoll sind (siehe [1]). gen der Anwendung. Bei einer automatischen Not-
27 bremse z. B. wird im Rahmen der Situationsanalyse
die Eingriffsentscheidung getroffen, die sowohl auf
24.2.4 Klassifikation der Genauigkeit der Erkennung des potenziellen
28 Kollisionsobjekts als auch auf potenziellen fahr-
Während der Klassifikation werden Objekthypo- zeugspezifischen Ausweichtrajektorien beruht.
29 thesen aufgrund zugeordneter Eigenschaften einer
vordefinierten Klasse zugewiesen (siehe z. B. [8]).
24.3 Architekturmuster
30 Die Eigenschaften können aus den Rohdaten des
Sensors oder auch aus den geschätzten Zustands- zur Sensordatenfusion
variablen der Objekthypothese stammen. von Umfeldsensoren
31 In einem Multisensorsystem stehen dabei die
Eingangsdaten verschiedener Sensoren zur Verfü- Für die an der Entwicklung des Systems beteiligten
32 gung. Hinsichtlich des Architekturentwurfs bringt Personen werden mit der Architektur die Struktur und
es dabei Vorteile, wenn die in den Fusionsprozess das Zusammenwirken der einzelnen Teile dokumen-
eingebrachten Daten orthogonal zueinander sind. tiert (siehe [25]). Die Architektur des Systems trägt
33 Eine Mehrfachimplementierung einer Klassifikation zudem dazu bei, den Entwicklungsprozess zu struk-
auf Basis von Zustandsvariablen kann bei entspre- turieren (siehe [25]). Dies gilt auch über die Unter-
34 chender Gestaltung der Architektur vermieden wer- nehmensgrenzen hinaus, da die Architektur und der
den (siehe ▶ Abschn. 24.3.2). Grad der Kopplung (siehe [26]) innerhalb des Systems
35 beeinflussen, inwieweit Komponenten von verschie-
denen Lieferanten hergestellt werden können.
24.2.5 Situationsanalyse Für die Entwicklung einer Architektur gibt es
36 keine deterministischen Verfahren, die in jedem Fall
Die Situationsanalyse bestimmt das Gesamtverhal- zu einer guten Lösung führen [25]. Im Folgenden
37 ten des Fahrerassistenzsystems. Beispielsweise steht werden etablierte, allgemeine Architekturmuster im
hinter der adaptiven Fahrgeschwindigkeitsregelung Bereich der Sensordatenfusion aufgezeigt und die
(ACC) ein Zustandsautomat, der das Verhalten der jeweiligen Vor- und Nachteile dargestellt.
38 Anwendung in verschiedenen Situationen festlegt
(siehe z. B. [24]).
39 Die Situationsanalyse stellt damit das Binde- 24.3.1 Dezentral – Zentral – Hybrid
glied zwischen der Umfelddatenverarbeitung und
40 der Assistenzfunktion dar. In den Algorithmen der
Situationsanalyse müssen dabei sowohl die Leis-
Die Einteilung in dezentrale, zentrale und hybride
Fusion bezieht sich auf die Bausteinsicht des Sys-
24.3  •  Architekturmuster zur Sensordatenfusion von Umfeldsensoren
447 24
a b

.. Abb. 24.4a,b  Zentrale Architektur a Fusion auf Rohdatenebene, b Fusion auf Merkmalsebene [Quelle: [1], S. 17]

tems [26]. Sie basiert auf dem Grad der Datenver- Praxis selten gegeben sind. Sind zudem die Messzeit-
arbeitung in den Sensoren, den Ergebnissen der punkte der Sensoren unterschiedlich, ergeben sich
Datenverarbeitung in den Sensoren sowie der Stelle wiederum nur näherungsweise optimale Lösungen
der Zusammenführung der Daten im Fusionspro- hinsichtlich der erreichbaren Genauigkeit [12].
zess [8] und wird meist in Zusammenhang mit der . Abb. 24.4 zeigt die zentrale Architektur. Diese
Track-Schätzung verwendet [18]. wird in der Literatur auch als central-level fusion,
. Abbildung 24.3 zeigt eine dezentrale Archi- centralized fusion oder pre-individual sensor proces-
tektur. Dieser Ansatz wird in der Literatur auch sing fusion bezeichnet [8]. Die Daten in den Sen-
als sensor-level fusion, autonomous fusion, distri- sorenmodulen werden nur minimal vorverarbeitet
buted fusion oder post-individual sensor processing (Merkmals- oder Rohdatenebene) und dann in ei-
fusion bezeichnet [8]. In den Sensormodulen wird nem zentralen Baustein zusammengeführt, ggf. mit
individuell die Objekt-Diskriminierung und Track- einer Rückführung zu den Sensormodulen [8].
Schätzung vollzogen. Die Ergebnisse werden in ei- Hinsichtlich der Objekt-Diskriminierung ist
nem zentralen Baustein zusammengeführt, ggf. mit diese Form der Architektur der dezentralen Archi-
einer Rückführung von Ergebnissen der zentralen tektur überlegen, wenn die Sensoren nicht orthogo-
Fusion zu den Sensoren [12]. In diesem Falle kann nal zueinander sind. Sind die Sensoren orthogonal
jeder dezentrale Bau­stein zusätzlich die Funktionen zueinander, unterscheiden sich die Ergebnisse nicht
des zentralen Bausteins übernehmen, sodass eine [8].
Redundanz erzielt wird [12]. Für die Track-Schätzung ist die zentrale Archi-
In Bezug auf die Objekt-Diskriminierung ist tektur optimal, ohne die einschränkenden Voraus-
diese Form der Architektur optimal, insofern die setzungen bei der dezentralen Architektur. Zudem
Sensoren hinsichtlich dieser Operation orthogo- lassen sich auch Messungen, die nicht vom gleichen
nal zueinander sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn Zeitpunkt herrühren, optimal zusammenführen
Sensorprinzipien auf Basis unterschiedlicher phy- [12].
sikalischer Effekte genutzt werden, die keine Feh- Die Hauptnachteile der zentralen Architektur
lerkennungen aufgrund der gleichen Phänomene sind zum einen Einschränkungen in der Flexibili-
auslösen [27]. Für die Zusammenführung werden tät, da bei Erweiterungen ggf. interne Algorithmen
dabei zwei Informationen benötigt, zum einen die des zentralen Bausteins geändert werden müssen,
Diskriminierungs‑Entscheidung, zum anderen ein zum anderen ein erhöhtes Datenvolumen, das auf
Maß für die Güte der Entscheidung [14]. den Schnittstellen zwischen Sensorbausteinen und
Auch für die Track-Schätzung kann die Ar- Fusionsbaustein anfällt [8].
chitektur optimal im Sinne der Minimierung der Bei der hybriden Architektur werden der zen-
Schätzfehler sein [12]. Dies allerdings nur unter re- trale und der dezentrale Ansatz kombiniert. Dem
lativ einschränkenden Voraussetzungen, die in der zentralen Fusionsbaustein können neben den mini-
448 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

mal vorverarbeiteten Daten (Rohdaten) auch bereits Sensorbausteinen und zentralem Baustein auf Kos-
21 in den Sensoren vorverarbeitete Daten (Tracks) zu- ten eines Informationsverlustes reduziert.
geführt werden. Diese können wiederum zusätzlich Die Fusion auf Entscheidungsebene entspricht
22 Eingang für einen dezentralen Fusionsbaustein im der dezentralen Architektur. Im Gegensatz zur Fu-
gleichen System sein. Die Ergebnisse dieses dezent- sion auf Merkmalsebene wird hier bereits in den
ralen Bausteins können in den Fusionsalgorithmus Sensormodulen die Objekt-Diskriminierung durch-
23 des zentralen Fusionsbausteins mit einfließen [8]. geführt, also eine Entscheidung getroffen. Die Er-
Bar-Shalom und Li geben als Beispiel für den gebnisse werden dann in einem zentralen Baustein
24 Einsatz einer hybriden Architektur ein Szenario an, zusammen mit den Informationen aus der Track-
das in verschiedene Erfassungsbereiche aufgeteilt Schätzung kombiniert [8]. Diese muss dabei nicht
ist, die jeweils von einer Multisensorplattform er- nach dem Prinzip einer dezentralen Architektur
25 fasst werden. Innerhalb einer Plattform kommt eine aufgebaut sein.
zentrale Architektur zum Einsatz, über die Bereiche . Tabelle  24.1 fasst die Architekturprinzipien
26 hinweg wird das Gesamtbild mittels einer dezentra- Dezentral – Zentral – Hybrid und Rohdatenebene
len Architektur ermittelt [12]. – Merkmalsebene – Entscheidungsebene und deren
27 Abhängigkeiten zusammen.

24.3.2 Rohdatenebene –
28 Merkmalsebene – 24.3.3 Synchronisiert –
Entscheidungsebene Unsynchronisiert
29
Die Einteilung in Fusion auf Rohdaten-, Merkmals- Vom dynamischen Zusammenwirken des Systems
30 und Entscheidungsebene bezieht sich auf die Auflö-
sung der in den Fusionsalgorithmus eingebrachten
her kann eine Unterscheidung in synchronisierte
und unsynchronisierte Sensoren getroffen werden.
Daten und den Grad der Vorverarbeitung der Sen­ Die Unterscheidung bezieht sich auf den zeitlichen
31 sordaten [8]. Sie bezieht sich also auf die Laufzeit- Ablauf, in dem die Daten in den Sensoren aufge-
sicht [25] und wird üblicherweise im Zusammen- zeichnet werden (siehe hierzu z. B. [12, 28, 29, 30]).
32 hang mit Algorithmen zur Objekt-Diskriminierung Bei synchronisierten Sensoren ist die Date-
verwendet [18]. nakquisition zeitlich aufeinander abgestimmt. Ein
Bei der Fusion auf Rohdatenebene werden mi- Spezialfall sind synchrone Sensoren, bei denen die
33 nimal vorverarbeitete und in der Auflösung der be- Datenaufnahme gleichzeitig stattfindet. Bei unsyn-
teiligten Sensoren vorliegende Daten (beispielsweise chronisierten Sensoren findet die Datenaufnahme
34 Pixel in der Bildverarbeitung) in einer zentralen Ar- in einem sensorindividuellen und nicht auf die üb-
chitektur fusioniert. Auf diese Weise können z. B. rigen Sensoren abgestimmten Takt, der nicht not-
35 Informationen aus verschiedenen Spektren (Infra-
rot, sichtbares Licht) vor einer anschließenden Bild-
wendigerweise konstant sein muss, statt.
Nachteil der Synchronisierung ist der zusätzli-
verarbeitung zusammengeführt werden [8]. Vorteil che Aufwand in Hard- und ggf. Software, Vorteil das
36 des Ansatzes ist die Verfügbarkeit der vollständigen bereits im Designprozess bekannte zeitliche Verhal-
Information aus den Sensoren, auf die der Fusions- ten des Systems (siehe auch [17]).
37 algorithmus abgestimmt werden kann. Hauptnach-
teile sind das hohe Datenaufkommen zwischen den
Sensoren und dem zentralen Baustein sowie die 24.3.4 Neue Daten –
38 erschwerte Änderbarkeit und Erweiterbarkeit der Datenkonstellation –
optimierten Algorithmen im zentralen Baustein. Externes Ereignis
39 Bei der Fusion auf Merkmalsebene werden zu-
nächst die Merkmale extrahiert und dann die Fu- Hinsichtlich des Ereignisses, das eintreten muss,
40 sion durchgeführt. In einer zentralen Architektur
wird so die Kommunikationsbandbreite zwischen
damit die Fusion der Daten durchgeführt wird,
kann unterschieden werden in: bei Vorliegen neuer
24.3  •  Architekturmuster zur Sensordatenfusion von Umfeldsensoren
449 24

.. Tab. 24.1  Fusionsarchitekturen [Quelle: [1], S. 19, in Anlehnung an [15], S. 360–361; siehe auch [8], S. 73]

Typ Beschreibung Fusionsebene Bemerkung

Zentral Fusion von Rohdaten Rohdaten – Minimaler Informationsverlust.


– Benötigt im Vergleich höchste Bandbreite zur
Kommunikation zwischen Sensorbausteinen und
zentralem Baustein.
– Optimal bei orthogonalen und nicht orthogonalen
Sensoren.

Fusion von Merkmalen Merkmal – Benötigt geringere Kommunikationsbandbreite als


bei Fusion auf Rohdatenebene.
– Informationsverlust aufgrund der Merkmalsextrak-
tion.
– Bei nicht orthogonalen Sensoren können die Vor-
teile der Fusion auf Rohdatenebene nicht genutzt
werden.

Dezen- Fusion von Zustandsva- Entscheidungsebene – Informationsverlust aufgrund der Merkmalsextrak-


tral riablen und Diskriminie- tion.
rungsentscheidungen – Optimale Objekt-Diskriminierung bei orthogonalen
Sensoren.
– Optimale Track-Schätzung nur unter restriktiven
Bedingungen.
– Abhängigkeiten der in den Sensorbausteinen
ermittelten Ergebnisse muss bei Fusion berücksich-
tigt werden.
– Redundanz kann erzielt werden, indem in mehre-
ren dezentralen Bausteinen die Fusion berechnet
wird.

Hybrid Kombination von Zent- Kombination aller – Kombiniert die Eigenschaften der zentralen und
ral und Dezentral Ebenen möglich dezentralen Architektur.
– Im Vergleich höhere Komplexität der Architektur.

Daten, bei Vorliegen einer bestimmten Datenkon- ten vorgehalten werden. Zudem stehen die fusio-
stellation und aufgrund eines externen Ereignisses. nierten Daten nicht zum frühest möglichen Zeit-
Wird jeweils bei Vorliegen neuer Daten fusio- punkt zur Verfügung. Werden unsynchronisierte
niert, geht keine Information verloren. Je nachdem, Sensoren verwendet, muss entschieden werden, in
ob mit synchronisierten oder nicht synchronisierten welcher Form die Daten in den Fusionsprozess ein-
Sensoren gearbeitet wird, müssen im Fusionsprozess gebracht werden (siehe ▶ Abschn. 24.3.5).
Lösungen für die Verarbeitung der Daten gefunden Werden die Ergebnisse eines zentralen Fusions-
werden, die nicht in der zeitlichen Reihenfolge der bausteins nicht wieder zu den Sensoren zurückge-
Messungen am Fusionsbaustein eintreffen [31, 3]. In führt, so kann die Fusion zu beliebigen Zeitpunkten
einer dezentralen Struktur können die aktuellsten durch ein externes Ereignis ausgelöst werden. Dies
fusionierten Daten zu den Sensoren zurückgeführt ermöglicht die Anpassung der Datenrate an den
werden, sodass in den Bausteinen jeweils die aktu- weiterverarbeitenden Prozess und damit eine An-
ellste Schätzung, z. B. zur Vorkonditionierung von passung der Ressourcen, stellt aber im Allgemeinen
Algorithmen, vorliegt. hinsichtlich der Genauigkeit der Track-Schätzung
Wird beim Auftreten bestimmter Datenkons- keine optimale Lösung dar [12].
tellationen fusioniert, z. B. immer dann, wenn die
Daten von bestimmten Sensoren vorliegen, müssen
Ressourcen für eine Zwischenspeicherung der Da-
450 Kapitel 24  •  Fusion umfelderfassender Sensoren

24.3.5 Originaldaten – Gefilterte 24.4 Abschließende Bemerkung


21 Daten – Prädizierte Daten
Nach Ansicht des Autors ist der Ansatz der Sen­
22 Hinsichtlich der Art der Daten, die in den Fusions- sordatenfusion notwendig, um die Anforderungen
prozess einfließen, kann in Originaldaten, gefilterte zukünftiger Assistenzsysteme erfüllen zu können.
Daten und prädizierte Daten unterschieden werden. Dies trifft insbesondere auf Systeme zu, welche die
23 Bei Originaldaten gehen die zeitlich ungefil- Sicherheit erhöhen sollen.
terten Daten in den Fusionsprozess ein. Hiermit ist Durch eine entsprechende Gestaltung der Ar-
24 eine optimale Track-Schätzung möglich. chitektur kann das Sensordatenfusionssystem eine
Werden bereits gefilterte Daten verwendet (z. B. Abstrahierung der Umfeldwahrnehmung von den
in einer dezentralen Architektur) kann unter rest- eingesetzten Sensoren darstellen. Die Funktionen
25 riktiven Bedingungen eine optimale Track-Schät- können somit unabhängig vom Umfelderfassungs-
zung erfolgen. Werden die gefilterten Daten aller- system entwickelt werden. Die Gestaltung der Situ-
26 dings wie ungefilterte Daten behandelt und einem ationsanalyse als Schnittstelle zur Anwendung spielt
weiteren Filter zur Schätzung übergeben, entsteht dabei die zentrale Rolle.
27 eine Filterkette. Dies führt im Allgemeinen zu län- Die Erfahrung zeigt allerdings auch, dass die
geren Signallaufzeiten. Zudem sind die Fehler nun Gleichung „mehr Sensoren gleich besseres System“
korreliert. Für ein optimales Ergebnis der Schätzung in der Praxis nicht ohne Einschränkungen gilt. So
28 muss dies in der Modellierung beachtet werden. nimmt die Komplexität des Gesamtsystems mit je-
Die Verwendung von prädizierten Daten (z. B. dem Sensor zu. Jeder Sensor bringt sensorspezifi-
29 auf Basis von Modellen) ist ebenfalls möglich. sche Eigenschaften in das System ein. Werden diese
Häufig wird dieses Verfahren verwendet, um zum nicht ausreichend genau modelliert bzw. berück-
30 Vorliegen einer bestimmten Datenkonstellation
gesammelte Messdaten auf einen Zeitpunkt zu be-
sichtigt, können zwar Teilaspekte verbessert, die
Gesamtleistung aber dennoch reduziert werden.
ziehen und diese zunächst zu so genannten Super- [13] gibt einen Überblick zu typischen Fallstricken
31 Messungen zusammenzufassen. Bar-Shalom und Li beim Entwurf eines Multisensorsystems.
vertreten diesbezüglich die Ansicht, dass dieses Ver-
32 fahren für unsynchronisierte Sensoren nicht zum
Literatur
optimalen Ergebnis hinsichtlich des erreichbaren
Schätzfehlers führt [12].
33 [1] Darms, M.: Eine Basis‐Systemarchitektur zur Sensordaten-
fusion von Umfeldsensoren für Fahrerassistenzsysteme

34 24.3.6 Parallel – Sequenziell Fortschrittberichte VDI: Reihe 12, Bd. 653. (2007). Disser-
tation
[2] Holt, V.v.: Integrale multisensorielle Fahrumgebungs-

35 Eine weitere in der Literatur zu findende Einteilung


betrifft das Fusionsverfahren an sich. Unterschie-
erfassung nach dem 4D‐Ansatz. Diss. Univ. der Bun-
deswehr, München 2004 (Online Publikation), URL:
urn:nbn:de:bvb:706–1072, 2005
den werden hier die parallele Fusion, bei der die
36 vorliegenden Messungen in einem Schritt fusioniert
[3] Stüker, D.: Heterogene Sensordatenfusion zur robus-
ten Objektverfolgung im automobilen Straßenverkehr.
werden, und die sequenzielle Fusion, bei der die Diss. Univ. Oldenburg, (Online Publikation), URL: http://
37 Messungen in mehreren aufeinander folgenden deposit.d‐nb.de/cgi‐bin/dokserv?idn=972494464, 2004
[4] Becker, J.-C.: Fusion der Daten der objekterkennenden
Schritten zusammengeführt werden. Beide Verfah-
Sensoren eines autonomen Straßenfahrzeugs. VDI‐Verl.,
ren sind unter der Voraussetzung linearer Systeme
38 und synchronisierter Sensoren äquivalent [12].
Düsseldorf (2002)
[5] Bender, E., et al.: Antikollisionssystem PRORETA – Teil 1:
Dietmayer et  al. sprechen bei Vorliegen syn- Grundlagen des Systems. ATZ 4, 337–341 (2007)
39 chronisierter Sensoren und paralleler Fusion auch [6] Schopper, M., Henle, L., Wohland, T.: Intelligent Drive Ver-
von expliziter Fusion, bei unsynchronisierten Sen- netzte Intelligenz für mehr Sicherheit. ATZExtra (5), 106–
114 (2013). Springer Automotive Media
40 soren und sequenzieller Fusion auch von impliziter
Fusion [9].
Literatur
451 24
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tions, 2. Aufl. Bd. 35. SPIE, Bellingham, Wash (1999) sion – Teil 1. Elektronik Automotive 4, 54–59 (2003)
[9] Dietmayer, K., Kirchner, A., Kämpchen, N.: Fusionsarchitek- [29] Narbe, B., et al.: Datennetzkonzepte für die Sensordatenfu-
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[24] Mayr, R.: Regelungsstrategien für die automatische Fahr-
zeugführung: Längs‐ und Querregelung, Spurwechsel‐
und Überholmanöver. Springer, Tokio (2001)
[25] Starke, G.: Effektive Software‐Architekturen – Ein prakti-
scher Leitfaden, 2. Aufl. Hanser, Wien (2005)
[26] Vogel, O.: Software‐Architektur – Grundlagen – Konzepte
– Praxis, 1. Aufl. Elsevier, Spektrum, Akad. Verl., München
[u. a.] (2005)
453 25

Repräsentation fusionierter
Umfelddaten
Klaus Dietmayer, Dominik Nuß, Stephan Reuter

25.1 Anforderungen an Fahrzeugumgebungs­


repräsentationen  – 454
25.2 Objektbasierte Darstellungen   –  456
25.3 Rasterbasierte Verfahren – 467
25.4 Architekturen und hybride Darstellungsformen   –  475
25.5 Zusammenfassung – 477
Literatur – 478

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_25, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
454 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

25.1 Anforderungen an maßgeblich von den sie nutzenden Funktionen ab.


1 Fahrzeugumgebungs­ Ein Totwinkelassistent benötigt z. B. nur die In-
repräsentationen formation, ob sich gerade Objekte im Heck- und
2 Seitenbereich des Fahrzeugs befinden, wobei deren
Unter einer Fahrzeugumgebungsrepräsentation, Typ unerheblich ist. Komplexere Assistenzsysteme,
häufig auch als Fahrzeugumfeldmodell bezeichnet, beispielsweise ein automatischer Ausweichassis-
3 versteht man eine dynamische Datenstruktur, in der tent bis hin zum automatisierten Fahren, benöti-
alle relevanten Objekte und Infrastrukturelemente gen umfangreichere Wahrnehmungsfähigkeiten
4 in der Nähe des eigenen Fahrzeugs möglichst kor- und Informationen: Es müssen hierbei neben den
rekt in Ort und Zeit in einem gemeinsamen Bezugs- Fahrstreifenmarkierungen die Abstände, Geschwin-
25 system enthalten sind. Die Erfassung und zeitliche digkeiten sowie Ausdehnungen aller Verkehrsteil-
Verfolgung der Objekte und Infrastrukturelemente nehmer im näheren Umfeld wie auch der sicher
erfolgen hierbei fortlaufend durch geeignete, in der befahrbare Freiraum zuverlässig erkannt werden.
6 Regel fusionierte bordeigene Sensoren wie Kameras Diese komplexeren Fahrerassistenzfunktionen
und Radare (siehe ▶ Kap. 17–21). Zukünftig werden benötigen zudem eine leistungsfähige Situations-
7 in diese Fusion vermehrt Informationen hochge- bewertung, die das Fahrumgebungsmodell inter-
nauer, attribuierter digitaler Karten sowie ggf. auch pretiert und die aktuelle Situation mit gewisser
externe Informationen, basierend auf Car2x-Kom- Wahrscheinlichkeit in die nahe Zukunft prädiziert.
8 munikation, einfließen können. . Abbildung 25.1 Auch aus wirtschaftlichen Gründen wird sich da-
zeigt beispielhaft Komponenten, die eine Fahrum- her der Wandel von den bisher vorherrschenden
9 gebungsrepräsentation enthalten können. funktionsorientierten Architekturen (. Abb. 25.2)
Welche Objekte und Strukturelemente für eine hin zu einer modularen, generischen Architektur
10 Fahrumgebungsrepräsentation relevant sind, hängt der Fahrumgebungsrepräsentation inklusive Infor-

.. Abb. 25.1 Elemente
11 einer Fahrzeugumge-
Wie bewegt sich
das Ego-Fahrzeug?
Um welche Verkehrs-
teilnehmer handelt es sich
In welchem Verkehrsraum
(Kontext) bewegen sich alle?
bungsrepräsentation
und wie bewegen sie sich?
12 • Eigenbewe-
gungsmodell
• Objektdetekon
• Objektklassifikaon
• Straßenmarkierungs-
erkennung
• Fahrerabsichts- • Objektverfolgung • Erkennung frei befahrbarer
13 erkennung Bereiche
• Lokalisaon relav zum
Fahrstreifen bzw. absolut in
14 -
einer digitalen Karte
• Verkehrszeichen / Verkehrs-
signalanlagenerkennung
15 Ego-Fahrzeug Andere Verkehrsteilnehmer Infrastruktur / Kontext

16 .. Abb. 25.2 Funktions­
Sensor 1 Vorverarbeitung
Verkehrszeichenerkennung
orientierte, komponenten- (z.B. Kamera Objekt- /
basierte Architektur bei Spurhalteassistent
Frontbereich) Situationserkennung
17 Fahrerassistenzsystemen

Sensor 2 Vorverarbeitung
Notbremsassistent
18 (z.B. Radar
Frontbereich)
Objekt- /
Situationserkennung
Adaptive Cruise Control (ACC) :

19 Sensor 3 Vorverarbeitung
Totwinkel- /
(z.B. zwei Objekt- / :
Überholassistent
Heckradare) Situationserkennung
20 : : :
25.1  •  Anforderungen an Fahrzeugumgebungs­repräsentationen
455 25
.. Abb. 25.3 Datenfluss
einer modularen Archi- Sensor 1 Funktion 1
tektur für Fahrerassistenz-
systeme
Funktion 2
Sensor 2
Informations- Situations-
• fusion bewertung
Funktion 3
• •
Fahrumgebungs- Situations-
repräsentation prädiktion

Sensor n

• •

Digitale
Funktion m
Karte

mationsfusion vollziehen, die über eine geeignete Zuständen selbst – i. d. R. ausgedrückt durch Va-
Situationsbewertung und -prädiktion möglichst alle rianzen oder Kovarianzen – andererseits aber auch
Fahrerassistenzfunktionen in einem Fahrzeug be- die Existenzwahrscheinlichkeit, d. h. ein Maß dafür,
dienen kann (. Abb. 25.3). Eine wesentliche Anfor- dass das von der Sensorik erfasste Objekt in der Re-
derung an die Architekturen und Datenstrukturen alität überhaupt existiert.
zur Fahrumgebungsrepräsentation ist daher ihre Da die Umgebungserfassung bevorzugt bord-
Adaptierbarkeit an unterschiedliche Funktionsan- autarke Sensorik verwendet, erfolgt die objektba-
forderungen, die nur durch durchgehende Modula- sierte Repräsentation i. d. R. relativ zum eigenen, die
rität und weitgehend generische Schnittstellen zur Szene beobachtenden Fahrzeug, also im mitbewegten
Sensorik sowie den weiterverarbeitenden Stufen der Koordinatensystem. Diese Beschreibung reicht zur
Situationsbewertung gewährleistet werden kann. Lösung aller Fahraufgaben prinzipiell aus. Sie stößt
Hierzu existieren bisher keine allgemeingültigen nur dann an ihre Grenzen, wenn Kontextwissen, bei-
festen Architekturprinzipien, so dass im Rahmen spielsweise aus einer hochgenauen digitalen Karte
dieses Kapitels verschiedene Aspekte möglicher oder durch Car2x-Kommunikation zusätzlich ein-
Ausprägungen der Fahrumgebungsrepräsentation fließen soll. In diesen Fällen ist zusätzlich eine abso-
erörtert werden. Grundsätzlich unterscheidet man lute Referenzierung, d. h. eine hochgenaue Lokalisie-
hierbei zwischen einer objektbasierten und einer rung des eigenen Fahrzeugs in der Welt notwendig.
rasterbasierten Repräsentation. Eine gitterbasierte Darstellung verwendet Ras-
Bei der objektbasierten Repräsentation wer- terkarten, um die Umwelt ortsfest in gleich große
den alle für die Repräsentation relevanten anderen Zellen einzuteilen. Das Fahrzeug bewegt sich über
Verkehrsteilnehmer, die relevanten Infrastruk- dieses Gitter und die bordautonome Sensorik lie-
turelemente sowie das eigene Fahrzeug selbst fert dann Informationen, ob spezifische Zellen frei
jeweils durch ein eigenes dynamisches Objekt- sind und damit frei befahren werden können oder
modell, i. d. R. ein zeitdiskretes Zustandsraummo- ob sich in der Zelle ein Hindernis befindet. Diese
dell, beschrieben. Dessen Zustände wie Position, Art der Darstellung eignet sich vornehmlich zur
Geschwindigkeit oder auch 2D-/3D-Objektaus- Repräsentation statischer Szenarien. Sie benötigt
dehnung werden schritthaltend mit den Sensor- keinerlei Modellhypothesen und ist daher als sehr
messungen unter Nutzung geeigneter Filterverfah- robust gegen Modellfehler einzustufen.
ren (▶ Abschn. 25.2.3) fortlaufend aktualisiert. Da In den folgenden Kapiteln wird auf beide Re-
Messungen grundsätzlich fehlerhaft sind, sollten präsentationsprinzipien sowie die dafür geeigneten
diese Filterverfahren Informationen über die ak- Algorithmen detaillierter eingegangen. Es existie-
tuelle Unsicherheit der Fahrumgebungsrepräsen- ren auch vielversprechende Ansätze, beide Darstel-
tation an die weiterverarbeitenden Stufen liefern. lungsformen zu kombinieren, die am Schluss des
Dies betrifft einerseits die Unsicherheit in den Kapitels kurz vorgestellt werden.
456 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

25.2 Objektbasierte Darstellungen erfolgt deren Formulierung in der Regel als zeitdis-
1 krete Zustandsraummodelle in der Ebene.
25.2.1 Sensorspezifische Grundsätzlich unterscheidet man zwischen
2 Objektmodelle Punktmodellen und räumlich ausgedehnten Mo-
und Koordinatensysteme dellen, bei denen auch die Länge und Breite (2D)
oder zusätzlich auch noch die Höhe (3D) model-
3 Für objektbasierte Repräsentationen ist aufgrund liert wird. Als Grundform für ausgedehnte Modelle
der zur Umgebungserfassung verwendeten bord- dient ein Rechteck (2D) oder ein Quader (3D). Die
4 autarken Sensorik als gemeinsames Bezugssystem Nutzung eines ausgedehnten Modells ist jedoch nur
das mitbewegte Koordinatensystem des eigenen dann sinnvoll, wenn die Kontur des Objekts durch
25 Fahrzeugs zweckmäßig. Gemäß den üblichen Kon- die erfassende Sensorik auch beobachtbar ist, was
ventionen für Fahrzeuge ist ein derartiges Koordi- aber grundsätzlich auch vom Beobachtungswinkel
natensystem rechtshändig zu wählen. Die x-Achse abhängt. Beispielsweise ist die Länge eines voraus-
6 zeigt in Bewegungsrichtung, die z-Achse nach oben. fahrenden Fahrzeugs unabhängig von der verwen-
Die Richtung der y-Achse folgt der Definition des deten Sensorik nicht direkt beobachtbar, sondern
7 rechtshändigen Koordinatensystems. Rotationen lediglich seine Breite und Höhe, und dies auch nur,
um die x-Achse werden als Wanken, um die y-Achse falls entsprechende konturauflösende Sensoren
als Nicken und um die z-Achse als Gieren bezeich- wie (Stereo-)Kameras, Laserscanner oder hoch-
8 net. Als Koordinatenursprung wählt man bei fahr- auflösende Radarsensoren Verwendung finden.
dynamischen Modellen meist den Massenschwer- Aufgrund dieses zeitvarianten Beobachtbarkeits-
9 punkt des Fahrzeugs. problems wird die Ausdehnungsschätzung häufig
Im Bereich der Fahrumgebungserfassung be- parallel zur Zustandsschätzung in einem separaten
10 nötigt man derart komplexe Fahrdynamikmodelle Algorithmus durchgeführt.
allerdings in aller Regel nicht, da hierfür nur eine Hinsichtlich der Zustandsschätzung werden
vergleichsweise einfache Eigenbewegungsschätzung Punktmodelle als sogenannte Freie-Masse-Modelle
11 notwendig ist. Es ist daher zumindest für Fahrsitu- modelliert, was bedeutet, dass bei Beschränkung
ationen außerhalb dynamischer Grenzbereiche üb- auf die ebene Bewegung die translatorischen Bewe-
12 lich, als Modell für die Eigenbewegungsschätzung gungen in x-, y-Richtung sowie die Rotation um die
rein kinematische, lineare Einspurmodelle unter Hochachse P (Gierrate) nicht gekoppelt sind. Aus-
Vernachlässigung von Schlupf und Schräglauf der gedehnte Modelle (2D/3D) können als Freie-Mas-
13 Räder zu verwenden [1]. Ein geeigneter Bezugs- se-Modelle oder als kinematische Einspurmodelle
punkt bei Mehrsensoranwendungen (Fusionssyste- (siehe vorstehend) mit entsprechend gekoppelten
14 men) ist die Mitte der Hinterachse des Ego-Fahr- Bewegungsfreiheitsgraden formuliert werden. Letz-
zeugs, projiziert auf die Straßenebene. Diese Wahl teres ist für alle radgebundenen Objekte wie Fahr-
15 hat den Vorteil, dass unter den obigen Modellan- zeuge oder Radfahrer meist die bessere Wahl.
nahmen der Fahrzeuggeschwindigkeitsvektor v Als Zustandsgrößen werden im Zustandsvektor
am Bezugspunkt immer in Fahrzeuglängsachse minimal pro Objekt die Position in der Ebene, die
16 (x-Achse) zeigt, was Umrechnungen erleichtert. Geschwindigkeit in der Ebene und der Gierwin-
Bei isolierten Fahrerassistenzfunktionen mit nur kel berücksichtigt und relativ zum beobachtenden
17 einem Sensor (z. B. ein rein radarbasiertes ACC, Fahrzeug aufgrund dessen Sensormessungen fort-
siehe . Abb. 25.2) wird häufig aus pragmatischen laufend geschätzt. Ein derartiges Modell wird als
Gründen das Bezugssystem identisch zum Sen- Modell „konstanter Geschwindigkeit, konstanter
18 sorkoordinatensystem gewählt. Gierwinkel“ bezeichnet. Eine Erweiterung dieser
Neben dem Ego-Fahrzeug müssen auch alle an- Modelle auf die Berücksichtigung translatorischer
19 deren Objekte im Fahrzeugumfeld durch Modelle Beschleunigungskomponenten sowie der Gierrate
beschrieben werden. Aufgrund der nachfolgend nä- im Zustandsvektor ist möglich – allerdings nur
20 her erläuterten Algorithmen zur Objektverfolgung dann sinnvoll, wenn Sensoren verfügbar sind, die
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
457 25

wie beispielsweise Radare Geschwindigkeitskom- entspricht. Ein Schätzer mit diesen Eigenschaften
ponenten direkt messen können. Andernfalls führt wird als konsistenter Schätzer bezeichnet.
die zweifache Differenziation von fehlerbehafteten Für die Realisierung sicherheitsrelevanter Fah-
Positionsmessungen im Filter zu so starken Rau- rerassistenzfunktionen ist die Existenzunsicher-
scheffekten in den Beschleunigungsdaten, dass das heit jedoch mindestens genauso relevant wie die
Gesamtschätzergebnis hierdurch eher verschlech- Zustandsunsicherheit. Sie drückt aus, mit welcher
tert wird. Die Wahl des geeigneten Objektmodells Wahrscheinlichkeit das Objekt in der Fahrumge-
hängt somit stark von der verfügbaren Sensorkon- bungsrepräsentation auch wirklich einem realen
figuration und deren Messmöglichkeiten ab (siehe Objekt entspricht. Eine Notbremsung sollte bei-
auch ▶ Kap. 17–21). Details zur Formulierung von spielsweise nur bei einer sehr hohen Existenzwahr-
Objektmodellen findet man beispielsweise unter scheinlichkeit des verfolgten Objekts ausgelöst
[2] oder [1]. Näheres zur Fusion von verschiedenen werden. Während die Schätzung von Zustandsun-
Sensortypen findet sich in ▶ Kap. 24. sicherheiten nach dem Stand der Technik durch
Methoden der rekursiven Bayes-Schätzung (siehe
▶ Abschn. 25.2.3.1) theoretisch fundiert erfolgt, wird
25.2.2 Zustands- in heutigen Systemen meist aufgrund eines heuris-
und Existenzunsicherheiten tischen Qualitätsmaßes einer Objekthypothese auf
die Existenz eines Objekts geschlossen. Ein Objekt
Bei einer objektbasierten Darstellung des Fahr- gilt als bestätigt, wenn das Qualitätsmaß einen sen-
zeugumfelds ist die Angabe von Zustands- so- sor- und anwendungsabhängigen Schwellwert #
wie Existenzunsicherheiten für die individuellen überschreitet. Die Qualitätsmaße basieren beispiels-
Objekte notwendig, um Auslöseentscheidungen weise auf der Anzahl an erfolgreichen Messwert-As-
sicherheitsrelevanter Fahrerassistenzfunktionen soziationen seit der Initialisierung des Objekts oder
anhand der Umgebungsrepräsentation absichern der Zeitspanne zwischen Initialisierung des Objekts
zu können. und dem aktuellen Zeitpunkt. Häufig wird auch die
Die Zustandsunsicherheit eines Objekts wird Zustandsunsicherheit des Objekts oder das Qua-
durch eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion litätsmaß eines weiteren Systems zur Validierung
beschrieben, anhand derer der wahrscheinlichste verwendet.
Gesamt- bzw. Einzelzustand sowie mit gewisser Ein alternativer Ansatz ist die Schätzung einer
Wahrscheinlichkeit auch mögliche Variationen objektspezifischen Existenzwahrscheinlichkeit:
hiervon bestimmt werden können. Im Fall einer Hierfür ist zunächst eine anwendungsabhängige
mehrdimensionalen, normalverteilten Wahrschein- Definition der Objektexistenz notwendig. Wäh-
lichkeitsdichtefunktion ist die Zustandsunsicherheit rend in manchen Anwendungen sämtliche realen
durch die Kovarianzmatrix P vollständig repräsen- Objekte als existent betrachtet werden, kann die
tiert. Bei der Schätzung statischer Parameter kann Objektexistenz auch auf die in der aktuellen An-
die Zustandsunsicherheit durch wiederholte Mes- wendung relevanten Objekte eingeschränkt wer-
sungen immer weiter verringert werden und der den. Des Weiteren ist eine Einschränkung auf die
Schätzwert konvergiert gegen den wahren Wert, mit dem aktuellen Sensor-Set-up detektierbaren
falls kein systematischer Fehler in Form eines Off- Objekte möglich. Im Gegensatz zu dem Schwellwert
sets vorliegt. Bei der Schätzung von dynamischen # des Qualitätsmaßes ermöglicht die Bestimmung
Zuständen ist aufgrund der Bewegung des Objekts der Existenzwahrscheinlichkeit eine wahrschein-
zwischen zwei aufeinanderfolgenden Messzeitpunk- lichkeitsbasierte Interpretationsmöglichkeit. Eine
ten die Konvergenz gegen den wahren Wert nicht Existenzwahrscheinlichkeit von beispielsweise
mehr gegeben. Bei der Bewertung der Zustands- 90 % bedeutet, dass die Messhistorie sowie das Be-
schätzung wird daher gefordert, dass der Erwar- wegungsmuster des Objekts mit einer Wahrschein-
tungswert des Schätzfehlers Null ist und die Vari- lichkeit von 90 % von einem realen Objekt erzeugt
anz des realen Schätzfehlers der geschätzten Varianz wurden. Folglich können Assistenzfunktionen
458 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

diejenigen Objekte verwenden, deren Existenz- liche Unsicherheit durch eine Wahrscheinlichkeits-
1 wahrscheinlichkeit einen anwendungsspezifischen dichtefunktion (engl. probability density function,
Schwellwert überschreiten. PDF)
2
pkC1 .xkC1 / D pkC1 .xkC1 jZ1WkC1 /(25.1)
25.2.3 Grundlegende Verfahren
3 des Multi-Objekt-Trackings repräsentiert, die von allen bis zum Zeitpunkt k C 1
erhaltenenen Messungen Z1WkC1 D fz1 ; : : : ; zkC1 g
4 Das Ziel der Objektverfolgung bzw. des Objekt-Tra- abhängt.
ckings ist es, den zeitvarianten Zustand aller Ob- Das Bewegungsmodell eines Objekts für den
25 jekte, die sich im Erfassungsbereich der Sensoren Zeitraum zwischen zwei aufeinanderfolgenden
befinden, zu schätzen. Die Änderung der Objekt- Messungen ist durch die Bewegungsgleichung
zustände resultiert einerseits aus der Bewegung der
6 Objekte sowie andererseits aus der Eigenbewegung xkC1jk D f .xk / C vk(25.2)
des beobachtenden Fahrzeuges. Das Objekt-Tra-
7 cking basiert nach dem Stand der Technik auf ei- gegeben, wobei vk eine additive Störgröße darstellt,
nem rekursiven Bayes-Filter, der aus zwei Teilen die mögliche Modellfehler repräsentiert. Alterna-
besteht: der Prädiktion und der Innovation. Der tiv kann die Bewegungsgleichung auch durch eine
8 Prädiktionsschritt modelliert die Bewegung des Markov-Übergangsdichte
Objekts zwischen zwei aufeinanderfolgenden Mess-
9 zeitpunkten anhand eines objektspezifischen Bewe- fkC1jk .xkC1 jxk /(25.3)
gungsmodells (vgl. ▶ Abschn. 25.2.1). Des Weiteren
10 muss im Prädiktionsschritt die Eigenbewegung des beschrieben werden. Unter Nutzung der Voraus-
beobachtenden Fahrzeugs kompensiert werden. Die setzung einer Markov-Eigenschaft erster Ordnung
Eigenbewegung führt zu einer Veränderung der re- hängt der prädizierte Zustand xkC1 des Objekts nur
11 lativ zum Ego-Fahrzeug geschätzten Zustände (z. B. vom Zustand xk ab, da dieser implizit die Messhisto-
Position) sowie einer erhöhten Schätzunsicherheit. rie Z1Wk D fz1 ; : : : ; zk g enthält. Die Prädiktion des
12 Im darauffolgenden Innovationsschritt wird der aktuellen Objektzustands xk zum nächsten Mess-
prädizierte Objektzustand mittels der aktuellen zeitpunkt k C 1 erfolgt anhand der Chapman-Kol-
Sensormessung und unter Berücksichtigung der mogorov-Gleichung
13 Messunsicherheit des Sensors aktualisiert.
pkC1jk .xkC1 jxk /
Im Folgenden wird zunächst das Bayes-Fil- Z
14 ter kurz eingeführt. Anschließend wird das D fkC1jk .xkC1 jxk / pk .xk / dxk :
Kalman-Filter, welches eine analytische Imple- (25.4)
15 mentation des Bayes-Filters für lineare Systeme
ermöglicht, erläutert und Möglichkeiten zur An- Anschließend wird mittels der Messung zkC1 die
wendung auf das Multi-Objekt-Tracking vorge- prädizierte PDF des Objektzustands aktualisiert. Der
16 stellt. Hierbei wird insbesondere auf das Joint-In- Messprozess des Sensors ist durch die Messgleichung
tegrated-Probabilistic-Data-Association-Filter
17 zkC1jk D hkC1 xkC1jk C wkC1(25.5)
 
eingegangen, das eine probabilistische Assoziation
der erhaltenen Messungen zu den aktuell verfolg-
ten Objekten realisiert und außerdem die in ▶ Ab- beschrieben. Die stochastische Störgröße wkC1
18 schn. 25.2.2 geforderte Existenzwahrscheinlichkeit repräsentiert hierbei den Fehler des Messmodells.
für die Objekte schätzt. Die Messgleichung transformiert den Zustand eines
19 Objekts in den Messraum des Sensors und ermög-
25.2.3.1 Rekursives Bayes-Filter licht folglich die Innovation des Objektzustands im
20 Im rekursiven Bayes-Filter [3] werden der geschätzte Messraum. Die Innovation im Messraum ist von
Zustand eines Objekts und die dazugehörige räum- Vorteil, da im Allgemeinen eine Transformation der
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
459 25
.. Abb. 25.4  Ablauf des
Kalman-Filters: Zustands­ zk +1|k zk +1
prädiktion anhand Differenzbildung
Rk +1|k Rk +1

Messraum
des Prozessmodells,
Zustandsinnovation
durch Transformation in zk +1 − z k + 1| k
den Messraum und das
Kalman-Gain
Messmodell Sk + 1 Kalman-Gain
Zustandsraum H k +1 , Rk +1 K k +1

Prozessmodell

Fk , Qk

xˆ k xˆ k +1|k xˆ k +1
Pk Pk +1|k Pk +1

Zeitschritt k Zeitschritt k+1

Messung in den Zustandsraum aufgrund der nicht Gauß-Verteilung durch ihre ersten beiden statis-
invertierbaren Messgleichung nicht möglich ist. tischen Momente, d. h. den Mittelwert xO sowie die
Eine alternative Repräsentation der Messgleichung zugehörige Kovarianzmatrix P, vollständig beschrie-
ist die Likelihood-Funktion ben ist, stellt die zeitliche Filterung der Momente
eine mathematisch exakte Lösung dar. Folglich
g .zkC1 jxkC1 / ; ist das Kalman-Filter unter diesen Annahmen ein
Bayes-optimaler Zustandsschätzer. . Abbildung 25.4
die sich aus der Messgleichung 25.5 ergibt. Die Zu- veranschaulicht den Ablauf des Kalman-Filters, der
standsinnovation erfolgt anschließend anhand der im Folgenden ausführlich beschrieben wird.
Bayes-Formel Der initiale Zustand eines Objekts im Kal-
man-Filter ist durch eine mehrdimensionale
pkC1 .xkC1 jzkC1 / D Gauß-Verteilung
g .zkC1 jxkC1 / pkC1jk .xkC1 jxk /
R
g .zkC1 jxkC1 / pkC1jk .xkC1 jxk / dxkC1 
:
1
N .x; xO k ; Pk / D p
det .2Pk /
(25.6)  
1
 exp  .x  xO k /T Pk1 .x  xO k /
Das durch den Prädiktionsschritt in Gl. 25.4 und 2 (25.7)
den Innovationsschritt in Gl.  25.6 beschriebene
rekursive Schätzverfahren wird als Bayes-Filter be- mit Mittelwert xO k und Kovarianz Pk beschrieben.
zeichnet. Neben den Prozess- und Messgleichungen Im Fall von linearen Prozess- und Messmodellen
benötigt das Verfahren nur eine A-priori-PDF für lassen sich die Gl. 25.2 und 25.5 wie folgt darstellen:
den Objektzustand p0 .x0 / zum Zeitpunkt k D 0.
xkC1jk D Fk xk C vk ;(25.8)
25.2.3.2 Multi-Instanzen-Kalman-
Filter zkC1jk D HkC1 xkC1jk C wkC1 ;(25.9)
Unter der Annahme von normalverteilten Signa-
len sowie linearen Prozess- und Messmodellen wobei Fk und HkC1 die Systemmatrix und die Mess-
ermöglicht das Kalman-Filter [4] eine analytische matrix für den aktuellen Messzeitpunkt darstellen.
Implementation des Bayes’schen Filters. Da eine Für das Prozessrauschen vk sowie das Messrauschen
460 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

wkC1 wird angenommen, dass es sich hierbei um


1 ein mittelwertfreies, gaußsches weißes Rauschen
T
KkC1 D PkC1jk HkC1 1
SkC1 :(25.16)
handelt und die beiden Rauschprozesse unkorre-
2 liert sind. Die aufgrund der aktuellen Messung verbesserte
Der Prädiktionsschritt des Kalman-Filters ist Schätzung des Objektzustands und die zugehörige
gegeben durch die unabhängige Prädiktion des Er- Kovarianz werden anhand folgender Gleichungen
3 wartungswerts und der Kovarianz: berechnet:

4 xO kC1 D xO kC1jk C KkC1 zkC1  zkC1jk ;(25.17)


 
xO kC1jk D Fk xO k ;(25.10)

T
PkC1jk D Fk Pk FkT C Qk :(25.11) PkC1 D PkC1jk  KkC1 SkC1 KkC1
25
:(25.18)

Die Kovarianzmatrix Qk D Efvk vkT g des Prozess­ Eine Anwendung des Kalman-Filters auf Systeme
6 rauschens stellt hierbei die Unsicherheit des Pro- mit nichtlinearen Prozess- oder Messgleichungen
zessmodells dar, beispielsweise die maximal mögli- lässt sich anhand des Extended-Kalman-Filters
7 chen Beschleunigungen eines Objekts bei Nutzung (EKF) [1] sowie des Unscented-Kalman-Filters
eines Prozessmodells für konstante Geschwindig- (UKF) [5] realisieren. Während der EKF die Pro-
keit. zessmatrix Fk beziehungsweise die Messmatrix
8 Unter Nutzung der Messmatrix HkC1 kann nun HkC1 unter Nutzung einer Taylorreihen-Appro-
aus dem prädizierten Zustand xO kC1jk die prädizierte ximation linearisiert, ist das Ziel des UKF eine
9 Messung stochastische Approximation anhand sogenannter
Sigma-Punkte [5].
10 zkC1jk D HkC1 xO kC1jk(25.12) Das Kalman-Filter stellt einen optimalen Zu-
standsschätzer für ein Objekt und eine Messung
sowie die zugehörige Kovarianzmatrix dar. Im Kontext der Fahrzeugumfelderfassung
11 ist jedoch die gleichzeitige Verfolgung mehrerer
T
RkC1jk D HkC1 PkC1jk HkC1(25.13) Objekte, das sogenannte Multi-Objekt-Tracking,
12 erforderlich. In der Literatur wird das Multi-Ob-
berechnet werden. Im Innovationsschritt wird jekt-Tracking häufig durch die Nutzung des in
anschließend eine Messung zkC1 mit zugehöriger . Abb. 25.5 dargestellten Multi-Instanzen-Kal-
13 Kovarianz RkC1 D EfwkC1 wkC1T } eingebracht. man-Filters realisiert, bei dem jedes Objekt mit
Unter Nutzung des Erwartungswerts der prädi- einem objektspezifischen Kalman-Filter verfolgt
14 zierten Messung zkC1jk sowie des tatsächlichen wird. Da nicht jedes Kalman-Filter ein relevan-
Messwerts zkC1 ergeben sich das Messresiduum tes, beziehungsweise ein tatsächlich existierendes
15 kC1 und die zugehörige Innovationskovarianz- Objekt repräsentiert, ist außerdem eine nachge-
matrix SkC1 zu lagerte Klassifikation und Validierung der ge-
schätzten Tracks notwendig. Um die Menge der
16 kC1 D zkC1  zkC1jk ;(25.14) zu verarbeitenden Daten zu reduzieren, werden
im Detektions- bzw. Segmentierungsschritt Ob-
17 SkC1 D RkC1jk C RkC1 jekthypothesen erzeugt. Ein Beispiel für einen De-
T
tektionsalgorithmus ist die in ▶ Kap. 23 vorgestellte
D HkC1 PkC1jk HkC1 C RkC1 :(25.15) Fußgängerdetektion in Videobildern, während die
18 Objektbildung in ▶ Kap. 19 ein Beispiel für einen
Die Filterverstärkung KkC1 berechnet sich unter Segmentierungsschritt darstellt. Im Datenassozia-
19 Nutzung der Innovationskovarianzmatrix SkC1, tionsschritt werden die erhaltenen Messungen den
der prädizierten Zustandskovarianz PkC1jk sowie vorhandenen Kalman-Filtern zugeordnet und der
20 der Messmatrix HkC1 zu Zustand der Objekte mit den Messungen aktua-
lisiert, wobei aufgrund von Fehldetektionen und
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
461 25

A D ˇij des PDA-Verfahrens repräsentiert sämtli-


Detektion / Segmentierung
che Assoziationswahrscheinlichkeiten
Objektliste ˇij D p xi $ zj (25.19)
 

Datenassoziation für die Objekthypothesen x1 ; : : : ; xn und die Mes-


sungen z1 ; : : : ; zm. Neben der Assoziationsunsi-
Prädiktionen Assoziationen cherheit ist es ebenfalls möglich, dass ein Objekt xi
zum Zeitpunkt k C 1 keine Messung generiert. Im
Zustandsfilter Fall dieser sogenannten Fehldetektion mit Gewicht
ˇi 0 entspricht der verbesserte Zustand dem prädi-
Track-Verwaltung
zierten Zustand.
Track-Liste Aufgrund des gewichteten Updates eines Ob-
jekts mit den zum Zeitpunkt k C 1 erhaltenen m
Messungen, ist die A-posteriori-Wahrscheinlich-
Klassifikation / Validierung
keitsdichte des Objektzustands durch die gewichtete
.. Abb. 25.5 Multi-Instanzen-Kalman-Filter Überlagerung der einzelnen Assoziationshypothe-
sen gegeben:
Falschalarmen die Datenassoziation in vielen Fäl-
len mehrdeutig ist. p .xi;kC1 jz1 ; : : : ; zm /
Das mit dem geringsten Rechenaufwand ver- m
X
bundene Assoziationsverfahren ist das Nächs- D ˇij p xi;kC1 jzj :
 

te-Nachbar-(NN)-Verfahren, das jedes Objekt mit j D0 (25.20)


der hinsichtlich des Zustands am nächsten gele-
genen Messung aktualisiert. Ein hierfür übliches Die PDF p.xi;kC1 jzj / stellt hierbei die Zustands­
Abstandsmaß ist die Mahalanobis-Distanz [1]. In innovation des Objekts xi mit der Messung zj dar.
Szenarien mit nahe beieinanderliegenden Objek- Für den Fehldetektionsfall j D 0 repräsentiert
ten führt das NN-Verfahren oftmals dazu, dass eine p.xi;kC1 jz0 / die prädizierte Zustandsschätzung.
Messung zum Update mehrerer Objekte verwen- Durch die probabilistische Datenassoziation
det wird. Dies widerspricht jedoch der in vielen folgt die in Gl. 25.20 erhaltene A-posteriori-PDF
Anwendungen zutreffenden Annahme, dass eine nicht mehr einer Gaußverteilung, da die Überlage-
Messung von höchstens einem Objekt erzeugt wird. rung mehrerer Gaußverteilungen im Allgemeinen
Das Globale-Nächste-Nachbar-(GNN)-Verfahren multimodal ist. Folglich ist eine Approximation von
gewährleistet die Einhaltung dieser Annahme Gl. 25.20 durch eine einzige Gaußverteilung not-
durch die Berechnung einer optimalen Zuordnung wendig, um auch im nächsten Innovationsschritt
aller Tracks und Messungen. Beide Verfahren tref- die Kalman-Filter-Gleichungen wieder anwenden
fen zum Zeitpunkt k C 1 eine harte und mögli- zu können. Für jede Innovationshypothese wird da-
cherweise falsche Assoziationsentscheidung, die im her unter Verwendung von Gl. 25.17 zunächst der
weiteren Verlauf nicht mehr rückgängig gemacht aktualisierte Zustand
werden kann und im Fall einer falschen Entschei-
dung oftmals zum Verlust eines aktuell verfolgten xij D xO i;kC1jk C Kij .zj  zi;kC1jk /(25.21)
Objektes führt.
Die Grundidee der probabilistischen Datenasso- berechnet. Für den Fall der Fehldetektion gilt hier
ziation (PDA) [6] ist es daher, ein gewichtetes Up-
date des Objektzustands unter Nutzung aller Asso- xi 0 D xO i;kC1jk :(25.22)
ziationshypothesen durchzuführen und somit harte,
möglicherweise fehlerhafte Entscheidungen bei der Der aktualisierte Erwartungswert für den Zustand
Assoziation zu vermeiden. Die Assoziationsmatrix des Objekts xi ergibt sich nun aus dem gewichteten
462 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

Mittelwert der verbesserten Zustände aller Assozi- pB


1 ationshypothesen: pS 1-pB

2 m
X
p(∃x) p(∃x)
xO i;kC1 D ˇij xij :
(25.23)
3
j D0
1-pS

Die Innovation der Zustandskovarianz ist gegeben .. Abb. 25.6  Markov-Kette für die Prädiktion der Existenz-
4 durch die gewichtete Akkumulation der Zustandsun- wahrscheinlichkeit
sicherheiten der einzelnen Assoziationshypothesen:
25 m
sche Existenzwahrscheinlichkeit berechnet. Da die
X h Existenz eines Objekts von den Detektions- und
Pi;kC1 D ˇij Pi;kC1jk  Kij Sij KijT
Falschalarmwahrscheinlichkeiten des Sensors sowie
6 j D0
der Datenassoziation abhängt, ist die integrierte Exis-
C.xij  xO i;kC1 /.xij  xO i;kC1 /T :

(25.24) tenzschätzung eine sinnvolle Erweiterung zu den im
7 vorhergehenden Abschnitt vorgestellten probabilis-
Der dritte Summand in Gl.  25.24 repräsentiert tischen Assoziationsverfahren.
anschaulich die zusätzliche Unsicherheit, die Die Innovation der Objektexistenz erfolgt
8 sich durch die Approximation durch eine einzige analog zur Aktualisierung des Zustands in einem
Gauß-Verteilung ergibt. Prädiktions- und einem Innovationsschritt. Die
9 Aufgrund des gewichteten Updates ist das Existenzprädiktion erfolgt anhand eines Mar-
PDA-Verfahren sehr gut dafür geeignet, ein einzel- kov-Modells erster Ordnung (siehe . Abb. 25.6).
10 nes Objekt in Szenarien mit Fehldetektionen und Die prädizierte Existenz eines Objekts ist durch die
einer hohen Anzahl an falsch positiven Detektio- Markov-Kette
nen (Falschalarmen) zu verfolgen. Ein Nachteil des
11 PDA-Verfahrens ist jedoch die Tatsache, dass eine pkC1jk .9x/ D pS pk .9x/ C pB pk .Àx/(25.25)
Messung eine hohe Assoziationswahrscheinlichkeit
12 für mehr als ein Objekt besitzen kann. Dies wider- gegeben, wobei die Wahrscheinlichkeit ps die Per-
spricht jedoch der Annahme des Standard-Messmo- sistenzwahrscheinlichkeit des Objekts darstellt und
dells, dass eine Messung von maximal einem Objekt pB die Wahrscheinlichkeit für das Erscheinen eines
13 stammt. Eine Erweiterung zum PDA-Verfahren ist Objekts repräsentiert. Folglich ist die Wahrschein-
das Joint-Probabilistic-Data-Association- (JPDA-) lichkeit für das Verschwinden eines Objekts gegeben
14 Verfahren, bei dem die Assoziationsgewichte an- durch 1  pS. Im Innovationsschritt wird neben den
hand globaler Assoziationshypothesen berechnet Datenassoziationsgewichten die A-posteriori-Exis-
15 werden [1]. Die Berechnung der benötigten Asso- tenzwahrscheinlichkeit pkC1 .9x/ berechnet. Sie
ziationsgewichte ˇij wird im folgenden Abschnitt hängt davon ab, wie viele Assoziationshypothesen
am Beispiel des Joint-Integrated-Probabilistic-Da- die Existenz des Objekts bestätigen.
16 ta-Association- (JIPDA-) Filters dargelegt, das mit Da die Persistenzwahrscheinlichkeit eines Ob-
dem PDA und JPDA-Filter eng verwandt ist. jekts vom aktuellen Objektzustand abhängt und die
17 A-posteriori-Existenzwahrscheinlichkeit wiederum
25.2.3.3 Joint-Integrated- von den Datenassoziationen, kann das JIPDA-Fil-
Probabilistic-Data- ter als die in . Abb. 25.7 dargestellte Verkopplung
18 Association- (JIPDA-) Filter zweier Markov-Ketten interpretiert werden. Die
Das Joint-Integrated-Probabilistic-Data-Associa­ obere Markov-Kette stellt die aus dem Kalman-Fil-
19 tion- (JIPDA-) Verfahren [7] stellt einen Multi-­ ter bekannte Zustandsprädiktion und Innovation
Objekt-Trackingalgorithmus dar, der neben der dar, während die untere Markov-Kette die Prädik-
20 Berechnung von probabilistischen Daten­assoziations­ tion und Innovation der Existenzwahrscheinlichkeit
gewichten einen Schätzwert für die objektspezifi- repräsentiert.
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
463 25

Sensor 1 Sensor 2 Sensor n

Sensor- Sensor- Sensor-


Modell 1 Modell 2 Modell n

Messungen und Existenz-


Messunsicherheiten Information
Zustandsschätzung
xˆk Zustands- xˆk +1|k Datenassoziation & xˆk +1
Pk prädiktion Pk +1|k Zustandsinnovation Pk +1

Existenzschätzung
Existenz-
Existenzinnovation
p k ( ∃x ) prädiktion pk +1|k (∃x ) pk +1|k +1 (∃x )
Prädiktion Innovation

.. Abb. 25.7  Verkoppelte Markov-Ketten für die Zustands- und Existenzschätzung

Im Prädiktionsschritt des JIPDA-Filters werden X D fx1 ; : : : ; xn ; ©;  g:(25.28)


folglich zuerst die Zustände sämtlicher Objekte an-
hand der Kalman-Filter-Gleichungen  25.10 und Die Zuordnung eines Objekts zu einer Messung ist
25.11 aus dem vorhergehenden Abschnitt prädi- folglich durch ein Paar e D .x 2 X; z 2 Z/ gege-
ziert. Anschließend wird die prädizierte Existen- ben. In einer vollständigen Zuordnungshypothese,
zwahrscheinlichkeit des Objekts xi anhand der die durch die Menge E D fei g gegeben ist, müssen
zustandsabhängigen Persistenzwahrscheinlichkeit sowohl die Objekte x1 ; : : : ; xn wie auch die Messun-
0 < pS .xi / < 1 berechnet: gen z1 ; : : : ; zm genau einmal zugeordnet werden.
Die Sonderelemente ;; À; © und  dürfen in einer
pkC1jk .9xi / D pS .xi /pk .9xi / :(25.26) Zuordnungshypothese auch mehrfach verwendet
werden.
Die explizite Abhängigkeit der prädizierten Existenz­ Eine intuitive Repräsentation aller möglichen
wahrscheinlichkeit vom Objektzustand stellt die Zuordnungshypothesen ist mit einem Hypothe-
erste Verkopplung der beiden Markov-Ketten dar. senbaum möglich. . Abbildung 25.8 zeigt exem-
Nachdem sowohl der Zustand als auch die Existenz plarisch den Hypothesenbaum für eine Situation
zum Zeitpunkt der nächsten Messung prädiziert mit zwei Objekten und einer Messung, wobei jeder
wurden, wird als Nächstes die Datenassoziation Knoten des Baumes eine elementare Zuordnung
anhand des in [8] vorgestellten Verfahrens durchge- e repräsentiert. Jeder Pfad vom Wurzelknoten zu
führt. Hierzu ist es zunächst notwendig, die Menge einem Blattknoten stellt hier eine vollständige Zu-
aller Messungen ordnungshypothese El D fe0 ; : : : ; eL.l/ g dar. Die
Wahrscheinlichkeit einer Zuordnungshypothese El
Z D fz1 ; : : : ; zm ; ;; Àg(25.27) berechnet sich somit aus dem Produkt der elemen-
taren Zuordnungswahrscheinlichkeiten:
zu definieren, wobei die beiden Pseudomessungen Y
; und À die Fehldetektion und die Nicht-Existenz p .El / D p.e/:
eines Objekts darstellen. Des Weiteren besteht die e2El (25.29)
Menge X aus den n aktuell verfolgten Objekten so-
wie den beiden Sonderelementen © und  für die Aufgrund der kombinatorischen Komplexität
Falschalarmquelle und neu hinzukommende Ob- wächst die Anzahl der Zuordnungshypothesen ex-
jekte: ponentiell an, wodurch die Berechnung aller Hypo-
464 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

.. Abb. 25.8 Assoziations-
1 baum für zwei Objekte und
eine Messung. Das erste
Symbol jedes Knotens
2 1-1 1-∅ 1-∄
repräsentiert ein Element
aus der Menge der Objek-
te, das zweite Symbol ein
3 2-∅ 2-1 2-∅ 2-∄ 2-1 2-∅ 2-∄ Element aus der Menge
der Messungen.

4 ©-1 Γ-1 ©-1 Γ-1 ©-1 Γ-1 ©-1 Γ-1

25
thesen nur für eine geringe Anzahl an Messungen wobei pG die Gatingwahrscheinlichkeit darstellt,
und Objekten praktikabel ist. Eine Reduktion der d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass die wahre Mes-
6 möglichen Zuordnungshypothesen kann beispiels- sung eines Objekts innerhalb des Gatingbereichs
weise durch Gatingverfahren erreicht werden, die liegt. Offensichtlich setzt eine hohe Wahrscheinlich-
7 unter Nutzung der Innovationskovarianz S sehr keit für einen richtig positiven Zuordnungsknoten
unwahrscheinliche elementare Zuordnungshypo- sowohl eine hohe prädizierte Existenzwahrschein-
thesen ausschließen. Des Weiteren können zur ef- lichkeit, eine hohe Rückschlusswahrscheinlichkeit
8 fizienten Berechnung des Hypothesenbaumes die als auch eine hohe Likelihood voraus.
Wahrscheinlichkeiten der elementaren Zuordnun- Ein falsch positiver Zuordnungsknoten ent-
9 gen e im Voraus berechnet und in einer Nachschla- spricht der Zuordnung einer Messung zur Falsch­
getabelle abgelegt werden. alarmquelle. Die zugehörige Wahrscheinlichkeit
10 Im Folgenden werden die Berechnungsvor- hängt sowohl
  von der Rückschlusswahrscheinlich-
schriften für die fünf Kategorien von elementa- keit pTP zj als auch von der räumlichen Falsch­
ren Zuordnungshypothesen beschrieben, welche alarmwahrscheinlichkeit pc .zj / ab:
11 messwertspezifische Rückschlusswahrscheinlich-
p e D f©; zj g D 1  pTP zj pc zj :(25.32)
      
keiten verwenden, um eine Berücksichtigung von
12 sensorspezifischen Evidenzen für die Existenz ei-
nes Objekts im JIPDA-Filter zu ermöglichen. Ein Die dritte Zuordnungskategorie repräsentiert die
richtig positiver Zuordnungsknoten entspricht der Fehldetektionen, also die falsch negativen Zuord-
13 Zuordnung eines Tracks xi zu einer Messung zj. Die nungsknoten, deren Wahrscheinlichkeit wie folgt
Wahrscheinlichkeit für einen richtig positiven Zu- definiert ist:
14 ordnungsknoten ist gegeben durch
p .e D fxi ; ;g/

15 p e D fxi ; zj g D
  D .1  pD .xi // pkC1jk .9xi / :(25.33)

pkC1jk .9xi / pTP zj pD .xi / g zj jxi ;(25.30)


   
Die Nicht-Existenz eines Objekts wird durch die
16 richtig negative Zuordnung mit Wahrscheinlichkeit
wobei pTP zj die messwertspezifische Rück-
 

17 schlusswahrscheinlichkeit repräsentiert und pD .xi / p .e D fxi ; Àg/ D 1  pkC1jk .9xi /(25.34)


der sensorspezifischen Detektionswahrscheinlich-
keit für ein Objekt mit Zustand xi entspricht. Die repräsentiert, die ausschließlich von der prädi-
18 Likelihood für eine Messung zj für das Objekt xi zierten Existenzwahrscheinlichkeit des Objekts
entspricht abhängt. Die fünfte Zuordnungskategorie weist
19 eine Messung zj zum Zeitpunkt k C 1 einem neu
1 erscheinenden Objekt zu:
g zj jxi D N z; zj  zi;kC1jk ; Sij ;
   

20 pG (25.31)
p e D f; zj g D pTP zj p zj :(25.35)
     
25.2 • Objektbasierte Darstellungen
465 25

Die Zuordnung zu einem erscheinenden Objekt 25.2.3.4 Random-Finite-Set-(RFS-)


wurde erstmals in [8] eingeführt und ermöglicht Ansätze, PHD- und CPHD-Filter
die explizite Modellierung der Objektinitialisie- Eine Alternative zum Multi-Objekt-Tracking mit
rung anhand des Hypothesenbaumes. Neben der Multi-Instanzen-Kalman-Filtern stellt das in [9]
sensorischen Rückschlusswahrscheinlichkeit wird vorgestellte Multi-Objekt Bayes-Filter dar, welches
eine räumliche Geburtenwahrscheinlichkeit p zj die Multi-Objekt-Zustände X sowie die zu einem
 

benötigt. Die Geburtenwahrscheinlichkeit wird so Messzeitpunkt erhaltenen Messungen Z als Ran-


modelliert, dass sie in der Nähe von bereits existie- dom Finite Sets modelliert. Ein Random Finite
renden Objekten verhältnismäßig gering und in den Set X D fx1 ; : : : ; xn g ist hierbei eine Zufallsvaria-
Randbereichen des Erfassungsbereichs der Senso- ble, bei der sowohl die Objektanzahl n (inklusive
ren deutlich höher ist. n D 0) als auch die einzelnen Zustände xi stochas-
Die vorgestellten Berechnungsvorschriften für tische Größen sind. Des Weiteren sind die Zustände
die elementaren Zuordnungswahrscheinlichkei- eines Random-Finite-Sets unsortiert und folglich
ten ermöglichen nun die Bestimmung der Wahr- permutationsinvariant. Die Prädiktions- und Up-
scheinlichkeiten aller Zuordnungshypothesen. dategleichung des Multi-Objekt-Bayes-Filters ent-
Basierend auf der Menge aller Zuordnungshypo- sprechen den Gl. 25.4 und 25.6, jedoch werden die
thesen können nun die Existenzwahrscheinlichkeit Zustandsvektoren x und die Messung z durch die
und die Zuordnungsgewichte ˇij berechnet wer- Random-Finite-Sets X und Z ersetzt.
den. Die A-posteriori-Existenzwahrscheinlichkeit Das Multi-Objekt-Bayes-Filter verwendet eine
eines Objekts xi berechnet sich durch die Margi- Multi-Objekt-Markov-Dichte im Prädiktionsschritt,
nalisierung gemäß die neben der Bewegung der Objekte auch das Er-
scheinen und Verschwinden von Objekten reprä-
P sentiert. Die Repräsentation der Objekte durch ein
p.E/
E2Ei9 Random-Finite-Set ermöglicht außerdem die Model-
pkC1 .9xi / D P ; lierung von Abhängigkeiten zwischen den Objekten
p.E/
E (25.36) im Prädiktionsschritt, während die Verwendung ei-
nes Multi-Instanzen-Kalman-Filters die statistische
wobei die Menge Ei9 sämtliche Hypothesen reprä- Unabhängigkeit der Objekte voraussetzt. Im Kontext
sentiert, in denen der Track xi existiert: der Fahrzeugumfelderfassung sind die Abhängig-
keiten zwischen Objekten nicht auf die unmittel-
E 2 Ei9 , .xi ; À/ \ E D ;:(25.37) bare räumliche Nähe begrenzt, da das Betätigen der
Bremse bei einem vorausfahrenden Fahrzeug dazu
Die Berechnung der Zuordnungsgewichte führt, dass auch das nachfolgende Fahrzeug bremst.
P Der Update-Schritt des Multi-Objekt-Bayes-Fil-
p.E/ ters basiert auf der Multi-Objekt-Likelihood-Funk-
E2EijTP tion, die eine explizite Datenassoziation durch die
ˇij D P
p.E/ Mittelung über alle möglichen Assoziationshypothe-
E2Ei9 (25.38) sen vermeidet. Die Multi-Objekt-Likelihood-Funk-
tion kann ebenfalls durch einen Hypothesenbaum
erfolgt ebenfalls per Marginalisierung. Hierbei stellt berechnet werden [10]. Im Unterschied zu dem
die Menge EijTP alle Hypothesen dar, die die Zuord- in . Abb. 25.8 dargestellten Hypothesenbaum
nung der Messung zj zu Objekt xi enthalten: des JIPDA-Algorithmus ist die Modellierung der
Nicht-Existenz eines Objekts jedoch nicht notwendig,
E 2 EijTP , xi ; zj 2 E:(25.39)
 
da diese durch eine weitere Realisierung der Zufalls-
variable X repräsentiert wird. Des Weiteren werden
Anschließend werden die Zustände aller Objekte die Knoten für erscheinende Objekte nicht benötigt,
anhand der Gl. 25.23 und 25.24 sowie der in 25.38 da das Erscheinen von Objekten explizit durch die
gegebenen Zuordnungsgewichte aktualisiert. Multi-Objekt-Markov-Dichte realisiert wird.
466 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

Das Multi-Objekt-Bayes-Filter kann mittels Multi-Objekt-Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion


1 sequenziellen Monte-Carlo-(SMC-)Methoden im- durch eine Multi-Bernoulli-Verteilung approxi-
plementiert werden. Aufgrund des hochdimensi- miert und deren Parameter über die Zeit propagiert.
2 onalen Zustandsraumes ist die Anwendbarkeit je- Eine Multi-Bernoulli-Verteilung repräsentiert M
doch nur für eine geringe Objektanzahl gegeben. In Objekte durch M statistisch unabhängige Bernoul-
Anlehnung an die Constant-Gain-Approximation li-Verteilungen, wobei die Bernoulli-Verteilung
3 des Bayes-Filters wird in [3] zur Verringerung des jedes Objekts mit der Existenzwahrscheinlichkeit
Rechenaufwands eine Approximation der A-poste- r durch eine einelementige Menge mit räumlicher
4 riori-Multiobjekt-Verteilung durch das erste Mo- Verteilung p.x/ gegeben ist und das Objekt mit
ment vorgeschlagen (PHD-Filter). Während das Wahrscheinlichkeit 1  r nicht existiert. Eine An-
25 erste Moment einer Wahrscheinlichkeitsverteilung wendung des CB-MeMBer-Filters in der Fahrzeug­
durch den Mittelwert gegeben ist, ist das erste Mo- umfelderfassung wird beispielsweise in [12] und
ment der Multiobjekt-Verteilung durch eine Inten- [13] untersucht.
6 sitätsfunktion gegeben, wobei das Integral über die Das in [14] vorgestellte Delta-Generalized-La-
Intensitätsfunktion die geschätzte Objektanzahl im beled-Multi-Bernoulli-(δ-GLMB-)Filter ermöglicht
7 entsprechenden Bereich repräsentiert. Ein Nachteil eine analytische Implementation des Multi-Ob-
des PHD-Filters sind die starken Schwankungen jekt-Bayes-Filters, ist jedoch aufgrund seiner Kom-
der geschätzten Objektanzahl aufgrund des gerin- plexität nur als Referenzimplementation sowie als
8 gen Gedächtnisses des Filters und der Approxima- Ausgangspunkt für weitere Approximation geeig-
tion der Kardinalitätsverteilung durch eine Pois- net. Basierend auf dem δ-GLMB-Filters wurde in
9 son-Verteilung. Im Fall des Kalman-Filters wird [15] das Labeled-Multi-Bernoulli-(LMB-)Filter her-
eine höhere Schätzgüte durch die Repräsentation geleitet, welches signifikant bessere Tracking-Ergeb-
10 der Wahrscheinlichkeitsverteilung durch das erste nisse erzielt als die bislang genutzten Approximatio-
und zweite statistische Moment erreicht. Da eine nen des Multi-Objekt-Bayes-Filters und gleichzeitig
Approximation der Multi-Objekt-Verteilung durch eine echtzeitfähige Implementation ermöglicht. Die
11 das erste und zweite Moment sehr rechenintensiv Anwendung des LMB-Filters im Bereich der Fahr­
wäre, wird in [9] das Cardinalized-Probability-Hy- umgebungsrepräsentation ist Gegenstand aktueller
12 pothesis-Density-(CPHD-)Filter vorgestellt, das Forschungsarbeiten.
anstatt der Multi-Objekt-Verteilung die Intensi-
tätsfunktion sowie die Kardinalitätsverteilung über
13 die Zeit propagiert. Das CPHD-Filter stellt folglich 25.2.4 Eigenlokalisierung
eine teilweise Approximation der Multi-Objekt-Ver- und Einbeziehung
14 teilung durch das zweite statistische Moment dar. von digitalen Karten
Im Vergleich zum PHD-Filter zeichnet sich das
15 CPHD-Filter durch eine stabile Schätzung der Ob- Die maschinelle Wahrnehmung zur Objekterken-
jektanzahl aus, setzt jedoch ein genaues Wissen über nung und Objektverfolgung, wie im vorherigen
den Falschalarmprozess voraus, welches im Kontext Abschnitt beschrieben, kann durch A-priori-In-
16 der Fahrzeugumfelderfassung aufgrund der unter- formationen – beispielsweise über die Anzahl und
schiedlichen Umgebungssituationen nicht vorhan- Breite von Fahrstreifen, Fahrstreifenverzweigun-
17 den ist. gen, Abbiegungen und Kreuzungstopologien oder
Ein Nachteil des PHD- sowie des CPHD-Fil- aber auch die Position von Verkehrszeichen sowie
ters im Vergleich zu dem in ▶ Abschn. 25.2.3.3 Signalanlagen – maßgeblich verbessert werden.
18 eingeführten JIPDA-Filter ist die nicht vorhandene Auch wenn zurzeit verfügbare kommerzielle Kar-
Schätzung der Existenzwahrscheinlichkeit für die ten nur sehr wenige derartige Attribute enthalten,
19 beobachteten Objekte. Das Cardinality-Balan- ist es wahrscheinlich, dass automatisiertes Fahren
ced-Multi-Object-Multi-Bernoulli-(CB-MeMBer-) in komplexeren Umgebungen ohne eine derartige
20 Filter [11] ist ein weiterer Ansatz zur Approxima- Stützung der maschinellen Wahrnehmung nicht
tion des Multi-Objekt-Bayes-Filters, welches die möglich sein wird. Zudem profitiert eine Situati-
25.3 • Rasterbasierte Verfahren
467 25

onsbewertung durch Kartenwissen, da erkannte minimal eine gemeinsame globale Systemzeit not-
Objekte im Kontext des Verkehrsraumes bewertet wendig, auf die sich alle Messungen und weitere ein-
werden können. fließende Informationen beziehen. Hierdurch wird
Da digitale Karten absolut referenziert sind, sichergestellt, dass der Messzeitpunkt des jeweiligen
vornehmlich in UTM- oder WGS84-Koordinaten Sensors oder die einfließende externe Information
(siehe ▶ Kap. 27), erfordert die Nutzung der dort anderen Messungen zeitlich zuordenbar ist. Für die
eingetragenen Attribute allerdings eine hochgenaue in ▶ Abschn. 25.2.3 beschriebenen, auf der rekursi-
Eigenlokalisierung des Ego-Fahrzeugs in der Karte. ven Bayes-Filterung basierenden Filterverfahren ist
Die Genauigkeit von Standard-GNSS-Systemen ist beispielsweise eine Grundvoraussetzung, dass Mes-
hierfür nicht immer ausreichend. Zudem ist der sungen chronologisch korrekt eingebracht werden.
Empfang in bewohnten oder bewaldeten Gebie- Um dies sicherzustellen, muss gegebenenfalls auf ei-
ten durch Mehrwegeeffekte und Abschattung der nen langsameren Sensor, d. h. ein Sensor mit höhe-
Satelliten häufig stark beeinträchtigt. Da allerdings rer Latenz, gewartet werden, bevor die Messungen
auch nur die Position in der Karte entscheidend ist, in das Filter eingebracht werden können. Dieses als
lässt sich eine Eigenlokalisation anhand von mit Buffering bezeichnete Verfahren hat allerdings den
maschineller Wahrnehmung wiedererkennbarer Nachteil, dass der „langsamste“ Sensor die Latenz
und in der Karte verzeichneter Landmarken in der der Fahrumgebungsrepräsentation bestimmt. Aus
erforderlichen Genauigkeit erreichen. Ein einfach den Ausführungen wird allerdings auch deutlich,
zu realisierendes Beispiel ist die Bestimmung der dass eine derartige Latenz prinzipbedingt nicht
genauen lateralen Position in einem auch in der vermeidbar ist, die Fahrumgebungsrepräsentation
Karte verzeichneten Fahrstreifen. also der realen Situation immer zeitlich hinterher
Gelingt dieser Abgleich, können alle erkannten sein wird, was je nach Konfiguration im Bereich
dynamischen Objekte aus der objektbasierten Dar- mehrerer 100 ms liegen kann. Diese Latenz ist bei
stellung dem Kontext der Karte zugeordnet werden. der darauf aufbauenden Situationsprädiktion und
Üblich ist hier eine Strukturierung in Schichten Handlungsplanung einer Assistenzfunktion zu
(Layern), in der beispielsweise die untere Schicht berücksichtigen. Weitere Informationen über die
die Straßentopologie, höhere Schichten dann Fahr- Ursachen der auftretenden Latenzen sind beispiels-
streifen und weitere statische Attribute sowie eine weise in ▶ Kap. 24 enthalten.
übergeordnete Schicht die erfassten dynamischen
Objekte enthält. Eine Übersicht mit Schwerpunkt
GNSS gibt [16]. Spezielle Aspekte, insbesondere un- 25.3 Rasterbasierte Verfahren
ter Nutzung verschiedener Ausprägungen digitaler
Karten geben [17, 18, 19] und [20]. 25.3.1 Konzept der Rasterkarten

Rasterkarten (engl. grid maps) unterteilen die Fahr-


25.2.5 Zeitliche Aspekte zeugumgebung in Zellen. Jede dieser Zellen reprä-
sentiert einen Ort, über den diese Zelle Informa-
Neben der korrekten räumlichen Zuordnung be- tionen enthält. Die Unterteilung in Zellen ist eine
steht eine nicht minder große Herausforderung in räumliche Diskretisierung der Fahrzeugumgebung.
der Sicherstellung des korrekten zeitlichen Bezugs Wenn Sensordaten unterschiedlicher Sensoren
aller Elemente, die in die Fahrumgebungsrepräsen- Rückschlüsse auf den Zustand von Zellen zulassen,
tation einfließen. Letztere soll ja auch ein zeitlich entspricht die Kartierung in Rasterkarten außerdem
konsistentes Abbild der Realität beinhalten. einer indirekten Form der Sensordatenfusion.
Da die Sensoren zur maschinellen Wahrneh- Rasterkarten können in ihrer Ausprägung
mung in der Regel nicht synchronisiert beziehungs- grundsätzlich dahingehend unterschieden werden,
weise synchronisierbar sind und zudem aufgrund ob sie den Raum zweidimensional oder dreidimen-
der unterschiedlich komplexen Vorverarbeitungs- sional abbilden. Auch die Art der Information, die
stufen unterschiedliche Latenzen aufweisen, ist in den einzelnen Zellen gespeichert wird, und die
468 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

Größe und Form der Zellen variiert. Rasterkarten y


1 können auf ein stationäres, globales Koordinaten-
system bezogen sein oder auf ein fahrzeuglokales
2 Koordinatensystem und während des Betriebs (on-
line) oder in einem Nachbearbeitungsschritt (off-
line) erstellt werden. ψ2
3 Frühe Veröffentlichungen über Rasterkarten
zum Zwecke der Umgebungsmodellierung stam-
4 men aus dem Bereich der Robotik und beschreiben y2
zweidimensionale, zur Laufzeit erstellte Karten, ψ1
25 deren Zellen angeben, ob der Raum, den sie reprä-
sentieren, belegt oder frei ist [21, 2]. Diese Karten
werden als Belegungskarten (engl. occupancy grid
6 maps) bezeichnet. Auch wenn inzwischen eine Viel-
y1

zahl unterschiedlicher Ausprägungen von Raster-


7 karten vorgestellt wurde, bilden Belegungskarten x1 x2 x
nach wie vor eine wichtige Basis für viele Anwen-
dungen [22, 23]. .. Abb. 25.9  Pose des Fahrzeugs in der Rasterkarte zu zwei
8 In den folgenden Abschnitten wird beschrieben,
verschiedenen Messzeitpunkten

wie eine Rasterkarte erstellt werden kann: Dazu


9 muss bekannt sein, wo sich das Fahrzeug und des- steht darin, dass der Empfang nicht sichergestellt ist
sen Sensoren im Bezug zur Rasterkarte befinden. und die Genauigkeit der Positionsschätzung stark
10 Dies kann durch eine Eigenbewegungsschätzung er- schwankt. Es empfiehlt sich daher für viele An-
folgen. Die Erstellung von Belegungskarten erfolgt wendungen, den Bezug zwischen der Rasterkarte
vorrangig durch entfernungsmessende Sensoren und einem globalen Koordinatensystem beliebig
11 wie Laser- oder Radarsensoren. Darüber hinaus zu wählen und nur die Relativbewegung des Fahr-
wird auch auf die Erstellung von Rasterkarten auf zeugs zu berücksichtigen. Dies kann mithilfe der
12 Basis von Kameradaten eingegangen. Bewegte Ob- Koppelnavigation (auch Koppelortung oder engl.
jekte spielen eine besondere Rolle beim Aufbau von dead reckoning) erfolgen, die im Folgenden erläu-
Rasterkarten, insbesondere wenn Messungen über tert wird.
13 die Zeit gefiltert werden. Für die praktische Anwen- In . Abb. 25.9 ist die Fahrzeugpose zu zwei Zeit-
dung ist außerdem eine effiziente Speicherverwal- punkten .t1 ; t2 / ; t2 > t1 ; dargestellt. Zum Zeitpunkt
14 tung von Bedeutung. t1 sei die Fahrzeugpose p1 D Œx1 y1 1 T im Koor-
dinatensystem der Rasterkarte bekannt. Dabei ent-
15 25.3.2 Eigenbewegungsschätzung
sprechen x und y der Fahrzeugposition und der
Orientierung (auch Gierwinkel) des Fahrzeugs. Ziel
ist es nun eine Messung in die Rasterkarte einzu-
16 25.3.2.1 Berechnung tragen, die zum Zeitpunkt t2 aufgenommen wurde,
der Fahrzeugeigenbewegung wozu die Pose p2 zum Zeitpunkt t2 bestimmt wer-
17 durch Koppelnavigation den muss. Dabei seien die Geschwindigkeit v und
Um eine konsistente Rasterkarte zu erstellen ist die Gierrate P des Fahrzeugs messbar. Außerdem
es notwendig, die Eigenbewegung des Fahrzeugs wird zunächst angenommen, dass sich das Fahrzeug
18 zu berücksichtigen. Für die Erstellung einer zwei- zu jedem Zeitpunkt ausschließlich in Richtung des
dimensionalen Rasterkarte ist dazu die Schätzung Gierwinkels bewegt.
19 der Pose (Position und Orientierung) notwendig.
Eine einfache Möglichkeit, die absolute Fahr-
20 zeugposition zu schätzen, ergibt sich aus der Nut-
zung von GNSS. Der Nachteil dieser Methode be-
25.3 • Rasterbasierte Verfahren
469 25

Für die Posenänderung des Fahrzeugs gilt damit Schwimmrate [24]. Außerdem können diese Grö-
2 3 2 3 ßen mithilfe eines physikalischen Fahrzeugmodells
xP v cos. / geschätzt werden [25].
6 7 6 7
6 yP 7 D 6v sin . /7 ;
4 5 4 5 25.3.2.2 Alternativen zur
P P (25.40) Eigenbewegungsschätzung
mittels Koppelnavigation
womit sich die Fahrzeugpose p2 durch Je nach Anwendungszweck der Rasterkarte bieten
2 3 sich unterschiedliche Methoden zur Schätzung der
Zt2 xP .t/ Eigenbewegung an. Mithilfe der Koppelnavigation
6 7 lassen sich Rasterkarten aufbauen, die eine hohe re-
p2 D p1 C 6 yP .t/ 7 dt
4 5 lative Genauigkeit aufweisen, sofern extreme Fahr-
t1 P .t /
(25.41) manöver ausgeschlossen sind, die die Schwimm-
winkelschätzung beeinträchtigen. Da sich Fehler der
berechnet. Es folgt die Annahme, dass sich das Eigenbewegungsschätzung aufsummieren, weisen
Fahrzeug im Zeitintervall Œt1 ; t2  mit konstanter die entstehenden Rasterkarten allerdings eine Ver-
Geschwindigkeit v und konstanter Gierrate P ¤ 0 zerrung gegenüber dem realen Fahrzeugumfeld auf,
auf einer Kreisbahn bewegt, wobei t WD t2  t1 . die zumeist mit der zurückgelegten Strecke zunimmt.
In diesem Fall kann das Integral von (25.41) gelöst Diese Rasterkarten sind daher vorwiegend zur Ab-
werden und es ergibt sich bildung der Fahrzeugumgebung innerhalb eines
begrenzten räumlichen Bereichs geeignet, z. B. eines
p2 D Straßenabschnitts von wenigen hundert Metern.
2 3 Ein anderer Anwendungszweck ist das Kartie-
v
.sin. 1 C P t/  sin . 1 // ren von Umgebungen, wobei das Fahrzeug eine
6 P 7
6 7 Stelle mehrmals passiert, wie beispielsweise auf ei-
p1 C 6 v . cos. 1 C P t/ C cos. 1 //7:
4P 5 nem Parkplatz. Beim Wiedereintreten in bereits kar-
P t
(25.42) tiertes Gebiet können Verzerrungen in der Raster-
karte störende Auswirkungen haben. Für diese Fälle
Bei einer Geradeausfahrt mit P D 0 gilt eignen sich Verfahren, bei welchen die Schätzung
2 3 der Fahrzeugpose zusätzlich zur Onboard-Sensorik
vt cos . 1/ durch hochgenaue GPS-Messungen gestützt wird.
6 7 Darüber hinaus bieten SLAM-Verfahren (engl.
p2 D p1 C 6
4 vt sin.
7
1/ 5 :
für simultaneous localization and mapping) die
0 (25.43) Möglichkeit, die Messdaten umgebungserfassen-
der Sensoren in die Eigenbewegungsschätzung mit
Die Schätzung der Geschwindigkeit v und der Gier- einzubeziehen. Diese Verfahren sind rechenaufwen-
rate P erfolgt meist durch Messung der Raddreh- diger, wobei auch recheneffiziente Approximationen
zahlen bzw. mittels eines Drehratensensors. existieren [2].
Das Fahrzeug bewegt sich nur näherungsweise
in Richtung des Gierwinkels. Die eigentliche Be-
wegungsrichtung wird durch den Kurswinkel  25.3.3 Algorithmen zur Erzeugung
angegeben, welcher sich um die dynamische Größe von Belegungskarten
des Schwimmwinkels ˇ vom Gierwinkel unter-
scheidet:  D  ˇ . Sind Schwimmwinkel und Für eine Vielzahl aktueller und zukünftiger Fah-
Schwimmrate des Fahrzeugs bekannt, so kann auf rerassistenzsysteme sind Informationen über den
die Annäherung der Kursrate durch die Gierrate befahrbaren Raum im Fahrzeugumfeld Vorausset-
verzichtet werden. Optische Messverfahren ermög- zung. An dieser Stelle ist mit befahrbarem Raum das
lichen die Schätzung des Schwimmwinkels und der Gebiet gemeint, das vom Fahrzeug befahren werden
470 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

kann, ohne dass es zu einer Kollision kommt. Bele-


1 gungskarten bieten die Möglichkeit detailliert abzu-
bilden, welcher Bereich des Fahrzeugumfeldes von
2 Hindernissen belegt ist. Dabei eignen sich klassische
Belegungskarten insbesondere zur Abbildung stati-
scher oder langsam veränderlicher Umgebungen.
3
25.3.3.1 Nutzung von Lidar-
4 oder Radardaten
Zur Erstellung von Belegungskarten eignen sich
25 vorrangig entfernungsmessende Sensoren, da sie
einen direkten Rückschluss auf den Belegungszu-
stand einzelner Zellen zulassen. Das Grundkonzept
6 lässt sich durch das folgende vereinfachte Beispiel
erläutern. . Abbildung 25.10 zeigt schematisch den
7 Rückschluss einer Messung mithilfe eines mehr-
strahligen Lidarsensors (siehe ▶ Kap. 18) auf eine
.. Abb. 25.10  Vereinfachte Belegungskarte auf Basis der
zweidimensionale Belegungskarte. Lidarstrahlen
8 werden von Hindernissen reflektiert, woraus sich
Messung eines mehrstrahligen Lidarsensors

Belegungen in entsprechenden Zellen folgern lassen


9 (schwarz dargestellt). Zellen, die zwischen dem Sen- sches inverses Sensormodell für eine einstrahlige
sor und den Reflexionspunkten liegen, werden als Entfernungsmessung mittels Lidar.
10 frei (weiß dargestellt) angenommen. Über den Be- Der linke Teil zeigt die Belegungswahrschein-
legungszustand weiterer Zellen lässt diese Messung lichkeit p.o/ in Abhängigkeit des Abstands r vom
keinen Rückschluss zu (grau dargestellt). Entspre- Sensor. Die einzelnen Zellen werden hierbei unab-
11 chende Modelle nennt man inverse Sensormodelle, hängig voneinander modelliert. Zellen im Bereich
die allerdings im Allgemeinen sehr viel komplexer des Reflexionspunktes erhalten eine Belegungs-
12 sind. Ein Beispiel für ein probabilistisches inverses wahrscheinlichkeit, die oberhalb von 0,5 liegt.
Sensormodell wird im Folgenden beschrieben. Dagegen ist die Belegungswahrscheinlichkeit der
Zellen zwischen dem Sensor und dem Reflexions-
13 Inverse Sensormodelle Sensormessungen sind punkt geringer als 0,5. Dieser Bereich wird oft als
grundsätzlich mit Unsicherheiten behaftet. Eine Freiraum (engl. free space) und der entsprechende
14 eindeutige Aussage über die Belegung einer Zelle Teil des inversen Sensormodells als Freiraumfunk-
aufgrund einer Messung lässt sich daher nicht tref- tion bezeichnet. Durch das inverse Sensormodell
15 fen. Vielmehr wird für jede Zelle die Belegungs- wird die Messgenauigkeit des Sensors berücksich-
wahrscheinlichkeit p.o/ berechnet. Hierbei be- tigt sowie die Unsicherheit der Schätzung der Fahr-
schreibt o das Ereignis, dass die Zelle belegt ist. Die zeugpose in der Rasterkarte. Daher werden neben
16 Wahrscheinlichkeit für das Gegenereignis f D o der Zelle, in der der Reflexionspunkt liegt, mehreren
(die Zelle ist frei) entspricht der Gegenwahrschein- Zellen erhöhte Belegungswahrscheinlichkeiten mit
17 lichkeit: p.f / D 1  p.o/. Dabei wird davon aus- p.o/ > 0;5 zugeordnet. Bei diesem Beispiel wird
gegangen, dass sich der Belegungszustand einer der Freiraum als gewisser angenommen, je näher er
Zelle über die Zeit nicht ändert, sie also entweder am Sensor liegt. Dadurch wird abgebildet, dass die
18 belegt oder frei ist. Wahrscheinlichkeit von Fehlmessungen mit dem
Ein probabilistisches inverses Sensormodell gibt Abstand zum Sensor zunimmt. Ebenfalls berück-
19 an, welche Belegungswahrscheinlichkeit aufgrund sichtigt werden Unsicherheiten, die durch die zwei-
einer Sensormessung für eine Zelle gilt. . Abbil- dimensionale Modellierung der dreidimensionalen
20 dung 25.11 zeigt ein Beispiel für ein probabilisti- Fahrzeugumgebung entstehen. Beispielsweise wer-
25.3 • Rasterbasierte Verfahren
471 25
.. Abb. 25.11  Beispiel für
p(o)
ein inverses Sensormodell
1
einer einzelnen Lidarreflexi-
on aus seitlicher Perspek- p(o)
tive (links) und Vogelpers- 1
pektive (rechts)

0,5

0
r 0

den Hindernisse nicht erkannt, wenn sie aufgrund ▶ Kap. 17) variieren auch die entsprechenden in-
ihrer Größe oder aufgrund von Nickbewegungen versen Sensormodelle stark. Ein einfaches Sen-
des Fahrzeugs unterhalb der Lidarstrahlen liegen. sormodell kann erstellt werden, indem lediglich
Dies ist ein weiterer Grund für die abnehmende Intensitätsmessungen des Radars als Belegungen
Sicherheit des Freiraums. Die Modellierung in in die Belegungskarte eingetragen werden und auf
Azimutrichtung erfolgt analog. Der rechte Teil der eine Freiraumfunktion verzichtet wird. Dies führt
. Abb. 25.11 zeigt das inverse Sensormodell aus der allerdings dazu, dass Belegungswahrscheinlichkei-
Vogelperspektive. ten grundsätzlich nur erhöht werden können. Dem
In diesem Beispiel eines inversen Sensormo- kann durch einen Vergessensfaktor entgegenge-
dells wird jeder Lidarstrahl einzeln modelliert, was wirkt werden, auf den in ▶ Abschn. 25.3.4 genauer
nicht grundsätzlich der Fall ist. Dies hat Einfluss eingegangen wird.
auf den Kartierungsalgorithmus, der für jede Zelle
die Belegungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Kombination mithilfe des statischen Binary-Bayes-Fil-
gesamten Lidarmessung bestehend aus vielen ein- ters  Liegt über die Belegung einer Zelle noch keine
zelnen Strahlen berechnet. Grundsätzlich ist das Information vor, so wird die Belegungswahrschein-
Ziel beim Entwurf des inversen Sensormodells, lichkeit zu p.o/ D 0;5 angenommen. Dies ist der
die Eigenschaften des Sensors möglichst genau Initialwert jeder Zelle. Stehen für eine Zelle mehr als
abzubilden und dabei die Komplexität und den nur eine Informationsquelle über deren Belegung
Rechenaufwand für den Kartierungsalgorithmus zur Verfügung, so werden diese Informationen mit-
gering zu halten. Es sind auch Verfahren bekannt, einander kombiniert. Je nach inversem Sensormo-
mithilfe derer inverse Sensormodelle eingelernt dell kann dies auftreten, wenn Teile der Messung
werden [2]. einzeln verarbeitet werden, wie beim vorangegange-
Inverse Sensormodelle für Radarsensoren un- nen Beispiel die einzelnen Lidarstrahlen. Abhängig
terscheiden sich dadurch, dass Radarreflexionen vom Anwendungszweck werden häufig auch meh-
auch durch Objekte hindurch möglich sind. Frei- rere zeitlich aufeinanderfolgende Messungen in eine
raumfunktionen für Radarsensoren sind daher Belegungskarte eingearbeitet.
komplexer. Unsicherheiten in der Azimutkompo- Unter bestimmten Annahmen lassen sich
nente sind bei Radarsensoren in der Regel größer mehrere Messungen zi mithilfe des statischen
als bei Lidarsensoren. Außerdem liegen Radarmes- Binary-Bayes-Filters kombinieren:
sungen oft selbst in Form einer Rasterkarte vor, die Gegeben seien zwei bedingte Wahrschein-
allerdings sensorlokal und in Polarkoordinaten lichkeiten p .ojz1 / ; p .ojz2/ 2 .0; 1/ . Die Mes-
aufgebaut ist. Aufgrund der unterschiedlichen Ei- sungen z1 ; z2 seien unabhängig. Unter der An-
genschaften verschiedener Radarsensoren (siehe nahme gleicher A-priori-Wahrscheinlichkeit
472 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

p .o/ D p .o/ D 0;5 gilt für die kombinierte be-


1 dingte Wahrscheinlichkeit [2]:
Eintritt einer Messung zum Zeitpunkt ti

p.ojz1 ; z2 / D
2 p.ojz1 /p.ojz2 /
Schätzung der Sensorposition in Rasterkarte
zum Zeitpunkt ti
:
p.ojz1 /p.ojz2 /C.1p.ojz1 //.1p.ojz2 // (25.44)
3 Für jeden Lidarstrahl zh:

Die Kombinationsregel in Gl. 25.44 besitzt folgende


4 Eigenschaften:
Für jede betroffene Zelle:

Berechnung p(o|zh) gemäß


25 p .ojz1 ; z2 / > p .ojz1 / ,p .ojz2 / > 0;5;(25.45) inversem Sensormodell

p .ojz1 ; z2 / D p .ojz1 / ,p .ojz2 / D 0;5;(25.46)


6 Berechnung der Kombination
p(o|zh , zh-1, ..., z1) mit Prior
p .ojz1 ; z2 / D p .ojz2 ; z1 / :(25.47) aus letztem Zeitschritt
7
Eine Belegungswahrscheinlichkeit p .ojz2 / > 0;5
erhöht eine bisherige Belegungswahrscheinlichkeit.
8 Eine Belegungswahrscheinlichkeit p .ojz2 / D 0;5 .. Abb. 25.12  Ablaufplan eines Kartierungsalgorithmus

entspricht dem neutralen Element und die Reihen-


9 folge der Kombination spielt keine Rolle. p .o/ D 1 
1
:
Mithilfe der Kombinationsregel in Gl.  25.44 1 C e l.o/ (25.50)
10 können Messungen unterschiedlicher Sensoren
oder unterschiedlicher Zeitpunkte miteinander Im Bereich der Rasterkartierung etabliert sich au-
kombiniert werden. Eine hierbei wichtige Annahme ßerdem zunehmend die Verwendung der Dempster-­
11 für die praktische Realisierung der Rasterkarte ist Shafer-Evidenztheorie [26, 27, 22, 28]. Diese erlaubt,
jedoch die Unabhängigkeit einzelner Zellen. Abhän- zwischen Unsicherheit im Sinne der Wahrscheinlich-
12 gigkeiten zwischen den Zellen sind in der Realität keitstheorie und Unwissenheit durch Mangel an In-
gegeben und können prinzipiell berücksichtigt wer- formation zu differenzieren. Dadurch werden Raster-
den, erhöhen den Rechenaufwand für die Erstellung zellen, über die noch keine Informationen vorliegen,
13 der Rasterkarte jedoch enorm. unterschieden von Zellen, deren Zustand auch nach
Aus praktischen Gründen ist es üblich, die Be- Kombination mehrerer, möglicherweise auch wider-
14 legungswahrscheinlichkeit in logarithmischer Form sprüchlicher Messungen unsicher ist.
zu speichern (engl.: log-odds ratio):
15 
p .o/
 Ablauf der Kartierung  Ein Ablaufplan des Kartie-
l .o/ WD log : rungsalgorithmus für das vorgestellte inverse Sen-
1  p .o/ (25.48) sormodell ist in . Abb. 25.12 dargestellt.
16 Eine Lidarmessung besteht bei diesem Beispiel
Der Vorteil besteht darin, dass die Kombinationsre- aus mehreren einzelnen Strahlen. Tritt eine Mes-
17 gel in Gl. 25.44 in der logarithmischen Darstellung sung ein, die zum Zeitpunkt ti aufgenommen wurde,
durch eine Addition ausgeführt werden kann: so wird zunächst die Sensorpose innerhalb der Ras-
terkarte zum Zeitpunkt ti geschätzt. Daraufhin wird
18 l .ojz1 ; z2 / D l .ojz1/ C l .ojz2/ :(25.49) jeder Strahl zh einzeln in die Rasterkarte eingearbei-
tet. Dazu wird zunächst für jede betroffene Zelle die
19 Es gelten die gleichen Bedingungen wie für Belegungswahrscheinlichkeit p .ojzh / gemäß dem
Gl. 25.44. Die Rücktransformation erfolgt durch inversen Sensormodell berechnet und mit der Be-
20 legungswahrscheinlichkeit p .ojzh1; : : : ; z1 /, die
sich aus den bisherigen Lidarstrahlen ergeben hat,
25.3 • Rasterbasierte Verfahren
473 25

.. Abb. 25.13  Rasterkarte einer realen Fahrzeugumgebung

kombiniert. Als Prior wird dabei für jede Zelle die Sensor liegen, da es insbesondere im Straßenum-
Belegungswahrscheinlichkeit verwendet, die sich feld vorkommt, dass Lidarstrahlen auf Objekte tref-
im letzten Zeitschritt ergeben hat. fen, ohne dass eine Reflexion gemessen wird. Dies
Eine Belegungskarte, die auf Basis eines ähnli- kann bei schwarzen, matten Lackierungen auftreten
chen inversen Sensormodells erstellt wurde, ist in oder an glatten Oberflächen wie Leitplanken, die in
. Abb. 25.13 dargestellt. Bei dem verwendeten Sen- einem spitzen Winkel getroffen werden. Weitere
sor handelt es sich um einen mehrstrahligen Lidar Hinweise und Beispiele für Kartierungsalgorithmen
von Ibeo (Ibeo LUX3, 4 Scan-Ebenen). finden sich in [2].

Praktische Aspekte zur Erstellung von Belegungskar- 25.3.3.2 Nutzung von Kameradaten
ten  Ein grundsätzliches Problem bei der Erstellung Auch Kameradaten lassen sich zur Erstellung von
von Belegungskarten ist die Tatsache, dass sich das Rasterkarten nutzen. Stereoskopische Kameras er-
Fahrzeugumfeld zeitlich verändert. Darauf wird ge- möglichen eine dichte Entfernungsmessung im na-
sondert in ▶ Abschn. 25.3.4 eingegangen. hen Erfassungsbereich des Sensors. Daher eignen
Zweidimensionale Rasterkarten und zweidi- sich diese Sensoren auch zur Erstellung dreidimen-
mensionale inverse Sensormodelle bilden nur ei- sionaler Rasterkarten. Ein verwandter Ansatz, bei
nen Teil des dreidimensionalen Fahrzeugumfelds dem das Fahrzeugumfeld durch sogenannte Stixel
ab. Dies kann zu Widersprüchen führen, wenn zum abgebildet wird, ist in ▶ Kap. 19 beschrieben.
Beispiel die Strahlen eines Lidarsensors zum einen Monoskopische Kameras bieten keine dreidi-
Zeitpunkt unterhalb eines Straßenschildes oder ei- mensionale Information. Jedes Pixel eines Bildes
ner Brücke verlaufen und im nächsten Zeitpunkt wird nach dem Lochkameramodell einem Strahl
das jeweilige Objekt erfassen und reflektiert werden. im dreidimensionalen Raum zugeordnet. Unter
Auch das Höhenprofil der Umgebung selbst kann bestimmten Annahmen lässt sich dennoch eine
die Rasterkarte beeinflussen. Transformation zwischen einem Bildpixel und der
In dem Beispiel für ein inverses Sensormodell Koordinate einer zweidimensionalen Rasterkarte
wurde offen gelassen, wie ein Strahl modelliert wird, herleiten. Die Annahmen sind, dass die Fahr-
der keine Reflexion erzeugt. Oftmals wird in einem bahnoberfläche, auf der sich das Auto befindet, eben
solchen Fall bis zu einer gewissen maximalen Ent- ist, dass die Kamerahöhe über dem Boden konstant
fernung Freiraum für die Zellen berechnet, die vom ist und dass das Fahrzeug keinerlei Nick- und Roll-
Strahl geschnitten werden. Allerdings ist die Frei- bewegungen ausführt. Diese Annahmen werden im
raumwahrscheinlichkeit für solche Zellen geringer Englischen als flat world assumption zusammenge-
als für jene, die zwischen einer Reflexion und dem fasst. Um die Transformation berechnen zu kön-
474 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

1 Videobild
Transformation Kartierung
2
3
Erkennungsbereich
4
Rasterkarte Einzelmessung Rasterkarte
25
.. Abb. 25.14  Straßenmarkierungen als Belegungen in Rasterkarten

6 nen, muss die dreidimensionale Pose der Kamera aufgenommen wurden, trifft diese Annahme nä-
in den um die dritte räumliche Achse erweiterten herungsweise zu, da eine Zelle ihren Belegungszu-
7 Rasterkartenkoordinaten bekannt sein. Diese ergibt stand in diesem kurzen Zeitintervall nicht ändert.
sich aus der Fahrzeugpose und der extrinsischen Im Allgemeinen und unter Betrachtung eines
Kamerakalibrierung. Die intrinsische Kameraka- größeren Zeitintervalls trifft diese Annahme für
8 librierung erlaubt schließlich die Transformation das Fahrzeugumfeld allerdings nicht zu, sondern
aus einem dreidimensionalen, auf die Kamera be- wird durch das Vorhandensein dynamischer Ob-
9 zogenen Raum auf einen Pixel im Bild der Kamera jekte verletzt. In der Literatur werden unterschied-
(siehe ▶ Kap. 21). Insgesamt lässt sich damit jeder liche Ansätze beschrieben, dynamische Objekte in
10 Punkt auf der zweidimensionalen Fahrbahnober- Rasterkarten zu behandeln. Grundsätzlich kann
fläche einem Bildpixel zuordnen, sofern er im Er- dabei zwischen Ansätzen unterschieden werden,
fassungsbereich der Kamera liegt. Dieser Vorgang bei denen dynamische Objekte lediglich gefiltert
11 wird im Englischen als inverse perspective mapping werden sollen, um Fehlabbildungen in der Raster-
(IPM) bezeichnet. karte zu vermeiden, und Ansätzen, bei denen die
12 Durch das IPM lassen sich Kameradaten in Rasterkarte dazu genutzt wird, dynamische Objekte
Rasterkarten einbringen. Beispiele sind Grauwerte zu erkennen und damit vom statischen Umfeld zu
oder im Videobild klassifizierte Objekte. . Abbil- unterscheiden.
13 dung 25.14 zeigt eine Anwendung des IPM für die Eine einfach zu implementierende Methode
Erstellung einer Rasterkarte [20]. Die Belegungs- der ersten Art ist die Einführung eines Vergessens-
14 wahrscheinlichkeit einer Zelle entspricht hier der faktors. Dabei wird der Rückschluss auf die Bele-
Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein einer gungswahrscheinlichkeit einer Zelle nicht nur von
15 Straßenmarkierung. Ein Klassifikationsalgorithmus räumlichen, sondern auch von zeitlichen Verhält-
detektiert Straßenmarkierungen, die gemäß eines nissen abhängig gemacht. Der Rückschluss auf die
geeigneten inversen Sensormodells in die Raster- Belegungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Mes-
16 karte eingebracht werden. sung ist damit unsicherer, je länger eine Messung
zeitlich zurückliegt. Zeitlich kürzer zurückliegende
17 Messungen gehen also stärker gewichtet in die
25.3.4 Behandlung von bewegten Schätzung der Belegungswahrscheinlichkeit ein als
Objekten Messungen, die zeitlich länger zurückliegen.
18 In vielen Anwendungen werden Rasterkarten
Eine Voraussetzung für die Anwendbarkeit des sta- auch explizit dazu genutzt, dynamische Objekte
19 tischen Binary-Bayes-Filters ist die Annahme, dass zu erkennen. Dies geschieht in der Regel durch die
eine Zelle ihren Belegungszustand nicht ändert, sie Ermittlung der zeitlichen Konsistenz der Belegungs-
20 also entweder belegt oder frei ist. Für die Kombina- wahrscheinlichkeit von Zellen. Zellen, die konsis-
tion einzelner Lidarstrahlen, die alle fast zeitgleich tent belegt oder frei sind, werden dem statischen
25.4  •  Architekturen und hybride Darstellungsformen
475 25

Umfeld zugeordnet und Zellen, bei denen die Bele- 25.4 Architekturen und hybride
gungswahrscheinlichkeit stark schwankt, als dyna- Darstellungsformen
misch belegte Bereiche gekennzeichnet. Insbeson-
dere werden häufig Belegungen, die in einem zuvor Objektbasierte Darstellungen und Rasterkarten sind
als frei erkannten Bereich auftreten, als Detektionen Abbildungen des Fahrzeugumfelds, die jeweils le-
dynamischer Objekte behandelt. Dies dient meist als diglich einen Teil des gesamten Umfelds beinhalten.
Vorverarbeitungsschritt für Trackingalgorithmen Objektbasierte Darstellungen repräsentieren unter
[29, 22, 23]. Aufwändigere Systemarchitekturen anderem die Position und Geschwindigkeit einzel-
sehen eine noch stärkere Abhängigkeit zwischen ner Objekte und beruhen auf Prozessmodellen, die
Rasterkarten und Trackingalgorithmen vor, worauf Prädiktionen in die nähere Zukunft erlauben. Die
in ▶ Abschn. 25.4 weiter eingegangen wird. Abbildung des Fahrzeugumfelds erstreckt sich da-
mit auch über einen zeitlichen Bereich. Im Gegen-
satz dazu wird für die Erstellung klassischer Bele-
25.3.5 Effiziente Speicherverwaltung gungskarten ein stationäres Umfeld angenommen.
Dynamische Objekte verletzen diese Annahme.
Die Datenmenge pro Fläche der Umgebung ist Belegungskarten fusionieren und speichern Infor-
durch die Rasterauflösung und die Datenmenge pro mationen nicht objekt- sondern ortsbezogen und
Rasterzelle fest bestimmt. Die Anordnung in Zellen bilden das Umfeld im gesamten räumlichen Erfas-
ermöglicht darüber hinaus den direkten Zugriff auf sungsbereich der Sensoren ab. Als ein dritter Teil der
alle Informationen einen Ort betreffend über dessen Fahrzeugumgebung kann die Straßentopologie an-
Koordinaten. Werden im Vergleich dazu Messda- gesehen werden. Die Straßentopologie kann durch
ten in ihrer Rohdatenform gespeichert, müssen zur Objekte repräsentiert werden. Allerdings handelt es
Auswertung eines Ortes zunächst diejenigen Mess- sich hierbei um einen statischen Teil des Umfelds. Je
daten gesucht werden, die einen Rückschluss auf die nach Anwendung wird die Straßentopologie wäh-
gesuchte Eigenschaft eines Ortes zulassen. rend der Fahrt erkannt. Dies ist insbesondere in stark
Um besonders schnell auf eine Rasterzelle über strukturierten Umgebungen wie Autobahnen mög-
deren Koordinaten zugreifen zu können, bietet es lich. Komplexere Straßentopologien, die nicht online
sich an, die Rasterkarte im Speicher in Form eines erkannt werden können, werden häufig in digitalen
Arrays anzulegen. Eine Zelle kann dann direkt über Karten gespeichert. Ein Lokalisierungsalgorithmus
ihren Index angesprochen werden. Ein Nachteil ermöglicht die Ermittlung der Fahrzeugposition in
hierbei ist jedoch, dass je nach angelegter Größe der digitalen Karte, wodurch die Straßentopologie in
der Karte auch für Zellen Speicher reserviert wird, Bezug zum Fahrzeug zur Verfügung steht.
die zu keinem Zeitpunkt innerhalb der Sensorreich- Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften
weite liegen und daher keine Information enthalten. stellt sich die Frage, wie diese unterschiedlichen
Ein Lösungsansatz für dieses Problem ist die Un- Domänen der Umgebungsrepräsentation gewinn-
terteilung der globalen Rasterkarte in Kacheln, von bringend miteinander kombiniert werden können.
denen nur diejenigen in den Arbeitsspeicher gela- Auf eine Auswahl an Ansätzen wird in diesem Ab-
den werden, die sich in unmittelbarer Umgebung schnitt eingegangen.
des Fahrzeugs befinden [30].
Ein anderer Ansatz sieht die Verwendung von Bayesian-Occupancy-Filter (BOF)  Das Bayesian-Oc-
Octrees vor [31]. Diese Datenstruktur erlaubt es, cupancy-Filter (deutsch: Bayes’sches Belegtheitsfil-
eine unterschiedliche Zellgröße für unterschiedli- ter) unterteilt die Umgebung ebenfalls in einzelne
che Bereiche zu verwenden. Dies ermöglicht einen Zellen, verzichtet aber auf die Annahme einer
höheren Detailgrad in wichtigen Bereichen (nahe stationären Umgebung [32]. Stattdessen wird ein
des Fahrzeugs) durch eine kleinere Zellgröße, wäh- vierdimensionaler Raum verwendet, der aus zwei
rend in anderen Bereichen durch größere Zellen räumlichen Koordinaten und zwei Koordinaten für
Speicherplatz eingespart werden kann. die Geschwindigkeit jeweils entlang der räumlichen
Koordinaten besteht. Eine Zelle ist daher einem
476 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

1 Objekt-
verfolgung
Sensor-
daten
Segmen-
tierung
Lidar-Segmente

2 Datenassoziation
Objekt- Objektliste
extraktion
3 Zuordbare Andere
Segmente Segmente
Bayesian- Objekt-
4 Occupancy- verfolgung
Dynamische
Filter
Segmente Erkennung
25 dynamischer
Objekte
Straßen-
topologie Rasterkarte
6 Kartierungs-
algorithmus Statische
Segmente

7 Sensordaten .. Abb. 25.16 Simultaneous-Localization-and-Map-
ping-and-Moving-Object-Tracking: Ablauf

8 .. Abb. 25.15  Bayesian-Occupancy-Filter und Erweiterungen


Simultaneous-Localization-and-Mapping-and-Mo-
zur Erfassung des Fahrzeugumfelds
ving-Object-Tracking (SLAMMOT) Der unter die-
9 sem englischen Begriff bekannte Algorithmus ad-
zweidimensionalen Ort und einem zweidimensio- ressiert das Problem, aus Sensordaten eines Lidars
10 nalen Geschwindigkeitsvektor zugeordnet. Damit gleichzeitig die Eigenbewegung zu schätzen, eine
kann ein Bayes-Filter bestehend aus Prädiktion und Rasterkarte aufzubauen und dynamische Objekte
Innovation umgesetzt werden. Diese Umgebungs- zu verfolgen [35]. Die entsprechende Systemarchi-
11 darstellung ist ebenfalls frei von Objektannahmen, tektur ist in . Abb. 25.16 dargestellt. Die Idee des
für die Prädiktion muss jedoch ein Markov-Prozess Ansatzes ist es, die Rasterkarte zur Detektion dyna-
12 angenommen werden, der einen Zustandsübergang mischer Objekte zu verwenden. Lidarsegmente dy-
abbildet. Hierfür sind Prozessannahmen notwendig namischer Objekte werden nicht in die Rasterkarte
wie beispielsweise eine konstante Geschwindigkeit. eingetragen, sondern als Objektdetektionen für die
13 Der Abstraktionsgrad des Bayesian-Occupancy-Fil- Objektverfolgung verwendet. Der Ablauf des Algo-
ters ist damit höher als bei klassischen Belegungs- rithmus gestaltet sich wie folgt: Zunächst werden
14 karten und auch der Rechenaufwand ist größer, die einzelnen Reflexionspunkte einer Lidarmessung
wobei auch dynamische Vorgänge des Umfelds be- segmentiert. Die Segmentierung erfolgt auf Basis
15 rücksichtigt und erfasst werden. der räumlichen Punktdichte. In einem Assoziati-
onsschritt werden Lidarsegmente bereits verfolgten
Für die Anwendung zur Erfassung des Fahrzeugum- Objekten zugeordnet. Nicht zuordenbare Segmente
16 felds existieren Erweiterungen, bei denen räumli- werden in der Rasterkarte dahingehend überprüft,
che Bereiche mit einer hohen Dynamik zu Objekten ob es sich dabei um Reflexionen dynamischer oder
17 zusammengefasst und mit klassischen Objekt-Tra- stationärer Objekte handelt. Reflexionen statischer
cking-Ansätzen verfolgt werden [33]. Zusätzliche Objekte werden in die Rasterkarte eingetragen, wo-
Erweiterungen berücksichtigen die Straßentopolo- hingegen Reflexionen dynamischer Objekte genutzt
18 gie, um damit Einfluss auf den Prädiktionsschritt werden, um neue Objekte für die Objektverfolgung
zu nehmen [34]. Damit soll abgebildet werden, dass aufzusetzen. Zusätzlich hierzu werden Reflexionen
19 die Straßentopologie Einfluss auf die Bewegungs- statischer Objekte genutzt, um die Eigenbewegung
richtung der Verkehrsteilnehmer hat. Die Gesamt- des Fahrzeugs zu schätzen, worauf hier nicht ge-
20 architektur dieses Ansatzes zur Umfelderfassung ist nauer eingegangen wird.
in . Abb. 25.15 dargestellt.
25.5 • Zusammenfassung
477 25
.. Abb. 25.17 Hierarchi-
sche Umfelderfassung Prepro- Objekt-
Vorver-
cessing Tracking Objektliste
arbeitung
●●●

1 2 3
3
Umgebungsmodell
Schätzung der
Prepro-
Vorver- Straßen- Straßen-
Sensor cessing
arbeitung topologie topologie
Kombinaon zu
Sensor-Rohdaten
●●
konsistentem
1 2 Umgebungs- Informaons-
Raw Data

2
modell fluss
●●●●
Prepro- Raster- Modulergebnis
Vorver- Raster-
cessing karerung
arbeitung karte
● Funkonales
Modul
1
1

Prepro- Schätzung
Vorver- Eigen-
cessing der Eigen-
arbeitung bewegung
bewegung

Ein verwandter Ansatz wird in [36] vorgestellt, eines untergeordneten Moduls zurückgreifen. Die
wobei dort Objektverfolgung und Rasterkarte noch Reihenfolge der Module ergibt ein Schema, dem eine
stärker voneinander abhängig sind. Dazu werden Vielzahl der Architekturen folgt, die in der Literatur
Reflexionen dynamischer Objekte ebenfalls in die bekannt sind. Alle bisher vorgestellten Architekturen
Rasterkarte eingetragen, allerdings wird zu jedem und viele mehr beruhen beispielsweise darauf, eine
verfolgten Objekt eine Liste an zugehörigen Zellen Rasterkarte als Basis für das Objekt-Tracking zu ver-
gespeichert. Dadurch kann die Bewegung entspre- wenden, meistens zur Erkennung bewegter Objekte.
chender Zellen anhand ihrer zugehörigen Objekte Ebenso basieren viele Lokalisierungsalgorithmen auf
abgeschätzt werden, was eine Prädiktion der Raster- Rasterkarten [38]. Die Hierarchiereihenfolge ist au-
karte in die Zukunft ermöglicht. ßerdem insofern nachvollziehbar, als sie dem Ab-
Hierarchische Fahrzeugumfelderfassung straktionsgrad der Module folgt. Rückkopplungen
Wie anfangs zu diesem Kapitel erläutert, stellen sind ausgeschlossen, wodurch sich einige Einschrän-
wirtschaftliche und praktische Aspekte Anforderun- kungen ergeben, was jedoch Voraussetzung für die
gen an die Architektur zur Umgebungserfassung. Austauschbarkeit der Module ist. Abschließend wird
Insbesondere der Modularität und den generischen aus den einzelnen Modulen ein konsistentes Umge-
Schnittstellen zwischen einzelnen Modulen kommt bungsmodell erstellt, das konsequenterweise auch
eine zunehmende Bedeutung zu. Dies steht im Wi- einer bestimmten Norm entspricht [37]. Standard-
derspruch zu einer starken Abhängigkeit zwischen architekturen für eine modulare Fahrumgebungs-
objektbasierten Umgebungsmodellen, Rasterkarten repräsentation existieren bislang nicht und sind
und der Straßentopologie. Einen Kompromiss bietet Gegenstand aktueller Forschung und Entwicklung.
eine hierarchische Fahrzeugumfelderfassung [37],
wie in . Abb. 25.17 dargestellt.
In diesem Beispiel erfolgt eine Gliederung in 25.5 Zusammenfassung
vier Module: die Schätzung der Eigenbewegung, die
Rasterkartierung, die Generierung der Straßentopo- Im Rahmen dieses Kapitels sind die Grundlagen ei-
logie und das Objekt-Tracking. Diese Module stehen ner objektbasierten und rasterbasierten Repräsen-
in einem hierarchischen Verhältnis. Dabei entspre- tation von Fahrumgebungen sowie die dafür not-
chen die Ergebnisse dieser vier Module einem be- wendigen Basisalgorithmen beschrieben. Während
stimmten Standard, wodurch sie austauschbar sind. bei der objektbasierten Darstellung jedes relevante
Ein übergeordnetes Modul kann auf jedes Ergebnis Objekt durch ein eigenes dynamisches Zustands-
478 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

raummodell beschrieben wird, sind die rasterba- gewichtet in den Filterschritt einbringen. Eine für
1 sierten Verfahren zunächst modellfrei, d. h. sie be- sicherheitsrelevante Fahrerassistenzsysteme wich-
nötigen keinerlei physikalische Modellhypothesen. tige Größe ist neben dem dynamischen Objektzu-
2 Sie eignen sich damit bevorzugt zur Repräsentation stand auch dessen Existenzwahrscheinlichkeit, also
des statischen Anteils der Umgebungsrepräsenta- ein Vertrauensmaß, mit welcher Wahrscheinlichkeit
tion wie beispielsweise befahrbarer Freiraum und ein in der Fahrumgebungsrepräsentation erschei-
3 Fahrraumbegrenzungen. Bewegte Objekte wirken nendes Modellobjekt auch wirklich von einem real
beim Aufbau derartiger Rasterkarten eher als her- existierenden Objekt stammt. Eine probabilistische
4 auszurechnende Störungen und müssen daher ge- Datenassoziation mit integrierter Existenzschät-
sondert behandelt werden. In verschiedenen Ansät- zung bietet beispielsweise der JIPDA-Algorithmus.
25 zen wurde daher die Erweiterung der Rasterkarten Aktuelle Arbeiten befassen sich auch mit Ver-
auch für dynamische Anteile vorgeschlagen, wobei fahren, die eine in einem Algorithmus integrierte
sich hierbei noch keine Methode durchgesetzt hat. Multi-Objekt-Verfolgung realisieren. Diese auf der
6 Die rasterbasierten Verfahren bieten allerdings zu- Random-Finite-Set-(RFS-)Theorie basierenden Ver-
sätzlich den Vorteil, dass Sensormessungen – bis auf fahren vermeiden nicht nur Datenassoziationsfehler
7 die Entscheidung, ob sie von dynamischen oder sta- vor dem Filterschritt, sondern ermöglichen zudem
tischen Objekten stammen – nicht vorab bewertet eine probabilistische Modellierung der Abhängig-
und assoziiert werden müssen. Zudem erlaubt die keit des Bewegungsverhaltens aller erfassten Objekte
8 Methodik eine implizite Fusion mehrerer Sensoren untereinander, die zwischen Verkehrsteilnehmern
durch einfache Aggregation der Einzelmessungen natürlich gegeben ist. Der vergleichsweise sehr hohe
9 in den Zellen der Rasterkarte. Rechenaufwand dieser Verfahren verhindert heute
Objektbasierte Verfahren haben den Vorteil, allerdings noch deren seriennahe Implementierung.
10 dass durch die individuelle dynamische Modellie- Da sowohl objektbasierte als auch rasterbasierte
rung jedes Objekts auch vergleichsweise einfach auf Repräsentationen spezifische Vorteile aufweisen,
dessen semantische Bedeutung geschlossen werden liegt die Kombination beider Methoden in hybriden
11 kann. Auf die dafür notwendigen Klassifikations- Architekturen für die Fahrumgebungsrepräsenta-
verfahren wurde im Rahmen dieses Kapitels jedoch tion nahe. Hierbei wird aufgrund der wachsenden
12 nicht eingegangen. Die Erfassung des Zustands je- Anforderungen und unterschiedlichen Funktions-
des Objekts erfordert geeignete Filterverfahren, ausprägungen eine modulare Architektur mit mög-
die heute nahezu ausnahmslos auf Approximati- lichst generischen Schnittstellen zur Sensorik und
13 onen des rekursiven Bayes-Filters basieren. Das zur Situationsbewertung bzw. den Funktionen an
Kalman-Filter ist der bekannteste Vertreter dieser Bedeutung gewinnen.
14 Approximationen.
Da in der Regel in Verkehrsszenarien mehr als
15 ein Objekt dynamisch zu erfassen und zu verfol- Literatur
gen ist, verwendet man zur Lösung des Problems
Multi-­Instanzen-Ansätze, d. h. jedes Einzelmodell- 1 BarShalom, Y., Fortmann, T.: Tracking and Data Association.
16 objekt wird durch ein Einzelfilter, beispielsweise ein
Academic Press, Boston (1988)
2 Thrun, S.: Probabilistic Robotic. The MIT Press, Cambridge
Kalman-Filter, beschrieben. Diese Vorgehensweise MA 02142-1209, USA (2005)
17 erfordert aber eine fehlerfreie Zuordnung der Sen- 3 Mahler, R.: Multitarget Bayes filtering via first‐order mul-
sormessungen zu den Modellobjekten, was als Da- titarget moments. IEEE Transactions on Aerospace and
tenassoziation bezeichnet wird. Um Fehlentschei- Electronic Systems 39.4, 1152–1178 (2003)
18 dungen bei der Datenassoziation zu vermeiden,
4 Kalman, R.: A new approach to linear filtering and predic-
tion problems. Transactions of the ASME. Journal of Basic
die nach dem Filterschritt nicht mehr rückgängig Engineering 82, 35–45 (1960)
19 gemacht werden können, existieren auch proba- 5 Julier, S., Uhlmann, J., Durrant-Whyte, H.: A new method
bilistische Datenassoziationsverfahren wie PDA for the nonlinear transformation of means and covariances

20 und JPDA, die alle möglichen Zuordnungen mit in filters and estimators. IEEE Transactions on Automatic
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Wahrscheinlichkeiten belegen und abschließend
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18 Mattern, N., Schubert, R., Wanielik, G.: High‐accurate Vision (ICARCV), S. 656–661. (2012)
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19 Schindler, A.: Vehicle self‐localization with high‐precision Bd. IV, S. 669–676. (2009)
digital maps. In: Intelligent Vehicles Symposium Work- 35 Wang, C.-C., Thorpe, C., Thrun, S., Hebert, M., Durrant-
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20 Konrad, M., Nuss, D., Dietmayer, K.: Localization in Digital ving object tracking. International Journal of Robotics
Maps for Road Course Estimation using Grid Maps. In: IEEE Research 26.9, 889–916 (2007)
Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S. 87–92. (2012) 36 Bouzouraa, M., Hofmann, U.: Fusion of occupancy grid
21 Elfes, A.: Using occupancy grids for mobile robot percep- mapping and model based object tracking for driver as-
tion and navigation. IEEE Computer 22.6, 46–57 (1989) sistance systems using laser and radar sensors. In: IEEE
22 Nuss, D., Wilking, B., Wiest, J., Deusch, H., Reuter, S., Diet- Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S. 294–300. (2010)
mayer, K.: Decision‐Free True Positive Estimation with Grid 37 Nuss, D., Stuebler, M., Dietmayer, K.: Consistent Environ-
Maps for Multi‐Object Tracking. In: IEEE Conference on mental Modeling by Use of Occupancy Grid Maps, Digital
Intelligent Transportation Systems (ITSC), S. 28–34. (2013) Road Maps, and Multi‐Object Tracking. In: IEEE Intelligent
Vehicles Symposium, Bd. IV. (2014)
480 Kapitel 25  •  Repräsentation fusionierter Umfelddaten

38 Deusch, H., Nuss, D., Konrad, P., Konrad, M., Fritzsche, M.,
1 Dietmayer, K.: Improving Localization in Digital Maps with
Grid Maps. In: IEEE Conference on Intelligent Transporta-
tion Systems (ITSC), S. 1522–1527. (2013)
2
3
4
25
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
481 26

Datenfusion für die präzise


Lokalisierung
Nico Steinhardt, Stefan Leinen

26.1 Anforderungen an eine Datenfusion  –  482


26.2 Grundlagen – 483
26.3 Klassifizierung und Ontologien für Filter
zur Sensordatenfusion – 485
26.4 Erweiterungen für Fusionsfilter  –  489
26.5 Datenqualitätsbeschreibung – 494
26.6 Beispiel einer Umsetzung  –  499
26.7 Ausblick und Fazit  –  508
Literatur – 510

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_26, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
482 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

In Kraftfahrzeugen wird eine zunehmende Anzahl Messfehlern und Sensordefekten sehr hoch. Auf-
1 an heterogenen und häufig redundanten Sensoren grund der wachsenden Ansprüche der Anwender
eingesetzt. In diesem Kapitel wird die Methodik zur an kooperative, komplexe Funktionen entsteht die
2 Fusion von heterogenen Sensordaten zur präzisen Notwendigkeit, vorhandene Sensordaten verschie-
Lokalisierung und darüber hinaus zur Fahrdyna- dener Anwendungsfunktionen in einem vernetzten
mikschätzung vorgestellt, sie beruht im Wesentli- Umfeld gemeinsam zu verwerten. Durch die bishe-
3 chen auf [1]. Ziel ist hierbei die Erzeugung eines rige, lediglich lokale Datennutzung mit spezifischer
konsistenten Datensatzes mit erhöhter Genauigkeit. Datenverarbeitung sind jedoch Inkonsistenzen in
4 Es werden Klassifizierungen und Ontologien für in den Daten zu erwarten.
Frage kommende Systemarchitekturen und Fusions- Im Bereich der Hardware wird in aktuellen
5 filter gezeigt, spezielle Erweiterungen für das Filter Kraftfahrzeugen durch steigende Leistungsfähig-
zur Verwendung mit heterogenen, seriennahen Sen- keit von Prozessoren und Bussystemen bereits eine
soren werden hergeleitet. Dies führt zum Konzept Umgebung für eine zentrale, die heterogenen Eigen-
26 eines virtuellen Sensors als neue Ebene zwischen schaften aller verbauten Sensoren berücksichtigende
Sensoren und Anwendungen: Hierfür werden, ins- Verarbeitung geboten. Eine darauf aufbauende zen-
7 besondere zur Verwendung in sicherheitskritischen tralisierte Bewertung der Signalqualität bietet das
Applikationen, Anforderungen für eine Datenqua- Potenzial, die Anwendungen um einen erheblichen
litätsbeschreibung hergeleitet. Diese gliedert sich in Anteil der Fehlererkennung zu entlasten. Weiterhin
8 ein Integritäts- und ein Genauigkeitsmaß; eine bei- entsteht durch die gegenseitige Überprüfbarkeit
spielhafte Umsetzung für einen gegebenen Satz an redundant gemessener Daten eine zusätzliche, die
9 Sensoren wird vorgestellt. Außerdem wird der Spe- bisherigen Prinzipien ergänzende Möglichkeit zur
zialfall eines Fahrzeugs auf bewegtem Untergrund Detektion von Fehlern und Störungen. Damit ergibt
10 (z. B. Fähre) betrachtet und es werden Lösungsan- sich das Ziel der Erstellung einer offenen, erweiter-
sätze für damit verknüpfte Probleme aufgezeigt. Des baren Architektur zur zentralen Sensordatenfusion
Weiteren werden Ergebnisse des umgesetzten Fusi- und Signalqualitätsbeschreibung. Zentrale Anforde-
11 onsfilters präsentiert und diskutiert. Ein Ausblick rungen an einen solchen zentralen, virtuellen Sensor

12
mit Fokus auf Erweiterungsmöglichkeiten und die
Einbindung weiterer Sensoren schließt die Betrach-
tungen ab. -
sind:
Echtzeitfähigkeit und kausales Filterverhalten,
d. h. Verarbeitung der Daten in ihrer tatsächli-
13
- chen zeitlichen Reihenfolge,
geringe, bekannte und möglichst konstante

-
26.1 Anforderungen Latenz- bzw. Gruppenlaufzeit,
14 an eine Datenfusion Robustheit sowie Erkennung und Kompensa-

15 In aktuellen Kraftfahrzeugen kommt in allen


- tion von Störungen,
Verbesserung der Genauigkeit und Verfügbar-
Fahrzeugklassen eine steigende Anzahl an Assis-
tenzsystemen zum Einsatz, die für ihre Funktio-
- keit bzw. ein optimaler Kompromiss dazwischen,
Generierung und Ausgabe konsistenter Fusi-

-
16 nen auf Sensormessdaten angewiesen sind. In der onsdaten für alle Anwendungen,
Regel werden hierfür mehrere Sensoren verbaut, Bewertung der Integrität und Ausgabe von
17 die trotz stark heterogener Messprinzipien und Beschreibungsgrößen für die Qualität.
Eigenschaften redundante Informationen liefern.
Diese vorhandene, zumeist über Modelle nutzbare Eine Grundlage zur Fusion von Messdaten ist das
18 Redundanz wird zum Teil lokal – d. h. in den Steu- Vorhandensein von Redundanz [2] durch Messung
ergeräten bestimmter Anwendungen – verwendet. gleicher physikalischer Werte durch mehrkanalige
19 Dies erfolgt stets mit konkretem Bezug zum Ge- Messung der gleichen Größe (parallele Redundanz)
rät und der zugehörigen Software, z. B. zur Eigen- oder die Umrechnung einer anderen Messgröße in
20 diagnose. Insbesondere bei sicherheitskritischen die benötigte (analytische Redundanz). Hetero-
Systemen ist der Aufwand zur Erkennung von gene Messprinzipien bedingen zwangsläufig Unter-
26.2 • Grundlagen
483 26

schiede in den gemessenen Daten, die vom Fusions- prüfung durchzuführen und das Ergebnis an Nut-

-
filter zu berücksichtigen sind:
synchrone oder asynchrone Messung im Ver-
zerfunktionen weiterzugeben.
Da bestehende Funktionen weiterhin uneinge-

-- gleich zu anderen Signalquellen,


unterschiedliche Messauflösung,
verschiedene, möglicherweise nicht konstante
schränkt genutzt werden sollen, besteht die Anfor-
derung an das auszugebene Fusionsergebnis, dass
die benötigte Datenrate und die Auflösung der an-

- Abtastraten,
Latenzzeiten zwischen Messung und Mess-
spruchsvollsten Funktion im System erfüllt werden
bzw. bei widersprüchlichen Anforderungen ein

- wertverfügbarkeit,
zeitlich sich ändernde Verfügbarkeit von Infor-
Kompromiss gefunden wird.

-- mationsquellen,
Abhängigkeit von Umgebungsbedingungen,
sich während des Betriebs dynamisch än-
dernde Messgenauigkeit.
26.2 Grundlagen

Für die Modellierung der Sensordaten, deren Fu-


sion zur präzisen Lokalisierung sowie für die an-
Sensorfehler [3] lassen sich unabhängig von ihrer wendungskonforme Ausgabe der Fusionsergebnisse
Ursache in systematische Anteile, quasistationäre, werden verschiedene Koordinatensysteme benötigt,
über mehrere Messungen konstante Anteile wie die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Der Ab-
beispielsweise ein Offset oder ein Skalenfaktorfeh- schnitt „Koordinatensysteme“ orientiert sich an der
ler und stochastische, von Messung zu Messung Konvention, die bei Wendel [4] verwendet wird. Im
zufällige Anteile wie z. B. Rauschen unterteilen. Anschluss werden die wichtigsten Lokalisierungssen-
Während die zufälligen Anteile prinzipiell nicht soren beschrieben und deren Eigenschaften erläutert.
deterministisch korrigierbar sind, lassen sich be-
kannte systematische Fehler modellbasiert sowie
quasistationäre Fehler bei gegebener Beobacht- 26.2.1 Koordinatensysteme
barkeit messtechnisch korrigieren. Beim Auftre-
ten nicht korrigierbarer, jedoch erkennbarer Fehler Alle nachfolgend aufgeführten Koordinatensysteme
lassen sich zumindest negative Auswirkungen auf sind dreidimensional und rechtshändig kartesisch.
das Fusionsergebnis vermeiden. Für den virtuel- Inertialkoordinatensystem. Vektoren in die-
len Sensor ist daher die Robustheit gegen zufällige sem Koordinatensystem sind durch den Index i ge-
Störungen sowie die Erkennung und die Kom- kennzeichnet. Dieses himmelsfeste kartesische Ko-
pensation von deterministischen Fehlern gefor- ordinatensystem ist so definiert, dass der Ursprung
dert. Ebenso sind zeitliche Fehlereinflüsse auf die im Erdmittelpunkt und die z-Achse entlang der
Messdaten zu korrigieren und temporäre Ausfälle Rotationsachse der Erde liegt. Die x- und y-Achse
oder die Nichtverfügbarkeit von Sensoren zu über- liegen senkrecht zueinander in der Äquatorialebene
brücken. und sind anhand der Fixsterne ausgerichtet. Eine
Nach der Verarbeitung redundanter Daten zu Inertialmesseinheit misst Beschleunigungen und
einem konsistenten Fusionsergebnis sind Fehler Drehraten im Bezug auf dieses Inertialsystem.
einzelner Messungen nicht mehr eindeutig erkenn- Erdfestes Koordinatensystem nach WGS84.
bar oder einer Ursache zuzuordnen. Durch die in Vektoren in diesem Koordinatensystem sind durch
der Regel verfügbare Selbstdiagnosefähigkeit von den Index e gekennzeichnet. Dieses erdfeste Koor-
Signalquellen sowie insbesondere durch modell- dinatensystem rotiert mit der Erde und ist so defi-
basierte Plausibilisierungsmethoden innerhalb der niert, dass der Ursprung im Erdmittelpunkt und die
Datenfusion besteht jedoch eine Überprüfbarkeit z-Achse entlang der Rotationsachse der Erde liegt.
mit redundanten Signalen. Dadurch lässt sich eine Die x-Achse ist die Schnittgerade von Äquatorebene
gegenüber der bisherigen dezentralen Messdaten- und Null-Meridianebene (Greenwich), die y-Achse
verwendung verbesserte Fehlerdetektion erzielen. ergänzt die x- und z-Achsen zum rechtshändigen
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Über- kartesischen System. Zur Darstellung einer Position
484 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

werden oft ellipsoidische Koordinaten angegeben: Empfänger für Globale Satellitennavigationssysteme


1 Längen- und Breitengrad in der Einheit rad, die (GNSS), am verbreitetsten ist das Global Positioning
Höhe über dem Erdellipsoid in der Einheit m (po- System (GPS), sowie Radsensoren für Odometrie
2 sitiv nach oben). – also Wegstreckenberechnung durch Zählung der
Navigationskoordinatensystem. Vektoren in Radumdrehungen.
diesem Koordinatensystem sind durch den Index n Eine IMU erfasst die absoluten, dreidimensiona-
3 gekennzeichnet. Der Ursprung dieses kartesischen len Werte der Beschleunigung und der Drehrate des
Koordinatensystems liegt im Fahrzeug und fällt in Fahrzeugs im Inertialkoordinatensystem – die Iner-
4 der Regel mit dem Ursprung des fahrzeugfesten tialsensoren sind daher Beschleunigungs- und Krei-
Koordinatensystems zusammen. Die Achsen sind selsensoren. Lokalisierungs- und Navigationsanwen-
5 dagegen am erdfesten System in Richtung Osten, dungen verwenden jedoch üblicherweise das erdfeste
Norden und entlang dem Schwerevektor nach oben Koordinatensystem. Die kontinuierliche Weiterbe-
ausgerichtet. rechnung von Ausrichtung, Geschwindigkeit und
26 Fahrzeugfestes Koordinatensystem nach Position des Fahrzeugs aus den Inertialmess­ungen
DIN 70000 [5], auch bezeichnet als Body-Koordina- erfolgt durch einen Strapdown-Algorithmus [6].
7 tensystem. Vektoren in diesem Koordinatensystem Wendel [4] definiert den Strapdown-Algorithmus
sind durch den Index b gekennzeichnet. Das System als „(…) eine Rechenvorschrift, die angibt, wie anhand
ist so ausgerichtet, dass die x-Achse in Fahrzeug­ von gemessenen Beschleunigungen und Drehraten aus
8 richtung nach vorne, die y-Achse dazu senkrecht der Navigationslösung zum vorherigen Zeitschritt die
nach links und die z-Achse senkrecht zur x-y-Ebene Navigationslösung zum aktuellen Zeitschritt berech-
9 nach oben zeigt. Der Ursprung muss explizit im net wird. Die Strapdown-Rechnung lässt sich grob in
Bezug zum Fahrzeug definiert werden. Wird der drei Schritte einteilen: Propagation der Lage durch In-
10 Ursprung wie im Navigationskoordinatensystem tegration der Drehraten, Propagation der Geschwin-
gewählt, dann wird die Transformation von Vekto- digkeit durch Integration der Beschleunigungen und
ren zwischen den beiden Systemen allein durch eine Propagation der Position durch Integration der Ge-
11 Drehung um die Ausrichtungswinkel Gierwinkel  , schwindigkeit.“
Nickwinkel , und Rollwinkel ' (im Englischen als Der Strapdown-Algorithmus ist ein rekursives
12 yaw, pitch, roll bezeichnet) beschrieben. und daher echtzeitfähiges Rechenverfahren. Da
Radbezogenes Koordinatensystem. Vektoren eine IMU Bewegungsgrößen in Bezug auf das Iner-
in diesem System sind durch den Index w gekenn- tialsystem misst, findet im Strapdown-Algorithmus
13 zeichnet. Der Ursprung liegt im Radmittelpunkt, die die Kompensation der zur Bestimmung der Bewe-
Ebene aus x- und y-Achse ist parallel zur x-y-Ebene gungsgrößen in erd- bzw. fahrzeugfesten Koordina-
14 des fahrzeugfesten Koordinatensystems ausgerich- ten als Störgrößen wirkenden Erdbeschleunigung
tet und um den Radlenkwinkel ıL um die z-Achse und -drehrate, Coriolisbeschleunigung und Trans-
15 verdreht. Die z-Achse ist parallel zur z-Achse des portrate (Drehrate des Fahrzeugs durch die Bewe-
fahrzeugfesten Systems ausgerichtet. Zur Vereinfa- gung entlang der Erdellipsoid-Oberfläche) statt.
chung wird angenommen, dass Sturz-, Nachlauf- Typische Fehler von Inertialsensoren sind Mess­
16 und Spreizwinkel vernachlässigbar sind, ıL bereits rauschen, Nullpunktfehler (Offset) und Skalenfak-
den Spurwinkel berücksichtigt und dass die Dre- torfehler: Diese Fehler sind häufig zeitlich veränder-
17 hung bei Änderungen des Lenkwinkels ausschließ- lich und von äußeren Einflüssen wie beispielsweise
lich um die z-Achse stattfindet. der Temperatur abhängig. Eine vorteilhafte Eigen-
schaft ist die Verfügbarkeit einer IMU, die in der
18 Regel unabhängig von äußeren Faktoren und abge-
26.2.2 Lokalisierungssensoren sehen von Defekten stets gegeben ist.
19 und deren Eigenschaften GNSS-Empfänger (beispielsweise für GPS)
erfassen die Abstände zwischen den Phasenzen-
20 Wesentliche Sensoren zur präzisen Lokalisierung tren der Satelliten- und Empfängerantenne durch
von Fahrzeugen sind Inertialmesseinheiten (IMU), Laufzeitmessung des Signals. Da diese Strecken­­
26.3  •  Klassifizierung und Ontologien für Filter zur Sensordatenfusion
485 26

mess­ungen noch signifikante Fehler insbesondere oder kompletten Abschattung des Signalempfangs
der beteiligten Uhren enthalten, werden sie als – beispielsweise bei einer Fahrt durch einen Tun-
Pseudoranges bezeichnet. Weiterhin lässt sich die nel – kommen. Daher ist die Verfügbarkeit von
Relativ­geschwindigkeit in Sichtrichtung zum Satelli- GNSS-Messungen umgebungsabhängig und häufig
ten durch zeitliche Differentiation der Pseudoranges eingeschränkt, auch wenn der Empfänger selbst frei
berechnen; diese Messwerte werden als Deltaranges von Defekten ist.
bezeichnet. Durch die Verwendung von Trägerpha- Odometriemessungen [7] basieren auf Raddreh-
senmessungen kann die Genauigkeit der Geschwin- winkel-Impulsmessungen (Wheel-ticks) durch ak-
digkeitsschätzung gegenüber der Berechnung aus tive oder passive Magnetfeldsensoren: Diese erfas-
den Laufzeitmessungen verbessert werden. sen den zurückgelegten Drehwinkel eines Rades um
Aus Pseudorange-Messungen wird die Absolut- dessen y-Achse in radfesten Koordinaten. Die zur
position in erdfesten Koordinaten berechnet, Fehler Transformation in fahrzeugfeste Koordinaten benö-
durch die Erdrotation während der Signallaufzeit tigten Lenkwinkel lassen sich entweder modellieren,
werden modellbasiert kompensiert. Aus Deltar­ange- beispielsweise als konstant Null an einer ungelenk-
Messungen wird die Geschwindigkeit in erdfesten ten Hinterachse oder durch die Messung des Lenk-
Koordinaten berechnet. Typische Fehler in den radwinkels, häufig ebenfalls durch magnetfeldmes-
Pseudorange-Messungen sind Empfängeruhrfeh- sende Sensoren, modellbasiert berechnen. Ist der
ler, Satellitenuhrfehler, Ephemeridenfehler (Abwei- Radrollradius bekannt oder schätzbar, wird durch
chung der realen von der berechneten Satellitenum- Odometriemessungen die Geschwindigkeit des
laufbahn), Ionosphären- und Troposphärenfehler. Fahrzeugs an den jeweiligen Radaufstandspunkten
Der Empfängeruhrfehler wird im Rahmen der – bezogen auf den Fahrzeuguntergrund – messbar.
Positionsberechnung geschätzt und kompensiert. Für eine darauf basierende Schätzung der Fahrzeug-
Satellitenuhr- und Ephemeridenfehler werden vom bewegung, insbesondere ebene Geschwindigkeit,
Betreiber des Systems geschätzt und entsprechende Gier- und Schwimmrate, lassen sich verschieden
Korrekturparameter in der Navigationsnachricht komplexe Modelle wie Einspur- und Zweispurmo-
versendet. Die Ionosphären- und Troposphärenfeh- dell verwenden, vgl. [8]. Zur Modellierung der Rei-
ler lassen sich modellbasiert teilweise korrigieren. feneinflüsse stehen ebenfalls verschiedene Modelle,
Bei Verwendung eines Zweifrequenzempfängers wie beispielsweise ein lineares Reifenmodell oder
kann der Ionosphärenfehler aus den Messungen eli- das „Magic-Formula“-Modell [9], zur Verfügung.
miniert werden. Da diese Fehlergrößen gegenüber Typische Fehler von Odometriemessungen sind
der typischen Abtastrate eines GNSS-Empfängers das durch die endlich vielen Ticks pro Umdrehung
nur langsam veränderlich sind, können diese bei verursachte Winkel-Quantisierungsrauschen und
der Berechnung mit Deltaranges (zeitliche Diffe- das Winkelrauschen. Letzteres entsteht durch zu-
renzen) vernachlässigt werden. Daher ist bei dieser fällige Variationen des Winkelinkrements, ab dem
Messgröße die Drift des Empfängeruhrfehlers, die ein neuer Wheel-tick gezählt wird. Weiterhin beste-
aus dem Frequenzfehler des Empfänger-Oszillators hen umgebungsabhängige Störungen durch hohen
resultiert, der einzige signifikante Fehler. Schlupf, beispielsweise aufgrund eines niedrigen
Die GNSS-Positionierung zeichnet sich im Ver- Reibbeiwertes, hoher Beschleunigungen oder durch
gleich zur Verwendung von IMU durch langzeit­ die Fahrt durch Schlaglöcher.
stabile absolute Genauigkeit aus, es gibt keine mit
der Zeit anwachsenden Sensorfehler. Problematisch
sind dagegen Störungen durch Umgebungsbedin- 26.3 Klassifizierung und Ontologien
gungen, die alle Messgrößen eines GNSS-Empfän- für Filter zur Sensordatenfusion
gers betreffen: Sie entstehen durch Beugung und
Reflektion der elektromagnetischen Wellen an der Der Begriff der Sensordatenfusion wird, wie auch
Erdoberfläche, Bergen oder Gebäuden und bewir- in ▶ Kap. 24 beschrieben, in Kraftfahrzeuganwen-
ken Mehrwegeempfang und damit Fehler in den dungen üblicherweise in zwei unterschiedlichen
Messungen. Des Weiteren kann es zur teilweisen Kontexten verwendet:
486 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

.. Abb. 26.1  Varianten der


a
1 Anbindung von Sensoren
ans Filter

2
b
3
4
c

-
26
Zusammenführung von Messungen mit (größ- ten Varianten unterschieden, wobei die gebräuchli-
7 tenteils) unterschiedlichem Abdeckungsbe- chen englischen Begriffe verwendet werden.
reich, mit dem Ziel eines Datensatzes, der alle Loosely Coupling. Die redundanten Daten
Abdeckungsbereiche in sich vereint (komple- werden, wie in . Abb. 26.1a gezeigt, als reine

-
8 mentäre Sensoren); Feed-Forward-Architektur vom Sensor vorverar-
Zusammenführung von Messungen mit (größ- beitet ins Filter eingespeist. Diese Struktur ist ein-
9 tenteils) gleichem Abdeckungsbereich, mit fach, intuitiv und hat einen geringen Rechenauf-
dem Ziel der Verbesserung der Messqualität wand. Allerdings werden hierbei der Sensor und
10 (redundante Sensoren). seine Messfehler als Black Box modelliert, die Güte
der fusionierten Daten ist direkt von der Güte des
In diesem Kapitel wird der Begriff der Fusion im Sensors und des Sensormodells abhängig. Am Bei-
11 Sinn des zweiten Kontexts, d. h. zur gemeinsamen spiel eines GNSS werden dem Fusionsfilter fertige
Verarbeitung von Messungen redundanter (glei- Positionslösungen statt Rohmessungen zugeführt:
12 cher Abdeckungsbereich) Sensoren verwendet. Die Fusion ist damit von der Positionsschätzgenau-
Dabei besitzen die Sensoren jedoch, wie in ▶ Ab- igkeit des Empfängers abhängig und zur Funkti-
schn. 26.2.2 beschrieben, heterogene Eigenschaften, onsfähigkeit ist der Empfang von mindestens vier
13 die gerade zur besseren Qualität des Fusionsergeb- Satelliten notwendig [11].
nisses beitragen. Tightly Coupling. Die redundanten Sensor-
14 Im Folgenden werden die grundsätzlichen daten werden als Rohmessdaten ins Filter ein-
Klassen von Filtern zur Fusion redundanter Daten gespeist, das Vorverarbeitungsmodell ist somit,
15 aufgezeigt. Dazu wird eine Übersicht zu Fusionsfil- wie aus . Abb. 26.1b ersichtlich, ans Fusionsfil-
tern, Konzepten und grundsätzlichen Eigenschaf- ter gekoppelt. Diese Struktur weist eine erhöhte
ten gegeben. Diese gliedert sich in die Ontologien Komplexität auf und ist als Feedback-Architektur
16 der Kopplung des Filters mit den Messungen, der mit Rückführung von Korrekturdaten aus dem
Schätzmethoden und üblicher Filtertypen. Fusionsfilter in die Datenvorverarbeitung auf-
17 gebaut. Damit ist die Güte der Messungen allein
von den Sensoren, die Güte der daraus geschätz-
26.3.1 Klassifizierung der Anbindung ten Lösung hauptsächlich vom Fusionsalgorith-
18 von Sensoren an das Filter mus abhängig. Am Beispiel eines GNSS sind bei
dieser Architektur durch die Verarbeitung von
19 Die Sensormessungen können in ein Fusionsfilter Rohdaten (Pseudoranges, Deltaranges, eventuell
in unterschiedlicher Tiefe integriert werden [10], es Trägerphasen) und integrierte Fehlerschätzung
20 werden im Wesentlichen die im Folgenden genann- zumindest für einen begrenzten Zeitraum auch
26.3  •  Klassifizierung und Ontologien für Filter zur Sensordatenfusion
487 26

.. Abb. 26.2  Varianten der Zustandsschätzung

weniger als vier Satelliten für eine Positionsstüt- 26.3.2 Klassifizierung


zung ausreichend. der Schätzgrößen des Filters
Ultra-Tightly Coupling/Deep Integration. Die
Struktur basiert auf dem Tightly Coupling, jedoch Es existieren unterschiedliche Methoden, die Mess-
ist die Rückführung von Korrektur- und Regelungs- daten verschiedener Sensoren zu einem einheitli-
daten, wie in . Abb. 26.1c dargestellt, bis in die Sen- chen, konsistenten Datensatz zu fusionieren. Zwei
soren ausgeführt. Es findet eine Beeinflussung der wichtige Architekturen werden im Folgenden vor-
Messung selbst statt, indem Messparameter anhand gestellt:
des Filterergebnisses angepasst werden. Damit sind Zustandsschätzung vollständiger Größen
sowohl eine Modellierung der sensorinternen Ab- (Full-State-Filter). Bei der Fusion durch ein Filter
läufe im Filter als auch die Verfügbarkeit von ent- mit Schätzung der vollen Zustandsgrößen (wie z. B.
sprechenden Schnittstellen des Sensors notwendig. Position, Geschwindigkeit etc.) werden Messdaten,
Dadurch entsteht ein gegenüber den anderen Me- wie in . Abb. 26.2a gezeigt, von allen Sensoren in
thoden deutlich erhöhter Aufwand an Hardware und gleicher Weise und unabhängig voneinander ins Fil-
Rechenzeit. Die Güte sowohl der Messungen als auch ter geführt. Die vollen Zustandsgrößen der Fusion
der Lösung ist abhängig von der Messhardware und werden vom Filter selbst berechnet und ausgegeben.
dem Algorithmus. Am Beispiel eines GNSS kann so Vorteile dieser Methode sind der intuitive Aufbau
unter anderem die Bandbreite des Empfangsfilters des Filters und die auch bei Ausfall eines beliebigen
und der empfängerinternen Regelungsschleifen zur Sensors weiterhin gegebene Funktionsfähigkeit des
Signalerfassung (Tracking Loops) gesteuert werden. Filters, sofern hierfür hinreichend viele redundante
488 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 .. Tab. 26.1 Fusionsfilter-Typen

Bayes-Filter linear – nur eingeschränkt in digitalen Systemen umsetzbar

2 parametrisch – keine kontinuierlichen Ausgabegrößen

Kalman-Filter linear – Annahme: System und Messungen normalverteilt (Gaußsches


(KF) parametrisch weißes Rauschen)
3 – Unsicherheitspropagation (Varianz und Mittelwert)
– bei Gaußschem weißem Rauschen optimaler Schätzer (erreicht

4 Erwartungstreue und minimale Varianz)


– geringer Rechenaufwand
– Varianzen haben quadrierte Einheit der Zustandsgrößen

5 Informationsfilter (IF) linear – wie Kalman-Filter, aber Propagation der inversen Varianz-Ko­
parametrisch va­r­ianz-Matrix
– Zustand unendlicher (Anfangs-)Unsicherheit damit numerisch
26 darstellbar
– signifikant erhöhter Rechenaufwand gegenüber dem KF, wenn
Varianzen der Zustände benötigt werden
7
Extended linearisiert – wie KF oder IF, jedoch:
KF/IF parametrisch – durch Linearisierung sind auch nichtlineare Zusammenhänge
8 modellierbar
– Verlust der Optimalität (Erwartungstreue und minimale Varianz)
durch Linearisierung
9 – moderat erhöhter Rechenaufwand

(Extended) linearisiert – wie (Extended) KF, jedoch:


10 Error-State-Space-KF parametrisch –

Schätzung von Fehlerinkrementen statt vollen Zuständen
Prädiktionsschritt durch Messung eines Basissystems
– Erwartungswert der Fehlerinkremente ist null, daher kleiner Linea-
11 risierungsfehler
– Rechenaufwand leicht reduziert gegenüber (Extended) KF

12 Unscented KF nicht-linearisiert
parametrisch
– Unscented Transformation: nichtlineare Fortpflanzung von aus der
Normalverteilung entnommenen Punkten, anschließend Mittel-
wert und Varianz aus Transformationsergebnis berechnet
13 – Vorteil gegenüber EKF bei ausgeprägter Nichtlinearität
– Rechenaufwand vergleichbar mit EKF

14 Histogramm-Filter nicht-parametrisch – keine Normalverteilung für Ein- und Ausgang für Optimalität
vorausgesetzt
– Zustandsraum in endlich viele Regionen zerlegt (statisch oder

15 dynamisch)
– nichtlineare Propagation der Stützstellen
– hoher, für Echtzeitanwendungen kritischer Rechenaufwand
16 Partikelfilter nicht-parametrisch – zufällige Abtastpunkte der Eingangsverteilung nichtlinear auf
Ausgang projiziert

17 – einfacher und in Bezug auf die nichtlineare Systemgleichung


flexibler Algorithmus
– Anzahl, Dichte und Varianz der zufälligen Abtastpunkte nur experi-

18 mentell zu bestimmen
– hoher, für Echtzeitanwendungen kritischer Rechenaufwand

19
20
26.4  •  Erweiterungen für Fusionsfilter
489 26

Messungen verfügbar sind. Schwächen dieses Kon- rianten bzw. Abwandlungen dieser Filter vorgestellt
zepts sind zum einen die stark von der Dynamik der und diskutiert.
Eingangsdaten direkt abhängigen, zeitlich variablen
Eigenschaften der ausgegebenen Daten sowie ar-
beitspunktabhängige Schätzfehler im Falle eines in 26.4 Erweiterungen für Fusionsfilter
der Praxis häufig eingesetzten linearisierten Filters.
Ein typisches Filter dieses Typs ist ein (Extended) Im Folgenden werden Erweiterungen für die vor-
Kalman-Filter. gestellten Fusionsfilter-Konzepte beschrieben, die
Zustandschätzung von Fehlergrößen (Error-­ insbesondere für den Einsatz im Automobilbereich
State-Space-Filter). Bei einem Fusionsfilter mit Vorteile bieten.
Schätzung von Fehlergrößen [4] wird die Differenz
zwischen den Ausgabegrößen eines Basissystems
und zusätz­lichen Korrekturmessungen als Beob- 26.4.1 Einbindung
achtungsgröße im Filter zur Schätzung von Feh- von Odometriemessungen
lerzuständen verwendet (z. B. Positionsfehler statt
volle Position). In . Abb. 26.2b ist dies am Beispiel Die Verwendung von IMU und GNSS ist eine
eines integrierten Navigationssystems gezeigt: Hier- ty­p­ische Umsetzung eines integrierten Navigati-
bei bilden IMU und Strapdown-Algorithmus das onssystems. Im Kraftfahrzeugbereich stehen durch
Basissystem, während u. a. GNSS und Odometrie die seit langem zur Serienausrüstung gehören-
zur Korrektur eingesetzt werden. Das Fusionsfilter den Raddrehzahlsensoren Odometriemesssignale
schätzt die Fehler anhand der Korrekturmessungen zur Verfügung. Durch die Odometrie kann eine
relativ zum Basissystem, die Ausgabegrößen des kurzzeitige Nichtverfügbarkeit von GNSS über-
Navigationssystems werden dann im korrigierten brückt werden. Die Odome­ triemessungen der
Basissystem berechnet. Die zeitliche und Wertebe- Geschwindigkeit finden in radfesten Koordina-
reichsdynamik der Fehler ist üblicherweise klein ten statt und können durch gemessene Radlenk-
im Vergleich zur Systemdynamik. Daraus ergeben winkel in fahrzeugfeste Koordinaten überführt
sich die Vorteile dieser Methode in Form von weit- und im Fusionsfilter verarbeitet werden.
gehend konstanten, von der Dynamik entkoppelten Der wesentliche systematische Fehler, der all-
Eigenschaften der Ausgabedaten und vernachläs- gemein und unabhängig von einem optional vor-
sigbar kleinen Linearisierungsfehlern. Eine Schwä- gelagerten Reifenmodell auftritt, ist der Fehler des
che dieses Konzepts ist die Abhängigkeit von der dynamischen Reifenrollradius. Dieser stellt einen
Verfügbarkeit des Sensors, der das Basissystem mit Skalenfaktorfehler [8] bei der Umrechnung der
Daten versorgt. Im Fall der Fahrzeugnavigation ist Raddrehzahlen in Geschwindigkeiten dar. Daher
dies in der Regel die sich durch hohe Verfügbarkeit ist es naheliegend, diese Fehlergröße durch das Fu-
auszeichnende IMU. Ein typisches Filter dieses Typs sionsfilter zu schätzen und zu korrigieren. Unter der
ist ein Error-State-Space­-Kalman-Filter. Annahme, dass im öffentlichen Straßenverkehr der
Großteil aller Fahrsituationen eine ebene Beschleu-
nigung von im Betrag  5 m=s2 aufweist [13], wird
26.3.3 Klassifizierung verschiedener eine von der Beschleunigung linear abhängige Mo-
Filtertypen dellierung von Schlupf und Schräglauf als für den
Zweck der Stützung des Navigationsfilters durch
In . Tab. 26.1 wird eine Übersicht über verschie- Odometriemessungen geeignet angenommen. Odo-
dene Fusionsfilter-Typen mit ihren wesentlichen metriemessungen außerhalb dieses Bereichs werden
Eigenschaften gegeben. Die Aufstellung basiert auf nicht verwendet. Unter dieser Randbedingung wer-
Darstellungen in [4] und [12]. In der einschlägigen den folgende systematische, nicht durch Messungen
Fachliteratur werden darüber hinaus vielfältige Va- beobachtbare Fehler modelliert:
490 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 - Geschwindigkeitsfehler durch Schlupf –


Korrektur über ein lineares Reifenmodell mit
konstant angenommener Schlupfsteifigkeit
füllenden Zeitverzug von Messdaten. Für die
Zeitspanne  werden, abhängig von der Abtas-
trate fBasi s des Basissystems, n Messwerte im
2
3
- sowie Beschleunigungsmessung;
Geschwindigkeitsfehler durch Schräglauf –
Korrektur über ein lineares Reifenmodell mit
konstant angenommener Schräglaufsteifigkeit
Speicher gehalten (n ganzzahlig aufgerundet):

n D   fBasi s :  (26.1)

und Geschwindigkeits- und Beschleunigungs- 2. Bei Gültigkeit von Annahme (1) ist innerhalb
4 messung. von  eine Trennung der n gespeicherten, um
den aktuell bekannten Fehler korrigierten Ver-
5 Übliche Odometriemodelle verwenden Messun- gangenheitsdaten XEn in wahre Arbeitspunkte VEn
gen einer nicht angetriebenen und nicht gelenkten und davon unabhängige Restfehler "E zulässig.
Achse zur Schätzung von Geschwindigkeit und Da der Fehler über  als konstant angenommen
26 Gierrate des Fahrzeugs. Abhängig vom Systemmo- wird, ist er identisch mit dem Fehler der aktu-
dell des Fusionsfilters sind diese Größen, jedoch ellen Messepoche und daher auch durch das
7 auch einzelne Radgeschwindigkeiten, als Messwerte stochastische Modell des Fusionsfilters korrekt
für die Fusion verwendbar. beschrieben:
8 XEn D VEn C "E: (26.2)
26.4.2 Kompensation von verzögerter
9 Messwertverfügbarkeit 3. Zwischen jeweils zwei aufeinanderfolgenden
Abtastschritten des Filters sind alle Änderun-
10 Je nach Aufbau und Messprinzip eines Sensors ent- gen der Messwerte als annähernd proportional
steht ein zeitlicher Verzug zwischen dem der Mes- zur Zeitdauer zu beschreiben, so dass mit einer
sung zuzuordnenden Zeitpunkt und der Übergabe linearen Interpolation verbundene Fehler als
11 der Messdaten an das Fusionsfilter. Weitere Ver- vernachlässigbar angesehen werden können.
zugszeiten entstehen durch unterschiedliche Ab- 4. Die Verzögerungszeit td zwischen der aktuellen
12 tastraten und -zeitpunkte von Basissystem und den Abtastzeit des Basissystems des Error-State-Spa-
verschiedenen Korrekturmessungen sowie durch ce-Filters und der Korrekturmessung ist generell
Filterlaufzeiten. Die Verarbeitung dieser entspre- bekannt oder bestimmbar.
13 chend veralteten Daten im Fusionsfilter kann zu
Fehlern in Abhängigkeit von Arbeitspunkt und Dy- Der Beobachtungsvektor zEk als Eingangsgröße ergibt
14 namik der gemessenen Größe führen. So bewirkt sich beim Error-State-Space-Kalman-Filter, wie aus
z. B. eine für viele GNSS-Empfänger typische Ver- . Abb. 26.3 ersichtlich, als Differenz zwischen Kor-
15 zugszeit von 100 ms bei einer Fahrzeuggeschwin- rekturmessung und der Messung des Basissystems.
digkeit von 30 m/s einen Positionsfehler von 3 m. Gilt Annahme (1), so ist es zulässig, einen um td in der
Für den speziellen Fall eines Error-State-Spa- Vergangenheit ermittelten Fehler ohne Verluste an
16 ce-Filters wird eine Methode [14] vorgestellt, die Genauigkeit in der aktuellen Messepoche anzubrin-
mehrere, unterschiedlich verzögerte Sensormes- gen unter der Voraussetzung, dass td   gilt. Damit
17 sungen mit hinreichend niedrigem Rechenaufwand ist zur virtuellen Messung in der Vergangenheit eine
für einen Echtzeiteinsatz verarbeitet. Dazu werden Speicherung der zur Berechnung von zEk verwende-
folgende Annahmen getroffen: ten Daten des Basissystems innerhalb der Zeitspanne
18 1. Innerhalb einer Zeitspanne  sind die Ände-  ausreichend. Während der Verzugszeit finden im
rungen der Fehler der Zustände XE im Basissys- Allgemeinen auch Korrekturen durch andere Sen-
19 tem als vernachlässigbar und unabhängig von sormessdaten mit unterschiedlichen Verzugszeiten
den Messwerten anzusehen. Die Zeitspanne  statt. Um Annahme (2) aufrechtzuerhalten, findet
20 entspricht hierbei dem größten im System zu bei einer Korrektur der aktuellen Messdaten durch
erwartenden, noch die genannte Annahme er- die vom Filter errechneten Fehlerinkremente xEk auch
26.4  •  Erweiterungen für Fusionsfilter
491 26
.. Abb. 26.3 Funktions-
weise der Kompensation
der verzögerten Verfüg-
barkeit

xk
td
Xn Xj Xi

zk

die Korrektur des für alle gespeicherten Messdaten Das Funktionsprinzip der Kompensation der
XEn gültigen Fehlers "E statt. Somit ist gewährleistet, zeitverzögerten Verfügbarkeit ist in . Abb. 26.3 ver-
dass unabhängig vom zeitlichen Verzug stets die ak- anschaulicht. Hierbei ist erkennbar, dass die vergan-
tuellen Fehler auch bei den gespeicherten Zuständen genen gespeicherten Werte XEn des Basissystems als
korrigiert sind. Da zum m-ten Abtastintervall in ei- gültige Korrekturen für den nächsten Abtastschritt
nem vom Basissystem berechneten Wert XEm auch die nach der Verfügbarkeit von Korrekturmessdaten
summierten Korrekturinkremtente "E0 aus der Ver- verwendet werden. Die sich daraus ergebenden
gangenheit bereits enthalten sind, gilt für das Update Fehlerkorrekturen xEk werden auf alle gespeicherten
der zugehörigen Korrektur "E: Werte angewendet. Damit ist die Kompensation
sDm
X allgemeiner Zeitverzüge mehrerer Sensoren unter-
"E D "E0 C xEs : (26.3) einander erreicht.
sD0 

Hierbei ist für die aktuelle Messepoche m D k. Dies 26.4.3 Plausibilisierung


erlaubt eine rechenzeiteffiziente, rekursive Imple-
mentierung als Summation der vom Filter errech- Fusionsfilter beruhen üblicherweise auf einem
neten Korrekturen xEk einer Messepoche auf jeweils stochastischen Modell, das eine Gewichtung von
alle gespeicherten Werte XEn. Mess- und Schätzdaten erlaubt. Dabei wird eine Be-
Da im Allgemeinen nicht von synchroner Ab- schreibung von Unsicherheiten der gemessenen und
tastung von Basissystem und Korrekturmessungen der fusionierten Daten mittels stochastischer Kenn-
ausgegangen wird, erfolgt unter Annahme (3) eine werte durchgeführt. Am Beispiel des Kalman-Filters
lineare Interpolation des zur Fehlerberechnung sind dies die Mess- und Schätzunsicherheiten, die in
verwendeten Messdatensatzes XEk. Unter Annahme Form von Varianz-Kovarianz-Matrizen modelliert
(4) wird die Verzögerungszeit td verwendet, um die werden. Solange Messfehler zufälliger Art sind und
beiden diesem Zeitpunkt am nächsten liegenden in ihrer Größe und Häufigkeit der angenommenen
und diesen daher einschließenden Messungen des statistischen Verteilung entsprechen, entsteht keine
Basissystems XEi und XEj auszuwählen. Hierbei gilt, Einschränkung der Optimalität des Schätzalgorith-
dass ti < td  tj. Es erfolgt die lineare Interpolation mus. Dies ist in der Realität jedoch nicht garantiert,
zwischen den Messwerten nach: da Sensoren und Messungen auch systematischen
 t t Fehlereinflüssen unterliegen können; ein Beispiel
hierfür ist die Mehrwegeausbreitung bei GNSS.

XEk D XEi C XEj  XEi 
d i
: (26.4)
tj  ti  Daher ist eine Plausibilisierung der Messdaten er-
forderlich, ein entsprechendes Konzept wird nach-
Die um den aktuell bekannten Fehler korrigierten folgend gezeigt. Ziel der Plausibilisierung ist es, ih-
und auf den Korrekturmesszeitpunkt interpolier- rem stochastischen Modell aufgrund von Störungen
ten Werte XEk werden mit den Korrekturmessungen nicht entsprechende Messungen aufzudecken und
zu zEk verrechnet und zur Korrektur der Zustände zu entfernen. Das Konzept erfüllt folgende Anfor-
verwendet. derungen:
492 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

- Nutzung der gesamten Redundanz aller Mess- der n   -Umgebung verwendet. Der Parameter n

-
1 daten zur Fehlerdetektion, bestimmt in beiden Fällen die Irrtumswahrschein-
Kompatibilität zum Fusionsfilterkonzept und lichkeit und ist frei wählbar. Die Überprüfung der
2 dessen Anforderungen an die Verarbeitung Pseudoranges untereinander profitiert von mög-

3 - heterogener Messdaten,
Überprüfbarkeit der Messdaten unabhängig
von den Messzeitpunkten und der Abtastrate
lichst wenigen fehlerbehafteten Messungen, wäh-
rend die Überprüfung mit dem Basissystem unab-
hängig von der Anzahl an Ausreißern ist. Daher ist

4
5
- der Sensoren,
Entfernung von Messungen nur bei signifikan-
ten Abweichungen der Messdaten von ihrem
stochastischen Modell durch mit definierter
es vorteilhaft, die Überprüfung mit dem Basissys-
tem zuerst auszuführen.

Plausibilisierung einer Einzelmessung gegen das


Irrtumswahrscheinlichkeit parametrierte Prüf- Basissystem  Die Beobachtungsgröße des Fusions-

26
- schärfe,
Erhaltung der größtmöglichen Anzahl an un-
filters für Pseudoranges (Codemessungen) ist die
gekürzte Beobachtung ıPSR, d. h. die Differenz der

7
8
- veränderten Messungen für das Fusionsfilter,
Berücksichtigung aller Mess- und Schätz­
unsicherheitsmodelle zum Erreichen eines
selbstregelnden, der aktuellen Unsicherheit des
gemessenen zur aus den vorliegenden Daten (Ei-
genposition, Satellitenposition etc.) berechneten
Pseudorange:

Filters angepassten Verhaltens. ıPSR D zPSR  zLPSR : (26.5)

9 Am Beispiel eines integrierten Navigationssys- Hierbei ist zPSR die vom Empfänger aus der Lauf-
tems mit einem Error-State-Space-Kalman-Filter zeitmessung erhaltene Pseudorange und zLPSR die
10 (siehe ▶ Abschn. 26.6) wird die Umsetzung einer aus der aktuellen Positionsschätzung des Strap-
Plausibilisierung gezeigt. Hierbei besteht das Ba- down-Algorithmus und der aus den Ephemeri-
sissystem aus einer Inertialmesseinheit und einem dendaten bekannten Satellitenposition berechnete
11 Strapdown-Algorithmus, die Plausibilisierung wird Strecke. Die Standardabweichung der Pseudo-
beispielhaft für GNSS-Pseudorange-Messungen in range-Messung PSR;Mess ergibt sich aus dem im
12 einer Tightly-Coupled-Architektur durchgeführt. Tightly-Coupling berechneten Filterzustand „in
Dabei erfolgt die Plausibilisierung sowohl durch Abstand umgerechneter Empfängeruhrfehler“ mit
den Vergleich von Messungen des Basissystems mit Standardabweichung C lk sowie aus dem Messrau-
13 den Pseudoranges als auch durch den Vergleich der schen PSR der Pseudorange-Messung:
einzelnen Pseudoranges einer Messepoche unter-
14 einander.
2
PSR;Mess D C2 lk C PSR
2
: (26.6)
Das Fusionsfilter verwendet grundsätzlich wei-
15 ßes Gaußsches Rauschen als stochastisches Modell, Eine dreidimensionale Projektion des Filterzu-
wobei zu jedem Messwert die Standardabweichung stands „Positionsfehler“ mit Standardabweichung
Mess einer Normalverteilung modelliert wird. P os auf die Sichtlinie zum Satelliten wird nicht
16 Als stochastisches Verfahren Plausibilisierung durchgeführt, um eine Kopplung der Fahrzeugaus-
einer Einzelmessung gegen das Basissystem wird aus richtung mit den Schwellwerten zu vermeiden.
17 der Messunsicherheit Mess und der Schätzunsicher- Daher wird die Positionsunsicherheit P os als
heit Basi s die Gesamtunsicherheit bestimmt und Worst-Case-Abschätzung aus der geometrischen
eine n   -Umgebung zur Berechnung des Schwell- Summe der Koordinatenunsicherheiten berechnet,
18 werts  für die Fehlerdetektion verwendet. Für die hier in den Achsen der Navigationskoordinaten:
Plausibilisierung der Einzelmessungen, hier Pseu-
19 doranges, gegeneinander, die ein weitgehend filte- P2 os D e2 C n2 C u2 : (26.7)
runabhängiges Verfahren darstellt, werden die ein-
20 zelnen Messunsicherheiten Mess zur Berechnung
26.4  •  Erweiterungen für Fusionsfilter
493 26

Die n   -Umgebung, und damit der Schwellwert Aus der Gaußschen Fehlerfortpflanzung des Mess-
IM U;C ode, ergibt sich dann als: rauschens (Varianzen) der Pseudoranges p2 und q2
sowie der Unsicherheit der Ephemeridendaten Eph
2
q ergibt sich für die Standardabweichung l von l:
(26.8)
2
IM U;C ode D n  PSR;Mess C P2 os :

l D
Für den das Signifikanzniveau der Messfehler­
v
u zp  zq  eEp  eEq 2
u  !
detektion festlegenden Parameter n ist im Sinne u  p2
lMess
u
des Fusionsfilters eine Abwägung zwischen höhe-
: (26.13)
u
u
rer Verfügbarkeit von Messungen (n größer) einer- u
u z  z 

E
e  eE
 !2
q p p q
seits und stärkerer Fehlerunterdrückung (n kleiner)  q2 C Eph
2
tC
lMess
andererseits vorzunehmen. Der Test bewertet eine 
Messung als ungültig, falls
Der Ephemeridenfehler kann hierbei als vernach-
jıPSR j > IM U;C ode : (26.9) lässigbar angenommen werden, so dass sich für lEph
eine Varianz von Eph
2
D 0 ergibt. Der Schwellwert
Plausibilisierung der Einzelmessungen, hier Pseu- C ode;C ode berechnet sich als:
doranges, gegeneinander  Diese Plausibilisierung
basiert auf der Geometrie des Raumdreiecks, das C ode;C ode D n  l : (26.14)
von GNSS-Empfangsantenne und zwei beobachte-
ten Satelliten p und q aufgespannt wird [15]. Unter Auf einen Fehler in einer der Messungen zp und zq
der Annahme, dass die Empfangsposition nähe- wird geschlossen, falls die Bedingung
rungsweise und die Satellitenpositionen relativ ex-
akt (so dass sie für die Plausibilisierung als fehlerfrei l > C ode;C ode : (26.15)
betrachtet werden können) gegeben sind, wird der
Abstand der Sa­telliten lEph als Referenzwert berech- erfüllt wird.
net: Zur Isolierung der fehlerhaften Messungen wer-
den alle Kombinationen p, q (p ¤ q) getestet. Bei
lEph D kErp;Eph  rEq;Eph k: (26.10) r beobachtbaren Satelliten berechnet sich die An-
zahl s an Paarvergleichen unter der für die Prüfung
Dieser Satellitenabstand lässt sich als lMess auch notwendigen Bedingung r  2 durch die Gaußsche
aus den gemessenen Pseudoranges zp und zq gemäß Summenformel:
Kosinussatz berechnen:
.r  1/  r
2
lMess D zp2 C zq2  2  zp  zq  cos .˛/ : (26.11) sD : (26.16)
2 

Unter der Annahme, dass der Positionsfehler des Die Prüfung wird für alle s Paarungen von Satelliten
Strapdown-Algorithmus vernachlässigbar klein durchgeführt. Hierbei wird satellitenindividuell ein
gegenüber der gesamten Länge einer Pseudorange Fehlerzähler Fr für jede Paarung mit detektiertem
(im Schnitt ca. 22.000 km) ist, kann zudem der Widerspruch inkrementiert. Dabei wird der Zähler
Sichtwinkel ˛ zu den beiden Satelliten berechnet bei einer Fehlerdetektion für jeweils beide an der
werden. Paarung beteiligten Satelliten erhöht.
Die Längendifferenz l des Satellitenabstandes Ein Schwellwert FMax zum Verwerfen einer
aus beiden Berechnungen dient als Bewertungs- Messung ist hierbei so zu wählen, dass nur bei
größe für den Pseudorange-Fehler: einer eindeutigen Erkennung eines Fehlers die
ˇ ˇ Daten verworfen werden. Insbesondere gilt für
l D ˇlM ess  lEph ˇ : (26.12) die Fälle:
494 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 - r D 2: Wird im Paarvergleich ein Fehler


detektiert, so ist dieser nicht eindeutig auf eine
der beiden Messungen zuzuordnen. Damit
26.5.1 Integrität

Der Begriff der Integrität wird in der Navigation


2 erfolgt zur sicheren Vermeidung eines Fehlers und Ortung meist entsprechend [16] als „(…) die
das Verwerfen beider Messungen aufgrund des Korrektheit der durch die Ortungskomponente be-
3
4
- geometrischen Vergleichs.
r  3: Unter der Annahme, dass Störungen
zufällig oder geometrisch bedingt unter-
schiedlich in allen Messungen auftreten, sind
reitgestellten Positionsinformation (…)“ beschrie-
ben, wobei diese Definition im Prinzip auf sämtliche
durch das Fusionsfilter zu schätzenden Größen er-
weitert werden kann. Eine Aussage zur Korrektheit
Messungen zu verwerfen, die in einer Min- wird in Form eines Integritätsmaßes gegeben.
5 destanzahl an durchgeführten Paarvergleichen
eine Fehlerdetektion zeigen. Anforderungen  Daten und Messwerte besitzen
auch im ungestörten Fall eine definierte Streuung
26 Diese Bedingungen werden durch die Wahl der und einen Erwartungswert. Abweichungen zwi-
Mindestanzahl an Prüfungen mit Fehlerdetektion schen Messungen sind daher unvermeidbar und in-
7 gleich der Anzahl der verfügbaren Paarungen, je- nerhalb der spezifizierten Messgenauigkeiten zuläs-
doch mindestens gleich 1 erreicht: sig, ohne dass dies ein Hinweis auf einen Fehler ist.
Solange die Messwerte innerhalb ihrer spezifizierten
8 FM ax D r  1jFM ax  1: (26.17) Streubreiten liegen, wird daher von gegebener Kon-
sistenz, d. h. der Widerspruchsfreiheit der Messda-
9 Ist die Summe der detektierten Fehler einer Mes- ten im Rahmen ihrer Unsicherheiten, ausgegangen.
sung größer oder gleich FMax, so wird diese Mes- Die auf diesen Annahmen aufbauende Bewertung
10 sung verworfen. Damit ist die Plausibilisierung für der Integrität von Daten setzt voraus, dass mindes-
die GNSS-Pseudoranges einer Messepoche abge- tens zwei redundante Datensätze verfügbar sind,
schlossen. um diese gegeneinander auf Konsistenz, d. h. auf die
11 Das Prinzip der Überprüfung gegen das Ba- Widerspruchsfreiheit im Sinne des angenommenen
sissystem sowie mit anderen Messungen einer stochastischen Modells, zu überprüfen.
12 Messepoche lässt sich entsprechend auf andere Nutzerfunktionen der fusionierten Daten benö-
Messgrößen wie z. B. Deltarange- und Odometrie- tigen daher als Integritätsinformation zur Bewer-
messungen übertragen. tung der Daten sowohl das Ergebnis der Konsistenz-
13 prüfung als auch Kennwerte über die Schärfe und
Verfügbarkeit dieser Überprüfung. Daraus ergeben
14 26.5 Datenqualitätsbeschreibung sich folgende allgemeine Anforderungen an ein In-

15 Im Folgenden werden Methoden zur Beschreibung


-
tegritätsmaß:
Überprüfung aller verfügbaren redundanten

16
der Datenqualität vorgestellt, die über die durch das
Fusionsfilter berechnete Qualität der Zustandsgrö-
ßen in Form einer Varianz-Kovarianz-Matrix hi- - Messungen gegeneinander auf Konsistenz;
Detektion von Störungen und Inkonsistenzen
mit möglichst kleiner Detektions- bzw. Alarm-

17
nausgehen. Zunächst wird das Qualitätsmaß Inte­
grität erläutert, das eine Bewertung der Konsistenz
von redundanten Daten zum Ziel hat. Eine Auswahl - zeit und definierter Irrtumswahrscheinlichkeit;
Ausgabe des Ergebnisses der Überprüfung in
Form einer Aussage über die Verwendbarkeit
18
19
aus der Vielzahl von Methoden zur Integritätsbe-
wertung wird vorgestellt. Anschließend wird ein
Konzept zur Berechnung eines Genauigkeitsmaßes
präsentiert, das für Anwendungsfunktionen eine
- der Daten;
Ausgabe eines Konfidenzmaßes zur Beschrei-
bung der Prüfschärfe und zur Berücksichtigung
der Unsicherheiten und der Verfügbarkeiten.
ganzheitliche Qualitätsbewertung der aus dem Fu-
20 sionsfilter benötigten Daten bereitstellt. Somit ergibt sich das hier definierte Integritätsmaß
als eine Kombination aus der Überprüfung der ver-
26.5 • Datenqualitätsbeschreibung
495 26

fügbaren Daten auf Konsistenz, der Bewertung der Zur Bewertung der Optimalität eines Parame-
Prüfschärfe aufgrund der Unsicherheit der Daten terschätzverfahrens werden zwei Kriterien [19] zur
und der Überdeckung der Vertrauensintervalle. Bewertung der Konsistenz als Grundlage verwen-
det. Diese sind ein Erwartungswert der Schätzung,
Algorithmen zur Bewertung der Integrität   Die der dem wahren Wert entsprechen soll, sowie die
Definition der Integrität in der Navigation und Or- minimale Varianz der Schätzung. Die mittlere
tung lässt sich laut [16] ergänzen: quadratische Abweichung stellt hierbei ein ge-
meinsames Maß beider Kriterien dar. Ein für den
» „(…) die Korrektheit der durch die Ortungskom- Globaltest geeignetes Verfahren ist der Normali-
ponente bereitgestellten Positionsinformation zed-Innovation-Squared (NIS)-Test.
(…). Diese wird durch zwei Größen beschrieben: Als Grundlage zur Sensorvalidierung und zur
Fehlergrenzwert und Alarmzeit. Detektion von signifikanten Fehlern wird die Über-
prüfbarkeit von Daten verwendet. Hierfür sind fol-

-
Der Fehlergrenzwert (Threshold Value) spezi-
fiziert den noch tolerierbaren Positionsfehler gende Herangehensweisen [2] geeignet:
für eine bestimmte Anwendung. Er heißt auch Hardware-Redundanz: gegenseitige Über-
prüfung der Informationen von mehreren

-
Protection Level und wird üblicherweise in
der horizontalen Ebene (Horizontal Protection gleichen Sensoren;
Level, HPL) und in der vertikalen Achse (Vertical Analytische Redundanz: gegenseitige Über-
prüfung von modellbasiert mit anderen Senso-

-
Protection Level, VPL) getrennt angegeben.
Die Alarmzeit (Time-to-alarm, ToA) beschreibt die ren verknüpften Informationen;
erlaubte Zeitspanne zwischen Auftreten des den Temporale Redundanz: Überprüfung mehrerer
Durchläufe des gleichen Versuchs, daher nicht

-
Alarm auslösenden Ereignisses und seiner Erfas-
sung am Ausgang der Ortungskomponente. (…)“ echtzeitfähig;
Wissensbasierte Methoden: Modellierung von
Eine Konkretisierung [17] des Begriffs der Integri- Prozesswissen/menschlichem Wissen, mit dem
tät ist möglich, indem die Sub-Parameter Integri- Inkonsistenzen in Signalen erkannt werden.
tätsrisiko, Alarmschwelle und Alarmzeit definiert
werden. Hierbei bedeutet Integritätsrisiko die Auf- Redundanzen werden beispielsweise bei der Sen-
tretenswahrscheinlichkeit eines nicht akzeptablen sorvalidierung durch Bayessche Netzwerke [2]
Fehlers des Systems, ohne dass eine rechtzeitige verwendet. Hierbei wird jedem Sensor über eine
Warnung gegeben wird. Das Alarmlimit definiert Verknüpfung bedingter Wahrscheinlichkeiten eine
den Schwellwert des noch akzeptierten Fehlers, Validitätswahrscheinlichkeit zugeordnet. Neben
ab dessen Überschreitung Integritätsalarm ausge- dem bereits erwähnten, auch auf Redundanzen ba-
löst wird, die Alarmzeit wird als die Zeit zwischen sierenden NIS-Test [20] existieren als weitere Ver-
Auftreten eines nicht akzeptablen Fehlers in der fahren zur Validitätsprüfung die Parity-Space-Me-
Navigationslösung und der Auslösung des Alarms thode [21] und die mathematisch ähnliche
beschrieben. Hauptkomponentenanalyse [22]. Beide basieren auf
Die Begriffe Korrektheit und Genauigkeit be- einer Auftrennung von Beobachtungen in statistisch
schreiben im allgemeinen Sinne die Einhaltung bzw. unabhängige Komponenten und deren anschließen-
die Definition eines alle Unsicherheiten der Daten der Überprüfung. Eine wissensbasierte Methode ist
einschließenden Vertrauensintervalls. Fuzzy Logik [23], die häufig zur Sensorvalidierung
Ein grundlegendes, zur Integritätsbewertung in Kraftwerken eingesetzt wird.
geeignetes statistisches Verfahren zur Qualitätskon- Das aus dem GNSS-Bereich stammende Receiver
trolle von Mess- und Schätzdaten ist der Globaltest Autonomous Integrity-Monitoring (RAIM-)-Ver-
[18], in dem ein Gauß-Markov-Modell auf Einhal- fahren ist ein Überbegriff für verschiedene Metho-
2
tung einer angenommenen n-Verteilung innerhalb den. Diese verwenden insbesondere auf Redundanz
einer definierten Irrtumswahrscheinlichkeit über- basierende Methoden zur Integritätsbewertung in
prüft wird. Geodäsie, Navigation und Ortung.
496 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 .. Tab. 26.2  Testszenarien statistischer Hypothesentests

Sachverhalt H0 ist akzeptiert Ha ist akzeptiert


2 H0 ist wahr korrekte Entscheidung Falschalarm (Fehler 1. Art)
Konfidenzniveau 1  ˛ Irrtumswahrscheinlichkeit ˛
3 Ha ist wahr Fehlalarm (Fehler 2. Art) korrekte Entscheidung
Wahrscheinlichkeit ˇ Güte 1  ˇ

4
Gemeinsames Ziel von RAIM-Algorithmen ist Weiterhin wird der betrachtete Zeitbereich
5 die bordautonome Fehlerdetektion in Messdaten zur Bildung der Teststatistik unterschieden in
mit möglichst kurzer Alarmzeit und definierter Snapshot-Methoden, die nur die Daten der aktu-
Irrtumswahrscheinlichkeit. Weiterhin wird als Be- ellen Messepoche verwenden, sowie sequenzielle
26 wertungsgröße des aktuellen Systemzustandes eine Methoden, die auch aus der Vergangenheit gespei-
Abschätzung des maximalen Störeinflusses durch cherte Werte zur Berechnung einsetzen.
7 einen unentdeckten Fehler berechnet. Der Nachweis der mathematischen Äquivalenz
Übliche in der Geodäsie verwendete RAIM-Al- ist für die vier grundlegenden, dem Snapshot-Ver-
gorithmen basieren auf dem Detection, Identifica- fahren in der Range Domain zuzuordnenden
8 tion and Adaption (DIA)-Verfahren [24], das vom RAIM-Methoden Least Squares Residuals, Parity
stochastischen Modell grob abweichende Störungen Space, Range Comparison [26] und Normalized
9 mittels Globaltest detektiert und Ausreißer gegebe- Solution Separation [27] erbracht.
nenfalls über einen Lokaltest identifiziert. Eine Ad- Das Snapshot-Verfahren Multiple Solution Se-
10 aption [25] an den Ausreißer lässt sich durch das paration [25] in der Position Domain basiert auf der
Ersetzen der fehlerhaften Messung oder die Anpas- Annahme, dass pro Messepoche nur eine Messung
sung der Nullhypothese an den Ausreißer erzielen. gestört ist. Bei N Beobachtungen werden zusätzlich
11 Die Nullhypothese H 0 bei RAIM besagt, dass sich zur Gesamtlösung N  1 Positionslösungen unter
die Abweichungen (Residuen) der Messungen wie Ausschluss jeweils einer Beobachtung gebildet, so
12 normalverteilte Zufallsvariablen entsprechend ih- dass gemäß der Annahme mindestens eine fehler-
rem stochastischen Modell verhalten. Die Alterna- freie Lösung existiert. Die Teststatistik wird durch
tivhypothese H a geht dagegen von einem Fehler Auswertung der Abweichungen zur Gesamtlösung
13 aus: Wird diese Hypothese akzeptiert, erfolgt die gebildet; dieses Verfahren ist durch die Berechnung
Auslösung von Integritätsalarm. Beim Überprüfen mehrerer Lösungen mit einem hohen Rechenauf-
14 der Hypothesen mittels Globaltest [24] ergeben sich wand verbunden.
mit den stochastischen Parametern ˛ und ˇ die in Das sequenzielle Range-Domain-Verfahren Au-
15 . Tab. 26.2 gezeigten Szenarien: tonomous Integrity Monitoring by Extrapolation
RAIM-Anwendungen in der Navigation basie- (AIME) [25] ist zum Einsatz in der Airbus-Familie
ren auf den folgenden drei grundlegenden Fehler- zertifiziert. Es ermittelt die Teststatistik über die

--
16 detektionsmethoden: Innovationen des Fusionsfilters über die Zeiträume
Range Domain: Konsistenzprüfungen der 150 s, 10 min und 30 min, wodurch langsam verän-
17 Pseudorange-Messungen, derliche Fehler prinzipiell detektierbar sind. Da-
verallgemeinert: Konsistenzprüfung auf mit steigt jedoch auch die Alarmzeit entsprechend
18
19
-- (Roh-)Messdatenebene;
Position Domain: Teststatistik der Positionsbe-
stimmung wird aus Subsystemen hergeleitet,
verallgemeinert: Konsistenzprüfung auf
an. Dieses Verfahren ist insbesondere geeignet für
Tightly-Coupled-Verfahren, da es durch die Einbe-
ziehung des Trägheitsnavigationssystems auch bei
weniger als vier beobachtbaren Satelliten zur Über-

20 - Ebene der Fusionsergebnisse;


Time Domain: Konsistenzprüfung auf Basis
der Plausibilität des zeitlichen Verlaufs von
Messdaten.
prüfung redundanter Daten in der Lage ist.
Ein Schwachpunkt der gezeigten Verfahren, die
2
auf einem globalen  -Test aufbauen, ist die feh-
26.5 • Datenqualitätsbeschreibung
497 26

lende oder – wie bei AIME – nur über einen langen Schwächen und deren Nachteil nur bei einem korrekt
Zeitraum gegebene Detektierbarkeit von langsam parametrierten Fusionsfilter funktionsfähig zu sein,
wachsenden Fehlern, beispielsweise verursacht durch eine Bank an mehreren unabhängigen Filtern
durch Veränderungen der Ionosphärenlaufzeit von mit unterschiedlichen Fehlerhypothesen, die einem
GNSS-Signalen oder Offset-Driften der Inertial- Fehler eine Zutreffenswahrscheinlichkeit zuordnen.
messeinheit. Ein hierfür beschriebener Lösungs- Durch die notwendigen Mehrfachberechnungen re-
ansatz ist der Rate-Detector-Algorithmus [28], der sultiert ein erhöhter Rechenaufwand für beide Me-
über ein separates Kalman-Filter die Änderungsrate thoden. Außerdem zielen diese Ansätze auf vorab
der Teststatistik beobachtet und somit dauerhafte, festgelegte Fehlertypen, auf nichtmodellierte Fehler-
jedoch zur Auslösung von Integritätsalarm zu kleine arten können sie nicht in geeigneter Weise antworten.
Abweichungen vom Erwartungswert detektiert.
Ein Ansatz, der die bekannten Schwächen von
RAIM-Algorithmen – Annahme nur eines gleich- 26.5.2 Genauigkeit
zeitigen Fehlers und Nichterkennbarkeit von lang-
sam veränderlichen Fehlern – adressiert, ist die Anforderungen  Die Datenverarbeitung oder Rege-
Piggypack-Architektur [29]. Letztere nimmt eine lung in Anwenderfunktionen benötigt detaillierte,
Umrechnung der Inertialmessungen in virtuelle mehrere Signaleigenschaften umfassende Infor-
Pseudorange-Messungen vor und führt die Teststa- mationen. Die Information über die Gesamtun-
tistik nach AIME, eine Fehlerdetektion und -isola- sicherheit [36] der Filterzustände allein ist nicht
tion nach Solution-Separation durch [25] – d. h. der ausreichend, um die Steuerung oder Regelung mit
Berechnung mehrerer Navigationslösungen unter dynamischer Qualität aufzubauen. Daher erfolgt
Ausschluss einzelner Beobachtungen und die Be- eine Echtzeit-Beschreibung typischer Eigenschaf-
rechnung des Protection-Levels nach NIORAIM ten von gemessenen oder auch verarbeiteten Daten
[30]. Dieses Verfahren ist aufgrund der Berechnung in Form von Genauigkeitsmaßen für verschiedene
virtueller Pseudoranges und der Verwendung von Kennwertklassen. Dadurch wird der virtuelle Sensor
Solution-Separation mit einem hohen Rechenauf- dahingehend erweitert, dass den Anwendungen ein
wand verbunden. dynamisches, den aktuellen Verfügbarkeiten und
Speziell für die Anwendung im Straßenverkehr Genauigkeiten der Sensoren entsprechendes virtu-
wird der Begriff von Vehicle Autonomous Integrity elles Datenblatt liefert. Dieses enthält alle für die
Monitoring (VAIM) [31] eingeführt, weiterhin für Verarbeitung in den Anwendungen benötigten In-
die Verwendung seriennaher Sensorik das Verfah- formationen bzgl. der in der aktuellen Mess­epoche
ren High Integrity IMU/GPS Navigation Loop [32], fusionierten Signale, ist jedoch so weit abstrahiert,
die beide stark vereinfachende Annahmen und Al- dass keine direkte Abhängigkeit von einzelnen
gorithmen verwenden und die bereits genannten Sensoren besteht. Dadurch wird eine Entkopplung
Schwächen von RAIM-Algorithmen aufweisen. der Signalquellen und der Anwenderfunktionen
Ein Verfahren der Time Domain, das im Gegen- zusätzlich zur Datenebene auch auf der Beschrei-
satz zu anderen Verfahren nicht die Zustände und bungsebene erreicht.
Messungen, sondern die durchfahrene Trajektorie Es ergeben sich die folgenden allgemeinen An-
beobachtet, ist Trajectory Monitoring [33]. Dort wird
jedoch auch gezeigt, dass dieses Verfahren Schwä-
-
forderungen an das Genauigkeitsmaß:
Abstraktion der Beschreibungsebene durch
chen bei niedrigen Geschwindigkeiten aufweist.
Des Weiteren existieren auf der Verwendung
mehrerer Modelle basierende Algorithmen: So ver- - den virtuellen Sensor,
anwendungsspezifische Eigenbeschreibung des
virtuellen Sensors durch ein Echtzeit-Daten-
wendet Interactive Multiple Model Filtering [34] zwei
verschiedene Modelle zur Fehlerdetektion, zwischen
denen je nach Fahrsituation umgeschaltet wird. -- blatt,
Rückwirkungsfreiheit auf das Fusionsergebnis,
Beschreibung aller Ausgabegrößen des Fusi-
Multiple Model Adaptive Estimation (MMAE) [35]
adressiert die von RAIM-Algorithmen bekannten
- onsfilters,
Konsistenz mit dem bestehenden Fusionsfilter.
498 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

Bestehende Maße  Für die Beschreibung grund- Auch wenn sich diese Definition an realen, für den
1 legender Begriffe [17] zur Bewertung der Leis- praktischen Einsatz relevanten Beschreibungsgrö-
tungsfähigkeit eines Navigationssystems wird die ßen orientiert, beschränkt sich die Klassifikation
2 Genauigkeit als statistisches Maß für die Abwei- der Messunsicherheit und Messgenauigkeit auf die
chung der geschätzten Position von der unbekann- bisher übliche Beschreibung eines gesamten Fehlers.
ten wahren Position definiert. In Abhängigkeit vom Daher wird im Folgenden der Begriff des Genauig-
3 Anwendungsfall und von der angenommenen Ver- keitsmaßes im Sinne der Messgenauigkeit verwen-
teilungsfunktion werden verschiedene Maße zur det, jedoch um eine Klassifikation in verschiedene
4 Beschreibung eines Unsicherheitsintervalls definiert, Fehlertypen erweitert.
wie beispielsweise „Circular Error Probable“ (CEP).
5 Weiterhin wird der Begriff der Kontinuität definiert Konzeption eines Genauigkeitsmaßes  Zur Be-
als die Zuverlässigkeit der Positionsausgabe eines schreibung der Eigenschaften von Messdaten erfolgt
Navigationssystems: Das Kontinuitätsrisiko beschreibt eine Klassifikation in unterschiedliche Fehlertypen.
26 die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das System keine Somit wird eine Aufteilung des Gesamtfehlers in
den Spezifikationen entsprechende Ausgabedaten Einzelfehler erreicht. Die diesen einzelnen Fehler-
7 mehr liefert. Der Begriff der Verfügbarkeit wird im typen zugeordneten Genauigkeiten werden im Fol-
engsten Sinne definiert als die gleichzeitige Einhal- genden als Beschreibungsgrößen bezeichnet. Die
tung der Anforderungen an Genauigkeit, Integrität Berechnung und Weitergabe der Beschreibungs-
8 und Kontinuität. Es wird jedoch angemerkt, dass in größen an Nutzerfunktionen ermöglicht die funk-
praktischen Anwendungen häufig auch nur eine teil- tionsindividuelle Bewertung der aktuellen Signalei-
9 weise Einhaltung dieser Kriterien ausreicht. Daher genschaften, auch wenn keine direkte Verbindung zu
wird von [17] die praxisnahe Definition von Ver- den Sensoren selbst mehr besteht. Die Klassifikation
10 fügbarkeit als die Einhaltung der Anforderungen an in Beschreibungsgrößen liefert dabei Zusatzinfor-
ein System zu einem bestimmten Zeitpunkt angeregt. mationen, die entsprechend des Fehlerfortpflan-
Eine allgemeingültige, auf gemessene oder ge- zungsgesetzes gebildete Summe der Einzelfehler
11 schätzte Daten anwendbare Qualitätsbeschreibung ergibt wiederum die Gesamtunsicherheit.
wird von [37] vorgeschlagen. Die Messqualität wird Die Verarbeitung von Messdaten erfolgt in
12 hierbei als übergeordneter Begriff verwendet, der der Regel schrittweise, jedoch stets basierend auf
sich aus den wie folgt definierten Teilmaßen zusam- grundlegenden Operationen. Daraus ergibt sich die
13
14
-
mensetzt:
Messunsicherheit: quantitative Beschreibung
des Zweifels am Messergebnis in Form eines
Überdeckungsintervalls, innerhalb dessen sich
Unterteilung der vorgenommenen Signalverarbei-
tung in abgeschlossene, als Black Box modellierte
Abschnitte, die stets die Beschreibungsgrößen als
Ein- und Ausgangsvektor besitzen. Innerhalb die-
der wahre Wert der Messgröße mit definiertem ser gekapselten Systeme werden die Ausgabewerte
15
- Vertrauensgrad befindet.
Messgenauigkeit: qualitatives, theoretisches
Maß für die Annäherung eines Messergebnis-
der Beschreibungsgrößen in Form einer Fehlerfort-
pflanzung berechnet, wobei auch bekannte Abhän-
gigkeiten von Beschreibungsgrößen untereinander

-
16 ses an den wahren, unbekannten Wert. in Form eines Fehlerfortpflanzungsgesetzes berück-
Konsistenz: Beschreibung der Widerspruchs- sichtigt werden. Ansonsten werden die Beschrei-
17
- freiheit von verschiedenen Messwerten.
Latenz (Verzugszeit): Zeit zwischen Messung
bungsgrößen vereinfachend als unabhängig und
untereinander rückwirkungsfrei betrachtet. Optio-
18
- und Bereitstellung von Messdaten.
Verfügbarkeit: Bereitstellung von Daten zu
einem bestimmten Zeitpunkt („Punktverfüg-
nal werden weitere Parameter, beispielsweise durch
Korrekturen vom Fusionsfilter, zur Berechnung der
Beschreibungsgrößen verwendet.

-
19 barkeit“). Eine beispielhafte Umsetzung ist in . Abb. 26.4 als
Zuverlässigkeit: Wahrscheinlichkeit für die Blockdiagramm gezeigt. Diese hierbei modellierten
20 Verfügbarkeit von Messdaten über eine defi- Operationen umfassen die Korrektur von Nullpunkt-
nierte Dauer hinaus. und Skalenfaktorfehlern einer Beschleunigungsmes-
26.6  •  Beispiel einer Umsetzung
499 26

.. Abb. 26.4  Struktur der Genauigkeitsberechnung

sung aEbIM U durch das Fusionsfilter, deren Drehung zeigt. Dafür wird ein Error-State-Space-Ansatz mit
in Navigationskoordinaten durch die Drehmatrix CO nbr einem Extended-Kalman-Filter ausgewählt, die
und deren Summation in eine Geschwindigkeit vEn bei in ▶ Abschn. 26.2.2 gezeigte Sensorik wird hierfür
gleichzeitiger Korrektur des Absolutwertes durch das als Grundlage verwendet. Eine MEMS-Inertial-
Fusionsfilter. Hierbei wird die Notation in für Ein- messeinheit mit sechs Freiheitsgraden wird in Kom-
gangswerte und out für Ausgabewerte verwendet. bination mit einem Strapdown-Algorithmus als
Die Modellierung des Signalpfades beginnt mit Basissystem eingesetzt. Korrekturen werden durch
den Sensoren als Quelle. Für die Beschreibungsgrö- GPS Code- und Trägerphasenmessungen sowie
ßen werden Startwerte entsprechend den Spezifika- Odometriemessungen in Form eines Tightly-Cou-
tionen der Sensoren in ihren realen Datenblättern plings zur Verfügung gestellt. Das Filter wird um
verwendet. Somit ist eine stets dem aktuellen Betrieb- die in ▶ Abschn. 26.4.2 gezeigte Kompensation von
szustand entsprechende Spezifikation der Signalei- verzögerter Verfügbarkeit erweitert, ebenso wird die
genschaften zu jedem Prozessschritt der Signalverar- in ▶ Abschn. 26.4.3 beschriebene Plausibilisierung
beitung erreicht. Bezogen auf die Einhaltung dieser für die Korrekturmessungen integriert.
Spezifikationen ergibt sich das Kontinuitätsrisiko Das sich aus den beschriebenen Blöcken er-
eines Error-State-Space-Fusionsfilters entsprechend gebende Fusionsfilter [38] ist in . Abb. 26.5 als
der obigen Definition aus dem Kontinuitätsrisiko des Strukturbild gezeigt. Das Basissystem enthält als
Basissystems, da dessen Verfügbarkeit und Einhaltung zentrales Element der Datenfusion die Korrektur
der Spezifikationen die kleinste, notwendige Grund- der IMU-Sensorfehler, den Strapdown-Algorithmus
lage für den Betrieb des Fusionsfilters darstellen. und das Fusionsfilter (Error-State-Space-KF).
Anhand der Anforderungen der Nutzerfunktio- Die Tightly-Coupling-Schleife setzt sich aus
nen werden die Beschreibungsgrößen ermittelt. Für den Vorverarbeitungs- und Messmodellen für die
das Berechnungsverfahren wird ein für jede Eigen- Rohmessdaten aus GPS-Pseudorange- und Del-
schaft spezifisches Fehlerfortpflanzungsgesetz ausge- tarange-Messungen und aus der Odometrie zu-
wählt. Prinzipiell lässt sich die Fehlerfortpflanzungs- sammen. Die vorverarbeiteten und korrigierten
rechnung mit beliebigen, für die Beschreibungsgrößen Daten aus diesen Blöcken sind Eingänge für das
individuellen Verteilungsfunktionen realisieren. Error-State-Space-Kalman-Filter, die Korrekturen
für Tightly-Coupling werden als Ausgabegrößen
des Filters in einer geschlossenen Regelschleife zu-
26.6 Beispiel einer Umsetzung rückgeführt. Der relative Zeitverzug der GPS- und
Odometriemessungen wird gemessen und mit der
26.6.1 Architektur Korrektur für verzögerte Verfügbarkeit kompen-
siert. Die Plausibilisierung detektiert und entfernt
Die beispielhafte Umsetzung eines Fusionsfilters die durch äußere Störungen nicht mehr ihrem Feh-
zur hochgenauen Ortung wird nachfolgend ge- lermodell entsprechenden Messwerte der Korrek-
500 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1
2
3
4
5
26
7
8
9 .. Abb. 26.5  Blockstruktur des Fusionsfilters

10 turmessungen. Dies erfolgt sowohl als integrierte, Der Aufbau des Fusionsfilters erfüllt hierbei die
Messungen und Unsicherheiten des Fusionsfilters in ▶ Abschn. 26.1 genannten Anforderungen an die
und der Korrekturmessungen verwendende Über- Systemarchitektur. IMU und Korrekturmessungen
11 prüfung als auch durch den modellbasierten, vom sind als Sensoren von den ausgegebenen Daten ent-
Filter unabhängigen Vergleich überbestimmter Kor- koppelt, das Filter wirkt als virtueller Sensor und be-
12 rekturmessdaten untereinander. rechnet unabhängig von der Anzahl der verfügbaren
Diese modulare Filterstruktur ermöglicht die Korrekturmessungen einen konsistenten Satz an Aus-
Erweiterbarkeit um weitere Korrekturmessungen gabedaten. Da der Strapdown-Algorithmus zeitinva-
13 ohne Änderungen an den bestehenden Messmo- riant mit deterministischen Prozessschritten ist, wird
dellen. Mindestvoraussetzung zur Integration ei- eine konstante Gruppenlaufzeit der Signale erzielt.
14 ner weiteren Korrekturmessung ist parallele oder Die Ausgaberate ist durch die taktgleiche Berech-
analytische Redundanz zu mindestens einem der nung des Basissystems identisch mit der IMU-Mess-
15 Filterzustände, womit auch eine Plausibilisierung rate; diese ist die höchste aller verwendeten Sensoren.
mit Messdaten aus dem Basissystem realisierbar Weiterhin ist die IMU-Verfügbarkeit nicht durch äu-
ist. Beinhaltet ein Korrekturdatensatz mehrere ßere Umstände eingeschränkt, sondern nur durch die
16 Messungen mit paralleler Redundanz untereinan- Hardware-Zuverlässigkeit der Sensoren bestimmt.
der, lässt sich über eine Modellbeschreibung von Bei allen anderen für Korrekturmessungen einge-
17 bekannten Zusammenhängen auch die erwähnte, setzten Sensoren werden dynamische Änderungen
vom Fusionsfilter unabhängige, Plausibilisierung der Verfügbarkeit sowie unterschiedliche und nicht
durchführen. Weiterhin ist für die Korrektur eines konstante Abtastraten kompensiert.
18 Zeitverzugs der Messung erforderlich, dass dieser Die Anforderungen für den spezifischen Ein-
Verzug messbar oder bekannt ist. Ist die Korrektur- satzzweck im Automobilbereich werden durch das
19 messung von systematischen Fehlern betroffen, die beschriebene Fusionsfilter und dessen Erweiterun-
durch die Messung selbst oder durch andere Mes- gen grundsätzlich erfüllt. Die Systemarchitektur des
20 sungen beobachtbar sind, ist die Einbindung in eine Fusionsfilters ermöglicht eine auf die Eigenschaf-
Regelschleife mit enger Kopplung realisierbar. ten heterogener Sensoren angepasste Signalverar-
26.6  •  Beispiel einer Umsetzung
501 26
.. Abb. 26.6  Fahrzeug auf
Trägerplattform

beitung in Echtzeit. Damit ist das Fusionsfilter als falscher Fehlerwert ermittelt. Weitere Randbedin-
zentraler virtueller Sensor in der Lage, einen konsis- gungen werden daher definiert, um einen solchen
tenten Datensatz mit im Vergleich zu den einzelnen Falschabgleich zu verhindern.
Sensoren verbesserter Genauigkeit zu erzeugen. Die vorgestellten bestehenden Systeme sind
hierbei Lösungen für spezifische, im praktischen
Anwendungsfall aufgetretene technische Probleme.
26.6.2 Bewegte Referenzsysteme/ Ihnen ist gemeinsam, dass sie einen Abgleich nur
„Trägerplattform“ in eindeutigen, durch logische Verknüpfungen er-
kannte Sondersituationen ermöglichen und dass sie,
Ein praxisrelevanter Sonderfall eines bewegten wenn überhaupt, eine Abhilfe zu den durch eine Trä-
Fahrzeugs ist dessen in . Abb. 26.6 gezeigter Trans- gerbewegung entstehenden Symptomen darstellen.
port auf einer Trägerplattform – wobei die Erde als Der im Folgenden vorgestellte Ansatz hat dagegen
Träger ausgenommen ist – beispielsweise durch zum Ziel, durch eine Modellierung bekannter physi-
eine Autofähre, einen Drehteller im Parkhaus oder kalischer Zusammenhänge und Messprinzipien von
durch eine Fahrt auf einem Anhänger bzw. Autozug. Sensoren die Ursache der Störung, d. h. die Träger-
Hierbei führt die Trägerplattform Bewegungen mit bewegung, als konsistenten Teil des Fahrzeug-Fusi-
im Allgemeinen sechs Freiheitsgraden aus: Bedingt onsfilters mit seinen Sensoren abzubilden.
durch heterogene Messprinzipien der fusionierten Die durch Bewegung des Trägers entstehende
Sensoren führt dies im Fahrzeug zu nachfolgend Inkonsistenz der Messungen resultiert, wie in
erläuterten Inkonsistenzen der Messungen unter- ▶ Abschn. 26.2.1 angedeutet, aus sich in unter-
einander und damit zur fehlerhaften Schätzung des schiedlichen Koordinatensystemen befindlichen
Fahrdynamikzustands durch das Fusionsfilter. Referenzpunkten der Sensoren. Die im Fusionsfilter
Bisherige Systeme zur Korrektur oder Kompen- eingesetzten Sensoren sind wie folgt von heteroge-
sation von Sensorfehlern nutzen beispielsweise Mo-
dellannahmen über eine Geradeausfahrt und den
Nullpunktfehler als niederfrequenten Effekt [39],
Schwellwerte zur Detektion von Situationen, die für
-
nen Referenzpunkten betroffen:
IMU: Absolutmessung der Dynamikgrößen
Beschleunigung und Drehrate im Inerti-
alkoordinatensystem; wie in ▶ Abschn. 26.2.2
einen Abgleich tauglich sind [40], und die Bildung beschrieben werden diese Messgrößen durch
einer Regressionsgeraden unter Einbezug von Rad- den Strapdown-Algorithmus in das erdfeste
drehzahl-Messungen [41] zum Abgleich von Senso- Koordinatensystem konvertiert. Eine Bewe-
ren – in diesem Falle des Gierratensensors. Findet gung des Fahrzeugs durch Trägerbewegung ist
ein solcher Abgleich auf einem bewegten Träger durch die IMU messbar und wird durch die
statt, wird durch die überlagerte Bewegung ein erdfeste Referenzierung korrekt verarbeitet.
502 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 - GNSS: Absolutmessung der Position und


Geschwindigkeit der Empfängerantenne; die
Messungen finden in erdfesten Koordinaten
1. Das Fahrzeug und der Träger bewegen sich
nicht gleichzeitig. Am Beispiel einer Fähre be-
deutet dies, dass die Fähre erst ablegt, wenn alle
2 statt. Eine Bewegung des Fahrzeugs durch Trä- Fahrzeuge geparkt und gesichert sind und dass
gerbewegung ist durch ein GNSS messbar und diese auch erst nach dem Anlegen wieder be-
wird durch die erdfeste Referenzierung korrekt wegt werden.

-
3 verarbeitet. 2. Zwischen Abstellen des Fahrzeugs und Beginn
Odometrie: Absolutmessung der Fahrzeugge- der Trägerbewegung vergeht stets eine Mindest-
4 schwindigkeit auf dem gegebenen Untergrund, zeit.
im hier betrachteten Fall ein Träger und nicht 3. Die Dynamik des Trägers bleibt stets begrenzt;
5 die Erdoberfläche; damit ist die Trägerbewe- die maximale Dynamik ist modellierbar.
gung nicht messbar und bei der Konvertierung
in fahrzeugfeste kartesische Koordinaten- Aus Annahme 1 folgt, dass die Bewegung eines fah-
26 system nach DIN 70000 [5] entstehen daher renden Fahrzeugs nicht von Trägerdynamik überla-
Inkonsistenzen in den Daten. gert ist. Somit stellt die Messung von Raddrehzahlen
7 größer Null durch die Odometrie ein Ausschluss-
Bei der Behandlung von Inkonsistenzen der Messda- kriterium einer Trägerbewegung dar. Annahme 2
ten durch die Trägerbewegung ist zu beachten, dass liefert als weiteres Ausschlusskriterium eine Still-
8 eine Berücksichtigung der Trägerdynamik durch standszeit unterhalb eines typischen Grenzwertes.
das alleinige Erhöhen des Odometriemessrauschens Der Grenzwert ist größer als typische Stillstands-
9 nicht zielführend ist, da die Trägerdynamik nicht zeiten – wie beispielsweise an Verkehrssignalanla-
zufällig in den Messdaten auftritt und somit deren gen – zu wählen, jedoch auch hinreichend klein, um
10 Mittelwertfreiheit nicht gegeben ist. Die Erhöhung Hypothese „a“ rechtzeitig zu verwerfen – falls sich
des Messrauschens [19] führt daher lediglich zur das Fahrzeug tatsächlich auf einem Träger befindet.
Verlangsamung, aber nicht zu einer Vermeidung der Wird Hypothese „b“ als gültig angenommen, wer-
11 Akkumulation von Fehlern im Fusionsfilter. den die Odometriemessungen als potenziell fehler-
Falls vom Fusionsfilter unabhängige Messdaten behaftet modelliert.
12 der Trägerbewegung verfügbar sind, ist die Korrektur Ziele dieser Unsicherheitsmodellierung sind die
der Inkonsistenzen beispielsweise dadurch möglich, Berücksichtigung der nicht mittelwertfreien Mess-
dass eine Autofähre die Dynamikdaten ihres eige- werte und die Beeinflussung des stochastischen Mo-
13 nen Navigationssystems und die zugehörigen Mess­ dells des Fusionsfilters, um die entstehenden Fehler
unsicherheiten an das Fahrzeug übermittelt. Sind dennoch plausibel zu beschreiben. Hierfür wird
14 zudem Position und Ausrichtung des Fahrzeugs auf die überlagerte Trägerbewegung weiterhin zu Null
der Fähre bekannt, ist damit eine deterministische angenommen und eine variabel angepasste Unsi-
15 Korrektur realisierbar, die durch Superposition der cherheit über das stochastische Modell eingebracht;
Trägerbewegungsdaten und der Odometriemessda- damit wird nicht verhindert, dass die inkonsistenten
ten die Inkonsistenz der Messdaten beseitigt und das Messungen zu Fehlern im Fusionsfilter führen. Ein
16 zugehörige überlagerte Messrauschen beider Mess- nicht dem Fehler entsprechendes Absinken der Va-
größen durch Fehlerfortpflanzung berechnet. rianzen durch das Anbringen nicht mittelwertfrei
17 Sind keine Daten zur Trägerdynamik verfügbar, fehlerbehafteter Messungen wird aber vermieden.
wird der Trägerstatus des Fahrzeugs durch die bei- Ebenso wird auch ein unplausibles kontinuierliches
den Hypothesen Ansteigen der Unsicherheiten über der Zeit – wie
18 a) „Fahrzeug befindet sich sicher nicht auf einem beim vollständigen Verwerfen der Odometrie-
Träger“ messung der Fall – verhindert. Diese dadurch im
19 b) „Es ist nicht bekannt, ob sich das Fahrzeug auf Systemmodell korrekt modellierten Fehler werden
einem Träger befindet“ beim Beginn einer Fahrt – und damit dem Über-
20 beschrieben. Dabei werden folgende Modellannah- gang zu Hypothese „a“ – im Sinne des Kalman-Fil-
men getroffen: ters optimal korrigiert.
26.6  •  Beispiel einer Umsetzung
503 26

Die Verfahren zur Superposition von bekann- NIS) gebildet, die mathematisch die Quadratsumme
ten Trägerdynamikdaten und zur Modellierung von statistisch unabhängigen, standardnormalver-
unbekannter Trägerdynamik sind abhängig von teilten Residuen darstellt:
der Verfügbarkeit von Trägermessdaten alternativ
anwendbar, ohne dass hierfür am Fusionsfilter selbst T Sk D EikT  S1 E
k  ik : (26.18)
Veränderungen notwendig sind. Die Modellierung
wird ausschließlich in der Vorverarbeitung der Die Standardisierung findet durch die zugehörige
Odometriesensorik für die Messdaten und deren Varianz-Kovarianz-Matrix Sk der Innovation statt.
Rauschmodell durchgeführt. Diese Werte werden Diese besteht aus den filterinternen, für Kalman-Fil-
als Beobachtung im Filter angebracht, wodurch die ter üblicherweise verwendeten Variablen „Messmo-
bisher übliche Behandlung von Trägerdynamik als dell Hk“, „A-priori-Varianz-Kovarianz-Matrix P k“
Sonderfall mit Umschaltung der Betriebsart des Fil- und „Varianz-Kovarianz-Matrix der Messung Rk“:
ters entfällt.
Sk D Hk  P T
k  Hk C Rk : (26.19)

26.6.3 Umsetzung Integritätsmaß Bei Gültigkeit der Nullhypothese H0 ist T Sk


Chi-Quadrat-verteilt. Der Erwartungswert von T Sk
Zur Bewertung der Integrität der Daten des in entspricht der Anzahl der verfügbaren Messungen
▶ Abschn. 26.6.1 gezeigten Fusionsfilters in einer Nk der aktuellen Messepoche k:
Messepoche k wird die im Kalman-Filter berech-
nete Innovation Eik, also der ungewichtete Zustands- T Sk  2Nk ; (26.20)
korrektur-Vektor, verwendet. Diese beschreibt die
Differenzen zwischen Korrekturmessungen und EfT Sk g D Nk : (26.21)
den durch das Messmodell Hk in die Einheiten der
Korrekturmessung transformierten Messungen des Die Überprüfung auf Integrität findet durch die
Basissystems. Überprüfung der Nullhypothese H0 mit dem auf
Als Algorithmus zur Berechnung des Integritäts- die gewählte Falschalarmrate ˛ angepassten Signi-
maßes, der wie in ▶ Abschn. 26.5 beschrieben ins- fikanzniveau statt. H0 geht dabei von der Fehlerfrei-
besondere für Tightly-Coupling optimiert ist, wird heit des Systems aus:
„Autonomous Integrity Monitored Extrapolation“
(AIME) verwendet. Zugunsten von Alarmzeit und H0 W T Sk  2Nk ;1˛ : (26.22)
Rechenaufwand wird in diesem Kontext jedoch nicht
die gemittelte Innovation über definierte Zeiträume Ist die Ungleichung erfüllt, so wird H0 angenom-
verwendet und AIME daher als Snapshot-Verfahren men, andernfalls ist H0 zu verwerfen und es wird
eingesetzt. Dieses überprüft anhand der Innovatio- Integritätsalarm ausgelöst.
nen Eik der aktuellen Messepoche die Nullhypothese Als Konfidenzmaß zur Beschreibung der Prüf-
H0 von normalverteilten Eingangsdaten mittels eines stärke des Hypothesentests wird ein an den Fehl-
Chi-Quadrat-Tests. Das Verfahren liefert damit in- ergrenzwert gekoppeltes Vertrauensintervall de-
nerhalb der zeitlichen Größenordnung einer Abtast­ finiert. Dieses wird als Protection-Level [42] PLk
periode des Basissystems die geforderte eindeutige bezeichnet und setzt sich aus den beiden Anteilen
Integritätsaussage. Die Trennschärfe, und damit die Sys­temunsicherheit PLSk und Messunsicherheit
Wahrscheinlichkeit von falschen bzw. fehlenden De- PLM k zusammen.
tektionen, ist hierbei gemäß . Tab. 26.2 nach Bedarf Die Systemunsicherheit PLSk ist hierbei gleich-
der Nutzerfunktion einstellbar. Im Folgenden erfolgt bedeutend mit der gewichteten Standardabwei-
die Umsetzung dieses ausgewählten Verfahrens für chung eines oder mehrerer (m) für das betrachtete
das Fusionsfilter. Aus der Innovation wird eine Test- Protection-Limit zutreffender Zustände und wird
statistik [25] T Sk in Form der quadrierten, normali- damit aus der Hauptdiagonalen der A-posteriori­-
sierten Innovation (Normalized Innovation Squared, Varianz-Kovarianz-Matrix PC k des Kalman-Filters
504 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

errechnet. Die Gewichtung mit der statistischen Dabei ist ˇ;k der Nichtzentralitätsparameter der
1 Unsicherheitsgrenze wird durch den Parameter n für die Verteilung der Innovationen angenomme-
2
entsprechend der Anforderungen der Nutzerfunk- nen Nk ;-Verteilung zu den gewählten Werten für
2 tionen durchgeführt: die Irrtumswahrscheinlichkeit ˛ und Fehler 2. Art
v ˇ. Für das Protection-Level ergibt sich daraus ein
u C Konfidenzintervall der Wahrscheinlichkeit 1  ˇ.
3 PLk D n  t
S
u Pk .1;1/ C PCk .i; i/ C : : :
: (26.23) Dieses Konfidenzintervall wird über die maxi-
C
C Pk .m; m/
 male Steigung Max;k in die Ergebnisebene proji-
4 ziert, damit berechnet sich PLM
k als:
Zur Berechnung der Messunsicherheit PLM k
wird
PLM
k D Max;k  %k : (26.27)
5 eine Abschätzung der Auswirkung der maxima-
len, gerade noch nicht detektierbaren Störung auf
das Fusionsergebnis durchgeführt – unter der An- Das gesamte Protection-Level PLk ergibt sich aus
26 nahme, dass in einer Messepoche nur ein solcher den beiden beschriebenen Teilen:
Fehler gleichzeitig auftritt.
7 Die linearisierte Berechnung der Sensitivität
PLk D
q
2
PLSk C PLM
2
des Fusionsergebnisses dRk auf Störungen drk der k : (26.28)
Messdaten erfolgt durch die Ermittlung der Stei-
8 gung (Slope) [42] k: Am Beispiel einer ebenen Positionsangabe be-
schreibt das Protection-Level einen Konfidenzbe-
9
1
dRk

k D
1
D Kk  Dk 2  LTk :(26.24) reich der Positionsschätzung; dieser ist gültig, falls
drk kein Integritätsalarm gegeben wird. Das berech-
10 nete Integritätsmaß besteht daher aus den über die
Hierfür wird eine Eigenwert-Zerlegung der Matrix stochastischen Annahmen gekoppelten Ergebnisse
Sk durchgeführt, womit sich Dk als Diagonalmatrix der Konsistenzprüfung sowie des Protection-Levels.
11 der Eigenwerte und Lk als Modalmatrix der Eigen- Als Snapshot-Methode detektiert der Algorithmus
vektoren ergibt. Kk ist hierbei der Kalman-Gain der Fehler der Messdaten stets innerhalb der aktuellen
12 aktuellen Messepoche. Messepoche. Das Ergebnis der Überprüfung durch
Als Randbedingung wird angenommen, dass die Teststatistik liefert ein eindeutiges Ergebnis mit
pro Messepoche nur eine Messung gestört ist [25]. definierter Irrtumswahrscheinlichkeit, während das
13 Da die Abschätzung der maximalen Störung be- Protection-Level ein Vertrauensintervall für das Fu-
rechnet wird, ist die größte gemeinsame Steigung sionsergebnis beschreibt. Beide Maße berücksichti-
14 der m jeweiligen Zustandsgrößen in einer Messepo- gen hierbei die Unsicherheit und Verfügbarkeit von
che hierfür ausschlaggebend: redundanten Messdaten.
15 M ax;k D maxm .k / : (26.25) Gleichzeitige Störungen  Bei der Berechnung des
Protection-Levels wird für Gl. 26.24 die Annahme
16 Da an dieser Stelle eine statistische Abschätzung von maximal einer signifikant gestörten Messung
einer Fehlerdetektionswahrscheinlichkeit durch- pro Messepoche getroffen. Bei der Anwendung von
17 geführt wird, erfolgt die Aufstellung einer Alter- GNSS und Odometrie im Kraftfahrzeug sind in der
nativhypothese Ha gemäß . Tab. 26.2. Aus der Be- Praxis jedoch häufig mehrere Fehler gleichzeitig
rechnung der Wahrscheinlichkeit ˇ für einen Fehler zu erwarten, beispielsweise Mehrwegeausbreitung
18 2. Art bei der Überprüfung der Teststatistik wird von GNSS-Signalen und Störungen der Odometrie
somit der maximale, gerade nicht detektierbare Feh- durch unebenen Untergrund. Die Wahrscheinlich-
19 ler berechnet: keit, dass mehrere solcher Fehler gleichzeitig auftre-
ten und dass ihre Auswirkungen dabei konsistent
q
20 %k D ˇ;k : (26.26)
zueinander sind, wird als hinreichend gering ange-
 nommen, um diesen Fall in der realen Nutzung ver-
26.6  •  Beispiel einer Umsetzung
505 26

nachlässigen zu können. Damit ist dieser Fehlertyp schleichenden Druckverlust oder Veränderung
durch die Plausibilisierung gemäß ▶ Abschn. 26.4.2 der Reifentemperatur.
detektierbar. Da die Plausibilisierung solche fehler-
behafteten Messungen verwirft, werden diese nicht Die potenziell von SGE betroffenen Größen von
mehr für die Integritätsbewertung verwendet. Le- IMU und Odometrie sind bereits als Fehlermo-
diglich der Fall von ausbleibendem Alarm durch dell im Fusionsfilter implementiert und in jeder
zu wenige überprüfbare redundante Messungen Mess­epoche werden die Rohmessungen um die
wird durch die Plausibilisierung nicht abgedeckt. bekannten, kontinuierlich weitergeschätzten Fehler
Dies steht jedoch nicht grundsätzlich im Wider- korrigiert. Somit führt das langsame Anwachsen
spruch zur Annahme eines einzelnen Fehlers pro dieser Fehler nicht zu signifikanten Fehlern der
Messepoche, da in diesem Fall ohnehin nur wenige fusionierten Daten, solange das Fusionsfilter diese
Messungen zur Verfügung stehen. Vor dem prakti- hinreichend schnell durch redundante Messungen
schen Einsatz eines solchen Algorithmus sind ent- korrigiert. Problematische – da erheblich über die
sprechende Validierungstests durchzuführen. Filterdynamik hinausgehende – Störungen von
Korrekturmessungen sind dagegen mit definierter
Langsam anwachsende Fehler  Eine aus ▶ Ab- Detektionswahrscheinlichkeit und -schwelle sowohl
schn. 26.5 bekannte Schwäche von RAIM und AIME durch die in ▶ Abschn. 26.4.2 beschriebene Plausibi-
ist die Nichtdetektierbarkeit von langsam anwach- lisierung vermeidbar als auch durch den in Gl. 26.22
senden Fehlern (Slowly Growing Errors, SGE). In gezeigten Hypothesentest erkennbar. Weiterhin ist
der gängigen Praxis werden diese Algorithmen daher durch die Überprüfung der summierten Absolut-
nur eingeschränkt verwendet, stattdessen werden be- werte der Fehlerkorrekturen mit definierten Maxi-
züglich Rechenzeit und Speicherbedarf aufwendige malwerten eine Detektion von Fehlern außerhalb
Verfahren wie der MMAE-Algorithmus eingesetzt. des für den jeweiligen Sensor spezifizierten Bereichs
Ein Nachteil dieser Methoden ist jedoch, dass nur realisierbar.
modellierte Fehler zuverlässig erkannt werden. Langsam anwachsende Fehler einzelner Pseu-
Ein typischer Fall von SGE ist die durch Ände- dorange-Messungen, die nicht als Fehler im Fusi-
rungen in der Ionosphäre verursachte, zeitlich ver- onsfilter modelliert sind, führen unabhängig vom
änderliche Störung in einer Pseudorange-Mes­s­ung; Fusionsfilter zu Widersprüchen im geometrischen
diese findet so langsam statt [25], dass sie eine fal- Vergleich der Plausibilisierung, beschrieben in den
sche Korrektur der Schätzposition des Filters bewir- Gl. 26.10 bis 26.17, und sind daher mit definierter
ken. Die Höhe der Abweichung von einer Messepo- Detektionsschwelle erkennbar.
che zur nächsten ist jedoch nicht ausreichend groß,
um den Fehler mit einem Snapshot-Verfahren zu
detektieren. Im Fall des hier gezeigten Fusionsfilters 26.6.4 Genauigkeitsmaß
sind für die verwendeten Sensoren in folgenden Fäl-

-
len SGE zu erwarten:
IMU: durch Defekte oder äußere Einflüsse –
wie bspw. die Umgebungstemperatur – be-
dingte Drift von Offset oder Skalenfaktorfeh-
Zur beispielhaften Umsetzung eines Genauig-
keitsmaßes im Fusionsfilter, das die in Abschnitt
▶ Abschn. 26.5.2 gezeigten Kriterien erfüllt, wer-
den hier die Beschreibungsgrößen Messrauschen,

- ler;
GNSS: Pseudorange-Messungen durch
Ionosphäreneinfluss und Mehrwegeempfang;
Deltarange-Messungen sind dagegen durch die
Nullpunktfehler (Offset) und Steigungsfehler (Ska-
lenfaktorfehler) ausgewählt. In der hier gezeigten
Anwendung wird weiterhin die Annahme getroffen,
dass die Beschreibungsgrößen normalverteilt sind;
zeitliche Differentiation der Messwerte nicht dadurch vereinfacht sich die gemeinsame Verwend-

- betroffen;
Odometrie: langsam veränderliche Fehler der
gemessenen Geschwindigkeit durch Verände-
rungen des Rollradius, beispielsweise durch
barkeit mit dem stochastischen Modell des Fusions-
filters. Für korrelierte Beschreibungsgrößen ist das
allgemeine Varianzfortpflanzungsgesetz mit vollbe-
setzter Varianz-Kovarianz-Matrix anzuwenden, bei
506 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

unkorrelierten Beschreibungsgrößen vereinfacht Dagegen werden PC off s;a und Pscale;a, konsistent zur
C

1 sich dies zur skalaren Fortpflanzung der Varianzen. Korrektur des Nullpunkt- und Skalenfaktorfehlers
Die Methode wird für die in . Abb. 26.4 ge- im Basissystem, durch die entsprechenden Varian-
2 zeigten Operationen des Basissystems umgesetzt: zen des Fusionsfilters überschrieben.
also die Korrektur von Nullpunkt- und Skalenfak-
torfehlern einer Beschleunigungsmessung aEbIM U Transformationsschritt (Drehung)  Die Ausgabe-
3 durch das Fusionsfilter, deren Drehung in Navi- werte der Korrektur werden nun durch Drehung
gationskoordinaten mittels Rotationsmatrix CO nbr, mittels Drehmatrix CO nbr in ein anderes Koordina-
4 und deren Summation zur Geschwindigkeit vEn bei tensystem überführt, wobei wie oben erwähnt CO nbr
gleichzeitiger Korrektur des Absolutwertes durch als fehlerfrei angenommen wird. Die Transformati-
5 das Fusionsfilter. onsgleichung der Drehung ist:
Vereinfachend sei angenommen, dass die Fehler
O nb  aEbC orr :
aEn D C (26.31)
der Drehmatrix CO nbr vernachlässigbar sind: Für die 
26
r

Berechnung bezeichnet P allgemein die Varianz-Ko-


varianz-Matrix der jeweiligen Beschreibungsgröße, Alle Varianz-Kovarianz-Matrizen Pout
ra , Poff s und
out

7 während PC k die A-posteriori-Varianz-Kovari- Pscale folgen durch Anwendung des Varianzfort-


out

anz-Matrix des Fusionsfilters in der aktuellen Mess­ pflanzungsgesetzes:


epoche ist. Ein Doppelpfeil über einer Variablen uEE
8 bedeutet hierbei, dass der Vektor uE als Hauptdiago-
T
Pout D CO nbr  Pi n  CO nbr : (26.32)
nale in einer ansonsten mit Nullen gefüllten quad-
9 ratischen Matrix verwendet wird. Integrationsschritt  Die Summation der Beschleu-
nigungen zur Geschwindigkeit vEn erfolgt mit dem
10 Datenquelle  Zu Beginn der Genauigkeitsbe- Abtastintervall t, das als fehlerfrei angenommen
rechnung sind die Beschleunigungsmessungen wird. Hierbei ist vEnr der Wert der Geschwindigkeit
als Daten gegeben: aEbIM U ist der Messvektor der zum letzten Abtastschritt:
11 Beschleunigung, &a EE b ist der vom Filter geschätzte
Skalenfaktorfehler in Hauptdiagonal-Form, ıa Eb vEn D vEnr C aEn  t C CO nbr  E
vb : (26.33)
12 ist der vom Filter geschätzte Nullpunktfehler, Piran
die Varianz-Kovarianz-Matrix des Messrauschens, Der Berechnung der Varianzen liegt als vereinfach-
Pioff s die Varianz-Kovarianz-Matrix des Nullpunkt- tes Modell zugrunde, dass ein Skalenfaktorfehler
13
n

fehlers und Piscale


n
die Varianz-Kovarianz-Matrix des bei symmetrischer Verteilung der Messfehler um
Skalenfaktorfehlers. Die Varianz-Kovarianz-Werte Null zu keiner Verschiebung des Mittelwertes führt.
14 werden hierbei aus Kennwerten im Datenblatt des Gaußsche Fehlerfortpflanzung führt für Poutra und
Sensors und durch die Modellierung bekannter Pout
scale zu einer Berechnung nach:
15 physikalischer Zusammenhänge modelliert.
Pout D Pi n  t 2 :(26.34)
Korrekturschritt  Die Korrektur von Nullpunkt-
16 und Skalenfaktorfehler erfolgt durch: Der Nullpunktfehler der Geschwindigkeit wird da-
gegen vom Fusionsfilter korrigiert, daher wird Pout
off s
17 aEbC orr D

I  & aEEb  aEbIM U  ı aEb :
 
(26.29)
durch die entsprechenden Varianzen des Fusionsfil-
 ters überschrieben.
18 Die zugehörigen Ausgabewerte Pout ergeben sich für Gesamtunsicherheit  Diese Struktur der Genau-
Piran durch Varianzfortpflanzung: igkeitsberechnung erlaubt nach jedem der ge-
19 kapselten Schritte – sowohl auf die verarbeiteten
   T
EEb  Pi n  I  & aEEb : Messwerte als auch auf deren virtuelles Datenblatt
Pout
ra D I  & a (26.30)
20 ra
 zuzugreifen – und diese Daten den Nutzerfunkti-
onen zur Verfügung zu stellen. Die Blockstruktur
26.6  •  Beispiel einer Umsetzung
507 26

ist modular veränderbar, was zu einer systemüber-


greifenden Architektur und Erweiterbarkeit auch
für nachfolgende Nutzerfunktionen führt. Die Ge-
- Sie sind in der in ▶ Abschn. 26.4.3 gezeigten
Plausibilisierung als Größen zur Ermittlung
des Schwellwertes  beteiligt, so dass Aus-
samtunsicherheit einer Beschreibungsgröße lässt wirkungen von und auf die Plausibilisierung
sich aus den Einzelunsicherheiten berechnen, im
gezeigten Beispiel von normalverteilten Werten
durch Summation der Varianzen. Die Beschrei-
bungsgrößen beziehen sich zwar jeweils auf un-
- erkennbar sind.
Sie sind über das Systemmodell abhängig von
möglichst vielen anderen im Filter korrigierten
Schätzgrößen, so dass sie auch die Fehler und
terschiedliche Signaleigenschaften, liegen jedoch Unsicherheiten dieser Größen repräsentieren
in derselben Einheit vor. Daher lässt sich die Ge- und damit eine Aussage über die Leistungsfä-
samtunsicherheit der Daten durch Addition der higkeit insgesamt zulassen.
einzelnen Unsicherheiten berechnen:
Diese Eigenschaften sind im Fusionsfilter auf die

--
Pout out out out
ges D Pra C Poff s C Pscale : (26.35) Größen
Geschwindigkeit vEO b,
Position E̊O n
26.6.5 Exemplarische Ergebnisse
zutreffend. Aufgrund der besonderen Relevanz für
Zur Bewertung der Leistungsfähigkeit des Fusions- Automotive-Anwendungen beschränkt sich die
filters wird die Differenz zu einem Referenz-Mess- weitere Betrachtung auf Größen der horizontalen
system berechnet. Diese Differenz wird innerhalb Ebene. Sie beinhalten summierte IMU-Messwerte
der spezifizierten Unsicherheitsgrenzen als Maß für und Korrekturen aus dem Fusionsfilter. Dabei wird
den Fehler des Filters verwendet. Hierfür werden angenommen, dass Fehler in allen anderen Schätz-

-
folgende Kennwerte ausgewählt:
Standardabweichung  als Maß für das Rau-
größen über die Dauer eines Tests zu erkennbaren
Fehlern von Geschwindigkeit und Position führen.

- schen der Messdaten,


Mittelwert  als Maß für den durchschnitt­
Beispielhaft sollen die Ergebnisse einer realen
Testfahrt (Gesamtstrecke G, Länge: 15,7 km, Dauer:

- lichen Fehler der Messdaten,


Median "Q50 als Maß für den von Ausreißern
befreiten durchschnittlichen Fehler der Mess-
1000 s, Ausschnitt aus repräsentativem Kurs mit
Überland- und Stadtanteilen) mit folgenden Seg-
menten unterschiedlicher Charakteristik vergli-

- daten,
Root-Mean-Square-Error "RM S als Maß für
chen werden, die wesentlichen Kennwerte sind in

-
. Tab. 26.3 gezeigt:

- den gesamten Fehler einer Messung,


Maximalfehler "M ax als Maß für Größtfehler
Teilstrecke A (Länge: 5,1 km, Dauer: 250 s,
größtenteils Überlandfahrt, geringe Störun-
und Ausreißergröße.

Die verwendeten Messgrößen zur Verifikation des - gen),


Teilstrecke B (Länge: 1,6 km, Dauer: 100 s,
Stadtgebiet, signifikante Störungen des Algo-
Fusionsfilters werden nach folgenden Kriterien aus-

-
gewählt:
Sie sind Größen, deren Fehler vom Fusions-
filter geschätzt werden; somit ist auch die zuge-
- rithmus),
Strecke C (Länge: 0,6 km, Dauer: 80 s, Tunnel-
fahrt mit nachfolgendem Stillstand, Strecke
außerhalb der Gesamtstrecke).
hörige Varianz in der Matrix PC verfügbar und

-
k
verifizierbar. Die Kennwerte weisen die Abhängigkeit der Genau-
Sie sind direkt und nicht nur über das System- igkeit, sowohl der absoluten Position als auch der
modell, von Korrekturen durch Beobachtun- absoluten Geschwindigkeit, von den Umgebungs-
gen betroffen; somit sind die Auswirkungen bedingungen in Bezug auf den GPS-Empfang nach.
von gestörten Korrekturmessungen eindeutig Die Ergebnisse der Integritätsbewertung, gegeben
identifizierbar. als Anzahl an Auslösungen von Integritätsalarm,
508 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

1 .. Tab. 26.3  Ergebnisse des Fusionsfilters

Horizontale Positionsdifferenz Horizontale Geschwindigkeitsdifferenz


2 Strecke   "Q50 "RMS "Max 
m

m
"Q50 "RMS
m
"Max
m
m m m m m
m s s s s s

3 G 2,89 4,45 3,85 5,31 17,0 0,51 0,28 0,15 0,58 4,72

A 2,27 3,89 3,87 4,5 16,77 0,12 0,19 0,17 0,23 0,7
4 B 2,42 4,57 4,44 5,17 14,66 1,29 1,09 0,34 1,69 4,72

C 2,5 11,81 13,29 12,07 13,68 0,15 0,1 0,02 0,17 0,71
5
sind für die genannten Versuche in . Tab. 26.4 ge- Hierbei ist insbesondere sicherzustellen, dass die
26 zeigt. Zusätzlich wird die Plausibilisierung für die Plausibilisierung in nur wenig gestörten Szenarien
Korrekturmessungen selektiv deaktiviert und damit keine oder nur wenige Messungen entfernt und dass
7 deren Einfluss auf die Ergebnisse verdeutlicht. Die in stark gestörten Szenarien ein Kompromiss zwi-
Ergebnisse zeigen deutlich die Notwendigkeit des schen Trennschärfe, Ausregelgeschwindigkeit bei
Vorschaltens einer Plausibilisierung der Korrektur- nicht detektierten Störungen und der Stabilität des
8 messungen vor die Datenfusion. Nur auf der Basis Fusionsfilters gefunden wird.
plausibilisierter Daten ist eine Integritätsberech- Vor einem Praxiseinsatz sind Untersuchungen
9 nung sinnvoll durchführbar. und Falsifikationstests insbesondere für die beim
Die vorgestellten exemplarischen Ergebnisse Integritätsmaß getroffenen Annahmen durchzu-
10 wurden mit einer Parametrierung des Fusions- führen. Hierfür ist beispielsweise ein Software-
filters erzielt, die primär auf Positionsgenauigkeit in-the-Loop-Test für eine wie in ▶ Abschn. 26.4.3
optimiert und unter alltagstypischen Randbedin- beschriebene Fehlerdetektion geeignet, in dem die
11 gungen ermittelt wurde. Dies beinhaltet, dass Odo- Reaktion auf mehrere gleichzeitige Fehler und die
metriemessungen nahezu ständig verfügbar und im Detektion langsam veränderlicher Fehler der IMU,
12 Rahmen üblicher Straßeneigenschaften gestört sind der Odometrie und von GNSS unter kontrollierten,
und GPS mit für Überland- und Stadtfahrten übli- wiederholbaren Bedingungen getestet wird.
chen Störungen behaftet ist. Nichtverfügbarkeit von Es ist zu beachten, dass beim Einsatz eines Er-
13 GPS tritt lediglich kurzzeitig auf, beispielsweise bei ror-State-Space-Filters einerseits die Einflüsse des
einer Fahrt durch einen Stadttunnel. Fusionsfilters auf die Ausgabedaten (vollständige
14 Die Parametrierung des Fusionsfilters stellt stets Zustände) klein sind, andererseits das Rauschen
einen Kompromiss in Bezug auf verschiedene, mög- der Sensoren auch dem Rauschen der ausgegebe-
15 licherweise widersprüchliche Anforderungen dar. nen Beschleunigungs- und Drehraten entspricht. Je
Zur Optimierung der Parametrierung sind all- geringer die Drift der geschätzten IMU-Fehler ist,
gemein folgende Schritte empfehlenswert: desto geringer sind die Einflüsse des Fusionsfilters
16 1. Festlegen der Optimierungsziele, z. B. optimale auf das Ergebnis. Dies ist grundsätzlich bei der Aus-
Positions- oder Geschwindigkeitsgenauigkeit, wahl der Sensoren für einen praktischen Einsatz des
17 bzw. Kompromiss bezüglich mehrerer Schätz- Fusionsfilters zu beachten.
genauigkeiten,
2. Festlegen von Testfällen und des hierbei ge-
18 wünschten Verhaltens, 26.7 Ausblick und Fazit
3. Parametrierung des stochastischen Modells,
19 4. Parametrierung der Schwellwerte der Plausibi- Die in diesem Kapitel beschriebene und anhand
lisierung, eines Beispiels illustrierte Datenfusion verwendet
20 5. Parametrierung der stochastischen Parameter im Wesentlichen heute bereits in Kraftfahrzeugen
des Integritätsmaßes. verbaute Sensoren. Lediglich der im Tightly-Coup­
26.7  •  Ausblick und Fazit
509 26

.. Tab. 26.4  Ergebnisse der Integritätsbewertung

Algorithmus/ vollständige Plausibi- GPS-Plausibilisierung Odometrie-Plausibili- Plausibilisierung von


Strecke lisierung inaktiv sierung inaktiv GPS und Odometrie
inaktiv

G 1 8 0 5

A 0 0 0 0

B 1 7 0 4

-
C 1 35 1 55

ling erforderliche Zugriff auf die GNSS-Rohdaten Durch die Verwendung mehrerer GNSS-An-
ist derzeit noch unüblich. tennen – an einem oder mehreren Empfän-
Das Filter ist in der in ▶ Kap. 24 vorgeschlage- gern – wird die Stützung der mehrdimensi-
nen Klassifizierung als Fusion von Rohdaten einzu- onalen Fahrzeugausrichtung, ggf. auch im
ordnen. Das stochastische Modell beruht auf einer
reinen Varianzfortpflanzung und benötigt keine
Klassifikationsunsicherheit oder Objekthypothe-
sen. Gleiches gilt für die Erweiterungen zur Plausi-
- Stillstand, möglich.
Die Schätzung der Fahrzeugausrichtung im
Stillstand kann mithilfe des Erdmagnetfelds
durch Magnetometer-/Kompass-Sensorik
bilisierung und zur Kompensation von verzögerter
Verfügbarkeit, diese stellen eine Erweiterung des
Filters auf Basis physikalischer Modelle dar, die auf - ermöglicht werden.
Barometermessungen können zur Stützung
der Höhenkomponente der Position durch
den gleichen Annahmen – nur langsam veränderli-
che, normalverteilte Fehler – aufbauen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Ka-
pitels befindet sich ein vergleichbares Fusionsfilter
- Luftdruckmessung eingesetzt werden.
Die Absolutortung kann durch die Verwen-
dung digitaler Karten und/oder bekannter
oder gelernter Landmarken verbessert werden
mit der Bezeichnung M2XPro (Motioninformation
2 X Provider) [43] in Entwicklung durch die Firma
Continental Teves AG & Co. oHG. - [44].
Mittels (Stereo-)Kamera besteht die Möglich-
keit zur schlupffreien Geschwindigkeits- und
Für die künftige Weiterentwicklung weisen eine
Reihe von bereits verfügbaren Sensoren und Tech-
nologien Potenzial zur weiteren Verbesserung der -- Drehratenmessung relativ zur Umgebung [45].
Radar- und Lidarsensoren [46] stützen die
Schätzung von Relativgeschwindigkeiten zu

-
Datenfusion zur Lokalisierung auf:
Zweifrequenz-GNSS-Empfänger bieten die
Möglichkeit zur Elimination von Ionosphä-
renstörungen, die wesentlich zum absoluten
-
-
anderen Fahrzeugen,
Schätzung von Relativgeschwindigkeiten zu
festen Objekten,
Rückführung von fusionierten Daten zur

- Positionsfehler beitragen [36].


Multi-GNSS-Empfänger, die neben GPS auch
Messungen zu GLONASS, Galileo etc. durch-
führen, führen zur verbesserten Verfügbarkeit
-
Stützung von Objekthypothesen der Senso-
ren,
Kopplung, ggf. auch auf stochastischer
Ebene, mit Grid-Mapping-Algorithmen

-
von Navigationssatelliten – insbesondere bei
eingeschränkten Empfangsbedingungen [36].
Deep-Integration-GNSS-Empfänger mit
Rückkopplung von Dynamikgrößen aus
- [47],
Federwegsensoren an den Radaufhäng­ungen
gestatten die Schätzung von Wank- und
Nickwinkel des Fahrzeugs unabhängig von der
dem Fusionsfilter in die empfängerinternen Neigung der Aufstandsfläche des Fahrzeugs.
Regelkreise ermöglichen die Verbesserung des
Satelliten-Trackings und eine Reduktion des Gegenüber dem bisherigen Stand der Technik stellt
Empfangsrauschens. insbesondere das Trägerplattform-Modell aus ▶ Ab-
510 Kapitel 26  •  Datenfusion für die präzise Lokalisierung

schn. 26.6.2 für bewegte Referenzsysteme eine Er- 12 Thrun, S., Burgard, W., Fox, D.: Probabilistic Robotics. The
1 weiterung im Automobilbereich dar. Zur Korrektur
MIT Press, Massachusetts Institute of Technology, Cam-
bridge, USA (2006)
der durch den Abgleich von Sensoren auf einem 13 Hackenberg, U.; Heißing, B.: Die fahrdynamischen Leistun-
2 bewegten Träger entstehenden Symptome bestehen gen des Fahrer‐Fahrzeug‐Systems im Straßenverkehr. Au-
bisher allenfalls Insellösungen in vereinzelten, da- tomobiltechnische Zeitung (ATZ), Nr. 84, Wiesbaden, 1982,
von in großem Maße betroffenen Anwendungen – Tabelle 1
3 wie beispielsweise ESC oder ACC.
14 Dziubek, N.: Zeitkorrigiertes Sensorsystem. Continental
Teves AG & Co. oHG, Patent WO 2013/037850 A1, 2013
Die hier vorgestellte Systemarchitektur ist all- 15 Dziubek, N.: Verfahren zum Auswählen eines Satelliten.
4 gemein gehalten und ermöglicht die modulare Continental Teves AG & Co. oHG, Patent WO 2013/037844
Integration anderer Komponenten ohne die Not- A3, 2013

5 wendigkeit, Änderungen an bestehenden Integ- 16 Strang, T., Schubert, F., Thölert, S., Oberweis, R., et al.: Lo-
kalisierungsverfahren. Deutsches Zentrum für Luft‐ und
rationskonzepten durchzuführen. Ebenso ist die
Raumfahrt e. V. (DLR). Institut für Kommunikation und Na-
Portierbarkeit des Filters in verschiedene Sen-
26 sorumgebungen gegeben und damit auch ein Ein-
vigation, Oberpfaffenhofen (2008)
17 Pullen, S.: Quantifying the Performance of Navigation Sys-
satz außerhalb von Straßenfahrzeugen wie in der tems and Standards for assisted‐GNSS InsideGNSS, Ore-
7 See-, Luft- und Raumfahrt. gon, USA, Sept./Okt. 2008. (2008)
18 Leinen, S.: Parameterschätzung I Vorlesungsskript. Institut
für Physikalische Geodäsie der TU Darmstadt (jetzt: Fach-
8 Literatur
gebiet Physikalische Geodäsie und Satellitengeodäsie),
Darmstadt (2009). Abschnitt 5.1.2
19 Bar-Shalom, Y., Rong Li, X., Kirubarajan, T.: Estimation with
9 1 Steinhardt, N.: Eine Architektur zur Schätzung kinemati- Applications to Tracking and Navigation. John Wiley &
scher Fahrzeuggrößen mit integrierter Qualitätsbewer- Sons, New York (2001)
tung durch Sensordatenfusion. Fortschritt-Berichte VDI 20 Agogino, A., Chao, S., Goebel, K., Alag, S., Cammon, B.,
10 Reihe 12 Nr. 781, Düsseldorf (2014) Wang, J.: Intelligent Diagnosis Based on Validated and Fu-
2 Pourret, O., Naim, P., Marcot, B.: Bayesian Networks: A sed Data for Reliability and Safety Enhancement of Auto-
Practical Guide to Applications. Jon Wiley & Sons, West mated Vehicles in an IVHS California PATH Research Report,
11 Sussex, England (2008) Bd. UCB‐ITS‐PRR‐98‐17. Institute of Transportation Studies,
3 Niebuhr, J., Lindner, G.: Physikalische Messtechnik mit University of California, Berkeley, USA (1988)
Sensoren, 5. Aufl. Oldenbourg Industrieverlag, München 21 Abdelghani, M., Friswell, M.: A Parity Space Approach to
12 (2002). Abschnitt 1.2.2 Sensor Validation IMAC XIX – 19th International Modal
4 Wendel, J.: Integrierte Navigationssysteme. Sensordaten- Analysis Conference, Orlando, USA. (2001)

13 fusion, GPS und Inertiale Navigation. Oldenbourg Wissen-


schaftsverlag, München (2007)
22 Ding, J., Wesley Hines, J., Rasmussen, B.: Independent
Component Analysis for Redundant Sensor Validation. The
5 Deutsches Institut für Normung: DIN 70000 – Straßenfahr- University of Tennessee, Nuclear Engineering Department,

14 zeuge; Fahrzeugdynamik und Fahrverhalten. Beuth Verlag,


Berlin (1994). Abschnitt 1.2
Knoxville, USA (2004)
23 Goebel, K., Agogino, A.: Fuzzy sensor fusion for gas turbine
6 Titterton, D., Weston, J.: Strapdown Inertial Navigation power plants. In: Proceedings of SPIE, Sensor Fusion: Archi-
15 Technology, 2. Aufl. The Institution of Electrical Engineers,
Stevenage, United Kingdom (2004). Abschnitt 3.5
tecture, Algorithms, and Applications III, Bd. 3719, S. 52–61.
SPIE, Orlando, USA (1999)
7 Reif, K.: Automobilelektronik, 2. Aufl. Vieweg Verlag, Wies- 24 Kuusniemi, H.: User‐Level Reliability and Quality Monito-
16 8
baden (2007). Abschnitte 4.6.4, 4.6.5, 4.6.8
Bevley, D., Cobb, S.: GNSS for Vehicle Control. Artech House,
ring in Satellite‐Based Personal Navigation. Dissertation.
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41 Keller, F., Lüder, J., Urban, W., Winner, H.: Verfahren und Vor-
richtung für die Bestimmung von Offsetwerten durch ein
Regressionsverfahren. Robert Bosch GmbH (2002). Patent
DE 000010206016 A1
513 27

Digitale Karten im Navigation


Data Standard Format
Ralph Behrens, Thomas Kleine-Besten, Werner Pöchmüller,
Andreas Engelsberg

27.1 Ziele der Standardisierung  –  514


27.2 Merkmale des NDS-Standards  –  515
27.3 Wachstum der Datenmenge durch neue Merkmale  –  516
27.4 Struktur der Daten innerhalb einer NDS-Datenbank  –  516
27.5 NDS Building Blocks  –  516
27.6 NDS-Datenbankstruktur/Generalisierung – 520
27.7 Aufbau der NDS-Datenbank  –  521
27.8 Zukunft des NDS-Standard  –  522
Literatur – 523

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_27, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
514 Kapitel 27  •  Digitale Karten im Navigation Data Standard Format

Digitale Kartendaten für Navigationssysteme ent- Telematikdiensten zusammen. Mit dem Stand No-
1 stehen nicht automatisch während der Datenerfas- vember 2014 sind 24 Firmen als Mitglieder gelistet
sung. Es gibt einige Firmen, die sich auf die Erfas- [3]. Die Firmen des Konsortiums kommen aus Eu-
2 sung von Geodaten spezialisiert haben; hier sind ropa, Amerika und aus Asien. Die Verteilung zeigt,
z. B. HERE und TomTom zu nennen. Neben den dass an einer weltweiten Standardisierung gearbeitet
kommerziellen Unternehmen gibt es offizielle In- wird.
3 stitutionen, die Geodaten erfassen, unter anderem
die Katasterämter in Deutschland. Zu guter Letzt
4 gibt es frei verfügbare Geodaten, die von unzäh- 27.1 Ziele der Standardisierung
ligen Freiwilligen gesammelt werden; in diesem
5 Bereich hat die OpenStreetMap eine besondere Die Anforderungen an den Standard ergaben sich
Bedeutung. Teilweise sind die erfassten Geodaten fast automatisch durch den international zuneh-
in der OpenStreetMap aktueller und exakter als menden Bedarf an Fahrzeugen, die bereits in der
6 die kommerziellen Daten. Es gibt inzwischen wis- Serienentwicklung mit einem Navigationssystem
senschaftliche Untersuchungen und Vergleiche der ausgestattet werden. Zunächst entstanden lokal
27 OpenStreetMap mit anderen Kartendaten, unter zahlreiche Navigationslösungen, jedoch ist die Ent-
anderem vom Fraunhofer-Institut für Intelligente wicklung und Integration von regionalen Lösungen
Analyse- und Informationssysteme IAIS. [1] aufwendig und teuer.
8 Die Daten aus der Geodatenerfassung werden Im Sinne der Ökonomie und der Erwartungs-
nicht direkt in den Navigationssystemen verwendet. haltung, dass die Navigationsdaten immer so aktuell
9 Vor der Verwendung werden die Daten kompiliert, wie möglich sein sollen, resultieren folgende Ziele
d. h. sie werden in ein Format gebracht, so dass Na- der NDS-Standardisierung: [4]
10 vigationssysteme die Daten verarbeiten können. 1. Entwicklung eines weltweit gültigen Kartenfor-
Dazu gehört die Datenreduktion, aber auch die An- mats
reicherung der Geodaten mit Zusatzinformationen. Bis heute gibt es keinen allgemeingültigen Stan-
11 In der Vergangenheit entwarf jeder Navigationsher- dard für navigationsfähige Kartendaten. Viele
steller sein eigenes Datenformat, eine Wiederver- Hersteller von Navigationslösungen nutzen ein
12 wendung der kompilierten Navigationsdaten fand eigenes proprietäres Kartenformat. Ziel der
de facto nicht statt. Standardisierung ist ein Navigationskartenfor-
Die Standardisierung der Kartendaten für Na- mat, das auf der ganzen Welt genutzt werden
13 vigationssysteme ist seit vielen Jahren ein wichtiges kann.
Thema in der Automobilindustrie, insbesondere 2. Trennung von Anwendung und Daten
14 da die Kosten für die Erstellung navigationsfähi- Viele Hersteller von Navigationsprogrammen
ger Daten sehr hoch sind. Bereits im Jahr 2004 hat installieren mit einer Aktualisierung der Navi-
15 sich eine Gruppe von Firmen in einer Interessen- gationsdaten auch eine neue Version der Soft-
gemeinschaft zusammengeschlossen, um die Ver- ware. Ziel des NDS-Kartenformats ist eine klare
einheitlichung der Kartendaten voranzutreiben. Trennung, so dass die Navigationsdaten unab-
16 Aus dieser Initiative entstand 2009 der Navigation hängig von der Navigationssoftware aktualisiert
Data Standard (NDS) e.V. Der NDS e.V. ist ein ein- werden können.
17 getragener Verein mit dem Ziel, die Kartendaten für 3. Kompatibilität und Interoperabilität der Daten
Navigationssysteme zu standardisieren. Im Rahmen Aktuell ist es nicht möglich, die Navigati-
der Standardisierung werden die Anforderungen, onsdaten zwischen zwei Fahrzeugherstellern
18 Definitionen und offiziellen Versionen des NDS- auszutauschen. Oftmals können die Naviga-
Kartenformats festgelegt. Die Lizenzen stehen den tionsdaten nicht einmal zwischen zwei un-
19 Vereinsmitgliedern kostenlos zur Verfügung. [2] terschiedlichen Baureihen eines Fahrzeug-
Die Mitglieder des Vereins setzen sich aus herstellers ausgetauscht werden. Ziel der
20 Fahrzeugherstellern, Zulieferern der Automobilin- Standardisierung ist es, die Daten abwärts-
dustrie, Kartendatenlieferanten und Anbietern von kompatibel und austauschbar zu gestalten.
27.2  •  Merkmale des NDS-Standards
515 27

Das dient dazu, dass ein Fahrzeughersteller 8. Unterstützung von Kopierschutzmaßnahmen


nur einen NDS-Datenträger benötigt, der von Das Kartenformat muss die Daten in Bezug auf
mehreren unterschiedlichen Navigationspro- Raubkopien und Missbrauch schützen. Zu die-
grammen unterstützt wird. Das vereinfacht sem Zweck muss der Standard Digital Rights
die Logistik und erleichtert den Nutzern und Management unterstützt werden.
Werkstätten den Umgang mit den verschiede-
nen Navigationssystemen.
4. Festlegung eines Verfahrens zur Aktualisierung 27.2 Merkmale des NDS-Standards
der Daten
Derzeit nutzt jeder Hersteller von Navigations- Eine Besonderheit des NDS-Kartenformats ist die
systemen sein eigenes Verfahren zur Aktualisie- Organisation der Daten in sogenannte Building
rung der Daten. Dies führt zu Unsicherheit und Blocks. Ein Building Block ist vergleichbar mit ei-
Frust bei den Anwendern, da sich jedes Gerät nem Baustein, der einheitliche Schnittstellen hat.
unterschiedlich verhält. Ziel des Konsortiums Jeder Baustein kann einzeln ausgewechselt werden,
ist es, das Verfahren zur Aktualisierung der Na- wobei die Möglichkeit besteht, die Farbe und die
vigationsdaten klar zu regeln. Größe des Bausteins zu variieren. Übersetzt bedeu-
5. Kompaktheit der Daten und Effizienz der An- tet dies, dass NDS die Möglichkeit des inkremen-
wendung tellen Updates schafft und dass dabei erweiterte
Navigationssysteme, die als Erstausrüstung mit Features in einen Building Block integriert werden
einem Fahrzeugkauf bestellt und mitgeliefert können. Die Erweiterungen dienen auch der kun-
werden, müssen eine Lebensdauer von etwa denspezifischen Anpassung der Daten.
10 Jahren sicherstellen. Das bedeutet, die Sys- Die Daten der einzelnen Bausteine sind über
teme müssen nicht nur sehr robust sein, son- bestimmte Eigenschaften miteinander verknüpft,
dern sie müssen auch mit geänderten Daten die über alle Bausteine hinweg einem einheitlichen
und Datenmengen funktionieren. Das Ziel der Format folgen müssen. Die wichtigsten einheitli-
Standardisierung ist es, das Datenformat so zu chen Eigenschaften sind Koordinaten und Namen.
gestalten, dass die Anwendung der Navigations- Alle verschiedenen Bausteine des NDS-Formats
systeme auch nach einer mehrfachen Aktualisie- unterstützen beispielsweise Koordinaten zur Geo-
rung der Daten mit einer akzeptablen Perfor- referenzierung: Daher kann in allen Teilen der Da-
mance funktioniert. tenbank nach Informationen an einem Ort gesucht
6. Unabhängigkeit des Datenformats zum Spei- werden.
cher- und Übertragungsmedium Die Ablage der Daten erfolgt bevorzugt in einer
Dieses Ziel formuliert die Aufgabenstellung, Datenbank auf Basis SQLite. Die Datenbank schafft
dass das Format der Kartendaten auch mit ver- eine effiziente Basis für den inkrementellen Update
schiedenen Medien nutzbar sein muss. Es muss und die Suche in den verschiedenen Bausteinen auf
möglich sein, die Daten nicht nur mit Speicher- Basis einheitlicher Parameter.
medien, sondern auch über Luftschnittstellen Gleich zu Beginn der Standardisierungsaktivitä-
übertragen zu können. ten wurde auf die Erweiterung für neue Funktionen
7. Erweiterbarkeit der Navigationsdaten geachtet. Besonders hervorzuheben sind die Erwei-
Das Kartenformat muss die Erweiterung und terungen für die Darstellung der Karte von 3D-Ob-
Integration von proprietären Inhalten ermögli- jekten und erweiterten 3D-Stadtmodellen sowie die
chen. Jeder Fahrzeughersteller wünscht, dass sich Ergänzung eines speziellen ADAS Building Blocks
seine Fahrzeuge besonders gut verkaufen lassen, mit einem flexiblen Ansatz, um Fahrerassistenzsys-
was unter anderem durch besondere Funktionen teme optimal zu unterstützen.
erreicht wird. Dieses Ziel soll sicherstellen, dass Des Weiteren arbeitet die Standardisierung an
eine herstellerspezifische Erweiterung der Da- einem Werkzeug, um die Qualität der Datenbank
ten möglich ist, ohne das Ziel der Kompatibilität verifizieren zu können.
und Interoperabilität zu verletzen.
516 Kapitel 27  •  Digitale Karten im Navigation Data Standard Format

1
2
3
4
5 .. Abb. 27.1  Definition der Update-Regionen (mit freundlicher Genehmigung der NDS Association)

6 27.3 Wachstum der Datenmenge verage), z. B. Europa. Dieser Markt wird in Regio-
durch neue Merkmale nen aufgeteilt, z. B. Frankreich, Spanien und Por-
27 tugal, Benelux, Deutschland usw. Diese Regionen
Die Daten zur 3D-Darstellung der Karten sind aus können dann unabhängig voneinander aktualisiert
verschiedenen Gesichtspunkten kritisch zu be- werden. Der genaue Schnitt der Regionen ist da-
8 trachten. Zum einen ist die visuelle Darstellung das bei nicht festgelegt, er wird für jedes Projekt neu
prägende Stilelement und erreicht den Betrachter konfiguriert.
9 unmittelbar. Zum anderen müssen für eine detail-
liertere Darstellung mehr Inhalte in die Datenbank
27.5 NDS Building Blocks
10 gebracht werden, die wiederum schnell geladen und
gerendert werden müssen.
Hier sind einige Daten, die im NDS-Standard Die Bausteine der NDS-Datenbank sind die Buil-

--
11 verankert sind: ding Blocks (siehe . Abb. 27.2) [5]. Dieses Kapitel
Luftbildaufnahmen und Satellitenbilder stellt die wichtigsten Bestandteile und deren Auf-
12
- digitales Terrain Modell
hochauflösende Bilder zur Visualisierung von
gabe vor.

13
-- Kreuzungen und Abfahrten
3D-City-Modell 27.5.1 Overall Building Block

14
15
- Daten für Reiseführer-Anwendungen
Zusatzdaten für ADAS (Advanced Driving
Assistence Systems)
Der Overall Building Block dient zur Speicherung
der Daten, die als Gleichanteil in allen anderen Buil-
ding Blocks zur Verfügung stehen. Jede NDS-Daten-
bank muss einen Overall Building Block enthalten.
27.4 Struktur der Daten innerhalb Die Inhalte dienen der Applikation, um Information
16 einer NDS-Datenbank über die variablen Bestandteile und Attribute der
speziellen Datenbank zu bekommen. Hierbei han-
17 Die Daten der NDS-Datenbank sind zunächst in delt es sich im Wesentlichen um Metadaten und
Regionen aufgeteilt (siehe . Abb. 27.1). Innerhalb regional spezifische Informationen.
der Regionen sind die Daten in Komponenten orga-
18 nisiert, die wiederum die Building Blocks enthalten;
die Building Blocks ihrerseits enthalten die kleinste 27.5.2 Routing Building Block
19 Einheit, sogenannte Tiles.
Diese Struktur lässt sich an folgendem Beispiel Der Routing Building Block enthält das Straßen-
20 verdeutlichen: Eine NDS-Datenbank enthält die netzwerk. Er dient verschiedenen Anwendungen
Daten für einen bestimmten Markt (database co- als Basis:
27.5  •  NDS Building Blocks
517 27

.. Abb. 27.2  NDS Building Block-Übersicht (mit freundlicher Genehmigung der NDS Association)

- Routenberechnung
Die Routenberechnung liest die Topologie des
Routing Building Block verwendet, um die
Position aus dem Dead Reckoning auf das
Straßennetzwerks und deren Attribute. Diese
Attribute sind unter anderem die Länge eines
Straßensegments, die erlaubte Geschwindig-
keit des Straßensegments und ein Klassifikator
- Straßennetzwerk abzubilden.
Zielführung
Die Zielführung greift auf die Topologie und
Geometrie des Straßennetzwerks zu, um die
eines Straßensegments (Autobahn, Landstraße, aktuelle Position mit dem Straßennetzwerk
Kreisstraße, …). Mithilfe der Attribute wird abzugleichen und Anweisungen für die Fahr-
auf Basis verschiedener Kostenfunktionen
eine Route mit den gewünschten Parametern
(z. B. „kurze Route“, „schnelle Route“, „meide - manöver abzuleiten.
ADAS
Speziell zur Unterstützung von Fahrerassis-

- Fähren“) berechnet.
Map Matching
Die Ortung besteht aus mehreren Stufen. Zu-
nächst werden in einem bestimmten Verfahren
tenzsystemen wurde im Routing Building
Block ein Layer ergänzt, um z. B. Kurvendaten,
Straßenbreite etc. aufzunehmen.

die Informationen verschiedener Sensoren


(GPS, Gyro, Radpulssensoren, Beschleuni- 27.5.3 SQLite Index (SLI)
gungssensoren) zu einer genauen Position
verrechnet; dieses Verfahren wird als Dead Der SLI-Building Block dient der Zieleingabe; diese
Reckoning (Koppel-Ortung) bezeichnet. ist heute mit vielfältigen Möglichkeiten ausgestattet.
Im nachgelagerten Verfahren des MapMa- Neben der klassischen hierarchischen Zieleingabe,
tching wird die Straßengeometrie aus dem bei der Buchstabe nach Buchstabe eingegeben wer-
518 Kapitel 27  •  Digitale Karten im Navigation Data Standard Format

den kann, unterstützt der SLI auch komplexe Zie- In Bezug auf die POI gibt es zwei Building

-
1 leingabemöglichkeiten. Dies umfasst unter anderem Blocks:
First Letter Input (FLI), ein Modus speziell für den Integrierter POI Building Block
2 asiatischen Markt; im FLI-Modus muss nur der Der integrierte POI Building Block darf direkte
erste Buchstabe einer Silbe eingegeben werden. Ein Verweise auf andere NDS Building Blocks ent-
weiterer Eingabemodus wird als One-Shot-Desti- halten. Diese Verweise zielen auf Streckenseg-
3 nation-Entry bezeichnet. Diese Funktion ermög- mente oder Kreuzungen im Routing Building
licht wie bei einer Suche in einer internetbasierten Block oder sie zielen auf Namen im Naming
4 Suchmaschine die Eingabe der gesamten Adresse Building Block. Die direkten Verweise dienen

5
auf einmal, bevor die Suchfunktion gestartet wird.
Der besondere Vorteil der SLI-basierten Zie-
leingabe ist, dass nicht nur in einem Kriterium –
wie beispielsweise Stadt, Straße, Postleitzahl oder
- der verbesserten Suchperformance.
Nicht integrierter POI Building Block
Der nicht integrierte POI Building Block ist
ausschließlich über die Geokoordinate mit
6 Hausnummer – gesucht wird, sondern dass die den anderen Building Blocks vernetzt. Das be-
Suche gleichzeitig über mehrere Kriterien hinweg deutet, es kann lediglich mit Geokoordinaten
27 ausgeführt wird. gesucht und festgestellt werden, ob POI-In-
formationen zu einem bestimmten Kartenab-
schnitt gehören oder nicht.
8 27.5.4 POI Building Block
Beide POI Building Blocks haben intern die gleiche
9 Points of Interest (POI) sind markante oder für den Datenstruktur.
Benutzer interessante Punkte, die in der Navigati-
10 onskarte dargestellt werden und die navigierbar sein
27.5.5 Naming Building Block
müssen [6]. Neben der Ortsinformation können die
POI zusätzliche Informationen, z. B. Telefonnum-
11 mern oder Öffnungszeiten enthalten. Im Naming Building Block sind die Namen des
Die POI können auf verschiedene Weisen prä- Straßennetzwerks aus dem Routing Building Block
12
-
sentiert und verwendet werden:
Darstellung der POI mithilfe eines Icon in der
und die Namen aus dem Basic Map Display Buil-
ding Block enthalten. Damit ist sichergestellt, dass
13
- Navigationskarte,
Darstellung der POI in Listenform, sortiert
Namen in einer Routenliste und einer Kartendar-
stellung identisch verwendet werden.

14
15
- nach Kategorie, Ort oder anderen Regeln,
Darstellung der Zusatzinformationen nach
Auswahl eines POI: Dies können Bilder, erklä-
rende Texte, Bezahlinformationen etc. sein.
Die Namen der POI und der Verkehrsinfor-
mationen sind bewusst nicht Bestandteil des Na-
ming-Building Block. Das liegt an dem Bedarf, diese
speziellen Daten häufiger zu aktualisieren. Die ent-
sprechenden Namen sind daher Bestandteil der POI
Neben den punktbasierten POI gibt es noch Linien bzw. Traffic Building Blocks.
16 oder flächenbezogene POI: Dies können z. B. be-
stimmte touristische Straßen sein; ein flächenbezo-
17 gener POI könnte ein großer Tierpark sein. 27.5.6 Free Text Search Building Block
Eine weitere Unterscheidung stellt die Gültig-
keitsdauer der POI dar. Einige POI sind nur be- Zur Implementierung einer freien Textsuche müs-
18 grenzt gültig, z. B. haben Stadien während einer sen die Inhalte vorab indiziert werden: Als Quellma-
Olympiade oder während einer Fußballweltmeis- terial für die Erzeugung dieses Index dienen der POI
19 terschaft ggf. einen anderen Namen oder eine an- Building Block, der Naming Building Block und alle
dere Bedeutung. Daher muss auch in Bezug auf die anderen Building Blocks, die Namen enthalten. Mit
20 Updatefrequenz der verschiedenen POI-Typen un- diesen Informationen wird ein Index aufgebaut. In
terschieden werden. diesem Index wird anschließend mit dem Suchtext
27.5  •  NDS Building Blocks
519 27

gefiltert. Das Ergebnis der Suche ist dann eine Liste ausgewertet werden kann. Die Ereignisinforma-
mit Links der Dateien, die eines oder mehrere der tion wird als Nummer übertragen. In der Referen-
Wörter aus dem Suchtext enthalten und direkt in zierungstabelle kann mithilfe dieser Nummer der
die Quelldaten zeigen. Mithilfe dieser Informatio- korrespondierende Text in der jeweiligen Sprache
nen kann eine Eingabefunktion realisiert werden, geladen werden.
die mit Metasuchen bekannter Internetplattformen
vergleichbar ist.
27.5.9 Basic Map Display Building
Block
27.5.7 Phonetic/Speech Building
Block Der Basic Map Display Building Block (BMD) grup-
piert die wesentlichen Daten für eine Kartendarstel-
Der Speech Building Block enthält zwei unter- lung. Die Namen für die Darstellung bezieht der Ba-
schiedliche Typen von Daten. sic Map Display Building Block aus dem Naming
Der erste Teil enthält eine Datenbank mit Laut- Building Block.
schrift (Phonetic Transcriptions) und dient der Der Inhalt des BMD sind Punkte (u. a. Stadt-
Spracherkennung sowie der Übersetzung von Text zentren, Bergspitzen), Linien (u. a. Straßen, Was-
in Sprache (Text-to-Speech). Wichtig ist, dass die serstraßen, Grenzlinien, Bahnstrecken), Flächen
Datenbank mit der Lautschrift der verfügbaren (u. a. Wälder, Wasserflächen, Gebäudegrundrisse,
Sprachen eines Navigationssystems abgestimmt Landnutzung), Icons und Zeichenstile und -regeln
sein muss. Die zu verwendende Lautschrift muss (u. a. Informationen, an welchen Punkten Straßen
vor der Benutzung auf die richtige Sprache konfi- etc. beschriftet werden können).
guriert werden. Das ist eine nicht-triviale Aufga- Zusätzlich sind im BMD bereits die Daten zur
benstellung, da es insbesondere in multikulturellen Darstellung der 2,5D-Städtemodelle enthalten.
Regionen Situationen gibt, in denen zwei Sprachen Jedes Gebäude ist durch verschiedene Parameter
parallel verwendet werden. gekennzeichnet, z. B. die Höhe des Gebäudes, die
Der zweite Teil enthält eine Datenbank mit pro- Farbe der Außenwände, den Typ und die Farbe des
fessionell aufgezeichneten Sprachausgabemustern, Daches.
die dann für die Zielführung zusammengesetzt und Die Daten im BMD reichen aus, um eine voll-
an richtiger Stelle der Audioausgabe übergeben wer- ständige Darstellung der Navigationskarte im 2D-
den. bzw. 2,5D-Modus zu gewährleisten.

27.5.8 Traffic Information Building 27.5.10 Advanced Map Display


Block
Die Bezeichnung Advanced Map Display umfasst
Der Traffic Information Building Block (TI) er- die erweiterten Inhalte, die für die Kartendarstel-
möglicht den Navigationsanwendungen die Nut- lung benötigt werden, um eine möglichst realisti-
zung von Verkehrsdaten verschiedener Standards. sche Repräsentation der Karte darstellen zu können.
Im TI sind die Referenzierungstabellen (Location Die erweiterten Inhalte des AMD sind die Buil-
Tables) für den Traffic Message Channel (TMC)
hinterlegt; damit können die Verkehrsnachrich-
--
ding Blocks:
Digital Terrain Model Building Block,
ten den verschiedenen Sprachen zugeordnet wer-
den. In Bezug auf die Verkehrsnachrichten gemäß
Transport Protocol Expert Group (TPEG) bietet der
Traffic Information Building Block die Referenzta-
- Orthoimages Building Block,
3D Objects Building Block.

bellen, so dass die Ereignisinformation (z. B. Stau,


Vollsperrung, Störung etc.) einer TPEG-Nachricht
520 Kapitel 27  •  Digitale Karten im Navigation Data Standard Format

27.5.11 Digital Terrain Model Building


1 Block

2 Der Building Block speichert das Höhenmodell bzw.


die Topographie der Erdoberfläche (Digital Terrain
Modell – DTM). Neben der Höheninformation je-
3 des Flächenteils enthält dieser Teil auch die Textu-
ren für die Darstellung der Erdoberfläche, für den
4 Fall, dass Satelliten- oder Luftbildaufnahmen nicht
zur Verfügung stehen. Damit die Darstellung der
5 Erdoberfläche ohne unstetige Übergänge darge-
stellt werden kann, ist in diesem Teil zusätzlich das
Polygonnetz (Batched Dynamic Adaptive Meshes .. Abb. 27.3  Junction View (mit freundlicher Genehmigung
6 – BDAM) hinterlegt. der NDS Asscoiation)

27 Ein einzelnes 3D-Objekt wird durch Geometri-


27.5.12 Orthoimages Building Block einformationen, eine Materialbeschreibung, Textu-
ren und Namen beschrieben. Einige der 3D-Objekte
8 Der Orthoimages Building Block enthält Satelliten- sind sehr detailliert dargestellt, wobei es sich um die
bzw. Luftbildaufnahmen der Erdoberfläche. Die 3D Landmarken handelt. Diese bezeichnen sehr be-
9 Satelliten- bzw. Luftbildaufnahmen müssen in Be- kannte und sehr markante Elemente, z. B. den Eiffel-
zug auf die Blickposition über der Karte ausgewählt turm in Paris oder den Hamburger Michel.
10 werden können. In Abhängigkeit zum Maßstab und
Blickwinkel werden die Aufnahmen für die Darstel-
lung ausgewählt und als Texturdatei für das BDAM 27.5.14 Junction View Building Block
11 verwendet.
Für die Darstellung von komplexen Kreuzungssi-
12 tuationen (siehe . Abb. 27.3), Autobahnausfahrten
27.5.13 3D Objects Building Block oder z. B. zur Darstellung von Kreisverkehrsstraßen
können Bilder aus dem Junction View Building
13 Der 3D Objects Building Block dient zur Speiche- Block verwendet werden. Dabei ist es möglich, die
rung der 3D-Objekte, die zur möglichst realistischen Bilder zur Laufzeit aus den Straßendaten zu generie-
14 Darstellung der digitalen Karte benötigt werden. ren oder es werden vorgefertigte Bilder verwendet.
Die 3D-Objekte sind zunächst den Update-Re- Die vorgefertigten Bilder werden im Junction View
15 gionen zugeordnet. Innerhalb dieser werden die Building Block abgespeichert. Zur Identifikation
3D-Objekte in einem Raum zusammengefasst des richtigen Bildes dienen die Parameter Bildtyp,
(BoundingBox). Mehrere Objekte gleichen Typs Tageszeit, Wetter, Farbtiefe und andere. Mit diesen
16 können innerhalb dieses Raumes beschrieben wer- Parametern und einem Link aus der Routenliste auf
den. So kann beispielsweise die BoundingBox einen die Bildinformation kann das richtige Bild ausge-
17 Häuserblock umschließen. Sie kann frei im Raum wählt und angepasst werden.
gedreht und positioniert sein. Innerhalb der Boun-
dingBox lassen sich dann alle betreffenden Gebäude
18 beschreiben. 27.6 NDS-Datenbankstruktur/
Die BoundingBox ist so organisiert, dass Generalisierung
19 3D-Objekte in Feature-Klassen geordnet abgelegt
werden: Als Feature-Klasse dienen zum Beispiel Einige Building Blocks enthalten sehr fein granulare
20 Wohngebäude, Industriegebäude, Brücken, Bäume, Daten. Es ist daher notwendig, die Daten zu grup-
Straßenlaternen und viele andere Objekttypen. pieren und partitioniert in der Datenbank abzule-
27.7  •  Aufbau der NDS-Datenbank
521 27

.. Abb. 27.4  Generalisierung (mit freundlicher Genehmigung der NDS Association)

gen. Diese Gruppierung wird als Generalisierung der Daten wird mithilfe von DataScript-Dateien be-
bezeichnet (siehe . Abb. 27.4). Eine Kartendarstel- schrieben. Ein DataScript-Compiler übersetzt diese
lung, die auf einem 10Zoll-Display im Auto oder Dateien für das jeweilige Zielsystem in die passende
auf einem Tablet ganz Deutschland anzeigen soll, Programmiersprache, beispielsweise C++ oder Java.
kann mit Straßengeometrien der kleinsten Straßen- Der Anwendungsentwickler braucht anschließend
kategorien aus Wohngebieten beispielsweise nichts für den Zugriff auf die Daten nur die generierten
anfangen. In einer Übersichtsdarstellung werden oft Zugriffsklassen zu kennen, die direkten SQLite-Be-
nur Straßen höherer Klasse, z. B. Autobahnen gela- fehle sind hinter den Zugriffsklassen für den An-
den; damit der Ladevorgang der Daten performant
implementiert werden kann, werden die Daten
gleich in einer passenden Form abgelegt. Perfor-
mant bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der
-
wendungsentwickler nicht zu sehen.
Funktionen (Features) in der NDS-Datenbank
Alle real existierenden Objekte werden in
der NDS-Datenbank mithilfe einer oder
Nutzer die Navigationskarte nur dann als optisch mehrerer Features repräsentiert. Ein Stras-
akzeptabel und flüssig betrachtet, wenn die Bildwie- sensegment zwischen zwei Kreuzungen wird
derholrate mehr als 25 Bilder pro Sekunde beträgt. als Link-Feature im Routing Building Block

27.7 Aufbau der NDS-Datenbank - repräsentiert.


Attribute in der NDS-Datenbank
Die NDS-Datenbank unterscheidet zwischen
festen und flexiblen Attributen. Die Attribute
Die NDS-Datenbank verwendet vorzugsweise eine beschreiben die spezifischen Eigenschaften
angepasste SQLite-Engine zur Verarbeitung der der NDS-Features. Ein festes Attribut ist
Daten. Das NDS-Gremium hat beispielsweise die beispielsweise die Längeninformation eines
Ergänzung der SQLite-Engine um die Funktion Streckenabschnittes. Dieses Attribut ist immer
„Multiplexing“ gefordert und eingesetzt. Mit die- Bestandteil eines Straßensegments. Eine
ser Funktion ist es möglich, mehrere Anfragen aus optionale Information eines Straßensegments
verschiedenen Anwendungen gleichzeitig an die ist beispielsweise, an welchen Wochentagen
Datenbank zu senden. eine Straße geöffnet bzw. befahrbar ist. Diese
Die Datenbank selbst setzt sich aus Funktionen, Information wird als flexibles Attribut eines
Attributen und Metadaten zusammen. Die Struktur Straßensegments bezeichnet.
522 Kapitel 27  •  Digitale Karten im Navigation Data Standard Format

1 - Metadaten in den NDS-Datenbanken


Die Metadaten enthalten alle notwendigen
Informationen, um variablen Inhalt und
entstand ein Dialekt von DataScript, welcher als
Relational Data Script (RDS) bezeichnet wird [8].

2 Datenbank-Eigenschaften zu beschreiben. Sie


beziehen sich auf einen spezifischen Teil der 27.7.2 NDS-Format-Erweiterung
NDS-Datenbank, einen Building Block oder
3 auf die gesamte Datenbank. In den statischen Das NDS-Datenformat ermöglicht den Anwender-
Metadaten ist beispielsweise gekennzeichnet, firmen Erweiterungen mit dem Ziel der späteren
4 ob Längendaten metrisch abgelegt sind oder Standardisierung, Anpassungen und proprietären
nicht. Des Weiteren wird in den statischen Erweiterungen. Diese Freiheit ist nötig, damit jede
5
6
- Metadaten der ISO-Ländercode gespeichert.
Der Inhalt der Datenbank selbst ist als BLOB
(Binary Large Object) gespeichert: Mithilfe der
Funktionen, Attribute und Metadaten kann in
NDS-Entwicklung noch zusätzliche Funktionen
anbieten kann. Ein Beispiel hierfür wäre die pro-
prietäre Ergänzung von Skigebieten mit den Park-
plätzen als Navigationsziel und der Darstellung der
der Datenbank gesucht werden. Diese Werte Skilifte und -pisten in der Navigationskarte. Dieses
27 sind in der Datenbank im Klartext gespeichert. Feature benötigt nicht jeder, aber es wird vielleicht
Anders verhält es sich bei den detaillierten als sinnvolle Ergänzung von dem einen oder ande-
Kartendaten, die binär als BLOB gespeichert ren Nutzer empfunden.
8 sind. Bevor die einzelnen Daten verwendet Die Firmen, die sich für eine Anpassung bzw.
werden können, muss ein BLOB aus der Da- Erweiterung der NDS-Funktionen entscheiden,
9 tenbank gelesen und interpretiert werden. Die müssen dabei ein striktes Regelwerk beachten:
BLOB-Struktur wurde eingeführt, damit die Die NDS-Datenbank muss in jedem Fall den Stan-
10 Binärgröße einer NDS-Datenbank einer Größe dard vollständig unterstützen, jede Modifikation
entspricht, die auf einem embedded-Gerät muss den standardkonformen Mechanismus für
noch gut beherrschbar ist. ein Update der Datenbank unterstützen und jede
11 modifizierte NDS-Datenbank muss den Anforde-
rungen bezüglich der Interoperabilität mit reinen
12 27.7.1 DataScript und RDS NDS-Standard-Datenbanken jederzeit in vollem
Umfang genügen.
Das gesamte Format der NDS-Datenbank ist mit-
13 hilfe der formalen Beschreibungssprache DataScript
beschrieben. Diese ist, wie im letzten Absatz kurz 27.7.3 NDS-Datenbank-Werkzeuge
14 angerissen, in zwei Teile aufgeteilt: Auf der einen
Seite gibt es die formale Beschreibung der Daten- Der NDS-Standard unterstützt die Entwicklung
15 bank, auf der anderen Seite gibt es das Language durch einige Werkzeuge, um die Datenbank zu
Binding, d. h. die Repräsentation der Datenschnitt- validieren, den Inhalt einer NDS-Datenbank zu
stelle in einer dedizierten Programmiersprache. untersuchen und das verwendete NDS-Format zu
16 DataScript wurde ursprünglich von Godmar Back überprüfen. Dem Entwickler stehen dabei eine Va-
[7] entwickelt. Mit Hilfe von DataScript lassen lidation Suite, ein rudimentärer Map-Viewer, die
17 sich binäre Formate, Bitstreams oder Dateiformate RDS-Compiler, eine angepasste und optimierte
beschreiben. Diese ermöglicht die eindeutige Be- SQLite Engine und diverse Treiber zur Verfügung.
schreibung der im NDS benötigten Datenformate
18 und es existiert eine Referenzimplementierung
des DataScript-Compilers für die Programmier- 27.8 Zukunft des NDS-Standard
19 sprache Java. Dies führte dazu, dass DataScript im
NDS-Konsortium nach einer Evaluation verschie- Die Entwicklung im NDS-Standard ist nach wie
20 dener Datenbankbeschreibungsmethoden ausge- vor sehr aktiv. In den kommenden Jahren werden
wählt wurde. Innerhalb des NDS-Konsortiums immer mehr Navigationsprodukte verfügbar sein,
Literatur
523 27

wobei in erster Linie ein Satz neuer Funktionen für


den Endanwender im Vordergrund stehen wird.
Insbesondere die Standardisierung des inkremen-
tellen Updates und die zunehmende Interoperabi-
lität der Systeme werden im Vordergrund stehen.
Gerade begonnen hat die Erweiterung in Bezug
auf Connected Services und die Erweiterung des
Standards, um die Anwendungen im Umfeld des
hochautomatisierten Fahrens mit Daten zu unter-
stützen.

Literatur

1 Fraunhofer‐Institut für Intelligente Analyse‐ und Informa-


tionssysteme IAIS, Verfügbar unter: http://iais.fraunhofer.
de/5368.html, 2009 und 2011
2 Müller, T.M.: Navigation Data Standard (NDS): Bald Indust-
riestandard? Automobil‐Elektronik 6, 30 (2010)
3 NDS-Association: Partners (2014). http://www.nds-associ-
ation.org/partners/
4 NDS-Association: Objectives (2014). http://www.nds-asso-
ciation.org/the-nds-standard/
5 NDS‐Association: (Prelimenary Release) NDS Version
2.1.1.10.9 Format Specification, 2013, S. 83 ff.
6 Wikipedia: Point of Interest (2014). http://de.wikipedia.org/
wiki/Point_of_Interest/
7 Back, G.: DataScript (2003). http://datascript.sourceforge.
net
8 Wellmann, H.: DataScript Tools (2013). http://sourceforge.
net/projects/dstools/
525 28

Car-2-X
Hendrik Fuchs, Frank Hofmann, Hans Löhr, Gunther Schaaf

28.1 Motivation und Einführung  –  526


28.2 Datenkommunikation – 526
28.3 Systemübersicht – 528
28.4 Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre  –  529
28.5 Car-2-X Anwendungen – 532
28.6 Ökonomische Bewertung und Einführungsszenarien  –  537
Literatur – 539

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_28, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
526 Kapitel 28 • Car-2-X

28.1 Motivation und Einführung Kommunikation (Mobilfunk und WLAN) sowie den
1 Entwurf eines C2X-Systemverbunds, um Lösungen
Heutzutage kommt der Vernetzung von Fahrzeu- für die Überwindung der Einführungsbarrieren zu
2 gen untereinander sowie mit der Infrastruktur eine schaffen, z. B. im Projekt „CONVERGE“ [10]. Be-
immer größere Bedeutung zu. Sie bildet die Basis- gleitet wurden diese Aktivitäten durch das von den
technologie für zukünftige kooperative intelligente Fahrzeugherstellern initiierte und inzwischen von
3 Transportsysteme (C-ITS, „Cooperative Intelligent der gesamten Automotive-Industrie mitgetragene
Transportation Systems“). Die Kommunikation ei- Car-2-Car Communication Consortium (C2C-CC),
4 nes Fahrzeugs mit seinem direkten Umfeld – also das sich die weitere Verbesserung der Sicherheit
sowohl mit anderen Fahrzeugen als auch mit der und Effizienz im Straßenverkehr durch kooperative
5 Straßenverkehrsinfrastruktur (z. B. Baken, Ver- ITS-Systeme zum Ziel gesetzt hat [11].
kehrszeichenbrücken, Lichtsignalanlagen etc.) so- Die Einbeziehung der Kommunikation als Fahr-
wie auch Verkehrszentralen – ermöglicht eine Viel- zeugsensor ermöglicht die Erweiterung des wahr-
6 zahl neuer oder verbesserter Funktionen für den nehmbaren Horizonts sowohl über den Sichtbereich
Autofahrer, die zu einer Erhöhung der Verkehrssi- des Fahrers als auch über den von bordautonomen
7 cherheit, einer Verbesserung der Verkehrseffizienz Sensoren, wie z. B. Radar, Lidar oder Video, hinaus.
sowie auch des persönlichen Komforts führen kön- Der Abdeckungsbereich bordautonomer Systeme ist
nen. In diesem Zusammenhang spricht man daher durch die spezifischen Sensoreigenschaften, wie z. B.
28 auch von der Fahrzeug-zu-X-Kommunikation, wo- erforderliche Sichtverbindung und limitierte Reich-
bei das „X“ den jeweiligen Kommunikationspartner weite, beschränkt. C2X-basierte Fahrerassistenzsys-
9 kennzeichnet. Üblicherweise werden hier allerdings teme (FAS) ermöglichen demgegenüber eine deutlich
die englischsprachigen Begriffe Car-to-X oder Car- umfassendere Abdeckung: Insbesondere erlauben sie
10 2-X (C2X) bzw. Vehicle-to-X oder Vehicle-2-X den Blick „um die Ecke“ oder durch Hindernisse, wie
(V2X) verwendet, wobei C2X eher in Deutschland z. B. andere Fahrzeuge, Gebäude oder Geländeerhe-
und V2X eher international üblich ist. Im weiteren bungen, hindurch. Auf diese Weise lässt sich einer-
11 Verlauf dieses Kapitels wird der Begriff C2X (bzw. seits die Wirksamkeit von existierenden Fahrerassis-
C2XC für C2X Communication) verwendet. tenzsystemen deutlich verbessern und andererseits
12 Bereits seit Ende der 1990er Jahre wird das auch eine Vielzahl ganz neuer Funktionen realisie-
Thema C2X in diversen nationalen, europäischen ren. Nachteil der Technologie ist die mehr oder weni-
und auch internationalen F&E-Projekten untersucht. ger starke Abhängigkeit von der Ausstattung der be-
13 In der ersten Phase ging es dabei um die Entwicklung teiligten Fahrzeuge und Infrastrukturkomponenten.
und Erprobung der grundlegenden Technologien, Die Ausstattungsrate hat insbesondere starken Ein-
14 z. B. in den Projekten „FleetNet“ [1], „Network-on- fluss auf die realisierbaren Funktionen und ist daher
Wheels“ [2] oder „PReVENT“ [3]. In der zweiten bei der Betrachtung von Einführungsszenarien zu
15 Phase schloss sich die Systemerprobung anhand von berücksichtigen. Beide Aspekte werden in späteren
einzelnen Demonstratoren in Fahrzeugen und Infra- Abschnitten noch näher betrachtet.
struktur an, wobei die grundsätzliche Machbarkeit
16 gezeigt werden konnte (z. B. in den EU-Projekten
„CVIS“ [4], „SAFESPOT“ [5] und „COOPERS“ 28.2 Datenkommunikation
17 [6]). In der dritten Phase erfolgte der Nachweis
der Praxistauglichkeit anhand von großmaßstäbli- 28.2.1 Funkkanal
chen Feldversuchen im realen Verkehr („simTD“ in und Übertragungssystem
18 Deutschland [7] und „Safety Pilot“ [8] in den USA)
sowie der Nachweis der Interoperabilität – also der Der funkbasierte Datenaustausch zwischen Fahrzeu-
19 Fähigkeit zur Zusammenarbeit verschiedener, nach gen untereinander sowie zwischen Fahrzeugen und
demselben Standard entwickelter Systeme, wie z. B. Infrastrukturkomponenten stellt hohe Anforderun-
20 im Projekt „DRIVE C2X“ [9]. Derzeit laufende Ak- gen an das Übertragungssystem. Mehrwegeausbrei-
tivitäten fokussieren sich auf Ansätze der hybriden tung aufgrund von Reflexionen, Dopplerverschie-
28.2 • Datenkommunikation
527 28
.. Abb. 28.1 Frequenzal-
lokation für ITS-Dienste in
Europa (Quelle: Bosch)

.. Abb. 28.2 Frequenzal-
lokation für ITS-Dienste in
den USA (Quelle: Bosch)

bungen durch hohe Fahrzeuggeschwindigkeiten auch eine geeignete Empfänger-Algorithmik auf-


sowie Abschattungseffekte des direkten Signalweges weisen.
müssen sowohl beim Systementwurf als auch bei der Simulationen und Feldtests haben gezeigt, dass
Sender- und Empfängerentwicklung berücksichtigt auch ohne direkten Signalweg auf Autobahnen
werden. Neben der Erprobung im Feld werden dazu Reichweiten von 250–500 m sowie an engen inner-
vor allem Simulationen und Labortests herangezo- städtischen Kreuzungen Reichweiten von 40–80 m
gen. Um dabei die geschilderten Ausbreitungseffekte erreicht werden können [12]. Die Untersuchungen
berücksichtigen zu können, wurden verschiedene im Projekt simTD haben gezeigt, dass diese Reich-
statistische Kanalmodelle entwickelt, die die realen weiten für die im jeweiligen Kontext vorgesehenen
Verhältnisse nachbilden. Funktionen ausreichend sind. Im Falle von direkten
Die genutzte Funktechnologie für C-ITS ba- Signalwegen liegen die Reichweiten deutlich höher.
siert auf dem herkömmlichen WLAN-Standard Zusätzlich kann die Kommunikationsreichweite
mit speziellen Erweiterungen. Dabei wird das durch die Weiterleitung von Nachrichten, dem soge-
Übertragungsverfahren OFDM (Orthogonal Fre- nannten Multi-Hop-Verfahren, vervielfacht werden.
quency Division Multiplexing) genutzt, bei dem der
Datenstrom innerhalb des verfügbaren Frequenz-
bereichs auf eine Vielzahl von schmalen Frequenz- 28.2.2 Frequenzallokation
trägern aufgeteilt wird. Dieses Verfahren hat seine
Robustheit in mobilen Umgebungen bereits bei Um kooperative ITS-Dienste zu ermöglichen,
anderen Systemen wie Digital Audio Broadcasting wurden in Europa 30 MHz Bandbreite unter dem
(DAB) unter Beweis gestellt. Begriff ITS-G5 A allokiert mit der Option, diese
Die Funkreichweite wird hauptsächlich durch zukünftig zu erweitern. Die einzelnen Funkkanäle
Abschattungseffekte aufgrund von Hindernissen, nutzen eine Bandbreite von 10 MHz. Die Darstel-
die den direkten Signalweg zwischen den Kommu- lung in . Abb. 28.1 gibt einen Überblick zum Fre-
nikationspartnern blockieren, beeinträchtigt. Der- quenzbereich und der verwendeten Nomenklatur;
artige Hindernisse können einerseits andere Fahr- der Kontrollkanal wird als CCH bezeichnet, die
zeuge, vor allem Lastkraftwagen, und andererseits Servicekanäle als SCH.
Häuserfronten in Städten, insbesondere in Kreu- In den USA erfolgte die Frequenzallokation
zungsbereichen, sein. Um auch in derart schwieri- durch die FCC (Federal Communications Com-
gen Situationen eine ausreichende Funkreichweite mission), s.  . Abb. 28.2. Die 75 MHz-Bandbreite
gewährleisten zu können, muss das System sowohl wird in 7 Kanäle mit jeweils 10 MHz aufgeteilt. Die
über eine ausreichende Sendeleistung verfügen als Nutzung desselben Frequenzbereichs in Europa und
528 Kapitel 28 • Car-2-X

den USA ermöglicht eine einheitliche Hardware im


1 Fahrzeug.

2
28.2.3 Standardisierung

3 Die Standardisierung von C-ITS spielt eine beson-


ders wichtige Rolle zur Sicherstellung eines ein-
4 heitlichen Datenaustausches zwischen Fahrzeugen
sowie zwischen Fahrzeugen und Infrastrukturkom-
5 ponenten. Hierzu gibt es in Europa das Mandat
M/453 der Europäischen Union [13], welches die
Organisationen CEN, CENELEC und ETSI beauf- .. Abb. 28.3  Erweitertes Schichtenmodell des ITS G5-Über-
6 tragt, einen Satz von Standards und Spezifikationen tragungssystems (Quelle: ETSI)

zu erstellen, um die Interoperabilität von C-ITS in


7 Europa sicherzustellen [14, 15, 16]. Anfang  2014 28.3.1 ITS Station
wurde die „C-ITS Release 1“ verabschiedet, in der
alle für die erste Phase der Einführung relevanten Zur Gliederung und Erläuterung der Architektur ei-
28 Standards aufgeführt sind [17]. In den USA obliegt ner ITS Station kann ein OSI-Modell (Open System
diese Aufgabe IEEE und SAE, in Japan ARIB. Die Interconnection) mit zusätzlichen schichtübergrei-
9 Standardisierungsaktivitäten werden durch das fenden Funktionalitäten entsprechend . Abb. 28.3
C2C-CC unterstützt. dienen.
10 Die Access-Schicht umfasst die Layer 1 und 2 des
ISO-OSI-Modells und basiert auf dem WLAN-Stan-
28.3 Systemübersicht dard IEEE 802.11p. Diese Ergänzung wurde speziell
11 für den Automotive-Bereich entwickelt, um ers-
Ein C-ITS System besteht aus mehreren Subsyste- tens den Herausforderungen des mobilen Übertra-
12 men, die miteinander interagieren. Diese Subsys- gungskanals gerecht zu werden und zweitens die
teme werden als ITS Station bezeichnet [18]. Dabei Ad-hoc-Kommunikation zwischen Fahrzeugen mit
unterscheidet man zwischen infrastrukturseitigen sehr geringen Verzögerungen zu ermöglichen.

--
13 und mobilen, z. B. fahrzeugseitigen Subsystemen: Die Networking- und Transport-Schicht um-
Infrastrukturseitige Subsysteme: fasst die Layer 3 und 4 des ISO-OSI-Modells. Hierin
14 Roadside ITS Station (z. B. Verkehrszei- ist z. B. das sogenannte Geo-Networking enthalten,

-
chenbrücken, Lichtsignalanlagen etc.), das die Weiterleitung von Nachrichten von Fahr-
15 Central ITS Station (z. B. Verkehrszentra- zeug zu Fahrzeug erlaubt, um so deutlich größere

16 -- len).
Mobile Subsysteme:
Vehicle ITS Station (im Fahrzeug verbaute
Einheit mit Zugriff auf die Fahrzeugsenso-
Kommunikationsreichweiten zu erzielen.
Die Facility-Schicht umfasst die Layer 5, 6 und
7 des ISO-OSI-Modells und hat umfangreiche Auf-
gaben. Es werden unter anderem Nachrichten (siehe
17
-
rik), CAM und DENM in ▶ Abschn. 28.5) für den Ver-
Personal ITS Station (z. B. Smartphone, sand an andere Fahrzeuge und Infrastrukturkom-
PDA etc.). ponenten generiert, die eigene Fahrzeugposition
18 berechnet, eine präzise Zeitbestimmung vorgenom-
Im Folgenden wird die grundlegende Architektur men und eine lokale dynamische Karte verwaltet.
19 einer ITS Station erläutert, die für alle genannten Die Application-Einheit adressiert drei Katego-
Subsysteme gültig ist. Die nachfolgenden Betrach- rien von Diensten: Verkehrssicherheit, Verkehrsef-
20 tungen beziehen sich hauptsächlich auf das fahr- fizienz und sonstige Dienste. Details hierzu finden
zeugseitige Subsystem, also die Vehicle ITS Station. sich in ▶ Abschn. 28.5.
28.4  •  Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre
529 28

Die Management-Einheit hat als wesentliche 28.4.1 Sicherheitsprobleme


Aufgabe die Überlastkontrolle des Übertragungs-
kanals. Da alle Fahrzeuge und Infrastrukturkom- Ohne geeignete Schutzmaßnahmen besteht bei
ponenten denselben Frequenzbereich nutzen, muss der Fahrzeugkommunikation zunächst die Gefahr,
darauf geachtet werden, dass keine Kollisionen bei dass gefälschte Nachrichten versendet oder legitime
der Übertragung auftreten und alle wichtigen Nach- Nachrichten verändert werden. Durch solche Ma-
richten nahezu verzögerungsfrei übertragen wer- nipulationen könnte ein Angreifer beispielsweise
den. Eine Sendestation muss also vor Benutzung einen nicht-existenten Stau oder eine Baustelle vor-
des Kanals nicht nur darauf achten, dass dieser frei spielen, um andere Fahrzeuge zu behindern oder
ist, sondern auch seine Sendeleistung und ggf. die umzuleiten. Mit Nachrichten, die Extremsituationen
Wiederholrate von Nachrichten der Kanallast an- wie eine Notbremsung vorgaukeln, könnten andere
passen. Somit wird eine gleichberechtigte Nutzung Verkehrsteilnehmer auch in Gefahr gebracht wer-
unter allen Beteiligten gewährleistet. Hierfür ist eine den. Aus solchen und ähnlichen Szenarien ergibt
Interaktion mit mehreren Schichten des Übertra- sich die Notwendigkeit, manipulierte Nachrichten
gungssystems notwendig, was in . Abb. 28.3 durch – oder solche, die von illegitimen Sendern versen-
einen schichtenübergreifenden vertikalen Block det wurden – als ungültig zu erkennen. Das heißt,
dargestellt ist. die Authentizität (Nachricht stammt wirklich vom
Die Security-Einheit hat ebenfalls mehrere angeblichen Absender; in diesem Fall von einem le-
schichtenübergreifende Aufgaben und ist daher gitimen Teilnehmer der Fahrzeugkommunikation)
ebenfalls durch einen vertikalen Block dargestellt. und Integrität (Nachricht wurde nicht manipuliert)
Sie muss – wie in ▶ Abschn. 28.4 näher erläutert – von Nachrichten muss sichergestellt werden.
die Integrität, Authentizität und Anonymität von Da es sich bei der Fahrzeugkommunikation
Nachrichten sicherstellen. Wesentlich dabei ist vorrangig um sicherheitsrelevante Broadcast-Nach-
sowohl die Signierung von zu versendenden Nach- richten handelt, die für jedermann lesbar sein sollen,
richten als auch die Prüfung der Signaturen von steht die Vertraulichkeit des Nachrichteninhaltes
empfangenen Nachrichten. (also die Geheimhaltung versendeter Daten) nicht
im Vordergrund. Für andere Anwendungsfälle, wie
z. B. Bezahldienste, mag dies jedoch durchaus anders
28.4 Datensicherheit und Schutz aussehen. Deshalb sollte auch die Möglichkeit von
der Privatsphäre vertraulicher Kommunikation vorgesehen werden.

Im Kontext von C2X-basierten Assistenzsystemen


und Funktionalitäten ist der Schutz vor Manipula- 28.4.2 Aspekte der Privatsphäre
tionen durch Unbefugte natürlich von großer Be-
deutung. Außerdem werden durch Fahrzeuge, die Würden sich die Nachrichten aus der Fahrzeugkom-
fortlaufend Daten versenden – wie beispielsweise munikation mit geringem Aufwand einem Fahrzeug
ihre Position und Geschwindigkeit – auch Fragen oder dessen Fahrer zuordnen lassen, so könnten
bezüglich Datenschutz und Privatsphäre der Fahr- sich daraus gravierende Folgen für die Privatsphäre
zeuginsassen aufgeworfen. des Fahrers – oder auch anderer Fahrzeuginsassen –
In diesem Abschnitt wird zunächst die grund- ergeben: Wenn Fahrzeuge fortlaufend Nachrichten
legende Problematik von Datensicherheit und Pri- versenden, können diese von beliebigen Personen
vatsphärenschutz in der Fahrzeugkommunikation oder Organisationen, die sich in Reichweite befin-
beleuchtet. Anschließend werden existierende Lö- den, empfangen und auch gespeichert werden. Kri-
sungsansätze sowie der aktuelle Stand der Technik tische Szenarien könnten beispielsweise entstehen,
kurz dargestellt. wenn einfach festgestellt oder gar nachgewiesen
werden könnte, dass ein bestimmtes Fahrzeug bei
potenziell sensitiven Veranstaltungen (z. B. Partei-
tag, Vereinsversammlung) zugegen war. Zumin-
530 Kapitel 28 • Car-2-X

dest diskussionswürdig wäre auch die Möglichkeit, Des Weiteren spielen jedoch auch folgende Aspekte

-
1 mithilfe aufgezeichneter Nachrichten automatisiert eine entscheidende Rolle für die Sicherheitslösung:
Verkehrsdelikte wie Geschwindigkeitsüberschrei- Performance. Die Sicherheitsmechanismen
2 tungen zu ahnden. müssen leistungsfähig genug sein, um die
Um zu vermeiden, dass durch die Fahrzeug- Kommunikation nicht zu beeinträchtigen.
kommunikation die Privatsphäre von Fahrzeugin- Insbesondere muss gewährleistet sein, dass die
3 sassen massiv beeinträchtigt wird, sollte versucht realistischerweise zu erwartenden Mengen an
werden, keine konstanten, dem Fahrzeug leicht zu- empfangenen Nachrichten auch verarbeitet
4
5
zuordnenden Kennungen in diesen Nachrichten zu
verwenden. Außerdem sollten nur Daten übermit-
telt werden, die auch für die Anwendungsfälle nötig
sind (Prinzip der Datensparsamkeit). Insbesondere
- werden können.
Kosten/Aufwand. Kosten und Aufwand für
die Ausstattung von Fahrzeugen und Road
Side Units mit Sicherheitsmodulen sollten
muss beim Entwurf einer Sicherheitslösung darauf möglichst niedrig gehalten werden. Das
6 geachtet werden, dass nicht anhand der kryptogra- Gleiche gilt auch für die Infrastruktur für das

7
28
fischen Schlüssel eine einfache und sogar nachweis-
bare Identifikation und Verfolgung von Fahrzeugen
ermöglicht wird. - Zertifikats- und Schlüsselmanagement.
Wartbarkeit/Zukunftssicherheit. Da ein ein-
mal ausgerolltes System im Automobilbereich
jahrzehntelang im Feld funktionieren muss,
ist es unerlässlich, bereits vor der Einführung
28.4.3 Schutzziele die Wartbarkeit und Zukunftssicherheit zu
9 und Herausforderungen betrachten. Dies betrifft natürlich auch die
Sicherheitslösung, die – zumindest soweit es
10 Aus den obigen Überlegungen ergeben sich als we- aus heutiger Sicht zu beurteilen ist – auch über

-
sentliche Schutzziele für ein Sicherheitskonzept:
Integrität. Die Nachrichten müssen vor Mani-
entsprechende Zeiträume hinweg die Sicher-
heit gewährleisten soll.

-
11 pulationen geschützt werden.
Authentizität. Es muss sichergestellt werden,
12 dass nur Nachrichten von legitimen Teilneh- 28.4.4 Lösungsansätze
mern akzeptiert werden. Für besondere Fälle, und -mechanismen
wie z. B. die Aufklärung schwerer Strafta-
13 ten, kann es sogar wünschenswert sein, den Um die Kommunikation adäquat kryptografisch ab-
Ursprung einer Nachricht nach hoheitlicher zusichern, ist derzeit eine Lösung vorgesehen, bei
14 Anordnung auch Dritten (z. B. einem Gericht) der alle Nachrichten digital signiert werden: Die von
gegenüber nachweisen zu können (Nichtab- Fahrzeugen erzeugten Signaturen können anhand
15
16
- streitbarkeit).
Anonymität/Pseudonymität. Um die Ein-
schränkung der Privatsphäre der Nutzer mi-
nimal zu halten, sollte anonyme oder pseudo-
von pro Fahrzeug wechselnden Pseudonymzer-
tifikaten verifiziert werden, die von einer eigenen
Public-Key-Infrastruktur (PKI) ausgestellt werden
[19, 20]. . Abbildung 28.4 gibt einen Überblick über
nyme Kommunikation unterstützt werden. Bei diesen Ansatz, wie er vom C2C-CC und ETSI defi-
17 der Verwendung von Pseudonymen ist darauf niert wurde [21, 22].
zu achten, dass De-Pseudonymisierung (bzw. Die PKI besteht aus drei verschiedenen Typen
die Zuordnung unterschiedlicher Pseudonyme von Certificate Authorities (CAs): Root CA, Enrol-
18 zu einem Nutzer) höchstens für autorisierte ment Authority (EA; auch Long Term CA genannt)

19
20
- Parteien einfach möglich sein soll.
Vertraulichkeit. Es muss möglich sein,
optional die Vertraulichkeit von Nachrichten
zu gewährleisten, falls die Anwendung dies
und Authorization Authority (AA; auch Pseudonym
CA genannt). Der Vertrauensanker in der Sicher-
heitsarchitektur wird durch die Root CA gebildet,
die allen Systemteilnehmern bekannt ist. Diese
erfordert. wiederum stellt Zertifikate für EA und AA aus und
28.4  •  Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre
531 28
.. Abb. 28.4 Absicherung
der Fahrzeugkommuni-
kation, Phase 1: Fahrzeug
erhält ein Enrolment
Credential (Langzeitzerti-
fikat), Phase 2: Fahrzeug
erhält Authorization
Tickets (Pseudonymzertifi-
kate), Phase 3: Fahrzeuge
kommunizieren pseudo-
nym miteinander (Quelle:
Bosch)

überwacht die Einhaltung der Richtlinien für die Um bei der Kommunikation von Fahrzeugen
Vergabe von Zertifikaten. Es ist vorgesehen, dass untereinander – oder auch bei der Kommunikation
es mehrere Instanzen von Enrolment und Autho- von Fahrzeugen mit Infrastrukturkomponenten –
rization Authorities gibt, die von unterschiedlichen die Nachrichten abzusichern (siehe . Abb. 28.4,
Organisationen betrieben werden. Schritt 3), werden diese nun vom Sender digital sig-
Ein Fahrzeug, das am Kommunikationssystem niert: Hierzu wird ein privater Schlüssel verwendet,
teilnehmen möchte, benötigt zunächst ein Enrol- für dessen öffentlichen Gegenpart der Sender ein
ment Credential (EC; auch Long Term Certificate gültiges Authorization Ticket besitzt. Der Empfän-
genannt) von einer Enrolment Authority (siehe ger der Nachricht kann nun verifizieren, dass diese
. Abb. 28.4, Schritt 1). von einem legitimen Teilnehmer erstellt wurde und
Nach Erhalt eines Enrolment Credential kann das unverändert empfangen wurde: Dazu muss er zu-
Fahrzeug Pseudonyme (kryptografische Schlüssel- nächst die Signatur anhand des öffentlichen Schlüs-
paare) erzeugen und von einer Authorization Autho- sels aus dem Authorization Ticket des Senders
rity zertifizieren lassen (siehe . Abb. 28.4, Schritt 2): prüfen; danach muss er verifizieren, dass das Au-
Hierzu verschlüsselt das Fahrzeug sein Enrolment thorization Ticket gültig – also insbesondere nicht
Credential für die Enrolment Authority und schickt abgelaufen – ist und von einer legitimen Authoriz-
das verschlüsselte Credential zusammen mit den ation Authority signiert wurde. Ist dem Empfänger
neu erzeugten öffentlichen Schlüsseln (den Pseudo- die ausstellende Authorization Authority noch nicht
nymen) an die Authorization Authority (Schritt 2a). bekannt, so muss er das von der Root CA signierte
Die Authorization Authority schickt dann das ver- Zertifikat der AA überprüfen, um sicherzustellen,
schlüsselte Credential an die zuständige Enrolment dass es sich um eine berechtigte Authorization Au-
Authority, welche daraufhin prüft, ob es sich um ein thority handelt. Auf diese Weise können auch Fahr-
korrektes Zertifikat handelt, das zur Ausstellung von zeuge sicher miteinander kommunizieren, die sich
Pseudonymzertifikaten berechtigt (Schritt 2b). Nach erstmalig begegnen und lediglich der gleichen Root
positiver Rückmeldung von der Enrolment Authority CA vertrauen. Bei Bedarf kann das System auch
(Schritt 2c), zertifiziert die Authorization Authority auf mehrere Root CAs erweitert werden, die sich
die öffentlichen Schlüssel mit einer digitalen Signatur durch sogenannte Cross-Zertifizierung gegenseitig
und erzeugt damit sogenannte Authorization Tickets zertifizieren; optional können vertrauliche Nach-
(ATs). Diese werden nun ans Fahrzeug übermittelt richten auch verschlüsselt übertragen werden. Da
(Schritt 2d), welches sie dann zur pseudonymisierten dies jedoch für die wichtigsten derzeit vorgesehe-
Kommunikation einsetzen kann. nen (sicherheitsrelevanten) Anwendungsfälle nicht
532 Kapitel 28 • Car-2-X

1
2
3 .. Abb. 28.5  Bei C2X-Funktionen erfolgen Detektion einer Gefahr und Interpretation der zugehörigen Nachricht häufig auf
unterschiedlichen Knoten. (Quelle: Bosch)

4 nötig ist, wird hier auf eine genauere Darstellung schen amerikanischen und europäischen Standards
verzichtet. sollen noch harmonisiert werden. Auch zum Design
5 Eine effektive Pseudonymisierung wird durch und Einsatz von Kryptobeschleunigern, die die nö-
das hier skizzierte Verfahren unter der Vorausset- tige Performanz im Fahrzeug gewährleisten, gibt es
zung ermöglicht, dass die Fahrzeuge ihre Autho- schon Prototypen und Projekte (z. B. EU-Projekt
6 rization Tickets häufig genug wechseln, um eine PRESERVE [27]).
einfache Verknüpfung zwischen AT und Fahrzeug
7 zu verhindern. Um anhand von empfangenen Nach-
richten die Identität des Senders (bzw. äquivalent 28.5 Car-2-X Anwendungen
sein Enrolment Credential) festzustellen, müssen
28 die Authorization Authority (die die Authoriza- 28.5.1 Anforderungen
tion Tickets ausgestellt hat) und die Enrolment und grundsätzliche
9 Authority (als die einzige CA, die das Enrolment Funktionsweise
Credential des Fahrzeugs unverschlüsselt zu Gesicht
10 bekommen hat) kooperieren. Falls dies ermöglicht Wie herkömmliche, auf bordautonomer Sensorik
werden soll, beispielsweise gegenüber hoheitlichen basierende Fahrerassistenzsysteme (FAS) sollen
Behörden, müssen AA und EA die Ausstellung der C2X-basierte FAS den Fahrer in seiner Fahrauf-
11 ATs bzw. die Prüfung der ECs protokollieren. Durch gabe unterstützen; dazu gehört unter anderem die
Zusammenführen dieser Protokolle kann dann die Information über vorausliegende Ereignisse sowie
12 Pseudonymität des Senders einer Nachricht aufge- die Warnung vor Gefahren. Hierzu müssen die Er-
hoben werden. eignisse detektiert werden und es muss eine Ent-
scheidung über die Bedeutung für die Fahraufgabe
13 getroffen werden. Erweist sich ein detektiertes Er-
28.4.5 Stand von Technik eignis als relevant, so erfolgt eine Weitergabe an den
14 und Umsetzung Fahrer, im einfachsten Fall als Warnung über das
HMI (z. B. Warnton, Anzeige im Display, haptisches
15 Die zur Absicherung nötigen kryptografischen Me- Feedback etc.), prinzipiell sind aber auch Eingriffe
chanismen und Datenformate sind bereits spezifi- in die Fahrfunktion denkbar.
ziert: Die Zertifikats- und Nachrichtenformate wer- Im Unterschied zu den auf bordautonomer
16 den in der technischen Spezifikation ETSI TS 103 Sensorik basierenden FAS finden Detektion und
097 (für Europa) [23] und im Standard IEEE 1609.2 Interpretation häufig auf zwei verschiedenen Kno-
17 (für Nordamerika) [24] festgelegt. Für die digitalen ten statt, s. . Abb. 28.5. Dabei muss es sich nicht in
Signaturen findet der Elliptic Curve Digital Signa- beiden Fällen – wie im C2C-Fall – um Fahrzeuge
ture Algorithm (ECDSA, siehe z. B. [25]) Verwen- handeln. Es können z. B. Lichtsignalanlagen (LSA)
18 dung. Zur optionalen Verschlüsselung ist das Ellip- über ihre aktuelle und zukünftige Phase informieren
tic Curve Integrated Encryption Scheme (ECIES, (I2C) oder eine Roadside Unit (RSU) kann Fahr-
19 siehe z. B. IEEE 1363a, [26]) vorgesehen. Auch die zeugbewegungsdaten zur Erstellung einer Staupro-
gesamte PKI ist bereits prototypisch realisiert (der- gnose sammeln (C2I).
20 zeit betrieben vom C2C-CC) und geht demnächst in Zwischen den beiden Knoten findet eine Weiter-
den Produktivbetrieb. Gewisse Abweichungen zwi- gabe durch Versand von standardisierten Nachrich-
28.5 • Car-2-X Anwendungen
533 28

.. Tab. 28.1  Vergleich von DENM und CAM

DENM CAM

Sender komplexe Detektion, z. B. aufwendige Ana- Auslesen von CAN-Daten zum Bewegungszu-
lyse von CAN-Daten stand des Fahrzeugs

Nachrichteninhalt verarbeitete, spezifische Daten, z. B. Position, CAN-Daten zum Bewegungszustand des
Zeit, Hindernistyp, Gültigkeitsdauer etc. Fahrzeugs (Position, Zeit, Fahrtrichtung,
Geschwindigkeit)

Empfänger einfache Prüfung der Relevanz: Liegt die aufwendige Auswertung der CAM-Daten
Gefahrenstelle auf dem Weg und wann wird und Prüfung der Relevanz, z. B. Berechnung
sie ggf. erreicht? des Kollisionsrisikos aus CAM-Daten aller
Fahrzeuge

Sendemodus ereignisgesteuert periodisch

ten statt. Für die C2C-Kommunikation werden am Fahrtrichtung, Geschwindigkeit etc.) ausschließlich
häufigsten die beiden folgenden Nachrichtentypen empfängerseitig aus: Dazu erfolgt eine aufwendige

-
verwendet [28, 29]:
Decentralized Environmental Notification
Message (DENM)
für ereignisgesteuerte Warnungen vor lokalen
Auswertung der vorliegenden CAM-Daten sowie
eine Bewertung der Relevanz. So lässt sich z. B. das
Kollisionsrisiko in nicht oder schlecht einsehbaren
Kreuzungsbereichen aus den CAM-Daten aller

- Gefahren;
Cooperative Awareness Message (CAM)
für die kontinuierliche Beobachtung der in der
Nähe befindlichen Fahrzeuge.
Fahrzeuge in der Umgebung berechnen, so dass ggf.
eine Warnung ausgegeben werden kann.
In . Tab. 28.1 sind die wesentlichen Merkmale
von DENM und CAM einander gegenübergestellt.
Da in der Regel in den Fahrzeugen mehrere
Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl sehr C2X-Funktionen gleichzeitig aktiv sind, treffen in
spezifischer Nachrichtentypen, mit denen z. B. den Empfängern zahlreiche verschiedene Nachrich-
LSA-Phaseninformationen, Verkehrszeichen oder ten ein. Eine einzelne Funktion wählt daraus dann
Kreuzungstopologien beschrieben werden. nur die sie betreffenden aus – z. B. eine Hindernis-
Bei einer DENM erfolgt die – oft komplexe – warnung jene, die Hindernisse betreffen.
Detektion einer lokalen Gefahr im Sendefahrzeug: Ein weiteres Problem liegt in der Tatsache be-
In der Regel werden dazu die über den CAN-Bus gründet, dass meist mehrere Nachrichten zum
bezogenen Fahrzeugsensordaten analysiert und selben Ereignis eintreffen, da eine Gefahr von
bewertet; denkbar sind allerdings auch durch den mehreren Sendern detektiert wurde. Um Mehrfach-
Fahrer selbst ausgelöste Meldungen, z. B. bei der Er- warnungen auszuschließen, erfolgt eine Aggrega-
kennung von Hindernissen auf der Fahrbahn. Alle tion der empfangenen Nachrichten. Je nach Art des
zur Kennzeichnung der detektierten Gefahr erfor- Ereignisses muss dabei unterschieden werden zwi-
derlichen Daten werden der Nachricht hinzugefügt schen punktförmigen Aggregaten (z. B. im Fall eines
und versendet. Im empfangenden Fahrzeug muss Hindernisses) und linien- bzw. flächenartigen Agg-
lediglich noch die Relevanz der Gefahr bewertet regaten (z. B. ein – mit der Zeit wanderndes – Stau-
werden. Dabei wird im Wesentlichen geprüft, ob die ende oder ein Schlechtwettergebiet). In . Abb. 28.6
Gefahrenstelle auf dem eigenen Weg liegt und wann werden einige Beispiele für Punkt- und Streckenag-
sie ggf. erreicht wird, so dass dann eine Warnung gregate gezeigt. Die Art des Aggregats hängt dabei
erfolgen muss. vom Kontext der Meldung ab: So werden im Bei-
CAM-basierte Funktionen hingegen werten die spiel für die „verlorene Ladung“ von verschieden
von allen Fahrzeugen periodisch versendeten Daten Fahrzeugen durchaus in der Fläche verteilte Positi-
zu ihrem jeweiligen Bewegungszustand (Position, onen gemeldet, z. B. aufgrund ungenauer Sensorik
534 Kapitel 28 • Car-2-X

1
2
3
4
5
.. Abb. 28.6  Aggregation mehrerer Nachrichten zum selben Ereignis (Quelle: Bosch)
6 oder manuell ausgelöster Meldung im Vorbeifahren. gen wird: Sie enthält unter anderem Angaben zu
Da es sich dabei aber um ein punktförmiges Ereig- Hindernistyp, -zeitpunkt, -position und Verbrei-
7 nis handelt – auch wenn es eine gewisse, aber nicht tungsgebiet der Nachricht. Alle Fahrzeuge, die sich
großflächige Ausdehnung aufweisen kann – werden innerhalb der Kommunikationsreichweite des Sen-
die Meldungen entsprechend aggregiert (im Bild ge- ders befinden, empfangen die Nachricht direkt. Für
28 kennzeichnet durch das Kreuz). weiter entfernte Empfänger ist dies nicht garantiert
und die Nachricht wird mittels des Multi-Hop-Ver-
9 fahrens über mehrere Fahrzeuge weitergereicht, was
28.5.2 Anwendungsbeispiele durch die gelbe Linie angedeutet ist.
10 Empfangende Fahrzeuge prüfen, ob sie auf das
Nachfolgend werden zwei konkrete Anwendungs- Hindernis zufahren (räumliche Relevanz) und ob
beispiele vorgestellt. Dringlichkeit (zeitliche Relevanz) gegeben ist, also
11 ob eine Information oder eine Warnung auf dem
28.5.2.1 Hinderniswarnung HMI angemessen ist. Dabei kann die räumliche Re-
12 Die Hinderniswarnung warnt z. B. vor liegenge­ levanz durch Abgleich der Hindernisposition mit
bliebenen Fahrzeugen oder Personen, Tieren und der Fahrzeugroute anhand einer digitalen Karte
Gegenständen auf der Fahrbahn; für letztgenannte oder durch Abgleich der aktuellen Empfängerpo-
13 Fälle kann die Detektion z. B. einfach durch den sition mit einer in der DENM enthaltenen Positi-
Fahrer erfolgen, indem Warnmeldungen bzgl. er- onskette (Abfolge historischer Positionen des Sen-
14 kannter Gefahren durch manuelle Interaktion über defahrzeugs) geprüft werden, s. . Abb. 28.7 rechts.
das HMI ausgelöst werden. Verfügt das Fahrzeug Der erhaltene Abstand zum Hindernis erlaubt
15 z. B. auch über eine Kamera mit Bildverarbeitung, mithilfe der Geschwindigkeit die Bestimmung ei-
so ließe sich dieser Vorgang auch automatisieren. ner „time-to-obstacle“, anhand derer die zeitliche
Hindernisse auf der Fahrbahn können auch aus der Relevanz bestimmt wird.
16 Analyse von Ausweichmanövern detektiert werden.
Wird ein Fahrzeug aufgrund einer Panne oder 28.5.2.2 Kreuzungs-/
17 eines Unfalls selbst zum Hindernis, so erfolgt die Querverkehrsassistent
Detektion automatisch aus der Analyse verschie- Der Kreuzungs-/Querverkehrsassistent (KQA)
dener CAN-Daten. Im einfachsten Fall detektiert informiert bzw. warnt den Fahrer im Falle einer
18 sich ein liegengebliebenes Fahrzeug dadurch, dass möglichen Kollision mit Abbiege- oder Querver-
es steht und der Warnblinker aktiv ist, s. dazu kehr an Kreuzungen und Einmündungen, s. dazu
19 . Abb. 28.7. Das Fahrzeug am linken Bildrand ist . Abb. 28.8 (vgl. auch ▶ Kap. 51). Hierzu senden
liegengeblieben und der Warnblinker ist aktiv. die Fahrzeuge im Anfahrts- und Innenbereich einer
20 Eine detektierte Gefahr führt zum Versand einer Kreuzung in ausreichend dichtem Zeittakt CAMs
DENM, die in nachfolgenden Fahrzeugen empfan- mit Positions- und Bewegungsdaten (Geschwindig-
28.5 • Car-2-X Anwendungen
535 28

.. Abb. 28.7  Anwendungsbeispiel Hinderniswarnung (Quelle: Bosch)

keit, Fahrtrichtung, …) und empfangen jene Daten


von anderen Fahrzeugen. Die Bewegung des eigenen
und der anderen Fahrzeuge werden prädiziert und
daraus ein Kollisionsrisiko bestimmt.
Zunächst wird hierzu – wie in . Abb. 28.8 rechts
dargestellt – ein Kollisionsbereich je Sendefahrzeug
bestimmt. Dies ist im Wesentlichen der Ort, an dem
sich die Fahrtrajektorien der Fahrzeuge kreuzen.
Biegt das rote Fahrzeug rechts ab, so gibt es keinen
solchen Bereich; ist er jedoch vorhanden, wird ge- .. Abb. 28.8  Anwendungsbeispiel Kreuzungs-/Querverkehrs­
prüft, ob die beteiligten Fahrzeuge sich ungefähr assistent (Quelle: Bosch)
gleichzeitig in ihm befinden werden oder ob eines der
beiden Fahrzeuge ihn wesentlich früher als das an- Main umfangreich untersucht. Dazu wurde die
dere Fahrzeug passiert. In diesem Fall wird im nicht Verkehrsinfrastruktur mit mehr als 100 Roadside
vorfahrtsberechtigten Fahrzeug die Zeit bestimmt, Stations ausgerüstet und eine Versuchsflotte mit
bis es diesen Bereich erreicht; beim Unterschreiten 120  Fahrzeugen aufgebaut; während der sechs-
einer kritischen Zeitschwelle wird der Fahrer recht- monatigen Versuchsdauer wurden insgesamt ca.
zeitig gewarnt. Diese Bestimmung geschieht unter 1,65 Millionen Kilometer von mehr als 500 Nor-
Auswertung der Fahrabsicht (vgl. ▶ Kap. 39), z. B. malfahrern zurückgelegt.
wird bei einer begonnenen Bremsung nicht gewarnt. Neben der Entwicklung und Bereitstellung
der technischen Subsysteme wurden insgesamt
21 Funktionen ausgewählt, spezifiziert, implemen-
28.5.3 Umsetzung und Erprobung tiert und im abgeschlossenen Testgelände zur Stra-
im Projekt simTD ßentauglichkeit gebracht, um sie dann im Feldver-
such zu erproben [30], s. . Abb. 28.9.
In Deutschland wurde die Praxistauglichkeit der Im Vorfeld aufgestellte Hypothesen zu Nutzen
C2X-Technologie sowie deren Wirksamkeit und und Wirkung der einzelnen Funktionen konnten in
Nutzen im Rahmen des Projekts simTD [7] mittels geeigneten Versuchen anhand der im Feldversuch
eines großmaßstäblichen Feldversuchs unter realen erfassten Messdaten akzeptiert oder verworfen wer-
Verkehrsbedingungen im Großraum Frankfurt/ den. Die Durchführung dieser Versuche erfolgte
536 Kapitel 28 • Car-2-X

1
2
3
4
5
6
7
28
.. Abb. 28.9  Im Projekt simTD umgesetzte und untersuchte Funktionen (Quelle: simTD)
9
gemäß detaillierter Drehbücher, die den genauen werden: So verschob sich bei der Hinderniswarnung
10 Versuchsablauf sowie entsprechende Anweisungen der Bremszeitpunkt um bis zu 50 m nach vorne und
an die Fahrer enthielten. Ein Beispiel soll diesen die Gefahrenstelle wurde um bis zu 15 km/h langsa-
Prozess veranschaulichen: In einem Versuch zur mer passiert; beim elektronischen Bremslicht wurde
11 Funktion Hinderniswarnung wies das Drehbuch eine Verbesserung der Reaktionszeit für nachfol-
einem Fahrzeug die Rolle eines Pannenfahrzeugs gende Fahrzeuge um 60 % beobachtet. Hinsicht-
12 zu, das auf vorgegebenem Weg eine für den nach- lich einer Steigerung der Verkehrseffizienz ist der
folgenden Verkehr nicht einsehbare Position anfah- „LSA-Phasenassistent“ („Grüne-Welle-Assistenz“)
ren und sich dort als liegengebliebenes Fahrzeug hervorzuheben: In einer mit Feldversuchsdaten ka-
13 kennzeichnen sollte, so dass eine entsprechende librierten Verkehrssimulation konnte gezeigt wer-
DENM ausgesendet wird. Alle anderen Fahrzeuge den, dass die Verlustzeiten und die Anzahl der Halte
14 sollten in zeitlichem Abstand dieselbe Route abfah- abnehmen. Diese Effekte treten schon bei Ausstat-
ren, um zu überprüfen, ob sie rechtzeitig vor der tungsraten von 5 % auf und nehmen bei höheren
15 Gefahrenstelle gewarnt werden. Als Messgrößen Ausstattungsraten noch zu; darüber hinaus sinkt die
wurden u. a. der Versand- und Empfangszeitpunkt Häufigkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen
einer DENM sowie der Zeitpunkt der Warnanzeige in der Kreuzungsanfahrt.
16 ermittelt. Mithilfe der jeweiligen Fahrzeugpositio- Zusätzlich wurde eine sehr positive Nutzerak-
nen und der Geschwindigkeit des empfangenden zeptanz festgestellt: So erklärten in einer schriftli-
17 Fahrzeugs konnten sowohl die Reichweite der chen Befragung je nach Funktion 50 % bis 80 % der
Kommunikation als auch die Rechtzeitigkeit der Fahrer: „Ich wünsche mir den Anwendungsfall in
Warnung ermittelt und somit die entsprechende meinem Fahrzeug“. Es gab einen mehrheitlichen
18 Hypothese zum Nutzen der Hinderniswarnung Wunsch der Fahrer, C2XC-Funktionen nach Markt-
nachgewiesen werden. einführung zu nutzen.
19 Basierend auf den Daten aus dem Feldversuch –
unterstützt durch Fahr- und Verkehrssimulationen
20 – konnten weitere positive Einflüsse auf die Fahr-
bzw. Verkehrssicherheit und -effizienz ermittelt
28.6  •  Ökonomische Bewertung und Einführungsszenarien
537 28

.. Abb. 28.10  Vorgehensweise zur Bestimmung von Wirkung und ökonomischem Nutzen in simTD (Quelle: Bosch)

28.6 Ökonomische Bewertung Unfälle im Wirkfeld an, die mithilfe der Funktion
und Einführungsszenarien vermieden werden; das Produkt von Wirkgrad und
Wirkfeld kennzeichnet dann die maximal mögliche
28.6.1 Wirkung und Nutzen Wirkung einer einzelnen Funktion im Gesamtun-
fallgeschehen.
Die Ermittlung und Bewertung von Wirkung und Die Wirkgradanalyse erfolgte dann durch Si-
Nutzen der C2X-Funktionen erfolgte in simTD an- mulation von Realunfällen aus GIDAS. Aufgrund
hand der in . Abb. 28.10 dargestellten Vorgehens- des damit verbundenen hohen Aufwands konnte
weise [31]. dies nur für die drei Funktionen mit dem größ-
Der obere Pfad beschreibt das Vorgehen zur Be- ten Wirkfeld erfolgen. Die Ergebnisse dazu sind in
stimmung der Wirkung für die Verkehrssicherheit. . Tab. 28.2 dargestellt.
Basis für diese Untersuchungen war die GIDAS-Un- Neben der für die Wirkgradanalyse benötigten
falldatenbank für Unfälle mit Personenschaden [32]. Ermittlung der durch die Funktion vermiedenen
Im ersten Schritt erfolgte eine Wirkfeldanalyse. Das Unfälle wurden bei der Auswertung der Unfallsi-
Wirkfeld gibt den Anteil der mit einer Funktion ad- mulationen auch weitere Parameter – wie die Ver-
ressierbaren Unfälle am gesamten Unfallgeschehen ringerung der Verletzungsschwere bei Unfällen mit
wieder, kennzeichnet also das theoretisch maximal Personenschaden und die Vermeidung von Unfällen
mögliche Potenzial einer Funktion. So erfolgt z. B. mit Sachschaden – bestimmt, die für eine ökonomi-
die Bewertung für einen Kreuzungskollisionswarner sche Bewertung ebenfalls relevant sind.
auch nur anhand von Kreuzungsunfällen. Für die Der untere Pfad in . Abb. 28.10 zeigt das Vorge-
Funktionen mit Sicherheitswirkung ergab die Wirk- hen zur Bestimmung der Wirkung von Funktionen
feldanalyse ein Wirkfeld von mehr als 30 %, wobei bzgl. Mobilität und Umwelt aus Verkehrssimula-
allerdings die Funktionsauslegung nicht berück- tionen. Hier zeigte sich u. a., dass sich Reisezeiten
sichtigt wurde und der tatsächlich erreichbare Wert durch dynamische Umfahrungshinweise um bis zu
ggf. geringer ausfallen kann. Die tatsächliche Wirk- 7 % und durch LSA-Phasenassistenz um bis zu 9 %
samkeit einer Funktion wird durch den Wirkgrad verringern lassen.
gekennzeichnet: Der Wirkgrad gibt den Anteil der
538 Kapitel 28 • Car-2-X

1 .. Tab. 28.2  Ergebnisse der Unfallsimulation zur Wirkgradanalyse

Funktion Anzahl simulierter Unfäl- Anzahl der vermiedenen Wirkgrad


2 le im jeweiligen Wirkfeld Unfälle

Elektronisches Bremslicht 173 33 19 %

3 Verkehrszeichenassistent (Stoppschilder) 92 13 14 %

Kreuzungs-/Querverkehrsassistent 450 243 54 %


4
28.6.2 Ökonomische Bewertung viele verschiedene Einführungsszenarien betrach-
5 tet, z. B. Einführung durch Selbstverpflichtung der
Aus den beschriebenen Ergebnissen zur Wirkung Automobilhersteller, Einführung durch den Staat
der C2X-Funktionen lässt sich ein signifikanter durch gesetzliche Regelungen oder auch Einfüh-

-
6 volkswirtschaftlicher Nutzen ableiten [33]. rung mit Unterstützung durch Sponsoren, wie etwa
Bei vollständiger Durchdringung mit Versicherungen. Diese würden ganz oder zumin-
7 C2X-Funktionen könnten jährlich bis zu dest teilweise für die Ausstattungskosten der Fahr-
6,5 Mrd. € der volkswirtschaftlichen Kosten zeuge aufkommen und im Gegenzug dafür Zugang
von Straßenverkehrsunfällen vermieden wer- zu Mobilitätsdaten erhalten, die sie für eine eigene

-
28 den. Vertrags- und Preisgestaltung nutzen. Da es hier
Des Weiteren kann durch Effizienzwirkungen aber keinen Königsweg zu geben scheint, ist man
9 und durch die Vermeidung von Umweltbelas- zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Einführung
tungen ein volkswirtschaftlicher Nutzen von nur über eine gemeinsame Anstrengung seitens
10 4,9 Mrd. € erzielt werden. der Fahrzeughersteller und der öffentlichen Hand
möglich sein wird. Im Rahmen des C2C-CC haben
Für den Zeitraum 2015 bis 2035 wurde unter die meisten Fahrzeughersteller daher ein Memo-
11 der Annahme idealer Randbedingungen ein ma- randum of Understanding (MoU) zur Einführung
ximales Nutzen-Kosten-Verhältnis größer als 8 von C2X-Systemen unterzeichnet und die öffentli-
12 berechnet: Legt man die typische Entwicklung che Hand versucht, durch das Projekt Eurokorridor
der Ausstattungsraten von neuartigen Standard- [34] erste Impulse zur Ausrüstung der Straßenver-
features zugrunde, so lässt sich ein kumulatives kehrsinfrastruktur zu geben, um frühzeitig erste
13 Nutzen-Kosten-Verhältnis von 3 über die ersten erlebbare C2X-Funktionen zu ermöglichen.
20 Jahre erwarten. Dieser Wert wird im Allgemei- Die Abhängigkeit von der Ausstattungsrate ist
14 nen als Rechtfertigung für entsprechende Investi- von Funktion zu Funktion stark verschieden: Das
tionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur C2C-CC hat daher ein Phasenmodell für die gestaf-
15 akzeptiert. felte Einführung von Car-2-X Anwendungen entwi-
ckelt. Die . Abb. 28.11. zeigt eine darauf basierende
Darstellung der Volkswagen AG.
16 28.6.3 Einführungsszenarien Die erste Phase beinhaltet die sogenannten
und Ausblick Day-1-Funktionen mit geringer Abhängigkeit von
17 der Ausstattungsrate; die Funktionalität und damit
Das Kernproblem für die Einführung von C2X-Sys- verbunden auch die Komplexität nehmen dann mit
temen liegt in der starken Abhängigkeit von der steigender Ausstattungsrate von Phase zu Phase zu.
18 Ausstattungsrate. Eine Investition in die Infrastruk- Letztendlich wird erwartet, dass die C2X-Techno-
tur ergibt erst Sinn, wenn es auch ausreichend viele logie auch maßgeblich zum automatischen Fahren
19 ausgestattete Fahrzeuge gibt; eine Ausstattung der beitragen wird.
Fahrzeuge rechnet sich erst, wenn es auch vermarkt- Um die Hürden der Einführung zu verringern,
20 bare C2X-Funktionen gibt, die einen – möglichst wird z. B. im aktuell laufenden Projekt CONVERGE
erlebbaren – Kundennutzen liefern. Es wurden dazu [10] die Architektur für einen C-ITS Systemverbund
Literatur
539 28

.. Abb. 28.11  Phasenmodell für die Einführung von Car-2-X Systemen und die damit verbundenen Anwendungen (Quelle:
Volkswagen AG)

2 Festag, A., Noecker, G., Strassberger, M., Lübke, A., Bochow,


entwickelt. Dabei werden insbesondere die folgen-

-
B., Torrent Moreno, M., Schnaufer, S., Eigner, R., Catrinescu,
den Punkte weiter vertieft: C., Kunisch, J.: “NoW – Network on Wheels”: Project Objecti-
flexible und zukunftssichere Konzepte mit ver- ves, Technology and Achievements. In: Proceedings of the
teilten Besitzrechten und verteilter Kontrolle, 5th International Workshop on Intelligent Transportation
(WIT) Hamburg, Deutschland, März 2008. (2008)
um technische Lösungen von den Betrei-
3 Weblink zum Projekt PReVENT: http://cordis.europa.eu/
ber-spezifischen Anforderungen zu entkop-

-
result/report/rcn/45077_de.html
peln; 4 Weblink zum Projekt CVIS: http://cordis.europa.eu/pro-
Offenheit für neue Akteure, neue Dienste jects/rcn/79316_de.html
und länderübergreifenden Betrieb durch den 5 Weblink zum Projekt SAFESPOT: http://cordis.europa.eu/

-
projects/rcn/80569_de.html
neuen Ansatz institutioneller Rollenmodelle;
6 Weblink zum Projekt COOPERS: http://cordis.europa.eu/
hybride Kommunikation, d. h. Zugang über projects/rcn/79301_de.html
diverse Kommunikationstechnologien und

-
7 Weblink zum Projekt simTD: www.simtd.de
Betreiber-Plattformen; 8 Weblink zu Safety Pilot: http://www.safetypilot.us
Gewährleistung von Ende-zu-Ende Sicherheit 9 Weblink zum Projekt DRIVE C2X: http://cordis.europa.eu/
projects/rcn/97464_de.html
und Privatsphäre.
10 Weblink zum Projekt CONVERGE: http://www.conver-
ge-online.de/
11 Weblink zum CAR 2 CAR Communication Consortium:
Literatur www.car-to-car.org
12 Skupin, C.: Zur Steigerung der Kommunikationszuverläs-
1 Franz, W., Hartenstein, H., Mauve, M. (Hrsg.): Inter‐vehicle‐ sigkeit von IEEE 802.11p im fahrzeugspezifischen Umfeld.
communications based on ad hoc networking principles: Dissertation Leibniz Universität Hannover. Shaker Verlag,
The FleetNet project. Universitätsverlag Karlsruhe, Karls- Aachen (2014)
ruhe (2005). http://dx.doi.org/10.5445/KSP/1000003684. 13 European Commission: M/453 EN, Standardisation man-
date addressed to CEN, CENELEC and ETSI in the field of
540 Kapitel 28 • Car-2-X

information and communication technologies to support 29 ETSI: EN 302 637‐3, Specifications of Decentralized Environ-
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transport in the European Community. Dokument der www.etsi.org/deliver/etsi_en/302600_302699/30263703
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3 gies-clusters/technologies/intelligent-transport realer Verkehrsunfälle zur Bestimmung des Nutzens für
15 Weblink zu ETSI C‐ITS: http://www.etsi.org/technolo- ausgewählte simTD‐Anwendungsfälle auf Basis der GIDAS
gies-clusters/technologies/intelligent-transport/coopera- Wirkfeldanalyse. 2013, www.simtd.de
4 tive-its 32 Weblink zu GIDAS (German In‐Depth Accident Study):
16 Weblink zu CEN/TC 278 Intelligent Transport Systems: http://www.gidas.org

5 http://www.itsstandards.eu/
17 ETSI: TR 101 607, Cooperative ITS (C‐ITS), Release 1, V1.1.1.
33 simTD‐Konsortium: Deliverable D5.5 Teil B‐4, Ökonomische
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(2008)
11 21 ETSI: TS 102 940, ITS communication security architecture
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22 Bißmeyer, N., Stübing, H., Schoch, E., Götz, S., Stotz, J., Lonc,

13 B.: A generic public key infrastructure for securing Car‐to‐X


communication The 18th World Congress on Intelligent
Transport Systems, Orlando, Florida, USA. (2011)

14 23 ETSI: TS 103 097, Security header and certificate formats,


V1.1.1. 04/2013, http://www.etsi.org/deliver/etsi_ts/10300
0_103099/103097/01.01.01_60/ts_103097v010101p.pdf
15 24 Standards Association, I.E.E.E.: 2‐2013. IEEE, Standard for
Wireless Access in Vehicular Environments – Security Ser-
vices for Applications and Management Messages. http://
16 standards.ieee.org/develop/wg/1609_WG.html (1609)
25 National Institute of Standards and Technology: The Digi-
tal Signature Standard (DSS) FIPS Publication, Bd. 186‐4.
17 (2013)
26 IEEE Standards Association: 1363a‐2004 – IEEE Standard
Specifications for Public‐Key Cryptography, http://grouper.
18 ieee.org/groups/1363/
27 Weblink zum Projekt PRESERVE: http://www.preserve-pro-
ject.eu
19 28 ETSI: EN 302 637‐2, Specification of Cooperative Aware-
ness Basic Service, V1.3.0. 08/2013, http://www.etsi.org/
deliver/etsi_en/302600_302699/30263702/01.03.00_20/
20 en_30263702v010300a.pdf
541 29

Backendsysteme zur
Erweiterung der
Wahrnehmungsreichweite
von Fahrerassistenzsystemen
Felix Klanner, Christian Ruhhammer

29.1 Aktuelle backendbasierte Fahrerassistenzsysteme  –  542


29.2 Was sind Backendsysteme?  –  542
29.3 Eigenschaften der Datenübertragung  –  547
29.4 Nächste Generation backendbasierter
Assistenzsysteme – 549
29.5 Extraktion von fahrerassistenzsystem­relevanten
Informationen aus Flottendaten im Backend  –  550
29.6 Zusammenfassung – 551
Literatur – 552

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_29, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
542 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

29.1 Aktuelle backendbasierte den Daten, die von den Clients generiert werden,
1 Fahrerassistenzsysteme stehen im Back­end auch weitere Informationen zur
Verfügung. Beispiele für die Analyse der Verkehrs-
2 Bereits heute sind am Markt eine Reihe von Assis- situation sind die Anbindung an Verkehrsleitzen-
tenzsystemen verfügbar, die auf eine Datenübertra- tralen sowie an weitere mobile Clients (z. B. Han-
gung zum Backend via Mobilfunk zurückgreifen. dys, mobile Navigationssysteme). . Abbildung 29.1
3 Beispiele hierfür sind die Darstellung des aktuellen zeigt den prinzipiellen Aufbau des Systems: Zent-
Verkehrsflusses im Fahrzeug (z. B. BMW Real Time rale Bestandteile des Systems sind eine Sende- und
4 Traffic Information, Audi Verkehrsinformationen Empfangseinheit im Fahrzeug, ein zentrales Server-
online), im Internetbrowser (z. B. Google Maps system sowie die digitale Karte (siehe ▶ Kap. 27) im
5 Traffic) oder über Smartphone Apps (z. B. INRIX Fahrzeug, auf welche die Informationen aus dem
Traffic). Backend referenziert werden.
Außerdem gibt es die Möglichkeit, dass lokale
6 Gefahren wie Unfälle oder Glätte an ein zentrales
Rechensystem gemeldet werden: Hierbei meldet 29.2.1 Digitale Karten
7 das Fahrzeug erkannte Gefahren automatisch und
zudem hat der Fahrer selbst die Möglichkeit, wahr- Digitale Karten sind die Grundlage für Navigations-
genommene Gefahren bestimmter Kategorien (z. B. systeme (siehe ▶ Kap. 55). Zusätzlich liefern digitale
8 Unfall, Tiere auf der Fahrbahn oder Geisterfahrer) Karten Informationen für Fahrerassistenzsysteme,
durch manuelle Eingabe mitzuteilen. indem ein elektronischer Horizont basierend auf
29 Für die Anfrage eines Fahrzeugs von gemelde- der aktuellen Position berechnet wird [1]. Damit
ten Gefahren wird zusätzlich die aktuelle Position erhalten Assistenzfunktionen die Möglichkeit einer
10 an das Backend übertragen. Entsprechend dem Vorausschau. Eine digitale Karte ist daher zentraler
Standort werden die verfügbaren Informationen Bestandteil von backendbasierten Assistenzfunkti-
nach deren Relevanz für das entsprechende Fahr- onen für eine erweiterte Wahrnehmungsreichweite.
11 zeug gefiltert und übermittelt. Ein derartiger Dienst Informationen aus dem Backend werden im Fahr-
ist im Allgemeinen unter dem Begriff „Standortbe- zeug an die Karte angehängt und über den elektro-
12 zogener Dienst“ (engl. „Location-based Service“) nischen Horizont an die Assistenzsysteme verteilt.
bekannt. Die Anwendung internetbasierter Dienste Die Entwicklung im Bereich des autonomen
im Fahrzeug fokussiert sich also heutzutage auf die Fahrens (siehe ▶ Kap. 61) geht hin zu hochgenauen
13 Bereiche Navigation und lokale Gefahrenstellen. digitalen Karten. In diesem Zuge ist eine Detaillie-
rung und Erweiterung bestehender Karten erforder-
14 lich. Über eine Backendanbindung ist es möglich,
29.2 Was sind Backendsysteme? Abweichungen zwischen digitalen Karten und der
15 Realität zu erkennen und zu melden. Hiermit wird
Unter Backendsystemen werden im Folgenden die Grundlage für eine verbesserte Aktualität der
Client-Server-Systeme verstanden. Dabei entspre- Karten gelegt, was im Hinblick auf die Qualitäts-
16 chen die Fahrzeuge den Clients und das sogenannte sicherung für eine Reihe von Fahrerassistenzsyste-
Backend entspricht dem Serversystem, an das die men bis hin zum autonomen Fahren von Vorteil ist.
17 Clients über das Internet angebunden sind. Dabei
dienen die Clients einerseits als Datenlieferanten
für Funktionalitäten im Backend, auf Backendseite 29.2.2 Servertechnologien
18 werden die Daten aggregiert und Informationen
daraus extrahiert. Ein Beispiel dafür ist die Echt- In einem zentralen Serversystem, dem Backend, wer-
19 zeitschätzung der Verkehrslage. Diese Informati- den die Informationen der Fahrzeuge in einer geore-
onen werden den Clients wieder zur Verfügung ferenzierten Datenbank gesammelt, um eine effiziente
20 gestellt, weshalb die Fahrzeuge andererseits als Verarbeitung zu ermöglichen. Für das Beispiel von ge-
Empfänger von Informationen fungieren. Neben meldeten Verkehrsereignissen enthalten die Informa-
29.2  •  Was sind Backendsysteme?
543 29
.. Abb. 29.1 Client-Ser-
ver-System für Echtzeit
Verkehrsinformationen.
(Quelle: BMW Group)

tionen einen Bezug zur absoluten Position sowie zur wissen Zeitraum zu erhalten. Zur Beschleunigung
globalen Zeit, an der die Beobachtung erfasst wurde. derartiger Abfragen ist es mit PostGIS möglich, ei-
Derartige Daten mit einer Positionsreferenz werden nen Index auf geometrischen Objekten zu erstellen.
als „georeferenzierte Daten“ bezeichnet. Ein rechner-
gestütztes System, das derartige raumbezogene Da- Zur Veranschaulichung der Verwendung von Stan-
ten erfasst, verwaltet, analysiert und präsentiert, wird dard-Backendtechnologien wird im Folgenden ein Mi-
„Geoinformationssystem (GIS)“ genannt [2]. nimalbeispiel für ein System zur Warnung vor lokalen
Gefahren angeführt. Die Architektur der Anwendung
29.2.2.1 Räumlich relationale ist in . Abb. 29.1 dargestellt. Als Vorbedingung für
Datenbanken das Minimalbeispiel wird ein Rechner mit installier-
Ein spezieller Bestandteil eines GIS ist eine Daten- tem und gestartetem PostgreSQL (▶ http://www.post-
bank, in der georeferenzierte Daten abgespeichert gresql.org/) sowie mit installiertem PostGIS (▶ www.
werden, eine sogenannte Geo-Datenbank. Für sol- postgis.net) vorausgesetzt. Das Datenbank-Manage-
che Datenbanken gibt es speziell angepasste Ausfüh- ment-Werkzeug kann dabei sowohl mit grafischer
rungen relationaler Datenbanken, die räumlichen Oberfläche (pgadmin III) als auch über die Kommando-
relationalen Datenbanken. Eine der bekanntesten zeile (pgsql.exe) gestartet werden.
Ausführungen ist PostGIS [3], welches die Open
Source Datenbank PostgreSQL um räumliche Ob- Auf dem Server-Rechner, nachfolgend Backend ge-
jekte und Abfragen erweitert. nannt, wird zunächst eine neue Datenbank erstellt und
Eine PostGIS-Datenbank unterstützt das Ab- eine Verbindung zu dieser hergestellt. Anschließend
speichern unterschiedlicher Geometrien wie einen wird die Datenbank unter Verwendung von PostGIS zu
Punkt, einen Linienzug oder eine Fläche sowie wei- einer geospatialen Datenbank erweitert.
tere daraus abgeleitete Typen. Bei einer Meldung
von Gefahren oder von Verkehrsereignissen wird -- Erstellung einer neuen Datenbank
zur Information jeweils eine Positionskoordinate CREATE DATABASE local_hazards_db;
bereitgestellt. Da die Beobachtung an genau einem -- Verbindung zur Datenbank herstellen
Ort erfolgt, eignet sich eine Repräsentation der In- \c local_hazards_db;
-- Erweiterung zur geospatialen Datenbank
formation als Punkt.
CREATE EXTENSION postgis;
Neben dem Speichern von Objekten besteht die CREATE EXTENSION postgis_topology;
Möglichkeit, zusätzlich geometrische Objekte für
eine Abfrage zu definieren. Um beispielsweise eine
Anfrage eines Fahrzeugs für relevante Meldungen Für die Anwendung „lokale Gefahrenwarnung“ wird eine
in der Nähe zu verarbeiten, wird eine Box als Geo- Tabelle innerhalb der geospatialen Datenbank erstellt. In
metrie definiert. Die aktuelle Position des Fahrzeugs dieser Tabelle werden neue Events abgespeichert, die
befindet sich dabei in der Mitte dieser Box. Über von Fahrzeugen identifiziert und an das Backend gesen-
eine Datenbankabfrage ist es möglich, sämtliche det wurden. Neben den übertragenen Daten wird die
Ereignisse innerhalb dieser Box und in einem ge- Position der Meldung in eine PostGIS-Punkt-Geometrie
544 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

umgewandelt und in die Datenbank eingetragen. Falls sich auf die ID des WGS84-Referenzsystems in der Ta-
1 die Rohdaten der Position im WGS84-Format übertragen belle SPATIAL_REF_SYS. Diese Tabelle wird von PostGIS
werden, wird dieses Format anhand der sogenannten automatisch bei der Erweiterung einer Datenbank zur
2 SRID-Nummer 4326 angegeben. Diese Nummer bezieht geospatialen Datenbank (siehe obigen Befehl) erstellt.

3 -- Tabelle erstellen
CREATE TABLE local_hazards_tab
(
4 id SERIAL PRIMARY KEY, -- Fortlaufende ID aller Einträge
geom GEOMETRY(Point, 4326), -- PostGIS Geometrie

5 latitude double precision,


longitude double precision,
--
--
WGS84 Latitude
WGS84 Longitude
heading double precision, -- Ausrichtung des Fahrzeugs gegenüber Nord
6 speed double precision,
hazard VARCHAR(128),
--
--
Geschwindigkeit des Fahrzeugs
Art der erkannten Gefahr
hazard_time bigint -- Zeitpunkt der Gefahrenmeldung
7 );

8 Die Spalte „geom“ enthält die Koordinaten (Latitude, INSERT INTO local_hazards_tab
Longitude), enkodiert als PostGIS-Geometrie. Die Ko- (geom, latitude, longitude, heading,
29 ordinaten werden dabei in eine binäre Zahl transfor- speed, hazard, hazard_time)
VALUES (
miert. Zur Beschleunigung von Lesevorgängen auf der
10
ST_SetSRID(ST_Make­ -- geom
Datenbank wird ein geospatialer Index auf der Spalte
Point(11.695927,
„geom“ erstellt. 48.333459), 4326),

11 48.333459, -- latitude
11.695927, -- longitude
-- Spatialen Index hinzufügen
12 CREATE INDEX local_hazards_idx ON
local_hazards_tab USING GIST(geom);
0.2143,
41.34,
-- heading
-- speed
‚Glaette‘, -- hazard
13 1392675237 ); -- hazard_time

Nach diesen Schritten ist das Backend bereit, Events


14 von Fahrzeugen entgegenzunehmen und in der
Datenbank abzulegen. Für dieses konkrete Beispiel Entsprechend der gemeldeten Events in . Abb. 29.2
15 wurde eine fiktive Situation mit einem Datensatz an wurde eine Datenbank gemäß . Tab. 29.1 aufgebaut.
Events generiert. Als Events wurden Gefahrenstellen,
Glätte und Wildwechsel gemeldet. Der Datensatz ist in Ein Fahrzeug, das mit einem Assistenzsystem für die
16 . Abb. 29.2 dargestellt. Warnung vor lokalen Gefahren ausgestattet ist, führt
eine Abfrage nach Events in dessen Umgebung aus. In
17 Wird ein neues Event von einem Fahrzeug erfasst, der vorgestellten Beispielsituation ist die Position ei-
sendet dieses die Information über eine Internetanbin- nes anfragenden Fahrzeugs in . Abb. 29.2 mit einem

18 dung an das Backend. Ein entsprechendes Programm,


das die Daten entgegennimmt, schreibt diese Daten in
blauen Kreuz gekennzeichnet. Der Anfragevorgang
beginnt mit dem Übertragen der aktuellen Position
die Datenbank. Eine erkannte Glättegefahr wird ent- des Fahrzeugs (11.652527° Longitude, 48.329299° La-
19 sprechend dem folgenden Befehl abgelegt. titude) an das Backend. Im Backend wird in der vorlie-
genden Datenbank nach Meldungen im Umkreis des
20 Fahrzeugs gesucht, indem ein Abfragefenster (± 0.05°
Longitude, ± 0.03° Latitude) um die Fahrzeugposition
29.2  •  Was sind Backendsysteme?
545 29
.. Abb. 29.2  Fiktives Bei-
spiel für gemeldete lokale
Gefahren von unterschied-
lichen Fahrzeugen. (Quelle:
BMW Group)

.. Tab. 29.1  Datenbankinhalt – Meldung lokaler Gefahren

id geom latitude longitude heading speed hazard hazard_time


in ° in ° in rad in m/s in s

1 0101000020E610000089… 48.333459 11.695927 0.2143 41.34 Glätte 1392675237

2 0101000020E6100000E8… 48.334643 11.701622 0.7624 39.56 Glätte 1392679267

3 0101000020E6100000661… 48.340933 11.712878 0.9538 26.89 Glätte 1392686384

4 0101000020E6100000EF… 48.385613 11.772187 0.1455 38.24 Wild- 1392729461


wechsel

5 0101000020E61000004 A… 48.384673 11.769054 3.4907 32.72 Wild- 1392762418


wechsel

6 0101000020E610000023… 48.37347 11.595891 1.5345 23.46 Gefah- 1392660319


renstelle

7 0101000020E6100000CD… 48.374782 11.596191 1.5323 34.58 Gefah- 1392664163


renstelle

8 0101000020E610000008… 48.357789 11.597178 1.7256 13.56 Gefah- 1392669230


renstelle
546 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

aufgespannt wird. Für dieses Beispiel wird das Abfra- meisten verbreiteten Technologien in diesem Be-
1 gefenster zur Vereinfachung in ellipsoiden Koordina- reich wurden von dem Unternehmen Google Inc.
ten definiert. Üblicherweise wird das Fenster im me- entwickelt und veröffentlicht. Zur Persistierung –
2 trischen Einheitensystem definiert und anschließend also dem dauerhaften Speichern von Daten – er-
in die ellipsoiden Koordinaten des WGS84 Standards stellte Google das „Google File System (GFS)“ [4]
sowie das darauf aufbauende Datenbankkonzept
3 transformiert.
„Big Table“ [5].
Ein konkreter Entwurf für ein skalierbares Pro-
4
-- Fahrzeugposition: 11.652527° Longi-
tude, 48.329299° Latitude grammiermodell ist „MapReduce“ [6], das ebenfalls
-- Abfragefenster: ±0.05° Longitude, von Google Inc. eingeführt wurde. Die Grundidee
5 ±0.03° Latitude
SELECT * FROM local_hazards_tab
hinter diesem Programmiermodell ist die Auftei-
lung der Datenauswertung in eine sogenannte Map-
WHERE ST_Contains(ST_SetSRID(
und in eine Reduce-Phase. Für die Map-Phase wer-
6 ST_MakeBox2D(
ST_Point(11.602527, 48.299299), den die gesamten Eingangsdaten in mehrere Teile
ST_Point(11.702527, 48.359299)), unterteilt; für jeden Teil wird ein Map-Prozess
7 4326),geom); gestartet. Jeder Map-Prozess verarbeitet den zuge-
hörigen Datenanteil unabhängig von den anderen
Map-Prozessen, wodurch sämtliche Prozesse pa-
8 Entsprechend der Abfrage im Backend gibt es zwei rallel abgearbeitet werden können. Die einzelnen
gemeldete Events im Umkreis um das Fahrzeug, ent- Prozesse erzeugen Zwischenergebnisse, die in der
29 sprechend . Tab. 29.2. Diese werden als Ergebnis der Reduce-Phase zu einem Endergebnis zusammenge-
Anfrage an das Fahrzeug gesendet. Ein Assistenzsys- fasst werden. Dabei ist es wiederum möglich, für je-
10 tem im Fahrzeug empfängt die Daten und wertet die des Endergebnis einen unabhängigen Reduce-Pro-
Meldungen aus. Zur Einstufung der Relevanz der Er- zess zu initiieren.
kennungen sind diese entsprechend dem Heading zu Die von Google veröffentlichten Konzepte wur-
11 filtern. Außerdem wird entsprechend der Anzahl an den von der „Apache Software Foundation“ in frei
Clients sowie der Zeit der Meldung bestimmt, ob der verfügbare OpenSource-Software umgesetzt und
12 Fahrer gewarnt wird. Falls tatsächlich Potenzial einer erweitert. Das gesamte Framework wird „Hadoop“
Gefahr für den Fahrer vorhanden ist, wird dieser ent- [7] genannt. Die Hauptbestandteile sind das Datei-
system „Hadoop Distributed File System (HDFS)“,
13 sprechend gewarnt.
die Datenbankkonzepte „Pig“, „HBase“ und „Hive“
sowie eine MapReduce-Implementierung. Hadoop
14 29.2.2.2 Skalierbare Architekturen findet aufgrund der freien Verfügbarkeit eine weite
für räumliche Verbreitung in der Industrie und wird beispiels-
Datenverarbeitung
15 weise auch bei Facebook eingesetzt.
Zukünftig wird die Menge an übertragenen und Diese Basistechnologien werden für eine Viel-
damit zu speichernden beziehungsweise zu verar- zahl unterschiedlicher Anwendungen eingesetzt:
16 beitenden Daten weiter zunehmen. Besonders im Auch unter geospatialen Anwendungen ist das
automobilen Umfeld sind wegen den neuartigen MapReduce-Konzept sowie „Apache Hadoop“ im-
17 Möglichkeiten der Fahrerassistenz durch die An- mer häufiger zu finden. Dazu werden spezielle Er-
bindung der Fahrzeuge an das Internet große Stei- weiterungen entwickelt, wie beispielsweise „MRGIS“
gerungsraten zu erwarten. [8], „Hadoop-GIS“ [9] oder „SpatialHadoop“ [10].
18 Die Herausforderung schnell wachsender Da- Diese Entwicklungen verknüpfen die skalierbaren
tenmengen musste bereits bei der Entwicklung des Architekturen aus dem Internet mit den spezialisier-
19 Internets bewältigt werden, wobei performante ten Lösungen für räumliche Daten, den Geoinfor-
und redundante Dateisysteme, ausfallsichere Da- mationssystemen. Damit wird die Basis für hoch­
20 tenbanksysteme und effiziente Konzepte zur Da- skalierbare geospatiale Anwendungen entwickelt,
tenverarbeitung nötig sind. Die heutzutage am wie sie in der Automobilindustrie benötigt werden.
29.3  •  Eigenschaften der Datenübertragung
547 29

.. Tab. 29.2  Ergebnis der Eventabfrage eines Fahrzeugs

id geom latitude longitude heading speed hazard hazard_time


[–] [–] [°] [°] [rad] [m/s] [–] [s]

1 0101000020E610000089… 48.333459 11.695927 0.2143 41.34 Glätte 1392675237

2 0101000020E6100000E8… 48.334643 11.701622 0.7624 39.56 Glätte 1392679267

29.2.3 Sendeeinheit im Fahrzeug IP-Verbindung an den Backend-Server übermittelt


(. Abb. 29.3). Nach der Verarbeitung der Daten im
Um eine Backendanbindung eines Fahrzeugs zu Server-System erfolgt eine Datenübertragung an die
ermöglichen, muss eine entsprechend ausgestat- Fahrzeuge. Im Backend-Server besteht dabei die
tete Telematik-Komponente (siehe ▶ Kap. 55) vor- Möglichkeit, noch zusätzliche Informationen aus
handen sein. Diese Komponente kann als eigenes dem Internet, beispielsweise Bereiche von Baustel-
Steuergerät ausgeführt sein oder in die Headunit len, in die Datenverarbeitung mit einzubinden. Am
integriert werden. Eine dedizierte Ausführung wird Ende der Datenübertragung steht im Fahrzeug das
„Telematics Control Unit (TCU)“ genannt (BMW, aufbereitete Wissen, z. B. Stau in einem bestimmten
Daimler). Anforderungen an die TCU sind eine Streckenabschnitt, zur Verfügung.
Anbindung an das Internet, Zugriff auf die Sensor- Um die Übertragungskosten möglichst gering
daten des Fahrzeugs sowie zur aktuellen absoluten zu halten, wird insbesondere die Menge der Daten
Position. und die Häufigkeit der Datenübertragung begrenzt.
Für die Realisierung eines Internetzugriffs gibt So werden üblicherweise keine Rohdaten von Sen-

-
es zwei unterschiedliche Möglichkeiten:
festeingebaute SIM-Karte mit Aufpreis für den
soren übertragen, sondern nur abstrahiertes Wis-
sen. Durch ein dezentrales Wissensmanagement

- Datentarif (z. B. BMW, Daimler),


Slot für eine eigene SIM-Karte vom Fahrzeug-
nutzer (z. B. Audi, Daimler).
zwischen den Fahrzeugen und dem Backend-Server
wird es zusätzlich ermöglicht, dass nur dann Daten
übertragen werden, wenn sie neue Informationen
beinhalten. Typischerweise dient hierzu ein Ab-
Zur Anbindung an sämtliche Sensordaten wird die gleich zwischen einem erwartetem Zustand, z. B.
Einheit mit den Fahrzeugbussystemen verbunden. Fahrzeug im Stau, und dem tatsächlichen Zustand,
Die aktuelle Position wird mittels GPS vom Naviga- z. B. aktuelle Geschwindigkeit des Fahrzeugs nahe
tionssystem geliefert. Mit einer derartigen Kompo- der Wunschgeschwindigkeit. Solche Abweichungen
nente können entsprechende Informationen, wie im werden an den Backend-Server gemeldet, um bei-
Fahrzeug lokal erkannte Gefahren, über das Internet spielsweise die Stauinformation aufzulösen, wobei
bereitgestellt werden. die Fahrzeuge dabei als mobile Sensoren fungieren.
Um die Aktualität des im Backend-Server gene-
rierten Wissens möglichst aktuell zu halten, ist eine
29.3 Eigenschaften schnelle Datenübertragung erforderlich. Die theore-
der Datenübertragung tisch erzielbaren Übertragungsraten verschiedener
Mobilfunkstandards sind in . Abb. 29.4 dargestellt.
Die Datenkommunikation zwischen den Clients Die höchsten Übertragungsraten besitzen LTE
und dem Server-System erfolgt über eine mehrstu- (Long Term Evolution, 3,9G) mit bis zu 100 Mbit/s
fige Signalkette. Am Anfang steht die Datenerfas- und LTE Advanced (4G) mit bis zu 1000 Mbit/s. In
sung im Fahrzeug mithilfe verschiedener Sensoren. [11] werden die Latenz-Eigenschaften der gesam-
Diese werden im Fahrzeug zu Wissen aufbereitet, ten Signalkette analysiert. Als Messstrecke wird
z. B. dass die aktuelle Geschwindigkeit deutlich einerseits eine prototypische Datenverbindung zwi-
unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit schen Fahrzeug und Backend und andererseits eine
liegt, und dann über das Mobilfunknetz sowie eine LTE-Simulationsumgebung genutzt. In der Simula-
548 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

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17 .. Abb. 29.3  Signalkette zwischen zwei Fahrzeugen über einen Backend-Server. (Quelle: BMW Group)

tion wurden in [12] sechs verschiedene Szenarien übertragung benötigt wird. Als optimistisch wird
18 untersucht: Szenario Stadt, Szenario Überland, Sze- die theoretisch mögliche und als realistisch die im
nario Autobahn – jeweils bei mittlerer und hoher Mittel erwartete Übertragungszeit bezeichnet. Ab-
19 Last. Die Ergebnisse sowohl der realen Messungen hängig vom aktuellen Verkehrsaufkommen und dem
als auch der LTE-Simulation sind in . Abb. 29.5 Zustand des Kommunikationssystems treten jedoch
20 zusammengefasst. Die Zahlenwerte zeigen die auch höhere Übertragungszeiten auf, welche in der
Größenordnung der Zeit auf, welche für die Daten- Abbildung als pessimistisch bezeichnet werden. Bei
29.4  •  Nächste Generation backendbasierter Assistenzsysteme
549 29
.. Abb. 29.4 Übersicht
zu verfügbaren Mobil-
funkstandards und die
jeweilige theoretische
Übertragungsrate. (Quelle:
BMW Group)

.. Abb. 29.5  Latenzzeitabschätzung für die Signalkette Fahrzeug – Backend-Server – Fahrzeug. (Quelle: BMW Group)

der Nutzung von Daten, die via Mobilfunk übertra- ermöglichen. Situationen im hochautomatisierten
gen werden, ist insbesondere die auftretende Varia- Fahrbetrieb, wie „harte“ Stauenden, werden auch
bilität der Latenzzeit von mehreren hundert Millise- ohne Informationen aus einem Backendsystem si-
kunden beim Funktionsdesign zu berücksichtigen. cher beherrscht werden. Allerdings kann die ein-
Die Analyse zeigt, dass beispielsweise bei einem geschränkte Reichweite von lokalen Sensoren dazu
Datenaustausch mittels LTE in Szenario Überland führen, dass starke Bremsungen erforderlich sind.
und mittlerer Last eine Ende-zu-Ende-Latenz von Diese Situation wird in [13] näher beschrieben und
< 369 ms erzielt wird. ist mit zugehörigen Berechnungen von Bremsma-
növern in . Abb. 29.6 dargestellt.
Außerdem können Systeme, wie eine Verkehrs-
29.4 Nächste Generation zeichenerkennung, von aktuellen, kommunal ge-
backendbasierter lernten Informationen profitieren und damit eine
Assistenzsysteme niedrigere Fehlerkennungsrate erreichen. Für eine
Verkehrszeichenerkennung wird die lokale Erken-
Eine Anbindung an eine zentrale Recheneinheit er- nung der Fahrzeugkamera mit der Information aus
möglicht eine Vielzahl an Möglichkeiten, Fahreras- der digitalen Karte fusioniert. Obwohl dadurch die
sistenzsysteme zu unterstützen. So werden hochau- korrekte Anzeige von Geschwindigkeitsbegrenzun-
tomatisierte Fahrfunktionen anhand detaillierter gen erheblich verbessert wird, kann es in bestimm-
Verkehrsinformationen, wie beispielsweise die Lage ten Situationen immer noch zu falschen Anzeigen
von „harten“ Stauenden, unterstützt, um eine erwei- kommen. Die kartierten Verkehrszeicheninformati-
terte Vorausschau und damit höheren Komfort zu onen sind teilweise fehlerbehaftet beziehungsweise
550 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

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.. Abb. 29.6  Hartes Stauende beim hochautomatisierten Fahren. (Quelle: BMW Group)

8 veraltet. Für den Fall, dass die Kamera durch Um- horizontalen Markierungen wie Haltelinien eine
welteinflüsse keine Verkehrszeicheninformation er- Herausforderung, da von derartigen Markierungen
29 kennen kann und zugleich eine falsche Information nur sehr wenige Merkmale erkennbar sind. Das
in der digitalen Karte hinterlegt ist, kommt es zu Wissen über die Haltelinienposition aus einer digi-
10 einer falschen Information an den Fahrer. Durch talen Karte bietet die Möglichkeit, die lokale Erken-
ein gemeinsames Lernen von Verkehrszeichenin- nung aus der Kamera anhand der Karteninforma-
formationen über ein Backendsystem ist es möglich, tion zu plausibilisieren und zu fusionieren. Damit
11 Karteninformationen laufend zu aktualisieren, um können Falscherkennungen und somit falsche Re-
falsche Anzeigen zu vermeiden. aktionen von hochautomatisierten Fahrfunktionen
12 Neben dynamischen Informationen, wie Stau- vermieden werden.
enden, und der Verbesserung bereits vorhandener
Informationen, wie die Anzeige von Geschwindig-
13 keitsbeschränkungen, können über eine Anbindung 29.5 Extraktion
an eine zentrale Recheneinheit zusätzlich auch Ei- von fahrerassistenzsystem­
14 genschaften und Elemente der Fahrzeugumgebung relevanten Informationen
gelernt werden, die bisher nicht verfügbar sind. Ein aus Flottendaten im Backend
15 Beispiel dafür sind die Positionen von Haltelinien
an Kreuzungen, an denen der Verkehr von einer Durch die Anbindung vieler Fahrzeuge an ein zen-
Lichtsignalanlage geregelt wird. Die Position von trales Rechensystem entstehen große Mengen an
16 Haltelinien ist eine wichtige Eingangsgröße für die georeferenzierten Daten. Neben einer passenden
Motor-Start-Stopp-Automatik (MSA). Falls ein Fahr- Architektur zum Erfassen und Verwalten dieser
17 zeug nach einer Haltelinie im inneren Bereich einer Daten, wie sie in ▶ Abschn. 29.2.2 vorgestellt wur-
Kreuzung zum Stehen kommt, ist es weniger wahr- den, sind Algorithmen für die Analyse dieser Daten
scheinlich, dass eine lange Standzeit bevorsteht. Eine ein weiterer wichtiger Bestandteil von einem Geoin-
18 intelligente Motor-Start-Stopp-Strategie verhindert formationssystem. Dabei wird die Algorithmik zur
daher in diesem Fall ein Abschalten des Motors. Datenanalyse zwischen den Clients und dem Ser-
19 Statische Kartenattribute sind außerdem eine ver aufgeteilt. Je nach Anwendungsgebiet werden
wichtige Eingangsgröße für innerstädtische hoch- unterschiedlich große Anteile der Algorithmen auf
20 automatisierte Fahrfunktionen. Für rein kamera­ dem Client und auf dem Server verteilt. Am Beispiel
basierte Systeme ist die sichere Erkennung von der lokalen Gefahrenwarnung befinden sich in der
29.6 • Zusammenfassung
551 29

.. Abb. 29.7  Generische Bestimmung von Kreuzungsparametern basierend auf Flottendaten. (Quelle: BMW Group)

dargestellten Ausprägung die Hauptanteile des Al- den realen Überfahrten ergibt sich die Parameter-
gorithmus auf den Clients. Ein Stauevent wird über kombination mit der besten Übereinstimmung der
einen fahrzeuglokalen Algorithmus erkannt und an Beobachtungen als Schätzung. Neben einer exakten
das Backend gemeldet; im Backend findet lediglich Schätzung ist für Fahrerassistenzsysteme ebenfalls
eine positionsadaptive Selektion der Daten für ein- eine Konfidenzschätzung von zentraler Bedeutung.
zelne Fahrzeuge statt. Nach der Übertragung von Für die Ermittlung von Kreuzungsparametern
gemeldeten Ereignissen in der Nähe des Fahrzeugs wurde in [15] ein Verfahren zur Konfidenzschät-
geschieht die Auswertung der Relevanz dieser Mel- zung vorgestellt. Derartige Algorithmen benötigen
dungen wieder im Fahrzeug. eine hohe Rechenkapazität und werden daher in
Im Gegensatz dazu befindet sich bei backend- einem Backend ausgeführt.
basierten Fahrerassistenzsystemen, die auf einer
Ermittlung statischer Umfeldobjekte beruhen, ein
größerer Anteil an Algorithmik im Backend. Ein 29.6 Zusammenfassung
Verfahren dieser Art wurde beispielsweise in [14]
vorgestellt, um Kreuzungsparameter aus Flotten- Bereits heute bauen eine Reihe von Diensten im au-
daten zu extrahieren. . Abbildung 29.7 zeigt die tomobilen Umfeld auf Backendsystemen auf. Der
Struktur des gesamten Verfahrens. Der Algorithmus Schwerpunkt liegt dabei auf einer Informationsbe-
basiert auf der Beobachtung von bestimmten Grö- reitstellung von Daten, die im Fahrzeug selbst nicht
ßen aus den Flottendaten, die in Zusammenhang verfügbar sind. Systeme wie Google Traffic nutzen
mit den gesuchten Parametern stehen. Parallel zur bereits Flottendaten, um Rückschlüsse auf die ak-
Auswertung der Flottendaten wird eine mikrosko- tuelle Verkehrslage zu ziehen. Das Kapitel gibt ei-
pische Verkehrssimulation der Kreuzung mit den nen Überblick über verfügbare Technologien zur
gesuchten Parametern durchgeführt, wobei die Datenübertragung und Informationsverarbeitung
unbekannten Parameter innerhalb eines diskre- im Backend. Durch simulations- und messtech-
ten Wertebereichs variiert werden, und für jede nikgestützte Untersuchungen wird exemplarisch
Parameterkombination wird der Verkehr an der aufgezeigt, mit welchen Übertragungszeiten Fah-
Kreuzung simuliert. Aus den einzelnen Simulatio- rerassistenzsysteme umgehen müssen, die auf via
nen werden entsprechend zu den Flottendaten die Mobilfunk übertragene Daten zurückgreifen. Die
gleichen Werte beobachtet. Durch einen Vergleich erwartete Übertragungszeit liegt im Mittel bei rund
der Beobachtungen aus den Simulationen und aus 400 Millisekunden, erhöht sich jedoch abhängig von
552 Kapitel 29  •  Backendsysteme zur Erweiterung der Wahrnehmungsreichweite von Fahrerassistenzsystemen

Verkehrslage und Zustand des Mobilfunksystems nehmende Vernetzung. Elektronik automotive, 6/7 2013,
1 auch auf mehr als eine Sekunde. Die dabei über-
WEKA Fachmedien GmbH, S. 26 ff. (2013)
14 Ruhhammer, C., Atanasov, A., Klanner, F., Stiller, C.: Crowd-
tragenen Daten stehen im Backend für eine wei- sourcing als Enabler für verbesserte Assistenzsysteme: Ein
2 tere Auswertung zur Verfügung. Am Beispiel der generischer Ansatz zum Erlernen von Kreuzungsparame-
Bestimmung von Kreuzungsparametern für Fah- tern 9. Workshop Fahrerassistenzsysteme: FAS2014. Uni-
rerassistenzsysteme wird exemplarisch aufgezeigt, DAS e.V., Walting (2014)
3 wie aus Flottendaten Informationen extrahiert wer-
15 Ruhhammer, C., Hirsenkorn, N., Klanner, F., Stiller, C.: Crowd-
sourced intersection parameters: A generic approach for
den. Diese Informationen ermöglichen es, bereits extraction and confidence estimation IEEE Intelligent Ve-
4 prototypisch entwickelte Fahrerassistenzsysteme hicles Symposium. (2014)
zur Serienreife zu führen.
5
Literatur
6
1 Blervaque, V., Mezger, K., Beuk, L., Loewenau, J.: ADAS Ho-

7 rizon – How Digital Maps can contribute to Road Safety.


In: Valldorf, J., Gessner, W. (Hrsg.) Advanced Microsystems
for Automotive Applications, S. 427–436. Springer‐Verlag,

8 2
Berlin (2006)
Bill, R.: Grundlagen der Geo‐Informationssysteme. Wich-
mann, Heidelberg (2010)
29 3 Obe, R., Hsu, L.: PostGIS in Action. Manning Publications,
Greenwich, Connecticut, USA (2011)
4 Ghemawat, S., Gobioff, H., Leung, S.: The Google file system.
10 5
ACM Press, New York (2003)
Chang, F., Dean, J., Ghemawat, S., Hsieh, W.C., Wallach, D.A.,
Burrows, M., Chandra, T., Fikes, A., Gruber, R.E.: Bigtable: A
11 distributed storage system for structured data. USENIX As-
sociation, Berkeley, CA, USA (2006)
6 Dean, J., Ghemewat, S.: MapReduce: simplified data pro-
12 cessing on large clusters. USENIX Association, Berkeley, CA,
USA (2004)
7 White, T.: Hadoop: The Definitive Guide. O'Reilly Media,
13 Sebastopol, CA, USA (2009)
8 Chen, Q., Wang, L., Shang, Z.: MRGIS: A MapReduce‐Enab-
led High Performance Workflow System for GIS 2008 IEEE
14 Fourth International Conference on eScience, Indianapolis,
Indiana, USA. IEEE, New York, NY, USA (2008)

15 9 Aji, A., Sun, X., Vo, H., Liu, Q., Lee, R., Zhang, X., Wang, F.:
Demonstration of Hadoop‐GIS. ACM Press, New York (2013)
10 Eldawy, A., Mokbel, M.F.: A demonstration of Spatial-

16 Hadoop: an efficient mapreduce framework for spatial


data. In: Proceedings of the VLDB Endowment (2013)
11 Bartsch, A., Klanner, F., Lottermann, C., Kleinsteuber, M.:
17 Latenz‐Eigenschaften prototypischer Datenverbindungen
zwischen Fahrzeugen über Backend. In: Forschungspraxis.
TUM Lehrstuhl für Medientechnik, München (2012)
18 12 Lottermann, C., Botsov, M., Fertl, P., Müllner, R.: Performance
Evaluation of Automotive Off‐board Applications in LTE
Deployments 2012 IEEE Vehicular Networking Conference
19 (VNC 2012), Seoul, Korea., S. 211–218 (2012)
13 Klanner, F., Ruhhammer, C., Bartsch, A., Rasshofer, R., Hu-
ber, W., Rauch, S.: Mehr Komfort und Sicherheit durch zu-
20
553 VI

Aktorik für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 30 Hydraulische Pkw-Bremssysteme – 555
James Remfrey, Steffen Gruber, Norbert Ocvirk

Kapitel 31 Elektromechanische Bremssysteme – 579


Bernward Bayer, Axel Büse, Paul Linhoff, Bernd Piller, Peter
Rieth, Stefan Schmitt, Bernhard Schmittner, Jürgen Völkel

Kapitel 32 Lenkstellsysteme – 591
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring
555 30

Hydraulische Pkw-
Bremssysteme
James Remfrey, Steffen Gruber, Norbert Ocvirk

30.1 Standardarchitektur – 556
30.2 Erweiterte Architekturen – 564
30.3 Dynamik hydraulischer Bremssysteme  –  573
Literatur – 576

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_30, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
556 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

30.1 Standardarchitektur Die Bremskraftmodulationsfunktion bei hydrauli-


1 schen Bremssystemen erfolgt durch die Einbindung
Hydraulische Pkw-Bremssysteme haben die Auf- eines Modulators zwischen Bremskraftverstärkung
2 gabe, das Fahrzeug gemäß Fahrerwunsch sicher und Bremskrafterzeugung am Rad. Zur Modulation
und entsprechend gesetzlich vorgeschriebener Min- der Bremskräfte im Betrieb werden darüber hinaus
destanforderungen (z. B. ECE R13H) zu verzögern Sensoren zur Erkennung des Fahrzeugverhaltens
3 [1]. Die an den Rädern erzeugten Kräfte sollen da- eingesetzt.
bei über die Reifen so auf die Fahrbahn übertragen
4 werden, dass das Fahrzeug stets der vom Fahrer ge- Komponenten  Zu den typischen Komponenten von

5
wünschten Richtung folgt. Voraussetzung hierfür
ist eine entsprechende Verteilung der Bremskräfte
sowohl auf die Vorder- und Hinterachse als auch --
Pkw-Bremssystemen gehören:
Pedalwerk mit Bremspedal,
Bremsbetätigung (Bremskraftverstärker, Tan-

6
auf die rechte und linke Fahrzeugseite. Die Regle-
mentierung erfolgt in gesetzlichen Vorschriften,
für deren Einhaltung der Fahrzeughersteller ver- - --
demhauptzylinder, Ausgleichbehälter),
elektronisches Bremssystem (EBS) mit Sensorik:
Raddrehzahlsensoren an allen 4 Rädern,
7
--
antwortlich ist. Beschleunigungssensoren,
Bremssysteme herkömmlicher Bauart verstär- Gierratensensor,
8 ken die Fahrerfußkraft auf die notwendigerweise
erheblich höheren Bremskräfte am Rad und steu-
-- Lenkwinkelsensor,
Radbremssättel mit Bremsscheiben,

9
30
ern entsprechend der Bremsenauslegung die Brems-
kraftverteilung auf die Achsen. Veränderungen der
Bremskraftverteilung aufgrund von Beladungszu-
ständen des Fahrzeugs können mithilfe von zusätz-
--
Trommelbremsen,
Bremsleitungen und -schläuche,
Reifen.

lich eingebundenen lastabhängigen „Bremskraftver-


teilern“ erreicht werden. 30.1.1 Betätigung
11 Mit der Einführung von sensorunterstützten
und elektronisch geregelten Bremskraftmodulato- Die Bremsbetätigung besteht aus den vier Hauptbau-
12 ren (z. B. ABS) ist es möglich, Bremsmomente ra- gruppen: Bremskraftverstärker, Hauptbremszylinder,
dindividuell und ggf. fahrerunabhängig zu regeln. Ausgleichbehälter und Bremsleitungen/-schläuche.
Dies eröffnet vielfältige Möglichkeiten, das
13 Bremssystem für weit über die reine Bremsfunk- Bremskraftverstärker Bremskraftverstärker verstär-
tion hinausgehende Fahrerassistenzfunktionen zu ken die am Pedal aufgebrachte Fußkraft durch eine
14 nutzen. sogenannte „Hilfskraft“, die aus dem Differenzdruck
Zur Betätigung hydraulischer Betriebsbremssys- zwischen Atmosphäre und einem Unterdruck gene-
15 teme im Pkw wird als Mensch-Maschine-Schnitt- riert wird. Bremskraftverstärker erhöhen damit den
stelle (auch vor dem Hintergrund gesetzlicher Be- Bedienkomfort und die Fahrsicherheit. Es werden

16
stimmungen) ein Fußpedal genutzt.
Die möglichen Wirkketten innerhalb von
--
heute hauptsächlich drei Bauarten verwendet:
Vakuum-Bremskraftverstärker,

17
Pkw-Bremssystemen (. Abb. 30.1) beinhalten da-
her heute Bauelemente, die folgende Funktionen
- Hydraulik-Bremskraftverstärker,
elektromechanischer Bremskraftverstärker.

--
abdecken:
(Fuß-)Bremskraft einleiten, Vakuum-Bremskraftverstärker  Der Vakuum-Brems-

-
18 Bremskraft verstärken, kraftverstärker – auch Vakuum-Booster genannt
Bremskraft in Bremsdruck/Bremsvolumen- – hat sich bisher trotz seiner deutlich größeren Ab-

--
19 strom umwandeln, messungen gegenüber dem Hydraulik-Bremskraft-
Druck/Volumen übertragen, verstärker behaupten können. Wesentliche Gründe
20 Druck/Volumen in Bremskraft am Rad um- hierfür sind seine kostengünstige Bauart und die
wandeln. Verfügbarkeit von Unterdruck bei Saugmotoren.
30.1 • Standardarchitektur
557 30

.. Abb. 30.1  Wirkkette der Standardarchitektur für hydraulische Bremssysteme im Pkw

.. Abb. 30.2 Aktives
Bremsgerät in Tan-
dem-Bauweise

Die Vakuumkammer des Bremskraftverstärkers ist Bei größeren Fahrzeugen reicht das Arbeitsvermö-
über eine Unterdruckleitung mit dem Ansaugrohr gen dieser Einfachgeräte nicht aus. Hier kommen
des Motors oder einer separaten Vakuumpumpe Tandem-Bremskraftverstärker zur Anwendung, bei
(z. B. bei Dieselmotoren, direkteinspritzenden oder denen zwei Einfachgeräte hintereinander in einem
aufgeladenen Otto-Motoren) verbunden. Gerät angeordnet sind. Übliche Baugrößen reichen
Als Boostergröße wird üblicherweise der von 7"/8" bis 10"/10". In . Abb. 30.2 ist ein solches
Durchmesser des Verstärkers in Zoll angegeben. Gerät als elektrisch ansteuerbarer Bremskraftver-
Gängige Gerätegrößen liegen zwischen 7" und 11". stärker dargestellt.
558 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

1
2
3
4
5
6
7
8 .. Abb. 30.3  Mechanischer Bremsassistent

9 Durch die zunehmende Kraftstoffverbrauchsop- öffnet und der Bremskraftverstärker (ohne Zutun
timierung (insbesondere Reduzierung der An- des Fahrers) betätigt. Zur sicheren Erkennung des
30 saug-Drosselverluste) wird der nutzbare Unterdruck Fahrerwunsches wird ein sogenannter „Löseschal-
für die Bremskraftverstärkung immer weiter redu- ter“ in das Steuergehäuse integriert.
ziert. Eine naheliegende Gegenmaßnahme ist die b) Mechanischer Bremsassistent:
11 Verwendung eines größeren Boosters, dem leider Bei diesem Konzept wird über eine abgeänderte
oft Packaging-Probleme im Motorraum entgegen- Mechanik die Trägheit des Bremskraftverstärkers
12 stehen. ausgenutzt, die bei schneller Betätigung (Notbrem-
Im Folgenden sollen zwei spezielle Varianten sung) dazu führt, dass das Tellerventil einen defi-
des Vakuum-Bremskraftverstärkers erwähnt wer- nierten Öffnungshub überschreitet. Damit erfolgt
13 den, die neben der oben beschriebenen konventio- eine Arretierung des Tellerventils, das selbst dann
nellen Bauweise eingesetzt werden: geöffnet bleibt, wenn die Fußkraft wieder gering-
14 a) Aktiver Bremskraftverstärker: fügig reduziert wird (. Abb. 30.3). Es wirkt dann
Zur Darstellung von Assistenz-/Zusatzfunktionen unmittelbar die maximal mögliche (und nicht nur
15 werden sogenannte „aktive Bremskraftverstärker“ die der Fahrerfußkraft proportionale) Verstärkungs-
eingesetzt, die fahrerunabhängig elektrisch ansteu- kraft.
erbar sind und somit Bremsdruck erzeugen (siehe
16 . Abb. 30.2). Genutzt werden diese für Funktionen Hydraulik-Bremskraftverstärker  Hydraulische Ver-
wie z. B. ESC-Vorladung, elektronischer BA (Brem- stärker haben im Vergleich zu Vakuumbremskraft-
17 sassistent) und ACC (Adaptive Cruise Control). Ak- verstärkern Vorteile im Hinblick auf Energiedichte
tive Bremskraftverstärker weisen einen im Steuerge- sowie Einbauraum. Sie finden hauptsächlich Ver-
häuse integrierten Magnetantrieb auf. Mittels einer wendung in schweren Pkws (z. B. gepanzerten Son-
18 Schiebehülse ist es möglich, mit dem elektrisch derschutz-Fahrzeugen) und Elektrofahrzeugen.
betätigten Magnetantrieb das Tellerventil zu betäti-
19 gen. Dabei wird zunächst die Verbindung zwischen Elektromechanischer Bremskraftverstärker  Vor al-
Vakuumkammer und Arbeitskammer geschlossen; lem im Hinblick auf die bremssystemtechnischen
20 mit einer weiteren Strombeaufschlagung wird die Anforderungen von Hybrid- und Elektrofahrzeugen
Verbindung der Arbeitskammer zur Außenluft ge- erscheint eine elektromechanische Bremskraftver-
30.1 • Standardarchitektur
559 30
.. Abb. 30.4 Elektrome-
chanischer Bremskraftver-
stärker – iBooster (Foto
Bosch)

stärkung [2] mit (teil-) entkoppeltem Bremspedal nische Energie des Bremskraftverstärkerausgangs
sinnvoll: In den genannten Fahrzeugtypen steht in hydraulische Energie umzuwandeln. Neben der
kein oder nur zeitweise Unterdruck vom Verbren- Druckgenerierung bei endlicher Nachgiebigkeit
nungs-/Saugmotor zur Verfügung, der einen Vaku- des Bremssattels inkl. der Bremsbeläge und die
um-Bremskraftverstärker speisen könnte. Außer- Überwindung des Lüftspiels ist das Flüssigkeits-
dem soll der Fahrer während einer Bremsung keine volumen bereitzustellen.
störenden Auswirkungen am Pedal wahrnehmen,
die sich aus dem Blending genannten Übergang Aufgrund der gesetzlich geforderten Zweikreisigkeit
zwischen Generator- und Reibungsbremse ergeben der Bremsanlage werden (Einfach)-Hauptzylinder
könnten. nur noch in Sonderfällen, z. B. bei Rennfahrzeugen,
Bei einem elektromechanischen Bremskraftver-eingesetzt.
stärker (. Abb. 30.4, Foto Bosch) wird die Bremspe- Der heute generell eingesetzte Tandem-Haupt-
dalbetätigung über eine Weg- bzw. Winkelsensorikzylinder (THz) entspricht einer Kombination zweier
am Bremspedal erfasst. Diese Information wird inhintereinander geschalteter Einfach-Hauptzylinder
der ECU ausgewertet und in entsprechende Steu- in einem Gehäuse. Er ermöglicht den Druckauf-
ersignale für einen Elektromotor umgesetzt. Die-und -abbau in beiden Kreisen der Bremsanlage.
Bei Volumenänderungen im Bremssystem, z. B.
ser Elektromotor unterstützt über ein Getriebe die
bei Temperaturänderungen oder Verschleiß der
Betätigungskraft des Fahrers und letztendlich wirkt
diese Kraftresultierende auf den Hauptbremszylin-
Bremsbeläge, wird über den Ausgleichbehälter der
der, der den hydraulischen Bremsdruck generiert.Volumenausgleich sichergestellt.
Die für den Fahrer wahrnehmbare Bremspedal- Über Rohrleitungen wird Bremsdruck und Hy-
charakteristik ist bei diesem Ansatz via Software
draulikvolumen entsprechend der Bremskraftver-
beeinflussbar. Eine nachgeschaltete HECU für Hy-teilung den Bremssätteln zugeführt und in mecha-
bridsysteme realisiert das oben erwähnte Blending.
nische Zuspannkraft umgesetzt. Die Zuspannkraft
wird über die Bremsbeläge auf die Bremsscheiben
(Tandem)-Hauptbremszylinder Der (Tandem)-­ übertragen. Das dabei erzeugte Reib-(Brems)-Mo-
Haupt­bremszylinder hat die Aufgabe, die mecha- ment wird über Rad und Reifen als Bremskraft auf
560 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 30.5  ESC-Anlage in Explosionsdarstellung
8
die Fahrbahn aufgebracht und führt zur Verzöge- gebungsluft sinkt im Laufe der Zeit der Siedepunkt
9 rung des Fahrzeugs. der Bremsflüssigkeit, was bei starker thermischer
Beanspruchung der Bremsanlage zu Dampfblasen-
30 Ausgleichbehälter  Der Ausgleichbehälter beinhaltet bildung und somit Bremsproblemen führen kann.
das Reservevolumen für die zusätzliche Volumen- Daher ist Bremsflüssigkeit regelmäßig daraufhin zu
aufnahme durch Belagverschleiß, gewährleistet den überprüfen, ob der Nasssiedepunkt nicht unter ei-
11 Volumenausgleich innerhalb der Bremsanlage unter nen kritischen Wert absinkt (vgl. vorgeschriebene
verschiedenen Umgebungsbedingungen, verhindert Wechselintervalle für Bremsflüssigkeit).
12 bei unterschiedlichen Fahrsituationen das Ansau-
gen von Luft in das Bremssystem, reduziert das Bremsflüssigkeit muss auch bei Tieftemperatu-
Aufschäumen der Bremsflüssigkeit und trennt bei ren (bis zu −40 °C) gute Fließeigenschaften be-
13 absinkendem Flüssigkeitsspiegel das Reservevolu- sitzen (d. h. eine hinreichend geringe Viskosität),
men der Hauptzylinderkreise. um sowohl ein gutes Ansprech- und Löseverhal-
14 ten der Bremsen als auch eine gute Funktion der
Darüber hinaus kann der Ausgleichbehälter als Vo- elektronischen Regelsysteme zu ermöglichen. Da-
15 lumenspeicher für eine hydraulisch betätigte Kupp- rüber hinaus muss die Bremsflüssigkeit eine hohe
lung oder auch für eine ESC-Vorladepumpe dienen Siedetemperatur aufweisen, damit es selbst bei
und bevorratet ggf. die Bremsflüssigkeit, die zum stärkster thermischer Belastung der Bremsanlage
16 Laden eines Hydrospeichers benötigt wird. nicht zur Dampfblasenbildung kommt. Die Kom-
pressibilität von Dampfblasen würde dazu füh-
17 Bremsflüssigkeit 
Im hydraulischen Teil der ren, dass wegen des begrenzten Ausstoßvolumens
Bremsanlage ist Bremsflüssigkeit das übliche Me- des Tandem-Hauptzylinders kein ausreichender
dium für die Energieübertragung zwischen (Tan- Bremsdruck mehr aufgebaut werden kann. Bei
18 dem)-Hauptbremszylinder, ggf. hydraulischer Re- Bremsflüssigkeiten werden Glykol-basierte oder
geleinheit und den Radbremsen. Zusätzlich hat sie Silikonbremsflüssigkeiten verwendet.
19 die Aufgabe, bewegte Teile wie z. B. Dichtungen,
Kolben und Ventile zu schmieren und vor Korro- Bremsleitungen und -schläuche  Zur Verbindung der
20 sion zu schützen. Bremsflüssigkeit ist hygrosko- hydraulischen Komponenten eines Bremssystems
pisch: Durch Feuchtigkeitsaufnahme aus der Um- werden hochdruckfeste Bremsrohr-, Bremsschlauch-
30.1 • Standardarchitektur
561 30

.. Abb. 30.6  ABS-Hydraulikschaltbild (schwarz) mit Zusatzkomponenten für ASR (grau) für Pkws mit Frontantrieb und diagona-
ler Bremskreisaufteilung

und armierte Schlauchleitungen (sog. Flexleitungen) Spulenträger wird mittels eines sogenannten „mag-
verwendet. Wesentliche Anforderungen sind Druck- netischen Steckers“ aufgesetzt.
festigkeit, mechanische Belastbarkeit, geringe Volu- Die Energieversorgung einer ESC-Einheit be-
menaufnahme, chemische Beständigkeit z. B. gegen steht aus einer zweikreisigen Hydraulikpumpe
Öl, Kraftstoffe und Salzwasser sowie thermische (Pumpenpatronen im Ventilblock integriert), die
Unempfindlichkeit. durch einen Elektromotor mit exzentrischer An-
triebswelle angetrieben wird. Sie befördert die
während der ABS-Regelung zwischengelagerte
30.1.2 Modulation Bremsflüssigkeit aus den Niederdruckspeichern
zurück in die Bremskreise des (Tandem-) Haupt-
Die hydraulisch/elektronische Regeleinheit HECU bremszylinders.
(Hydraulic Electronic Control Unit) ist durch zwei Die im Ventilblock integrierten Einlass- und
Hydraulikleitungen mit den Bremskreisen des THz Auslassventile sind als 2/2-Magnetventile ausge-
verbunden. Von der HCU führen Bremsleitungen bildet und ermöglichen die Modulation der Rad-
zu den Radbremsen. bremsdrücke (siehe . Abb. 30.6). Das Einlassventil
(stromlos offen, SO-Ventil) erfüllt zwei Aufgaben.
Hydraulisch/Elektronische Regeleinheit (HECU) Heu- Zum einen öffnet oder schließt es bei Ansteuerung
tige ABS/ASR/ESC-Anlagen (z.  B. Continental die Verbindung vom Hauptzylinder zum jeweiligen
MK60, . Abb. 30.5) bestehen aus einem zentralen Radbremskreis, um den benötigten Druck zu halten.
Hydraulikblock mit Magnetventilen, einer inte- Zum anderen ermöglicht das parallel geschaltete
grierten Pumpe mit einem angeflanschten Elektro- Rückschlagventil unabhängig vom Schaltzustand
motor (HCU = Hydraulic Control Unit) und einem des Magnetventils eine Reduktion des Bremsdrucks
Spulenträger einschließlich der darin enthaltenen und damit der Bremskraft bei Pedalkraftreduzie-
Elektronik (ECU = Electronic Control Unit). Der rung durch den Fahrer.
562 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

Das Auslassventil (stromlos geschlossen, ferenzgeschwindigkeit. Wird über den so ermittelten


1 SG-Ventil) öffnet bei Ansteuerung die Verbindung Radschlupf eine Blockiertendenz erkannt, wird über
vom Radbremskreis zum Niederdruckspeicher und die HECU das Bremsmoment am entsprechenden
2 ermöglicht damit radindividuell die Absenkung der Rad zunächst reduziert, um die Seitenführungskraft
Spannkraft durch Druckreduzierung. des Rades und damit die Fahrzeugstabilität (vgl.
Die Niederdruckspeicher dienen als Zwischen- Kamm’scher Kreis) zu gewährleisten. Anschließend
3 speicher für Bremsflüssigkeit während der Druck- wird das Bremsmoment so lange wieder erhöht, bis
modulationsvorgänge, je Bremskreis wird ein Nie- ein dem Fahrbahnreibwert entsprechendes Brems­
4 derdruckspeicher benötigt. moment erreicht ist. So wird das Fahrzeug nahezu
Aus Komfortgründen sind Pulsationsdämpfer optimal abgebremst und gleichzeitig bleibt Stabilität
5 integriert, um ggf. auftretende Hydraulikgeräusche und Lenkfähigkeit erhalten (siehe ▶ Kap. 40).
und -pulsationen (Pedalrückwirkungen) zu mini-
mieren. Funktion „Antriebs-Schlupfregelung ASR“  Eine An-
6 Die HECU ist je nach Ausstattung und Funk- triebs-Schlupfregelfunktion wird ausgelöst, wenn
tionsumfang mit unterschiedlichen Sensoren ver- beim Beschleunigen des Fahrzeugs eine Überschrei-
7 netzt und kommuniziert darüber hinaus mit ande- tung der Reibwertgrenze der angetriebenen Räder
ren im Fahrzeug befindlichen Steuergeräten über erfolgt. Wird das daraus resultierende Durchdrehen
Bussysteme (z. B. CAN, FlexRay). Mithilfe dieser der Antriebsräder durch Drehzahlvergleich mit den
8 mechatronischen Komponenten wird in heutigen nicht angetriebenen Rädern erkannt, wird über das
Pkw-Bremssystemen eine Reihe von Sicherheits- Steuergerät das Antriebsmoment des Motors redu-
9 und Assistenzfunktionen dargestellt, von denen ziert. Dreht aufgrund unterschiedlicher Fahrbahn-
einige nachfolgend erläutert werden. reibwerte auf der rechten und linken Fahrbahnseite
30 eines der Antriebsräder weiterhin durch, kann
Funktion „Elektronische Bremskraft-Verteilung durch Erzeugung von Bremsmoment am entspre-
EBV“  Die elektronische Bremskraft-Verteilung hat chenden Rad das Antriebsmoment über das Dif-
11 die Aufgabe, während des Bremsdruckaufbaus prä- ferenzial auf das Rad mit dem höheren Reibwert
ventiv das Blockieren der Hinterräder zu verhin- übertragen werden. Dies erfolgt vollautomatisch
12 dern, um das Fahrzeug bei jeder Bremsung in ei- ohne Zutun des Fahrers. Das Fahrzeug verhält sich
nem stabilen Fahrzustand zu halten. Wird über die stabil und wird bezogen auf den Fahrbahnreibwert
Raddrehzahlsensoren erhöhter Radschlupf an der nahezu optimal beschleunigt (siehe ▶ Kap. 40).
13 Hinterachse erkannt, begrenzt die EBV-Funktion
durch Ventilschaltungen den weiteren Druckaufbau Funktion „Elektronische Stabilitätsregelung /Electro-
14 an der Hinterachse. Damit kann EBV als Vorstufe nic Stability Control ESC“  Bei Fahrzeugen mit ESC
zu einer potenziell nachfolgenden ABS-Regelung wird die Möglichkeit genutzt, Bremsmomente an
15 angesehen werden. jedem Rad individuell aufzubauen und damit Mo-
mente um die Fahrzeug-Hochachse zu erzeugen.
Funktion „Anti-Blockier-System ABS“ Bei jeder Über den Lenkwinkelsensor wird während der Fahrt
16 Bremsung kann jeweils nur die dem Fahrbahnreib- ständig die vom Fahrer gewünschte Fahrtrichtung
wert entsprechende Bremskraft genutzt werden. ermittelt. Weicht das Fahrzeug vom Kurs ab, oder
17 Übersteigt die vom Fahrer eingesteuerte Bremskraft beginnt sich das Fahrzeug um die Hochachse zu
die maximal übertragbare Bremskraft an einem drehen (Gieren, Schleudern), wird dies über Längs-
oder mehreren Rädern, beginnen diese zu blockie- und Querbeschleunigungssensoren ermittelt. Über
18 ren. Das Fahrzeug wird insbesondere dann instabil, gezielt aufgebaute Bremsmomente an einem oder
wenn dies an der Hinterachse geschieht, und ist da- mehreren Rädern kann dann ein Gegenmoment um
19 mit für den Fahrer nicht mehr beherrschbar. die Fahrzeughochachse erzeugt und das Fahrzeug
Das ABS-System überwacht permanent über die stabilisiert werden (siehe ▶ Kap. 40). Zusätzlich wird
20 Raddrehzahlsensoren die Drehzahl jedes Rades und über die Motorschnittstelle das Antriebsmoment re-
vergleicht diese mit einer (errechneten) Fahrzeugre- duziert.
30.1 • Standardarchitektur
563 30
.. Abb. 30.7 Festsattel:
1 Bremsscheibe, 2 Hy-
draulischer Anschluss,
3 Bremskolben, 4 Entlüf-
tungsschrauben

.. Abb. 30.8 Faustsat-
tel Bauart Continental
FN: 1 Bremsscheibe,
2 Bremskolben, 3 Hydrau-
lischer Anschluss, 4 Dämp-
fungshülsen (Bushings),
5 Halter, 6 Rahmen

30.1.3 Radbremsen einem sattelartig über den Außendurchmesser der


Scheibe greifenden Gehäuse untergebracht. Die Be-
Die Radbremsen erzeugen über Reibung die läge stützen sich in Drehrichtung der Scheibe an
Bremskräfte am Rad. Übliche Bauarten sind Schei- einem am Achsschenkel befestigten Bauteil (sog.
benbremsen und Trommelbremsen: Nahezu alle „Halter“) ab.
modernen Pkw-Vorderradbremsen sind Schei- Die Bremsbelagflächen bedecken jeweils ei-
benbremsen, bei vielen Fahrzeugen sind auch die nen Teil einer ebenen Ringfläche (Teilscheiben-
Hinterachsbetriebsbremsen als Scheibenbremsen bremse). Im Allgemeinen ist unter dem Begriff
ausgeführt. „Scheibenbremse“ immer eine Teilscheibenbremse
zu verstehen. Vollscheibenbremsen, bei denen die
30.1.3.1 Scheibenbremsen gesamte Scheibe mit einem ringförmigen Belag
Scheibenbremsen sind Axialbremsen. Die Zu- in Berührung gebracht wird, sind im Pkw-Bau
spannkräfte des Bremssattels werden über hy- nicht gebräuchlich. Bei Scheibenbremsen werden
draulische Zylinder in axialer Richtung auf die Fest-, Rahmen- und Faustsättel unterschieden:
Bremsbeläge aufgebracht, die beidseitig auf die Festsättel beinhalten Kolben zu beiden Seiten der
Planreibflächen der Bremsscheibe (auch „Rotor“ Bremsscheibe (siehe . Abb. 30.7), Schwimmrah-
genannt) wirken. Die Kolben und Beläge sind in men- und Faustsättel nur auf einer Seite. Bei Letz-
564 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

Betätigungswelle verdreht und die Feststellbrems-


1 kraft mechanisch durch Anpressen der Bremsbeläge
an die Bremsscheibe erzeugt wird.
2
30.1.3.2 Trommelbremsen
Trommelbremsen sind Radialbremsen, die eine
3 Kombination aus einem am Achsschenkel befes-
tigten Bremsbelag und einer am Rad befestigten
4 Bremstrommel sind. Sie haben zwei Bremsbacken,
die durch hydraulische Radzylinderbetätigung
5 beim Bremsen nach außen gegen die Reibfläche
der Trommel gedrückt werden. Bei Beendigung der
Bremsung ziehen Federn die Bremsbacken wieder
6 in die Startposition zurück.
.. Abb. 30.9  Kombi-Faustsattel FNc: 1 Schenkelfeder, 2 Ent-
lüftungsschraube, 3 Hydraulischer Anschluss, 4 Dämpfungs- Wegen der geometrie-/bauartbedingten hohen
7 hülsen (Bushings), 5 Gehäuse, 6 Halter Selbstverstärkung gilt die Trommelbremse als sehr
effizient und ist als kostengünstige Betriebs- und
teren ist das Gehäuse verschiebbar zum Halter ge- Feststellbremse bei Pkw-Hinterachsen weit verbrei-
8 lagert (siehe . Abb. 30.8). tet. Selbst bei Fahrzeugen mit Scheibenbremsen an
der Hinterachse und hohem Gewicht (> 2.5 t) wird
9 Festsattel  Festsättel werden gerade bei hochmo- eine Duo-Servo-Trommelbremse in den Scheiben-
torisierten Fahrzeugen und Sportwagen bevorzugt bremstopf für die Feststellbremsfunktion integriert.
30 eingesetzt. Gründe hierfür sind deren hohe Steifig-
keit und das damit verbundene, sehr gute Ansprech-
verhalten sowie ein üblicherweise geringes Rest- 30.2 Erweiterte Architekturen
11 bremsmoment. Zudem spielen in der Applikation
auch Optik und Image von Festsätteln eine Rolle, Um Kraftstoffverbrauchswerte und Schadstoff­
12 als Werkstoffe kommen im Allgemeinen Alumini- emissionen weiter abzusenken, finden in der Pkw-
umlegierungen zum Einsatz. Antriebstechnik zunehmend Kombinationen aus
Verbrennungskraftmaschinen und elektrischen
13 Faustsattel FN  Eine spezielle Faustsattelkonstruk- Maschinen (sogenannte „Hybrid-Antriebe“) so-
tion (FN-Ausführung) lässt einen relativ großen wie rein elektrische Antriebe Verwendung. Hyb-
14 Scheibendurchmesser zu, mit dem Vorteil eines ridfahrzeuge werden situationsadaptiv entweder
größeren Reibradius und damit höheren Bremsmo- rein konventionell, rein elektrisch oder durch eine
15 ments bei gleichem Bremsdruck. Dabei kann die Überlagerung beider Antriebsarten fortbewegt.
Gehäusebrücke an der engsten Konturenstelle im Durch eine (zeitweise) mechanische Kopplung von
Rad sehr lang und deshalb dünn gehalten werden, Antriebsrädern und Elektromaschine kann diese je
16 ohne dass die Sattelsteifigkeit (hydraulische Volu- nach Fahrsituation sowohl als Motor als auch als
menaufnahme) sich verschlechtert. Generator betrieben werden (Prinzipaufbau siehe
17 . Abb. 30.10).
Kombinierter Faustsattel Beim Kombi-Faustsat- Im Generatorbetriebsmodus kann die Elektro-
tel FNc (. Abb. 30.9) werden die Funktionen von maschine einen Beitrag zur Fahrzeugverzögerung
18 Betriebs- und Feststellbremse in einem Scheiben- liefern. Die verfügbare Bremsleistung des Gene-
bremssattel zusammengefasst, wobei dieselben rators ist stark abhängig von der installierten Ge-
19 Reibpartner für beide Aufgaben genutzt werden. Die neratorleistung, der Fahrgeschwindigkeit (Dreh-
Betriebsbremse funktioniert analog zum Faustsattel. zahl-Drehmoment-Kennlinie des Generators!)
20 Die Feststellbremse wird über einen Bowdenzug ak- und vom momentanen Speichervermögen für elek-
tiviert, wobei über einen Hebelmechanismus eine trische Energie. Heutige installierte Generatorleis-
30.2 • Erweiterte Architekturen
565 30

.. Abb. 30.10  Hybridfahrzeug mit einem regenerativen Bremssystem

tungen reichen maximal für Komfort-/Anpassungs- trischen Antriebsstrang im Wesentlichen folgende


bremsungen, nicht jedoch für Vollbremsungen aus.
Damit kann die „Generatorbremse“ in aktuellen
-
Komponenten:
Pedalcharakteristiksimulator (PSU) mit Pedal-
Systemen nur eine Unterstützung des Reibungs-
bremssystems darstellen.
In Bremssystemen für Hybridfahrzeuge muss
folglich je nach Fahrsituation und Systemzustand
-- winkelsensor,
aktiver Bremskraftverstärker,
Vakuumpumpe zur Unterdruckversorgung des
Vakuumbremskraftverstärkers bei deaktivier-
die Möglichkeit bestehen, zwischen Reibungs-
bremse und Generatorbremse dynamisch um-
zuschalten bzw. zu überblenden, möglichst ohne - tem Verbrennungsmotor,
ECU und Software für Rekuperation, Blen-
ding, Vakuumpumpenregelung, Zustandsüber-
dass der Fahrer dies störend wahrnimmt. Dieses
sogenannte „Brake Blending“ wird elektronisch
geregelt. Um darüber hinaus auch rein rekupe-
rativ (d. h. ohne Reibungsbremse) verzögern zu
- wachung etc.,
zusätzliche Sensoren, insbesondere zur Zu-
standsüberwachung.

können, ist eine Entkopplung von Bremspedal und Bei Betätigung des Bremspedals wird über den Win-
Bremshydraulik erforderlich. Nachfolgend wird kelsensor der Fahrerbremswunsch erfasst.
der Aufbau einiger solcher Systemarchitekturen Durch die mechanische Entkopplung von
beschrieben. Bremspedal und Bremskraftverstärker/(Tan-
dem)-Hauptbremszylinder wird jedoch zunächst
kein hydraulischer Bremsdruck aufgebaut. Da-
30.2.1 Regeneratives Bremssystem mit der Fahrer nicht „ins Leere“ tritt, wirkt dem
RBS-SBA Fahrerfuß über den Simulator eine (primär pe-
dalwegabhängige) Gegenkraft entgegen. Über die
Das hier beschriebene „Regenerative Bremssys- Regelungssoftware ist der Pedalweg mit einer Fahr-
tem mit SBA (Simulator Brake Actuation)“ zeugverzögerungskennlinie verknüpft, worüber sich
(. Abb. 30.11) enthält zusätzlich zur bereits be- – in Grenzen – unterschiedliche Pedalcharakteristi-
schriebenen Standardarchitektur und dem elek- ken darstellen lassen.
566 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

.. Abb. 30.11 Betäti-
1 gungseinheit (Mensch-Ma-
schine-Schnittstelle HMI)
für ein regeneratives
2 Bremssystem, welche
eine situationsadaptive
Entkopplung zwischen
3 Bremspedal und Bremshy-
draulik ermöglicht

4
5
6
7
Die Elektronik der HECU erhält über eine ent- mit ihren drei wesentlichen Baugruppen beschrei-
8
9
sprechende Schnittstelle zur Generatorregelung die
Information darüber, welches Bremsmoment vom
Generator momentan bereitgestellt werden kann.
Ist dieses Moment ausreichend, um dem Fahrer-
-
ben:
Betätigungseinheit mit Tandem-Haupt-
bremszylinder (THz), integriertem Pedalcha-
rakteristiksimulator, redundantem Wegsensor

30
bremswunsch zu entsprechen, wird das Fahrzeug
allein durch die Generatorbremswirkung verzö-
gert. Wird mehr Bremsmoment gewünscht als der
Generator aktuell liefern kann, wird zusätzlich
- und Bremsflüssigkeitsbehälter,
hydraulische Regeleinheit (Hydraulic Control
Unit, HCU) mit Motor-Pumpen-Speicher-Ag-
gregat (MPSA) bestehend aus Motor, Dreikol-
11 Reibungsbremsmoment dadurch erzeugt, dass der benpumpe und Metallbalgspeicher mit Weg­
aktive Bremskraftverstärker elektrisch angesteuert sensor als Druckversorgung, Ventilblock mit 8
12 wird. Durch diesen vom Bremspedal entkoppelten analogisierten Regelventilen, 2 Trennventilen
Bremsdruckaufbau und dem daraus resultieren- und 2 Balanceventilen als Ventileinheit und
13
14
den Reibungsbremsmoment wird das Generator-
bremsmoment ergänzt.
Da einige Verbrennungsmotoren nicht ausrei-
chend Vakuum erzeugen bzw. bei rein elektrischem
- 6 Drucksensoren (siehe . Abb. 30.13),
integrierter elektronischer Regler (Electronic
Control Unit, ECU).

Fahren mit abgeschaltetem Verbrennungsmotor Bei Betätigung des Bremspedals wird der aufge-
15 kein Vakuum erzeugt wird, wird der erforderliche baute Hauptzylinderdruck sofort durch Schließen
Unterdruck über eine elektrisch betriebene Vaku- der Trennventile hydraulisch von den Bremssätteln
umpumpe erzeugt. getrennt und der Fahrer tritt in den in die Bremsbe-
16 Bei (Teil-)Ausfall des Systems kann die Rei- tätigung integrierten Simulator. Der gemessene Pe-
bungsbremse konventionell mechanisch/hydrau- dalweg und der im Simulator aufgebaute Druck stel-
17 lisch betätigt werden. len das Maß für die gewünschte Verzögerung dar.
Bei der konventionellen Hilfskraftbremse wird
die Fußkraft durch den Vakuumbremskraftver-
18 30.2.2 Elektrohydraulische Bremse stärker in der Betätigungseinheit verstärkt und in
EHB hydraulischen Druck umgewandelt. Bei der EHB
19 wird der Bremswunsch in der Betätigungseinheit
. Abb. 30.12 zeigt die Wirkkette eines EHB-Pkw- über Sensoren gemessen und das Signal „by wire“
20 Bremssystems. Innerhalb dieser lässt sich die EHB an die ECU (Electronic Control Unit) weitergelei-
tet [3]. Über Ventilbetätigungen erfolgt dann in der
30.2 • Erweiterte Architekturen
567 30

.. Abb. 30.12  Wirkkette EHB-Bremssystem im Pkw

HCU (Hydraulic Control Unit) eine Umsetzung in Systemzustände nicht mehr spüren, so dass diese
hydraulischen Druck, der wie im konventionellen Diagnose auch von der EHB übernommen werden
Bremssystem über Bremsleitungen und -schläuche muss. . Abb. 30.13 zeigt rechts die Bremsbetätigung
an die Radbremsen übertragen wird. der EHB mit Tandem-Hauptbremszylinder, integ-
Die EHB bietet für Fahrer und Fahrzeugherstel- riertem Pedalcharakteristiksimulator, Bremsflüssig-
ler eine Reihe von Vorteilen. Durch die Entkoppe- keitsbehälter und Pedalwegsensor.
lung des Bremspedals von den Radbremsen spürt der Um dem Fahrer in der hydraulischen Rückfall­
Fahrer immer eine optimale, nach ergonomischen ebene kein allzu ungewohntes, „langes“ Pedal zu
Gesichtspunkten vom Fahrzeughersteller definier- bieten, enthält die Betätigung eine Absperrung des
bare Pedalcharakteristik mit kürzerem Pedalweg und Simulators, die in diesem Betriebszustand wirksam
geringerer Betätigungskraft. Dadurch lässt sich der wird und verhindert, dass zusätzliches Bremsflüs-
Fahrerbremswunsch besser und schneller umsetzen sigkeitsvolumen in den Simulator geschoben wird
und eine bessere Dosierbarkeit der Bremse erzielen. (siehe auch . Abb. 30.15).
Regelfunktionen, wie z. B. ABS, erfolgen rückwir- Für den Fahrzeughersteller hat die Eliminierung
kungsfrei, also ohne die bisherigen Pedalvibrationen. des Vakuumbremskraftverstärkers den Vorteil einer
Durch Wegfall des Vakuum-Bremskraftverstärkers kürzeren Betätigungseinheit, womit die Fahrzeugin-
und Einsatz eines Hochdruckspeichers ergeben sich tegration verbessert wird und eine leichtere Adap-
während einer Bremsen-Betätigung eine kürzere tion an Links-/Rechtslenker-Fahrzeuge möglich ist.
Schwellzeit und höhere Systemdynamik, womit sich Zudem bietet die kürzere Betätigungseinheit auch
in Verbindung mit der feinfühligeren Raddruckre- Vorteile bei der Gestaltung des Motorraums im Be-
gelung eine optimierte Regelfunktionalität bei EBV, reich des Fahrerfußraumes dahingehend, dass die
ABS, ASR, ESC und BA einstellen lässt. Verletzungsgefahr durch Eindringen der Pedalein-
Die umfangreiche Sensorik ermöglicht auch eine heit in den Fahrgastraum bei Frontunfällen gemin-
sehr genaue Systemdiagnose und eine wesentlich dert werden kann.
umfangreichere Fehlerreaktion als bei einer konven- Der Wegsensor dient darüber hinaus der Volu-
tionellen Bremsanlage. Durch die Entkopplung des menüberwachung der Bremsanlage. Während bei
Fahrers von den Radbremsen kann dieser fehlerhafte einer konventionellen Anlage der Fahrer eine er-
568 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

1
2
3
4
5
6
7
8
9 .. Abb. 30.13  EHB-Komponenten von Continental (links: elektrohydraulische Regeleinheit, rechts: Bremsbetätigung mit Pedal-
charakteristiksimulator)

30
höhte Volumenaufnahme (z. B. durch Eintritt von Jeder der dargestellten Funktionsblöcke gibt
Luft) durch einen längeren Pedalweg spüren kann, einen Solldruck vor, der im Arbitrierungsmodul
11 geschieht dies bei der EHB durch Vergleich des aus (COA) durch intelligente Gewichtung und Priori-
dem Speicher entnommenen Volumens mit dem sierung zu einer Sollvorgabe für die Raddruckre-
12 in den Radbremsen aufgebauten Bremsdruck an- gelkreise verrechnet wird. Durch die Nutzung der
hand der Volumenaufnahmekennlinie des Systems modularen Struktur konnten die höheren Regel-
[4]. Dieses dient vor allem einer Überwachung der funktionen mit geringem Aufwand aus bisherigen
13 vollen Funktionsfähigkeit der hydraulischen Rück- ABS- und ESC-Projekten übernommen werden.
fallebene, da in dem By-Wire-Modus eine erhöhte Die Fahrerwunscherfassung dient dabei der
14 Volumenaufnahme des Systems nahezu unmerklich Berechnung der einzelnen Radbremsdrücke aus
durch das im Speicher vorrätige Bremsflüssigkeits- den Sensorwerten der redundanten Pedalweg­
15 volumen ausgeglichen werden kann. sensorik und des THz-Drucks. Nach Plausibilisie-
rung dieser Signale wird unter Zuhilfenahme von
Regelungs- und Überwachungsmethoden Da die deren zeitlicher Ableitung, mit der eine kontinu-
16 EHB im Wesentlichen als universeller Aktor für ierliche Bremsassistentenfunktion realisiert wird,
Bremseneingriffe mit umfangreicher Sensorik ange- die gewünschte Fahrzeugverzögerung ermittelt,
17 sehen werden kann, kommt der Software und damit die dann fahrsituationsabhängig auf die einzelnen
den Regelungs- und Überwachungsmethoden eine Räder verteilt und in radindividuelle Bremsdrücke
zentrale Bedeutung zu. Eine erweiterte Funktiona- umgewandelt wird. Der jeweilige Sollbremsdruck
18 lität kann allein durch die Entwicklung von neuen wird über eine nachgeschaltete Raddruckregelung
Softwaremodulen erzielt werden. eingestellt.
19 Die modulare Softwarestruktur (. Abb. 30.14)
stellt eine sinngemäße Weiterführung der bereits Funktionsweise der Elektrohydraulischen Bremse
20 bisher bei Continental verfolgten Philosophie [5, EHB  Die elektrohydraulische Bremse ist ein Fremd-
6] dar. kraftbremssystem. Die wesentlichen Merkmale sind:
30.2 • Erweiterte Architekturen
569 30
.. Abb. 30.14 Modulare
EHB-Softwarestruktur [7]

.. Abb. 30.15  Schaltbild EHB mit schematischer Darstellung der Systemkomponenten

geringe Baugröße, zeitoptimiertes Ansprechverhal- Versorgt aus einem Druckspeicher wird mithilfe
ten des Bremssystems und modellierbare Bremspe- der hydraulischen Regeleinheit die Bremsenergie
dal-Charakteristik. Die EHB ist sowohl bei Nor- entsprechend der Fahrervorgabe erzeugt; die Vor-
malbremsung als auch in der Radschlupfregelung ladung des Druckspeichers erfolgt durch eine inte-
ein von der Betätigung (Bremspedal) entkoppeltes grierte Motor-Pumpen-Einheit.
und dadurch rückwirkungsfreies Bremssystem. Beim Bremsen wird die hydraulische Verbin-
Beispielhaft ist die Anordnung der Baugruppen in dung zwischen THz und hydraulischer Regeleinheit
. Abb. 30.15 dargestellt. unterbrochen, der Bremsdruck im Rad wird aus der
570 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

vorgeladenen Speichereinheit über Regelventile ein- pen-Speicher-Aggregat (MPSA), das temperaturab-


1 gestellt. hängig einen Betriebsdruck von ca. 150–180 bar zur
Zusammenfassung der Vorteile gegenüber ei- Verfügung stellt.
2
-
nem konventionellen Bremssystem:
kürzere Brems- und Anhaltewege (kürzere
Ein Großteil der Bremsungen muss nicht radin-
dividuell erfolgen. Um hierbei auch physikalisch eine
3
- Bremsenschwellzeit, Druckspeichersystem),
optimiertes Brems- und Stabilitätsverhalten
Druckgleichheit bei den Radbremsen einer Achse
zu erzielen, werden die Balanceventile (Verbindung

4
- durch hohe Eingriffsgeschwindigkeit,
optimiertes Pedalgefühl durch einfache Anpas-
zwischen den Radbremsen jeweils einer Achse) of-
fengehalten. Dies ermöglicht auch die Verwirkli-

5 - sung an Kundenvorgaben,
geräuscharmer Betrieb ohne störende Pedal-
chung von Diagnosefunktionen (z. B. Abgleich der
Drucksensorwerte). Ebenso kann durch Nutzung des

- rückwirkungen bei Regelbremsung,


besseres Crashverhalten durch geringere
offenen Balance-Ventils bei Komfortbremsungen mit
langsamen Druckaufbaugradienten der Druckaufbau

-
6 Pedal­intrusion, nur über die Ansteuerung jeweils eines Ventilpaares
verbesserter Einbau und vereinfachte Montage einer Achse erfolgen, womit die Lebensdauer der
7 durch Entfall des Vakuumbremskraftverstär- Ventile erhöht werden kann als auch die Treiber und

8 -- kers im Spritzwandbereich,
Verwendung einheitlicher Baugruppen,
einfache Realisierung von Fremdbremseingrif-
fen für verschiedene Zusatzfunktionen (z. B.
damit die ECU thermisch weniger belastet werden.
Der Einsatz der zahlreichen Sensoren ermög-
licht die Verwirklichung einer sehr detaillierten
Selbstdiagnose des EHB-Systems und die Reali-
9 ACC, Bremsscheiben-Trockenbremsen bei sierung verschiedener Rückfallebenen bei einer

30 - Regen, Antifadingregelung etc.),


keine Vakuumabhängigkeit, daher optimal ge-
eignet für neue saugverlustoptimierte Verbren-
eventuellen Fehlfunktion von Komponenten. Eine
besondere Stellung nimmt dabei die hydraulische
Rückfallebene ein, die z. B. bei fehlender elektrischer

11
12
- nungsmotoren,
leichte Vernetzbarkeit mit zukünftigen Ver-
kehrsleitsystemen.
Energieversorgung vorliegt: Hierbei befinden sich
alle Ventile in der in . Abb. 30.15 gezeigten Stel-
lung. Der Druckaufbau in den Radbremsen erfolgt
dann, ähnlich einem konventionellen Bremssystem
Der Aufbau der Regeleinheit ermöglicht die Integra- bei Vakuumausfall, durch die Fußkraft des Fahrers
tion aller heutigen Bremseingriffs- und Radschlupf- über die geöffneten Trenn- und Balanceventile. Um
13 regelfunktionen (z. B. EBV, ABS, ASR, ESC, BA, dabei dem Fahrer keinen unnötig langen Pedalweg
ACC, …) ohne weiteren Hardware-Aufwand [8]. zuzumuten, wird zeitgleich der Simulator hydrau-
14 Der Bremswunsch wird dabei aus Sicherheits- lisch abgesperrt und damit zusätzliche Volumenauf-
gründen dreifach redundant ermittelt (redundan- nahme verhindert.
15 ter Wegsensor und Drucksensor), um eine Plausi- Bei Störungen stehen zwei Rückfallebenen zur
bilisierung der Signalwerte vornehmen zu können Verfügung:
und bei Ausfall einer der Sensoren immer noch eine Erste Ebene: Bei einem Ausfall des Hochdruck-
16 redundante Messung des Fahrerwunschs vorliegen speichers bleibt die „Brake-by-Wire“-Funktion
zu haben. weiterhin erhalten, die Bremsen werden jedoch
17 Die Signale werden in der ECU mit weiteren, ausschließlich von der Pumpe versorgt.
den Fahrzustand und Fremdbremseingriffe be- Zweite Ebene: Bei einer Störung der „Bra-
schreibenden Signalen verarbeitet und in hinsicht- ke-by-Wire“-Funktion (z. B. wegen eines Ausfalls
18 lich Bremsverhalten und Fahrstabilität optimale, der elektrischen Energieversorgung) bleiben die
radindividuelle Bremsdrücke gewandelt. Der je- hydraulischen Verbindungen des Hauptzylinders
19 weilige Radbremsdruck wird in der HCU über zu den beiden Radbremskreisen erhalten und es
einen radindividuellen Druckregelkreis mit einem werden ohne Verstärkung proportional zur aufge-
20 analogisierten Ein- und Auslassventil eingestellt. Als brachten Fußkraft alle vier Radbremsen betätigt.
Hochdruckversorgung dient dabei ein Motor-Pum- Die Simulatorfunktion ist dabei abgeschaltet [7].
30.2 • Erweiterte Architekturen
571 30

.. Abb. 30.16  Übersicht der Komponentenintegration diverser EHB-Systeme

Die gesetzlich geforderte hydraulische Zwei­ den sich hauptsächlich durch die unterschiedlichen
kreisigkeit des Bremssystems bleibt trotz Teilausfall baulichen Zusammenfassungen von Komponenten
erhalten. und funktionell durch unterschiedliche Rückfall­
ebenenkonzepte.
Marktübersicht und Bauartunterschiede der EHB-Sys-
teme  Das von dem japanischen Automobilzulie- Funktionspotenzial  Die bisherigen Funktionen der
ferer ADVICS Anfang  2001 entwickelte System elektrischen Bremssysteme stellen hauptsächlich
war das erste EHB-System im Volumenmarkt und Fahrdynamikfunktionen dar, die den Fahrer in fahr-
wurde im Toyota Estima (ausschließlich auf dem ja- dynamisch kritischen Zuständen unterstützen (z. B.
panischen Markt) verbaut. Ende 2001 folgte das von ABS, ASR, ESC, BA), greifen somit zumeist relativ
der Robert Bosch GmbH entwickelte EHB-System selten und in Situationen ein, in denen sich der Fah-
unter der Bezeichnung Sensotronic Brake Control rer vollständig auf das Fahrgeschehen konzentrie-
(SBC) im Mercedes SL Roadster und Anfang 2002 ren muss. Heute hingegen werden in elektronische
im großen Volumenmodell der Mercedes E-Klasse. Bremssysteme zunehmend Assistenz- bzw. Komfort-
Ende  2003 präsentierte ADVICS im Toyota funktionen integriert, die für den Fahrer tagtäglich
Prius II Hybrid eine überarbeitete Version (ECB II). erlebbar sind und ihn in Situationen unterstützen,
Die vorher zu einer großen Baugruppe zusammen- in denen die Fahrzeuginsassen die Wirkungsweise
gefasste Betätigung mit integriertem Pedalcha- gut wahrnehmen können. So benötigt z. B. der Stau-
rakteristiksimulator und Motor-/Pumpen-/Spei- assistent als Weiterentwicklung der ACC-Funktion,
cheraggregat wurde in der zweiten Generation in damit das Fahrzeug in einem Stau automatisch ab-
Einzelbaugruppen unterteilt. Ende 2005 folgte die standsabhängig beschleunigt und abbremst, eine
Markteinführung des Continental EHB-Systems im feine Dosierbarkeit des Bremsdrucks im akustisch
Ford Escape Hybrid auf dem US-Markt. sehr sensiblen Niedriggeschwindigkeitsbereich.
Anfang 2009 präsentierte ADVICS in der dritten Die Entwicklung von sparsameren, saugver-
Generation des Toyota Prius sein weiter optimiertes lustoptimierten Verbrennungsmotoren hat dazu
System ECB III. Die Anzahl der Hauptbaugruppen geführt, dass in vielen Fahrzeugen nicht mehr genü-
wurde hierbei von drei auf zwei reduziert, der Si- gend Motorvakuum für den Bremskraftverstärker
mulator wurde in die Betätigungseinheit integriert. vorhanden ist, wodurch mechanische oder elektri-
Alle im Markt befindlichen EHB-Systeme (siehe sche Vakuumpumpen eingesetzt werden müssen.
. Abb. 30.16) arbeiten nach dem bereits beschrie- Bei Einsatz der EHB kann durch den fehlenden
benen By-Wire-Funktionsprinzip: Sie unterschei- Vakuumbedarf dieses zusätzliche Bauteil entfallen.
572 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

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5
.. Abb. 30.18  Integrated Brake Control IBC (Quelle: Fa. TRW,

6 Urheberrecht beim Autor)

tem die Anforderungen auf hohem Komfortniveau


7 .. Abb. 30.17  Compact- Bremssystem MK C1 erfüllen, die an ein rekuperatives Bremssystem ge-
stellt werden. Die Funktionen von Bremsbetätigung,
Die Entkopplung des Bremspedals und einfache Bremskraftverstärkung und Regelsystem (ABS, ESC,
8 Ansteuerung der Bremse allein durch elektronische ACC, …) werden in einem kompakten und gewicht-
Signale ermöglicht auch eine optimale Kommuni- einsparenden Bremsmodul zusammengefasst.
9 kation und Wechselwirkung mit anderen Fahr-
werksregelsystemen und prädestiniert die EHB als Multiplex Bremssystem – IBC (Fa. TRW) Eine sich
30 optimales Stellglied für zukünftige Global Chassis derzeit noch im Entwicklungsstadium befindli-
Control (GCC)-Systeme [9]. Ebenso bietet sie sich che, alternative Bremssystemarchitektur basiert
als Bremssystem für regeneratives Bremsen insbe- auf dem Prinzip eines Multiplexverfahrens, das auf
11 sondere bei Hybridfahrzeugen an, bei denen das die Versorgung der Radbremsen mit Druck bzw.
Bremsmoment soweit wie möglich vom Generator Bremsflüssigkeit angewendet wird [12]. Im Gegen-
12 aufgebracht wird und die Reibungsbremse nur die satz zum konventionellen System wird das Multip-
Differenz zu der vom Fahrer gewünschten Brems- lex-System (siehe . Abb. 30.18) generell von einer
wirkung aufbringen muss. zentralen Motor-Hauptzylinder-Einheit mit Druck
13 Durch die zunehmende Einführung der Assis- versorgt. Bei Bremsbetätigungen tritt der Fahrer le-
tenzfunktionen und die vergleichbar hohen Kos- diglich in einen Pedalcharakteristiksimulator, wobei
14 ten der EHB-Systeme werden die entsprechenden über geeignete Sensorik der Fahrerwunsch erfasst
Funktions- und Komfortanforderungen auch bei und mittels Motor-Hauptzylinder-Einheit in Druck
15 zukünftigen Hilfskraftbremssystemen erhöht. umgesetzt wird. Für jede Radbremse steht nur ein
Schaltventil zur Verfügung, welches sowohl für den
Druckaufbau als auch -abbau genutzt wird. Eine ra-
16 30.2.3 Integrale Bremssysteme dindividuelle Druckregelung erfolgt im Sinne des
Multiplexings quasi sequenziell, indem hochdyna-
17 Elektrohydraulische Bremsbetätigung MK C1 (Fa. misch der radspezifisch benötigte Druck zunächst
Continental)  Die in Entwicklung befindliche elek- im Hauptzylinder erzeugt und dann via Schaltven-
trohydraulische Bremsbetätigung (. Abb. 30.17) til an die jeweilige(n) Radbremse(n) weitergeleitet
18 kann deutlich schneller als herkömmliche hydrau- wird. Real handelt es sich nicht um ein ausschließ-
lische Systeme Bremsdruck aufbauen und ist Mo- lich sequenzielles Verfahren, da während einer Rad-
19 torvakuum-unabhängig [10]. Sie erfüllt die gestie- schlupfregelung sequenzielle und parallele Druck-
genen Druckdynamikanforderungen von neuen aufbau/Regelungsvorgänge überlagert werden.
20 Fahrerassistenzsystemen zur Unfallvermeidung Da der Fahrer im Nominalbetrieb über den
und Fußgängerschutz. Des Weiteren kann das Sys- erwähnten Pedalcharakteristiksimulator von der
30.3  •  Dynamik hydraulischer Bremssysteme
573 30

.. Abb. 30.19  Simulierte autonome Vollbremsungen aus 30 und 100 km/h bei identischer Schwellzeit

Radbremsenhydraulik entkoppelt ist, können ins- Assistenzsystems wird in den Spezifikationen und
besondere bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen die Testverfahren (siehe z. B. EuroNCAP-Verfahren
Bremsmomente von Rad-/Reibungsbremse und ▶ Kap. 3) u. a. am Anhalteweg bewertet, nachdem
Generator dynamisch kombiniert werden, ohne das Fahrzeug mit einem definierten Hindernis im
dass der Fahrer diese Regelungsvorgänge am Pedal Fahrkorridor konfrontiert wurde. Der Bremsdruck-
wahrnimmt. aufbau soll bei gängigen Testverfahren zumeist au-
tomatisch über die Hydraulikpumpe der HECU
(Hydraulic Electronic Control Unit) und ohne das
30.3 Dynamik hydraulischer Zutun des Fahrers erfolgen.
Bremssysteme Gerade bei solchen automatischen Bremsun-
gen aus niedrigen Geschwindigkeiten nimmt die
Unter Dynamik einer Bremsanlage versteht man Zeit (und somit der anteilige Anhalteweg) zwi-
das zeitliche Antwortverhalten im Hinblick auf schen Objekterkennung und Erreichen der Maxi-
Fahrzeugverzögerung bei Einsteuerung einer malverzögerung einen relativ hohen Anteil ein, im
Bremsung. Diese wird im Wesentlichen durch die Vergleich zum nachfolgenden, eingeschwungenen
Komponenten der installierten Bremsanlage, die Vollbremszustand. Exemplarisch zeigt . Abb. 30.19
dynamischen Achslasten, das Fahrwerk mit Fede- das Verhalten mit einer „Standardbremsanlage“ für
rung und Dämpfung und die Bereifung bestimmt. Mittelklasse-Pkws. Bei Vollbremsungen aus höhe-
Außerdem können Randbedingungen wie z. B. die ren Geschwindigkeiten hingegen überwiegt der
Umgebungs- oder Komponententemperatur eine Zeitanteil des Vollbremszustands. Zudem sind die
große Rolle spielen. Zeitanteile zu Beginn der Bremsung besonders
Für einige Fahrerassistenzsysteme, wie z. B. die wertvoll im Sinne einer Anhaltewegreduktion, weil
automatische Notbremse (Emergency Brake Assist) dort das Fahrzeug noch schnell ist. Es ist daher ein
ist diese Dynamik der Bremsanlage von großer Ziel der Gesamtsystemauslegung, diese sogenannte
Bedeutung. Die Leistungsfähigkeit eines solchen Schwellzeit zu minimieren – auch vor dem Hinter-
574 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

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.. Abb. 30.20  Limitierende Einflussfaktoren auf eine autonom getriggerte Notbremsung
30
grund, dass ein Entwicklungsschwerpunkt derzeit unterschiedlicher Betriebsrandbedingungen erge-
auf der Kollisionsvermeidung im innerstädtischen ben.
11 Verkehr und somit bei eher niedrigen Fahrge- Nachfolgend soll nun der Betrachtungsfokus
schwindigkeiten liegt. auf der hydraulischen Bremsanlage liegen: Inner-
12 Zusammenfassend sollte bei der Entwicklung halb dieses Subsystems beginnt eine vom System
solcher Assistenzsysteme stets das Gesamtsystem veranlasste Bremsung üblicherweise mit einer
betrachtet werden, d. h. beginnend mit der sensor- Anfrage an die ESC-HECU, z. B. eine bestimmte
13 basierten Umfelderfassung, über Signalauswertung Fahrzeugverzögerung einzuregeln (sogenannter
(Objektanalyse und Treffen von Handlungsentschei- „deceleration request“). Eine solche Anforderung
14 dungen), über Ansteuerung und Druckaufbau der erhält die HECU entweder direkt vom Steuergerät
HECU bis hin zum Ansprech- und Übertragungs- des Umfeldsensors oder indirekt über einen überge-
15 verhalten von Radbremse, Reifen und Fahrwerk. ordneten Gesamtfahrzeugregler, wobei die Kommu-
Gerade bei der Prädiktion der Systemleistung via nikation jeweils über Fahrzeugnetzwerke wie z. B.
Simulation sollten all diese Elemente berücksichtigt CAN oder FlexRay erfolgt. Im nächsten Schritt wird
16 werden. Jedes dieser Subsysteme verursacht unwei- auf dem Steuergerät der HECU überprüft, inwie-
gerlich einen gewissen Zeitverzug in der Gesamt- weit sich die Verzögerungsanfrage unter fahrdyna-
17 wirkkette, sei es z. B. durch Softwarelaufzeiten, Si- mischen bzw. Stabilitätsgesichtspunkten umsetzen
gnal-/Kommandoübermittlung, mechanische oder lässt. In dieses sogenannte Arbitrierungsverfahren
hydraulische Masseträgheiten, Elastizitäten oder gehen zusätzliche Informationen wie momentane
18 Dämpfungseffekte. Insgesamt können diese (auf den Radschlupfzustände, Querbeschleunigung, Gierrate
ersten Blick gering erscheinenden) Einzelbeiträge etc. ein, welche der HECU für andere Regelfunk-
19 jedoch meist nicht vernachlässigt werden. Erschwe- tionen ohnehin permanent zur Verfügung stehen.
rend kommen in der Gesamtsystembetrachtung Der beschriebene Vorgang kann einige 10 ms in
20 noch die unvermeidlichen Parameterstreuungen Anspruch nehmen. Fällt die Arbitrierung positiv
hinzu, die sich produktionsbedingt oder aufgrund aus, wird über die in das HECU-Steuergerät inte-
30.3  •  Dynamik hydraulischer Bremssysteme
575 30
.. Abb. 30.21 Vergleich
der Druckaufbaudynamik
verschiedener HECUs
unter jeweils Fahrzeugklas-
sen-typischen Randbedin-
gungen

grierte Leistungselektronik die hydraulische Pumpe leistungsstarke HECU-Modelle umsetzen und ist
aktiviert und Bremsdruck für die Radbremsen auf- zudem durch die jeweils zulässige Bordnetzbelas-
gebaut. Dabei kann das Radblockierdruckniveau je tung begrenzt.
nach Systemdimensionierung und Umgebungsbe- Die Referenz für die Druckaufbaudynamik ist
dingungen bereits nach ca. 150 ms oder im ungüns- derzeit (noch) der Mensch: Geübte Fahrer kön-
tigen Fall erst nach fast 1 s erreicht werden. Wichtige nen mittels Bremspedalbetätigung innerhalb von
Einflussfaktoren auf dieses Dynamikverhalten sind 150…200 ms Pkw-übliche Radblockierdrücke errei-
in . Abb. 30.20 dargestellt. chen (ca. 80…100 bar unter Nominalbedingungen).
Der Hauptgrund für die breite Streuung beim Objekterkennung und Reaktionszeit des Menschen
Druckaufbauverhalten liegt in den unterschiedli- sind hierbei nicht enthalten. Eine vergleichbare Dy-
chen HECU-Leistungsklassen, die sich heute am namik erreichen derzeit nur die schnellsten HECUs
Markt finden lassen. Für unterschiedlichste Fahr- mit vollintegrierter Betätigungseinheit (siehe ▶ Ab-
zeugsegmente und -preisklassen sind z. T. maßge- schn. 30.2.3, MK C1). Standard-HECUs sind zwar
schneiderte Lösungen verfügbar. Historisch be- im Druckaufbau langsamer, wie aus . Abb. 30.21
trachtet mussten HECUs früher entweder meist nur ersichtlich wird. Ein akzeptables Leistungsniveau
einzelne Räder mit einem hydraulischen Volumen- kann jedoch durch sorgfältige Gesamtsystemop-
strom versorgen (z. B. bei ESC-Regelungseingriffen) timierung mit zielführender Ansteuerstrategie
oder sie wurden durch die Bremspedalbetätigung erreicht werden (z. B. steife Bremssättel, niedrige
des Fahrers mit Druck aus dem Tandemhauptzy- Blockierdrücke, Vorbefüllung der Bremsanlage
linder vorgeladen (z. B. beim hydraulischen Brem- bereits während der Objektplausibilisierung etc.).
sassistenten). In beiden Fällen reichten früher ge- Umgekehrt ist ein womöglich überdimensioniertes
ringere HECU-Pumpleistungen aus, um übliche Hydraulikaggregat nicht zielführend, wenn dessen
Marktanforderungen zu erfüllen. Dagegen stellt hohe Druckaufbaudynamik in den Elastizitäten von
automatisches Notbremsen über alle Räder eine Reifen und Fahrwerk verpufft.
sehr hohe Anforderung an das Leistungsvermögen Abschließend ist in . Abb. 30.22 eine Beispiel-
der HECU dar. Dieses lässt sich meist nur durch messung (Mittelklasse-Limousine mit Sportfahr-
576 Kapitel 30 • Hydraulische Pkw-Bremssysteme

1
2
3
4
5
6
7
8
9
30
11
.. Abb. 30.22  Beispielmessung eines schrittweisen, automatischen Bremsdruck- und Verzögerungsaufbaus
12
werk) für eine kaskadierte Ansteuerstrategie der Literatur
13 Bremsanlage dargestellt: Nach einer anfänglichen
Prefill-Phase wird der Bremsdruck erhöht, entspre- 1 Breuer, B., Bill, K.H.: Bremsenhandbuch. Vieweg Verlag,
14 chend einer Fahrzeugverzögerung von zunächst
Wiesbaden (2013)
2 Bosch Mediaservice Kraftfahrzeugtechnik, Presseinforma-
ca. 4 m/s². In der linken Bildhälfte ist deutlich der tion, 17.06.2013
15 Zeitverzug zwischen Radbremsdruck und Verzöge- 3 Jonner, W.-D., Winner, H., Dreilich, L., Schunck, E.: Electrohy-
rung erkennbar, der hauptsächlich auf die Reakti- draulic Brake System – The First Approach to Brake‐by‐Wire
onszeiten von Reifen und Fahrwerk zurückzuführen Technology SAE, Bd. 1996‐09‐91. Society of Automotive
16 ist. Im weiteren Verlauf wird der Radbremsdruck
Engineers SAE, Detroit (1996)
4 von Albrichsfeld, C., Bayer, R., Fritz, S., Jungbecker, J., Klein,
abermals erhöht, entsprechend einer Verzögerung A., Mutschler, R., Neumann, U., Rüffer, M., Schmittner, B.:
17 von ca. 8 m/s². Der Zeitverzug zwischen Druck und Elektronisch regelbares Bremsbetätigungssystem, Patent-
Verzögerung in der rechten Bildhälfte fällt dann ge- schrift DE 198 05 244.8. Deutsches Patent‐ und Markenamt,
ringer aus, da das komplette Fahrwerk bereits vorge- München (1998)
18 spannt und eingefedert ist; zusätzlicher Bremsdruck
5 Fennel, H., Gutwein, R., Kohl, A., Latarnik, M., Roll, G.: Das
modulare Regler‐ und Regelkonzept beim ESP von ITT
wird dann fast unmittelbar in höhere Verzögerung
19
Automotive 7. Aachener Kolloquium Fahrzeug‐ und Mo-
umgesetzt. torentechnik. (1998)
6 Rieth, P.: Technologie im Wandel X‐by‐Wire IIR Konferenz

20 Neue Elektronikkonzepte in der Automobilindustrie, Stutt-


gart, 13.–14.4.1999. (1999)
Literatur
577 30
7 Stölzl, S., Schmidt, R., Kling, W., Sticher, T., Fachinger, G.,
Klein, A., Giers, B., Fennel, H.: Das Elektro‐Hydraulische
Bremssystem von Continental Teves – eine neue Heraus-
forderung für die System‐ und Methodenentwicklung in
der Serie VDI‐Tagung Elektronik im Kraftfahrzeug, Baden‐
Baden. (2000)
8 von Albrichsfeld, C., Eckert, A.: EHB als technologischer Mo-
tor für die Weiterentwicklung der hydraulischen Bremse
HdT‐Tagung Fahrzeug‐ und Verkehrstechnik. (2003)
9 Rieth, P., Eckert, A., Drumm, S.: Global Chassis Control – Das
Chassis im Reglerverbund HdT‐Tagung Fahrwerktechnik,
Osnabrück, 28.5.–30.5.2001. (2001)
10 Feigel, H.-J.: Integriertes Bremssystem ohne funktionale
Kompromisse. ATZ – Automobiltechnische Zeitschrift 07-
08, 612–617 (2012)
11 Leiber, T.: Das ABS von morgen. Automobil-Elektronik, Aus-
gabe 10/2010, S. 38–39 (2010)
12 Vollmer, A.: Powertrain, Bremsen und Sensoren, Eine kleine
Vorschau auf Highlights der IAA, AUTOMOBIL ELEKTRONIK
04/2013, S. 40ff
579 31

Elektromechanische
Bremssysteme
Bernward Bayer, Axel Büse, Paul Linhoff, Bernd Piller, Peter Rieth,
Stefan Schmitt, Bernhard Schmittner, Jürgen Völkel

31.1 Das EHCB–System (Electric Hydraulic Combined


Brake, Hybrid-Bremssystem) – 580
31.2 Die Elektrische Parkbremse (EPB)  –  582
31.3 Fazit – 589
Literatur – 589

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_31, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
580 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme

31.1 Das EHCB–System (Electric 31.1.2 Systemarchitektur


21 Hydraulic Combined Brake, und Komponenten
Hybrid-Bremssystem)
22 Das EHCB-System [1,2] besteht aus einer hydrauli-
Das EHCB-System stellt eine Kombination dar aus schen Betätigungseinrichtung, die die Vorderachse
einer hydraulischen Hilfskraftbremse an der Vor- mit den bekannten hydraulischen Bremssätteln mit
23 derachse und einer elektromechanischen (Fremd- Druck versorgt. Die Ausführung kann sowohl ein-
kraft-)Bremse an der Hinterachse. Die Feststell- als auch zweikreisig sein. Die Hydraulik-Anlage ist
24 bremse ist in den Hinterachsaktoren voll integriert für die Regelung nur einer Achse angepasst. Die Er-
(elektrische Parkbremse, EPB). fassung des Fahrerwunsches geschieht mit Sensoren
am Pedal und in der zentralen HECU (Hy­draulic
25 Electronic Control Unit). Die beiden hinteren
31.1.1 Motivation elektromechanischen Aktoren (Bremssättel) kom-
26 plettieren die Bremsanlage (siehe . Abb. 31.1). Die
Der Einsatz einer elektromechanischen Bremse Sensorik für die Fahrdynamikregelung (Raddreh-
27 (EMB) an der Hinterachse eines Fahrzeugs erfor- zahlen, Lenkwinkel, Gierrate, Beschleunigungen)
dert aufgrund der notwendigen Spannkraft und der bleibt unverändert. Ein Taster zur Betätigung der
notwendigen Dynamik im Gegensatz zur Vorder- elektrischen Parkbremse vervollständigt die Anlage.
28 achse deutlich geringere elektrische Leistungen, die Die Elektronik des hydraulischen Fahrdy-
sich aus dem herkömmlichen 12/14-Volt-Bordnetz namikregelsystems übernimmt wie bisher die
29 darstellen lassen. Viele Vorteile eines voll-by-Wire Radschlupfregelung. Das Management der Nor-
Bremssystems wie die integrierte Parkbremse, eine malbremsfunktion (Grundbremsfunktion) erfolgt
30 variierbare Bremskraftverteilung vorne/hinten und
damit die Applikation per Software lassen sich be-
ebenfalls in dieser HECU. Auch die eventuell von
extern kommenden Fahrerassistenz-Bremsanfor-
reits mit dem EHCB-System darstellen. Für „Fremd- derungen wie z. B. bei der adaptiven Geschwindig-
31 anforderungen“ z. B. aus Fahrerassistenzsystemen keitsregelung werden in diesem Steuergerät erfasst.
bietet das System verbesserte Performance und Daneben wird hier in der HECU auch der Fahrer-
32 Komfort im Vergleich zu herkömmlichen Systemen. wunsch ermittelt und entsprechend der Fahr- und
Im Falle von Bremsrekuperation bei Elektrofahrzeu- Lastbedingungen die optimale Bremskraft als An-
gen durch einen Elektromotor bzw. Generator kann forderung an die Hinterachse über eine Busverbin-
33 das Bremsblending achs- oder radindividuell an der dung (z. B. CAN) geschickt. Aufgrund des hohen
Hinterachse gestaltet werden. Verfügbarkeitsanspruchs der Grundbremsfunktion
34 Dazu kommt eine Reihe von weiteren Vortei- sind verschiedene Redundanzen vorgesehen, bei-
len für den Fahrzeughersteller: Da nur die Vorder- spielsweise eine Ringstruktur für die sensible Sig-
35 achse hydraulisch betätigt wird, reduziert sich die
Baugröße der Betätigungseinrichtung (Unterdruck-
nalübertragung zu den Aktoren der Hinterachse.
In der Fahrzeugausrüstung ergibt dies zunächst
Bremskraftverstärker) und erlaubt einen deutlich keine wesentlichen Änderungen (siehe . Abb. 31.2).
36 größeren Auslegungsspielraum bezüglich optimier- Das grundsätzliche Packaging bleibt unverändert.
ter Pedalkennung. Durch die frei und unabhängig
37 zu der hydraulischen Vorderachsbremse betätigte
31.1.3 Regelfunktionen
elektromechanische Hinterachsbremse lässt sich
das Ansprechverhalten der Bremse insgesamt
38 besser und adaptierbar gestalten. Die „trockene“ Die heute bekannten Regelfunktionen bleiben voll-
Bremse an der Hinterachse lässt nicht nur hydrau- ständig erhalten [3]. Hinzu kommen Ergänzungen
39 lische Bremsleitungen und -schläuche nach hinten und neue Funktionen:
entfallen, sie erlaubt auch bei der Achsmontage die Die Grundbremse wird um eine situationsange-
40 Darstellung von komplett geprüften Modulen mit
einfachen Schnittstellen.
passte Bremskraftverteilung erweitert. Damit kann
die ideale Bremskraftverteilung realisiert werden,
31.1  •  Das EHCB–System (Electric Hydraulic Combined Brake, Hybrid-Bremssystem)
581 31
.. Abb. 31.1 EHCB-System, Elektromechanische Bremsen System CAN-Busse
Systemaufbau (Quelle: AUDI)

Bremskraftverstärker

Pedalwertgeber

EHCB-HECU Hydraulische Bremssättel

Lenkwinkelsensor Sensor-Cluster
Gierrate, Quer- &
Vakuum- Booster EPB-Taster Längsbeschleu-
THZ nigung

Raddrehzahl-
Sensor (4x) EMB-Aktuator (2x)
EPB integriert

Kommunikation (CAN)

Stromversorgung 12V
Hydr. Vorderachs-
Bremssattel (2x) Sensorsignalleitung
Akt. Design ESP-Aggregat
HCU, ECU Hydraulikleitung

.. Abb. 31.2  EHCB-System, Komponenten

und es können Beladungs- und Fahrzustände be- die Vorderachse zu einer Verbesserung des Pedal-
rücksichtigt werden. Fahrzeuge, die aus Komfort- komforts. Die Integration der Parkbremse erlaubt
gründen eine weiche Aufhängung zwischen Aufbau neue Regelkonzepte unter vollständiger Einbezie-
und Achse haben, neigen bei Bremsungen bis zum hung von Betriebs- und Parkbremsfunktionen mit
Stillstand zu unkomfortablen Aufbaulängsschwin- hochdynamischen, komfortablen Übergängen. Das
gungen. Diese lassen sich durch temporäre Re- resultierende Stillstandsmanagement (siehe ▶ Ab-
duzierung der Bremskraft an einer Achse nahezu schn.  31.2.6) erlaubt dem Fahrzeughersteller ein
vollständig vermeiden („Soft-Stop, Ruckverhinde- nahezu frei wählbares bzw. automatisiertes Bedien-
rer“). Dies lässt sich mit EHCB so darstellen, dass konzept. Der zunehmenden Forderung nach exter-
der Fahrer im Pedal nichts von dem Eingriff spürt. nen Ansteuerungen durch Fahrerassistenzsysteme
Radschlupfregelfunktionen werden teilweise durch kann das System vor allem im Bereich der Komfort-
die Möglichkeit optimiert, die Bremskraft an der bremsungen (bis ca. 0,3 g) entsprechen. Hier lässt
Hinterachse über die Fahrervorgabe anzuheben. sich allein durch die Ansteuerung der Hinterachse
Daneben führt die Reduktion der Hydraulik auf bereits eine optimal regelbare Bremsung darstellen.
582 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme

31.2 Die Elektrische Parkbremse


21 (EPB)

22 Um den steigenden Anforderungen an Betriebssi-


cherheit, Komfort für den Fahrer und Vernetzung
im Fahrzeug gerecht zu werden, wird zunehmend
23 die elektromechanische Parkbremse anstelle der
fahrerbetätigten mechanischen Feststellbremse ein-
24 gesetzt. Entsprechend der umfangreichen Anforde-
rungen und unterschiedlichen Fahrzeugkonzepte
sind zahlreiche Ausführungsvarianten entwickelt
25 worden.

26
31.2.1 Motivation
27 .. Abb. 31.3  EHCB-System, Aktuatorik
Wesentlich ist eine einfache, komfortable, geräusch-
Der Fahrer bemerkt dabei am Bremspedal keine arme und betriebssichere Parkbremsfunktionalität.
28 Implikationen. Die Verknüpfung mit weiteren Fahrzeugsystemen
Gerade bei Antriebsschlupfregelung an der und Sensorinformationen bietet dem Fahrer im
29 Hinterachse ist eine enorme Komfortsteigerung zu Sinne von Fahrerassistenz Komfort durch Unter-
erzielen, da die Regeleingriffe feinfühliger erfolgen stützung bei komplexen Fahrsituationen (z. B. An-
30 können und akustisch nicht mehr wahrnehmbar
sind.
fahren am Hang) und Automatikfunktionen (z. B.
automatisches Spannen beim Verlassen des Fahr-
Für Fahrzeuge mit (teil-)elektrischem Antrieb zeuges). Durch den Entfall des Handhebels oder
31 (Hybrid-, Elektrofahrzeuge), der auf die Hinter- Pedals – und Ersatz durch Taster – der fahrerbetä-
achse wirkt, eröffnet das EHCB-System optimale tigten mechanischen Systeme ergeben sich Gestal-
32 Möglichkeiten, rekuperativ durch entsprechendes tungsfreiräume im Fahrzeuginnenraum und eine
Blending – Wegnahme von Reibungsbremskraft zu- Verbesserung der passiven Sicherheit. Die Option
gunsten von generatorischer Bremsung – Energie in einer externen Ansteuerung ermöglicht ein siche-
33 die Traktionsbatterien zurückzuspeisen. res Feststellen des Fahrzeuges im Stillstand ohne
Eingriff durch den Fahrer – eine Grundlage für die
34 Sicherheitskonzepte vieler Assistenzsysteme.
31.1.4 Hinterachs-Aktor Unterstützt wird die Nutzung dieser Potentiale
35 Für den Hinterachseinsatz in einem EHCB-System
durch die zunehmende Reduzierung der System-
kosten aufgrund der Entwicklungsfortschritte bei
wird auf einen vollständig elektromechanischen der Integration des Steuergerätes und der Aktorik.
36 „trockenen“ Hinterachssattel ohne Bremsflüssig-
keit in Schwimmsattelbauart (Faustsattel) mit Elek-
31.2.2 System und Komponenten
37 tromotor, Reduktionsgetriebe und Spindel/Mutter-
Trieb zurückgegriffen [4] (siehe . Abb. 31.3 und
. Abb. 31.4). Hier steht neben der Integration der Elektromechanische Parkbremssysteme bestehen
38 Parkbremse eine kostenoptimierte Konstruktion aus Bedien- und Anzeigeeinrichtungen, Steuerge-
mit ausreichender Dynamik im Vordergrund. Die rät mit zugehöriger Software sowie der Aktorik.
39 elektrische Versorgung ist derzeit auf 12/14 Volt Bei den Bedien- und Anzeigeelementen haben sich
ausgelegt. zusätzlich zur gesetzlich vorgeschriebenen Mindest-
40 ausstattung fahrzeugherstellerspezifische Elemente
etabliert, die Komfortfunktionen zuschalten oder
31.2  •  Die Elektrische Parkbremse (EPB)
583 31
.. Abb. 31.4 EHCB-System,
integrierte
elektromechanischer Hinter- Regelelektronik
achsbremssattel

integrierte
elektrische
Parkbremse

Funktions- Fehler-
EPB Taster lampe lampe

Kombisattel-
Aktuator

optional:
Kupplungssignal

EPB ECU

CAN /
FlexRay
ESC ECU 12V
Kombisattel-
Aktuator

.. Abb. 31.5  Systemlayout mit Stand-Alone ECU

den Fahrer durch Ton- bzw. Textmeldungen über Ein erster Integrationsansatz war der Verbau der
die Systemfunktionen und -zustände informieren. Platine in das Gehäuse eines Zentralaktors (Kabel-
zieher, siehe . Abb. 31.6).
Die funktionale Verbindung mit dem ESC
31.2.3 Systemarchitektur (Electronic Stabilty Control, Fahrdynamikrege-
lung) und die gemeinsame Nutzung von Fahrzeug-
Das Steuergerät mit zugehöriger Software wurde zu- schnittstellen legt eine Integration des EPB Steu-
nächst als eigenständiges Stand-Alone Steuergerät ergerätes in das ESC Steuergerät der HECU nahe.
dargestellt (siehe . Abb. 31.5). Diese Ausführung ist 2012 erstmals in Serie gegan-
584 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme

Funktions- Fehler-
EPB Taster
21 lampe lampe

22
23 Kombisattel

24 optional: Bremsseil
Kupplungssignal

25
Zentral-
EPB ECU
Aktuator
26
CAN /
Bremsseil
FlexRay
27 ESC ECU 12V
Kombisattel

28
29
.. Abb. 31.6  Systemlayout mit Zentralaktuator

30 .. Abb. 31.7  Systemlayout mit Integrati-


on ECU in das ESC Steuergerät
31 EPB
Schalter Aktuator

32
33
12V ESC
BUS
34 CAN / FlexRay

35
36 Aktuator

37
gen und hat seither deutlich an Bedeutung gewon- mit ausreichend hohem Wandlungsgrad von Strom
38 nen (siehe . Abb. 31.7). Eine Herausforderung an zu Spannkraft.
das System stellt dabei die Länge der elektrischen Im ersten Schritt wurden die Elektronik-Hard-
39 Anschlussleitung zwischen Steuergerät und Akto- ware und die Software der ESC/EPB-Lieferanten in
ren dar. Speziell bei hohen Leitungstemperaturen Produktkombinationen des selben Herstellers inte-
40 und/oder hohen Übergangswiderständen ist der
übertragbare Strom limitiert und erfordert Aktoren
griert. Für die zweite Generation der Integration kam
die Forderung nach einer standardisierten Schnitt-
31.2  •  Die Elektrische Parkbremse (EPB)
585 31
.. Abb. 31.8 System-
layout mit offener
Schnittstelle

Bremsseil

ECU

Elektromotor

Kraft-/Wegsensorik
Untersetzungs-
getriebe

Keilwelle

.. Abb. 31.9  Zentralaktuator, hier als Einseilzieher ausgeführt

stelle auf (siehe . Abb. 31.8). Ein solcher Standard 31.2.4.1 Zentralaktor


erlaubt die Kombination von EPB und ESC von un- Zentralaktoren wurden zu Beginn der Marktein-
terschiedlichen Lieferanten – eine Voraussetzung für führung der elektromechanischen Parkbremse fa-
die Akzeptanz der Integration seitens der Fahrzeug- vorisiert. Ein Aktor, der an einem oder zwei Sei-
hersteller. Dieser Standard wurde von Mitgliedern len zieht, erlaubt eine Substitution der bisherigen
des VDA (Verband der Automobilindustrie) erarbei- Bremsbetätigungseinrichtung ohne Änderungen
tet und mit der Empfehlung 305–100 veröffentlicht. an der Radbremse – eine Erleichterung vor allem
In dieser Empfehlung sind sowohl die technischen beim Verbau in bereits bestehende Fahrzeugarchi-
Randbedingungen der Schnittstelle wie auch die Zu- tekturen. Die Kernelemente des Zentralaktors sind
ständigkeiten für eine Umsetzung beschrieben. Elektromotor, Getriebe, Spindel/Mutter mit Seil-
anschluss als Übertragungseinrichtung sowie eine
Kraft/Weg-Sensorik. Das Steuergerät ist in das Ge-
31.2.4 Aktorik häuse des Zentralaktors integriert (siehe . Abb. 31.6
und . Abb. 31.9). Dem Vorteil einer geschlossenen
Die Aktorik einer elektromechanischen Parkbremse Baueinheit mit Aktor und Steuergerät stehen hierbei
besteht grundsätzlich aus Elektromotor, Getriebe(n) die komplexen Anforderungen an das Gehäuse und
und Übertragungseinrichtung. Je nach Ausführung die Elektronik gegenüber.
können zusätzlich auch Sensoren verbaut sein.
586 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme

.. Abb. 31.10 Festsat-
21 tel (Betriebsbremse) plus
Schwimmsattel (Feststellbrem-
se) (Quelle: Brembo)
22
23
24
25
26
27
28
29 31.2.4.2 Radbremsaktor lation. Dieser Antrieb kann als Reibspindel oder
Eine Kombination von Radbremse und EPB Aktor Kugelgewindetrieb ausgeführt sein.
30 kann entweder als integrierte Ausführung – d. h.
der Aktor wird in die Radbremse verbaut – oder als
separate Einheit dargestellt werden. 31.2.5 Schnittstellen des Steuergeräts
31 Die separate Anordnung wird hauptsächlich bei
der Verwendung von Festsätteln an der Hinterachse Das elektronische Steuergerät benötigt mindestens
32 eingesetzt. Dabei wird entweder eine Ausführung folgende Informationen: die Raddrehzahlen, die
mit zusätzlichem kleinen, elektrisch betätigtem Fahrzeuggeschwindigkeit und Statusinformationen

33
34
Schwimmsattel verwendet (siehe . Abb. 31.10). Eine
Alternative besteht darin, in die Nabe der Brems-
scheibe eine DuoServo Trommelbremse als „Topf “
einzufügen und diese im Sinne einer Feststellbremse
-
wie z. B. Zündung. Es ist verbunden mittels:
Einer Schnittstelle zum Bedienelement. Hier
kommen sowohl analoge wie auch digitale
Varianten des Bedienelements mit einfacher

35
elektrisch zu aktivieren (siehe . Abb. 31.11).
Eine Integration des Aktors in die hydrauli-
sche Betriebsbremse wird sowohl bei Sätteln der
Schwimm- oder Faustsattelscheibenbremse wie
- oder mehrfacher Redundanz zum Einsatz.
Schnittstelle(n) zu Anzeigeeinrichtung(en).
Neben den gesetzlich vorgeschriebenen Warn-
lampen sind optional Tonsignale und Textbot­
36 auch bei Trommelbremsen (ähnlich . Abb. 31.11) schaften in fahrzeugspezifischer Ausprägung

37
eingesetzt. Die größte Verbreitung hat der sattel-
integrierte Aktor gefunden (Kombisattel, siehe
. Abb. 31.12). Dabei wird üblicherweise ein An-
triebsmodul mit einem Kunststoffgehäuse, in dem
- üblich.
Schnittstelle(n) zum Fahrzeug-Bus-System.
Diese Anbindung erfolgt über einen oder zwei
High-Speed-CAN und/oder über FlexRay. Die
38 Motor und Reduktionsgetriebe verbaut sind, am Konfiguration des Kommunikationsprotokolls

39
Sattelgehäuse angebracht. Hierbei kommen im
wesentlichen Stirnradgetriebe, Planetengetriebe,
- erfolgt wieder fahrzeugspezifisch.
Schnittstelle zu Fahrzeug-Diagnose-Systemen

40
Schneckengetriebe und Riementriebe zum Einsatz.
Im Sattelgehäuse befindet sich eine Spindel/Mutter-
Anordnung zur Umsetzung von Rotation in Trans- - (optional)
Schnittstelle zur Energieversorgung des Fahr-
zeuges
31.2  •  Die Elektrische Parkbremse (EPB)
587 31

Elektromotor

Untersetzungs-
getriebe

Schnecken-
getriebe

Gewinde-
spindel &
Federspeicher

DuoServo Aktuator

Bremsbacke

Schmutzblech

.. Abb. 31.11  Aktuator für DuoServo Topffeststellbremse

.. Abb. 31.12  Baugruppen des kom-


bisattelintegrierten Aktuators
Bremssattel

Elektromotor

Untersetzungs-
getriebe

-- Schnittstelle zum Elektromotor des Aktors


Je nach Technologie des Aktors und Funkti-
onsanforderungen mit Eingängen für Senso-
zur schnellen Verbreitung dieser Ausführungsart
gesorgt hat.

- rik
Optional mit Ein/Ausgängen für Schaltele-
mente zur Funktionskonfiguration
31.2.6 Funktionen

Als Grundfunktion stellt die EPB entsprechend


Bei einer Integration der EPB ECU in das ESC dem mechanischen Vorgänger einen Feststellme-
Steuergerät der HECU entfällt ein Großteil dieser chanismus aufgrund eines Fahrerwunsches zur
Schnittstellen, da die Informationen entweder beim Verfügung. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fah-
ESC bereits vorhanden sind oder steuergeräteintern rerassistenzfunktionen, die durch die elektrische
dargestellt werden. Die damit verbundene Bauteil- Ansteuerung einer EPB ermöglicht werden (Drive
reduzierung stellt in Verbindung mit dem Entfall off Assist, Drive Away Release, Stillstandsmanage-
eines Gehäuses eine Kostenreduzierung dar, die ment, Hill Holder, Rückrollverhinderer am Berg).
588 Kapitel 31 • Elektromechanische Bremssysteme

31.2.6.1 Sicheres Halten 31.2.6.3 Externe Ansteuerung


21 Die Parkbremsfunktionalität ist zunächst durch Eine externe Ansteuerung der Parkbremse ist durch
Schließen und Lösen der Parkbremse beschrieben. eine Software-Schnittstelle einfach darstellbar. Diese
22 Beim Schließen wird eine Spannkraft/Spreiz- Option wird von zahlreichen Assistenzsystemen ge-
kraft erzeugt, die den Stillstand des Fahrzeuges un- nutzt (z. B. Abstandsregelung mit Haltefunktion).
ter allen Betriebszuständen gewährleistet. Ein redu- Teilweise ist die Einbindung der Parkbremse zwin-
23 ziertes Spannkraft/Spreizkraftniveau kann optional gend erforderlich, um das Sicherheitskonzept der
für Komfortfunktionen eingestellt werden. Assistenzsysteme darzustellen.
24 Beim Lösen wird der Aktor soweit verfahren, Eine externe Ansteuerung der EPB wurde auch
dass die Spannkraft vollständig abgebaut wird und für den Entfall von Getriebesperre, Lenkradschloss
ein ausreichend großer Lüftweg eingestellt ist. und als Unterstützung der Wegfahrsperre unter-
25 Auch wenn diese Kernfunktion der Park- sucht, bisher aber noch nicht in Serie eingeführt.
bremse einfach beschreibbar ist – um deren
26 Wirkung unter allen Betriebszuständen sicher- 31.2.6.4 Notbremse
zustellen, bedarf es komplexer Funktionen unter Die gesetzlich vorgeschriebene Funktion, mit Hilfe
27 Einbeziehung von Fahrzeugsignalen. So werden der Feststellbremse (bzw. deren Betätigungseinrich-
automatisierte Nachspannvorgänge aus einer Weg- tung) das fahrende Fahrzeug bei Ausfall der Betriebs-
rollüberwachung des Fahrzeuges oder aus einem bremsbetätigung auch dynamisch zu verzögern, wird
28 abkühlungsbedingten Schrumpfen der Bauteile auch bei Verwendung einer elektromechanischen
zeitgesteuert ausgelöst. Parkbremse überwiegend durch eine Ansteuerung
29 des ESC mit aktivem hydraulischen Druckaufbau in
31.2.6.2 Komfortfunktionen der Betriebsbremse an allen vier Rädern und bei Be-
30 Die Möglichkeit, die Parkbremse fahrerunabhängig
anzusteuern, wird in Komfortfunktionen genutzt.
darf unterlagerter Schlupfregelung dargestellt, also
in der Regel nicht mittels der EPB. Im Vergleich zu
Diese Komfortfunktionen können in die Haupt- einer fahrerbetätigten mechanischen Parkbremse
31 gruppen Halte- und Anfahrunterstützung sowie wird damit eine erheblich höhere Bremsleistung bei
automatische Betätigung unterteilt werden. gewährleisteter Fahrzeugstabilität erzielt – ein deut-
32 Das komfortable Anfahren, sei es aus der ge- licher Zugewinn an Sicherheit. Allerdings bedingt
spannten Parkbremse nach dem Motorstart oder dies eine Ausstattung des Fahrzeuges mit einem ESC-
nach dem Halten am Hang, erlaubt dem Fahrer ei- System zur Darstellung des aktiven Druckaufbaus.
33 nen einfachen Umgang mit diesen Fahrsituationen. Eine weitere Form der Hilfsbremse kann durch
Je nach Fahrzeughersteller gibt es unterschiedliche eine reine Hinterachsbremsung über den EPB-Ak-
34 Ausprägungen dieser Funktionsgruppe mit teilweise tor dargestellt werden. Hier lässt sich ebenfalls eine
per Schalter aktivierbaren Haltefunktionen. Dabei Schlupfregelung realisieren. Diese Funktion wird
35 wird die Haltefunktion bei laufendem Motor zu-
nächst mit einem aktiven Druckaufbau (z. B. über
u. a. bei Fahrzeugen mit ABS (ohne ESC) eingesetzt,
sowie als zusätzliche Rückfallebene bei Fahrzeugen
das ESC-System) in der hydraulischen Betriebs- mit ESC.
36 bremse dargestellt und dann situationsabhängig au-
tomatisch auf die eigentliche EPB gewechselt. Beim 31.2.6.5 Systemüberwachung
37 Absterben des Verbrennungsmotors während des Überwachungsfunktionen laufen permanent im
Anfahrens am Hang wird die eigentliche EPB direkt Hintergrund und führen bei Detektion von Funk-
angesteuert. tionseinschränkungen oder Nichtverfügbarkeit zu
38 Automatikfunktionen werden eingesetzt, um definierten Maßnahmen wie Funktionsdegradatio-
das Fahrzeug in eine gesicherte Halteposition zu nen, Fehleranzeige und Einträge in den Fehlerspei-
39 bringen, z. B. nach Abschalten des Motors, bei Ein- cher. Die Diagnosefunktionen erlauben Einstellun-
legen der Parksperre von Automatikgetrieben, nach gen während der Fahrzeugproduktion, das Auslesen
40 Abziehen des Zündschlüssels und/oder nach Verlas-
sen des Fahrzeuges.
des Fehlerspeichers und das Flashen bei Steuergerä-
ten mit schreibfähigen EPROMs.
Literatur
589 31
31.2.6.6 Service- und terlagen 2. VDI-Fachkonferenz Innovative Bremstechnik,
Sonderfunktionen VDI Wissensforum GmbH, Stuttgart, 2012
[3] Schmittner, B.: Das Hybrid-Bremssystem – die Integration
Für Montage- oder Reparaturarbeiten wie z. B. von ESP, EMB und EPB. Veranstaltungsunterlagen Autotec
Bremsbelagwechsel ist ein Verfahren des Aktors in 2003, IIR Deutschland GmbH, Baden-Baden, 2003
die hintere Endposition möglich. Diese Funktion [4] Schmittner, B.: Das Hybrid-Bremssystem – die Marktein-
wird üblicherweise über ein Service- oder Diagno- führung der elektromechanischen Bremse EMB. Veranstal-
tungsunterlagen Bremstech Konferenz, TÜV Automotive
setool aktiviert.
GmbH/TÜV Akademie/TÜV Süd Gruppe, München, 2004
Bei einer Bremsenprüfung mittels eines Prüf-
standes steht die Vorderachse auf festem Boden,
während die Hinterachse von einer Rolle gedreht
wird. Da dies keinem üblichen Fahrzustand ent-
spricht, würde die EPB hier einen Fehler erkennen
(stehende Vorderräder, drehende Hinterräder). Um
dennoch eine Prüfung auf dem Rollenprüfstand zu
ermöglichen, ist hierfür eine spezielle Funktion
implementiert, die diesen Zustand automatisch er-
kennt und eine Ansteuerung der EPB zulässt.

31.3 Fazit

Nach langer Dominanz von Hydraulik und Mecha-


nik sowohl bei der Grundbremse als auch der Fest-
stellbremse existieren seit einigen Jahren elektrome-
chanische Lösungen für beide Funktionen. Unter
Beibehaltung der Reibungs-Radbremsen (Scheibe,
Trommel) sind nunmehr bei den Feststellbremsen
Ausführungen mit elektrischer Aktorik im Serie-
neinsatz (EPB).
Der Serieneinführung rein elektromechanischer
Grundbremssysteme (EMB) stehen derzeit noch
Kostengründe sowie die fehlende volle Redundanz
im Pkw-Bordnetz im Wege. Allerdings ist die mög-
liche serienreife Darstellung eines Hybrid-Brems-
systems (EHCB) weit fortgeschritten und könnte als
Einstieg – zusammen mit einer integrierten EPB-
Funktion – in gänzlich „trockene“, mechatronische
Bremssysteme dienen.

Literatur

[1] Strutz, T.; Münchhoff, J.; Rahn, S.; Schuster, A.: Brake by
Wire Anwendung am Beispiel des Audi R8 e-tron. Veran-
staltungsunterlagen EuroBrake 2013, Desden, 2013
[2] Stemmer, M.; Münchhoff, J.; Schuster, A.: Audi R8 e-tron:
Pilotumsetzung und Potentialstudie des innovativen elek-
tromechanischen Bremssystems EHCB. Veranstaltungsun-
591 32

Lenkstellsysteme
Gerd Reimann, Peter Brenner, Hendrik Büring

32.1 Allgemeine Anforderungen an Lenksysteme   –  592


32.2 Basislösungen der Lenkunterstützung  –  592
32.3 Lösungen zur Überlagerung von Momenten  –  599
32.4 Lösungen zur Überlagerung von Winkeln  –  603
32.5 Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung  –  611
32.6 Hinterachslenksysteme – 614
Literatur – 617

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_32, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
592 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

32.1 Allgemeine Anforderungen Die gesetzlichen Forderungen bezüglich der Lenk-


21 an Lenksysteme anlagen in Kraftfahrzeugen regeln vor allem die
höchstzulässige Betätigungskraft und Betätigungs-
22 Die Lenkung setzt die vom Fahrer am Lenkrad auf- dauer bei einem intakten und fehlerbehafteten
gebrachte Drehbewegung in eine Lenkwinkelände- Lenksystem und sind in der europäischen Richtlinie
rung der gelenkten Räder um. Gleichzeitig hat sie 70/311/EWG beschrieben.
23 die Aufgabe, den Fahrer anhand der haptischen
Rückmeldung über die aktuelle Fahrsituation und
24 die Fahrbahnbeschaffenheit zu informieren. Somit 32.2 Basislösungen
trägt das Lenksystem entscheidend zu einem kom- der Lenkunterstützung
fortablen und sicheren Führen des Fahrzeugs bei.
25
26 -
Die wesentlichen Merkmale dabei sind:
Die Lenkung soll eine dem Fahrzustand
angepasste, möglichst geringe Betätigungskraft
aufweisen. Insbesondere die Forderung nach
Die Anforderungen bezüglich Komfort und Sicher-
heit haben dazu geführt, dass mittlerweile in allen
Fahrzeugklassen Hilfskraftlenkanlagen zum Einsatz
kommen. Bis vor einigen Jahren waren dies vor al-
27 einer geringen Betätigungskraft bei stehendem lem hydraulische Systeme. Die Weiterentwicklung
und langsam rollendem Fahrzeug hat dazu ge- der Elektrik und Elektronik sowie zusätzliche For-
führt, dass mittlerweile nahezu alle Fahrzeuge derungen, wie zum Beispiel zur Energieeinsparung,
28 mit einer Hilfskraftlenkung ausgestattet sind. haben dazu geführt, dass mehr und mehr elektrisch
Gleichzeitig jedoch muss bei der Erfüllung unterstützte Lenksysteme, beginnend in Kleinwa-
29 dieser Forderung darauf geachtet werden, dass gen über Fahrzeuge der Kompakt- und Mittelklasse
die geringen Betätigungskräfte bei schneller bis hin zur Luxusklasse zum Einsatz kommen.
30 Fahrt nicht zu einem Verlust der haptischen
Rückmeldung von der Fahrbahn und damit zu
einem unsicheren und instabilen Geradeaus- 32.2.1 Die hydraulische

-
31 lauf führen. Hilfskraftlenkung (HPS)
Die Anzahl der Lenkradumdrehungen von
32 Lenkanschlag zu Lenkanschlag soll möglichst Die konventionelle hydraulisch unterstützte Hilfs-
gering sein, gleichzeitig ist es jedoch erforder- kraftlenkung besteht aus dem Lenkgetriebe mit in-
lich, bei höheren Fahrzeuggeschwindigkeiten tegriertem Lenkventil und hydraulischem Zylinder,
33 durch eine nicht zu direkte Lenkübersetzung einer Lenkhilfepumpe, einem Ölbehälter und den
die Geradeauslaufstabilität des Fahrzeugs zu diese Komponenten verbindenden Schlauch- und
34
35
- unterstützen.
Die Übertragung des Lenkradwinkels bis zum
Radeinschlagswinkel muss absolut präzise und
Rohrleitungen, vgl. . Abb. 32.1.
Die direkt vom Verbrennungsmotor angetriebene
Lenkhilfepumpe ist dabei so ausgelegt, dass diese bei

36 - spielfrei erfolgen.
Die Räder müssen, sobald das Fahrzeug fährt,
bei losgelassenem Lenkrad von selbst in die
Geradeauslaufstellung zurückstellen. Dies gilt
der Leerlaufdrehzahl des Verbrennungsmotors bereits
ausreichend Öldruck und Ölmenge bereitstellt. Da
diese Auslegung bei hohen Drehzahlen, wie z. B. beim
Fahren auf der Autobahn, zu Überschuss an Förder-
37 sowohl beim Ausfahren aus Kurven als auch bei menge führen würde, ist ein Ventil zur Ölstromre-
kleinsten Lenkbewegungen auf geraden Stre- gelung integriert. Zum Schutz vor Überlastung, bei-

38
39
- cken wie zum Beispiel bei einer Autobahnfahrt.
Rückmeldungen und Stöße bezüglich des
Fahrzustands und der Fahrbahnbeschaffenheit
müssen vom Fahrer bemerkt werden können,
spielsweise beim Lenken gegen den Endanschlag, ist
ein Druckbegrenzungsventil eingebaut.
Die Verbindung von der Lenkhilfepumpe zum
Lenkgetriebe erfolgt über Rohr- bzw. Schlauchlei-
jedoch sollen diese soweit gedämpft sein, dass tungen. Die eingesetzten Dehnschläuche sind in der
40 sich keine Überforderung und Übermüdung
des Fahrers einstellt.
Lage, von der Lenkhilfepumpe und von Fahrbahn-
stößen verursachte Druckspitzen abzufangen. Wei-
32.2  •  Basislösungen der Lenkunterstützung
593 32
.. Abb. 32.1  Systemkonzept einer hydraulischen Ölbehälter
Zahnstangenservolenkung
Lenkhilfepumpe
Lenkventil
Arbeitszylinder

Servokolben Lenkritzel Zahnstange

terhin stellen sie Regelstabilität des hydraulischen Durch entsprechende Auslegung und Ausbildung
Kreises sicher. der Phasen an den Steuerkanten des Ventils kann
Wurden früher bei den hydraulischen Pkw-Lenk- die Beziehung von Betätigungsmoment am Lenk-
systemen vor allem sogenannte Kugelumlauflenkun- ventil und Kraftverlauf am Zylinder zugeordnet
gen eingesetzt, so haben die Forderungen nach Kom- werden. Durch diese Abstimmung lässt sich die
paktheit, geringem Gewicht und einfacher Bauform gewünschte, individuelle Lenkcharakteristik des
dazu geführt, dass in nahezu allen Pkw Zahnstangen- jeweiligen Fahrzeugs erreichen.
lenkgetriebe eingesetzt werden. Die Drehbewegung
des Fahrers wird dabei über ein Lenkritzel in eine
Schubbewegung der Zahnstange übersetzt. Die Ver- 32.2.2 Die parametrierbare
bindung zu den Rädern wird dann mittels Spurstan- hydraulische Hilfskraftlenkung
gen und entsprechenden Gelenken hergestellt.
Zur Steuerung und Umsetzung der hydrauli- Steigende Anforderungen an Komfort und Sicherheit
schen Hilfskraft sind im Lenkgetriebe ein Steuer- des Fahrzeugs haben dazu geführt, dass Lenkventile
ventil und ein Arbeitszylinder integriert. Das Steu- mit elektrisch modulierbarer Unterstützungscharak-
erventil steuert einen der Drehkraft des Fahrers teristik entwickelt wurden. Ein elektrohydraulischer
entsprechenden Öldruck in den Lenkzylindern. Die Wandler bestimmt dabei die hydraulische Rückwir-
Verdrehung eines Drehstabs, führt dabei zu einem kung und somit die Betätigungskraft am Lenkrad.
kraftproportionalen mechanischen Steuerweg im Die elektrische Ansteuerung des Wandlers wird von
Lenkventil. Durch den Steuerweg verschieben sich einem zugeordneten elektrischen Steuergerät über-
die als Phasen und Fassetten ausgebildeten Steuer- nommen. Haupteingangssignal für das Steuergerät
kanten und bilden so den Öffnungsquerschnitt für ist die Fahrzeuggeschwindigkeit. Der elektrische
den Ölstrom. Die Lenkventile sind dabei nach dem Strom im Wandler wird dabei so gesteuert, dass mit
Prinzip der „offenen Mitte“ gebaut, d. h. bei nicht zunehmender Fahrzeuggeschwindigkeit die Lenk-
betätigtem Steuerventil fließt das von der Pumpe unterstützung abnimmt. Dadurch wird ein hoher
kommende Öl drucklos zum Ölbehälter zurück. Lenkkomfort durch geringe Betätigungskräfte bei
Der doppelt wirkende Lenkzylinder auf der niedrigen Fahrzeuggeschwindigkeiten und eine
Zahnstange wandelt den eingesteuerten Öldruck hohe Lenkpräzision bei hohen Geschwindigkeiten
in eine entsprechende Hilfskraft um. Durch das erreicht (. Abb. 32.2).
Steuerventil sind die Räume des Lenkzylinders in
der Neutralstellung so geschaltet, dass eine unge-
hinderte Schubbewegung der Zahnstange erfolgen 32.2.3 Die elektrohydraulische
kann. Durch Einleiten eines Drehmoments am Hilfskraftlenkung (EHPS)
Lenkventil wird der Ölstrom der Pumpe in den ent-
sprechenden linken oder rechten Zylinderraum um- Als Alternative zur hydraulischen Hilfskraftlenkung
geleitet und so die gewünschte Hilfskraft erzeugt. mit fahrzeugmotorgetriebener Hydraulikpumpe
594 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

Druckschlauch
21 zur Strom-
versorgung

22 Sensorkabel Rücklauf-
schlauch
+
-

Regelsystem: Powerpack
23 z.B. Signal
Lenkgeschw
incl. Steuergerät

24 Kompakt-Servolenkung

25 .. Abb. 32.2  Servotronic® - Ventilkennlinie .. Abb. 32.3  Systemkonzept elektrohydraulische Servolen-


kung

kann ein System mit elektromotorisch angetriebe-


26 ner Lenkhilfepumpe eingesetzt werden. Ein wichti- Berücksichtigung weiterer Informationen aus dem
ger Vorteil dieses Systems ist die, bei entsprechender Fahrzeug, wie zum Beispiel die Fahrzeuggeschwin-
27 Ansteuerung des Elektromotors, erreichbare Ener- digkeit, ein entsprechendes Sollunterstützungsmo-
gieeinsparung. Die benötigte elektrische Energie ment für einen Elektromotor. Dieser wird von einer
wird aus dem elektrischen Fahrzeugbordnetz ent- entsprechenden Leistungsendstufe angesteuert und
28 nommen, die Ansteuerung des Elektromotors er- leitet sein Abgabemoment über eine oder mehrere
folgt über ein elektrisches Steuergerät (. Abb. 32.3). Getriebestufen an die Lenkung weiter. Die Art und
29 Die hydraulische Pumpe ist in den gängigen Sys- Auslegung der Getriebestufen richtet sich dabei
temen als Zahnradpumpe oder Rollenzellenpumpe hauptsächlich nach den Anforderungen des Lenk-
30 ausgeführt. Die in den Serienlösungen eingesetzten
Elektromotoren sind als bürstenbehaftete oder bürs-
systems bezüglich des Einbauraus und der zu errei-
chenden maximalen Lenkunterstützung.
tenlose Gleichstrommotoren ausgeführt. Der benö-
31 tigte Lenkbedarf wird über Sensoren im Lenksys- 32.2.4.1 EPS Column Type
tem und aus dem Fahrzeug ermittelt. In erster Linie Zumeist bei Fahrzeugen mit geringeren An-
32 sind dies die Lenk- und Fahrzeuggeschwindigkeit, forderungen bezüglich Lenkunterstützung und
welche vom elektrischen Steuergerät ausgewertet, maximaler Lenkgeschwindigkeit wird dabei die
daraus die Solldrehzahl für den Elektromotor be- Servokraft auf die Lenksäule eingeleitet. Die Ser-
33 rechnet und über die integrierte Leistungsendstufe voeinheit, bestehend aus dem Drehmomentsensor,
eingeregelt werden. Elektromotor und Untersetzungsgetriebe, ist im
34 Fahrzeuginnenraum an der Lenksäule angeordnet.
Das elektrische Steuergerät kann dabei separat als
32.2.4 Die elektromechanische
35 Hilfskraftlenkung (EPS)
Wegbaulösung oder als Anbaulösung am Motor
bzw. am Sensor ausgeführt sein. Das Unterset-
zungsgetriebe ist zumeist als Schneckengetriebe
36 Zur Steigerung des Lenkkomforts, zur weiteren ausgebildet. Bei der Auslegung dieser Getriebe-
Reduzierung des Energieverbrauchs sowie zur Ver- stufe ist zu berücksichtigen, dass ein ausreichen-
37 einfachung des Installationsaufwands im Fahrzeug der Rückdrehwirkungsgrad dieser Einheit erreicht
wurde die elektromechanische Hilfskraftlenkung wird, um die erforderliche haptische Rückmeldung
entwickelt. Ursprünglich nur eingesetzt in klei- des Lenksystems zum Fahrer sicherzustellen oder
38 nen Fahrzeugen findet sie mehr und mehr Ver- auch ein selbständiges Rückdrehen des Lenksys-
breitung in allen Fahrzeugen bis zur Luxusklasse. tems bei ausgeschalteter Lenkunterstützung zu
39 Das grundsätzliche Funktionsprinzip ist dabei im- gewährleisten. Die kraftschlüssige Verbindung zu
mer identisch: Ein Drehmomentsensor erfasst die den gelenkten Rädern erfolgt über die Lenkzwi-
40 Handkraft des Fahrers, ein elektrisches Steuergerät
wertet diese Signale aus und berechnet daraus, unter
schenwelle und ein mechanisches Zahnstangen-
lenkgetriebe (. Abb. 32.4).
32.2  •  Basislösungen der Lenkunterstützung
595 32
.. Abb. 32.4  EPS Column Type

32.2.4.2 EPS Pinion Type jedoch an einer zweiten, separaten Verzahnung auf
Eine ähnliche Lösung ist die lenkritzelangetriebene der Zahnstange angeordnet. Die räumliche Tren-
Elektrolenkung. Die Servoeinheit, bestehend aus nung vom Lenkritzel erlaubt dabei eine höhere Fle-
Drehmomentsensor, Elektromotor, Getriebestufe xibilität bei der Integration im Fahrzeug. Durch die
und dem eventuell integrierten oder angebauten Unabhängigkeit von Servoritzel zu Lenkritzel lassen
elektrischen Steuergerät ist dabei am Lenkgetriebe im sich die unterschiedlichen Zielsetzungen dieser bei-
Bereich des Lenkritzels angeordnet. Die vom Elekt- den Ritzelstufen berücksichtigen und somit bezüg-
romotor über das Schneckengetriebe bereitgestellte lich Komfort, Leistung und Lebensdauer optimieren.
Unterstützungskraft wird direkt auf das Lenkritzel Der Drehmomentsensor zur Erfassung des vom Fah-
eingeleitet. Die sich ergebenden Vorteile dieser Lö- rer eingeleiteten Lenkmoments ist, wie auch bei den
sung sind eine kompakte Bauform und gegenüber folgenden Varianten, am lenkspindelseitigen Ein-
der Lenksäulenlösung steifere mechanische Anbin- gang des Lenkgetriebes angeordnet (. Abb. 32.6).
dung der Lenkunterstützung an die Zahnstange.
Dies führt, außer zu einer möglichen höheren Un- 32.2.4.4 EPS APA Type
terstützungsleistung, zu einer Verbesserung der Eine weitere Möglichkeit, die Drehbewegung des
Lenkpräzision. Nachteile ergeben sich durch die sich Servomotors in eine Schubbewegung der Zahn-
verschärfenden Anforderungen bezüglich der Um- stange umzusetzen ist der Einsatz eines Kugelgewin-
weltbedingungen, da die Servoeinheit im Motorraum detriebes auf der Zahnstange. Diese Getriebeform
installiert ist und somit höheren Umgebungstempe- vereint einen sehr guten mechanischen Wirkungs-
raturen und Spritzwasser ausgesetzt ist (. Abb. 32.5). grad, hohe Belastbarkeit und die zum präzisen Len-
ken erforderliche Spielfreiheit. Die Übertragung der
32.2.4.3 EPS Dual Pinion Type Kräfte erfolgt bei dieser Getriebeform von der Ku-
Zur weiteren Steigerung der Unterstützungsleistung gelmutter über eine umlaufende Kette aus gehärte-
und Lenkpräzision werden Lösungen eingesetzt, ten Stahlkugeln zur Zahnstange, welche mit einem
welche die Servokraft direkt auf die Zahnstange oder mehreren Kugelgewindegängen versehen ist.
übertragen. Bei der Doppelritzellösung wirkt dabei Der Antrieb der Kugelmutter erfolgt von einem
die Kraft des Servomotors wie bei der Ritzellösung parallel zur Zahnstange angeordneten Elektromo-
über ein Schneckengetriebe auf ein Ritzel. Dieses ist tor, welcher über eine Zahnriemengetriebestufe mit
596 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

.. Abb. 32.5  EPS Pinion Type


21
22
23
24
25
26
27
28
29 .. Abb. 32.6  EPS Dual Pinion Type

30
31
32
33
34
35
36
37
der Kugelmutter verbunden ist. Auch diese Getrie- und die zur Verfügung stehende Motorleistung in
38 bestufe arbeitet spielfrei und mit einem sehr hohen Richtung hohe und höchste Zahnstangenkräfte
mechanischen Wirkungsgrad. Über die entspre- oder hin zu hoher Lenkdynamik angepasst wer-
39 chende Auslegung und Wahl der Übersetzungsver- den. Mit dieser konstruktiven Lösung lassen sich
hältnisse kann mit einem solchen Lenkgetriebe, wie Lenkgetriebe darstellen, welche in Fahrzeugen bis
40 auch schon bei der Doppelritzellösung, die Perfor-
mance der Lenkung an das Zielfahrzeug angepasst
zur Luxusklasse und großen SUVs einsetzbar sind
(. Abb. 32.7).
32.2  •  Basislösungen der Lenkunterstützung
597 32
.. Abb. 32.7  EPS APA Type

.. Abb. 32.8  EPS Rack Type

32.2.4.5 EPS Rack Type Anbindung von Motor, Kugelumlaufgetriebe und


Die Zahnstangenlösung ist eine weitere Möglichkeit, Zahnstange lässt sich eine hohe Lenkpräzision und
die Drehbewegung des Elektromotors auf die Zahn- Dynamik erreichen. Die gegenüber der achspar-
stange zu übertragen. Die Kugelmutter des Kugel- allelen Lösung fehlende Getriebestufe führt dazu,
gewindetriebes wird dabei direkt vom Elektromotor dass der Elektromotor ein vergleichsweise hohes
ohne eine zusätzliche Getriebestufe angetrieben. Drehmoment bei niedrigeren Drehzahlen aufweisen
Der Elektromotor muss dazu mit einer Hohlwelle muss. Ebenfalls erfordert die direkte Anbindung des
aufgebaut werden, durch welche die Zahnstange Motors eine besonders hohe Qualität der Lenkungs-
geführt wird. Mit dieser kompakten und direkten und Motorreglung (. Abb. 32.8).
598 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

21 Ausgangswelle

22 Wickelfeder
für el. Verbindung
23
24 Eingangswelle

25 +/-2 Umdrehungen
Lenkrad

26
27
Magnetrad

28 .. Abb. 32.9 Drehmomentsensor

29
32.2.5 Elektrische Komponenten 32.2.5.2 Elektromotor
30 Die generellen Anforderungen an die elektrischen
Als Elektromotor werden bei den elektrischen
Lenksystemen sowohl bürstenbehaftete Gleich-
und elektronischen Komponenten der vorgestell- strommotoren als auch bürstenlose Gleichstrom-
31 ten EPS-Lösungen sind im Wesentlichen identisch. und Asynchronmotoren eingesetzt. Aufgrund ihrer
Sie unterscheiden sich nur durch die spezifischen Robustheit und der möglichen höheren Ausgangs-
32 Anforderungen bezüglich der Umweltbedingungen leistung kommen zunehmend die bürstenlosen
und der zu erzielenden Performance. Motorvarianten zum Einsatz. Insbesondere Len-
kleistungen für Fahrzeuge der oberen Mittel- und
33 32.2.5.1 Drehmomentsensor Luxusklasse erfordern den Einsatz von hocheffek-
Der Drehmomentsensor ist als berührungslos tiven, bürstenlosen Gleichstrommotoren. Diese
34 messender Winkelsensor ausgeführt, welcher die Motorvarianten erfordern einen Motorlage- oder
Winkelverdrehung eines Drehstabes erfasst und in Motordrehzahlsensor, welcher vom elektrischen
35 elektrische Signale umwandelt. Der Messbereich
eines Drehmomentsensors für eine elektrische
Steuergerät ausgewertet und für die Kommutie-
rung und Regelung des Motors verwendet wird
Servolenkung liegt üblicherweise im Bereich von (. Abb. 32.10).
36 ± 8 bis ± 10 Nm. Bei höheren Handmomenten
sorgt eine mechanische Winkelbegrenzung am 32.2.5.3 Steuergerät
37 Drehstab dafür, dass dieser nicht überlastet wird. Die zugehörigen elektrischen Steuergeräte beinhal-
Das elektrische Steuergerät berechnet aus den Sen- ten einen oder mehrere Mikroprozessoren, welche
sorsignalen den aktuellen Drehmomentwert. Die die Sensorsignale von den Lenkungskomponenten
38 hohen Sicherheitsanforderungen an elektrische und vom Fahrzeug auswerten, das Sollunterstüt-
Lenksysteme erfordern es, dass alle auftretenden zungsmoment berechnen und den Motor über eine
39 Fehler des Sensors erkannt werden können und zu entsprechende Motorregelung und die im Steuerge-
einem sicheren Zustand des Lenksystems führen rät integrierte Leistungsendstufe mit MOS-Feldef-
40 (. Abb. 32.9). fekttransistoren ansteuern. Im Steuergerät integriert
sind dabei Sensoren zur Erfassung des Motorstroms
32.3  •  Lösungen zur Überlagerung von Momenten
599 32
32.3 Lösungen zur Überlagerung
von Momenten

Sollen haptische Rückmeldungen über das Lenkrad


zum Fahrer oder auch autonome Assistenzfunktio-
nen realisiert werden, ist bei den Lenksystemen eine
unabhängig vom Fahrer aktivierbare Lenkmoment-
beeinflussung erforderlich. Bei den hydraulischen
Lenksystemen ist das ohne zusätzliche Aktorik nicht
möglich, sieht man von der parametrierbaren, hy-
.. Abb. 32.10 Elektromotor draulischen Lenkung ab. Da bei diesem System je-
doch grundsätzlich bereits ein Lenkmomentaufbau
und der Steuergerätetemperatur. Zur Erhöhung des vom Fahrer erforderlich ist, um die Unterstützung
Lenkkomforts werden vom Steuergerät weitere zu variieren, kann dies nicht als vollwertige Lösung
Fahrzeugsignale, insbesondere die Fahrzeugge- zur autarken Überlagerung von Assistenzmomen-
schwindigkeit und der Lenkradwinkel ausgewertet. ten betrachtet werden. Soll mit einem hydraulischen
Mit den Informationen der Fahrzeuggeschwindig- Lenksystem trotzdem eine Lenkmomentassistenz
keit lässt sich eine geschwindigkeitsabhängige Lenk- umgesetzt werden, so ist dafür eine zusätzliche Ak-
unterstützung realisieren, welche bei stehendem torik erforderlich.
und langsam fahrendem Fahrzeug niedrige Betäti-
gungskräfte ermöglicht. Bei höher werdenden Fahr-
zeuggeschwindigkeiten wird die Lenkunterstützung 32.3.1 Zusatzaktor für hydraulische
kontinuierlich zurückgenommen und verbessert so Lenksysteme
die haptische Rückmeldung der Lenkung und die
Richtungsstabilität. Mit den Signalen des Lenk- Eine naheliegende Lösung für einen Zusatzaktor
winkelsensors lässt sich der Rücklauf der Lenkung zur Realisierung von Lenkassistenzfunktionen mit
vor allem bei kleinen und mittleren Fahrzeugge- einer hydraulischen oder elektrohydraulischen Ba-
schwindigkeiten einstellen und verbessern und so sislenkung ist ein Lenkaktor, bei welchem über eine
an das jeweilige Zielfahrzeug anpassen. Ein mehr- Getriebestufe und einen Elektromotor ein zusätzli-
stufiges Sicherheitskonzept sorgt dafür, dass im Fall ches, vom Fahrer unabhängig steuerbares Moment
von Sonderzuständen oder Fehlern eine möglichst auf die Lenksäule aufgebracht werden kann. Der
schrittweise Reduzierung der Lenkunterstützung Aufbau eines solchen Aktors unterscheidet sich da-
einsetzt. Bei einem kompletten Ausfall der Lenk- bei nicht grundsätzlich von einer Lenksäulen-EPS
unterstützung ist über die elektrische und mecha- (. Abb. 32.11).
nische Auslegung sichergestellt, dass ein manuelles Da jedoch nur ein Zusatzmoment und nicht wie
Lenken des Fahrzeugs weiterhin möglich ist. Über bei der EPS das gesamte Lenkmoment von diesem
die Diagnoseschnittstelle des Steuergerätes lässt Aktor aufgebracht werden muss, fällt die Dimensi-
sich der Fehlerspeicher des Steuergerätes auslesen onierung der mechanischen und elektrischen Kom-
und ermöglicht so eine effektive Diagnose im Feh- ponenten deutlich keiner aus. Soll ein hydraulisches
lerfall. Die Ansteuerung des Elektromotors durch Lenksystem mit einem solchen Aktor angesteuert
die Software im Steuergerät ermöglicht eine sehr werden, ist ein wirksames Drehmoment von 8–10
feinfühlige und individuelle Anpassung der Lenk- Nm bezogen auf die Lenksäule ausreichend. Auf-
unterstützung an die Zielfahrzeuge. Durch die Aus- grund der dadurch auch geringeren Ansprüche an
wertung von weiteren Sensoren aus dem Fahrzeug die Belastbarkeit der Getriebestufe gegenüber einer
oder Bereitstellung von entsprechenden Kommu- Lenksäulen-EPS können für die Getriebestufe zwi-
nikationsschnittstellen durch das Steuergerät lassen schen Motor und Lenksäule alternative und kon-
sich mit den EPS-Lenksystemen leitungsfähige und struktive Lösungen eingesetzt werden. Zu beach-
innovative Fahrerassistenzfunktionen realisieren. ten ist jedoch nach wie vor, dass keine störenden
600 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

21
22
23
24
25
26
27
28
29
.. Abb. 32.11 Zusatzaktor
30
Drehmomentunstetigkeiten vom Zusatzaktor in kann, die ein sicheres Führen des Fahrzeugs ver-
31 den Lenkstrang eingekoppelt werden, die den Fah- hindern.
rer stören. Sollen über diesen Zusatzaktor Funkti-
32 onen realisiert werden, die das Lenkmoment vom
32.3.2 Elektrische Lenksysteme
Fahrer erfordern, muss entweder in diesem Aktor
selbst oder an einer anderen geeigneten Position im
33 Lenkstrang zwischen Fahrer und Aktor ein Dreh- Die elektrische Servolenkung bietet, da die Ansteue-
momentsensor installiert werden. rung des Elektromotors über die Software des Steu-
34 Da es sich hier um ein reines Zusatzsystem zu ergerätes erfolgt, ideale Voraussetzungen als Aktor
einer bereits installierten Hilfskraftlenkung han- für lenkungsbasierte Assistenzfunktionen. Ebenso
35 delt, liegt der Fokus der Sicherheitsbetrachtungen
auf diesem Zusatzaktor und der damit in Verbin-
ist der zur Erfassung des Fahrerlenkmoments in der
EPS implementierte Drehmomentsensor für die zu
dung stehenden Steuergeräten. Sieht man von den realisierenden Assistenzfunktionen nutzbar. Der
36 Degradationsstufen bei erkannten Fehlern in den bereits über eine entsprechende Getriebestufe an
Assistenzfunktionen ab, muss der Aktor bei ei- den Lenkstrang fest gekoppelte Elektromotor kann
37 nem erkannten Fehler im Motor oder der damit in außer zur Bereitstellung der Servokraft gleichzeitig
Verbindung stehenden Sensorik in einen Zustand dazu benutzt werden, das von den übergeordneten
gebracht werden, der störende Zusatzmomente Systemen angeforderte Assistenzmoment aufzu-
38 weitgehend reduziert und gefährliche Momente bringen. Da das Assistenzmoment von der Größe
ausschließt. Dies bedeutet, dass der Motor entwe- her um ein vielfaches kleiner als das Servomoment
39 der mechanisch über eine Kupplung vom Lenk- ausfällt, muss in der Regel der Elektromotor der
strang abgekoppelt werden muss oder aber die EPS nicht neu ausgelegt und zur Bereitstellung des
40 Abschaltung des Motors so zu erfolgen hat, dass er
in keinem Fall störende Bremsmomente aufbauen
Zusatzmoments in der Abgabeleistung angehoben
werden (. Abb. 32.12).
32.3  •  Lösungen zur Überlagerung von Momenten
601 32

Eingänge Steuerlogik Sollwert

Lenkradwinkel

Lenk-
extern

Lenkwinkel- unterstützung
geschwindigkeit Motor-
sollmoment
Fahrzeug- Sollmoment-
geschwindigkeit koordinator
Kompensations- Nm
funktionen

Lenkrad-
intern

moment
Aktiver
Rücklauf
Motordrehzahl

.. Abb. 32.12  Kontrollstruktur der EPS

32.3.2.1 Momentüberlagerung und durch einen einzelnen Steuerbefehl über den


Bereits bei einer elektrischen Servolenkung ohne Datenbus auszulösen. Dies kann zum Beispiel bei
angeschlossenes Assistenzsystem wird das Mo- Funktionen sinnvoll sein, welche ein oszillierendes
tormoment aus verschiedenen Komponenten Zusatzmoment auslösen. Auf diese Weise ist es mög-
zusammengesetzt und als Sollmoment dem Mo- lich, eine Fahrstreifenverlassenswarnung über nur ei-
torregelalgorithmus vorgegeben. Die wichtigsten nen Steuerbefehl mit darin enthaltener Information
Einzelkomponenten sind dabei die über der Fahr- über die einzustellende Amplitude und Frequenz
zeuggeschwindigkeit variierende Lenkunterstüt- einer Lenkradvibration auszulösen (. Abb. 32.13).
zung, der aktive Lenkungsrücklauf in die Geradeaus-
stellung der Lenkung sowie aktive Dämpfungs- und 32.3.2.2 Winkelüberlagerung
Reibungskompensationsfunktionen. Diese verschie- Bei Assistenzfunktionen, wie beispielsweise ein au-
denen Einzelsollmomente für den Elektromotor tomatisches Einfahren in eine Parklücke, ist eine
werden von einem Momentenkoordinator gesam- Winkelvorgabe vom übergeordneten Steuergerät
melt und zu einem Gesamtsollmoment addiert, ge- erforderlich. Da es sich jedoch beim Regelungs-
gebenenfalls unter Berücksichtigung von Prioritäten konzept der elektrischen Servolenkung primär um
der Einzelfunktionen. Das vom externen Assistenz- eine Momentenregelung handelt, ist zum autono-
system angeforderte Zusatzmoment wird somit über men Einhalten einer Sollfahrspur ein Regelalgo-
einen weiteren Eingang in den Momentenkoordina- rithmus erforderlich, welcher aus dem Soll- und
tor realisiert und somit als gleichberechtigtes oder Istlenkwinkel der Lenkung eine Stellgröße in Form
entsprechend priorisierbares Einzelsollmoment von einer Momentenanforderung für den Elektromotor
der elektrischen Servolenkung betrachtet. berechnet und vorgibt. Dieser Winkelregler wird
Aufgrund der eventuell begrenzten Möglichkei- zweckmäßigerweise in die Software der Lenkung
ten bei der Datenübertragung auf dem Bussystem integriert, da der aktuell im Fahrzeug zur Daten-
zwischen dem Assistenzsteuergerät und der elek- übertragung hauptsächlich eingesetzte CAN-Bus
trischen Servolenkung ist es zusätzlich zur direkten keine zeitsynchrone Übertragung erlaubt. Mit den
Vorgabe und Übertragung des Assistenzmoments damit unvermeidbaren Laufzeitschwankungen lässt
möglich, vordefinierte Überlagerungsfunktionen in sich die erforderliche Güte der Winkelregelung
der Software des Lenkungssteuergerätes abzubilden nicht darstellen (. Abb. 32.14).
602 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

Assistenzsysteme Elektrisches Lenksystem


21
Sollwertvorgabe
22 und Aktivierung Amplitude
Frequenz
Freigabe

23 Generator für
Lenkradvibration Teilsollwert
Begrenzung
24 Status-
rückmeldung

25
Sollwert- Assistenzmoment-
26 anforderung vorgabe Teilsollwert
Begrenzung

27 Status-
rückmeldung

28 Kommunikations-
interface

.. Abb. 32.13  Vordefinierte Überlagerungsfunktionen ausgelagert ins Lenkungssteuergerät


29
30 Standard-
Lenkfunktionen
31
Lenkunterstützung Motor-
32 Kompensationsfunktionen sollmoment
Aktiver Rücklauf
33 Sollmoment-
koordinator Nm

34 Momentenschnittstelle:
Offset Lenkradmoment
Assistenz-
35 systeme
Winkelschnittstelle mit
Winkelregler
36
37 Kommunikations-
interface

38 .. Abb. 32.14  Überlagerung von Assistenz- und Standard-Lenkfunktionen

39
40
32.4  •  Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
603 32
.. Abb. 32.15  Prinzip der Überlage- Lenkradwinkel
rungslenkung [1]

AFS-Aktuator
Überlagerungswinkel

resultierender Vorderradwinkel

Bei einer entsprechenden Winkelanforderung Lenkrad und Vorderachse auftrennen zu müssen, s.


an die Lenkung werden dann die eigentlichen Un- . Abb. 32.16 [1]. Der zusätzliche Freiheitsgrad er-
terstützungsmomentfunktionen deaktiviert und der möglicht die kontinuierliche und situationsabhän-
Winkelregelkreis übernimmt die Sollwertvorgabe gige Adaption der Lenkeigenschaften. Komfort, Len-
für den Elektromotor. Insbesondere beim automa- kaufwand und Lenkdynamik werden dadurch aktiv
tischen Einfahren in eine Parklücke kann über die angepasst und optimiert. Darüber hinaus sind auch
Auswertung des Drehmomentsensors der Lenkung Lenkeingriffe zur Verbesserung der Fahrzeugstabi-
detektiert werden, ob der Fahrer in den Lenkvorgang lisierung möglich. Diese sind denen der vorhande-
eingreift und einen Abbruch der Funktion wünscht. nen Systeme überlegen, da das Ansprechverhalten
um eine Größenordnung schneller ausfällt und die
Eingriffe daher kaum wahrnehmbar erfolgen. Die
32.4 Lösungen zur Überlagerung Systemgrenzen, der Funktionsumfang und die er-
von Winkeln forderliche Systemschnittstelle sollten so definiert
sein, dass das System vom übergeordneten Konzept
32.4.1 Einleitung des Fahrwerksystems unabhängig ist (. Abb. 32.15).

Konventionelle Lenkungen arbeiten stets mit dem


gleichen Übersetzungsverhältnis, zum Beispiel 1:18. 32.4.2 Funktionalität
Dies ist ein Kompromiss, damit einerseits kleine
Lenkkorrekturen auf der Autobahn die Stabilität Das System Aktivlenkung weist eine komplexe
nicht zu sehr beeinträchtigen und andererseits der Funktionalität auf, die aus kinematischen und Si-
Fahrer in der Stadt oder beim Einparken nicht zu cherheitsfunktionen ([3, 4]) besteht.
sehr am Lenkrad drehen muss. Die Überlagerungs- Ausgehend von den Signalen der Fahrzeugs-
lenkung oder Aktivlenkung hingegen variiert das ensoren (Lenkradwinkel, Geschwindigkeit, etc.)
Übersetzungsverhältnis aktiv und dynamisch von berechnen die Assistenz- und Stabilisierungsfunk-
etwa 1:10 im Stand bis zu etwa 1:20 bei hohen Ge- tionen (z. B. variable Lenkübersetzung und Gierra-
schwindigkeiten. tenregelung) einen gewünschten Überlagerungs-
Die Überlagerungslenkung ermöglicht sowohl winkel. Dieser dient als Sollwert für den geregelten
einen vom Fahrer abhängigen (dynamischen) als Aktor, der den Zeitverlauf des gewünschten Über-
auch einen aktiven Lenkeingriff an der Vorder- lagerungswinkels möglichst exakt nachfährt. Ein
achse, ohne die mechanische Kopplung zwischen Sicherheitssystem überwacht und prüft die korrekte
604 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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28 .. Abb. 32.16  Prinzip der variablen Lenkübersetzung [1]

29 Funktionalität des gesamten Systems. Die Maßnah- des Lenkverhaltens bei konstanter Lenkkinematik
men reichen von einem differenzierten Abschalten ermöglicht (. Abb. 32.16).
30 von Teilfunktionen bis hin zu einer Komplettab-
schaltung des Aktors.
Lenkassistenzfunktionen sind Vorsteuerungen 32.4.3 Stellervarianten
31 des Lenksystems mit dem Ziel einer Adaption der
statischen und dynamischen Lenkungseigenschaf- Der Aktor mit Überlagerungsgetriebe kann in der
32 ten an die Fahrsituation in Abhängigkeit der Fah- Lenksäule oder alternativ im Lenkgetriebe integriert
rerlenkaktivität. Diese Adaption wird hauptsächlich werden. Die Integration im Lenkgetriebe ist hap-
durch die Aktordynamik und das Lenkgefühl einge- tisch vorteilhaft, da die Reibung bis zum Lenkventil
33 schränkt (Rückkopplung auf den Fahrer). nicht beeinflusst wird und die akustische Abstrah-
. Abb. 32.2 zeigt als kinematische Lenkassis- lung über Luftschall im Motorraum weniger auffäl-
34 tenzfunktion die variable Lenkübersetzung. Diese lig ist. Die Lenksäulenlösungen sind alle fahrzeug-
Funktion iV .vX .t // D ıS .t /=ıF .t / dient zur Ver- fest ausgeführt. Die dynamischen Anforderungen
35 änderung der Übersetzung zwischen dem Lenkrad-
winkel ıS .t / und dem mittleren Vorderradwinkel
sind jeweils vergleichbar.
Variante 1 positioniert den Elektromotor quer
ıF .t / in Abhängigkeit geeigneter Fahrzeug- und zum Überlagerungsgetriebe, vgl. . Abb. 32.17. Der
36 Lenkungsgrößen, wie z.  B. Fahrzeuggeschwin- größte Vorteil ist der Einsatz eines selbsthemmenden
digkeit vX .t / und Auslenkung. Die Geschwindig- Schneckengetriebes um die unerwünschte Rückdreh-
37 keitsabhängigkeit ermöglicht durch eine direktere möglichkeit im passiven Zustand zu verhindern. Für
Übersetzung eine Verringerung des Lenkaufwandes die integrierte Lösung im Lenkgetriebe (im Motor-
im unteren und mittleren Geschwindigkeitsbereich. raum) muss ausreichend Bauraum zur Verfügung
38 Eine exakte Spurtreue und Sicherheit im oberen stehen, der in der frühen Konzeptphase der Fahr-
Geschwindigkeitsbereich wird durch eine indirekte zeugentwicklung zu berücksichtigen ist. Der Einbau
39 Übersetzung erreicht. Außerdem wird durch die dieser Variante ist auch im oberen Teil der Lenksäule
Auslenkungsabhängigkeit die Zielgenauigkeit um vorstellbar. Die Packageverhältnisse und Crashanfor-
40 den Mittelbereich optimiert, der Lenkaufwand für
große Lenkwinkel reduziert und eine Modifikation
derungen moderner Fahrzeuge zu erfüllen, erscheint
jedoch mit dieser Aktorversion schwierig.
32.4  •  Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
605 32

Variante 2 realisiert die koaxiale Anordnung Bürstenloser Gleichstrommotor erzeugt das er-
von Überlagerungsgetriebe und Elektromotor. forderliche elektrische Moment für eine gewünschte
Dabei ist der Einsatz eines Hohlwellenmotors in Bewegung des Aktors. Das elektrische Moment wird
Verbindung mit einem Wellgetriebe erforderlich, feldorientiert geregelt (FO-Regelung).
vgl. .Abb. 32.21. Diese Kombination baut sehr Motorwinkelsensor basiert auf einem magne-
kompakt und ist hinsichtlich Package und Crash- toresistiven Prinzip und schließt eine Signalver-
verhalten bei Einbau in der Lenksäule vorteilhaft. stärkung und eine Temperaturkompensation im
Die haptischen Einflüsse sind zu vernachlässigen, Sensormodul ein.
da die verwendeten Wellgetriebe fast spielfrei ar- Ritzelwinkelsensor basiert analog zum Motor-
beiten. winkelsensor ebenfalls auf einem magnetoresistiven
Der Einbau dieses Aktors eignet sich auch als Prinzip und enthält eine Signalverstärkung und eine
lenkwellenfeste Variante. Die obere Lenkwelle ist Temperaturkompensation. Über eine CAN-Schnitt-
dabei fest mit dem Aktorgehäuse verbunden und stelle kann das Sensorsignal von anderen Fahrwerk-
dreht ihn mit, vgl. .Abb. 32.25. systemen wie z. B. ESP verwendet werden.
Elektromagnetische Sperre sperrt die Schnecke
Die technischen Kriterien, die die Entwicklung ei- bei Systemabschaltungen: Eine Feder drückt den

--
nes Überlagerungsgetriebes bestimmen, sind:
erreichbare Dynamik
metallischen Stift der Sperre gegen die Sperrver-
zahnung der Schnecke, . Abb. 32.18. Dieser Mecha-

--
angenehmes Lenkgefühl
Erfüllung der radialen Bauraumvorgabe
nismus wird durch eine spezifische Stromsteuerung
aus dem Steuergerät geöffnet (entsperrt).

--
Erfüllung der axialen Bauraumvorgabe
leises Geräuschverhalten 32.4.4.1 Aktor mit Sperre

--
beherrschtes Rückdrehverhalten und Ritzelwinkelsensor
Eignung für Spielfreiheit Das Kernstück des Systems ist der mechatroni-
geringes Gewicht sche Aktor zwischen Lenkventil und Lenkgetriebe,
. Abb. 32.18. Dazu gehört das Überlagerungsge-
triebe (Planetengetriebe) mit zwei Eingängen und
32.4.4 Einsatzbeispiel BMW E60 einer Abtriebswelle. Eine Eingangswelle ist über das
– ZFLS-Aktor am Lenkgetriebe Lenkventil und die Lenksäule mit dem Lenkrad ver-
bunden. Der zweite Eingang wird von dem Elek-
Die praktische Realisierung der Überlagerungsva- tromotor über einen Schneckentrieb als Unterset-
riante 1, integriert im Lenkgetriebe, setzt sich aus zungsstufe angetrieben. An der Abtriebswelle liegt
folgenden Teilen zusammen, . Abb. 32.17: der Ritzelwinkel als gewichtete Summe an. Der Ab-
Zahnstangen-Hydrolenkung bestehend aus trieb wirkt auf den Eingang des Lenkgetriebes, d. h.
einem Lenkgetriebe (1), einem Servotronic Ventil auf das Ritzel der Zahnstangenlenkung. Zwischen
(2), einer elektronisch geregelten Lenkungspumpe dem Eingang des Lenkgetriebes und dem Vorderrad
(9), einem Ölbehälter (10) und entsprechender Ver- liegt die durch das Lenkgetriebe und die Geometrie
schlauchung (11), des Lenkgestänges festgelegte Lenkkinematik.
Aktor bestehend aus einem bürstenlosen
Gleichstrommotor mit entsprechender Verkabe- 32.4.4.2 Steuergerät (ECU)
lung (3), einem Überlagerungsgetriebe (4) und ei- Das Steuergerät stellt die Verbindung zwischen dem
ner elektromagnetischen Sperre mit entsprechender Bordnetz, der Sensorik und der Aktorik dar [2]. Die
Verkabelung (7), Kernkomponenten des Steuergerätes sind zwei Mi-
Regelsystem bestehend aus einem Steuergerät crocontroller. Diese führen alle notwendige Berech-
(5), einem Ritzelwinkelsensor (8), einem Motor- nungen für die Aktorregelung sowie für die Nutz-
winkelsensor (6), entsprechenden Softwaremodulen und Sicherheitsfunktionen aus. Der Elektromotor, die
und der Verkabelung zwischen dem Steuergerät und elektromagnetische Sperre, die geregelte Pumpe und
der Sensorik und Aktorik. die Servotronic werden über die integrierten End-
606 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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.. Abb. 32.17  Komponenten und Subsysteme der Überlagerungslenkung integriert im Lenkgetriebe [1]
28
.. Abb. 32.18  Schnitt durch den Überlagerungs-
Aktor
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stufen angesteuert. Darüber hinaus, führen die Mi- aufbereitet und die Sollwerte der Lenkassistenz-
crocontroller redundante Berechnungen durch, die und Stabilisierungsfunktionen werden berechnet.
38 damit einen Teil des Sicherheitskonzeptes darstellen. Es folgt die Koordination der Lenkanforderungen,
die Aktorregelung und Ansteuerung des Elektro-
39 32.4.4.3 Signalfluss motors. Der Istwert des Motorwinkels wird dem
In . Abb. 32.19 [1] ist der Signalfluss wiedergege- Regler zurückgemeldet. Die Überwachung aller
40 ben: Die Signale des Lenkradwinkels und der Fahr-
zeuggrößen (z. B. Gierrate) werden im Steuergerät
Module erfolgt über die Sicherheitsfunktionen und
Fehlerstrategie.
32.4  •  Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
607 32

Fahrerwunsch
(Lenkradwinkel,etc.)

AFS Strecke
Stabilisierungs-
Signal- funktionen Aktuator- AFS
aufbereitung regelung Lenksystem
Fahrzeug
Lenkassistenz-
funktionen

Überwachungs- und
Sicherheitsfunktionen /
Fehlerstrategie

Fahrzeuggrößen

.. Abb. 32.19  Allgemeiner Signalfluss [1]

32.4.5 Einsatzbeispiel Audi A4 – 32.4.5.2 Winkelüberlagerung


ZFLS-Aktor in der Lenksäule Die Winkelüberlagerung erfolgt über die Hohlwelle
des Elektromotors, die am getriebeseitigen Ende als
Die Komponenten sind vergleichbar zum vorigen elliptischer Innenläufer ausgeformt ist (Wellen-Ge-
Einsatzbeispiel, siehe ▶ Abschn. 32.4.4. Der Aktor nerator). Dieser verformt über ein flexibles Dünn-
ist in diesem Beispiel hinter der Lenkkonsole in der ring-Kugellager den mit der Lenkeingangswelle
oberen Lenksäule integriert. Die kompakte Bau- verbundenen dünnwandigen Flextopf. Die Außen-
weise der koaxialen Anordnung von Motor und verzahnung am Flextopf steht an den Hochachsen
Getriebe erlaubt die Positionierung oberhalb des der Antriebsellipse im Eingriff mit dem Hohlrad der
Fußraumes, . Abb. 32.20. Abtriebswelle. Aufgrund der Zahnzahlunterschiede
zwischen Flextopf und Hohlrad (lenkgetriebeseitig)
32.4.5.1 Aktor mit Sperre kommt es bei Rotieren der Antriebsellipse zu einer
Das hochuntersetzte Wellgetriebe wird kombiniert Überlagerung, . Abb. 32.22.
mit einem elektronisch kommutierten Gleich-
strommotor und einer Sperre, die den Elektromo- 32.4.5.3 Steuergerät und
tor im stromlosen Zustand verriegelt. Der Motor Sicherheitskonzept
muss mit einer Hohlwelle ausgeführt werden. Die Das elektronische Steuergerät erfüllt ebenfalls alle
lenkradseitige Welle ist mit dem flexiblen Getrie- Anforderungen wie im Einsatzbeispiel 1. Der Unter-
betopf (Flexspline) formschlüssig verbunden [5]. schied besteht in dem 1-Prozessorkonzept mit einem
Die Drehbewegung des Lenkrades wird durch die Smart-Watchdog [5]. Zur Erfüllung der Sicherheits-
Außenverzahnung des Flextopfes über das Hohlrad anforderungen müssen alle Funktionen diversitär
(Circularspline) auf die Abtriebswelle lenkstrangsei- (unabhängig zweifach entwickelt) vorhanden sein.
tig übertragen. Dieser Kraftverlauf entspricht auch Zu Beginn steht die Signalaufbereitung und
dem mechanischen direkten Durchgriff zwischen Signalplausilisierung. Zusätzlich wird in diesem
Lenkrad und Lenkgetriebe im gesperrten Zustand Modul die Fahrzeuggeschwindigkeit berechnet.
des Motors, . Abb. 32.21. Die variable Lenkübersetzungsfunktion liest diese
Signale ein und berechnet die Lenkwinkelkorrektur.
Als weitere Aufgabe synchronisiert sie harmonisch
eine nicht passende Radstellung zum Lenkrad. Eine
608 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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30 .. Abb. 32.20  Komponenten und Subsysteme der Überlagerungslenkung integriert in der Lenksäule [5]

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.. Abb. 32.21  Schnittbild [5] und Skizze des Aktors in der Lenksäule
32.4  •  Lösungen zur Überlagerung von Winkeln
609 32
.. Abb. 32.22  Überlagerungsprinzip Wellgetriebe

Außenring
‘circular spline‘
stellt den Radwinkel

E-Motor treibt den


ovalen Antriebsring
‘wave generator‘

Lenkradwinkel dreht
den flexiblen Innenring
‘flex spline‘

solche Asynchronität kann auftreten, falls im inak- . Abbildung 32.24 zeigt das Drei-Ebenen-Sicher-
tiven Zustand, zum Beispiel bei ausgeschaltetem heitskonzept des Steuergeräts [5]. In der Ebene 1 sind
Verbrennungsmotor, große Lenkradbewegungen alle notwendigen Softwaremodule integriert, die aus
stattgefunden haben. Die Summe dieser Winkelteil- funktionaler Sicht notwendig sind, einschließlich
werte wird zusammen mit dem verarbeiteten ESP- der Signalplausibilisierung und der Fehlerstrategie.
Teilsollwinkel im Koordinator zu einem Gesamt- Alle kritischen Pfade, die zu einer Fehlfunktion füh-
Sollwinkel addiert, . Abb. 32.23. ren können werden in der zweiten Ebene diversitär
Die Lageregelung und die Motorkommutie- gerechnet. Damit wird sichergestellt, dass systema-
rung haben die Aufgabe, die Sollwinkel mit der tische Fehlerursachen (zum Beispiel Programmier-
erforderlichen Regelgüte an den Endstufentreiber fehler) nicht zu einer Fehlfunktion führen können.
weiterzuleiten. Die Einbaulage des Überlagerungs- Die dritte Ebene stellt den Programmablauf und ein
getriebes zwischen Lenkventil und Lenkrad führt korrektes Ausführen des Befehlssatzes sicher.
zu einer direkten haptischen Kopplung mit dem Um eine hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten,
Fahrer. Diese Voraussetzung erfordert eine hohe muss in Abhängigkeit des aufgetretenen Fehlers eine
Anforderung an die zulässigen Momentensprünge schrittweise Degradierung der Systemfunktionalität
des Elektromotors.

Das Steuergerät muss auch Fehlfunktionen elektro- -


vorgenommen werden [5]:
Ansteuern einer konstanten Lenkübersetzung
bei fehlenden Fahrgeschwindigkeitsinformati-
nisch detektieren und Auswirkungen verhindern.
Die abgeleiteten Anforderungen an das Steuergerät
- onen
Sperrung externer stabilisierender Eingriffe bei

-
sind [5]:
Vermeidung von reversiblen und irreversiblen
fehlerhaften Stellanforderungen, die durch
das Steuergerät, den Elektromotor oder den -
absehbarer geringer Performance, z. B. durch
Bordnetzschwankungen
Systemdeaktivierung im Nulldurchgang des
Lenkwinkels bei Fehlerverdacht, um ein schie-

- Motorlagesensor verursacht werden können


Überwachung der extern berechneten stabi-
lisierenden Eingriffe und das Einleiten von
geeigneten Maßnahmen, damit die maximal
- fes Lenkrad zu vermeiden
Vollständige sofortige Systemdeaktivierung

Weiterhin kann die Verfügbarkeit nach einer De-


zulässigen fehlerhaften Stellanforderungen aktivierung durch eine Initialisierungsphase wie-

- nicht überschritten werden


Sicherstellung, dass im Fehlerfall der maximal
tolerierbare Übersetzungssprung nicht über-
derhergestellt werden, ohne dass ein Werkstattauf-
enthalt notwendig ist. Neben dem Verhindern von
Fehlfunktionen muss das Steuergerät auch weiter-

- schritten wird
Verhindern einer Freilenksituation
hin sicherheitsrelevante Signale für die anderen
Fahrzeugregelsysteme liefern.
610 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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33
.. Abb. 32.23  Steuergerät mit SW-Architektur [5]

34
32.4.6 Einsatzbeispiel Lexus – lagerung die gewünschte Lenkrichtung in keinem
koaxialer Lenksäulenaktor
35 lenkwellenfest
Falle umkehrt.

36 Ein Beispiel für die lenkwellenfeste Ausführung ist


-
Der lenkwellenfeste Aktor, . Abb. 32.25, besteht aus
einer Dämpfungscheibe zur akustischen Ent-

37
das von Toyota in Serie befindliche System [6].
Die Überlagerung des Aktorwinkels zum Lenk-
- kopplung
einem Spiralkabel zur elektrischen Verbindung

38
radwinkel erfolgt analog zum fahrzeugfesten System
im ▶ Abschn. 32.4.5 durch ein Wellgetriebe.
Das Übersetzungsverhältnis Lenkwelle – Vor- - der rotierenden Komponenten
einem Sperrenmechanismus zur Verriegelung
bei Abschaltung des Systems (und fail-safe

39
40
derrad variiert abhängig von der Fahrgeschwindig-
keit in einem Bereich von 1:12,4 (langsame Fahrt)
bis 1:18 (schnelle Fahrt), indem der Aktor dem
Lenkrad mit- bzw. entgegenwirkt. Er wird nur aktiv,
-- function)
einem elektrischen BLDC Motor
einem Reduktionsgetriebe (1:50, Teil des Well-
getriebes) zum Einsatz eines Motors kleiner
wenn das Lenkrad gedreht wird, wobei die Über- Bauform mit hoher Drehzahl
32.5  •  Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung
611 32

.. Abb. 32.24  Drei-Ebenen Sicherheitskonzept des Steuergerätes [5]

.. Abb. 32.25  Lenkwellenfester Lenksäulenaktor [6]

32.5 Steer-by-Wire-Lenksystem geführten Weiterentwicklungen im Lenkungssektor


und Einzelradlenkung beziehen sich weitgehend auf die Unterstützung der
Lenkkraft bzw. der Lenkwinkelüberlagerung. So
Alle bis heute für den Pkw entwickelten Serienlenk- bieten inzwischen hydraulische oder elektromecha-
systeme basieren auf einer zuverlässigen mechani- nische Servolenksysteme für alle möglichen Fahrzu-
schen Kopplung zwischen Lenkrad und Rädern. stände perfekt angepasste Lenkkräfte, basieren aber
Der Fahrer hat damit unter allen Betriebsbedi- weiterhin auf einem mechanischen Übertragungs-
nungen des Fahrzeugs den direkten mechanischen mechanismus. Besonders im Fehlerfall, d. h. wenn
Durchgriff auf die lenkbaren Räder und kann so Servosysteme in den so genannten Fail-Safe- bzw.
unmittelbar seine vorgesehene Fahrroute umsetzen. Fail-Silent-Modus wechseln, übernehmen mechani-
Die in den letzten Jahrzehnten von den Len- sche Komponenten die Aufgabe, den Lenkbefehl des
kungsherstellern und der Fahrzeugindustrie durch- Fahrers auf die Räder zu übertragen. Dieser Aspekt
612 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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-
.. Abb. 32.26  Systemstruktur des Steer-by-Wire-Lenksystems

30 behält selbst bei Lenksystemen mit Winkelüberlage-


rung (Aktivlenkung) seine Wichtigkeit.
Steer-by-Wire-Systeme unterscheiden sich im
Sicherheitskonzept deutlich von herkömmli-
Steer-by-Wire-Lenksysteme stellen einen neuen chen Lenksystemen. Im Fehlerfall genügt kein
31 Ansatz dar. Dieser ist gekennzeichnet durch eine rein Abschalten des Systems in den Fail-Silent-
elektronische Übertragung des Fahrerlenkwunsches Modus. Stattdessen ist ein Fail-Operational-
32 bzw. einer völligen Entkopplung von mechanischer Modus durch ein redundantes Ersatzsystem

33
Lenkbewegung des Fahrers und der Lenkung der
Räder. Damit entfallen die herkömmlichen mecha-
nischen Übertragungseinrichtungen. Der Fahrer er-
zeugt am Lenkrad ausschließlich Informationen über
- mit vollem Funktionsumfang notwendig.
Zur Markteinführung des Steer-by-Wire-
Systems im Pkw benötigt man wahrscheinlich
für die erste Phase der Vertrauensbildung eine
34 seine gewünschte Lenkbewegung. Mit diesen Infor- klassische mechanische oder hydraulische
mationen wird eine elektronische Steuereinheit ge- Rückfallebene als Sicherheitskonzept.
35 speist. Dieses Steuermodul wertet die Informationen
aus und setzt sie in entsprechende Lenkbefehle um.
Damit wird das Lenkgetriebe angesteuert, das die 32.5.1 Systemkonzept und Bauteile

-
36 gewünschte Lenkbewegung ausführt (. Abb. 32.26).
Mithilfe von Hydraulik, Elektrik, Elektronik Im Wesentlichen setzt sich ein Steer-by-Wire-Kon-
37 und Sensorik wurden in der Vergangenheit zept aus zwei Baugruppen zusammen: einem Lenk-
viele neue Komfort- und Sicherheitsfunktio- radaktor und einem Radaktor.
nen entwickelt, die das Führen eines Fahrzeugs
38 deutlich komfortabler und sicherer gemacht 32.5.1.1 Lenkradaktor

39
40
- haben.
Trotz all dieser Komponenten basiert das
Sicherheitskonzept der derzeitigen aktiven
Lenksysteme noch auf einer durchgängigen
Der Lenkradaktor im Bereich der oberen Lenksäule
umfasst ein herkömmliches Lenkrad mit Sensoren,
die Lenkradwinkel und Lenkmoment erfassen, und
einen Lenkradmotor, der dem Fahrer das entspre-
Kette erprobter mechanischer Bauteile. chende Lenkgefühl vermittelt.
32.5  •  Steer-by-Wire-Lenksystem und Einzelradlenkung
613 32

Zudem vermindern vertraute Bedienelemente Aktivlenkung gezeigt haben, ist zu berücksichtigen,


aufgrund der langjährigen Übung Unfallrisiken, dass neu entwickelte Funktionen und Auslegungs-
falls reflexgesteuerte Lenkkorrekturen bei kritischen prinzipien von allen Fahrern als unterstützend und
Fahrzuständen erforderlich sind. hilfreich empfunden werden. Besonders Stabilisie-
rungsfunktionen, die auf automatischen fahrerun-
32.5.1.2 Radaktor abhängigen Lenkeingriffen beruhen, sollten nicht
Der Radaktor besteht hauptsächlich aus einer elek- vom Fahrer als Entzug der Verantwortung für die
tromechanischen Zahnstangenlenkung. Aus Sicher- jeweilige Fahrsituation wahrgenommen zu werden.
heitsgründen wird die Zahnstange von zwei redun- Ein weiterer wichtiger Punkt bei Steer-by-
dant aufgebauten Elektromotoren angetrieben. Die Wire-Systemen betrifft die in Echtzeit durch die
Hochleistungselektromotoren sind üblicherweise Lenkhandhabe zu vermittelnden haptischen Infor-
als bürstenlose permanentmagneterregte Gleich- mationen, die den Reifen-Fahrbahn-Kraftschluss
strommotoren (BLDC) ausgeführt. Zur Erfassung möglichst präzise beschreiben müssen. Diese Infor-
des Radwinkels sind ebenfalls Sensoren im Radak- mation hat für den Fahrer hohen Stellenwert, weil er
tor installiert. damit die passende Fahrgeschwindigkeit sowie das
nutzbare Beschleunigungs- und Bremsvermögen
32.5.1.3 Elektronische Steuereinheit des Fahrzeugs beurteilt. Es ist meist auch die einzige
Eine elektronische Steuereinheit verarbeitet alle Informationsquelle, die ihm schnell genug Kenntnis
von den beiden Baugruppen bereitgestellten Infor- von sich plötzlich ändernden Fahrbahnreibwerten
mationen sowie die von anderen Fahrzeugsystemen liefert, damit er nach erlernten Verhaltensmustern
zur Verfügung stehenden Daten. Aus Sicherheits- reflexartig eine gefährliche Situation kontrollieren
gründen wird durchgängig eine redundante Sys- kann.
temstruktur verwendet. In einigen Fällen erfordert Diese so genannten Feedback-Informationen,
dies bis zu drei voneinander unabhängige Sensoren die dem Fahrer das gewohnte Lenkgefühl vermit-
für ein einziges sicherheitsrelevantes Signal. Nur teln, müssen bei Steer-by-Wire künstlich durch den
dann ist im Fehlerfall ein zuverlässiger Fail-Ope- Lenkradmotor im Lenkradmodul erzeugt werden.
rational-Modus des Systems sichergestellt. Je nach Entsprechend der vorliegenden Sensordaten er-
Funktions- und Sicherheitsstruktur sind bis zu acht rechnet die Steuerelektronik einen Stellwert für den
32-Bit-Mikroprozessoren in der Steuereinheit er- Lenkradmotor, der am Lenkrad damit einen Lenk-
forderlich, die einander gegenseitig auf Plausibilität widerstand abbildet. Dieser sollte im Idealfall die
der berechneten Sollwerte bzw. Fehlfunktion über- Kraftschlussverhältnisse zwischen Reifen und Fahr-
wachen. bahn auf angemessenem Kraftniveau wiedergeben.
Auch Rückstellkräfte bei Kurvenfahrt lassen
sich so simulieren. Beim Lenkeinschlag wirkt der
32.5.2 Technik, Vorteile und Chancen Lenkradmotor der Einschlagrichtung und dem Ein-
schlagmoment in beliebig festlegbarer Höhe entge-
Auf der einen Seite bietet der technische Freiraum gen, unabhängig davon, ob die Achsrückstellkräfte
zur Gestaltung von Lenkfunktionen unter Kom- des Fahrzeugs ideale Werte erreichen oder nicht.
fort-, Sicherheits- und Fahrerassistenzgesichtspunk- Selbst ein Endanschlag lässt sich mit einem Blocka-
ten gute Möglichkeiten bei Steer-by-Wire-Konzep- demoment im Lenkradmotor simulieren, ohne dass
ten. Abhängig von den zur Verfügung stehenden ein mechanischer Anschlag in der oberen Lenksäule
Sensorsignalen und der Vernetzung mit anderen nötig ist.
Fahrzeugsystemen ist es möglich, dem Fahrer das Störkräfte, die auf die gelenkten Räder einwir-
Führen des Fahrzeugs unter allen vorstellbaren Be- ken, beispielsweise Reifenunwucht, Schlaglochein-
triebsbedingungen so sicher und einfach wie mög- wirkung usw., lassen sich einfach selektiv ausblen-
lich zu gestalten. den oder am Lenkrad mit beliebiger Stärke abbilden.
Wie die bereits angesprochenen Erfahrungen Über die Gestaltung der Steuerungssoftware lässt
mit der elektromechanischen Lenkung und der sich dies beliebig skalieren, was bei traditionellen
614 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

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24 .. Abb. 32.27  Vgl. passive und aktive Kinematik

Lenksystemen mindestens konstruktive Maßnah- ausgeführt werden, dass die heutigen mechanischen
25 men an Mechanik oder Hydraulik erfordert hätte. Mehrlenkerachsen durch einfache kostengünstige
Auf dieselbe Art und Weise kann das Lenksystem Radaufhängungen ersetzt werden könnten.
26 über die parametrisierbare Software optimal an jedes Doch bis zur Einführung dieser Technik müssen
Fahrzeug angepasst werden. Selbst das Eigenlenk- noch die letzten gesetzlichen Vorschriften geändert
27 verhalten wie Über- oder Untersteuern kann man werden und das Kosten/Nutzen-Verhältnis muss
damit beeinflussen, um jedem Fahrzeugtyp den ge- sich in einer akzeptablen und sinnvollen Größen-
wünschten Markencharakter aufzuprägen, den man ordnung entwickeln.
28 auch „Blend-by-Wire“ nennt. Denkbar ist selbst, dem Die Chancen einer Einführung in von Grund
persönlichen Fahrstil des jeweiligen Fahrers dadurch auf neuentwickelten Fahrzeugkonzepten, wie Elek-
29 Rechnung zu tragen, dass seine bevorzugten Len- tro- und Hybridfahrzeugen, in denen Elektromoto-
kungsparameter individuell gesteuert werden. ren direkt als Rad-Antrieb eingesetzt werden, sind
30 Was die Fahrerassistenz- und Stabilisierungs-
funktionen angeht, lassen sich selbstverständlich
mit Sicherheit höher als in den klassischen Fahrzeu-
gen mit Verbrennungsmotoren.
alle bereits bei der elektromechanischen Servolen-
31 kung und der Aktiv- bzw. Überlagerungslenkung
praktizierten und dort beschriebenen Lösungen wie 32.6 Hinterachslenksysteme
32 variable geschwindigkeitsabhängige Übersetzung,
Lenkvorhalt, Gierratenregelung, Giermomenten- Mit dem Einsatz einer Hinterachslenkung können
kompensation, Seitenwindausgleich, automatisier- viele Kompromisse umgangen werden, die sich bei
33 tes Einparken usw. umsetzen. Insofern kann mit der Konstruktion passiver Achsen ergeben. Der sich
dieser Kombination ein Großteil der Steer-by-Wire- ergebende Verstellbereich erschließt das entspre-
34 Funktionalität dargestellt werden. chende Potenzial, siehe . Abb. 32.27:
Durch die vollständige mechanische Entkopp- Für den Endkunden ergeben sich hieraus deut-
35 lung von Lenkrad und Lenkgetriebe lassen sich
diese Funktionalitäten in ferner Zukunft sicherlich
liche Verbesserungen der vom Fahrwerk beeinfluss-
ten Eigenschaften. So werden je nach Fahrsituation
noch höherwertiger darstellen. Vollautomatische die Fahrstabilität, die Agilität oder die Manövrier-
36 Spurführung, vollautomatisierte Ausweichmanöver barkeit optimiert. Fahrspaß, Komfort- und Sicher-
ohne Zutun des Fahrers in Verbindung mit allen an- heitsempfinden werden verbessert, fahrdynamische
37 deren Fahrzeugsystemen des Brems- und Antriebs- Eigenschaften sind damit bewusster erlebbar.
bereiches können realisiert werden. Letztlich ist ein
autonomes Fahren durchaus vorstellbar.
38 Mit Hilfe einer Einzelradlenkung (jedes Vorder- 32.6.1 Grundfunktionen
rad wird einzeln von einem elektrisch angesteuerten und Kundennutzen
39 Aktor eingelenkt und die starre Verbindung über
eine Spurstange entfällt) kann der Radeinschlag- Es lassen sich die folgenden Zielsetzungen für den
40 winkel allein über die in der Software des Steuerge-
rätes hinterlegten Regelalgorithmen so individuell
Einsatz der Hinterachslenkung unterscheiden, siehe
. Abb. 32.28:
32.6 • Hinterachslenksysteme
615 32
.. Abb. 32.28 Funk-
tionale Vorteile der
Hinterachslenkung

- Wendekreisverringerung / Parkierunterstüt-
zung im Rangierbetrieb:
Zustands reduziert wird. Ferner wird das Giermo-
ment verringert und in seiner Dynamik begrenzt

- Verbessertes Manövrieren und Parkieren


Agilitätsverbesserung bei kleinen und mittle-
ren Geschwindigkeiten:
Verbessertes Handling, sportlicheres Fahrver-
(weniger Überschwingen), was unmittelbar die
Fahrsicherheit erhöht. Fahrphysikalisch liegt eine
„virtuelle Radstandsverlängerung“ vor.

halten, weniger Lenkaufwand, damit höherer 32.6.2.3 Fahrdynamischer

- Komfort Grenzbereich
Stabilitätsverbesserung bei hohen Geschwin- Das höchste Potenzial beim Lenken der Hinterräder
digkeiten: kann im Grenzbereich beim Untersteuern genutzt
Deutlich erhöhte Fahrstabilität und -sicherheit, werden. Die Hinterachse hat hier noch nicht ihre
verbessertes subjektives Sicherheitsempfinden Haftgrenze erreicht und kann zusätzliche Seitenfüh-
rungskräfte erzeugen. Hingegen ist beim Übersteu-
ern ein Eingriff nicht sinnvoll, da sich die Hinter-
32.6.2 Funktionsprinzip achse bereits an ihrer Haftgrenze befindet und kein
Potenzial zur Erhöhung der Seitenführung besteht.
Die Hinterachslenkung bietet grundsätzlich zwei Unterhalb des physikalischen Grenzbereichs kön-
Eingriffsmöglichkeiten (s. auch . Abb. 32.28): nen beide fahrdynamischen Situationen gleicher-
maßen korrigiert werden.
32.6.2.1 Gegenlenken
Beim Gegenlenken wird der Wendekreis verrin-
gert, es erfolgt eine Reduktion des notwendigen 32.6.3 Systemgestaltung / Aufbau
Lenkradwinkels. Fahrphysikalisch ergibt sich dies des Systems
durch eine „virtuelle Radstandsverkürzung“. Aus
fahrdynamischer Sicht wird durch das Gegenlen- Die am Markt befindlichen Systeme lassen sich nach
ken initial das wirkende Giermoment erhöht. Der zwei Grundtypen klassifizieren:
Fahrer spürt eine verbesserte Manövrierbarkeit und
Agilität. 32.6.3.1 Zentralsteller-Systeme
Aufbau ähnlich der Vorderachslenkung mit einem
32.6.2.2 Mitlenken zentral angeordneten Aktor, siehe . Abb. 32.29. Die
Im Falle des Mitlenkens kann eine deutliche Verbes- Hinterräder sind hier mechanisch gekoppelt.
serung der Fahrstabilität erfahren werden. Die Be-
gründung liegt im synchronen Aufbau der Seiten- 32.6.3.2 Dual-Steller-Systeme
führungskräfte an beiden Achsen, womit die Zeit bis Aufbau mit zwei Radaktoren, die anstatt Spurstan-
zum Erreichen eines stationären querdynamischen gen / Spurlenkern in der Achse verbaut werden.
616 Kapitel 32 • Lenkstellsysteme

.. Abb. 32.29  Zentralsteller-System (ZF Fried-


21 richshafen AG)

22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Hier besteht keine mechanische Kopplung der 32.6.4 Vernetzung / erweiterte
33 Hinterräder. Funktionalität

34
-
32.6.3.3 Subsysteme Aufgrund der zunehmenden Anzahl aktiver fahr-
Mechanik dynamischer Systeme wird auch deren intelligente
35 Gehäusebaugruppe, Übersetzungsstufe (z. B.
Zahnriemen), Übertragungsgetriebe (z. B.
Vernetzung zur Notwendigkeit. Hierdurch ergeben
sich weitere funktionale Potenziale. Dies wird im

36
- Kugel- oder Trapezgewindetrieb) etc.
Mechatronik
Elektromotor, Sensoren, Kabelbäume / Steck-
Folgenden beispielhaft erläutert:

Elektrische Servolenkung
37
- verbindungen
Elektrik / Elektronik
Die heute bereits verfügbaren Parkier-Assistenzsys-
teme können mithilfe der erhöhten Manövrierbar-

38
39
- Steuergerät mit Leistungselektronik
Software
Betriebssoftware (low-level), Lenkfunktion
(high-level)
keit durch Hinterachslenksysteme deutlich verbes-
sert werden.

Aktivlenkungen
Durch funktionale Vernetzung von aktiver Vor-
40 derachslenkung (variable Übersetzung) und Hin-
terachslenkung kann das Gesamtlenkverhalten des
Literatur
617 32

Fahrzeugs variabel von beiden Achsen bestimmt


werden.

Elektronische Stabilitätssysteme (Bremse)


Auch die Funktion von Stabilitätsregelsystemen
lässt sich durch die Hinterachslenkung erwei-
tern. Lenkeingriffe können hier deutlich vor dem
Grenzbereich (und damit auch vor dem Eingriff
der Bremse), und für den Fahrer kaum wahrnehm-
bar, stattfinden. Hierbei wird von der sog. „sanften
Stabilisierung“ gesprochen.

Literatur

[1] VDI/GMA Fachtagung „Steuerung und Regelung von Fahr-


zeugen und Motoren AUTOREG 2004“. 2. und 3. März 2004,
Wiesloch, Deutschland. VDI Bericht Nr. 1828, S. 569–584
[2] Brenner, P.: Die elektrischen Komponenten der Aktivlen-
kung von ZF Lenksysteme GmbH, Tagung PKW‐Lenksys-
teme – Vorbereitung auf die Technik von morgen. Haus der
Technik e. V., Essen (2003)
[3] W. Reinelt, W. Klier, G. Reimann, W. Schuster, R. Großheim:
Active Front Steering for passenger cars: Safety and Func-
tionality. SAE World Congress, Steering & Suspension Tech-
nology Symposium. Detroit, USA, March 2004.
[4] Eckrich, M., Pischinger, M., Krenn, M., Bartz, R. und Munnix,
P., Aktivlenkung – Anforderungen an Sicherheitstechnik
und Entwicklungsprozess, Tagungsband Aachener Kol-
loquium Fahrzeug‐ und Motorentechnik 2002, pp. 1169
– 1183, 2002.
[5] Schöpfel, Armin; Stingl, Hanno; Schwarz, Ralf; Dick, Wolf-
gang; Biesalski: Audi drive select. ATZ und MTZ Sonderaus-
gabe – Der neue Audi A4, Vieweg Verlag, September 2007
[6] Werkstatt‐Unterlagen Lexus LX470
619 VII

Mensch-Maschine-
Schnittstelle für
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 33 Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-
Interaktionvon Fahrerassistenzsystemen  –  621
Winfried König

Kapitel 34 Gestaltung von Mensch-Maschine-


Schnittstellen – 633
Ralph Bruder, Muriel Didier

Kapitel 35 Bedienelemente – 647
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder

Kapitel 36 Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme  –  659


Peter Knoll

Kapitel 37 Fahrerwarnelemente – 675
Norbert Fecher, Jens Hoffmann

Kapitel 38 Fahrerzustandserkennung – 687
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder

Kapitel 39 Fahrerabsichtserkennung und


Risikobewertung – 701
Martin Liebner, Felix Klanner
621 33

Nutzergerechte Entwicklung
der Mensch-Maschine-
Interaktion
von Fahrerassistenzsystemen
Winfried König

33.1 Übersicht – 622
33.2 Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-
Maschine-Interaktion(HMI) von FAS  –  622
33.3 Systematische Entwicklung des HMI von FAS  –  627
33.4 Bewertung von FAS-Gestaltungen  –  630
33.5 Zusammenfassung – 632
Literatur – 632

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_33, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
622 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

33.1 Übersicht 33.2.1 Unterstützung durch FAS


21
Durch langjährige Forschungen bei Kfz-Herstel- Fahrerassistenzsysteme können auf allen Ebenen
22 lern, Zulieferfirmen und an Hochschulen sind der Fahrzeugführung – Stabilisierung, Bahnfüh-
umfangreiche, aber dennoch lückenhafte Erkennt- rung, Navigation und Nebentätigkeiten – unterstüt-
nisse über das Zusammenspiel zwischen Fahrerin- zen und unterschiedliche Teilaufgaben des Nutzers
23 formationssystemen (FIS), Fahrerassistenzsyste- übernehmen. Ihr Beitrag kann vom einfachen In-
men (FAS) und deren Nutzern gewonnen worden. formieren, der Analyse einer Situation, ihrer Be-
24 In deutschen und internationalen Projekten wie wertung, über die Auswahl einer Aktion bis hin zur
z. B. PROMETH­EUS, DRIVE, MOTIV, INVENT, selbsttätigen Durchführung dieser Aktion reichen.
RESPONSE und AKTIV haben sich Kfz-Hersteller, Dabei muss sichergestellt werden, dass der Fahrer
25 Zulieferfirmen, Hochschulen und weitere staatliche immer Herr der Situation bleiben kann. Im Detail
und private Forschungseinrichtungen zusammen- ist ebenfalls zu klären, bei wem die Verantwortung
26 gefunden, um die vorwettbewerbliche Forschung im Einzelfall liegt. Als Basis derartiger Überlegun-
für derartige Systeme voranzutreiben. Im folgenden gen ist, wie im folgenden Kapitel erläutert, die „Vi-
27 Kapitel sollen einige der gewonnenen Kenntnisse enna Convention on Road Traffic“ [1] zu beachten.
dargelegt werden, um die Entwicklung des HMI Um den Bedarf und die Möglichkeiten einer
von FAS zu erleichtern. Unterstützung des Fahrers zu erforschen, sind fun-
28 Im ersten Abschnitt soll das Zusammenspiel dierte Kenntnisse über das Verhalten von Fahrern
Mensch-Fahrzeug-Umwelt prinzipiell erläutert und im Straßenverkehr in unterschiedlichsten Fahrsitu-
29 die Bereiche erwähnt werden, bei denen eine Unter- ationen notwendig. Dies betrifft den Extremfall des
stützung des Fahrers sinnvoll erscheint. Im zweiten Unfalls, aber auch das „normale“ Fahren, bei dem
30 Abschnitt wird auf einige Probleme eingegangen,
die in unterschiedlicher Form und Intensität bei
die Fahrer sich bedingt auch außerhalb der Straßen-
verkehrsordnung bewegen, sich umfangreichen Ne-
allen FAS auftreten und die deshalb gemeinsam bentätigkeiten zuwenden und schwierige Verkehrs-
31 betrachtet werden können. Ein bewährter Weg in ituationen dennoch meist erfolgreich meistern. Der
der Entwicklung von FAS und die Einbettung der Ablauf und das Fahrerverhalten bei Unfällen wird in
32 HMI-Fragen werden im dritten Abschnitt darge- Deutschland in der Datenbank GIDAS (German in-
stellt. Im letzten Abschnitt wird auf die Bewertung depth accident study) [2] erfasst, in der Datensätze
der HMI von bereits realisierten und geplanten FAS von mehr als 20 000 Unfällen (Stand: Juli 2012) ab-
33 eingegangen. gelegt sind. Über das „normale Fahren“ gibt es noch
geringere Kenntnisse; erste Projekte zum Sammeln
34 derartiger Daten sind in den USA und in Europa
33.2 Fragestellungen abgeschlossen [3, 4].
bei der Entwicklung
35 der Mensch-Maschine-
Interaktion(HMI) von FAS 33.2.2 Leistungen und Grenzen
36 der FAS
Der Fahrer, das Fahrzeug mit Fahrerassistenzsyste-
37 men und die Umgebung des Fahrzeugs wirken in Bei der Gestaltung eines FAS müssen die relevanten
Raum und Zeit eng zusammen. Deshalb können Parameter von Fahrer, Fahrzeug und Umfeld für die
diese Systeme nicht allein aus technischer Sicht jeweiligen Funktionen des FAS identifiziert, quanti-
38 gestaltet werden, vielmehr sind die Gewohnheiten, fiziert und beschrieben werden, siehe . Abb. 33.1.
die Fähigkeiten, aber auch die Defizite der Fahrer Es muss klar festgehalten werden, welche Leistungen
39 neben anderen Faktoren zu betrachten. Nur dann das FAS in welcher Situation erbringen kann und wo
sind eine Verbesserung der Sicherheit, des Komforts seine Grenzen liegen. Das Kennen und Verinnerli-
40 und letztendlich die Bereitschaft zum Kauf dieser
Systeme zu erreichen.
chen dieser Grenzen ist wesentlicher Bestandteil des
Vorgangs, bei dem der Fahrer das FAS „erlernt“.
33.2  •  Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion
623 33
.. Abb. 33.1  Zusammenwirken von
Fahrer, Fahrzeug mit FAS und Umfeld

33.2.3 Benötigte Kompetenzen tuationen und erhöhte Risikobereitschaft jüngerer


und Fachbereiche Fahrer können als Beispiele dienen. Nationale und
internationale Vorschriften, Richtlinien und Nor-
Bei der kompetenten und verantwortungsbewuss- men müssen berücksichtigt werden, da sie z. B.
ten Entwicklung des HMI eines FAS müssen neben Mindestforderungen an die Gebrauchstauglichkeit
dem Fachwissen und den Methoden des Ingenieurs stellen. Auch ein Mindestmaß an Harmonisierung
auch sozialwissenschaftliche Methoden und Er- ist notwendig, sodass Fahrer grundlegende Funk-
kenntnisse eingesetzt werden, um die Bedürfnisse tionen ohne hohen Lernaufwand nutzen können.
und das Verhalten des Fahrers angemessen einbe- Dagegen abzuwägen ist der Wunsch des Wettbe-
ziehen zu können. Deshalb hat es sich bewährt, werbers, sich auf dem Markt durch eine markante,
die Entwicklung in einem interdisziplinären Team „innovative“ Gestaltung zu platzieren.
(„Human Engineering Team“) durchzuführen, in
dem neben Ingenieuren zumindest Psychologen
permanent vertreten sein sollten. Weitere spezi- 33.2.5 Interaktionskanäle zwischen
elle Fachkompetenz muss fallweise eingebunden Fahrer, FAS und Fahrzeug
werden.
Der Mensch erkennt seine Umwelt überwiegend
mit Hilfe des Sehsinns, siehe . Abb. 33.3. Andere
33.2.4 Einflussfaktoren Verkehrsteilnehmer, ihre Position, ihr vermutetes
bei der Entwicklung von FAS Verhalten, die Fahrspur und der Fahrstreifen, aber
auch Objekte im Straßenraum werden mit dem
Neben den einzelnen Funktionen eines FAS, die Sehapparat und der dahinter liegenden höchst
systematisch und umfassend beschrieben sein leistungsfähigen Bildverarbeitung des Menschen
müssen, sind weitere Einflussfaktoren zu betrach- entdeckt, ausgewählt und von weiteren Strukturen
ten: Eine bestimmte Funktion ist unterschied- im Gehirn hinsichtlich ihrer Relevanz und Wei-
lich zu gestalten, je nachdem, ob ihre Nutzung terentwicklung bewertet. Auch die Infrastruktur
durch den Fahrer ausschließlich im Stand oder im Straßenverkehr ist für den Sehsinn ausgelegt:
auch während der Fahrt vorgesehen ist, siehe Verkehrszeichen vermitteln Regeln, Markierungen
. Abb. 33.2. Die Gefahren einer Abwendung der grenzen Fahrstreifen voneinander ab, Blinker zei-
Aufmerksamkeit und die Forderung nach Unter- gen eine Fahrtrichtungsänderung an, Bremslichter
brechbarkeit des Dialogs zwischen Fahrer und FAS warnen vor verzögernden Fahrzeugen. Somit ist der
seien hier erwähnt. Auch das breite Spektrum der visuelle Kanal auch bei FAS von großer Bedeutung.
Fähigkeiten unterschiedlicher Nutzergruppen ist Im sichtbaren Bereich des Spektrums, aber auch im
von Belang. Physiologische und kognitive Defizite nahen und fernen Infrarot- sowie im UV-Bereich
älterer Fahrer, geringe Antizipation von Risikosi- gewinnen FAS Informationen mittels Kameras und
624 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

.. Abb. 33.2  Einflussfaktoren bei der


21 Entwicklung von FAS

22
23
24
25
26 Bildverarbeitung und auch mittels anderer opti- aus dem Regelkreis genommen ist, die Fertigkeit für
scher Sensoren. Für die Kommunikation mit an- diese Funktion verliert. Es könnte auch sein, dass sich
27 deren Verkehrsteilnehmern, insbesondere für das sein Bewusstsein für die Fahrsituation verschlechtert,
Anzeigen und Signalisieren von Gefahr, wird vom wenn er nicht permanent die für die Funktion wich-
Menschen und von FAS überwiegend der akusti- tigen Details der Fahrsituation verfolgt.
28 sche Kanal genutzt. Dazu gehört die Eingabe von Das Assistenzsystem zeigt ein eigenständiges
Kommandos über Spracheingabesysteme sowie die Fahrverhalten, welches möglicherweise vom eige-
29 Ausgabe von Warnhinweisen und Information vom nen Fahrverhalten des Fahrers abweicht. Abhängig
FAS an den Fahrer mittels Signaltönen, Geräuschen vom Automatisierungsgrad kann sich der Fahrer
30 und Sprachausgabe. Der haptische Kanal dient zur
Eingabe von Kommandos über Hand und Fuß, in
dadurch zeitweise mehr oder weniger in eine Art
Beifahrersituation versetzt fühlen. Die Qualität die-
umgekehrter Richtung nutzen FAS diesen Kanal zur ses Zusammenwirkens zwischen Fahrer und Assis-
31 Rückmeldung durch Gegenkräfte (Force Feedback) tenzsystem bestimmt weitestgehend die Akzeptanz
an Pedalen, Lenkrad und „haptischen Stellern“. der Systeme.
32
33.2.6 Änderung der Beziehung 33.2.7 Situationsbewusstsein
33 Fahrer-Fahrzeug durch FAS und Absicht des Fahrers

34 Benutzt ein Fahrer ein Assistenzsystem, welches di- Zur Erfassung der Verkehrssituation besitzt das
rekt in das Fahrgeschehen eingreift (z. B. ACC mit System Sensoren, deren Erfassungsbereiche nor-
35 Teilübernahme der Längsführungsaufgabe oder eine
Stop&Go-Funktion), so bedeutet dies eine funda-
malerweise nicht mit denen der menschlichen Sin-
nesorgane übereinstimmen. Die Grenzen der Sen-
mentale Veränderung seiner Aufgabe der Fahrzeug- soren und der Signalverarbeitung sind wesentlich
36 führung. Teile der bisherigen Fahraufgabe können an für die Funktionalität eines FAS. Sind diese Grenzen
das Assistenzsystem delegiert werden; hierauf beruht für den Fahrer nicht verständlich, wird es für ihn
37 der Entlastungseffekt dieser Systeme mit positiven schwierig, das System wie vom Hersteller vorgese-
Auswirkungen auch auf die Verkehrssicherheit. hen zu nutzen.
Die verbleibende Aufgabe enthält nunmehr weni- Auch das beabsichtigte Verhalten anderer
38 ger regelnde und mehr überwachende Anteile. Als Verkehrsteilnehmer ist wichtig, um eine ange-
schwierig kann sich für den Fahrer erweisen, dass messene Strategie für das eigene Fahrverhalten in
39 er in unterschiedlichen Situationen, wenn das FAS einer bestimmten Verkehrsituation zu entwickeln.
an seine Funktionsgrenzen gerät, auf angemessene Dazu gehört die Erwartung, dass sich andere Ver-
40 Weise die Funktion wieder übernehmen muss. Es be-
steht die Gefahr, dass der Fahrer, wenn er lange Zeit
kehrsteilnehmer meist an Regeln halten; erfahrene
Fahrer sind aber auch in der Lage, nicht regelkon-
33.2  •  Fragestellungen bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion
625 33
.. Abb. 33.3 Interaktionskanäle
zwischen Fahrer und FAS

Sprach-
ausgabe Sprach-
eingabe

formes Verhalten anderer voraus zu ahnen, bevor 33.2.8 Inneres Modell


sich hieraus eine Konfliktsituation entwickelt hat.
Diese Fähigkeit kann als „Situationsbewusstsein Mit zunehmender Funktionalität der Assistenzsys-
des Fahrers“ (Situation Awareness) bezeichnet teme und damit zunehmender Entlastungswirkung
werden. Sie ist beim Autofahren insbesondere hin- steigt auch die Komplexität der Systeme mit der
sichtlich der Durchführung von Nebentätigkeiten Gefahr, vom Fahrer nicht mehr verstanden zu wer-
von Bedeutung. „Situationsbewusste“ Fahrer wen- den. Es ist möglich, dass ein Fahrer beispielsweise
den sich derartigen Tätigkeiten nur zu, wenn ihre die Funktionen eines Geschwindigkeitsregelungs-
Einschätzung der Verkehrssituation dies erlaubt; systems verstanden hat oder diese zumindest pro-
sie kontrollieren deren Entwicklung durch kurze blemlos nutzen kann. Die zusätzlichen Funktionen
Blicke und brechen sie ab, wenn die Schwierigkeit eines ACC-Systems und insbesondere dessen Funk-
der Situation dies verlangt. Problematisch ist es, tionsgrenzen muss er jedoch neu erlernen. Dies gilt
bei der Einschätzung der Situation die richtigen in gleicher Weise für die Weiterentwicklung des
Hinweise wahrzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass Systems hin zu einem ACC mit Stop&Go-Funk-
durch die Kontrollblicke des Fahrers während ei- tion und zusätzlicher Querführungsunterstützung.
ner Nebentätigkeit vor allem die Entwicklung Es muss in jedem Fall durch Produktinformation
dieser vorab als wichtig eingeschätzten Hinweise oder andere Mittel, z. B. durch einen „Demonstra-
weiter verfolgt wird; andere werden oft ausgeblen- tionsmode“, sichergestellt werden, dass der Fahrer
det. Ein derartiges Situationsbewusstsein kann von ein angemessenes „inneres Modell“ der Systeme
technischen Systemen bisher nur sehr begrenzt aufbauen kann. Dieses Modell muss keinesfalls ein
entwickelt werden und entfällt deshalb bei der physikalisch korrektes Abbild der Funktionsweise
Planung einer angemessenen Aktion des Systems. darstellen; es kann durchaus aus Bildern und Me-
Fahrerassistenzsysteme, welche zunehmend auto- taphern aus der Erfahrung des Nutzers bestehen.
nom handeln, z. B. Notbremsungen einleiten, be- Entscheidend ist, dass das Modell die für ihn wich-
nötigen ihrerseits ein angemessenes „Bewusstsein“ tigen Funktionen, die Meldungen und Warnungen
der Situation, um nicht gegen die Intention des ver- und die Funktionsgrenzen enthält. Insbesondere
antwortlichen Fahrers zu agieren. Dazu gehören bei Funktionen, die selten verwendet werden, oder
neben der Erfassung des Fahrzeugumfeldes und Meldungen und Warnungen, die sehr selten auftre-
anderer Verkehrsteilnehmer auch die Absicht des ten, muss dem Fahrer Hilfestellung gegeben werden,
Fahrers. Es könnte sein, dass er ein vom Fahrzeug um diese kennen zu lernen und sie in sein inneres
eingeleitetes Manöver verstärken oder abbrechen Modell des Systems einzubauen. Insbesondere das
möchte, dass er einen Fahrstreifenwechsel plant Verhalten in Gefahrensituationen kann real nicht
oder einem Hindernis ausweichen möchte (siehe erlernt werden; hier sollte über den Einsatz von
auch ▶ Kap. 3). Simulatoren im Lernprozess nachgedacht werden.
626 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

33.2.9 Entlastung oder Belastung be at all times in a position to perform all manoeuvres
21 durch FIS und FAS? required of him. He shall, when adjusting the speed of
his vehicle, pay constant regard to the circumstances, in
22 Eine Grundregel bei der Gestaltung von Mensch- particular the lie of the land, the state of the road, the
Maschine-Systemen ist es, sowohl eine Überforde- condition and load of his vehicle, the weather conditions
rung als auch eine Unterforderung des Menschen zu and the density of traffic, so as to be able to stop his ve-
23 vermeiden. Es ist zu bedenken, dass die Interaktion hicle within his range of forward vision and short of any
des Fahrers mit dem FIS/FAS ein gewisses Maß sei- foreseeable obstruction. He shall slow down and if neces-
24 ner geistigen Kapazität bindet. Dies stellt prinzipiell sary stop whenever circumstances so require, and parti-
eine Zusatzbelastung dar, die durch die entlastende cularly when visibility is not good.“ Die Konsequenzen
Wirkung des FAS übertroffen werden soll. dieser Forderung für die Auslegung von eingreifenden
25 In mehreren Projekten (z. B. SANTOS [5], FAS sind in der Fachwelt in der Diskussion. Es existiert
COMUNICAR [6]) wurde versucht, die Interaktion z. B. die Meinung, dass Systeme, die vom Fahrer nicht
26 so zu gestalten, dass die Gesamtbelastung aus der übersteuert werden können, grundsätzlich nicht zu-
Fahraufgabe und möglichen Nebentätigkeiten des lässig seien. Dies betrifft sowohl Notbremssysteme als
27 Fahrers ein bestimmtes Maß nicht überschreitet. auch geschwindigkeitsbegrenzende Systeme. Andere
Dazu wurden Schätzungen der Belastung durch die Fachleute meinen, dass die „Vienna Convention on
Verkehrskomplexität, durch Nebentätigkeiten wie Road Traffic“ ausreichend Spielraum biete und z. B.
28 z. B. Gespräche mit Beifahrern zusammengeführt Notbremssysteme bei richtiger Auslegung durchaus
mit einer Schätzung der momentanen Leistungsfä- zulassungsfähig seien. Die Frage nach der Verantwor-
29 higkeit des Fahrers. Auch die Anpassung des Verhal- tung stellt sich auch bei sogenannten kooperativen
tens eines FAS an die individuelle Leistungsfähigkeit FAS. Sie tauschen mit anderen Verkehrsteilnehmern
30 und Präferenzen eines bestimmten Fahrers (Perso-
nalisierung) ist Gegenstand mehrerer Projekte.
und der Straßeninfrastruktur Daten aus und werden
durch diese Daten in ihrem Verhalten beeinflusst. Ein
Geht die Entlastung des Fahrers durch die ge- Beispiel ist das bereits genannte geschwindigkeitsbe-
31 nutzten Funktionen der FAS zu weit, besteht die grenzende System, das von außen in das Fahrzeug ein-
Gefahr, dass dieser ermüdet. Es ist auch der Frage greift. Sind derartige Eingriffe in mein Fahrzeug auto-
32 nachzugehen, ob er die Entlastung für irrelevante risiert, sind die zugrunde liegenden Daten zuverlässig,
Tätigkeiten nutzt und seine Aufmerksamkeit vom wer trägt die Verantwortung für das Verhalten meines
Verkehrsgeschehen abzieht. Auch eine Kompensa- Fahrzeugs? Eine Änderung der „Vienna Convention
33 tion der Entlastung durch riskanteres Fahren ist in on Road Traffic“ würde aufgrund ihrer weltweiten
Betracht zu ziehen und sollte im Entwicklungspro- Geltung erhebliche Anstrengungen erfordern und –
34 zess sorgfältig untersucht werden. zumindest teilweise – eine Verlagerung der Verant-
wortung vom Fahrer zum Hersteller oder Zulieferer
35 33.2.10 Verantwortung des Fahrers
bedeuten. Vor diesem Hintergrund sollten FAS derart
gestaltet werden, dass ihre Aktionen vom Fahrer je-
derzeit übersteuert werden können. Dies wiederum
36 Nach heutigem Stand der Diskussion in Fachkreisen verlangt eine Gestaltung, die dem Fahrer den momen-
ist es unumgänglich, dass der Fahrer die Verantwor- tanen Zustand eines FAS transparent macht, so dass er
37 tung für die Fahrzeugführung auch bei Einsatz von ein angemessenes „inneres Modell“ des Systemverhal-
FAS behalten muss. tens aufbauen und pflegen kann.
Diese Forderung ist bereits in der „Convention on
38 Road Traffic“ vom 8. 11. 1968 enthalten [1]. Dort heißt
es in Chapter II, Article 8.5: „Every driver shall at all 33.2.11 Stärken von Mensch
39 times be able to control his vehicle or to guide his ani- und Maschine
mals“ sowie in Article 13.1: „Every driver of a vehicle
40 shall in all circumstances have his vehicle under control
so as to be able to exercise due and proper care and to
Weiterhin wird die Auffassung vertreten, dass es
sinnvoll ist, einem FAS die Aufgaben zu übertra-
33.3  •  Systematische Entwicklung des HMI von FAS
627 33

gen, für die der Mensch aufgrund seiner Fähigkei- falls Modifikationen und Verbesserungen eines Sys-
ten weniger geeignet ist. Dies sind Routineaufgaben, tems erforderlich werden.
„einfache“, aber zeitkritische Aufgaben, Sehen bei
Nacht und schlechter Witterung, Schätzen von Ent-
fernungen und Geschwindigkeitsdifferenzen und 33.3.2 Unterstützungsbedarf
permanentes Abstandhalten. Es entsteht bei dieser des Fahrers
Aufgabenteilung aber das grundsätzliche Problem,
dass ein FAS mit zunehmender „Perfektion“ in Ideen für sinnvolle und hoffentlich am Markt erfolg-
immer mehr Situationen eine bestimmte Aufgabe reiche FAS können aus der Information verschiede-
lösen kann, sodass der Fahrer zunehmend seltener ner Quellen systematisch entwickelt werden. Dazu
zum Eingreifen veranlasst wird – dies aber in den gehören explizite Kundenwünsche, wie sie Fahr-
verbleibenden, schwierigsten Situationen tun muss. zeughersteller über ihre Verkaufsorganisationen
sammeln und auswerten. Auch die Analyse von
Unfalldaten, die z. B. aus der GIDAS-Datenbank
33.3 Systematische Entwicklung [2] entnommen werden, direkte Feldbeobachtun-
des HMI von FAS gen oder die Befragungen von Nutzergruppen sind
übliche Zugangswege.
33.3.1 Die Entwicklung des HMI Um die Vielfalt von Benutzergruppen und
im FAS-Entwicklungsprozess möglichen Situationen zu reduzieren, hat es sich
als sinnvoll erwiesen, bestimmte Nutzertypen und
Um die Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen der Fahrsituationen zu definieren und auszuwählen.
Nutzer in angemessener Weise zu berücksichtigen, Ein Nutzertyp kann beispielsweise eine „Mutter
müssen in jeder Phase der Entwicklung von FAS ne- mit Kind“ sein, die entsprechende Fahrsituation
ben Fachleuten für die Technik HMI-Experten mit die „Einfahrt in eine Tiefgarage“ im „Familienvan“.
geeigneten Verfahren einbezogen werden. Bereits zu Auch die Untersuchung einer Abfolge von Situatio-
Beginn, in der Phase der Ideenfindung, stehen die nen, wie sie z. B. bei einer „Urlaubsfahrt mit Familie
Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt der Überle- in ein Hotel in Spanien“ auftreten, kann Hinweise
gungen. Es folgt eine präzise, strukturierte Beschrei- auf einen bisher nicht identifizierten Bedarf an Un-
bung der Leistungen des Systems und der Umstände, terstützung durch FAS geben.
unter denen diese erbracht werden können. Zur Un-
tersuchung möglicher Auswirkungen beim Einsatz
derartiger Systeme werden Fragenkataloge benutzt, 33.3.3 Leitlinien zur Entwicklung
wie sie z. B. in dem EU-Projekt RESPONSE [7] ent- von FIS und FAS
wickelt wurden. Es folgen Tests mit repräsentativen
Nutzern in der sicheren Umgebung des Labors und 33.3.3.1 Leitlinie für FAS – RESPONSE
im Simulator. In diesem Stadium steht oft noch kein Code of Practice (CoP)
reales HMI des FAS, sondern eine Simulation oder In dem europäischen Projekt RESPONSE wurde
ein virtueller Prototyp zu Verfügung. Mit zuneh- durch eine Gruppe aus Kfz-Herstellern, Zulieferern,
mender Reife eines Systems und wachsender Er- Behörden, Forschungsinstituten und Anwaltskanz-
fahrung seiner Auswirkungen auf die Nutzer sind leien die Verantwortung von Herstellern, Nutzern
Fahrversuche im Testgelände und später im realen und des Gesetzgebers bei der Entwicklung und
Verkehr möglich. Zunächst beginnt man aus Grün- Nutzung von FAS untersucht. Die Ergebnisse mün-
den der Sicherheit und Wirtschaftlichkeit mit erfah- deten in einer Leitlinie, die inzwischen bei vielen
renen Experten, später werden ausgewählte Nutzer- Herstellern innerhalb ihres Entwicklungsprozesses
gruppen eingesetzt. Sobald ein Produkt im Markt angewandt wird oder bereits vorhandene firmenin-
eingeführt wird, entstehen weitere Erfahrungswerte, terne Prozeduren ergänzt. Wesentliche Punkte sind
die von HMI-Experten erfasst und ausgewertet wer- die Kontrollierbarkeit und Übersteuerbarkeit einer
den. All diese Prozessschritte enthalten Iterationen, Systemaktion durch den Fahrer.
628 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

33.3.3.2 Unterscheidung der Systeme um sich in nicht akzeptablem Umfang Nebentä-


21 In RESPONSE wurde unterschieden zwischen In- tigkeiten zuzuwenden.
formations- und Warnsystemen, eingreifenden Sys-
33.3.3.4 Fehler bei informierenden
22 temen, die der Fahrer jederzeit überstimmen kann,
Systemen
und Systemen, die der Fahrer aufgrund ihrer Ausle-
gung oder seiner psychomotorischen Grenzen nicht Bei Informations- und Warnsystemen verbleibt die
23 überstimmen kann. Führung des Fahrzeugs vollständig in der Hand und
In dem Projekt lag der Fokus vor allem auf ein- Verantwortung des Fahrers. Es ist aber möglich,
24 greifenden Systemen (Advanced Driver Assistance dass die Information oder Warnung des Systems
Systems, ADAS genannt), die eine intensive und fehlerhaft oder ungenau ist. In diesem Fall ist auch
sicherheitskritische Interaktion zwischen Fahrer, die Verantwortung des Herstellers oder Informati-
25 System und Fahrzeugumfeld aufweisen. Bei diesen onsanbieters in Betracht zu ziehen.
Systemen müssen im Entwicklungsprozess nicht
26 nur mögliche Fehler bei der Spezifikation, der Her- 33.3.3.5 Fragenkataloge des Code of
stellung und Integration betrachtet werden, sondern Practice
27 auch vorhersehbare Fehler beim Gebrauch oder Im Projekt wurde auch ein detaillierter Fragenkata-
Missbrauch der Systeme durch den Nutzer. log zur Spezifikation des FAS entwickelt (Checklist
A). Darin finden sich Fragen zur Aufgabe, welche
28 33.3.3.3 Kontrollierbarkeit bei das FAS lösen soll, zur Nutzergruppe, zum Fahr-
eingreifenden Systemen zeugtyp und zum Markt, in denen das FAS eingesetzt
29 In RESPONSE wurde erkannt, dass ein FAS aus werden soll. Auch die Sensoren, die Fahrsituation,
Sicht des Gesetzgebers und des Nutzers nur dann mögliche Risiken im Gebrauch, die geplante Infor-
30 zu handhaben ist, wenn es vom Nutzer jederzeit
kontrolliert oder von ihm überstimmt werden
mation des Nutzers über das System sowie Themen
wie Instandhaltung und Reparatur werden mit Hilfe
kann. Bei diesen Systemen muss die Zuweisung präziser Fragen spezifiziert. Eine zweiter Fragenka-
31 der Verantwortung im Einzelfall genau unter- talog (Checklist B) befasst sich mit den Auswirkun-
sucht und festgelegt werden. Wichtig sind dabei gen des FAS auf den Fahrer und den Straßenverkehr.
32 die Funktionsgrenzen des Systems, die Wahrneh-
mung des Fahrers von Warnungen und Grenzen
sowie das möglicherweise zu erwartende Verhal- 33.3.4 Richtlinien für FIS – „European
33 ten des Fahrers. Auch Fehlfunktionen des FAS Statements of Principles on
können zu einer Haftung des Herstellers führen. HMI“ (ESoP)
34 Die Beurteilung der Risiken durch falschen Ge-
brauch oder Missbrauch des FAS durch den Nut- Die zunehmende Ausstattung von Fahrzeugen
35 zer ist anspruchsvoll. Man muss die Erwartungen
der Nutzer an das System kennen, ebenso wie
mit Fahrerinformations- und Telematiksystemen
hat in der EU die Frage nach dem Bedarf nach
seine Möglichkeiten, das System zu missbrauchen. einer Regelung für die Gestaltung von FIS auf-
36 Wird der Fahrer beispielsweise einem Lenkeingriff geworfen. In einer Expertenkommission wurden
eines FAS entgegenarbeiten, um einem Hindernis die Richtlinien „European Statements of Prin-
37 auszuweichen? Umgekehrt kann es schwierig sein ciples on Human Machine Interface“ erarbeitet
zu erkennen, ob ein Fahrer ein FAS überstimmen und am 22. 12. 2006 veröffentlicht [8]. Sie gelten
möchte, weil er in einer kritischen Situation eine für alle Partner in der Wertschöpfungskette die-
38 andere Aktion als die des FAS möglicherweise für ser Systeme, vom Hersteller der Hardware, der
erfolgversprechender hält, oder ob seine Aktion Software, über die Datenlieferanten und die Kfz-
39 unbewusst im Schreck geschieht. Ein vorherseh- Hersteller bis hin zu den Endkunden. Bei nach-
barer Missbrauch könnte z. B. darin liegen, dass er rüstbaren Systemen wurden auch die Importeure
40 seine Entlastung bei der Querführung des Fahr-
zeugs durch ein Spurführungssystem verwendet,
und Händler mit ihrer individuellen Verantwor-
tung mit einbezogen. Es ist die Absicht der EU,
33.3  •  Systematische Entwicklung des HMI von FAS
629 33

dass diese Richtlinien in Form einer freiwilligen 33.3.5 Normen zur Gestaltung von FIS
Selbstverpflichtung der betroffenen Partner in den und FAS
jeweiligen Staaten vereinbart werden.
Die Richtlinien wurden zunächst auf FIS be- CoP und ESoP enthalten Forderungen und Metho-
schränkt; es sei aber angemerkt, dass viele dieser den; konkrete Zahlenwerte und Messverfahren sind
Prinzipien sinngemäß auch auf FAS angewendet wer- hingegen nicht enthalten. Sie verweisen deshalb
den können. Das übergeordnete Ziel ist es, dass der auf bestehende oder in der Entwicklung befindli-
Fahrer durch FIS nicht abgelenkt, überbeansprucht che Normen, die sich mit einzelnen FAS oder mit
oder gestört werden soll. Die Richtlinien sollen zu- übergreifenden Konzepten wie der Gestaltung von
künftige Technologien nicht blockieren; aus diesem Anzeigen, Warnungen oder Dialogen befassen.
Grund sind sie unabhängig von speziellen Techno- Normen setzen Mindestforderungen; jeder
logien formuliert. Die enthaltenen Grundsätze und Hersteller, der ein überlegenes Produkt anbieten
Empfehlungen werden jeweils durch eine Erklärung möchte, wird die Forderungen einer Norm übertref-
sowie durch positive und negative Beispiele erläutert. fen wollen. Normen sind keine Gesetze, jedoch für
den Hersteller weitgehend verbindliche Richtlinien.
In den Richtlinien sind allgemeine Entwicklungs- Kommt es zu Rechtsstreitigkeiten, werden Normen

-
ziele vorangestellt, so z. B.:
Das System ist so zu gestalten, dass es den
Fahrer unterstützt und nicht zu einem poten-
ziell gefährdenden Verhalten des Fahrers oder
als Stand der Technik herangezogen. Normen sol-
len den technischen Fortschritt nicht behindern. Sie
definieren deshalb meist nicht, wie ein bestimmtes
System gestaltet sein muss („Design Standard“) son-

- anderer Verkehrsteilnehmer Anlass gibt.


Die Aufteilung der Aufmerksamkeit des
Fahrers während der Interaktion mit Anzeigen
und Bedienteilen des Systems bleibt mit dem
dern legen fest, welche Leistungen ein bestimmtes
System erbringen soll („Performance Standard“).
Auch eine markenspezifische Gestaltung soll nicht
verhindert werden, solange dem Benutzer daraus,
in der jeweiligen Verkehrssituation gegebenen z. B. beim Wechsel von Fahrzeug zu Fahrzeug, kein

- Aufmerksamkeitsbedarf vereinbar.
Das System lenkt nicht ab und dient nicht zur
Sicherheitsrisiko erwächst.

- visuellen Unterhaltung des Fahrers.


Das System zeigt dem Fahrer keine Informa-
tion an, die ein möglicherweise gefährliches
Verhalten des Fahrers oder anderer Verkehrs-
33.3.6 Entwicklung von Normen

Internationale Normen werden in der ISO („Inter-

- teilnehmer zur Folge haben könnte.


Schnittstellen der Systeme und Schnittstellen
mit anderen Systemen, die zur gleichzeitigen
Nutzung durch den Fahrer während der Fahrt
national Standardisation Organisation“) entwickelt,
nationale deutsche Normen im DIN. Zusätzlich zu
den ISO-Normen werden in den USA für den US-
Markt SAE-Standards und in Japan JAMA-Stan-
vorgesehen sind, müssen einheitlich und kom- dards für den japanischen Markt entwickelt. In der
patibel gestaltet sein. Regel wird versucht, diese nationalen Standards den
ISO-Normen anzugleichen.
Fünf weitere Grundsätze fordern eine sichere In­
stallation, bei der alle optischen Anzeigen gut ab-
lesbar sind, und bei der keine Behinderung der Sicht 33.3.7 ISO-Normen zu HMI im Kfz
oder des Greifraums des Fahrers erfolgt. Auch für
die Interaktion mit Anzeigen und Bedienteilen, für In der ISO Arbeitsgruppe TC22/SC13/WG8 werden
das Systemverhalten und die Informationen für den Normen erarbeitet, die für die Interaktion zwischen
Nutzer über das System sowie die sichere Nutzung Fahrer und Fahrerinformationssystemen (FIS) im
werden Hinweise gegeben. Sie richten sich an Ver- Fahrzeug von Bedeutung sind. Sie betreffen z. B.
käufer, Mietwagenfirmen, an den Arbeitgeber pro- die Gestaltung des Dialogs zwischen Fahrer und
fessioneller Fahrer sowie an den Fahrer selbst. System, die Gestaltung auditiver Information, von
630 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

Bedienteilen und visueller Information. Diese Nor- Es ist auch für HMI-Experten unmöglich, beispiels-
21 men betreffen nicht nur einzelne FIS, sondern sollen weise ein ACC-System vollständig zu beurteilen,
auf alle unterschiedlichen Systeme innerhalb eines solange sie keine „Erfahrung“ damit gesammelt
22 Fahrzeugs angewandt werden. Sinngemäß können haben.
sie auch auf die Interaktion eines Fahrers mit einem
FAS Anwendung finden.
23 Zum Beispiel enthält die Norm ISO15008 [9] 33.4.2 Instrumente zur Beurteilung
Forderungen über die Darstellung von Informa- des Fahrerverhaltens
24 tion im Fahrzeug mittels optischer Anzeigen. Dies
betrifft z. B. den Beobachtungsbereich und die Sobald eine Simulation oder ein Prototyp eines FAS
Lichtverhältnisse, unter denen der Fahrer die An- vorliegt, können im Labor, im Fahrsimulator und
25 zeige ablesen können muss. Die Mindestkontraste, später im Fahrversuch der Umgang des Nutzers mit
welche notwendig für eine gute Ablesbarkeit sind, dem System und eventuelle Auswirkungen auf das
26 werden festgelegt, ebenso die Mindestgröße von Fahr- und Fahrerverhalten untersucht werden, siehe
alphanumerischen Zeichen. Auch die Forderung . Abb. 33.4. Dazu gehört die Ermittlung und Be-
27 nach Vermeidung von Reflexionen oder Spiege- wertung aussagekräftiger fahrdynamischer Größen,
lungen sind enthalten. Für diese Forderungen die beispielsweise die Längs- und Querdynamik
werden, soweit sinnvoll, auch Messmethoden fest- abbilden. Diese sind im Fahrsimulator einfach zu
28 gelegt. Weitere Dokumente, die bereits gültig oder erhalten, im Feld ist z. B. die Messung der Spurlage
noch in Entwicklung sind, betreffen das Manage- des Fahrzeugs aufwändiger. Auch die Messung des
29 ment von Dialogen des Fahrers mit dem System motorischen Verhaltens des Nutzers und der Blick-
(ISO15005) [10], die Gestaltung akustischer Sig- bewegungen ist im Feld schwieriger. Speziell das
30 nale im Fahrzeug (ISO15006) [11] und die Mes-
sung des Blickverhaltens des Fahrers (ISO15007)
Blickverhalten ist von großem Interesse, da Abwei-
chungen vom gewohnten „Scannen“ des Fahrraums
[12]. und überlange Blicke auf ein Display im Fahrzeug
31 Hinweise auf visuelle Überbeanspruchungen, z. B.
durch die Interaktion mit einem FAS, geben.
33.4 Bewertung von FAS-
32 Gestaltungen
Aus physiologischen Parametern lassen sich
Hinweise auf geistige oder körperliche Beanspru-
chungen des Fahrers ableiten, durch Fragebögen
33 33.4.1 Bewertungsverfahren und Interviewverfahren können subjektive Einstel-
lungen und „Erfahrungen“ erfasst werden.
34 In den verschiedenen Stadien der Entwicklung eines
FAS muss die Einhaltung der Grundsätze systema-
33.4.3 Bewertungsumgebung
35 tisch überprüft werden. Mit zunehmender Reife
eines FAS und der damit zur Verfügung stehenden
Realisierung des HMI können unterschiedliche Be- Untersuchungen mit Nutzern von FAS können nicht
36 wertungsverfahren eingesetzt werden. ausschließlich im Labor erfolgen. Grund ist die
Bereits bei der Ermittlung des Unterstützungs- zwangsweise extreme Vereinfachung und Abstrak-
37 bedarfs können Ideen für ein FAS aufbereitet und tion, von der auch der HMI-Experte nur teilweise
Nutzergruppen beispielsweise in einer Gruppendis- absehen kann. Der Dialog eines Eingabevorgangs
kussion vorgelegt werden. Das Grundproblem dabei bei einem Navigationssystem kann möglicherweise
38 ist, diese Aufbereitung verständlich zu gestalten und noch ausreichend auf einem Display am Schreib-
die Leistungen und Grenzen des FAS klar zu vermit- tisch überprüft werden. Einer ACC-Modellierung
39 teln. Auch wenn dies anschaulich geschieht, können auf dem Bildschirm allein fehlen aber die wesent-
die Äußerungen dieser potenziellen Nutzer nur als lichen fahrdynamischen Einflüsse. Auch wenn der
40 Hinweis gewertet werden, insbesondere wenn der
Umgang mit dem System „intuitiv“ erfolgen wird.
Einfluss der Nutzung eines Informationssystems
auf die primäre Fahraufgabe untersucht werden
33.4  •  Bewertung von FAS-Gestaltungen
631 33
.. Abb. 33.4  Instrumente zur Beob-
achtung des Fahrerverhaltens

soll, muss ein geeigneter Fahrsimulator eingesetzt sondere Langzeitversuche, wie sie beispielsweise für
werden. Die Anforderungen an diesen Simulator er- die Ermittlung von Lernkurven und Verhaltensän-
geben sich aus dem Untersuchungsgegenstand. So derungen des Fahrers nötig sind, stellen einen auf-
kann es sein, dass an die Bilddarstellung besondere wändigeren, aber unverzichtbaren Bestandteil einer
Ansprüche zu stellen sind, z. B. für die Untersu- verantwortungsbewussten Produktentwicklung dar
chung eines visuell unterstützenden FAS. Auch die (s. ▶ Kapitel 12).
Realitätsnähe der Bewegungssimulation kann be-
sonders wichtig sein, beispielsweise bei FAS, die in
die Längs- und Querführung des Fahrzeugs eingrei- 33.4.4 Anwendung der Verfahren
fen. Trotz der Vorteile eines Simulators wie Sicher- und Fehlermöglichkeiten
heit und Reproduzierbarkeit sind Fahrversuche im
Feld, d.h. zunächst auf einer Teststrecke und später Die Anwendung dieses Bewertungsinstrumentari-
in der komplexen Umgebung des realen Verkehrs, ums erfordert umfassende Kenntnisse und Erfah-
unverzichtbar. Um den Aufwand für die Schaffung rung, wie sie durch ein entsprechendes Studium
einer realitätsnahen Fahrumgebung auf einer Test- und langjährige experimentelle Arbeit aufgebaut
strecke zu reduzieren, kann man diese durch ein werden. Dies beginnt mit der Auswahl eines ge-
Computermodell generieren und passgenau mit- eigneten Untersuchungsdesigns, erstreckt sich über
tels eines Virtual Reality Displays in das Blickfeld die Auswahl der Probanden und die Durchführung
des Nutzers einspielen (s. ▶ Kapitel 10). Auch für der Versuche bis hin zur Auswertung und Inter-
die prinzipielle Überprüfung der Eignung und der pretation der Ergebnisse. Neben den bekannten
Übertragbarkeit eines Simulatorversuchs für eine Fehlermöglichkeiten beim Messen in den Natur-
bestimmte Fragestellung muss ein „Kalibrieren“ wissenschaften, die hier ebenfalls beispielsweise bei
mittels eines Feldversuchs erfolgen. Bei Fahrver- der Verwendung von fahrdynamischen und phy-
suchen auf einer Teststrecke und insbesondere im siologischen Sensoren auftreten können, gibt es bei
realen Verkehr muss die Sicherheit des Nutzers und der Messung mentaler Vorgänge der Nutzer eine
anderer Verkehrsteilnehmer gewährleistet werden. Fülle weiterer Fallen: Bereits das Wissen um die
Dies kann z. B. bei Fahrten auf öffentlichen Straßen Teilnahme an einem Experiment kann eine Ursa-
durch einen mitfahrenden Fahrlehrer geschehen, che für verändertes Probandenverhalten sein. Auch
der mit Hilfe einer zweiten Pedalerie in kritischen die Anwesenheit eines Versuchsleiters während der
Situationen eingreifen kann. Fahrversuche, insbe- Beobachtung und dessen Verhalten, wie z. B. Sug-
632 Kapitel 33  •  Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion

gestivfragen und Hilfestellungen, wirken auf den Literatur


21 Probanden ein. Bei physiologischen Messungen
zeigen sich Reaktionen oft nur mit Verzögerung [1] Convention on Road Traffic, Vienna, 8. 11. 1968, consolida-
ted version, S.  11–15, http://www.unece.org/fileadmin/
22 gegenüber dem auslösenden Reiz. Die angewandte
DAM/trans/conventn/crt1968e.pdf
Sensorik kann den Probanden behindern oder ein- [2] GIDAS, German in‐depth Accident Study, http://www.vufo.
schüchtern. Aufgrund der geringen Leistung der
23 erfassten Signale sind in störreicher Umgebung
de/
[3] Neale, V. J.; Dingus, T. A.; Klauner, S. G.; Sudweeks, J.; Good-
wie im Kfz-Innenraum Störungen leicht möglich. man, M.: An Overview of the 100‐Car Naturalistic Driving

24 Bei physiologischen Signalen ist mit erheblichen


Study and Findings, Paper Number 05‐0400, National High-
way Traffic Safety Administration, (2005)
Variationen der Parameter unterschiedlicher Ver- [4] Lietz, H.: Methodische und technische Aspekte einer natu-
suchspersonen, aber sogar bei ein und derselben
25 Person in unterschiedlichen Situationen zu rech-
ralistic driving study, Forschungsvereinigung Automobil-
technik FAT‐Schriftenreihe, Bd. 229. VDA, (2010)
nen. Bei der Gestaltung und der Verwendung von [5] König, W., Weiß, K.E., Mayser, C.: S. A. N. T. O.S – A Concept
26 Fragebögen und Interviews existieren weitere Feh-
for Integrated Driver Assistance, Electronic Systems for
Vehicles. Elektronik im Kraftfahrzeug, Tagung der VDI-
lermöglichkeiten: Suggestivfragen sind unbrauch- Gesellschaft Fahrzeug und Verkehrstechnik, Baden-Baden
27 bar. Es kann sein, dass die Antworten zur sozialen (2003). www.santos.web.de
Erwünschtheit tendieren oder dass Probanden [6] COMUNICAR, Communication Multimedia Unit inside
glauben, sich rechtfertigen zu müssen. Auch mit Car; http://cordis.europa.eu/fetch?CALLER=NEW_RESU_
28 Erinnerungslücken von Probanden ist zu rechnen;
TM&ACTION=D&RCN=45254
[7] RESPONSE 3, Code of Practice for the Design and Evalua-
hier kann durch Konfrontation mit Videoaufzeich- tion of ADAS, V5.0, August 2009; http://www.acea.be/up-
29 nungen des Versuchs unterstützend eingewirkt loads/publications/20090831_Code_of_Practice_ADAS.
werden. pdf
[8] Commission Recommendation of 22 December 2006 on
30 safe and efficient in‐vehicle in‐formation and communi-
cation systems: update of the European Statements of
33.5 Zusammenfassung
31 Principles on human machine interface, Official Journal of
the European Union, 6. 2. 2007, L 32/200; ftp://ftp.cordis.
Ein FAS muss ein transparentes Systemverhalten, zu europa.eu/pub/telematics/docs/tap_transport/hmi.pdf

32 den Erwartungen des Nutzers konforme Systemei- [9] ISO15008, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
port information and control systems — Specifications and
genschaften, eine einfache Bedien- und Erlernbar-
compliance procedures for in‐vehicle visual presentation,
keit und dem Nutzer vermittelbare Systemgrenzen
33 aufweisen. Die Entwicklung eines FAS erfordert das
ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO Central Secretariat, 1211 Geneva
20, Switzerland; http://www.iso.org/iso/iso_catalogue/ca-
Zusammenwirken von Experten aus Ingenieur- und talogue_tc/catalogue_detail.htm?csnumber=50805
34 Geisteswissenschaften. Im Entwicklungsprozess ei- [10] ISO15005 — Ergonomic aspects of transport information
and control systems — Dialogue management principles
nes FAS sind geeignete Messverfahren einzusetzen;
and compliance procedures, ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO
35 ihre Anwendung erfordert Expertenwissen und Er-
fahrung. Neben Komfort, Sicherheit des Gebrauchs,
Central Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland; http://
www.iso.org/iso/catalogue_detail.htm?csnumber=34085
der Akzeptanz dieser Systeme durch Nutzer und [11] ISO15006, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
36 Gesellschaft gewinnt mit zunehmendem Eingrei- port information and control systems — Ergonomic as-
pects of in vehicle auditory presentation for transport
fen von FAS in den Fahrprozess vor allem die Frage
information and control systems, Specifications and
37 nach der Verantwortung des Fahrers wesentliche Compliance procedures, ISO TC 22/SC 13/WG8, ISO Cen-
Bedeutung. Viele grundlegende Anforderungen aus tral Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland; http://www.
HMI-Sicht an FAS sind bekannt; sie sind aber noch iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/catalogue_detail.
38 nicht ausreichend spezifiziert und durch Mess- htm?csnumber=55322
[12] ISO15007, Road vehicles — Ergonomic aspects of trans-
verfahren abgesichert. Weitere Fragen werden in
39 weltweiten Entwicklungsprojekten untersucht; ihre
port information and control systems — ISO TC 22/SC 13/
WG8, ISO Central Secretariat, 1211 Geneva 20, Switzerland;
Ergebnisse sowie Erfahrungen aus dem Einsatz von http://www.iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/cata-

40 FAS im Feld müssen in Richtlinien und Normen


einfließen.
logue_detail.htm?csnumber=26194
633 34

Gestaltung von Mensch-


Maschine-Schnittstellen
Ralph Bruder, Muriel Didier

34.1 Ein Arbeitsmodell von Mensch-


Maschine-Schnittstellen – 634
34.2 Grundeinteilung der Schnittstellen   –  634
34.3 Gestaltungsleitsätze und -prinzipien  –  638
34.4 Gestaltungsprozess – 641
34.5 Praxis und Gestaltungsprozess  –  643
Literatur – 645

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_34, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
634 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine erfolgen die Verarbeitungsprozesse dieser Informa-
21 erfolgt über Schnittstellen, die dem Fahrer Infor- tionen, die meistens zu einer Handlung über das
mationen liefern und ihm behilflich sein sollen, die Lenkrad, die Pedale, Schalter oder Hebel führt. Die
22 Fahraufgabe sicher, effektiv und effizient zu bewäl- menschlichen Faktoren ebenso wie die Umgebungs-
tigen. Wie die Gestaltung von Anzeigen und Bedie- parameter beeinflussen die drei Phasen dieses Pro-
nelementen vorgenommen werden muss und wor- zesses: Informationsaufnahme, Informationsver-
23 auf während des Entwicklungsprozesses in Bezug arbeitung und Handlung. Da die Schnittstelle die
auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine Rolle eines „Vermittlers“ während dieses gesamten
24 Rücksicht genommen werden muss, soll hier geklärt Prozesses trägt, sollen die Anforderungen an die
werden. Schnittstelle alle Einflussfaktoren bzw. -größen be-
So wird zunächst ein Arbeitsmodell zur Erklä- rücksichtigen (. Abb. 34.1).
25 rung der menschlichen Informationsverarbeitung Immer mehr technische Elemente werden im
und des Handlungsprozesses geliefert, das als Basis modernen Fahrzeug beteiligt, die beim Informa-
26 der Gestaltung von MMS angesehen werden kann. tionsaufnahmeprozess sowie bei der Ausgabetä-
Darauf folgen unterschiedliche Systematisierungen tigkeit des Fahrers behilflich sein sollen. Im Zuge
27 von Anzeigen und Bedienelementen, die sich der des aktuellen Trends zur Vermehrung von FAS –
Problematik des Fahrens am ehesten annähern. Im insbesondere wenn sie einen Teil der Fahrtätigkeit
Mittelpunkt des Gestaltungsprozesses soll jedoch übernehmen (z. B. ACC) und dabei die Informati-
28 der Mensch stehen, weshalb Gestaltungsleitsätze onsverarbeitungsprozesse modifizieren – soll bei
und Prinzipien angeführt werden, um die Grund- der Entwicklung besondere Aufmerksamkeit auf
29 lage des Vorgehens – fokussiert auf benutzerorien- die menschlichen Aspekte der Gestaltung gelegt
tierte Umsetzung – zu erläutern. werden. Die Schnittstellen sollen an den Menschen
30 angepasst werden, um diese Informationsverarbei-
tungsprozesse optimieren zu können.
34.1 Ein Arbeitsmodell von Mensch-
31 Maschine-Schnittstellen
34.2 Grundeinteilung
32 Als Basis für ein Arbeitsmodell der MMS dient das der Schnittstellen
sehr häufig in Wissenschaft und Praxis angewendete,
so genannte Stimulus-Organism-Response-Modell, Die erste Grundeinteilung von Schnittstellen, die
33 kurz S-O-R Modell, welches auch unter dem Namen in der Forschung wie bei der Anwendung sehr ver-
Reiz-Reaktions- oder Input-Output-Modell bekannt breitet ist, besteht in der Differenzierung zwischen
34 ist. Es handelt sich dabei um ein der Psychologie ent- Anzeigen und Bedienelementen.
lehntes Modell der menschlichen Informationsverar- Die Anzeige, die hier im Sinne einer allgemeinen
35 beitung, das erklärt, wie Reiz und Reaktion verknüpft
sind. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein
Informationsaufnahme betrachtet wird, stellt also
den Auslöser des menschlichen Informationsverar-
Stimulus, z. B. ein Warnton im Auto, im Organismus beitungsprozesses dar. Die Bedienelemente hinge-
36 verarbeitet wird und dann in Form von Motivations-, gen bilden den ausführenden Teil, nämlich das, was
Entscheidungs- oder Lernprozessen zu bestimmten der Fahrer nach der Informationsaufnahme und der
37 Reaktionen führt, beispielsweise zu einer körperli- -verarbeitung letztendlich tut oder „bedient“. Diese
chen wie der Betätigung eines Bedienelements. Dabei beiden Gruppen stellen damit zwei völlig unter-
wird eine Rückmeldung an den Organismus gegeben, schiedliche Faktoren dar, weshalb sie hier separat
38 z. B. in Form eines Geräuschs, die den Erfolg der Be- betrachtet werden sollen. In den nächsten Kapiteln
dienung bestätigt (siehe auch ▶ Kapitel 1). zu konkreten Gestaltungsempfehlungen werden die
39 Im heutigen Fahrzeug werden die Informatio- Warnungen, die zum Informationsaufnahmepro-
nen über optische Anzeigen, akustische Warntöne zess gehören, in einem eigenen Teil (▶ Kapitel 37)
40 und Signale oder anhand haptischer Rückmeldung
über das Lenkrad oder den Sitz vermittelt. Danach
beschrieben, da die zugrunde liegenden Faktoren
sehr spezifisch sind.
34.2  •  Grundeinteilung der Schnittstellen
635 34
.. Abb. 34.1  Arbeitsmodell der Interaktionen
Mensch/Schnittstelle in Fahrzeugen

Bezogen auf die Unterteilung der Mensch- auch fünf Merkmale definiert, die die Spezifität der
Maschine-Schnittstellen in zwei Hauptkatego- Fahrzeugführung berücksichtigen.
rien – Bedienelemente und Anzeigen – ist mit
unterschiedlichen Ansätzen versucht worden, die Der Klassifizierungsansatz für die breite Palette der
Schnittstellen zu charakterisieren. Dabei soll der üblicherweise verwendeten Stellteile von Rühmann
Optimierungsprozess zwischen Bedürfnis und
Leistungsfähigkeit des Menschen und des Leis-
tungsvermögens der Schnittstelle vereinfacht wer-
den. Im Folgenden werden solche Ansätze präsen-
-
[1] beinhaltet folgende fünf Ordnungssysteme:
Bedienung: Eine Klassifikation kann nach den
Extremitäten erfolgen, mit denen die Bedie-
nelemente betätigt werden bzw. die auf die
tiert, die sich an die Problematik des Fahrens am Bedienelemente einwirken, beispielsweise Fin-
ehesten annähern. ger- (Lichtschalter), Hand- (Schalthebel), Fuß-
(Gaspedal) oder Beinbedienung (Bremspedal).
Weitere Unterteilung in Greif- und Tretarten

-
34.2.1 Bedienelemente ist möglich.
Bewegungsart: Entsprechend der Bewegungs-
Rühmann [1] entwickelte eine generelle und breit richtung der Bedienelemente lassen sich Rota-
angelegte Charakterisierung der Bedienelemente: tionsbewegungen und Translationsbewegun-
Er sortiert die Unterscheidungsmerkmale nach fünf gen sowie quasitranslatorische Bewegungen
verschiedenen Ordnungssystemen. Ein Ansatz zur
Charakterisierung von Bedienelementen mit spezi-
fischer Orientierung an der Fahrzeugproblematik
ist von Eckstein [2] entwickelt worden, der dabei
- unterscheiden.
Wirkungsweise: Hinsichtlich der Wirkungs-
weise unterscheidet man analoge (stetige) und
digitale (diskrete) Bedienelemente.
636 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

21 - Dimensionalität: Die Dimensionalität stellt


die Menge an verfügbaren Freiheitsgraden des
Im Kraftfahrzeug überwiegt die Eingabe über
die oberen und unteren Extremitäten. Diese Mög-

22 - Bedien­elements dar.
Integration: Werden in einem Bedienelement
mehrere Bedienfunktionen kombiniert, spricht
man von einem integrierten Bedienelement, so
lichkeit der Eingabe kann als Hand/Arm-Bewegung
für die oberen Extremitäten und als Bein/Fuß-Be-
wegung für die unteren Extremitäten bezeichnet
werden, wobei die Finger in dieser Betrachtung
23 können in einem Bedienelement gleichzeitig natürlich eingeschlossen sind.
unterschiedliche Teil- oder Parallelaufgaben Hände und Arme werden im Kraftfahrzeug bei-
24 mit sequenzieller oder simultaner Betätigung spielsweise für die querdynamische Regelung über
untergebracht werden. das Lenkrad verwendet, mithilfe der unteren Extre-
mitäten (Bein und Fuß) wird die längsdynamische
25 Eckstein [2] klassifiziert die Bedienkonzepte in Be- Führungsgröße eingestellt. Die Nutzung der Extre-
zug auf die Kraftfahrzeugführung nach folgenden mitäten beschränkt sich allerdings nicht auf stabili-

-
26 fünf Merkmalen: sierende Aufgaben. Alle Tasten, Drehstellteile und
Zahl der Stellteile: beispielsweise drei Hebel für Touchscreens nutzen ebenfalls zumindest Teile des
27 drei Funktionen, Fahrtrichtungsanzeiger, ACC Hand/Arm-Systems. Somit sind sie ebenfalls für die

28 - und Scheibenwischer.
Zahl der Freiheitsgrade eines Stellteils: Bei dem
Bedienkonzept „Lenkrad und Automatikge-
triebe“ ergeben sich die drei Freiheitsgrade
Bedienung von Fahrerassistenzsystemen von über-
geordneter Bedeutung. Im Folgenden werden Ein-
gabemodalitäten unterschieden, die für die Eingabe
von Stellsignalen infrage kommen. Die letzten drei
29
30
- Lenkrad, Gaspedal und Bremspedal.
Sollwertvorgabe: Als Sollwertvorgabe dienen
der Winkel (Lenkradwinkel), der Weg (Dros-
sind typische berührlose Eingabemöglichkeiten.
Hand/Arm-Eingabe: Neben dem schon er-
wähnten Lenkrad werden die Bedienelemente für

31 - selklappe) und die Kraft (Bremsdruck).


Rückmeldung: Die einwirkenden Kräfte und
Wege auf dem Lenkrad dienen als Rückmel-
sekundäre und tertiäre Fahraufgaben, wie dem
Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers oder der In-
fotainment-Einrichtungen, über Bewegungen des

32 - dungsinformation.
Stellteilart (isomorph, isotonisch, isometrisch):
Dabei stellen das Gaspedal und das Bremspe-
dal eine isomorphe Stellteilart dar.
Arms und der Hand realisiert.
Bein/Fuß-Bewegungen: Überwiegend wird das
Bein/Fuß-System für die Betätigung der Pedalerie,
in wenigen Fällen für die Feststellbremse verwendet.
33 Gewichtsverlagerung: Die Verlagerung der
Darüber hinaus ist es durchaus auch möglich, eine Masse des menschlichen Körpers kann ebenfalls
34 Klassifizierung nach dem Kriterium der Fahrzeug- als Eingabemedium verwendet werden, wie es bei-
steuerung, „Querführung“ und „Längsführung“ spielsweise indirekt bei einem Motorrad erfolgt.
35 oder nach den drei Bereichen „Lenken“, „Beschleu-
nigen“ und „Bremsen“ vorzunehmen.
Spracheingabe: Die Eingabe von Befehlen über
Schlüsselwörter ist aus dem Bereich der Mensch-
Greift man die Klassifizierungsansätze von Computer-Interaktion bekannt. Die Übergabe
36 Rühmann [1] und Eckstein [2] auf, ist ersichtlich, solcher verbalen Kommandos im Kraftfahrzeug
dass – abgesehen von dem Kriterium der Bedie- kommt beispielsweise für mobile Kommunikati-
37 nung – die Bedienelemente im Mittelpunkt der onsgeräte oder die Bedienung des Infotainment-
Betrachtung stehen. Eine menschzentrierte Sicht- Systems zum Einsatz.
weise auf die Übergabe von Befehlen vom Fahrer Augenbewegung: Für die Bedienung mit einem
38 auf das Fahrzeug führt zu einer Einteilung nach Computer sind seit längerer Zeit Interaktionssys-
verschiedenen Eingabemodalitäten. Eine Zusam- teme dieser Art vorhanden; im Fahrzeug sind solche
39 menfügung von beiden Sichtweisen, orientiert an Systeme noch nicht für den Serieneinsatz geeignet.
Objekt und Mensch, ist bedeutsam für die Opti- Mimik/Gestik: Die Nutzung von Gesten als
40 mierung der Gestaltung von Schnittstellen. Eingabemöglichkeit, z. B. zur Gangschaltung, be-
findet sich noch in einer experimentellen Phase.
34.2  •  Grundeinteilung der Schnittstellen
637 34

Eine weitere Entwicklung in Richtung Emotion- über menschliche Leistungen, insbesondere bei der
und Mimikerkennung ist denkbar, obwohl noch Informationsaufnahme (siehe ▶ Kapitel 1).
Schwierigkeiten bestehen, diese Systeme in einem Ein klassisches Schema der Einsetzung von
Fahrzeug auf unterschiedliche Fahrertypen zu Wahrnehmungsformen im Fahrzeug kann wie folgt
übertragen. beschrieben werden: Durch den visuellen Kanal ist
es dem Fahrer möglich, andere Verkehrsteilnehmer
und Anzeigen des Fahrzeugs (z. B. Tankanzeige)
34.2.2 Anzeige wahrzunehmen. Akustische Signale werden oft für
Warnungen, seltener auch für Zustandsanzeigen
Das primäre Ziel einer Anzeige ist die Mitteilung verwendet (Relaisgeräusch bei einem Wechsel-
von Informationen an den Menschen, die als Input richtungsanzeiger). Die vestibuläre Wahrnehmung
im Verarbeitungsprozess dienen. Bei der Gestaltung informiert den Fahrer über die verschiedenen Be-

-
von Anzeigen werden drei Hauptfragen gestellt [3]:
Welche Information soll vermittelt werden
schleunigungen, die auf ihn wirken. Die Sensibilität
wird im Fall der taktilen Wahrnehmung beispiels-

- („Informationsinhalt“)?
Wie soll diese Information übermittelt werden
weise für die Betätigung eines Drucktasters verwen-
det, die kinästhetische Wahrnehmung kommt vor

- („Darstellungsform“)?
Wo wird die Information präsentiert („Darstel-
lungsort“)?
allem bei größeren Bewegungen und Vibrationen
zum Tragen wie der Bedienung des Lenkrads.
Wie sind die FAS in diese Schema integriert? Für
die aktuell vermarkteten FAS wird visuelle, taktile
Sehr häufig basiert die Gliederungssystematik der und kinästhetische Wahrnehmung verwendet, wie
Anzeige auf der Darstellungsform mit unterschied- im Fall der Momentimpulse in das Lenkrad eines
lichen Detaillierungsebenen. Lane-Keeping-Systems oder der Vibrationselemente
Schmidtke [3] hingegen unterscheidet bei der beim Überschreiten der Fahrstreifen innerhalb des
Beschreibung der Darstellungsformen von Anzei- Fahrstreifenverlassenswarners. Selbst die vestibuläre
gen zwischen drei Signalarten (optisch, akustisch Wahrnehmung kann zu einem gewissen Teil als An-
und haptisch) und beschreibt weiter, wie die Form zeige dienen. Dies kommt in FAS zum Tragen, die
der Information bezüglich ihrer technischen Basis stabilisierende Aufgaben im Fahrzeug übernehmen,
aussehen kann (digital/analog). Dabei werden die so z. B. beim Abstandsregeltempomat. Durch eine
unterschiedlichen Anzeigen nach weiteren Merk- Verzögerung des Fahrzeugs aufgrund der Regelung
malen eingeordnet, wie z. B. der Form der Skala des ACC-Systems wird dem Fahrer angezeigt, ob
(z. B. kontinuierlich, stufenweise, rund) oder der das vorausfahrende Fahrzeug erkannt wurde, ohne
Dimensionalität der Anzeige (feste Skala, bewegli- dass er gezwungen wird, die Augen von der Straße
che Zeiger oder umgekehrt). zu nehmen. Akustische Signale werden im Fall von
Bei Timpe et al. [4] wird wiederum von visu- FAS oft für Warnungen eingesetzt, da diese nicht an
ellen, auditiven und haptischen Schnittstellen ge- spezielle Faktoren wie die Blickrichtung gebunden
sprochen. Für jede Kategorie unterteilt er darüber sind.
hinaus nach der Art der Information, die mit die- Der optische Kanal ist bei der Bedienung des
sem Mittel an den Menschen übertragen werden Kraftfahrzeugs einer hohen Anzahl von Reizen aus-
kann: Beispielsweise können die auditiven Anzeigen gesetzt und sollte, soweit möglich, nicht durch wei-
verbal und nonverbal Information liefern, wobei bei tere Informationen von Assistenzsystemen belastet
der nonverbalen Information noch einmal zwischen werden. Die Entwicklung von FAS, die die taktile
Tönen und Geräuschen unterschieden wird. und kinästhetische Wahrnehmung verwendet, hat
Die Gliederungssystematiken zur Einteilung aber erst begonnen und wird meistens durch zu-
von Anzeigen basieren hauptsächlich auf techni- sätzliche visuelle oder akustische Signalen ergänzt.
schen Eigenschaften der Anzeigenelemente. Eine Die Gegenüberstellung von beiden Ansätzen,
Systematisierung nach den Wahrnehmungsformen technischen Eigenschaften und menschlichen Ei-
aus der menschlichen Perspektive liefert Hinweise genschaften, soll zeigen, welche Wahrnehmungsfor-
638 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

men zur Verfügung stehen und welche Anzeigen für Erfüllung der sechs Gestaltungsleitsätze (Aufga-
21 den Menschen am geeignetsten für eine Informati- beangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit,
onsübertragung sind. Dieser Optimierungsprozess Steuerbarkeit, Erwartungskonformität, Fehlertole-
22 ist besonders wichtig, wenn gleichzeitig mehrere ranz, Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit)
Informationen übermittelt werden müssen oder dient als Basis für eine erfolgreiche Realisierung
Informationen schnell bearbeitet werden sollen. einer Mensch-Maschine-Schnittstelle ebenso wie
23 Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Ein- für die Gestaltung von FAS. Grundsätzlich sollten
teilung der Anzeige keine Auskunft zum Informa- diese Leitsätze, genau wie die Prinzipien, während
24 tionsinhalt und Darstellungsort geben kann. Die des gesamten Gestaltungsprozesses Bedingung sein.
zwei Eigenschaften einer Anzeige sind abhängig von
vielen Faktoren, entsprechend der Komplexität des 34.3.1.1 Aufgabenangemessenheit
25 Informationsverarbeitungsprozesses. Diese Fragen (Funktionszuweisung,
sind Teil des Gestaltungsprozesses und müssen für Komplexität, Gruppierung,
26 jede Aufgabe oder Entwicklung neu überprüft und Unterscheidbarkeit,
an die spezifischen Bedienungen angepasst werden. funktioneller
27 Leitsätze und Prinzipien, die dabei unterstützend Zusammenhang)
wirken, werden im nächsten Unterkapitel vorgestellt. Eine Schnittstelle ist in dem Maße aufgabenange-
messen, wie sie den Benutzer unterstützt, seine Ar-
28 beitsaufgabe sicher, effektiv und effizient zu erledi-
34.3 Gestaltungsleitsätze gen. Dabei lässt sich die Aufgabenangemessenheit
29 und -prinzipien in die Funktionszuweisung, die Komplexität, die
Gruppierung, die Unterscheidbarkeit und den funk-
34.3.1 Gestaltungsleitsätze
30 tionellen Zusammenhang einer Aufgabe unterteilen.
Die Funktionszuweisung beschreibt eine sinn-
Ein übergeordnetes Prinzip bei der Entwicklung volle Verteilung von Funktionen zwischen Mensch
31 von Mensch-Maschine-Schnittstellen besteht darin, und Maschine, die anhand der Betrachtung der Auf-
dass die Maschine und die dazugehörigen Elemente gabenerfordernisse sowie der Eigenschaften, Fähig-
32 wie Anzeigen und Bedienelemente für den Benutzer keiten und Fertigkeiten des Menschen entschieden
und die an sie gestellte Aufgabe geeignet sein müs- wird. Die Komplexität sollte dabei möglichst gering
sen. Um dieses allgemeine Prinzip zu realisieren, gehalten werden. Geschwindigkeit und Genauigkeit
33 muss das System so gestaltet sein, dass die mensch- des menschlichen Agierens sind Variablen, die hier
lichen Charakteristika bzw. Leistungsfähigkeiten Berücksichtigung finden sollten. Insbesondere muss
34 hinsichtlich ihrer physischen, psychologischen und die Komplexität der Aufgabenstruktur sowie Art
sozialen Aspekte berücksichtigt werden. In ▶ Kapi- und Umfang der vom Benutzer zu verarbeitenden
35 tel 1 sind sie untergliedert in drei Kategorien: Eigen-
schaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten.
Information beachtet werden. Die Gruppierung der
Anzeigen und Bedienelemente sollte derart sein,
Einer definierten Schnittstelle entspricht eine dass sie leicht kombiniert genutzt werden können.
36 bestimmte Benutzergruppe. Die klare Zusammen- Wichtig sind auch die Unterscheidbarkeit und die
stellung dieser Gruppe ermöglicht eine präzise Anordnung nach funktionellem Zusammenhang,
37 Identifikation der Leistungsfähigkeiten, die bei der da jederzeit die problemlose Identifizierung zur si-
Auswahl einer Schnittstelle zur Verfügung stehen. cheren Benutzung der verschiedenen Anzeigen und
Weitere übergeordnete Leitsätze zur Gestal- Bedienelemente gewährleistet sein muss.
38 tung von Mensch-Maschine-Schnittstellen sind in
Normen, Richtlinien und Leitfäden beschrieben. 34.3.1.2 Selbstbeschreibungs­
39 Die Norm DIN EN ISO 9241-110 [5] beschreibt fähigkeit
sechs ergonomische Leitsätze bzw. Anforderungen, (Informationsverfügbar­keit)
40 die bei der Gestaltung von Schnittstellen (Anzei-
gen und Stellteile) zu berücksichtigen sind. Die
Die Selbsterklärungsfähigkeit einer Schnittstelle be-
steht, wenn der Nutzer ohne Probleme bzw. Zweifel
34.3  •  Gestaltungsleitsätze und -prinzipien
639 34

die Anzeigen und die Bedienelemente erkennen Bei der Erwartungskonformität wird unter-
und den Prozess verstehen kann. schieden zwischen erlernten Stereotypen, wie z. B.
Neben dem Verständnis ist ebenfalls das Prin- dem Drehen im Uhrzeigersinn, Stereotypen aus der
zip der Informationsverfügbarkeit von Wichtig- Praxis, wie dem Bremsen in einer Fahrtätigkeit, und
keit, welches Informationen über den Zustand des der Konsistenz zwischen ähnlichen Schnittstellen/
Systems auf Anfrage des Fahrers sofort verfügbar ähnlichen Funktionen.
macht, ohne dadurch andere Aktivitäten zu stören
oder zu vernachlässigen. Das System muss dem 34.3.1.5 Fehlertoleranz
Operator ohne unnötige Verzögerung bestätigen, (Fehlerkontrolle,
dass es seine Handlung akzeptiert hat. Fehlerbehandlungszeit)
Eine Schnittstelle ist fehlerrobust, wenn das beab-
34.3.1.3 Steuerbarkeit (Redundanz, sichtigte Arbeitsergebnis trotz erkennbar fehlerhafter
Zugänglichkeit, Eingaben mit minimalem oder ohne Korrekturauf-
Bewegungsraum) wand erreicht wird. Die Systeme sollten Fehler prüfen
Eine Schnittstelle ist steuerbar, wenn der Benutzer in können und dem Benutzer Mittel zur Handhabung
der Lage ist zu bestimmen, wie er seine gesamte Auf- derartiger Fehler anbieten, wobei zwischen Fehler-
gabe durchführen möchte, wobei nicht das System kontrolle und Behandlungszeit unterschieden wird.
den Nutzer, sondern der Nutzer das System beherr- In Bezug auf FAS treten folgenden Fehler auf:
schen soll. Zur Veranschaulichung der Steuerbarkeit Informationsmangel, fehlende Wahrnehmung, Fehl-
können drei Hauptprinzipien unterschieden werden: interpretation, Fehlentscheidung, fehlerhafte Aus-
Redundanz, Zugänglichkeit und Bewegungsraum. führung. Bei der Gestaltung der Schnittstelle sollen
Vorkehrungen für zusätzliche Anzeigen und diese natürlich vermieden werden oder zumindest
Stellteile sind zu treffen, wenn eine derartige Red- nur minimale Konsequenzen nach sich ziehen.
undanz die Sicherheit des Gesamtsystems erhöhen
und verbessern kann, da in bestimmten Situationen 34.3.1.6 Individualisierbarkeit
Leistungsfähigkeit und Sicherheit des Systems von und Lernförderlichkeit
der Möglichkeit abhängen, dem Benutzer zusätz- (Flexibilität)
liche Informationen zur Verfügung zu stellen. Des Eine Schnittstelle ist anpassungsfähig, wenn sie aus-
Weiteren sollten die Informationen für den Fahrer reichend flexibel ist, um sich an die individuellen
leicht abrufbar und zugänglich sein, was bedeutet, Benutzerbedürfnisse und Benutzerfähigkeiten an-
dass die zur Betätigung nötigen Bewegungen ein- zupassen. Im Hinblick auf Fahrzeug bzw. FAS sol-
zelner Körperteile und Glieder oder eine Körperbe- len auch Parameter, wie die Art zu fahren oder die
wegung vom Fahrer nicht als unbequem aufgefasst Fahrsituationen, betrachtet werden. Hierbei spielen
werden dürfen. die Adaptierbarkeit, die es dem Nutzer ermöglicht,
Änderungen am System vorzunehmen, und die
34.3.1.4 Erwartungskonformität Adaptation, bei der das System selbst Änderungen
(Kompatibilität zum aufgrund des Nutzerverhaltens vornimmt, die Rolle
Erlernten, Kompatibilität einer sinnvollen und nützlichen Ergänzung.
zur Praxis, Konsistenz) Das Erlernen der Benutzung soll vereinfacht
Der Benutzer hat Erwartungen an die Funktions- und mithilfe von Anleitungen unterstützt werden,
weise der Mensch-Maschine-Schnittstelle, die aus was bedeutet, dass vornehmlich beim Fahren – ins-
Kenntnissen bisheriger Arbeitsabläufe, der Ausbil- besondere wenn FAS benutzt werden – die Zeit-
dung und der Erfahrung des Benutzers sowie aus spanne von der bloßen Nutzung bis zur Beherr-
den allgemein anerkannten Übereinkünften resul- schung des Systems so kurz wie möglich gehalten
tieren. Zur Vermeidung einer ungeeigneten Nut- werden soll. Die Auswahl der Schnittstelle beein-
zung oder des Auftretens eines vorprogrammierten flusst die Erfüllung dieses Ziels stark.
Fehlers sollen Funktion, Bewegung und Lage der
Schnittstelle erwartungskonform sein.
640 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

34.3.2 Gestaltungsprinzipien hinsichtlich des FAS und der Basic-Fahrelemente


21 wird die Schnelligkeit und Fehlerlosigkeit der In-
Die Erfüllung dieser sechs übergeordneten Ziele formationsprozesse unterstützt. Dabei sollte die
22 unterstützen Gestaltungsprinzipien, die während inhaltliche und funktionale Zusammengehörigkeit
des Gestaltungsprozesses, so weit wie möglich, rea- gefördert, ebenso wie die Häufigkeit und die Rei-
lisiert werden sollen. Dabei stellt die Überprüfung henfolge der Bedienung berücksichtigt werden.
23 der ausgewählten Lösungen unter realistischen Be- Beispiel: Die Einführung von neuer Technologie
dingungen einen sehr wichtigen Beitrag zum Ent- wie Head-up-Display bietet neue Möglichkeiten für
24 wicklungsprozess dar. die Anordnung von Informationen; das Cockpit soll
In Bezug auf FAS sollen die Gestaltungsprinzi- jedoch auch in Zukunft übersichtlich bleiben, wes-
pien, Kompatibilität, Konsistenz, Gruppierung der halb die Verteilung der Informationen zwischen der
25 Anzeige, Bedienelemente und Balance zwischen dazukommenden Anzeige und der vorhandenen
Unterforderung und Überforderung befolgt wer- Anzeige neu analysiert werden muss.
26 den. Bei der Gestaltung von FAS-Schnittstellen Balance zwischen Unterforderung und Über-
hingegen soll das Fahrzeugsystem als Ganzes be- forderung: FAS sollen den Fahrer einerseits beim
27 trachtet werden und nicht jedes einzelne Element Ausüben seiner eigentlichen Fahraufgabe entlasten,
für sich. Andere Prinzipien, wie der Komfort, die müssen aber andererseits vom Fahrer auch aktiviert,
Zufriedenheit und „Joy of Use“ von Schnittstellen eingestellt und bedient werden. Dies addiert sich
28 – obwohl nicht einfach anzuwenden – sollten auch zu den Hauptfahraufgaben hinzu. Ein weiterer und
berücksichtigt werden. wichtiger Aspekt von FAS ist die Aufforderung des
29 Kompatibilität: Die Anwendung dieses Prinzips Fahrers, das System eventuell zu übersteuern. Das
bei der Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen Übernehmen eines Teils der Fahrtätigkeit seitens
30 unterstützt hauptsächlich die Faktoren des Informa-
tionsverarbeitungsprozesses, nämlich die Wahrneh-
mancher FAS beeinflusst sehr stark die Schnittstel-
lengestaltung, wobei das Ziel dieser eine Balance
mung, das Gedächtnis, die Problemlösungsfähigkeit zwischen Unterforderung und Überforderung des
31 sowie die Handlung. Bei der Gestaltung sollen die Menschen bei der Ausübung der Fahraufgabe sein
räumliche Kompatibilität, die Bewegungskompati- sollte.
32 bilität und konzeptuelle Kompatibilität unterschie- Beispiel: Wenn ein Teil der Fahrtätigkeit von
den werden. einem FAS übernommen wird, soll der Fahrer
Beispiel: Um einen höheren Wert einzustellen, trotzdem weiter über dessen Handlungen infor-
33 muss der Drehregler im Uhrzeigersinn betätigt wer- miert werden. Wie detailliert dies erfolgen soll, ist
den, einen Hebel nach vorn zu bewegen wird als eine kritische Frage: Bei zu viel Information geht
34 „mehr“ interpretiert. die gewöhnliche Entlastung durch FAS verloren,
Konsistenz: Eine einheitliche Gestaltung der bei zu wenig Information kann der Fahrer nur mit
35 Schnittstellen im Fahrzeug unterstützt hauptsäch-
lich den Informationsverarbeitungsprozess und die
Schwierigkeiten die Handlungen des FAS überneh-
men.
Handlung, wobei schneller gelernt wird, weniger Erzeugung von Komfort, Zufriedenheit, „Joy
36 Fehler gemacht und die Prozesse schneller durch- of Use“: Bei der Einführung von FAS, insbesondere
geführt werden. Wichtig ist es, drei Prinzipien zu wenn sie freiwillig vom Fahrer aktiviert werden,
37 erfüllen: Eine Aktion soll die gleiche Auswirkung soll die Schnittstellengestaltung Gefühle wie „Joy
haben, das Design soll in dieser Hinsicht als auch of Use“, Zufriedenheit und Komfort erzeugen. Die
systemübergreifend konsistent sein. Nutzung von FAS ist beeinflusst von den angebo-
38 Beispiel: Wird für Bedienung eines FAS die Ab- tenen Funktionen, aber auch von der Schnittstelle
bildung des eigenen Fahrzeugs benötigt, sollten die selbst.
39 verwendeten Perspektiven konsistent sein, zum Bei- Beispiel: Eine als positiv angesehene FAS-
spiel „Heckansicht“. Schnittstelle hat einen positiven Einfluss auf die
40 Räumliche Anordnung: Durch eine optimale
Gruppierung der Bedienelemente und Anzeigen
Nutzung, also indirekt auf das Erlernen und die
Akzeptanz, ebenso wie umgekehrt eine erfolgrei-
34.4 • Gestaltungsprozess
641 34
.. Abb. 34.2 Benutzerorientierter
Gestaltungsprozess (nach DIN EN ISO
9241-210 [6])

che Nutzung Einfluss auf die positive Sichtweise hat. Anzeigen den Zielen der ergonomischen Gestaltung
Ein unangenehmes Gefühl beim Kontakt mit einer nicht zuträglich, da die ergonomischen Prinzipien
Oberfläche kann die Folge haben, dass der Fahrer für das gesamte System Mensch-Maschine-Schnitt-
diesen Kontakt ungern herstellt, wodurch sich z. B. stelle gültig sind. Eine erfolgreiche Gestaltung für
nicht mehr so oft wie möglich bzw. nötig die Para- den Menschen kann nur dann gewährleistet wer-
meter eines FAS werden ändern können. den, wenn das gesamte System betrachtet wird.
Betrachtung des Gesamtsystems: Das Prinzip
der Betrachtung des Gesamtsystems bei der Gestal- Der Erfüllung der ergonomischen Anforderun-
tung von einzelnen FAS wird verstärkt durch den gen bei der Entwicklung von Mensch-Maschine-
aktuellen Trend zur Vermehrung von FAS im Fahr- Schnittstellen dient die Berücksichtigung des Be-
zeug. Eine erfolgreiche Schnittstellengestaltung für nutzers in jeder Phase des Gestaltungsprozesses.
ein System kann zu einem Misserfolg werden, wenn Dabei liefert die Norm DIN EN ISO 9241-201 [6]
Interferenzen mit anderen Schnittstellen oder FAS einen benutzerorientierten Leitfaden für die Gestal-
entstehen. Bei der Gestaltung von mehreren FAS- tung interaktiver Systeme, die in einen multidiszi-
Schnittstellen wird es notwendig, Prioritätskriterien plinären Gestaltungs- bzw. Entwicklungsprozess
zu erstellen und zu berücksichtigen. integriert sein können. Dieser Gestaltungsprozess
Beispiel: Es ist technisch möglich, „integrierte weist vier Hauptschritte auf, die iterativ durchge-
FAS-Schnittstellen“, die viele Funktionen in einer
Anzeige oder einem Bedienelemente gruppieren
-
führt werden (. Abb. 34.2):
Verstehen und Spezifizieren des Nutzungskon-
können, zu gestalten. Mit solchen integrierten
Konzepten wird das Räumlichkeitsprinzip perfekt
- texts,
Spezifizieren der Benutzerbelange und der
erfüllt, doch der Fahrer benötigt ein komplexes
mentales Modell, um das Bedienelement sicher
und schnell betätigen zu können. Es muss überprüft
werden, ob die dadurch entstandene Komplexitäts-
-- vorgegebenen Erfordernisse,
Entwerfen der Gestaltungslösungen,
Bewerten der Lösungen nach benutzerorien-
tierten Kriterien.
erhöhung weiter mit den Leistungsfähigkeiten des
Fahrers kompatibel ist. Bezüglich der Auswahl an Gestaltungslösungen von
Bedienelementen und Anzeigen bieten Kirschner
und Baum [7] Vorgehensweisen (. Abb. 34.3 und
34.4 Gestaltungsprozess 34.4) an, die Schritt für Schritt die Festlegung von
Lösungswegen unterstützen. Diese Schritte sollen
Bei der Beschreibung von Schnittstellen (Anzeige als Teil eines iterativen Prozesses durchgeführt wer-
und Bedienelemente) ist eine separate Betrachtung den, ausgewählte Lösungen werden anhand von
möglich. Dies wäre allerdings speziell beim Schnitt- Tests unter realistischen Bedingungen überprüft,
stellengestaltungsprozess von Bedienelementen und um so die Erfüllung der Anforderungen zu gewähr-
642 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

.. Abb. 34.3  Vorgehensweise bei der Auswahl von


21 Bedienelementen (nach Kirchner/Baum [7])

22
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35
36
leisten. Im Folgenden sind beide Auswahlprozesse
beschrieben. - Handlungsorgan, Körperhaltung, Greifart/
Tretart: Überprüfung der Relevanz der un-
terschiedlichen Eingabemöglichkeiten. Die
37
38
-
Auswahl von Bedienelementen (. Abb. 34.3):
Aufgabe, Anforderungen: Zu Beginn des
Gestaltungsprozesses müssen Anforderun-
gen an das Bedienelement bezüglich der zu
Körperhaltung und die nötigen Bewegungen,
obwohl im Fahrzeug eingeschränkt, sollen
berücksichtigt werden, insbesondere in Bezug
auf die Häufigkeit und die Dauer der Hand-
erfüllenden Aufgabe formuliert werden. Eine lung bzw. der Nutzung. Bei der Auswahl der
39 Zuordnung der Anforderungen kann benötigt Greifart/Tretart spielt die Stellkraft eine beson-

40
werden, wenn beispielsweise ein Widerspruch
vorliegt oder der Stand der Technik nicht zur
vollständigen Erfüllung ausreicht. - dere Rolle.
Art des Bedienelements: Die Festlegung der
Art des Bedienelements richtet sich direkt und
34.5  •  Praxis und Gestaltungsprozess
643 34

unmittelbar nach den Anforderungen an die vermittelnder Information geschenkt werden,


Betätigung, insbesondere nach der Genauig-
keit und der Schnelligkeit der Betätigung. In
Bezug auf FAS wird die Relevanz eines multi- - die den Benutzer nicht überfordern darf.
Sinnesorgan: Die Auswahl der Informations-
darbietung soll auf die Sinnesorgane ausge-

- funktionalen Bedienelements überprüft.


Unerwünschtes Einstellen verhindern: Die Be-
zugnahme auf die Frage, ob das Bedienelement
gegen unbeabsichtigte Aktivierung gesichert
richtet sein. Die Belastung des Organs (im
Fahrzeug ist der visuelle Kanal schon stark
belastet), die Erforderlichkeit der Reakti-
onsgeschwindigkeit, die Erforderlichkeit der
werden muss. Hier sollen sicherheitskritische Unterscheidbarkeit und Verfügbarkeit der
Systemfunktionen geschützt und das Auftreten Information sowie die Akzeptanz sind dabei

- negativer Folgen vermieden werden.


Räumliche Anordnung: Die geometrische Lage
im Fahrzeug und die relative Zuordnung zu
anderen Bedienelementen sollen festgelegt
- die zu berücksichtigenden Hauptmerkmale.
Darbietungsart: Wenn das Sinnesorgan
definiert ist, wird die Art der Information
festgesetzt. Die Informationsaufgabe mit ihrem
werden, was die Berücksichtigung der Funkti- Inhalt und die Eigenschaften des Menschen
onen und des zeitlichen Ablaufs der Aufgabe sind hierbei die Basis der Auswahl an Präsen-
einschließt. Hier stellt sich noch einmal die tationsmitteln (analoge/digitale Anzeige, Töne/
Frage nach der Auswahl eines kombinierten
Bedienelements. Die Zuordnung soll dazu
dienen, ein einheitliches Bedienkonzept zu
erstellen sowie die existierenden Stereotype zu
- Sprachanzeige…).
Informationszuordnung: Zusammenhänge
(funktionell oder physikalisch) zwischen
einzelnen Informationen sollen identifiziert

- berücksichtigen.
Bedienrichtung, Bedienweg, Bedienwiderstand:
Festlegung der technischen Details der Bedie-
werden und als Basis für die Zuordnung der
Anzeigen dienen (z. B. Soll-Wert und Ist-West
nah voneinander angezeigt), wobei die Kom-

- nelementbewegungen.
Form, Abmessungen, Material, Oberfläche: De-

-
plexität des Informationsverarbeitungsprozes-
ses berücksichtigt werden soll.

- finition des „Aussehens“ der Bedienelemente.


Kennzeichnung: Zur Unterstützung der visu-
ellen und/oder taktilen Unterscheidbarkeit
sowie der Bediensicherheit und der Lernphase
Anordnung: Ort und Lage der Anzeige werden
nach den gesammelten Anforderungen der
vorherigen Schritte festgelegt, dabei sind Un-
terscheidbarkeit und Fehlervermeidung wich-
sollen Kennzeichnen ausgewählt werden, was tige Ziele. Eine erfolgreiche Entscheidung wird
durch Anordnung, Form, Größe, Beschriftung, getroffen, wenn die Anzeige in ihrer komplet-
Farbe und Materialien erfolgen kann. ten Systemumgebung betrachtet wird und nicht
als einzelnes Element; die Frage der kombinier-

-
Auswahl von Anzeigen (. Abb. 34.4):
Informationsaufgabe, Anforderungen: Zu
Beginn des Gestaltungsprozesses müssen
Anforderungen an die Anzeigen festgelegt
- ten Anzeigen stellt sich hier ein weiteres Mal.
Detaillierung des Anzeigedesigns: U. a. werden
Parameter wie Kontrast, Schriftgröße, Ska-
len, Änderungsgeschwindigkeit, Farbe, Töne,
werden. Diese Informationen unterstützen Frequenz des Signals usw. festgestellt. Dabei
den Informationsverarbeitungsprozess zur Er- werden u. a. die Anzeigenanforderung, die ergo-
füllung der Aufgabe. Der Zweck der Informa- nomischen Regeln, die Unterscheidbarkeit und
tion (die Überwachung eines veränderlichen die technischen Möglichkeiten berücksichtigt.
Zustands, die Kontrolle einer Einstellung…),
die Genauigkeit der Informationsaufnahme
(ablesen, Wahrnehmung orientieren…), 34.5 Praxis und Gestaltungsprozess
der Informationsinhalt (Ist-Wert, Soll-Wert,
Differenzwerte…) sollen definiert werden. Mit der Erweiterung der Funktionen eines ACC-
Besondere Beachtung soll der Menge an zu Systems im Niedriggeschwindigkeitsbereich stellt
644 Kapitel 34  •  Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen

.. Abb. 34.4  Vorgehensweise bei der Auswahl von


21 Anzeigen (nach Kirchner/Baum [7])

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35
sich noch einmal die Frage der Schnittstelle. Mit zu übermittelnden ACC-relevanten Information
36 dem neuen System sind die Fahrsituationen, in wel- ist also signifikant erhöht durch die Erhöhung der
chen das System aktiv sein kann, erweitert worden, ACC-Status-Änderungen.
37 bzw. ihre Auftrittsfrequenz hat sich geändert: Stadt- Bei der Vermittlung von ACC-Informationen
verkehr mit niedriger Geschwindigkeit, 90°-Kurve, stellen sich mehrere Fragen: Kann der visuelle Ka-
Vorfahrtsstraße sind nur einige zu nennende Ein- nal weiter belastet werden? Gibt es andere Orte
38 satzmöglichkeiten. der Darbietung außer dem Tachobereich? Sind
Durch diese Veränderungen hat sich die Belas- die gestellten Informationen für die Fahrsituation
39 tung des Fahrers modifiziert, beispielsweise ist der relevant?
visuelle Kanal im Stadtverkehr durch die Komple- Der Fahrer ist durch die Situation und Umge-
40 xität der Fahrumgebung einer höheren Belastung
ausgesetzt als auf einer Autobahn. Die Menge der
bung sehr viel mehr gefordert und abgelenkt als auf
einer Autobahn, sodass er wenig Zeit hat, um auf
Literatur
645 34

Displays oder Anzeigen zu schauen. Es ist also sinn-


voll, das Display in das direkte Blickfeld des Fahrers,
d. h. in die Scheibe einzublenden, damit dieser sei-
nen Blick nicht von der Straße abwenden und somit
kein Sicherheitsrisiko eingehen muss. Die Nutzung
von anderen Aufnahmekanälen soll ebenfalls weiter
erforscht werden, z. B. Vibration in der Fußregion.
Eine permanente Anpassung der gezeigten Infor-
mation an die Fahrsituation könnte auch die Anzahl
der nötigen Informationen reduzieren.
Dieses Beispiel soll zeigen, dass bei jeder Än-
derung eines FAS oder der Modifikation des Fahr-
zeugs, in welches das FAS integriert ist (z. B. mit der
Einführung von weiteren FAS) die vorgeschlagenen
Gestaltungsprozesse von Schnittstellen ein weiteres
Mal durchgeführt werden müssen, um die Ziele ei-
ner erfolgreichen Mensch-Maschine-Schnittstelle
zu erfüllen.

Literatur

[1] Rühmann, H.: Schnittstellen in Mensch‐Maschine‐Syste-


men. In: Schmidtke, H. (Hrsg.) Ergonomie, 3. Aufl. Hanser,
München, Wien (1993)
[2] Eckstein, L.: Entwicklung und Überprüfung eines Bedien-
konzepts und von Algorithmen zum Fahren eines Kraft-
fahrzeugs mit aktiven Sidesticks Bd. Reihe 12, Bd. 471.
VDI‐Verlag, Düsseldorf (2001)
[3] Schmidtke, H.: Ergonomie. Hanser‐Verlag, München, Wien
(1993)
[4] Timpe, K.-P., Jürgensohn, T., Kolrep, H.: Mensch‐Maschine‐
Systemtechnik – Konzepte, Modellierung, Gestaltung, Eva-
luation. Symposion Publishing, Düsseldorf (2000)
[5] DIN EN ISO 9241‐110: Ergonomie der Mensch‐Maschine‐In-
teraktion. Teil 110: Grundsätze der Dialoggestaltung, 2006
[6] DIN EN ISO 9241‐210: Ergonomie der Mensch‐System‐In-
teraktion. Teil 210: Prozess zur Gestaltung gebrauchstaug-
licher interaktiver Systeme, 2010
[7] Kirchner, J.-H., Baum, E.: Mensch‐Maschine‐Umwelt. Beuth
Verlag, Berlin, Köln (1986)
647 35

Bedienelemente
Klaus Bengler, Matthias Pfromm, Ralph Bruder

35.1 Anforderungen an Bedienelemente


für Fahrerassistenzsysteme – 648
35.2 Bestimmung des Handlungsorgans,
der Körperhaltung und der Greifart   –  649
35.3 Festlegung der Bedienteilart   –  649
35.4 Vermeiden von unbeabsichtigtem
und unbefugtem Stellen   –  651
35.5 Festlegung der räumlichen Anordnung und
geometrische Integration – 652
35.6 Festlegung von Rückmeldung, Bedienrichtung,
-weg und -widerstand  –  652
35.7 Kennzeichnung der Stellteile  –  654
35.8 Alternative Bedienkonzepte   –  654
Literatur – 656

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_35, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
648 Kapitel 35 • Bedienelemente

Dieses Kapitel liefert eine Übersicht der Anfor- Befriedigung des Unterhaltungs- oder Komfortbe-
1 derungen an die Bedienelemente für Fahreras- dürfnisses des Fahrers: Hierzu zählt beispielsweise
sistenzfunktionen und die daraus resultierenden die Bedienung des Radios [3].
2 Gestaltungsmöglichkeiten: Dem Leser wird eine Wie in . Abb. 34.1 in ▶ Kap 34 zu erkennen ist,
Vorgehensweise zur Gestaltung von Bedienelemen- haben Bedienelemente neben ihrer Eingabefunk-
ten an die Hand gegeben. Die allgemeinen Empfeh- tion an das Fahrerassistenzsystem die Aufgabe, In-
3 lungen werden durch konkrete Hardwarebeispiele formationen an den Fahrer zurückzumelden. Dies
verdeutlicht, um den Zugang zur Thematik zu er- kann beispielsweise eine Information über den
4 leichtern und die mittlerweile reichhaltige Menge momentanen Systemzustand oder eine Bestätigung
verschiedener Bedienelemente darzustellen. einer getätigten Eingabe sein.
5 Unter einem Bedienelement wird allgemein eine In ▶ Kap. 34 wurde die strukturierte Vorgehens-
technische Einrichtung an der Schnittstelle zwi- weise zur Gestaltung von Bedienelementen nach
schen Mensch und Maschine verstanden, mit deren Kirchner und Baum [4] vorgestellt. Die Gliederung
6 Hilfe eine steuernde oder regelnde Einwirkung auf des vorliegenden Kapitels lehnt sich an diesen Pro-
den technischen Prozess oder den Funktionsablauf zess an.
7 vorgenommen wird; der Begriff wird in der Regel
synonym zum Begriff „Stellteil“ verwendet.
Meist stellen Bedienelemente im Auto finger-, 35.1 Anforderungen
8 hand- oder fußbetätigte Schnittstellen dar [1]; zu an Bedienelemente
diesen Hardwareelementen treten inzwischen zu- für Fahrerassistenzsysteme
9 nehmend Eingabemöglichkeiten hinzu, die wie Ges-
tik- oder Spracheingabe auf Erkennertechnologien Im Regelfall gelten für die Gestaltung von Bedien­
10 basieren. Bisher sind diese im Zusammenhang mit elementen zur Nutzung von Fahrerassistenz-
Fahrerassistenzfunktionen jedoch von geringer Re- systemen vergleichbare Anforderungen, wie sie
levanz. grundlegend auch für die Bedienung von anderen
11 Zu unterscheiden sind Bedienelemente, die Fahrfunktionen formuliert sind.
dazu genutzt werden, Fahrerassistenzfunktionen in Da die Benutzung häufig während der Fahrt
12 voneinander getrennten Einzeleingaben ein- oder erfolgt, soll sie mit möglichst geringer Ablenkung
auszuschalten, und solche, die dazu dienen, eine und im Sinn einer hohen Bediensicherheit zielsi-
bestimmte Fahrerassistenzfunktion schrittweise zu cher und fehlerfrei erfolgen. Dies gilt in besonderem
13 parametrieren. Hinzu kommen Bedien­elemente, Maß für Bedienelemente, die im Zusammenhang
die dem Fahrer ermöglichen, die Fahrzeugführung mit Fahrerassistenz stehen. Die wichtigsten Gestal-

--
14 mehr oder weniger kontinuierlich in Kooperation tungsziele sind:
mit einem Fahrerassistenzsystem zu bewältigen [2]. schnelle,
35 Durch Bedienelemente führt der Fahrer Fahraufga-
ben aus, die sich in primäre, sekundäre und tertiäre
-- sichere,
intuitive und

16
17
Aufgaben unterteilen lassen. Zur primären Fahr-
aufgabe zählt der eigentliche Fahrprozess – also das
sichere Halten des Fahrzeugs auf der Fahrbahn. Se-
kundäre Fahraufgaben sind Aufgaben, die sich aus
- präzise Bedienung,
kompatibel mit der entsprechenden Funktion
bzw. den einzustellenden Parametern, so dass
beispielsweise die Erhöhung eines Wertes mit
den Verkehrsregeln sowie Verkehrs- und Umweltbe- einer Eingabe nach oben oder im Uhrzeiger-
dingungen ergeben: Hierzu gehören beispielsweise sinn vorgenommen wird.
18 das Schalten, die Bedienung des Fahrtrichtungsan-
zeigers, aber auch die Bedienung von Assistenzsys- Im Folgenden werden die Maßnahmen dargestellt,

-
19 temen, wie Adaptive Cruise Control (ACC). Tertiäre die dazu dienen, diese Gestaltungsziele zu erreichen:
Fahraufgaben stehen mit der eigentlichen Fahrauf- die Bestimmung von Handlungsorgan, Kör-
20 gabe nicht in Verbindung, sondern dienen nur der perhaltung und Greifart,
35.3  •  Festlegung der Bedienteilart
649 35

--
.. Abb. 35.1  Zusammenstellung der Greifarten (nach [6])

die Auswahl der Bedienteilart, kraft, Bediengenauigkeit und Bediengeschwin-


das Vermeiden von unbeabsichtigtem und digkeit dar. Im Allgemeinen ist die maximale

-- unbefugtem Stellen,
die Anordnung im Innenraum,
die Festlegung von Rückmeldung, Bedienrich-
Bedienkraft über den Fuß oder einen Umfas-
sungsgriff der Hand (Armbewegung) erreichbar,
während für eine hohe Bediengenauigkeit der Fin-

- tung, -weg und -widerstand,


die Kennzeichnung der Stellteile.
ger in Form eines Kontakt- oder Zulassungsgriffs
(siehe . Abb. 35.1) bevorzugt werden sollte. Da
bei der Bedienung von Fahrerassistenzsystemen
kein hoher Kraftaufwand aufzubringen ist, sollte
35.2 Bestimmung im Allgemeinen Hand- oder Fingerbedienung be-
des Handlungsorgans, vorzugt werden. Des Weiteren wird bei der Kopp-
der Körperhaltung lung zwischen Körperteil und Bedienelement
und der Greifart zwischen Form- und Kraftschluss unterschieden.
Eine geeignete Zuordnung von Greifart, Kopp-
Bei der Platzierung der Bedienelemente im Innen- lungsart und Bedienelement liefert [4] nach DIN
raum ist darauf zu achten, dass durch ihre Anord- EN 894-3 [5].
nung eine präzise Eingabe in komfortabler Haltung
und vor allem im Fall von dauerhaft genutzten
Elementen – z. B. Stellteilen zur Fahrzeugführung 35.3 Festlegung der Bedienteilart
– vom Fahrer keine ungünstigen Zwangshaltungen
eingenommen werden müssen. Wie bereits einleitend gesagt, können als grund-
Wesentliche Auswahlkriterien für Handlungs- sätzliche Aufgabentypen im Zusammenhang mit
organ und Greifart stellen die benötigte Bedien- Fahrerassistenzfunktionen:
650 Kapitel 35 • Bedienelemente

1
2
3
4
.. Abb. 35.2  Bedienfeld Fahrerassistenzsysteme im BMW 7er
5 (Quelle: BMW AG)

6
7
8
9
10
.. Abb. 35.3  ACC-Bedienelement [9]

11 .. Abb. 35.5  Menüsystem mit Display und zentralem Bedie-


nelement: BMW iDrive (Quelle: BMW AG)

12
nach dem Zweck der Betätigung, den Anforderungen
an Bediengenauigkeit, Bediengeschwindigkeit und
13 Länge der Bewegungsstrecke sowie nach den Gege-
benheiten im Fahrzeugcockpit. Für diskrete Stellauf-
14 gaben werden häufig Drucktaster und -schalter sowie
Tastwippen verwendet. Drehsteller und Hebel eignen
35 sich sowohl für diskrete als auch für kontinuierliche

--
.. Abb. 35.4  Softkeys [10]
Eingaben: Beispielsweise wird der Lichtschalter im
das Ein-/Ausschalten einer Funktion, Fahrzeug häufig als ein diskreter und die Tempe-

-
16 das Parametrieren und Einstellen von Werten, ratureingabe der Klimaanlage als ein kontinuierli-
die dauerhafte Eingabe im Sinn einer koope- cher Drehsteller ausgeführt; das ACC-System wird
17 rativen Fahrzeugführung, bei der primäre oft durch einen Hebel mit diskreten Rastpositionen
Fahrzeugführungsaufgaben gemeinsam von ein- und ausgeschaltet. Die kontinuierliche Einstel-
Fahrer und Automation ausgeführt werden lung der gewünschten Zeitlücke erfolgt oft ebenfalls
18 (vgl. ▶ Kap. 58), unterschieden werden. durch einen Hebel. Werden in Bedienelemente Aktu-
atoren integriert, um dem Bediener haptisches Feed-
19 Aus der Bedienaufgabe leitet sich somit ab, ob das back über den momentanen Systemzustand geben zu
Bedienelement diskretes Bedienen in Stufen oder können, spricht man von aktiven Bedienelementen;
20 kontinuierliches Bedienen ermöglichen soll. Die diese eignen sich beispielsweise für eine kontinuier-
Festlegung der Bedienteilart richtet sich außerdem liche kooperative Fahrzeugführung [7].
35.4  •  Vermeiden von unbeabsichtigtem und unbefugtem Stellen
651 35

.. Abb. 35.6  Touchscreen im Tesla Model S [11]

Ursprünglich war jedes Bedienelement fest mit vom Verkehrsgeschehen abgewendet und der Fah-
einer Funktion verknüpft; diese „Hardkeys“ ermög- rer kognitiv beansprucht wird. Eine Blindbedienung
lichen dem Fahrer, jederzeit auf die entsprechende von Touchscreens ist zudem praktisch unmöglich,
Funktion direkt zuzugreifen (. Abb. 35.2). Da die da Schaltflächen nicht taktil identifiziert werden
zunehmende Anzahl von Bedienelementen durch können und die haptische Rückmeldung fehlt.
die Ausbreitung von elektronischen Systemen im
Fahrzeug zu Unübersichtlichkeit und Bauraum-
problemen führen würde und auch der Greifraum 35.4 Vermeiden
des Fahrers begrenzt ist, werden häufig mehrere von unbeabsichtigtem
Bedienteile in ein integriertes Bedienelement zu- und unbefugtem Stellen
sammengefasst [8]. Der Hebel zur Bedienung der
ACC-Funktionen ist hierfür ein geeignetes Beispiel Gerade bei sicherheitsrelevanten Funktionen muss
(. Abb. 35.3). Bei „Softkeys“ erfolgt die Funktions- ein unbeabsichtigtes Stellen vermieden werden.
zuordnung kontextabhängig in einem zugeordne- Dazu können die folgenden Maßnahmen ange-
ten Bildschirmbereich (. Abb. 35.4), d. h. mit einer wendet werden: die Anordnung an Orten mit ge-
Taste können verschiedene Funktionen bedient ringer Berührungswahrscheinlichkeit, gute Un-
werden. Menüsysteme mit Display und zentralem terscheidbarkeit anhand verschiedener Kriterien
Bedienelement (. Abb. 35.5) sowie Touchscreens – Form, Größe, Lage, Gestalt, Farbe – notwendige
(. Abb. 35.6) ermöglichen ebenfalls die Benutzung Bestätigungen im Dialogablauf bei Eingaben oder
einer großen Anzahl an Funktionen. Im Hinblick auf prinzipiell auch Abdeckungen oder Entriegelungs-
die Bediensicherheit und den schnellen Zugriff auf mechanismen bei besonders sensitiven Funktionen.
einzelne Funktionen können aber durchaus Nach- Beispielsweise ist das Bedienfeld für Fahrerassis-
teile im Vergleich zur direkten Tastenbedienung tenzsysteme bei BMW (. Abb. 35.2) in der Regel
entstehen, da zur Bedienung der Blick längere Zeit an der Instrumententafel links vom Lenkrad ange-
652 Kapitel 35 • Bedienelemente

Die unterschiedlichen Bedienorte sind am


1 95. Perzentil der Körpergröße der männlichen und
dem 5. Perzentil der weiblichen Fahrerinnen ori-
2 entiert. Sie tragen zum Teil auch Anzeigefunktion
und sollen bei ergonomisch sinnvoller Sitz- und
Lenkradeinstellung ohne aufwendige Haltungsän-
3 derung sowohl gut erreichbar als auch einsehbar
sein. Die Absicherung dieser Eigenschaften kann
4 mittlerweile sehr gut durch eine ergonomische
Analyse von CAD-Konstruktionen mithilfe eines
5 digitalen Menschmodells (z. B. RAMSIS [12]) er-
.. Abb. 35.7  Lenkrad-Bedienelement im Audi TTS. Haptische
folgen.
Die Größe des Bedienelements und die Ab-
6 Unterscheidbarkeit der Tasten durch Form, Größe und Ober-
flächengestaltung (Quelle: Audi AG) stände zwischen Bedienelementen ist ebenfalls an
anthropometrischen Gegebenheiten zu orientieren,
7 bracht; so werden unbeabsichtigte Bedienung durch wobei die Werte für Fingergrößen und Greifweiten
den Fahrer sowie unbefugte Bedienung durch den entsprechenden Tabellenwerken, z. B. [5] oder [13]
Beifahrer vermieden. entnommen werden können.
8 ACC-Bedienelemente sind häufig in Form von Unter der Anordnung wird hier neben der geo-
Hebeln oder Tasten am Lenkrad ausgeführt, bei de- metrischen Lage auch die relative Zuordnung zu
9 ren Gestaltung darauf zu achten ist, dass sie nicht mit anderen Bedienteilen verstanden. Bei der Fahreras-
den Bedienelementen für den Fahrtrichtungsanzei- sistenzbedienung ist zu beachten, dass im Fall von
10 ger- oder Wischerhebel bzw. Tasten zur Bedienung Bediensequenzen (z. B. 1. Aktivieren, 2. Paramet-
von Infotainmentfunktionen verwechselt werden rieren des ACC) durch die räumliche Nähe der Ein-
können. Da der Fahrer bei der Benutzung in der Re- zelbedienelemente ein Umgreifen vermieden wird.
11 gel nicht seinen Blick auf das Bedienelement richtet, Die deutliche Zunahme und Heterogenität von
ist für eine haptische Unterscheidbarkeit bei Blindbe- Fahrerassistenzfunktionen hat zu einer Zunahme
12 dienung durch Form, Größe und Oberflächengestal- typischer Orte im Innenraum (. Abb. 35.8) geführt,
tung der Tasten (beispielsweise wie in . Abb. 35.7) die der zuvor genannten Anordnungslogik folgen
13 sowie eine ausreichende räumliche Trennung zu
gewährleisten. Ebenfalls ist für eine optische Unter-
-
[14]. Hierzu zählen:
an der Konsole links und rechts hinter dem

14
scheidbarkeit der Bedienelemente zu sorgen.

-- Lenkrad,
in den Speichen des Lenkrads,
im Bereich der Mittelkonsole vor der Armab-

-
35.5 Festlegung der räumlichen
35 Anordnung und geometrische
lage,
im zentralen Bereich der Mittelkonsole im
Integration Übergang zum Instrumententräger.
16
Nach DIN EN 894-3 [5] sollten u. a. die Bedienwich-
17 tigkeit und -häufigkeit sowie die Bedienreihenfolge 35.6 Festlegung von Rückmeldung,
bei der Platzierung und Gruppierung von Bedie- Bedienrichtung, -weg
nelementen berücksichtigt werden. und -widerstand
18 Je wichtiger ein Bedienelement für die sichere
Fahrzeugführung ist, desto zentraler muss es im op- Dem Bediener soll der eingestellte Zustand der
19 timalen Sicht- und Greifbereich liegen. Elemente, bedienten Funktion (z. B. ACC ein/aus) oder Pa-
die im Zusammenhang mit Notfunktionen oder der rameter (z. B. Größe der gewünschten Zeitlücke
20 Abschaltung von Funktionen stehen, müssen immer bei ACC) adäquat angezeigt werden: Dies kann ei-
gut erreichbar sein. nerseits in Form einer in das Element integrierten
35.6  •  Festlegung von Rückmeldung, Bedienrichtung, -weg und -widerstand
653 35
.. Abb. 35.8 Definition
der Auslegungszonen/
Cockpitbereiche im
Fahrzeug

.. Abb. 35.9 Räumliche
Anordnung von Dreh-
knöpfen und Schiebe-
reglern mit zugehörigen
Bewegungsstereotypen
[16] nach [17]

Beleuchtung (LED), andererseits auch durch eine handlungen führt. Die Sinnfälligkeit der Bedien-
Lagecodierung (Neigungswinkel, Rastposition einer richtungen ergibt sich aus Bewegungsstereotypen,
Taste) geschehen. Alternativ kann die Information s. (. Abb. 35.9); darüber hinaus soll die Bewegungs-
in einem entsprechenden Display angezeigt werden, richtung des Bedienelements mit der intendierten
wobei der örtliche Bezug zum Bedienelement her- Bewegungsrichtung des Systems übereinstimmen
gestellt werden muss. Generell gilt die Grundregel, (Bewegungseffekt-Stereotypie).
dass eine multimodale redundante Codierung, die Beim ACC-Bedienelement (. Abb. 35.3) wird
mehrere Sinneskanäle des Fahrers anspricht, für die gemäß der Stereotypen die Wunschgeschwindigkeit
Rückmeldung empfehlenswert ist. beim Tippen des Hebels nach oben erhöht und nach
Die Bedienrichtung von Bedienelementen sollte unten abgesenkt.
sinnfällig sein, da der Vorteil einer solchen Bewe- Der Bedienweg und -winkel ist der Weg, der
gungsrichtung die schnelle Erlernbarkeit ist und beim Bedienen des Bedienelements zurückgelegt
es in schwierigen Situationen weniger oft zu Fehl- wird; jedoch müssen nicht alle Bedienelemente
654 Kapitel 35 • Bedienelemente

.. Abb. 35.10  Gesten [20]


1
2
3
4
5
6
einen Bedienweg besitzen – z. B. Berührungssen- die Kennzeichnung der Bedienelemente durch An-
7 soren, isometrische – wegfreie – Bedienelemente. bringen einer Beschriftung oder eines Symbols auf
Wichtige Gestaltungsregeln für herkömmliche Be- oder in Nachbarschaft des Stellteils dar.
8
-
dienelemente sind:
den Bedienweg so dimensionieren, dass Stel-
Eine gute Orientierungshilfe bei der Symbol-
gestaltung liefern international standardisierte

9
- lung des Bedienelements leicht erkennbar ist,
beim stufenweisen Bedienen Schaltstellungen
Symboliken [18]; im Fall mehrerer Funktionen in
unmittelbarer Nähre ist auch darauf zu achten, dass

10 - durch Rasten sichern [5, 15],


das Spiel so klein wie möglich halten, da sonst
Steuerleistung negativ beeinflusst werden
kann.
Symbole für verschiedene Funktionen sich deutlich
voneinander unterscheiden. Die derzeit gebräuchli-
che Beschriftung – vor allem in Form von Trigram-
men (ESC, DSC, ACC etc.) – ist keineswegs intuitiv,
11 unterscheidet sich zum Teil zwischen den Herstel-
Im Kontext von Fahrerassistenzsystemen spielt der lern und muss von den Nutzern erst erlernt werden.
12 Bedienwiderstand eines Bedienelements eine unter-
geordnete Rolle, ist aber für die Umsetzung einer
taktilen Rückmeldung der Betätigung sowie für die 35.8 Alternative Bedienkonzepte
13 Absicherung gegen unbeabsichtigtes Betätigen zu
betrachten. Die Zahl der zu bedienenden Funktionen im Fahr-
14 zeug steigt stetig. Da dadurch die kognitive und vi-
suelle Belastung des Fahrers steigt und Bauraumpro-
35.7 Kennzeichnung der Stellteile
35 bleme entstehen, werden alternative Bedienkonzepte
für die Mensch-Fahrzeug-Interaktion erforscht.
Eine Kennzeichnung von Bedienelementen ist
16 insbesondere dann notwendig, wenn diese selten
benutzt werden oder wenn sie in verschiedenen 35.8.1 Gestenbedienung
17 Fahrzeugen uneinheitlich gestaltet sind. Eine Me-
thode hierfür ist die Formcodierung. Formen kön- Diverse Geräte der Unterhaltungselektronik, wie Ta-
nen sowohl visuell als auch taktil erkannt werden: blet-PCs oder Spielekonsolen, lassen sich per Hand-,
18 Eine Formcodierung ist demnach besonders wich- Arm- oder Fingergesten bedienen: Daher ist es na-
tig, um eine Bedienung ohne Blickabwendung von heliegend, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen,
19 der Straße zu ermöglichen. Dabei sollten Formen, auch Fahrzeugfunktionen mittels Gesten zu steuern.
die leicht und sicher zu unterscheiden sind, gewählt Bei der Bedienung von sekundären und terti-
20 und scharfe Ecken und Kanten vermieden werden. ären Fahrfunktionen durch Gesten wurde in Un-
Eine zusätzliche, relativ triviale Möglichkeit stellt tersuchungen eine geringere Blickabwendung des
35.8 • Alternative Bedienkonzepte
655 35

Fahrers von der Straße erreicht als bei herkömmli-


cher Bedienung [19, 20]. Für das Innenraumdesign
bieten sich Vorteile, da so weniger Bedienelemente
verbaut werden müssen.
Im Kontext der Mensch-Fahrzeug-Interaktion
kann zwischen folgenden Gesten unterschieden
werden: Richtungsinduzierende (kinemimische)
Gesten (z. B. Zeigen oder Winken nach links/
rechts), mimische Gesten (z. B. imitiertes Abheben/
Auflegen eines Telefonhörers), deiktische Gesten
(z. B. Zeigen in Richtung des Displays) und symbo-
lische Gesten (z. B. eine waagrechte Wischbewegung
für „Abbruch“) [19] (s. . Abb. 35.10).
.. Abb. 35.11  Touchpad in der Mercedes C-Klasse [26]
Gesten können auf einer planen Oberfläche wie
einem Touchpad (Touch-Gesten) oder im freien
Raum ausgeführt werden (Freihandgesten) [21]. zur Navigation in den Menüs eingegeben werden.
Für die Ausführung von Freihandgesten bieten Außerdem wird Handschrift in Form von symbo-
sich der Bereich zwischen Fahrer und Windschutz- lischen Gesten erkannt [24, 25, 26], Rückmeldung
scheibe, der Bereich in der Mitte der Windschutz- über eine erfolgte Eingabe wird meist haptisch und/
scheibe und im Bereich der Mittelkonsole unterhalb oder akustisch gegeben.
der Windschutzscheibe an; bei den beiden letzten Generell ist es wichtig, möglichst einfache, be-
Bereichen kann nicht zwischen beiden Händen zur reits aus der Unterhaltungselektronik bekannte,
Gestenausführung gewählt werden [21]. Gesten zu verwenden, um den Fahrer nicht mit
Zur Erkennung der berührungslosen Gesten einer komplizierten „Interaktionssprache“ zu über-
können Infrarotsensoren oder Kameras, ähnlich der fordern [19].
Kinect bei der Microsoft Xbox, eingesetzt werden. Im Projekt Conduct-by-Wire (▶ Kap. 59) wurde
Für den Einsatz im Automobil hat sich die Infrarot- ein Bedienkonzept zur manöverbasierten Fahrzeug-
sensortechnik als die geeignetere der beiden bewie- führung umgesetzt, bei dem der Fahrer Manöver
sen: Heute können schon Standardbewegungen wie durch Gesten auf einem Touchpad eingeben kann,
Antippen, Schieben, Ziehen, Wischen unterschie- die das Fahrzeug dann automatisch ausführt.
den werden. Allerdings stellen momentan noch In einer Studie [27] wurde ein Lenkrad umge-
die unzureichende Erkennungsgenauigkeit und die setzt, auf dessen Oberfläche sich Gesten eingeben
Latenzzeit zwischen Erkennung und Interaktion lassen: Im Gegensatz zu herkömmlichen Lenk-
Hürden bei der Einführung von berührungslosen radtasten lassen sich so mehr Funktionen unter-
Gesten im Auto dar [20]. bringen und im Unterschied zu herkömmlichen
Im Automobilbereich wurden Freihandgesten Touchscreens soll der Fahrer weniger stark abge-
bisher nur im Rahmen von Konzepten, meist zur lenkt werden. Ein ähnlicher Ansatz wird in einem
Bedienung von Infotainmentsystemen, vorgestellt; anderen Konzept [28] verfolgt, bei dem in ein Lenk-
beispielsweise werden Gesten genutzt, um Inhalte rad neben Hard- und Softkeys ein Touchscreen mit
vom Mittelkonsolenbildschirm auf das Mobiltele- haptischem Feedback integriert wurden.
fon oder Kombiinstrument zu „verschieben“ [22].
Eine Studie [23] schlägt vor, Fahrtrichtungsanzeiger
und Scheinwerfer, also sekundäre Fahraufgaben, per 35.8.2 Blicksteuerung
Gesten zu steuern.
Auf einem Touchpad ausgeführte Gesten haben In einem Forschungsprojekt [29] wurde Fahrzeug-
hingegen bereits Einzug in Serienfahrzeuge gehal- steuerung durch Blicke des Fahrers umgesetzt. Der
ten (. Abb. 35.11). Das Eingabegerät ist meist in die Fahrer trägt ein Eyetracker-System am Kopf, das
Mittelkonsole integriert; per Finger können Gesten gleichzeitig seine Pupille und die Umgebung filmt
656 Kapitel 35 • Bedienelemente

nen praktischen Einsatz. Erfolgsversprechender ist


1 die Steuerung eines teilautomatisierten Systems mit
dem BCI: Hier gab der Fahrer an Entscheidungs-
2 punkten, wie Verkehrsknoten, die gewünschte Rich-
tung mittels des BCI vor, wobei die Erkennungsge-
nauigkeit 90 % betrug.
3
4 35.8.4 Sprachsteuerung

5 In der letzten Zeit hat die Spracherkennung in Au-


tomobilen große Fortschritte gemacht, so dass mit
frei formulierten Äußerungen diverse Funktionen
6 gesteuert werden können. Häufig werden dabei
Kombinationen aus Onboard- und Offboard-Lö-
7 sungen verwendet: Ist kein mobiles Internet ver-
.. Abb. 35.12  EPOC neuroheadset [30]
fügbar, werden lokale Spracherkennungstechniken
verwendet, bei zur Verfügung stehendem Internet
8 und so die Blickrichtung bestimmt. Es wurden können leistungsfähigere Systeme in der Cloud
zwei Modi umgesetzt: Im „free ride“-Modus sind verwendet werden [31]. Die Steuerung von Info-
9 die Blickrichtungen direkt mit dem Lenkaktor ver- tainmentfunktionen per Sprache ist mittlerweile
knüpft, d. h. das Fahrzeug fährt in die Richtung, in Serienstand. Die Steuerung von sekundären Funk-
10 die der Fahrer blickt. Im „routing“-Modus fährt das tionen, wie beispielsweise Fahrzeugeinstellungen,
Fahrzeug weitgehend automatisch – lediglich an be- sind in der Regel nicht durch Sprachsteuerung
stimmten Entscheidungspunkten, wie Verkehrskno- möglich [24, 26].
11 ten, wählt der Fahrer per Blick die gewünschte Rich- Für Menschen mit Beeinträchtigungen lässt
tung [29]. sich ein System nachrüsten, mit dem die Steuerung
12 Von einer Serieneinführung ist ein solches Sys- von Sekundär- und Komfortfunktionen per Spra-
tem sicher noch weit entfernt, könnte aber zukünftig che möglich ist. Mit bis zu 50 Sprachkommandos
eine Chance für Menschen mit Beeinträchtigungen lassen sich unter beliebigen Fahrbedingungen
13 sein, ein teil- oder hochautomatisiertes Fahrzeug zu beispielsweise der Fahrtrichtungsanzeiger setzen,
bedienen. Licht einschalten oder die Klimaanlage regulieren.
14 Der Hersteller gibt eine Reaktionszeit von maximal
einer Sekunde bei einer Erkennungsrate von 95 %
35.8.3 Brain Computer Interface
35 an [32].

Göhring et al. [30] untersuchten die Fahrzeugfüh-


16 rung mittels eines Brain Computer Interface (BCI) Literatur
(. Abb. 35.12). Dabei messen 16 am Kopf befestigte
17 EEG-Sensoren die Potenzialunterschiede auf der 1 Rühmann, H.: Schnittstelle in Mensch‐Maschine‐Systemen.
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Kopfhaut, der Fahrer denkt an verschiedene Bewe-
München, Wien (1993)
gungsmuster (z. B. links, rechts, drücken, ziehen).
18 Diese werden von der Sensorik erkannt und klassi-
2 Eckstein, L.: Sidesticks im Kraftfahrzeug – ein alternatives
Bedienkonzept oder Spielerei? In: Bubb, H. (Hrsg.) Ergono-
fiziert; wie bei der Blicksteuerung wurde eine freie mie und Verkehrssicherheit. Beiträge der Herbstkonferenz
19 Fahrt und die Steuerung eines teilautomatisierten der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft. Herbert Utz Ver-
lag, München (2000)
Systems untersucht. Eine freie Fahrt, d. h. eine di-
3 Bubb, H.: Fahrerassistenz primär ein Beitrag zum Komfort
20 rekte Kontrolle von Lenkung, Gas und Bremse über oder für die Sicherheit? In: Der Fahrer im 21. Jahrhundert:
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659 36

Anzeigen
für Fahrerassistenzsysteme
Peter Knoll

36.1 Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug  –  660


36.2 Anzeigen für das Kraftfahrzeug  –  667
36.3 Zukünftige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug  –  672
Literatur – 673

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_36, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
660 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

Der Autofahrer muss eine ständig wach­sende Flut zelinstrumente wie Drehzahlmesser, Tankanzeige
21 von Informationen verarbei­ten, die vom eigenen und Kühlwasserthermometer hinzu. Bis An­fang
und von fremden Fahrzeugen, von der Straße und der 1960er Jahre wurden die Einzelinstrumente aus
22 über Telekommunikationseinrichtungen auf ihn Kosten- und Designgründen durch Kombiinstru-
einwirken. Diese Informationen müs­sen ihm mit mente  verdrängt. Im Bereich der Mittelkonsole
geeigneten Anzeigemedien und unter Beachtung dominierte das nachrüstbare Autoradio. Durch die
23 ergonomischer Erfordernisse übermittelt werden. Entwicklung weiterer elektronischer Komponen-
Bis in die 1980er Jahre bestand die Informations- ten im Kraftfahrzeug und die Notwendigkeit ihrer
24 einheit für den Fahrer aus wenigen Anzeigeelemen- Überwachung wurde im vorhandenen Bauraum
ten. Tachometer mit Kilometerzähler, Tankanzeige immer mehr Information un­tergebracht, was z. T.
und einige Kontrollleuchten informierten über die zu unübersichtlichen Instrumenten führte.
25 wichtigsten Betriebszustände des Fahrzeugs. Der
zunehmende Einsatz von Elektronik im Kraftfahr- Von dieser Basis ausgehend entwickelten sich zwei

-
26 zeug führte zu immer mehr Informationsbedarf und Entwicklungspfade:
damit zu mehr Interaktionsmöglichkeiten zwischen Digitalinstrumente . Während sich solche
27 Fahrer und elektronischen Systemen. Instrumente in den USA und in Japan –
insbesondere in Fahrzeugen der Oberklasse
– etabliert haben, stieß in Europa die digitale
28 36.1 Heutige Displaykonzepte Darstellung der Geschwindigkeit auf ge-
im Kraftfahrzeug ringe Akzeptanz. Bedauerlich ist, dass durch
29 diese Entwicklung die Vorteile der digitalen
36.1.1 Kommunikationsbereiche Geschwindigkeitsanzeige nicht zum Einsatz
im Fahrzeug
30 kamen, obwohl digital dargestellte Geschwin-
digkeit schneller und exakter ablesbar ist als

31
32
Eine Analyse, welche Information aus der Vielfalt
des verfügbaren Informationsan­gebots für welchen
Fahrzeugpassagier notwendig, zweckmäßig oder
wün­schenswert ist, führt zu vier ver­schiedenen
- die Information von Zeigerinstrumenten [3].
Beibehaltung des Erscheinungsbildes mit
Zeigern . Dies entspricht auch heute noch
dem weltweiten Standarddesign von Kombi-

33 -
Anzeigebereichen. Diese sind:
das Kombiinstrument (KI) für die Darstellung
fahrerrelevanter Information am Rand des
instrumenten. Allerdings hat sich hinter dem
Zifferblatt ein erheblicher technischer Wandel
vollzogen.

34
35
- primären Blickfel­des des Fahrers;
die Windschutzscheibe für die Darstellung
fahrerrelevanter Information im primären
Blickfeld ohne Blickabwendung und ohne
Wegen des geringen vorhandenen Einbauraums in
der oberen Instrumententafel und auch wegen der
Ablenkungsgefahr wurde die Information neuer

- Akkommodation;
die Mittelkonsole für die Darstellung fahrer-
Systeme, stimuliert durch die Navigation, nicht im
Kombiinstrument platziert, sondern in der Mittel-

-
36 und beifahrerrelevanter In­formation; konsole. Hier bot sich die Zusammenfassung des
der Fahrzeugfond als mobiles Büro oder als Autoradioausschnitts und des Aschenbechers zur
37 Unter­haltungsbereich für die Kin­der [1]. Schaffung eines neuen Einbauraums als kurzfristige,
pragmatische Lösung an.
Die Kraftfahrzeuginstrumentierung im Bereich der Durch die Enge im Zifferblattbereich aufgrund
38 Instrumententafel ist in ihrer zeitlichen Entwick- immer neuer Warnanzeigen und zusätzlicher Infor-
lung in . Abb. 36.1 skizziert [2]. mation (wie Wegleitinformation und Bordrechner)
39 Zu Beginn der Automobilinstrumentierung war man gezwungen, Grafikmodule einzusetzen,
gab es lediglich einen Geschwindigkeitsmesser die diese Fülle von Zusatzinformation anzeigen
40 und wenige Warnlampen für die Überwachung der
wichtigsten Funktionen. Später kamen weitere Ein-
können und außerdem in der Lage sind, dem
Fahrer Handlungshinweise zu geben . Moderne
36.1  •  Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
661 36

.. Abb. 36.1  Entwicklung der Kraftfahrzeuginstrumentierung im Laufe der Zeit

Fahrzeuge der Oberklasse zeigen daneben vor- beim Einsatz dieser Technik wird man nicht auf den
zugsweise Funktionen wie z. B. Service-Intervalle, zusätzlichen Bildschirm im Bereich der Mittelkon-
Checkfunktionen, Fahrzeugdiagnose für die Werk- sole verzichten können.
statt u.v.a.m. an. Vorteilhaft an der Anordnung des Um die Vorteile einer Informationsaufnahme
Grafikdisplays auf Höhe des KI in der Nähe des pri- ohne Akkommodation auf den Nahbereich bei mi-
mären Blickfeldes des Autofahrers ist seine ra­sche nimaler Blickabwendung zu nutzen, bietet sich der
Ablesbarkeit ohne lange Blickabwendung. Module Einsatz eines Head-up-Displays (HUD)  an, das
dieser Art wurden zunächst in monochromer Aus- primär aus dem militärischen Bereich bekannt ist.
führung im Fahrzeug eingesetzt, dann aber rasch
durch Farbdisplays ersetzt, da die Vor­züge der
Farbdarstellung in Bezug auf Ablesegeschwindig- 36.1.2 Displays
keit und -sicherheit außer Zweifel stehen. für das Kombiinstrument
Der nächste, konsequente Schritt ist der Er-
satz mechanischer Instrumente durch Grafik- Der überwiegende Anteil der Instrumente arbeitet
Bildschirme . Mit dem weiteren Preisverfall von mit mechanischen Messwerken mit Zeigern und Zif-
Laptop-Bildschirmen werden in Zukunft kosten- ferblatt. Die voluminösen Wir­belstromtachometer
günstige Flachbildschirme zur Verfügung stehen, wurden zuerst durch viel kompak­tere und elek-
die eine Darstellung eines virtuellen mechanischen tronisch ansteuerbare Drehmagnetquotienten-
KI zulassen. Erste Fahrzeugmodelle der Luxusklasse messwerke ersetzt, inzwischen dominieren robuste
machen von dieser Technik bereits Gebrauch und Getriebe-Schrittmotoren mit sehr geringer Bautiefe.
benutzen einen größeren LCD-Bildschirm zur . Abbildung 36.2 zeigt das Kombiinstrument des
Nachbildung des Tachometers mit zahlreichen Zu- Golf III mit vier Schrittmotoren und drei Flüssig-
satzinformationen. Der nächste Schritt, sämtliche kristallanzeigen für Kilometerstand und Bordrech-
Informationsinhalte des KI mit einem Flachbild- ner in den Zifferblattausschnitten sowie der Gang-
schirm anzuzeigen, ist auch schon vollzogen. Auch anzeige (rechts oben) [4].
662 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

21
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27
28
29 .. Abb. 36.2  Geöffnetes Kombiinstrument in Auflichttechnik mit Schrittmotoren, (links: Platine mit Schrittmotoren, rechts:
Zifferblätter und Displays)

30
31
36.1.2.1 Zifferblattbeleuchtung
Ursprünglich besaßen Kombiinstrumente Ziffer-
blätter aus Blech, die in Auflichttechnik mit Glüh-
- EL-(Elektrolumineszenz-)Folien besitzen eine
sehr gleichmäßige Lichtverteilung, sind aber
erst seit etwa 2000 automobiltauglich. Sie
lampen beleuchtet wurden. Inzwischen hat sich bieten größere Gestaltungsfreiheit. Allerdings
32 die Durchlichttechnik wegen des ansprechenderen sind sie noch deutlich teurer als die konventio-
Erscheinungsbildes durchgesetzt. Später wurden nelle Lichtleiter-Lösung [5].
Glühlampen von Leucht­dioden (LED) verdrängt.
33 LED eignen sich gleichermaßen für Kontroll- und 36.1.2.2 Digitale Anzeigen
Warnleuchten wie auch für die Hinterleuchtung von Alphanumerische Displays in Flüssigkristalltech-
34 Skalen, Displays und Zeigern, letztere über Kunst- nik (LCD) und in Vakuumfluoreszenztechnik
stoff-Lichtleiter. (VFD) gehören mittlerweile zum Standard in
35 Für spezielle Gestaltungsformen werden jedoch
Kombiinstrumenten zur Anzeige von z. B. Kilo-
meterstand und Bordrechner. Diese Technologien

36
37
-
auch besondere Techniken eingesetzt, nämlich:
Mit CCFL (Kaltkathoden-Fluoreszenz-Lam-
pen) ergibt sich bei Kombination mit einer
getönten Deckscheibe (z. B. 25 % Transmis-
lassen auch die Realisierung ganzer Kombiinstru-
mente in Digitaltechnik zu, wobei die Instrumente
üblicherweise aus mehreren Modulen zusammen-
gesetzt wurden. . Abbildung 36.3 [6] zeigt die
sion) mit diesen sehr hellen Lampen ein bril- Ansicht des Digitalinstruments des Audi Quattro
lantes Erscheinungsbild mit ausgezeichnetem in LCD-Technik (1986). Im rechten Teilbild sieht
38 Kontrast. Auch Farb-LCDs erforderten wegen man auch die, mit diesem Instrument erstmalig
der geringen Transmission (typischerweise ca. eingeführte, Chip-on-Glass-Technik, bei der An-
39 6 %) zur Erzielung eines guten Kontrastes bei steuerbausteine direkt auf das Glas aufgebondet
Tageslicht bislang CCFL-Hinterleuchtungen. werden [6].
40 Sie wurden mittlerweile weitestgehend durch
weiße LEDs ersetzt.
Mit diesen segmentierten Anzeigen ist eine re-
alistische Nachbildung mechanischer Zeiger nicht
36.1  •  Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
663 36

.. Abb. 36.3  Kombiinstrument des Audi Quattro 1986 in LCD-Technik

möglich, man muss die Geschwindigkeit daher di- wird. Der nächste Schritt einer vollständigen Subs-
gital anzeigen. titution aller mechanischen Instrumente durch eine
vollflächige AMLCD-Anzeige, wurde in der neuen
36.1.2.3 Grafikmodule Mercedes S-Klasse (2013) vollzogen, s. . Abb. 36.8a.
Die Zunahme der Informationsmenge im Kom-
biinstrument macht grafikfähige Anzeigemodule
erforderlich, deren Anzeigeflächen beliebige Infor- 36.1.3 Head-up-Display (HUD)
mationen – flexibel und nach Prioritäten geordnet
– darstellen können. Diese Tendenz führt zur Ins- Herkömmliche Kombiinstrumente sind in einem Be-
trumentierung mit klassischem Zeigerinstrument, trachtungsabstand von 0,8 … 1,2 m angeordnet. Zum
ergänzt um eine Grafikanzeige. . Abbildung 36.4 [6] Ablesen einer Information muss der Fahrer seine
zeigt als Beispiel die Darstellung einer Einparkemp- Augen von unendlich (Beobachtung der Straßen-
fehlung des Einparkassistenten. szene) auf den kurzen Betrachtungsabstand für das
Grafikmodule im Kombiinstrument können Instru­ment akkommodieren. Dieser Akkommoda­
neben den oben erwähnten fahrer- und fahrzeu- tionsprozess dauert gewöhnlich 0,3 … 0,5 Sekunden.
grelevanten Funktionen auch Wegleitinformatio- Diese Situation kann durch Verwendung eines
nen aus dem Navigationssystem (Richtungspfeile) Head-up-Displays (HUD) deutlich verbessert wer-
darstellen. Den zunächst monochrom ausgeführ- den. Das Bild des HUD wird über die Wind­schutz­
ten Modulen folgen inzwischen bei höherwertigen scheibe in das primäre Blickfeld des Fahrers einge-
Fahrzeugausstattungen Farbdisplays. spiegelt. Das optische System des HUD erzeugt ein
virtuelles Bild in einem Betrachtungsabstand von
36.1.2.4 Grafikbildschirme im etwa 2–3 m, sodass das Auge auf unendlich akkom-
Kombiinstrument modiert bleiben kann. Das HUD erfordert keine
Seit 2005 werden auch größere Grafikbildschirme in Blickabwendung von der Fahrbahn, kritische Fahr-
AMLCD-Technik (AMLCD = Aktiv-Matrix-LCD) situationen können so ablenkungsfrei wahrgenom-
im Kombiinstrument für Grafikdarstellung (z.B. In- men werden. Auch die Ablesung der eingespiegelten
formation eines Nachtsichtsystems) wie auch für die Geschwindigkeit ist ohne Blickabwendung möglich.
Darstellung analoger Instrumente genutzt. . Abbil- . Abbildung 36.7 zeigt das Erscheinungsbild eines
dung 36.5 zeigt das Kombiinstrument der Mercedes HUD [6].
S-Klasse (2005) bestehend aus der Kombination ei- Head-up-Displays werden als einfache Digital-
nes 8“-AMLCD-Bildschirms mit 3 kleinen mecha- tachos mit wenig Zusatzinformation (Fahrtrich-
nischen Instrumenten. Das linke Teilbild zeigt das tungsanzeiger und 2–3 Warnsymbole) seit vielen
Instrument im normalen Betriebsmodus, das rechte Jahren, vor allem in Japan, als Sonderausstattung
Teilbild im Nachtsichtmodus. Bei Umschaltung auf angeboten, mittlerweile auch von einigen europä­
die Nachtsichtfunktion erscheint das aufbereitete ischen Herstellern als Option.
Videobild der Kamera, während die Tachoanzeige Ein typisches HUD enthält ein Anzeige­modul
in Balkenform unter dem Videobild dargestellt zur Bilderzeugung, eine Beleuchtung, eine Ab-
664 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

.. Abb. 36.4  Grafikmodul im Kombiinstrument


21 zwischen den Haupt-Rundinstrumenten

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.. Abb. 36.5  Kombiinstrument mit großem Grafikdisplay mit Möglichkeit zur Anzeige von Nachtsichtinformation Head-up
30 Grafikdisplay, Anzeige von Geschwindigkeit und ACC-Information

bildungsoptik und einen Combiner (spiegelnde, onen wie Warnanzeigen, Wegleitinformation oder
31 lichtdurchlässige Scheibe), an dem das Bild in das der Sicherheitsabstand sind hingegen sehr gut für
Auge des Betrachters reflektiert wird, . Abb. 36.6. HUD-Darstel­lungen geeignet [11].
32 Optische Elemente im Strahlengang (im Allgemei- Als Display für monochrome HUD mit gerin-
nen Hohlspiegel) vergrößern den Bildabstand. Der gem Informationsgehalt werden ultrahelle VFD (Va-
Combiner wird durch die Windschutzscheibe, even- kuumfluoreszenzdisplays, meist grün) oder beson-
33 tuell mit einer zusätzlichen Reflexionsschicht, gebil- ders kontrastreiche Segment-TN-LCD eingesetzt.
det. Zur Vermeidung von Doppelbildern, die durch
34 Reflexionen an den inneren und äußeren Grenzflä-
chen der geneigten Windschutz­scheibe entstehen, 36.1.4 Zentrale Anzeige-
und Bedieneinheit
35 wird die Verbundglasscheibe durch Integration ei-
ner keilförmigen Folie leicht keilförmig ausgeführt. in der Mittelkonsole
Aus Fahrersicht decken sich dann die beiden an den
36 Grenz­flächen entstehenden Bilder. Ein Zentralbildschirm in der Mittelkonsole gestattet
Für den Fahrer überlagert sich das HUD-Bild die Integration mehrerer Funktionen in einer kom-
37 der Straßenszene, siehe . Abb. 36.7. Wegen Ablen- pakten Anzeige- und Bedieneinheit. Auslöser für
kungsgefahr soll es die Straßenszene nicht überde- diese Art von Anzeigen waren Navigationssysteme,
cken; es wird deshalb in einer Region mit niedrigem die Ende der 1980er Jahre in Serie eingeführt wur-
38 Informationsgehalt, über der Motorhaube "schwe- den. Neben dieser Funktion können Funktionen wie
bend", dargestellt . Abb. 36.7 zeigt ein Beispiel. Bedienung von Heizung, Klima, Telefon sowie aller
39 Zur Vermeidung von Reizüberflutung im primären Audio-Funktionen dargestellt und über die zentrale
Blickfeld darf das HUD nicht mit In­formation über- Tastatur bedient werden. Da diese Informationen
40 laden werden. Es ist daher niemals ein Ersatz für das
Kombiin­strument. Sicherheitsrelevante Informati-
den Fahrer wie auch Beifahrer betreffen, ist eine
Anordnung dieses universell nutzbaren Terminals
36.1  •  Heutige Displaykonzepte im Kraftfahrzeug
665 36

.. Abb. 36.6  Prinzip eines Head-up Displays

36.1.5 Displays für Nachtsichtsysteme

Wegen des eingeschränkten Einbauraums im Fahr-


zeugcockpit und aus Kostengründen kommt ein zu-
sätzlicher Bildschirm für Nachtsichtsysteme nicht
infrage. Bei Nutzung des großen Grafikdisplays im
KI entsteht der Vorteil, dass der Fahrer sich auf nur
zwei Betrachtungsbereiche konzentrieren kann: die
Straße und das Kombiinstrument. Eigene Versuche
haben gezeigt, dass bei der brillanten Bilddarstel-
lung von Nah-Infrarot-Systemen (NIR) eine sehr
schnelle Interpretation des dargestellten Bildes
möglich ist, die nicht viel länger dauert, als der ge-
wohnte Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige. Pro-
bandentests der Universitäten Berlin und Chemnitz
im Auftrag von VW [9] zeigten die beste Akzeptanz
für diese Darstellungsform, s. hierzu auch [7].
Andere Hersteller, die die hohen Kosten eines
.. Abb. 36.7  Head-up Display, Anzeige von Geschwindigkeit großen Displays im KI scheuen, benutzen zur Dar-
und ACC-Information stellung des Nachtsichtbildes das Zentraldisplay im
Mittelkonsolenbereich. Diese Anordnung hat zur
in der Mittelkonsole aus ergonomischer und tech- Folge, dass der Fahrer drei Betrachtungsbereiche
nischer Sicht zweckmäßig und notwendig. Während im Auge behalten muss. Als Anzeige kommen auch
die ersten Bildschirme wegen des günstigeren Bau- für diese Funktion farbige AMLCD-Bildschirme
raum-Angebots im unteren Mittelkonsolenbereich zum Einsatz.
platziert wurden, sind sie mittlerweile in eine ergo-
nomisch günstigere Position auf gleicher Höhe mit
dem Kombiinstrument angeordnet. . Abbildung 36.8 36.1.6 Zusatzdisplays
[8] zeigt die Instrumententafel der neuen Mercedes
S-Klasse (2013) mit der zugehörigen Bedieneinheit, Immer häufiger sieht man Fahrzeuge, bei denen
die in ergonomisch günstiger Position im primären eine zusätzliche Anzeige im Cockpit oder mittels
Greifraum der Mittelkonsole angeordnet ist. eines Saugnapfes auf der Windschutzscheibe befes-
666 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

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.. Abb. 36.8  Instrumententafel der neuen Mercedes S-Klasse (2013)
39
tigt ist. Zumeist handelt es sich hierbei um Naviga- über eine Bluetooth-Schnittstelle mit anderen Fahr-
40 tionssysteme, die mittlerweile preiswert angeboten
werden. Diese Systeme sind autark und können z. T.
zeugkomponenten (im Allgemeinen Audiosystem)
kommunizieren. Wegen der guten Darstellungsei-
36.2  •  Anzeigen für das Kraftfahrzeug
667 36

genschaften von AMLCD-Bildschirmen kommen der Umgebungsleuchtdichte. Hier ist der Kontrast
diese Anzeigen auch für diese so genannten „No- die entscheidende Größe, der durch die Leuchtdich-
madic Devices“ zum Einsatz. ten von Zeichen und Hintergrund bestimmt wird.
Bedauerlicherweise verfügen diese Geräte z. T. Er ergibt sich zu:
über sehr kleine Bedienelemente und eigene, mit
der Bedienphilosophie des Fahrzeugherstellers LZ
KD
nicht konvergente Menüstrukturen, sodass von LU
diesen Geräten die Gefahr einer größeren Ablen-
kung ausgeht, als sie von den integrierten Systemen also das direkte Verhältnis zwischen Zeichenleucht-
erwartet werden muss. Die EU hat bereits ihre Sorge dichte LZ und Umgebungsleuchtdichte LU.
angemeldet und erwägt gesetzliche Vorgaben für die Daneben wird zwischen den beiden Kontra-
Gestaltung dieser Mensch-Maschine-Schnittstellen. starten unterschieden: Dunkel/Hell-Kontrast mit
dunklen Zeichen auf hellem Grund wird „Positiv-
kontrast“ genannt. Bei Hell/Dunkel-Kontrast mit
36.2 Anzeigen für das Kraftfahrzeug hellen Zeichen im dunklen Umfeld (Kraftfahrzeug-
instrumente) spricht man von „Negativkontrast“.
Aus der Vielzahl der verfügbaren Display-Techno- Üblicherweise wird der Zähler oder der Nenner zu
logien konnten sich nur wenige für den Einsatz im 1 normiert (z. B. K = 1 : 8 oder 10 : 1), je nachdem, ob
Kraftfahrzeug durchsetzen. Zunächst dominierten es sich um ein Positiv- oder Negativkontrastdisplay
rein mechanische Messwerke, kombiniert mit weni- handelt.
gen Kontrollleuchten. Durch die Entwicklung mo- Die Erkennbarkeit der Anzeige wird vom Be-
derner Displaytechniken wurde die Mechanik nahezu trachter im Allgemeinen subjektiv bewertet: So wird
vollständig durch elektronische Anzeigen ersetzt. z. B. der Kontrast typischer passiver Daueranzeigen
Die Beurteilung einer Anzeige kann nach zahl- wie Tageszeitungen als gut angesehen; er liegt etwa
reichen Kriterien erfolgen, die sich in drei Gruppen bei 1 : 7. Der subjektiv „beste“ Kontrast liegt – je
zusammenfassen lassen. Die wichtigsten optischen nach aktuellem Adaptationszustand des Beobach-
Größen sind: Kontrast, Leuchtdichte, Ablesbarkeit ters – nach Erfahrungen aus der Fernsehtechnik im
bei starkem Auflicht und Farbwiedergabe. Diese Bereich von 10 : 1 bis 5 : 1 [10].
müssen stets im Hinblick auf die vorgesehene Ap-
plikation betrachtet und optimiert werden.
Die technisch-wirtschaftlichen Kenndaten wer- 36.2.1 Elektromechanische
den von den physikalischen Eigenschaften der je- Messwerke
weiligen Technologie bestimmt. Sie beinhalten Ge-
sichtspunkte wie: Betriebsspannung, Betriebsstrom, Früher dominierte der Wirbelstromtachometer. Er
Leistungsbedarf, Schaltzeiten, Ansteuerbarkeit, besteht aus einem drehbar gelagerten Permanent-
Multiplexbarkeit, Kosten. magneten, der von einer mechanisch angetriebenen
Zudem werden Anzeigen auch nach anwen- Achse (Tachowelle) in Drehung versetzt wird. Der
dungstechnischen Gesichtspunkten beurteilt. Für Kilometerzähler war mechanisch und wurde eben-
das Kraftfahrzeug sind hier insbesondere zu nen- falls durch die Tachowelle angetrieben. Wegen ihrer
nen: Temperaturbereich, Frontflächenbedarf, Aus- voluminösen Bauform und wegen der Anfälligkeit
fallrate, Beständigkeit gegen Feuchte, Druckwechsel der Welle sind diese Anzeigen weitestgehend ver-
und Schock. schwunden.
Eine Anzeige, die all diesen genannten Kriterien Beim Drehmagnetquotientenmesswerk (DQM,
optimal gerecht wird, existiert nicht und erfordert . Abb. 36.9 links) ist ein Permanentmagnet von
auch in Zukunft Kompromisse zwischen Aufwand zwei gekreuzten Spulen umschlossen [4].
und Leistung des Anzeigesystems. Durch geeignete Bestromung der Spulen wird
Eine der wichtigsten Anforderungen an ein Dis- der Zeiger quadrantenweise in Bewegung versetzt.
play ist eine gute Erkennbarkeit über große Bereiche Eine (nicht gezeichnete) Spiralfeder führt den Zei-
668 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

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26 .. Abb. 36.9  Drehmagnetquotienten-Messwerk, DQM (links), Schrittmotor nach dem Lavet-Prinzip (rechts)

27
ger im stromlosen Zustand in die Ruheposition an des Umgebungslicht und benötigen deutlich weniger
einen Anschlagstift zurück. Energie.
28 Der Schrittmotor nach dem Lavet-Prinzip,
. Abb. 36.9 rechts [4], wird in modernen Kraft- 36.2.2.1 Aktive Displays
29 fahrzeuginstrumenten eingesetzt. Ein sehr kleiner Glühlampen
Permanentmagnet wird von einem Joch aus ferro- Glühlampen werden in Kraftfahrzeuginstrumenten
30 magnetischen Blechen umschlossen. Wird das Joch
mit Wechselspannungssignalen erregt, dreht sich
als Warnlämpchen oder zur Beleuchtung von Ziffer-
blättern und passiven Anzeigen eingesetzt. Sie sind
der Magnet und treibt über ein zweistufiges Ge- sehr preiswert, allerdings ist der optische Wirkungs-
31 triebe die Zeigerachse an. Getriebe-Schrittmotoren grad mit etwa 4 % sehr gering. Die durchschnittliche
besitzen eine Bautiefe von nur noch etwa 5–8 mm. Lebensdauer von Standard-Glühlampen beträgt bei
32 Sie kommen mit etwa 100 mW Leistungsaufnahme Nennleistung 1000 bis 5000 Stunden.
aus und erlauben eine schnelle und sehr präzise Zei-
gerpositionierung mit großem Moment. Leuchtdiode (LED)
33 Die Lichterzeugung mit Halbleitern beruht auf der
strahlenden Rekombination von Elektronen des
34 36.2.2 Aktive und passive Leitungsbandes mit Löchern aus dem Valenzband,
Segmentdisplays wobei die freiwerdende Energie in Form von Photo-
35 Es hat sich eingebürgert, Anzeigen nach ihren phy-
nen emittiert wird. Zuvor muss der Halbleiter durch
eine Spannung angeregt werden.
sikalischen Eigenschaften und den ihnen zugrunde Mit den Standardmaterialien Galliumarsenid
36 liegenden Phänomenen nach aktiven und passiven (GaAs, rot), Indiumphosphid (InP, rot bis gelb), Si-
Anzeigen zu unterscheiden. liziumkarbid (SiC, blau) und Galliumnitrid (GaN,
37 Aktive Anzeigen (z. B. Leuchtdioden, Gasentla- blau) konnten alle Farben des sichtbaren Spektrums
dungsanzeigen) emittieren selbst Licht und verbrau- realisiert werden. Trotz ihrer begrenzten Helligkeit
chen daher viel Energie, wenn sie ausreichend hell und höherer Kosten wurden diese LEDs als Kont-
38 sein sollen, um auch bei großer Umgebungshellig- rollleuchten eingesetzt, da sie eine bedeutend gerin-
keit, wie sie in Kraftfahrzeugen häufig herrscht, mit gere Ausfallrate und höhere Lebensdauer besitzen
39 ausreichendem Kontrast wahrgenommen werden als Glühlampen. Die Farbe Weiß wurde zunächst
zu können. Passive Anzeigen (z. B. Flüssigkristall- durch additive Farbmischung durch Kombination
40 anzeigen, elektromechanische Anzeigen) erzeugen
hingegen selbst kein Licht, sie modulieren einfallen-
mehrerer LED-Chips in einem Gehäuse realisiert,
später erfolgte durch die Erfindung der LucoLED
36.2  •  Anzeigen für das Kraftfahrzeug
669 36
.. Abb. 36.10 Aufbau
von LEDs: Standard-
LED (links), LucoLED
(rechts)

(Lumineszenz-Conversions-LED) der Durchbruch


zur Erzeugung sehr hoher Helligkeiten. Damit war
die Realisierung LED-basierter Hinterleuchtungen
für Zifferblätter und Grafikanzeigen auch bei stark
eingefärbten Deckscheiben der Kombiinstrumente
möglich. Bei der LucoLED wird ein Teil des blauen
Lichts durch Leuchtstoffe in grün und rot umge-
wandelt, sodass sich als Mischfarbe weiß ergibt.
Der schematische Aufbau von LEDs ist in .. Abb. 36.11  Aufbau einer OLED
. Abb. 36.10 [10] dargestellt.
Der meist ca. 0,35 × 0,35 × 0,2 mm3 große, mit besteht aus Metall, z. B. Al oder In. Die Lumines-
Kontakten bedampfte Halbleiter-Kristall wird mit zenzanregung erfolgt durch injizierte Ladungsträger
einem leitfähigen Epoxykleber auf einen versilber- in dem Schichtsystem. Bei Anliegen einer Spannung
ten Stift aufgeklebt. Die Anode wird mittels eines werden durch die Metallkathode Elektronen inji-
Golddrahts mit dem zweiten Stift verbunden. An- ziert, durch die Anode die Löcher. Die Ladungsträ-
schließend wird das System mit Epoxydharz um- ger werden durch die Polymerschicht aufeinander
hüllt. Diese Kunststoffumhüllung stellt einen guten zu transportiert und rekombinieren beim Aufein-
mechanischen Schutz dar und beeinflusst die Ab- andertreffen unter Aussendung von Licht.
strahlcharakteristik. Grundsätzlich unterscheidet man bei den
OLEDs nach den lumineszierenden Materialien,

--
Technische Daten von LED:
Betriebsspannung: materialabhängig;
den konjugierten Polymeren (Poly-LEDs) und
kleinen organischen Molekülverbindungen (Mo-

--
ca. 2 bis 3 V; blau ca. 5 bis 10 V;
Betriebsstrom: 1 bis 100 mA;
nomere). Die kleinen organischen Molekülverbin-
dungen werden im Vakuum aufgedampft, die kon-

-
Temperaturbereich: –50 bis 100 °C;
Lebensdauer: 108 bis 1010 h;

Organische Leuchtdiode (OLED)


jugierten Polymere werden in gelöster Form auf
einem Drehteller aufgeschleudert.
Das am häufigsten verwendete OLED-Material
ist Aluminium-tris(8-hydroxchinolin), Alq3. Die
Neuerdings findet man auch Displays auf Basis spektrale Emission der Materialien ist breitbandig.
organischer Leuchtdioden als Segmetanzeigen im Prinzipiell lassen sich alle Farben mit dieser Tech-
Kraftfahrzeug. Das organische Schichtsystem ist nologie darstellen.
zwischen zwei Elektroden eingebettet. . Abbil- OLEDs in Polymertechnik sind kostengünstig
dung 36.11 zeigt den prinzipiellen Aufbau eines herzustellen, besitzen allerdings nicht die Umwelt-
OLED-Anzeigeelements. stabilität, die für Fahrzeuganwendung erforderlich
Als Anode verwendet man ein Zinn-Indium- ist. OLEDs in Monomertechnik besitzen eine gute
oxyd-Gemisch (ITO), das auf dem Trägermaterial Schichthomogenität mit gleichmäßig guten op-
(Glas oder Folie) aufgebracht wird. Die Kathode tischen Eigenschaften, sind allerdings wegen der
670 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

.. Abb. 36.12  Anzeige Klimaanlage mit OLED-


21 Display

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.. Abb. 36.13  Aufbau einer planaren

26 VFD

27
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29
30 erforderlichen Vakuumprozesse teurer in der Her- Elektronenaustrittsarbeit beschichtet sind. Die
stellung. Durch Eindringen von Feuchtigkeit an den Gitterelek­troden werden durch Ätzen aus dünnen
31 Displayrändern kann es zu einer Schädigung der or- Edelstahlfolien hergestellt, sie besitzen Wabenstruk-
ganischen Stoffe kommen. Temperaturen über 70 tur. Die Anodenstruktur wird in Dickschichttechnik
32 bis 80° C sind ebenfalls kritisch für die Lebensdauer. hergestellt.
Dies hat bisher den Einsatz von farbigen OLED- VFD werden im Konsumerbereich im Multi-
Grafik-Modulen, wie sie heute z.B. bei Handys im plexbetrieb angesteuert, im Automobil hingegen
33 Konsumerbereich schon seit Jahren etabliert sind, wegen der hohen erforderlichen Helligkeit segment-
verhindert. Wegen der hohen Anforderungen an weise direkt.
34 die Klimabeständigkeit kamen OLEDs im Kraft- Standard-VFD benutzen einen ZnO:Zn-Leucht-
fahrzeug bislang nur für kleinere, monochrome, stoff, dessen Spektralverteilung etwa von 400 nm
35 alphanumerische und einfache Grafikdisplays zum
Einsatz. . Abbildung 36.12 zeigt das Anzeigemodul
bis 700 nm reicht und dessen Maximum im Grün-
blauen bei 505 nm liegt. Aus diesem Emissions-
einer Klimaanlage in OLED-Technologie [12]. spektrum können durch Filterung alle Farben von
36 blau bis rot erzeugt werden, durch Benutzung eines
Vakuumfluoreszenzanzeige (VFD) Violett-Filters auch weiß.
37 Die Vakuumfluoreszenzanzeige arbeitet nach dem
Prinzip einer Vakuumröhre (Triode). Die Anode
ist mit Leuchtstoff beschichtet, der Licht emittiert,
-
Die wesentlichen Daten von VFD:
Leistungsverbrauch:

--
38 sobald die von der Kathode ausgesandten Elektro- 15 bis 125 mW/Digit bei 7-Segmentanzeigen;
nen genügend stark durch eine Anodenspannung Lebensdauer: 50 000 h;
39
40
beschleunigt werden. . Abbildung 36.13 [10] zeigt
das Schnittbild einer Vakuumfluoreszenzanzeige.
Die direkt geheizte Kathode besteht aus Wolf-
ramdrähten, die mit einer Schicht mit niedriger
- Temperaturbereich: –40 bis +85 °C;
Leuchtdichte: 300 cd/m² bei statischem Be-
trieb.
36.2  •  Anzeigen für das Kraftfahrzeug
671 36

LCDs mit Negativkontrast erhält man durch par-


allele Anordnung der Polarisatoren auf der Flüssig-
kristallzelle.

36.2.3 Grafikanzeigen
für Kombiinstrument
und Mittelkonsole

.. Abb. 36.14  Optisches Verhalten einer TN-Zelle zwischen ge- Beliebig darstellbare Information erfordert gra-
kreuzten Polarisatoren: Aus-Zustand (links) Ein-Zustand (rechts) fikfähige Punktrasteranzeigen. Bei grafikfähigen
Anzeigen werden die Elektroden in Matrixform
36.2.2.2 Passive Displays ausgebildet und im Multiplexbetrieb zeilenweise
Flüssigkristallanzeigen (Liquid Crystal angesteuert.
Display, LCD) Für die optisch anspruchsvolle und zeitlich
Flüssigkristalle sind innerhalb eines bestimmten rasch veränderliche Darstellung komplexer Infor-
Temperaturbereichs flüssig, besitzen aber die aniso- mation im Bereich des KI und der Mittelkonsole
tropen Eigenschaften von Kristallen. Die Anisotro- mit hochauflösenden, videofähigen Flüssigkristall-
pie der Dielektrizität erlaubt die Beeinflussung der Bildschirmen eignet sich nur die Aktiv adressierte
Orientierung der zigarrenförmigen Moleküle durch Matrix-LCD (AMLCD). Die Adressierung der ein-
ein elektrisches Feld und die optische Anisotropie zelnen Bildpunkte erfolgt durch Dünnschichttran-
ermöglicht es, diesen Effekt im polarisierten Licht sistoren (TFT = Thin Film Transistor).
sichtbar zu machen. Für Anwendungen in Displays Für Kfz sind Bildschirme mit Diagonalen von
verwendet man die LCD als Lichtventil. 3,5“ bis 10“ im Mittelkonsolenbereich und erweiter-
Aus der Vielzahl möglicher elektrooptischer Ef- tem Temperaturbereich (–25 °C … +95 °C) verfüg-
fekte mit Flüssigkristallen ist die „verdrillt nemati- bar. Für das frei programmierbare Kombi­instrument
sche Zelle“ (engl. „Twisted nematic (TN) Display“) sind Formate von 10“ bis 14“ vorgesehen. . Abbil-
am bedeutendsten, . Abb. 36.14. dung 36.15 zeigt eine aufgeklappte TFT-Matrix. [13]
Bei der TN-Anzeige sind die Moleküle des Flüs- TFT-LCD bestehen aus dem „aktiven“ Glassub-
sigkristalls parallel zur Glasoberfläche orientiert, strat und der Gegenplatte mit den Farbfilterstruk-
wobei jedoch die Vorzugsrichtungen der Moleküle turen. Auf dem aktiven Substrat befinden sich die
an den beiden Glasplatten um 90° zueinander ge- Bildpunktelekt­roden aus Zinn-Indium-Oxid, die
dreht sind (linkes Teilbild). Linear polarisiertes metallischen Zeilen- und Spaltenleitungen und die
Licht erfährt beim Durchdringen der Schicht eine Halbleiterstrukturen. An jedem Kreuzungspunkt
Drehung seiner Polarisationsrichtung um 90°. Bei von Zeilen- und Spaltenleitung befindet sich ein
gekreuzten Polarisatoren ist die Flüssigkristall- Feldeffekttransistor, der in mehreren Maskenschrit-
schicht durchsichtig (Positivkontrastzelle). Beim ten aus einer zuvor aufgebrachten Schichtenfolge
Anlegen einer Spannung an die ITO-Elektroden herausgeätzt wird. Der Dünnfilmtransistor (TFT)
(rechtes Teilbild) werden die Moleküle in der ist eine polykristalline Variante des MOS-Feldeffekt-
Schicht in eine Orientierung senkrecht zu den Glas- transistors, dessen Herstellung so optimiert wurde,
platten gedreht. Die Polarisationsrichtung des Lichts dass die Strukturen durch selbstjustierende photo-
kann diesem abrupten Übergang nicht mehr folgen, lithographische Prozesse erzeugt werden können.
die Zelle ist lichtundurchlässig. Auf der gegenüberliegenden Glasplatte befinden
sich die Farbfilter und eine „Black-Matrix“-Struktur,

--
Die wesentlichen Daten von LCD:
Leistungsverbrauch: einige µW/Digit
die durch Abdeckung der metallisch reflektierenden
Zeilen- und Spaltenleitungen zu einer Verbesserung

- Lebensdauer: > 100.000 h;


Temperaturbereich: –40 bis +110 °C.
des Kontrastes der Anzeige führt. Die Farbfilter wer-
den in Form durchgehender Streifen aufge­bracht.
672 Kapitel 36  •  Anzeigen für Fahrerassistenzsysteme

.. Abb. 36.15 TFT-Matrix
21
22
23
24
25
26
27
28
Darüber liegt eine durchgehende Gegenelektrode genau mit dem natürlichen Bild überdecken, wel-
29 für alle Bildpunkte. ches der Fahrer durch die Windschutzscheibe sieht.
Dies wäre eine ideale Darstellungsform hinsichtlich
30 36.3 Zukünftige Displaykonzepte
Erkennbarkeit und Interpretierbarkeit von Objek-
ten. Solche Lösungen erfordern aber einen hohen
im Kraftfahrzeug technischen Aufwand wie z. B. die Erkennung der
31 Kopfposition zum „Nachfahren“ des HUD in den
Neben den oben geschilderten Anzeigekonzepten Sichtstrahl des Fahrers und einen geänderten Auf-
32 sind in Zukunft weitere Entwicklungen im Bereich bau des HUD in Form eines Projektionssystems
des Head-up-Displays zu erwarten. [11].

33
36.3.1 Kontaktanaloges Head-up- 36.3.2 Laserprojektion
34 Display
Heutige HUDs benötigen bei starker Umgebungs-
35 Für die Darstellung von Nachtsichtinformation
bietet sich zunächst die Darstellung des von der
helligkeit sehr hohe Leuchtdichten, um ablesbar zu
sein. Bei direkter Sonneneinstrahlung reicht sie aber
Kamera aufgenommenen Bildes an. Einige Systeme häufig nicht aus. Abhilfe kann hier eine Laserpro-
36 am Markt benutzen hierzu ein Head-up-Display jektionseinheit schaffen, die das Bild direkt auf eine
(HUD), bei dem die monochrome Information Zwischenebene schreibt, von der es über eine Pro-
37 oberhalb der Mittelkonsole auf die Windschutz- jektionsoptik auf die Windschutzscheibe geworfen
scheibe projiziert wird, ein Bereich mit langer Blick- wird. Ein Videocontroller steuert die Farblaser an,
abwendungsdauer. die in den Primärfarben Rot, Grün und Blau emit-
38 Eine so genannte „kontaktanaloge“ HUD- tieren. Über dichroitische Spiegel werden die drei
Anzeige, bei der man sich auf die Darstellung von Teilstrahlen zusammengeführt und über eine mik-
39 Warnsymbolen beschränkt, die durch ein Bildverar- romechanische, zweiachsige Scannereinheit auf die
beitungssystem gewonnen werden, würde es erlau- Bildebene geworfen.
40 ben, Warnsymbole oder Objektmarkierungen so in
die Windschutzscheibe einzublenden, dass sie sich
Wegen der hohen Ausgangsleistung der Laser-
dioden steht ausreichende Bildhelligkeit auch bei
Literatur
673 36

stärkster Umgebungshelligkeit zur Verfügung (etwa


zehnfach größer als beim Standard-HUD mit LED-
Beleuchtung). Mit einer Serieneinführung ist etwa
2012 zu rechnen.

Literatur

[1] Knoll, P.M.: Displays für Fahrerinformationssysteme, 5.


EUROFORUM‐Jahrestagung „DISPLAY 2000“ Stuttgart,
27./28. Juni 2000
[2] Knoll, P.M.: The use of Displays in Automotive Applications.
Journal of SID (Society for Information Display) 5(3), 165
(1997)
[3] Bouis, D.; Haller, R.; Geiser, G.; Heintz, F.; Knoll, P.M.: Ergono-
mische Optimierung von LCD‐Anzeigen im Kraftfahrzeug.
Proc. ISATA (1983)
[4] Bild: MotoMeter GmbH
[5] Herzog, B.: Instrumentierung. In: Bosch Kraftfahrtechni-
sches Taschenbuch, 28. Aufl. Springer Fachmedien, Wies-
baden (2014)
[6] Bild: Robert Bosch GmbH
[7] Knoll, P.M.; Reppich A.: A Novel Approach for a Night Vi-
sion System. Proc. FISITA Int’l Conference, Yokohama, Japan
(2006)
[8] Bild: Daimler (2013)
[9] Mahlke, S., Rösler, D., Seifert, K., Krems, J.F., Thürig, M.: Eva-
luation of six night vision enhancement systems: Qualita-
tive and quantitative support for intelligent image proces-
sing. Human Factors 49(3), 518–531 (2007)
[10] Knoll, P.M.: Displays, Einführung in die Technik aktiver und
passiver Anzeigen. Hüthig‐Verlag, Heidelberg (1986)
[11] Herzog, B.: Laser‐Projektion – die Technologie für brillante
Head‐up Displays. VDI‐Fachtagung „Optische Technologien
in der Fahrzeugtechnik“, Leonberg (2006)
[12] Bild: Verfasser KLPZLR0
[13] Bild: ADT GmbH
675 37

Fahrerwarnelemente
Norbert Fecher, Jens Hoffmann

37.1 Einleitung – 676
37.2 Menschliche Informationsverarbeitung – 676
37.3 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine  –  677
37.4 Anforderungen an Warnelemente – 678
37.5 Beispiele für Warnelemente – 679
37.6 Voreinteilung von Warnelementen – 681
Literatur – 684

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_37, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
676 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente

37.1 Einleitung Eingangsgrößen, zu denen auch die Warnung


1 durch ein Warnelement gehört, stellen einen Reiz
Sowohl der Mensch als auch die Maschine können für die Sinnesorgane des Menschen dar. Die In-
2 gerade in schwierigen Fahrsituationen Fehler verur- tensität des Reizes muss oberhalb einer sinnesor-
sachen. Die Schwächen von Menschen liegen unter ganspezifischen Reizschwelle und unterhalb der
anderem in einer begrenzten Aufmerksamkeitsfähig- Schmerzschwelle liegen. Die Reize werden in den
3 keit: Ist diese etwa stärker fokussiert auf eine Bedie- sensorischen Kurzspeicher aufgenommen, dessen
nung des Navigationssystems als auf das Fahrzeug- Hauptzweck darin besteht, die aufgenommenen
4 führen, können in Notsituationen falsche, zu späte Reize für die Wahrnehmungsvorgänge bereitzuhal-
oder gar keine Entscheidungen getroffen werden. ten. Bei der Wahrnehmung sind – im Gegensatz zur
5 Ist ein technisches System in der Lage, eine der- Reizaufnahme – höhere Gehirnareale beteiligt. Cha-
artige Notsituation zu erkennen, stellt sich die Frage, rakteristisch für die Wahrnehmung sind die Mus-
in welcher Weise eine Warnung des Fahrers oder tererkennung und die Merkmalsbildung. Nach der
6 ein Eingriff erfolgen kann. Bei der Beantwortung Wahrnehmung entscheidet der Mensch zwischen
spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Wichtig ist möglichen Handlungsalternativen und wählt eine
7 die Frage nach der Wirksamkeit einer Warnung bei Antwort als Reaktion auf die Reize aus; dabei erfolgt
Vorhandensein einer Gefahr sowie die Bewertung ein ständiger Informationsaustausch mit Arbeits-
der Verzeihlichkeit einer Warnung im Falle einer und Langzeitgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis wird
8 Falschauslösung. auch Kurzzeitgedächtnis genannt, worin nicht nur
Das Kapitel beschreibt zunächst ein Modell der die Information selbst, sondern auch deren Interpre-
9 menschlichen Informationsverarbeitung und stellt tation festgehalten werden. Speicherung und Zugriff
die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine auf das Langzeitgedächtnis dauern erheblich länger
10 vor. Anforderungen an Warnelemente werden als beim Kurzzeitgedächtnis. Für die Antwort­
ebenso aufgeführt wie Beispiele für Warnelemente auswahl steht wiederum ein Speicher mit abgelegten
der Längs- und der Querführung. Abschließend passenden Körperbewegungen zur Verfügung. Der
11 wird eine Methode zur Voreinteilung der Warnele- Prozess endet mit der Antwortausführung.
mente und Kriterien für eine Bewertung im Versuch Für Wahrnehmung, Entscheidung und Antwort­
12 vorgestellt. auswahl, Arbeitsgedächtnis und Antwortausführung
stehen dem Menschen Aufmerksamkeitsressourcen
zur Verfügung (s. auch ▶ Kap. 1). Er kann diese Res-
13 37.2 Menschliche sourcen frei verteilen. Eine detaillierte Aufteilung
Informationsverarbeitung der menschlichen Handlungen und Fehlhandlun-
14 gen ist Aufgabenbereich der Ergonomie und wird
In der allgemeinen Psychologie werden für die beispielsweise von Jürgensohn und Timpe in [1]
15 Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Informati- aufgelistet. Der Mensch besitzt nach [3] und [4]
onsverarbeitung sehr differenzierte Vorstellungen beispielsweise zum Fahrzeugführen die Fähigkeit
erarbeitet. Zulässige Vereinfachungen sind nach zur Vorhersage (prediction) und zur Vorausschau
16 Jürgensohn und Timpe [1] eine Beschränkung auf (preview): Hierbei wird die voraussichtliche Ent-
die Bereiche Informationsaufnahme, Informations- wicklung der Verkehrssituation für die unmittelbare
37 verarbeitung im engeren Sinne und ein System zur Zukunft aufgrund von gegenwärtigen Informationen
Handlungsausführung. geschätzt. Wird die zukünftige Situation vom Fahrer
Gemäß dem Modell von Wickens [2] können als unbedenklich eingestuft, kann er dazu neigen,
18 die menschlichen Informationsübertragungspro- seine Aufmerksamkeitsverteilung vom Fahrzeug-
zesse wie in . Abb. 37.1 zusammengefasst nach führen zu anderen Reizen hin zu verlagern. Tritt in
19 Johanssen [3] dargestellt werden. Das Modell be- einem Moment mit ungünstiger Aufmerksamkeits-
schreibt die Aufnahme von Reizen durch die Sin- verteilung ein plötzliches und unerwartetes Ereignis
20 nesorgane und die Erzeugung von Ausgangsgrößen ein, können menschliche Fehlhandlungen und mög-
durch Körperbewegungen. licherweise Unfälle hieraus resultieren [3].
37.3  •  Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine
677 37
Aufmerksamkeitsressourcen

Entscheidung
Sensorischer Antwort-
Reize Wahrnehmung & Antworten
Kurzspeicher ausführung
Antwortauswahl

Arbeitsgedächtnis

Langzeit-
gedächtnis

Gedächtnis

.. Abb. 37.1  Modell der menschlichen Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeitsverteilung [1] nach [2]

Zomotor und Kiesewetter haben gezeigt, dass 37.3 Schnittstellen zwischen Mensch
Fahrer in Notbremssituationen nicht die notwen- und Maschine
digen Bremsbetätigungsgeschwindigkeiten und
-kräfte aufbringen [5, 6]. Diese Erkenntnisse führ- Menschen nehmen Informationen oder Reize über
ten zur Entwicklung des Bremsassistenten (BA). ihre sensorischen Organe auf, die unterschiedliche
Rath und Knechtges beschreiben die beim Men- Empfindlichkeiten und Betriebsbereiche besitzen.
schen in Notbremssituationen ablaufenden phy- Die Einteilung der menschlichen Sinneskanäle kann
siologischen Vorgänge: Über die Ausschüttung von in fünf Klassen erfolgen (siehe beispielsweise Res-
Adrenalin wird das Großhirn ausgeschaltet, das ponse-Checkliste [8]):
Kleinhirn übernimmt die Steuerung und reagiert 1. visueller Sinneskanal
mit gelernten Handlungsweisen oder instinktiv 2. auditiver Sinneskanal
nach dem Prinzip „fight, flight or freeze“ [7]. Allge- 3. haptischer Sinneskanal
mein leiten sich zwei Zielsetzungen für warnende a) taktiler Sinneskanal
Fahrerassistenzsysteme ab: b) kinästhetisch-vestibulärer Sinneskanal
1. Unterstützung des Menschen bei der Verteilung 4. olfaktorischer Sinneskanal
der Aufmerksamkeitsressourcen, um die Kol- 5. gustatorischer Sinneskanal
lision durch schnelle Wahrnehmung der Ver-
kehrssituation zu vermeiden, Für die Anwendung im Kraftfahrzeug werden
2. Unterstützung des Menschen bei der Entschei- hauptsächlich die ersten drei Sinneskanäle von
dung und Antwortauswahl durch die Art der FAS verwendet. Eine ausführliche Beschreibung
Warnung. der physikalischen Eigenschaften der Sinneskanäle
befindet sich in ▶ Kap. 1. Der visuelle und der au-
ditive Sinneskanal werden in vielfältiger Weise für
das Übermitteln von Warnungen verwendet; in
▶ Abschn. 37.5 sind Beispiele hierfür aufgeführt.
Von manchen neueren FAS wird gezielt der hapti-
678 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente

1 .. Tab. 37.1  Qualitative Bewertung ausgewählter Eigenschaften der Sinneskanäle in Anlehnung an [3, 8, 9]

Eigenschaften
2 Sinneskanal Alternative Namensgebung Informationsrate Wahrnehmungsverzugszeit

3 visueller Kanal Sehsinn sehr hoch schnell

auditiver Kanal Hörsinn mittel mittel

4 taktiler Kanal Tastsinn niedrig sehr schnell

kinästhetisch­ Stellungs- und Bewegungssinn niedrig sehr schnell

5 vestibulärer Kanal

sche Sinneskanal zur Übermittlung von Warnungen tenzsystemen benannt. Dabei wird kein Anspruch
6 verwendet. Der haptische Sinneskanal lässt sich in auf Vollständigkeit erhoben, vielmehr wird ein
die taktile und die kinästhetische Wahrnehmung Überblick über zu berücksichtigende Aspekte ge-
7 unterteilen. Teil der kinästhetischen Wahrneh- geben. In ▶ Kap. 33 werden Leitlinien zur Entwick-
mung durch die Propriozeptoren ist die vestibuläre lung von FAS näher beschrieben. Im Allgemeinen
Wahrnehmung durch das Gleichgewichtsorgan im ergeben sich Anforderungen an Warnelemente aus
8 Innenohr und Kleinhirn. Nachfolgend werden die drei Bereichen:
speziellen Eigenschaften der Sinneskanäle in Bezug 1. Normen und Standards,
9 auf die Anwendung für Warnelemente beschrieben. 2. Richtlinien,
Eine der wichtigen Eigenschaften der Sinneskanäle 3. Produktentwicklungsprozess.
10 für die Übermittlung von Warnungen ist die Lösung
der Frage, welche Information mit welcher Kom- Zu 1.: Normen stellen Mindestanforderungen an
plexität übermittelt werden soll. Die übertragbare das Produkt. Relevanz für Warnelemente hat – ne-
11 Informationsrate ist ein Maß für diese Eigenschaft. ben anderen Normen – die ISO 15623 [10]; sie ist
Zum anderen ist die Zeitdauer von der Ausgabe der gezielt auf Kollisionswarnsysteme ausgerichtet. In
12 Warnung eines technischen Systems bis zum Beginn ihr werden explizit Anforderungen an optische und
der Wahrnehmung beim Menschen eine die Reak- akustische Warnungen definiert. Weitere Normen für
tionszeit bestimmende Größe. Diese Größe wird auditive und visuelle Anwendungen sind [11, 12].
13 im Folgenden Wahrnehmungsverzugszeit genannt. Zu 2.: Richtlinien enthalten Anforderungen und
. Tabelle 37.1 teilt den Sinneskanälen ausgewählte geben die Anwendung von Methoden vor. Bei der
14 Kriterien zu. Diese Eigenschaften besitzen die Sin- Entwicklung von FAS ist den Entwicklern zu raten,
neskanäle unter optimalen Bedingungen. bestehende Richtlinien zu berücksichtigen. Eine
15 Neben den in der Tabelle beschriebenen Eigen- derartige Richtlinie ist beispielsweise die im Rah-
schaften weist jeder Sinneskanal weitere spezifische men von PReVENT erstellte RESPONSE-Checkliste
Besonderheiten auf, die in [3, 9] weiterführend er- [8], in der unter anderem Hinweise zur Gestaltung
16 läutert werden. von Mensch-Maschine-Schnittstellen für FAS ge-
geben werden. Die Checkliste berücksichtigt im
37 Wesentlichen auditive, visuelle und haptische
37.4 Anforderungen Mensch-Maschine-Schnittstellen.
an Warnelemente Zu  3.: Nach [13] werden Anforderungen im
18 Produktentwicklungsprozess mit verschiedenen
Es existieren zahlreiche Quellen, um Anforderun- Methoden generiert. Im Gegensatz zu Normen,
19 gen an Warnelemente zu definieren, die zumeist Standards und Richtlinien kann der PE-Prozess ge-
aus dem Bereich der Arbeitswissenschaften bekannt zielt auf die Anwendung des warnenden FAS ausge-
20 sind. Im Folgenden werden einige der bekanntesten richtet werden. Exemplarisch werden in . Tab. 37.2
Standardisierungen zur Gestaltung von Fahrerassis- einige wichtige generelle Anforderungen an War-
37.5 • Beispiele für Warnelemente
679 37

.. Tab. 37.2  Ausgewählte Anforderungen

Anforderung Beschreibung

Beeinträchtigungen, Für jedes Warnelement gilt die Forderung, gesundheitliche Beeinträchtigungen des
Betriebsbereiche Menschen durch die Einwirkung auszuschließen. Vielmehr sind spezifische Betriebs-
bereiche (Informationsraten, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Intensitäten etc.) zu
berücksichtigen.

Art und Anpassung der Um vielfältige Warnungen bezüglich ihrer Art und Dringlichkeit zu unterscheiden,
Warnung ist es erforderlich, die Art der Warnung an die bestehende Gefahr anzupassen. Eine
Kollisionswarnung erfolgt anders als eine Fahrstreifenverlassenswarnung. Bezüglich
der Dringlichkeit einer Warnung wird eine Adaptivität gefordert, so dass bei größerer
Gefahr eine höhere Dringlichkeit erreicht wird.

Bloßstellung Ein Wunsch im Entwicklungsprozess kann sein, eine Einwirkung der Warnung auf
andere Insassen auszuschließen, so dass „Bloßstellungseffekte“ des Fahrers gegen-
über Mitinsassen durch das Warnsystem ausbleiben. Der Effekt der Bloßstellung kann
sowohl bei berechtigten als auch bei nicht-berechtigten Warnungen auftreten. Aus
diesem Grund wird eine Fahrstreifenverlassenswarnung bei Lkws mit einer akustischen
Warnung ausgeführt, beim Bus hingegen als Sitzvibration [14, 15].

nelemente aufgeführt. Diese Anforderungen sind leitet das System automatisch eine Teilbremsung
unabhängig von der Realisierung des Warnelements auf etwa 1/3 des jeweiligen Maximalniveaus ein. Es
und des verwendeten Sinneskanals, sie werden da- erfolgt eine Gurtstraffung. Bleibt selbst dann eine
her nichtfunktionale Anforderungen genannt. Reaktion aus, so wird in der vierten Stufe die Brems-
kraft weiter erhöht und mündet in eine Vollverzöge-
rung, wenn die Kollision nicht mehr zu vermeiden
37.5 Beispiele für Warnelemente ist [16].
Honda setzt seit 2006 für den europäischen Le-
In ▶ Abschn. 37.2 wurde ein Modell für den mensch- gend das Collision Mitigation Brake System (CMBS)
lichen Informationsprozess vorgestellt, Schnittstel- ein, das 2014 in zahlreichen weiteren Fahrzeugmo-
len zwischen Mensch und Maschine wurden erklärt dellen erhältlich ist und mit einer dreistufigen Stra-
und generelle Anforderungen definiert. Es folgen tegie arbeitet. Es warnt den Fahrer in einer frühen
einige Beispiele für Warnelemente, unterteilt in Phase akustisch und optisch. Bremst der Fahrer, so
Warnelemente für die Längsführung und solche für unterstützt sofort der Bremsassistent bei der An-
die Querführung. passung des erforderlichen Bremsdruckes. Bleibt
die Reaktion aus, so wird durch eine Gurtstraffung
eine weitere Warnung ausgegeben; in einer letzten
37.5.1 Warnelemente Stufe erfolgt eine etwa 60 %-Verzögerung [17].
für die Längsführung Beim Lexus A-PCS (Advanced Pre Crash Safety)
wird der Fahrer bei einer drohenden Gefahr zunächst
Die Beschreibung der Warnelemente für die Längs- über akustische und optische Signale gewarnt. Be-
führung erfolgt beispielhaft für einige zurzeit auf steht die Gefahr weiterhin, werden die Gurtstraffer
dem europäischen Markt verfügbare Systeme zur aktiviert, die Auslöseschwelle für den Bremsassis-
Warnung vor einer Frontalkollision. tenten angepasst, die Dämpferregelung des Fahr-
Audi bietet derzeit (2014) unter dem Namen werks auf hart geschaltet und eine Teilverzögerung
„Audi pre sense plus“ ein vierstufiges System an, das des Fahrzeugs durchgeführt. Außerdem wird die
in der ersten Phase zugleich akustisch und optisch Regelung der Überlagerungslenkung der Situation
warnt. Bleibt die Fahrerreaktion aus, folgt in der angepasst. Mit einer auf der Lenksäule angebrach-
zweiten Stufe ein Bremsruck. In der dritten Phase ten Kamera wird der Fahrer beobachtet. Erkennt die
680 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente

1 .. Tab. 37.3  Übersicht der verwendeten Sinneskanäle für Warnungen einiger beispielhaft ausgewählten FAS zur Längs-
führung in Europa (Ja: als Warnung vorhanden, –: nicht als Warnung vorhanden)

2 System

Hersteller Audi Honda Lexus Mercedes Volvo Mobileye Continental-Te-


3 ves

Systembezeich- Pre Sense CMBS A-PCS Collision Pre- Collision 560 Aktives Gaspedal

4
nung vention Assist Warning

Sinneskanal

5 visuell ja ja ja ja ja ja –

auditiv ja ja ja ja ja ja –
6 haptisch taktil ja ja ja – – – ja

kinästhetisch ja ja ja ja – – –
7
Verarbeitungseinheit in kritischen Situationen einen zeugt. Betätigt der Fahrer das Gaspedal, erfolgt
8 unaufmerksamen Fahrer, werden die Warnstufen zu eine Information eines zu geringen Abstands zum
einem früheren Zeitpunkt aktiviert [18]. Vorausfahrenden über eine erhöhte Gegenkraft und
9 Mercedes stellte 2013 eine Weiterentwicklung eine Kollisionswarnung durch Vibration [24]. Prin-
der bekannten Pre-Safe-Bremse um die Optionen zipbedingt verspürt der Fahrer die Warnung aller-
10 „Plus“ (Heckaufprallschutz) und „Impuls“ (Vor- dings nur, wenn er das Pedal betätigt.
konditionierung des Insassenschutzes) vor [19]. Mit . Tab. 37.3 zeigt eine Übersicht der verwende-
dem Assistenzpaket „Collision Prevention Assist ten Sinneskanäle für Warnungen von ausgewählten
11 Plus“ wird der Fahrer im Geschwindigkeitsbereich verfügbaren FAS zur Längsführung.
von 7 bis 250 km/h in mehreren Stufen zunächst op-
12 tisch und akustisch gewarnt. Bei höherer Gefahren-
stufe wird eine Teilverzögerung – unterhalb einer 37.5.2 Warnelemente
Geschwindigkeit von 105 km/h – eingeleitet [20]. der Querführung
13 In Fahrzeugen der Marke Volvo wird der Fahrer
vor einer drohenden Kollision mit einem rot blin- Die Beschreibung von Warnelementen der Quer-
14 kenden, von der Armaturentafel an die Windschutz- führung orientiert sich an den heute verfügbaren
scheibe projizierten Licht und einem akustischen FAS zur Warnung vor unbeabsichtigtem Verlassen
15 Signal gewarnt [21]. des Fahrstreifens (als Lane Departure Warning be-
Für den Kraftfahrzeugzubehörmarkt wird von zeichnet) und zur Fahrstreifenwechselassistenz (als
der Firma Mobileye ein Kollisionswarnsystem Lane Changing Decision Aid System bezeichnet),
16 (2014, Modell Mobileye-560) zum Nachrüsten an- siehe ▶ Kap. 49. Es werden nur solche Systeme nä-
geboten. Dieses detektiert Objekte, wie z. B. Fahr- her beschrieben, die durch die Art der Warnung
37 zeuge, Fußgänger, Radfahrer sowie die Fahrstreifen- dem Fahrer einen Hinweis auf die Querführung
markierung mittels einer monokularen Kamera und geben.
warnt den Fahrer optisch über ein separates Display Eine Variante der taktilen Warnung ist über das
18 und akustisch durch Zusatzlautsprecher [22, 23]. Lenkrad möglich. Vibrationen des Lenkrads wer-
Weitere Fahrerwarnelemente sind aus der For- den z. B. von BMW [25] und Mercedes verwendet,
19 schung bekannt. Dazu gehört das aktive Gaspe- um vor einem Überfahren der Fahrstreifenmar-
dal von Continental Teves: Dabei wird zusätzlich kierung zu warnen. Diese Art der Warnung weist
20 zur passiven Gaspedalfederkennlinie durch einen zwar eindeutig auf die Querführung hin, ist aber
E-Motor eine Gegenkraft oder eine Vibration er- unspezifisch bezüglich der Richtung eines drohen-
37.6  •  Voreinteilung von Warnelementen
681 37

liches Geräusch“ oder „Auditory Icon“ bezeichnet


werden. Je nachdem, ob das Fahrzeug die linke oder
rechte Fahrstreifenmarkierung zu überfahren droht,
wird aus dem linken oder rechten Lautsprecher ein
Geräusch ausgegeben. Dies stellt eine richtungs-
spezifische Warnung dar, die durch die Gestaltung
des begrifflichen Geräusches einen Hinweis auf die
Querführung gibt [28].
Citroën und Peugeot (PSA) bieten in verschie-
denen Modellen das System „AFIL“ an, das durch
Vibrationen unter den Seitenpolstern der Sitzflä-
chen den Fahrer vor unbeabsichtigtem Verlassen des
.. Abb. 37.2  Realisierung der optischen Warnung des Audi Fahrstreifens warnt [29]. Dieses Warnelement bildet
Side Assist die taktile Wahrnehmung des Nagelbandratterns
nach, wodurch die Warnung von den Mitfahrern
den Verlassens des Fahrstreifens. Bei bleibender im Fahrzeug kaum wahrgenommen werden kann.
lateraler Abweichung bezogen auf die Fahrstrei- Das Mobileye System 560 unterstützt ebenfalls
fenmitte können bei Mercedes zusätzlich einzelne in der Querführung und gibt akustische und rich-
Räder gebremst werden, um das Fahrzeug in den tungsorientierte optische Warnungen aus [22, 23].
Fahrstreifen zurückzuführen. Dies stellt im weites- . Tabelle 37.4 zeigt die Arten der Warnung aus-
ten Sinne eine Warnung über den kinästhetischen gewählter Fahrerassistenzsysteme zur Querführung
Kanal dar [20]. im Überblick.
Audi bietet mit Einführung des aktuellen A6 im Untersuchungen zur Wirksamkeit bestimmter
Jahr 2011 das System „Audi Active Lane Assist“ an, Warnelemente bei LDW-Systemen beschränken
das den Fahrer vor dem Verlassen des Fahrstreifens sich zumeist auf akustische und taktile Warnungen
durch Lenkmomente warnt oder in der Spurhaltung [30]. Die optischen Anzeigen dieser Systeme ver-
durch Lenkmomente unterstützt [26]. Eine Beauf- deutlichen den Systemstatus. Während sich bei der
schlagung des Lenkrads mit einem Lenkmoment Fahrstreifenwechselassistenz offenbar ein einheitli-
ermöglicht eine Warnung mit einem Hinweis bezüg- ches Warnkonzept durchgesetzt hat, ist dies bei den
lich der Richtung, wie dies z. B. auch durch Lexus LDW-Systemen immer noch nicht erkennbar.
realisiert wurde [27]. Diese Form der Warnung stellt
jedoch einen Grenzfall zwischen einer Warnung und
einer Spurhalteassistenz dar (siehe ▶ Kap. 49). 37.6 Voreinteilung
Mit der Fahrstreifenwechselassistenz „Audi Side von Warnelementen
Assist“ wird der rückwärtige Verkehr mittels zweier
Radarsensoren überwacht und bei Geschwindigkei- Im Produktentwicklungsprozess (PE-Prozess) zur
ten über 30 km/h an den Innenseiten der Außen- Entwicklung von Warnelementen erfolgt im An-
spiegel eine optische Warnung ausgegeben, sofern schluss an die Definition von Anforderungen die
sich ein Fahrzeug im nicht einsehbaren Bereich be- Lösungssuche unter Anwendung unterschiedlicher
findet. Betätigt der Fahrer dann den Fahrtrichtungs- Methoden. Als Ergebnisse liegen typischerweise
anzeiger, so blinkt die optische Anzeige mehrfach mehrere Lösungsmöglichkeiten vor. Im weiteren
hell auf (siehe . Abb. 37.2). Ähnliche Warnelemente PE-Prozess gilt es, die Anzahl der Varianten zu re-
kommen auch bei BMW [25] und Mercedes [20] duzieren, wozu geeignete Kriterien zur Verfügung
zum Einsatz. stehen müssen. Zur Reduktion der Varianten von
Bei den Mercedes-Lkws der Actros-Reihe wird Fahrerwarnelementen für warnende FAS erschei-
der Fahrer durch ein akustisches Nagelbandrattern nen die Kriterien Informationsgehalt, Abdeckungs-
vor unbeabsichtigtem Verlassen des Fahrstreifens rate und Verzeihlichkeit als geeignet. Der Informati-
gewarnt: Diese Art der Warnung kann als „begriff- onsgehalt einer Nachricht ist eine Größe, die angibt,
682 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente

1 .. Tab. 37.4  Arten der Warnung beispielhaft ausgewählter FAS zur Querführung in Europa (R: Warnelement richtungs-
spezifisch, U: Warnelement unspezifisch bezüglich der Richtung, –: nicht verfügbar)

2 LDW Lane changing

Hersteller Audi BMW Mercedes Mercedes PSA Mobil-eye Audi Mercedes


3 Lkw

Systembe- Lane Driving Aktiver Telligent AFIL 560 Side Assist Totwinkel-­

4 zeichnung Assist Assistant Spurhalte-­


Assistent
Spuras-
sistent
Assistent

Sinneskanal
5
visuell – – – – – R R R

6 auditiv – – U R – U – –

haptisch taktil R U U – R – – –

7 kinästhetisch – – R – – – – R

werden kann. Hingegen wird die Akzeptanz eines


8 .. Tab. 37.5  Ordinale Kriterien für die Voreinteilung
von Warnelementen Warnsystems erwartungsgemäß umso höher ausfal-
len, je weniger Falschalarme das System produziert.
9 Informations­
gehalt
Verzeihlichkeit Abdeckungs-
rate
Die oft gegenläufige Forderung an warnende
FAS lautet: mit einer maximalen Abdeckungsrate
10 Aufmerksam-
keit erregend
sehr verzeihlich hoch möglichst spät und effektiv und mit einer hohen
Verzeihlichkeit zu warnen.
auf Situation verzeihlich mittel Um Warnelemente im Entwicklungsprozess
11 hinweisend gemäß ihrer Eignung einzuteilen, wird die Einord-
auf Aktion weniger verzeih- niedrig nung des Warnelements anhand der in . Tab. 37.5
12 hinweisend lich zusammengefassten Kriterien vorgenommen und
dem Einsatzzeitpunkt früh, mittel und spät vor einer
wie viel Information in dieser übertragen wurde. Kollision zugeordnet. Jede der Lösungsvarianten für
13 Das Kriterium Abdeckungsrate ist ein Maß für die ein Warnelement wird von den am PE-Prozess be-
Verfügbarkeit eines Sinneskanals vom Warnelement teiligten Entwicklern mit den erstellten Kriterien
14 zum Fahrer, wodurch ein Fahrer die Möglichkeit zur beurteilt. Zwischen den Kriterien werden Verknüp-

15
Reaktion auf die Warnung erhält. Die Verzeihlich-
keit beurteilt den Grad der Entschuldbarkeit einer
Fehlwarnung. . Tabelle 37.5 listet die erstellten or-
dinalen Kriterien auf.
-
fungen definiert:
Je geringer die Abdeckungsrate eines Warn­
elements ist, desto früher muss es eingesetzt
werden, um Zeit für weitere Warnungen o. Ä.

-
16 Eine Herausforderung bei der Entwicklung von zu schaffen.
Warnelementen ist die Festlegung des Einsatzzeit- Je besser ein Warnelement auf die Gefahr
37 punktes des Warnelements vor einer drohenden hinweist, desto später ist es einsetzbar, da die

18
Kollision unter Berücksichtigung des sogenann-
ten Warndilemmas. Dieses besagt, dass eine War-
nung des Fahrers umso wirksamer ist, je früher die
Warnung vor einer Kollision ausgegeben wird. Bei
- Reaktionszeit kürzer ist.
Je verzeihlicher ein Warnelement ist, desto
früher ist es einsetzbar, da eine Falschwarnung
weniger störend ist.
19 heutigen Systemen ist allerdings die Gefahr einer
Falschalarmierung umso größer, je früher die War- Diese Verknüpfungen werden in drei zweidimen-
20 nung ausgegeben wird, da die Situation von einem sionalen Matrizen (Portfolio-Diagramme) festge-
Umfelderfassungssystem weniger exakt interpretiert halten, siehe . Abb. 37.3; als Bewertung steht ein
37.6  •  Voreinteilung von Warnelementen
683 37
.. Abb. 37.3 Portfolio-Dia-
gramm (Haken: geeignet;
Kreuz: nicht geeignet)

.. Abb. 37.4  Verträglichkeitsmatrix zur Beurteilung des Einsatzzeitpunkts von Warnelementen

Schwarz-Weiß-Kriterium (Kreuz und Haken) zur Jedes Warnelement kann bezüglich der zuvor
Verfügung. Der Einsatzzeitpunkt früh, mittel oder stattgefundenen Bewertung in die Verträglichkeits-
spät wird zugeordnet. Ein Kreuz bedeutet, dass ein matrix eingeordnet werden: Aus der Einordnung
Fahrerwarnelement an dieser Stelle nicht geeignet wird ersichtlich, zu welchem Zeitpunkt einer Kol-
wäre; der Haken veranschaulicht einen belegbaren lisionswarnung das Warnelement eingesetzt wer-
Bereich. Aufgrund einer sehr geringen Verzeihlich- den kann. Außerdem wird eine Potenzialanalyse
keit können Warnelemente mit einem Hinweis auf durchgeführt, damit die Schwachpunkte des Warn­
die Aktion nicht zu einem frühen Zeitpunkt einge- elements deutlich werden und eine Optimierung in
setzt werden. Die drei zweidimensionalen Matrizen die gewünschte Richtung erfolgen kann.
werden mit einer Schnittmengenbildung ihrer Zu- Beispiel: Ein Auditory Icon ist ein begriffliches
ordnung zum Einsatzzeitpunkt in eine dreidimen- Geräusch, wie etwa das „Reifenquietschen“ bei ei-
sionale Matrix überführt, die die Grundform der ner Vollbremsung. Der Informationsinhalt ist hin-
Verträglichkeitsmatrix in . Abb. 37.4 bildet. weisend auf eine Situation, da der Fahrer ein mit
684 Kapitel 37 • Fahrerwarnelemente

stehenden Reifen voll verzögerndes Fahrzeug in 8 Response‐Checkliste, 2006, Code of Pratice for the Design
1 seiner Umgebung erwartet. Die Abdeckungsrate ist
and Evaluation of ADAS, PReVENT 2006
9 Schmidt, R.F., Thews, G., Lang, F.: Physiologie des Men-
bei entsprechender Lautstärke des Geräusches und schen. Springer, Berlin (2000)
2 einer Platzierung der Lautsprecher im Bereich des 10 FVWS ISO Norm 15623.144.19 Road vehicles – Forward
Cockpits hoch. Die Verzeihlichkeit ist als „mittel“ Vehicle Collision Warning System – Performance require-
zu bewerten, da der Fahrer bei einer Fehlwarnung ments and tests procedures
3 zunächst irritiert sein kann; aber nach [31] wird er
11 ISO/CD15006‐1: Auditory information presentation
12 ISO/DIS15008‐1: Visual presentation of information
in über 70 % der Fälle keine übermäßige Reaktion 13 VDI 2222, 1996 und VDI 2225, 1977, www.vdi.de
4 wie beispielsweise eine Vollbremsung durchführen. 14 Dörner, K.: Assistenzsysteme für Nutzfahrzeuge und deren
Gemäß der Verträglichkeitsmatrix eignet sich das Unfallvermeidungspotential IAA‐Symposium Entwicklun-

5 Warnelement zu einem frühen bis mittleren Ein- gen im Gefahrgutrecht und Sicherheit von Gefahrgutfahr-
zeugen, Hannover, 26.09.2006. (2006)
satzzeitpunkt; nähere Beschreibungen zu Auditory
15 DaimlerChrysler AG, Hightechreport 2000: Rettendes Rat-
Icons finden sich bei [32, 33].
6 Zusammenfassend stellt die Verträglichkeitsma- 16
tern, 2000
Audi Pressemeldung vom 08.03.2012, www.audi-media-
trix ein Handwerkszeug zur Filterung der Varian- services.com
7 tenflut von Fahrerwarnelementen, zur Festlegung 17 Technikbeschreibung Honda, http://www.honda.de/in-
novation/sicherheit_technik/sicherheit_kollisionswarn-
eines Einsatzzeitpunktes und zum Bestimmen der
system.php, April 2014
Optimierungsrichtung dar.
8 18 Toyota Deutschland GmbH, Pressemitteilung Lexus: Lexus
Pre‐Crash‐Safety (PCS) im LS 460, November 2006
19 Schopper, M., Henle, L., Wohland, T.: Intelligent Drive, Ver-
9 Danksagung netzte Intelligenz für mehr Sicherheit. ATZ Extra 2013, 107
(2013). Extra: Die neue S‐Klasse von Mercedes‐Benz
20 Mercedes‐Benz Homepage, Sicherheit – Collision Preven-
10 Die Autoren bedanken sich bei Herrn Dr.-Ing. Jens tion Assist Plus, http://www.mercedes-benz.de, April 2014
Gayko für die geleistete Arbeit am Kapitel „Fahrer- 21 Volvo mit aktivem Geschwindigkeits‐ und Abstandre-
warnelemente“. Er hat wesentliche Anteile an der gelsystem inklusive Bremsassistent Pro, Volvo‐Presse,
11 Erstellung und Pflege des Kapitels für die ersten bei- 22.02.2007
22 Gat, I.; Benady, M.; Shashua, A.: A Monocular Vision Ad-
den Auflagen und scheidet mit Überarbeitung zur
vance Warning System for the Automotive Aftermarket;
12 dritten Auflage aus. Herzlichen Dank. SAE‐2005‐01‐1470
23 Technikbeschreibung Mobileye, http://de.mobileye.com,

13 Literatur 24
April 2014
Mit ContiGuard zum unfall‐ und verletzungsvermeiden-
dem Auto, Pressemitteilung, Januar 2008

14 1 Jürgensohn, T., Timpe, K.-P.: Kraftfahrzeugführung. Sprin-


25 BMW AG, Medieninformation: Der neue BMW 5er, Ja-
nuar 2007
ger, Berlin (2001)
26 Freyer, J., Winkler, L., Held, R., Schuberth, S., Khlifi, R., Pop-
2 Wickens, C.D.: Engineering Psychology and Human Perfor-
15 mance. Columbus, Merrill (1984)
ken, M.: Assistenzsysteme für die Längs‐ und Querführung.
ATZ Extra April 2011 (2011). Extra: Der neue Audi A6
3 Johanssen, G.: Mensch‐Maschine‐Systeme. Springer, Berlin
27 Toyota Deutschland GmbH, Pressemitteilung Lexus: Der
(1993)
16 4 Sheridan, T.B.: Toward a general model of supervisory con-
28
neue Lexus LS 460, Januar 2006
DaimlerChrysler AG, Hightech Report 2000: Rettendes Rat-
trol, Monitoring Behavior and Supervisory Control. Sprin-
tern, 2000
ger-Verlag, New York, S. 271–281 (1976)
37 5 Zomotor, A.: Fahrwerktechnik – Fahrverhalten. Vogel, Würz-
29 Jungmann, T.: Citroën C4, all4engineers Nachrichten,
22.11.2004
burg (1987)
30 Buld, S., Tietze, H., Krüger, H.-P.: Auswirkungen von Teilau-
18 6 Kiesewetter, W., Klinker, W., Reichelt W., Steiner, M.: Der
neue Brake Assist von Mercedes‐Benz: aktive Fahrerunter-
tomation auf das Fahren. In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.)
Fahrerassistenzsysteme mit maschineller Wahrnehmung.
stützung in Notsituationen. ATZ – Automobiltechnische
Springer, Berlin (2005)
19 7
Zeitschrift, 99(6), 330-339 (1997)
Rath, H., Knechtges, J.: Effective Active Safety to Reduce
31 Hoffmann, J.: Das Darmstädter Verfahren (EVITA) zum Tes-
ten und Bewerten von Frontalkollisionsgegenmaßnahmen
Road Accidents. SAE Technical Paper 950761, 35–42 (1995),
Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12, Bd. 693. VDI Verlag, Düs-
20 doi:10.4271/950761
seldorf (2008)
Literatur
685 37
32 Fricke, N.: Zur Gestaltung der Semantik von Warnmeldun-
gen VDI‐Berichte, Bd. 1960., S. 133 (2006)
33 Graham, R.: Use of Auditory Icons as emergency warnings.
Ergonomics 42(9), 1233 (1999)
687 38

Fahrerzustandserkennung
Ingmar Langer, Bettina Abendroth, Ralph Bruder

38.1 Einleitung und Motivation  –  688


38.2 Unaufmerksamkeitserkennung – 689
38.3 Müdigkeitserkennung – 691
38.4 Erkennung medizinischer Notfälle  –  694
38.5 Marktverfügbare Systeme zur
Fahrerzustandsüberwachung – 696
38.6 Falsch- und Fehlalarmierung bei der
Zustandserkennung – 698
Literatur – 698

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_38, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
688 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

38.1 Einleitung und Motivation 38.1.2 Einfluss eines kritischen


1 Fahrerzustands
38.1.1 Definition des Begriffs auf das Unfallrisiko
2 „Fahrerzustand“
Der Zustand des Fahrers hat einen großen Einfluss
Der Fahrerzustand umfasst die zeitveränderlichen auf das Unfallrisiko. So belegen Analysen von Un-
3 Eigenschaften des Fahrers, die für die Fahraufgabe fallursachen, dass Unaufmerksamkeit – also die Ver-
relevant sein können. Da der Zustand des Fahrers nachlässigung der Informationsaufnahme – häufig
4 intraindividuellen Schwankungen unterliegt, kann die Hauptursache von Unfällen ist. So konnten in
in Abhängigkeit des Veränderungszeitraums zwi- einer Datenanalyse [2] 455 von 695 Unfällen (dies
5 schen kurzfristig – innerhalb von Minuten oder entspricht etwa 65 %) beim Einbiegen/Kreuzen der
Sekunden – und mittelfristig – innerhalb von Stun- Vernachlässigung anderer Verkehrsteilnehmer auf-
den bzw. Tagen – veränderlichen Faktoren, die den grund von Unaufmerksamkeit zugeordnet werden.
6 Fahrerzustand beeinflussen, unterschieden werden In der 100-Car-Study [3] konnte ein klarer Zusam-

7 --
(in Anlehnung an [1]), z. B.:
mittelfristig (Tage, Stunden) veränderliche
Faktoren:
menhang zwischen Unfällen bzw. Beinahe-Unfäl-
len durch Unaufmerksamkeit und der Bearbeitung
von Nebenaufgaben nachgewiesen werden. Es zeigte

-
Ermüdung, sich, dass der Umgang mit mobilen Endgeräten
8 momentaner Gesundheits- bzw. Krank- (z. B. Handys) die häufigste Form der Nebenaufgabe

--
heitszustand, war und dass Blickabwendungen über zwei Sekun-
9 Tagesrhythmus, den das Unfallrisiko signifikant erhöhen.

10 -- Alkohol-/Drogeneinfluss.
kurzfristig (Minuten, Sekunden) veränderliche
Faktoren:
Aufmerksamkeit (z. B. selektiv, geteilt; visu-
Auch Müdigkeit (gemäß [4] können 10 bis 20 %
der Unfälle im Straßenverkehr auf Müdigkeit am
Steuer zurückgeführt werden), Alkoholisierung
oder das Fahren unter Drogeneinfluss resultieren in
11
-
ell, auditiv), einem erhöhten Unfallrisiko. [3] fanden heraus, dass
Daueraufmerksamkeit (Vigilanz, Wachsam- eine vorhandene Müdigkeit die Gefahr eines Unfalls
12
--
keit), bzw. Beinahe-Unfalls um den Faktor vier bis sechs
Beanspruchung, erhöht und zu Unfällen mit den schwersten Unfall-
akute Gesundheitsprobleme bzw. medizini- folgen (vgl. [5]) führt, da müde Fahrer es schlechthin
13
--
sche Notfälle (z. B. Herzinfarkt), verpassen, eine Handlung zur Kollisionsvermeidung
Situationsbewusstsein, (Bremsen oder Lenken) zu tätigen [6]. Ca. 3 % aller
14 Emotionen. Verkehrstoten sind auf eine medizinisch bedingte
Fahrunfähigkeit des Fahrers zurückzuführen [7].
15 Darüber hinaus haben auch die nicht oder nur
langfristig veränderbaren Faktoren Auswirkungen
auf den Fahrerzustand (beispielsweise die Konsti- 38.1.3 Potenziale und
16 tution oder die Persönlichkeit). Diese werden im Herausforderungen einer
Folgenden jedoch nicht weiter betrachtet (s. dazu Fahrerzustandserkennung
17 ▶ Kap. 1). In den nachstehenden Kapiteln werden
die Themen Müdigkeit, Aufmerksamkeit und me- Die Berücksichtigung von Merkmalen, die den
dizinische Notfälle näher beschrieben. Fahrerzustand beschreiben, kann es ermöglichen,
38 dass (neuartige) Fahrerassistenzsysteme (FAS) das
bereits sehr hohe Unfallvermeidungspotenzial noch
19 weiter ausbauen. So ist z. B. eine Übertragung rele-
vanter Systeminformationen derart denkbar, dass
20 der Fahrer sie in Abhängigkeit seines Zustands, z. B.
bei Unaufmerksamkeit, auch tatsächlich wahrneh-
38.2 • Unaufmerksamkeitserkennung
689 38

men kann. Ebenso können Warn- und Systemein- wegungen die Blickrichtung des Fahrers ermittelt und
griffsstrategien an den Fahrerzustand angepasst so eine mögliche visuelle Unaufmerksamkeit identi-
werden und somit sowohl die Wirksamkeit als auch fiziert werden. Um die sich aus der aktuellen Fahrsi-
die Akzeptanz von Fahrerassistenzsystemen erhö- tuation ergebenden Anforderungen an die Aufmerk-
hen. Es erscheint beispielsweise unmittelbar sinn- samkeit zu ermitteln, ist eine sichere Erkennung und
voll, dass ein unaufmerksamer Fahrer früher bzw. Klassifikation der Umgebung erforderlich sowie Er-
deutlicher gewarnt wird – eine generelle frühe oder kenntnisse darüber, welches Aufmerksamkeitsniveau
sehr auffällige Warnung birgt jedoch die Gefahr des in welcher Situation noch hinreichend ist. Eine Stu-
„Warndilemmas“ (s. dazu ▶ Kap. 37 und 47). die von [11] zeigt zudem, dass die Auswirkungen von
Um die genannten Potenziale umsetzen zu kön- aufmerksamkeitsrelevanten Störfaktoren stark situa-
nen, muss es jedoch möglich sein, den Fahrerzu- tionsabhängig sind und dass in Abhängigkeit der Art
stand zu ermitteln. Aktuell beschäftigen sich viele der auftretenden Unaufmerksamkeit unterschiedli-
Forschungsarbeiten mit der Frage, wie der Fahrer- che Indikatoren zur Erkennung des Aufmerksam-
zustand zuverlässig erhoben werden kann und wie keitszustands geeignet sind. Langfristige Vigilanz-
die ermittelten Werte zu interpretieren sind. minderungen (s. dazu ▶ Abschn. 38.2.1) können
Folgende unterschiedliche Anforderungen an beispielsweise über kontinuierliche Indikatoren, die
Systeme, die den Fahrerzustand erkennen, werden die Quer- oder Längsregelung beschreiben, erkannt

-
in der Literatur genannt (u. a. [8, 9, 10]):
Unaufdringlichkeit der Sensorik durch kon-
werden. Kurzfristige Ablenkung kann hingegen bes-
ser über die Reaktionsbereitschaft auf spezifische Er-

- taktlose Messung,
geringe Rate von Falsch-Alarmen (s. ▶ Ab-
eignisse – z. B. Bremsreaktionszeit auf ein plötzlich
abbremsendes Vorderfahrzeug – erkannt werden.

- schn. 38.6),
adäquate Warn- bzw. Eingriffsstrategie, die
den Fahrer zum Beispiel bei Müdigkeit zum
Pausieren bewegt oder das Fahrzeug bei einem
Auch Müdigkeit ist nicht direkt messbar, son-
dern kann nur anhand der Messung von Folgeer-
scheinungen quantifiziert werden. Die Folgeer-
scheinungen können jedoch ebenfalls von Person
medizinischen Notfall in einen risikominima- zu Person schwanken. Für die Beurteilung ist zudem
len Zustand (zumeist ist dies der Stillstand am die Kenntnis von Werten notwendig, ab denen die

- Fahrbahnrand) bringt,
Beachtung unerwünschter Verhaltensanpas-
sungen (vgl. Risikohomöostase).
Reduktion der Leistungsfähigkeit des Fahrers Aus-
wirkungen auf die Fahrsicherheit hat.
Es muss festgehalten werden, dass nicht alle
Messgrößen, die im Folgenden zur Beurteilung des
Erschwerend kommt hinzu, dass die Grenzen ver- Fahrerzustands aufgeführt werden, die genannten
schiedener Zustände durch starke interindividuelle Anforderungen erfüllen. Auch wenn die folgenden
Schwankungen schwer zu definieren sind (vgl. [11]). Kapitel primär auf die Methoden eingehen, die mit
Außerdem bedarf es bei den meisten Sensoren zur momentan verfügbaren Sensoren umsetzbar sind,
Überwachung des Fahrerzustands einer hohen Ro- werden weitere Forschungsansätze aufgrund ihres
bustheit gegen Artefakte (u. a. Bewegungen, Kräfte Weiterentwicklungspotenzials dargestellt.
und Umgebungslicht).
Hinsichtlich der Unaufmerksamkeitserkennung
ist eine weitere Herausforderung darin zu sehen, dass 38.2 Unaufmerksamkeitserkennung
der Zustand nur sicher erkannt werden kann, wenn
die Aufmerksamkeitsressourcen, die in der jeweiligen 38.2.1 Definition von Aufmerksamkeit
Fahrsituation nötig sind, und die vom Fahrer dafür
bereitgestellten Ressourcen (oder die dahinterliegen- Häufig wird Aufmerksamkeit in folgende drei Kom-
den Kontrollprozesse) bekannt sind. Da dies mess­ ponenten unterteilt [13]: selektive Aufmerksamkeit,
technisch nicht möglich ist, kann die Aufmerksam- geteilte Aufmerksamkeit und Daueraufmerksamkeit.
keit nur mithilfe anderer Kriterien beurteilt werden Bei der selektiven Aufmerksamkeit werden re-
[12]: So kann zum Beispiel über Blick- bzw. Kopfbe- levante Informationen aus der Umwelt ausgewählt
690 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

und nicht relevante herausgefiltert. Die Betrachtung merksamkeit des Fahrers auf ein Objekt, eine Auf-
1 der selektiven Aufmerksamkeit ist für den Fahrkon- gabe oder in eine Richtung gelenkt wird, die nicht
text naheliegend, da der Fahrer allen potenziell re- zur primären Fahraufgabe gehören. Wenn die Wahr-
2 levanten Quellen Aufmerksamkeit zuweisen muss, nehmung von Informationen nicht durch Ablenkung
um die in der Fahrsituation notwendigen Informa- von anderen Informationen gestört wird, spricht man
tionen verarbeiten zu können [12]. Strömen zu viele auch von fokussierter Aufmerksamkeit [15].
3 Informationen gleichzeitig auf den Fahrer ein (Er- Unaufmerksamkeit ist die unzureichende oder
reichen der Kapazitätsgrenze), besteht die Gefahr, nicht vorhandene Aufmerksamkeit auf Aktivitäten,
4 dass relevante Informationen zeitverzögert oder die für ein sicheres Fahren entscheidend sind ([16];
nicht wahrgenommen werden. vgl. auch [17]).
5 Bei der geteilten Aufmerksamkeit werden Infor-
mationen simultan aufgenommen bzw. verarbeitet,
damit verschiedene Aufgaben gleichzeitig (mit aus- 38.2.2 Messgrößen
6 reichender Leistung in den unterschiedlichen Auf- und Messverfahren zur
gaben) ausgeführt werden können. Dazu bedarf es Unaufmerksamkeitserkennung
7 einer Koordination der Aufmerksamkeitsverteilung:
Geteilte Aufmerksamkeit ist vom Fahrer beispiels- Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um auf den
weise dann gefordert, wenn er gleichzeitig den Ab- Aufmerksamkeitszustand des Fahrers zu schließen

-
8 stand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug visuell [12]:
kontrollieren und den akustischen Anweisungen Erfassung von Augenbewegung bzw. Kopfori-
9
10
des Navigationsgeräts folgen muss. Je nachdem, wel-
che Sinneskanäle gleichzeitig angesprochen werden,
gelingt die Aufmerksamkeitsverteilung mehr oder - entierung per Kamera,
Erfassung von Nebentätigkeiten/Bedien-
handlungen über die Fahrzeugsensorik oder

11
weniger gut (vgl. [14]).
Daueraufmerksamkeit – auch Vigilanz genannt
– beschreibt die Fähigkeit, über einen längeren Zeit-
raum relevante Informationen aus der Umwelt zu
- kamerabasiert,
Erfassung des Fahrzeugführungsverhaltens
(z. B. Lenk- und Bremsverhalten) über die
Fahrzeugsensorik.
12 extrahieren und auf diese reagieren zu können (vgl.
[13]). Während die Kopforientierung eine begrenzte Aus-
Diese Aufmerksamkeitskomponenten zeigen, sagekraft besitzt, da beispielsweise Blicke in ein In-
13 dass Verarbeitungsressourcen nicht nur hinsicht- fotainmentdisplay auch ohne große Kopfbewegung
lich des Umfangs (Selektion und Teilung), sondern möglich sind, hat die Erfassung der Blickbewegung
14 auch bezüglich der Aufrechterhaltung über einen ein großes Potenzial, die Ablenkung des Fahrers zu
längeren Zeitraum (Daueraufmerksamkeit) limitiert erfassen.
15 sind. Bei der Fahrzeugführung werden die meisten Gemäß [11] erscheint es sinnvoll, langfristige
Informationen über den visuellen Sinneskanal auf- (kontinuierliche) und kurzfristige Fahrindikatoren
genommen. Dabei spielen alle zuvor genannten As- zu unterscheiden. Mit langfristigen Indikatoren kön-
16 pekte eine wichtige Rolle, denn der Fahrer muss die nen Vigilanzminderungen erkannt werden, während
wichtigen Informationen selektieren, relevante Än- der aktuelle Aufmerksamkeitszustand durch die
17 derungen in der Fahrumgebung oder im Fahrzeug kurzfristigen Indikatoren beschrieben werden kann.
(Systeminformationen) entdecken, während er die Zu den geeigneten langfristigen Indikatoren, bei
primäre Fahraufgabe bewältigt (Aufmerksamkeits- denen jedoch immer eine Situationsabhängigkeit

-
38 teilung), und möglichst ständig aufmerksam sein, beachtet werden muss, gehören nach [11]:
damit er auf die Änderungen – auch in zeitkriti- Spurhaltung, v. a. die Standardabweichung der

-
19 schen Situationen – reagieren kann. lateralen Position (SDLP) im Fahrstreifen,
Häufig wird die Aufmerksamkeit auch mit Ab- Variationen im Lenkverhalten (Zunahme
20 lenkung in Verbindung gebracht: Von Ablenkung schneller, großer Lenkbewegungen; Abnahme
beim Autofahren wird gesprochen, wenn die Auf- kleiner Korrekturbewegungen),
38.3 • Müdigkeitserkennung
691 38

-- Variation von Abstand und Geschwindigkeit,


Zeitdauer bis zur Anpassung der Geschwindig-
keit an externe Vorgaben.

Zur Detektion des aktuellen Aufmerksamkeitszu-


stands bzw. von kurzfristigen Aufmerksamkeits-
verringerungen können gemäß [11] Indikatoren
verwendet werden, die typischerweise als Kriterien
in Warnsystemen eingesetzt werden. Dazu zählen
beispielsweise die TTC (Time-To-Collision), die
Bremsstärke oder die Bremsreaktionszeit. Proble-
matisch ist hierbei, dass diese Indikatoren erst dann
reagieren, wenn die Situation bereits kritisch ist. .. Abb. 38.1  LED-Lichtband zur Leitung der Aufmerksamkeit
Über Änderungen in Lenkbewegungen kann des Fahrers [20]
u. U. auf die Ausführung einer Nebentätigkeit und
einer damit verbundenen Unaufmerksamkeit des Zur Lenkung der Aufmerksamkeit des Fahrers auf
Fahrers geschlossen werden und es ist möglich, eine Gefahrensituation wird in [19] ein Ansatz über
Nebentätigkeiten – wie die Bedienung des Infotain- ein LED-Lichtband (. Abb. 38.1) beschrieben. Die
ment-Systems – direkt zu erfassen [12]. Aufmerksamkeitslenkung ist besonders relevant,
Nach [11] ist das wiederholte Auftreten längerer wenn zuvor festgestellt werden konnte, dass die
Phasen ohne Lenkeingriffe, das von großen, schnel- Aufmerksamkeit des Fahrers aktuell nicht auf dem
len Lenkbewegungen gefolgt ist, ein sicherer Hin- entscheidenden Bereich liegt.
weis auf einen unaufmerksamen Fahrer (vgl. auch
▶ Abschn. 38.3.2).
Nach [18] machen Alpha-Spindelraten aus 38.3 Müdigkeitserkennung
einem Elektroenzephalogramm (EEG, s. auch
▶ Abschn. 38.3.2) eine Einschätzung der Fahrerab- 38.3.1 Definition von Müdigkeit
lenkung und die Unterscheidung zwischen einem bzw. Ermüdung
Fahren mit bzw. ohne Nebenaufgabe im Realver-
kehr möglich. Unter Ermüdung wird im Allgemeinen eine als
Folge von Tätigkeit auftretende reversible Herabset-
zung der Funktionsfähigkeit eines Organs oder ei-
38.2.3 Anwendungsfälle einer nes Organismus verstanden. Durch Erholung kann
Unaufmerksamkeitserkennung Ermüdung vollständig rückgängig gemacht werden.
Gemäß dem erweiterten Belastungs-Beanspru-
Eine Unaufmerksamkeitserkennung kann beispiels- chungs-Konzept [21] kann Ermüdung als Folge von
weise in adaptive Warnstrategien – in der abhängig Beanspruchungen auftreten und zu einer Anpas-
vom Aufmerksamkeitszustand gewarnt wird oder sung der menschlichen Leistungsvoraussetzungen
eine Warnung unterdrückt wird – und die Anpas- führen.
sung der Warnzeitpunkte – je nachdem, ob der Fah- [22] definiert Ermüdung als „einen Zustand vo-
rer unaufmerksam ist oder nicht – einfließen. rübergehender Beeinträchtigung von Leistungsvo-
Zur Überwachung der Aufmerksamkeitsaus- raussetzungen durch andauernde Tätigkeitsanfor-
richtung wird in einem Forschungsfahrzeug der derungen, welche die Möglichkeiten der laufenden
Continental AG („Driver Focus Vehicle“) eine Wiederherstellung von Leistungsvoraussetzungen
Kamera auf der Lenksäule verwendet. Durch die überschreiten“.
Verwendung einer Infrarotkamera kann die Blick- Der Begriff Ermüdung kann nach unterschiedli-
richtung des Fahrers weitestgehend unabhängig chen Merkmalen in systematisch zu unterscheidende
von der Umgebungshelligkeit ermittelt werden. Beanspruchungsfolgen zerlegt werden (s. . Abb. 38.2):
692 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

1
2
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 38.2  Abgrenzungen zum Ermüdungsbegriff nach [23]

10
Die Begriffe Ermüdung, Müdigkeit und Schläfrigkeit des Fahrers) bereits in Ermüdungsphasen zu ergrei-
werden in der Literatur meist nicht eindeutig vonei- fen, in der es noch nicht zu kritischen Leistungsre-
11 nander unterschieden. In diesem Kapitel werden die duktionen kommt.
Begriffe synonym verwendet, da im Fahrzeugkontext Eine Studie zeigt bei Lkw-Fahrern als Folge von
12 oftmals von Müdigkeitserkennung gesprochen wird. Müdigkeit u. a. die Abschwächung der Aufmerk-
[23] definiert in der sukzessiven Destabili- samkeit und die Erhöhung von Reaktionszeiten auf
sierungstheorie vier Ermüdungsgrade, die eine kritische Ereignisse [24].
13 Beschreibung des Ermüdungsverlaufs ermög-
lichen. Während in der ersten Stufe erste kaum
14 zu bemerkende Störungen in den psychophysio- 38.3.2 Messgrößen
logischen Funktionsbereichen auftreten, werden und Messverfahren
zur Müdigkeitserkennung
15 die Störungen im zweiten Ermüdungsgrad auch
für die Person selbst beobachtbar. Der Mittelwert
der Leistungskurve bleibt gleich, auch wenn eine Die Fahrperformanz (u.  a. Lenkverhalten und
16 erhöhte Leistungsstreuung auftritt und auch die Spurhaltung), das Lidschlussverhalten (z. B. mittels
Häufigkeit von Fehlleistungen (z. B. Fahrfehlern) spezieller Eyetracking-Systeme), das EEG und der
17 zunimmt. Im „Ermüdungsgrad 3“ fällt die Leis- pupillografische Schläfrigkeitstest werden zu den
tung hingegen ab. Eine weitere Verschärfung zum validesten Möglichkeiten der Müdigkeitserfassung
vierten Grad mündet in erschöpfungsähnlichen gezählt (vgl. [4]). Weiterhin kann auch mit einem
38 Zuständen, die in der Regel in einer Arbeitsver- Elektrokardiogramm (EKG, u. a. zur Messung der
weigerung enden. Herzschlagfrequenz) oder durch subjektive Befra-
19 Dies zeigt, dass Ermüdung ein langsam einset- gung Müdigkeit ermittelt werden. Eine zuverlässi-
zender Prozess ist und dass die Detektion von Er- gere Detektion von Müdigkeit wird i. d. R. durch die
20 müdung bereits in frühen Stadien dieses Prozesses Kombination von zwei oder mehr Messverfahren
sinnvoll ist, um erste Maßnahmen (z. B. Warnung erreicht.
38.3 • Müdigkeitserkennung
693 38

.. Tab. 38.1  Beschreibung einer Auswahl von möglichen augenbezogenen Messgrößen

Messgröße Erläuterungen zur Messgröße Literatur

Pupillendurchmesser – Messung über Pupillometrie (kamerabasiert, Infrarotlicht) [10], vgl. [25]


– Ermüdung kann über Veränderung des Durchmessers festgestellt
werden (Frequenz der Pupillenoszillisation wird niedriger)
– hohe Anfälligkeit bzgl. Umgebungsfaktoren (v. a. Helligkeit)

Augenöffnungsgrad – kamerabasierte Messung möglich [6, 10]


– Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Augenlid (bei
auftretender Müdigkeit kleiner)

Lidschlussdauer – kamerabasierte Messung möglich [6, 9, 10]


– bei vorhandener Müdigkeit länger

Zeitverzug bis zur Wie- – kamerabasierte Messung möglich [9]


dereröffnung des Lides – bei vorhandener Müdigkeit größer

Lidschlussfrequenz – kamerabasierte Messung möglich [9, 10]


– bei vorhandener Müdigkeit höher

Lidschlussgeschwindigkeit – kamerabasierte Messung möglich [4, 6, 9, 10]


– wird mit steigender Müdigkeit langsamer

PERCLOS (PERcentage of – Zeitanteil, bei dem die Augen bezüglich der Augenlidspalte 80 % [26, 27]
eye CLOSure) oder mehr geschlossen sind
– kamerabasierte Messung möglich
– wird bei Müdigkeit größer, reagiert aber erst bei fortgeschrittener
Müdigkeit

Die Indikatoren, die eine Müdigkeit erkennbar


machen, können grundlegend in menschbezogene
und fahrzeugbezogene Indikatoren unterteilt wer-
den. Im Folgenden werden einige der möglichen
Indikatoren erläutert. Ein Überblick über mögliche
Müdigkeitsmessverfahren und von bestehenden
Müdigkeitsmesssystemen wird in [4] gegeben.

Menschbezogene Messgrößen  Die Erfassung der


Augenaktivität ist ein weit verbreitetes und valides
Verfahren zur Erfassung von Müdigkeit bei der
Fahrzeugführung (. Tab. 38.1). Die Erfassung des
Lidschlussverhaltens ist prinzipiell mittels kamera-
basierter Systeme bzw. die Erfassung des Blickver- .. Abb. 38.3  Klassifikation von Müdigkeitsstadien [5]
haltens über Eyetracking-Systeme möglich.
Anhand der Indikatoren Augenöffnungsdauer wach wähnt. In Stadium 2 („müde“) wirkt sich der
und Lidschlussdauer bestimmt [5] in Fahrversu- beeinträchtigte Fahrerzustand auf die Ausführung
chen vier Müdigkeitsstadien (teilweise vergleichbar der Fahraufgabe aus. Ermüdet der Fahrer weiter,
mit [23], . Abb. 38.3). erreicht er das Stadium 3 („schläfrig“), bei dem alle
Während in Stadium  1 („vigilanzgemindert“) Ressourcen verbraucht sind, wodurch grobe Fahr-
die Aufmerksamkeitsleistung abnimmt, bleibt die fehler immer wahrscheinlicher werden. Spätestens
Fahrleistung noch unverändert. Veränderungen zu diesem Zeitpunkt sollte die Fahrt unterbrochen
werden in der Nebenaufgabe identifiziert, während werden. Es konnte eine Überlegenheit der Kombi-
der Fahrer sich möglicherweise noch als absolut nation von Augenöffnungsdauer und Lidschluss-
694 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

dauer gegenüber dem Vergleichsmaß PERCLOS in den Ergebnissen fest, die das Vorhandensein von
1 festgestellt werden, da eine höhere Sensitivität für starken interindividuellen Unterschieden verdeut-
frühe Müdigkeitsstadien vorliegt (zuvor konnten lichen.
2 nur ca. 40 % der frühen Stadien von Müdigkeit auf- Unterschiedliche Anwendungsfälle einer Mü-
geklärt werden) und da Phasen kurz vor dem Ein- digkeitserkennung sind in ▶ Abschn. 38.5 beschrie-
schlafen zuverlässiger erkannt werden können [5]. ben.
3 Durch ein EEG können mittels Elektroden auf
der Kopfhaut Veränderungen in den Frequenzbän-
4 dern der Gehirnwellenaktivität festgestellt werden, 38.4 Erkennung medizinischer
wobei Häufigkeit, Dauer und Amplitude sogenann- Notfälle
5 ter Alpha-Spindeln Hinweise auf den vorliegenden
Müdigkeitsgrad geben (z. B. [10]). Zurzeit erfüllt die Die Leistung, die ein Mensch erbringen kann, wird
Methode der EEG-Messung jedoch noch nicht die u. a. vom aktuellen Gesundheitszustand beeinflusst.
6 Anforderung der kontaktlosen Messung. Insbesondere relevant ist dies bei plötzlich eintre-
Letztlich können auch mithilfe der Messgrößen tenden Veränderungen des Gesundheitszustands
7 Herzschlagfrequenz, Herzschlagvariabilität und während der Fahrt – wie beispielsweise beim Auf-
Hautleitwert Hinweise auf Müdigkeit gewonnen treten medizinischer Notfälle, zu denen u. a. Herz-
werden. infarkte oder Schlaganfälle zählen.
8 Aufgrund des demographischen Wandels wird
Fahrzeugbezogene Messgrößen Bei steigender die Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer im Straßen-
9 Müdigkeit treten häufiger Fahrfehler auf ([4]; vgl. verkehr zunehmen, womit auch eine Zunahme von
Ermüdungsgrad  2 [23]). Daher gibt es viele An- medizinisch bedingten Kontrollverlusten am Steuer
10 sätze, die Daten des Fahrverhaltens (z. B. Lenkbe- zu erwarten ist. Insbesondere das vermehrte Auf-
wegungen, Geschwindigkeits- und Bremsverhalten, treten von kardiovaskulären Erkrankungen (z. B.
Abweichungen von der Idealspur oder auch Kenn- Herzinfarkte) ist zu erwarten [7], die eine plötzlich
11 werte wie die TTC; [8]) auszuwerten, um auf die auftretende Fahruntüchtigkeit des Fahrers bewir-
Müdigkeit von Fahrern schließen zu können. Die ken, wodurch in der Folge häufig schwere Unfälle
12 Vorteile der Müdigkeitsermittlung aus den Daten entstehen können. Die Überwachung des Gesund-
des Fahrerverhaltens liegen in der berührungslosen heitszustands, um bei entsprechenden Problemen
sowie kostengünstigen Aufzeichnung der Daten. Als eingreifen zu können und das Fahrzeug beispiels-
13 Nachteil erweist sich jedoch, dass die Müdigkeitser- weise sicher zum Stillstand zu bringen, wird somit
fassung im Stadtverkehr anhand von Daten aus dem an Bedeutung gewinnen.
14 Fahrzeugquerführungsverhalten aufgrund der Stör-
anfälligkeit durch Streckencharakteristika schwierig
38.4.1 Messgrößen
15 ist (vgl. [4]).
und Messverfahren
Bei den Versuchen von [28], in denen über eine zur Erkennung medizinischer
16 dreistündige Versuchsfahrt in der monotonen Um- Notfälle
gebung eines Testgeländes Müdigkeit induziert
17 wurde, konnten signifikante Zusammenhänge zwi- [30] fassen zusammen, dass Daten aus einem EKG,
schen der Steering-Wheel-Reversal-Rate (SWRR, aus einer Plethysmographie (Messverfahren zu Vo-
gemäß [29] die Häufigkeit, in der die Lenkrichtung lumenschwankungen eines Körperteils oder Or-
38 über einen Mindestwinkel („gap“) hinaus gewech- gans) und die Überwachung des Blutdrucks dazu
selt wurde) und einer Selbsteinschätzung festgestellt genutzt werden können, kardiologische Notfälle
19 werden: Mit steigender Müdigkeit nimmt die Fre- (Herzinfarkte und Herzrhythmusstörungen) und
quenz von großen Lenkradbewegungen zu, wäh- Synkopen (Kreislaufkollaps) zu erkennen (s. auch
20 rend die Gesamtanzahl von Lenkradbewegungen . Tab. 38.2). Zudem eignen sich die Indikatoren
abnimmt. [28] stellen hohe Standardabweichungen zur Detektion von Epilepsie und Schlaganfällen,
38.4  •  Erkennung medizinischer Notfälle
695 38

.. Tab. 38.2  Messgrößen zur Detektion medizinischer Notfälle im Fahrzeug (Auszug aus [30]): + gut erkennbar, (+)
erkennbar, o weniger gut erkennbar

Kardiologische Epilepsie Synkope Zuckerschock Schlaganfall


Notfälle

Elektrokardiogramm (EKG) + (+) + o (+)

Plethysmographie + (+) + o (+)

Blutdruck + (+) + o (+)

Elektroenzephalogramm (EEG) + +

Blutzuckerkonzentration +

Atmung o (+) (+) o o

wobei Daten aus einem EEG diese beiden Notfälle Sensorik (beispielsweise kapazitiv oder magnetisch
besser erkennbar machen. Während die Blutzu- induktiv) anfälliger für Artefakte ist.
ckerkonzentration einen Zuckerschock erkennbar Auch mit einfachen Webcams ist es möglich,
werden lässt, kann die Überwachung der Atmung über Veränderungen im Grad der Lichtreflexion
bei der Detektion von Epilepsie und Synkopen hel- Auffälligkeiten im Herzkreislaufsystem zu detek-
fen – beide Indikatoren sind mit aktueller Sensorik tieren [32]. Die erhobenen Werte korrelierten mit
jedoch nicht während der Fahrt messbar. bis zu r = 0,98 mit dem Referenzwert, einer Messung
Ebenso sind Informationen über die Sauerstoff- per Fingersensor. Auch wenn die besten Ergebnisse
sättigung des Blutes, die Körpertemperatur sowie bei ruhig sitzenden Probanden erzielt werden konn-
Informationen bezüglich Lage und Bewegungen ten, kamen bei kleineren Bewegungen ebenfalls gute
des Fahrers prinzipiell dazu geeignet, medizinische Ergebnisse zustande. Probleme treten bei großen
Notfälle des Fahrers zu identifizieren [31]. Kopfbewegungen und bei schlechten Lichtverhält-
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, mit wel- nissen auf [32]. Neben der in der Studie ermittelten
chen Sensoren während der Fahrt Gesundheitsin- Herzschlagfrequenz können andere Indikatoren wie
dikatoren erfasst werden können – hier liegt der die Herzschlagvariabilität mit der Methode eben-
Schwerpunkt auf der Ermittlung der Herzschlag- falls geschätzt werden.
frequenz. Es werden jedoch auch Verfahren zur Über den von [33] entwickelten Pkw-Sitz mit
Erhebung des EKG, des Hautleitwertes sowie der Mehrkanal-EKG-System in der Rückenlehne kann
Sauerstoffsättigung diskutiert. Einige Forschungsar- mittels kapazitiver Elektroden kontaktlos und un-
beiten bewerten die Eignung von kamerabasierten merklich die Herzaktivität gemessen werden, da
Verfahren, da diese die Anforderung der kontaktlo- diese über Potenziale auf der Körperoberfläche
sen Messung erfüllen und mit weiteren Anwendun- selbst durch Kleidung ermittelbar ist. Die Signal-
gen im Fahrzeug kombiniert werden können (z. B. qualität ist von dem Anpressdruck auf den Sitz und
Müdigkeits- oder Unaufmerksamkeitserkennung). damit auch vom Körpergewicht, der Körpergröße
Kamerabasierte Verfahren können den Herzschlag und Körperstatur abhängig. Durch eine geeignete
über Blutvolumenänderungen in Blutgefäßen Elektrodenkonfiguration können in statischen
(Plethysmographie) im Gesicht ermitteln, da sich Versuchen bei ca. 90 % der Probanden Messwerte
dort keine Einschränkungen durch Bekleidung er- aufgezeichnet werden. Weiteren Einfluss auf die
geben. Allerdings sind Artefakte durch die Umge- Signalqualität haben Bewegungsartefakte, die bei-
bungsbeleuchtung möglich. spielsweise bei sehr dynamischer Fahrweise auftre-
[30] stellen fest, dass eine Farbkamera, die im ten können und die Bekleidung der Fahrer.
Kombiinstrument verbaut ist, bei mittlerer Ar- Über eine Sensoreinheit am Lenkrad ist es mög-
tefaktanfälligkeit eine gute Detektierbarkeit der lich, die Bioindikatoren Herzschlagfrequenz, Sauer-
Herzschlagfrequenz verspricht, während andere stoffsättigung und Hautwiderstand zu messen [34].
696 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

Mit dem am Lenkradumfang angebrachtem Sensor


1 konnten in Realfahrversuchen in über 81 % der Zeit
Werte erhoben werden. Über 90 % der Probanden
2 des Versuchs wünschen sich ein Nothaltesystem,
das einen medizinischen Notfall erkennen kann und
das Fahrzeug in der Folge sicher stoppt.
3
4 38.4.2 Anwendungsfall
„Nothalteassistent“
5
Die Anforderungen an ein automatisches Nothal- .. Abb. 38.4  Schematische Durchführung der abgesicherten
teassistenzsystem auf Autobahnen sind gemäß [30]
6 die automatische Weiterfahrt und Durchführung
Fahrstreifenwechsel (Quelle: BMW Group Forschung und
Technik)
von Fahrstreifenwechseln zur Erreichung einer ri-
7 sikominimalen Anhalteposition, eine geeignete Ab- samkeit und Müdigkeit aus aktuellen Fahrzeugmo-
bruchstrategie, keine automatische Erhöhung der dellen.
Fahrzeuggeschwindigkeit, Strategien zur Warnung Neben diesen gibt es weitere Systeme, die bei-
8 bzw. Information anderer Verkehrsteilnehmer, die spielsweise auf eine Unaufmerksamkeit reagie-
Einhaltung von gewissen Mindestgeschwindig- ren, jedoch nicht die Aufgabe haben, den Fahr-
9 keiten, das Einbeziehen von Kartendaten für eine erzustand zu überwachen. Zu diesen Systemen
geeignete Haltemöglichkeit und die Wahl eines kann der Verkehrszeichen-Assistent von Daimler
10 geeigneten Bedienkonzepts, damit eine ungewollte gezählt werden, der gemäß [36] dahingehend
Übersteuerung bzw. Fehlabbrüche (beispielsweise weiterentwickelt wurde, dass auch Warnungen
durch Bewusstlosigkeit) vermieden werden können. bei fehlerhaften Einfahren auf die Autobahn
11 [35] beschreiben einen Nothalteassistenten, der („Geisterfahrer“) ausgegeben werden. Ein wei-
es möglich machen soll, Unfälle durch gesundheit- teres Beispiel sind Systeme, die vor einem unbe-
12 lich bedingte Kontrollverluste zu vermeiden bzw. absichtigten Verlassen des Fahrstreifens warnen
die Schwere derartiger Unfälle zu mindern. Der (z. B. Audi „lane assist“, s. auch ▶ Kap. 49). Auch
Assistent soll dazu das Fahrzeug in einen siche- Abstands- oder Kollisionswarner werden aktiv,
13 ren Zustand überführen, indem ein abgesichertes wenn der Fahrer aufgrund seines aktuellen Zu-
Nothaltemanöver durchgeführt wird, wodurch das stands selbst nicht reagiert. Außerdem können
14 Fahrzeug im besten Fall gefahrlos auf dem Sei- sogenannte „eCall“-Systeme (beispielsweise der
tenstreifen einer Autobahn zum Stehen kommt „Intelligente Notruf “ von BMW) genannt werden,
15 (s.  . Abb. 38.4). Nach dem Stillstand können wei- die nach der Auslösung von Rückhaltesystemen
tere Schritte wie Erstversorgung oder Notruf (eCall, (Airbag, Gurtstraffer) bei einem Unfall aktiv wer-
s. ▶ Abschn. 38.5) eingeleitet werden. Besondere den – und automatisch Daten wie den Unfallort
16 Herausforderungen sind nach [35] bei der Durch- in eine Servicezentrale und teilweise auch Daten
führung der abgesicherten Fahrstreifenwechsel zu zur Unfallschwere übermitteln – wodurch eine
17 finden – dies insbesondere bei höherem Verkehrs­ erste Einschätzung des Gesundheitszustands der
aufkommen. Insassen möglich wird.
Es ist zu erwarten, dass in Zukunft immer mehr
38 Systeme auf den Fahrerzustand als direkte Ein-
38.5 Marktverfügbare Systeme zur gangsgröße zurückgreifen.
19 Fahrerzustandsüberwachung
ATTENTION ASSIST (Mercedes-Benz) Das System
20 Das Kapitel beschreibt Beispiele von marktverfüg- überwacht den Fahrerzustand hinsichtlich Mü-
baren Systemen zur Überwachung von Unaufmerk- digkeit und damit einhergehender Unaufmerk-
38.5  •  Marktverfügbare Systeme zur Fahrerzustandsüberwachung
697 38

.. Abb. 38.5  Verschiedene Stufen des Attention Levels aus [36]

samkeit. Gemäß [36] kann sich der Fahrer ständig den kann – beginnt ein zweistufiger Warnprozess.
über den vom System ermittelten sogenannten Zuerst erscheint 10 Sekunden lang eine Hinweis-
„Attention Level“ (Aufmerksamkeitszustand in meldung im Kombiinstrument und eine akustische
fünf Stufen) informieren und eine frühzeitigere Warnung; zeigt der Fahrer in der Folge weiterhin
Pausenplanung beginnen. Wird dem Fahrer eine Anzeichen von Müdigkeit, folgt eine aufdringlichere
Pause empfohlen, zeigt das System das bereits aus Warnung, die vom Fahrer mit einem Tastendruck
der ersten Generation bekannte „Kaffeetassen-Sym- bestätigt werden muss.
bol“ (s.  . Abb. 38.5). Nach der Warnmeldung bie-
tet das Navigationssystem eine Rastplatzsuche an. Driver Alert Control (Volvo)  Das System analysiert
Das System ist im Geschwindigkeitsbereich 60 bis über eine Frontkamera, wie der Fahrer zwischen
200 km/h aktiv. Der Fahrer hat die Möglichkeit, den Fahrbahnmarkierungen fährt, und warnt über
das System auf den Modus „Empfindlich“ (Alter- einen Warnton und einen Hinweis im Kombiinst-
nativmodus „Standard“) einzustellen, in welchem rument, wenn der Fahrer müde oder abgelenkt ist
der Algorithmus sensibler reagiert und der Fahrer [39]. Das System vergleicht das Lenkverhalten mit
früher gewarnt wird. zuvor erlernten Mustern und erkennt Schwankun-
Das System erstellt zu Beginn einer Fahrt ein gen im seitlichen Abstand zur Fahrstreifenmarkie-
individuelles Fahrerprofil, das fortan kontinuierlich rung.
mit dem aktuellen Fahrerverhalten verglichen wird
[37]. Folgende Indikatoren werden zur Erkennung Driver Monitoring Camera (Toyota) und Driver At-
einer zunehmenden Ermüdung bzw. Unaufmerk- tention Monitor (Lexus)  Bei diesem System über-
samkeit herangezogen: das Lenkverhalten, die Fahr- wacht eine auf der Lenksäule angebrachte Kamera,
bedingungen (die aktuelle Uhrzeit und die Fahrt- ob der Fahrer geradeaus schaut, und warnt ihn,
dauer bzw. die Geschwindigkeit), äußere Einflüsse wenn eine Kollision mit einem Hindernis droht.
wie Seitenwind oder Fahrbahnunebenheiten und Das System kann zusätzlich eine Bremsung unter-
das Bedienverhalten (beispielsweise die Frage, ob stützen [40].
bei einem Fahrstreifenwechsel der Fahrtrichtungs-
anzeiger betätigt wurde). Müdigkeitserkennung (Volkswagen) Das System
von Volkswagen (beispielsweise im VW Passat)
Driver Alert (Ford)  Über eine Frontkamera, die hin- warnt den Fahrer über einen Hinweis im Kombi-
ter dem Innenspiegel verbaut ist, kann das System instrument und ein akustisches Signal, wenn eine
von Ford die Fahrbahnmarkierungen auf beiden Ermüdung detektiert wurde und eine Pause emp-
Seiten detektieren [38]. Aus dem Vergleich der la- fohlen wird. Gemäß [41] ist der Lenkwinkel das
teralen Sollposition und der aktuellen Position des wichtigste Signal zur Detektion. Weiterhin werden
Fahrzeugs kann rückgeschlossen werden, ob der Signale wie die Fahrpedalbetätigung, die Querbe-
Fahrer müde ist, da ein müder Fahrer dazu neigt, schleunigung und die Bedientätigkeit des Fahrers
von einer zur anderen Seite zu pendeln. Sobald zur Beurteilung herangezogen. Die Signale werden
eine signifikante Abweichung erkannt wurde – und dazu mit einem charakteristischen Verhalten vom
diese keinem Fahrstreifenwechsel zugeordnet wer- Fahrtbeginn verglichen.
698 Kapitel 38 • Fahrerzustandserkennung

38.6 Falsch- und Fehlalarmierung Literatur


1 bei der Zustandserkennung
1 Kopf, M.: Was nützt es dem Fahrer, wenn Fahrerinforma-

2 Je weniger Falschalarme („false positives“, beispiels-


tions‐ und ‐assistenzsysteme etwas über ihn wissen? In:
Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit
weise ist der Fahrer nicht müde – das System er- maschineller Wahrnehmung. Springer Verlag, Berlin, Hei-
kennt jedoch eine Müdigkeit) in einem Warnsys-
3 tem vorkommen, desto höher ist die Akzeptanz des 2
delberg (2005)
Vollrath, M., Briest, S., Schießl, C., Drewes, J., Becker, U.: Ab-
Systems (vgl. ▶ Kap. 37). Bei der Systemauslegung leitung von Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme aus
4 gilt es, den Zielkonflikt zwischen Falschalarmen
Sicht der Verkehrssicherheit Berichte der Bundesanstalt für
Straßenwesen – Fahrzeugtechnik, Bd. F 60. Wirtschaftsver-
und Fehlalarmen („false negatives“, z. B. detektiert lag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH, Bremerhaven
5 das System keine Müdigkeit, obwohl der Fahrer (2006)
müde ist) zu beachten, indem die Grenzwerte bzw. 3 Klauer, S.G., Dingus, T.A., Neale, V.L., Sudweeks, J.D., Ram-
Algorithmen der Systeme entsprechend angepasst sey, D.J.: The Impact of Driver Inattention on Near‐Crash/
6 werden.
Crash Risk: An Analysis Using the 100‐Car Naturalistic
Driving Study Data: Report Bd. DOT HS 810 594. National
Hier ergibt sich das Problem, dass es zwar Highway Traffic Safety Administration, Washington, DC
7 Möglichkeiten gibt, den Zustand des Fahrers mit (2006)
verschiedenen Messverfahren im Fahrzeug zu be- 4 Platho, C., Pietrek, A., Kolrep, H.: Erfassung der Fahrer-
urteilen, oftmals aber noch Forschungsarbeiten feh- müdigkeit Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen
8 len, die eine Aussage darüber treffen, ab welchem
– Fahrzeugtechnik, Bd. F 89. Fachverlag NW in der Carl
Schünemann Verlag GmbH, Bremen (2013)
Grenz­wert relevante Auswirkungen des Fahrerzu- 5 Hargutt, V.: Das Lidschlussverhalten als Indikator für Auf-
9 stands auf die Fahrsicherheit zu erwarten sind. merksamkeits‐ und Müdigkeitsprozesse bei Arbeitshand-
Da der Fahrerzustand nicht direkt gemessen lungen VDI Fortschritt‐Bericht, Bd. 17 (223. VDI Verlag,

10 werden kann, sondern immer nur über Indikatoren


6
Düsseldorf (2003)
von Jan, T., Karnahl, T., Seifert, K., Hilgenstock, J., Zobel, R.:
auf seinen Zustand geschlossen werden kann, ist zu
Don’t sleep and drive – VW’s fatigue detection technology.
empfehlen, dass mehrere unterschiedliche Indika-
11 toren parallel gemessen und bewertet werden, auch
In: Proceedings – 19th International Technical Conference
on the Enhanced Safety of Vehicles. National Highway Traf-
wenn sich hierbei durch die Notwendigkeit unter- fic Safety Administration, Washington, DC (2005)
12 schiedlicher Sensoren Kostennachteile ergeben. 7 Mirwaldt, P., Bartels, A., To, T.-B., Braer, M., Malberg, H.,
Zaunseder, S., Lemmer, K.: Evaluation von Sensoren zur
Insbesondere wenn der Fahrer über mögliche
kontaktlosen Messung der Herzrate im Fahrzeug. In: Der
erkannte Fahrerzustände, wie Müdigkeit, eine fal-
13 sche Rückmeldung bekommt, kann das Vertrauen
Fahrer im 21. Jahrhundert VDI‐Berichte, Bd. 2205, VDI Ver-
lag, Düsseldorf (2013)
in das System verloren gehen, da der Fahrer in der 8 Knipling, R.R., Wierwille, W.W.: Vehicle‐Based Drowsy Driver
14 Regel seinen Zustand selbst einschätzen und dem- Detection: Current Status and Future Prospects. In: IVHS
America Fourth Annual Meeting, Atlanta, GA (1994)
entsprechend Systemfehlfunktionen identifizieren
9 Schleicher, R., Galley, N., Briest, S., Galley, L.: Blinks and
15 kann. Verhaltenshinweise von Systemen werden saccades as indicators of fatigue in sleepiness warnings:
dann möglicherweise vom Fahrer ignoriert. looking tired? Ergonomics 51(7), 982–1010 (2008)
Es muss kritisiert werden, dass bei den aktuellen 10 Karrer‐Gauß, K.: Prospektive Bewertung von Systemen zur
16 Messverfahren nur selten „überzeugende Validie- Müdigkeitserkennung: Ableitung von Gestaltungsemp-
fehlungen zur Vermeidung von Risikokompensation aus
rungsbelege oder Angaben zur Anzahl falscher und
empirischen Untersuchungen. Dissertation, TU Berlin, 2011
17 ausbleibender Alarme angeführt“ [4] werden. Da 11 Rauch, N., Schoch, S., Krüger, H.-P.: Ermittlung von Fahrer-
Fahrerzustandserkennungssysteme eindeutig einen aufmerksamkeit aus Fahrverhalten. BMWi Projekt AKTIV‐
Zuwachs an Sicherheit bedeuten, ist hier weiterer
38 Forschungs- und Entwicklungsbedarf vorhanden. 12
AS, Teilprojekt FSA (2007)
Blaschke, C.: Fahrerzustandserkennung zur Optimierung
von Spurhalteassistenzsystemen. Dissertation, Universität

19 13
der Bundeswehr München, 2011
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16th World Congress and Exhibition on Intelligent Trans-
701 39

Fahrerabsichtserkennung
und Risikobewertung
Martin Liebner, Felix Klanner

39.1 Problemstellung – 702
39.2 Einordnung bestehender Arbeiten  –  704
39.3 Rein prädiktive Verfahren – 705
39.4 Wissensbasierte Verfahren – 706
39.5 Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht  –  708
39.6 Berücksichtigung des Situationsbewusstseins  –  713
39.7 Zusammenfassung und Ausblick  –  716
Literatur – 717

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_39, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
702 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

Obwohl die Zahl der Verkehrstoten in den letzten


1 Jahrzehnten ständig zurückgegangen ist und 2013
mit 3340 Toten einen neuen historischen Tiefstand
2 erreichte [1], besteht nach wie vor die Notwendig-
keit, diese auch in Zukunft weiter zu reduzieren.
Entsprechende Zielsetzungen kommen hierbei so-
3 wohl von europäischer Seite [2] wie auch von Seiten
der Bundesregierung [3]. Neben straßenbaulichen
4 Maßnahmen und der Verbesserung des Insassen-
schutzes sind insbesondere auch Fahrerassistenzsys- .. Abb. 39.1  Rechtsabbiegen innerorts
5 teme in der Lage, hierzu einen wesentlichen Beitrag
zu leisten. Während frühe Systeme wie ABS und
ESC auf die Unterstützung der Fahrzeugsteuerung 39.1 Problemstellung
6 beschränkt waren, existieren mittlerweile eine Viel-
zahl von Fahrerassistenzsystemen, die den Fahrer Im Gegensatz zu reinen Fahrunfällen, wie dem Ab-
7 aktiv auf bestehende Gefahren hinweisen und es kommen von der Straße bei schlechtem Wetter und/
ihm dadurch ermöglichen, einen Großteil der Un- oder überhöhter Geschwindigkeit, besteht die Un-
fälle zu verhindern [4]. fallursache bei den meisten Unfällen innerorts da-
8 Besonders deutlich wird das Potenzial von Fah- rin, dass der Fahrer einen Verkehrsteilnehmer über-
rerassistenzsystemen vor dem Hintergrund, dass sehen oder falsch eingeschätzt hat. Ein typisches
9 69 % der Verkehrsunfälle mit Personenschaden Beispiel für ein derartiges Informationsdefizit ist
innerorts stattfinden und dass es sich bei 61 % der die in . Abb. 39.1 dargestellte Situation: Der Fahrer
10 hierbei Getöteten um Fußgänger und Radfahrer des roten Fahrzeugs möchte rechts abbiegen und hat
handelt [5]. Im Gegensatz zu den Fahrzeuginsas- dabei den Radfahrer im toten Winkel übersehen.
sen verfügen diese im Falle einer Kollision nur über Die Herausforderung aus Sicht eines war-
11 minimale Schutzmöglichkeiten – die vollständige nenden Fahrerassistenzsystems besteht nun da-
Vermeidung von Unfällen oder zumindest die Re- rin, dieses Informationsdefizit gezielt aufzulösen;
12 duktion der Kollisionsgeschwindigkeit stehen somit Grundlage hierfür ist die Detektion der relevanten
an oberster Stelle. Verkehrsteilnehmer im Umfeld des Fahrzeugs.
Aus Sicht der Fahrerassistenzsysteme existieren Während heutige Fahrerassistenzsysteme mangels
13 hierbei zwei mögliche Ansätze: das Ausgeben einer entsprechender Sensoren in den von ihnen adres-
Warnung an den Fahrer oder der direkte Eingriff sierbaren Szenarien noch sehr eingeschränkt sind,
14 in die Fahrzeugdynamik in Form eines Notbrems- ist zu erwarten, dass sich dies zukünftig durch die
oder Ausweichmanövers. Letzteres hat den Vorteil, Weiterentwicklung der Sensorik und die Einfüh-
15 dass das Einleiten des Eingriffs erst unmittelbar rung verschiedener Kommunikationstechnologien
vor der drohenden Kollision erfolgt und die Unsi- zwischen Fahrzeugen, der Infrastruktur und zen-
cherheiten hinsichtlich der weiteren Bewegung der tralen Backend-Servern ändern wird. Durch die
16 beteiligten Verkehrsteilnehmer somit auf ein Mini- Verbesserung der Umfelderfassung kann das Fah-
mum reduziert werden. Gleichzeitig besteht hierbei rerassistenzsystem deutlich mehr potenzielle Kon-
17 jedoch das Problem der Produkthaftung im Falle ei- fliktsituationen vorhersagen – die Frage ist nur, ob
ner Falschauslösung, so dass nur sehr zuverlässige dies dazu führen darf, dass dem Fahrer zukünftig
und somit teure Sensoren zum Einsatz kommen auch deutlich mehr Hinweise und Warnungen prä-
18 können. Das Ziel der in diesem Kapitel vorgestellten sentiert werden.
Methoden zur Risikobewertung von Verkehrssitua- Dem stehen die Ergebnisse von Untersuchungen
39 tionen besteht daher vornehmlich darin, den Fahrer entgegen, die belegen, dass ein Übermaß an Hinwei-
frühzeitig auf sich anbahnende Gefahrensituationen sen und Warnungen zu einer kognitiven Überlastung
20 hinzuweisen. des Fahrers führt und diesen sogar von der eigent-
lichen Fahraufgabe ablenken kann [6]. Darüber hi-
39.1 • Problemstellung
703 39

.. Abb. 39.2  Herausforderungen der Fahrerabsichtsvorhersage

naus ist anzunehmen, dass sich der Fahrer bei einer links dargestellten Situation sollte der Fahrer des
Vielzahl unnötiger Warnungen von diesen gestört roten Fahrzeugs beispielsweise nur dann auf das
oder sogar in seiner Fahrkompetenz angegriffen fühlt von links kommende graue Fahrzeug hingewiesen
und das System in der Folge abschaltet. Aufgabe des werden, wenn dessen Fahrer nicht gerade vor hat,
Assistenzsystems ist es daher, das tatsächliche Kolli­ rechts abzubiegen.
sionsrisiko für jede der potenziellen Konfliktsitua- Die Herausforderung hierbei besteht darin, dass
tionen möglichst genau zu bestimmen, um auf die- für Absichtsvorhersage von anderen Verkehrsteil-
ser Basis über die Notwendigkeit einer Warnung zu nehmern in der Regel deutlich weniger Merkmale
entscheiden. Neben der aktuellen Position und Ge- zur Verfügung stehen als für die des eigenen Fah-
schwindigkeit der beteiligten Verkehrsteilnehmer rers. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen
sind hierbei insbesondere auch die Absicht und das werden, dass der Fahrtrichtungsanzeigerstatus
Situationsbewusstsein des Fahrers relevant. des grauen Fahrzeugs in jeder Situation beobach-
tet werden kann, so dass die Fahrerabsichtserken-
nung in diesem Fall beispielsweise auf Basis des
39.1.1 Fahrerabsichtserkennung Geschwindigkeitsverlaufs erfolgen muss. Dennoch
sollte der Fahrtrichtungsanzeigerstatus – falls be-
Umfangreiche Untersuchungen im Fahrsimulator obachtbar – bei der Schätzung der Fahrerabsicht
haben ergeben, dass Warnungen insbesondere in berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnte es
komplexen innerstädtischen Verkehrssituatio- sein, dass das Fahrzeug weitere Informationen – wie
nen mindestens zwei bis drei Sekunden vor dem den Lenkwinkel oder die Blickrichtung des Fahrers
eigentlichen Konflikt ausgegeben werden sollten, – via Funk zur Verfügung stellt. Im Hinblick auf
um dem Fahrer eine angemessene Reaktion auf die Entwicklung eines Verfahrens zur Fahrerab-
die Konfliktsituation zu ermöglichen [7]. Für eine sichtsvorhersage besteht somit die Notwendigkeit,
derart lange Vorausschau ist die Prädiktion der dass dieses mit einer variablen Menge beobachteter
weiteren Bewegung des Fahrzeugs rein auf Basis Merkmale umgehen kann.
seines aktuellen Bewegungszustands oft nicht aus- Gleichzeitig liegt in der Situation an sich bereits
reichend, da der Fahrer innerhalb dieses Zeitraums ein hohes Maß an Variabilität vor: Das graue Fahr-
den Kurs des Fahrzeugs maßgeblich beeinflusst. Ein zeug könnte sich mit unterschiedlichen Anfangs-
typisches Beispiel ist die in . Abb. 39.1 dargestellte geschwindigkeiten an die Kreuzung annähern und
Abbiegesituation: Obwohl sich aus den aktuellen je nach Fahrstil des Fahrers bei gegebener Abbie-
Bewegungsrichtungen von Radfahrer und Fahrzeug geabsicht früher oder später abbremsen. Ob und
zunächst kein Konflikt ergibt, ist dieser bei gege- wie stark dieses Abbremsen ausfällt, hängt hierbei
bener Rechtsabbiegeabsicht des Fahrers dennoch maßgeblich von der Kreuzungsgeometrie ab sowie
vorhanden. davon, ob der Fahrer vor dem Fußgängerüberweg
Neben der des eigenen Fahrers ist mitunter auch anhalten muss. Hinzu kommt die Interaktion mit
die Absicht von anderen Verkehrsteilnehmern für anderen Verkehrsteilnehmern: In der in . Abb. 39.2
die Risikobewertung relevant: In der in . Abb. 39.2 rechts dargestellten Situation wird der Geschwin-
704 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

digkeitsverlauf des hinteren grauen Fahrzeugs maß- kannten Gewöhnungs- und Anpassungseffekte sind
1 geblich durch sein Vorderfahrzeug bestimmt, so daher unbedingt zu vermeiden. Auch hier wird die
dass sein Geschwindigkeitsverlauf unabhängig von Analogie zum menschlichen Beifahrer herangezogen,
2 der Fahrerabsicht dem eines Rechtsabbiegers ähnelt. der zwar schon manch einen Unfall verhindert hat,
Bereits in dieser verhältnismäßig einfachen Si- aber im Falle einer unterlassenen Warnung nicht für
tuation existiert somit eine Vielzahl von Größen, die den Schaden verantwortlich gemacht werden kann.
3 das beobachtete Fahrerverhalten und die daraus zu Über die unmittelbare Nutzung zur Unterdrü-
ziehenden Schlüsse hinsichtlich der Fahrerabsicht ckung unnötiger Warnungen hinaus stellt das Situ-
4 beeinflussen. Dies und die Tatsache, dass sowohl ationsbewusstsein des Fahrers auch die Grundlage
von den Merkmalen des Fahrerverhaltens als auch seiner Interaktion mit anderen Verkehrsteilneh-
5 von den Einflussgrößen oft nur ein Teil direkt be- mern dar. Wie sich dies in konkreten Anwendungs-
obachtbar ist, machen die Fahrerabsichtserkennung fällen zur Erlangung eines vollständigeren Abbilds
zu einem äußerst spannenden, aber auch herausfor- der Verkehrssituation, zur Plausibilisierung des
6 dernden Arbeitsgebiet. Fahrerverhaltens und zur Vorhersage des weiteren
Verkehrsgeschehens nutzen lässt, wird in ▶ Ab-
7 schn. 39.6 ausführlich diskutiert.
39.1.2 Berücksichtigung
des Situationsbewusstseins
8 39.2 Einordnung bestehender
Durch verschiedene Verfahren zur Fahrerabsichts- Arbeiten
9 erkennung wird dafür gesorgt, dass der Fahrer nur
auf die für seine Absicht relevanten Verkehrsteilneh- Zur Bewertung des Kollisionsrisikos von Verkehrs-
10 mer hingewiesen wird. Darüber hinaus kann jedoch situationen existieren bereits zahlreiche Ansätze
auch die Warnung vor potenziellen Konfliktpart- und Methoden in der Literatur, über die im Fol-
nern, die der Fahrer selber bereits wahrgenommen genden ein möglichst systematischer Überblick ge-
11 hat, als störend empfunden werden. Die Situation ist geben werden soll. Wie in . Abb. 39.3 dargestellt,
prinzipiell die gleiche wie bei menschlichen Beifah- kann hierbei zunächst zwischen einer reinen Prä-
12 rern: Während ständige Hinweise und Warnungen diktion auf Basis kinematischer, dynamischer oder
als störend empfunden werden und im schlimmsten kartenbasierter Bewegungsmodelle, der Risiko-
Fall durch Ablenkung des Fahrers sogar Gefahren- bewertung auf Basis der Fahrerabsicht sowie rein
13 situationen herbeiführen können, beobachtet ein wissensbasierten Verfahren unterschieden werden.
guter Beifahrer sowohl das Verkehrsgeschehen als Die Risikobewertung auf Basis der Fahrerab-
14 auch den Fahrer und gibt Hinweise an diesen nur sicht stellt hierbei die mit Abstand am häufigsten
dann, wenn er das Gefühl hat, dass der Fahrer einen eingesetzte Methode dar; hinsichtlich der Art der
15 wesentlichen Aspekt der aktuellen Verkehrssitua- Fahrerabsichtserkennung wird daher weiterhin
tion nicht mitbekommen hat und dass sich dadurch zwischen diskriminativen und generativen Metho-
eine Gefährdungssituation ergibt [8]. den unterschieden. Die in der dritten Ebene einge-
16 Neben der Vermeidung unnötiger Störungen führte Gruppierung in „Kaum Interaktion“, „Ein-
besteht insbesondere unter dem Gesichtspunkt der geschränkte Interaktion“ und „Volle Interaktion“
17 kommunikationsbasierten Umfeldwahrnehmung bewertet hierbei die Fähigkeit der Ansätze, der in
noch ein weiterer Grund, die Zahl der Systemaus- ▶ Abschn. 39.1 beschriebenen Interaktion zwischen
lösungen auf ein Minimum zu reduzieren: Da mit Verkehrsteilnehmern Rechnung zu tragen. Neben
18 einer vollständigen Marktdurchdringung innerhalb der Fähigkeit, eine vorab unbekannte Zahl von Ein-
der nächsten 20 Jahre nicht zu rechnen ist, kann allein flüssen auf das Fahrerverhalten zu berücksichtigen,
39 schon prinzipiell nicht garantiert werden, dass das spielt auch die Möglichkeit der Modellierung eines
Assistenzsystem den Konfliktpartner in jedem Fall objektbezogenen Situationsbewusstseins eine Rolle.
20 detektieren und den Fahrer darauf hinweisen kann. Die eigentlichen Methoden der Fahrerabsichts-
Die beispielsweise von Parkassistenzsystemen be- erkennung werden schließlich in der untersten
39.3 • Rein prädiktive Verfahren
705 39

.. Abb. 39.3  Übersicht über bestehende Methoden der Risikobewertung

Ebene der Taxonomie den genannten Gruppen zu-


geordnet.

39.3 Rein prädiktive Verfahren

Rein prädiktive Verfahren zur Risikobewertung


sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne vorhe-
rige Bestimmung der Fahrerabsicht auskommen.
Zu unterscheiden ist hierbei sowohl hinsichtlich
des verwendeten Bewegungsmodells als auch hin- .. Abb. 39.4  Prädiktion des einbiegenden Fahrzeugs mithilfe
sichtlich der Art der Kollisionserkennung und des eines dynamischen Bewegungsmodells
Umgangs mit Unsicherheiten.
zu verbessern, wird oftmals auch die Fahrbahngeo-
metrie im Bewegungsmodell berücksichtigt [15, 16,
39.3.1 Bewegungsmodelle 17]. Grundlage hierfür ist eine hochgenaue digitale
Karte der Umgebung oder zumindest die visuelle
Typisch für rein prädiktive Verfahren ist die Ver- Erkennung der Fahrstreifenmarkierung. Ferner
wendung dynamischer [9, 10, 11] oder auch kine- wird in einigen Arbeiten auch das Fahrerverhalten
matischer [12, 13, 14] Bewegungsmodelle, anhand als zufällige Eingangsgröße in das System model-
derer die zukünftigen Trajektorien aller beteiligten liert [15, 18], um potenzielle Gefährdungen bei
Verkehrsteilnehmer bestimmt und die zugehörigen Kursänderung der anderen Verkehrsteilnehmer zu
Kollisionswahrscheinlichkeiten ermittelt werden. erkennen.
Da das Fahrerverhalten in beiden Fällen unberück-
sichtigt bleibt, kann eine sinnvolle Bewertung des
Kollisionsrisikos je nach Situation nur für einen sehr 39.3.2 Kollisionserkennung
kurzen Vorhersagehorizont gewährleistet werden.
Anwendung finden die Bewegungsmodelle somit Ein wesentlicher Bestandteil der Risikobewertung
vor allem bei Akutwarnungen und in die Fahrdy- ist die Erkennung sich anbahnender Kollisionen
namik eingreifenden Systemen zur Kollisionsver- zwischen Verkehrsteilnehmern. Eine analytische
meidung sowie in Systemen zur Verminderung der Berechnung der Kollisionspunkte wie in [9, 12] ist
Kollisionsfolgen. Ein typisches Anwendungsbeispiel hierfür in der Regel nur für kinematische und dy-
ist in . Abb. 39.4 dargestellt. namische Bewegungsmodelle möglich. Häufig wird
Um die Genauigkeit insbesondere bei Vorher- deshalb auf simulative Lösungen zurückgegriffen
sagehorizonten von mehr als einer Sekunde Länge [11, 13, 14], bei denen der Bewegungszustand der
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Verkehrsteilnehmer in zeitlich diskreten Schritten handenen Nichtlinearitäten Rechnung zu


1 prädiziert wird. tragen. Insbesondere wird hierdurch auch
Zu jedem Zeitpunkt wird daraufhin die Kol- die Berücksichtigung komplexerer Bewe-
2 lisionswahrscheinlichkeit bestimmt. Anwendung gungsmodelle und der Interaktion zwischen
finden hierbei sowohl geometrische Ansätze [19, 9, Verkehrsteilnehmern ermöglicht (▶ Ab-
12], die die räumliche Ausdehnung der Fahrzeuge schn. 39.6). Die Kollisionswahrscheinlichkeit
3 bspw. in Form eines Rechtecks berücksichtigen und wird für jeden der Abschnitte separat berech-
darauf abzielen, Überlappungen zwischen Fahrzeu- net und im Anschluss über alle Abschnitte
4 gen zu erkennen, als auch sogenannte Konfliktbe- akkumuliert. Der Nachteil dieser Methode
reiche [20], die jeweils nur von einem Fahrzeug zur ist ihr vergleichsweise hoher Rechenaufwand
5 gleichen Zeit belegt werden dürfen. bzw. der entstehende Diskretisierungsfehler
von bis zu 2,5 m, wenn Echtzeitbetrieb ange-

6
7
39.3.3 Umgang mit Unsicherheiten

Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal für beste-


- strebt wird [22].
Partikelbasierte Ansätze [22, 23, 15]: Als
Alternative zur Diskretisierung kann die
tatsächliche Aufenthaltswahrscheinlichkeit
hende Ansätze zur Trajektorienprädiktion ist die auch durch eine Menge von Partikeln angenä-
Art, wie sie mit Unsicherheiten in der Schätzung hert werden. Diese werden entsprechend der
8 des aktuellen Bewegungszustands sowie ihres Be- Wahrscheinlichkeitsverteilung des aktuellen
wegungsmodells umgehen. Einige Ansätze vernach- Bewegungszustands sowie den Unsicherheiten
9 lässigen diese und prädizieren lediglich die jeweils im Bewegungsmodell zufällig gezogen und
wahrscheinlichste Trajektorie [14, 9], andere be- prädiziert, so dass sie jeweils einen möglichen
10 rechnen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über zukünftigen Zustand des Fahrzeugs in der Zu-
die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Fahrzeuge kunft repräsentieren. Die Kollisionserkennung
über der Zeit. Etabliert haben sich hierfür insbe- erfolgt für jeden der Partikel separat.

-
11 sondere folgende Ansätze:
Rechnen mit Normalverteilungen [11, 19, 10, Ist für die Entscheidung des Assistenzsystems nicht
12 13]: Durch Annahme von normalverteilten die Wahrscheinlichkeit, sondern lediglich die Mög-
Zufallsgrößen, wie sie bei Verwendung von lichkeit einer Kollision relevant, kann die Prädiktion
Kalman-Filtern für das Objekttracking oh- auch auf Basis sogenannter Erreichbarkeitsmengen
13 nehin vorausgesetzt werden, können Unsi- erfolgen: Diese können entweder durch die Einhül-
cherheiten mit sehr geringem Aufwand in die lende des erreichbaren Zustandsraumes [18, 24]
14 Zukunft prädiziert werden. Nichtlinearitäten oder die Instanz eines Rapidly Exploring Random
im Bewegungsmodell können hierbei durch Tree repräsentiert werden [25]. Anwendung finden
15 entsprechende Filtererweiterungen (EKF/UKF) die beiden Verfahren beispielsweise bei der Absi-
berücksichtigt werden. Für die Kollisionserken- cherung automatisierter Fahrmanöver.
nung kann beispielsweise die Konfidenzellipse
16 herangezogen werden [11]. Alternativ wird in
[19] vorgeschlagen, den minimalen Abstand 39.4 Wissensbasierte Verfahren
17 zu den relevanten Konfliktpartnern wiede-
rum als normalverteilt anzunehmen und die Im Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen zielen
zugehörigen Parameter mithilfe der Unscented wissensbasierte Verfahren darauf ab, Gefährdungen

-
18 Transformation zu bestimmen. auf Basis der Verkehrssituation an sich zu bestim-
Diskretisierung des Zustandsraumes [21]: Die men.
39 Unterteilung des Zustandsraumes in kleine Regelsätze stellen hierbei eine sehr einfache,
Abschnitte erlaubt es, die Fortpflanzung der aber in der Praxis häufig verwendete Untergruppe
20 Unsicherheiten für jeden dieser Abschnitte der wissensbasierten Verfahren dar. Diese können
separat durchzuführen und somit den vor- sehr einfach gehalten sein, wie beispielsweise bei
39.4  •  Wissensbasierte Verfahren
707 39
.. Abb. 39.5 Verfahren
des Fallbasierten Schlie-
ßens [27]. Hierbei wird
die aktuelle Verkehrssitu-
ation anhand abstrakter
Merkmale zunächst als
Fall beschrieben. Aus
einer Datenbank wird
daraufhin ein ähnlicher Fall
extrahiert und das darin
hinterlegte Wissen für die
Verhaltensentscheidung
im aktuellen Fall herange-
zogen. Nach Ausführung
des Verhaltens wird dieses
hinsichtlich seiner Eignung
für die Situation bewertet,
angepasst und bei Bedarf
in Form eines neuen
gelernten Falls in der
Datenbank abgelegt.

aktuell erhältlichen Fahrstreifenwechselassistenten: herangezogen werden, um zu der aktuellen Ver-


Befindet sich ein Fahrzeug im toten Winkel, liegt kehrssituation entweder das korrekte Fahrerver-
ein geringes Gefährdungspotenzial vor und der halten oder die möglichen Nachfolgesituationen
Fahrer wird unaufdringlich mit einer Leuchte im abzufragen [28, 29, 30]. Einen Einblick in die Funk-
Außenspiegel darauf hingewiesen. Setzt er in die- tionsweise der Methode des fallbasierten Schlie-
ser Situation den Fahrtrichtungsanzeiger, ist eine ßens gibt . Abb. 39.5.
Kollision bereits deutlich wahrscheinlicher und die Unter dem Gesichtspunkt der Risikobewertung
Warnung wird bspw. durch Vibrieren des Lenkrads besteht beim fallbasierten Schließen das Problem
intensiviert. Alternative Beispiele sind die Perso- der Aufzeichnung von Situationen, die zu Unfällen
nenwarnung auf Landstraßen oder der Hinweis, bei oder Beinahe-Unfällen geführt haben und somit
offensichtlicher Ermüdung des Fahrers eine Pause einen Eingriff des Assistenzsystems rechtfertigen.
einzulegen. Regelbasierte Ansätze sind vor allem Darüber hinaus können aufgrund des exponentiell
dann sinnvoll, wenn der Zusammenhang zwischen wachsenden Zustandsraumes nur verhältnismäßig
Risiko und relevantem Kontext sehr einfach zu mo- einfache Situationen aufgelöst werden. Bei komple-
dellieren ist. xeren Verkehrssituationen besteht somit die Gefahr,
Für die Beschreibung komplexerer Zusam- dass wesentliche Aspekte der Verkehrssituation
menhänge existieren logikbasierte Ansätze wie in nicht abgebildet werden. Diesem Problem unter-
[26], die in der Lage sind, Handlungspläne von liegen auch die Ansätze aus [31, 32], die die zum
Verkehrsteilnehmern zu erkennen und auf deren Unfall führenden Konstellationen direkt zu model-
Basis mögliche Gefahrenquellen zu identifizieren. lieren versuchen.
Alternativ kann auch eine Datenbank mit in der
Vergangenheit beobachteten Verkehrssituationen
708 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

39.5 Risikobewertung auf Basis darin hauptsächlich anhand der zu erkennenden


1 der Fahrerabsicht Manöver und der verwendeten Merkmale. Im Fol-
genden wird stattdessen ein systematischer Über-
2 Mit Ausnahme einiger weniger Arbeiten, die das blick über die bestehenden Methoden zur Fahrer-
Steuerverhalten des Fahrers als kontinuierliche absichtserkennung gegeben.
Zufallsgröße annehmen [23, 15], ist es das Ziel der
3 überwältigenden Mehrheit von Arbeiten, diskrete
Manöver wie Fahrstreifenwechsel [33, 34, 35, 36], 39.5.1 Fahrerabsichtserkennung
4 Überholen [37, 38], Abbiegen [39, 40, 41, 42, 43], mit diskriminativen Methoden
Anhalten [44, 45] oder auch das Abstandhalten zum
5 Vorderfahrzeug [46, 47] zu erkennen. In jüngerer Allgemein gesprochen dienen diskriminative
Zeit ist zudem ein Trend zu beobachten, das Fahrer- Methoden der Unterscheidung einer Menge von
verhalten mit direktem Bezug auf eine hochgenaue Klassen anhand beobachteter Merkmale. Hierbei
6 digitale Karte auszuwerten [48, 49, 50, 17, 51, 52]. werden keinerlei Annahmen im Hinblick auf die
Neben der Ermittlung der möglichen Manöver kann statistische Unabhängigkeit der Beobachtungen
7 somit zum einen der Einfluss der Kreuzungsgeome- getroffen, da diese durch das Anlernen mit Trai-
trie auf das beobachtete Fahrerverhalten berück- ningsdaten automatisch erkannt und bei der Klassi-
sichtigt werden [53], zum anderen kann zwischen fikation berücksichtigt werden. Für die Anwendung
8 mehreren Manövern gleichen Typs – beispielsweise der Manöverklassifikation werden meist folgende

9
10
bei mehreren Rechtsabbiegemöglichkeiten – und
sogar zwischen Manöverkombinationen unterschie-
den werden [54].
Als Merkmale für die Fahrerabsichtserkennung
-
diskriminative Methoden angewendet:
Artificial Neural Networks (ANN) [58]:
Künstliche neuronale Netze sind eine der
ältesten Methoden der künstlichen Intelligenz;
kommt prinzipiell eine Vielzahl von Größen in der bekannteste Vertreter ist das mehrlagige
Frage. Von außen beobachtbar und somit für die Perzeptron. Dieses besteht aus mehreren
11 Absichtserkennung von anderen Verkehrsteilneh- Lagen binärer Entscheidungsknoten, deren
mern verwendbar sind hierbei aber in der Regel Aktivierung genau dann erfolgt, wenn die
12 nur die Position des Fahrzeugs, fahrdynamische gewichtete Summe ihrer Eingänge einen
Größen wie Geschwindigkeit, Längs- und Quer- bestimmten Schwellwert überschreitet. Durch
beschleunigung und Drehrate sowie Kontextinfor- die Kaskadierung mehrerer Schichten können
13 mationen wie Geschwindigkeit und Abstand eines auch komplexe nichtlineare Entscheidungs-
möglichen Vorderfahrzeugs. Zudem ist zu erwar- regeln abgebildet werden. Die Gewichte der
14 ten, dass zukünftig auch das mithilfe von Kame- einzelnen Knoten werden hierbei auf Basis von
rasystemen beobachtete Fahrtrichtungsanzeigersi- annotierten Trainingsdaten gelernt. Hierbei
15 gnal für die Fahrerabsichtserkennung von anderen ist zu beachten, dass die Modellkomplexität
Verkehrsteilnehmern zur Verfügung steht. Für die im Verhältnis zu der Menge der vorhandenen
Fahrerabsichtserkennung im eigenen Fahrzeug Trainingsdaten nicht zu hoch gewählt wird,
16 können darüber hinaus weitere Steuergrößen des da sonst die Gefahr der Überanpassung des

17
18
Fahrers wie Lenkwinkel und Pedalstellung ausge-
wertet werden. In den letzten Jahren ist zudem die
direkte Beobachtung von Kopfdrehung, Blickrich-
tung und Fußstellung des Fahrers als Möglichkeit
- Netzes besteht.
Support Vector Machines (SVM) [44, 59,
60]: Bei dieser seit Ende der 90er Jahre stark
verbreiteten Klassifikationsmethode wird die
zur sehr frühen Erkennung von Fahrmanövern in mehrdimensionale und i. d. R. nichtlineare
den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen ge- Entscheidungsgrenze zwischen den Klas-
39 rückt [55, 56, 8, 54, 43]. sen durch ein Subset besonders markanter
Eine Übersicht zu bestehenden Ansätzen zur Eingangsdaten mit ihrer zugehörigen Klasse –
20 Fahrerabsichtserkennung ist beispielsweise in [57] sogenannten Supportvektoren – repräsentiert.
zu finden: Die Unterscheidung der Ansätze erfolgt Diese werden durch ein Optimierungsverfah-
39.5  •  Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht
709 39

ren direkt aus den Trainingsdaten gewonnen, werden. Im Anschluss wird die zuzuweisende
wobei hierbei zur Optimierung interner Para- Klasse als Mehrheitsentscheidung aller Bäume
meter ggf. mehrere Durchläufe im Rahmen ei- gefällt. Der Vorteil der leichten Interpretier-
ner sog. Kreuzvalidierung erforderlich sind. Im
Gegensatz zu künstlichen neuronalen Netzen
sind SVMs sehr robust gegen Überanpassung,
geben aber ebenfalls nur die wahrscheinlichste
- barkeit geht hierbei aber leider verloren.
Conditional Random Fields (CRF) [39]: CRFs
sind ungerichtete grafische Modelle, die die
statistischen Zusammenhänge zwischen den
Klasse und nicht deren Eintrittswahrschein- Merkmalen berücksichtigen. Im Gegensatz
lichkeit als Ergebnis aus. Um dennoch eine zu anderen diskriminativen Ansätzen kann
probabilistische Vorhersage der Fahrerabsicht zur Verbesserung der Generalisierbarkeit bzw.
treffen zu können, verwenden einige Arbeiten der Reduktion der benötigten Trainingsdaten
[44, 59] ein Bayes-Filter, der die Manöver- bereits durch die Struktur des CRF vorgege-
wahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung ben werden, welche Merkmale von welchen
der Sensitivität und Spezifität der SVM auf abhängig sein können. Dieser Vorteil kommt
Basis der Klassifikationsergebnisse der letzten insbesondere bei der Analyse von Zeitreihen
N Zeitschritte abschätzt. Die Information, wie zum Tragen, etwa bei aufeinanderfolgenden
nahe die Eingangsdaten im aktuellen Einzel-
fall an der Entscheidungsgrenze lagen, bleibt
- Messungen der Geschwindigkeit.
Prototypenbasierte Ansätze (Prototypen) [64,

- hierbei allerdings unberücksichtigt.


Relevance Vector Machines (RVM) [46, 33, 43]:
Die erst 2001 von M. E. Tipping veröffent-
lichte Relevance Vector Machine [61] ähnelt
65]: Statt eines abstrakten Manövertyps kann
als Fahrerabsicht auch direkt die wahrschein-
lichste zukünftige Trajektorie ermittelt werden.
Entsprechende Arbeiten vergleichen hierzu
in ihrer Funktionsweise sehr der von SVMs, die aktuelle Trajektorie mit einer Vielzahl
gibt jedoch neben der wahrscheinlichsten sogenannter Prototypen: Der Prototyp mit der
Klasse auch deren Eintrittswahrscheinlichkeit besten Übereinstimmung wird anschließend
aus. Die Erweiterung für die Unterscheidung als wahrscheinlichste Trajektorie ausgegeben.
von mehr als zwei Klassen ist derzeit noch ein Offen ist hierbei allerdings die Frage, inwieweit

- aktives Forschungsgebiet [62].


Decision Trees/Random Forests (DT/RF) [63]:
Entscheidungsbäume ermitteln die zu den
der Kontext der Verkehrssituation – beispiels-
weise die Kreuzungsgeometrie oder die Interak-
tion mit Vorderfahrzeugen – bei der Vorhersage
Eingangsdaten gehörende Klasse, indem aus-
gehend von der Wurzel des Baumes bei jeder
Verzweigung eine Entscheidung getroffen
wird, bis schließlich ein mit einem Klassen-
- der Trajektorie berücksichtigt werden kann.
Kostenbasierte Ansätze (Utility) [66]: Ein sehr
intuitiver Ansatz zur Fahrerabsichtserkennung
besteht darin, die Plausibilität des aktuellen
label versehener Blattknoten des Baumes Fahrerverhaltens im Hinblick auf seine mög-
erreicht wird. Die Reihenfolge der abzufra- lichen Ziele zu untersuchen. Hierfür werden
genden Merkmale wird beim Lernen von zunächst mithilfe einer Kostenfunktion, einem
Entscheidungsbäumen häufig mithilfe infor- Planungsalgorithmus und einer digitalen
mationstheoretischer Maße festgelegt. Ihrem Karte die Kosten für das Erreichen der mög-
Hauptvorteil der einfachen Interpretierbarkeit lichen Ziele bestimmt. Anschließend wird
steht eine bei reellwertigen Eingangsdaten im untersucht, wie sich diese durch das aktuelle
Vergleich zu anderen Klassifikationsmetho- Fahrerverhalten verändern. Es wird angenom-
den deutlich schlechtere Klassifikationsgüte men, dass der Fahrer das Ziel verfolgt, bei dem
entgegen. Dieser Nachteil kann kompensiert die Kosten deutlich schneller sinken als bei
werden, indem statt eines einzelnen Ent- den anderen Zielen. Die Schwierigkeit besteht
scheidungsbaums eine Vielzahl vereinfachter hierbei vorrangig darin, eine Kostenfunktion
Entscheidungsbäume auf Basis einer jeweils zu definieren, die nicht das ideale, sondern das
zufälligen Untermenge der Merkmale generiert reale Fahrerverhalten wiedergibt.
710 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diskrimi- Für die Fahrerabsichtserkennung haben gene-
1 native Verfahren bei geeignet gewählter Modell- rative Methoden somit den Vorteil, dass sie zu dem
komplexität und ausreichend Trainingsdaten in wahrscheinlichsten Manöver auch die Eintritts-
2 einfachen Verkehrssituationen sehr gut geeignet wahrscheinlichkeit berechnen. Darüber hinaus sind
sind, die Einleitung von Fahrmanövern frühzeitig sie sehr gut in der Lage, nur zeitweise beobachtete
zu erkennen. Ihr Nachteil besteht darin, dass sich Merkmale in die Berechnung der Manöverwahr-
3 mit ihrer Hilfe häufig nur die wahrscheinlichste scheinlichkeit einzubeziehen. Da jedes generative
Klasse, nicht jedoch die zugehörige Eintrittswahr- Modell eine vollständige Wahrscheinlichkeitsvertei-
4 scheinlichkeit ermitteln lässt und nachfolgende lung darstellt, können diese frei miteinander kombi-
Filterungen die tatsächliche Eintrittswahrschein- niert werden. Im Gegensatz zu diskriminativen Me-
5 lichkeit lediglich approximieren: Dies erschwert thoden werden sie aus diesem Grund vorzugsweise
nicht nur die Risikobewertung, sondern auch die eingesetzt, wenn zwischen mehr als zwei möglichen
Kombination der Ergebnisse mehrerer Klassifika- Manövern unterschieden werden soll [57].
6 toren zur Erkennung alternativer Fahrmanöver. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick
Hinzu kommt, dass die Merkmale als Eingangs- über die verbreitetsten generativen Methoden auf
7
8
daten der Klassifikation bei diskriminativen Me-
thoden fest vorgegeben sind. Für die meisten hier
vorgestellten Ansätze ist es daher problematisch,
wenn zwischendurch einige der Merkmale nicht
-
dem Gebiet der Fahrerabsichtserkennung:
Bayesian Networks (BN) [41, 47, 67, 35, 52]:
Bayes’sche Netze [68] sind gerichtete azyk-
lische Graphen, die zur grafischen Reprä-
beobachtbar sind – beispielsweise der von außen sentation der Struktur von probabilistischen
9 beobachtete Fahrtrichtungsanzeigerstatus ande- Modellen verwendet werden. Die durch die
rer Fahrzeuge oder die Blickrichtung des Fahrers. Struktur implizierten Unabhängigkeitsan-
10 Außerdem bedeutet dies, dass alle eventuell zu nahmen reduzieren die Komplexität des
berücksichtigenden Einflüsse auf das Fahrerver- Modells und tragen so dazu bei, dass dieses
halten bereits in der Trainingsphase in Form von mit weniger Trainingsdaten angelernt werden
11 Merkmalen angelernt werden müssen. Da jedoch kann. Obwohl auch die Struktur selbst durch
der Bedarf an Trainingsdaten mit wachsender Zahl die Analyse von Trainingsdaten bestimmt
12 von Merkmalen exponentiell ansteigt, kann insbe- werden kann, wird diese meist auf Basis von
sondere der Interaktion mit anderen Verkehrsteil- Expertenwissen entsprechend der kausalen
nehmern in komplexen Verkehrssituationen bisher Zusammenhänge zwischen den Zufallsgrößen
13 nur sehr eingeschränkt Rechnung getragen werden. vorgegeben. Die Parametrisierung der Knoten
erfolgt daraufhin anhand von Trainingsdaten
14 oder ebenfalls anhand von Expertenwissen.
39.5.2 Fahrerabsichtserkennung Innerhalb eines Bayes’schen Netzes reprä-
mit generativen Methoden
15 sentiert jeder Knoten das Wissen über einen
statistischen Zusammenhang zwischen den
Generative Methoden sind dadurch gekennzeich- modellierten Zufallsgrößen. Teilmodelle
16 net, dass sie die vollständige Wahrscheinlichkeits- können somit beliebig wiederverwendet und
verteilung über alle modellierten Zufallsgrößen ab- – im Gegensatz zu diskriminativen Methoden
17 bilden. Wird ein Teil der Zufallsgrößen beobachtet, – sogar entsprechend der aktuellen Ver-
kann mithilfe der Bayes’schen Regel die A-poste- kehrssituation „on the fly“ zusammengesetzt
riori-Wahrscheinlichkeit der anderen Zufallsgrö- werden. Dies ist eine wesentliche Vorausset-
18 ßen bestimmt werden. Auf Basis der vollständigen zung, um die Interaktion zwischen einer vorab
Wahrscheinlichkeitsverteilung ist es zudem jeder- unbekannten Zahl von Verkehrsteilnehmern
39 zeit möglich, durch Marginalisierung – also durch zu modellieren. Die Berücksichtigung der
Aufsummieren der Wahrscheinlichkeiten von Teile- tatsächlichen Umgebungsbedingungen ist
20 reignissen – die Wahrscheinlichkeit einer einzelnen hierbei besonders effizient möglich, wenn
Zufallsgröße zu berechnen. für die Parametrisierung der Knoten aus der
39.5  •  Risikobewertung auf Basis der Fahrerabsicht
711 39

Literatur bekannte Fahrerverhaltensmodelle Likelihoods mithilfe von Prior-Wahrschein-

- eingesetzt werden.
Parametrische Modelle (Fahrermodell) [42, 53,
54]: Die Modellierung des Fahrerverhaltens
im Straßenverkehr ist seit langem Gegenstand
lichkeiten für die Manöver gewichtet und –
analog zum Vorgehen in [54] – mit anderen
Merkmalen kombiniert werden. Als Nachteil
von HMMs gegenüber CRFs wird häufig die
zahlreicher Untersuchungen auf dem Gebiet bei HMMs vorausgesetzte Gültigkeit der Mar-
der Human Factors. Die Ergebnisse dienen kov-Bedingung angeführt. Diese besagt, dass
hierbei als Grundlage zur Erstellung analy- der Folgezustand des Systems bei Kenntnis
tisch-regelbasierter Verhaltensmodelle, die des aktuellen Zustands von allen vorangegan-
typisches Fahrerverhalten hinsichtlich eines genen Zuständen statistisch unabhängig ist
bestimmten Merkmals [69, 70, 71], eines und dass somit auch die aufeinanderfolgenden
Manövertyps [72] oder auch als integriertes Beobachtungen gegeben dem Systemzu-
Modell [73, 74] beschreiben. Anstelle des stand voneinander unabhängig sein müssen.
Anlernens mit Trainingsdaten können Knoten Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die
eines Bayes’schen Netzes auch mithilfe eines Kardinalität des Zustandsknotens bei HMMs
solchen Fahrerverhaltensmodells parametri- größer gewählt werden muss als bei CRFs, um
siert werden. Dem Nachteil der Vereinfachung die Dynamik des beobachteten zeitkontinuier-
der statistischen Zusammenhänge stehen lichen Signals gleich gut zu erfassen. Diesem
folgende Vorteile der Verwendung von Fah- Nachteil steht jedoch entgegen, dass die Be-
rerverhaltensmodellen entgegen: die rechen- rechnung der Beobachtungswahrscheinlich-
technisch sehr effiziente Berücksichtigung keiten bei HMMs mithilfe des Forward-Algo-
beliebig komplexer Umgebungsbedingungen, rithmus deutlich effizienter möglich ist als bei
die gute Analysierbarkeit der Modelle sowie CRFs. Im Hinblick auf die Berücksichtigung
die Tatsache, dass sich die Modelle sehr ein- von Interaktion zwischen Verkehrsteilneh-
fach zwischen Wissenschaftlern austauschen mern besteht der deutlich gravierendere

- lassen.
Hidden Markov Models (HMM) [40, 38, 75]:
Bei HMMs [76] handelt es sich um eine
Sonderform von dynamischen Bayes’schen
Nachteil von HMMs darin, dass die zugrunde
liegenden Modelle ähnlich wie bei diskrimi-
nativen Verfahren als Ganzes gelernt werden:
Das im Zusammenhang mit Bayes’schen
Netzen, bei der das Netz aus einem ver- Netzen diskutierte Zusammenbauen von
borgenen Systemzustand und einer davon Modellen je nach konkreter Verkehrssituation
abhängigen, beobachtbaren Zufallsvariable
besteht. Im Gegensatz zu BNs berücksichtigen
sie die zeitlichen Zusammenhänge zwischen
aufeinanderfolgenden Systemzuständen und
- ist somit nicht möglich.
Gaussian Processes (GP) [45, 77]: Gauß-Pro-
zesse stellen eine Verallgemeinerung der
mehrdimensionalen Normalverteilung auf
können somit zur Analyse von Zeitreihen unendlich viele Zufallsgrößen dar; mittels
herangezogen werden. Für die Fahrerabsichts- dieser kann die zeitliche Entwicklung nor-
erkennung werden hierfür zunächst für jeden malverteilter Zufallsgrößen mithilfe einer
zu berücksichtigenden Manövertyp die Prior-, Mittelwertfunktion m(t) und einer Kovarianz-
Übergangs- und Emissionswahrscheinlichkei- funktion k(t, t‘) beschrieben werden. Für die
ten ermittelt, die die zugehörigen Trainingsda- Fahrerabsichtsvorhersage erfolgt die Approxi-
ten bestmöglich erklären. Im Anschluss kann mation dieser Funktionen mit Regressionsme-
mithilfe der so ermittelten Parametersätze thoden direkt auf Basis der Trainingsdaten des
für jede neue Sequenz von Eingangsdaten die zugehörigen Manövers. Die Berechnung der
Wahrscheinlichkeit bestimmt werden, dass Manöverwahrscheinlichkeit erfolgt wiederum
ein bestimmtes Manöver diese hervorbringen auf Basis der Wahrscheinlichkeit, dass das
würde. Zur Bestimmung der Manöverwahr- jeweilige Manövermodell die Beobachtung
scheinlichkeiten können diese sogenannten hervorgebracht hat.
712 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

1 Im Vergleich zu HMMs sind GPs prinzipiell


besser geeignet, die Dynamik kontinuierlicher
Signale zu beschreiben, und können ebenso
Komplexität der resultierenden Modelle
wurden DBNs bisher allerdings nur vereinzelt
für die Prädiktion eingesetzt [82]. Aufgrund
2 wie diese als Teil eines größeren Bayes’schen der damit einhergehenden Explosion des
Netzes aufgefasst werden. Nachteile der Me- Zustandsraumes [83] erfolgte diese auf Basis
thode bestehen einerseits in ihrem vergleichs- einzelner Partikel. Falls lediglich der aktuelle
3 weise hohen Rechenaufwand, der kubisch mit Zustand bzw. die Absicht des Fahrers ermittelt
der Zahl der Trainingspunkte ansteigt, und werden soll, kann das Verhalten der anderen
4 andererseits in der schlechten Generalisier- Verkehrsteilnehmer in der Regel als beobach-
barkeit auf Situationen, die nicht durch die tet angenommen werden: Durch die daraus
5
6
- Trainingsdaten repräsentiert werden.
Layered HMMs based on GPs (LHMM-GP)
[78]: Geschichtete bzw. hierarchische HMMs
nutzen die Kombinierbarkeit von HMMs und
resultierenden Unabhängigkeiten verringert
sich die Komplexität des Modells, so dass
teilweise auch exakte Methoden zum Einsatz
kommen können [81].
GPs, um das Fahrerverhalten in unterschied-
7 lichen Abstraktionsebenen zu beschreiben. Die genannten Beispiele zeigen deutlich das Poten-
In [78] dient die oberste Schicht der Model- zial von generativen Methoden zur Modellierung
lierung von Übergangswahrscheinlichkeiten komplexer Verkehrssituationen. Voraussetzung
8 zwischen den Manövertypen Vorwärtsfahren, hierfür ist vor allem die Wiederverwendbarkeit ge-
Abbiegen und Überholen. Je nach Manöver- nerativer Teilmodelle, die durch Verwendung von
9 typ werden in der darunterliegenden Schicht Techniken der objektorientierten Programmierung
die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen noch verbessert werden kann [84, 35]. Als Nachteil
10 Teilmanövern wie Abbremsen, um die Kurve ist die im Vergleich zu diskriminativen Methoden
Fahren und Beschleunigen abgebildet. Die höhere Komplexität der Modelle zu nennen, die ein
konkrete Durchführung der Teilmanöver ist reines Lernen auf Trainingsdaten deutlich erschwe-
11 mit GPs modelliert. Der Vorteil der hierarchi- ren kann. Im Fall der Fahrerabsichtserkennung wird
schen Modellierung besteht – ähnlich wie bei dieser Nachteil jedoch in der Regel durch die Mög-
12 der Modellierung mit BNs – darin, dass durch lichkeit ausgeglichen, Unabhängigkeitsannahmen
die stärkere Strukturierung des Modells ein in Form von Expertenwissen in das Modell einzu-
effizienteres Anlernen bzw. eine bessere Gene- bringen.
13 ralisierbarkeit erreicht wird. Außerdem wird
eine bessere Wiederverwertbarkeit der Teil-
14 modelle erreicht, die ggf. für die Modellierung 39.5.3 Risikobewertung auf Basis
der Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmern der Fahrerabsicht
15
16
- verwendet werden kann.
Dynamic Bayesian Networks (DBN) [34, 50,
79, 80, 81]: Dynamische Bayes’sche Netze
kombinieren den Vorteil der Modularisier-
Ist die Fahrerabsicht bzw. die zugehörige Wahr-
scheinlichkeitsverteilung bekannt, kann das Risiko
und somit die Notwendigkeit einer Intervention
barkeit und Kombinierbarkeit von BNs mit des Assistenzsystems entweder auf Basis vorgege-
17 der von HMMs bekannten Berücksichtigung bener Regeln oder durch Prädiktion des weiteren
der zeitlichen Zusammenhänge zwischen Verkehrsgeschehens erfolgen. Letzteres erfordert
Zufallsgrößen. Neben der probabilistischen in der Regel eine hochgenaue Karte der Umgebung,
18 Inferenz der Fahrerabsicht ermöglicht dies anhand derer die manöverabhängigen zukünftigen
die Berücksichtigung des Situationsbewusst- Pfade des Fahrzeugs vorhergesagt werden können
39 seins des Fahrers (▶ Abschn. 39.6) sowie die [17, 48, 54]. In einfach strukturierten Umgebun-
Prädiktion des weiteren Verkehrsgeschehens gen wie auf Autobahnen und Landstraßen kann
20 in Situationen mit mehreren beteiligten es auch ausreichend sein, die aktuelle Fahrbahn-
Verkehrsteilnehmern. Aufgrund der hohen geometrie anhand der Fahrstreifenmarkierungen
39.6  •  Berücksichtigung des Situationsbewusstseins
713 39
.. Abb. 39.6  Nutzen der
Situationsanalyse in Ab-
hängigkeit des Situations-
bewusstseins von System
und Fahrer (horizontale
bzw. vertikale Richtung)

und dem Verhalten der umgebenden Fahrzeuge tenzsystem über ein nur lückenhaftes Umfeldmodell
zu analysieren. Die eigentliche Prädiktion und verfügt (linke Halbebene). Für das bestmögliche
Risikobewertung erfolgt schließlich auf Basis ei- Verständnis der Verkehrssituation und die optimale
nes der in ▶ Abschn. 39.3 vorgestellten Verfahren Unterstützung des Fahrers ist es daher erforderlich,
oder – bei Verwendung von HMMs, DBNs oder sowohl sein Situationsbewusstsein als auch das des
Fahrerverhaltensmodellen – ggf. auch direkt auf Assistenzsystems explizit zu modellieren: Die bei-
Basis des zur Fahrerabsichtserkennung verwende- spielhafte Umsetzung eines derartigen Modells wird
ten Modells. in [85] diskutiert. An dieser Stelle soll lediglich der
konkrete Nutzen dieser – zugegebenermaßen recht
aufwendigen – Modellierung an vier Beispielen ge-
39.6 Berücksichtigung zeigt werden.
des Situationsbewusstseins

Die in den vorangegangenen Abschnitten vorge- 39.6.1 Vermeidung unnötiger


stellten Arbeiten zur Risikobewertung adressieren Warnungen
die Situation, dass der Fahrer den potenziellen
Konfliktpartner übersieht. Die Notwendigkeit einer Aus den in ▶ Abschn. 39.1.2 genannten Gründen
Warnung ist somit ausschließlich davon abhängig, liegt es nahe, die Existenz sogenannter Inhibito-
ob es in Anbetracht des beabsichtigten Manövers ren in Bezug auf die möglichen Fahrerabsichten zu
zu einer Kollision zwischen den beiden Verkehr- berücksichtigen [86]: In [33] wird dazu beispiels-
steilnehmern kommt. Gleichzeitig wird davon aus- weise der Abstand von Fahrzeugen auf benachbar-
gegangen, dass das Assistenzsystem über ein um- ten Fahrstreifen hinter dem Fahrzeug als Merkmal
fassendes Abbild der Verkehrssituation verfügt – in beim Anlernen eines Klassifikators zur Vorhersage
. Abb. 39.6 entspricht dies dem Quadranten unten von Fahrstreifenwechseln verwendet. Das Problem
rechts. hierbei besteht darin, dass zum Anlernen des Klas-
Tatsächlich tritt in der Realität jedoch häufig die sifikators in der Regel keine Daten von realen Unfäl-
Situation auf, dass der Fahrer für ihn relevante Ver- len oder Beinahe-Unfällen zur Verfügung stehen, so
kehrsteilnehmer bereits gesehen hat und mit diesen dass der Klassifikator ein Fehlverhalten des Fahrers
interagiert (obere Halbebene) oder dass das Assis- in der Folge nicht abbilden kann.
714 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

.. Abb. 39.7 Haltepunkt,
1 Zufahrten und Sichtbe-
reich des Fahrers beim
Rechtsabbiegen
2
3
4
5
6
7
Zur Lösung des Problems sind zwei verschie- bei der Zusammenhang zwischen dem Situations-
8 dene Ansätze denkbar: das Training mit künstlichen bewusstsein des Fahrers in aufeinanderfolgenden
Daten sowie die explizite Modellierung des Situa- Zeitschritten nicht berücksichtigt: Hat der Fahrer
9 tionsbewusstseins vom Fahrer. Letzteres kann als den Radfahrer gerade eben gesehen, ist es wahr-
separates Modell in unkritischen Situationen ange- scheinlich, dass er sich seiner Existenz auch zum
10 lernt und anschließend mit Algorithmen zur Fah- aktuellen Zeitpunkt noch bewusst ist. Die Model-
rerabsichtsvorhersage kombiniert werden. Bei der lierung der zeitlichen Zusammenhänge ist somit
Verwendung von diskriminativen Methoden zur insbesondere dann wichtig, wenn der Sichtbereich
11 Fahrerabsichtserkennung kann dies in Form einer des Fahrers wie in . Abb. 39.7 direkt beobachtet
nachgelagerten Durchführbarkeitsentscheidung wie wird. Hier haben dynamische Bayes-Netze einen
12 in [8] erfolgen. Der Nachteil besteht in diesem Fall erheblichen Vorteil.
jedoch darin, dass die Rückwirkungen der Durch-
führbarkeitsentscheidung auf die Erkennung nach-
13 folgender Manöver, beispielsweise das Durchführen 39.6.2 Detektion nicht sichtbarer
eines Fahrstreifenwechsels nach dem Vorbeilassen Verkehrsteilnehmer
14 des nachfolgenden Fahrzeugs, nicht ohne Weiteres
abgebildet werden können. Bisherige Arbeiten zur Analyse von Verkehrssitua-
15 Deutlich einfacher ist die Berücksichtigung tionen berücksichtigen ausschließlich Verkehrsteil-
des Situationsbewusstseins bei Verwendung von nehmer, die in irgendeiner Form sensorisch erfasst
generativen Methoden zur Fahrerabsichtserken- wurden. Tatsächlich ist es jedoch so, dass sich aus
16 nung. Insbesondere BNs und DBNs sind aufgrund dem Verhalten von beobachteten Verkehrsteilneh-
ihrer Modularisierbarkeit, der Möglichkeit der mern teilweise auf die Existenz nicht beobachteter
17 Verwendung von Fahrerverhaltensmodellen und Verkehrsteilnehmer schließen lässt. Ein Beispiel
ihrer Flexibilität hinsichtlich der zu bewertenden ist in . Abb. 39.8 dargestellt: Aus dem Warten des
Hypothesen sehr gut geeignet, den Einfluss anderer grauen Fahrzeugs direkt vor dem Radweg lässt sich
18 Verkehrsteilnehmer bei vorhandenem Situations- mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Herannahen
bewusstsein des Fahrers auf die zu erwartenden von Fußgängern oder Radfahrern schließen. Unter
39 Beobachtungen abzubilden. In [87] wurde hierfür Berücksichtigung der Tatsache, dass die Umfelder-
beispielsweise zwischen der Absicht, rechts abzu- fassung des roten Fahrzeugs nach links freie Sicht
20 biegen, und der Absicht, dabei vor dem Radweg hat und von dort offensichtlich nichts kommt – und
anzuhalten, unterschieden. Allerdings wird hier- das graue Fahrzeug sicher nicht auf einen langsa-
39.6  •  Berücksichtigung des Situationsbewusstseins
715 39

nur deshalb abbremst, weil er nicht weiß, ob die


Vorfahrtsstraße (respektive der zugehörige Halte-
punkt) gerade frei ist.
Neben der Modellierung von tatsächlicher Bele-
gung und vom Fahrer wahrgenommener Belegung
der zu einem Haltepunkt gehörenden Zufahrten ist
es somit auch erforderlich, die Zuversicht des Fah-
rers im Hinblick auf die Richtigkeit seiner Einschät-
zung zu modellieren.
.. Abb. 39.8  Detektion nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer
aus dem Verständnis der Verkehrssituation heraus

men Fußgänger von rechts warten wird, der sich 39.6.4 Vorhersage des weiteren
aktuell noch hinter der Sichtverdeckung befindet Verkehrsgeschehens
– könnte sogar direkt auf das Herannahen eines
Radfahrers von rechts geschlossen werden. In bei- Neben der Fahrerabsicht hat die Interaktion mit an-
den Fällen kann im roten Fahrzeug eine mehr oder deren Verkehrsteilnehmern einen entscheidenden
weniger spezifische Warnung beim Heranfahren an Einfluss auf die zukünftige Trajektorie des Fahr-
die Kreuzung ausgegeben werden. zeugs: Die Schwierigkeit besteht hierbei vor allem
Da der Radfahrer selbst nicht beobachtet wird, darin, die Kombinatorik der möglichen weiteren
ist für die technische Umsetzung der oben be- Entwicklungen der aktuellen Verkehrssituation in
schriebenen Inferenz eine anderweitige Beschrei- den Griff zu bekommen. Entsprechende Ansätze
bung möglicher Interaktionen zwischen Verkehr- wurden in ▶ Abschn. 39.3 beschrieben. Im Gegen-
steilnehmern beim Rechtsabbiegen erforderlich satz zu den bisher betrachteten Methoden der Tra-
– beispielsweise in Form von in der digitalen Karte jektorienprädiktion ergibt sich durch die Modellie-
hinterlegten Kontextinformationen. In diesem Fall rung des Situationsbewusstseins des Fahrers jedoch
könnten die in . Abb. 39.7 dargestellten Zufahrten ein deutlich größerer Zustandsraum: Theoretisch
durch Zufallsgrößen repräsentiert werden: Diese könnte der Fahrer zu jedem Zeitpunkt neues Wissen
nehmen jeweils die Werte frei oder belegt an, wäh- über seine Umgebung erlangen. Um die Komplexi-
rend der zugehörige Haltepunkt nur durchfahren tät der Vorhersage zu begrenzen, kann zum Zwecke
wird, wenn der Fahrer glaubt, dass beide Zufahrten der Risikobewertung vereinfachend angenommen
frei sind. werden, dass der Fahrer sein aktuelles Situations-
bewusstsein über den gesamten Vorhersagehorizont
hinweg beibehält. Dies scheint angebracht, da die
39.6.3 Verbesserung Entscheidung über die Notwendigkeit der Warnung
der Fahrerabsichtserkennung ohnehin zu einem Zeitpunkt erfolgt, bei dem der
Fahrer das entsprechende Situationsbewusstsein
Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene bereits haben oder spätestens – in Form einer War-
Modellierung des Anhaltegrunds für den Fahrer nung – erlangen sollte.
des grauen Fahrzeug kann gleichzeitig auch zur Er- Ein besonders einfaches Beispiel stellt hierbei
kennung von dessen Abbiegeabsicht herangezogen die Vorhersage von Anfahrvorgängen dar: Ist der
werden: Würde er geradeaus fahren wollen, gäbe es Grund des Anhaltens bekannt, kann natürlich
keinen plausiblen Grund für das Anhalten. auch vorhergesagt werden, wann dieser Grund
Etwas komplizierter ist die Situation bei der voraussichtlich nicht mehr gegeben ist. In der in
Annäherung an eine Vorfahrtsstraße: In diesem . Abb. 39.9 dargestellten Situation wartet der Fah-
Fall kann aus dem Verzögern des Fahrers weder rer des roten Fahrzeugs auf das Fahrzeug von rechts,
auf eine Abbiegeabsicht noch auf die Existenz um nach diesem links in die Vorfahrtsstraße einzu-
von vorfahrtsberechtigten Fahrzeugen geschlos- biegen. Hierbei besteht aufgrund der Blickrichtung
sen werden, da der Fahrer wahrscheinlich einfach des Fahrers eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er
716 Kapitel 39  •  Fahrerabsichtserkennung und Risikobewertung

1 - Obwohl diskriminative Verfahren bei der


Erkennung einzelner Manöver sehr gute
Ergebnisse zeigen, haben sie aufgrund der
2 fehlenden Modularisierbarkeit des zugrunde
liegenden probabilistischen Modells Schwie-
rigkeiten, mehrere alternative Manöver, nur
3 teilweise beobachtete Eingangsgrößen oder die
Interaktion zwischen Verkehrsteilnehmern zu
4
5
.. Abb. 39.9  Vorhersage des Anfahrzeitpunkts auf Basis des
Situationsbewusstseins - berücksichtigen.
Generative Ansätze unterliegen diesem Problem
nur dann, wenn sie als „Black Box“ zum An-
lernen ganzer Manövermodelle (bspw. HMMs)
das von links kommende Fahrzeug nicht wahrge- verwendet werden. Insbesondere BNs und
6 nommen hat. Solange der Fahrer noch auf das Fahr- DBNs haben den Vorteil einer sehr guten Wie-
zeug von rechts wartet, ist dies prinzipiell egal und derverwendbarkeit von Teilmodellen, die der
7 sollte daher auch nicht zu einer Warnung führen. Berücksichtigung von Interaktion zwischen Ver-
Andererseits ist es aufgrund der Reaktionszeit des kehrsteilnehmern entgegenkommt. In der Regel
Fahrers nicht möglich, mit dem Ausgeben der War- wird diese mit DBNs modelliert, allerdings

-
8 nung bis zur Betätigung des Gaspedals zu warten. existieren hierzu bisher nur wenige Arbeiten.
Abhilfe schafft hier nur die Berücksichtigung der Durch die Verwendung von Fahrerverhal-
9 Tatsache, dass der voraussichtliche Anfahrzeitpunkt tensmodellen [54] kann darüber hinaus dem
anhand der Trajektorie des von rechts kommenden Einfluss der tatsächlichen Verkehrssituation
10 Fahrzeugs abgeschätzt werden kann. auf das Fahrerverhalten Rechnung getragen
werden: Insbesondere kann somit die konkrete
Kreuzungsgeometrie berücksichtigt und das
11 39.7 Zusammenfassung Aufeinanderfolgen mehrerer Manöver vor-
und Ausblick hergesagt werden. Auch eine Unterscheidung
12 zwischen mehreren Manövern gleichen Typs
Im Hinblick auf die in ▶ Abschn. 39.1 definierte – beispielsweise bei mehreren unmittelbar
Problemstellung der Fahrerabsichtserkennung las- aufeinanderfolgenden Abbiegemöglichkeiten –
13 sen sich folgende Erkenntnisse aus dem Stand der wird hierdurch ermöglicht.

14
15
-
Technik festhalten:
Eine sinnvolle Risikobewertung für warnende
Fahrerassistenzsysteme ist in vielen Verkehrs-
situationen nur auf Basis der Fahrerabsicht
Im Gegensatz zur Fahrerabsicht wurde das Situati-
onsbewusstsein des Fahrers bisher nur selten mo-
delliert. In der Regel wird davon ausgegangen, dass
möglich, da das Steuerverhalten des Fahrers der Fahrer potenzielle Konfliktpartner übersieht, so
innerhalb des angestrebten Prädiktionshori- dass bei gegebener Manöverabsicht stets eine War-
16 zonts von 2 bis 3 Sekunden einen erheblichen nung ausgegeben wird. Wie in ▶ Abschn. 39.6 ge-
Einfluss auf die weitere Trajektorie des Fahr- zeigt wurde, hat die explizite Modellierung des Situ-
17 zeugs hat. Bei der direkten Risikobewertung ationsbewusstseins jedoch ein erhebliches Potenzial
durch wissensbasierte Verfahren besteht das in Bezug auf die Vermeidung unnötiger Warnungen,
Problem, dass das weitere Geschehen in in- der Detektion nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer,
18 nerstädtischen Verkehrssituationen von einer der Verbesserung der Fahrerabsichtserkennung
Vielzahl von Einflüssen abhängt. Diese abzu- und der Vorhersage des weiteren Verkehrsgesche-
39 bilden wäre nur auf Basis einer unrealistisch hens. Gerade vor dem Hintergrund einer rapiden
großen Menge von Trainingsdaten möglich Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen sollte
20 und insbesondere von Unfallsituationen wären dieses Gebiet in zukünftigen Forschungsarbeiten
kaum reale Daten verfügbar. daher weiter vertieft werden.
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721 VIII

Fahrerassistenz auf
Stabilisierungsebene
Kapitel 40 Bremsenbasierte Assistenzfunktionen – 723
Anton van Zanten, Friedrich Kost

Kapitel 41 Fahrdynamikregelung mit Brems-


und Lenkeingriff – 755
Thomas Raste

Kapitel 42 Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder  –  767


Kai Schröter, Raphael Pleß, Patrick Seiniger

Kapitel 43 Stabilisierungsassistenz­funktionen
im Nutzfahrzeug – 795
Falk Hecker
723 40

Bremsenbasierte
Assistenzfunktionen
Anton van Zanten, Friedrich Kost

40.1 Einleitung – 724
40.2 Grundlagen der Fahrdynamik  –  724
40.3 ABS, ASR und MSR  –  727
40.4 ESP – 730
40.5 Mehrwertfunktionen – 740
40.6 Ausblick – 753
Literatur – 753

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724 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

40.1 Einleitung
21
Im täglichen Verkehr verhält sich das Fahrzeug auf
22 griffiger Fahrbahn meistens linear: Die Querbe-
schleunigung ist selten größer als 0,3 g, die Längsbe-
23 schleunigung und die Längsverzögerung sind ebenso
selten größer als 0,3 g. Damit sind die Beträge der
Schräglauf- und Schwimmwinkel selten größer als 2°
24 und der Schlupfbetrag selten größer als 2 %. In diesen
Bereichen verhalten sich Reifen und Fahrzeug linear.
25 Gerät das Fahrzeug in den physikalischen Grenzbe-
reich, so verhält es sich nichtlinear und kann sogar .. Abb. 40.1  Schleuderndes Fahrzeug auf trockener Asphalt-
instabil werden. Bei blockierten oder durchdrehen- fahrbahn
26 den Rädern lässt sich das Fahrverhalten nicht mehr wobei µB(λ) der schlupfabhängige Reifenreibwert,
beeinflussen. Erreicht z. B. die Hinterachse den maxi- λ der Bremsschlupf und FN die Radlast ist. Vor der
27 malen Seitenreibwert vor der Vorderachse, kann das Bremsung dreht sich das Rad mit der frei rollenden
Fahrzeug ins Schleudern geraten (. Abb. 40.1). ABS, Radgeschwindigkeit vR,frei, welche gleich der Längs-
28 ASR und ESP sind Systeme, die dafür sorgen, dass
das Fahrzeug bei extremen Brems-, Antriebs- und
geschwindigkeit des Radmittelpunkts ist. Während
der Bremsung dreht sich das Rad mit der Geschwin-
Lenkvorgängen beherrschbar bleibt. Diese Systeme digkeit vR  = r · ωR, wobei r der Radius und ωR die
29 sind in diesem Sinne weniger als Fahrerassistenzsys- Winkelgeschwindigkeit des Rades ist. Der Brems-
teme, sondern eher als Fahrzeugassistenzsysteme zu schlupf ist definiert als λ = ((vR,frei – vR)/vR,frei) · 100 %.
30 verstehen, da sie dem Fahrzeug dabei helfen, kont- Das Moment MR  = FB · r, das die Fahrbahn auf das
rollierbar zu bleiben, wohingegen Fahrerassistenz- Rad ausübt, wird Fahrbahnmoment genannt. Zwi-
systeme den Fahrer dabei unterstützen, die Lenk-, schen dem Radschlupf und der Bremskraft bzw.
31 Vortriebs- und Bremsvorgaben richtig zu dosieren dem Bremsreibwert besteht ein nichtlinearer Zu-
und zu koordinieren. sammenhang, der im stationären Bereich als Rei-
32 fenschlupfkurve bezeichnet wird (. Abb. 40.2).
Wirkt eine Seitenkraft auf ein frei rollendes Rad,
40.2 Grundlagen der Fahrdynamik
33 so bewegt sich der Radmittelpunkt seitwärts. Der
Winkel zwischen dem Radgeschwindigkeitsvektor
40.2.1 Stationäres und instationäres vFRad und der Radmittelfläche wird Schräglaufwin-
34 Reifen- und Fahrverhalten kel α genannt. Auf das Rad wird von der Fahrbahn
eine Seitenkraft FS in entgegengesetzter Richtung
35 In diesem Abschnitt sollen das Fahrverhalten im ausgeübt. Das Verhältnis zwischen der Seitenkraft
linearen und nichtlinearen Bereich behandelt wer- FS und der Aufstandskraft FN wird als Seitenreib-
den; dies nicht im vollen Umfang, sondern nur in wert µS = FS / FN bezeichnet. Zwischen dem Schräg-
36 einem Maße, in dem es für das Verständnis der Re- laufwinkel α und dem Seitenreibwert µS besteht ein
gelsysteme benötigt wird. Das Fahrverhalten wird ähnlicher Zusammenhang wie zwischen Schlupf
37 hauptsächlich von den Kräften zwischen Reifen und Bremsreibwert. Dieser Zusammenhang wird
und Fahrbahn bestimmt. Deshalb ist die Betrach- Schräglaufkurve genannt.
38 tung des Reifenverhaltens unumgänglich. Da das Wird ein Rad gebremst, so wird die Seitenkraft
Schwingungsverhalten der Regelstrecke einen gro- bzw. der Seitenreibwert (µS = FS / FN) kleiner. Ebenso
ßen Einfluss auf die Auslegung des Reglers hat, wird wird der Bremsreibwert durch Seitenkräfte reduziert.
39 hier auch das instationäre Verhalten des Fahrzeugs Der Zusammenhang zwischen dem Seitenreibwert
betrachtet. und dem Reifenschlupf ist in . Abb. 40.2 dargestellt.
40 Wird das Rad mit dem Bremsmoment MB ab- Wird ein Fahrzeug mit kleinen Lenkwinkeln
gebremst, entsteht eine Bremskraft FB  = µB(λ) · FN, auf griffiger Fahrbahn gelenkt, so verhält sich das
40.2  •  Grundlagen der Fahrdynamik
725 40

.. Abb. 40.2  Schlupfkurve bei verschiedenen Schräglaufwin- .. Abb. 40.3 Einspurmodell


keln und Abhängigkeit des Seitenreibwerts vom Schlupf

Fahrzeug nahezu linear. Zur Beschreibung des Da jedoch die Schräglaufsteifigkeiten fast pro-
Fahrverhaltens im linearen Bereich wird die Gier- portional von der Fahrzeugmasse und von der
geschwindigkeit in Abhängigkeit vom Lenkwinkel Schwerpunktslage abhängen, ist die charakteristi-
herangezogen. Dazu wird ein lineares Einspur- sche Geschwindigkeit nahezu unabhängig von der
modell im eingeschwungenen Zustand verwendet Fahrzeugmasse sowie von der Schwerpunktslage.
(. Abb. 40.3), bei dem die Reifenseitenkräfte pro- Aus diesem Grund verhält sich die charakteristi-
portional zu den Schräglaufwinkeln sind [2]. Die- sche Geschwindigkeit auch nahezu unabhängig
ses Modell bietet eine Grundlage, mit der Fahrdy- zur Zuladung und zur Ladungsverteilung. Wenn
namikregelsysteme die Sollgiergeschwindigkeit des vch positiv ist, nennt man das Fahrverhalten unter-
Fahrzeugs bestimmen. steuernd. Ist vch unendlich, wird das Fahrverhal-
Im eingeschwungenen Zustand ist die Gierge- ten als neutral, ist vch imaginär, als übersteuernd
schwindigkeit proportional zum Lenkwinkel bezeichnet.
Aus der Überlegung, dass die Querbeschleu-
P D vX  ı
 2
(40.1) nigung durch den Reibwert der Fahrbahn in
vX
.lV C lH /  1 C 2 Fahrzeugquerrichtung begrenzt wird, folgt eine
vch
physikalische Begrenzung der stationären Gierge-
Die charakteristische Geschwindigkeit vch be- schwindigkeit.
schreibt das Eigenlenkverhalten des Fahrzeugs und 2
vX S;max
ist, zunächst betrachtet, von den wirksamen Schräg- kaY k D k k D k P  vX k  S;max ; k P k  k k(40.3)
R vX
laufsteifigkeiten an der Vorderachse c’αV und an der
Hinterachse c’αH , vom Radstand l = lV + lH, von der Hierbei ist R der Kurvenradius, µS,max ist der Ma-
Fahrzeugmasse m sowie von der Schwerpunktslage ximalwert des Seitenreibwerts des Fahrzeugs. Die
lV, lH abhängig. Bei den wirksamen Schräglaufsteifig- Giergeschwindigkeit als Funktion von der Fahr-
keiten sind sowohl die Reifenschräglaufsteifigkeiten geschwindigkeit gemäß den Gleichungen (40.1)
als auch die Elastizitäten in der Radaufhängung und und (40.3) ist für verschiedene Lenkradwinkel in
im Lenkstrang zu berücksichtigen. . Abb. 40.4a beispielhaft dargestellt. Auch sind
Kurven gleicher Querbeschleunigung (Hyperbel)
eingezeichnet. Erreicht die Querbeschleunigung
s
c˛0 V  c˛0 H
 
1
vch D l   (40.2) den maximalen Wert des Seitenreibwerts des Fahr-
m lH  c˛0 H  lV  c˛0 V
zeugs (in . Abb. 40.4a ca. 0,775 g), so nimmt die
726 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

.. Abb. 40.4 Giergeschwin-
21 digkeit und Gierverstärkung als
Funktion von der Fahrgeschwin-
digkeit und vom Fahrbahn-
22 reibwert für verschiedene
Lenkradwinkel

23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33 Giergeschwindigkeit entsprechend der Gleichung
(40.3) ab.
hilfe des einfachen linearen Einspurmodells für die
Gier- und Querbewegung erklärt werden [6].
Die entsprechende Gierverstärkung ist in
34 . Abb. 40.4b dargestellt, wobei die Gierverstärkung
wie folgt definiert ist 40.2.2 Kenngrößen der Fahrdynamik
35
P vX Zur Bewertung der Fahrdynamik werden Fahrma-
D (40.4) növer definiert. Das Fahrverhalten wird dann so-
36 2

ı .lV C lH /  1 C
vX
2
vch wohl objektiv als auch subjektiv beurteilt [6].
Für die objektive Bewertung des ABS gibt es
37 Plötzliche Lenkwinkeländerungen können Schwin- bereits eine Reihe von ISO-Richtlinien, wie z. B.:
gungen in der Giergeschwindigkeit verursachen. „ISO 7975 (1996): Passenger cars – Braking in a
38 . Abbildung 40.5 zeigt den Verlauf der Giergeschwin- turn – Open-loop test procedure“. In Deutschland
digkeit nach einem Lenkwinkelsprung, gemessen in wird der Bremsweg meist auf gerader griffiger Fahr-
einem Mittelklasse-Fronttriebler. In den Messungen bahn aus mehreren Vollbremsungen mit 100 km/h
39 (. Abb. 40.5) sind die Schwingungen von ca. 0,6 Hz Anfangsgeschwindigkeit ermittelt. Dabei werden oft
in der Giergeschwindigkeit deutlich ersichtlich, wo- Messungen mit warmen und kalten Bremsen durch-
40 bei die Schwingungsdämpfung bei höheren Fahrge- geführt. Für die Bewertung des Bremsens auf µ-Split
schwindigkeiten geringer ist. Dies kann bereits mit- hat das Magazin „auto motor und sport“ ein Punk-
40.3  •  ABS, ASR und MSR
727 40

.. Abb. 40.5  Giergeschwindigkeitsverlauf (a) nach einem Lenkradwinkelsprung von 121° bei einer Fahrgeschwindigkeit von
28 m/s und (b) nach einem Lenkradwinkelsprung von 100° bei einer Fahrgeschwindigkeit von 37 m/s. Messbereiche: Zeit: 0 –
8 s, Fahrgeschwindigkeit: –50 – 50 m/s, Lenkradwinkel: –145° – 145°, Giergeschwindigkeit: –1 – 1 rad/s, Querbeschleunigung:
–20 – 20 m/s2.

tesystem eingeführt, in dem sowohl der Bremsweg 40.3 ABS, ASR und MSR
als auch die Stabilität berücksichtigt werden.
In den USA, wo ESP ab September 2011 Pflicht 40.3.1 Regelkonzepte
für alle Pkw und leichten Nutzfahrzeuge ist (FMVSS
126), sind einige Standardmanöver zur objektiven Zur Sicherstellung der Stabilität und Lenkbarkeit bei
Bewertung von Fahrzeugen mit ESP definiert, wo- allen Fahrbahnbeschaffenheiten muss ABS in jedem
bei die Ergebnisse des Manövers „Sine with Dwell“ Fall das Blockieren der Räder bei einer Bremsung
vorgeschriebene Mindestanforderungen erfüllen verhindern. Aus wirtschaftlichen Gründen wird
müssen (. Abb. 40.6). die Fahrzeuggeschwindigkeit nicht gemessen, so-
Das Testmanöver ist definiert für eine hori- dass die frei rollende Radgeschwindigkeit und damit
zontale, trockene, ebene und feste Fahrbahn, bei der Schlupf nicht berechnet werden können. Aus
80 km/h, µ = 0,9 (bei 64,4 km/h), Standardgewicht, diesem Grund kann das Regelkonzept nicht auf ei-
Reifen, mit denen das Fahrzeug ausgeliefert wird, ner Schlupfregelung basieren. Stattdessen beruht es
„Sine with Dwell“ (Frequenz 0,7 Hz, 500 ms Hal- auf einer Art Beschleunigungsregelung, wobei die
tephase), Steigerung der Lenkradwinkelamplitude Beschleunigungssollwerte so gewählt werden, dass
um 0,5 Amplitudenvielfaches bis zum 6,5-fachen der Schlupf in der Nähe vom Optimum der Schlupf-
bzw. bis zu einer Lenkradwinkelamplitude von kurve bleibt. Dieses Regelkonzept wird auch als Op-
270°. Dabei wird die Basisamplitude definiert als timizerprinzip bezeichnet.
der Wert des Lenkradwinkels, der bei stationärer Zur Beschreibung der Regelfunktion ist in
Kreisfahrt eine Querbeschleunigung von 0,3 g er- . Abb. 40.7 der Anfang einer ABS-Bremsung ver-
gibt. Das Fahrzeug gilt als stabil, wenn 1  s nach einfacht dargestellt [3]. In Phase 1 wird der Brems-
Ablauf der Anregung die Giergeschwindigkeit druckanstieg gezeigt, so wie er vom Fahrer über
kleiner als 35 % und nach 1,75 s kleiner als 20 % das Bremspedal vorgegeben wird. Das Rad verzö-
des Maximalwerts nach dem ersten Nulldurch- gert unter dem Einfluss des Bremsmoments. Wenn
gang des Lenkwinkels ist („Spin Out“ Kriterium die Radbeschleunigung den Wert –a erreicht hat,
des NHTSA). Der Spurversatz muss ab 1,07 s nach wird die weitere Erhöhung des Bremsdrucks in
Lenkanfang mindestens 1,83 m betragen für Fahr- der Radbremse unterbunden und der Bremsdruck
zeuge bis 3500 kg Gesamtgewicht bzw. 1,52 m für konstant gehalten. Der Bremsdruck wird noch
schwerere Fahrzeuge. nicht reduziert, da z. B. durch Achsbewegungen,
728 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21
22
23
24
25
.. Abb. 40.6  Mindestanforderungen für ESP definiert von
26 der NHTSA

27 die vor allem am Anfang der Bremsung groß sind,


.. Abb. 40.7  Regelkonzept am Anfang einer ABS-Regelung

eine Scheinverzögerung vorgetäuscht wird, welche der Schlupfkurve zu halten – erhöht, und der Zyk-
28 noch nichts mit dem Erreichen des Maximums der
Schlupfkurve zu tun hat. Der Druck wird erst dann
lus wiederholt sich. Der erste Druckpuls ist varia-
bel und kann vom Regler vergrößert werden, um
abgebaut, wenn die Radgeschwindigkeit vR deutlich den Schlupf schnell in die Nähe des Maximums zu
29 kleiner geworden ist. Dazu wird ein Hilfssignal, die bewegen. Man spricht bei der ABS-Regelung von
Referenzgeschwindigkeit vRef, gebildet. Diese folgt Logik wegen ihres logischen Charakters mit vielen
30 am Anfang der Bremsung der Radgeschwindigkeit, Schwellenabfragen.
bis die Beschleunigungsschwelle –a erreicht wird. Auch bei durchdrehenden Rädern geht die Füh-
Danach wird die Referenzgeschwindigkeit mit einer rungsfähigkeit des Reifens wie bei blockierten Rä-
31 bestimmten Steigung extrapoliert (anfangs –0,3 g). dern verloren. ASR, die Antriebsschlupfregelung,
Sobald die Radgeschwindigkeit die Referenzge- soll deshalb das Durchdrehen der Räder durch Re-
32 schwindigkeit um eine bestimmte Schwelle λ1 un- duktion des Motormoments und – falls erforderlich
terschreitet, wird der Bremsdruck abgebaut. Mit der – durch Bremsung der angetriebenen Räder verhin-
33 Referenzgeschwindigkeit soll die Radgeschwindig-
keit nachgebildet werden, bei der die Schlupfkurve
dern. Dabei gelten die selben Zusammenhänge zwi-
schen Reifenschlupf und Reifenkräften, wie bereits
ihr Maximum hat. für ABS beschrieben wurde.
34 Der Bremsdruck wird in Phase 3 so lange ab- ASR kann das Regelkonzept von ABS (Regelung
gebaut, bis die Radbeschleunigung wieder größer auf Basis der Radbeschleunigung) nicht überneh-
35 als –a geworden ist. Danach wird in Phase 4 der men. Der Grund hierfür ist zum einen, dass durch
Bremsdruck konstant gehalten, und es entsteht eine die große Trägheit der angetriebenen Räder beim
positive Beschleunigung. In Phase 5 überschreitet eingekuppelten Motor, vor allem in den niedrigen
36 die Beschleunigung die sehr große Schwelle +A; Gängen, das Radverhalten im stabilen und im in-
die Druckhaltephase wird deshalb abgebrochen stabilen Bereich der Schlupfkurve sehr ähnlich ist.
37 und der Bremsdruck so lange aufgebaut, bis diese Zudem ist das Antriebsmoment im Gegensatz zum
Schwelle wieder unterschritten wird. Danach wird Bremsmoment sehr von der Geschwindigkeit der
38 die Druckhaltephase weiter fortgesetzt. In Phase 6 Raddrehung abhängig. Deshalb muss für ASR ein
wird der Druck so lange konstant gehalten, bis die anderes Regelkonzept gefunden werden. Beim ASR
Beschleunigung unterhalb des Werts +a abgefallen ist eine Schlupfregelung möglich, denn es können
39 ist: Der Schlupf hat nun fast einen Punkt auf dem die Geschwindigkeiten der nicht angetriebenen
stabilen Ast der Schlupfkurve erreicht. Der Brems- Räder zur Messung der Fahrgeschwindigkeit he-
40 druck wird wiederum – nun gepulst und langsam, rangezogen werden. Für Allradfahrzeuge entfällt
um den Schlupf lange in der Nähe vom Maximum diese Möglichkeit. Für diese musste deshalb auf den
40.3  •  ABS, ASR und MSR
729 40

Motoreingriff verzichtet werden, und es konnte nur


eine Traktionshilfe angeboten werden. Erst mit der
Einführung des ESP, bei dem die Fahrgeschwindig-
keit in jeder Fahrsituation geschätzt wird, wurde ein
vollwertiges ASR für diese Fahrzeuge möglich.
Im Fall von ASR kann man grundsätzlich zwi-
schen der Schlupfregelung bei Geradeausfahrt auf
homogener Fahrbahn und sonstigen Fahrmanövern
unterscheiden. Bei Geradeausfahrt auf homogener
Fahrbahn ist die maximale Antriebskraft an den
angetriebenen Rädern gleich. Übersteigt das Mo-
tormoment das auf die Fahrbahn übertragbare Mo-
ment, so drehen beide Antriebsräder durch. ASR
verhindert das Durchdrehen durch Reduzierung
des Motormoments. Dies geschieht bei Benzinmo- .. Abb. 40.8  ASR-Traktionsregelung auf inhomogener
toren durch Reduktion des Drosselklappenwinkels Fahrbahn
und bei Dieselmotoren durch Zurücknahme des
Verstellhebelwegs der Dieseleinspritzpumpe. dann ein und erhöht das Motormoment, sodass der
Bei inhomogener Fahrbahn dreht zunächst nur Schlupf reduziert wird. Eine weitere Detaillierung
das Rad auf dem niedrigen Reibwert (µl) durch des ASR und MSR findet sich im Abschnitt ESP.
(. Abb. 40.8). Die Antriebskräfte am linken und Das Ziel der elektronischen Bremskraftver-
rechten Rad sind entsprechend dem niedrigen teilung (EBV) ist der Ersatz von herkömmlichen
Reibwert beide gleich klein (Fl). Damit das Rad auf mechanischen Bremskraftverteilern durch eine Zu-
dem hohen Reibwert (µh) größere Antriebskräfte satzfunktion des ABS bzw. ASR und ESP. Bei einer
übertragen kann (Fh), wird das Rad auf dem nied- installierten Bremskraftverteilung mit festem Ver-
rigen Reibwert abgebremst, zunächst ohne dass das hältnis zwischen Bremskraft an der Vorderachse zu
Motormoment vom ASR reduziert wird. Dabei wird Bremskraft an der Hinterachse muss das Verhältnis
der Bremsdruck so geregelt, dass sich das durch- so gewählt werden, dass die Vorderachse vor der
drehende Rad nur wenig schneller dreht als das Hinterachse blockiert. Gemäß der ECE13-Richtli-
andere angetriebene Rad. Erst wenn das Rad auf nie ist dies bis zu einer Verzögerung von 0,85 g zu
dem hohen Reibwert auch durchzudrehen beginnt, gewährleisten. Dadurch ist bis zu dieser Verzöge-
reduziert ASR das Motormoment. Durch die Dif- rung der in Anspruch genommene Reibwert an der
ferenzgeschwindigkeit unter hoher Last wird das Hinterachse geringer als der an der Vorderachse.
Differenzial stark belastet. Die ASR-Regelung muss Ideal wird eine Bremskraftverteilung zwischen den
feinfühlig genug geschehen, um Beschädigungen Rädern an der Vorderachse und denen an der Hin-
am Differenzial zu vermeiden. terachse genannt, wenn der Reibwert an der Vor-
Durch die Möglichkeit, auf die Motorleistung derachse gleich dem der Hinterachse ist. Mit dem
Einfluss zu nehmen, hat das ASR auch die Möglich- festen Verhältnis zwischen den Bremsmomenten
keit geliefert, den Bremsbereich um einen zusätzli- an der Vorderachse zu denen an der Hinterachse
chen Eingriff zu erweitern. Es geht hier um die so ist man von dieser idealen Verteilung weit entfernt.
genannte Motor-Schleppmomentregelung (MSR). Mechanische Systeme, welche den Bremsdruck
Wird das Gaspedal losgelassen (der so genannte an der Hinterachse in Abhängigkeit von dem
Lastwechsel), so bremsen die angetriebenen Räder Bremsdruck an der Vorderachse beeinflussen, um
das Fahrzeug durch das Motorschleppmoment ab der idealen Verteilung näher zu kommen, bringen
(Motorbremse). Auf glatten Fahrbahnen kann da- hier eine Verbesserung. Zum Teil werden aufwän-
durch der Schlupf an den angetriebenen Rädern dige Komponenten eingesetzt, um diesem Ideal
sehr groß werden und die Seitenführung wiede- so nah wie möglich zu kommen. Durch Alterung,
rum größtenteils verloren gehen. Die MSR greift Korrosion und andere Einflüsse auf die Funktion
730 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

der Komponenten lässt aber die Güte der Brems- ximalen Längskräften für den kürzesten Bremsweg
21 kraftverteilung im Laufe des Fahrzeugalters nach. und maximalen Querkräften für die Spurstabilität
Abhilfe schafft die elektronische Bremskraftvertei- eingegangen werden muss. Bei einem frei rollenden
22 lung. . Abbildung 40.9 zeigt beispielhaft das Prin- Fahrzeug ist ein Kompromiss zwischen Lenkfähig-
zip des EBV, wobei der Schnittpunkt der festen keit und Stabilität einerseits und unerwünschter
23 Bremskraftverteilung mit der idealen Bremskraft-
verteilung bei 0,5 g gewählt wurde. Das ABS wird
Fahrzeugverzögerung andererseits erforderlich.

benutzt, um die Raddrehung an der Hinterachse bei Die Anforderungen an ABS und ASR gelten auch
24 einer Geradeausbremsung der Raddrehung an der für ESP. Weitergehende Anforderungen an ESP
Vorderachse anzugleichen. sind, wie oben erläutert, eher beschreibender Natur
25 Dabei sollen die Hinterräder nicht langsamer und beziehen sich auch auf die genannten Kompro-
drehen als die Vorderräder. Bei gleicher Drehge- misse [4].
schwindigkeit der Räder ist der Bremsreibwert der
26 Reifen annähernd gleich. Unterschreitet die Dreh-
zahl der Räder an der Hinterachse die an der Vor- 40.4.2 Eingesetzte Sensoren
27 derachse um einen bestimmten geschwindigkeits-
abhängigen ersten Betrag, so wird der Druck an der Zur Erfassung des Fahrzustands werden kosten-
28 Hinterachse nicht weiter erhöht. Überschreitet die
Drehzahldifferenz einen zweiten, größeren Betrag,
günstige, fahrzeugtaugliche Sensoren eingesetzt.
Diese sind ein Drehratensensor zur Erfassung der
wird der Druck an der Hinterachse sogar reduziert, Giergeschwindigkeit und ein Beschleunigungssen-
29 und zwar so lange, bis die Drehzahldifferenz wieder sor zur Erfassung der Querbeschleunigung. Zur
kleiner als der zweite Betrag ist. Nimmt die Dreh- Prüfung, ob der Fahrzustand zum Fahrerwunsch
30 zahldifferenz weiter ab, so wird beim Unterschrei- passt, werden bei ESP ein Winkelsensor zur Erfas-
ten des ersten Betrags der Druck an der Hinterachse sung des Lenkradwinkels und ein Drucksensor zur
wieder stufenweise aufgebaut. Am Bremspedal ist Erfassung des Bremsdrucks im Hauptbremszylinder
31 die EBV-Funktion leicht spürbar, jedoch ist bei nor- eingesetzt. Weiterhin werden die für ABS und ASR
malen Bremsungen (bis 0,3 g) die EBV nicht aktiv, üblichen Radsensoren zur Erfassung der Drehge-
32 und es gibt keine Pedalrückwirkungen. schwindigkeiten der Räder verwendet. Für eine
Im Fehlerfall wird der Ausfall der EBV-Funk- Beschreibung der Sensoren sei hier auf das Kapitel
33 tion durch das Aufleuchten der EBV-Warnlampe
angezeigt, wenn eine Fahrzeugmindestverzögerung
"Fahrdynamik-Sensoren für FAS" im Buch verwie-
sen (Kap. 15).
von 8,5 m/s2 nicht mehr blockierfrei erreicht wer-
34 den kann.
40.4.3 Regelkonzept des ESP
35
40.4 ESP ESP wurde auf der Basis von ABS und ASR ent-
wickelt, mit denen die Radbremsdrücke und das
36 40.4.1 Anforderungen Motormoment individuell moduliert werden kön-
nen. Das Konzept des ESP baut auf die Eigenschaft
37 Die Anforderungen an das ESP beziehen sich auf des Reifens, den Seitenreibwert über den Schlupf
das Fahrverhalten im querdynamischen Grenzbe- λ verändern zu können (. Abb. 40.2). Damit ist
38 reich. Das Fahrverhalten wird von Experten sub- auch die Querdynamik des Fahrzeugs über die Rei-
jektiv beurteilt, und die ESP-Abstimmung ist damit fenschlupfwerte beeinflussbar. Aus diesem Grund
personen- und firmenabhängig. Eine Korrelation wurde beim ESP der Schlupf als fahrdynamische
39 zu einer objektiven Beurteilung gibt es kaum. Im Regelgröße gewählt [5]. Grundsätzlich lässt sich
Grenzbereich können die Reifenkräfte nicht mehr das Giermoment auf das Fahrzeug über die Schlupf-
40 erhöht werden, sodass z. B. bei einer Vollbremsung werte der vier Reifen beeinflussen. Allerdings be-
ein Kompromiss zwischen den Wünschen nach ma- deutet eine Schlupfänderung an einem Reifen im
40.4 • ESP
731 40

.. Abb. 40.9  Prinzip der Elektronischen Bremskraftverteilung


EBV

Allgemeinen auch eine Änderung in der Längskraft


am Reifen und damit eine zunächst nicht beabsich-
tigte Änderung in der Fahrzeugbeschleunigung.
Die Wirkung einer Schlupfänderung ist eine .. Abb. 40.10  Drehung der resultierenden Reifenkraft Fres
durch Schlupfänderung von 0 auf λ0
Drehung der resultierenden Kraft zwischen Reifen
und Fahrbahn. Dies ist in . Abb. 40.10 verdeutlicht.
Gezeigt wird das Fahrzeug bei einer Kurvenfahrt im entsteht (. Abb. 40.11). Dies muss bei der Eingriffs-
Grenzbereich (an der Haftgrenze zwischen Reifen strategie berücksichtigt werden. Weiterhin muss be-
und Fahrbahn). Zur Vereinfachung ist es in einer achtet werden, dass mit der Bremse nur Bremsmo-
frei rollenden Situation dargestellt (keine Brems- mente, also keine Antriebsmomente, erzeugt werden
kräfte, keine Antriebskräfte). ESP greift mit einem können. Außerdem ist der Eingriff an einem Rad,
Bremsschlupf λ0 an dem linken Vorderrad ein. Vor welches den Bodenkontakt verloren hat (das Rad
dem Eingriff wirkt, bei einem Schräglaufwinkel hängt in der Luft), unwirksam und muss von der
aVL =  a0, nur eine Seitenkraft der Größe Fres(λ = 0) Giermomentverteilung ausgeschlossen werden.
auf das Rad. Wird das Rad gebremst, so dass ein . Abbildung 40.11 zeigt qualitativ die Wirk-
Schlupf λ =  λ0 entsteht, entsteht zugleich eine ent- samkeit von Bremsschlupfeingriffen, . Abb. 40.12
sprechende Bremskraft FB(λ0), während die Seiten- die Wirksamkeit von Antriebsschlupfeingriffen auf
kraft durch den Schlupf zu FS(λ0) reduziert wird. das Giermoment des untersteuernden Fahrzeugs
Die geometrische Summe dieser Kräfte ist Fres(λ0). bei Kurvengrenzgeschwindigkeit auf griffiger und
Der Betrag dieses Kraftvektors gleicht, unter An- glatter Fahrbahn. Dabei sind positive Giermomente
nahme des „Kammschen Kreises“ [2], in etwa dem eindrehend (d. h. das Fahrverhalten wird weniger
der anfänglichen Seitenkraft Fres(λ = 0), da die phy- untersteuernd), während negative Giermomente
sikalische Kraftschlussgrenze zwischen Reifen und ausdrehend sind (d. h. das Fahrverhalten wird un-
Fahrbahn erreicht ist. Durch die Schlupfänderung tersteuernder).
wird der Kraftvektor also gedreht, der Hebelarm Der klare Zusammenhang zwischen Radschlupf
zum Fahrzeugschwerpunkt und somit das Giermo- und Giermoment legt nahe, eine hierarchische Reg-
ment verändert, wobei die Drehung mit dem Schlupf lerstruktur zu verwenden, in der ein überlagerter
zunimmt, bis das Rad blockiert (Fres(λ = 1)). Beim Fahrdynamikregler Radschlupfwerte vorgibt, die von
Rad vorne rechts ist die Situation anders: Hier wird unterlagerten Radreglern eingestellt werden. Diese
der Bremsschlupf zunächst den Hebelarm und damit Regler übernehmen dann auch die Grundfunktio-
das Giermoment erhöhen; erst bei größeren Schlupf- nalitäten von ABS und ASR. Die in ASR-Systemen
werten wird der Hebelarm wieder kleiner und das verwendeten Antriebsschlupfregler können mit ge-
Giermoment reduziert, sodass ein lokales Maximum ringen Modifikationen hierfür verwendet werden.
732 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21
22
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25
26
27
28
29
30
.. Abb. 40.11  Einfluss des radindividuellen Bremsschlupfs auf das Giermoment auf griffiger Fahrbahn (Asphaltfahrbahn) und
glatter Fahrbahn (Schneefahrbahn) bei stationärer Kurvengrenzgeschwindigkeit und Kreisradius = 100 m
31
Herkömmliche ABS-Regler hingegen reagieren vor Giermoments ist ein wesentlicher Bestandteil des
32 allem auf Radbeschleunigungen und müssen durch Fahrdynamikreglers. Die Einstellung der Schlupf-
Bremsschlupfregler ersetzt oder ergänzt werden. werte geschieht mithilfe von Schlupfreglern. Somit
33 Beide schlupfbasierten unterlagerten Regler werden
in diesem Abschnitt vorgestellt und erläutert. Es exis-
ist das ESP mit einem überlagerten Fahrdynamikreg-
ler, der in jeder Fahrsituation und für jeden Fahrzu-
tieren aber auch ESP-Realisierungen, bei denen die stand die Sollschlupfwerte für jedes Rad individuell
34 hierarchische Reglerstruktur nicht im Vordergrund vorgibt, und mit unterlagerten Reglern, welche die
steht, und die das serienmäßige ABS als Beschleuni- Sollschlupfwerte einstellen, hierarchisch gegliedert.
35 gungsregler nach wie vor im ESP einsetzen. Die Sollschlupfänderungen werden durch die
Kennzeichnend für ESP ist die so genannte unterlagerten Brems- bzw. Antriebsschlupfregler
Fahrdynamikregelung, welche die Fahrzeugbewe- realisiert, während in den unterlagerten Reglern die
36 gung mittels über- und unterlagerten Reglern regelt Zielschlupfwerte λZ für eine maximale Bremskraft
(. Abb. 40.13) [6]. Wichtiger Bestandteil des Fahr- bzw. Antriebskraft berechnet werden. Im unge-
37 dynamikreglers ist ein Beobachter, in dem die Fahr- bremsten Fall oder wenn der Fahrervordruck nicht
zeugbewegung analysiert und geschätzt wird. Ein ausreicht, um den gewünschten Sollschlupf einzu-
38 weiterer wichtiger Bestandteil ist die Sollwertbestim- stellen (Teilbremsbereich), wird aktiv der Druck in
mung, bei der aus den Fahrervorgaben – Lenkrad- den Bremskreisen des Hydroaggregats erhöht [4].
winkel, Bremsdruck und Gaspedalstellung – u. a. die Der Bremsschlupfregler dient einerseits zur Si-
39 Sollgiergeschwindigkeit bestimmt wird. Im Fahrzeu- cherstellung der ABS-Funktion und andererseits zur
gregler wird die erforderliche Giermomentänderung Einstellung der vom Fahrzeugregler vorgegebenen
40 bestimmt. Auch die Verteilung der Giermomentän- Bremsschlupfänderungen. Zur Vereinheitlichung
derung auf die Räder zur optimalen Einstellung des der beiden Aufgaben wurde ein vom Standard-
40.4 • ESP
733 40

.. Abb. 40.12  Einfluss des radindividuellen Antriebsschlupfs auf das Giermoment auf griffiger Fahrbahn (Asphaltfahrbahn) und
glatter Fahrbahn (Schneefahrbahn) bei stationärer Kurvengrenzgeschwindigkeit und Kreisradius = 100 m

ABS abweichender Regler erstellt, bei dem die ABS- soll D Z C (40.5)
Funktion durch Schlupfregelung realisiert wird. Der
für die ABS-Funktion einzustellende Schlupf wird Der Antriebsschlupfregler (vgl. . Abb. 40.15) wird
der Zielschlupf, λZ, genannt und wird im Schlupf- nur zur Schlupfregelung der angetriebenen Räder
regler selbst festgelegt. . Abbildung 40.14 zeigt in im Antriebsfall eingesetzt. Aktiveingriffe an den an-
einem vereinfachten Blockschaltbild die Struktur deren Rädern werden über den Bremsschlupfregler
des unterlagerten Bremsschlupfreglers, der bei ei- direkt angesteuert. Im Folgenden wird die Antriebs-
ner Vollbremsung auch ABS-Regler genannt wird. schlupfregelung für einen Hecktriebler beschrieben:
Für die Regelung des Radschlupfs auf einen Die Antriebsräder bilden mit dem Achs-
vorgegebenen Sollwert λsoll muss der Schlupf hinrei- differenzial, dem Getriebe und dem Motor ein
chend bekannt sein. Da die Längsgeschwindigkeit gekoppeltes System der Radgeschwindigkeiten
des Automobils nicht gemessen wird, wird diese aus vR,HL und vR,HR. Durch Bildung der neuen Variab-
den Radgeschwindigkeiten bestimmt (siehe ▶ Ab- len vKar  = (vR,HL + vR,HR)/2 und vDif  = (vR,HL – vR,HR)
schn. 40.4.4). entfällt die Koppelung, und es folgen zwei nicht
Der Zielschlupf λZ für eine maximale Bremskraft gekoppelte Differenzialgleichungen [6]. Aus die-
(für die ABS-Funktion) wird in Abhängigkeit vom sem Grund wird der Schlupf nicht direkt geregelt,
maximalen Reibwert der Fahrbahn mres berechnet. sondern die Kardangeschwindigkeit und die Rad-
Aus dem Zielschlupf λZ und der vom Fahrdy- differenzgeschwindigkeit. Zur Bestimmung des
namikregler vorgegebenen Schlupfänderung ∆λ Sollwerts für die Kardangeschwindigkeit wird ein
errechnet der Schlupfregler den einzustellenden symmetrischer Sollschlupf (wobei das linke und
Sollschlupf. das rechte Rad gleiche Sollschlupfanteile haben)
734 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

.. Abb. 40.13 Verein-
21 fachtes Blockschaltbild
des ESP-Reglers mit
Ein- und Ausgangs-
22 größen

23
24
25
26
27
.. Abb. 40.14 Block-
28 schaltbild des Brems-
schlupfreglers mit den
wichtigsten Modulen
29 und ihren Ein- und
Ausgangsgrößen

30
31
32
33
34
35
λm festgelegt. Zur Bestimmung des Sollwerts für Deshalb wird der Betriebszustand (um z. B. iG be-
36 die Raddifferenzgeschwindigkeit wird ein asym- rechnen zu können) zur Anpassung der Reglerpa-
metrischer Sollschlupf Dλ festgelegt, wobei sich rameter an Streckendynamik und Nichtlinearitäten
37 der Sollschlupf am linken Rad um den asymme- ermittelt. Die Motoreingriffe und der symmetrische
trischen Sollschlupf vom Sollschlupf am rechten Anteil des Bremseingriffs stellen die Stellgrößen des
38 Rad unterscheidet. Mithilfe der frei rollenden Rad- Kardandrehzahlreglers dar. Der asymmetrische An-
geschwindigkeiten können nun aus den symmetri- teil des Bremseneingriffs ist das Stellsignal des Dif-
schen und asymmetrischen Sollschlupfwerten die ferenzdrehzahlreglers.
39 Kardan- und Raddifferenzgeschwindigkeitssoll- Neben dem hier dargestellten hierarchischen
werte berechnet werden. Regelkonzept des ESP gibt es ein sogenanntes
40 Die Dynamik hängt von den sehr unterschied- „modulares Regelkonzept“ [7], in dem neben dem
lichen Betriebszuständen der Regelstrecke ab. Bremsschlupfregler für die ESP-Eingriffe, einen
40.4 • ESP
735 40
.. Abb. 40.15 Blockschaltbild
des Antriebsschlupfreglers
(ASR) mit den wichtigsten
Modulen und ihren Ein- und
Ausgangsgrößen

ABS-Regler nach dem Optimizer-Prinzip (s. Ab- dem sich die Fahrzeugbewegung dem physikali-
schnitt Regelkonzepte) für die ABS-Funktion ent- schen Grenzbereich nähert, richtig abzubilden.
halten ist. Die Zugriffe von ABS und ESP auf die Andernfalls werden „zu frühe Regeleingriffe“
Ventile des Hydroaggregats müssen dann mit einer vom Fahrer moniert – ein häufiges Problem bei
Prioritätenregelung (auch Arbitration genannt) ge- der Applikation des ESP. Dies geschieht unter
steuert werden. Die fehlende Fahrzeuggeschwin- Verwendung von zwei linearen Einspurmodellen
digkeit wird durch die Hilfsgröße „ABS-Referenz- (. Abb. 40.16). Zur Sollwertbestimmung bei ESP
geschwindigkeit“, die nicht gemessen werden kann, wird ein gewichteter Mittelwert zwischen zwei
ersetzt. Durch die Prioritätenregelung entstehen linearen Einspurmodellen gebildet mit zwei ver-
Zwangshaltephasen bei der ABS- und ESP-Rege- schiedenen charakteristischen Geschwindigkeiten,
lung. Es sind deshalb Anpassungen in den Reglern vch. Dabei werden diese zwei Geschwindigkeiten
notwendig (z.B. bei der Integralbildung des PID- so gewählt, dass das reale Fahrverhalten von dem
Reglers). Auch heuristische Elemente, wie die Be- Verhalten der beiden linearen Einspurmodellen
stimmung eines positiven µ-Sprungs, und adaptive umschlossen wird. Die Gewichte werden in Abhän-
Elemente der Regler sind davon betroffen. Ähnli- gigkeit von der Fahrzeug-Querbeschleunigung und
ches gilt für den Bereich der Antriebsschlupfrege- der Fahrsituation gewählt.
lung, siehe . Abb. 40.15. Im Beobachter werden modellgestützt aus den
Messgrößen Giergeschwindigkeit, Lenkradwinkel
und Querbeschleunigung sowie aus den Schätz-
40.4.4 Sollwertbildung und größen Fahrgeschwindigkeit und Brems- bzw. An-
Schätzung fahrdynamischer triebskräften die Schräglaufwinkel der Räder, der
Größen Schwimmwinkel und die Fahrzeugquergeschwin-
digkeit geschätzt. Zudem werden die Seiten- und
Zur Bestimmung der Sollwerte gilt das Lastenheft Normalkräfte geschätzt und die resultierenden
für den Schwimmwinkel βsoll. Für den Sollwert der Kräfte der Räder berechnet. Hierzu wird ein Zwei-
Giergeschwindigkeit wird von dem linearen Ein- spurmodell verwendet, bei dem das Übertragungs-
spurmodell im eingeschwungenen Zustand ausge- verhalten des Automobils sowie Sondersituationen
gangen, jedoch reicht dieses Modell nicht aus, den wie geneigte Fahrbahn oder µ-Split berücksichtigt
Sollwert für die Giergeschwindigkeit zu bestimmen. ist. Bei horizontaler, homogener Fahrbahn gilt
Es folgt, dass das lineare Einspurmodell erwei- folgende Differenzialgleichung für den Schwimm-
tert werden muss, um den wichtigen Bereich, in winkel:
736 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

.. Abb. 40.16 Approximation
21 des nichtlinearen Modells
durch gewichtete Mittel-
wertbildung zwischen zwei
22 linearen Einspurmodellen

23
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25
26
1
ˇP D  P C .aY  cos ˇ  aX  sin ˇ/(40.6) diese aus den Radgeschwindigkeiten bestimmt.
27 v
Hierzu werden während einer ABS-Regelung auf
wobei aX und aY die Längs- bzw. die Querbeschleuni- den Sollschlupfwert λsoll einzelne Räder kurz „un-
28 gung des Fahrzeugs, β der Fahrzeugschwimmwinkel
und P die Giergeschwindigkeit ist. Für kleine Werte
terbremst“, d. h. die Schlupfregelung wird unter-
brochen sowie das aktuelle Radbremsmoment de-
der Verzögerung aX und des Schwimmwinkels β gilt: finiert abgesenkt und kurze Zeit konstant gehalten
29 (Anpassungsphase, . Abb. 40.17) [5]. Unter der
Zt  Annahme, dass das Rad während dieser Zeit sta-
aY aY
30

ˇP D  P ; ˇ.t / D ˇ0 C  P dt(40.7) bil läuft (Punkt λA,mA), kann aus der momentanen
v v
t D0 Bremskraft FB,A und der Reifensteifigkeit cλ die frei
rollende (ungebremste) Radgeschwindigkeit vR,frei,A
31 Da die gemessenen Werte für die Querbeschleu- bestimmt werden:
nigung und die Giergeschwindigkeit sowie die
32 geschätzte Fahrgeschwindigkeit fehlerbehaftet A D
FB;A
FN;A
D c  A D c 
vR;frei;A  vR;A
vR;frei;A
;(40.8)
sind, führt die Integration schnell zu großen Feh- c
) vR;frei;A D vR;A 
33 lern, sodass das Vertrauen in den so gewonnenen
Schwimmwinkelwert gering anfällt.
c  F FB;A
N; A

Für große Werte der Verzögerung aX kann ein wobei der Index A einen Zeitpunkt während der
34 Kalman-Filter als Beobachter für die Querdynamik Anpassungsphase angibt und cλ die Steigung der
verwendet werden, hierauf wird nicht weiter einge- m-Schlupfkurve bei λ = 0 ist sowie vR die Radge-
35 gangen. Ausgangsgleichungen für das Kalman-Fil- schwindigkeit darstellt. Die im Radkoordinaten-
ter sind die Differenzialgleichungen der Quer- und system bestimmte freirollende Radgeschwindigkeit
Giergeschwindigkeit des Zweispurmodells (siehe [5] vR,frei,A wird über die Giergeschwindigkeit, den Lenk-
36 für Einzelheiten). winkel, die Quergeschwindigkeit und die Fahrzeug-
Weitere Schätzungen, die im Beobachter ver- geometrie in den Schwerpunkt transformiert und
37 wendet werden, benutzen einfache Zusammen- generiert den „Messwert“ für die Schätzung der
hänge. So wird z. B. die Radlaständerung aus der Schwerpunktsgeschwindigkeit in Längsrichtung
38 Fahrzeugbeschleunigung in Längs- und Querrich- mittels eines Kalman-Filters. Anschließend wird die
tung geschätzt. Auf diese einfachen Schätzungen gefilterte Schwerpunktsgeschwindigkeit in Längs-
wird nicht näher eingegangen. richtung auf die vier Radmittelpunkte zurücktrans-
39 Für die Regelung des Radschlupfs auf einen formiert, um die freirollenden Radgeschwindigkei-
vorgegebenen Sollwert λsoll muss der Schlupf hin- ten aller vier Räder zu erhalten. Somit kann auch für
40 reichend bekannt sein. Da die Längsgeschwindig- die verbleibenden drei geregelten Räder der Schlupf
keit des Automobils nicht gemessen wird, wird berechnet werden.
40.4 • ESP
737 40
.. Abb. 40.17  Anpassungsphase während
einer Bremsschlupfregelung zur Bestim-
mung der frei rollenden Radgeschwindig-
keit (der Kreis pR deutet symbolisch die
Bremsdruckmodulation der Schlupfrege-
lung an)

Als Filtergleichung für das Kalman-Filter wird die Überwachung der verwendeten Komponenten.
die Differenzialgleichung der Längsgeschwindigkeit Wenn das Thema „Sicherheit“ angesprochen wird,
herangezogen, wobei das Produkt vY  P vernach- geht es dabei nicht um die Verbesserung der Fahr-
lässigt werden kann. zeugsicherheit durch ESP, sondern um die Fahr-
1 zeugsicherheit bei Ausfall einer ESP-Komponente.
vP X D  f.FS;VL C FS;VR /  sin ı
m . Abbildung 40.19 zeigt das betrachtete Gesamtsys-
.FB;VL C FB;VR /  cos ı  .FB;HL C FB;HR /g(40.9) tem Fahrer-Fahrzeug-ESP [6].
2
cw  A  vX % Zur Erhöhung der Sicherheit wird das Ver-
  vP X;offset
2m halten des Fahrers für Plausibilitätsbeziehungen
mit einbezogen. So werden z. B. Änderungen des
vR X;offset D 0(40.10) Lenkradwinkelsignals, die größer sind als solche,
die ein Fahrer aufbringen kann, als unplausibel
wobei cw der Luftwiderstandsbeiwert, A die Spant- erkannt, denn sie deuten auf einen defekten Lenk-
fläche des Fahrzeugs und ρ die Luftdichte ist. Glei- radwinkelsensor hin. Darüber hinaus gehören die
chung (40.10) gibt an, dass die Fahrbahnsteigung Motor- und Getriebesteuerung zum System ESP, da
sich nur langsam ändert. Die Fahrbahnsteigung beide von ESP beeinflusst und abgefragt werden.
wird im Kalman-Filter mitgeschätzt [5]. Wie aus . Abb. 40.19 hervorgeht, sind auch die
. Abb. 40.18 zeigt eine Messung einer ABS- Verbindungen zwischen den Systemkomponenten
Bremsung, bei der die Anpassungsphasen an den zu überwachen.
Hinterrädern deutlich ersichtlich sind. Die Entwicklung des Sicherheitskonzepts von
sicherheitsrelevanten Systemen wird von verschie-
denen methodischen Ansätzen begleitet. Solche
40.4.5 Sicherheitskonzept Methoden sind die FMEA (Failure Mode and Effect
Analysis) und die FTA (Fault Tree Analysis).
ESP ist ein komplexes mechatronisches System, mit Eine neue Möglichkeit, Sensoren zu überwa-
dem die Sicherheitseinrichtung „Bremse“ des Fahr- chen und abzugleichen, wurde mit der Einführung
zeugs beeinflusst wird. An das System werden des- von ESP entwickelt. Hierbei geht es um die Über-
halb sehr hohe Anforderungen hinsichtlich Zuver- wachung des Drehratensensors, des Lenkradwin-
lässigkeit und Ausfallsicherheit gestellt. Einerseits kelsensors und des Querbeschleunigungssensors
besteht die Forderung nach minimalen Kosten des mithilfe von Modellen [6]. . Abbildung 40.20 zeigt
Systems, bei der es auch darum geht, Komponenten den Ansatz dieser Überwachung.
einzusparen, andererseits stellt die Sicherheit sehr Die gemessenen und während der Fahrt stän-
hohe Anforderungen an die Zuverlässigkeit und an dig abgeglichenen Sensorsignale des Lenkradwin-
738 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21
22
23
24
25 .. Abb. 40.19  Gesamtsystem Fahrer-Fahrzeug-ESP für die
Systemsicherheit

.. Abb. 40.18  ABS-Geradeausbremsung mit ESP aus


26 120 km/h auf einer trockenen und ebenen Asphaltfahrbahn. Nach einer gewichteten Mittelwertbildung, bei
Messbereiche: Zeit: 0 – 4,2 s, Schlupfwerte: –0,7 – 0,3, Radge-
der sowohl der Abstand zwischen den vier Signalen
27 schwindigkeiten: 0 – 50 m/s, Bremsdrücke: 0 – 250 bar.
als auch der Abstand zwischen den Gradienten der
vier Signale ausgewertet werden, ist das Ergebnis
28 kels, der Querbeschleunigung und der Radge-
schwindigkeiten werden Modellen zugeführt, um
eine Referenzgiergeschwindigkeit ωref die auch wäh-
rend der Regelung noch gute Werte für die aktuelle
mit deren Hilfe Schätzungen für die Giergeschwin- Giergeschwindigkeit des Fahrzeugs liefert. Die Sig-
29 digkeit zu erhalten. Dabei ist Modell 1 das Einspur- nale müssen dabei aber stationär und der Abstand
modell, Modell 2 1/vX, Modell 3 (vR,VL – vR,VR) / sV zwischen den Signalen für alle vier Signale in etwa
30 bzw. (vR,HL – vR,HR) / sH, wobei bei Frontantrieb die gleich sein. Aus der Referenzgeschwindigkeit kön-
Hinterräder, bei Heckantrieb unter Berücksich- nen unter Verwendung der inversen Modelle 1 und
tigung des Lenkwinkels die Vorderräder gewählt 2 Referenzwerte für den Lenkradwinkel Lwref bzw.
31 werden und beim Allradantrieb eine gewichtete für die Querbeschleunigung ayref abgeleitet werden.
Mittelwertbildung der Vorder- und Hinterräder Diese werden wiederum für die Prüfung des abge-
32 verwendet wird. Bevor Modell 3 verwendet wer- glichenen Lenkradwinkel- bzw. des Querbeschleu-
den kann, müssen die Radgeschwindigkeitssignale nigungssensors verwendet.
33 mit dem „Reifen-Toleranzabgleich (RTA)“ unterei-
nander abgeglichen werden. Für die Abgleiche der
Je mehr sich die Fahrdynamik dem Grenzbe-
reich nähert, desto weniger genau sind die Modelle.
anderen Sensorsignale stehen die entsprechenden Fährt das Fahrzeug jedoch noch stabil, so liefern
34 während der Fahrt ständig geschätzten und aktua- diese Modelle noch ausreichend gute Werte, um
lisierten Werte in EEPROM zur Verfügung. Dabei den Ausfall eines Sensors zu beurteilen. Liegen die
35 sind ωMess, LwMess, ayMess, vi,Mess die gemessenen Sig- Werte der modellgestützten Signale ωLw, ωay, und
nale des Drehratensensors bzw. des Lenkradwin- ωv nahe beieinander, d. h. sind die Gewichte dieser
kelsensors, des Querbeschleunigungssensors und Signale groß, so bedeutet dies, dass das Drehraten-
36 der Radgeschwindigkeitssensoren, wobei i für VL, sensorsignal „beobachtbar“ ist. Dies ist während der
VR, HL oder HR steht; ωoff, ayoff, Lwoff sind die Null- Fahrt je nach Fahrstrecke mehr oder weniger häufig
37 punktfehler (Offsets) des Drehratensensors, des der Fall (. Abb. 40.21).
Querbeschleunigungssensors und des Lenkrad- Solange keine Sicherheit über die Nullpunktfeh-
38 winkelsensors, und fω ist der Empfindlichkeitsfeh- ler besteht, wird die tote Zone des Fahrzeugreglers
ler des Drehratensensorsignals. Der Index „corr“ zur Reduzierung von unbeabsichtigten ESP-Eingrif-
steht für das abgeglichene Signal. Die Signale ωLw, fen aufgeweitet.
39 ωay, ωv sind die Schätzungen der Giergeschwindig- Fehler können nicht immer (rechtzeitig) ent-
keit auf Basis der Signale des Lenkradwinkelsen- deckt werden. Die Auswirkungen unentdeckter
40 sors, des Querbeschleunigungssensors bzw. der Fehler werden begrenzt durch:
Radgeschwindigkeitssensoren.
40.4 • ESP
739 40
.. Abb. 40.20  Modell-
gestützte Überwachung
des Drehratensensors, des
Lenkradwinkelsensors und des
Querbeschleunigungssensors

.. Abb. 40.21 Beobachtbar-
keit der Giergeschwindigkeit
in Abhängigkeit von der
Fahrstrecke

- die Steilkurvenlogik. Bleibt z. B. das Querbe- das System abgeschaltet werden, wenn über
schleunigungssignal plötzlich bei Null stehen,
dann könnte, bevor der Fehler erkannt wird,
jede Kurvenfahrt als „Schleudern auf Eis“ auf-
gefasst werden, und es müsste ein ESP-Eingriff
- längere Zeit eingegriffen wird.
Überwachung der Regeldauer des ABS-
Reglers. ABS-Bremsungen sind auch in ihrer
Dauer begrenzt. Deshalb kann auf Fehler ge-
erfolgen. Dies ist aber eine Fahrsituation, die schlossen und das System abgeschaltet werden,
von der Steilkurvenlogik geprüft wird. Erfolgt wenn das ABS ständig, d. h. länger als eine
kein Gegenlenken des Fahrers, so wird die
Kurvenfahrt mit dem defekten Querbeschleu-
nigungssignal als „Steilkurvenfahrt“ inter-
pretiert, und es erfolgt kein fehlerbedingter
- bestimmte Zeitdauer, regelt.
Plausibilisierung der Signale des Bremslicht-
schalters und des Bremsdrucksensors. Der
Bremslichtschalter steht dauernd auf „an“, ob-
ESP-Eingriff. Nachdem der Fehler erkannt ist, wohl der Bremsdruck über längere Zeit nicht

- wird ESP abgeschaltet.


Überwachung der Eingriffsdauer des Fahr-
zeugreglers. Da die ESP-Eingriffe nur von
kurzer Dauer sind (normalerweise weniger
aufgebaut wird. In diesem Fall wird das System
abgeschaltet.

als 500 ms) kann auf Fehler geschlossen und


740 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

40.5 Mehrwertfunktionen Fahrzeugen ausreichend, die stationären Anteile des


21 ROM wegzulassen, und nur die Teile beizubehalten,
40.5.1 Special Stability Support die bei dynamischen Fahrmanövern zum Tragen
22 kommen. Diese Funktion wird dann RMI genannt.
Diese Kategorie von Mehrwertfunktionen hat zum Sie ist leichter zu applizieren als die Funktion ROM.
23 Ziel, die Tendenz zur Instabilität zu erkennen und
den Bremsdruck entsprechend zu modifizieren, wie 40.5.1.4 Roll Over Mitigation, ROM
z. B. bei der Kippstabilisierung. Bei den meisten Pkw besteht kaum Kippgefahr.
24 Sie besteht vorwiegend bei Fahrzeugen mit hohem
40.5.1.1 Extended Understeering Schwerpunkt und weichem Fahrwerk, wie bei Ge-
25 Control, EUC ländefahrzeugen oder Transportern. Man unter-
Wenn das Fahrzeug zu untersteuernd ist, greift scheidet zwischen zwei Fahrsituationen (Katego-
ESP standardmäßig mit Bremsschlupfvorgabe rien), bei denen das Kippen auftritt:
26 am kurveninneren Hinterrad ein. Dadurch wird 1. Die Lenkung ist sehr dynamisch (wie bei schnel-
das Fahrzeug gierwilliger, und die Seitenkräfte an lem Spurwechsel);
27 der Hinterachse steigen durch Vergrößerung des 2. der Lenkradwinkel nimmt bei Kurvengrenzge-
Schräglaufwinkels. Da diese Maßnahme nicht schwindigkeit ständig zu.
28 immer ausreicht, um das Fahrzeug in der Spur zu
halten, kann die EUC-Funktion zusätzlich zu der Die Erkennung der Kippinstabilität allein auf Basis
Reduzierung des Motormoments durch aktives der Querbeschleunigung reicht nicht aus. Durch die
29 Bremsen an allen Rädern die Fahrzeuggeschwin- Verwendung weiterer Signale ist es möglich, kipp-
digkeit reduzieren. Diese Funktion wirkt, wenn der kritische Fahrsituationen zu erkennen. Die Kipper-
30 Fahrer einen engeren Kurvenradius fahren möchte, kennung beruht auf einer Prädiktion, welche auf die
als der Reibwert der Straße zulässt (er also die Len- Gradienten des Lenkradwinkels und der Querbe-
kung „überzieht“). schleunigung basieren. Bei großen Gradienten wer-
31 den Zuschläge (auch Offset genannt) berechnet und
40.5.1.2 Load-Adaptive Control Mode zur gemessenen Querbeschleunigung addiert, um
32 for LCV/Vans, LAC eine „effektive Querbeschleunigung“ aY,eff zu erhalten.
LAC enthält eine Schätzung des Eigenlenkverhal- Überschreitet die „effektive Querbeschleuni-
33 tens (der charakteristischen Geschwindigkeit vch
im Einspurmodell) und eine Schätzung der Fahr-
gung“ eine definierte Schwelle, wird eine Kippge-
fahr vermutet, und es erfolgt ein Bremseingriff am
zeugmasse, die auf dem Impulssatz des Fahrzeugs kurvenäußeren Vorder- und Hinterrad. Dadurch
34 in Längsrichtung beim Antrieb beruht. Da das werden die Seitenkraft und die Geschwindigkeit –
Antriebsmoment bekannt ist (vom Motormanage- und somit auch die Querbeschleunigung – rasch
35 ment geschätzt) und die Fahrzeugbeschleunigung reduziert. Kommt es dennoch zu einem Unfall, so
aus den Radgeschwindigkeiten abgeleitet werden werden die Folgen durch die geringere Geschwin-
kann, folgt aus dem Impulssatz die Fahrzeugmasse. digkeit reduziert. Da der Kippvorgang sehr schnell
36 Hierdurch können einige Grundfunktionen des ESP ist, steht wenig Zeit zur Kipperkennung zur Verfü-
sowie auch die Funktion ROM an besondere Bela- gung. Das Funktionsschaltbild zeigt . Abb. 40.22.
37 dungszustände des Fahrzeugs angepasst und damit Die zeitliche Ableitung der Querbeschleuni-
verbessert werden. gung DaY wird in die Berechnung der Höhe der
38 40.5.1.3 Roll Movement Intervention,
Kippgefahr kKipp einbezogen, um hochdynamische
Vorgänge wie schnelle Spurwechsel, bei denen die
RMI Kippgefahr größer als bei stationären Manöver ist,
39 Fahrzeuge, die nicht schnell zum Kippen neigen, berücksichtigen zu können.
erhalten die Funktion ROM in abgeschwächter Ist die Querbeschleunigung aY groß und nimmt
40 Form. So existieren viele Fahrzeuge, die bei quasis- sie noch weiter zu (in diesem Fall ist das Produkt
tationären Manövern nicht kippen. Es ist bei diesen aY · DaY positiv), so wird die Querbeschleunigungs-
40.5 • Mehrwertfunktionen
741 40
.. Abb. 40.22 Blockschalt-
bild der Kippfunktion

zunahme DaY bei schnellen Querbeschleunigungsän- unter Verwendung des linearen Einspurmodells
derungen besonders hoch gewichtet (der Parameter berechnet.
A ist dann besonders groß). Die schnellen Querbe- Es gibt Fahrzeuge, beispielsweise Geländewa-
schleunigungsänderungen werden erfasst durch die gen, bei denen die Einfederwege der Radaufhän-
Differenz zwischen dem Querbeschleunigungssignal gungen gemessen werden können. Aus diesen Ein-
und dessen tiefpassgefiltertem Wert DaY,F. federwegen können der Wankwinkel W und die
Nimmt die Querbeschleunigung aY ab, so wird Wankgeschwindigkeit DW direkt bestimmt wer-
der Gradient DaY nicht berücksichtigt, und der Pa- den; aus der Wanksteifigkeit des Fahrwerks lässt
rameter A wird zu Null gesetzt. sich dann sofort die entsprechende Querbeschleu-
Das Lenkwinkelsignal wird in seiner Wirkung nigung aY,W und deren Änderungsgeschwindigkeit
zeitlich begrenzt. Die Werte aY,Lw und DaY,Lw werden DaY,W bestimmen.
742 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21
22
23
24
25
26
27
28
29 .. Abb. 40.23  Blockschaltbild der Gespannstabilisierung TSM

30 Der Bezugswert aY,max wird im Fahrversuch er- Bremsschlupf an den kurvenäußeren Rädern er-
mittelt und ist die Fahrzeugquerbeschleunigung aY höht. Darüber hinaus werden ESP-Eingriffe, die zur
an der Kippgrenze bei stationärer Kreisfahrt. Dabei Erhöhung des eindrehenden Giermoments führen
31 ist das Fahrzeug so zu beladen, dass die Schwer- würden, verboten.
punktshöhe maximal ist, h1.
32 Ist die Schwerpunktshöhe hSch bekannt, z. B. 40.5.1.5 Trailer Sway Mitigation, TSM
durch Schätzung der Fahrzeugbeladung, so kann Bei Fahrzeuggespannen kann der Anhänger ab ei-
33 der Bezugswert mit abnehmender Schwerpunkts-
höhe mit dem Faktor k nach oben korrigiert werden.
ner bestimmten Geschwindigkeit, der kritischen
Geschwindigkeit vkrit (ab ca. 80 km/h), anfangen zu
Das Verhältnis von effektiver Querbeschleu- schlingern. Die Schlingerbewegung des Anhängers
34 nigung aY,eff zu dem Bezugswert k·aY,max liefert den übt ein periodisches Giermoment auf das Zugfahr-
Wert kKipp,roh, der eine erste Schätzung der Kippge- zeug aus, wodurch die Giergeschwindigkeit des
35 fahr ist. Ist das Verhältnis kleiner als eine untere Zugfahrzeugs ebenfalls anfängt zu schwingen, und
Schwelle a0, so wird der Kippfaktor kKipp,roh auf Null zwar mit derselben Frequenz fP wie die Schlinger-
gesetzt, d. h. es besteht keine Kippgefahr. Über- bewegung des Anhängers. Je schneller das Gespann
36 schreitet das Verhältnis eine zweite obere Schwelle wird, desto heftiger wird die Schlingerbewegung des
a1, so wird der Kippfaktor kKipp,roh auf Eins gesetzt, Anhängers und damit auch der Giergeschwindig-
37 d. h. es besteht akute Kippgefahr. Liegt das Verhält- keit des Zugfahrzeugs. Dabei kann die Amplitude
nis zwischen beiden Schwellen, wird der Kippfaktor der Giergeschwindigkeit des Zugfahrzeugs so hoch
38 kKipp,roh durch lineare Interpolation ermittelt. Da vor werden, dass die Anregelschwellen des ESP über-
allem das Querbeschleunigungssignal verrauscht schritten werden und ESP-Eingriffe erfolgen. Bei
ist, wird der Kippfaktor tiefpassgefiltert. Übersteigt der „Trailer Sway Mitigation“ geht es darum, die
39 der Kippfaktor kKipp eine untere Schwelle k1, so wird Schlingerbewegung des Anhängers automatisch
in Abhängigkeit des gefilterten Kippfaktors kKipp das zu erkennen und eine automatische Bremsung des
40 Motormoment durch Vorgabe einer Reduktion des Zugfahrzeugs einzuleiten. Das Prinzip des TSM ist
symmetrischen Antriebsschlupfs reduziert und der in einem Blockschaltbild dargestellt (. Abb. 40.23).
40.5 • Mehrwertfunktionen
743 40

Zur Erkennung der Schlingerbewegung wer- der Radbremsdruck Null beträgt, der Bremsbelag
den noch der Anhängerschalter SA und die Fahr- von der Bremsscheibe zurückgezogen wird. Beim
geschwindigkeit v abgefragt. erneuten Druckaufbau verschiebt sich der Brems-
Initialisiert wird der Indikator für Pendelschwin- belag zuerst zur Bremsscheibe hin, was die Totzeit
gungen P auf den Wert Null (keine Pendelschwin- verursacht. Erst wenn der Bremsbelag anliegt, kann
gung). Steht der Anhängerschalter SA nicht auf Eins, der Bremsdruck erhöht werden.
so wird darauf geschlossen, dass kein Anhänger vor-
handen ist, und die weitere Erkennungsuntersuchung 40.5.1.6 Secondary Collision
entfällt. Andernfalls wird abgefragt, ob Iδ > S1, d. h. Mitigation, SCM
ob der Fahrer heftig lenkt, wobei S1 eine definierte Bei Fahrzeugkollisionen entstehen häufig Fahrzeug-
Schwelle ist. Wenn der Fahrer heftig lenkt, wird nicht bewegungen, die vom Fahrer schwer beherrschbar
weiter auf Pendelschwingungen untersucht, und der sind und die zu Folgekollisionen führen können. Ei-
Pendel-Indikator P bleibt Null. Ansonsten wird ge- nerseits kann der Fahrer davon so überrascht sein,
prüft, ob das Fahrzeug schnell genug fährt, v > S4, da dass eine gezielte Gegenmaßnahme über längere
bei kleinen Fahrgeschwindigkeiten Pendelschwin- Zeit ausbleibt. Andererseits kann der Fahrer durch
gungen ausgeschlossen werden können. Wenn auch erlittene Verletzungen dazu gar nicht mehr imstande
die Intensitäten der Giergeschwindigkeitsschwin- sein. Eine Studie belegt, dass in fast allen Aufprallsi-
gung und der Querbeschleunigungsschwingung groß tuationen, mit Ausnahme bei Frontalkollision, eine
genug sind, I P  > S3 bzw. Ia > S2, wird auf Pendel- Vollbremsung sinnvoll ist. Durch die Vernetzung
schwingung erkannt, und der Pendel-Indikator wird von Airbag und ESP kann mittels ESP ein automa-
auf Eins gesetzt. Daraufhin wird das Motormoment tischer Eingriff in die Fahrzeugbewegung erfolgen,
zurückgenommen, und es werden eventuell auch alle mit der die weitere Unfallgefahr gemindert oder gar
Räder des Fahrzeugs mit demselben Bremsdruck ak- vermieden wird. Der Eingriff besteht aus einer Not-
tiv gebremst. Die Schwellen S1, …, S4 sind Parameter, bremsung, mit der das Fahrzeug stabil zum Stillstand
die bei der Applikation der Funktion festgelegt wer- geführt wird. Der Eingriff erfolgt auf Basis von den
den. Die Eingriffe in das Motormoment und in die Informationen „Aufprallstärke“ und „Aufprallsitua-
Bremse erfolgen so lange, bis eine der Intensitäten tion“ in dem Airbagsystem. Aus diesen Informationen
der Giergeschwindigkeitsschwingung oder Querbe- wird im Airbag-Steuergerät die erforderliche Höhe
schleunigungsschwingung unterhalb einer definier- der Fahrzeugverzögerung abgeleitet. Im ESP-Steuer-
ten Ausschaltschwelle gefallen ist (S3* bzw. S2*), bzw. gerät wird der dazu erforderliche Bremsdruck berech-
bis die Fahrzeuggeschwindigkeit weit genug abge- net und mittels des ESP-Aggregats aktiv eingestellt.
sunken ist (unterhalb S4*). Der Bremsdruck in den Betätigt der Fahrer das Fahrpedal, so wird der Eingriff
Radbremszylindern wird zunächst so eingestellt, dass abgebrochen. Allerdings muss dabei ausgeschlossen
das Fahrzeug mit einer Beschleunigung von –0,3 g werden, dass der Fahrer das Fahrpedal unbeabsichtigt
verzögert. Nimmt die Pendelschwingung während betätigt, z.B. durch auftretende Trägheitskräfte. Die
dieser Verzögerung stark zu, so wird der Bremsdruck Analyse der Fehlbedienung basiert auf den zeitlichen
weiter erhöht, bis das Fahrzeug mit einer Beschleu- Ablauf der Betätigung von Brems- und Fahrpedal.
nigung von –0,5 g verzögert wird.
Eine weitere Verbesserung der Dämpfung von 40.5.1.7 Side Wind Assist, SWA
Schlingerbewegungen wird durch eine seitenweise Plötzlich auftretende seitliche Windböen beeinflus-
Modulation der Radbremsdrücke erreicht, die ge- sen die Querdynamik des Fahrzeugs und können
nau gegenphasig zum Giermoment läuft, welches zu erhebliche Spurabweichungen führen. Mittels
vom Anhänger auf das Zugfahrzeug ausgeübt wird. der ESP-Sensorik können solche Situationen er-
Wichtig ist dabei, dass die Bremsdrücke in den Rad- kannt werden. Dazu werden die Signale aller ESP-
bremszylindern nicht auf Null reduziert werden, da Sensoren (Drehrate, Querbeschleunigung, Lenk-
sonst Totzeiten in der Modulation entstehen, wo- radwinkel, Bremsdruck, Radgeschwindigkeiten)
durch die Schlingerbewegung sogar aufgeschau- ausgewertet. In dieser Auswertung wird ein erfor-
kelt werden kann. Diese Totzeiten entstehen, wenn derliches Giermoment berechnet, welches die vom
744 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21
Fahrer unbeabsichtigte Querdynamik des Fahrzeugs
reduzieren soll. Das Giermoment wird vom ESP in
der bereits beschriebenen Weise durch Bremsmo-
- Aus Komfortgründen werden Sperrmo-
mentrampen vorgegeben. Die Eingriffe sind
komfortabler als die Bremseingriffe. Deshalb
22 menteingriffe umgesetzt. Durch die Reduzierung kann die Regelung der Fahrdynamik mittels
der Querdynamik wird die Beherrschbarkeit des Mittensperrenregelung empfindlicher einge-
23 Fahrzeugs erhöht und der Aufwand zur Spurhal-
tung für den Fahrer reduziert. Weiter bekommt er
stellt werden als mittels Bremssperrenrege-
lung. Damit werden die Bremseingriffe zur
mehr Zeit für eigene Korrekturen [8]. Fahrzeugstabilisierung auch weniger häufig
24 notwendig sein.

40.5.2 Special Torque Control 40.5.2.2 Off Road Detection and


25 Measures, ORD
Diese Kategorie der Mehrwertfunktionen dient der Auf losem Untergrund, wie es oft bei Geländefahr-
26 Unterstützung bei der Stabilisierung, Lenkfähig- ten der Fall ist, werden die größten Brems- und
keit, Traktion und der Verbesserung der Agilität Antriebskräfte bei großen Schlupfwerten erreicht.
27 des Fahrzeugs. Es besteht daher der Wunsch, den Sollschlupf bei
losem Untergrund gegenüber dem auf festem Un-
40.5.2.1 Dynamic Center Coupling
28 Control, DCT
tergrund zu erhöhen, um kürzere Bremswege zu er-
zielen [9]. Auf losem Untergrund wird geschlossen,
Allradfahrzeuge mit einer regelbaren elektronischen wenn auf Gelände erkannt wird. Dafür wurde eine
29 Lamellenkupplung als Mittensperre bieten eine Al- so genannte Geländeerkennung eingeführt. Bei
ternative zum Bremseneingriff. Anstatt die beiden der Geländeerkennung werden die Radgeschwin-
30 Räder der durchdrehenden Achse abzubremsen, digkeitsschwingungen ausgewertet. Ist die Ampli-
kann die Mittensperre geschlossen werden, was tude dieser Schwingungen groß genug, so wird ein
auch energetisch von Vorteil ist. Weitere Merkmale Geländezähler mit der Zeit hochgezählt. Andern-

-
31 der geregelten Mittensperre sind: falls wird der Geländezähler mit der Zeit abwärts
Sie ist geeigneter als die Bremsensperre bei gezählt. Erreicht der Geländezähler einen festge-
32 Geradeausfahrt, auf µ-Split-Fahrbahn und im legten Wert, so wird auf Gelände erkannt und der

33 - Gelände.
Die Sperre muss geöffnet werden bei akti-
ven ESP-Eingriffen (sonst beeinflussen die
Bremseingriffe auch den Schlupf anderer
Sollschlupf für die Vorderräder erhöht. Um nicht
bei einer vereisten Fahrbahn fälschlicherweise auf
Gelände zu erkennen, wird die Bremsverzögerung
noch mit dem Schlupf korreliert. Ist die Brems-
34 Räder), beim Bremsen (die Sperre beeinflusst verzögerung klein, der Bremsschlupf aber groß,
die elektronische Bremskraftverteilung EBV) wird auf „Eis“ erkannt, und der Sollschlupf wird
35 und während der Anpassungsphasen für die nicht erhöht. Wenn eine eindeutige Korrelation

36 - Geschwindigkeitsberechnung.
Das Restmoment bei Viskosperren darf nicht
größer als 100 Nm sein (auf das Rad umge-
rechnet), um die Geschwindigkeitsberechnung
nicht möglich ist, so wird der Sollschlupf an nur
einem Vorderrad erhöht. Aus Sicherheitsgründen
wird die Funktion nur unterhalb einer festgelegten
Geschwindigkeitsschwelle aktiviert (z. B. unterhalb
37
38 - nicht zu stören.
Bei zugeschalteter Vorderachse muss das
Sperrmoment reduziert werden, wenn das
Fahrzeug untersteuert, und erhöht werden,
50 km/h). Sobald der Fahrer lenkt, wird die Soll-
schlupferhöhung wieder zurückgenommen. Darü-
ber hinaus wird der Sollschlupf an der Hinterachse
nicht angehoben.

39
40
- wenn das Fahrzeug übersteuert.
Bei zugeschalteter Hinterachse muss das
Sperrmoment erhöht werden, wenn das Fahr-
zeug untersteuert, und reduziert werden, wenn
. Abb. 40.24 zeigt eine beschleunigte Fahrt auf
losem Schotter mit leichtem Gefälle mit einer an-
schließenden Vollbremsung. Bei der Beschleunigung
treten heftige Schwingungen in den Radgeschwin-
das Fahrzeug übersteuert. digkeiten auf – ein Hinweis auf Gelände. Während
40.5 • Mehrwertfunktionen
745 40
.. Abb. 40.24  Vollbremsung im Gelände mit
Geländeerkennung und Sollschlupferhöhung
am Rad vorne rechts. Messbereiche: Zeit: 0 – 5 s,
Rad-/Fahrzeuggeschwindigkeit: 0 – 10 m/s,
Bremsdrücke: 0 – 500 bar, Geländezähler: 0 –
100, Schlupf: –150 % – 50 %.

der beschleunigten Fahrt werden die Schwingungen zögerliche Bremsbetätigung besonders gravierend.
ausgewertet und der Geländeerkennung zugeführt. Abhilfe schafft der Bremsassistent, der durch Er-
Nach ca. einer Sekunde erreicht der Geländezähler kennung einer Gefahrensituation den Bremsdruck
einen festgelegten Schwellenwert, und es wird auf sofort, eventuell bis zur Schlupfregelung, über das
Gelände erkannt. In diesem Beispiel aber war die vom Fahrer vorgegebene Maß erhöht.
Korrelation zwischen Schlupf und Fahrzeugverzö-
gerung nicht eindeutig, sodass nicht klar auf „Eis“ Die wichtigsten funktionalen Anforderungen an
oder „Gelände“ erkannt werden konnte. Die Folge
war, dass nur am rechten Vorderrad der Sollschlupf
erhöht wurde, nicht am linken Vorderrad. Die Soll-
schlupferhöhung relativ zum Sollschlupf auf fester
-
den BA sind folgende [3, 4]:
Unterstützung des Fahrers in Notbremssitua-
tionen, Verkürzung des Bremswegs auf solche
Werte, wie sie sonst nur von gut trainierten
Fahrbahn ist im obigen Bild zu sehen.

- Fahrern erreicht werden können.


Abschaltung der Vollbremsung, sobald der

40.5.3 Brake & Boost Assist

In dieser Kategorie der Assistenzfunktionen werden


- Fahrer die Fußkraft deutlich reduziert.
Beibehaltung der konventionellen Bremskraft-
verstärkerfunktion. Pedalgefühl und Komfort
sollen bei Normalbremsungen dem bisher
die Bremsdrücke und Bremskraftverstärkerfunktio-
nen an die Fahr- und Systemsituationen angepasst,
wie z. B. beim Bremsassistenten. - gewohnten Standard entsprechen.
Aktivierung des Systems nur in wirklichen
Notsituationen, sodass sich beim Fahrer kein

40.5.3.1 HBA, Hydraulic Brake Assist


Untersuchungen am Fahrsimulator von Mercedes-
Benz haben ergeben, dass Normalfahrer in Schreck-
- Gewöhnungseffekt einstellt.
Keine Beeinträchtigung der konventionellen
Bremse bei BA-Ausfall.

situationen nur zögernd bremsen (. Abb. 40.25). Kernaufgabe ist die Bildung eines Auslösekriteriums
Die volle Betätigung der Bremse durch den Fahrer auf Basis der Fahreraktionen.
geschieht zeitversetzt. Da ein Verlust an Bremswir- Der hydraulische Bremsassistent (HBA) nutzt das
kung vor allem am Anfang einer Bremsung, wo vorhandene ESP-Hydroaggregat, um den Bremsdruck
die Geschwindigkeit am höchsten ist, den größten aktiv zu erhöhen. Mit dem eingebauten Drucksensor
Einfluss auf den Bremsweg hat, ist die anfänglich wird die Bremspedalbetätigung durch den Fahrer
746 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

21 .. Tab. 40.1

Situation Erkennungslogik
22 Phase 1 Bremspedal betätigt
(. Abb. 40.26) und HZ- Druckgradient über
23 Notsituation
Panikbremsung
Einschaltschwelle
und HZ- Druck über Einschalt-
schwelle
24 und Fahrgeschwindigkeit
über Einschaltschwelle
.. Abb. 40.25  Unterstützung des Fahrers in der Anbremspha-
25 se durch den Bremsassistenten (HBA)
Phase 2
(. Abb. 40.26)
Pedalkraft (aus HZ- Druck
abgeleitet) unter Umschalt-
Reduzierte schwelle
zur Situationserkennung analysiert. Die Erkennung
26 der Notbremssituation geschieht durch die Auswer-
Bremsanforderung

Wiederauslösung HZ- Druckgradient über


tung des Drucksensorsignals bzw. dessen Gradien-
27 ten (. Tab. 40.1). Durch applizierbare Schwellen für
Einschaltschwelle

Druck und Druckgradient lässt sich der HBA an die Standard-Brem- Bremspedal nicht betätigt
sung oder HZ- Druck unter Aus-
28 jeweiligen Gegebenheiten des Fahrzeugs und der
Bremsanlage leicht anpassen. Dabei passen sich die
schaltschwelle
oder Fahrgeschwindigkeit
Schwellen dynamisch der momentanen Situation unter Ausschaltschwelle
29 unter Berücksichtigung von Fahrzeuggeschwindig- oder Pedalkraft genügend
keit, Hauptbremszylinderdruck, Zustandsgrößen der hoch

30 Raddruckregelung und einer Bremsverlaufsanalyse


an. Das Überschreiten einer Mindestgeschwindigkeit signal einen vorgegebenen Wert (Nummer 3) un-
gehört ebenso zur Auslösebedingung. terschreitet. Der Fahrer kann nun ohne zusätzliche
31 Sobald die Auslösungsbedingung erfüllt ist, wird Unterstützung weiterbremsen.
der Bremsassistent aktiv (Nummer  1 in Phase 1,
32 . Abb. 40.26). Nun erhöht der Bremsassistent den 40.5.3.2 Brake Disc Wiping, BDW
Druck über das vom Fahrer vorgegebene Niveau an Der Reibwert zwischen Bremsbelag und Brems-
33 allen vier Rädern bis zur Blockiergrenze. Die aktive
Bremsdruckerhöhung und die Bremsdruckregelung
scheibe ist bei nassen Bremsen niedriger als bei
trockenen Bremsen. Sind die Bremsen nass, so wird
geschieht in gleicher Weise wie bei Bremseingriffen für kurze Zeit (ca. 3 s) ein sehr geringer Bremsdruck
34 der Fahrdynamikregelung ESP. Überschreitet der (ca. 1,5 bar) an allen Rädern aktiv aufgebaut. Durch
Bremsdruck die Blockiergrenze, so übernimmt der das Anlegen der Bremsbeläge an die Bremsschei-
35 unterlagerte Bremsschlupfregler die Aufgabe, den ben wird der Wasserfilm entfernt und dadurch die
Radschlupf zu regeln und die Bremskraft optimal Bremswirkung verbessert. Der Vorgang wird bei
auszunutzen. Regen regelmäßig wiederholt (ca. alle 3 min). Eine
36 Ist durch Entlastung des Bremspedals der ge- Fahrzeugverzögerung ist dabei nicht spürbar. Ein
messene Druck kleiner als ein bestimmter Wert Indiz dafür, dass es regnet, wird vom Regensensor
37 (Nummer 2), so erkennt das System den Fahrer- geliefert. Ein weiteres Indiz sind betätigte Schei-
wunsch und kann damit die Bremskraft reduzie- benwischer. Die Funktion wird abgebrochen, wenn
38 ren (. Abb. 40.26, Phase 2). Zu diesem Zeitpunkt der Fahrer die Bremse betätigt. Für diese Funktion
ändert sich die Regelstrategie. Ziel ist nun, dem muss das ESP-Aggregat entsprechend ausgerüstet
Signal des gemessenen Drucks zu folgen und dem sein, z. B. mit genauen Regelventilen.
39 Fahrer einen komfortablen Übergang in die Stan-
dardbremsung zu ermöglichen. Der Bremsassistent 40.5.3.3 Electronic Brake Prefill, EBP
40 wird abgeschaltet, sobald der erhöhte Bremsdruck Werden die Bremsen durch den Fahrer oder auch
den vorgegebenen Wert erreicht oder das Druck- aktiv durch das ESP betätigt, so werden zunächst
40.5 • Mehrwertfunktionen
747 40

.. Abb. 40.26  Konzept des hydraulischen Bremsassistenten

die Kolben der Radbremsen vorgeschoben, bis die schnell nach links, z. B. um einem Hindernis aus-
Bremsbeläge an den Bremsscheiben anliegen. Wäh- zuweichen. Während des schnellen Lenkens nach
rend dieser Zeit wirkt kein Bremsmoment an den links wird am linken (kurveninneren) Vorderrad
Rädern, und die Bremskraft an den Rädern wird re- ein kleiner aktiver Bremseingriff von ca. 3  bar
lativ zur Bremspedalbetätigung oder zum Anfang eingeleitet, um den Bremsbelag bereits in dieser
der aktiven Bremsung verzögert aufgebaut (siehe Situation an die Bremsscheibe anzulegen. Lenkt
auch TSM). Der Bremsweg wird dadurch länger der Fahrer im nächsten Augenblick schnell nach
– was bei einer Vollbremsung kritisch sein kann – rechts, so kann das Fahrzeug instabil werden, und
bzw. der aktive Bremseneingriff kann dadurch zu es muss ein Übersteuereingriff am linken Vorder-
spät erfolgen, wodurch das Fahrzeug evtl. nicht rad erfolgen, der sehr schnell sein muss, um das
mehr stabilisiert werden kann. Fahrzeug noch stabilisieren zu können. Da der
Eine Verbesserung kann erreicht werden, wenn Bremsbelag bereits an der Bremsscheibe anliegt,
die Bremsbeläge bereits an den Bremsscheiben kann der Eingriff unmittelbar erfolgen. Falls der
anliegen, bevor der Fahrer bremst bzw. bevor der Fahrer nicht im nächsten Augenblick nach rechts
aktive Bremseneingriff benötigt wird. Ein Indiz da- lenkt, ist der Bremseingriff am linken Vorderrad
für, dass der Fahrer demnächst bremst, ist der Last- nicht notwendig. Aus diesem Grund muss ge-
wechsel. Reduziert der Fahrer den Gaspedalweg sichert werden, dass der Bremsdruck einerseits
sehr schnell, dann ist dies ein Hinweis dafür, dass so groß ist, dass die Bremsbeläge an der Brems-
demnächst eine Vollbremsung erfolgen könnte. Im scheibe anliegen, und andererseits so klein ist,
letzten Fall wird während des Lastwechsels aktiv ein dass die Bremsung vom Fahrer nicht als störend
kleiner Bremsdruck von ca. 3 bar aufgebaut, um die wahrgenommen wird. Für diese Funktion muss das
Bremsbeläge bereits an die Bremsscheibe anzulegen, ESP-Gerät entsprechend ausgerüstet sein, z. B. mit
bevor der Fahrer bremst. genauen Regelventilen.
Ein Beispiel für diese Funktion bei aktiven ESP-
Eingriffen ist folgende Situation: Der Fahrer lenkt
748 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

40.5.3.4 Hydraulic Brake Boost, HBB Radbremsdruck relativ zum Hauptbremszylinder-


21 Die meisten Bremsungen finden im Bereich bis druck erhöht werden. Dazu wird die Pumpe des
30 bar statt. Bis zu diesem Bremsdruck reicht ein ESP-Aggregats verwendet. Die HFC unterstützt den
22 kleiner Bremskraftverstärker aus, um den Fahrer Fahrer, wenn bei einer sehr kräftigen Bremspedal-
bei der Bremsung ausreichend zu unterstützen. betätigung, die normalerweise zur ABS-Regelung
23 Der Bremskraftverstärker muss jedoch so ausgelegt
sein, dass er den Fahrer auch bei hohen Bremsdrü-
führen würde, die volle Fahrzeugverzögerung nicht
erreicht wird. Die Pumpe fördert so lange Brems-
cken genügend unterstützen kann. Ein größerer flüssigkeit in die Radbremszylinder, bis die volle
24 Bremskraftverstärker braucht aber einen größeren Fahrzeugverzögerung erreicht wird, d. h. bis sich alle
Einbauraum im Motorraum, der mit Zunahme der Räder in ABS-Regelung befinden. Wird der Haupt-
25 Anzahl von Aggregaten immer knapper wird. Um bremszylinderdruck wieder unter einen bestimmten
mit kleinerem Bremskraftverstärker den Fahrer Wert abgesenkt, wird die Funktion beendet.
auch bei hohen Bremsdrücken ausreichend unter-
26 stützen zu können, wird mittels des ESP-Aggregats 40.5.3.7 Hydraulic Rear Wheel Boost,
die Verstärkerfunktion noch aufrechterhalten, auch HRB
27 wenn der Bremskraftverstärker seinen Aussteuer- Bei Notbremsungen neigen Normalfahrer dazu, die
punkt erreicht hat. Die Funktion ist ähnlich wie Kraft auf das Bremspedal nicht weiter zu erhöhen,
28 bei der HBA bzw. bei den ESP-Eingriffen bei der
Teilbremsung. Je stärker der Fahrer bremst, desto
wenn sie spüren, dass die ABS-Regelung beginnt.
Aufgrund der stabilen Auslegung der Bremskraft-
länger wird die Pumpe im ESP-Aggregat angesteu- verteilung beginnt die ABS-Regelung an den Vor-
29 ert und desto mehr Bremsflüssigkeit wird in den derrädern bei deutlich geringeren Verzögerungen
Radbremszylindern gefördert bzw. desto höher als an den Hinterrädern. Dies gilt bei Geradeaus-
30 steigt der Bremsdruck in den Radbremszylindern. bremsung auf homogenem Reibwert bei Verzö-
Bei den meisten Bremsungen (Bremsdruck unter gerungen unterhalb eines kritischen Werts (siehe
30 bar) aber ist diese Funktion nicht aktiv, da der EBV). So wird häufig das Kraftschlusspotenzial der
31 kleine Bremskraftverstärker den Fahrer ausreichend Hinterachse nicht vollständig genutzt, obwohl es die
unterstützen kann. Ein weiterer Nutzen von HBB Fahrsituation erfordern würde. Eine bessere Aus-
32 ist, dass fehlende Verstärkerfunktion z. B. durch vo- nutzung der Hinterradbremsen kann erzielt werden,
rübergehenden Mangel an Unterdruck oder Ausfall wenn der Bremsdruck an der Hinterachse höher ist
33 des Bremskraftverstärkers vom ESP-Aggregat kom-
pensiert wird.
als der an der Vorderachse. Am Besten ist die Aus-
nutzung, wenn die Bremskraftverteilung der idealen
Kurve folgt. Dazu müssen die Bremsdrücke an der
34 40.5.3.5 Hydraulic Boost Failure Hinterachse über die der Vorderachse erhöht wer-
Compensation, HBC den. Dies ist möglich unter Verwendung der Pumpe
35 Fällt der Bremskraftverstärker aus, kann ähnlich wie des ESP-Aggregats. Regeln die Räder der Vorder-
bei der HBB die Pumpe des ESP-Aggregats bei der achse ABS, die der Hinterachse hingegen nicht,
Bremsung durch den Fahrer aktiv Bremsflüssigkeit wird die Pumpe gestartet, und es wird der Druck
36 in den Radbremszylinder fördern und dadurch den in den Hinterradbremszylindern erhöht, bis an den
Fahrer bei der Bremsung unterstützen. Hinterrädern ebenfalls die ABS-Regelung beginnt.
37 Die aktive Druckerhöhung wird beendet, wenn die
40.5.3.6 Hydraulic Fading Vorderräder nicht mehr in ABS-Regelung sind oder
Compensation, HFC
38 der Hauptbremszylinderdruck eine bestimmte Ab-
Steigt während der Bremsung durch den Fahrer die schaltschwelle unterschreitet.
Bremsentemperatur auf hohe Werte, so kann die
39 Bremswirkung nachlassen, und die Fahrzeugverzö- 40.5.3.8 Soft Stop, SST
gerung entspricht nicht mehr der bei kalten Brem- Bei sehr kleinen Fahrgeschwindigkeiten ist der Reib-
40 sen. Um die gleiche Fahrzeugverzögerung auch bei wert zwischen den Bremsbelägen und den Brems-
heißgefahrenen Bremsen beizubehalten, muss der scheiben größer als bei höheren Fahrgeschwindig-
40.5 • Mehrwertfunktionen
749 40

keiten. Deshalb erfolgt ein Bremsruck, kurz bevor aufgenommen, wenn die Geschwindigkeit die
das Fahrzeug durch die Bremsung zum Stillstand Schwelle wieder unterschreitet. Die Funktion wird
kommt. Dieser kann vermieden werden, indem automatisch deaktiviert, wenn die Geschwindigkeit
der Fahrer den Bremsdruck kurz vor Fahrzeugstill- 60 km/h überschreitet.
stand zurücknimmt. Mit den Regelventilen des ESP- Hohe Temperaturen an der Radbremse schrän-
Aggregats ist dieser Vorgang auch ohne Zutun des ken den HDC-Betrieb ein. Sind die Temperaturen
Fahrers möglich. Kurz vor Fahrzeugstillstand wird beider Räder einer Achse höher als 600 °C, so wird
der Bremsdruck in den Radbremszylindern mittels die Bremswirkung langsam zurückgenommen. Ist
der Regelventile gegenüber dem vom Fahrer vorge- die Temperatur unterhalb 500 °C gesunken, wird die
gebenen Druck im Hauptbremszylinder reduziert. Bremsregelung wieder zugeschaltet. Anhand eines
Modells der Bremse wird die Temperatur geschätzt.
In dieses Modell gehen nicht nur die Aufheizzei-
40.5.4 Standstill & Speed Control ten sondern auch die Abkühlphasen ein. Die ein-
gehende thermische Energie wird direkt aus dem
Diese Kategorie der Mehrwertfunktionen unter- geschätzten Bremsmoment abgeleitet.
stützt den Fahrer bei Fahrbahngefälle und beim Vor allem bei unebenem Gelände kann durch
Anfahren, z. B. Anfahrassistent (Hill Hold Control) Abheben der Räder durch die HDC-Bremsung eine
und ACC Stop&Go. Sie ermöglichen dem Fahrer Bremsschlupfregelung häufig notwendig werden.
ein komfortables Fahren. Durch die asymmetrischen Bremskräfte können
dabei, wie bei einer µ-Split-Bremsung, Giermo-
40.5.4.1 Hill Descent Control, HDC mente auf das Fahrzeug ausgeübt werden, die der
Geländefahrzeuge mit zugeschaltetem Unterset- Fahrer über die Lenkung ausregeln muss. Um die
zungsgetriebe können mit dem Motorschleppmo- Geschwindigkeit des Fahrzeugs beizubehalten,
ment steile Hänge ohne Betätigung der Betriebs- müssen dann die anderen Räder stärker abgebremst
bremse herunterfahren, ohne dass das Fahrzeug zu werden, was dort auch zu einer Schlupfregelung
schnell wird. Bei Fahrzeugen ohne dieses Getriebe führen kann. Hierdurch ist der Fahrer bei der Füh-
wird die Wirkung durch eine automatische Brem- rung seines Fahrzeugs belastet. Er kann sich aber
sung der Räder erreicht [9]. Dazu wird das Prinzip voll auf seine Lenkungsaufgabe konzentrieren, da
der CDD-B verwendet. die Bremsaufgabe von der HDC übernommen wird.
HDC lässt sich am Armaturenbrett über eine
Taste aktivieren und deaktivieren. Bei aktivierter 40.5.4.2 Automatic Vehicle Hold
HDC ist die Regelung erst betriebsbereit, wenn die with Acceleration Sensor,
Fahrgeschwindigkeit nicht zu groß ist (< 35 km/h), AVH-S
wenn wenig Gas gegeben wird (Gaspedalstellung Diese Fahrerassistenzfunktion dient dazu, das Fahr-
< 20 %), und wenn Gefälle erkannt wird. Der ge- zeug im Stand mit einem Haltedruck zu bremsen,
schätzte Offsetwert in Gleichung (40.9) wird als damit es stehen bleibt und nicht wegrollt. Dazu wird
Fahrbahnsteigung verwendet. Geregelt wird auf mithilfe des ESP-Aggregats eine aktive Bremsdruck-
einen konstanten Geschwindigkeitssollwert von erhöhung bis zum Haltedruck an den Rädern durch-
8 km/h. Betätigt der Fahrer das Gaspedal, so kann geführt. Im Gegensatz zur Funktion HHC-S, die nur
die Geschwindigkeit auf einen höheren Wert bis ca. 2 s wirkt, kann das Fahrzeug mehrere Minuten
maximal 35 km/h geregelt werden. Betätigt der ohne Bremsenbetätigung durch den Fahrer gehalten
Fahrer hingegen das Bremspedal, so kann die Ge- werden. Nach einer gewissen Zeit wird die Halte-
schwindigkeit auf 6 km/h herunter geregelt werden. funktion von der automatischen Feststellbremse
Auch bei der HDC werden wie bei der CDD-B die übernommen. Zur Druckerzeugung wird sowohl die
Bremsleuchten im Regelbetrieb angesteuert. Pumpe als auch das Umschaltventil zwischen Haupt-
Überschreitet bei aktivierter Funktion die zylinder und Bremskreis angesteuert [4]. Bei einer
Geschwindigkeit die Schwelle 35 km/h, so wird elektrischen Teilbestromung wirkt das Umschaltven-
die Regelung abgebrochen und erst dann wieder til wie eine Drossel. Durch die Pumpenförderung
750 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

entsteht über das Ventil ein Staudruck, wodurch die schied zu CCB bietet CCT dem Fahrer die Mög-
21 Radbremszylinder mit Bremsdruck beaufschlagt lichkeit, über Bedienelemente am Lenkrad beliebige
werden. Da der Strom variiert werden kann, ist eine Beschleunigungen und Verzögerungen vorzugeben.
22 Druckmodulation der Radbremsen möglich. Damit Dabei kann bis zum Fahrzeugstillstand verzögert
lässt sich ein minimaler Bremsdruck an den Rädern werden und z. B. durch AVH-S im Stillstand gehal-
23 einstellen, der sich an das Längsbeschleunigungssi-
gnal variabel anpasst und das ESP-Aggregat minimal
ten werden. Diese Funktion stellt hohe Anforderun-
gen an die Belastbarkeit und eine geringe Geräusch-
belastet. Wenn der erforderliche Haltedruck erreicht entwicklung des ESP-Aggregats.
24 ist, wird das Umschaltventil voll bestromt, sodass es
schließt, und die Pumpe abgeschaltet werden kann. 40.5.4.6 Controlled Deceleration for
25 Die AVH-S-Funktion muss vom Fahrer über einen DAS Basic, CDD-B
Schalter oder über eine Taste aktiviert werden. Wenn Viele Funktionen beruhen auf der Vorgabe einer
nach einer Bremsung bis zum Stillstand wieder an- Fahrzeugverzögerung, wie z. B. TSM, HDC, ACC
26 gefahren werden soll, muss die Bremse gelöst wer- und die automatische Teilbremsung bei Gefahr ei-
den. Wird der Bremsdruck in den Radbremszylin- nes Auffahrunfalls. CDD-B ist ausgelegt für Cruise
27 dern vom ESP-Aggregat gehalten, so muss über die Control-Systeme und setzt Fahrzeugverzögerun-
Ansteuerung der Umschaltventile der Druck gere- gen bis 3,5 m/s2 bei Geschwindigkeiten oberhalb
28 gelt zurückgenommen werden. Sobald der Fahrer
das Gaspedal betätigt, wird der Druck in den Rad-
von 30 km/h um. Eingangsgröße der CDD-B ist
eine Soll-Fahrzeugverzögerung, Ausgangsgröße
bremszylindern reduziert, wobei die Bremsdruckre- ist die Ist-Fahrzeugverzögerung, die durch aktives
29 duzierung vom aktuellen Motormoment und dem Bremsen an allen Rädern eingeregelt wird. Dabei
eingelegten Gang abhängig ist. wird die Pumpe des ESP-Aggregats angesteuert und
30 40.5.4.3 Automatic Vehicle Release,
die Verbindung zwischen Bremskreis und Haupt-
bremszylinder mit einem stromgeregelten propor-
AVR tionalen Ventil, dem Umschaltventil, geschlossen
31 Diese Funktion ermöglicht die geregelte Rück- (siehe auch AVH-S). Die Einlassventile der Räder
nahme des Haltedrucks im Stillstand. Sie ist in der werden nicht beeinflusst. Die Umschaltventile wir-
32 Funktion AVH-S enthalten und dort beschrieben. ken wie variable Drosseln, wobei die Drosselwir-
kung über den elektrischen Strom gesteuert wird.
40.5.4.4 Cruise Control Basic, CCB
33 Bei der adaptiven Fahrgeschwindigkeitsregelung
Durch die stetige Förderung der Pumpe durch die
variable Drossel wird ein variabler Staudruck ge-
mit Umfeldsensor (Adaptive Cruise Control, ACC) neriert, welcher die Radbremszylinder mit Druck
34 wird die Fahrgeschwindigkeit zunächst über eine beaufschlagt. Durch die hohen Komfortanforde-
Rücknahme des Motormoments reduziert. Reicht rungen an Geräusch und Fahrzeugverzögerung,
35 der Motoreingriff nicht aus, so wird mit dem ESP- z. B. bei ACC, sind hochwertige Umschaltventile
Aggregat ein aktiver Bremseneingriff eingeleitet, um erforderlich [4].
die von der ACC vorgeschriebene Fahrzeugverzö-
36 gerung zu erreichen, siehe Funktion CDD-B. Für 40.5.4.7 Controlled Deceleration for
diese Grundfunktion des ACC sind Bremsdrücke DAS, Stop&Go, CDD-S
37 bis zu 40 bar erforderlich. Da die Bremsfunktion Im unteren Geschwindigkeitsbereich (0–30 km/h)
hohe Anforderungen an den Komfort erfüllen muss, wird relativ häufig gefahren, und zwar in ca. 32 %
38 sind genaue und kontinuierlich regelbare Umschalt- der Gesamtbetriebszeit des Fahrzeugs. Der Stauas-
ventile erforderlich. sistent hilft dem Fahrer im Verkehrsstau, bei Fahr-
geschwindigkeiten unterhalb von 30 km/h, Auffahr-
39 40.5.4.5 Cruise Control Touch unfälle zu vermeiden. Dafür ist ein Sensor (z. B. ein
Activated, CCT Radarsensor) für den Nahbereich und für niedrige
40 Auch diese Funktion nutzt das ESP-Aggregat, um Geschwindigkeiten erforderlich, um Hindernisse
das Fahrzeug komfortabel zu verzögern. Im Unter- vor dem Fahrzeug zu erkennen. Zudem ist ein
40.5 • Mehrwertfunktionen
751 40

Hochleistungs-Bremssystem nötig, um das Fahr- bei wird der vom Fahrer aufgebrachte Bremsdruck
zeug bei niedrigen Fahrgeschwindigkeiten komfor- für bis zu 2  s beibehalten. Es findet kein aktiver
tabel bis zum Stillstand zu verzögern. Wenn erfor- Druckaufbau statt. Dadurch hat der Fahrer genü-
derlich, wird das Fahrzeug durch den Stauassistent gend Zeit, um vom Bremspedal zum Gaspedal zu
aktiv und bis zum Stillstand verzögert. Genau wie wechseln. Der Bremsdruck wird abgebaut, sobald
CDD-B dient CDD-S diesen Cruise Control-Syste- das System den Anfahrvorgang erkennt. Um den
men als Steller, um die geforderte Fahrzeugverzöge- richtigen Zeitpunkt für den Druckabbau zu be-
rung einzustellen. Dies ist mit CDD-S aber in jedem stimmen, ist es notwendig, das Kräftegleichgewicht
Geschwindigkeitsbereich bis zum Stillstand mög- am Fahrzeug zu kennen. Dieses kann aus dem Mo-
lich, einschließlich Stop&Go-Betrieb. CDD-S kann tormoment und der Hangabtriebskraft berechnet
höhere Verzögerungen bis zu 6 m/s2 einstellen. Das werden. Die Hangabtriebskraft wird mittels eines
Fahrzeug kann hydraulisch oder mittels einer me- Längsbeschleunigungssensors abgeschätzt. Die
chanischen Feststellbremse im Stillstand gehalten HHC-Funktion wird automatisch aktiviert. Um zu
werden. Wegen der hohen Einsatzhäufigkeit werden vermeiden, dass der Fahrer das Fahrzeug verlässt,
hierbei besonders hochwertige ESP-Aggregate ver- während HHC aktiv ist, werden zur Sicherheit zu-
wendet. Wenn das vorausfahrende Fahrzeug anhält, sätzliche Signale (z. B. Kupplungssignal) überprüft.
kann der Fahrer sowohl visuell, akustisch als auch
haptisch gewarnt werden, z. B. mittels AWB, um ihn
zur Bremsung zu animieren. Wenn der Fahrer nicht 40.5.5 Advanced Driver Assistance
rechtzeitig bremst, verzögert das System das Fahr- System Support
zeug bis zum Stillstand.
Bei dieser Kategorie von Mehrwertfunktionen
40.5.4.8 Controlled Deceleration for werden die ESP-Eingriffe auf der Grundlage von
Parking Brake, CDP Sensorsignalen aus den Bereichen der aktiven und
CDP findet in Fahrzeugen mit elektromechani- passiven Sicherheit angepasst. So z. B. die Automatic
schen Feststellbremsen Verwendung. Diese Brem- Warning Brake, die helfen soll, die Aufmerksamkeit
sen ersetzen die konventionellen Handbremshebel: des Fahrers zu erhöhen, siehe hierzu auch Kap. 47.
Die Seile der Feststellbremse werden durch einen
Elektromotor betätigt. Bei laufendem Motor über- 40.5.5.1 Adaptive Brake Assist, ABA
nimmt zunächst die ESP-Hydraulik die Aufgaben Je früher eine Vollbremsung einsetzt, desto kürzer
der Feststellbremse bis zum Fahrzeugstillstand und ist der Bremsweg. Im Hinblick auf den Bremsas-
auch kurze Zeit danach, bis die mechanische Fest- sistenten HBA wurde bereits erklärt, dass nach Er-
stellbremse diese übernommen hat. CDP bildet das kennung einer Gefahrensituation eine automati-
Interface zum Steuergerät der elektromechanischen sche Vollbremsung bis in den ABS-Bereich erfolgt.
Feststellbremse und bremst das Fahrzeug durch ak- Für die Erkennung wird aber Zeit benötigt. Zudem
tive Druckerhöhung an den Rädern. Während des wird Zeit gebraucht, bis die Bremsbeläge anliegen
Abbremsvorgangs bleiben alle ESP-Funktionen voll und Bremsmoment entsteht. Wird aufgrund der
verfügbar. Umfeldsensorik eine Gefahrensituation erkannt, so
wird die Auslöseschwelle des HBA herabgesetzt.
40.5.4.9 Hill Hold Control with Dies kann in mehreren Stufen erfolgen. Mithilfe
Acceleration Sensor, HHC-S der ABP-Funktion werden die Bremsbeläge auto-
Wenn ein Fahrzeug an einer Steigung anfahren soll, matisch an die Bremsscheiben angelegt, noch be-
ist ein komplizierter Vorgang mit Koordination von vor der Fahrer die Bremsung einleitet. Betätigt der
Bremspedal Loslassen, Einkuppeln, Handbremse Fahrer dann die Bremse, so wird der Bremsassis-
Lösen und Gas Geben notwendig, damit das Fahr- tent schneller aktiviert, die Bremswirkung startet
zeug beim Bremsenlösen nicht zurückrollt. Dieser sofort, und der Bremsweg ist kürzer. Diese Funk-
Vorgang kann mithilfe des ESP-Aggregats zu einem tion wird auch „Predictive Brake Assist“ (PBA) ge-
normalen Anfahrvorgang vereinfacht werden. Da- nannt. Bei der EHB (Elektrohydraulische Bremse)
752 Kapitel 40 • Bremsenbasierte Assistenzfunktionen

wird zusätzlich die Bremskraftverstärkung erhöht. d. h. eine Änderung in der Fahrzeugbeschleunigung.
21 Auch wenn der Auffahrunfall nicht vermieden Bei der AWB wird dieser Ruck durch einen kleinen
werden kann, wird die Unfallschwere durch die aktiven Bremsimpuls von ca. 10 bar ausgelöst. Dazu
22 geringere Geschwindigkeit beim Aufprall gerin- wird, wie bei der CDD-B, die Pumpe des ESP-Ag-
ger sein. In einer weiteren Ausbaustufe wird auf gregats angesteuert. Die Umschaltventile werden so
23 Grundlage der Information aus der Umfeldsenso-
rik zusätzlich ein erforderlicher Bremsdruck ausge-
angesteuert, dass der Schließdruck ca. 10 bar beträgt.
Ist der Schließdruck in den Radbremszylindern er-
rechnet, mit dem der Auffahrunfall noch vermie- reicht, wird nach ca. 250 ms der Vorgang abgebro-
24 den werden kann. Leitet der Fahrer die Bremsung chen, wodurch die Umschaltventile geöffnet werden
ein, so wird dieser Bremsdruck automatisch und und die Pumpe abgeschaltet wird.
25 sofort eingestellt.

40.5.5.2 Automatic Brake Prefill, ABP 40.5.6 Monitoring & Information


26 Wird aus der Information der Umfeldsensorik eine
Gefahrensituation festgestellt, die zu einem Auf- Zu dieser Kategorie der Mehrwertfunktionen zäh-
27 fahrunfall führen kann, werden die Bremsbeläge an len Funktionen, die basierend auf ESP den Fahrer
die Bremsscheibe angelegt, um bei einer anschlie- mit wichtigen Informationen versehen, wie z. B. die
28 ßenden Bremsung eine sofortige Bremswirkung zu
erzielen. Dafür wird die Funktion EBP (Electronic
Reifen-Luftdrucküberwachung.

Brake Prefill) verwendet. Anwendung findet diese 40.5.6.1 Tire Pressure Monitoring
29 Funktion z. B. bei der ABA. System, TPM
Wenn der Luftdruck in den Reifen niedriger als vor-
30 40.5.5.3 Automatic Emergency Brake, geschrieben ist, nimmt der Reifenverschleiß zu. Bei
AEB schneller Fahrt werden Reifen mit niedrigem Luft-
Diese Funktion leitet eine automatische Notbrem- druck wegen dem erhöhten Rollwiderstand und Ver-
31 sung bis zum ABS-Betrieb ein, auch wenn der Fahrer formungsarbeit heiß und können platzen, vor allem
nicht rechtzeitig reagiert. Hierfür ist eine sichere Er- beim beladenen Fahrzeug und an einem heißen Tag.
32 kennung der Gefahrensituation erforderlich. Neben Der Fahrer ist deshalb angehalten, den Luftdruck re-
der Sensorik für den Fernbereich, wie sie bei ACC gelmäßig zu prüfen. Es kommt jedoch häufig vor,
33 verwendet wird, ist zusätzlich eine Sensorik für die
Erkennung des Nahfeldbereichs erforderlich (z. B.
dass der Fahrer die Prüfung nicht durchführt. Bei
einer Untersuchung in den USA stellte sich heraus,
Videosensorik). Wie bei der CDD-B wird eine aktive dass über die Hälfte der Fahrzeuge mit falschem Rei-
34 Bremsung eingeleitet, die wie bei der CDD-S bis zum fenluftdruck unterwegs waren. Der Vorteil des TPM
Stillstand des Fahrzeugs fortgeführt wird. Der Druck besteht darin, den Luftdruck in den Reifen während
35 in den Radbremszylindern wird aber nicht auf eine der Fahrt ständig zu überwachen und eine Meldung
vorgegebene Fahrzeugverzögerung eingestellt, son- abzugeben, falls der Druck zu gering ist. Ausgelöst
dern ähnlich wie bei der HBA so schnell wie möglich durch schwere Unfälle in den USA, die auf Rei-
36 bis zur ABS-Druckmodulation erhöht. fendruckverlust zurück zu führen waren, wird seit
2008 eine automatische Reifendrucküberwachung
37 40.5.5.4 Automatic Warning Brake, für Neufahrzeuge (Pkw und leichte Nutzfahrzeuge)
AWB gefordert, die den Fahrer warnt, wenn der Druckver-
38 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aufmerk- lust in einem Reifen größer als 25 % ist.
samkeit des Fahrers bezüglich der Gefahrensituation Bei der Funktion TPM wird der Druck nicht
zu erhöhen. So können akustische und optische Si- direkt gemessen (wie bei der so genannten direkten
39 gnale abgegeben werden, wenn aus der Information Methode, TPM-C) sondern aus den Radgeschwin-
der Umfeldsensorik auf eine potenzielle Gefahrensi- digkeiten abgeleitet (die indirekte Methode). Dazu
40 tuation erkannt wird. Effektiv sind haptische Signale, werden die vier Radgeschwindigkeiten bei Gerade-
die der Fahrer spürt, wie z. B. ein Fahrzeug-Ruck, ausfahrt und konstanter Fahrgeschwindigkeit mit-
Literatur
753 40

einander verglichen. Die Methode funktioniert gut, konzept unabdingbar sind (z. B. Informationen über
wenn nur ein Reifen Druck verliert. Es besteht aber Ausfallraten und Risikoprioritätszahlen), ist dabei
die Möglichkeit, auch eine Warnung auszugeben, eine große Herausforderung.
wenn alle vier Reifen oder zwei Reifen auf einer
Achse gleichmäßig Luftdruck verlieren. Die Funk-
tion beruht auf der Tatsache, dass wenn ein Reifen Literatur
Luft verliert, der Reifenradius etwas kleiner bzw. die
Raddrehung etwas schneller wird. Der Unterschied [1] Burkhardt, M.: Radschlupf‐Regelsysteme. Vogel Buchver-
lag, Würzburg (1993)
ist jedoch gering, vor allem bei Reifen mit niedrigem
[2] Schindler, E.: Fahrdynamik. Expert Verlag, Renningen
Querschnitt, und es muss auf ca. 0,25 % Geschwin- (2007)
digkeitsunterschiede geprüft werden. Dies setzt eine [3] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Fahrsicherheitssysteme. Vie-
sehr langsame Filterung und Mittelwertbildung der weg Verlag, Wiesbaden (2004)
Radgeschwindigkeit voraus. Nach einem Reifen- [4] Breuer, B., Bill, K.-H. (Hrsg.): Bremsenhandbuch. Vieweg
Verlag, Wiesbaden (2006)
wechsel muss die Funktion zurückgesetzt werden,
[5] van Zanten, A., Erhardt, R., Pfaff, G.: FDR – Die Fahrdyna-
z. B. durch Betätigung einer „Reset“-Taste, und alle mikregelung von Bosch. ATZ, Ausgabe 96(11), 674–689
Reifen müssen auf Solldruck eingestellt werden. Ne- (1994)
ben der Auswertung der Abrollumfänge wird neu- [6] Isermann, R. (Hrsg.): Fahrdynamik‐Regelung. Vieweg Ver-
erdings auch das Frequenzspektrum der Radsignale lag, Wiesbaden (2006)
[7] Rieth, P., Drumm, S., Harnischfeger, M.: Elektronisches Sta-
ausgewertet (TPM-F).
bilitätsprogramm Bibliothek der Technik, Bd. 223. Verlag
Moderne Industrie, Landsberg/Lech (2001)
[8] Keppler, D.; Rau, M.; Ammon, D.; Kalkkuhl, J.; Suissa, A.; Wal-
40.6 Ausblick ter, M.; Maack, L.; Hilf, K.‐D.; Däsch, C.: Realisierung einer
Seitenwind‐Assistenzfunktion für PKW. Tagungsband des
11. Braunschweiger Symposiums AAET 2010 (Automati-
Kurz nach Markteinführung des ESP erschien das
sierungs‐, Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für
wichtige Fahrerassistenzsystem „Bremsassistent“ Transportmittel), 10. und 11. Februar 2010, ITS Niedersach-
auf dem Markt. Seitdem ist die Zahl der Fahreras- sen e.V., Braunschweig, 2010, S. 178–199
sistenzsysteme sprunghaft angestiegen. Anfänglich [9] Fischer, G., Müller, R.: Das elektronische Bremsenmanage-
stand aber die Integration von ESP mit weiteren ment des BMW X5. ATZ 102(9), 764–773 (2000)

aktiven Systemen wie dem aktiven Lenksystem,


der Fahrwerkregelung oder der aktiven Antriebs-
momentenverteilung im Vordergrund [6]. Diese
Entwicklung ist seit dem Jahr 2008 in vollem Gang,
aber auch die Koppelung von ESP als aktives Sicher-
heitssystem mit Systemen, die auf Umfeldsensorik
aufbauen, und mit Systemen der passiven Sicherheit
steht im Zentrum der Entwicklung. Dabei steht die
sichere Erkennung von Gefahrensituationen und
die Sicherheit bei der Integration aktiver Systeme
im Vordergrund. Die Sicherheit ist der zeitbe-
stimmende Faktor für den Fortschritt auf diesem
Gebiet. Deshalb wird es noch einige Jahre dauern,
bis diese Vernetzungen und Kopplungen in vollem
Umfang umgesetzt sind. Eine Besonderheit dabei ist
die Vernetzung von Komponenten und Systemen
unterschiedlicher Hersteller, vor allem wenn diese
Hersteller Wettbewerber sind. Der Austausch von
Spezifikationen und sicherheitsrelevanten Daten
zwischen den Wettbewerbern, die für das Gesamt-
755 41

Fahrdynamikregelung
mit Brems- und Lenkeingriff
Thomas Raste

41.1 Einleitung – 756
41.2 Anforderungen an die Zusatzfunktion Stabilisierung
mit Bremse und Lenkung  –  756
41.3 Konzept und Wirkprinzip der Brems-
und Lenkregelung – 758
41.4 Funktionsmodule zum Lenkwinkeleingriff  –  760
41.5 Funktionsmodule zur Fahrerlenkempfehlung  –  761
41.6 Spezifische Entwicklungs­herausforderungen
und zukünftige Entwicklungen  –  763
Literatur – 765

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_41, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
756 Kapitel 41  •  Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff

41
41.1 Einleitung

Der Nutzen moderner Bremsensysteme bis hin


- Steer-by-Wire-Systeme ebnen den Weg für
völlig neuartige Mensch-Maschine-Schnittstel-
len, wie z. B. eine Side-Stick-Steuerung anstatt
2 zur elektronischen Stabilitätsregelung (engl. Elec- der konventionellen Winkelvorgabe mittels
tronic Stability Control, ESC) liegt darin, das Ver- Lenkrad.
halten des Autos für den Fahrer berechenbarer, in
3 einem weiten Bereich stabil und im Grenzbereich Aktive Lenksysteme bieten nicht nur ein großes
gutmütig beherrschbar zu machen. Stabil bedeutet Vernetzungspotenzial für die Fahrdynamikregelung
4 für den Fahrer, dass die Reaktion des Autos auf Be- auf der Stabilisierungsebene, sondern auch für Fah-
dienvorgaben seinen Erwartungen entspricht. Ein rerassistenzfunktionen auf der Bahnführungsebene.
5 Fahrzustand ist als stabil zu bezeichnen, wenn er bei . Abbildung 41.2 zeigt einige bereits heute oder in
konstanten Fahrervorgaben unverändert bleibt und naher Zukunft in Serie befindlichen Funktionen.
sich bei kleinen Änderungen der Vorgaben nur we-
6 nig ändert. Stabile Fahrzustände entsprechen dem
Normalfahrbereich, in dem vor allem komfortre- 41.2 Anforderungen an die
7 levante und fahrspaßrelevante Abstimmungen des Zusatzfunktion Stabilisierung
Fahrwerks vom Fahrer wahrgenommen werden. mit Bremse und Lenkung
Führt ein geringfügiger Eingriff des Fahrers dage-
8 gen zu großen Änderungen des Fahrzustands – z. B. Der Systemkontext in . Abb. 41.3 definiert die
eine geringe Lenkkorrektur zum Schleudern – so ist Funktionseinheiten der Fahrdynamikregelung mit
9 der Fahrzustand instabil, d. h. das Fahrzeug bewegt Lenkeingriff und definiert Schnittstellenanforde-
sich im sicherheitsrelevanten Grenzbereich. Fahrer rungen für das Zusammenwirken mit den anderen
10 und Fahrzeug bilden den in . Abb. 41.1 skizzierten Fahrzeugsystemen. Dem Fahrzeughersteller ob-
Regelkreis: Der Fahrer lenkt, gibt Gas oder bremst. liegt die Aufgabe zu entscheiden, welche Hardware
Seine Befehle werden in zunehmendem Maße nicht eingesetzt und welchen Steuergeräten die Software
11 direkt umgesetzt, sondern durch aktive Systeme zugeordnet wird. Eine gängige Variante ist die Reali-
„gefiltert“, um ein optimales und sicheres Fahrver- sierung der Stabilisierungsfunktionen im ESC-Steu-
12 halten zu erzielen. ergerät; ein entsprechend erweitertes ESC mit integ-
Aktive Lenksysteme lassen sich wie folgt unter- rierter Querdynamikregelung nutzt das Lenksystem
13
-
scheiden:
Systeme zur Momentenüberlagerung erlauben
unabhängig vom Fahrer die Einflussnahme auf
als Aktuator für stabilisierende Regeleingriffe. Dabei
bestehen aus Sicht der Benutzer folgende Anforde-
rungen an die Fahrdynamikregelung mit kombi-

-
14 das Lenkmoment, womit dem Fahrer eine hap- nierten Brems- und Lenkeingriffen:
tische Rückmeldung als Lenkempfehlung in verbesserte Spur- und Richtungstreue in allen
15 einer kritischen Fahrsituation gegeben werden Betriebszuständen wie Lastwechsel, Voll- und

16 - kann;
Systeme zur Winkelüberlagerung erlauben
einen vom Fahrer vorgegebenen Lenkeinschlag
der Vorderräder zu verändern oder den von
- Teilbremsung in Kurven, Slalom,
erweiterte Fahrstabilität im Grenzbereich bei
extremen Lenkmanövern (z. B. Notlenksitua-
tion, Panikspurwechsel) und damit Reduzie-
17
18 -
der Kinematik bestimmten Lenkeinschlag der
Hinterräder zu modifizieren;
Systeme zur Momenten- und Winkelüberlage-
rung vereinen die Vorzüge der beiden vorge-
- rung der Schleudergefahr,
verringerter Lenkaufwand und verbesserte
Nutzung des Kraftschlusspotenzials beim
Bremsen und Antreiben – insbesondere auf
nannten Systeme, die Aktuatoren sind hierbei inhomogenen Fahrbahnen und dadurch
19 entweder örtlich konzentriert und damit sehr Bremsweg- und Traktionsgewinne bei gleicher
platzsparend in einem gemeinsamen Gehäuse oder besserer Stabilität.
20 untergebracht oder als separate Stellglieder an
verschiedenen Stellen im Lenkstrang platziert;
41.1 • Einleitung
757 41
Fahrzeugreaktion

Störungen Fahrzeug
Fahrdynamik-
Aktuatoren
Gaspedal Antriebs-
Antrieb
management

ESC stabilisiertes
Bremspedal Fahrverhalten
Fahrer Bremsen-
Bremsen
management
Umwelt,
Verkehr
Lenkrad Lenkungs-
Lenkung
management
Aktives Lenksystem

Fahrzeugreaktion

.. Abb. 41.1  Regelkreis Fahrer – Fahrzeug – Umwelt mit ESC und aktivem Lenksystem

Funktionen
aktiver Lenksysteme

Aktuatorfunktionen Assistenzfunktionen Assistenzfunktionen Stabilisierungs-


Komfort / Agilität Komfort Sicherheit funktionen

Variable Einpark- Lane Departure Lenkwinkel-


Lenkübersetzung Assistenz Warning eingriff

Überhol- / Einfädel- Fahrerlenk-


Lenkvorhalt Heading Control
Assistenz empfehlung

Baustellen-
Lenkgefühl Lane Centering
Assistenz

Spurwechsel-
Assistenz

.. Abb. 41.2  Funktionen aktiver Lenksysteme


758 Kapitel 41  •  Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff

.. Abb. 41.3 Systemkon-
41 ESC Bordnetz text und Schnittstellen der
Systemgrenze Fahrdynamikregelung mit
Umgebung Lenkeingriff
2
Stabilisierungs-
funktionen Chassis/
3 - Lenkung Body

Aktives

4 Fahrzeug
CAN Bus
Lenksystem Gelenkte
Räder

5 Fahrdynamikregelung
mit Lenkeingriff Verbrennungs-
Motor
6
Diagnose Lenkrad/
Lenkstrang Fahrer
7
Fahrer- Fahrzeug- .. Abb. 41.4 Hierar-
8
längs quer vertikal gieren rollen nicken
Sollvorgaben w Ist-Bewegung y x y z ψ ϕ θ chisch-kaskadiertes
Regelungskonzept (Reifen-
Fahrdynamik-
Fahrdynamik- kräfte sind straßenseitig
9 Regelung
Regelung
dargestellt)
Bewegungs-
Sollgrößen v Fahrdynamik-
10 z.B. Giermoment Aktuator

Reifenkraft-
Reifenkraft-
11 Aktuator-
Regelung
Regelung
Kammscher
Reibungskreis
Sollgrößen u
12 z.B. Bremsmoment max. Reifen-
Längskraft Fx
max. Reifen-
Querkraft Fy
Aktuator-
Aktuator-
Regelung
13 Regelung max. horizontale vertikale
Reifenkraft FR = µFz Reifenkraft Fz

14 Der elektronischen Stabilitätsregelung ESC er- 41.3 Konzept und Wirkprinzip


schließen sich mit aktiven Lenksystemen völlig der Brems- und Lenkregelung
15 neue Möglichkeiten der Fahrzeugstabilisierung: Ein
kombinierter Brems- und Lenkeingriff kann uner- Das Konzept der kombinierten Brems- und Lenk-
wünschten Gierreaktionen schnell und komforta- regelung basiert auf einem abgestuften, kaskadier-
16 bel entgegenwirken. Die Stabilisierungsfunktionen ten Regelungskonzept, . Abb. 41.4. Mittels Sen-
kommen bevorzugt in den folgenden Fahrsituatio- soren an Bremse, Lenkung und Gaspedal werden
17
--
nen zum Einsatz:
Bremsen auf µ-split,
die Fahrer-Sollvorgaben erfasst und mit der durch
Inertial- und Geschwindigkeitssensoren ermittelte
18
-- Beschleunigen auf µ-split,
Übersteuern,
Fahrzeug-Istbewegung verglichen. Abweichungen
korrigiert der Fahrdynamikregler durch Vorga-

19
20
--
Untersteuern,
Überrollgefahr,
Anhängerinstabilität.
ben von Sollgrößen, die eine Änderung der Fahr-
zeugbewegung bewirken. Die Reifenkräfte an der
Kontaktstelle Reifen – Straße sind zuständig für die
Bewegungsänderung und werden über Fahrdyna-
mik-Aktuatoren neu eingestellt. Hierbei bildet der
41.3  •  Konzept und Wirkprinzip der Brems- und Lenkregelung
759 41
.. Abb. 41.5 Reifenkräfte, Fx
Radgeschwindigkeiten
und Giermomentanteil des FR v Gy = v Ry
Rades

vG
rcg × F R → opt .
Fy vGx vR
rcg α δ

vRx

.. Abb. 41.6 Anwen- Fall A: Bremsung auf µ-Split


dungsfälle für das 3) Hinzunahme Hinterachsbremse
Zusammenwirken von Niedrig-
Brems- und Lenksystemen reibwert
zur Fahrzeugstabilisierung
in kritischen Situationen Hoch-
reibwert
1) Bremsbeginn 2) Aktives Gegenlenken

Fall B: Übersteuern bei Kurvenfahrt

1) Stabilisierung mit ESC 2) Stabilisierung mit ESC und


Lenksystem EPS oder AFS

vom Reibwert µ und der Aufstandskraft Fz abhän- gleichzeitig über Bremse oder Antrieb der Betrag
gige Kamm’sche Reibungskreis die Grenze für die der Kraft FR vergrößern. Aber auch ein Minimieren
maximal einstellbaren horizontalen Reifenkräfte am des Giermomentanteils eines Rades ist in bestimm-
jeweiligen Rad. ten Fahrsituationen gefordert, was ebenfalls mit-
. Abb. 41.5 zeigt, wie ein einzelnes Rad zum tels Lenkeinschlag geschieht. Jedoch soll jetzt das
Giermoment des Fahrzeugs beiträgt [1]. Die Ho- Kreuzprodukt, d. h. die von FR und rcg aufgespannte
rizontalkräfte sind abhängig von den Schlupfgrö- Fläche möglichst klein werden. Typische Anwen-
ßen, die aus der Gleitgeschwindigkeit vG und der dungsfälle für ein Zusammenwirken von Brems-
absoluten Geschwindigkeit vR des Rades abgeleitet und Lenksystemen zur Fahrzeugstabilisierung sind
werden können. Die Resultierende FR der Horizon- in . Abb. 41.6 dargestellt.
talkräfte und die Gleitgeschwindigkeit vG befinden In Fall A – beim Bremsen auf ungleich griffi-
sich entgegengesetzt auf der gleichen Wirkungs- ger Fahrbahn (µ-split) – baut sich in sehr kurzer
linie. Zeit ein großes Giermoment auf. Ohne Regelsys-
Der Anteil des Giermoments, das jedes Rad er- teme ist diese Situation vom Fahrer nur schwer zu
zeugt, erreicht sein Maximum, wenn das Kreuzpro- beherrschen. Heutige Stabilitätsregelsysteme wie
dukt aus dem Ortsvektor rcg vom Fahrzeugschwer- das ESC schwächen die destabilisierende Giermo-
punkt zum Radzentrum und dem Vektor FR der mentwirkung auf das Fahrzeug dadurch ab, dass
resultierenden Reifenkraft maximal ist. Über den an der Vorderachse die Bremskraft leicht verzögert
Lenkwinkel δ am Rad lassen sich Kraft- und Orts- aufgebaut wird. Zudem wird programmgesteuert an
vektor näherungsweise orthogonal einstellen und der Hinterachse kein Giermoment erzeugt, in dem
760 Kapitel 41  •  Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff

18000 .. Abb. 41.7  Potenzial von


41 16000
Giermoment ausdrehend
Giermoment eindrehend
Brems- und Lenksystemen
für Zusatzgiermomente
14000 zum Ausdrehen aus bzw.
2 Eindrehen in Kurven
Giermoment [Nm]

12000
jeweils im Normalfahr- und
Grenzbereich
3
10000

8000

4 6000

4000

5 2000

6 ESC AFS ARK ESC AFS ARK

Normalfahrbereich Grenzbereich
7
der niedrigste Reibwert die Bremskraft an beiden . Abbildung 41.7 zeigt, über welches Potenzial
8 Rädern bestimmt (sog. „Select-Low“-Strategie). zur Erzeugung von Giermomenten das ESC mit
Die genannten Strategien bewirken jedoch einen der Bremse, die AFS (Active Front Steering) mit
9 Zielkonflikt zwischen maximaler Stabilität und mi- Winkelüberlagerung an der Vorderachse und die
nimalem Bremsweg. Eine deutliche Reduzierung ARK (Active Rear Axle Kinematics) mit Winkel-
10 dieses Zielkonflikts erreicht man durch eine Koor- überlagerung an der Hinterachse verfügen [2]. Im
dinierung von Brems- und Lenkeingriffen: Durch Grenzbereich hat das ESC das größte Potenzial, ein
Einlenken der Vorderräder in Richtung des niedri- übersteuerndes Fahrzeug zu stabilisieren. Mit den
11 geren Reibwerts verkleinert sich das Gesamtgiermo- Lenksystemen kann man im Grenzbereich sehr ef-
ment, welches auf das Fahrzeug wirkt. Somit kann fektiv Seitenkräfte abbauen, was beim AFS zu einem
12 auf einen verzögerten Aufbau der Bremskraft an der hohen ausdrehenden und bei der ARK zu einem
Vorderachse und die Select-Low-Strategie an der noch höheren eindrehenden Giermoment führt.
Hinterachse verzichtet werden, wodurch sich der
13 Bremsweg bei gleichzeitig guter Geradeausstabilität
erheblich reduziert. 41.4 Funktionsmodule
14 In Fall B ist ein Übersteuern bei Kurvenfahrt zum Lenkwinkeleingriff
dargestellt. Beim Übersteuern ist die Stabilität he-
15 rabgesetzt, weil ein Giermoment das Fahrzeug- Die typischen Funktionsmodule für einen Lenk-
heck in Richtung Kurvenaußenrand drängt und winkeleingriff sind in . Abb. 41.8 dargestellt:
ein gefährlicher Schleuderzustand droht. In einem Der Radlenkwinkel δ ergibt sich aus dem Fahrer-
16 solchen Fall bremst das ESC das vordere kurvenäu- wunsch-Lenkwinkel δFW und den Überlagerungs-
ßere Rad ab, um ein stabilisierendes Giermoment winkeln δFB aus dem Giermomentregler und δFF aus
17 zu erzeugen bzw. das destabilisierende Giermoment der Giermomentkompensation. Von den Fahrer-
abzuschwächen. Durch das Lenksystem kann das vorgaben wird der Lenkradwinkel δH und der Fah-
stabilisierende Giermoment noch einmal erheblich rerbremsdruck pF benutzt; am Fahrzeug wird die
18 gesteigert werden: Dies geschieht durch ein Zu- Gierrate P und die Querbeschleunigung ay gemes-
rücklenken, d. h. Verkleinern des Lenkwinkels an sen und der Regelung zugeführt. Nicht dargestellt ist
19 der Vorderachse – womit sich der Winkel zwischen die Verwendung der Fahrzeuggeschwindigkeit, die
Ortsvektor zum Schwerpunkt und resultierender aus den gemessenen Raddrehzahlen bestimmt wird.
20 Kraft und somit der stabilisierende Giermomen- Die Referenzgierrate berücksichtigt das stationäre
tanteil des linken Vorderrads vergrößert. und dynamische Fahrzeugverhalten und muss auf
41.5  •  Funktionsmodule zur Fahrerlenkempfehlung
761 41
z

(optional) pi

ay
Lenkwinkeleingriff

pF Störgrößen-
pi , M z Giermoment-
Fahrer Fahrzeug
schätzung Kompensation

δ FF
δH Variable δ FW δ ψ&
Lenk-
übersetzung
δ FB

Gierraten- ψ& ref Giermoment-


Referenz Regler

.. Abb. 41.8  Lenkwinkeleingriff mit Giermomentregler und -kompensation

ein physikalisch sinnvolles, durch den maximalen höchstmöglichen Bremsdruck einstellen, so dass
Reibwert bestimmtes Maß limitiert werden. Der der Bremsweg bei spürbar verbesserter Fahrstabili-
Giermomentregler enthält Anteile zur Folgerege- tät erheblich schrumpft. Der Fahrer muss in dieser
lung der Gierrate, um den Fahrer zu unterstützen, Stresssituation lediglich dorthin lenken, wohin er
und zur Begrenzung des Schwimmwinkels bzw. der fahren möchte.
Schwimmwinkelgeschwindigkeit, um die Stabilität Die Giermomentregelung verbessert das Hand-
des Fahrzeugs zu verbessern. Die Giermomentkom- ling des Autos durch gezielte Lenkeingriffe in Kur-
pensation ist eine Störgrößenaufschaltung, die die ven, wobei die Vorderräder kurzzeitig etwas stärker
negativen Auswirkungen von Störgrößen z auf das und schneller eingelenkt werden, als es aufgrund
Fahrverhalten beim Bremsen oder Beschleunigen der Lenkradbewegungen der Fall wäre. In Notsi-
kompensiert. Das für die Giermomentkompensa- tuationen sorgt die Regelung für ein schnelles An-
tion erforderliche Störgiermoment Mz wird aus den sprechverhalten des Fahrzeugs, bessere Stabilität
Bremsdrücken bzw. den einzelnen Bremskräften und geringeren Lenkaufwand, . Abb. 41.10. Das
abgeschätzt. Die Funktion wird entscheidend ver- stabilisierende Gegenlenken erfolgt automatisch
bessert, wenn die Bremsdrücke pi an den Rädern und kann sehr früh erfolgen, da es vom Fahrer un-
gemessen werden. bemerkt bleibt. Mit zunehmendem Schwimmwinkel
Das Sicherheitsplus zeigt sich vor allem beim werden die Bremseneingriffe stärker hinzugezogen.
Bremsen auf ungleich griffiger Fahrbahn (µ-split),
. Abb. 41.9: Weil die Reifen auf griffigem Unter-
grund mehr Bremskraft übertragen können als auf 41.5 Funktionsmodule zur
glattem Untergrund, will sich das Auto in Richtung Fahrerlenkempfehlung
der griffigen Seite drehen. Das um den Lenkwin-
keleingriff erweiterte ESC steuert diesem Drang Ist die Lenkung als System zur Momentenüber-
durch automatisches, dosiertes Lenken in die andere lagerung ausgeführt, erfolgt der Lenkeingriff als
Richtung entgegen und befreit den Fahrer von der Fahrerlenkempfehlung (engl. Driver Steering
Aufgabe, dies zur Stabilisierung des Autos selbst zu Recommendation, DSR). Droht das Auto vom
tun. Gleichzeitig kann ESC an jedem Rad genau den Wunschkurs des Fahrers abzukommen, ist im
762 Kapitel 41  •  Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff

Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff Fahrdynamikregelung mit Bremseingriff

41 90 30 90 30
Geschwindigkeit [km/h]

Geschwindigkeit [km/h]
Bremsweg=69m Bremsweg=77m
60 vx 20 60 vx 20

Gierrate [°/s]

Gierrate [°/s]
30 dψ /dt 10 30 dψ /dt 10

2 0 0 0 0

-30 -10 -30 -10

3 -60 -20 -60 -20

4 150
pVL
150
pVL
Bremsdruck [bar]

Bremsdruck [bar]
pVR pVR
pHL pHL
100 100
pHR pHR

5 50 pF 50 pF

0 0

6
2 2
δFW δ

7 0 0
Lenkwinkel [°]

Lenkwinkel [°]
δ

-2 -2

8 -4 -4

-6 -6
0 1 2 3 4 5 6 7 8 0 1 2 3 4 5 6 7 8

9
Zeit [s] Zeit [s]

.. Abb. 41.9  Bremsung auf µ-split mit Lenkwinkeleingriff zur Giermomentkompensation und kombiniertem Bremseingriff an
der Hinterachse im Vergleich zum ESC ohne Lenkeingriff
10
Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff
15 60
Querbeschleunigung [m/s ]
2

11
ay
10 40
dψ /dt

Gierrate [°/s]
5 20
0 0

12 -5
-10
-20
-40
-15 -60

13
80 80 Geschwindigkeit [km/h]
pVL

14
Bremsdruck [bar]

60 pVR 60
pHL
40 pHR 40

15
vx
20 20

0 0

16 15
δFW
10
Lenkwinkel [°]

17
δ
5
δFB
0
-5

18 -10
-15
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5
Zeit [s]

19 .. Abb. 41.10  VDA-Fahrspurwechsel mit kombiniertem Lenkwinkel- und Bremseingriff zur Giermomentregelung

20
41.6  •  Spezifische Entwicklungs­herausforderungen und zukünftige Entwicklungen
763 41
„Haptische Rückmeldung“ z

MF
δH δ ay

Fahrerlenkempfehlung Lenk- Fahrzeug-


Fahrer MR
dynamik dynamik
pi , M z
pF Störgrößen- Giermoment- MH ψ&
schätzung Kompensation

δ FF

Zusatz- M DSR Lenk- MA


Lenkmoment assistenz
Fahrzeug
δ FB

Gierraten- ψ& ref Giermoment-


Referenz Regler

.. Abb. 41.11  Fahrerlenkempfehlung mit Momentenüberlagerung

Lenkrad ein eindeutiger Impuls spürbar, in wel- Fahrer die maximale Seitenkraft nicht so schnell
che Richtung gelenkt werden muss, um das Fahr- überlenken. Die meisten Fahrer reagieren auf diese
zeug zu stabilisieren. Die Funktionsmodule sind Situation automatisch, indem sie die Lenkung wei-
die gleichen wie für die Winkelüberlagerung in ter zuziehen. Die Fahrerlenkempfehlung motiviert
. Abb. 41.8, lediglich ein Modul zur Umsetzung den Fahrer dazu, die Lenkung nicht noch weiter
des Soll-Lenkwinkels in das Überlagerungsmo- zuzuziehen, sondern wieder zu öffnen. Hierzu wird
ment MDSR muss hinzugefügt werden. Der Fah- beim Überschreiten eines berechneten Lenkwin-
rer ist jetzt „closed-loop“ in die Regelung einbe- kel-Limits δlim ein Überlagerungsmoment MDSR
zogen. Am Beispiel der elektrischen Servolenkung aufgeschaltet und erst dann zurückgenommen,
wird die Wirkungskette erläutert (. Abb. 41.11): wenn der Fahrer den Radlenkwinkel δ eingestellt
Auf den Lenkstrang wirken der Fahrer mit dem hat, der bei dem gegebenen Fahrbahnreibwert die
Lenkmoment MF, die Räder mit dem Rückstell- maximale Seitenführung an der Vorderachse bietet,
moment MR und die Servolenkung mit dem Un- . Abb. 41.12.
terstützungsmoment MA ein. Die Reaktion im
Lenkstrang wird mittels Torsionsstab als Hand-
moment MH gemessen und zusammen mit dem 41.6 Spezifische Entwicklungs­
Überlagerungsmoment in der Servolenkung ver- herausforderungen und
stärkt. Dies führt zu der haptischen Rückmeldung zukünftige Entwicklungen
des Lenksystems, die dem Fahrer hilft, in kriti-
schen Situationen schnell und richtig zu reagieren. Fahrzeughersteller und Zulieferer sind sich einig,
In Übersteuer- und µ-split-Situationen sorgt dass die Vernetzung von Fahrdynamiksystemen
die Momentenüberlagerung für ein stabilisieren- weiter zunehmen wird. Konzepte wie Global Chas-
des Gegenlenken durch den Fahrer. In Untersteu- sis Control (GCC) eröffnen neue Dimensionen in
ersituationen, in denen das Auto bei Kurvenfahrt den Bereichen Fahrdynamik, Stabilität und Fahr-
über die Vorderachse nach außen schiebt, soll der komfort durch die funktionale Integration aktiver
764 Kapitel 41  •  Fahrdynamikregelung mit Brems- und Lenkeingriff

15 15

41 δlim
δ

Überlagerungsmoment [Nm]
10 MDSR 10

2
Lenkwinkel [°]

Seitenkraft [N]
5 5

3 0 0

trockene Fahrbahn

4
nasse Fahrbahn
-5 -5
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 0 5 10 15 20 25 30
Zeit [s] Schräglaufwinkel [°]

5 .. Abb. 41.12  Untersteuersituation mit Fahrerlenkempfehlung und Reifenseitenkraft auf unterschiedlichen Fahrbahnreibwer-


ten bei höheren Fahrzeuggeschwindigkeiten

6 Normalfahrbereich Grenzbereich Effektivität


Wirkungsebene

Active System
des
7
Fahrkomfort

Aktives
Assistance

Bremsweg
Einzelsystems
Sicherheit

Stopping
Fahrdynamiksystem

Distance
Stabilität
(x,y,ψ,ϕ)

Traktion
Traction
Comfort
Comfort

Stability
Bedien-
komfort
Agilität
(z,θ,ϕ)

Driver

Agility
Driver

(y,ψ)
(y,ψ)

Ride

O Haupteffekt
8
ESC Electronic Stability Control + + + O O O Kein Effekt
9 ATV Active Torque Vectoring O O + + O
horizontal

ARK Active Rear Axle Kinematics O O + + +


10 AFS Active Front Steering O O + + +
Effektivität
durch
EPS Electric Power Steering O + + + Vernetzung
11 EAS Electronic Air Suspension O O + +
Vernetzung mit
anderen aktiven

12 ARS Active Roll Stabilizer O O + Systemen oder


vertikal

Umgebungs-
EAD Electronic Adjustable Damper O O + + + sensorsystemen

13 ABC Active Body Control O O + + + +


.. Abb. 41.13  Potenziale von Fahrdynamiksystemen und Steigerung durch Vernetzung
14
15 Fahrdynamiksysteme, . Abb. 41.13. Ziel ist es, die
Potenziale der Einzelsysteme zu optimieren und - Zusammenstellung des bestmöglichen System-
portfolios für ein bestimmtes Fahrzeug oder

16
17
in ein intelligentes Gesamtsystem zu integrieren
[3, 4]. Die funktionale Integration wird durch
AUTOSAR-konforme Hard- und Software (siehe
▶ Kap. 7) unterstützt.
- eine Fahrzeugfamilie;
Abbildung der Regelungsfunktionen auf eine
bestimmte Elektronik-Architektur mit der
Notwendigkeit zur Komplexitätsbeherrschung.
Die Vernetzung der Fahrdynamiksysteme wird
kontinuierlich vorangetrieben, aktuell wird intensiv Der Weg zu einem durchgängigen, herstellerüber-
18 an folgenden Herausforderungen gearbeitet [5, 6, greifenden Koordinationskonzept für Fahrdyna-

19
20
-
7, 8]:
Darstellung der Bereiche, in denen die Charak-
teristik eines Fahrzeugs per Regelung be-
stimmt und gestaltet werden kann bzw. werden
mikregelungen ist noch weit. Über die Zielsetzung
herrscht indes Einigkeit: Im Normalfahrbereich
sorgt der Regler für ein Maximum an Komfort
und Fahrspaß. Dabei hat der Fahrzeughersteller
sollte; alle Freiheitsgrade für die individuelle Einstellung
Literatur
765 41

des Fahrzeugcharakters. Im sicherheitsrelevanten


Grenzbereich werden alle verfügbaren Aktoren
in die Regelung einbezogen: Das aktive Fahrwerk
unterstützt den Fahrer optimal bei der Unfallver-
meidung.

Literatur

1 Salfeld, M., Stabrey, S., Trächtler, A.: Analysis of the vehicle


dynamics and yaw moment maximization in skid maneu-
vers TÜV-Congress Chassis Tech, München, 1-2 March.
(2007)
2 Schiebahn, M., Zegelaar, P., Hofmann, O.: Yaw Torque
Control for Vehicle Dynamics Systems. Theoretical Gene-
ration of Additional Yaw Torque VDI-Tagung Reifen-Fahr-
werk-Fahrbahn. VDI-Berichte, Bd. 2014., S. 101–119 (2007)
3 Raste, T., Semmler, S., Rieth, P.: Global Chassis Control mit
Schwerpunkt auf Hinterradlenkung Aachener Kolloquium
Fahrzeug- und Motorentechnik., S. 759–774 (2006)
4 Raste, T., Kretschmann, M., Lauer, P., Eckert, A., Rieth, P.,
Fiedler, J., Kranz, T.: Sideslip Angle Based Vehicle Dynamics
Control System To Improve Active Safety. In: Proceedings
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5 Ammon, D.: Künftige Fahrdynamik- und Assistenzsysteme
– eine Vielzahl von Möglichkeiten und regelungstechni-
schen Herausforderungen AUTOREG 2004. VDI-Berichte,
Bd. 1828. VDI-Verlag, Düsseldorf, S. 1–23 (2004)
6 Smakman, H., Köhn, P., Vieler, H., Krenn, M., Odenthal, D.: In-
tegrated Chassis Management – ein Ansatz zur Strukturie-
rung der Fahrdynamikregelsysteme Aachener Kolloquium
Fahrzeug- und Motorentechnik., S. 673–685 (2008)
7 Schröder, W., Knoop, M., Liebemann, E., Deiss, H., Krim-
mel, H.: Zusammenwirken aktiver Fahrwerk- und Triebs-
trangsysteme zur Verbesserung der Fahrdynamik Aa-
chener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik., S.
1671–1682 (2006)
8 Schwarz, R., Dick, W.: Die neue Audi Dynamiklenkung
VDI-Tagung Reifen-Fahrwerk-Fahrbahn. VDI-Berichte, Bd.
2014., S. 65–80 (2007)
767 42

Fahrdynamikregelsysteme
für Motorräder
Kai Schröter, Raphael Pleß, Patrick Seiniger

42.1 Fahrstabilität – 768
42.2 Bremsstabilität – 771
42.3 Für Fahrdynamikregelungen relevantes
Unfallgeschehen von Motorrädern  –  773
42.4 Stand der Technik der Bremsregelsysteme  –  774
42.5 Stand der Technik der
Antriebsschlupfregelungssysteme – 782
42.6 Stand der Technik der Fahrwerkregelsysteme  –  785
42.7 Zukünftige Fahrdynamikregelungen – 786
Literatur – 793

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_42, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
768 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Das Risiko, in Deutschland bei einem Motorradun- dere im Stand. Ein Motorrad ist ein instabiles Sys-
1 fall getötet zu werden, war im Jahr 2010 pro Fahr- tem, ohne Stabilisierung kippt es; stabilisiert wird
strecke mehr als 12-mal so hoch als bei einem sons- es durch verschiedene dynamische Mechanismen.
42 tigen Verkehrsunfall [1]. Die motorradspezifische Aber gerade diese Instabilität erlaubt eine Art des
Kopplung von Längs-, Quer- und Vertikaldynamik Fahrens, die das Motorradfahren zu einer faszinie-
beim Durchfahren von Kurven in Schräglage übt renden Fortbewegungsart macht: Kurven werden in
3 eine große Faszination aus, macht aber auch die Schräglage durchfahren. Der Neigungswinkel des
Auslegung von Fahrdynamikregelsystemen beson- Fahrzeugs wird Rollwinkel λ genannt und ist bei
4 ders anspruchsvoll. stationärer Kreisfahrt genau so groß, dass die Resul-
Über viele Jahre waren daher für Motorräder tierende aus Fliehkraft und Gewichtskraft des Fahr-
5 lediglich Brems- und Antriebsschlupfregelsysteme zeugs die Radaufstandslinie schneidet. Es entsteht
am Markt, deren Einsatzbereich die Geradeausfahrt kein Rollmoment um die Radaufstandslinie und das
ist und die daher nur eingeschränkt kurventaug- Fahrzeug fährt – in Analogie zu einem umgekehrten
6 lich sind. Das erste Antiblockiersystem (ABS) für Pendel – im sogenannten labilen Gleichgewicht. Das
Motorräder kam 1988 auf den Markt [2], die erste Kräftegleichgewicht der stationären Kurvenfahrt ist
7 Antriebsschlupfregelung 1992 [3]. Systeme, die den in Gl. 42.1 und . Abb. 42.1 gezeigt.
Kurvenfahrzustand sensorisch erfassen und bei Der sich einstellende theoretische (physikalisch
der Regelung berücksichtigen, sind im Falle der wirksame) Rollwinkel λth ist
8 Antriebsregelung ab 2009 [4] – im Falle des ABS
FF m  yR
sogar erst ab 2013 [5] – erhältlich. Seit 2012 sind th D arctan D arctan
9 weiterhin semiaktive Fahrwerke am Markt [6], die
G mg
durch Interaktion mit den bestehenden Systemen yR v2
D arctan D arctan
10 eine weitere Verbesserung im Detail versprechen. g R  g (42.1)
Obgleich die Marktdurchdringung von Fahrdy-
namikregelsystemen bei Motorrädern im Vergleich mit der Gewichtskraft des Fahrzeugs G, der Flieh-
11 zu Personenkraftwagen noch eher gering ist, haben kraft FF, der Masse m, der fahrbahnbezogenen
Akzeptanz und Ausstattungsraten in den vergange- Querbeschleunigung yR, der Erdbeschleunigung g,
12 nen Jahren stark zugenommen (vgl. z. B. [7, 8] und der Fahrgeschwindigkeit v und dem Kurvenradius
[9] für ABS). Einen entscheidenden Impuls liefert R. Der Rollwinkel ist damit nur von der Querbe-
nun der Gesetzgeber, der die Ausstattung mit ABS schleunigung abhängig. Mit dem maximalen Quer-
13 ab 2016 für alle neu entwickelten Motorräder über reibwert der Reifen
125 cm³ und ab 2017 für alle Neufahrzeuge dieser
14 Hubraumklasse europaweit verbindlich vorschreibt quer,max D
yR
[10]. g (42.2)
15 Dieses Kapitel wird die Grenzen der Fahrdy-
namikregelungen für Motorräder erklären, einen wird der maximale Rollwinkel zu
Überblick über die Funktionsweise der vorhandenen
16 Systeme geben und einen Ausblick auf in Zukunft zu
th D arctan quer  arctan quer,max
erwartende Fahrdynamikregelsysteme geben. D th,max (42.3)
17
Querreibwerte von modernen Motorradreifen er-
42.1 Fahrstabilität reichen auf trockener, griffiger Fahrbahn Werte im
18 Bereich von 1,2. Damit sind physikalische Rollwin-
Der augenscheinlichste Unterschied zwischen Mo- kel von bis zu 50° fahrbar.
19 torrädern (im Folgenden wird auf den technisch Der „theoretische Rollwinkel“ und die Rollwin-
exakten Terminus Einspurfahrzeuge verzichtet) kelgleichung 42.1 gelten allerdings nur für ideali-
20 und Personenkraftwagen (Zweispurfahrzeuge) ist sierte Reifen ohne Breite. Mit realen Reifen ist zur
sicherlich die Stabilität des Fahrzeugs – insbeson- Aufrechthaltung des Gleichgewichts ein zusätzlicher
42.1 • Fahrstabilität
769 42

Das zuvor beschriebene labile Gleichgewicht


z‘ kehrt bei kleinsten Auslenkungen nicht mehr zur
Gleichgewichtslage zurück; diese Eigenschaft wird
instabil genannt. Stabilisiert werden Motorräder

Schwerpunkt FF = m • ÿ -
durch zwei Mechanismen:
Bei kleinen Geschwindigkeiten unter etwa
30 km/h stabilisiert der Fahrer das Motorrad
maßgeblich durch Lenkeinschläge, was ähnlich
dem Balancieren von Fahrrädern durch Ge-

-
λth wichtsverlagerung unterstützt werden kann;
λges bei größeren Geschwindigkeiten über etwa
λ‘
G=m• g 30 km/h stabilisiert die Kreiselwirkung der
rotierenden Massen das Motorrad. Im We-
rR
sentlichen trägt das rotierende Vorderrad zur

-
• Fy = FF
Kreiselstabilisierung bei.
[Motorrad Bild © Honda]
Der Übergang zwischen diesen beiden Mecha-
Lenkrollradius (LRR) nismen verläuft fließend.

In . Abb. 42.2 ist das System Motorrad mit Ra-


Fz = G Fres
daufstandspunkten und Projektion des Schwer-
punkts dargestellt: Erkennbar ist, dass durch eine
.. Abb. 42.1  Kräftegleichgewicht in Kurvenfahrt mit
reifenbreitenbedingtem Zusatzrollwinkel (Quelle: Honda,
Bewegung des Lenkers der waagrechte Abstand
modifiziert durch Autoren) zwischen Schwerpunkt und Radaufstandslinie – in
erster Näherung ist dies die Rollachse – gesteuert
Neigungswinkel erforderlich, weil der Radaufstand- werden kann. Neben den Lenkbewegungen kann
spunkt nicht in der Symmetrieebene des Fahrzeugs der Fahrer auch durch Gewichtsverlagerung relativ
liegt, siehe . Abb. 42.1. Der sogenannte „reifenbrei- zum Fahrzeug den Hebelarm zwischen Schwer-
tenbedingte Zusatzrollwinkel“ λ′ beträgt etwa 10 % punkt und Rollachse steuern und damit die Rollbe-
von λth, je nach Reifenbreite (größer) und Schwer- wegung stabilisieren. Den Lenkbewegungen kommt
punkthöhe (kleiner). dabei allerdings die wichtigere Rolle zu, denn auch
Weitere Zusatzrollwinkel (λ″, λ′″) liegen eine Kabinenmotorräder mit stark eingeschränkter Mög-
bzw. zwei weitere Größenordnungen unter diesem lichkeit zur Gewichtsverlagerung sind stabil bei
ersten, reifenbreitenbedingten Zusatzrollwinkel niedrigen Geschwindigkeiten fahrbar.
und sind für das Verständnis der Besonderheiten Ab Geschwindigkeiten von etwa 30 km/h er-
der Fahrdynamik von Motorrädern in der Praxis reicht der Drall der Räder so große Werte, dass die
vernachlässigbar [11]. Der Gesamtrollwinkel für Kippbewegung des Fahrzeugs durch deren Krei-
übliche Reifenbreiten und Schwerpunkthöhen mo- selwirkung stabilisiert wird. Der Mechanismus der
derner Motorräder ergibt sich damit zu Stabilisierung ist in . Abb. 42.3 dargestellt.
Ein Kreisel, der senkrecht zu seiner Drehachse
ges D th C 0  1;1  th(42.4) gestört wird, antwortet mit einem Reaktionsmo-
ment senkrecht zu Dreh- und Störachse. Dieser
Unter optimalen Bedingungen (von µquer,max = 1,2) Mechanismus koppelt die Bewegungsgleichung
können bei typischen Motorrädern folglich geome- des Motorrads um die Rollachse mit der Bewe-
trische Rollwinkel von bis zu 55° auftreten. Im Re- gungsgleichung des Lenksystems. Ein Kippen des
gelfall ist der Rollwinkel aber durch Anbauteile wie Fahrzeugs (beispielsweise nach rechts) bewirkt ein
Auspuff und Fußrasten auf Werte um 50° begrenzt, Eindrehen des Lenksystems in die gleiche Richtung.
so dass idealerweise eine kleine Sicherheitsreserve Die durch den entstandenen Lenkwinkel erzeugte
bleibt. Seitenkraft am Vorderrad bewirkt eine gleich große
770 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

.. Abb. 42.2 Stabilisie-
1 rung durch Lenkeinschläge
und ggf. Gewichtsver-
lagerung (Quelle: BMW
42 Motorrad, modifiziert
durch Autoren)

3
4
5
6
7
Durchstoßpunkt
8 Lenkachse Projektion des
Nachlauf n Schwerpunkts

9 Fliehkraft am Schwerpunkt, die das Fahrzeug (im quenzen liegen je nach Fahrzeug zwischen 2 und
Beispiel nach links) wieder aufrichtet. Das dabei 4 Hertz. Wirkungsvollste Abhilfe bei beginnendem
10 entstehende Kreiselreaktionsmoment übt, ebenso Pendeln ist eine Verringerung der Fahrgeschwin-
wie die Seitenkraft mit dem Nachlauf als Hebelarm digkeit. Wesentliche Einflüsse auf das Entstehen von
(vgl. . Abb. 42.2), ein rückstellendes Lenkmoment Pendelschwingungen sind die Torsionssteifigkeit
11 aus. zwischen Vorder- und Hinterrad und Trägheitsei-
Da die koppelnden Kreiselmomente eine Funk- genschaften des Fahrzeugs. Die Minimierung von
12 tion der jeweiligen Störgeschwindigkeit in Lenk- Pendelerscheinungen ist Teil der Entwicklung mo-
bzw. Rollrichtung sind, sorgen sie zugleich für eine derner Motorräder. Pendeln tritt daher heute nur
Dämpfung des Stabilisierungsvorgangs. In unend- noch in Ausnahmefällen auf.
13 licher Aneinanderreihung der zuvor beschriebenen Eine ebenfalls technisch relevante Eigenform
Effektkette lässt sich der Stabilisierungsvorgang als – die gleichfalls bereits während der Entwicklung
14 Fahren von Schlangenlinien veranschaulichen, die eines neuen Fahrzeugs minimiert wird – ist das
mit steigender Geschwindigkeit immer kleiner wer- sogenannte Flattern, eine Rotationsschwingung
15 den. Ab etwa 30 km/h ist für übliche Motorräder des Lenksystems. Übliche Frequenzen der Flatter-
eine weitgehende Dämpfung der Kippbewegung schwingung liegen im Bereich um 10 Hertz: Diese
erreicht und die Fahrt erfolgt ohne sichtbare Aus- Frequenz entspricht der Drehfrequenz üblicher Vor-
16 schläge von Lenk- und Rollwinkel. derräder bei etwa 60 bis 80 km/h, die Flatterschwin-
Mit steigender Geschwindigkeit nimmt die gung wird dabei durch Unwuchten und Ungleich-
17 Kreiselwirkung der Laufräder weiter zu; ab Ge- förmigkeiten des Rades angeregt. Als Abhilfe reicht
schwindigkeiten von etwa 130 km/h kann das es in der Regel, den Lenker fester zu umgreifen, um
System je nach Stabilitätseigenschaften erneut in- durch Ankopplung des Fahrerkörpers das Massen-
18 stabil werden. Die dann aufklingende sogenannte trägheitsmoment um die Lenkachse zu erhöhen und
Pendeleigenform des Motorrads ist eine gekoppelte so das Schwingungssystem in Richtung einer nied-
19 Gier-, Roll- und Lenkschwingung des gesamten rigeren Eigenfrequenz zu verstimmen.
Fahrzeugs, die im Extremfall zum Sturz durch Eine weitere Schwingung des Lenksystems ist
20 Überschreiten der Kraftschlussgrenzen an Vorder- das sogenannte Lenkerschlagen („Kick-Back“): Es
und/oder Hinterrad führen kann [12]. Pendelfre- ist keine Eigenform, sondern eine parametrisch er-
42.2 • Bremsstabilität
771 42
.. Abb. 42.3 Stabilisie-
rung durch Kreiselwirkung
am Vorderrad (Quelle:
BMW Motorrad, modifi-
ziert durch Autoren)

Ausweichachse Rotationsachse

regte Schwingung mit vielfältigen Einflussgrößen. 42.2 Bremsstabilität


Voraussetzung für das Eintreten von Lenkerschla-
gen ist eine Radlastschwankung – beispielsweise Der im vorangegangenen Kapitel eingeführte Zu-
durch eine Bodenwelle – am Vorderrad bei vorhan- satzrollwinkel wirkt sich vor allem bei Kurvenbrem-
denem Lenkmoment. Bei rasch sinkender Radlast sungen stark aus: Die Lenkachse eines Motorrads
dreht das anliegende Lenkmoment das Lenksystem befindet sich üblicherweise in der Symmetrieebene.
ein, der Schräglauf des Vorderrads vergrößert sich. Bremskräfte, die im Radaufstandspunkt angreifen,
Bei anschließend steigender Radlast liegt ein für erhalten daher in Kurvenfahrt einen Hebelarm
die aktuelle Fahrsituation zu großer Schräglauf zur Lenkachse, siehe . Abb. 42.1. Über diesen sog.
und damit eine zu große Seitenkraft am Vorderrad Lenkrollradius (LRR) bewirken die Bremskräfte ein
vor, die den Lenker zurück in Richtung Nulllage eindrehendes Moment im Lenksystem, das Brems-
dreht. Bei entsprechender Anregung können diese lenkmoment (BLM). Es ist Aufgabe des Fahrers, die-
Lenkerbewegungen sogar den gesamten Bereich ses Moment auszugleichen und den Kurs zu halten.
zwischen beiden Endanschlägen überdecken. Üb- Gelingt ihm dies nicht, dreht das Lenksystem nach
liche Abhilfemaßnahme gegen Lenkerschlagen ist kurveninnen, der Schräglauf am Vorderrad und die
der Einsatz von hydraulischen Lenkungsdämpfern. Querbeschleunigung nehmen zu, das Fahrzeug rich-
Zur Überwindung des sich dabei ergebenden Ziel- tet sich im Zusammenspiel mit den Kreiselkräften
konflikts zwischen einfachem Handling mit leicht- des eindrehenden Vorderrads auf und drängt – für
gängiger Lenkung bei niedrigen Geschwindigkeiten den Fahrer oft unerwartet – auf einen größeren
und Beherrschung des Lenkerschlagens werden Bahnradius [15]. In Extremfällen erreicht das Brems-
bereits seit 2004 semiaktive Lenkungsdämpfer mit lenkmoment Beträge von ca. 90 Nm, die nahezu ohne
elektronisch einstellbarer Dämpfung – wie z. B. der Zeitverzug dem Bremsdruckaufbau folgen. Pulsiert
Honda Electronic Steering Damper (HESD) – er- die Bremskraft zusätzlich, etwa durch ein am Vorder-
folgreich in Serienfahrzeugen eingesetzt [13]. Die rad „grob“ regelndes ABS, wird es für den Fahrer fast
Nutzung dieser Technologie zur Beeinflussung der unmöglich, den Kurs beizubehalten. Obwohl es sich
Eigenformen Pendeln und Flattern ist Gegenstand beim bremslenkmomentbedingten Aufstellverhalten
aktueller Forschung [14]. um eine ganze Effektkette handelt, wird es häufig
auch nur als „Aufstellmoment“ bezeichnet.
772 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Ansicht von hinten Ansicht von oben .. Abb. 42.4 Kinematische


1 Radaufstands-
Instabilität der Gier- und
Rollbewegung (Erklärung
punkt vorne nach [16] und [17])
42 th
m• x

:
3
FB
4 Radaufstandspunkt vorne
in ausgelenktem Zustand
G=m• g
5 System-
schwerpunkt

6 Seitliche Komponente
der Bremskraft
Fahrbahn

Radaufstandspunkt
7 hinten
Ursprünglicher Zustand
Fz
8 Ausgelenkter Zustand

Das Verhalten von Motorrädern bei Radblocka- kraft. Eine am Vorderrad angreifende Bremskraft
9 den unterscheidet sich ebenfalls wesentlich von entgegen der Bewegungsrichtung (wie sie bei blo-
Zweispurfahrzeugen. Von letzteren ist bekannt, dass ckiertem Vorderrad angreift) bewirkt immer eine
10 eine Blockade beider Vorderräder die Richtungs- selbstverstärkende Gierbewegung – die Radauf-
stabilität nicht beeinträchtigt – ganz im Gegensatz standslinie dreht sich unter dem Schwerpunkt weg.
zu einer Blockade der Hinterräder. Bei Motorrä- Gemessene Zeiten zwischen Blockade des Vorder-
11 dern hingegen ist bei einer Vorderradblockade ein rads und Sturz liegen zwischen etwa 0,2 und 0,7 s;
Sturz nahezu unvermeidlich: Gründe hierfür sind befindet sich das Fahrzeug bereits in einer Kurven-
12 die dann wegfallende Kreiselstabilisierung, noch fahrt, liegen die Zeiten deutlich darunter [16]. Die
entscheidender jedoch eine kinematische Instabi- ideale Verteilung der Bremskraft auf Vorder- und
lität des Fahrzeugs. Für ein Zweispurfahrzeug ist Hinterrad unterscheidet sich zwischen Motorrädern
13 eine Vorderachsblockade bis zu einem bestimmten und Pkws deutlich: Das Verhältnis zwischen Schwer-
Grenzschwimmwinkel stabil – für übliche Perso- punkthöhe und Radstand ist bei Motorrädern sehr
14 nenkraftwagen liegt dieser Winkel bei etwa 45°. Bei viel größer als bei Pkws; daher ist die Radlastver-
Motorrädern reichen bereits kleine Auslenkungen lagerung bei Verzögerung auch größer. In Verbin-
15 von Schwimmwinkel oder Rollwinkel für eine Selbst- dung mit den heutigen, sehr griffigen Reifen können
verstärkung von Gier- und Rollbewegung aus, siehe moderne Motorräder den Bremsüberschlagpunkt
. Abb. 42.4. Ein blockiertes Vorderrad (Schlupf s = 1) erreichen. Die maximale Verzögerung wird oftmals
16 überträgt nur noch eine durch die Höhe des Gleit- begrenzt durch die Schwerpunktlage und den Rad-
reibwerts μgleit und die Radlast bestimmte Kraft ent- stand, also durch Geometriedaten des Fahrzeugs
17 gegen seiner Bewegungsrichtung, aber keine Seiten- und nicht mehr durch Bremssystem oder Reifen.
führungskraft mehr. Hat diese Kraft einen Hebelarm In . Abb. 42.5 sind die idealen Bremskraftver-
um den Schwerpunkt, kommt es zu einer Schwimm- teilungen eines typischen Pkw (Opel Astra H) und
18 oder Gierdrehung; vergrößert die Drehung den He- eines typischen Supersport-Motorrads (Honda
belarm, handelt es sich um eine instabile Bewegung. CBR 600 RR) unter Vernachlässigung nickbeding-
19 Da das Motorrad ein instabiles Fahrzeug ist ter Fahrwerksgeometrieänderungen dargestellt. Es
und ständig durch Kreiselwirkung beziehungsweise ist zu erkennen, dass die ideale Bremskraftverteilung
20 Lenkbewegungen stabilisiert wird, existiert immer des Motorrads bei einer Abbremsung von 1,0 (also
eine in den Radaufstandspunkten angreifende Quer- bei einer der Erdbeschleunigung entsprechenden
42.3  •  Für Fahrdynamikregelungen relevantes Unfallgeschehen von Motorrädern
773 42
Ideale Bremskraftverteilungen, gerechnet ohne Bremsnicken
0.3
Pkw Opel Astra H
FB,h / (m g)

0.2 Motorrad Honda CBR 600 RR

Li bre
ni
Ab

en ms
0.1

ko ung
ns
t.
0
0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 2 2.1 2.2
FB,v / (m g)

.. Abb. 42.5  Ideale Bremskraftverteilungen für Pkw Opel Astra H und Motorrad Honda CBR 600 RR (Modelljahr 2010, mit
Messtechnik ausgerüstet und damit gegenüber dem Serienfahrzeug etwas später abhebendem Hinterrad), berechnet auf Basis
eigener Messungen der Schwerpunktlagen

Verzögerung von 9,81 m/s²) die x-Achse schneidet. die Unfallzahlen auf 708 Getötete stiegen, bestätigte
Größere Verzögerungen wären nur noch mit abhe- sich dieser Trend auch in den Folgejahren und er-
bendem Hinterrad möglich und dann nicht mehr reichte im Jahr 2012 einen Tiefststand von 586 Ge-
stabil fahrbar. Die dargestellten Bremskraftvertei- töteten. Trotz dieser positiven Entwicklung sinkt die
lungskurven gelten nur für querbeschleunigungs- Zahl der getöteten Motorradfahrer aus langfristiger
freie Fahrt. Während einer Kurvenbremsung müssen Sicht deutlich langsamer als die Gesamtzahl der Ge-
an den Radaufstandspunkten zusätzlich dynamisch töteten im Straßenverkehr. Australien und die USA
veränderliche Seitenführungskräfte abgestützt wer- verzeichnen aufgrund stark zunehmender Motor-
den, was die übertragbaren Bremskräfte verringert radnutzung in den letzten 10 bis 15 Jahren sogar stei-
und folglich die ideale Bremskraftverteilung ändert gende Zahlen an Getöteten [19]. Die im vorherigen
(vgl. [11, 15] und [18]). Weiterhin gelten die in Abschnitt beschriebene Problematik der Vorderrad-
. Abb. 42.5 gezeigten Kurven nur für stationäre Ver- blockade bei Motorrädern – in Verbindung mit der
zögerungen. Der Nickvorgang verzögert die Radlast- Gefahr einer dynamischen Vorderradüberbremsung
verschiebung deutlich – Einsteuern von Bremskraft – lässt einen hohen Anteil von bremsbedingten Un-
am Vorderrad ist im Gegensatz dazu nahezu ohne fällen am Unfallgeschehen vermuten. Während das
Zeitverzug möglich. Besonders bei Motorrädern Datenmaterial des Statistischen Bundesamtes nicht
mit negativem kinematischen Bremsnickausgleich ausreichend detailliert ist, wird diese Vermutung
(z. B. bei Telegabelfahrzeugen) mit deswegen großen durch zahlreiche Detailstudien über weite Zeiträume
Nickbewegungen besteht die Gefahr einer Vorder- hinweg belegt (vgl. [20] und [21]). So unterhalten
radblockade schon bei geringen, vom Fahrer nicht z. B. auch die deutschen Versicherungen Datenban-
als kritisch wahrgenommenen Bremsdrücken – mit ken mit detaillierten Beschreibungen einer Vielzahl
der Folge, dass ein Sturz nahezu unvermeidlich ist. von Motorradunfällen, die nach verschiedenen
Dieses Phänomen ist bekannt als dynamische Vor- Kriterien repräsentativ für das Unfallgeschehen in
derradüberbremsung [11]. der Bundesrepublik Deutschland sind. In der Da-
tenbank des Gesamtverbandes der Deutschen Ver-
sicherer (GDV) wurden im Rahmen einer Studie
42.3 Für Fahrdynamikregelungen [22] 610 Kollisionen zwischen Motorrad und Pkw
relevantes Unfallgeschehen ausgewertet: Bei 239 dieser Unfälle ließ sich eine
von Motorrädern Bremsung nachweisen, in 45  Fällen kam es zum
Sturz, bevor die Kollision erfolgte. In etwa 7 % der
Nachdem die Zahl der jährlich getöteten Motorrad- ausgewerteten Unfälle trug also eine Radblockade
fahrer in Deutschland über etwa 15 Jahre weitge- wesentlich zum Unfallverlauf bei; auch bei der Aus-
hend konstant im Bereich von 800 bis 1000 lag, sank wertung von Alleinunfällen war bei etwa 40 % der
sie im Jahr 2008 erstmals deutlich auf 656. Mit nur Unfälle ein Sturz das primäre Unfallereignis. Zu-
einer saisonal bedingten Ausnahme im Jahr 2011, in sammengenommen sind offensichtlich mindestens
dem aufgrund des langanhaltend schönen Wetters 20 % der Motorradunfälle durch ABS beeinflussbar.
mit dem Motorradverkehrsaufkommen leider auch Bei der Analyse der Datenbank der Allianz Versi-
774 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

cherung [23] erwiesen sich ebenfalls zwischen 8 % Die Zusammenstellung hydraulischer Motor-
1 und 17 % der untersuchten Unfälle als durch ABS rad-Bremsanlagen beginnt mit einer zweikreisigen
vermeidbar. Die DEKRA- Unfallforschung [24] er- Standard-Bremsanlage, bei der der Fahrer durch
42 mittelte in 87 Motorradunfällen eine Vermeidbar- Betätigung eines Handbremshebels einen hydrau-
keit von 25 % bis 35 % durch ABS, und Bosch [25] lischen Druck erzeugt. Dieser wird über Hydrauli-
kommt auf eine Vermeidbarkeit von 26 % der Un- kleitungen an die Vorderradbremse weitergeleitet,
3 fälle mit Verletzen oder Getöteten. Übertragen auf wo der Druck in eine Spannkraft an der Radbremse
die aktuellen Unfallzahlen könnten durch flächende- umgewandelt wird. Gleiches gilt für die Betätigung
4 ckenden Motorrad-ABS-Einsatz allein in Deutsch- der Hinterradbremse per Fußbremshebel, resp.
land jährlich also zwischen 46 und 205  tödliche zweitem Handbremshebel. Als Radbremsen wer-
5 Unfälle vermieden werden. Jüngste Studien aus den den heutzutage hauptsächlich Scheibenbremsen
USA [26] bestätigen diese Aussage und zeigen im eingesetzt: Solche Bremsanlagen sind technisch
Vergleich sonst baugleicher Motorräder, dass Fahr- ausgereift und vielfältig verwendet; sie werden
6 zeuge mit ABS generell 20 % seltener in Kollisionen ohne zusätzliche Maßnahmen jedoch nicht den
– und 31 % weniger in tödliche – verwickelt sind, als Anforderungen einer modernen Bremsanlage für
7 Fahrzeuge ohne ABS; Motorräder mit einer kombi- Motorräder in Bezug auf die Vermeidung von
nierten ABS-Bremse (ABS und CBS, ▶ Abschn. 42.4) Blockaden an den Rädern gerecht. Der Fahrer muss
waren sogar 31 % seltener in Kollisionen verwickelt. zum Erreichen eines kurzen Bremswegs den Druck
8 Durch die unter dem Namen Motorcycle Stability in dem Bremssystem selbsttätig modulieren, d. h.
Control (MSC) zusammengefasste kurventaugliche entsprechend der idealen Bremskraftverteilung den
9 Kombination einer Kombi-ABS-Bremsanlage mit ei- Bremsdruck am Vorderrad möglichst schnell auf-
ner Antriebsschlupfregelung (▶ Abschn. 42.5) sind bauen – ohne das Rad in die Blockade zu bringen
10 laut Bosch [27] potenziell 67 % aller Kurvenunfälle und am Hinterrad ebenfalls möglichst schnell auf-
vermeidbar, was rund 16 % des gesamten Motorra- bauen – dann aber wegen der dynamischen Rad-
dunfallgeschehens ausmacht. Da in vielen Fällen lastverschiebung während der Bremsung wieder
11 zu spät oder zu zaghaft gebremst wird, verspricht reduzieren. Nur ein solches Verhalten garantiert
der Einsatz von Bremsassistenten zum schnelleren einen kurzen Bremsweg bei gleichzeitiger Erhal-
12 Druckaufbau oder gar vorausschauender Systeme tung der Stabilität des Motorrads. Im Allgemeinen
wie „Predictive Brake Assist“ weitere Verbesserun- ist ein Motorradfahrer jedoch mit einer solchen
gen. Mit einer gewissen Unschärfe geht die DEKRA Regelungsaufgabe, insbesondere in Notsituatio-
13 von einer Vermeidbarkeit von zwischen 50 % und nen, überfordert. Dies führt entweder dazu, dass
60 % aller relevanten Unfälle aus [24] und auch die das Fahrzeug nicht optimal verzögert wird – der
14 Schwere der nicht vermeidbaren Unfälle ließe sich Bremsdruckaufbau entweder zu schwach, zu spät
durch deutlich verminderte Kollisionsenergie dras- oder mit zu geringem Gradienten erfolgt – oder
15 tisch reduzieren [28, 29]. die Räder überbremst oder gar blockiert werden.
Die sichere Ermittlung des Potenzials für darüber Die Stabilität des Fahrzeugs ist damit gefährdet und
hinausgehende zukünftige Fahrdynamikregelsysteme bei Blockade, insbesondere des Vorderrads, kommt
16 ist wegen der unscharfen Datenbestände allerdings es fast zwangsläufig zu einem Sturz. Um näher an
schwierig: In einer Studie hierzu [30] wurden unge- eine ideale Bremskraftverteilung an Vorder- und
17 bremste Kurvenunfälle als potenziell vermeidbar be- Hinterrad zu gelangen, sind Motorräder mit soge-
wertet und ihr Gesamtanteil auf etwa 8 % geschätzt. nannten Combined Brake Systems (CBS) auf dem
Markt erhältlich.
18 Diese gibt es in zwei Ausführungsformen

-
42.4 Stand der Technik (. Abb. 42.6):
19 der Bremsregelsysteme Single-CBS, bei dem die Handbetätigung auf
das Vorderrad, die Fußbetätigung (oder die
20 Eine Übersicht über die Wirkprinzipien hy- zweite Handbetätigung) auf Vorder- und Hin-
draulischer Bremssysteme gibt . Abb. 42.6. terrad wirken; damit lassen sich auch durch
42.4  •  Stand der Technik der Bremsregelsysteme
775 42

Bremskraft-
steuerventil

2-kreisige hydraulische Single CBS Dual CBS


Bremsanlage

.. Abb. 42.6  Wirkprinzipien hydraulischer Motorrad-Bremsanlagen (Quelle: Continental)

Betätigung nur eines Bedienelements relativ 42.4.1 Hydraulische ABS-

- hohe Verzögerungen erreichen. Bremsanlagen


Dual-CBS, bei dem sowohl durch die Betäti-
gung des Hand- als auch des Fußbremshebels Die Verhinderung einer Blockade der Räder und
beide Räder verzögert werden. damit die Beibehaltung der Stabilität kann jedoch
nur mit einem System gewährleistet werden, das
Solche Systeme besitzen eine relativ aufwendige den Bremsdruck kraftschlusssensierend moduliert,
Hydraulik: Bei Dual-CBS kommt ein schwimmend damit bei einer drohenden Blockade des abgebrems-
gelagerter Vorderradsattel mit zusätzlich ange- ten Rades dieses wieder beschleunigen kann und da-
schlossenem Betätigungszylinder, ein sogenannter mit die Seitenführungskraft beibehalten wird. Eine
Sekundärzylinder, zum Einsatz. Dieser sorgt über Übersicht über die Wirkprinzipien hydraulischer
eine weitere hydraulische Verbindung für den ABS-Bremsanlagen ist in . Abb. 42.7 dargestellt:
Druckaufbau im hydraulisch geteilten Hinterrad- Solche Antiblockiersysteme (ABS) sind für Pkws
sattel. Bei beiden Systemen ist der Vorderradsattel schon seit dem Jahr 1978 erhältlich. Das erste Motor-
hydraulisch geteilt – z. B. fünf Kolben verbunden rad-ABS wurde 1988 bei der BMW K100 eingeführt
mit der Handbetätigung, ein Kolben verbunden mit und erfährt nach anfänglicher Skepsis seit einigen
der Fußbetätigung – was die Kosten des Gesamtsys- Jahren auch unter Motorradfahrern zunehmende
tems weiter nach oben treibt. Mit einer Ergänzung Akzeptanz, was sich in steigenden Ausstattungsraten
dieser Bremssysteme durch sogenannte Verzöge- niederschlägt. Bei einem zweikreisigen Bremssystem
rungs- und/oder Bremskraftsteuerventile können wird das ABS zwischen Betätigung und Radbremse
Druckaufbau und -begrenzung an Vorder- und geschaltet; es erkennt über Raddrehzahlsensoren
Hinterrad noch genauer an die gewünschte Brems- die Geschwindigkeit der Räder. Sollte bei einem
kraftverteilung angepasst werden. Rad während einer Bremsung die Umdrehungsge-
schwindigkeit überproportional stark abfallen, wird
776 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

1
42
3
4
5
6 Bremskraft-
steuerventil
ABS geregelt

7
ABS Modulator

8 2-kreisige hydraulische
ABS Bremsanlage
Single CBS ABS Dual CBS ABS

9 .. Abb. 42.7  Wirkprinzipien hydraulischer Motorrad-ABS-Bremsanlagen (Quelle: Continental)

10 dies erkannt und über die Bremsdruckregelung der Viele Fahrzeuge im aufstrebenden asiatischen
Bremsdruck reduziert. Hat das Rad die Referenzge- Markt verfügen nur am Vorderrad über eine hydrau-
schwindigkeit des Fahrzeugs wieder nahezu erreicht, lische Scheibenbremse, weshalb inzwischen auch
11 so wird der Bremsdruck wieder erhöht, um das kostengünstige einkanalige ABS angeboten werden.
Fahrzeug weiter abzubremsen. Zweikanalsysteme
12 unter Verwendung von Ventilen sind heute weit
verbreitet; sie sind leichter und kostengünstiger als 42.4.2 Elektrohydraulische
blockiergeschützte Integralbremsanlagen (vgl. ▶ Ab- Integralbremsanlagen
13 schn. 42.4.2). Für eine Single-CBS-ABS-Anlage gilt
das gleiche Prinzip, nur dass durch die Verbindung Reine ABS-Anlagen sind passiv, da sie keinen höhe-
14 der Hinterradbetätigung zum Vorderrad ein weiterer ren als den vom Fahrer vorgegebenen Bremsdruck
Modulatorkreis erforderlich ist. autonom aufbauen können. Aus dem Pkw-Bereich
15 Solche Anlagen benötigen also insgesamt drei sind jedoch Aggregate bekannt, die in der Lage sind,
Regelkanäle, die unabhängig voneinander gere- zusätzlich zur ABS-Funktionalität an einzelnen Rä-
gelt werden können. Das Dual-CBS-ABS zeich- dern aktiv, d. h. autonom, Druck aufzubauen. An-
16 net sich dadurch aus, dass die bereits erwähnte gelehnt an diese Technologie wurden im Motorrad-
Dual-CBS-Bremsanlage durch ABS-Modulatoren bereich elektrohydraulische Integralbremsanlagen
17 ergänzt wird. Dabei müssen insgesamt vier Re- entwickelt; eine Übersicht über deren Wirkprinzi-
gelkanäle verwendet werden, da jeweils einer für pien ist in . Abb. 42.8 dargestellt.
die Bremsdruckregelung von der Handbetätigung Diese können analog zu einer CBS-Anlage
18 zum Vorderrad, von der Fußbetätigung zum Vor- bei einer Betätigung eines Bremskreises aktiv
der- und Hinterrad und vom Sekundärzylinder des Bremsdruck in dem anderen Bremskreis erzeugen,
19 Vorderrads an das Hinterrad benötigt wird. Bei ohne zusätzliche hydraulische Verbindungen oder
den aufgeführten Antiblockiersystemen werden als Sondermaßnahmen im Bremssattel. Teilintegralan-
20 Bremsdrucksteller Pumpe/Ventilkonfigurationen, lagen beschränken sich mit der aktiven Wirkung auf
vereinzelt auch Plunger-Systeme verwendet. einen Bremskreis, Vollintegralanlagen können auf
beide Bremskreise aktiv einwirken.
42.4  •  Stand der Technik der Bremsregelsysteme
777 42

Aktiver
Druckaufbau

ABS geregelt

ABS Modulator

Teilintegral Bremsanlage Teilintegral Bremsanlage Vollintegralbremsanlage


Wirkrichtung nach vorne Wirkrichtung nach hinten

.. Abb. 42.8  Wirkprinzipien elektronischer Integralbremsanlagen (Quelle: Continental)

42.4.2.1 Integralbremsanlagen Kenngrößen wird der Motor der Pumpe angesteu-


ohne Verstärkerfunktion ert. Zum aktiven Druckaufbau am Hinterrad wird
Stand der Technik ist hier die Verwendung von aus das Trennventil (TV-HR) geschlossen und das elek-
Automobilen bekannter Ventiltechnologie, die für trische Umschaltventil (EUV-HR) geöffnet.
die Anwendung im Motorrad in den letzten Jahren Dadurch kann die Pumpe die Bremsflüssigkeit
jedoch erheblich miniaturisiert wurde. Eine spezi- aus dem Vorratsbehälter in den hinteren Bremssat-
elle Ausführungsform ist die Teilintegralbremsan- tel pumpen und Druck aufbauen. Betätigt der Fah-
lage, bei der ausschließlich hinten der Bremsdruck rer dabei zusätzlich den Fußbremshebel, so wird
aktiv aufgebaut wird; d. h., dass mit einem solchen bei Erreichen des Radbremsdruckes das EUV-HR
System eine Integralfunktion vom Handbremshebel wieder geschlossen und das TV-HR wieder geöffnet,
zum Hinterrad realisiert wird. Als Funktionsbeispiel so dass der Fahrer wieder den direkten Durchgriff
dient im Folgenden das Teilintegral-Bremssystem vom Fußpedal zur Hinterradbremse hat. Der Vor-
von Continental: Dieses besteht aus insgesamt derradkreis ist bezüglich der Ventilbestückung als
sechs hydraulischen Ventilen, zwei für den Vorder- einfacher ABS-Kreis ausgelegt.
radkreis, vier für den Hinterradkreis, drei Druck-
sensoren, jeweils einem Niederdruckspeicher und 42.4.2.2 Integralbremsanlagen
einer hydraulischen Pumpe pro Radkreis und einer mit Verstärkerfunktion
ECU (Electronic Control Unit). Die beiden Pumpen Um auch schwere Maschinen bis in den ABS-Regel-
jedes Radkreises werden von einem Elektromotor bereich mit moderaten Bedienkräften komfortabel
gemeinsam angetrieben. Eine Systemübersicht ist verzögern zu können, stellte BMW Motorrad im
in . Abb. 42.9 dargestellt. Betätigt der Fahrer den Jahr 2000 mit dem von FTE hergestellten „Integral
Handbremshebel, so wird der Druck hydraulisch ABS“ (Typ: CORA BB) erstmals ein Bremssystem
an die Vorderradbremse weitergeleitet; gleichzeitig vor, das neben der Integralfunktion auch über eine
misst der Drucksensor den Druckanstieg und leitet Bremskraftverstärkung verfügte [2]. Während ab-
die Information an die ECU weiter. Gemäß vorge- gewandelte Systeme ohne Blockierschutz am Hin-
gebener Kennlinien, Betriebszustände oder anderer terrad (Typ: CORA) zeitweise auch in Rollern von
778 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

1
42
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 42.9  Motorrad-Integralbremssystem MIB, Teilintegralfunktion (Quelle: Continental)
10
Piaggio und Peugeot eingesetzt wurden, ermög- druck verschieben lässt und damit die Modulation in
11 lichte die Weiterentwicklung der ventilbasierten der Radbremse realisiert. Die Integralfunktion wird
ABS-Technologie schon bald den Verzicht auf eine über einen zusätzlichen hydraulischen Eingang, vom
12 Verstärkung. So löste bei BMW Motorrad bereits Betätigungselement des jeweils anderen Bremskrei-
ab 2006 die ventilbasierte zweite Generation des ses kommend, abgebildet. Dieser Druck wirkt über
Integral-ABS (▶ Abschn. 42.4.2.1 und [2]) die erste einen Trennkolben auf den Steuerkolben, über die
13 sukzessive ab, die in ihrem letzten Modelljahr 2009 Geometrie wird der Mindest-Integralbremsdruck
nur noch im Modell K1200LT erhältlich war. wie bei einer Normalbetätigung an der jeweiligen
14 Die Hydraulik der Bedienelemente wird je nach Radbremse eingestellt. Darüber hinaus kann nun
Evolutionsstufe des FTE-Systems von den Radbrem- elektronisch, mittels Drucksensorik überwacht,
15 sen weitestgehend getrennt und die Betätigung er- mit der Pumpe zusätzlicher Bremsdruck generiert
folgt bei intakter Anlage in einem Simulator oder werden.
Steuerraum. Eine Hydraulikpumpe wird bei jeder
16 Betätigung – auch Teilbremsungen – aktiviert, 42.4.2.3 Honda Combined-ABS:
so dass der Druck im Radbremszylinder aufge- „Brake-by-Wire“
17 baut werden kann, mindestens nach einem durch Einen Sonderweg beschreitet Honda mit dem im
hydraulische Übersetzungen vorgegebenen Ver- Jahr  2008 für das Supersport-Segment vorgestell-
stärkungsfaktor. Bei Systemstörungen wirken die ten Combined-ABS (C-ABS). Bezogen auf ihren
18 Hand- und Fußbremszylinder weiter direkt auf die kurzen Radstand, liegt der Schwerpunkt von Super-
Radbremszylinder, was prinzipbedingt deutlich hö- sport-Motorrädern relativ hoch. Starke Bremsmanö-
19 here Betätigungskräfte erfordert. Die ABS-Funktion ver rufen entsprechend große Radlastverschiebun-
arbeitet nach dem Plunger-Prinzip, wobei sich ein gen und infolgedessen auch heftige Nickbewegungen
20 Steuerkolben im Steuerraum mittels eines Elektro- mit rascher Tendenz zum Bremsüberschlag hervor,
magneten proportionalisiert gegen den Betätigungs- was sich besonders beim Anbremsen von Kurven
42.4  •  Stand der Technik der Bremsregelsysteme
779 42

destabilisierend auf das Fahrverhalten auswirkt. Obwohl das System über keine Rollwinkelsen-
Experimentelle Untersuchungen zeigten einerseits, sorik verfügt, liefert es aufgrund der Kontrolle der
dass die störende Fahrwerksreaktion anhand des Nickbewegung und der feinfühligen Regelung bereits
vom Fahrer eingesteuerten Bremsdruckgradien- eine erstaunlich gute Performance beim Bremsen
ten und der Raddrehzahlinformation prädizierbar in Kurven auch mit großer Schräglage (vgl. ▶ Ab-
ist – andererseits durch kurzzeitige Erhöhung des schn. 42.7.1 und  42.4.3.1). Der Erfolg beim Einsatz
Vorderradschlupfes sowie frühzeitiges Auslösen im Renngeschehen bestätigt dies eindrucksvoll [32].
der ABS-Regelung minimiert werden kann (s. [31],
vgl. auch ▶ Abschn. 42.4.3). Zur Umsetzung dieser
Strategie mit vom Fahrer unabhängigem raschen 42.4.3 Zusatzfunktionen
Bremsdruckaufbau wurde eine „Brake-by-Wire“-Ar-
chitektur gewählt. Die sogenannte „Rear-wheel-Lift-off-Protection“
Das System ist in fünf Komponenten unterteilt: (RLP, oft auch als „Rear-wheel-Lift-off/up-Mitiga-
Neben der zentralen Steuereinheit (ECU) sind im tion“ oder Hinterradabhebeerkennung bezeichnet)
Hydraulikstrang der Hand- und Fußbremse jeweils reduziert effektiv die Gefahr eines Bremsüber-
eine baugleiche Ventil- und Aktor-Einheit („Val- schlags und kommt bereits in vielen einfachen
ve-Unit“ und „Power-Unit“) integriert. Dies erlaubt Zweikreis-ABS zum Einsatz. RLP vergleicht die
zwar eine schwerpunktgünstige Montage in verschie- Raddrehzahlsignale und abgeleitete Signale bei-
denen Fahrzeugtypen, allerdings zum Preis einer der Räder während des Bremsvorgangs. Zusätzlich
vergleichsweise hohen Systemmasse von rund 10 kg. können noch Druckinformationen der einzelnen
Zum Rangierbremsen in abgeschaltetem Zustand Regelkreise – und bei den aktuellsten Systemen
arbeitet das System wie eine konventionelle Zweik- sogar Nickrate und Längsbeschleunigung [5] – zu
reis-Bremsanlage, was zugleich als Rückfallebene im einer Lift-Off-Tendenz verarbeitet und fahrsituati-
Störungsfall dient. Bei aktivem System wird nach onsabhängig die Verzögerung beschränkt werden.
Überschreiten einer geringen Bremsdruckschwelle Eine direkte Sensierung des Abstands von Rad zu
die hydraulische Verbindung der Bremshebel zu den Fahrbahn erfolgt nicht. Der Druckregelalgorithmus
Radbremsen durch Umschalten von Ventilen ge- des Vorderrads verringert den Bremsdruck – auch
trennt und auf Kraft-Weg-Simulatoren umgeleitet; unterhalb der ABS-Regelschwelle – derart, dass mit
diese vermitteln dem Fahrer an den Bremshebeln möglichst hoher Robustheit eine Mindestaufstands-
weiterhin das Gefühl einer konventionellen Bremse. kraft des Hinterrads sichergestellt wird.
Der Verzögerungswunsch des Fahrers wird mittels Die „Aktive Bremsdruckverteilung“ (ABD, „Ac-
Bremsdrucksensoren erfasst und in der ECU ver- tive Brake Pressure Distribution“, auch eCBS – elec-
arbeitet. Elektromotoren in den Aktor-Einheiten tronic CBS – genannt) ist für die Verteilung des Fah-
treiben via Stirnradgetriebe und Kugelumlaufspin- rerbremswunsches auf beide Räder verantwortlich.
del jeweils einen separaten Geberzylinder an, der Dies geschieht in Interaktion mit dem vom Fahrer
für den Druckaufbau an der Radbremse sorgt. Die über die beiden Bedienelemente direkt hydraulisch
ABS-Regelung stützt sich auf konventionelle Rad- eingespeisten Bremsdruck, wobei die einzelnen
drehzahlsensoren, erfolgt aber kontinuierlich, ohne Verteilungen – vom Handhebel zum Hinterrad und
das sonst charakteristische Pulsieren. vom Fußhebel zum Vorderrad – per Software um-
Das System erlaubt die Darstellung beliebiger gesetzt werden. Die Grundkennlinie kann sich an
Bremskraftverteilungen und ggf. sogar einer Ver- der idealen Bremskraftverteilung orientieren und
stärkungsfunktion mit vielen Freiheitsgraden: So dann situativ verändert werden: Hierbei kommen
wird das Hinterrad zur Stabilisierung beispiels- Eingangsgrößen wie die Fahrzeuggeschwindigkeit
weise stets voreilend abgebremst und beim Lösen ebenso zum Einsatz wie auch das Fahrerbremsprofil
der Bremse kommt eine andere Bremskraftvertei- beschreibende Signale. So kann z. B. die Integralwir-
lung zum Einsatz als beim Betätigen [31], was mit kung der Hinterradbremse auf die Vorderradbremse
einem konventionellen hydraulischen CBS nicht bei sehr kleinen Geschwindigkeiten reduziert wer-
ohne Weiteres realisierbar ist. den, um etwa ein Einknicken der Lenkung bei ei-
780 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

nem Wendemanöver zu unterbinden. Eine ABD einer Kurvenbremsung: Das Vorderrad zeigt bei
1 erfordert allerdings auch ein aktives Bremssystem t = 0 s, einem Rollwinkel von etwa 20° und einer
(wie z. B. Bosch ABS 9 ME, Continental MIB, FTE Fahrgeschwindigkeit von 65 km/h einen deutlichen
42 CORA BB oder Honda C-ABS). Mit diesen ist folg- Drehzahlabfall. Aufgrund der Überbeanspruchung
lich auch eine Funktion wie Motorrad Hold&Go des Kraftschlusses erhöht sich dessen Schräglauf-
(MHG), zur aktiven Unterstützung des Fahrers winkel, während die Gierrate des Fahrzeugs und
3 beim Anfahren am Berg, realisierbar. die Krümmung des Kurses sinken. Zu Beginn der
Neben der Bereitstellung spezieller Betriebs- einsetzenden Radblockade und der anschließenden
4 modi für Rennstrecken- und Offroad- Einsatz be- Regelung sinkt die Bremskraft; das vom Fahrer auf-
steht ein Trend zur Funktionserweiterung durch gebrachte, nach außen wirkende Lenkmoment dreht
5 Hinzunahme zusätzlicher Sensorinformationen den Lenker nach außen (in Richtung gegensinnige
über den Fahrzustand (▶ Abschn. 42.4.3.1) und In- Lenkwinkel). Nach Beenden der Regelung liegt wie-
teraktion mit anderen Regelsystemen wie Traktions- der die maximale Bremskraft am Vorderrad und da-
6 kontrolle (▶ Abschn. 42.5) oder Fahrwerkregelung mit auch wieder ein starkes nach innen (gleichsin-
(▶ Abschn. 42.6). niger Lenkwinkel) drehendes Lenkmoment an, das
7 – bei nun vom Fahrer offensichtlich zurückgenom-
42.4.3.1 Kurvenadaptives menem Moment – den Lenker erneut nach innen
Bremssystem dreht. Kurzzeitig beginnt der Lenker zu schwingen;
8 Zentrale Anforderung für die Bremsenregelung in bei ausreichender Amplitude dieser Schwingung
Kurven ist die Wahrung der dabei besonders sen- ist ein schnelles Sinken des Rollwinkels (und damit
9 siblen Fahrstabilität (▶ Abschn. 42.2). Bei gleich- verbunden große Rollraten) zu beobachten. Es folgt
zeitiger Erzielung hoher Verzögerungen sollte eine über den gesamten weiteren Bremsverlauf er-
10 also stets eine ausreichende Seitenkraftreserve zur kennbare Gier- und Rollschwingung des Fahrzeugs.
Verfügung gestellt werden. Reibwertsprünge von Im realen Straßenverkehr wäre unter Umständen
hoch auf niedrig und generell niedrige Reibwerte ein Verlassen des eigenen Fahrstreifens die Folge
11 setzen dabei physikalische Grenzen (vgl. [17] und gewesen. Ursächlich für die Lenk- und Rollschwin-
▶ Abschn. 42.7.2). Aufgrund der Kopplung von gungen sind der bereits in ▶ Abschn. 42.2 beschrie-
12 Lenk- und Rolldynamik ist weiterhin die Beherr- bene Effekt des Bremslenkmoments in Kombination
schung des Bremslenkmoments von Bedeutung mit der kinematischen Instabilität des Fahrzeugs
(▶ Abschn. 42.2 und 42.7.1). und der Regelung des Kurses durch den Fahrer.
13 Durch Berücksichtigung vor allem des Rollwin- Neben den bremslenkmomentbedingten Lenk-,
kels als charakteristische Kenngröße lässt sich die Roll- und Kursstörungen verdeutlicht das Beispiel
14 Bremsstrategie den Besonderheiten der Kurven- auch die Tendenz zur Destabilisierung durch
bremsung anpassen. Das durch die vorgenannten Überbeanspruchung des Kraftschlussangebotes.
15 Grenzen gesteckte fahrdynamische Potenzial lässt Während ein Fahrwerk mit dynamisch verstell-
sich damit zwar nicht erweitern, wohl aber für den barer Lenkachse zur Beherrschung des Brems-
Fahrer leichter beherrschbar und somit in weiten lenkmoments Gegenstand aktueller Forschung ist
16 Teilen überhaupt erst nutzbar machen. (▶ Abschn. 42.7.1), sind die im folgenden Abschnitt
Der sich daraus ergebende Sicherheitsgewinn beschriebenen Maßnahmen zur Verbesserung der
17 wird im Folgenden am Beispiel einer Kurven- Kurvenbremsung mit konventionellem Chassis be-
bremsung mit konventionellem Integral-ABS ver- kannt.
deutlicht, bevor im Anschluss verschiedene Re- Um eine in Kurvenfahrt besonders kritische
18 gelstrategien und das erste, im Jahr  2013 als Teil dynamische Vorderradüberbremsung zu vermei-
der Motorcycle Stability Control (MSC, [5]) von den, das Bremsnicken zu kontrollieren und dem
19 Bosch und KTM in Serie gebrachte, kurvenadaptive Fahrer vor allem gleich zu Bremsbeginn etwas
Bremssystem vorgestellt werden. mehr Zeit zur Kompensation des Bremslenkmo-
20 . Abbildung 42.10 zeigt den zeitlichen Verlauf ments zu geben, bietet es sich an, die Gradienten
und die Folgen einer drohenden Radblockade bei des Bremsdruckaufbaus und ggf. auch das maximale
42.4  •  Stand der Technik der Bremsregelsysteme
781 42

150
Regeleingriff
Vorderrad
Geschwindigkeit [km/h]

Radgeschwindigkeit vorne
Radgeschwindigkeit hinten
100
Regeleingriff
50 Hinterrad

0
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3

10

0
Winkel [°]

-10

-20

-30 Lenkerdrehwinkel
Rollwinkel
-40
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3

60
Gierrate
40 Rollrate
Drehrate [°/s]

20

-20

-40
-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
Zeit [s]

.. Abb. 42.10  Ablauf einer ABS-Regelung bei Kurvenbremsung mit konventionellem Integral-ABS (BMW R1150RT, vgl. [33])

Bremsdruckniveau in Abhängigkeit des Rollwin- zung des aktuell vorhandenen Kraftschlussniveaus


kels zu begrenzen. Der kinematischen Instabilität möglich. Dies kann durch vorzeitigen ABS-Eingriff
kann weiterhin durch die Verwendung rollwinke- hinten mitunter zwar auch Gier-, Roll-, Lenk- und
labhängiger Schlupfschwellen [28] Rechnung ge- Kursstörungen auslösen. Diese sind typischerweise
tragen werden: Diese ermöglichen eine sensiblere jedoch unkritisch und fallen gegenüber dem Vor-
ABS-Regelung inklusive Berücksichtigung des sog. teil, durch Begrenzung des maximalen Bremsdrucks
Scheinschlupfes, der sich aus den vorn und hinten vorn ABS-bedingte Lenkmomentstörungen und de-
meist unterschiedlichen Reifenbreiten und -kontu- ren Folgeeffekte vermeiden zu können, wenig ins
ren ergibt. Eine mit zunehmendem Rollwinkel stär- Gewicht. Schließlich sollte auch in Kurvenfahrt das
ker hinterradorientierte Bremskraftverteilung [11] Abheben des Hinterrades oder gar ein Bremsüber-
erhöht durch Absenken des Bremskraftniveaus am schlag vermieden werden.
stabilitätskritischen Vorderrad nicht nur dessen Sei- Nach der Serieneinführung einer Rollwin-
tenkraftreserven, sondern senkt zugleich auch das kelsensorik für Antriebsschlupfregelsysteme im
Niveau des Bremslenkmoments. Wird zusätzlich das Jahr  2009 (vgl. ▶ Abschn. 42.5) war die Nutzung
Hinterrad voreilend überbremst, ist eine Abschät- dieser Information für eine kurvenadaptive Brems-
782 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

regelung nur noch eine Frage der Zeit. Das 2013 men, wie etwa einem semiaktiven Fahrwerk (▶ Ab-
1 von Bosch gemeinsam mit KTM im Rahmen der schn. 42.6), bereits vorgesehen [25].
Motorcycle Stability Control (MSC) [5] vorgestellte Bezogen auf den Straßeneinsatz zeigt das Un-
42 Bremssystem nutzt dazu ein Sensorcluster, das zwei fallgeschehen, dass der durch Maßnahmen wie
Drehraten und Beschleunigungen in allen drei MSC erzielte Stabilitätsgewinn beim Bremsen hö-
Raumrichtungen erfasst: Durch die um 45° um die her zu werten ist als der theoretisch damit einher-
3 Querachse gedrehte Einbaulage erfasst ein Drehr- gehende Verlust an maximaler Verzögerung. Erste
atensensor die Nickrate, während der andere eine Praxistests zeigen, dass die Aufstellbewegung bei
4 Kombination aus Roll- und Gierrate misst. Auf ma- Kurvenbremsungen mit MSC sehr gut zur Verzö-
thematischem Wege können so Informationen über gerung passt und ein Fahrer dank der verbesserten
5 alle sechs Bewegungsfreiheitsgrade des Fahrzeugs, Stabilität bei Schreckbremsungen in großer Schräg-
insbesondere die Roll- und Nickbewegung, gewon- lage sehr wahrscheinlich sogar höhere mittlere Ver-
nen und bei Bremskraftverteilung (eCBS, bei KTM zögerungen erzielen kann als mit konventionellem
6 aktuell nur hinten mit aktivem Druckaufbau) sowie Bremssystem [27, 35].
ABS-Regelung und Hinterradabhebeerkennung be- Bei mehrspurigen Kurvenneigern wie dem
7 rücksichtigt werden [5, 25, 34]. Piaggio MP3 sind überdies Bremsregelungen in
Aufgrund der wenigen bislang veröffentlichten Anlehnung an die aus dem Pkw-Bereich bekannte
Informationen zur konkreten Umsetzung der Re- elektronische Stabilitätsregelung (ESC) machbar, die
8 gelstrategie von MSC ist der letzte Satz bewusst im idealerweise auch auf die Motorsteuerung Einfluss
Konjunktiv gehalten. Während eine Verfeinerung nehmen können [28].
9 der vorgenannten rollwinkelabhängigen Bremsstra-
tegien im Rahmen von MSC durch die zusätzlich
42.5 Stand der Technik der Antriebs­
10 vorhandenen Sensorinformationen prinzipiell in
schlupfregelungssysteme
vielfältiger Weise möglich ist, ist dies zur Darstel-
lung einer bestimmten Funktion nicht immer er-
11 forderlich. Im konkreten Anwendungsfall muss Im Hinblick auf die hohe Leistungsdichte moder-
entschieden werden, ob z. B. die Verbesserung der ner Motorräder stellt eine Antriebsschlupfregelung
12 Hinterradabhebeerkennung durch die Berücksich- (ASR, engl. Traction Control System, TCS) eine
tigung von Nickrate und Längsbeschleunigung sinnvolle Ergänzung zu den mittlerweile etablier-
[5] gegenüber einem konventionellen Ansatz den ten Bremsregelsystemen dar [23]. Primäres As-
13 Mehraufwand bei der funktionellen Absicherung sistenzziel ist das Vermeiden eines unkontrolliert
rechtfertigt usw. durchdrehenden Hinterrades, um einerseits den
14 Wie der Name Motorcycle Stability Control Fahrer beim Beschleunigen – speziell auf Straßen
bereits andeutet, geht das Gesamtsystem über die mit wechselnden und reduzierten Reibwerten – zu
15 Funktion einer alleinigen Bremsenregelung in unterstützen und zugleich die Fahrstabilität auf-
Kurvenfahrt hinaus: So erlaubt die Einbeziehung recht zu erhalten. Besonders in Kurvenfahrt gilt
der Motorsteuerung auch eine kurvensensible es, seitliches Wegrutschen mit der Gefahr eines
16 Traktionskontrolle (Motorcycle Traction Control, Highsider-Unfalls (siehe auch ▶ Abschn. 42.7.2) zu
MTC), ggf. mit Zusatzfunktionen wie Launch- oder unterbinden.
17 Wheely-Control (▶ Abschn. 42.5). Spezielle Offro- Pionier bei der Serieneinführung der Antriebs-
ad-Mappings arbeiten nicht nur mit angepassten schlupfregelung war 1992 Honda mit dem TCS: Mit
Schlupfschwellen, sondern auch ohne Berücksich- der Automatic Stability Control (ASC) 2006 und
18 tigung des intertial-sensorisch ermittelten Rollwin- der Dynamic Traction Control (DTC) 2009 lieferte
kels, da dieser beim Durchfahren von Steilkurven BMW weitere Meilensteine. Andere Hersteller haben
19 ein vermindertes Kraftschlusspotenzial suggeriert, inzwischen nachgezogen. Da die Funktionsweise der
während es durch die Fliehkraft tatsächlich erhöht verschiedenen Systeme jedoch prinzipiell ähnlich ist,
20 ist. Im Sinne einer skalierbaren Systemarchitektur wird diese im Folgenden zunächst am Beispiel von
ist zudem die Vernetzung mit weiteren Regelsyste- ASC und DTC erläutert und bei Bedarf ergänzt.
42.5  •  Stand der Technik der Antriebsschlupfregelungssysteme
783 42
.. Abb. 42.11 Syste- Handarmatur mit Modus-Taster
mübersicht DTC am
Beispiel der BMW S1000RR
I-Kombi Motorsteuerung Sensorbox
(Quelle: BMW Motorrad)
ABS-Modulator
Handarmatur und -Steuergerät
mit ABS/DTC
Schalter

ABS-Sensor
Vorderrad Zündung Drosselklappen-
steller (eGas) Einspritzung ABS-Sensor
Hinterrad

Eine Übersicht der via CAN-Bus miteinander in definierten Fahrzuständen durch einen Vergleich
vernetzten Systemkomponenten des DTC zeigt der Radgeschwindigkeiten automatisch adaptiert.
. Abb. 42.11. Neben den Drosselklappenstellern Überschreitet der so ermittelte Antriebsschlupf
des „eGas“ (oder „Ride-by-Wire“) ist DTC gegen- ein für die Wahrung der Fahrstabilität vertretbares
über dem ursprünglichen ASC-System um eine Maß, greift die Regelung durch eine Reduktion des
Sensorbox ergänzt. Durch Messung der Roll- und Antriebsmoments unterstützend ein. Die Reakti-
Gierrate sowie der Quer- und Vertikalbeschleuni- onszeiten hängen dabei neben der Zykluszeit des
gung erlaubt diese erstmalig, den maßgeblich durch Berechnungsalgorithmus (von üblicherweise 10 ms)
den Rollwinkel charakterisierten Fahrzustand sen- und Erkennungsdauer (ca. 50 ms) vor allem von
sorisch zu erfassen und bei der Regelung zu berück- der Zeit zwischen zwei Arbeitsspielen (gering für
sichtigen. hohe Zylinderzahl und Motordrehzahl) sowie dem
Der Regelalgorithmus der Traktionskontrolle für den Regeleingriff verwendeten Stellglied (s. im
läuft bei beiden Systemen jeweils auf dem Mo- Weiteren) ab. Sie liegen typischerweise im Bereich
torsteuergerät, bei DTC auch die Auswertung der von ca. 50 bis 160 ms, wobei sie für einen Reihen-
Signale der Sensorbox. Um Zeitpunkt und Inten- vierzylinder im Rennbetrieb auch darunter und für
sität eines Regeleingriffs zu ermitteln, erhält das einen Zweizylinder-Boxer im Bummeltempo auch
Steuergerät die Signale der ABS-Radsensoren. Aus darüber liegen können.
der Drehzahldifferenz von Vorder- und Hinterrad Während DTC dank der Erfassung des Fahr-
– sowie im Falle von DTC einer rollwinkelabhängi- zustands rennstreckentauglich sehr nahe an die
gen Korrektur – wird der aktuelle Antriebsschlupf physikalischen Grenzen gehen kann, ist bei der
ermittelt. Festlegung der ASC-Regelschwellen ein stärkerer
Hierzu sind im Steuergerät fahrzeugspezifische Kompromiss zwischen einer sportlichen und siche-
Parameter – darunter auch Kenndaten der für das ren Regelung erforderlich. Die Umsetzung geschieht
jeweilige Fahrzeug freigegebenen Rad-Reifen-Paa- durch geschwindigkeitsabhängige Schwellwerte,
rungen – abgelegt. Da sich Reifen verschiedener die für alle im Fahrbetrieb möglichen Schräglagen
Hersteller bezüglich Abrollradien und Konturen zuverlässig funktionieren. Die Konsequenz daraus
geringfügig unterscheiden, Toleranzen in der Ferti- ist, dass bei großen Schräglagen (λ > 40°) das Be-
gung und zunehmendem Verschleiß im Betrieb un- schleunigungsvermögen mit ASC spürbar abneh-
terliegen, werden Abweichungen zu den Basisdaten men kann.
784 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Brenngrenze Einspritzung wie bei einer Schubabschaltungs-


1 Bauteilschutz
funktion gänzlich unterbunden, der Motor läuft
nur noch im Schleppbetrieb. Bei Fahrzeugen mit
M otormoment

42 1. Reduktionsstufe eGas besteht weiterhin die Möglichkeit, diese Ein-


griffe durch Verstellung der Drosselklappen – über
2. Reduktionsstufe den etwas reaktionsträgeren „Luftpfad“ – zu über-
3 lagern. Um zu vermeiden, dass der Motor stehen
3. Reduktionsstufe
bleibt und das Hinterrad blockieren kann, wird der
4 Zündwinkelverstellung Drehmomentoptimaler Drehmomenteingriff je nach Motorkonzept unter-
Zündzeitpunkt
„ spät“ „ früh“
halb einer Motordrehzahl von ca. 1200–1800 min−1
5 Zündwinkel unterdrückt. Die Bedingung, den Motor lauffähig zu
halten, wird in diesem Drehzahlbereich (Geschwin-
.. Abb. 42.12  Schematische Darstellung der Drehmoment­ digkeit je nach Gang ca. 5–15 km/h) höher priori-
6 reduktion (Quelle: BMW Motorrad)
siert als die Fahrzeugstabilität aufrechtzuerhalten.
Die Übergänge in den Reduktionsstufen zur
7 Ein Regeleingriff zur Reduktion des Antriebs- Antriebsschlupfreduzierung sind an die Fahr- und
moments am Hinterrad kann zwar prinzipiell auch Schlupfsituationen angepasst. Die Rückstellung
durch einen aktiven Bremseneingriff des ABS erfol- hingegen erfolgt so zügig wie möglich, um das
8 gen oder unterstützt werden [28], bei den am Markt Beschleunigungsvermögen nicht unnötig einzu-
befindlichen Systemen geschieht er jedoch aus- schränken.
9 schließlich durch Reduktion des Motormoments. Zusätzliche Features des ASC-Systems sind
Die grundsätzlichen Regelstrategien hierzu wer- die Erkennung und Vermeidung von Beschleuni-
10 den in . Abb. 42.12 verdeutlicht. gungsüberschlägen (sog. „Wheelies“) und die An-
Ausgehend von einem für den Lastpunkt opti- passung an Geländefahrzeuge. Erzeugt der Fahrer
malen Zündzeitpunkt erfolgt zunächst eine Verstel- beim starken Beschleunigen einen „Wheely“, wird
11 lung des Zündwinkels in Richtung spät, womit das das abgehobene Vorderrad im Vergleich zum Hin-
Motordrehmoment um bis zu 25 % reduziert wird. terrad zwangsläufig langsamer; die ASC-Regelung
12 Die Spätverstellung des Zündwinkels erhöht die erkennt dies als Hinterradschlupf und reduziert
Abgastemperatur und wird durch die Brenngrenze das Antriebsmoment. Für Geländeeinsätze sind die
des Motors begrenzt. Bei einer weiteren Spätver- straßenspezifischen Schlupfschwellen oftmals nicht
13 stellung würde der Kraftstoff nicht mehr vollstän- geeignet: Deshalb wurden für die Enduromodelle
dig verbrannt; deshalb ist im Steuergerät für jeden von BMW Motorrad zusätzlich Geländeabstim-
14 Betriebspunkt ein maximaler Wert dieser Zündzeit- mungen entwickelt, die der besonderen Schlupf-
punktverstellung abgelegt. Sollte trotz maximaler charakteristik von losem Untergrund wie Sand und
15 Zündwinkelverstellung bis an die Brenngrenze der Geröll durch höhere Schwellwerte Rechnung tragen.
Antriebsschlupf am Hinterrad noch zu hoch sein, Der Wechsel zwischen den Setups oder auch ein Ab-
erfolgt als Nächstes eine Ausblendung der Kraft- schalten des Systems erfolgt per Knopfdruck.
16 stoffeinspritzung. Dies wird zylinderselektiv nach Die Regeltätigkeit des rennstreckentauglichen
speziellen Ausblendmustern in unterschiedlichen DTC-Systems ist in vier Modi („Rain“, „Sport“,
17 Reduktionsstufen durchgeführt. Innerhalb der Re- „Race“ und „Slick“) einstellbar. In der neuesten
duktionsstufen ist durch Variation des Zündzeit- Ausbaustufe des DTC in der BMW S1000RR HP4
punkts zu späteren Zündzeitpunkten eine weitere ermöglicht ein Sensorcluster mit zusätzlicher Erfas-
18 stufenlose Reduktion des Motordrehmoments mög- sung der Längsbeschleunigung in Kombination mit
lich. Wird erneut die Brenngrenze erreicht, wechselt einem Schaltassistenten die sogenannte „Launch
19 die Motorsteuerung in die nächste Reduktionsstufe: Control“. Diese erlaubt maximales Beschleuni-
Dies bedeutet, dass weitere Einspritzungen je Ar- gen aus dem Stand mit gerade so „schwebendem“
20 beitsspiel unterdrückt werden (2. und 3. Redukti- Vorderrad, wie etwa bei einem Rennstart. Zudem
onsstufe). In der letzten Reduktionsstufe wird die besteht mit dem als Zubehör angebotenen „Race
42.6  •  Stand der Technik der Fahrwerkregelsysteme
785 42

Calibration Kit“ die Möglichkeit zur individuellen Straßenkontakt) und Komfort (gemessen z. B. an
Feinabstimmung. kleineren Vertikalbeschleunigungen) auflösen.
Während die sensorische Erfassung des Fahrzu- Das derzeit am weitesten verbreitete System
stands in High-End-Systemen wie DTC oder Boschs ist das sogenannte Continuous Damping Control
MSC/MTC (▶ Abschn. 42.4.3.1) die Voraussetzung (CDC) von ZF/Sachs, bei dem die variable Dämp-
für weitere Zusatzfunktionen – wie etwa eine ge- fung durch elektrisch gesteuerte Proportionalventile
zielte Drift-Regelung oder gar „Wheely-Automa- erreicht wird. Trotz dieser gemeinsamen techni-
tik“ – schafft, sind auch deutlich simplere Systeme schen Basis unterscheidet sich die Systemauslegung
am Markt. Diese werden für Rennsportzwecke teils bei den verschiedenen Motorradherstellern u. a. in
sogar als Nachrüstlösung angeboten und beschrän- Art und Anzahl der verwendeten Sensoren und
ken sich häufig auf die alleinige Überwachung des folglich auch in der Regelstrategie. Zur Erfassung
Hinterrads. Anhand von Drehzahl, Gangstufe, der Fahrwerksbewegungen kommen neben Feder-
Gasgriffstellung und Drehzahlanstieg erkennt der wegsensoren (z. B. BMW, Aprilia) oder Beschleuni-
hinterlegte Algorithmus ein unnatürlich starkes An- gungssensoren an Radträgern und Aufbau (Ducati)
steigen der Hinterraddrehzahl und greift analog zu auch Drucksensoren in der Vorderradgabel (Apri-
ASC über das Motormanagement regulierend ein. lia) zum Einsatz. Weitere Informationen über den
Fahrzustand (Beschleunigen, Bremsen, Kurvenfahrt
etc.) sind durch Vernetzung mit anderen Regelsys-
42.6 Stand der Technik temen verfügbar. Ganz gleich, ob nun als Dynamic
der Fahrwerkregelsysteme Damping Control (DDC) oder Dynamic ESA bei
BMW, Ducati Skyhook Suspension (DSS), Aprilia
Im Gegensatz zum Pkw erreicht der Anteil von Auf- Dynamic Damping (ADD) oder unter einem an-
sassen und Zuladung beim Motorrad ohne Weiteres deren Namen angeboten: Allen gemeinsam ist der
50 % der Gesamtmasse, wodurch Schwerpunktlage Trend zu einer wachsenden Systemintegration – im
und Fahrverhalten mitunter erheblich beeinflusst Sinne einer Global Chassis Control (GCC) bzw. ei-
werden. Eher einfache konventionelle Fahrwerke nes Integrated Chassis Management (ICM). Dies
bieten daher zumindest eine manuelle Anpassung bedeutet, dass Motorsteuerung, Antriebsschlupf-
der Federvorspannung hinten, während bei aufwen- regelung, Bremsenregelung und semiaktives Fahr-
digeren Konstruktionen Federvorspannung sowie werk nicht als Einzelsysteme nebeneinander exis-
Dämpfung in Zug- und Druckstufe an beiden Rä- tieren und arbeiten, sondern ihre Regeltätigkeit der
dern einstellbar sind. Systeme wie das Electronic Fahrsituation entsprechend immer besser aufeinan-
Suspension Adjustment (ESA) von BMW ermögli- der abgestimmt wird.
chen dies elektromotorisch per Knopfdruck. In der Durch Koordination von CDC und ABS konnte
zweiten Generation (ESA II) ist hinten durch Rei- für einen Pkw (BMW X5) im Fahrversuch beispiels-
henschaltung der Stahlfeder mit einer Elastomerfe- weise ein Bremswegverkürzungspotenzial von 1,2 %
der sogar die Federsteifigkeit variabel. Während die nachgewiesen werden [36]. Eine Simulationsstudie
Beladungsadaption aus Sicherheitsgründen nur im kommt für ein sportliches Tourenmotorrad sogar
Stand erfolgen kann, lässt sich die Dämpfung in vor- auf ein Bremswegverkürzungspotenzial von 2 bis
eingestellten Kennlinien auch während der Fahrt an 4 % [37].
Fahrbahnbeschaffenheit und Fahrweise anpassen. Weiterhin lässt sich durch SAF auch der Ab-
Ab 2012 hat nun auch die bereits aus dem Pkw-Sek- lauf von Highsider-Unfällen positiv beeinflussen,
tor bekannte Technologie semiaktiver Fahrwerke indem durch Verhärten der Dämpfung der Aufbau
(SAF) Einzug in den Serienmotorradbau gehalten. und die Entladung der in den Federn gespeicherten
Durch permanente sensorische Erfassung des Vorspannungsenergie und folglich auch die typi-
Fahrzustands und situative Anpassung der Dämp- sche „Katapultwirkung“ vermindert werden. Mit
fung sollen SAF den Zielkonflikt zwischen Sport- vergleichsweise hohen Dämpferkräften – schon bei
lichkeit bzw. Fahrsicherheit (gemessen z. B. an durch niedrigen Dämpfergeschwindigkeiten und System-
verringerte Radlastschwankungen verbessertem reaktionszeiten von unter 15 ms über den gesamten
786 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

1
42
a b c d e
3 Standard // BLMV OPT. BLMV OPT. BLMV Realer BLMV
Lenkachse LRR vollst. LRR vollst. LRR teilweise LRR teilweise
4 mit LRR kompensiert kompensiert kompensiert kompensiert

LRR = Lenk-Roll-Radius
5 // = Parallele Lenkachsverschiebung
OPT. = Lenkachsschwenkung mit optimierter Momentanpollage

6 .. Abb. 42.13  Lenkachslagerung und (Teil-)Kompensation des Lenkrollradius (LRR) für Standardfahrwerk und verschiedene
Konfigurationen eines Bremslenkmomentverhinderers (BLMV)

7
Verstellbereich – bieten elektrorheologische Dämp- kregelungen stellt sich also zunächst die Frage nach
fer hierzu beste Voraussetzungen [38]. relevanten Unfallklassen. Neben Kurvenunfällen im
8 Während semiaktive Fahrwerke lediglich die Allgemeinen (vgl. [27] und [40]) gingen dabei aus
Dämpfungskräfte entgegen der Bewegungsrichtung einer detaillierten Analyse der Unfalldatenbank des
9 der Radaufhängung beeinflussen können, erlauben GDV – sowie aus Expertenbefragungen – vor allem
vollaktive Systeme das Stellen von Kräften in beide die ungebremsten Kurvenunfälle als größte Gruppe
10 Richtungen. Aus physikalischer Sicht kann aber potenziell noch beeinflussbarer Unfälle hervor [41].
selbst ein so hochdynamisches vollaktives Fahrwerk Wie bereits in ▶ Abschn. 42.3 erwähnt, besteht
wie das von BOSE [39] kaum zur Fahrerassistenz ein erhebliches Potenzial, Unfälle – bei denen gar
11 auf Stabilisierungsebene beitragen [17]. Dennoch nicht, zu spät oder zu zaghaft gebremst wurde –
ist davon auszugehen, dass bereits ein SAF durch durch Einsatz vorausschauender Systeme wie „Pre-
12 verbessertes Handling den Fahrer in seiner Fähig- dictive Brake Assist“ oder gar „Automatische Not-
keit unterstützt, das Fahrzeug zu stabilisieren. Fer- bremssysteme“ (ANB) zu verhindern oder zumindest
ner ist zu vermuten, dass auch der nachgewiesene ihre Schwere zu reduzieren (vgl. [24, 28, 29]).
13 Komfortgewinn [37], etwa durch geringere Ermü- Diese auf geeigneter Umfeldsensorik basieren-
dung und größeres Vertrauen in die Fähigkeiten den Systeme sind zwar selbst keine Assistenzsys-
14 der Maschine, einen positiven Effekt haben. Denn teme auf Stabilisierungsebene, erfordern jedoch
schließlich liefert auch ein entspannter Fahrer ei- spezielle Maßnahmen, um das Fahrzeug bei einem
15 nen Beitrag zur aktiven Sicherheit im Gesamtsystem autonomen Eingriff stabil auf Kurs zu halten. Auch
Mensch-Maschine-Umwelt. der Untersuchung der Fahrerankopplung und ihrer
fahrdynamischen Wechselwirkung mit Fahrzeug
16 und Regelsystemen dürfte daher zukünftig eine be-
42.7 Zukünftige sondere Rolle zukommen.
17 Fahrdynamikregelungen

Durch die Berücksichtigung des Fahrzustands 42.7.1 Einflussmöglichkeiten


18 (speziell des Rollwinkels) in Brems- und Antriebs- auf gebremste Kurvenunfälle
schlupfregelsystemen, ggf. sogar gekoppelt mit ei-
19 nem semiaktiven Fahrwerk, decken die aktuell am Neben dem mit MSC jüngst in Serie gegangenen kur-
Markt verfügbaren Assistenzsysteme bereits eine ven-adaptiven Bremssystem (▶ Abschn. 42.4.3.1),
20 Vielzahl an Fahrsituationen ab. Zur Abschätzung existiert mit dem sogenannten Bremslenkmoment-
der Realisierbarkeit weiterführender Fahrdynami- verhinderer (BLMV) nach Weidele (vgl. [11, 15,
42.7 • Zukünftige Fahrdynamikregelungen
787 42
Lenkkopfwinkel- und Lenkachsschrägstellung Funktionsprinzip mit
Nachlauf-Änderung Doppelexzenter
Im Prototypen realisierte
Momentanpollage
Lenkrohr obere Gabelbrücke

doppelt-
exzentrisches
Lenkkopf
Pendel-
rollenlager
Lenkachse in…
… Linkskurve
… Geradeausfahrt
… Rechtskurve
konzentrisches
Schräg-
tonnenlager

untere Gabelbrücke

[Motorrad Bilder © Honda]

Kinematisch optimale Nachlauf n ≈ 98 ± 30 mm


Momentanpollage

.. Abb. 42.14  Änderungen der Fahrwerksgeometrie und BLMV-Funktionsprinzip nach Weidele [11] am Beispiel des Versuchs-
fahrzeugs Honda CBR 600 RR (Quelle: Honda / Weidele, modifiziert durch Autoren)

18] und [42]) eine weitere Möglichkeit, Kurvenun- Wird der Lenkrollradius durch einen BLMV mit
fälle mit bremsbedingtem Aufstellverhalten (▶ Ab- einer (in ihrer um den Lenkkopfwinkel τ geneigten
schn. 42.2) positiv zu beeinflussen. Ebene) parallel verschobenen Lenkachse eliminiert
Vereinfacht dargestellt besteht das Funktions- (. Abb. 42.13b), so geht diese ausdrehende Lenk-
prinzip des BLMV daraus, die kinematische Len- momentkomponente verloren und der Fahrer muss
kachse in Abhängigkeit des Rollwinkels seitlich in freier Kurvenfahrt ein deutlich erhöhtes Lenk-
so zu verschieben bzw. zu schwenken, dass ihre moment aufbringen. Dies lässt sich theoretisch
Projektion in die Frontalansicht des Fahrzeugs zwar durch einen stark vergrößerten Lenkkopf-
stets durch den Vorderradaufstandspunkt verläuft winkel (für das verwendete Versuchsmotorrad z. B.
(s.  . Abb. 42.13b und c sowie . Abb. 42.14). Eine etwa 50° anstelle von 23°55ʹ) in Kombination mit
dort angreifende Bremskraft hat somit keinen He- ebenfalls vergrößertem Gabelbrückenversatz (z. B.
belarm zur Lenkachse mehr, ruft kein störendes 140 mm anstelle von 30 mm) und nur teilweiser
Bremslenkmoment (BLM) und folglich auch kein Kompensation des Lenkrollradius in den Griff be-
Aufstellen des Fahrzeugs hervor. kommen, würde aber die Handling-Eigenschaften
Ein solches System greift jedoch auch empfind- stark beeinträchtigen. Eine elegantere Möglichkeit
lich in die Fahrwerksgeometrie ein, die insbesondere unter Beibehaltung der Basis-Geometrie besteht in
bei modernen Sportmotorrädern auf ein nahezu der Schrägstellung der Lenkachse: Diese erlaubt es,
lenkmomentneutrales Verhalten in freier Kurven- die ausdrehende Wirkung der Seitenkraft gegenüber
fahrt ausgelegt ist. Entscheidend dafür ist, dass auch der eindrehenden der Normalkraft höher zu ge-
die am Vorderradaufstandspunkt angreifenden Nor- wichten, so dass trotz vollständiger Kompensation
mal- und Seitenkräfte Hebelarme zur Lenkachse des Lenkrollradius die ursprüngliche Balance wie-
haben: Seitenkräfte wirken über den Nachlauf aus- derhergestellt ist (. Abb. 42.13c). Die durch Lenk-
drehend, Normalkräfte eindrehend, während beide kopfwinkel, Gabelbrückenversatz und Reifendi-
über den Lenkrollradius ausdrehend wirken. mension definierte Geometrie des Basis-Fahrwerks
788 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Standard-Lenkachse BLMV mit 75% Zielkompensationsrate


1 30 30

20 20
42
10 10
3 0 0

4 -10 -10

-20 -20
5
-30 -30
6 -40 -40
0 1 2 3 4 0 1 2 3 4
a Zeit in s b Zeit in s
7
Lenkmoment in Nm Referenz-Rollwinkel in ° Rollwinkel in ° Lenkwinkelgeschwindigkeit in °/s

8 .. Abb. 42.15  Zeitverlauf charakteristischer Messgrößen bei der Kurvenbremsung ohne und mit Bremslenkmomentverhinde-
rer (R = 50 m, v0 ≈ 18 m/s, ay0 ≈ 6 m/s², ax ≈ 5 m/s²)

9
legt dabei im Schnittpunkt der Standard-Lenkachse Nachteil einer erhöhten reifengefederten Masse
10 mit der durch die Vorderradnabe verlaufenden Ver- mit sich. Durch Verstellung beider Lenkachslager
tikalen den kinematisch optimalen Momentanpol lässt sich dies zwar prinzipiell umgehen, die dann
fest (. Abb. 42.14). Dieser ermöglicht unabhängig erforderlichen großen Stellwege bedingen aber eine
11 vom Schwenkwinkel freie Kurvenfahrt mit dem noch größere Zunahme der Masse, in diesem Fall
gleichen Lenkmomentbedarf wie für das Standard- allerdings der aufbaugefederten. Zum anderen muss
12 setup. Bei Kurvenbremsungen mit vollständiger zu Bremsbeginn zunächst stets die Radträgheit ver-
Kompensation des Lenkrollradius (. Abb. 42.13c) zögert werden, bevor sich Bremsschlupf und damit
erzeugt dieses Setup allerdings einen mit steigen- nennenswerte Bremskräfte einstellen. Bei den erfor-
13 der Verzögerung abnehmenden Lenkmomentbe- derlichen Schwenkwinkeln von bis zu 14° ergeben
darf – während ein an konventionelle Fahrwerke sich dadurch ausdrehende Lenkmomentanteile. Mit
14 gewöhnter Fahrer intuitiv das Gegenteil, nämlich einer abgeschätzten Größenordnung von 10 Nm
einen zunehmenden Lenkmomentbedarf, erwar- stellen diese theoretisch einen ernstzunehmenden
15 ten würde. Durch Rücknahme des Schwenkwinkels Störfaktor im Zielkonflikt mit der Reduktion des
und entsprechend nur teilweiser Kompensation des BLM dar. Da sie aber nur in den ersten ca. 0,1–0,2 s
Lenkrollradius (. Abb. 42.13d) lässt sich auch dieses der Bremsung auftreten (vgl. . Abb. 42.15b), ist da-
16 gewohnte Feedback wieder herstellen. von auszugehen, dass sie in der Praxis durch einen
Für die konkrete Umsetzung eines solchen angepassten Bremsdruckaufbau beherrschbar sind.
17 Systems ergeben sich allerdings zwei maßgebliche Zur Untersuchung des Fahrverhaltens im Real-
Herausforderungen: Zum einen liegt der zuvor versuch, wurde ein Supersportmotorrad des Typs
beschriebene optimierte Momentanpol für übli- Honda CBR  600  RR (Modelljahr 2010, inklusive
18 che Fahrwerksparameter und Reifendimensionen C-ABS, ▶ Abschn. 42.4.2.3) mit einem BLMV aus-
unterhalb der Radnabe (etwa 74 mm für das Ver- gerüstet (. Abb. 42.14). Die Lenkkopflager sind da-
19 suchsmotorrad mit Vorderreifen der typischen bei (als Schrägtonnen- bzw. Pendelrollenlager) ki-
Dimension 120/70ZR17, s.  . Abb. 42.14). Die na- nematisch als Kugelgelenk ausgelegt und das obere
20 heliegende Ausführung des BLMV auf Basis einer Lenkkopflager durch eine Doppelexzenterkonst-
Radnabenlenkung bringt daher zwangsläufig den ruktion elektromotorisch verstellbar [11, 42]. Da
42.7 • Zukünftige Fahrdynamikregelungen
789 42

der Bauraum durch die Holme der Telegabel stark im Stillstand nimmt der Fahrer gegen Ende der
eingeschränkt ist, beträgt die Exzentrizität lediglich Bremsung (ab t ≈ 2,5 s) nacheinander die Beine von
8 mm. Prinzipbedingte Änderungen des Lenkkopf- den Fußrasten und führt zur Wahrung der Balance
winkels und Nachlaufs bleiben daher ebenso gering ausgleichende Lenk- und Oberkörperbewegungen
wie der Schrägstellungswinkel der Lenkachse von aus, wobei auch Störungen durch ein Sich-Abstüt-
rund 2° (. Abb. 42.13e und 42.14). Der Gesamt­ zen am Lenker auftreten.
lenkmomentbedarf des real ausgeführten Systems Die Kurvenbremsung mit BLMV
ähnelt daher demjenigen eines parallelen BLMV (. Abb. 42.15b) beginnt mit einem gegenüber der
(. Abb. 42.13b) mit entsprechend reduzierter Standardlenkachse deutlich erhöhten stationären
Kompensationsrate. Es ergeben sich ein deutlich Lenkmoment der Größenordnung 24  bis  25 Nm
erhöhtes stationäres Lenkmoment, ein reduzierter (verglichen mit 7 bis 9 Nm bei t = 0 s). Neben ei-
Lenkmomentsprung zu Bremsbeginn – mit einer ner erwartungsgemäß kleinen trägheitsbeding-
nur kleinen Störung durch Verzögern der Radträg- ten Störung im Bereich von ca. 1 bis 2 Nm zu
heit – und infolgedessen auch eine geringere Lenk-, Bremsbeginn ergibt sich ein Lenkmomentsprung
Roll- und Kursstörung. von lediglich 3 Nm (verglichen mit 18 bis 20 Nm
In . Abb. 42.15 sind exemplarisch für das Stan- bei t ≈ 0,2 – 0,3 s), so dass das BLM nur eine ver-
dardfahrwerk und aktiven BLMV (jeweils ohne den nachlässigbar geringe Lenkwinkelstörung auslöst
serienmäßigen HESD-Lenkungsdämpfer, ▶ Ab- und der Rollwinkel zunächst sehr gut der Referenz
schn. 42.1) die Zeitverläufe charakteristischer Mess- folgt. Aufgrund des sehr einfach gewählten Regelal-
größen bei Bremsungen unter landstraßentypischen gorithmus mit konstanter geometrischer Kompen-
Bedingungen mit einer mittleren Verzögerung von sationsrate und Vernachlässigung weiterer lenk-
rund 5 m/s² aus einer Geschwindigkeit von ca. momentwirksamer Effekte, kommt es ab Mitte der
18 m/s (Anfangsquerbeschleunigung ay0 ≈ 6 m/s², Bremsung zur Überkompensation des BLM und zu
Anfangsrollwinkel λ0 ≈ 35°) in einer Linkskurve mit einem Vorzeichenwechsel im Lenkmomentbedarf
einem Radius von R = 50 m dargestellt. (ab t ≈ 1,4 s). Der Rollwinkel bleibt größer als der
Für die Fahrt mit konventioneller Lenkachsgeo- Referenzwert und das Fahrzeug drängt auf einen
metrie (. Abb. 42.15a) bringt der Fahrer nach dem kleineren Bahnradius (t ≈ 2 s); für ein Bremsma-
obligatorischen Auskuppeln ein kurvenausdrehen- növer in einer sich zuziehenden Kurve wäre das
des (betragsmäßig negatives) stationäres Lenkmo- ein entscheidender Vorteil. Im gezeigten Beispiel
ment von 7 bis 9 Nm auf. Zu Bremsbeginn (t = 0 s) ist aber ein konstanter Bahnradius vorgegeben, so
ist ein Lenkmomentsprung um ca. 19 bis 20 Nm zu dass der Fahrer stärker nach kurveninnen lenken
beobachten (t ≈ 0,2 s). Der vom Fahrer nicht sofort muss (t ≈ 2 – 2,5 s), um diesem zu folgen. Obwohl
gedeckte Anteil des sprungartig gestiegenen Gesam- der Fahreroberkörper durch einen Kontrollblick
tlenkmomentbedarfs beschleunigt das Lenksystem zur Mechanik weiter nach innen geneigt wurde,
rotatorisch nach kurveninnen (siehe positive Lenk- nähert sich der Rollwinkel dem Sollwert aufgrund
winkelgeschwindigkeit) und die folgende Aufstell- des baldigen Stillstands nicht mehr vollständig an.
bewegung lässt den (in Linkskurven negativen) Zusammenfassend kann also festgehalten wer-
Rollwinkel deutlich unter den zu Geschwindigkeit den, dass der prototypisch realisierte BLMV effektiv
und Kurvenradius passenden Sollwert fallen. Der den Lenkmomentsprung und die damit einherge-
Gesamtlenkmomentbedarf ist ab diesem Moment hende Lenk- und Aufstellbewegung zu Bremsbe-
durch ein überlagertes Kreisellenkmoment und ginn vermindert. Gegenüber Systemen wie MSC
die aufrechtere Fahrzeugposition bereits deutlich (▶ Abschn. 42.4.3.1) bietet die nahezu vollständige
reduziert und wieder im Gleichgewicht mit dem Verhinderung des BLM Vorteile für Kurskorrek-
Angebot des Fahrers. Die sich aus der Kopplung turen „auf der Bremse“ und hinsichtlich künftiger
der Lenk- und Rolldynamik ergebenden Oszillatio- Systeme wie „Predictive Brake Assist“.
nen im gemessenen Lenkmoment klingen mit dem Während dem zuvor gezeigten Vorzeichenwech-
weiter abnehmenden Lenkmomentbedarf bis zum sel des Lenkmoments relativ einfach durch eine va-
Bremsende hin ab. Zur Abstützung des Motorrads riable Kompensationsrate (z. B. in Abhängigkeit des
790 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Rollwinkels, der Verzögerung oder der Bremsdrü- schwindigkeit sind daher Grenzen gesetzt. In kriti-
1 cke) Rechnung zu tragen wäre und Störeinflüsse schen Fahrsituationen – wenn beide Räder gleiten
durch die Abbremsung der Radträgheit durch be- – ist die Schwimmbewegung des Fahrzeugs jedoch
42 grenzte Bremsdruckgradienten beherrschbar er- instabil. Zum Nachweis der Eignung der Schwimm-
scheinen, stellen Systemkomplexität und -masse geschwindigkeit als Kriterium wurden ungebremste
klare Nachteile dar. Zudem lässt die Optimierung Kurvenunfälle auf einer Niedrigreibwertfläche mit
3 der bislang nur im Ansatz untersuchten Hochge- einem speziell ausgerüsteten Motorrad nachgestellt.
schwindigkeitsstabilität und Handling-Eigenschaf- Die Schwimmgeschwindigkeit eines Fahrzeugs ist
4 ten noch erheblichen Entwicklungsaufwand er-
warten. Aus heutiger Sicht erscheint es daher der yR
ˇP D P C
5 bessere Weg zu sein, das Bremslenkmoment am xP (42.5)
konventionellen Fahrwerk auf Basis von Sensorda-
ten vorherzusagen und ihm beispielsweise durch mit den fahrbahnbezogenen (horizontierten) Grö-
6 einen elektrischen Aktor oder gezielte Ansteue- ßen Giergeschwindigkeit P , Querbeschleunigung yR
rung eines semiaktiven Lenkungsdämpfers entge- und Fahrgeschwindigkeit xP. Die direkte Erfassung
7 genzuwirken. Moderne Bremssysteme wie C-ABS fahrbahnbezogener Größen ist bei einem Motorrad
(▶ Abschn. 42.4.2.3) und MSC (▶ Abschn. 42.4.3.1)
bieten mit ihrer umfangreichen Sensorik beste Vo-
-
aus zwei Gründen nicht möglich:
am Fahrzeug angebrachte Sensorik neigt sich

-
8 raussetzungen dazu. mit in die Kurve,
durch Rollgeschwindigkeit und -beschleuni-
9 gung wirken zusätzliche Trägheitskräfte im
42.7.2 Einflussmöglichkeiten Sensor, eine Korrektur ist erforderlich.
auf ungebremste
10 Kurvenunfälle Zur Bestimmung der Schwimmgeschwindigkeit im
Motorrad sind fahrzeugfeste Sensoren für Gierrate,
11 Als größte Gruppe potenziell noch beeinflussbarer Rollrate, Querbeschleunigung, Vertikalbeschleuni-
Unfälle [41] gelten ungebremste Kurvenunfälle: Sie gung und Rollwinkel erforderlich. In . Abb. 42.16
12 ereignen sich typischerweise durch plötzliches Sin- ist der Verlauf der Schwimmgeschwindigkeit wäh-
ken des Fahrbahnreibwerts (beispielsweise Laub, rend einer typischen Fahrt der Unfallklasse „Reib-
rutschiger Asphalt, Eis) oder bei Überschreiten der wertsprung“ dargestellt. Zum Zeitpunkt t = 0 s
13 maximal möglichen Querbeschleunigung. In bei- befährt das Motorrad mit dem Vorderrad die Gleit-
den Unfallklassen „passt“ die Querbeschleunigung fläche: Es kommt zu einer kleinen Auslenkung der
14 nicht mehr zum Rollwinkel. Für die Stabilität des Schwimmgeschwindigkeit, die offensichtlich aber
Motorrads ist aber eine dem aktuellen Rollwinkel korrigiert wird – wegen des nicht gleitenden Hin-
15 angepasste Querbeschleunigung erforderlich; das terrads ist das Fahrzeug zunächst noch stabil. Zum
Rollgleichgewicht ist nicht mehr erfüllt, ein Sturz ist Zeitpunkt t = 0,2 s befindet sich auch das Hinterrad
die unausweichliche Folge. Um die beiden Unfall- auf der Gleitfläche, das Fahrzeug baut eine deut-
16 klassen mit einem technischen System zu beeinflus- lich erkennbare Schwimmgeschwindigkeit auf. Die
sen, müssen sie durch eine Sensorik erkennbar und Unfallklasse „Reibwertsprung“ verläuft also offen-
17 durch technische Maßnahmen beeinflussbar sein. sichtlich in zwei Phasen: Jede Phase ist durch begin-
In Experimenten und Simulationen zeigt sich nendes Gleiten eines Rades gekennzeichnet. Bei der
die Schwimmgeschwindigkeit des Fahrzeugs (Ge- Unfallklasse „Überschreiten der maximalen Quer-
18 schwindigkeit der Schwimmwinkeländerung) beschleunigung“ beginnen beide Räder annähernd
als robustes Kriterium zur Erkennung kritischer gleichzeitig zu gleiten. Die erwarteten maximalen
19 Fahrsituationen. Die Schrägläufe der Reifen sind Beträge des Schwimmwinkels des Fahrzeugs liegen
bei Motorrädern in unkritischen Fahrsituationen für große Rollwinkel im Bereich von 2°, die erwar-
20 üblicherweise gering; auch der Schwimmwinkel tete maximale Schwimmgeschwindigkeit des Mo-
nimmt nur kleine Werte an. Der Schwimmge- torrads für stabile Fahrsituationen liegt im Bereich
42.7 • Zukünftige Fahrdynamikregelungen
791 42
.. Abb. 42.16  Verlauf der Fahrt 7
Schwimmgeschwindigkeit 0.5
während eines Reibwert-
sprungs. Befahren der 0.4
Gleitfläche bei t = 0 s
0.3

Schwimmgeschwindigkeit in rad/s 0.2 Hinterrad beginnt zu gleiten

0.1 Vorderrad beginnt zu gleiten

-0.1
Grenze der Schwimmgeschwindigkeit
-0.2
für stabile Fahrsituationen
-0.3

-0.4

-0.5
-0.5 -0.4 -0.3 -0.2 -0.1 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5
Zeit in s

von 0,15 rad/s. Bei jedem ausgewerteten Fahrver- Fahrer vor sich herschieben. Aufgrund des deutlich
such wurde während der Sturzphase der Grenzwert geringeren Reibwerts des rutschenden Fahrzeugs
für die Schwimmgeschwindigkeit überschritten: gegenüber üblicher Bekleidung des Fahrers würden
Der Grenzwert wurde in keinem Fall während un- so die Rutschweite und damit auch das Verletzungs-
kritischer Fahrsituationen überschritten; kritische risiko für den Fahrer erhöht. Für den Fall irrever-
Fahrsituationen sind also anhand der Schwimm- sibler Destabilisierung ist also kurveneindrehende
geschwindigkeit erkennbar. Für die Zukunft sind Schwimmgeschwindigkeit durchaus erwünscht
dem Pkw-ESC ähnliche Kalman-Schätzer-Ansätze (übersteuern). Kritisch ist die Gierinstabilität dann,
zur Bestimmung des Schwimmwinkels und zur wenn das noch gleitende Fahrzeug mit einem oder
verbesserten Erkennung kritischer Fahrsituationen beiden Rädern wieder eine Fläche hohen Reibwerts
denkbar. erreicht: Die Räder treffen dann unter stark gestie-
Ziel einer Fahrdynamikregelung ist aber nicht genem Schräglaufwinkel auf eine griffige Fläche
nur die Erkennung, sondern auch die Stabilisie- und stellen dabei eine deutlich zu große Seitenkraft
rung der kritischen Fahrsituation. Die Rollinstabi- zur Verfügung, die üblicherweise zu einem Um-
lität führt offensichtlich innerhalb kurzer Zeit zum kippen des Fahrzeugs auf die kurvenäußere Seite
Sturz des Fahrzeugs; im Gegensatz zu einer Gier- führt (Highsider-Unfall). Dies geschieht oftmals so
bewegung, die bei ausreichender zur Verfügung schnell, dass es dem Fahrer nicht möglich ist, das
stehender Fahrbahnfläche die Dauer der kritischen Fahrzeug zu stabilisieren. Für den Übergang des
Fahrsituation nicht einschränkt, begrenzt die Roll- Vorderrads von Niedrigreibwert auf Hochreibwert
bewegung die zur Verfügung stehende Zeit zur werden kurvenausdrehende Momente im dreistelli-
Stabilisierung des Fahrzeugs. Wichtigstes Ziel einer gen Nm-Bereich um das Lenksystem erwartet: Diese
Fahrdynamikregelung muss also die Stabilisierung Momente können je nach Fahrerankopplung und
des Rollwinkels sein [17, 43]. Der Giervorgang ist Elastizitäten im Lenksystem zu Lenkerschlagen füh-
für den betrachteten Fall zunächst wie gewünscht – ren; Kurvenausdrehen des Lenkers kann weiterhin
ein in die Kurve eindrehendes, schon auf der Fahr- zu einer Verringerung der Seitenkraft durch negati-
bahn rutschendes Fahrzeug, das sich vom rutschen- ven Schräglauf führen. Für negative Schräglaufwerte
den Fahrer wegdreht. Ein kurvenausdrehendes, auf ist die Seitenkraft geringer als die zum Ausgleich des
der Fahrbahn rutschendes Fahrzeug würde den Kippmoments erforderliche Seitenkraft. Ziel einer
792 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

Fahrdynamikregelung muss sein, den Schräglauf am und 100 min−1) – gezielt ein beträchtliches Rollmo-
1 Vorderrad in der Phase des Übergangs von Niedrig- ment (im Beispiel bis zu 2,3 kNm) gestellt werden.
auf Hochreibwert auf Werte um 0 Grad zu begren- Für einen verbesserten Insassenschutz bei einem
42 zen und Lenkerschlagen zu vermeiden. Zu große typischen Seitenaufprall an einer innerstädtischen
Seitenkraft am Hinterrad kann – bei einem kon- Kreuzung soll dies ausreichen, um das Fahrzeug
ventionellen Fahrwerk – nicht ausreichend durch nicht seitlich umkippen, sondern ähnlich einem
3 Lenkbewegungen abgebaut werden und führt zu Pkw wegrutschen zu lassen. Die Beeinflussung des
den zuvor genannten Highsider-Unfällen. Hoher Rollgleichgewichts ermöglicht es weiterhin, Kurven
4 Schräglauf am Hinterrad muss daher beim Über- mit einem vom üblichen Wert abweichenden Roll-
gang von Niedrigreibwert zu Hochreibwert vermie- winkel oder gar ganz aufrecht zu durchfahren – was
5 den werden. Zur Beeinflussung der Fahrdynamik z. B. das Durchschlängeln in Stausituationen erleich-
steht prinzipiell die Variation der Reifenkräfte zur tert. Überdies tragen die Stabilisierungskreisel auch
Verfügung. zur Wirkungsgraderhöhung des elektrisch getrie-
6 Durch gezielte Bremseingriffe und/oder den benen Fahrzeugs bei, indem sie auch als Energie-
Einsatz hochdynamischer aktiver Fahrwerke, kann speicher genutzt werden. Im Stand und bei geringen
7 die Gierdrehung des Fahrzeugs beeinflusst wer- Geschwindigkeiten rotieren sie sehr schnell, um den
den: Damit ist eine Regelung zum Vermeiden von Stabilisierungsbedarf zu decken; bei höheren Ge-
Highsider-Unfällen bei Reibwertänderungen hoch schwindigkeiten ist zunehmend die Kreiselstabili-
8 – niedrig – hoch denkbar. sierung durch die Laufräder gegeben. Die Drehzahl
Außer durch Verwendung eines mehrspurigen der Zusatzkreisel kann also verringert und die dabei
9 Kurvenneigers wie z. B. dem Piaggio MP3 [28] wird frei werdende Energie zum Beschleunigen des Fahr-
eine der elektronischen Stabilitätsregelung (ESC) zeugs genutzt werden. Beim Verzögern kehrt sich
10 aus dem Pkw-Sektor entsprechende Fahrdynami- dies um und Bremsenergie wird durch erneutes Be-
kregelung für Einspurfahrzeuge aufgrund der sys- schleunigen der Stabilisierungskreisel rekuperiert.
tembedingten Rollinstabilität mit den oben genann- Inwieweit sich diese – auch im Sinne automa-
11 ten Maßnahmen aber auch in Zukunft nicht [17] tischer Notbremsfunktionen – vielversprechende
oder – selbst bei ausreichend vorhandenem Kraft- Technologie im Kabinenmotorrad bewährt und auf
12 schlussniveau – nur in eingeschränktem Rahmen konventionelle Motorräder mit ihren eingeschränk-
[43] realisierbar sein. ten Bauraumverhältnissen übertragbar sein wird,
bleibt allerdings abzuwarten.
13 42.7.2.1 Rollstabilisierung
durch Doppelkreisel
14 Ein denkbares Mittel zur Rollstabilisierung be- Danksagungen
steht allerdings in einer – bereits zu Beginn des
15 20. Jahrhunderts für Einschienenbahnen erdach- Die Autoren danken Jörg Reißing, Alfred Eckert
ten – Doppelkreiselanordnung, die von der ameri- und Jürgen Bachmann, die als Koautoren der ersten
kanischen Firma LIT Motors in den letzten Jahren beiden Auflagen wesentlich zum Entstehen dieses
16 für den Einsatz in einem elektrisch angetriebenen Kapitels beigetragen haben. Besonderer Dank für
Kabinenmotorrad weiterentwickelt und patentiert wertvolle Fachgespräche sowie die Bereitstellung
17 wurde [44]. In aktuellen Prototypen „C-1“ kom- technischer Informationen und Abbildungen gilt
men dabei zwei gegenläufig um die Hochachse ro- weiterhin allen Ansprechpartnern bei BMW Mo-
tierende Kreisel zum Einsatz, deren Aufhängungen torrad, KTM, Honda, Bosch und Continental.
18 gegenüber dem Fahrzeugrumpf unabhängig um die
Querachse gedreht werden können. Während sich
19 bei normaler Fahrt die Kreiselreaktionsmomente
aufheben, kann durch gegensinnige Verstellung – in
20 Abhängigkeit der Kreiselträgheit (z. B. je 0,07 kgm²),
Rotations- und Schwenkdrehzahl (ca. 15.000 min−1
Literatur
793 42
Literatur 18 Schröter, K., Wallisch, M., Vasylyev, O., Schleiffer, J.-E., Pleß,
R., Winner, H., Tani, K., Fuchs, O.: Neue Erkenntnisse zur
Bremslenkmomentoptimierten Motorrad‐Kurvenbrem-
1 Statistisches Bundesamt: Verkehrsunfälle Zeitreihen 2012,
sung. 9. Internationale Motorradkonferenz, Köln (2012)
Abschn. 5.1.2 (2) u. 7.4, letzte Zahlen für 2010, www.desta-
19 International Traffic Safety Data and Analysis Group (IR-
tis.de, 10.07.2013
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794 Kapitel 42  •  Fahrdynamikregelsysteme für Motorräder

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15
16
17
18
19
20
795 43

Stabilisierungsassistenz­
funktionen im Nutzfahrzeug
Falk Hecker

43.1 Einleitung – 796
43.2 Spezifika von ABS, ASR und MSR für
Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw  –  796
43.3 Spezifika der Fahrdynamikregelung für
Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw  –  805
43.4 Ausblick – 811
Literatur – 812

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


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796 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

41
43.1 Einleitung

Das folgende Kapitel beschreibt bremsbasierte As-


- An den Hinterachsen kommt üblicherweise
eine Luftfederung in Verbindung mit Achs-
lenkern zum Einsatz (verbesserter Federungs-
42 sistenzfunktionen zur Fahrzeugstabilisierung von komfort, Niveauausgleich bei Beladungsän-
Nutzfahrzeugen. Die Abgrenzung zu den Pkw-Ka- derung etc.). Hier hängt der Einfluss auf die
piteln erfolgt im Wesentlichen über das zugrunde Radregelfunktionen im Wesentlichen von der
43 liegende Bremssystem. So werden hier alle straßen- Aufhängungskinematik und -elastokinematik
gebundenen Nutzfahrzeuge mit pneumatisch be- ab. Ungünstige Lenkeranordnungen (z. B.
44 triebenen Betriebsbremsen (Fremdkraftbremsen) gezogene Achsen) können über das Abstütz-
behandelt, wie sie überwiegend in mittleren und moment beim Bremsen beispielsweise zum
45
46
schweren Nutzfahrzeugen zum Einsatz kommen
(> 6 Tonnen).
Im ersten Abschnitt werden Radschlupf-ba-
sierte Stabilisierungsfunktionen diskutiert, deren
- „Springen“ der Achse führen.
Neben der Standard-Fahrwerksausführung
(Blattfederung an der Vorderachse und
Luftfederung an den Hinterachsen) gibt es
Regelschleife über die Raddrehzahlinformation ge- für bestimmte Anwendungsbereiche wei-
47 schlossen wird. Der zweite Abschnitt behandelt die tere Varianten. Dazu gehören für den harten
Fahrdynamikregelung, bei der aus dem Vergleich Baustelleneinsatz Fahrzeuge mit Blattfederung
der aktuellen Fahrzeugbewegung mit der vom Fah- an allen Achsen ebenso wie spezielle Off-
48 rer gewünschten Fahrzeugbewegung ein Stabilisie- Road-Fahrzeuge mit Schraubenfederung oder
rungseingriff abgeleitet wird. Zum Abschluss wird Fahrzeuge mit Luftfederung an allen Achsen
49
50
ein kurzer Ausblick auf weitere Entwicklungen ge-
geben.
- (z. B. Busse).
Lenkung: Nutzfahrzeuge sind meist mit
Kugelumlauflenkungen ausgerüstet, die das
vom Fahrer aufgebrachte Lenkmoment über
43.2 Spezifika von ABS, ASR eine Lenkspindel hydraulisch verstärkt auf
51 und MSR für Nutzfahrzeuge den Lenkstockhebel übertragen. Aufgrund
im Vergleich zum Pkw des normalerweise positiven Lenkrollradius
52 ergibt sich eine spürbare Rückmeldung über
43.2.1 Nkw-spezifische die Lenkung an den Fahrer bei seitenweise
Besonderheiten unterschiedlichen Bremskräften (z. B. wäh-
53 rend einer ABS-Bremsung), was einen nicht
Im Zusammenhang mit den raddrehzahlbasierten unerheblichen Einfluss auf die Abstimmung
54
55
Stabilisierungsfunktionen ABS (Antiblockiersys-
tem), ASR (Antriebsschlupfregelung) und MSR
(Motorschleppmomentregelung) ergeben sich die
folgenden wesentlichen Unterschiede im Vergleich
- des ABS-Systems hat.
Variantenvielfalt: Lkw-Konstruktionen
bilden einen Baukasten, aus dem sich extrem
viele verschiedene Varianten auf Bestellung

56
57
-
zum Pkw (vgl. auch [1]):
Fahrwerk: Das typische Lkw-Fahrwerk
basiert auf einer Leiterrahmenkonstruktion
mit Starrachsen. Als Achsaufhängung wird an
kombinieren lassen. Neben den auch bei Pkw
üblichen Ausstattungsvarianten (Getriebe, Mo-
tor etc.) bezieht sich dies auch auf Anzahl und
Art der Achsen (von 2 bis 5 Achsen, wahlweise
der Vorderachse aus Kostengründen häufig angetrieben und/oder gelenkt), Achsaufhän-
eine Blattfederkonstruktion verwendet. Diese gung, Länge des Radstands (oft im 10 cm-Ras-
58 übernimmt sowohl die Federung als auch die ter wählbar), Stärke des Leiterrahmens, Art des
Achsführung in Längs- und Querrichtung. Lenkgetriebes usw. Darüber hinaus liefert der
59 Nachteilig für Radregelfunktionen erweist sich Hersteller den Lkw oft an einen Aufbauher-
dabei das so genannte Aufziehen der Blattfe- steller, der dann den Lkw für den eigentlichen
60 der, d. h. das S-förmige Verbiegen aufgrund Einsatz ausrüstet (z. B. Kipper oder Pritschen-
des eingeleiteten Bremsmoments. aufbau, Ladekran, Betonmischer etc.) und
43.2  •  Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
797 43

durch diese Modifikationen und Anbauten am gige Funktionen bedeutet das eine Variation
Rahmen die fahrphysikalischen Eigenschaften der Masse von maximal ±16 %. Bei Lkw

- weiter verändert.
In bestimmten Märkten (beispielsweise Nord-
amerika) ist die mögliche Variantenvielfalt
noch größer, da die Hersteller dort meist nur
mit Leermassen von 6500 … 9000 kg und
Zuladungen von 11 500 … 17 000 kg liegen
die Werte dagegen bei kLoad = 2,7 … 2,9. Das
bedeutet eine Variation der Masse von bis zu
Kabine und Rahmen selbst entwickeln und ±50 %. Mit dem üblichen Anhängerbetrieb
der Kunde den Rest des Lkw, d. h. die wesent- oder bei Schwertransporten erhöhen sich die
lichen technischen Bestandteile wie Motor, Werte noch weiter (bis zu kLoad = 15). Die hohe
Getriebe und Achsen mehr oder weniger frei Masse bei Nutzfahrzeugen führt außerdem zu
vom Zulieferer wählen kann. Für große Flotten einer größeren Trägheit und damit zu einer
hat dies den Vorteil, dass sie Lkw von verschie- geringeren Fahrzeugdynamik. Ähnliches gilt
denen Herstellern mit identischer Technik für die Räder, die erheblich größere Träg-
(Motor, Achsen und Getriebe) fahren können, heitsmomente aufweisen als im Pkw. Somit

- was die Reparatur und Wartung vereinfacht.


Für Radregelfunktionen wie ABS oder ASR
sind auch die für ein Radschlupfregelsystem
notwendigen Stellgeschwindigkeiten niedriger
bedeutet die Variantenvielfalt erhebliche
Anforderungen an die Robustheit, da während
der Entwicklungs- und Applikationsphase der
Systeme nur eine sehr beschränkte Auswahl
- als beim Pkw.
Anhängerbetrieb: Insbesondere schwere
Nutzfahrzeuge > 11 Tonnen führen häufig ein
oder mehrere Anhänger mit. Dabei unterschei-

-
an Fahrzeugvarianten untersucht werden det man nach der Art des Anhängers zwischen
kann. Alle anderen möglichen Kombinationen eingliedrigen Anhängefahrzeugen (z. B.

-
müssen über eine robuste Systemauslegung Sattelauflieger, Zentralachsanhänger) und

- abgedeckt werden.
Rad- bzw. Achslasten: Typische Rad- bzw.
Achslasten liegen deutlich über denen des
Pkw (bis etwa Faktor 15). Das führt zu einer --
mehrgliedrigen Anhängefahrzeugen (z. B.
Drehschemelanhänger).
Zudem gibt es unterschiedliche Arten der
Ankopplung:
erheblich höheren Flächenpressung an der Ankopplung über eine Anhängekupplung
Reifenoberfläche (zum Vergleich: Reifenluft- (= Kugelgelenk), die nur Kräfte, aber keine

-
drücke liegen im Nkw bei 6 … 8 bar gegenüber Momente übertragen kann, und
1,5 … 3 bar im Pkw). Zusammen mit einer Ankopplung über eine Sattelkupplung, die
verschleißoptimierten Reifenauslegung führt in gewissem Umfang auch Wankmomente
dieser Effekt zu niedrigeren maximalen Reib-
werten und somit auch geringeren möglichen
Bremsverzögerungen (maximal erzielbare - überträgt.
Aus diesen Merkmalen ergeben sich die An-
zahl der zusätzlichen Freiheitsgrade, die einen

- Verzögerung im Nkw ca. 7 … 8 m/s2).


Fahrzeugmasse: Nutzfahrzeuge sind zum
Transport von Personen oder Gütern in größe-
ren Mengen ausgelegt und benötigen dadurch
wesentlichen Einfluss auf das fahrphysikalische
Verhalten haben. Aus Sicht der Radregelsys-
teme werden die Teilfahrzeuge autonom be-
trachtet, d. h. jedes Teilfahrzeug ist mit einem
eine möglichst hohe Zuladung. Daraus ergibt eigenen, unabhängigen ABS ausgerüstet. Nur
sich ein deutlich größeres beladen-leer-Ver- in dem Fall, dass sowohl Zugfahrzeug als auch
hältnis kLoad als im Pkw. Anhänger mit EBS ausgerüstet sind, gibt es
mfull eine Kommunikationsverbindung zwischen
(43.1) den Fahrzeugen (CAN-Bus nach ISO 11992),

-
kLoad WD
mempty
über die jedoch nur sehr eingeschränkt ver-
Für einen Mittelklasse-Pkw mit Leermassen wendbare Informationen ausgetauscht werden.
von 1000 … 1500 kg ergeben sich für kLoad Im Zuge der gesetzlich geforderten Einführung
Werte von ca. 1,2 … 1,4. Für beladungsabhän- von ABS (seit 1991 vorgeschrieben) gab es
798 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

viele Untersuchungen bezüglich des Verhal-


41 tens von unterschiedlichen Kombinationen
(Zugfahrzeug mit/ohne ABS und Anhänger
42 mit/ohne ABS). Die Ergebnisse dieser Unter-
suchungen zeigen, dass ABS grundsätzlich das
Fahrverhalten verbessert, auch wenn nicht alle

-
43 Teilfahrzeuge damit ausgerüstet sind.
Betriebsbremse: Hauptmerkmal ist die
44 pneumatisch angetriebene Zuspannung der
Betriebsbremse. Dabei wird die zum Zuspan-
45 nen notwendige Energie in Form von Druck-
luft vorgehalten und über einen Bremszylinder
mittels entsprechender Hebelmechanik in
46 eine Zuspannkraft an den Bremsbelägen der
Scheiben- bzw. Trommelbremse umgesetzt.
47 Die Steuerung des Bremsdrucks erfolgt dabei
entweder rein pneumatisch (konventionelle

-
.. Abb. 43.1  Diagramm Kraftschluss über Radschlupf mit
Bremsanlage) oder elektronisch (EBS, vgl. [2]). den Arbeitsbereichen der verschiedenen Stabilisierungsfunk-
48 Dauerbremsen: Nutzfahrzeuge haben neben tionen

der Betriebsbremse und der Feststellbremse


49 ein oder mehrere so genannte Dauerbremsen sich insgesamt erheblich höhere Anforderun-

50
(Retarder), die verschleißfrei arbeiten. Dazu
gehört zunächst die bei nahezu allen Nutz-
fahrzeugen vorhandene Motorbremse, bei
der das Schleppmoment des Motors durch
- gen an Nkw-Komponenten.
Fahrzeug-Kommunikationsarchitektur: In den
meisten Nutzfahrzeugen gibt es einen nach SAE
J1939 genormten CAN-Datenbus (vgl. [1]).
51 technische Maßnahmen vergrößert wird (z. B. Dort sind die wesentlichen Triebstrangsteu-
Auspuffklappe, spezielle Ventilsteuerungen ergeräte angeschlossen, wie z. B. für Motor,
52 etc.). Optional gibt es darüber hinaus elek- Getriebe, Retarder oder Bremse, die über
trodynamisch oder hydraulisch betriebene definierte Botschaften miteinander kommu-
Retarder. Allen Dauerbremsen gemeinsam nizieren. Hierdurch wird die Integration von
53 ist die Einleitung der Bremskraft über den elektronischen Systemen deutlich erleichtert.
Antriebsstrang und die Antriebsräder, wobei
54 man grundsätzlich Primärretarder, die motor-
seitig (vor der Kupplung) installiert sind, und 43.2.2 Regelungsziele
und -prioritäten
55 Sekundärretarder (nach der Kupplung, i. d. R.
direkt an der Gelenkwelle) unterscheidet. Bei
niedrigen Achslasten (Leerfahrzeug) führt 43.2.2.1 Anti-Blockiersystem ABS
56 die Aktivierung des Retarders auf geringen Radschlupfregelung
Reibwerten zu sehr großen Radschlupfwerten Das ABS regelt den mittleren Schlupf der einzelnen
57 und damit zu Instabilitäten an den Antriebsrä- Räder beim Bremsen. Der Radschlupf lw wird wie
dern, was im ABS entsprechend berücksichtigt folgt definiert:
58
59
- werden muss.
Komponentenanforderungen: Üblicherweise
werden Nkw auf eine Lebensdauer von bis zu
1 500 000 km oder 30 000 Betriebsstunden aus- mit
w D
vw  vu
MAX.vu ; vw /
(43.2)

gelegt. Dies liegt um den Faktor 3–5 über der vu als Radumfangsgeschwindigkeit [m/s] und
60 Lebensdauer eines Pkw. Zusammen mit den vw als Fahrzeuggeschwindigkeit im Radaufstands-
deutlich raueren Einsatzbedingungen ergeben punkt [m/s].
43.2  •  Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
799 43

1- Bremsstart: Druckaufbau
2- Rad „kippt“ ab: Druck halten
3- Weitere Blockiertendenz
(Rad instabil): Druckabbau
4- Rad stabilisiert sich: Druck halten
5- Rad beschleunigt: Druck halten
6- Rad stabil: Druck aufbauen (gepulst)
7- Rad „kippt“ erneut ab: Druck abbauen
8- Rad stabilisiert sich: Druck halten
9- Rad stabil: Druck aufbauen (gepulst)

.. Abb. 43.2  Typischer Ablauf einer ABS-Regelung

Die Radgeschwindigkeiten werden als gemes­sene Die zur Regelung erforderliche Fahrzeugrefe-
Istgrößen dem Regler zugeführt, dort mit der Soll- renzgeschwindigkeit wird aus den einzelnen Rad-
größe (Fahrzeugreferenzgeschwindigkeit) ver­gli­ geschwindigkeiten ermittelt. Spezielle Auswahlalgo-
chen und Abweichungen durch Bremsdruckände- rithmen und Plausibilitätsprüfungen müssen unter
rungen korrigiert. Der Zielschlupf wird während allen Umständen sicherstellen, dass die Fahrzeug-
einer ABS-Bremsung automatisch adaptiert, mit referenzgeschwindigkeit gut mit der wahren Fahr-
dem Ziel, einen möglichst guten Kompromiss zeuggeschwindigkeit übereinstimmt. Kritische Fälle
zwischen Lenkbarkeit, Stabilität und Verzögerung
einzustellen. Aufgrund der Reifencharakteristik
nimmt die übertragbare Seitenführungskraft mit
zunehmendem Längsschlupf stark ab (verein-
-
sind z. B.
das „Absacken“ der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, wenn alle Räder gleichzeitig
einen größeren Schlupf erreichen. Die Folge
facht im Kammschen Kreis ausgedrückt oder im wäre ein Überbremsen der Räder, womit die
Kraftschluss-Schlupfdiagramm in . Abb. 43.1). Lenkfähigkeit verloren ginge. Als Gegenmaß-
Sinnvolle Kompromisse liegen im Bereich von nahme unterbremst der ABS-Algorithmus
lw ≈ 8 … 20 %. zu bestimmten Zeitpunkten einzelne Räder,
Als Basis-Regler kommen beim Nkw-ABS ne- die dann auf die Fahrzeuggeschwindigkeit
ben klassischen PID-Reglern auch Matrixregler beschleunigen und somit die Referenzge-
zum Einsatz, die sich automatisch an unterschiedli- schwindigkeit stützen. Diese Phasen sind so
che Reibwertkurven anpassen. Ein typischer ABS- kurz, dass die Auswirkung auf den Bremsweg
Regelzyklus ist in . Abb. 43.2 dargestellt.
Zusätzlich zu den Eingriffen in die Betriebs-
bremse werden mit Anlaufen des ABS an der An-
triebsachse die vorhandenen Retarder abgeschal-
- vernachlässigbar ist;
das Hochlaufen der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, wenn ein Raddrehzahlsignal
z. B. durch schlechte Impulsräder oder elek-
tet. tromagnetische Einstrahlung gestört ist und
800 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

damit eine höhere Drehzahl vorgaukelt. In der Da beide Momente im Gleichgewicht stehen müs-
41 Konsequenz führt die zu hohe Referenzge- sen (Mzra = MzB), damit sich das Fahrzeug nicht
schwindigkeit zu einem unterbremsten Fahr- dreht, ergibt sich folgende Beziehung zwischen den
42 zeug. Um dies zu vermeiden, plausibilisiert der Kräften und den geometrischen Daten
ABS-Algorithmus die Referenzgeschwindigkeit
anhand aller Radgeschwindigkeiten. Fyrl C Fyrr bfa (43.5)
43 pfa  kFB
D
2  lH
Strategien zur Fahrzeugstabilisierung
44 Da im ABS kei­ne Messgrößen für die tatsächliche Nimmt man weiterhin die Seitenkräfte Fyrl und
Fahr­zeugbewegung zur Verfügung stehen, enthält die Spurweite bfa als konstant an – die Seitenkräfte
45 es ausgefeilte Strate­ gien zur Sicherstellung der sind weitgehend durch den zulässigen Lenkein-
Fahr­zeug­stabilität (z. B. beim Bremsen auf ein­sei­ schlag begrenzt – so erkennt man, dass der zulässige
tig glatter Fahrbahn, µ-split genannt). Der Grad der Differenzbremsdruck proportional zum Abstand
46 Stabi­lisierung hängt jedoch aufgrund der feh­lenden zwischen Schwerpunkt und Hinterachse und da-
Rückmeldung von der jewei­ligen Abstimmung des mit zum Radstand ist. Vereinfacht ausgedrückt: Je
47 ABS ab, die wiederum an die Fahrzeuggeometrie kürzer der Radstand, umso kleiner ist der zulässige
angepasst werden muss. Besonders empfindlich Differenzbremsdruck. In der Praxis ist die Abhän-
beim Bremsen auf µ-split reagieren Fahrzeuge mit gigkeit aufgrund der hier vernachlässigten Effekte
48 kurzem Radstand und geringer Hinterachslast (z. B. nichtlinear und wird insbesondere durch die mit
leere Sattelzugmaschinen). Dies wird im Folgenden kürzerem Radstand zunehmende dynamische Achs-
49 anhand einer vereinfachten Betrachtung (Hinter- lastverlagerung (bei konstanter Schwerpunkthöhe)
achse ungebremst) verdeutlicht. Die Bremskraft- weiter verstärkt.
50 differenz an der Vorderachse induziert das Gier-
43.2.2.2 Antriebs-Schlupfregelung
moment
ASR
51 MzB D pfa  kFB 
bfa
(43.3) Die ASR wirkt im Antriebsfall (Beschleunigung)
2
und hat zwei grundsätzliche Ziele: zum einen die
52 mit Erhöhung der Fahrstabilität, zum anderen die Ver-
Dpfa als Differenz-Bremsdruck an der Vorderachse besserung des Vortriebs durch Ausnutzung des ma-
[bar], ximal möglichen Reibwerts an allen Antriebsrädern.
53 kFB als Bremsfaktor [N/bar] und Zur Erhöhung der Fahrstabilität dient der so  ge-
bfa als wirksame Spurweite der Vorderachse [m]. nannte ASR-Motorregler, der das Motormoment so
54 begrenzt, dass ein vorgegebener Zielschlupf an den
Dem entgegengerichtet wirkt das aus den einzelnen Antriebsrädern nicht überschritten wird.
55 Rädern an der Hinterachse über Schräglaufwinkel Der Zielschlupf wird – ähnlich wie beim ABS
erzeugte Giermoment – als möglichst guter Kompromiss zwischen Trak-
tion und Stabilität gewählt, wobei im Nkw der
56 Mzra D .Fyrl C Fyrr /  lH(43.4) Schwerpunkt stärker auf Traktion liegt. Bei einigen
Systemen wird der Zielschlupf abhängig von der
57 mit Gaspedalstellung oder bei Kurvenfahrt dynamisch
Fyrl,r als Seitenkraft (am linken bzw. rechten angepasst. Somit erzielt man bei Geradeausfahrt
Hinterrad) [N], die vom Schräglaufwin- mit höherem Schlupf eine optimierte Traktion und
58 kel und der Schräglaufsteifigkeit abhängt: gleichzeitig maximale Stabilität bei Kurvenfahrt
Fyrl;r D ˛l;r  Cl;r und durch einen verringerten Schlupf.
59 lH als Distanz zwischen Hinterachse und Schwer- Insbesondere auf unterschiedlichen Reibwerten
punkt [m]. kommt es im Antriebsfall zum einseitigen Durch-
60 drehen der Antriebsräder, da das Differenzialgetriebe
das Antriebsmoment zu je 50 % auf beide Seiten ver-
43.2  •  Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
801 43

teilt (Prinzip Momentenwaage) und somit die Seite dern und erhöht aktiv das Motormoment mit dem
mit dem niedrigeren Reibwert das maximal übertrag- Ziel, den Radschlupf zu verringern und somit das
bare Antriebsmoment begrenzt. Hier greift der so ge- Fahrzeug zu stabilisieren. Prinzipiell kommt hier
nannte ASR-Bremsregler, indem er den Radschlupf derselbe Schlupfregelkreis wie bei der ASR zum
am durchdrehenden Rad durch aktives Abbremsen Einsatz, nur dass der Zielschlupf diesmal positiv ist.
regelt. Das so erzeugte Bremsmoment wird über das
Differenzialgetriebe auf die andere Seite gespiegelt
und steht dort als Antriebsmoment zur Verfügung. 43.2.3 Systemaufbau, Steller
Damit wird im Idealfall die gleiche Vortriebskraft
generiert wie mit einer mechanischen Differenzial- 43.2.3.1 Konventionelle
sperre, weshalb man auch den Begriff elektronische pneumatische
Differenzialsperre verwendet. Allerdings wird dabei Betriebsbremse
ein Teil der Antriebsleistung in der Bremse „verheizt“. . Abbildung 43.3 zeigt eine konventionelle pneu-
Bei Nutzfahrzeugen mit zwei angetriebenen matische Betriebsbremsanlage mit einem ABS/
Hinterachsen (z. B. Dreiachser mit der Radformel ASR-System (vgl. [6]).
6 x 4) verteilt ein Zwischenachsdifferenzial die An-
triebsmomente auf die beiden Antriebsachsen. Hier Elektronisches Steuergerät (ECU)
wirkt der ASR-Bremsregler auf insgesamt vier An- Der ABS- und ASR-Algorithmus läuft in einem Mi-
triebsräder und regelt so den Antriebsschlupf aller krocontroller, der zusammen mit den Endstufen zur
Antriebsräder mit dem Ziel der maximalen Reib- Ansteuerung der ABS-Ventile, der Spannungsversor-
wertausnutzung. gung und weiteren Peripheriebausteinen im elektro-
Im Gegensatz zum ABS ist bei der ASR die nischen Steuergerät integriert ist. Das Blockschalt-
Bildung der Referenzgeschwindigkeit relativ ein- bild in . Abb. 43.4a verdeutlicht den inneren Aufbau
fach, da die nicht angetriebenen Vorderräder kei- des in konventioneller SMD-Leiterplattentechnik
nen Schlupf haben und deren Mittelwert somit die aufgebauten Steuergeräts. Als Mikrocontroller kom-
Fahrzeuggeschwindigkeit gut repräsentiert. Eine men üblicherweise 16-Bit-Controller mit Taktfre-
ASR für Fahrzeuge mit angetriebenen Vorderrä- quenzen von 20 … 40 MHz zum Einsatz, die durch
dern benötigt weitergehende Sensoren, wie z. B. ei- einen Überwachungsrechner ergänzt werden. Der
nen Längsbeschleunigungssensor zur Stützung der Speicherbedarf liegt bei 128 … 512 kB ROM (meist
Referenzgeschwindigkeit. Flash-Speicher) und 4 … 12 kB RAM. Ein meist im
Rechner integriertes EEPROM dient der Parametrie-
43.2.2.3 Motor- rung des Systems und zur Abspeicherung von Lern-
Schleppmomentenregelung werten und Fehlern (vgl. [2]). Zur Ansteuerung ex-
MSR terner Systeme (Motor, Retarder) ist das Steuergerät
Insbesondere leere Nutzfahrzeuge mit geringer mit dem Fahrzeug-Datennetzwerk verbunden (meist
Hinterachslast können auf glattem Untergrund nur CAN-Bus nach SAE J1939). Über diesen Bus erfolgt
sehr geringe Kräfte an den Antriebsrädern über- z. B. die Reduzierung des Motormoments oder das
tragen. Deshalb kommt es im Schubbetrieb durch Ausschalten des Retarders. Umgekehrt liefert der
das relativ hohe Schleppmoment des Antriebsmo- Datenbus wichtige Informationen wie aktuelles Mo-
tors zu einem großen Radschlupf, der die Stabilität tormoment, Motordrehzahl, Gaspedalstellung etc.
des Fahrzeugs erheblich herabsetzt. Verstärkt tritt
dieser Effekt beim Runterschalten auf, da sich dann Raddrehzahlsensoren
das Schleppmoment durch die plötzlich geänderte Als Sensoren finden im schweren Nutzfahrzeug
Übersetzung schlagartig erhöht. Hohe Reibungs- nahezu ausschließlich passive induktive Drehzahl-
kräfte im Antriebsstrang, z. B. bei sehr tiefen Tem- fühler Verwendung. Durch die Drehung des ma-
peraturen, vergrößern den Effekt weiter. gnetisierten Impulsrades (60 … 120 Zähne) wird
Die MSR erkennt den aufgrund des Schleppmo- im Sensor eine Wechselspannung induziert, deren
ments vergrößerten Radschlupf an den Antriebsrä- Frequenz proportional zur Drehzahl ist und vom
802 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

41
42
43
44
45
46
47
.. Abb. 43.3  Systemaufbau einer konventionellen pneumatischen Betriebsbremsanlage mit ABS und ASR (1 Drehzahlsensor,
48 2 ABS-Ventil, 3 Wechselventil, 4 ASR-Ventil, 5 Steuergerät, 6 Anhängersteuerventil)

49
50
51
52
53
.. Abb. 43.4  a Blockschaltbild ABS-Steuergerät b ABS-Steuergerät im geöffneten Zustand (Quelle: Knorr-Bremse)

54
ABS-Steuergerät ausgewertet wird. Die Sensoren Die im Pkw-Sektor gebräuchlichen aktiven
55 werden mithilfe einer Federhülse in eine Halterung Drehzahlfühler konnten sich bisher bei Nutzfahr-
gesteckt (kraftschlüssige Befestigung). Dadurch ist zeugen nicht durchsetzen. Das liegt an der großen
sichergestellt, dass die Sensoren nicht durch ein un- Variantenvielfalt bei Nutzfahrzeugachsen in Verbin-
56 gleichförmiges Impulsrad „abgefräst“ werden: Der dung mit deutlich längeren und nicht synchroni-
Luftspalt stellt sich automatisch ein. Diese an sich sierten Entwicklungszyklen zusammen mit den nur
57 robuste Konstruktion kann allerdings bei starken geringen technischen und kommerziellen Vorteilen
Schwingungen oder Verschmutzung dazu führen, der aktiven Sensoren.
dass sich der Luftspalt stark vergrößert und die
58 Drehzahlinformation nicht mehr ausreichend ist: Steller
Die so genannte Grenzspaltgeschwindigkeit, d. h. Beim Nkw-ABS kommen als Steller so  genannte
59 die Geschwindigkeit, ab der eine für das Steuergerät Drucksteuerventile (ABS-Ventile) zum Einsatz.
auswertbare Wechselspannung induziert wird, ver- Diese sind funktionell als 3/3-Wegeventile mit zwei
60 größert sich. Durch einfaches „Hineinschieben“ des Magneten ausgeführt und haben die Aufgabe, im
Sensors in die Halterung wird das Problem beseitigt. Falle eines erhöhten Radschlupfes den Bremsdruck
43.2  •  Spezifika von ABS, ASR und MSR für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
803 43

.. Abb. 43.5  ABS-Drucksteuerventil (Anschlüsse: 1 Betriebsbremsventil, 2 Bremszylinder, 3 Entlüftung)

entweder zu halten (d. h. einen weiteren Druckauf- Voraussetzungen zur autonomen Bremsdruckmo-
bau zu verhindern) oder den Bremsdruck zu ver- dulierung vorhanden. Der ABS-Algorithmus ist im
ringern. In . Abb. 43.5 ist der innere Aufbau des EBS-Zentralsteuergerät implementiert und sendet
ABS-Ventils dargestellt. den errechneten Soll-Bremsdruck über den Brem-
Da eine direkte Steuerung von großen Ven- sen CAN-Bus an die EPM. Die Raddrehzahlsenso-
tilquerschnitten aufgrund der großen Kräfte sehr ren sind identisch mit den unter ▶ Abschn. 43.2.3
große Magnetventile erfordert, wird die eigentliche beschriebenen.
Ventilfunktion durch zwei Elastomer-Membranen
dargestellt, die durch relativ kompakte Magnet-
ventile vorgesteuert werden. Dies ist in . Abb. 43.6 43.2.4 Sonderfunktionen für Nkw
für verschiedene Betriebszustände (ungebremst,
gebremst und während ABS-Regelung) dargestellt. 43.2.4.1 Zugfahrzeugsysteme
Mithilfe der ABS-Ventile kann somit der Brems- Über die reinen Stabilisierungsfunktionen ABS und
druck abgesenkt oder begrenzt werden. Beim ASR- ASR hinausgehend können eine Reihe von Zusatz-
Bremsregler muss jedoch aktiv Bremsdruck aufge- funktionen (Value Added Functions) dargestellt
baut werden, um ohne Zutun des Fahrers einzelne werden, die auf der Infrastruktur des ABS/ASR-
Räder abzubremsen. Dies erfolgt mittels eines ASR-
Ventils (3/2-Wegeventil) in Kombination mit einem
Wechselventil, die den Vorratsdruck direkt vor die
ABS-Ventile schalten. Die eigentliche Druckmo-
-
oder EBS-Systems aufsetzen. Dazu gehören u. a.:
Elektronische Bremskraftverteilung (Elec-
tronic Brake-force Distribution EBD): Der
Bremsdruck an der Hinterachse wird mit Hilfe
dulation erfolgt – wie beim ABS – über die ABS- der ABS-Ventile radschlupfabhängig verrin-
Ventile (vgl. . Abb. 43.6). gert, um so die Bremskraft an der Hinterachse
der Achslast und damit der Beladung anzupas-
43.2.3.2 Elektronisch gesteuerte sen. Damit wird funktional das sonst notwen-
Betriebsbremse (EBS) dige ALB-Ventil (Automatisch Lastabhängiger
Bei der elektronisch gesteuerten Betriebsbremse
EBS erfasst ein Steuergerät über einen Pedalweg­
sensor den Bremswunsch des Fahrers und errech-
net daraus die notwendigen Radbremsdrücke.
- Bremskraftregler) ersetzt.
Bremsendiagnose: Anhand eines langfristi-
gen Vergleichs der einzelnen Radschlupfwerte
beim Bremsen untereinander erkennt das Sys-
Diese werden dann radindividuell in Elektro- tem Fehlfunktionen einzelner Bremsen oder
Pneumatischen Modulatoren (EPM) elektronisch
geregelt (vgl. [2]). Aufgrund des Grundprinzips
„Control-by-Wire“, sind bereits alle technischen - stark unterschiedliches Bremsverhalten.
Differenzialsperrenmanagement: Die Funk-
tion unterstützt den Fahrer beim Einlegen der
804 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

Betriebszustand
41 Ungebremst Bremsung ohne ABS- ABS-Eingriff: Brems- ABS-Eingriff: Brems-
Eingriff druck halten druck absenken
42 Die Anschlüsse 1 und 2 Der am Anschluss 1 Durch Ansteuern des Der Magnet II schließt
sind drucklos. Einlass- anstehende Bremsdruck Magneten I schließt der den oberen Ventilsitz
und Auslassmembrane öffnet die Einlassmemb- untere Ventilsitz, und öffnet gleichzeitig
43 sind geschlossen. Die rane. Über den oberen gleichzeitig öffnet der den unteren. Der Raum
beiden Magneten (I, II) Ventilsitz von II gelangt obere. Dadurch wird der (b) wird entlüftet. Durch
44 werden nicht angesteu-
ert.
Bremsdruck in den
Raum (b). Der Auslass
Raum (a) belüftet und
die Einlassmembrane
den Bremszylinderdruck
öffnet die Auslass-
bleibt dadurch geschlos- schließt. Der Auslass membrane wodurch der
45 sen und der Anschluss 2 bleibt durch den Druck Bremsdruck über die
wird belüftet. im Raum (b) ebenfalls Entlüftung 3 verringert
geschlossen. Dadurch wird.
46 bleibt der Druck am
Anschluss 2 konstant.
47
48
49
50
51 .. Abb. 43.6  Funktion des Drucksteuerventils

52
Differenzialsperren zum Schutz der Mechanik. Hinterräder, um mit dem dadurch entstehen-
Dies geschieht durch aktives Synchronisieren den zusätzlichen Giermoment die Lenkwil-
53 der Raddrehzahlen mithilfe der Bremsen und ligkeit zu unterstützen und den Wendekreis

54
55 -
somit elektronisch gesteuertes Einlegen der
Sperren.
Haltestellenbremse (Door-Brake): Automa-
tische Aktivierung der Betriebsbremse bei
- deutlich zu verringern.
Off-Road ABS: Speziell für Militärfahrzeuge
und andere überwiegend auf nichtbefestigten
Untergründen betriebene Fahrzeuge existieren
Bussen mit Hilfe des ASR-Ventils, wenn die modifizierte ABS-Algorithmen, die insbeson-
Bustüren geöffnet werden, und entsprechend dere bei niedrigen Geschwindigkeiten den
56 automatische Deaktivierung beim Schließen Radschlupf deutlich erhöhen. Damit wird auf
der Türen und Anfahren. Damit wird dem lockeren Untergründen (z. B. Schotter, loser
57 Busfahrer an einer Haltestelle das Einlegen der Schnee) der Bremsweg über den sich bilden-

58 - Feststellbremse abgenommen.
Lenkbremse: Insbesondere Fahrzeuge mit
der Achsformel 6 x 4 (3-Achser mit 2 ange-
triebenen Hinterachsen) neigen auf rutschi-
den Bremskeil verkürzt.

43.2.4.2 Anhängersysteme
Auch im Anhängerbereich gibt es eine Reihe von
59 gem Untergrund (z. B. Baustellenbetrieb) bei Zusatzfunktionen, die sich die Infrastruktur des
engen Kurven zum starken Untersteuern. Die Anhänger-EBS (oder ABS) zu Nutze machen. Dazu
60 Funktion Lenkbremse bremst in diesem Fall gehören u. a. Funktionen, die geschwindigkeits-
abhängig vom Lenkradwinkel einseitig die oder lastabhängig bestimmte Schaltfunktionen aus-
43.3  •  Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
805 43

führen (z. B. Rücksetzen der Niveauregelung in die der Freiheitsgrade durch den Anhängerbetrieb.
Fahrstellung, Steuerung einer Liftachse etc.). Insbesondere bei einer Fahrdynamikregelung
hat dies einen entscheidenden Einfluss auf die

43.3 Spezifika der


Fahrdynamikregelung für
Nutzfahrzeuge im Vergleich
- auszuwählende Regelstrategie.
Unsicherheiten im Lenksystem: Wie auch im
Pkw sitzt der für die Fahrdynamikregelung
benötigte Lenkwinkelsensor in der Lenksäule.
zum Pkw Auf Grund des großen Verstellbereichs einer
Nkw-Lenksäule, der über Kardangelenke
43.3.1 Nkw-spezifische realisiert wird, ergeben sich jedoch relativ
Besonderheiten große Ungleichförmigkeiten im gemessenen
Lenkradwinkelsignal, die durch eine robuste
Grundsätzlich baut die Fahrdynamikregelung mo- Systemauslegung kompensiert werden müssen.
dular auf den ABS/ASR- oder EBS-Systemen auf
und nutzt die dort bereits vorhandene Infrastruktur
sowohl bezüglich der Komponenten als auch bezüg- 43.3.2 Regelungsziele
lich der Funktionen. und -prioritäten

Fahrdynamisch betrachtet gelten zunächst die Schwere Nutzfahrzeuge können über das im Pkw
gleichen Merkmale und Besonderheiten wie in bekannte Schleudern (z. B. Über- oder Untersteu-
▶ Abschn. 43.2.1 beschrieben. Aus Sicht einer Fahr- ern) hinaus weitere instabile Zustände einnehmen.
dynamikregelung kommen jedoch weitere Beson-

-
derheiten zum Tragen:
Schwerpunkthöhe: Nutzfahrzeuge haben -
Dazu gehören:
Einknicken bei mehrgliedrigen Fahrzeugkom-
binationen, beispielsweise verursacht durch
eine Gesamthöhe von bis zu 4 m (in einigen
Ländern bis zu 4,5 m), die in Kombination
mit der Beladung zu Schwerpunkthöhen
von 1,2 … 2,5 m führt. Somit neigen schwere
- Aufschieben des Anhängers, und
Umkippen aufgrund zu hoher Querbeschleu-
nigung.

Nutzfahrzeuge viel früher zum Umkippen als Daher muss eine Fahrdynamikregelung für Nutz-
Pkw – meistens schon bei quasi-stationären fahrzeuge neben den im Pkw bekannten Stabilisie-
Manövern. Typische Querbeschleunigungs- rungsfunktionen auch das Einknicken und Umkip-
werte, die zum Kippen führen, liegen im pen adressieren.

- Bereich zwischen 4 … 6 m/s².


Verwindungsweiche Fahrzeugrahmen:
Nutzfahrzeugrahmen sind auf Grund ihrer
Bauweise (offene U-Profile) sehr verwin-
Die mittlerweile verfügbaren Fahrdynamikre-
gelungen für Nutzfahrzeuge sind für den Einsatz in
fast allen Einzelfahrzeugen und in nahezu beliebi-
gen Fahrzeugkombinationen mit einem oder meh-
dungsweich. Das Verhalten bei Kurvenfahrt reren Knickgelenken vorgesehen (z. B. Sattelkraft-
ist dadurch sehr komplex und nicht mit einem fahrzeuge, Gliederzüge oder Eurokombis).
Starrkörper modellierbar. So speichert der
Rahmen durch die Verwindung bei Kurven- 43.3.2.1 Spurstabilisierung
fahrt einen Teil der Wankenergie und gibt Grundlage der Spurstabilisierung ist ein Gier­
diesen z. B. bei Wechselkurven wieder ab, mit ratenregler, der die gemessene Fahrzeuggierrate mit
der Folge, dass die Kippneigung weiter ver- der vom Fahrer gewünschten Gierrate (Referenzgier-
stärkt wird. Durch entsprechende Aufbauten rate) in der Ebene vergleicht und Abweichungen mit-
verändert sich dieses Verhalten (z. B. Flüssig- tels Brems- und Motormomenteingriffen ausregelt.

- keitstank).
Fahrzeugfreiheitsgrade: Wie bereits in ▶ Ab-
schn. 43.2.1 beschrieben erhöht sich die Anzahl
Die Referenzgierrate bestimmt das System mit-
hilfe eines vereinfachten physikalischen Modells,
das aus den ebenen Bewegungsgleichungen für eine
806 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

Fahrzeugkombination mit einem Knickgelenk her- Längsrichtung, Trägheitsmoment um die Hoch-


41 geleitet wurde (Einspurmodell, vgl. [4]): achse usw.) ab. Da diese Parameter variabel sind,
müssen sie von der FDR ständig ermittelt wer-
P Z D ıh  vcog
42 2 (43.6)
iL l C EG  vcog
den. Das erfolgt beispielsweise beim Bela­dungs­
zustand durch einen Schätzalgorithmus, der aus
mit Signalen der Motorsteuerung (Motordrehzahl
43 P Z als Referenzgierrate [rad/s], und -moment) und der Fahrzeuglängsbewegung
dh als Lenkradwinkel [rad], (Raddrehzah­len) permanent die aktuelle Fahrzeug­
44 iL als wirksame Lenkübersetzung [–], masse identifiziert.
vw als Fahrzeuggeschwindigkeit [m/s], Um das Soll-Giermoment in einen Stabilisie-
45 l als effektiver Radstand [m] und rungseingriff umzuwandeln, nimmt die FDR eine
EG als Eigenlenkgradient [s2/m], der das Eigenlenk- grobe Klassifizierung der Fahrsituation in „Über­

46
47
verhalten der Fahrzeugkombination beschreibt.

Die in diesen Modellen vorkommenden Parameter


werden entweder am Band-Ende parametriert (z. B.
-
steuern“ und „Untersteuern“ vor:
Übersteuern beschreibt Situationen, in denen
das Heck des Fahrzeugs seitlich nach außen
drückt, d. h. das Fahr­zeug dreht schneller als
Radstand) oder online durch spezielle Adaptions- für den ge­wünschten Kurvenradius erforder-
algorithmen (Parameterschätzer) an das jeweilige lich. Diese Situation kann bei Sattelkraftfahr-
48 Verhalten des Fahr­zeugs angepasst (z. B. Eigenlenk- zeugen zum Ein­knicken führen und ist durch

49
50
gradient).
Obwohl das Modell für eine Fahrzeugkombi-
nation mit einem Knickgelenk hergeleitet wurde,
entspricht es in seiner Struktur dem Einspurmodell
- den Fahrer nur schwer beherrschbar.
Im Falle des Untersteuerns schiebt das Fahr-
zeug über die Vorderräder nach außen zum
Kurvenrand (vergleichbar einem frontge-
für ein Einzelfahrzeug (vgl. [3]). Die Einflüsse des triebenen Pkw auf glattem Untergrund), was
angekoppelten Anhängers werden über den Eigen- insbesondere bei Fahrzeugen mit zwei Hinter-
51 lenkgradienten ausgedrückt. Die Modellstruktur achsen (Doppelachsaggregat) vorkommt.
bleibt auch bei Fahrzeugen mit mehr als zwei Ach-
52 sen erhalten. Hier erfolgt die Anpassung über den Zusätzlich bezieht das System den geschätzten Knick-
effektiven Radstand, der die Effekte z. B. eines Dop- winkel in die Bewertung der Fahrsituation mit ein.
pelachsaggregats beinhaltet (vgl. [5]). Abhängig von der bewerteten Fahrsituation
53 Eine deutliche Abweichung zwischen der Refe- und dem berechneten Soll-Giermoment werden die
renzgierrate und der gemessenen Gierrate führt zu Bremseingriffe an ausgewählten Rädern in geeigne-
54 einem Regelfehler, der vom eigentlichen Regler unter ter Weise umgesetzt. Bevorzugt werden dabei solche
Berücksichtigung der physikalischen Grenzen in ein Räder, bei denen der Bremskraftaufbau und der da-
55 korrigierendes Soll-Giermoment umgewandelt wird. durch bedingte Seitenkraftverlust ein gleichgerich-
Die physikalischen Grenzen limitieren die unter den tetes Giermoment erzeugen (siehe . Abb. 43.7).
aktuellen Reibwertbedingungen mögliche Gierrate Unterstützt wird der Stabilisierungseffekt durch
56 und werden über eine Reibwertschätzung ermittelt. gezieltes Verändern der ABS-Zielschlupfwerte, was
Da immer nur der ausgenutzte Reibwert geschätzt insbesondere im gebremsten Fahrzustand zum Tra-
57 werden kann und somit ein gewisser Sicherheitsauf- gen kommt.
schlag notwendig ist, führt dies in der Konsequenz Zusätzlich zu den radindividuellen Bremsein-
zu einer Begrenzung der Schwimmwinkelgeschwin- griffen am Motorwagen wird in bestimmten Situ-
58 digkeit auf ein vom Fahrer beherrschbares Maß. ationen auch der Anhänger gebremst. Hier sind
Außer vom Regelfehler hängt die Höhe des jedoch technisch bedingt keine radindividuellen
59 Soll-Giermoments auch von der aktuellen Fahr- Bremseingriffe möglich, d. h. der Anhänger wird
zeugkonfiguration (Rad­stand, Anzahl der Achsen, nur als Ganzes gebremst.
60 Betrieb mit oder ohne Anhänger usw.) und dem Beispielhaft sind in . Abb. 43.7 die Stabilisie-
Beladungszustand (Masse, Schwerpunktlage in rungseingriffe für eindeutiges Über- bzw. Untersteu-
43.3  •  Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
807 43

.. Abb. 43.7  Auswirkung eines Bremseingriffs an einem Rad auf das Giermoment (links) und Eingriffsstrategie der
Fahrdynamik­regelung (rechts)

ern dargestellt. Neben diesen eindeutigen Situatio- die Kippneigung. Beispiele sind das Überschwin-
nen gibt es noch weitere kritische Fahr­zustände, in gen beim Lenkwinkelsprung oder das Übertragen
denen je nach Soll-Giermoment auch andere Räder von Wankenergie in Wechselkurven (Kreisverkehr,
bzw. Kombinationen von Rädern gebremst werden. Ausweichmanöver). Daher wird die ermittelte Kipp-
grenze abhängig von der jeweiligen Fahr­situation
43.3.2.2 Kippstabilisierung modifiziert. So erfolgt z. B. in schnellen dynami-
Aufgrund der meist hohen Schwerpunktlage eines schen Fahrsituationen (Ausweich­manöver usw.)
Nutzfahrzeugs erfolgt das Schleudern und Ein- eine Reduzierung der Kipp­grenze mit dem Ziel ei-
knicken überwiegend auf niedrigen und mittleren nes frühzeitigeren Eingreifens.
Reibwerten. Auf hohen Reibwerten ist dagegen die Im Gegenzug dazu ist die Kippneigung bei sehr
Kippneigung ausgeprägter. Die Kippgrenze hängt langsamen Fahr­manövern (z. B. enge Serpentinen-
dabei nicht nur von der Höhe des Schwerpunkts ab, kehren bergauf) geringer, weshalb das System die
sondern auch vom Fahrwerk (Achsaufhängung, Sta- Kippgrenze dort zur Vermeidung von unnötigen
bilisatoren, Federbasis, Wankzentrum usw.) und der bzw. störenden Bremseingriffen anhebt.
Art der Beladung (feste oder bewegte Beladung). Basis für die ermittelte Kippgrenze sind be-
Eine näherungsweise Berechnung der Kippgrenze stimmte Annahmen bezüglich der Höhe des
ist in [2] dargestellt. Schwerpunkts und des Fahrverhaltens der Fahr-
Betrachtet man den eigentlichen Kippvorgang bei zeugkombination bei bekannter Achslastverteilung.
quasi-stationärer Kreisfahrt, so ist die grundsätzliche Damit deckt die Fahrdynamikregelung den größten
Ursache für das Kippen eine zu hohe Querbeschleu- Teil der üblichen Fahrzeugkombinationen ab. Um
nigung, die bei gegebenem Kurvenradius durch eine jedoch auch bei starken Abweichungen von diesen
zu große Fahrzeuggeschwindigkeit verursacht wird. Annahmen noch eine Sta­bi­lisierung zu gewährleis-
Die FDR nutzt diese physikalischen Zusam- ten (z. B. extrem hohe Schwerpunktlagen), detek-
menhänge, um die Kippgefahr zu mindern: Sobald tiert das System zusätzlich das Abheben kurvenin-
sich das Fahrzeug der Kippgrenze annähert, wird es nerer Räder. Dabei werden diese auf nicht plausibles
durch ein Reduzieren des Motormoments und ggf. Drehzahlverhalten hin über­wacht. Gegebenenfalls
zusätzliches Abbremsen verzögert (vgl. . Abb. 43.8). wird dann die gesamte Fahrzeugkombination durch
Die Kippgrenze wird in der FDR abhängig von der geeignete Bremseingriffe stark verzögert.
Beladung des Fahrzeugs und der Lastverteilung er- Das Abheben kurveninnerer Räder am An-
mittelt, wobei der Beladungszustand des Fahrzeugs hänger wird mithilfe des Anhänger-EBS detektiert.
ständig identifiziert wird. Dazu erfolgt bei einer bestimmten Querbeschleu-
Dynamische Lenkmanöver führen oft zu stär- nigung eine leichte Testbremsung am Anhänger,
keren Wankbewegungen und verstärken somit die in Verbindung mit einem stark entlasteten Rad
808 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

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.. Abb. 43.8  Kurvenfahrt bei 60 km/h ohne/mit FDR auf hohem Reibwert mit voll beladener Lkw-Kombination [Quelle: Knorr-
55 Bremse]

zum Blockieren und somit zum Anlaufen des An- 43.3.3 Fahrdynamikregelung
56 hänger-ABS führt. Dies wird dem Zugfahrzeug über für Gliederzüge
die CAN-Kommunikationsleitung (SAE J 11992)
57 mitgeteilt. Für Kombinationen mit konventionell Der Begriff Gliederzug steht hier stellvertretend
gebremstem Anhänger (nur mit ABS ausgerüstet), für alle Fahrzeugkombinationen, die gegenüber
beschränkt sich die Erkennung des Radabhebens einem Sattelkraftfahrzeug zusätzliche Gelenke
58 auf kurveninnere Räder des Motorwagens. aufweisen. Dazu gehören u. a. die folgenden Kom-

59
60
-
binationen:
Klassischer Gliederzug: Lkw mit Drehscheme-
lanhänger, wobei der Drehschemelanhänger
üblicherweise zwei oder drei Achsen hat, in
nordischen Ländern auch 4 oder 5 Achsen.
43.3  •  Spezifika der Fahrdynamikregelung für Nutzfahrzeuge im Vergleich zum Pkw
809 43

- Eurokombi: Lkw mit Dolly (sehr kurzes, meist


2-achsiges Anhängefahrzeug mit Sattelplatte,
über eine Deichsel am Lkw angekoppelt) und
43.3.4 Systemarchitektur

43.3.4.1 Konventionelle

- Sattelauflieger, pneumatische
Eurokombi: Sattelzugmaschine mit Sattelauf- Betriebsbremse
lieger und zusätzlich angekoppeltem Zentrala- Bei einem konventionellen pneumatischen Brems-

- chsanhänger.
A-Double Kombination: Sattelzugmaschine
mit Sattelauflieger und daran angekoppeltem
Drehschemelanhänger (alternativ statt Dreh-
system wird zunächst auf der ABS/ASR-Systemar-
chitektur aufgesetzt (vgl. ▶ Abschn. 43.2.3). Damit
besteht zumindest an der Hinterachse die Mög-
lichkeit, unabhängig vom Fahrer einzelne Räder
schemelanhänger auch Dolly und Sattelauflie- zu bremsen. Die Fahrdynamikregelung erfordert

- ger).
B-Double Kombination: Sattelzugmaschine
mit zwei Sattelaufliegern (der erste ist als
sogenannter Dolly-Link mit Sattelplatte zur
zusätzlich autonome Bremseingriffe an der Vorder-
achse und am Anhänger. Der Systemaufbau einer
auf einer konventionellen pneumatischen Brems-
anlage basierenden Fahrdynamikregelung ist in
Aufnahme des zweiten Sattelaufliegers ausge- . Abb. 43.9 dargestellt.
führt).
Sensoren
Die erstgenannte Kombination wird hauptsächlich Ähnlich wie bei der Pkw-Fahrdynamikregelung
in Mittel- und Nordeuropa eingesetzt, während die werden auch im Nutzfahrzeug neben dem Lenk-
anderen Kombinationen z. B. in Skandinavien, Aus- radwinkelsensor Sensoren für die Gierrate und
tralien und Nordamerika zugelassen sind. Darüber die Querbeschleunigung eingesetzt (Position 7 in
hinaus existieren in Australien und einigen ande- . Abb. 43.9).
ren Staaten sogenannte Road-Trains, d. h. Fahr- Der Lenkradwinkel wird in der Regel unmit-
zeugkombinationen mit mehr als zwei Anhängern telbar unter dem Lenkrad in der Lenksäule gemes-
(teilweise bis 50 m Zuglänge und 150 t Zuggewicht). sen. Hier kommen einerseits multiturnfähige Ma-
Bedingt durch die zusätzlichen Gelenke erhält gnetfeldsensoren zum Einsatz, die mithilfe eines
man weitere Freiheitsgrade, die zu einem deutlich mechanischen Getriebes mehrere Umdrehungen
komplexeren Fahrverhalten führen. Dem trägt die eineindeutig sensieren können. Andererseits wer-
Fahrdynamikregelung dadurch Rechnung, dass Sta- den optische Sensoren eingesetzt, die nur eine Um-
bilisierungseingriffe zum einen früher eingeleitet, drehung messen können und daher die Messung
aber gleichzeitig vorsichtiger durchgeführt werden. mehrerer Umdrehungen über Software Funktionen
Hintergrund ist die Gefahr, dass ein zu kräftiger darstellen. Die Sensoren beinhalten üblicherweise
Stabilisierungseingriff die Fahrzeugkombination einen Mikrocontroller und kommunizieren mit
destabilisieren könnte, was unbedingt vermieden dem zentralen Steuergerät über einen CAN-Bus.
werden muss. Das ist entweder der allgemeine Fahrzeug-CAN
Um die Fahrsituationen richtig zu bewerten, (z. B. nach SAE J1939) oder ein separater Sensor-
müssen erweiterte Referenzmodelle auch die zusätz- CAN-Bus.
lichen Freiheitsgrade berücksichtigen. Erschwerend Zur Messung der Fahrzeugbewegung (Gier-
kommt hinzu, dass Anzahl und Art der Anhänger rate und Querbeschleunigung) werden aus dem
dem System nur selten bekannt sind und auch keine Pkw-Bereich abgeleitete Fahrdynamiksensoren
zusätzlichen Sensorinformationen erfasst werden. eingesetzt. Die Montage erfolgt in der Nähe des
Für eine robuste Abbildung des Anhängerverhal- Schwerpunkts am Fahrzeugrahmen. Somit müssen
tens wurde daher die Knickwinkelschätzung um die Sensoren speziell an die harten Umgebungsbe-
zusätzliche Schätzgrößen, z. B. für die Anhänger- dingungen im Nkw (Umwelteinflüsse, Vibrationen
Querbeschleunigung erweitert. etc.) angepasst sein.
Neben den eigentlichen Fahrdynamiksensoren
werden zusätzlich Drucksensoren zur Sensierung
810 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

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47 .. Abb. 43.9  Systemaufbau einer konventionellen pneumatischen Betriebsbremsanlage mit Fahrdynamikregelung (1 Dreh-
zahlsensor, 2 ABS-Ventil, 3 Wechselventil, 4 ASR-Ventil, 5 Steuergerät, 6 Anhängersteuerventil, 7 FDR-Sensoren, 8 Drucksenso-
ren, 9 Anhängeransteuerung)
48
des Fahrerbremsdrucks benötigt, da dieser im Falle 43.3.5 Sonderfunktionen für Nkw
49 eines Stabilisierungseingriffs von den Bremszylin-
dern abgekoppelt ist und deshalb mittels des Fahr- 43.3.5.1 Einfache Systeme
zur Kippstabilisierung
50 dynamiksystems elektronisch eingesteuert werden
muss (Position 8 in . Abb. 43.9). Außer der Fahrdynamikregelung existieren einfa-
chere Systeme, die nur das Umkippen des Fahrzeugs
51 Steller adressieren. Diese bauen auf ABS/ASR-Systemar-
Um die erweiterten Eingriffsmöglichkeiten der chitekturen auf und nutzen einen integrierten Quer-
52 Fahrdynamikregelung an der Vorderachse und für beschleunigungssensor zur Ermittlung der Kipp-
den Anhänger darzustellen, wird zunächst ein zu- tendenz. Neigt das Fahrzeug zum Umkippen, wird
sätzliches ASR-Ventil für den Vorderachsbremskreis mithilfe des ASR-Ventils und den ABS-Ventilen
53 eingesetzt (Position 4 in . Abb. 43.9). Aus diesem – wie beim ASR-Bremsregler – an der Hinterachse
Bremskreis wird dann mittels eines weiteren ABS- aktiv gebremst und somit die Fahrzeuggeschwindig-
54 Ventils der Anhänger angesteuert (Position 9 in keit verringert. Über ein weiteres ASR-Ventil, das
. Abb. 43.9). im Bremskreis zum Anhänger installiert ist, kann
55 43.3.4.2 Elektronisch gesteuerte
auch der Anhänger gebremst werden. Da das ASR-
Ventil ein reines Schaltventil ist, erfolgt die Ansteu-
Betriebsbremse (EBS) erung der Anhängerbremsen getaktet, so dass der
56 Da das EBS bereits alle technischen Voraussetzun- wirksame Bremsdruck im Anhänger aufgrund der
gen zum autonomen Bremsen einzelner Räder mit- Trägheit des Bremssystems beschränkt bleibt.
57 bringt, benötigt die Fahrdynamikregelung nur die Da keine weiteren Sensoren zur Ermittlung der
im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Fahr- Spurstabilität vorhanden sind und außerdem nur
dynamiksensoren. Diese kommunizieren ebenfalls die Hinterachse und der Anhänger aktiv gebremst
58 über einen CAN-Datenbus mit dem EBS-Zentral- werden, ist die erreichbare Systemperformanz im
steuergerät, in dem auch der Algorithmus der Fahr- Vergleich zur vollständigen FDR bereits grund-
59 dynamikregelung implementiert ist. Der errechnete sätzlich eingeschränkt. Darüber hinaus müssen die
Soll-Bremsdruck wird über den Bremsen CAN-Bus Bremseingriffe zur Vermeidung von systemindu-
60 an die EPM bzw. über den Anhänger CAN-Bus an zierten Instabilitäten entsprechend vorsichtig er-
den Anhänger gesendet. folgen.
43.4 • Ausblick
811 43

Weitere Ausbaustufen dieses Systems verwen- mit Sattelkraftfahrzeugen). Zurzeit laufen daher
den zusätzlich einen Lenkradwinkelsensor, um so intensive Weiterentwicklungen mit dem Ziel, die
insbesondere bei dynamischen Manövern die Sta- Fahrdynamikregelung auch für weitere Fahrzeug-
bilisierungseingriffe effizienter zu gestalten. typen, wie z. B. Allradfahrzeuge, zu applizieren.
Die hier beschriebenen einfachen Systeme kom- Durch die steigende Verbreitung der Fahrdyna-
men bisher vorwiegend außerhalb Europas zum mikregelung für Nutzfahrzeuge müssen die Algo-
Einsatz. rithmen zunehmend robuster sein und sich an das
Fahrzeugverhalten soweit wie möglich adaptieren.
43.3.5.2 Anhängersysteme Neben der bereits oben beschriebenen Anpassung
zur Kippstabilisierung an die Fahrzeugmasse und das Eigenlenkverhalten
Neben der im Zugfahrzeug installierten Fahrdyna- soll daher auch die Höhe des Fahrzeugschwerpunk-
mikregelung, die den gesamten Zug vom Zugfahr- tes im System berücksichtigt werden.
zeug aus stabilisiert, existiert für Anhänger ein eben- Darüber hinaus werden zukünftig weitere Steller
falls autonom agierendes Stabilisierungssystem zur mit in die Regelung einbezogen (z. B. aktive Len-
Vermeidung des Umkippens. Dieses TRSP (Trailer kungen ähnlich wie im Pkw), soweit diese im Nutz-
Roll-Stability Program) genannte System bremst den fahrzeug verfügbar sind.
Anhänger bei Kippgefahr autonom ab. Prinzipiell
funktioniert das TRSP ähnlich wie in ▶ Abschn. 43.3.2
beschrieben, allerdings stehen als Messgrößen neben 43.4.1 Fahrdynamikregelung
den Raddrehzahlen nur eine Lastinformation und die für Allradfahrzeuge
Querbeschleunigung zur Verfügung. Aufgrund der
auf den Anhänger beschränkten Bremseingriffe und Die Herausforderungen bei einer Fahrdynamikre-
der limitierten Sensorinformationen (nur Querbe-
schleunigung) ist die Performanz gegenüber der FDR
eingeschränkt, was jedoch über die lokal verfügbaren
Raddrehzahlen und damit verbundenen erweiterten
-
gelung für Allradfahrzeuge sind im Wesentlichen
die Ermittlung der Fahrzeugreferenzge-
schwindigkeit, die auf rutschigem Untergrund
aufgrund der Antriebsmomente an allen
Möglichkeiten zur Detektierung des Kippens zum Rädern durch weitere Sensoren (z. B. für die
Teil kompensiert wird. Längsbeschleunigung) gestützt werden muss

43.4 Ausblick - und


der Off-Road Betrieb, der mit seinen kom-
plexen Fahrsituationen insbesondere eine
Anpassung der FDR-internen Fahrdyna-
Die heute am Markt befindlichen Fahrdynamikre- mikmodelle und Überwachungsfunktionen
gelungen für Nutzfahrzeuge sind für folgende Fahr- erfordert.

-
zeugkonfigurationen verfügbar:
Lkw und Busse in den Radformeln 4 × 2, 6 × 2,
6 × 4 und 8 × 4 im Solobetrieb und mit einem
oder mehreren Anhängern (Gliederzug, Euro-
Außerdem müssen die meistens vorhandenen Dif-
ferenzialsperren in geeigneter Weise in die Fahrdy-
namikeingriffe einbezogen werden.

- kombi und Road-Train),


Sattelkraftfahrzeuge in den Radformeln 4 × 2,
6 × 2 und 6 × 4. 43.4.2 Weitergehende
Adaptionsalgorithmen
Die Stabilisierungseingriffe beinhalten Motorein- in der Fahrdynamikregelung
griffe sowie aktives Bremsen einzelner Räder am
Motorwagen und Bremsen des Anhängers. Wie in ▶ Abschn. 43.3.2 ausgeführt, gehen aktuelle
Die Fahrdynamikregelung ist in Europa für Fahrdynamikregelungen von mittleren Schwer-
Nutzfahrzeuge mit maximal drei Achsen seit 2009 punkthöhen aus, die in der Systemauslegung bei der
gesetzlich vorgeschrieben (stufenweise, beginnend Masse der Fahrzeuge zu einem sehr guten Kompro-
812 Kapitel 43  •  Stabilisierungsassistenz­funktionen im Nutzfahrzeug

miss zwischen Fahrbarkeit und Sicherheit führen. Literatur


41 Bei bekannt hoher Schwerpunktlage ist eine Stei-
gerung der FDR-Performance durch entsprechend [1] Hoepke, E., Breuer, S. (Hrsg.): Nutzfahrzeugtechnik. Grund-

42 frühzeitigere Eingriffe möglich.


lagen, Systeme, Komponenten. Vieweg+Teubner Verlag,
Wiesbaden (2008)
Eine Indikation für die vertikale Schwerpunkt- [2] Robert Bosch GmbH: Kraftfahrtechnisches Taschenbuch.
lage bei bekannter Fahrzeugmasse gibt z. B. das
43 Wank- oder Nickverhalten des Fahrzeugs. Hierzu
Vieweg, Vieweg + Teubner Verlag, Wiesbaden (2011)
[3] Zomotor, A.: Fahrwerktechnik: Fahrverhalten. Vogel Buch-
werden in einem Identifikationsalgorithmus die verlag, Würzburg (1991)
44 Sensoren der Niveauregelung ausgewertet, die
[4] Hecker, S. Hummel, O. Jundt, K.‐D. Leimbach, I. Faye, H.
Schramm: Vehicle Dynamis Control for Commerial Vehicles.
i. d. R. an der Hinterachse rechts und links verbaut SAE‐Paper 973284, 1997
45 sind. [5] Winkler, C.B.: Simplified Analysis of the Steady State Tur-
ning of Complex Vehicles. International Journal of Vehicle
Mechanics and Mobility 29(3) (1996)
46 43.4.3 Nutzung weiterer Steller [6] Breuer, B., Bill, K.H. (Hrsg.): Bremsenhandbuch. Grundlagen,
Komponenten, Systeme, Fahrdynamik. Vieweg+Teubner
Verlag, Wiesbaden (2006)
47 Im Gegensatz zum Pkw existieren im Nutzfahr-
zeug bisher aufgrund der sehr hohen Lenkkräfte
keine rein elektrischen Servolenkungen an der
48 Vorderachse. Jedoch gibt es seit 2012 hydraulische
Servolenkungen mit elektrischer Momentenüberla-
49 gerung (z. B. Mercedes und Volvo). Der elektrische
Steller ist aus der elektrischen Servolenkung vom
50 Pkw abgeleitet. Damit werden die Lenkkräfte wei-
ter verringert und es kann der zweite hydraulische
Kreis bei Fahrzeugen mit Doppel-Vorderachsen
51 entfallen. Außerdem gibt es schon seit längerem
elektronisch gesteuerte Lenkungen an Zusatzach-
52 sen (Vorlauf- oder Nachlaufachse). Dabei wird der
aktuelle Lenkwinkel der Vorderachse gemessen
und in einen Soll-Lenkwinkel für die Zusatzachse
53 umgerechnet. Mit Hilfe eines servo-hydraulischen
Lenkaktuators wird dieser Lenkwinkel dann ein-
54 geregelt.
Zukünftige Fahrdynamikregelsysteme im Nutz-
55 fahrzeug werden die Möglichkeiten der zusätzli-
chen Steller in die Regelstrategie mit einbeziehen,
um eine möglichst optimale Stabilisierungsfunk-
56 tion darzustellen. Ziel ist dabei die Nachteile der
Bremseingriffe – die nicht kontinuierlich einge-
57 setzt werden können und in bestimmten Situatio-
nen zu einem Traktionsverlust führen – mit Hilfe
eines kontinuierlichen Stellers zu optimieren. Die
58 Lenkeingriffe werden daher den Bremseingriffen
vorgeschaltet.
59
60
813 IX

Fahrerassistenz
auf Bahnführungs-
und Navigationsebene
Kapitel 44 Sichtverbesserungssysteme – 815
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn

Kapitel 45 Einparkassistenz – 841
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank
Schroven, Richard Auer, Michael Rohlfs, Gerald
Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters

Kapitel 46 Adaptive Cruise Control  –  851


Hermann Winner, Michael Schopper

Kapitel 47 Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen  –  893


Hermann Winner

Kapitel 48 Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen


für Frontkollisionen: Systeme zur
Warnung, zur Unfallschwereminderung
und zur Verhinderung1 – 913
Andreas Reschka, Jens Rieken, Markus Maurer

Kapitel 49 Querführungsassistenz – 937
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel,
Falko Saust, Lars Kristian Klauske

Kapitel 50 Fahrstreifenwechselassistenz – 959
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer

Kapitel 51 Kreuzungsassistenz – 975
Mark Mages, Alexander Stoff, Felix Klanner
Kapitel 52 Stauassistenz und -automation  –  995
Stefan Lüke, Oliver Fochler, Thomas
Schaller, Uwe Regensburger

Kapitel 53 Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge  –  1009


Karlheinz Dörner, Walter Schwertberger, Eberhard Hipp

Kapitel 54 Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren – 1029


Marco Reinards, Georg Kormann, Udo Scheff

Kapitel 55 Navigation und Verkehrstelematik – 1047


Thomas Kleine-Besten, Ulrich Kersken, Werner
Pöchmüller, Heiner Schepers, Torsten Mlasko,
Ralph Behrens, Andreas Engelsberg
815 44

Sichtverbesserungssysteme
Tran Quoc Khanh, Wolfgang Huhn

44.1 Häufigkeit von Verkehrsunfällen bei Nachtoder


ungünstigen Witterungsverhältnissen – 816
44.2 Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzen
für Sichtverbesserungssysteme – 819
44.3 Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme
zur Sichtverbesserung   –  822
44.4 Nachtsichtsysteme – 832
Literatur – 838

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_44, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
816 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

44.1 Häufigkeit von der Nachtunfälle über die Monate im Jahresverlauf


41 Verkehrsunfällen bei Nacht von 1991–2002 dargestellt. Diese Verteilung der
oder ungünstigen Unfälle nach Monaten zeigt ein Maximum in den
42 Witterungsverhältnissen Wintermonaten von Oktober bis Februar und ein
Minimum in den Sommermonaten von Mai bis Juli.
Die Verkehrsunfälle bei Nacht haben schwere volks- Quantitativ beträgt der Anteil der Nachtunfälle in
43 wirtschaftliche Folgen. Nach K. Rumar [1] betrugen den Monaten von November bis Januar das Drei-
die abgeschätzten Kosten der Straßenverkehrsun- fache der Werte in den Monaten Mai bis Juli. Die
44 fälle im Jahr 1999 mehr als 160 Milliarden Euro, Ursachen dafür sind vielfältig. Sie können einerseits
etwa doppelt soviel wie der Etat der EU-Länder in bei der Verschlechterung der Sichtbedingungen
45 dem betrachteten Zeitraum. während der Dunkelstunden gefunden werden, die
Für die Analyse in diesem Kapitel können für in den Wintermonaten naturgemäß einen größeren
eine aussagekräftige Unfallforschung die Daten des Anteil eines Kalendertages als in den Sommermo-
46 Instituts für Fahrzeugsicherheit in München hinzu- naten ausmachen. Andererseits sind die allgemein
gezogen werden [2]. Demnach zeigen Unfälle mit schwierigeren Witterungsbedingungen und Fahr-
47 Fußgängerbeteiligung je nach Ortslage unterschied- bahneigenschaften im Winter ursächlich.
liche Schwerpunkte. Ein Drittel der 43789 Unfälle Betrachtet man die Nachtunfälle unter dem As-
mit verletzten Fußgängern im Jahr 1995 fand in pekt des Unfalltyps, der die zum Unfall führende
48 der Dunkelheit und Dämmerung statt. Etwa 60 % Konfliktsituation und die Art der Konfliktauslö-
aller 1336 Unfälle mit getöteten Fußgängern im Jahr sung vor dem eigentlichen Unfall näher beschreibt
49 1995 ereigneten sich in der Dunkelheit. Für Inner- (s. . Abb. 44.2), werden folgende Problemstellungen

50
ortsunfälle waren 84 % der beteiligten Fußgänger
zum Zeitpunkt des Unfalls dunkel gekleidet. Nach
[2] war bei 70 % der untersuchten Unfälle die Stra-
ßenbeleuchtung in Betrieb und wurde subjektiv als
-
sichtbar:
Der Anteil der Unfälle bezogen auf die Ge-
samtanzahl aller Unfälle (Summe der Tag- und
Nachtunfälle) ist insbesondere an Kreuzungen,
51 gut beurteilt. Einmündungen und Kurven mit Werten zwi-

52
53
Die hier ausgeführten Auswertungen der nächt-
lichen Verkehrsunfälle basieren auf den Daten der
Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2005 [3],
die die Einzeldaten der amtlichen Straßenverkehrs-
- schen 15 % und 20 % relativ hoch.
Der Anteil der Nachtunfälle an der Gesamtan-
zahl aller Unfälle für eine konkrete Unfallstelle
ist in Kurven am höchsten (35 %). Aber auch
unfallstatistik der Jahre 1991 bis 2002 bewertete. an Steigungen und Gefällestrecken sowie an
Diese Daten gelten sinngemäß für die heutigen Ver- Kreuzungen und Einmündungen ist dieser
54 kehrssituationen. Dabei gibt es viele Aspekte, mit Anteil mit weit über 20 % ebenfalls sehr hoch.
denen die Ursache für Verkehrsunfälle untersucht
55
-
und charakterisiert werden kann. Einige davon sind:
Verteilung nach Bundesländern und nach
Ortslagen (Innerorts, Bundesstraßen, Auto-
Dies ist dadurch begründet, dass in den Dunkel-
stunden je nach Typ (z. B. Halogen- bzw. Xenon-
Lichtquelle), Lichtverteilung und korrekter Einstel-

--
56 bahnen), lung der Frontscheinwerfer eines Fahrzeuges die
Zeitliche Verteilungen der Verkehrsunfälle, Erkennbarkeit von Hindernissen links und rechts
57
58
-- Unfalltyp und Unfallart sowie Unfallumstände,
Unfallbeteiligte (Alter, Geschlecht) und
Hauptverursacher der Unfälle nach Art des
Verkehrsteilnehmers (Fußgänger, Pkw, Fahr-
neben der Fahrbahn nicht ausreichend ist. Dies
kann insbesondere an Konfliktzonen wie Kreuzun-
gen und Einmündungen gravierende Folgen haben.
An Steigungen und Gefällestrecken ist neben der be-
rad, Moped/Mofa…). sonderen Fahrbahntopologie, die an sich schon ein
59 erhöhtes Gefahrenpotentzal bietet, die stark redu-
Aus lichttechnischer Sicht interessant ist die Analyse zierte Sichtbarkeitsweite des Abblendlichtes vor dem
60 der Unfallereignisse nach der zeitlichen Verteilung. Fahrzeug die Hauptursache für die Sichteinschrän-
In . Abb.  44.1 werden die prozentualen Anteile kungen. Denn trotz Abblendlicht ist es in Kurven oft
44.1  •  Häufigkeit von Verkehrsunfällen bei Nacht
817 44

.. Abb. 44.1  Prozentuale Anteile der Nachtunfälle im Jahresverlauf von 1991–2002 [3]

-
.. Abb. 44.2  Nachtunfälle gegliedert nach Unfallstelle in den Jahren 1991, 2001 und 2002 [3]

schwierig, Objekte im weiteren Verlauf der Kurven- der Anteil der Nachtunfälle bei Schnee, Eis
führung rechtzeitig und sicher zu erkennen. und Regen an der gesamten Unfallanzahl ist
Analysiert man die allgemeinen Ursachen für
Nachtunfälle im Jahr 2002 genauer (s. . Abb. 44.3),
so fallen folgende Aspekte besonders auf: - mit mehr als 27 % relativ hoch.
der Nachtanteil der jeweiligen Unfallursache
ist bemerkenswert hoch. Dieser Anteil beträgt
818 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

41
42
43
44
45
46
47
48
49 .. Abb. 44.3  Nachtunfälle gegliedert nach allgemeinen Unfallursachen im Jahr 2002 [3]

50 bei Schnee und Eis sowie bei Nebel und Wild Sprute untersuchte in seiner Dissertation [4] das
auf der Fahrbahn mehr als 55 %. Auch der Fernlichtnutzungsverhalten. Das Fahrzeug wurde
hohe Nachtanteil der anderen allgemeinen mit einem Kamerasystem für die Objekterkennung
51 Unfallursachen wie „anderes Tier auf der zur Registrierung, ob gerade mit Fernlicht gefahren
Fahrbahn“ oder „sonstiges Hindernis auf der werden könnte oder nicht, ausgestattet. Die Test-
52 Fahrbahn“ deutet auf ein sehr spätes Erkennen strecke wurde durch die Versuchsteilnehmer zwei
von Objekten auf der Fahrbahn in den dunk- Mal befahren. Beim ersten Mal war ihnen nicht
len Nachtstunden hin. bekannt, dass während der Fahrt das Fernlicht-
53 nutzungsverhalten untersucht wurde (Blind-Test).
Generell sind die geringe Leuchtdichte der Fahr- Beim zweiten Mal wurden sie gebeten, so oft wie
54 bahn in den nächtlichen Stunden, der niedrige möglich das Fernlicht zu verwenden (Non-Blind-
Kontrast zwischen dem Objekt und der Umgebung Test). In der . Abb.  44.4. ist der prozentuale Fern-
55 sowie die damit verbundene kleinere Auffälligkeit lichtnutzungsgrad, aufgeteilt nach Fahrstrecke und
der Objekte im Verkehrsraum zum guten Teil auf nach Fahrzeit, sowie das bestmögliche Potential
die geringe Sichtbarkeitsweite und die begrenzte dargestellt. Nach der Fahrstrecke gerechnet steigt
56 Breitenausleuchtung des Abblendlichts zurückzu- der Wert des Blind-Tests von 38 % auf 63 % bei der
führen, auf die später noch detaillierter eingegangen bewussten Fahrweise.
57 werden wird. Die in den letzten Jahrzehnten konzi- Diese Erkenntnis ist richtungsweisend für die
pierte manuelle Benutzung des Fernlichts ermög- automobile Lichttechnik, dass eine Sichtbarkeits-
licht eine wesentlich größere Sichtbarkeitsweite. Sie verbesserung und dadurch eine starke Reduzie-
58 bringt aber auch die größere Gefahr der Blendung rung der Verkehrsunfälle nur durch eine erhöhte
für die anderen Teilnehmer im Verkehrsraum (Ge- Fernlichtnutzung möglich ist, entweder durch eine
59 genverkehr, Fußgänger, Verkehrsteilnehmer im vo- kameragesteuerte bestmögliche zeitweise und an
rausfahrenden Auto), so dass diese Möglichkeit der die Verkehrssituation angepasste Fernlichtfunktion
60 manuellen Fernlichtbenutzung bis heute nicht sehr (Fernlichtassistent, s. . Abb.  44.5) oder durch eine
oft in Anspruch genommen wird. dauerhafte Fernlichtfunktion, wobei die einzelnen
44.2  •  Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzen
819 44

.. Abb. 44.4  unbewusste und bewusste Fernlichtnutzung


auf der deutschen Landstraße [4]

Verkehrsteilnehmer im aktuellen Verkehrsraum


nach einer automatischen Objekterkennung und
-lokalisierung örtlich-partiell von diesem Fernlicht
.. Abb. 44.5  Fernlichtassistent [20]
ausgeblendet werden.

zu einer Aktion (z. B. Einleiten eines Bremsvor-


44.2 Lichttechnische ganges).
und fahrzeugtechnische Aus lichttechnischer Sicht wird der visuelle Pro-
Konsequenzen für zess im Straßenverkehr bei Tag und besonders in
Sichtverbesserungssysteme der Nacht durch zwei Hauptgruppen von Faktoren
beeinflusst, auf die im Folgenden näher eingegangen
Es ist seit langem bekannt, dass mehr als 90 % der
Informationen von der Umwelt über das visuelle
-
wird. Diese zwei Gruppen sind:
die Aspekte auf der Reiz- bzw. Objektseite
System aufgenommen werden. Während das visu-
elle Informationsangebot am Tag so groß ist, dass
es weder erfasst noch verarbeitet werden kann, gibt
es allgemein ein Unterangebot an visuellen Infor-
- (Seite des Gesehenwerdens“) und
die Aspekte auf der Beobachter- bzw. Fahrer-
seite.

mationen bei Nacht, wodurch das Unfallrisiko er- Die Aspekte auf der Seite des „Gesehenwerdens“
höht wird. Der Leuchtdichtebereich im nächtlichen
Straßenverkehr liegt in der Regel zwischen 0,01 cd/
m² und 10 cd/m² und wird demzufolge dem meso- - --
werden durch folgende Komponenten beschrieben:
die optischen Eigenschaften eines Objektes:
Form, Größe, Farbe,

-
pischen Sehen zugeordnet. Reflexionsgrad sowie
Nach [5] besteht ein visueller Prozess aus drei Objektdarbietungszeit und relative Lage im
Schritten: dem Sehen, dem Wahrnehmen und
dem Erkennen. Das ins Auge einfallende Licht
durchdringt die Hornhaut, die Augenlinse mit -- Gesichtsfeld;
die Eigenschaften des Objektumfeldes:
Kontrast zwischen Objekt und der unmit-

-
der Pupille und trifft schließlich auf die Netzhaut telbaren Umgebung,
mit ihrem strukturierten Aufbau und den signal- die Beleuchtung durch Straßenleuchten und

-
verarbeitenden Nervenzellen. Alle Faktoren auf Autoscheinwerfer und
diesem Weg bis dahin beeinflussen das visuelle Sehstörungen wie Blendlichtquellen und
Vermögen sehr stark. Nachdem die optische In- Werbeleuchten in der Stadt bei Nacht.
formation auf der sensorischen Ebene detektiert
und zum Gehirn weitergeleitet worden ist (z. B. Se- Die Beobachterseite wird augenphysiologisch durch
hen eines Objektes auf der Fahrbahn), ermöglicht
das Auffassungs- und Verarbeitungsvermögen auf
der kognitiven Ebene das Erkennen des Objektes.
Erst dieser Prozess ermöglicht den Übergang
-
folgende Prozesse und Aspekte beschrieben:
den Hell- bzw. Dunkeladaptationsvorgang:
Beim Übergang von einer hellen zu einer
dunklen Umgebung oder umgekehrt muss
820 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

41
42
43
44
45
.. Abb. 44.6  Zur Definition des Kontrastes nach [6]

46
sich das Auge durch verschiedene Prozesse der .. Abb. 44.7  Zusammenhang zwischen der Unterschieds-

47 jeweiligen Helligkeit anpassen. Dieser Vorgang empfindlichkeit und der Adaptationsleuchtdichte [6]

findet u. a. bei der Einfahrt in einen Tunnel


48
49
- oder bei der Ausfahrt aus dem Tunnel statt.
den Alterungsvorgang:
Mit dem zunehmenden Alter gehen die Seh-
leistungen wie Sehschärfe, Kontrastwahrneh-
Der Kehrwert des Kontrastes ist die Unterschieds-
empfindlichkeit UE:

UE = 1/C = LU/ ∆L (44.2)

50 - mung und Reaktionsvermögen zurück.


die Blendung:
Sie wird durch eine hohe Leuchtdichte oder
eine inhomogene Leuchtdichteverteilung im
Zwischen der Unterschiedsempfindlichkeit und der
Adaptationsleuchtdichte, die zugleich die mittlere
Leuchtdichte der Fahrbahn ist, besteht ein fester Zu-
51 Gesichtsfeld verursacht. Ein zuvor erkennbarer sammenhang, der in der . Abb. 44.7 dargestellt wird.
Kontrast kann dadurch nicht mehr erkannt Dieser Zusammenhang besagt, dass sich die
52 werden. Die Ursache ist das durch die Blend- Unterschiedsempfindlichkeit mit der zunehmenden
lichtquellen (z. B. Scheinwerfer eines entge- Adaptationsleuchtdichte auf der Fahrbahn erhöht.
genkommenden Autos) im Auge verursachte Das bedeutet, dass dabei auch der minimale gerade
53 Streulicht. Dieses entsteht beim Durchgang noch erkennbare Kontrast zwischen dem Testzei-
des Lichtes durch das Augenmedium (Augen- chen (z. B. Objekte auf der Fahrbahn, ein Tier neben
54 linse, Hornhaut, Augenglaskörper) und durch der Fahrbahn, Leitpfosten, …) und dessen unmit-
Reflexionen von der Netzhaut zurück in den telbarer Umgebung sinkt. Für eine ausreichende
55 inneren Aufbau des Auges. Dieses Streulicht Objekterkennung muss folglich ein Mindestmaß
überlagert sich dem Bild des eigentlich zu an Leuchtdichte auf der Fahrbahn und ihrer Um-
erkennenden Objektes und führt zur Blen- gebung vorhanden sein.
56 dungserscheinung. . Abbildung  44.8 zeigt den Zusammenhang
zwischen der Blendbeleuchtungsstärke am Auge
57 In der Lichttechnik wird der Kontrast C wie folgt und der minimalen, gerade noch erkennbaren
definiert (s. . Abb. 44.6): Leuchtdichtedifferenz eines Testzeichens für ver-
schiedene Abstände zwischen Blendlichtquelle und
58 C = (L‘– LU)/ LU = ∆L/LU(44.1) Beobachter. Wird ein Autofahrer durch die Schein-
werfer des Gegenverkehrs geblendet, so erhöht sich
59 mit: die messbare Beleuchtungsstärke an seinem Auge.
L‘: Leuchtdichte des Testzeichens (Objekt) in cd/m² Je nach Abstand des blendenden Fahrzeuges zum
60 LU: Leuchtdichte der Umgebung (Umfeld) des Test- geblendeten Autofahrer ist die Beleuchtungsstärke
zeichens in cd/m² an dessen Auge unterschiedlich hoch. Damit ver-
44.2  •  Lichttechnische und fahrzeugtechnische Konsequenzen
821 44
0,45
y = 0,359x + 0,038
0,4 R2 = 0,818
y = 0,100x + 0,035 y = 0,029x + 0,054
2
0,35 R = 0,900 2
R = 0,883

0,3

0,25 Kontrast abs 50


Kontrast abs 200
0,2 Kontrast abs 100
Kontrast abs 400m
0,15

0,1

0,05
y = 0,280x + 3E-06
0 R2 = 0,54
0 2 4 6 8 10 12

.. Abb. 44.8  Zusammenhang zwischen der Blendbeleuchtungsstärke und minimaler gerade erkennbarer Leuchtdichtediffe-
renz nach [4]

ändert sich die minimal gerade noch erkennbare chen. Das setzt die Verwendung von Licht-
Leuchtdichtedifferenz zwischen der Leuchtdichte quellen mit hohen Lichtströmen, aber auch die
eines Testzeichens (Objekt) und der Umgebung
dieses Zeichens (Umfeld).
. Abbildung  44.8 besagt, dass sich die mini-
mal gerade noch erkennbare Leuchtdichtedifferenz
- Optimierung der Scheinwerferoptiken voraus.
Anforderung 2:
Minimierung bzw. Eliminierung von Blendung
für den Gegenverkehr und den vorausfahren-
zwischen der Leuchtdichte des Testzeichens und den Verkehr. Die Lichtstärkeverteilung der
der Zeichenumgebung stark verringert, wenn die Scheinwerfer sowie das gesamte Betriebssys-
Blendbeleuchtungsstärke auf dem Auge reduziert tem der Scheinwerfer, z. B. die dynamische
bzw. eliminiert wird. Leuchtweitenregelung sollen so ausgelegt
Aus den oben dargestellten Aspekten ergeben werden, dass die Beleuchtungsstärke am Auge
sich zur Sichtverbesserung der Autofahrer folgende des Gegenverkehrs und des vorausfahrenden
lichttechnische und fahrzeugtechnische Anforde- Verkehrs unter keinem Umstand den in den

-
rungen:
Anforderung 1:
Realisierung einer guten, homogenen Licht-
verteilung durch die Scheinwerfer, um die
amtlichen Regulationen maximal zulässigen
Wert überschreitet.

Zu Beginn der Automobilzeit wurde das Fernlicht


maximal mögliche Erkennbarkeitsentfernung permanent verwendet, wobei die Lichtstärke zu
zu gewährleisten. Das bedeutet einerseits eine dieser Zeit nicht sehr hoch war. Aus den beiden
breite seitliche Beleuchtung der Fahrbahn und oben genannten lichttechnischen Anforderungen
Fahrbahnumgebung, um Verkehrsschilder, wurde später das Abblendlicht eingeführt, das im
Leitpfosten und andere Objekte neben der Laufe der lichttechnisch-optischen Entwicklung
Fahrbahn rechtzeitig erkennen zu können. ständig verbessert wurde. Je nach Konfiguration
Dies erhöht zudem das allgemeine Sicherheits- kann heute mit dem Abblendlicht eine Sichtbar-
gefühl der Autofahrer. Anderseits soll entlang keitsweite zwischen 50 m und etwa 85 m erzielt
der Fahrbahnachse viel Licht auf möglichst werden. Etwa seit Mitte der 90er Jahres des letzten
große Abstände abgebildet werden, um dort Jahrhunderts wird kontinuierlich und zielstrebig
den Kontrast zu verbessern und demzufolge an neuen lichttechnischen und mechatronischen
eine große Erkennbarkeitsentfernung zu errei- Systemen gearbeitet, die eine größere Sichtbarkeits-
822 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

weite und dennoch eine Blendungsreduzierung er-


- die Weiterentwicklung der Lichtquellentech-

-
41 möglichen. Diese Systeme werde in ▶ Abschn. 44.3 nologie,
näher beschrieben. die Entwicklung der adaptiven Lichtverteilung
42
43
Die überwiegende Mehrheit der Verkehrsteil-
nehmer und Objekte im nächtlichen Straßenverkehr
weisen einen geringen Reflexionsgrad der Kleidun-
gen zwischen 5 % und 10 % in dem für den Men-
- und
die Entwicklung der assistierenden Lichtvertei-
lung.

schen sichtbaren Bereich des Spektrums zwischen


44 380 nm und 780 nm auf. Da zudem das Abblendlicht 44.3.1 Sichtverbesserungssysteme
durch die Vorgabe der Blendungsbegrenzung nur auf der Basis der
Lichtquellenentwicklung
45 eine begrenzte Sichtbarkeitsweite ermöglicht, ist das
visuelle Objekterkennungsvermögen der Verkehrs-
teilnehmer bei Nacht allgemein stark eingeschränkt. Heutige Scheinwerfersysteme verwenden als Licht-
46 Aus diesem Grund wird seit einigen Jahren an Prin- quellen entweder Halogenglühlampen oder Xenon­
zipien der Objektdetektion und -hervorhebung auf entladungslampen – seit kurzer Zeit auch Lichte-
47 der Basis von Infrarotstrahlung gearbeitet. Die mittierende Dioden (LED). Weltweit betrachtet

48 -
Grundgedanken dabei sind:
die meisten Objekte, die einen geringen Re-
flexionsgrad im sichtbaren Bereich aufweisen,
besitzen im Infrarotbereich einen relativ hohen
haben Scheinwerfer auf Basis von Halogenglüh-
lampen einen Marktanteil von etwa 90 %. Da jeder
Halogenglühlampen-Scheinwerfer eine elektrische
Leistung von etwa 62 W (55 W für die Lampe und
49 optischen Reflexionsgrad. Somit wird ein 7 W für die Vorschaltelektronik) verbraucht, stellen
hoher infraroter Kontrast sowie eine sichere die Verbesserung der Halogenglühlampen oder ein
50 Auswertung der Signale durch im Infrarotbe- Ersatz durch neue energieeffizientere aber dennoch

51 - reich empfindliche Kameras ermöglicht.


Fahrzeuge können zur Objektbeleuchtung
einen Scheinwerfer mit Infrarotstrahlung im
Fernlichtbetrieb verwenden. Da die Augen der
preiswerte moderne Lichtquellen ein substanziel-
les Potential zur Umweltschonung dar. Weniger
als 10 % aller Fahrzeuge nutzen Xenonlampen. Seit
dem Jahr 2007 sind auch Frontscheinwerfer mit
52 Autofahrer im Infrarotbereich nicht lichtemp- LEDs am Markt verfügbar. Der Vorteil der LED-
findlich sind, werden sie durch die Infrarot- Scheinwerfertechnologie basiert auf den folgenden
53
54
- strahlung nicht geblendet.
Verkehrsteilnehmer und Objekte im Verkehrs-
raum haben i. d. R. eine Körpertemperatur und
sind somit selbst ein thermischer Strahler, die
-
Aspekten:
Die LED-Bauelemente haben generell eine
längere Lebensdauer als das Kraftfahrzeug, die
in der Größenordnung von 8000 bis 10.000
Infrarotstrahlung emittieren. Stunden liegt. Der Ausfall sowie das häufige
55 Wechseln der Lichtquellen können somit weit-

56
Auf diesen Grundgedanken basiert die Entwick-
lung der Nachtsichtsysteme, die den Gegenstand
des ▶ Abschn. 44.4 bilden. - gehend ausgeschlossen werden.
Die LED-Bauelemente als Halbleiter-Licht-
quellen können sehr schnell und beliebig oft
gedimmt und ausgeschaltet werden. Diese
57 positiven Eigenschaften ermöglichen die Aus-
44.3 Derzeitige und zukünftige legung von intelligenten und adaptiven Schein-
Scheinwerfersysteme werfern, die je nach Verkehrssituation ihre
58 zur Sichtverbesserung Lichtverteilung auf der Fahrbahn innerhalb

59
60
Die Entwicklung derzeitiger und zukünftiger
Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung wird
durch die drei folgenden technologischen Entwick-
- von Millisekunden verändern können.
Die LED-Bauelemente sind relativ klein und
kompakt. Somit können für unterschiedliche
Lichtfunktionen (z. B. Fernlicht, Abblendlicht,
lungen charakterisiert und ermöglicht: Tagfahrlicht, Kurvenlicht, Abbiegelicht) unter-
44.3  •  Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
823 44

.. Tab. 44.1  Lichttechnische Eigenschaften aktuellen Frontscheinwerfer-Lichtquellen [6]

Lampentyp Lichtstrom Max. Leucht- Lichtausbeute Farbtemperatur


dichte

Halogenglühlampe (H7) ~ 1500 lm ~ 30 Mcd/m² 25 lm/W 3200 K

Xenonlampe (D2S) ~ 3200 lm ~ 90 Mcd/m² 90 lm/W 4200 K

LED (kaltweiß) ~ 150–1500 lm ~ 20 Mcd/m² 65 lm/W 4000 bis 6000 K

.. Tab. 44.2  Ermittelte Sichtbarkeitsweite in Forschungsarbeiten nach [7] und [8]

Abblendlicht mit Sichtbarkeitsweite Sichtbarkeitsweite Sichtbarkeitsweite


nach [7] unter 0° nach [8] unter 20° nach [8]

Halogenglühlampe H7 70 m 63 m 18,3 m

Xenonlampe D2S 85 m 80 m 25,8 m

schiedliche Baugruppen in kompakter Bauweise fer mit einem optischen Wirkungsgrad von 50 %
und design-orientiert konstruiert werden. und bei einer LED-Lichtausbeute von derzeit 65
lm/W durch eine elektrische Leistung des LED-
Die schnelle Entwicklung der LED-Technologie Moduls von 13–14 W realisiert werden.
ermöglicht den Scheinwerfer-Lieferanten, für die
Autoreihen der oberen Klassen die bisher dort do- . Tabelle 44.1 zeigt die wichtigsten Eigenschaften
minierenden Xenon-Scheinwerfer durch die LED- der drei Lichtquellen für KfZ-Frontscheinwerfer
Scheinwerfer zu ersetzen. Mit den gesammelten Er- im Überblick [6].
fahrungen sowie mit der optimierten Modularität Die Nutzung von Xenonentladungslampen für
dringen die LED-Scheinwerfer derzeit und in den Frontscheinwerfer zu Beginn der 90er Jahre des
nächsten Jahren in die Baureihen der Mittel-und letzten Jahrhunderts wird aus heutiger Sicht als
Kleinautos. Dabei können zwei Entwicklungsten- ein wichtiger Meilenstein betrachtet. Seit diesem
denzen deutlich beobachtet werden: Zeitpunkt werden die Vor- und Nachteile der „Xe-
a) Entwicklung von LED-Vollscheinwerfern, die nonscheinwerfer“ gegenüber den „Halogenschein-
komplette Lichtfunktionen wie Fernlicht, Ab- werfern“ intensiv untersucht. Die wesentlichen
blendlicht, Tagfahrlicht, Positionslicht, Blink- Vorteile der Scheinwerfer mit Xenonentladungs-
licht, Abbiegelicht und Markierungslicht auf lampen sind die aufgrund des höheren Lichtstroms
der Basis der LED-Technologie enthalten. Das (vgl. . Tab. 44.1) größere Sichtbarkeitsweite entlang
LED-Abblendlicht-Scheinwerfersystem erreicht der Fahrbahn (fovealer Blickwinkel unter 0°) so-
nahezu den gleichen Lichtstrom eines 35 W-Xe- wie, unter einem Blickwinkel von 20° seitlich zur
nonscheinwerfers und weist etwa 950 lm auf. Fahrbahn, die breitere seitliche Lichtverteilung und
b) Entwicklung von energiesparsamen LED-Ab- die höhere Fahrbahnleuchtdichte. Als ein mögli-
blendlicht-Scheinwerfern. Bisherige Halogen- cher Nachteil gegenüber den Scheinwerfern mit
glühlampen-Scheinwerfer haben bei einem Halogenglühlampen wird die Blendungsgefahr
Lichtstrom der 55 W-Halogenglühlampe von analysiert. In der . Tab.  44.2 werden Ergebnisse
1500 lm sowie bei einem optischen Wirkungs- unterschiedlicher Forschungsarbeiten diesbezüg-
grad der Optiken von 30 % einen Scheinwerfer- lich dargestellt.
Lichtstrom von etwa 450 lm. Dieser Lichtstrom Obwohl die Testbedingungen in den zwei For-
kann mit einem LED-Abblendlicht-Scheinwer- schungsarbeiten ([7] im Jahr 2003 und [8] im Jahr
824 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

2007) unterschiedlich und die Ergebnisse deshalb zeuges mit einer durchschnittlichen Rate von
41 nicht unbedingt vergleichbar sind, so wird doch –5,8 m/s².
Folgendes deutlich: Die Sichtbarkeitsweite der Xe-
42 nonscheinwerfer ist sowohl entlang der Fahrbahn In den Berechnungen über diesen Seh- und Brems-
als auch unter 20° seitlich zur Fahrbahn zwischen prozess in [7] wurde der Zusammenhang zwischen
21 % und 40 % besser als die Sichtbarkeitsweite der dem benötigten Bremsweg und der Fahrgeschwin-
43 Halogenscheinwerfer. Ergebnisse aus Testfahrten digkeit bei der Objekterkennung ermittelt, der in
unter Bedingungen des alltäglichen Verkehrs zeig- . Abb. 44.9 dargestellt wird. Demnach erlaubt eine
44 ten auch, dass die Testpersonen den Verkehrsraum maximale Sichtbarkeitsweite von 85 m mit Xenon-
während der Fahrt in Autos mit Xenonschein- scheinwerfern eine maximale Fahrgeschwindigkeit
45 werfern besser erfassen. Darüber hinaus ist das von etwa 90 km/h in der Nacht. Moderne Halo-
allgemein empfundene Sicherheitsgefühl der Test- genscheinwerfer mit einer Sichtbarkeitsweite um
personen während der Fahrt größer, als dies in bau- 65 m erlauben eine Fahrgeschwindigkeit von etwa
46 gleichen Fahrzeugen mit Halogenscheinwerfern zu 75 km/h.
beobachten war (vgl. [8]).
47 Jüngste detaillierte Untersuchungen können die Daran kann man erkennen, dass eine Sichtverbesse-
Hypothese nicht bestätigen, dass von Xenonschein- rung allein auf der Basis der Lichtquellen die kom-
werfern generell eine größere psychologische Blend- plexen Probleme der allgemeinen Fahraufgabe in
48 wirkung ausgeht, als dies für Halogenscheinwerfer der Nacht nicht lösen kann. Die Betrachtung dieser
der Fall ist [9]. Die psychologische Blendung ist komplexen Probleme sowie die Analyse der Unfall-
49 demnach keine Funktion der Lampenspektren und ursachen in ▶ Abschn. 44.1 führen zu folgendem Er-
-farben, sondern hängt von der konkreten Konfigu- gebnis: moderne intelligente Scheinwerfersysteme
50
51
rierung der jeweiligen Scheinwerferoptik ab.

44.3.2 Sichtverbesserungssysteme
-
sollten
adaptiv zur Fahrbahntopologie (wie Steigung
und Gefälle) eine maximale Sichtbarkeitsweite
weit über die Dimension der Sichtbarkeits-
auf der Basis der adaptiven weite heutiger Abblendlichtfunktionen ermög-
52
-
Lichtverteilung lichen.
eine Lichtverteilung adaptiv zur Verkehrssi-
Im ▶ Abschn.  44.3.1 wird die Sichtbarkeitsweite tuation (Fahrgeschwindigkeit, relativer Lage
53 derzeitiger Abblendlichtsysteme dargestellt, deren zum Gegenverkehr/vorausfahrendem Verkehr,
maximaler Wert bis zu 85 m betragen kann. Gene- Witterungsbedingungen wie Nebel und Regen)
54 rell besteht der visuelle Vorgang zur Einleitung eines bereitstellen. Diese Lichtverteilung sollte eine
Bremsvorganges bei Erkennen von Gefahren auf der bestmögliche Sichtbedingung entlang der
55
-
Fahrbahn aus folgenden Schritten:
aus einem Sehprozess und einem nachfol-
Fahrbahn und seitlich von ihr mit maximaler
Sichtbarkeitsweite und minimaler Sehbelas-

56
genden Fixationsvorgang, um das Objekt in
den fovealen Bereich (Bereich des schärfsten
- tung anbieten.
adaptiv zum Verkehrsraum im Fahrzeugvor-

57
- Sehens) bringen zu können.
aus einer Basisreaktionszeit, in der die Objekt-
situation evaluiert wird und die Entscheidung
getroffen werden muss, wie die Reaktion
feld (Kurven, Einmündungen, Abbiegestellen,
Stadtraum) eine unterschiedlich breite Licht-
verteilung liefern.

-
58 aussehen soll. Seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts be-
aus einem Bremsvorgang mit mehreren Stufen. schäftigen sich Forschungsarbeiten mit der Konzep-
59 Der Fuß muss zunächst zum Pedal geführt tion und der Realisierung von adaptiven Systemen
werden und danach wird das Bremspedal der Frontbeleuchtung für Kraftfahrzeuge. Im Feb-
60 nach unten geführt bis die Bremse greift. Erst ruar 2007 führten diese Bemühungen zu der ECE-
danach beginnt die Verlangsamung des Fahr- Regelung 123 [12]. Die so genannten AFS-Schein-
44.3  •  Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
825 44

.. Abb. 44.9  Zusammenhang zwischen Bremsweg und Fahrgeschwindigkeit nach [7]

.. Abb. 44.10  Prinzipielle Lichtverteilungsfunk-


tionen auf der Fahrbahn aus der Vogelperspek-
tive [13]

werfer (Advanced Frontlighting System) beinhalten zontale Lichtverteilung, eine definierte vertikale Hell-
allgemein die Lichtfunktionen wie Stadtlicht, Land- Dunkel-Kante, ebenso wie eine konzentrierte spotar-
straßenlicht, Schlechtwetterlicht, Autobahnlicht, tige Lichtverteilung unterhalb dem Schnittpunkt von
Fernlicht und Kurvenlicht, das wiederum in das horizontaler und vertikalen Achse (H-V-Punkt).
dynamische und das statische Kurvenlicht unterteilt
wird. Solche adaptiven Lichtfunktionen werden in B. Stadtlicht
den folgenden Abschnitten lichttechnisch detaillier- Die Verteilung vom Stadtlicht (s. . Abb.  44.10) ist
ter dargestellt. . Abbildung 44.10 zeigt eine Auswahl zur Seite breit und symmetrisch und erleichtert bei
von vier verschiedenen Lichtverteilungen. einer Geschwindigkeit unterhalb von 50 km/h die
Objekterkennung im seitlichen Bereich der Fahr-
A. Abblendlicht/Landstraßenlicht bahn und an Kreuzungen, wobei die Sichtbarkeits-
Das Landstraßenlicht basiert auf dem heutigen Ab- weite längs der Fahrbahn verkürzt wird.
blendlicht. Die Lichtverteilung ist asymmetrisch
und beleuchtet bei Überlandfahrten insbesondere C. Schlechtwetterlicht
die eigene Fahrbahn. . Abbildung  44.11 zeigt die Gemäß ECE-Regelung 123 beinhaltet die Ausfüh-
Lichtverteilung eines Landstraßenlichts mit Hoch-
leistungs-LEDs auf dem 25 m ECE-Messschirm [14].
Zu erkennen sind eine mit über 40° relativ breite hori- -
rung des Schlechtwetterlichts:
die Reduzierung der Lichtleistung im unmit-
telbaren Vorfeldbereich des Fahrzeuges und
826 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

41
42
43
44
45
.. Abb. 44.11  Verteilung eines Landstraßenlichts auf einer Leinwand in 25 m vom Scheinwerfer [14].

46
47
48
49
50
51
52 .. Abb. 44.12  Verteilung eines Landstraßenlichts auf der Fahrbahn aus der Vogelperspektive [14].

53 - die Erhöhung der Sichtbarkeitsweite nach vorn


und zum Seitenbereich zur besseren visuellen
Orientierung bei Schlechtwettersituationen.
moduls um eine vertikale Achse, meistens bis ±18°
realisiert (s. . Abb. 44.14).

54 Mit Nutzung der LED-Technologie ist eine Drehung


. Abbildung 44.13 stellt die Lichtverteilung für diese des ganzen Scheinwerfers nicht mehr erforderlich.
55
56
Lichtfunktion auf Basis der LED-Technologie nach
[14] mit einer im Vergleich zu . Abb. 44.12 breiten
Lichtverteilung dar. -
Es gibt dazu grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
wenn das Abblendlicht aus verschiedenen
Baugruppen besteht, muss nur die LED-
Baugruppe gedreht werden, die für die
D. Kurvenlicht konzentrierte spotartige Lichtverteilung
57 Die Entwicklung des Kurvenlichtes im Jahr 2003 unterhalb des H-V-Punktes verantwortlich ist
wird nach der Einführung der Xenonlampen für (s. . Abb. 44.11). Diese Variante wurde mit
58
59
Frontscheinwerfer als ein zweiter wichtiger Meilen-
stein in der modernen Kfz-Lichttechnik bezeichnet.
Es hat die Aufgabe, die Sichtbarkeitsweite für die
Autofahrer in Kurven zu erhöhen. Die Realisierung
- Hochleistungs-LEDs in [14] erprobt.
das Kurvenlicht besteht aus einem Abblend-
licht auf der Basis bisheriger Lichtquellen (Ha-
logenglühlampe, Xenonlampe oder LED). In
des dynamischen Kurvenlichts wird in den meisten der Kurve wird in Sequenz eine virtuelle Licht-
60 Fällen durch die Drehung des ganzen Scheinwerfer- bewegung dadurch realisiert, dass zusätzliche
LED-Einheiten in Abhängigkeit vom Winkel-
44.3  •  Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
827 44

.. Abb. 44.13  Lichtverteilung eines Schlechtwetterlicht-Prototyps nach [14].

bereich eingeschaltet werden. Dieses Prinzip


nach [15] wird in . Abb. 44.15 verdeutlicht.

E. Autobahnlicht
Mit dem Autobahnlicht kann die Sichtbarkeitsweite
auf der Autobahn von bisher etwa 85 m mit dem
konventionellen Abblendlicht auf etwa 120 m erhöht

-
werden. Generell gibt es drei Möglichkeiten [14]:
Anheben der Hell-Dunkel-Kante in vertikaler

- Richtung von derzeit β = –0,57° auf β = –0,23°.


Bei LED-Abblendlicht kann die Stromstärke
der für die spotartige Lichtverteilung un-
terhalb des H-V-Punktes verantwortlichen
LED-Gruppe erhöht werden. Der Aufwand
für die elektronische Schaltung sowie für das
.. Abb. 44.14  Kurvenlicht-Projektor auf Xenonlampenbasis
thermische Management für LEDs ist dabei

-
(Quelle: Valeo/Frankreich)
aber relativ hoch.
Zuschaltung einer zusätzlichen spotartigen
Lichteinheit. ein mit Hilfe eines hochauflösenden mechatroni-
schen Aktors (z. B. Schrittmotorsystem) rotierbarer
In . Abb. 44.16 wird die Lichtverteilung eines Auto- Freiform-Zylinder, auf dessen Mantel verschiedene
bahnlichts auf der Basis der LED-Technologie nach Kurvenformen zur Realisierung der verschiedenen
[14] dargestellt. AFS-Lichtverteilungen realisiert sind. Je nach Ver-
Auf der Basis von Halogenglühlampen und kehrssituation wird die entsprechende Kurvenform
Xenonentladungslampen werden AFS-Schein- in den optischen Strahlengang eingedreht.
werfer bereits seit 2006 im Markt vertrieben. In Generell basiert die Steuerung der AFS-Systeme
. Abb.  44.17 wird die technische Realisierung ver- auf der Auswertung der Signale, die verschiedene
deutlicht [13]. Sensorsysteme (LIDAR, RADAR, Nachtsichtsys-
Die Lichtquelle (Halogenglühlampe oder Xe- teme) vom Verkehrsraum kontinuierlich aufneh-
nonlampe) befindet sich im Fokuspunkt eines El- men. Hinzu kommen weitere Signale wie Naviga-
lipsoid-Spiegelreflektors, so dass das Lampenbild in tionsdaten, Lenkradsensorsignale usw. Nach der
den 2. Fokuspunkt des Reflektors abgebildet wird. Signalauswertung werden Steuerbefehle für die
In der Nähe dieses 2. Fokuspunktes befindet sich AFS-Steuereinheit generiert, die wiederum die ent-
828 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

41
42
43
44
45
46 .. Abb. 44.15  Sequenzielle Zuschaltung von drei LED-Baugruppen in der Kurve [15].

47
48
49
50
51
52
.. Abb. 44.16  Lichtverteilung eines Autobahnlichts auf Basis der LED-Technologie [14].

53
54
55
56
57
58
59
.. Abb. 44.17  Der VarioX Scheinwerfer mit AFS-Funktion (Quelle: Hella)
60
44.3  •  Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
829 44
.. Abb. 44.18  Struktur der AFS-Steuer-
systeme nach [16].

sprechende Scheinwerfer-Lichtfunktion aktiviert. fusioniert und je nach Verkehrssituation


Die Struktur der AFS-Systeme wird in . Abb. 44.18 gewichtet, um in kurzer Zeit die wirklichen
nach [16] dargestellt. und substanziellen Gefahrenquellen zu

44.3.3. Sichtverbesserungssysteme
auf der Basis der
- erkennen.
Realisierung neuartiger Scheinwerfersysteme,
die dynamisch ansteuerbar sind, um zeitlich
und örtlich adaptierbare Lichtverteilungen
assistierenden Lichtverteilung verwirklichen zu können.

Alle in ▶ Abschn. 44.3.2 dargestellten AFS-Funk- Sind diese zwei Voraussetzungen geschaffen, kön-
tionen sind Ergebnisse langjähriger Forschungs- nen mit Scheinwerfern Lichtverteilungen realisiert
und Entwicklungsarbeit und bedeuten gegenüber
dem heutigen Abblendlicht große Fortschritte.
Dennoch sind sie nur für Verkehrssituationen mit
allgemeinem Charakter wie Kurvenfahrt, Stadt-
-
werden, die
die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf mittel-
bare und unmittelbare Gefahrenquellen (z. B.
ein Tier auf der Fahrbahn) lenken. Das ist das
fahrt oder Autobahnfahrt ausgelegt. Für konkrete
Fahrtsituationen, die sich zeitlich schnell verän-
dern, werden Scheinwerfersysteme benötigt, die
bei diesen Situationen stets optimale Beleuch-
- Prinzip des Markierungslichts;
je nach Abstand des eigenen Fahrzeugs zum
vorausfahrenden und entgegenkommenden
Verkehr die Hell-Dunkel-Kante variabel
tungsbedingungen ermöglichen. Für diesen Zweck verändern. So kann stets maximale Sichtbar-
müssen zwei Voraussetzungen geschaffen und er- keitsweite für den eigenen Fahrzeugführer

--
füllt werden:
Realisierung eines Netzwerkes aus Sensoren,
das
und minimale Blendung für andere Verkehrs-
teilnehmer erreicht werden. Dieser Gedanke
bildet die Grundlage des technischen Prinzips

-
den Verkehrsraum mit ausreichender zeitli-
cher und räumlicher Auflösung erfasst,
die Objekte im Verkehrsraum schnell detek- - „Variable Leuchtweitenregelung“;
im Prinzip das Fernlicht sind, in dessen Licht-
kegel ortsgenau an denjenigen Stellen Licht-

-
tiert und klassifiziert, stärke ausgeschaltet oder weitgehend reduziert
die Winkelpositionen der Objekte in wird, so dass die dort fahrenden Fahrzeuge
horizontaler und vertikaler Richtung und nicht geblendet werden. Auf diese Weise
letztendlich die Abstände der Objekte zum funktioniert das Prinzip des „blendungsfreien
eigenen Fahrzeug ermittelt. Dabei spielt die Fernlichts“.
Objektklassifizierung eine große Rolle, um
Straßenleuchten von Leitpfosten, Auto- Im Folgenden werden diese drei Prinzipien genauer
scheinwerfer von Verkehrsschildern oder erläutert.
Ampeln unterscheiden zu können. Die
Signale der verschiedenen Sensoren werden
830 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

.. Abb. 44.19  Das Prinzip des Markierungslichts


41 (Bildquelle: Hella nach [17])

42
43
44
45
46
A. Markierungslicht kehrssituation maximal möglichen Sichtbarkeits-
47 Das Markierungslicht besteht aus einem Kame- weite. Je nach Abstand des eigenen Fahrzeugs zum
rasystem, das die optischen Informationen über umgebenden Verkehr wird die Hell-Dunkel-Kante
das Objekt und die winkelabhängigen Positionen vertikal variiert, so dass keine Blendung verursacht
48 des Objektes erfasst und diese Informationen zum werden kann. Dieses Prinzip wird in . Abb.  44.20
Steuerungssystem weiterleitet. Als Folge wird ein auf den Gegenverkehr nach [13] angewandt. Ist kein
49 zusätzlicher Spotlicht-Scheinwerfer eingeschaltet Gegenverkehr auf der Fahrbahn durch das Kame-
und streifend zum Fahrbahnbelag zum Objekt hin rasystem detektiert worden, wird das Fernlicht
50 ausgerichtet. Die Aufmerksamkeit des Fahrzeugfüh- eingestellt, um die maximal mögliche Sichtbar-
rers wird auf diese Weise zum Objekt gelenkt, um keitsweite zu erreichen. Sobald Gegenverkehr im
entsprechende Maßnahmen wie z. B. ein Ausweich- Verkehrsraum erfasst wird, wird die Hell-Dunkel-
51 manöver schnell und sicher einleiten zu können (s. Kante dementsprechend abgesenkt. Kommt der
. Abb. 44.19). Gegenverkehr sehr nah an das eigene Fahrzeug,
52 Das Markierungslicht auf der Basis der LED- erreicht die Hell-Dunkel-Kante den Zustand des
Technologie wurde seit 2011 für die oberen Fahr- Abblendlichts [16].
zeugklassen eingeführt. In der Untersuchung von
53 Schneider wurde ein Reaktionszeit-Vorteil vom C. Das blendungsfreie Fernlicht
Markierungslicht gegenüber dem Fernlicht von Das Scheinwerfersystem befindet sich im Fernlicht-
54 etwa 0,42 s ermittelt [18,19]. modus. Das Kamerasystem des eigenen Fahrzeugs
In einem dynamischen Fahrversuch in der- erfasst in Echtzeit den Verkehrsraum und berech-
55 selben Studie mit Fußgängern am Straßenrand an net die Winkelpositionen wie auch die Abstände
unterschiedlichen Standpositionen wurden die aller dort befindlichen Fahrzeuge. Ortsgenau wird
Sichtbarkeitsweiten von dem neuen LED-Markie- dann die Lichtstärke reduziert oder vollständig aus-
56 rungslicht und des Xenon-Scheinwerfer-Abblend- geschaltet. Der Vorteil gegenüber dem Prinzip der
lichts verglichen, wobei als Resultat ein Sichtbar- adaptiven Hell-Dunkel-Kante ist, dass selbst im Fall
57 keitsweitenvergrößerung von 34 m gegenüber dem des Vorhandenseins anderer Verkehrsteilnehmer
Abblendlicht herausgefunden wurde. Das entspricht im Verkehrsraum sehr häufig die absolut maximale
einem Zeitvorsprung von 1,2 s bei einer Fahrge- Sichtbarkeitsweite erreicht werden kann. Dieser
58 schwindigkeit von 100 km/h. Vergleich wird in . Abb. 44.21 dargestellt.
Das blendfreie Fernlicht auf der LED-Basis,
59 B Variable Leuchtweitenregelung wie es in der unteren Grafik der . Abb.  44.21 ver-
(adaptive Hell-Dunkel-Kante) anschaulicht wird, setzt sich im technologischen
60 Das Ziel der Realisierung dieses technischen Prin- Stadium um die Jahre 2013–2016 im Abblendlicht-
zips ist die Erzielung der bei der konkreten Ver- Bereich (unterhalb der Hell-Dunkel-Kante) aus
44.3  •  Derzeitige und zukünftige Scheinwerfersysteme zur Sichtverbesserung
831 44

.. Abb. 44.20  Variation der Lichtverteilung auf der Fahrbahn für den Gegenverkehr durch das Prinzip der variablen Hell-
Dunkel-Kante nach [13].

.. Abb. 44.21  Das blendungsfreie Fernlicht


(Matrix-Beam) im Vergleich zur adaptiven Hell-
Dunkel-Kante [13]

einem normalen LED-Abblendlicht und im Fern- so viel Sichtbarkeitsweite wie ein leistungsstarkes
lichtbereich aus vertikalen LED-Lichtsegmenten Xenonlampen-Fernlicht aufweisen. In der Disser-
mit begrenzter horizontaler Winkelauflösung zu- tation [20] hat Totzauer die Blendwirkung eines
sammen, die je nach Verkehrssituationen ein-und LED-Abblendlichts mit einem LED-blendfreien
ausgeschaltet oder gedimmt werden. Ab etwa 2016 Fernlicht und mit einem normalen Fernlicht ver-
wird der ganze Scheinwerfer für Fernlicht-und glichen. Die Ergebnisse werden in der . Abb. 44.22
Abblendlichtfunktionen aus LED-Arrays mit etwa veranschaulicht. Während das LED-Abblendlicht
mehr als 100 Lichtpunkten (LED-Pixel) sowie aus und das blendfreie Fernlicht als „gleicht gut“ be-
passenden Optiksystemen (Mikrolinsen-Optiken) wertet wurden, hat das normale Fernlicht gegenüber
bestehen, mit dem Vorteil, dass somit der ganze dem Abblendlicht für alle Testpersonen eine „sehr
Verkehrsraum örtlich besser aufgelöst werden kann. viel schlechtere Blendwirkung“.
Auf diese Weise können einzelne Fahrzeuge im Ver- In [21] wurde über einen Vergleich der Sicht-
kehrsraum selbst im dichten Verkehr ausgeblendet barkeitsweiten von unterschiedlichen Lichtfunkti-
und die Lücken dazwischen für eine bessere Sicht- onen berichtet. An diesem statischen Vergleich auf
barkeit genutzt werden. einer Straße haben 45 Teilnehmer teilgenommen,
Im Prinzip muss das blendungsfreie Fernlicht aus dem sich die Ergebnisse in der . Tab.  44.4 er-
idealerweise die gleiche Blendwirkung wie das geben:
korrekt eingestellte Abblendlicht und möglichst
832 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

41
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46
.. Abb. 44.22  Blendwirkung von einem LED-Abblendlicht (als Referenz) mit einem LED-blendfreien Fernlicht und mit einem
normalen Fernlicht [20]
47
48 .. Tab. 44.4  Sichtbarkeitsweiten unterschiedlicher Lichtfunktionen nach [21]

Lichtfunktionen Mittlere Sichtbarkeitsweite in m Standardabweichung in m


49 Abblendlicht 85 14,3

Adaptive Hell-Dunkel-Kante 100 12,1


50 Blendfreies Fernlicht 130 13,0

51
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die 44.4 Nachtsichtsysteme
52 Sichtverbesserungssysteme heute und in Zukunft

53 --
auf der Grundlage
der Lichtquellenentwicklung,
der mechatronischen Ausführung der Schein-
werfersysteme im Fall der Halogenglühlampen
Nachtsichtsysteme sind kamerabasierte Sichtverbes-
serungssysteme, die bei Dunkelheit mehr Informa-
tionen erfassen können als das menschliche Auge.
Sie sind bereits lange Zeit in militärischen Anwen-
54
55 - und Xenonlampen,
der Optimierung der LED-Lichtquellen, der
Optik und des thermischen Managements für
dungen im Einsatz und halten seit dem Jahre 2000
mit der Einführung des Cadillac DeVille als erstes
Personenkraftfahrzeug mit Nachtsichtsystem weiter

- die LED-Module,
der schnell und sicheren Informationsverar-
Einzug in die Automobilindustrie. Dieser Abschnitt
gibt einen Überblick über verschiedene Sensoren,

-
56 beitung an Bord sowie Anzeigen und Bildverarbeitungsmethoden für
der intelligenten Nutzbarmachung und Fusion Nachtsichtsysteme.
57 der verfügbaren Fahrzeug-Sensorsysteme Die Sensorik erfasst eine bildhafte Information,
basieren. die dem menschlichen Auge bei Dunkelheit verbor-
gen bleibt und leitet sie an eine Bildverarbeitungs-
58 Die letztgenannten Systeme werden in ▶ Ab- einheit weiter. Diese wertet das Bild in einfachen
schn. 44.4 beschrieben. Systemen optisch durch Reduzierung des Rauschens,
59 Anhebung des Kontrastes und Schärfung der Kanten
auf. Komplexere Systeme erkennen Objekte im Bild
60 und führen eine teilweise Situationsanalyse durch.
Der Bildschirm transformiert das verarbeitete Signal
44.4 • Nachtsichtsysteme
833 44
.. Abb. 44.23  Ausgegebenes Bild eines
Nahinfra­rotsystems [18]

in ein für den Nutzer sichtbares und interpretier- 44.4.1.2 Nahinfrarotsysteme


bares Bild. Obwohl nur der Bildschirm die direkte Nahinfrarotsysteme senden Infrarotstrahlung im
Schnittstelle zum Nutzer darstellt, sind alle Kom- Wellenlängenbereich zwischen 800 – 1100 nm aus.
ponenten für die Mensch-Maschine-Schnittstelle Auf Grund der Nähe der Strahlung zum sichtbaren
gleichermaßen wichtig, da die Sensorik die Art und Licht, wird diese Strahlung auch als Nahe-Infrarot-
die Bildverarbeitungseinheit die Komplexität der strahlung (NIR) bezeichnet. NIR-Systeme leuchten
dargestellten Information bestimmt. das Vorfeld des Fahrzeugs fernlichtartig aus, ohne
andere Verkehrsteilnehmer zu blenden. Dazu nut-
zen heutige Systeme den hohen NIR-Strahlungs-
44.4.1 Sensorik für Nachtsichtsysteme anteil in Halogenscheinwerfern und filtern den
im Kraftfahrzeug sichtbaren Teil der Strahlung mit Hilfe eines Interfe-
renzfilters aus. Zukünftige Systeme werden Infrarot-
Aufgabe der Sensorik ist es, Informationen aus LEDs (IREDs) oder sogar Laser nutzen, die direkt
dem Vorfeld des Fahrzeugs zu erfassen, die der im NIR-Bereich Strahlung aussenden, nutzen, so
Fahrer bei der Ausleuchtung der Straße mit dem dass kein Filter mehr notwendig ist.
Abblendlicht nicht aufnehmen kann. Dabei muss Die ausgesandte Infrarotstrahlung wird an den
die Sensorik den Regelungen der Straßenverkehrs- Objekten im Vorfeld des Fahrzeugs reflektiert und
Zulassungsordnung (StVZO) entsprechen und darf von einer infrarotempfindlichen Kamera aufge-
insbesondere keine anderen Verkehrsteilnehmer zeichnet. Das Bild ähnelt zwar stark einem Schwarz-
blenden oder in anderer Weise gefährden. Weiß-Abbild des Fahrzeugvorfelds, jedoch gibt die
Bildinformation nicht die Lumineszenz der Ob-
44.4.1.1 Restlichtverstärker jekte wieder, sondern deren Reflexivität im nahen
Restlichtverstärker dienen dem Militär zur Umfeld­ Infrarot. So können selbst dunkle Objekte im Bild
erkundung bei Dunkelheit. Ein Photodetektor im hell erscheinen, wenn sie im nahen Infrarot stark
Restlichtverstärker wandelt geringe Lichtintensitä- reflektieren. Auf diese Weise entsteht ein sehr detail-
ten in einen Elektronenstrom um, der in einem La- reiches Bild, das der menschlichen Wahrnehmung
dungsmultiplizierer um den Faktor F = 105 verstärkt sehr ähnlich ist . Abb.  44.23. Dadurch fallen die
wird und dem Nutzer auf einem Phosphorschirm Orientierung im Bild und die Zuordnung der im
ein grünliches Bild ausgibt. Restlichtverstärker sind Bild sichtbaren Objekte zur Realität relativ leicht.
jedoch für den Einsatz als Nachtsichtsystem im Zur Aufzeichnung der zurückreflektierten
Kraftfahrzeug nicht sinnvoll, da helle Lichtquellen Strahlung eignen sich CMOS- und CCD-Kameras,
wie Straßenlaternen und Scheinwerfer entgegen- deren Empfindlichkeit über den sichtbaren Be-
kommender Fahrzeuge das Bild überstrahlen und reich bis in das nahe Infrarot erstreckt. Während
die Bildinformation zerstören. CCD-Kameras sehr empfindlich sind und dadurch
834 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

.. Abb. 44.24  Überstrahlung einer


41 CCD-Kamera durch einen Scheinwerfer [18]

42
43
44
45
46
47
48 selbst aus schlecht ausgeleuchteten Bereichen In- die Fahrzeuge direkt in den Erfassungsbereich der
formationen erfassen können, haben sie nur eine Kamera strahlen. Die Dynamik heutiger Kameras
49 relativ geringe Dynamik von etwa 60 dB. Dadurch reicht noch nicht aus, um eine Überstrahlung des
versagen CCD-Kameras in Situationen mit hoher Bildes zu vermeiden. Abhilfe können hier die be-
50 Dynamik, wenn beispielsweise die Scheinwerfer reits genannten Laser- bzw. IRED-Beleuchtungen
entgegenkommender Fahrzeuge eine hohe Lichtin- schaffen, indem die Systeme die NIR-Strahlung
tensität erzeugen und Fußgänger sich in dunklen nicht kontinuierlich, wie heute bei Halogen-NIR-
51 Bereichen der Szene befinden: entweder überstrah- Scheinwerfern nur möglich, sondern gepulst aus-
len die Scheinwerfer das Bild . Abb. 44.24 oder die senden. Eine geschickte Pulsung reduziert die
52 Fußgänger sind kaum sichtbar. CMOS-Kameras Blendung durch entgegenkommende Fahrzeuge.
hingegen können durch auf dem Sensor integrierte Vorraussetzung ist jedoch, dass die Kamera zur Be-
Schaltungen eine sehr hohe Dynamik annehmen, leuchtung synchronisiert ist und nur dann ein Bild
53 sind jedoch weniger empfindlich als CCD-Kameras. aufzeichnet, wenn die Beleuchtung gerade einen
Als Einbauort der Kameras dient vorzugsweise Puls aussendet. Für solche Anwendungen sind Ka-
54 der Bereich des Spiegelfußes hinter der Front- meras mit einem Global Shutter notwendig, die im
scheibe: hier ist die Kamera vor Regen, Schnee, Gegensatz zu Rolling-Shutter-Kameras den Sensor
55 Schmutz und Steinschlag geschützt und das Sicht- nicht zeilenweise, sondern die ganze Sensorfläche
feld der Kamera wird durch den Scheibenwischer belichten.
gesäubert. Um eine ausreichende Signalstärke zu In beiden Fällen ist bei NIR-Beleuchtung die
56 erhalten, sollte das Fahrzeug sowohl bei CCD- als Augensicherheit zu beachten, da NIR-Strahlung
auch bei CMOS-Kameras anstatt der üblichen wär- für das menschliche Auge zwar kaum sichtbar aber
57 medämmenden Frontscheibe eine Klarglasscheibe dennoch schädigend sein kann. Während sich das
ohne Wärmedämmung im Bereich der Kamera Auge vor zu hohen Lichtintensitäten durch den Lid-
haben, um keine zusätzliche Dämpfung der NIR- schlussreflex bei Blendung schützt, setzt dieser Me-
58 Strahlung zu erzeugen. chanismus bei NIR-Strahlung aus, da die Rezepto-
Da NIR-Systeme aktiv Strahlung aussenden, ren im Auge für Infrarotstrahlung nicht empfindlich
59 werden sie häufig auch als aktive Nachtsichtsys- sind. Die Strahlungsenergie, die in das Auge gelangt,
teme bezeichnet. Nachteil der aktiven Strahlaus- kann dennoch schädigende Wirkung haben. Aus
60 sendung ist, dass sich entgegenkommende Fahr- diesem Grund werden die NIR-Beleuchtungen heu-
zeuge mit NIR-System gegenseitig blenden, da sich tiger NIR-Systeme bei geringer Fahrzeuggeschwin-
44.4 • Nachtsichtsysteme
835 44
.. Abb. 44.25  Schwarz-Weiß-Bild einer Wärme-
bildkamera [18]

digkeit abgeschaltet, um lange Blickzeiten und kurze Systemen hinter der Frontscheibe verbaut werden.
Betrachtungsabstände zu vermeiden. Die Kamera muss auf Einbauorte ausweichen, in de-
NIR-Systeme ermöglichen eine Sichtweite von nen sie vor Schmutz, Witterung oder Steinschlägen
etwa 100 bis 120 m. Häufig werden höhere Reich- nicht geschützt ist.
weiten angegeben, wobei hier zwischen Erken- Das Schwarz-Weiß-Bild der Wärmebildkamera
nungsabstand und messbarer oder sichtbarer Aus- stellt warme Objekte hell dar, während kalte Ob-
leuchtung unterschieden werden muss. jekte eher dunkel erscheinen. Auf diese Weise sind
warme Objekte im Bild besonders gegenüber dem
44.4.1.3 Ferninfrarot-Systeme Hintergrund hervorgehoben, sodass Menschen und
Ferninfrarotsysteme nutzen die Plancksche Strah- Tiere, aber auch Auspuffanlagen von anderen Fahr-
lung, die praktisch von jedem Objekt ausgeht. zeugen, Fahrzeugreifen, Motorhauben, aufgeheizte
Wärmebildkameras zeichnen die Wärmevertei- Steine und metallische Gegenstände besonders im
lung der Szene bildgebend auf und erfassen dabei Bild auffallen . Abb.  44.25. Da die Darstellung je-
die Plancksche Strahlung der Objekte zwischen 8 doch nur von der Temperaturausstrahlung der Ob-
und 12 µm. Da die Wärmestrahlung sich ferner von jekte abhängt, sind beispielsweise Beschriftungen
der sichtbaren Strahlung befindet, wird sie auch auf Straßenschildern praktisch nicht ablesbar und
als Ferninfrarotstrahlung (FIR) bezeichnet. FIR- Straßenmarkierungen nur bei guten Bedingungen
Systeme benötigen keine zusätzlich Beleuchtung, sichtbar. Insgesamt wirkt das FIR-Bild verfremdet
da praktisch alle Objekte FIR-Strahlung aussenden und schwer interpretierbar. Die Kamera bietet je-
und die Kamera diese nur empfangen muss. Diese doch eine Sichtweite von etwa 300 m und übertrifft
Eigenschaft gibt ihnen auch den Namen passive damit sowohl die Reichweite von NIR-Systemen als
Nachtsichtgeräte. auch des Fernlichts.
Die Herstellung von Wärmebildkameras ist sehr
aufwändig und entsprechend teuer. Sowohl für die
Sensoren selbst als auch für die Optik kommen nur 44.4.2 Anzeigen für
teuere Materiale in Frage. Gleichstromdetektoren Nachtsichtsysteme
nutzen als Sensormaterial Vanadium Oxid (VOx) im Kraftfahrzeug
oder amorphes Silizium (αSi). Wechselstromkame-
ras nutzen Barium Strontium Titanit (BST) oder Die Gemeinsamkeit aller in ▶ Abschn. 44.4.1 vorge-
ferro-elektrische Dünnfilmschichten (TFFE). Die stellten Sensoren ist ihre Eigenschaft, ein Bild des
Optiken der Kameras bestehen aus Germanium Fahrzeugvorfelds aufzuzeichnen. Deshalb liegt es
oder Germanium-Gemischen, da Wärmestrahlung nahe, dem Fahrer diese Bildinformation anzuzei-
Kunststoffe und Glas nicht durchdringen kann. Aus gen. Dazu bieten sich bereits heute im Fahrzeug
diesem Grund kann die Kamera nicht wie bei NIR- vorhandene Anzeigen an. Mit Nachtsichtsystemen
836 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

sind jedoch auch eine Menge anderer neuartiger 44.4.2.2 Kombiinstrument-Anzeige


41 Anzeigen verbunden. Einige Fahrzeuge haben bereits ausreichend große
Da die Kameras nur zweidimensionale Bildin- und Video-fähige Bildschirme im Kombiinstru-
42 halte liefern und der Erfassungsbereich der Kameras ment. Vorteil dieser Anzeige ist die Position in der
geringer ist als das Sehfeld des Menschen, kann der Sichtachse des Fahrers, so dass die Blickabwen-
Fahrer nicht alleine nach dem Nachtsichtbild fahren dung zumindest um die Kopfbewegung verkürzt
43 und muss seinen Blick zwischen Anzeige und re- ist. Nachteilig kann sich jedoch die Verdeckung des
alem Fahrzeugvorfeld wechseln. Untersuchungen Bildes durch das Lenkrad auswirken.
44 haben ergeben, dass die Blickabwendungszeit von
der Straße kaum länger als 2 Sekunden ist. Vor der 44.4.2.3 Head-Up-Display
45 Blickabwendung zeigt der Fahrer eine hohe Infor- Head-Up-Displays (HUDs) reflektieren das Bild ei-
mationsaufnahme, wobei während der Blickabwen- nes in der Instrumententafel verbauten Bildschirms
dung die aufgenommene Information veraltet, bis an der Frontscheibe in das Sichtfeld des Fahrers. Da-
46 der Drang des Fahrers, neue Information aufzuneh- durch erscheint ein virtuelles Bild in etwa 2,5 m vor
men, so groß wird, dass er den Blick wieder zurück dem Fahrzeug. Das Bild ist transparent und scheint
47 auf das Verkehrsgeschehen richtet. Die Blickabwen- über der Motorhaube des Fahrzeugs zu schweben.
dung auf einen Bildschirm setzt sich zusammen aus Vorteil dieser Anzeige ist die Verkürzung der Blick-
der Bewegung des Kopfes in Richtung der Anzeige, abwendung durch den Entfall der Bewegung des
48 der Augenbewegung auf die Anzeige, der Adaption Kopfes, durch eine starke Reduzierung der Augen-
auf die Bildschirmhelligkeit, der Akkommodation bewegung, der Adaption und der Akkommodation.
49 auf die Entfernung des Bildschirms, der eigentlichen Durch die Transparenz des Bildes und die Ausleuch-
Informationsaufnahme, der Bewegung des Kopfes tung der Straße mit dem Abblendlicht entsteht je-
50 in die ursprüngliche Lage, die Bewegung der Augen doch ein geringer Umgebungskontrast zwischen
auf das Verkehrsgeschehen, die Adaption und die dem Schwarz-Weißem-Nachtsichtbild und der
Akkommodation auf das Fahrzeugvorfeld. Aufgabe hell ausgeleuchteten Straße, so dass die Bildinhalte
51 der Anzeige ist es, eine geringe Blickabwendungszeit schwieriger zu erkennen sind und die eigentliche
zu unterstützen. Informationsaufnahme die Blickabwendungszeit
52 wieder verlängert.
44.4.2.1 Infotainment-Anzeige Die Anzeige von Informationen über das HUD
Die meisten Oberklassefahrzeuge besitzen bereits wird als besonders vorteilhaft betrachtet, da die
53 heute eine Infotainment-Anzeige, die dem Fahrer Information direkt in das Sichtfeld des Fahrers re-
verschiedene Informationen wie die Senderliste des flektiert wird und dieser sich nicht vom Verkehrs-
54 Radios, Navigationsinhalte oder im Stillstand des geschehen abwenden muss. Diese Annahme ist für
Fahrzeugs sogar das Fernsehprogramm anzeigen. kurzzeitig dargestellte, quasi-statische oder einfach
55 Diese Bildschirme sind in den meisten Fällen über interpretierbare Informationen sicherlich gültig.
der Mittelkonsole des Fahrzeugs auf der Höhe der Die Anzeige eines Nachtsichtbildes in einem HUD
Instrumententafel positioniert. Sie sind größtenteils bedeutet jedoch eine vollflächige und dauerhafte
56 bereits Video-fähig und damit im Stande, das Vi- Überlagerung von dem unteren Teil des Fahrer-
deobild der Nachtsichtsysteme anzuzeigen, haben sichtfelds mit komplexen, sich kontinuierlich än-
57 eine ausreichende Größe und eine gute Bildqualität. dernden Informationen. Dies stellt eine zusätzliche
Da die Anzeige jedoch abseits der Blickrichtung des Belastung für den Fahrer dar, der er nur entkommen
Fahrers liegen, sind diese Anzeigen weniger für die kann, indem er das Nachtsichtsystem abschaltet,
58 Darstellung des Nachtsichtbildes geeignet: Zusätz- während er Anzeigen außerhalb des direkten Sicht-
lich zur langen Blickabwendungszeit durch Kopf feldes ignorieren kann.
59 und Augenbewegung erschwert die Transformation
der Bildinformation in die Sichtachse des Fahrers
60 die Bildinterpretation.
44.4 • Nachtsichtsysteme
837 44
44.4.2.4 Kontaktanaloges Head-Up- 44.4.3 Bildverarbeitung
Display
Ein kontaktanaloges HUD erzeugt nicht nur ein Die Nutzung des Nachtsichtsystems erfordert,
virtuelles Bild in einer bestimmten Entfernung, dass der Fahrer zwei visuelle Quellen mit hohem
sondern kann die Bildinhalte positionsrichtig der Informationsgehalt auswertet: Die Realität und
Umwelt überlagern. Dies entspricht einer Augmen- das Nachtsichtbild. Dies führt zu einer deutlichen
ted-Reality-Darstellung. Zwar gibt es prototypische Mehrbelastung des Fahrers, was sich in Testfahrten
HUDs, die Symbole und Warnhinweise positions- durch reduzierte Fahrgeschwindigkeiten, Überse-
richtig der Straße überlagern können, es sind aber hen von Schildern und Verletzen der Abblendpflicht
noch keine Systeme umgesetzt, die ein Videobild bei Anwesenheit von anderen Verkehrsteilnehmern
kontaktanalog darstellen können. Hierzu wäre zu niederschlägt. Daher liegt die Forderung nahe, Ge-
jedem Bildpunkt eine Entfernungsinformation not- fahren aus dem Nachtsichtbild automatisch zu er-
wendig, was bei normalen Kameras nicht der Fall ist. kennen und den Fahrer nur im Falle einer erkann-
ten Gefahr darauf hinzuweisen.
44.4.2.5 Combiner Die Bildverarbeitungseinheit kann nicht pau-
Combiner sind Anzeigen, die aus einem aus der In- schal alle Gefahren erkennen. Erkennen bedeutet
strumentenoberhaut über dem Kombiinstrument in der Bildverarbeitung die Detektion eines Objek-
ausklappendem Spiegel und einem Bildschirm tes aufgrund von bekannten Eigenschaften eines
hinter dem Kombiinstrument bestehen. Der Spie- gesuchten Objektes. Im zweiten Schritt erfolgt die
gel reflektiert den Anzeigeinhalt des Bildschirms Klassifizierung des detektierten Objektes zu einer
in das Sichtfeld des Fahrers und erzeugt ähnlich dem System bekannten Klasse. Sind dem System die
wie das HUD ein virtuelles Bild. Der Abstand des Eigenschaften des gesuchten Objekts oder die Klasse
virtuellen Bildes beträgt jedoch lediglich 1–1,1 m, nicht bekannt, kann es das Objekt weder detektie-
sodass es die Adaption und Akkommodation nur ren noch erkennen, so dass dem System mitgeteilt
unwesentlich reduziert. Das Bild ist nicht transpa- werden muss, welche Objekte unter welchen Bedin-
rent und daher kontrastreicher als ein HUD-Bild. gungen, wie beispielsweise Größe, Aufenthaltsort,
Doch auch hier kann die Anzeige einer bewegten Bewegungsrichtung, Geschwindigkeit etc., eine Ge-
Bildinformation im peripheren Sichtfeld des Fahrers fahr darstellen können.
stören. Die Größe von Combinern ist gesetzlichen Die Detektion von Menschen und Tieren ist in
Vorschriften unterworfen und darf nicht zu weit ins FIR-Bildern deutlich einfacher als in NIR-Bildern,
Fahrersichtfeld ragen. da sich Menschen und Tiere bei Umgebungstem-
peraturen unter 30 °C deutlich vom Hintergrund
44.4.2.6 Frontscheibendisplay abheben. Bei FIR-Bildern ist bereits die Helligkeit
Frontscheibendisplays sind Anzeigen, die die ge- der Objekte eine wichtige Eigenschaft zur Detek-
samte Fläche der Frontscheibe als Anzeige nutzen. tion. Im NIR-Bild muss die Bildverarbeitung auf
Dabei sind elektrolumineszente Stoffe in die Scheibe andere Eigenschaften wie die Größe und die Form
eingebettet, die bei Anregung, beispielsweise durch der Objekte ausweichen. Diese Eigenschaften nut-
einen Laser, Licht aussenden. Damit ist es möglich, zen Erkennungsmethoden für FIR-Systeme natür-
die gesamte Scheibenfläche zu nutzen und der Rea- lich zusätzlich und sind dadurch robuster.
lität überlagerte Inhalte anzuzeigen. Für die Darstel- Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, mit
lung eines Nachtsichtbildes ist diese Anzeigeform Hilfe einer Stereokamera oder durch die Auswer-
nicht sinnvoll, da die Scheibe stark zum Fahrer ge- tung des optischen Flusses im Bild, Objekte zu de-
neigt ist und dieser dadurch nur einen schmalen Be- tektieren, die sich im Fahrschlauch des Fahrzeugs
reich des Bildes auf der Scheibe scharf sehen kann. befinden oder sich nicht dem optischen Fluss
Weiterhin erfordert ein derart überlagertes Bild ein entsprechend bewegen. Um mit diesen Methoden
System, das die Blickrichtung des Fahrers erkennt, weit entfernte Objekte detektieren und erkennen
um die Bildinformation der Blickrichtung des Fah- zu können, müssen die genutzten Kameras eine re-
rers nachführen kann. lativ hohe Auflösung haben, mit der jedoch auch
838 Kapitel 44 • Sichtverbesserungssysteme

die Rechenintensität zur Detektion der Objekte [3] Lerner, M.; Albrecht, M.; Evers, C.: Das Unfallgeschehen bei
41 ansteigt.
Nacht, Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt),
Heft M 172, 2005.
Sind bestimmte Objekte erkannt, kann das [4] Sprute, H.: Entwicklung lichttechnischer Kriterien zur Blen-
42 System sich automatisch in die Anzeige schalten, dungsminimierung von adaptiven Fernlichtsystemen,
dem Fahrer einen optischen, akustischen oder Technische Universität Darmstadt, 2012
haptischen Hinweis geben oder sogar das erkannte [5] Eckert, M.: Lichttechnik und optische Wahrnehmungssi-
43 Objekt mit Hilfe eines Frontscheibendisplays in der
cherheit im Straßenverkehr. Verlag Technik Berlin, Mün-
chen (1993)
Frontscheibe markieren oder mit Hilfe eines „Such- [6] Khanh, T. Q.: Grundlagenvorlesungen der Lichttechnik,
44 scheinwerfers“ anleuchten. Technische Universität Darmstadt, Fachgebiet Lichttech-
nik, 2013.

45 44.4.4 Vergleich der Systemansätze


[7] Rosenhahn, E.-O., Hamm, M.: Motorway Light in Adaptive
Lighting Systems. In: Progress in Automobile Lighting
(PAL), Technische Universität Darmstadt, S. 868–882. Utz

46 Fahrversuche mit potenziellen Nutzern von Nacht-


Verlag, München (2003)
[8] Schiller, C.: Lichttechnische Tests an derzeitigen Xenon‐
sichtsystemen haben gezeigt, dass zwar jeder und Halogenlampenscheinwerfern, Technische Universität
47 Proband für sich einen Favoriten aus NIR- und Darmstadt, interner Bericht des Fachgebiets Lichttechnik,
2007.
FIR-Systemen ermitteln kann, die Gesamtheit der
[9] Schiller, C., Khanh, T.Q.: Psychologische Blendung mit Xe-
Probanden jedoch weder NIR- noch FIR-Systeme
48 bevorzugen. So bleibt es eine Philosophiefrage,
non‐ und Halogenscheinwerfer‐Autos ‐ Ergebnisse realer
Tests. Zeitschrift Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik (9)
welchen Sensoransatz Fahrzeughersteller in ihren (2008). Vieweg
49 Fahrzeugen anbieten wollen. [10] Schiller, C., Khanh, T.Q.: First Field Tests of Cars with Com-
pletely Built‐In LED headlamps under Realistic Driving Con-
Fahrversuche zu verschiedenen Bildschirmen
ditions. In: International Symposium on Automotive Ligh-
50 haben gezeigt, dass die Probanden Anzeigen außer- ting (ISAL), Technische Universität Darmstadt, S. 131–138.
halb ihres direkten Sichtbereichs bevorzugen und Utz Verlag, München (2007)
ihnen die Erkennbarkeit der Bildinhalte wichtiger [11] Schiller, C.: Lichttechnische Tests an ersten LED‐Schein-
51 ist als die Reduzierung der Akkommodation durch werfer‐Autos, Technische Universität Darmstadt, interner
Bericht des Fachgebietes Lichttechnik, 2007.
eine große Entfernung des Bildschirms.
[12] ECE R‐123: Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung
52 Die Fahrversuche zeigten aber auch deutlich, von adaptiven Frontbeleuchtungssystemen (AFS) für Kraft-
dass die heute verfügbaren Nachtsichtsysteme kaum fahrzeuge, Tag des Inkrafttretens: 2. Februar 2007.
Potenzial haben, Unfälle bei Nacht zu vermeiden:
53 Die Mehrbelastung durch eine zusätzliche visuelle
[13] Kalze, F.-J., Schmidt, C.: Dynamic Cut‐Off‐Line geometry
as the next step in forward lighting beyond AFS. In: In-
ternational Symposium on Automotive Lighting (ISAL),
Quelle während der eigentlichen Fahraufgabe bie-
54 tet dem Fahrer kaum eine Chance, die durch die
Technische Universität Darmstadt, S. 346–354. Utz Verlag,
München (2007)
Sensoren gewonnene Sichtverbesserung tatsächlich [14] Rosenhahn, E.-O.: AFS‐Frontlighting on the Basis of LED
55 zu nutzen. Light Sources. In: International Symposium on Automo-
tive Lighting (ISAL), Technische Universität Darmstadt, S.
Erst die Erkennung von Objekten und die auto-
80–87. Utz Verlag, München (2007)
matische Warnung des Fahrers geben dem System
56 das Potenzial, Unfälle zu vermeiden.
[15] Grimm, M., Casenave, S.: DBL: A Feature that adds Safety to
Night Time Traffic. In: International Symposium on Auto-
motive Lighting (ISAL), Technische Universität Darmstadt,
57 S. 355–363. Utz Verlag, München (2007)
Literatur [16] Sprute, J.H., Khanh, T.Q.: Approval Requirements for a
Front‐Lighting‐System with Variable Cut‐Off Line in Eu-
58 [1] Rumar, K.: Night traffic and the zero vision. In: Progress in
rope. In: International Symposium on Automotive Ligh-
ting (ISAL), Technische Universität Darmstadt, S. 31–37. Utz
Automobile Lighting (PAL), Technische Universität Darm-
Verlag, München (2007)
59 stadt, S. 849–858. Utz Verlag, München (2001)
[2] Langwieder, K., Bäumler, H.: Characteristics of Nighttime
[17] Kleinkes, M., Eichhorn, K., Schiermeister, N.: LED technology
in headlamps ‐ extend lighting functions and new styling
Accidents. In: Progress in Automobile Lighting (PAL),
possibilities. In: International Symposium on Automotive
60 Technische Universität Darmstadt, S. 326–339. Utz Verlag,
München (1997)
Lighting (ISAL), Technische Universität Darmstadt, S. 55–
63. Utz Verlag, München (2007)
Literatur
839 44
[18] Schneider, D.: marking light‐ safety enhancement by mar-
king light systems and their technical implementation. In:
International Symposium on Automotive Lighting (ISAL),
Technische Universität Darmstadt, S. 320–326. Utz Verlag,
München (2011)
[19] Schneider, D.: Markierungslicht – eine Scheinwerfervertei-
lung zur Aufmerksamkeitssteuerung und Wahrnehmungs-
steigerung von Fahrzeugführern, Technische Universität
Darmstadt, Dissertation, 2011
[20] Totzauer, A.: Kalibrierung und Wahrnehmung von blend-
freiem LED‐Fernlicht, Technische Universität, Darmstadt,
Dissertation, 2013
[21] Kleinkes, M.: New automotive lighting technology: Benefit
or Mayfly? In: International Symposium on Automotive
Lighting (ISAL), Technische Universität Darmstadt, S. 361–
366. Utz Verlag, München (2013)
841 45

Einparkassistenz
Reiner Katzwinkel, Stefan Brosig, Frank Schroven, Richard Auer,
Michael Rohlfs, Gerald Eckert, Ulrich Wuttke, Frank Schwitters

45.1 Abstufungen der Einparkassistenz  –  842


45.2 Anforderungen an Einparkassistenzsysteme  –  842
45.3 Technische Realisierungen – 843
45.4 Ausblick – 849
Literatur – 849

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_45, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
842 Kapitel 45 • Einparkassistenz

41
Einparken ist für viele Fahrer eine langweilige oder
gar anstrengende Aufgabe: Es ist zunächst erforder-
lich, eine für das Fahrzeug passende Parklücke zu
- Semiautomatisches Einparken: Durch diese
Systeme wird dem Fahrzeugführer eine Fahr-
zeugführungskomponente, üblicherweise die
42 finden, um unnötige Fehlversuche zu vermeiden. Querführung, abgenommen und er steuert
Anschließend muss das Fahrzeug – teils unter Beob- lediglich die Längsführung mittels Gas- und
43
44
achtung – in mitunter unbekannter Umgebung bei
minimaler Beeinflussung des restlichen Verkehrs
zügig positioniert werden.
Einparkassistenzsysteme können dabei helfen,
- Bremspedal (▶ Abschn. 45.3.3).
Vollautomatische Einparksysteme: Hierbei
wird die gesamte Fahrzeugführung vom
Assistenzsystem übernommen. Diese Systeme
schneller einen passenden Parkplatz zu finden und befinden sich zurzeit noch im Forschungs-
45 das Fahrzeug sicher und stringent hineinzuführen [6]. oder Vorentwicklungsstadium.

46 45.1 Abstufungen 45.2 Anforderungen


der Einparkassistenz an Einparkassistenzsysteme
47
Zur Unterstützung des Fahrers beim Einparken Abhängig von der Systemausprägung und dem
sind viele verschiedene Ausprägungen möglich Grad der Unterstützung entstehen unterschiedli-
48 und teilweise bereits in Serienfahrzeugen verfüg- che Anforderungen an Sensorik sowie Algorithmik
bar. Eine Schwierigkeit beim Einparken ist das der Einparkassistenten [3, 9]. In erster Linie muss
49 Abschätzen der Fahrzeuggeometrie im Front- das System benutzbar, d. h. alltagstauglich sein.
und Heckbereich. Aerodynamische Anforderun- Dies bedeutet, es muss eine verständliche Schnitt-
50 gen sowie designbedingte Gestaltungen, insbe- stelle zum Benutzer bieten und zudem in realen
sondere von Säulen und Fensterflächen, können Situationen (z. B. versetzt geparkte Fahrzeuge,
die Übersichtlichkeit einschränken. Um dies zu Parken zwischen Mülltonnen) funktionieren. Bei
51 kompensieren, bestanden erste Einparkhilfen aus Systemen, die Parklücken vermessen, sollte die ma-
Peilstäben, die bei Limousinen jeweils links und ximale Vorbeifahrgeschwindigkeit nicht zu niedrig
52 rechts an den hinteren Fahrzeugecken bei Einle- sein [2].
gen des Rückwärtsgangs automatisch ausgefahren
wurden. Hinsichtlich der Umfeldsensorik lassen sich allge-

-
53 mein folgende Anforderungen formulieren:
Alle nachfolgend entwickelten Assistenzsysteme hohe Robustheit gegenüber Umwelteinflüssen
54 zum Einparken beruhen auf Daten von Umfeld-
sensoren. Diese Systeme lassen sich in folgende Ka-
- (Niederschlag, Verschmutzung)
hohe Auflösung und Genauigkeit der Ab-
55
-
tegorien einteilen:
Informierende Einparkassistenzsysteme:
Hierzu gehören Systeme, die den Abstand zu
-
stands- bzw. Parklückenvermessung (hohe
Erkennungsrate von möglichen Parklücken)
keine Ausgabe von Scheinlücken (z. B. Stra-

--
56 Objekten in Längsrichtung mitteilen, sowie ßenkreuzungen oder Einfahrten)
solche zur reinen Parklückenvermessung mit geringer Signalverzug
57 Ausgabe eines Kompatibilitätsgrades (siehe geringe Gesamtkosten (z. B. durch Aufbau auf

58 - ▶ Abschn. 45.3.1).
Geführte Einparkassistenz: Hierbei werden die
Umfeldinformationen bewertet und konkrete
Handlungsempfehlungen gegeben. Dazu
- vorhandener Sensorik)
geringer Bauraumbedarf

Bei geführtem und semiautomatischem Einparken


59 zählen Rückfahrkameras mit eingeblendeten sind insbesondere folgende Aspekte zu berücksich-

60
Hilfslinien oder Einparkassistenten, die Lenk-
manöver vorschlagen (▶ Abschn. 45.3.2).
-
tigen:
Die vom Parksystem vorgeschlagene bzw. ab-
gefahrene Trajektorie sollte der eines mensch-
45.3  •  Technische Realisierungen
843 45
.. Abb. 45.1  Beispiel einer Einparkhilfe mit 2D-
Sicht auf Fahrzeug und Hindernisse

lichen Fahrers ähneln, um die Akzeptanz des können zur leichteren Unterscheidung vorn und

- Systems zu erhöhen.
Die Einparktrajektorie muss kollisionsfrei sein.
Der Fahrer ist bei manueller Längsführung vor
hinten unterschiedlich gewählt werden. Darüber hi-
naus kann die akustische Ausgabe richtungsselektiv
erfolgen, sodass der Fahrer sofort zuordnen kann,

- Objekten zu warnen.
adäquate Parkposition (Winkellage und
Abstand bezüglich Bordstein, Abstand zu
für welchen Bereich des Fahrzeugs die Abstands-
information gültig ist. Die akustische Ausgabe der
Abstandsinformation kann um eine optische Aus-

-- Objekten im direkten Umfeld)


kurze Einparkdauer
einfache Bedienung, verständliche Mensch-
Maschine-Schnittstelle
gabe erweitert werden. Dabei sind dezentrale Dar-
stellungen (z. B. an den A-Säulen und im hinteren
Bereich des Dachhimmels) oder zentrale Anzeigen
(z. B. im Display des Navigationsgeräts) möglich
(. Abb. 45.1).
Ultraschallsensoren sind für die beschriebene
45.3 Technische Realisierungen Funktion gut geeignet und sorgen für geringe Sys-
temkosten. Ihre Empfindlichkeit gegenüber Wind
Im Folgenden werden die in ▶ Abschn. 45.1 genann- spielt eine untergeordnete Rolle, da ihr Einsatz hier-
ten Abstufungen der Einparkassistenz mit ihren Va- bei auf geringe Geschwindigkeiten begrenzt bleibt
rianten erläutert. Dabei wird insbesondere auf die [5].
Unterschiede und Besonderheiten der einzelnen Alternativ werden in einigen Fahrzeugen anstelle
Ausprägungen eingegangen. der Ultraschallsensoren Short-Range-Radar­sen­so­
ren (siehe ▶ Kap.  17) eingesetzt. Diese bringen den
Vorteil mit sich, dass sie völlig designneutral ein-
45.3.1 Informierende gesetzt werden können. Sie lassen sich unsichtbar
Einparkassistenzsysteme hinter Stoßfängerverkleidungen oder Leuchten ein-
bauen [17]. Allerdings sind diese Sensoren wesent-
Das am weitesten verbreitete Einparkassistenzsys- lich teurer als Ultraschallsensoren und werden daher
tem ist die ultraschallbasierte Einparkhilfe. Diese meist in Verbindung mit weiteren Funktionen (z. B.
ermittelt mit jeweils bis zu sechs Ultraschallsenso- ACC Stop & Go) verwendet. Die Ultra-Wide-Band-
ren (siehe ▶ Kap.  16) an Fahrzeugfront und -heck Radarsensoren (UWB) verwenden dabei ein breites
den Abstand zu umgebenden Objekten. Der Ab- Frequenzband, das für eine hohe Entfernungsauf-
stand wird hierbei meist akustisch durch einen lösung sorgt. Dieses Frequenzband ist jedoch in-
Intervallton mitgeteilt. Dabei sinkt der zeitliche zwischen zulassungsbeschränkt (Zulassungsgrenze
Abstand zwischen den Tönen mit kleiner werden- 30. Juni 2013) und mit einer Penetrationsrate von
dem Abstand. Die Frequenzen für die Tonausgabe maximal 7 % pro europäisches Land versehen [17].
844 Kapitel 45 • Einparkassistenz

.. Abb. 45.2  Area-View (Vogelperspektive) als


41 Vollbilddarstellung

42
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44
45
46 Ebenfalls zu den informierenden Einparkassis- 45.3.2 Geführte Einparkassistenz
tenzsystemen gehören solche, die Längsparklücken
47 während der Vorbeifahrt vermessen und dem Fah- Zwar geben auch die beschriebenen informierenden
rer die Eignung als Parkplatz anzeigen. Dabei sind Systeme implizite Handlungsanweisungen („weiter
binäre Ausgaben („Parklücke ausreichend groß“, zurücksetzen“ bzw. „vorwärts fahren“, „Einparkver-
48 „Parklücke zu klein“) oder auch Schwierigkeits- such sinnvoll“), allerdings beschränken sich diese
grade des Parkiervorgangs (z. B. „leicht“, „normal“, auf die Grenzen des Einparkmanövers und lassen
49 „schwierig“) möglich. Ein wichtiger Akzeptanzfak- den zentralen Teil, die Einfahrt in die Parklücke,
tor bei solchen Systemen ist die Genauigkeit der unberücksichtigt.
50 Vermessung sowie die maximale Vorbeifahrge- Darüber hinausgehende Informationen geben
schwindigkeit. Diese nimmt üblicherweise Werte Rückfahrkamerasysteme (siehe auch ▶ Kap.  20),
zwischen 15 und 30 km/h an. Darüber hinaus soll- die neben dem Bild der Umgebung Hilfslinien ein-
51 ten Lücken, die keinen Parkraum darstellen (Ein- blenden. Hierfür ist es notwendig, einen möglichst
fahrten, Einmündungen), nicht bewertet werden. breiten Bereich hinter dem Fahrzeug erfassen zu
52 Neben den explizit informationsgebenden Ein- können. Dies erfordert Weitwinkelobjektive, die
parksystemen zeigen sogenannte „Area View“-Sys- jedoch stark verzerrte Bilder liefern. Deshalb sollte
teme – „Top View“ oder auch „Bird View“ genannt eine nachgelagerte Bildverarbeitung die Bilder ent-
53 – Bilder rund um das Fahrzeug live in das Cockpit zerren und der menschlichen Wahrnehmung an-
aus der Vogelperspektive (siehe . Abb.  45.2). Der passen. . Abbildung 45.4 zeigt ein Kamerarohbild
54 Fahrer kann dadurch die nahe Umgebung exzel- sowie dessen entzerrte Variante.
lent einsehen und sich mit dem Fahrzeug besser Mit Systemen, die Hilfslinien einblenden, kann
55 orientieren. Die Rundumsicht wird über vier Ka- sowohl das Parken in Längs- als auch Querparklü-
meras – verbaut in Front, Heck und in den meis- cken erleichtert werden. Ohne Bildverarbeitung, die
ten Fällen in den Seitenspiegeln – gewährleistet. im Kamerabild Parklücken erkennt, ist es sinnvoll,
56 . Abbildung  45.3, oben zeigt die Möglichkeit über den Fahrer wählen zu lassen, welche Art von Park-
die Frontkamera den Sichtbereich des Fahrers auf lücken gerade vorliegt. Im Fall von Querparklücken
57 querenden Verkehr zu erweitern. Heck- und Front- können die verlängerte und leicht verbreiterte Fahr-
kamera können beispielsweise bei schwierigen Ma- zeugkontur sowie ein prädizierter Fahrschlauch an-
növern wie Ankuppeln und Rangieren mit einem gezeigt werden (. Abb. 45.5). Für Längsparklücken
58 Anhänger oder beim Fahren in schwer befahrbarem können der Platzbedarf in Form von markierten
Gelände unterstützen (. Abb. 45.3 (mitte & unten)). Feldern sowie Hilfslinien, mit denen der Umlenk-
59 punkt ermittelt werden kann, eingeblendet werden
(. Abb.  45.6). Durch Betätigung des Blinkers zu
60 einer Seite werden die Einblendungen auf der ent-
sprechend anderen Seite deaktiviert. Beim Einfah-
45.3  •  Technische Realisierungen
845 45

.. Abb. 45.3  Beispielansichten Area View, Querverkehr (oben), Gelände (mittig), Anhängerunterstützung (unten)

ren in die Parklücke ist der Umlenkpunkt erreicht, ber hinaus entsteht eine Kopplung von Sonderaus-
sobald sich die Hilfslinie an den Bordstein oder eine stattungsmerkmalen, da die Rückfahrkamera ohne
andere seitliche Parklückenbegrenzung anschmiegt. Anzeigemöglichkeit nicht eingesetzt werden kann.
Der Einbauort der Rückfahrkamera muss der-
art gewählt werden, dass sie das Design des Fahr- Einen noch höheren Grad der Assistenz erreicht
zeugs nicht beeinflusst. . Abbildung 45.7 zeigt eine man, wenn man dem Fahrer konkrete Handlungs-
mögliche Realisierung. Dabei wird die Kamera ne- anweisungen für die Fahrzeugführung gibt. Dazu
ben der Griffmulde zum Öffnen der Heckklappe
montiert. Dieser Einbauort hat den Vorteil, dass
--
sind folgende Schritte notwendig:
Vermessung von Parklücken
beim Anhängerbetrieb die Kamera den Kugelkopf
der Kupplung im Bild hat und das System so zum
Ankuppeln eines parkenden Anhängers verwendet
werden kann. Die Hilfslinien werden beim An-
-- Trajektorienplanung
fortlaufende Positionsbestimmung
Fahrerhandlungen anzeigen

hängerbetrieb aufgrund unbekannter Geometrie Bei der Trajektorienplanung ist eine Trennung zwi-
und Kinematik des Gespanns sowie bei geöffneter schen Längs- und Querführung sinnvoll, damit
Heckklappe ausgeblendet. Rückfahrkamerasysteme dem Fahrer noch Ressourcen zur Umfeldüber-
bieten dem Nutzer einen intuitiven Zugang, haben wachung bleiben. Das bedeutet, dass sich die zu
jedoch bei Darstellung auf einem Display (z. B. dem planende Trajektorie aus Geraden und Kreisbö-
des Navigationssystems) den Nachteil, dass für den gen zusammensetzen sollte. Diese können durch
Blick des Fahrers ein weiterer Fokus geschaffen wird, Fahrt mit konstantem Lenkradwinkel und durch
da es weiterhin erforderlich ist, das Umfeld wie ge- Lenken im Stand realisiert werden [9]. Dabei ist es
wohnt zu beobachten (gleicher Sinneskanal). Darü- insbesondere bei Systemen mit einmaliger Trajek-
846 Kapitel 45 • Einparkassistenz

41
42
43
44
45 .. Abb. 45.4  Bild einer Rückfahrkamera, verzerrt (links) und entzerrt (rechts)

.. Abb. 45.5  Statische und dynamische Hilfsli-

46 nien (Fahrschlauchprädiktion) zum Einparken in


Querparklücken

47
48
49
50
51 torienplanung (ohne Aktualisierung während des rückgelegte Wegstrecke berechnet wird. Insbeson-
Einparkvorgangs) wichtig, Fahrerreaktionszeiten zu dere Unterschiede an der zur Odometrie genutzten
52 berücksichtigen. Beispiele zur Trajektorienplanung Achse sind von Nachteil. Folgende Aspekte können
finden sich bei [8, 10]. zu Schwankungen des Reifenabrollumfangs führen
und müssen durch geeignete Maßnahmen kom-

--
53 Für die Anzeige von adäquaten Fahrerhandlungen pensiert werden [14]:
ist es notwendig, die Position des eigenen Fahr- Fertigungstoleranz der Reifen
54 zeugs relativ zur Parklücke und auf der geplanten
Bahn möglichst exakt bestimmen zu können. Da-
-- Reifenabnutzung
Unterschied zwischen Sommer-/Winterreifen
55
56
bei ist es grundsätzlich möglich, sich anhand von
künstlichen oder natürlichen Referenzpunkten in
der Umgebung (externe Methode) oder mittels
fahrzeuginterner Größen (interne Methode) zu lo-
- Streubreite der freigegebenen Reifengrößen
Nachgerüstete Reifen (andere Größen)

Für eine bessere Qualität der Lokalisierung werden


kalisieren. Aufgrund der dynamischen und teils un- selten rein odometrische Verfahren verwendet. An
57 strukturierten Umgebung sind externe Methoden weiteren internen Fahrzeuggrößen stehen beispiels-
weniger geeignet [8]. Die so genannte Odometrie weise der Lenkradwinkel und die Gierrate sowie ge-
(auch: Hodometrie) stützt sich auf die Beobachtung messene Beschleunigungen zur Verfügung. Diese
58 der Räder. Dabei wird normalerweise die nicht- Größen können zusammen mit den Raddrehzahlen
angetriebene Achse herangezogen, da hier nur bzw. -impulsen mittels erweitertem Kalmanfilter fu-
59 minimaler Antriebsschlupf auftritt. Für die Odo- sioniert werden (siehe ▶ Kap. 24). Durch die geringe
metrie ist neben der Fahrzeugbewegungsrichtung Fahrgeschwindigkeit beim Parken kann das Fahr-
60 der reale Reifenabrollumfang von fundamentaler zeugverhalten näherungsweise durch ein Einspur-
Bedeutung, da mit ihm die pro Radumdrehung zu- modell abgebildet werden [9].
45.3  •  Technische Realisierungen
847 45
.. Abb. 45.6 Darstellung
von Parkraumbedarf sowie
Hilfslinien zur Bestimmung des
Umlenkpunkts bei Parallel-
parklücken (ohne Overlay des
Kamerabildes)

Folgende Informationen sollten dem Fahrer bei ei- einer berechneten Bahn erreichen kann, wird das

--
nem geführten Einparksystem gemeldet werden [6]:
Solllenkwinkel bzw. Lenkwinkeldifferenz
Fahrzeug bei manueller Längsregelung automatisch
auf dieser geführt. Über die Möglichkeit zur Ver-

--
Fahrtrichtung
Stopp-Punkte
Ende des Einparkvorgangs
messung von Parklücken, Trajektorienplanung und
Anzeige von Fahrerhandlungen ist es dann erforder-
lich, Einfluss auf die Lenkung nehmen zu können.
Dies ist durch eine elektromechanische Servolen-
Im Gegensatz zu Rückfahrkamerasystemen werden kung (siehe ▶ Kap.  32) oder aber eine um einen
dadurch nur geringe Anforderungen an die darstel- Elektromotor erweiterte konventionelle Lenkung
lenden Einrichtungen gestellt. Die oben genannten möglich, wobei letztgenannte Lösung zu erhöhten
Größen können auch auf einem monochromen Dis- Systemkosten führt.
play angezeigt werden [6]. Gleichermaßen ist eine Für solche Eingriffe in die Lenkanlage macht die
hochwertigere Anzeige in Anlehnung an . Abb. 45.1 ECE-Regelung 79 genaue Vorgaben [4, S. 20]:
möglich (siehe auch ▶ Kap. 36). Zur Einstellung des „Sie [Anm.: Fahrerassistenz-Lenkanlagen]
Solllenkwinkels gibt es verschiedene Möglichkeiten müssen außerdem so konstruiert sein, dass der
der Anzeige. Werden dem Fahrer sowohl Ist- als Fahrzeugführer die Funktion jederzeit durch einen
auch Solllenkwinkel angezeigt, so muss er den Re- bewussten Eingriff übersteuern kann. Sobald die
gelfehler selbst bilden und es ergibt sich die Aufgabe automatische Lenkfunktion einsatzbereit ist, muss
einer Folgeregelung. Wird lediglich die Abweichung dies dem Fahrzeugführer angezeigt werden, und
angezeigt, handelt es sich um eine Kompensations- die Steuerung muss automatisch ausgeschaltet wer-
regelung [12]. Bei der Folgeregelung erzielen Fahrer den, wenn die Fahrzeuggeschwindigkeit den einge-
üblicherweise bessere Ergebnisse [9]. stellten Grenzwert von 10 km/h um mehr als 20 %
überschreitet oder die auszuwertenden Signale nicht
mehr empfangen werden. Bei Beendigung der Steu-
45.3.3 Semiautomatisches Einparken erung muss der Fahrzeugführer jedes Mal durch ein
kurzes, aber charakteristisches optisches Signal und
Bei semiautomatischen Einparksystemen – auch entweder ein akustisches oder ein fühlbares Signal
teil- oder halbautomatisch genannt – wird der an der Betätigungseinrichtung der Lenkanlage ge-
Fahrer von einer Fahrzeugführungsrichtung, üb- warnt werden.“
licherweise der Querregelung, entbunden. Anstatt Im Vergleich zu Systemen zum geführten
dem Fahrer anzuzeigen, wie er eine Parklücke auf Einparken müssen keine Hinweise bezüglich des
848 Kapitel 45 • Einparkassistenz

.. Abb. 45.7  Beispielhafter Ein-


41 bauort einer Rückfahrkamera

42
43
44
45 .. Abb. 45.8  Beispiel einer Mensch-Maschine-
Schnittstelle für ein semiautomatisches Einpark-

46
system, Bedeutung (von links): keine Parklücke,
Parklücke erkannt, Rückwärtsgang einlegen,
Fahrzeug lenkt selbstständig

47
48 Solllenkwinkels gegeben werden. Hinzu kommen nenten. Diese wird normalerweise über einen CAN-
jedoch Statusmeldungen über Lenkeingriffe. Insge- Bus realisiert. Die relevanten Bauteile sind beispiel-
49 samt ergeben sich damit keine stark abweichenden
Anforderungen an eine Mensch-Maschine-Schnitt-
-
haft für die in [14] beschriebene Realisierung:
Steuergerät des Einparksystems (Implementie-
50 stelle. . Abbildung 45.8 zeigt eine Möglichkeit der
Gestaltung, die der ECE-Regelung entspricht. Die
automatische Querregelung des Fahrzeugs erlaubt -- rung der Funktion)
Taster zum Aktivieren des Systems
Drehzahlsensoren für alle Räder (Positionsbe-

--
51 es dem Fahrer, sich auf die Überwachung des Um- stimmung)
felds zu konzentrieren, da die Bedienung von Gas- Lenkwinkelsensor (Positionsbestimmung)
52 und Bremspedal keiner besonderen Beobachtung Längs- und Querbeschleunigungssensoren
bedarf. Durch die automatische Querführung erge-
ben sich weitere Freiheiten bezüglich der geplanten
- (Positionsbestimmung)
Ultraschallsensoren, seitlich (Parklückenver-

-
53 Einparktrajektorie, da diese nicht länger auf Gera- messung)
den und Kreisbögen beschränkt bleiben muss (vgl. Ultraschallsensoren vorne/hinten (Abstands-
54 ▶ Abschn. 45.3.2).
Die meisten semiautomatischen Einparksys-
- messung zu Objekten)
Blinklichtschalter (Auswahl der Parklücken-
55 teme basieren auf Daten von Kamera- oder Ult-
raschallsensoren. Optische Systeme zeigen dabei
--seite)
Steuergerät für Anhängererkennung

56
57
wechselnde Leistungsfähigkeit, die vor allem von
der Beleuchtungs- und Witterungssituation ab-
hängt. Im Vergleich zu ultraschallbasierten Syste-
men ist mit einer höheren Empfindlichkeit gegen-
--
Warnsummer der Einparkhilfe
Elektromechanische Lenkung (Querregelung)
Steuergerät der Bremse (Geschwindigkeitsin-
formation)
über Verschmutzung und stark eingeschränkter
Verfügbarkeit bei Dunkelheit zu rechnen [1, 5], Semiautomatische Einparksysteme befinden sich
58 wenn von Systemen mit Zusatzbeleuchtung (z. B. bereits seit 2007 im Serieneinsatz [11, 14]. Konnte
Infrarot) abgesehen wird. Parkraumerkennungen der Fahrer am Anfang der Entwicklung nur ein-
59 aufgrund von Markierungen bei Schnee sind nur zügig rückwärts eine Längsparklücke erreichen,
bedingt möglich [15]. so sind bei den heutigen Einparksystemen Quer-
60 Semiautomatische Einparksysteme erfordern parklücken – Parklücken, die Quer zur Fahrtrich-
intensive Kommunikation vieler beteiligter Kompo- tung liegen – auch keine Herausforderung mehr.
Literatur
849 45

Die Einparkfunktionen wurden und werden von zeug) aktiviert und den Knopf oder das Touchpad
der Automobilindustrie stetig weiterentwickelt. gedrückt halten muss, da der Vorgang andernfalls
Inzwischen können sowohl Längs- als auch Quer- abgebrochen wird und das Fahrzeug stehen bleibt
parklücken mehrzügig angefahren werden. Somit (Totmannschaltung) [18].
stehen dem Fahrer noch engere Parklücken für das Neben den teilautomatischen Parkfunktionen,
semiautomatische Einparken zur Verfügung. Eine die immer noch eine Überwachung des Fahrers vo-
Erweiterung auf das Vorwärtseinparken auf Quer- raussetzen, wäre auch eine automatische Bereitstel-
parklücken findet man ebenfalls in Fahrzeugen im lung in Zukunft denkbar. Ein Szenario könnte sein,
Markt. Ein wichtiger Schritt hin zum vollautomati- dass der Fahrer sein Fahrzeug an einer definier-
schen Einparken wurde bereits durch die Einfüh- ten Übergabestelle abgibt und das Fahrzeug dann
rung einer automatischen Notbremse erreicht, die vollautomatisch zu einem freien Parkplatz fährt
in kritischen Situationen vor einem Hindernis ak- und sich dort abstellt oder einparkt. Die Abholung
tiviert wird [7, 18]. Auch die Grundfunktionen des des Fahrzeugs erfolgt auf gleichem Wege über die
semiautomatischen Einparkens wurden durch den vordefinierte Übergabestelle, in dem das Fahrzeug
Einsatz einer neuen sogenannten Umfeldkarte – die wieder vollautomatisch zur Übergabestelle fährt.
beispielsweise mehrere Sensoren auswertet und zu Voraussetzung für eine automatische Bereitstellung
einer Karte fusioniert – weiter verbessert. und damit eine vollautomatische Fahrt sind zum
Beispiel hochgenaue Karten, die die Umgebung
hinreichend beschreibt (vgl. ▶ Kap. 27 und 6).
45.4 Ausblick

Bereits im Jahr 1990 wurde ein automatisch ein- Literatur


parkendes Fahrzeug präsentiert [16], und die In-
frastruktur in heutigen Fahrzeugen (elektronisch [1] Bloch, A.: Parkautomat. Auto, Motor und Sport 10, 50–52
(2006)
beeinflussbarer Motor, Bremse und Lenkung) er-
[2] Blumenstock, K.U.: Platz da? Vergleich von fünf Einpark‐As-
möglicht eine umfangreiche Ansteuerung. Trotz- sistenten. Auto, Motor und Sport 13 (2007)
dem gibt es bis heute keine vollautomatischen [3] Brandenburger, S.: Semiautomatische Parkassistenten –
Einparkassistenzsysteme im Serieneinsatz sondern Einparken in allen Lebenslagen. In: Tagungsband zum 8.
lediglich als Forschungsprojekte [13]. Abgesehen Braunschweiger Symposium Automatisierungs‐, Assistenz‐
und eingebettete Systeme für Transportmittel, S. 154–159.
von einer Kopplung an ein Automatikgetriebe er-
GZVB, Braunschweig (2007)
schweren Bedenken bezüglich der Produkthaftung [4] ECE‐Regelung 79 Rev. 2, 20. Januar 2006. Einheitliche Be-
einen Serieneinsatz vollautomatischer Einparksys- dingungen für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsicht-
teme, da der Fahrer völlig von der Fahrzeugfüh- lich der Lenkanlage
rung entbunden ist und das Fahrzeug allein auf [5] Pruckner, A., Gensler, F., Meitinger, K.-H., Gräf, H., Spannhei-
mer, H., Gresser, K.: Der Parkassistent Fortschritt‐Berichte
alle auch unvorhergesehenen Situationen adäquat
VDI Reihe 12, Bd. 525. VDI Verlag, Düsseldorf (2003)
und vor allem sicher reagieren muss. So wäre beim [6] Keßler, M.; Mangin, B.: Nutzerorientierte Auslegung von
Rückwärtseinparken in Längsparklücken eine Be- teilautomatisierten Einparkassistenzsystemen. In: Ta-
obachtung des Gegenverkehrs notwendig, da das gungsband zur 4. VDI‐Tagung Fahrer im 21. Jahrhundert,
Fahrzeug beim Einparken ausschwenkt. Heutige Braunschweig, (2007)
[7] Knoll, P.: Prädiktive Fahrerassistenz – Vom Komfortsystem
Sensorik ist der menschlichen Wahrnehmungs-
zur aktiven Unfallvermeidung. In: Automobiltechnische
fähigkeit in solchen Situationen jedoch deutlich Zeitung, 107: S. 230–237, (2005)
unterlegen [5]. Denkbar sind Systeme, bei denen [8] Kochem, M.: Parkassistent. In: Isermann, R. (Hrsg.) Fahrdy-
der Fahrer den Einparkvorgang aktiv überwachen namik‐Regelung – Modellbildung, Fahrerassistenzsysteme,
muss. Dies könnte mit einer Sicherheitsschaltung Mechatronik. Vieweg & Sohn, Wiesbaden (2006)
[9] Lee, W.; Uhler, W.; Bertram, T.: Analyse des Parkverhaltens
realisiert werden, die es erfordert, dass der Fahrer
und Auslegung eines semiautonomen Parkassistenzsys-
den Einparkvorgang mit einem Knopfdruck (z. B. tems. In: Tagungsband zur 21. Internationale VDI/VW‐Ge­
an der Fernbedienung der Zentralverriegelung, mein­schafts­tagung Integrierte Sicherheit und Fahrerassis-
über eine Smartphone-Applikation oder im Fahr- tenzsysteme, Wolfsburg, (2004)
850 Kapitel 45 • Einparkassistenz

[10] Müller,  B.; Deutscher,  J.; Grodde,  S.; Giesen,  S.; Rop-
41 penecker,  G.: Universelle Bahnplanung für das automa-
tische Einparken. In: Automobiltechnische Zeitung, 109:
S. 66–71, (2001)
42 [11] Nunn, P.: Toyota Prius mit Einpark‐Automatik. Auto, Motor
und Sport 21, (2003)
[12] Sander, M.S., McCormick, E.: Human Factors in Engineering
43 and Design, 6. Aufl. McGraw‐Hill, New York (1987)
[13] Schanz, A.: Fahrerassistenz zum automatischen Einparken
Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12. VDI, Düsseldorf (2005)
44 [14] Schöning, V.; Katzwinkel, R.; Wuttke, U.; Schwitters, F.; Roh-
lfs, M.; Schuler, T.: Der Parklenkassistent „Park Assist“ von

45 Volkswagen. In: Tagungsband zur 22. Internationalen VDI/


VW‐Gemeinschaftstagung Integrierte Sicherheit und Fah-
rerassistenzsysteme, Wolfsburg, (2006)

46 [15] Schulze, K.; Sachse, M.; Wehner, U.: Automatisierte Park-


raumerkennung mit einer Rückfahrkamera. In: Tagungs-
band zur Elektronik im Kraftfahrzeug, Baden‐Baden, (2007)
47 [16] Walzer, P.; Grove, H.‐W.: IRVW Futura – The Volkswagen Re-
search Car. SAE Technical Paper Series, 901751, (1990)
[17] Weber, R.; Kost, N.: 24‐GHz‐Radarsensoren für Fahrerassis-
48 tenzsysteme. In: Automobiltechnische Zeitung elektronik,
2: S. 16–22, (2006)
[18] Schwitters, F; Brosig, S.; Eckert, G.; Katzwinkel, R.: Betrach-
49 tung von teilautomatischen Fahrfunktionen im Span-
nungsfeld von Kundennutzen, technischer Machbarkeit
und rechtlichen Rahmenbedingungen. In: Tagungsband
50 zur Elektronik im Kraftfahrzeug, Baden‐Baden, (2013)

51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
851 46

Adaptive Cruise Control


Hermann Winner, Michael Schopper

46.1 Einleitung – 852
46.2 Rückblick auf die Entwicklung von ACC  –  852
46.3 Anforderungen – 854
46.4 Systemstruktur – 855
46.5 ACC-Zustandsmanagement und Mensch-
Maschine-Schnittstelle – 857
46.6 Zielobjekterkennung für ACC   –  861
46.7 Zielauswahl – 867
46.8 Folgeregelung – 872
46.9 Zielverluststrategien und Kurvenregelung  –  875
46.10 Längsregelung und Aktorik  –  878
46.11 Nutzungs- und Sicherheitsphilosophie  –  883
46.12 Sicherheitskonzept – 884
46.13 Nutzer- und Akzeptanzstudien  –  885
46.14 Ausblick – 889
Literatur – 890

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_46, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
852 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

46.1 Einleitung Obwohl in der Norm ISO 15622 noch offen


41 gelassen ist, ob die Bremse zur Regelung eingesetzt
Mit Adaptive Cruise Control, abgekürzt ACC, wird wird, hat sich mittlerweile der Einsatz der Bremse
42 eine Fahrgeschwindigkeitsregelung bezeichnet, die zur Erhöhung der Verzögerungsfähigkeit als fakti-
sich an die Verkehrssituation anpasst. Synonyme scher Standard etabliert. Der angemessene Folgeab-
Bezeichnungen sind Aktive Geschwindigkeitsre- stand, der in dieser Norm erwähnt ist, wird im Wei-
43 gelung, Automatische Distanzregelung oder Ab- teren über die Zeitlücke τ, die oft umgangssprachlich
standsregeltempomat. Im englischen Sprachraum Sekundenabstand genannt wird, definiert:
44 finden sich die weiteren Bezeichnungen Active Time gap τ : “Time interval for travelling a dis-
Cruise Control, Automatic Cruise Control oder Au- tance, which is the clearance d between consecutive
45 tonomous Intelligent Cruise Control. Als marken- vehicles. Time gap is related to vehicle speed v and
geschützte Bezeichnungen sind Distronic und Au- clearance d by: τ = d/v.”
tomatische Distanz-Regelung (ADR) eingetragen. Die Verwendung des zeitlichen anstelle des
46 Als internationale Referenz stehen die Nor- räumlichen Bezugs folgt der Grundüberlegung,
men ISO 15622 (Transport information and con- dass für ein Folgen der sich aus der Reaktionsdauer
47 trol systems – Adaptive Cruise Control systems ergebende Relativweg ausreicht, um eine Kollision
– Performance requirements and test procedures) mit dem vorausfahrenden Fahrzeug zu vermeiden,
[1] und ISO 22179 (Intelligent transport systems wobei eine zum vorausfahrenden Fahrzeug mindes-
48 – Full speed range adaptive cruise control (FSRA) tens gleichwertige Verzögerungsfähigkeit vorausge-
systems – Performance requirements and test pro- setzt wird. Somit lässt sich bei Vorhandensein eines
49 cedures) [2] zur Verfügung, wobei die erste die zu- vorausfahrenden, langsamer als mit der eigenen
erst eingeführte, oft als Standard-ACC bezeichnete Wunschgeschwindigkeit fahrenden Fahrzeugs die
50 Funktionalität definiert, während die zweite eine Regelaufgabe von ACC auf die Anpassung der ei-
Erweiterung der Funktionalität für den niedrigen genen Geschwindigkeit an die des vorausfahrenden
Geschwindigkeitsbereich beschreibt, die als Full- ergänzt um die Einhaltung eines Abstands, der eine
51 Speed-Range-ACC bezeichnet wird. konstante Reaktionszeit gewährleistet, definieren.
In ISO 15622 [1] wird die ACC-Funktion wie Sobald das Zielobjekt den unmittelbaren Fahr-
52 folgt beschrieben: korridor verlässt und kein anderes als Zielobjekt
“An enhancement to conventional cruise control bestimmt wird, nimmt ACC ohne weitere Aktion
systems, which allows the subject vehicle to follow a des Fahrers die Regelung der Sollgeschwindigkeit
53 forward vehicle at an appropriate distance by cont- wieder auf (. Abb. 46.1 unten).
rolling the engine and/or power train and potentially
54 the brake.”
ACC leitet sich von der schon lange bekannten 46.2 Rückblick auf die Entwicklung
von ACC
55 und in Nordamerika und Japan sehr weit verbreite-
ten Fahrgeschwindigkeitsregelung ab, die im eng-
lischen Sprachraum als Cruise Control (abgekürzt Eine prototypische Darstellung dieser Funktion
56 CC) oder im deutschen Sprachraum verbreitet als wurde erstmals 1981 in [3] dokumentiert. Sie war
Tempomat bezeichnet wird. Deren Funktionalität Folge eines in den siebziger Jahren durchgeführten
57 des Regelns auf eine vom Fahrer gesetzte Wunsch- Forschungsprojekts, bei dem mehrere Firmen so-
geschwindigkeit vSet ist als Teilfunktion der ACC wohl in Zusammenarbeit als auch im Wettbewerb
enthalten (. Abb. 46.1 oben). Radar-Sensoren im damals technisch gerade mög-
58 Die Haupterweiterung bezieht sich auf die An- lichen Frequenzbereich von 35 GHz entwickelten.
passung der Fahrgeschwindigkeit an die Geschwin- Doch waren weder die technische Leistungsfähig-
59 digkeit des unmittelbar vorausfahrenden Fahrzeugs, keit noch die Baugröße oder die Herstellkosten
hier im Weiteren mit vto (to: target object, von ACC geeignet für eine Serienanwendung. Nach einer
60 als Zielobjekt für die Regelung ermitteltes Objekt) bis zum Ende der achtziger Jahre reichenden Pause
bezeichnet (. Abb. 46.1 Mitte). wurde durch das von 1986 bis 1994 laufende eu-
46.2  •  Rückblick auf die Entwicklung von ACC
853 46
.. Abb. 46.1  Situationsangepasster Wechsel
von Freifahrt zu Folgefahrt und zurück [Quelle:
BOSCH]

ropäische Projekt PROMETHEUS (= PROgramMe den befriedigen zu können. Dazu gehörte zwingend
for a European Traffic with Highest Efficiency and ein Bremseingriff, um den größeren Geschwindig-
Unprecedented Safety) die Entwicklung sowohl der keitsunterschieden auf den deutschen Autobahnen
Systemfunktionalität als auch der Sensorik stark Rechnung zu tragen, eine höhere Maximalsetzge-
stimuliert. Diesem Programm entstammt auch die schwindigkeit vSet,max und ein auch bei ungünstiger
Bezeichnung AICC (Autonomous Intelligent Cruise Witterung noch hoch verfügbarer mm-Wellen-
Control), die auch Titel eines so genannten Com- Radar-Sensor.
mon European Demonstrator Projekts war (CED5). Das erste System mit Bremseingriff und mm-
Zwei weitere Entwicklungen waren für die Wellen-Radar wurde in der Mercedes-Benz S-
Markteinführung von ACC sehr förderlich: der Klasse mit einem Radar der Firma A.D.C. einge-
durch die Emissionsgesetzgebung mit der Stufe führt. Danach folgten Systeme von Jaguar im XKR
EURO III notwendig gewordene E-Gas-Einbau mit einem Radarsensor von DELPHI und ein Jahr
und die Markteinführung von ESC. Mit ESC stand später von BMW im 7er Modell mit einer BOSCH-
insbesondere der Gierratensensor für die Kurven- Sensor&Control-Unit. Radarsensor-basierte ACC-
erkennung zur Verfügung (s. ▶ Abschn.  46.7.1), Systeme dominieren seitdem den europäischen
und durch den aktiven Bremsdruckaufbau konnte Markt, während in Japan noch eine längere Zeit
zusammen mit E-Gas oder dem Pendant der Die- Lidar-Sensoren (z. B. von Omron) eingesetzt wur-
selmotoren, der elektronischen Dieselregelung, die den. Für weitere Details zur Geschichte der ACC-
Geschwindigkeitsregelung fast ohne Mehrkosten Entwicklung bis 2003 wird auf den Tagungsbeitrag
realisiert werden. [6] verwiesen.
Trotz dieses Anschubs durch PROMETHEUS Obwohl es im Moment so aussieht, als wenn
oder die vorgenannten Faktoren wurden die ersten im Wettbewerb zwischen Lidar und Radar, der seit
Systeme außerhalb Europas eingeführt. Schon 1995 über zwanzig Jahren geführt wird, letzteres Prinzip
präsentierte Mitsubishi ACC im Modell Diamante gewonnen hat, so finden immer noch Entwicklun-
[4] und etwa ein Jahr später folgte Toyota. Beiden gen zum Lidar statt, die einen zukünftigen Einsatz
gemeinsam war der Verzicht auf einen Bremsein- erwarten lassen (s. Kapitel Lidar). Beide Prinzipien
griff und die Verwendung von Laserscanner-basier- sind für ACC grundsätzlich geeignet, auch wenn
ten Lidar-Sensoren. Während das bei Mitsubishi Unterschiede in Teilbereichen verbleiben.
eingesetzte System noch eher Vormusterstatus hatte, Der Markterfolg von ACC ist lange Zeit hinter
war das mit einem Lidar der Firma Denso [5] aus- den Erwartungen zurückgeblieben. Nachdem nun
gestattete Toyota-System ein echtes Seriensystem, ein großes Angebot zur Verfügung steht und die
das auch in größeren Stückzahlen verkauft wurde. Kosten erheblich gesenkt werden konnten, wird
In Europa musste man noch bis 1999 warten, bis auch ACC zu einem Massengeschäft. Dazu trägt
auch hier ACC zu kaufen war. Diese Systeme waren auch die erstmals seit 2005 in der Mercedes-Benz S-
deutlich aufwendiger, um den europäischen Kun- Klasse (W221) angebotene funktionale Erweiterung
854 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.2  Funktionsgrenzen FSR-ACC nach


41 ISO22179

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45
46
für die Nutzung im Stau erheblich bei, insbesondere
- Regelung mit der vom Fahrer erwarteten

-
im Bereich der oberen Fahrzeugklassen, die tradi- Dynamik
tionell eine hohe Ausstattung mit Automatikgetrie- Kolonnenstabilität der Regelung für den
47
-
ben besitzen. Fall des Folgens anderer ACC-Fahrzeuge
Hinreichende Beschleunigungsfähigkeit für
ein zügiges Mitschwimmen und Aufschlie-
48
-
46.3 Anforderungen ßen
Verzögerungsfähigkeit für den Großteil
49 46.3.1 Funktionsanforderungen der Folgefahrten (ca. 90 %) in fließendem

-
für Standard-ACC Verkehr
nach ISO 15622
50 Automatische Zielobjekterkennung bei
Annäherung oder Ein- und Ausscheren
Aus der in ▶ Abschn. 46.1 beschriebenen Funkti- vorausfahrender Fahrzeuge innerhalb eines
51 onsdefinition ergeben sich folgende funktionale definierten Abstandsbereichs, d. h. auch

52
--
Anforderungen:
Bei Freifahrt:
Konstantgeschwindigkeitsregelung mit -- Festlegen eines Zielsuchkorridors
Bei Annäherung:
Bei langsamer Annäherung zügig zum

-
hohem Regelkomfort, d. h. mit geringem Sollabstand regeln
53 Längsruck und ohne Schwingungen bei Bei schneller Annäherung vorhersehbarer
gleichzeitig hoher Regelgüte (ohne erkenn- Verzögerungsverlauf, der eine Einschätzung
54 bare Abweichungen von der Setzgeschwin- durch den Fahrer erleichtert, ob wegen

-
digkeit) unzureichender ACC-Verzögerung selbst
55
-
Geschwindigkeitsregelung mit Brems- eingegriffen werden muss
eingriff bei heruntergesetzter Wunschge- Bei „Eintauchen“, also bei Unterschreiten

56
-- schwindigkeit und bei Gefällefahrt
Bei Folgefahrt:
des Sollabstands, ein an dem Standardver-
halten von Fahrern orientiertes „Zurück­

57
58
Folgeregelung mit schwingungsdämpfen-
der Übernahme der Geschwindigkeit des
vorausfahrenden Fahrzeugs, damit dessen
Geschwindigkeitsunruhe nicht mit kopiert
-- fallen“
Funktionsgrenzen:
Keine Regelung bei sehr niedrigen Ge-
schwindigkeiten, d. h. geeignete Übergabe

-
wird an den Fahrer unterhalb einer Mindestge-
Zeitlücke auf die gesetzte Sollzeitlücke τSet schwindigkeit (ISO 15622: unterhalb von
59
-
einregeln und ruhiges, an dem Standardver- vlow ≤ 5 m/s keine positive Beschleunigung)
halten von Fahrern orientiertes „Zurück- Minimale Sollgeschwindigkeit vset,min ober-
60 fallen“ bei durch Einscheren verursachter halb 7 m/s (> 30 km/h Tachogeschwindig-
großer Abstandsverkürzung keit)
46.4 • Systemstruktur
855 46
.. Abb. 46.3 Funktionsmo-
dule des ACC-Systems

- Die Zeitlücke darf im eingeschwungenen


- Sicheres Halten im Stand mit geeigneter

- -
Zustand τmin = 1 s nicht unterschreiten. Betriebsbremse bei aktivem System
Priorität des Fahrereingriffs, d. h. Deak- Bei Systemabschaltung ohne Fahrereingriff
tivierung bei Bremspedalbetätigung und im Stillstand ist ein Übergang in einen

-
Übersteuern bei Betätigung des Fahrpedals sicheren Haltezustand ohne Hilfsenergie

-
Vorgabe der Setzgeschwindigkeit vset und
Setzzeitlücke τset durch den Fahrer
Geeignete Übergabe der Längsregelaufgabe
an den Fahrer bei Systemausfall, insbeson-
-- notwendig
Funktionsgrenzen
Oberhalb von vhigh,min = 20 m/s ist eine
Beschleunigung innerhalb der Grenzen
dere wenn dieser während eines Verzöge- von amin(vhigh) = – Dmax(vhigh) = –3,5 m/s2 bis

- -
rungsvorgangs geschieht. amax(vhigh) = 2,0 m/s2 zulässig,
Beschleunigung innerhalb der Grenzen von unterhalb vlow,max = 5 m/s Beschleunigung
amin = –3,5 m/s2 bis amax = 2,5 m/s2. innerhalb der Grenzen von amin(vlow) = –
Dmax(vlow) = –5,0 m/s2 bis amax(vlow) = 4,0 m/

-
s2.
46.3.2 Zusätzliche Zwischen vlow,max (5 m/s) und vhigh,min (20 m/s)
Funktionsanforderungen darf die Beschleunigung innerhalb der
für FSR-ACC nach ISO 22179 geschwindigkeitsabhängigen Grenzen von
amin(v) = – Dmax(v) = –5,5 m/s2 + (v/10 s) bis

-
Ergänzend zu den Anforderungen für die Standard- amax(v) = 4,67 m/s2 – (2v/15 s) variieren.
ACC-Funktion ergeben sich für FullSpeed Range- Die Aufbaurate der Verzögerung γ darf bis

--
ACC folgende weitere Anforderungen:
Bei Folgefahrt:
Regelung im gesamten Geschwindig-
keitsbereich bis 0 km/h, insbesondere im
5 m/s die Ruckgrenze von γmax(vlow) = 5 m/
s3 und ab 20 m/s von γmax(vhigh) = 2,5 m/
s3 nicht überschreiten. Dazwischen ist die
Grenze geschwindigkeitsabhängig:
Kriechbereich (erhöhte Anforderungen an γmax(v) = 5,83 m/s3 – (1v/6 s).

-- Koordination Antrieb/Bremse)
Beim Anhalten:
Einregeln eines sinnvollen Anhalteabstands 46.4 Systemstruktur

-
(typ.: 2–5 m)
Eine höhere Verzögerungsfähigkeit Die Vielzahl der Aufgaben einer ACC lassen sich
bei kleinen Geschwindigkeiten (vgl. mit der in . Abb. 46.3 dargestellten Struktur Modu-
. Abb. 46.2) len zuordnen. Die Module selbst können ihrerseits
856 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

41
42
43
44
45
46
47
48
.. Abb. 46.4  Funktionsmodule des Distronic-Systems
49
noch unterteilt und verschiedenen Hardware-Ein- Sensor&Control Unit (SCU). Eine besonders wich-
50 heiten zugeordnet werden, s. a. später beschriebene tige Rolle in der Struktur dieses Systembeispiels
Beispiele. Auch die Informationsschnittstellen zwi- kommt dem ESC bzw. ESP zu. Es liefert nicht nur,
schen den Modulen können erheblich variieren. wie bei den meisten bekannten Systemen, die Fahr-
51 Dies betrifft sowohl den physikalischen Inhalt als dynamik-Messgrößen für die Kursprädiktion (s.
auch die Datenrate und Bitrepräsentation. Die vier ▶ Abschnitte 46.7.1 und 46.7.2), sondern übernimmt
52 Schichten und ihre Module werden in den folgen- neben der ebenfalls oft beim ESC angesiedelten Auf-
den ▶ Abschnitten 46.5 bis 46.10 beschrieben, sofern gabe der Bremsregelung auch die Überwachung des
sie als Komponente nicht auch schon in anderen ACC-Systems und fungiert als Kommunikations-
53 Kapiteln dieses Handbuchs ausführlich abgehandelt und Koordinationszentrale für die Antriebssteu-
sind. In diesen Fällen werden die ACC-spezifischen erung. Die Trennung der Sensordatenerzeugung
54 Anforderungen an diese Komponente aufgeführt. von der nachgeschalteten Verkehrsszenenanalyse
und der Längsdynamikregelung ermöglicht die
55 46.4.1 Beispiel Mercedes-Benz
Verwendung von Sensoren unterschiedlicher Lie-
feranten bzw. die Anpassung an oder Erweiterung
Distronic durch neue Sensorik wird vereinfacht, da lediglich
56 die Verarbeitung der Sensorrohdaten im Sensor
Während bei einer Variante der Distronic für den selbst durchgeführt wird, vgl. [9].
57 Fernbereichsradarsensor und für die Verarbeitung
der Sensorsignale, der Berechnung der Geschwin-
digkeits- und Abstandsregelung sowie der Berech- 46.4.2 Funktionsabstufungen
58 nung der Ansteuersignale für die Ansteuerung der
Stellglieder wie in . Abb. 46.4 dargestellt separate Mit ACC wurde erstmals ein die Fahrzeugdynamik
59 Baueinheiten verwendet werden, so sind in einer beeinflussendes System eingeführt, das als verteiltes
anderen Variante vom Sensor bis hin zur Stell- System bei Ausfall eines peripheren Systemteils die
60 gliedansteuerung alle Funktionseinheiten in einem Kernfunktionalität verliert. Die Restfunktionalität
Gehäuse integriert und bilden eine so genannte einer Fahrgeschwindigkeitsregelung (Cruise Con-
46.5  •  ACC-Zustandsmanagement und Mensch-Maschine-Schnittstelle
857 46
.. Abb. 46.5  Zustände und Über-
gänge nach ISO15622

trol CC) ohne Abstandsregelfähigkeit könnte noch einem vorausfahrenden Fahrzeug, das mit einer
realisiert werden, wenn alle für eine Geschwindig- geringeren Geschwindigkeit als der Setzgeschwin-
keitsregelung notwendigen Systeme wie Antrieb, digkeit vSet fährt. Ist dies nicht der Fall, dann wird
Bremse, Anzeige- und Bedienelemente verfügbar auf die Wunschgeschwindigkeit vSet geregelt. Der
sind. Hiervon ist jedoch abzuraten, da der Fah- Übergang zwischen diesen Regelzuständen erfolgt
rer z. B. nach längerer Freifahrt nicht unmittelbar ohne Zutun des Fahrers automatisch allein aus der
erkennen kann, dass seine gewohnte Abstandsre- Ermittlung eines Zielobjekts und dessen Abstand
gelfunktion bei Annäherung an ein Objekt nicht und Geschwindigkeit durch den vorausschauenden
zur Verfügung steht. Die überwiegende Mehr- ACC-Sensor, wie dies in . Abb. 46.1 illustriert ist.
zahl der angebotenen Systeme, darunter auch die Eine Deaktivierung, also der Übergang von
DISTRONIC, degradieren deshalb die ACC Funk- ACC active zu ACC stand-by, wird zumeist durch
tion nicht zu einer Tempomatfunktion bei Ausfall eine Bremspedalbetätigung oder die willentliche
der umgebungserfassenden Sensorik. Abschaltung per Bedienschalter ausgelöst. Bei den
verschiedenen im Markt befindlichen Systemvari-
anten finden sich noch weitere Deaktivierungskrite-
46.5 ACC-Zustandsmanagement und rien, die in der rechten Spalte der . Tab. 46.1 aufge-
Mensch-Maschine-Schnittstelle führt sind. Der Übergang in den ACC off-Zustand
wird durch erkannte Funktionsstörungen bewirkt
46.5.1 Systemzustände und, wenn vorhanden, durch den Hauptschalter.
und Zustandsübergänge Für die Ausführung des ACC als Full-Speed-
Range-ACC kommen im Wesentlichen ein weite-
Die Systemzustände, die ein Standard-ACC anneh- rer Zustand, FSRA-Hold genannt, und dessen Über-
men kann, illustriert . Abb. 46.5. Der Einschalt- gänge hinzu. Dies wird in . Abb. 46.6 beschrieben.
zustand ist der ACC off-Zustand, der automatisch Der Zustand FSRA-Hold kennzeichnet das Hal-
nach erfolgreichem Selbsttest verlassen werden kann ten des Fahrzeugs im Stand durch das FSRA-System.
oder explizit vom Fahrer über einen oft Hauptschal- Einen Übergang aus dem Zustand Speed Control
ter (Main Switch) genannten Schalter in den ACC nach Hold gäbe es nur, wenn eine Wunschgeschwin-
stand-by-Zustand überführt werden. Dieser Warte- digkeit von 0 km/h zugelassen würde. Sinnvoller-
zustand ermöglicht, sofern die für die Aktivierung weise wird die minimale Wunschgeschwindigkeit
definierten Kriterien (s. . Tab. 46.1) erfüllt sind, die vset,min aber auf einen Wert > 0 begrenzt, z. B. 30 km/h.
Aktivierung in den ACC active-Zustand. Im Zustand Hold sind einige Besonderheiten
Wurde ACC erfolgreich aktiviert, dann treten zu beachten. Auch wenn eine Übergabe der Halte-
in diesem Systemzustand zwei wesentliche Regel- funktion an den Fahrer mit entsprechend signali-
zustände auf: Speed control in Freifahrtsituationen sierten Hinweisen möglich ist, hat es sich bewährt,
und ACC time gap control bei Folgefahrt hinter das Fahrzeug weiter zu halten, auch bei einfacher
858 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

41 .. Tab. 46.1  Aktivierungs- und Deaktivierungsbedingungen (für die Aktivierung müssen alle Bedingungen erfüllt sein,
für die Deaktivierung genügt eine)

42 Aktivierung nur, wenn zugleich (Auswahl) Deaktivierung, z. B. bei

Deaktivierung per Bedienschalter


43 Fahrer bremst bei v > 0

v ≥ vset,min v < vmin (nur bei Standard-ACC relevant)


44 Triebstrang funktionsbereit Motor deutlich unter Leerlaufdrehzahl

Vorwärtsgang eingelegt Gang ungültig


45 ESC voll funktionstüchtig ESC passiv

46 Schlupfregelung nicht aktiv Schlupfregelung länger als eine spezifizierte Zeit aktiv (kann
je nach Art unterschiedlich sein, z. B. 300 ms bei Gierratenre-
gelung, ca. 600–1000 ms bei Antriebsschlupfregelung)

47 Feststellbremse gelöst Feststellbremse aktiviert

Kein ACC-Systemfehler ACC-Systemfehler


48 Zusätzlich für FSRA:

Fahrertür geschlossen v = 0 UND mindestens 2 von 3 Signalen aktiv: Tür offen, kein


49 Fahrer angegurtet (wenn vorhanden Sitzbelegungser-
Gurt, Fahrersitz leer

kennung Fahrer positiv)


50 Bremse getreten UND v = 0 UND Zielobjekt erkannt Bemerkung: Bei (v = 0 UND Fahrer bremst) allein keine
Abschaltung
Zielobjekt erkannt UND 0 < v < vset,min
51
Betätigung des Bremspedals das System nicht ab- Nach erkanntem Stillstand wird die Verantwor-
52 zuschalten, sondern das Fahrzeug weiterhin sicher tung für sicheres Halten im Stand an das ESC-Sys-
zu halten, um ein unbeabsichtigtes Losrollen zu tem übertragen. Dabei hat es kurzzeitig über eine
vermeiden und damit kritischeren Systemzustän- Anhebung des Bremsdrucks für einen sicheren
53 den vorzubeugen. Halt und über die Ansteuerung einer elektrischen
Der Übergang aus dem Zustand Hold in einen Parkbremse (EPB) für einen dauerhaften Halt ohne
54 der beiden Fahrzustände soll aus Sicherheitsgrün- Leistungsaufnahme zu sorgen.
den – außer bei sehr kurzen Stopps – nur nach Fahr-
55 erbestätigung erfolgen, da eine sichere Anfahrfrei-
46.5.2 Bedienelemente
gabe allein durch das System schwierig ist.
Ebenso wird die Anwesenheit des Fahrers über- mit Ausführungsbeispielen
56 wacht, da dieser im Stillstand jederzeit das Fahrzeug
verlassen kann. Bei Erkennen einer Ausstiegsab- Die Bedienelemente für ACC sorgen für die Zu-
57 sicht (z. B. über Tür-, Gurt- oder Sitzbelegungser- standsübergänge und stellen die Vorgaben für die
kennung) erfolgt eine geeignete Systemabschaltung Regelung ein, nämlich die Wunschgeschwindigkeit
58
59
mit einem – auch bei Energieausfall – sicheren Hal-
tezustand, z. B. durch Aktivieren einer elektrome-
chanischen Feststellbremse. Ist dies nicht möglich, -
und die Wunschzeitlücke.
Bedienelement um vom ACC-off- in den
ACC-Stand-by-Zustand zu wechseln. Hierbei

-
so ist der Fahrer vor dem Aussteigen so zu warnen findet man 2 Ausprägungen:
bzw. das System so frühzeitig abzuschalten, dass der Schalter, der nur einmalig betätigt werden
60 Fahrer sich noch im Fahrzeug befindet und es selbst muss und anschließend dauerhaft auf „Ein“
gegen Wegrollen sichern wird. steht.
46.5  •  ACC-Zustandsmanagement und Mensch-Maschine-Schnittstelle
859 46
.. Abb. 46.6  Zustände und Über-
gänge für FSR-ACC nach ISO22179

.. Abb. 46.7  Bedienelement für Distronic Plus (Mercedes-


Benz W222) mit sieben Funktionen

- Taster, der einmalig je Zündungslauf die Häufig sind die Bedienelemente in einer Gruppe

- Bedienelemente freigibt.
Bedienelement zum Aktivieren des ACC-
Systems. Dieses Bedienelement wird häufig
auch bei aktiver Regelung zur Erhöhung der
angeordnet oder in abgesetzten Bedienhebeln inte-
griert, wie folgende Beispiele illustrieren.
Das in . Abb. 46.7 dargestellte Bediencluster
im Tempomatbedienhebel leistet sieben Funktio-

- aktuellen Setzgeschwindigkeit verwendet.


Bedienelement zur Reduzierung der aktuellen
nen für DISTRONIC PLUS von Mercedes-Benz.
Mit den Bewegungen 1 (nach oben) und 5 (nach

- Setzgeschwindigkeit.
Bedienelement zur Aktivierung des ACC-
Systems unter Verwendung der letzten
Setzgeschwindigkeit (Wiederaufnahme oder
unten) wird aktiviert und dabei zunächst die ak-
tuelle Geschwindigkeit als Sollgeschwindigkeit
übernommen. Mit weiteren Bewegungen nach
oben wird die Sollgeschwindigkeit bei kleinen Be-

- Resume).
Bedienelement zur Einstellung der gewünsch-
ten Sollzeitlücke. Auch hier finden sich zwei
grundsätzlich unterschiedliche Einschaltzu-
wegungshüben in 1 km/h-Schritten, bei großen
in 10 km/h-Schritten erhöht. Mit entsprechenden
Bewegungen nach unten wird in gleicher Weise die
Sollgeschwindigkeit reduziert. Mit der Bewegung

-
stände: 4 (zum Fahrer hin) wird ebenfalls aktiviert, dabei
ein immer gleicher Anfangszustand mit aber auf die früher verwendete Sollgeschwindig-
einer so genannten default-Einstellung, keit zurückgegriffen (so genannte Resume- oder
die meist einer Zeitlücke von 1,5 bis 2 s Wiederaufnahme-Funktion). Beim erstmaligen

-
entspricht; Aktivieren wird ebenfalls die aktuelle Geschwin-
der zuletzt gewählte Zustand, z. B. bei einer digkeit übernommen. Über diese Funktion wird
mechanischen Arretierung. auch die Wiederanfahrt aus dem Stillstand gestar-
860 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

41 .. Tab. 46.2  Gebräuchliche Anzeigefunktionen für


ACC (Abkürzungen siehe Text)

42 Zustände Anzeige W T

Aktivierung p e o
43 Relevantes Zielobjekt p w o
erkannt

44 Übersteuerung durch den s h o


Fahrer

45 Unterhalb eines kritischen


Abstands (z. B. bei Ein- und
s w a (+ o)

Ausschervorgängen)
46 Losfahrhinweis (nur FSRA) s h o
.. Abb. 46.8  Lenkradbedienung ACC im VW Phaeton [Quelle: Übergang autom. Anfahren s h o
47 Volkswagen AG] → fahrergetriggertes An­
fahren (nur FSRA)
tet. Mit der Bewegungsrichtung 7 (nach vorn) wird
48 deaktiviert, während die Tastenfunktion 6 zwischen
Systemeinstellungen

Wunschgeschwindigkeit p e o
Tempomat und Speed-Limiter-Funktion wechselt.
49 Die Bedienung der Speed-Limiter-Funktion erfolgt Wunschabstand p,s w o
analog zur Bedienung von Tempomat/Distronic Geschwindigkeit des voraus- p h o
50 Plus. Diese Aktivierung führt zum Erleuchten der fahrenden Fahrzeugs
LED 3 im Tempomatbedienhebel. Bedienelement Istabstand zum vorausfah- p h o
2 wird verdreht und stellt die Wunschzeitlücke ein. renden Fahrzeug und / oder
51 Die zuletzt eingestellte Drehposition ist somit auch Soll-Ist-Abweichung
bei einem neuen Fahrzyklus verfügbar, womit auf Zustandsübergänge
52 die alte Einstellung zurückgegriffen werden kann.
ACC off → ACC stand-by, p e o
Neben dieser für eine Hebelanordnung typi- wenn vorhanden
schen Ausprägung der Bedienschnittstelle gibt
53 es weitere, aber auch Bedienschnittstellen, die Übernahmeaufforderung bei s w a+o
Erreichen der Systemgrenze
im Lenkrad integriert sind, wie das Beispiel in
54 . Abb. 46.8 zeigt. Trotz deutlich mehr als zehn Jah- Systemabschaltung s e a+o
ren Erfahrung ist keine Konvergenz der Ausprägun-
55 gen festzustellen, so dass heutige Autofahrer beim der eingestellten Wunschgeschwindigkeit und der
Wechsel des Fahrzeugs sich neu auf die Bedienung, Wunschzeitlücke sind unerlässlich für eine nutzer-
und wie später gezeigt wird, auch auf die Anzeige gerechte Bedienung. Im Folgenden wird dabei zwi-
56 einstellen müssen. schen permanenten (p) und situativen (s) Anzeigen
unterschieden. Letztere werden nur beim Eintreten
57 eines bestimmten Ereignisses oder bei Fahrerbedie-
46.5.3 Anzeigeelemente nung für eine bestimmte Zeit angezeigt. Eine nur
mit Ausführungsbeispielen situativ aktive Anzeige hat zum einen den Vorteil,
58 dass sich diese den Anzeigenplatz mit anderen situ-
Auch wenn die meisten ACC-Zustände aus dem ak- ativen Anzeigefunktionen teilen kann, zum anderen
59 tuellen Regelverhalten ermittelt werden können, so aber auch, dass die Aufmerksamkeit besser fokus-
ist die klare Rückmeldung der Zustände insbeson- siert werden kann.
60 dere beim Zustandsübergang wichtig für eine Über- Eine weitere Unterscheidung betrifft die Wich-
wachung des Systems. Aber auch die Rückmeldung tigkeit (W) der Anzeige, wobei diese zwischen den
46.6  •  Zielobjekterkennung für ACC
861 46
.. Abb. 46.9  Anzeige Distronic Plus (Mercedes-
Benz W222)

Stufen essentiell, wichtig und hilfreich vorgenom- Bild aufgeführt sind das Geschwindigkeitsband, das
men wird. Entsprechend dieser Stufung finden sich nach unten durch die Geschwindigkeit des voraus-
essentielle Anzeigen in allen Systemen, wichtige fahrenden Fahrzeugs und nach oben durch die ein-
in den meisten. Auch wenn sich die hilfsreichen gestellte Wunschgeschwindigkeit begrenzt ist sowie
Anzeigen zumeist nur bei einigen Anbietern wie- die Symbole für die Übernahmeaufforderung und
derfinden, so verbessern sie die Erlernbarkeit der die Anzeige, wenn der Fahrer das System übersteu-
Systemfunktionen und erlauben dem Fahrer eine ert (DISTRONIC PLUS passiv).
detaillierte Vorhersage bzw. ein besseres Verständ- Bei einem als Option erhältlichen Head-up-Dis-
nis der Systemreaktionen. Mithilfe der Anzeige von play (. Abb. 46.10) werden die Istgeschwindigkeit,
Abstand und Relativgeschwindigkeit des soeben die Wunschgeschwindigkeit und die kombinierte
erfassten Objekts kann der Fahrer auch etwaige Aktivierung/Zeitlücke/Zielobjekt-Anzeige präsen-
Falschdetektionen sehr gut erkennen und die Sys- tiert.
temreaktionen dann plausibel zuordnen.
Wie auch oftmals bei den Bedienfunktionen
werden Aktivierungszustand und Sollgeschwin- 46.6 Zielobjekterkennung für ACC
digkeit auch für die Anzeige miteinander kombi-
niert. Die . Tab. 46.2 zeigt die bekanntesten An- 46.6.1 Anforderungen
zeigefunktionen und die sinnvoll für die Anzeige zu an die Umfeldsensorik
verwendende Technik (T), wobei hier zunächst nur
optische (o) oder akustische Elemente (a) unter- Die ACC-Funktionalität steht oder fällt mit der Er-
schieden werden, also keine haptischen Elemente kennung des relevanten Zielfahrzeugs, woran sich
betrachtet werden, da außer der inhärenten kinäs- die Regelung orientieren kann. Als erste Vorausset-
thetischen Rückwirkung der Fahrdynamik keine zung ist eine Umfeldsensorik erforderlich, die die
haptischen Anzeigefunktion für ACC eingesetzt Fahrzeuge in der relevanten Umgebung detektiert
werden. und anschließend eine Zuordnung, ob ein und dann
Passend zu den in ▶ Abschn. 46.5.2 vorgestellten welches der erkannten Objekte als Zielobjekt aus-
Bedienbeispielen werden die zugehörigen Anzeige- zuwählen ist. Als Umfeldsensortechnologien sind
konzepte vorgestellt. Die in . Abb. 46.9 dargestellte Radar und Lidar mit Erfolg im Einsatz. Für sie gel-
Anzeige der Mercedes-Benz DISTRONIC PLUS ten in gleicher Weise die unten aufgeführten Anfor-
enthält die Angaben über den Aktivierungszu- derungen. Die Technikbeschreibung der Sensoren
stand mit der Darstellung des Egofahrzeugs (4), findet sich in den ▶ Kap. 17 und 18.
den Sollabstand (3) (oranger Balken „neben der
Straße“), und die Zielerkennung (Fahrzeug 1), des-
sen Position den Istabstand signalisiert (2). Nicht im
862 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.10  ACC-Symbole im Head-Up-


41 Display (BMW E60)

42
43
44
45
46
46.6.2 Messbereiche lücke ≥ 1,5 s verlangt wird, kann die Anforderung
47 und Messgenauigkeit durch Absenkung der maximalen Zeitlücke nur bis
zu dieser Grenze erfolgen.
46.6.2.1 Abstand Die in . Tab.  46.3 genannten Anforderungen
48 In Analogie zu der in der ISO15622 [1] vorge- sind Minimalforderungen und nur auf die statio-
nommenen Unterteilung wird für die Standard- näre Folgefahrt ausgelegt. Für eine Annäherung ist
49 ACC-Funktion gefordert, dass ab dem minimalen insbesondere bei höherer Differenzgeschwindig-
Detektionsabstand dmin0 = MAX(2 m, (0,25 s · vlow)) keit eine höhere Reichweite wünschenswert. Wie in
50 Objekte erkannt werden und darüber hinaus ab ▶ Abschn. 46.7 gezeigt, wird mit großem Abstand
dmin1 = τmin(vlow) · vlow der Abstand bestimmt werden die Zielauswahl immer schwieriger, sodass eine
muss (. Abb. 46.11). Dabei ist τmin(vlow) die kleinste Verzögerungsreaktion in einem größeren Abstand
51 Zeitlücke bei der kleinsten erlaubten ACC-Betriebs- als 120 m in vielen Fällen negativ erlebt wird, selbst
geschwindigkeit. Da die Zeitlücke zu niedrigen wenn die Zielauswahl prinzipiell fehlerfrei funktio-
52 Geschwindigkeiten hin angehoben wird, liegt dmin1 niert. Dies tritt vor allem dann auf, wenn das an sich
bei etwa 10 m. Dass unterhalb dieses Werts keine korrekte Ziel überholt werden soll, dieser Überhol-
Abstandsmessung erfolgen muss, ist damit begrün- vorgang aber durch die ACC-Verzögerungsreaktion
53 det, dass die ACC-Regelung in dieser Situation auf noch vor dem Fahrstreifenwechsel behindert wird.
jeden Fall verzögern wird oder den Fahrer bei Un- In der Praxis (s. a. [10]) hat sich eine Beschrän-
54 terschreitung von vlow zur Übernahme auffordert. kung der Reaktionsreichweite, also der Bereich
Hinsichtlich der Unterschreitung der Schwelle dmin0 innerhalb dessen auf relevante Ziele reagiert wird,
55 kann davon ausgegangen werden, dass ein Regelvor- bewährt. Insbesondere im unteren und mittleren
gang vor Erreichen eines solch geringen Abstands Geschwindigkeitsbereich ist es wenig sinnvoll, den
vom Fahrer unterbrochen wird. Gleiches gilt auch gesamten Erfassungsbereich des Sensors zu nutzen,
56 für den Fall so knapp einscherender Fahrzeuge, bei da Objekte in größerer Entfernung keinen Einfluss
denen sich kein Fahrer auf die Regelung durch ACC auf das eigene Fahrzeug haben. Eine beispielhafte
57 verlassen wird und selbst die Situation durch eige- Grenzkurve dto,max ist in . Abb. 46.11 gezeigt. In ei-
nen Bremseingriff lösen wird. nem anderen Fall wird als dto,max = MAX (v · 3,6 s,
Die maximale geforderte Reichweite dmax muss drange,min) verwendet, also genauso viele Meter wie
58 natürlich eine Regelung mit dem größten Sollab- km/h, mindestens aber drange,min (≈ 80 m).
stand ermöglichen, also dem Abstand in der Einstel- An die Genauigkeit der Abstandsmessung wer-
59 lung für die größte Zeitlücke bei maximaler Setz- den keine hohen Anforderungen gestellt, da die
geschwindigkeit vset,max. Sinnvollerweise wird noch Regelung, wie unten gezeigt wird, nur schwach auf
60 eine Regelreserve hinzugefügt, damit die Regelung Abstandsabweichungen reagiert. Mit der unten
komfortabel bleibt. Da mindestens eine Sollzeit- angegebenen Regelkreisverstärkung pflanzen sich
46.6  •  Zielobjekterkennung für ACC
863 46

.. Tab. 46.3  Abstandsanforderungen für typische


Auslegungswerte

vlow = 5 m/s dmin0 = 2 m


( = 18 km/h)
τset,min (vlow) = 2 s dmin1 = 10 m

τset,max = 2 s vset,max = 50 m/s dmax = 100 m


( = 180 km/h)

lität nachteilig beeinflusst wird. Hier können als


Richtwerte Verzugszeiten von maximal 0,25 s he-
rangezogen werden, womit für eine stabile Rege-
lung mit der kleinsten Zeitlücke von τmin = 1 s noch
.. Abb. 46.11  Anforderungen an den Abstandsbereich 0,75 s für die Regelzeitkonstante und die Stellerver-
gemäß ISO15622 zzgl. Erfordernisse in Abhängigkeit der
zögerung verbleiben.
Fahrgeschwindigkeit
Relative Fehler εvrel der Relativgeschwindigkeit
bis 5 % sind für die Folgeregelung weitgehend un-
Abstandsfehler derr von 1 m (Effektivwert im Band problematisch, da die nachfolgende Beschleuni-
von 0,1–2,0 Hz) zu Beschleunigungsamplituden gungsregelung mit den Stellsystemen für Bremse
von maximal aset,err = 0,1 m/s² fort und bleiben da- und Antrieb vergleichbar große Abweichungen
mit unterhalb des Merkschwellwerts von 0,15 m/ erzeugt und somit die durch die relativen Fehler
s² [11] bei Folgevorgängen. Verstärkungsfehler des bedingten Verfälschungen der Regelsollwerte kaum
Abstands εd können somit bis zu 5 % ohne für den wahrnehmbar sind.
Fahrer merkliche Auswirkungen toleriert werden. Eher höhere Anforderungen an die Genauigkeit
Allerdings sollte die minimale Setzzeitlücke mit der Relativgeschwindigkeit stellt die Klassifizierung
entsprechender Reserve gewählt werden, damit die der Objekte, ob sie sich in gleiche Richtung bewe-
für den stationären Folgevorgang definierte Min- gen, stehen oder entgegen kommen. Für diese Klas-
destzeitlücke τmin = 1 s wegen des mit dem relativen sifizierung sind Toleranzen kleiner als 2 m/s und
Fehler verbundenen Verstärkungsfehlers nicht un- 3 % · vrel zu fordern. Die relativen Fehler lassen sich
terschritten wird. aber auch mit den stehenden Objekten abgleichen,
weil diese sehr viel häufiger gemessen werden und
46.6.2.2 Relativgeschwindigkeit somit in einer statistischen Erfassung als Häufung
Weitaus höhere Anforderungen als beim Abstand zu sehen sind. Damit lassen sich auch die Fehler der
werden an die Genauigkeit der Relativgeschwin- Fahrgeschwindigkeitsbestimmung korrigieren, die
digkeit gestellt. Jede Abweichung der Relativge- durch den zumeist nur auf 2 % Genauigkeit bekann-
schwindigkeit führt zu einer Veränderung der ten Abrollumfang entstehen.
Beschleunigung (s. ▶ Abschn. 46.8). Ein statischer
Offset führt zu einer stationären Abweichung des 46.6.2.3 Lateraler Erfassungsbereich
Abstands, wobei ein Offset von 1 m/s zu einer etwa für Standard-ACC-Funktion
5 m großen Abstandsabweichung führt. Schwan- Die Anforderungen an den lateralen Erfassungsbe-
kungen der Geschwindigkeit von vrel,err  = 0,25 m/s reich leiten sich aus folgenden Ausgangsannahmen
(Effektivwert im Bandbereich von 0,1–2 Hz) kön-
nen noch akzeptiert werden, da die daraus folgen-
-
ab:
τmax, die maximale Zeitlücke für die Folgerege-
den Beschleunigungsschwankungen unterhalb
der Merkbarkeitsschwelle bleiben. Allerdings darf
- lung,
aymax, die für die Kurvenfahrt anzunehmende
die Geschwindigkeitsfilterung zur Reduktion der
Schwankungen nicht zu einer zu hohen zeitlichen
Verzögerung führen, da ansonsten die Regelqua- - maximale Querbeschleunigung,
Rmin, dem kleinsten für die ACC-Funktion
spezifizierten Kurvenradius.
864 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.12  Notwendiger Sichtbereich (Azimutwinkel) in


41 Abhängigkeit des Kurvenradius bei konstanter Querbe-
schleunigung und Zeitlücke

42
43
44
45
46
47
48
49
50
Bei gegebenem Kurvenradius R ≥ Rmin lässt sich aus gen Geschwindigkeiten durchfahren werden. Dies
der maximalen Querbeschleunigung eine maximale wird durch die unterschiedlichen Werte für die in
51 Kurvengeschwindigkeit berechnen. Wird diese mit der Norm 15622 definierten Kurvenklassen berück-
der Zeitlücke τmax multipliziert, so erhält man die sichtigt. So werden ay,max = 2,0 m/s2 für Rmin = 500 m
52 notwendige maximale Reichweite dmax(R). Der Ver- und ay,max = 2,3 m/s2 für Rmin = 250 bzw. Rmin = 125 m
satz der Kurvenlinie ymax bei dmax (. Abb. 46.12) ist angenommen. In . Abb. 46.13 ist für eine maximale
hingegen unabhängig vom Kurvenradius und der Zeitlücke von τmax = 2 s der notwendige (einseitige)
53 Geschwindigkeit: Öffnungswinkel φmax für drei verschiedene Querbe-
schleunigungsannahmen dargestellt. Trotz dieser
54
2
max
ymax D  ay;max(46.1) die reale Kurvenfahrt stark idealisierenden Betrach-
2
tung zeigen Messungen aus der Praxis [13, 14], dass
55 Der maximale Azimutwinkel φmax kann über den mit obiger Formel und den genannten Annahmen
Quotienten des maximalen Versatzes ymax und der die Anforderungen an den Öffnungswinkel für eine
maximalen Reichweite dmax bei R = Rmin bestimmt vorgegebene Kurvenfähigkeit bestimmt werden
56 werden: können. Die beiden empirischen Werte beziehen
q sich auf den Kurvenradius, bei dem die Hälfte der
57 dRmin D dmax .Rmin / D max ay;max  Rmin (46.2) Folgefahrten ohne Zielverlust blieb.
ymax ymax Als weiteres Ergebnis der Untersuchungen [13]
˚max D arcsin. (46.3) [14] zeigte sich, dass mit einem Öffnungswinkel von
58 dmax .Rmin /
/
dmax .Rmin /
∆φmax = 16° (± 8°) sowohl subjektiv als auch objek-
Aufgrund des beobachteten Fahrerverhaltens (s. z. B. tiv die Standard-ACC-Funktion in hinreichendem
59 [12]) ist die zugrunde zu legende Querbeschleu- Maße abgedeckt wird und eine weitere Vergröße-
nigung von der Fahrgeschwindigkeit abhängig. rung des Azimutwinkelbereichs nur noch gerin-
60 Implizit ergibt sich damit auch eine Abhängigkeit geres Verbesserungspotenzial für die Standard-
vom Kurvenradius, da engere Kurven mit niedri- ACC-Funktion besitzt, solange die Erkennung von
46.6  •  Zielobjekterkennung für ACC
865 46
.. Abb. 46.13  Erforderlicher Azimut-Winkel-
bereich in Abhängigkeit der vorausgesetzten
Querbeschleunigung und Zeitlücke. Linien:
Theoretischer Verlauf; Punkte: Versuchsergebnisse
für zwei Sichtbereiche

einscherenden Fahrzeugen durch die Dynamik der destanforderungen in der entstehenden FSRA-ISO-
Zielauswahl vorgegeben wird (s. a. ▶ Abschn. 46.7). Norm 22179 deutlich niedriger und können bereits
Wie in der späteren Betrachtung der Gesamtfehler mit einem mittig platzierten Sensor mit einem Öff-
deutlich wird, kann schon ein kleiner azimutaler nungswinkel ∆φmax = 16° (±8°) erfüllt werden. Das
Ausrichtungsfehler zu einer merklichen Funk- Anfahren aus dem Stand erfolgt bei solchen Syste-
tionsbeeinträchtigung führen. Da die Toleranz- men daher auch bei sehr kurzen Stillstandzeiten nur
grenze von vielen einzelnen Faktoren abhängt, mit Fahrerfreigabe.
insbesondere auch von der Rückstreueigenschaft Eine über ±8° hinausgehende breite Erfas-
der Objekte, lässt sich kein scharfer Wert angeben. sung des Bereichs direkt vor dem Fahrzeug bis ca.
Statische Fehler über 0,25° sollten jedoch vermieden 10–20 m ist für dichtes, versetztes Folgefahren bei
werden, dynamische rauschähnliche Fehler werden niedrigen Geschwindigkeiten erforderlich. Dies
über Filter geglättet und können durchaus 0,5° be- tritt insbesondere in Stausituationen auf, wenn
tragen, ohne dass sich die Systemfunktion merklich nicht direkt hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug
verschlechtert. gefahren wird, sondern versetzt, um eine bessere
Sicht zu erreichen. Auch bei langsamen Fahrstrei-
46.6.2.4 Lateraler Erfassungsbereich fenwechseln des Zielobjekts wird die Überdeckung
für FSRA zunehmend geringer, ohne dass der benötigte ei-
Für FSRA wird eine 100 %ige Abdeckung des Be- gene Fahrkorridor frei ist. Eine Sensorik mit zu sch-
reichs direkt vor dem Fahrzeug angestrebt, um au- malem Öffnungswinkel verliert hier das Zielobjekt
tomatisches Anfahren zu ermöglichen. Da dies in bereits, obwohl es noch nicht kollisionsfrei passiert
der Praxis schwer zu realisieren ist, liegen die Min- werden kann, weshalb in diesen Fällen der Fahrer
866 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.14  Gewünschter Erfassungsbereich


41 für vollständige Nahbereichsabdeckung

42
43
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45
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48
49
46.6.2.5 Vertikaler Erfassungsbereich
50 eingreifen muss. Der gewünschte Erfassungsbereich
für eine vollständige Abdeckung zeigt . Abb. 46.14. Für den vertikalen Erfassungsbereich wird die De-
Ab einem Mindestabstand, ab dem typischer- tektion aller für ACC relevanten Objekte (Lkw, Pkw,
51 weise mit Einscherern zu rechnen ist, also ca. ab Motorräder) gefordert. Da die Objekte weder sehr
2–4 m bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten, ist hoch vom Boden abgesetzt noch niedriger sind als
52 außerdem eine Erfassung der Nachbarfahrstreifen die üblichen Sensoreinbauhöhen, sind nur die Ein-
sinnvoll (mindestens bis zur halben Breite), um ein flussgrößen Steigungsänderungen sowie statisches
frühzeitiges Erfassen von einscherenden Fahrzeu- und dynamisches Nicken innerhalb der von ACC
53 gen sicherzustellen. Dabei ist vor allem auf eine zu- ausgenutzten Dynamik zu betrachten. Hier haben
verlässige Winkelerfassung zu achten, da erst über sich in der Praxis Anforderungen von ∆ϑmax = 3°
54 die Berechnung der Lateralbewegung aus den Win- (± 1,5°) ergeben.
kelwerten vorausschauend auf Einscherer reagiert Die Elevationsfehlwinkel haben zumeist nur
55 werden kann. Bei den frühen FSRA-Systemen von eine geringe negative Auswirkung, da nur in selte-
Mercedes und BMW wurden dafür zwei nach vorn nen Fällen die Elevation als Messgröße bestimmt
gerichtete 24  GHz-UWB-Radarsensoren (UWB wird, wie es beispielsweise beim 2D-Scanning-Lidar
56 Ultra Wide Band, siehe ▶ Kap. 17) eingesetzt, die geschieht, der die Umgebung in mehreren überein-
einen guten Kompromiss aus Reichweite (ca. 20 m), ander liegenden horizontalen Zeilen abtastet. Aller-
57 azimutalem Öffnungswinkel (ca. 80°) und der durch dings ist bei Radarsensoren eine Veränderung der
das Sensorprinzip gegebenen Winkelauflösung bie- Antennencharakteristik mit größeren von 0 abwei-
ten. Durch den großen Öffnungswinkel wird eine chenden Elevationswinkeln zu erwarten. Weiterhin
58 großflächige Überlappung der Erfassungsbereiche ist zu verhindern, dass der verfügbare Elevationsbe-
erzielt, was zu einer stabilen Objektdetektion führt. reich nicht durch eine Fehlausrichtung soweit re-
59 Größere Reichweiten sind nicht erforderlich, da die duziert wird, dass die oben genannte Anforderung
eingesetzten Fernbereichs-Radarsensoren in diesen nicht mehr gewährleistet ist.
60 Entfernungen die Nachbarfahrstreifen zumindest
partiell abdecken.
46.7 • Zielauswahl
867 46
.. Abb. 46.15  Links: Schritte für die
Zielauswahl; rechts: Definition der
in diesem Abschnitt verwendeten
Größen

46.6.2.6 Mehrzielfähigkeit 46.7.1 Bestimmung


Da im Sensorbereich mehrere Objekte vorhanden der Kurskrümmung
sein können, ist eine Mehrzielfähigkeit sehr wich-
tig. Das bedeutet im Besonderen die Trennfähig- Die Krümmung κ beschreibt die Richtungsänderung
keit zwischen relevanten Objekten auf dem eigenen eines Fahrzeugs in Abhängigkeit vom zurückgelegten
Fahrkorridor und Objekten, z. B. auf dem benach- Weg. Im konstanten Teil von Kurven ist die Krüm-
barten Fahrstreifen. Diese Trennfähigkeit kann mung reziprok zum Kurvenradius R = 1/κ. Die Krüm-
durch eine hohe Trennfähigkeit von mindestens mung der Fahrzeugtrajektorie lässt sich über verschie-
einer Messgröße (Abstand, Relativgeschwindigkeit dene fahrzeugseitige Sensoren bestimmen, wobei bei
oder Azimutwinkel) erreicht werden. Allerdings allen Berechnungen vorausgesetzt wird, dass sie au-
darf die Forderung nach hoher Trennfähigkeit nicht ßerhalb fahrdynamischer Grenzbereiche verwendet
zu Lasten von Zuordnungsproblemen gehen, bei der werden. Sie sind also nicht gültig für Schleudersitu-
die Objekte wiederholt als neue Objekte identifiziert ationen oder bei Auftreten größeren Radschlupfes.
werden. Diesem kann, wie in ▶ Kap. 17 beschrieben,
durch Assoziationsfenster im Tracking begegnet 46.7.1.1 Krümmung berechnet
werden, die auf die Dynamik der Objekte und des aus dem Lenkradwinkel
sensortragenden Egofahrzeugs angepasst sind. Für die Berechnung der Krümmung κs aus dem Lenk-
radwinkel δH werden drei Fahrzeugparameter benö-
tigt, die Lenkgetriebeübersetzung isg, der Radstand l
46.7 Zielauswahl und die charakteristische Geschwindigkeit vchar, die
das Eigenlenkverhalten im linearen Fahrdynamikbe-
Der Zielauswahl kommt eine sehr hohe Bedeutung reich, also bei geringen Querbeschleunigungen cha-
für die Qualität der ACC zu, da sowohl relevante rakterisiert. In unter ACC typischen Bedingungen
Objekte „übersehen“ als auch falsche Ziele ausge- sehr guter Näherung bestimmt sich κs gemäß:
wählt werden können. In beiden Fällen wird die Er-
ıH
wartung des Nutzers an dieses System nicht erfüllt. s D (46.4)
vx2
Die folgende Fehlerbetrachtung richtet sich .isg `/.1 C 2
vchar
/
nach den für die Zielauswahl notwendigen, in
. Abb. 46.15 links gezeigten Schritten. Die Mes- 46.7.1.2 Krümmung berechnet aus
sung der lateralen Lage Yu,i des Objekts i erfolgt der Gierrate
durch den ACC-Sensor mit einer Unsicherheit von Für die Berechnung der Krümmung κψ aus der Gier-
εY ≈ εφ· r, die sich aus der Ungenauigkeit εφ der Win- rate wird die Fahrgeschwindigkeit v benötigt sowie
kelbestimmung ergibt. die Schwimmwinkelgeschwindigkeit vernachlässigt:
868 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

46.7.2 Kursprädiktion
41  D
P
(46.5)
vx Für die Vorhersage des zukünftigen Kurses sind
42 der (zukünftige) Verlauf der Fahrbahn und die zu-
46.7.1.3 Krümmung berechnet künftige Fahrstreifenwahl des ACC-Fahrzeugs und
aus der Querbeschleunigung eigentlich auch die der potenziellen Zielfahrzeuge
43 Auch für die Berechnung der Krümmung κay aus der notwendig. Da diese Informationen nicht immer
Querbeschleunigung ay wird die Fahrgeschwindig- verfügbar sind, wird auf Arbeitshypothesen zu-
44 keit vx benötigt: rückgegriffen, die vereinfachende Annahmen ver-
wenden.
ay
45 ay D
vx2
(46.6) Eine einfache Hypothese ist die Annahme, dass
die aktuelle Krümmung beibehalten wird. Diese
Basishypothese wird immer dann verwendet, wenn
46 46.7.1.4 Krümmung berechnet keine weiteren Informationen zur Verfügung ste-
aus den Rad­ge­schwindig­ hen. Damit werden Kurvenein- und -ausfahrten,
47 keiten der eigene Fahrstreifenwechsel und auch die Lenk-
Für die Krümmung κv aus den Radgeschwindigkei- fehler des Fahrers vernachlässigt. Liegen aus der
ten wird die relative Differenz der Radgeschwin- Vergangenheit schon Fahrstreifenzuordnungen
48 digkeiten ∆v/vx und die Spurweite b benötigt. Um vor, so kann die Hypothese, dass die Objekte und
Antriebseinflüsse gering zu halten, wird die Diffe- das ACC-Fahrzeug auf ihrem Fahrstreifen bleiben,
49 renz ∆v = (vl – vr) und auch die Fahrgeschwindig- herangezogen werden. Diese ist wiederum ungül-
keit an der nichtangetriebenen Achse vx = (vl + vr)/2 tig bei ein- oder ausscherenden Objekten und dem
50 ermittelt. eigenem Fahrstreifenwechsel. Zudem hilft sie nicht
bei der Erstzuordnung.
v
v D (46.7) Dazwischen liegt der Ansatz, die Objektdaten
51 vx b um die Hälfte der Zeitlücke zu verzögern und sie
Obwohl alle genannten Verfahren zur Krümmungs- auf Basis der dann aktuellen Kurskrümmung zu-
52 bestimmung herangezogen werden können, so besit- zuordnen. Sie ist sehr robust bei Kurvenein- und
zen sie unterschiedliche Eignung bei verschiedenen -ausfahrten, was sich daraus erklärt, dass durch
Betriebsbedingungen. Sie unterscheiden sich vor al- die Verzögerung die Krümmung des Kurses auf
53 lem bei Seitenwind, Straßenquerneigung, Radradius- der Mitte zwischen den Objekten und dem ACC-
Toleranzen und hinsichtlich der Messempfindlich- Fahrzeug herangezogen wird und somit auch bei
54 keit in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen. wechselnden Krümmungen eine gute Zuordnung
Wie . Tab. 46.4 zeigt, ist die Krümmung aus ermöglicht wird. Für die Erstzuordnung muss al-
55 der Gierrate am besten geeignet. Allerdings kann lerdings ebenfalls auf die erstgenannte Methode
eine weitere Verbesserung der Signalqualität er- zurückgegriffen werden.
reicht werden, wenn mehrere oder alle Signale Möglichkeiten zur Kursprädiktion bieten sich
56 zum gegenseitigen Abgleich verwendet werden. durch die GPS-basierte Navigation mit Rückgriff auf
Dies ist insbesondere möglich, da das ACC-Fahr- die Digitale Karte und den dort abgelegten Krüm-
57 zeug mit ESC ausgerüstet ist und somit alle oben mungsinformationen an. Leider wird keine Aktuali-
genannten Sensoren Bestandteile des Systems tät der Karten garantiert und ferner sind Baustellen
sind. Im Stillstand bietet sich der Offsetabgleich nicht vermerkt. Auch die Methode, Standziele am
58 der Gierrate an, was allerdings Stillstandsphasen Straßenrand zur Krümmungsbestimmung heran-
benötigt, die bei Autobahnfahrt ohne Stau nicht zuziehen, ist bei Abwesenheit dieser nur eine par-
59 auftreten. Hier können dann statistische Mitte- tielle Unterstützung und ist vermutlich trotzdem
lungsverfahren herangezogen werden, da über in den meisten ACC-Kursprädiktionsalgorithmen
60 lange Strecken der Mittelwert des Gierratensen- enthalten. Auch die Querbewegung von vorausfah-
sors den Offset liefert. renden Fahrzeugen kann für eine Verbesserung der
46.7 • Zielauswahl
869 46

.. Tab. 46.4  Vergleich der verschiedenen Verfahren zur Krümmungsbestimmung

κs κψ κay κv

Robustheit gegen Seitenwind −− + + +

Robustheit gegen Straßenquerneigung −− + −− +

Robustheit gegen Radradius-Toleranzen o + + −

Messempfindlichkeit bei niedrigen Geschwindigkeiten ++ o −− −

Messempfindlichkeit bei hohen Geschwindigkeiten − o ++ −

Offsetdrift + −− −− +

Kursprädiktion herangezogen werden, da diese in hohen Geschwindigkeiten (vx ≥ 150 km/h) ist ein


den meisten Fällen frühzeitig eine Änderung der Krümmungsfehler κerr. von weniger als 10–4 /m er-
zukünftigen Krümmung andeutet. reichbar, womit sich bei 100 m Abstand ein Fehler
Offensichtlich vielversprechend ist die Nutzung Dyi,c,err (100 m, 150 km/h) ≈ 0,5 m ergibt. Bei 140 m
von Fahrstreifeninformation aus der Verarbeitung ist dieser wegen der quadratischen Fortpflanzung
von Kamerabildern. Allerdings ist mit der heute er- schon doppelt so groß. Bei niedrigen Geschwindig-
reichten Qualität kaum eine Verbesserung im Ent- keiten (≈ 50 km/h) liegt der Fehler der Krümmung
fernungsbereich oberhalb von 100 m zu erwarten, gemäß Gl. (46.5) etwa dreimal höher. Entsprechend
da bei üblichen Kameraauslegungen ein Pixel etwa liegt die Entfernung für Dyi,c,err (57 m, 50 km/h) ≈
0,05° entspricht; ein Wert, der bei etwa 120 m einer 0,5 m nur noch bei 57 m, woraus sich eine Verklei-
Breite von 10 cm entspricht und somit kaum noch nerung des maximalen Zielauswahlabstands bei
die Fahrstreifenmarkierungsdetektion leisten kann. niedrigen Geschwindigkeiten ableitet.
Darüber hinaus versagt die bildbasierte Kursprädik-
tion bei Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels, vor
allem, wenn zur Dunkelheit noch Nässe der Fahr- 46.7.3 Fahrschlauch
bahn hinzukommt.
In sicherlich von Hersteller zu Hersteller un- Der Fahrschlauch ist ein in Expertenkreisen häufig
terschiedlicher Weise und Gewichtung werden die verwendeter Begriff für den Korridor, der für die
vorgenannten Algorithmen eingesetzt und liefern ACC-Zielauswahl herangezogen wird. In einfachs-
als Ausgangswert eine prädizierte Bahnkrümmung ter Form wird er durch eine abstandsunabhängige
κpred. Daraus lässt sich die Bahnkurve in Abhängig- Breite bcorr mit dem prädizierten Kurs als Mittenlinie
keit vom Abstand entwickeln. Statt der Kreisfunk- (Gl. 46.8) festgelegt. Zunächst wäre es nahe liegend,
tion reicht bei den üblichen Öffnungswinkeln eine die Fahrschlauchbreite mit der Fahrstreifenbreite
parabolische Näherung: blane gleichzusetzen. Doch hat sich gezeigt, dass diese
Annahme nicht geeignet ist.
pred 2(46.8) Das Beispiel in . Abb. 46.16 zeigt, dass es einen
yc;u D d
2 Bereich gibt, in dem eine eindeutige Zuordnung
Auf diese Bahnkurve lassen sich nun die vom ACC- allein auf Basis der gemessenen Querposition un-
Sensor ermittelten Querablagewerte yi,U des Objekts möglich ist.
beziehen und ergeben dann den relativen Versatz: Da aber nicht vorausgesetzt werden kann, dass
die gemessene laterale Position des Objekts der Ob-
yi;c D yi;u  yc;u(46.9) jektmitte entspricht, muss sowohl die rechte als auch
die linke Objektkante erwogen werden. Eine wei-
Fehler der prädizierten Krümmung pflanzen sich tere Unsicherheit der Zuordnung entsteht bei der
also quadratisch mit dem Objektabstand d fort. Bei außermittigen Fahrt, und zwar sowohl vom ACC-
870 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.16  Beispiel für eine


41 unterschiedliche Zuordnung
trotz gleicher Relativdaten

42
43
44
45 .. Abb. 46.17  Zeitliche Häufung der Zielobjektab-
lage zur Fahrschlauchmitte bei einem 8 m breiten

46 Fahrschlauch (auf Breitenintervall bezogen) [14]

47
48
49
50
51
52 Fahrzeug als auch vom potenziellen Zielfahrzeug. Für eine variable Fahrschlauchbreite sind zwei
Daher ist die Zuordnung zum eigenen Fahrstreifen Informationen wichtig: Sind zur linken oder zur
nur sicher, wenn die (ohne Fehler) gemessene la- rechten Seite überhaupt Nebenfahrstreifen vorhan-
53 terale Position in Bezug auf die (ohne Fehler) prä- den? Wenn nicht, dann kann auf der jeweiligen Seite
dizierte Kursmitte innerhalb von ± 1,2 m liegt. Die der Fahrschlauch sehr breit gewählt werden (z. B.
54 Zuordnung des Objekts zum Nachbarfahrstreifen etwa 2 m zu der jeweiligen Seite, also 4 m, wenn zu
gelingt sicher auch erst, wenn die Position mindes- beiden Seiten kein Fahrstreifen für die gleiche Fahrt-
55 tens 2,3 m von der Kursmitte beträgt. Die Werte richtung vorhanden ist). Die Information über die
beziehen sich auf eine Fahrstreifenbreite von 3,5 m. Existenz der Nachbarfahrstreifen kann aus der Be-
Wie aus der in . Abb. 46.17 dargestellten, mit obachtung von Standzielen am Fahrbahnrand und
56 einem Radar-Sensor aufgezeichneten Statistik her- von entgegenkommenden Fahrzeugen gewonnen
vorgeht, ist bei einer Fahrstreifenbreite von 3,5 m werden, wobei Änderungen, z. B. die Aufweitung
57 tatsächlich mit einigen Falscherkennungen zu rech- auf zwei Richtungsfahrstreifen, nur mit Zeitverzug
nen, andererseits aber auch, dass bei einem schma- erkannt werden können. Wird ein benachbarter
leren Fahrschlauch Zielverluste zu erwarten sind. Fahrstreifen entdeckt, z. B. über die Beobachtung
58 Drei Maßnahmen werden zur Verbesserung von Fahrzeugen in der gleichen Richtung mit einer
der Zielauswahl eingesetzt: eine variable, von der Querlage außerhalb des eigenen Fahrstreifens, so
59 Art der Straße abhängige Fahrschlauchbreite, eine kann über eine statistische Betrachtung der Quer-
unscharfe Fahrschlauchkontur sowie eine örtliche ablagen die Fahrschlauchbreite angepasst werden,
60 und eine zeitliche Hysteresefunktion für die Ziel- sodass durch Baustellen mit einem schmaleren
auswahl. Fahrschlauch gefahren werden kann.
46.7 • Zielauswahl
871 46
.. Abb. 46.18  Bildung einer Zielplausibilität
(Darstellung entnommen aus [14])

Eine weitere Maßnahme ist die örtliche Hyste- 46.7.4 Weitere Kriterien
rese, womit gemeint ist, dass für ein als Regelobjekt für die Zielauswahl
markiertes Objekt ein breiterer Fahrschlauch gilt als
für alle anderen Objekte. Typische Unterschiede lie- Neben der Zuordnung zum Fahrschlauch können
gen bei etwa 1 m, also zu beiden Seiten etwa 50 cm. andere Kriterien sinnvoll eingesetzt werden. Das
Damit wird verhindert, dass Falscherkennungen bedeutendste Kriterium für die Zielauswahl ist die
von Objekten auf dem Nachbarfahrstreifen insbe- Objektgeschwindigkeit. Entgegenkommende Fahr-
sondere bei sich ändernden Verhältnissen (Kurve- zeuge werden komplett für die Regelung ignoriert.
nein- und -ausgang, unruhige Lenkbewegung) auf- Stehende Objekte sind ebenfalls keine Zielobjekte,
treten, andererseits aber das Zielobjekt in solchen mit Ausnahme derer, die schon als in der Fahrtrich-
Situationen stabil gehalten werden kann. tung bewegte Objekte erkannt wurden (so genannte
Ferner findet eine zeitliche Hysterese Anwen- „angehaltene Objekte“). Diese sind insbesondere
dung, wie . Abb. 46.18 zeigt. für die FullSpeedRange-ACC-Funktion in gleicher
Gewichtet mit der Zuordnungssicherheit (Spur- Weise relevant wie die in die gleiche Richtung fah-
wahrscheinlichkeit SPW) steigt bei positivem SPW renden Objekte. „Immer stehende“ Objekte werden
die Zielplausibilität (PLA) an. Oberhalb einer oftmals für andere Funktionen genutzt (s. a. ▶ Ab-
oberen Schwelle (hier 0,4) wird das Objekt zum schn. 46.9.3), und dafür separaten Filtern unterwor-
Zielobjekt, sofern andere Kriterien nicht dagegen fen. Für die ACC-Grundfunktionalität spielen sie
sprechen. Die Zielplausibilität kann bis zu einem aber nur eine untergeordnete Rolle.
maximalen Wert (hier 1) wachsen und verringert Eine weitere einfache, aber auch sehr effek-
sich aufgrund von zwei Möglichkeiten: bei fehlen- tive Vorgehensweise ist die Begrenzung des Ab-
der Detektion (kein Signal) und bei Zuordnung zum stands in Funktion der Fahrgeschwindigkeit (vgl.
benachbarten Fahrstreifen (negatives SPW). Erst . Abb. 46.11). So ist bei einer Geschwindigkeit von
unterhalb der unteren Schwelle (hier 0,2) verliert 50 km/h eine Reaktion auf Ziele, die mehr als 80 m
das Objekt die Eigenschaft, als Zielobjekt gewählt entfernt sind, weder notwendig noch sinnvoll, da
werden zu können. die Gefahr der falschen Zuordnung mit der Ent-
Das Zuordnungsmaß SPW kann unscharf abge- fernung deutlich steigt. Erfahrungswerte ergeben
bildet werden, wie in . Abb. 46.19 dargestellt ist. Je einen Abstandswert dto,0 = 50 m und einen Anstieg
weiter das Objekt entfernt ist, umso unschärfer ist von τto = 2 s.
der Übergang zwischen den Fahrstreifenzuordnun-
gen. Damit wird den mit dem Abstand steigenden dto;max D dto;0 C v  to(46.10)
Fehlern der Lagebestimmung und Kursprädiktion
Rechnung getragen. Zusätzlich können andere Erfüllen mehrere Objekte die Kriterien für ein Ziel-
abgeschätzte Unsicherheiten dynamisch zum Ein- objekt, so kommen folgende Entscheidungskriterien
schnüren des Kernbereichs führen wie eine festge-
stellte große Kurskrümmung.
-
einzeln oder in Kombinationen in Betracht:
der geringste Längsabstand,
872 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

.. Abb. 46.19  Unscharfe Fahr-


41 schlauchkontur zur Vermeidung
von Zuordnungsfehlern

42
43
44
- der geringste Abstand zur Kursmitte (minima- den verspäteten Reaktion bezogen auf den Moment

45 - les |∆yc|),
die geringste Sollbeschleunigung.

Das letzte Kriterium setzt aber eine Kopplung zur


der Überquerung der Fahrstreifenmarkierung durch
das einscherende Fahrzeug. Da die Fahrer durch die
Situation und das Anzeigen des Fahrstreifenwechsels
durch den Fahrtrichtungsanzeiger das Einscheren
46 ACC-Regelung oder eine Multi-Zielobjektschnitt- noch vor dem Überqueren der Markierung erahnen,
stelle voraus, verbessert dann aber den Übergang ist die späte Reaktion immer wieder Kritikpunkt der
47 bei ausscherenden Zielobjekten. Nutzer. Bei der Erkennung des Ausscherens tritt das
gleiche Phänomen auf, obwohl die Zielfreigabe ob-
jektiv korrekt mit dem vollständigen Erreichen des
48 46.7.5 Grenzen der Zielauswahl benachbarten Fahrstreifens stattfindet.
Falls Fahrstreifeninformationen (z. B. von ei-
49 Die in den letzten Abschnitten dargestellten Lö- nem Kamerasystem) zur Verfügung stehen, kann
sungsansätze sind sehr leistungsfähig und haben ein die zeitliche und örtliche Hysterese deutlich kür-
50 hohes Qualitätsniveau erreicht. Aber es verbleiben zer ausfallen, trotzdem lässt sich eine signifikante
situationsbedingte Grenzen, wie an zwei Beispielen Verbesserung des Ein- und Ausscherverhaltens von
erläutert werden soll. Die Fahrzeuge in . Abb. 46.20 ACC nur über eine Situationsklassifikation zu er-
51 bewegen sich im dargestellten Moment identisch, die reichen, die die Indikatoren interpretiert, die auch
Zuordnung als „richtiges“ Objekt erfolgt hingegen vom Menschen gesehen werden. Allerdings besteht
52 wegen des unterschiedlichen Straßenverlaufs anders. dann die Gefahr, dass damit auch die Transparenz
Ein anderes Beispiel ist das „Überholdilemma“ bei der ACC-Funktionalität beeinträchtigt wird.
Annäherung mit hoher Geschwindigkeit. Für eine Eine Verbesserung der Zielauswahl bei Fahr-
53 komfortable Abbremsung zum Folgen hinter einem streifenwechseln des ACC-Fahrzeugs kann über die
deutlich langsamer fahrenden Fahrzeug sollte schon Interpretation des Fahrtrichtungsanzeigers mit der
54 bei einem großen Abstand mit der Verzögerung be- Konsequenz einer Verschiebung des Fahrschlauchs
gonnen werden. Andererseits ist die Wahrschein- zur angezeigten Richtung realisiert werden. Auch
55 lichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug überholt die Digitale Karte in Verbindung mit einer Ortung
werden soll, bei einer großen Differenzgeschwin- ermöglicht eine adaptive Fahrschlauchfunktion.
digkeit besonders hoch. Eine frühe Verzögerung Alles in allem erreichen moderne ACC-Systeme
56 würde aber den Überholvorgang erheblich stören. eine mittlere Dauer von etwa einer Stunde zwischen
Da sich der Überholvorgang nur selten früher als zwei merklichen Falschzuordnungen; ein Wert, der
57 sechs Sekunden vor Erreichen des zu überholenden angesichts der vielen Fehlermöglichkeiten überra-
Fahrzeugs andeutet [10], kommt es zum Dilemma schend gut ist und nur schwer zu verbessern ist, wie
zwischen zu früher Reaktion für ein ungestörtes in [15] ausführlich dargelegt wird.
58 Überholen und zu später Reaktion für eine kom-
fortable bzw. überhaupt ausreichende Annäherung.
59 Eine andere Grenze ist die späte Erkennung 46.8 Folgeregelung
einscherender Fahrzeuge. Zum einen führen die
60 zeitliche und örtliche Hysterese bei der Fahr- Obwohl die Folgeregelung des ACC oft als Abstands-
schlauchzuordnung zu einer um etwa zwei Sekun- regelung bezeichnet wird, ist sie alles andere als eine
46.8 • Folgeregelung
873 46

.. Abb. 46.20  Situationsbeispiel für mehrdeutige Zielzuordnung (Fahrzeugpositionen und -bewegungen sind in beiden
Bildern identisch)

abstandsdifferenzgeführte Regelung. Als Ausgangs- erfüllt ist. Andernfalls werden die Frequenzanteile
punkt der weiteren Überlegungen wird angenom- der Frequenzen, für die diese Bedingung nicht er-
men, dass der Reglerausgang direkt und ohne zeit- füllt ist, aus einer noch so kleinen Störung mit jeder
liche Verzögerung die Fahrzeugbeschleunigung ist nachfolgenden Kolonnenposition größer. Für das in
und ferner, dass das ACC-Fahrzeug mit der Sollzeit- Gl. (46.11) aufgestellte idealisierte Regelgesetz gilt
lücke τset dem Zielfahrzeug folgt. Unter Vernachlässi- offensichtlich die Kolonnenstabilität, da
gung der Fahrzeuglängen lässt sich daraus ableiten,
dass das ACC-Fahrzeug nach einer Zeitdauer von τset jVK j D je j!set j D 1(46.13)
die Position des Zielfahrzeugs erreicht. Kopiert das
ACC-Fahrzeug nun die Position des Zielfahrzeugs ist, wenn auch grenzstabil ohne Dämpfung. Dieser
um die Zeitlücke verschoben, so wird die Zeitlücke Ansatz ist nicht praxistauglich, aber er zeigt die
unabhängig von der Geschwindigkeit eingehalten. Grundtendenz zu einer Reglerauslegung an. Nach-
In gleicher Weise werden die Geschwindigkeit und teile dieses Ansatzes sind die numerisch ungünstige
die Beschleunigung des vorausfahrenden Fahrzeugs Ermittlung der Beschleunigung des vorausfahren-
zeitverschoben kopiert. Somit ist für den einge- den Fahrzeugs (Differentiation der Relativgeschwin-
schwungenen Fall ein einfaches Regelgesetz ableit- digkeit und der eigenen Fahrgeschwindigkeit, die
bar, dass sogar Rückkopplungen vermeidet: dazu notwendige Filterung führt zu Phasenverzug)
und die fehlende Korrekturmöglichkeit bei nicht
xR i C1 .t/ D xR i .t  set /(46.11) passender Geschwindigkeit und bei Abweichungen
im Abstand.
Der Index i + 1 steht für das ACC-Fahrzeug in ei- Dazu wird im Folgenden ein auf Basis der Rela-
ner Fahrzeugkolonne mit Laufindex i. Die Notation tivgeschwindigkeit ausgelegter Regler gebildet:
wird im Hinblick auf die Betrachtung der Kolon-
xP i .t/  xP i C1 .t/ vrel
nenstabilität eingeführt, als deren Maß der Quotient xR i C1 .t/ D D (46.14)
v v
VK D xb R i .!/ der (komplexen) Beschleuni-
R i C1 .!/=xb
gungsamplituden ist. Die Kolonne ist genau dann oder im Frequenzbereich
stabil, wenn die Bedingung
xb
R i .!/
xb
R i C1 .!/ D
jVK j D jxb R i .!/j  1; für8!  0(46.12)
R i C1 .!/=xb 1 C j!v (46.15)
874 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

Mit wenigen Schritten lässt sich dieser Ansatz zeugs, wie . Abb. 46.21 für Frequenzen oberhalb
41 in einen beschleunigungsgeführten Ansatz wie von 0,05 Hz zeigt.
Gl.  (46.11) überführen, wobei der Beschleuni- Wie die Messungen von Witte in [16] belegen,
42 gungswert des vorausfahrenden Fahrzeugs nicht treten diese Schwankungen bei „fahrergeregelten“
um eine feste Zeit verzögert wird, sondern in ei- Fahrgeschwindigkeiten in durchaus merklicher
nem PT1-Glied gefiltert und dadurch implizit um Weise auf, was dadurch verursacht wird, dass die
43 τv verzögert wird. Der Ansatz (46.14 bzw. 46.15) Fahrer erst bei bemerkter Abweichung vom Wunsch
ist offensichtlich kolonnenstabil, allerdings nur bei eine dann zunächst konstante Fahrpedalstellung zur
44 Gleichheit von τv und τset auch dem Regelwunsch Korrektur anwenden, die dann erst wieder auf einen
nach konstanter Zeitlücke konform. Ferner ist die- anderen Wert geändert wird, wenn wiederum eine
45 ser Regelansatz nicht geeignet, einmal vorhandene Abweichung bemerkt wird.
Abstandsabweichungen zu reduzieren. Dazu wird Stabilität einerseits und hohe Entkopplung von
der Regler um einen additiven Korrekturteil zur Re- den Geschwindigkeitsschwankungen vorausfah-
46 lativgeschwindigkeit erweitert, der proportional zur render Fahrzeuge andererseits sind nicht zugleich
Differenz zwischen Soll- und Istabstand ist: zu erreichen. Eine implizite Fallunterscheidung
47 
dset  d
 bietet sich als Ausweg aus der Dilemma-Situation
xR i C1 .t/ D vrel  =v(46.16) an. Die hohe Empfindlichkeit des Fahrers auf
d
Schwankungen tritt vor allem dann auf, wenn in
48 oder im Frequenzbereich einer ruhigen, durch geringe Geschwindigkeits-
unterschiede geprägten Folgesituation gefahren
49 R i C1 .!/ D xb
xb R i .!/
1 C j!d
1 C j!.d C set /  ! 2 d v
(46.17) wird. Die mit der fehlenden Kolonnenstabilität
verbundenen Probleme äußern sich erst bei großen
50 Abweichungen zum stationären Zustand. Daher
Die Stabilitätsbedingung |VK| ≤ 1 wird nun nur liegt es nahe, die Regelkreisschleifenverstärkung
noch erfüllt, wenn τv hinreichend klein gewählt ist: selektiv auf diesen Unterschied auszulegen. In ei-
51 ner einfachsten Form kann dies über eine Kennli-
set
v  set .1 C /(46.18) nie mit zwei Knicken bei ± ∆v12 realisiert werden
52 2d
(. Abb. 46.22), wobei auch ein abgerundeter Über-
Offen bleibt bisher die Wahl der Abstandsregel- gang denkbar ist. Mit diesem Ansatz lassen sich
zeitkonstanten τd. Dazu kann ein Referenzszenario innerhalb der Regeldifferenzen von ∆v12  ≈  1 m/s
53 herangezogen werden, nämlich das Zurückfallen in die Geschwindigkeitsschwankungen mit großer
einer Einschersituation. Dabei wird angenommen, Regelzeitkonstante dämpfen, wenn aber größere
54 dass das einscherende Fahrzeug ohne Geschwin- Dynamik gefordert ist, wie z. B. einer größeren
digkeitsdifferenz in einem Abstand einschert, der Verzögerungsstufe, lässt sich auf Großsignalebene
55 20 m kleiner ist als der Sollabstand. Eine angemes- Stabilität erreichen.
sene Reaktion wäre eine Verzögerung von etwa Bei der tatsächlichen Reglerumsetzung wird
1 m/s2 entsprechend einem „Gaswegnehmen“ oder nur das grundsätzliche Prinzip übernommen, da
56 einer sehr leichten Bremsung. Damit eine derartige noch weitere Einflussgrößen eine Modifikation ver-
Reaktion gemäß Gl. (46.16) erfolgt, muss das Pro- langen. Diese kann über Kennfelder oder komple-
57 dukt τv ·  τd = 20 s2 betragen. Dieser Wert wird bei xere mathematische Funktionen ausgedrückt wer-
den nun nachfolgenden Betrachtungen zugrunde den. Des Weiteren werden in obiger Betrachtung
gelegt. alle sonstigen Systemtotzeiten vernachlässigt, was
58 Aus Gleichung (46.18) folgt, dass die durch v1 weder für die Umfeldsensorik noch für den unterla-
definierte Schleifenverstärkung für die Relativge- gerten Beschleunigungsregelkreis gerechtfertigt ist.
59 schwindigkeit umso höher sein muss, je kleiner die Als Richtwert kann hier gelten, dass die Regelkreis-
Folgezeitlücke ist. Allerdings bedeutet eine hohe zeitkonstanten um die Totzeiten reduziert werden
60 Schleifenverstärkung auch eine geringe Dämpfung müssen, um die Stabilitätsbedingungen erfüllen zu
von Geschwindigkeitsschwankungen des Zielfahr- können.
46.9  •  Zielverluststrategien und Kurvenregelung
875 46
Kolonnenverstärkung

1,2
τv = 1,5 s, τd = 13,3 s
Verstärkungsfunktion |V|

1
τv = 4,0 s, τd = 5 s
0,8

0,6
.. Abb. 46.22  Regelschleifenverstärkungskennlinie von
0,4 einem nichtlinearen Abstands- und Relativgeschwindigkeits-
regler
0,2

0 drückt. Doch wie lange wird dies fortgesetzt und


0 0,05 0,1 0,15 0,2 mit welcher Strategie wird daran angeschlossen? Für
Frequenz [Hz] die Zeitdauer der Beschleunigungsunterdrückung
lässt sich die Zeitlücke heranziehen, die bei Zielver-
.. Abb. 46.21  Kolonnenverstärkung für unterschiedliche lust vorlag. Sollte das Zielobjekt wegen der Einfahrt
Schleifenverstärkungen
in eine Kurve aus dem Messbereich entschwunden
sein, dann kann dieses vom ACC-Fahrzeug nach
46.9 Zielverluststrategien der der Zeitlücke entsprechenden Fahrstrecke über-
und Kurvenregelung prüft werden, weil dann die Krümmung sich von
der zum Zeitpunkt des Zielverlustes unterscheiden
Bei Kurvenfahrt ist ein Zielverlust nicht auszu- müsste. Wird dieses Kurvenkriterium erfüllt, kann
schließen, der dadurch entsteht, dass der maximale die Beschleunigungsunterdrückungsstrategie von
Azimutwinkel des ACC-Sensors nicht ausreicht einer Kurvenregelung abgelöst werden. Im anderen
(s.  ▶ Abschn. 46.6.2), um das Zielobjekt zu detek- Fall wird davon ausgegangen, dass das Zielobjekt
tieren. Auch bei Geradeausfahrt ist ein kurzzeitiger sich nicht mehr im Fahrschlauch befindet und die
Zielverlust nicht auszuschließen, wenn z. B. eine Geschwindigkeit dann der neuen Situation ange-
geringe Reflektivität vorhanden ist (Beispiel Mo- passt wird.
torrad) oder die Objekttrennung nicht gelingt. In Bei der Kurvenregelung sind zwei Aspekte von
diesen Fällen wäre eine sofortige Beschleunigung Bedeutung: die Querbeschleunigung und die effek-
auf die Setzgeschwindigkeit, wie sie nach dem Aus- tive Reichweite dmax,eff des ACC-Sensors. Diese ist
scheren eines Zielfahrzeugs gewollt wäre, unan- durch die Kurvenkrümmung κ und den maxima-
gemessen. Diese beiden Szenarien lassen sich oft- len Azimutwinkel φmax gegeben und beträgt in guter
mals dadurch unterscheiden, dass bei Ausscheren Näherung:
die Zielplausibilität (s. ▶ Abschn. 46.7.3) durch ein
2˚max
negatives Zuordnungsmaß (SPW < 0) zum Fahr- dmax;eff D (46.19)

schlauch abgebaut wird und das Objekt bei diesem
„Zielverlust“ immer noch detektiert wird. Hingegen Hieraus lässt sich eine Geschwindigkeit vc,p = dmax,eff /
ist bei Fahrt in engen Kurven oder bei den sonsti- tpreview über die mindestens für eine Annäherung zur
gen Zielverlusten, auf die nicht mit einer raschen Verfügung stehende Zeitlücke tpreview ableiten:
Beschleunigung reagiert werden soll, der Zielverlust
2˚max
mit dem Fehlen von Objektdetektionen und einer vc;p .; ˚max ; preview / D (46.20)
  preview
bei der letzten bekannten Messung positiven Zuord-
nung (SPW>0) zum Fahrschlauch verbunden. Mit
diesem Unterscheidungskriterium lässt sich die Re- Mittels dieser Geschwindigkeit lässt sich entschei-
aktion unterschiedlich gestalten: Im ersten Fall wird den, ob noch weiter beschleunigt wird. Diese Stra-
nach Zielverlust zügig beschleunigt, sofern nicht ein tegie führt gerade bei sehr engen Kurven wie bei
neues Zielobjekt die Beschleunigung begrenzt, im Autobahnkleeblättern zu einer angemessenen Fahr-
zweiten wird eine Beschleunigung zunächst unter- strategie.
876 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

100 einer Digitalen Karte erreichen, am besten mit einer


41 vc,ay(2m/s2)
heute noch nicht in Serienfahrzeugen dargestellten
Kurvengrenzgeschwindigkeit [m/s]

vc,ay(3m/s2)
fahrstreifengenauen Ortung. Damit lässt sich die
42 vc,pred(4°,2s) Kurvenkrümmung im Vorhinein erkennen und auch
vc,pred(8°,2s) die Regelstrategie an Autobahnausfahrten anpassen.
Eine weitere Herausforderung für die ACC-Ent-
43 wickler stellt das Abbiegen des Zielfahrzeugs dar.
Durch die Richtungsänderung des Geschwindig-
44 keitsvektors des vorausfahrenden Fahrzeugs ergibt
sich eine deutliche scheinbare Verzögerung für das
45 nachfolgende Fahrzeug. Da nur diese vom Sensor
gemessen wird, erfolgt daraus eine überproporti-
10 onale Verzögerung des ACC-Fahrzeugs, die durch
46 0,001 Kurvenkrümmung [1/m] 0,01 geeignete Maßnahmen reduziert werden sollte.
.. Abb. 46.23  Kurvengrenzgeschwindigkeiten für eine
47 „Blindflugregelung“ in Abhängigkeit von der Kurvenkrüm-
mung κ (vc,ay aus der Grenzquerbeschleunigung, ay,max resultie-
46.9.1 Annäherungsstrategien
48 rende Grenzgeschwindigkeit, vc,p aus maximalem Azimutwin-
kel fmax und der Vorschauweite tpreview abgeleitet) Das Annäherungsvermögen ist definiert als maxi-
male negative Relativgeschwindigkeit –vrel,appr, die
49 Das zweite vermutlich in allen ACC-Systemen mittels ACC zu einem mit konstanter Geschwin-
eingesetzte Kriterium ist die Querbeschleunigung. digkeit fahrenden Fahrzeug noch ausgeregelt wer-
50 Wie schon bei der Ableitung der Kurvenklassifika- den kann, bevor eine kritischen Distanz dappr,min
tion (▶ Abschn. 46.6.2) wird von einer den Kom- unterschritten wird. Es hängt vom Abstand dappr,0
fortbereich beschreibenden Grenzquerbeschleuni- bei Verzögerungsbeginn, vom konstant ange-
51 gung ay,max ausgegangen, die zwischen 2 m/s2 (bei nommenen maximalen Anstieg der Verzögerung
höheren Geschwindigkeiten) und 3 m/s2 (bei nied- «v;min D max und von der maximalen Verzöge-
x
52 rigen Geschwindigkeiten) liegt. Daraus lässt sich rung = minimale Beschleunigung xR v;min D Dmax
wiederum eine Kurvengrenzgeschwindigkeit vc,ay ab.
ableiten:
53 r vrel;appr D
s 
D3
2Dmax  dappr;0  dappr;min C max

(46.22)
ay;max 2
6max
vc;ay .; ay;max / D (46.21)
54
2
 Dmax

2max
Beide Grenzgeschwindigkeiten sind jeweils für zwei 
D2
vrel;appr C 2max
2

55
3
(46.23)
Dmax
typische Werte in . Abb. 46.23 dargestellt. Liegt die dappr;0 D dappr;min  2
6max
C
2Dmax
max

aktuelle Fahrgeschwindigkeit über den genannten


Geschwindigkeiten, so wird eine positive Beschleu- Der für eine unkritische Annäherung notwendige
56 nigung zumindest reduziert oder sogar eine negative Abstand wächst etwa quadratisch mit der Diffe-
veranlasst, ohne aber in den Bereich der deutlichen renzgeschwindigkeit und etwa reziprok zur Maxi-
57 Verzögerungen oberhalb von 1 m/s² zu geraten. malverzögerung. Mit 100 m Abstand lassen sich bei
In Verbindung mit der oben beschriebenen Dmax = 2,5 m/s2 etwa 20 m/s (72 km/h) Differenzge-
Zielverlustbeschleunigungsunterdrückung gelingt schwindigkeit ausgleichen, für eine Annäherungs-
58 ein erstaunlich guter „Blindflug“ mit einer in einer fähigkeit von vrel,appr = 100 km/h sind dappr,0 ≈ 120 m
Testreihe [14] nachgewiesenen Qualität von 80 %, und Dmax ≈ 3,5 m/s2 nötig.
59 gemessen daran, ob der Fahrer bei Zielverlust ohne Die Rampe beim Aufbau der Verzögerung führt
einzugreifen die Fahrt fortgesetzt hat. zwar zu einer Verringerung der Annäherungsfähig-
60 Eine Verbesserung der Reaktion auf kurvenbe- keit, erhöht aber die Transparenz für den Fahrer,
dingte Zielverluste lässt sich durch die Information vgl. auch ▶ Abschn. 46.3.2.
46.9  •  Zielverluststrategien und Kurvenregelung
877 46

Natürlich kann bei dynamischen Annäherun- Diese Funktion ist allerdings nur geeignet für den
gen nicht vermieden werden, dass der stationäre Einsatz in Ländern mit hoher Relativdynamik, also
Sollabstand bzw. die Sollzeitlücke unterschritten z. B. in Deutschland. In den USA dagegen sind die
wird. Daher kann als Reserve dappr,min für eine ge- Geschwindigkeitsunterschiede auf verschiedenen
lungene Annäherung auch ein deutlich kleinerer Fahrstreifen oft nur gering, sodass die Funktion hier
Abstandswert als der Sollabstand eingesetzt werden. in deutlich anderer Ausprägung angeboten werden
Doch ist zu beachten, dass die Unterschreitung, also muss oder sogar weggelassen wird. Alternativ kön-
das „Eintauchen“ nur über eine gefahrene Strecke nen bei entsprechender Sensorperformance (vor
von 250 bis 300 m zulässig ist. allem azimutaler Abdeckungsbereich und Grad
der Mehrzielfähigkeit) die Geschwindigkeiten der
Fahrzeuge auf dem Zielfahrstreifen analysiert und
46.9.2 Überholunterstützung die Überholunterstützung davon abhängig gemacht
werden.
Folgen und Überholen stehen im Widerspruch zu-
einander. Somit muss für eine Unterstützung des
Überholens die Folgeregelung temporär modifi- 46.9.3 Reaktion auf stehende Ziele
ziert werden. Ließe sich die Überholaktion exakt
vorhersehen, so könnte das aktuell vorausfahrende Stehende, im zukünftigen Korridor liegende Ob-
Fahrzeug ignoriert und so Fahrt aufgenommen jekte können durchaus relevante Hindernisse sein.
werden, als ob kein Fahrzeug vorausfahren würde. Aber vielfach sind es irrelevante Ziele wie Kanalde-
Allerdings ist der Fahrtrichtungsanzeiger kein ein- ckel, Brücken oder Schilder. Schon bei Geschwin-
deutiger Indikator, weder für die tatsächliche Über- digkeiten von 70 km/h müsste eine rechtzeitige Ver-
holabsicht noch für den gewünschten oder mögli- zögerung mit etwa 2,5 m/s² schon etwa 100 m vor
chen Manöverbeginn. Der erste Fall tritt auf, wenn dem Objekt begonnen werden. Da aber die Fehler-
mit dem Fahrtrichtungsanzeiger ein Linksabbiegen wahrscheinlichkeit bei der Zielauswahl dabei noch
angezeigt werden soll. Da diese Situation bei hohen sehr hoch ist, ist eine Reaktion auf stehende Ziele
Geschwindigkeiten selten der Fall ist, andererseits nur in wenigen Ausnahmefällen sinnvoll. Die wich-
das Überholen eher mit einer hohen Geschwindig- tigste Ausnahme betrifft die Historie von stehenden
keit verbunden ist, lässt sich eine Kompromisslö- Objekten. Sind diese zuvor mit einer von Null un-
sung finden, bei der die Überholunterstützung erst terscheidbaren Absolutgeschwindigkeit gemessen
bei Geschwindigkeiten oberhalb von 70 km/h ein- worden, so werden diese als „angehaltene“ Objekte
gesetzt wird. klassifiziert und können auch als potenzielle Ziel-
Ein einfaches Ausblenden des aktuellen Ziels objekte behandelt werden. Ansonsten werden die
scheidet aus, da das „Linksblinken“ oftmals auch Bedingungen für eine Reaktion auf stehende Ziele
als Aufforderung an den vorausfahrenden Fahrer, nur im Nahbereich bis ca. 50 m eingeschränkt. Die
den Überholstreifen freizugeben, eingesetzt wird. Reaktion kann eine „Beschleunigungsunterdrü-
Da aber nicht vorherzusehen ist, ob und wann die- ckung“ sein, bei der die Erhöhung der Geschwin-
sem Wunsch Folge geleistet wird, verbleibt nur eine digkeit unterbunden wird, solange das stehende
vorsichtige Unterschreitung des bisherigen Sollab- Objekt im Fahrschlauch geortet wird, oder eine
stands zum „Schwungholen“. Innerhalb dieser Phase Auffahrwarnung. Eine Bremsreaktion auf stehende
sollte dann der Überholvorgang mit einer erkennba- Hindernisse ist nur möglich, wenn die Fehlerwahr-
ren Richtungsänderung initiiert sein. Das notwen- scheinlichkeit der Zielwahl deutlich verringert
dige schnelle „Loslassen“ des bisherigen Ziels kann werden kann. Mit Einsatz mehrerer, möglichst
durch einen nach links verschobenen Fahrschlauch nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien
unterstützt werden. Kann der Überholvorgang nicht arbeitender Sensoren und einer robusten Sensor-
wie gewünscht durchgeführt werden, so kehrt ACC datenfusion lässt sich eine für Bremseingriffe bei
nach einer wenige Sekunden dauernden Aufrück- stehenden Zielen hinreichende Wahrnehmungs-
phase wieder in den normalen Folgemodus zurück. qualität erreichen.
878 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

46.9.4 Anhalteregelung, Spezifika 46.10 Längsregelung und Aktorik


41 der Low-Speed-Regelung
46.10.1 Grundstruktur
42 Für die Low-Speed-Regelung ist prinzipiell kein an- und Koordination Aktorik
derer Regleransatz erforderlich, allerdings müssen
die Abstands- und Geschwindigkeitsabweichun- Die Längsregelung setzt die Anforderung der
43 gen von den Sollwerten stärker gewichtet werden. Adaptiven Geschwindigkeitsregelung, nämlich
Beispielsweise können bei einer Zustandsregler- die letztendlich von verschiedenen Einzelreglern
44 struktur dazu die entsprechenden Reglerverstär- zusammengefasste Sollbeschleunigung, in eine
kungen über einen Fuzzy-Ansatz situationsgerecht Istbeschleunigung um. Dazu werden in jeweils
45 angepasst werden. Damit wird ein höheres Maß eigenständigen unterlagerten Regelkreisen der
an Komfort und ein fahrerähnliches Verhalten Stellsysteme Antrieb und Bremse die Summenkräfte
erreicht. Da bei niedrigen Geschwindigkeiten der (oder Summenmomente) so eingestellt, dass die ge-
46 Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug klein wünschte Beschleunigung realisiert werden kann.
ist, müssen Situationen wie z. B. „naher Einsche- Auch wenn eine gleichzeitige Ansteuerung eines
47 rer“, „Objekt zu nahe“ oder „Anhalten“ in diesem Antriebsmoments und eines Bremsmoments denk-
Geschwindigkeitsbereich besonders betrachtet bar ist, wird im Allgemeinen darauf verzichtet und
werden. Durch die stärkere Gewichtung der Ab- die jeweiligen Stellzweige exklusiv/oder angesteuert.
48 stands- und Geschwindigkeitsabweichungen beim Zur Gestaltung harmonischer Übergänge zwi-
Erkennen dieser Situationen wird die Reglerre- schen Antrieb und Bremse ist es sinnvoll, eine phy-
49 aktion schneller und damit eine für die gegebene sikalische Größe zu wählen, mit der beide Aktorsub-
Situation angemessene Dynamik sichergestellt. Im systeme gleichermaßen gesteuert werden können.
50 Vergleich zum „normalen“ ACC-Betrieb werden Hierfür bieten sich die Radmomente (aber auch die
bei der Low-Speed-Regelung höhere Verzögerun- Radkräfte) an. Dabei ist eine Summenbetrachtung
gen (bis zu 5 m/s2) erlaubt. Damit werden auch dy- ausreichend, also die Summe der auf alle 4 Räder
51 namische Anhaltevorgänge ermöglicht. Noch hö- wirkenden Radmomente, da ACC keine Momente
here Verzögerungen sind allerdings nicht sinnvoll, an einzelnen Rädern stellt. Auf diese Art und Weise
52 weil diese dem Fahrer suggerieren würden, dass das kann die Koordination auf Basis des gleichen phy-
System jede Situation selbstständig beherrschen sikalischen Signals möglichst aktornah bewerkstel-
könnte und er die Funktionsgrenzen nicht mehr ligt werden, wie in den nachfolgenden Abschnitten
53 erlebt. Ein zusätzliches Feature der Low-Speed- gezeigt wird.
Regelung ist die Stauerkennung. Wenn auf Basis Als Rückmeldeinformationen wird von ACC
54 von Sensordaten ein Stau erkannt wird (z. B. durch das umgesetzte Ist-Summenradmonent (bzw.
wiederholtes Losfahren des Vordermanns mit nied- -kraft) benötigt, das für die korrekte Berechnung
55 riger Dynamik, geringe Maximalgeschwindigkeit, der fahrdynamischen Gleichung und damit u. a. zur
Stillstand bereits wieder kurz nach dem Anfahren), Steigungsschätzung im ACC erforderlich ist. Vom
so werden die Abstands- und Geschwindigkeitsab- Antrieb muss zusätzlich der aktuell einstellbare Ma-
56 weichungen wiederum niedriger gewichtet, um ein ximal- und Minimalwert als Summenradmoment
sanftes Reglerverhalten zu erreichen. Damit kann zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist speziell das
57 z. B. bei Autobahn-Stau und Ampel-Verkehr in der minimal mögliche Moment, also das im aktuellen
Stadt ein unterschiedliches Verhalten mit einer der Gang im Schubbetrieb erreichbare Moment wich-
Situation angemessenen Dynamik gewährleistet tig, da die Bremse erst dann aktiviert werden soll,
58 werden. wenn über den Antrieb nicht mehr weiter verzögert
werden kann.
59 Wie in den nachfolgenden Kapiteln noch aus-
führlicher dargelegt wird, stellt die ACC-Regelung
60 keine allzu großen Anforderungen an die absolute
Genauigkeit der Stellglieder, da Abweichungen vom
46.10  •  Längsregelung und Aktorik
879 46

geforderten Sollwert meist über den geschlossenen


AK Br RBr
Regelkreis gut kompensiert werden können. Ledig- D D pBr (46.24)
mv Rdyn
lich zu Beginn der Regelung sowie bei Übergängen
zwischen den verschiedenen Stellgliedern verein-
facht eine gute absolute Genauigkeit die Regelung. Zeichenerklärung:
Im Wesentlichen ist jedoch eine gute relative Ge- ΔD Änderung der Fahrzeugverzögerung
nauigkeit für den gewünschten Regelkomfort not- ΔpBr Änderung des Bremsdrucks
wendig. AK Gesamtfläche der Bremskolben
µBr Gleitreibung zwischen Bremsbelag und Brems-
scheibe
46.10.2 Bremse RBr Wirksamer Radius an den Bremsscheiben
(Mittelwert)
Die anfänglich vor allem von japanischen Auto- mv Fahrzeugmasse
mobilherstellern angebotenen ACC-Systeme ohne Rdyn Dynamischer Radius der Räder
Bremseingriff fanden – wegen der allein durch das
Motorschleppmoment in Verbindung mit Getriebe- Als Näherungswerte können AK · µBr · RBr =  70 Nm/
rückschaltungen bedingten geringen Verzögerung – bar und mv = 2100 kg sowie Rdyn = 0,34 m dienen. Je
in Europa nur geringe Akzeptanz, weil die Fahrer zu nach Fahrzeugkonfiguration können sich so Über-
häufig selbst bremsen mussten. Die seit 1995 voran- setzungswerte von  0,07…0,14 m/s2bar ergeben.
schreitende Ausrüstung von Fahrzeugen der Ober-
klasse mit ESC-Systemen sowie die den Fahrer bei 46.10.2.1 Stellbereiche
Notbremsungen unterstützenden Bremsassistenten Wenn bei Standard-ACC eine Verzögerung von
haben die Realisierung eines für ACC-Systeme ge- 2 m/s2 angefordert wird, so sind bei ebener Fahr-
eigneten Bremseingriff deutlich vereinfacht, sodass bahn 20–25 % des für gute Fahrbahnverhältnisse für
kaum noch eine ACC ohne Bremseingriff zu finden eine Vollbremsung notwendigen Maximaldrucks
ist. von etwa 80 bar hinreichend. Berücksichtigt man
Da für die Systeme ASR und ESC als Schnittstelle jedoch die maximale Zuladung, ungebremste An-
zum Motor bereits die Anforderung eines Sollmo- hängelasten sowie Bergabfahrt, ergeben sich deut-
ments über eine Motor-Momentenschnittstelle ein- lich größere Werte bis hin zu 50 % des Maximal-
geführt wurde, war es nahe liegend, als Anforderung drucks. Um für verschiedene Reibverhältnisse an
an die Bremse ebenfalls ein gewünschtes Brems- der Bremsscheibe sowie Fading ausreichend Reser-
moment zu schicken. Dies hat den Vorteil, dass die ven zu haben, muss der zulässige Stellbereich noch
Aufteilung zwischen den verschiedenen Stellgliedern nach oben aufgeweitet werden, sodass im Extremfall
im ACC-Regler sehr einfach erfolgen kann und die der gesamte zur Verfügung stehende Stellbereich
Spezifika der einzelnen Stellorgane keinen oder nur genutzt werden muss. Die Sicherheitsüberwachung
einen geringen Einfluss auf die Reglerauslegung ha- des Bremseneingriffs kann somit nicht über den
ben, was die Übertragbarkeit in verschiedene Fahr- Betrag des angeforderten Bremsmoments, sondern
zeuge und Modelle erheblich erleichtert. nur über die eingestellte Verzögerung erfolgen
Betrachtet man die Übertragungsfunktion der (siehe ▶ Abschn. 46.10.2).
Bremse, erkennt man, dass sich Druckänderungen
mit dem Faktor 0,1 in der Verzögerung auswirken, 46.10.2.2 Stelldynamik
d. h. Drucksprünge von 1 bar liegen nur knapp unter Für Komfortfunktionen wie ACC werden typi-
dem Merkschwellwert von 0,15 m/s². Entsprechend scherweise Verzögerungsänderungen bis zu 5 m/s3
hoch sind die Anforderungen an die Dosierbarkeit zugelassen (siehe ▶ Abschn. 46.3.2). Daraus würde
der Bremsenansteuerung. eine geforderte Druckänderungsdynamik von 30–
Für den Zusammenhang zwischen Verzögerung 40 bar/s resultieren. Um jedoch den vorgegebenen
D (= negative Beschleunigung) und Bremsdruck pBR Momenten- bzw. Druckverläufen mit ausreichen-
gilt: der Dynamik folgen zu können, muss die Brems-
880 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

-
anlage in der Lage sein, Veränderungen mit bis zu 46.10.2.4 Sonstige Anforderungen
41 150 bar/s zu folgen. Das Bremslicht muss unabhängig von der
Notwendig ist ein dynamisches Folgen der Soll- Fahrerbremsbetätigung angesteuert werden
42 wertvorgabe mit ausreichend schnellem Druckauf- können. Bei Bremsstellsystemen mit einem
bau zu Bremsbeginn und möglichst verzugsfreiem aktiven Booster kann dies ohne Änderung
Folgen bei Druckmodulationen. Die maximalen über den Bremslichtschalter am Pedal reali-
43 Verzugszeiten sollten dabei < 300 ms bleiben. Vor- siert werden, während bei Bremsstellsystemen
aussetzungen dafür sind neben einer entsprechend mit Hydraulikpumpen das Bremslicht vom
44 dimensionierten Pumpe vor allem die Entdrosse- Steuergerät in Abhängigkeit von Bremsdruck
lung des Hydrauliksystems im Ansaugbereich der und Verzögerung gesteuert wird. Dabei ist
45 Pumpe, um die benötigten Volumina weitgehend das Bremslichtflackern über Mindestan-
temperaturunabhängig bereitstellen zu können. steuerzeiten bzw. mittels Schalthysterese zu

46
47
Das Einregeln des Sollwerts muss unbedingt über-
schwingungsfrei erfolgen, da dies sonst vom Fah-
rer als sehr unangenehm empfunden wird. Neben
schnellem Folgen bei dynamischen Sollvorgaben ist
- vermeiden.
Die Bremsdruckverteilung Vorder-/Hinter-
achse ist identisch zur Normalbremsbetätigung
zu halten, um eine Überlastung der Bremsen
insbesondere auch ein gutes und möglichst stufen- einer Achse bzw. instabiles Fahrzeugverhalten
loses Folgeverhalten bei kleinen oder sich langsam zu verhindern. Hierbei haben sich zusätzli-
48 verändernden Sollvorgaben unbedingt erforderlich, che Bremskreisdrucksensoren bewährt. Bei
da gerade dieses Ausregeln von kleinen Regeldiffe- längeren Bremsungen kann darüber auch die
49 renzen typisch für den ACC-Betrieb ist. Stationäre Leckage in einem Kreis erkannt und kompen-

50
Abweichungen sind ebenfalls zu vermeiden, da sich
dies zu Geschwindigkeits- und Abstandsfehlern auf-
integriert und zu Grenzzyklusschwingungen führen
kann.
- siert werden.
Beim Einbremsen des Fahrers in eine ACC-
Bremsung sollen die Pedalrückmeldungen so
gering wie möglich gehalten werden. Ins-
51 besondere Vibrationen oder gar Schläge am
46.10.2.3 Regelkomfort Pedal sind zu vermeiden, der Übergang in die
52 Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, reagiert normale Bremsdruckkennlinie ist harmonisch

53
das Fahrzeug sehr sensibel auf Druckänderungen.
Damit ein sensibler Fahrer den Druckaufbau als
stufenlos empfindet, muss die Bremsanlage fähig
sein, Druckstufen kleiner als 0,5  bar zu stellen.
- zu gestalten.
Beim Auftreten von Fahrzeuginstabilitäten
hat die Fahrzeugregelung (ABS, ASR, ESC)
Vorrang, die Übergänge in die Schlupfregelung
54
55
Der Bremsdruckauf- und -abbau soll möglichst
geräuschfrei, harmonisch und kontinuierlich ver-
laufen, unbeabsichtigte Drucksprünge über 1 bar
Druckänderung sind zu vermeiden. Für eine gleich-
- sind dazu geeignet auszulegen.
Sicherheitsüberwachungen: Bei Fehlern im
ESC-System ist der Bremsdruck sofort abzu-
bauen, bei Fehlern in Partnersteuergeräten ist
mäßige Druckerzeugung ist eine erhöhte Anzahl an je nach Schwere eine Bremsung zu beenden
56 Pumpenelementen günstig, für den Druckabbau bzw. rampenförmig Druck abzubauen. Ebenso
sind kontinuierlich regelnde Ventile vorteilhaft. ist sicherzustellen, dass alle Abschaltsignale
57 Bezüglich Akustik ist auf eine niedrige Pumpen- (zusätzlich zum Bremslichtschalter), wie etwa
drehzahl zu achten sowie auf eine entsprechende Bedienelemente, Handbremsbetätigung, un-
Lagerung der Hydraulikeinheit und auf geeignete gültiger Gang etc. sicher verarbeitet werden.
58 Verlegung der Bremsleitungen, um die Einkopplung
von Schwingungen über die Karosserie zu verhin- 46.10.2.5 Rückmeldeinformation
59 dern. Erschwerend kommt hinzu, dass bei einem Das Bremssubsystem ist der wichtigste Lieferant für
Bremseingriff eine der wesentlichen Geräuschemit- fahrzeuginterne Zustandsgrößen; die wichtigsten
60 tenten im Fahrzeug, der Motor, auf sein akustisches hierunter sind: Fahrzeuggeschwindigkeit, Gierrate,
Minimum, den Schleppbereich, zurückgefahren ist. Lenkradwinkel, Bremslichtschalter und Schlupf-
46.10  •  Längsregelung und Aktorik
881 46

regelinformationen. Außerdem wird das aktuell 46.10.3 Antrieb


umgesetzte Ist-Bremsmoment rückgemeldet, um
in der ACC eine Steigungsschätzung durchführen Im Folgenden wird die Kombination aus Verbren-
zu können. Für eine angemessene Reaktion auf nungsmotor und Automatikgetriebe betrachtet, die
Regelzustände von ESC werden binäre Zustandsin- Kombination mit Handschaltgetriebe wird als Son-
formationen (Flags) bereitgestellt (z. B. ABS-aktiv, derfall betrachtet. Kombinationen mit Hybridan-
ASR-aktiv, ESC-aktiv). trieben sind ebenfalls denkbar. Prinzipiell ist hierzu
zu sagen, dass Übergänge zwischen Elektromotor
46.10.2.6 Zusatzanforderungen und Verbrenner für ACC genauso unmerklich ab-

-
für FSRA laufen müssen wie für den Fahrer; der Antrieb ist
Für Bremsungen im Niedriggeschwindigkeits- für ACC weiterhin lediglich ein Momentensteller,
bereich bestehen vor allem wegen fehlender da für die Systemfunktion unerheblich ist, wie diese
Fahr- und Motorgeräusche erhöhte Anfor- Momente erzeugt werden. Hinsichtlich des rekupe-
derungen an die Akustik der Bremsregelung. rativen Bremsens mit einer Elektromaschine ist auf
Ebenso sind Bremsengeräusche wie Quiet- entsprechende Koordination mit dem Bremssystem

- schen oder Rubbeln zu minimieren.


Aufgrund der höheren Verzögerungen ergibt
sich ein verändertes Einbremsverhalten, das
zu achten, das die Überblendung zur Reibungs-
bremse zu übernehmen hat.
Es hat sich bewährt, Motor und Getriebe aus

- Pedal darf nicht übermäßig verhärten.


Stillstandsmanagement: Nach erkanntem Still-
stand übergibt FSRA die Verantwortung für
sicheres Halten im Stand an das ESC, hierbei
Sicht von ACC als Einheit zu betrachten sowie di-
rekt Summen-Rad-Sollmomente vorzugeben und
dem Antriebssubsystem zu überlassen, wie diese
Momente geeignet gestellt werden, entweder durch

-
ergeben sich folgende Aufgaben: Veränderung des Motormoments oder durch Ver-
Anhebung (nach starken Verzögerungen ändern der Getriebeübersetzung.
ggf. auch Absenkung) des Bremsdrucks für So ergibt sich für eine Änderung der Beschleu-
sicheres Halten im Stand, eine Neigungser- nigung ∆a analog zur Betrachtung bei der Bremse

-
kennung ist hierfür vorteilhaft ein proportionaler Zusammenhang mit der Sum-
Permanente Rollüberwachung und bei men-Radkraftänderung bzw. der Summen-Radmo-

-
Bedarf Bremsmomentenerhöhung mentenänderung:
Rutscherkennung bei sehr niedrigen
FR† MR†
Reibwerten, ggf. Lösen der Bremse, um a D D (46.25)

-
mv mv Rdyn
Lenkbarkeit zu erhalten
Sicherer Übergang in energieloses Halten
(Ansteuerung der elektrischen Parkbremse Zeichenerklärung:
EPB) bei Erkennung einer Fahrerausstiegs- Δa Änderung der Fahrzeugbeschleunigung

-
absicht mv Fahrzeugmasse
Temperaturüberwachung des Hydraulik- Rdyn Radius der Räder
systems wegen der stärkeren Erwärmung ΔFRS Summenradkraftänderung
durch die permanente Ventilbestromung, ΔMRS Summenradmomentänderung

-
ggf. Abschaltung mit Fahrerwarnung
Bei Motor-Start-Stopp-Systemen ist darauf Eine direkte Ansteuerung des Motors über Motor-
zu achten, dass während des Spannungsein- moment-Sollwerte ist zwar möglich, benötigt aber
bruchs beim Motorstart alle notwendigen spezielle Maßnahmen zur Getriebebeeinflussung,
Funktionen aktiv bleiben, insbesondere ist um eine ausreichende Dynamik zu erhalten und
das korrekte Schließen derjenigen Hyd- trotzdem unerwünschte Schaltungen zu vermeiden.
raulik-Ventile zu berücksichtigen, die für Ein lediglich stark schaltberuhigtes Kennfeld wie im
das Halten des notwendigen Bremsdrucks CC-Betrieb reicht nicht aus, da ACC im Folgereg-
verantwortlich sind. ler deutlich dynamischer ausgelegt sein muss als ein
882 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

rein auf Konstantfahrt ausgelegter Fahrgeschwin- motor entstehen, vermieden bzw. erlaubt werden.
41 digkeitsregler. Des Weiteren können größere Unstetigkeiten in der
Ebenso ist eine direkte Umrechnung der Mo- Momentenumsetzung, wie sie z. B. durch zusätzliche
42 tormoment-Sollwerte in virtuelle Fahrpedalwinkel Getrieberückschaltungen in automatisierten Stufen-
zur Ansteuerung der Getriebelogik nicht geeignet, getrieben auftreten, vermieden bzw. erlaubt werden.
da die ACC-Regelung versucht, eine vorgegebene

-
43 Beschleunigung exakt einzuregeln und – anders als Beispiele:
beim Fahrer – Abweichungen sich direkt in Soll- Auslösung der Schubabschaltung, jedoch
44 momentänderungen widerspiegeln, die in bestimm- keine zusätzlichen Getrieberückschaltungen
ten Betriebspunkten zu Pendelschaltungen führen (nur Ausrollschaltungen) bei einer Annähe-
45 können. rung an ein langsamer fahrendes Zielobjekt
oder bei Reduktion der Wunschgeschwindig-

-
46.10.3.1 Motorsteuerung keit.
46 (Stellbereiche, Stelldynamik, Auslösung der Schubabschaltung und zusätz-
Stufigkeit/Genauigkeit liche Getrieberückschaltungen bei statischer
47 Rückmeldeinformation Bergabfahrt zur Unterstützung der Bremsan-

-
(Verlustmoment lage im Bergabbetrieb.
Nebenaggregate)) Aufhebung der Schubabschaltung bei stati-
48 Für den notwendigen Stellbereich gilt – analog scher Bergabfahrt zur Auflösung von zuvor ge-
zur Bremse – dass für ACC der gesamte mögliche tätigten Getrieberückschaltungen. Somit wird
49 Momentenbereich zur Verfügung stehen muss, um ein „Schubabschaltungstoggeln“ verhindert
alle relevanten Fahrsituationen abzudecken. Die und dem Getriebe die Auflösung der Rück-
50 erforderliche Stelldynamik entspricht der für den schaltung bei einer Gefälleänderung während
Fahrer notwendigen Dynamik – was bei den meis- statischer Bergabfahrt ermöglicht.
ten modernen Systemen kein Problem darstellen
51 sollte, da die Fahrersollwerte ebenfalls elektronisch Besonderheiten bei der Kombination
übertragen werden, Fahrer- und ACC-Vorgaben mit Handschaltgetriebe:
52 also prinzipiell über den gleichen Pfad eingespeist Die Motorsteuerung ermittelt das Übersetzungs-
werden. verhältnis Radmoment/Kurbelwellenmoment über
Der Antrieb setzt das angeforderte Summenrad- die Drehzahlübersetzung der Getriebestufen und
53 moment der ACC-Funktion (ähnlich Fahrpedal) auf berechnet damit aus der Antriebsanforderung der
den jeweiligen Betriebspunkt bezogen optimal um. ACC-Funktion ein Motormoment und setzt dieses
54 Es werden Motor, Getriebe und Nebenaggregate zur bestmöglich um.
Umsetzung des Sollwerts herangezogen. Die Koor- Von der Motorsteuerung wird während des
55 dination geschieht möglichst im Antriebssystem Schaltvorgangs, d. h. nach Kupplungsbetätigung
autonom. Sollte dies nicht unterstützt werden, so durch den Fahrer, eine Regelung der Kurbelwellen-
hat die Umrechnung auf das Motormoment vom drehzahl zur Synchronisierung Kurbelwellen-/Ge-
56 ACC-Steuergerät oder einem Längsdynamikmodul triebeeingangsdrehzahl im Zielgang durchgeführt.
zu erfolgen, wobei die aktuelle Getriebeübersetzung Die Bestimmung des Kurbelwellendrehzahlsoll-
57 bekannt sein muss. werts erfolgt in Abhängigkeit des im Motorsteuer-
Die ACC-Funktion unterscheidet aus Komfort- gerät prädizierten Zielgangs.
gründen unterschiedliche Betriebsarten, die in die Die Motorsteuerung bewertet die Kurbelwellen-
58 Koordination der unterschiedlichen Stellmöglich- drehzahl und weist den Fahrer unter Einbeziehung
keiten, die der Antrieb hat, eingehen (z. B. Schub- der Situation darauf hin, einen niedrigeren Gang zu
59 abschaltung, Getriebeschaltungen, Zuschaltung wählen. Die Aufforderung, einen höheren Gang zu
von Nebenaggregaten). So können kleine Unste- wählen, ist nicht erforderlich.
60 tigkeiten in der Momentenumsetzung, wie sie z. B. Um ein Abwürgen des Motors zu verhindern,
durch Aktivierung der Schubabschaltung im Otto- muss der Motor die Möglichkeit haben, die ACC-
46.11  •  Nutzungs- und Sicherheitsphilosophie
883 46

Funktion abzuschalten, wenn der Fahrer dem Rück- 46.11 Nutzungs-


schalthinweis nicht nachkommt. ACC wird eben- und Sicherheitsphilosophie
falls abgeschaltet, wenn der Kupplungsvorgang ein
Zeitlimit (z. B.  8 s) überschreitet oder kein passen- 46.11.1 Nachvollziehbarkeit
der Gang eingelegt wird. der Funktion

46.10.3.2 Getriebesteuerung Für die Akzeptanz des ACC-Systems ist eine gute
Die ACC-Zustandssteuerung benötigt als eine der Nachvollziehbarkeit der Systemreaktionen unerläss-
Aktivierungsbedingungen vom Getriebe im We- lich. Nur wenn der Benutzer in kurzer Zeit in der
sentlichen die Information, dass ein gültiger (Vor- Lage ist, die Systemreaktionen vorherzusehen, wird
wärts-)Gang eingelegt ist. er das System auch sinnvoll einsetzen. Dies stellt die
Falls Motormomente vorgegeben werden sollen, Entwickler vor das Problem, die Regelung so ein-
so benötigt ACC vom Getriebe die aktuelle Strang- fach wie möglich auszuführen und dabei teilweise
verstärkung VS; dies ist das Verhältnis von Kraft FRΣ Features, die ein erfahrener Benutzer und natürlich
an der Antriebsachse zum Motormoment MM und die Entwickler selbst schätzen würden, wegzulassen.
durch das Produkt von Wandlerverstärkung µW, der Dadurch, dass der Fahrer bei aktiver ACC-Funktion
Übersetzung iG des aktuellen Gangs, der Achsgetrie- einen Teil der Fahrzeugführungsaufgabe an das Sys-
beübersetzung iA geteilt durch den dynamischen tem abgibt und diese nur noch zu überwachen hat,
Radradius Rdyn gegeben: kommt der Nachvollziehbarkeit des Systems eine
bedeutende Rolle zu. Weil aktuelle ACC-Systeme
FR† W  iG  iA
VS D D (46.26) nur einen Teil der Längsregelung übernehmen, ist
MM Rdyn es sinnvoll und notwendig, die Systemgrenzen bei
bestimmungsgemäßer Benutzung des Systems so
Dabei ist die Wandlerverstärkung zumeist als zu wählen, dass sie mit einer gewissen Regelmä-
Kennlinie hinterlegt, die ggf. noch temperaturkom- ßigkeit erreicht bzw. überschritten werden. Damit
pensiert werden muss. wird erreicht, dass die Systemgrenzen dem Fahrer
Für FSRA können elektronisch schaltbare Ge- jederzeit bewusst sind und er geübt ist, die Regelung
triebe darüber hinaus als zusätzliche Absicherung vom System zu übernehmen.
für das Stillstandsmanagement herangezogen wer-
den. Dabei wird bei Erkennen der Ausstiegsabsicht Die Adaptive Cruise Control ist keine Sicherheits-
die Parksperre eingelegt. In Verbindung mit einer funktion, sondern dient in erster Linie der Fahr-
mehrstufigen, frühzeitigen Fahrerwarnung, die den komforterhöhung. Selbstverständlich darf auch
Fahrer auf seine Verantwortung zur Stillstandabsi- von einem Komfortsystem keine Gefahr ausgehen,
cherung hinweist, ist dies ausreichend. sodass das ACC-System eine dieser Forderung
Als einzige Absicherung für ein vollautomati- entsprechende Sicherheit zu gewährleisten hat.
sches Stillstandmanagement (ohne Fahrerzutun) Fehlerbaumanalysen haben gezeigt, dass nur dann
reicht dies jedoch nicht, da die Parksperre nur die gefährliche Situationen auftreten können, wenn der
Antriebsachse blockiert, die Räder sich bei ent- Fahrer seine Eingriffsmöglichkeiten nicht nutzt. Da-
sprechenden µ-split-Bedingungen über das Dif- raus leiten sich zwei Konsequenzen ab:
ferenzial jedoch entgegengesetzt drehen können 1. Der Fahrer darf mit der Übernahme nicht über-
und das Fahrzeug losrollen könnte. Ebenso ist bei fordert werden. Insbesondere heißt dies, dass er
verspäteter Anforderung oder im Fehlerfall, wenn die Notwendigkeit der Übernahme erkennt und
das Fahrzeug bereits rollt, ein sicheres Einlegen die daran anschließende Reaktion rechtzeitig
der Parksperre oberhalb von ca. 3 km/h nicht mehr genug und mit der richtigen Handlungsweise
möglich, wohingegen eine EPB prinzipiell bei jeder wählt.
Geschwindigkeit wirksam werden kann. 2. Die Fahrerübernahmemöglichkeit muss fehler-
tolerant ausgelegt sein, sodass diese Möglich-
keiten, wie Abschalten der Regelung, stärkeres
884 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

Verzögern oder stärkeres Beschleunigen, in nur hung von Informationen über den zu erwartenden
41 höchst unwahrscheinlicher Weise blockiert sein Straßenverlauf aus modernen Navigationssyste-
dürfen. men. Auch eine stark versetzte Fahrweise kann
42 zu Ausfällen in der Erkennung führen. Dies führt
Eine rechtzeitige Erkennung der Übernahmenot- insbesondere bei Motorrädern aufgrund deren
wendigkeit leitet sich aus dem mentalen Modell des schmaler Silhouette zu Problemen bei der Erfassung
43 Fahrers über die Funktion ab, das sich durch die (. Abb. 46.25).
vergangene Erfahrung gebildet hat. Insbesondere Einige der zuvor genannten Schwachpunkte be-
44 wäre ein zu hohes Vertrauen auf die Technik durch ziehen sich auf ACC-Systeme der ersten Generation
bisher erlebte Fehlerfreiheit problematisch, weil und wurden durch den erweiterten Sichtbereich der
45 dadurch der Fahrer unvorbereitet sowohl hinsicht- Sensoren aus den Folgegenerationen oder durch
lich des Auftretens als auch der Reaktionshandlung Einsatz von Zusatzsensoren mit geringer Reichweite
wäre. Bei ACC tritt diese Schwierigkeit nicht auf, da und großem seitlichen Erfassungsbereich, wie sie
46 eine Perfektion der Funktion, wie oben aufgeführt, zunehmend in FSRA-Systemen Verwendung finden,
nicht zu erreichen ist. Dieser an sich negative As- zumindest teilweise kompensiert.
47 pekt hat aber den Vorteil, dass die Ausfallsituation
permanent trainiert wird. Damit verbleibt für den
Fahrer das Bewusstsein, dass er bei ungewünschtem 46.12 Sicherheitskonzept
48 Verhalten eingreifen muss, und er hat geübt, in wel-
cher Weise übernommen werden kann bzw. muss. Die Fehlertoleranz der Übernahmemöglichkeit
49 wird durch die Verteilung des Systems erleichtert.
Als Beispiel für eine umgesetzte Möglichkeit dient
46.11.2 Systemgrenzen
50 das Einlesen des Bremspedalschalters sowohl von
der Motorsteuerung als auch des ESC. Bei Erken-
Strahlsensoren wie Radar- oder Lidarsensoren bie- nen des getretenen Bremspedals werden die Mo-
51 ten auf der einen Seite eine präzise Erfassung von mentenanforderungen der ACC-Längsregelung
Abstand und Relativgeschwindigkeit, und zumin- von der Motorsteuerung ignoriert. Ebenso werden
52 dest die Radarsensoren sind weitgehend unemp- Verzögerungsanforderungen an die Bremsregelung
findlich gegenüber Witterungseinflüssen. Auf der unterbunden, wenn das Fahrpedal getreten ist. So-
anderen Seite ergeben sich aufgrund des begrenzten wohl die Betätigung des Bremspedals als auch des
53 Öffnungswinkels und der schwierigen Fahrstreifen- Fahrpedals werden ihrerseits redundant erfasst,
zuordnung der detektierten Objekte speziell in Kur- sodass sowohl die Betätigung als auch folgende Re-
54 vensituationen Einschränkungen, die teilweise zu aktionszustände für Einfachfehler gesichert sind,
unerwarteten oder unverständlichen Systemreakti- selbst wenn der Steuerrechner für ACC oder das
55 onen führen und den Anwendern durch geeignete Datennetzwerk unterbrochen sind.
Medien erläutert werden sollten. Da die Partionierung der Aufgaben sehr unter-
Aufgrund des schmalen Erfassungsbereichs schiedlich sein kann, wie die genannten Beispiele
56 der ACC-Sensoren werden Einscherer direkt zeigen, lassen sich keine allgemeinen Musterlösun-
vor dem eigenen Fahrzeug erst sehr spät erkannt gen angeben. Stattdessen ist die gesicherte Eingriffs-
57 (. Abb. 46.24 links). Problematisch bleibt die Zu- möglichkeit des Fahrers über eine Fehlerbaumana-
ordnung der detektierten Objekte in Kurvenein- lyse nachzuweisen.
gangssituationen, vor allem, wenn aufgrund der Neben der permanenten Verfügbarkeit der Fah-
58 fahrzeugimmanenten Signale (Lenkradwinkel, rereingriffsmöglichkeiten ist eine Eigensicherheit
Giergeschwindigkeit) noch keine Kurvenfahrt er- des ACC-Systems unerlässlich. Auch hier erweist
59 kannt werden kann (. Abb. 46.24 rechts). sich die Dislozierung des Systems als Vorteil. So
Abhilfe kann hier erfolgen durch die Verwen- kann z. B. das ESC-System als nachweislich eigen-
60 dung von Kameras, die in der Lage sind, Fahrstrei- sicheres System die Überwachung der ACC-Rege-
fenverläufe zu erkennen, und durch die Einbezie- lung übernehmen. Wählt man als zu überwachende
46.13  •  Nutzer- und Akzeptanzstudien
885 46
.. Abb. 46.24 Beispielhafte
Problemsituationen; links: späte
Reaktion auf Einscherer; rechts:
schwierige Objektzuordnung in
Kurveneingangssituationen

.. Abb. 46.25 Beispielhafte
Problemsituationen: Mehr-
deutigkeit bei stark versetzten
Automobilen und Motorrädern

Größe die resultierende Fahrzeugbeschleunigung, Insgesamt wurde eine Fülle an Ergebnissen (s. a.
sind alle theoretisch möglichen Fehlerquellen ent- [24]) zusammengetragen, aus der hier für einige
halten. Da ACC der ersten Generation über sehr ausgewählte Kategorien einzelne Ergebnisse vorge-
eng gesteckte Grenzen verfügt, meist +1 m/s2 bzw. stellt werden.
–2 m/s2, ist eine solche Beschleunigungsüberwa-
chung sehr gut realisierbar. Nachteilig ist lediglich,
dass bei dieser Art der Überwachung die Beschleu- 46.13.1 Akzeptanz
nigung bzw. Verzögerung für kurze Zeit auf das
Fahrzeug wirkt, bevor sie vom ESC unterbunden Eindeutig fallen die Urteile der Versuchspersonen
wird. Jedoch können die Grenzen so gewählt wer- in allen bislang durchgeführten Studien bezüglich
den, dass über 95 % der Normalfahrer damit zu- der Akzeptanz aus.
rechtkommen. Becker und Sonntag [17] beschreiben in der Pi-
lotstudie, dass die Probanden die Fahrt mit ACC
subjektiv als sicherer, entspannender und weniger
46.13 Nutzer- und Akzeptanzstudien belastend einschätzen als das manuelle Fahren. Zu
dieser Überzeugung kamen sie trotz des Prototy-
Die Entwicklung von Adaptive Cruise Control penstatus der Versuchsträger, die zum Teil erhebli-
(ACC) wurde von Beginn an von Probandenun- che Sensorschwächen aufwiesen. Dennoch konnten
tersuchungen begleitet. Die erste größere Untersu- die Erwartungen der Versuchsteilnehmer an das
chung wurde Anfang der neunziger Jahre vom TÜV System voll erfüllt und zum Teil sogar übertroffen
Rheinland [17] durchgeführt. Sie nahm sich der all- werden. Es wird somit deutlich, dass die Proban-
gemeinen Fragen zu Umgang und Akzeptanz der denurteile hinsichtlich Akzeptanz und Komfort
noch in den Kinderschuhen steckenden Funktion gegenüber dem Reifezustand von ACC weitgehend
an. Anschließend wurden mehrere Grundvarian- robust sind.
ten mit unterschiedlicher Verzögerungsfähigkeit Selbst mit ACC-Systemen ohne Bremseneingriff
und verschiedenen Zeitlücken analysiert [18, 19]. äußern die Probanden in der UMTRI-Studie hohe
Etwas später wurde vom UMTRI ein sehr aufwen- Zufriedenheit, die Fancher et al. [20] auf die Reduk-
diger Feldtest durchgeführt [20], der erstmals auch tion des „Throttle-Stress“ zurückführt.
Langzeitaussagen erlaubte, wenn auch die verwen- Nirschl und Kopf [18] stellen durch Untersu-
dete technische Basis bei Weitem nicht dem heu- chung der Bearbeitungsqualität von Nebenaufga-
tigen Serienstand entspricht. Seriennahe Systeme ben eine geringere mentale Belastung der Fahrer bei
wurden bei [21, 22, 23] untersucht. Darüber hinaus Nutzung von ACC fest. Diese geben in Subjektiv-
sind in der Industrie weitere Probandenfahrversu- äußerungen eine hohe Akzeptanz zu Protokoll und
che mit ACC durchgeführt worden, die aber nicht merken an, dass sie ACC eher als Komfort- denn als
veröffentlicht wurden. Sicherheitssystem sehen.
886 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

Neben der globalen Zufriedenheit und Akzep- Zeitlücken erscheint eine Begrenzung auf mindes-
41 tanz der Fahrer analysiert Weinberger [23] den tens 1,0 s aus Sicherheitsgründen sinnvoll.
zeitlichen Verlauf in Langzeitfahrten. Sämtliche Tiefer im Detail untersucht wurde das Zeit-
42 Aspekte wie „Spaß am System“, „Selbstverständ- lückenwahlverhalten von Fancher et  al. [20], der
lichkeit der Nutzung“, „Vertrautheit der Bedie- feststellt, dass die einstellbaren Stufen von 1,1, 1,5
nung“, „Wohlfühlen“ und „Angestrengtheit“ wer- und 2,1 s analog zum Alter der Versuchspersonen
43 den prinzipiell als gut bis sehr gut eingestuft. Über gewählt werden, d. h. ältere Fahrer wählen entspre-
der Versuchsdauer stellt sich nach anfänglicher chend größere ACC-Zeitlücken.
44 Euphorie eine Phase relativer Ernüchterung ein, Sowohl in [22] als auch in [20] wird beschrie-
die schließlich zu Versuchsende durchgehend zu ben, dass sehr kleine Zeitlücken im Bereich von un-
45 besseren oder deutlich besseren Bewertungen als ter 0,6 s mit ACC deutlich seltener gefahren werden
zu Beginn führt. (Fancher [20]: 6 Mal bei 108 Versuchspersonen).
Von der Mercedes-Benz-Marktforschung wur-
46 den Kunden in den USA zum Einsatz von Distronic
46.13.2 Nutzung befragt, s. . Abb. 46.26. Die Angaben beziehen sich
47 auf die S-Klasse (W220, 1998 bis 2005) und den SL
Gegenstand etlicher Untersuchungen ist das Zeitlü- (R230, seit 2001). Die Nutzungsrate ist wie zu erwar-
ckenverhalten von Fahrern im Vergleich zwischen ten bei mehrstreifigen Fernstraßen erheblich höher
48 manueller Fahrt und der Fahrt mit ACC. Bei reinen als bei den anderen Straßenkategorien. Erstaunlich
Folgefahrten finden sich bei Abendroth [21] sowohl gering sind die Abweichungen zwischen Sportwa-
49 bei manueller Fahrt als auch mit ACC Mittelwerte gen und Limousine hinsichtlich der Nutzungsrate.
der minimalen Zeitlücken von 1,1 s. Im Gegensatz Etwas größer werden die Unterschiede bei der Art
50 hierzu kommen Becker und Sonntag [17] zu dem der Nutzung. Da bei dem Distronic-Bedienkonzept
Ergebnis, dass die Fahrer manuell – allerdings mit die Zeitlücke rein mechanisch auf dem alten Wert
großem Streuband – eine Häufung von Zeitlücken bleibt, ist ein Wechsel der Zeitlücke nur erforder-
51 um 1,7 s realisieren. Als mögliche Erklärung hier- lich, wenn ein Grund für eine Änderung vorliegt.
für wird auf die kurvigere Versuchsstreckenfüh- Von dieser Möglichkeit wird eher gar nicht oder nur
52 rung hingewiesen. Im ACC-Betrieb findet sich eine selten Gebrauch gemacht. Die Abstandseinstellung
Zeitlücke von durchschnittlich 1,5 s, die in der Pi- wird mehrheitlich als Mittel angegeben.
lotstudie als Grundeinstellung des Systems vorge-
53 geben war. Filzek [22] findet bei Wahlfreiheit der
Probanden hinsichtlich der einstellbaren Stufen von 46.13.3 Kompensationsverhalten
54 1,1, 1,5 und 1,9 s durchschnittliche ACC-Zeitlücken
von 1,4 s. Becker et al. [25] untersuchten das Kompensations-
55 Eine deutlich kürzere mittlere Zeitlücke von verhalten von Fahrern durch Auswertung der Zeit-
0,8 s bei manueller Fahrt wird von [20] berichtet. lücken, wenn parallel komplexe Nebenaufgaben zu
Dieser scheinbare Widerspruch gibt einen Hinweis bearbeiten waren. Während die Probanden beim
56 auf die schwierige Übertragbarkeit zwischen Stu- manuellen Fahren automatisch größere Zeitlücken
dien, die in unterschiedlichen Verkehrsnetzen, hier einhalten, ändern sie die Wunschzeitlücke im ACC-
57 USA und Deutschland, durchgeführt wurden. Betrieb nicht. Eine Analyse der Blickabwendungen
Deutlich wird in allen Untersuchungen, dass zeigt zudem deutlich längere Abwendungszeiten bei
bezüglich der eingestellten ACC-Zeitlücke eine ACC-Fahrt, wobei maximal bis zu acht Sekunden
58 Polarisierung stattfindet. Während die Probanden genannt werden. Bemerkenswert ist, dass die Fah-
zu Beginn mit den Stufen „spielen“, nimmt die Ver- rer hierbei subjektiv ein geringeres Sicherheitsrisiko
59 stellhäufigkeit mit zunehmender Versuchsdauer ab. empfinden als ohne ACC. Die Autoren kommen
Jeweils etwa zur Hälfte wählen die Versuchsperso- zu dem Schluss, dass wegen dieses risikoreicheren
60 nen dann entweder eher kleinere oder eher größere Fahrerverhaltens ein Sicherheitsgewinn durch auto-
Stufen. Angesichts der häufig gewählten kurzen matische Abstandsregelung erst dann zu erwarten
46.13  •  Nutzer- und Akzeptanzstudien
887 46
.. Abb. 46.26  Angaben zur Nutzung eines ACC-
Systems in den USA am Beispiel der Distronic
[Quelle: Marktforschung Mercedes-Benz 2005]

sei, wenn das technische System sicherheitskritische Lernstrategien offenbaren. Fahrer, die sich selbst als
Situationen besser behandeln kann als der durch- eher sportlich bezeichneten, neigten dazu, zu Be-
schnittliche Fahrer. ginn der Versuche später, d. h. bei kleinerer TTC,
einzugreifen als gegen Ende, um die Grenzen des
Systems festzustellen, wohingegen Fahrer, die sich
46.13.4 Habituationseffekte als eher komfortbetont einstuften, ausgehend von
einem frühen „misstrauischen“ Eingriff zu Beginn,
Untersuchungen von Weinberger et  al. [26] mit im Verlauf der Lernphase eher später eingriffen.
Vielfahrern (> 1000 km/Woche) zeigen, dass frü- Zusammenfassend heißt dies, dass die oben ge-
hestens nach zwei Wochen ACC-Nutzung ein sta- nannten Merkmale erst nach dieser Lernphase für
biles Verhalten angenommen werden darf. Die für den eingeschwungenen Zustand repräsentativ sind.
die Bestimmung der Lerndauer herangezogenen Aussagen einer Bewertung nach kürzerer Dauer
Merkmale waren die subjektive Beurteilung von können zumindest für die obigen Merkmale nur mit
Bedieneinfachheit und der Transparenz von Über- erheblichen Einschränkungen auf den Hauptteil der
nahmesituationen sowie die Messung des Zeit- Benutzungsdauer übertragen werden.
punkts (bezogen auf die Time-to-Collision, TTC) Ebenso bestätigen Nirschl und Kopf [18] ein
des Fahrereingriffs in Übernahmesituationen per Absinken der mentalen Beanspruchung des Fahrers,
Datenrekorder. Hier wird deutlich, dass Fahrer das mit dem sich über der Nutzungsdauer verfei-
unterschiedlichen Fahrstils auch unterschiedliche nernden mentalen Modell einhergeht.
888 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

46.13.5 Übernahmesituationen Lerneffekte festgestellt werden konnten, die die


41 Aussagekraft mancher Ergebnisse der Kurz-
Der prinzipiellen Einfachheit des mentalen Modells zeitversuche abwerten.
42 von ACC beim Fahrer ist laut Becker [25] auch zu-
zuschreiben, dass eine richtige Reaktion in Über- Offensichtlich scheint ACC zumindest in seinem
nahmesituationen an Systemgrenzen bereits nach Grundumfang robust gegenüber den genannten Un-
43 sehr kurzer Nutzung möglich ist. Fancher et al. [20] terschieden in der Versuchsdurchführung zu sein.
beschreiben, dass die Probanden sich subjektiv zu Die Kernfunktion wurde von den Fahrern von Be-
44 60 % bereits nach einem Tag in der Lage sahen, ginn an verstanden, und zwar unabhängig von den
Übernahmesituationen rechtzeitig und richtig zu Einschränkungen der vorläufigen Systeme.
45 erkennen. Nach einer Woche stimmten bereits 95 % Hinsichtlich der Übernahmesituation von FSRA
der Probanden dieser Aussage zu. wurde von Neukum et al. [27] eine Kreuzungspro-
Auch Nirschl et  al. [19] berichten, dass die blemsituation analysiert. Ein schon länger stehendes
46 meisten Testpersonen bereits nach kurzer Zeit ein- Fahrzeug an der Kreuzung wird vom Zielfahrzeug
schätzen konnten, bei welchen ACC-Situationen zunächst verdeckt und kurz vor der Annäherung
47 ein Eingriff notwendig war. Allerdings führte die seitlich passiert, sodass es plötzlich im Fahrkorridor
mittlere der drei untersuchten ACC-Varianten, bei des FSRA-Fahrzeugs liegt. Als stehendes Fahrzeug,
der eine eher geringe Bremsverzögerung von 1 m/ das sich im Sichtbereich des Radars noch nicht
48 s² vorlag, zu einer größeren Unsicherheit bei der bewegt hat, wird dieses von FSRA nicht als Regel-
Einschätzung als die Varianten mit einem stärkeren objekt akzeptiert, d. h. der Fahrer muss bremsend
49 Bremseingriff bzw. ohne Bremseingriff. eingreifen, um eine Kollision zu vermeiden. Alle
Weinberger [23] beschreibt, dass die Einschät- Probanden konnten dies auch tun, ohne dass der
50 zung von Übernahmesituationen von den Pro- für „Abfangmaßnahmen“ bereitstehende Beifahrer
banden subjektiv als unkritisch eingestuft wird, eingreifen musste. Trotzdem wurde diese Situation,
wobei diese den Fahrern mit zunehmender Nut- wenn sie das erste Mal auftritt, für viele Fahrer als
51 zungsdauer eher leichter fällt. Ebenso äußern die bedrohlich eingestuft.
Probanden, dass insbesondere solche Situationen
52 leicht zu entscheiden sind, die von ACC prinzipiell
nicht geleistet werden können (z. B. Einbremsen auf 46.13.6 Komfortbeurteilung
ein stehendes Fahrzeug). Es wurde nachgewiesen,
53 dass die mittlere Verzögerung des Fahrzeugs nach Der Schwerpunkt der in [28] dokumentierten
der Fahrerübernahme zu knapp 80 % im Bereich bis Untersuchungen lag auf der Untersuchung des
54 2 m/s2 liegt. Dieser Bereich wird auch von ACC ab- Komforts. Dazu wurden zwei Fahrzeuge unter-
gedeckt, woraus geschlossen werden darf, dass auch schiedlicher Hersteller mit unterschiedlichen
55 objektiv keine kritische Situation vorgelegen hat. ACC-Systemen von insgesamt 36 Versuchspersonen
gefahren. Die per Fragebogen ermittelten Subjektiv-
Die ersten ACC-Fahrversuche mit Probanden zei- urteile hinsichtlich ausgewählter Komfortkriterien
56 gen bis auf wenige Ausnahmen eine einheitliche wurden verglichen. Obwohl in beiden Fahrzeugen
Tendenz, obwohl es genügend Gründe gäbe, die Seriensysteme vergleichbarer Funktionalität einge-
57
-
Ergebnisunterschiede gerechtfertigt hätten:
Die Technik der untersuchten Systeme unter-
schied sich erheblich sowohl im Funktionsum-
setzt wurden, gelang es, schon geringe Unterschiede
beider Systeme hinsichtlich des Komforts zu ermit-
teln. Die parallel dazu durchgeführte Analyse der

-
58 fang als auch in der Reife. objektiven, messtechnisch zugänglichen Kennwerte
Die Verkehrsverhältnisse in den USA sind nur „Häufigkeit der Übersteuerung durch Fahrpedalbe-

-
59 bedingt mit denen in Europa vergleichbar. tätigung“ und „Unterbrechung der Regelung durch
Es wurden einerseits Kurzzeitversuche und einen Fahrerbremseingriff “ konnten hingegen in
60 andererseits Langzeitversuche durchgeführt, keinen eindeutigen Zusammenhang zur Komfort-
wobei in den Langzeitversuchen eindeutige bewertung gebracht werden.
46.14 • Ausblick
889 46

.. Abb. 46.27  Analyse der Wirksamkeit von DISTRONIC PLUS zur Erhöhung der Verkehrssicherheit am Beispiel der Mercedes
S-Klasse. [31]

46.13.7 Wirksamkeitsanalysen eine Ausdehnung des Automatikgetriebeanteils zu


bewirken.
Am Markt werden ACC-Systeme meist in Kombi- Grundsätzlich sind auch Alternativen zum
nation mit Collision Avoidance oder Collision Mi- bisher vorherrschenden Radar-Sensorprinzip für
tigation-Systemen angeboten. Ursache hierfür ist, die Zukunft denkbar. Zum einen sind das Lidar-
dass sich die Komfort- und die Sicherheitssysteme systeme und zum anderen Kamera-Systeme, wo-
die umgebungserfassende Sensorik (meist einen bei letztere sicherlich nicht den heute gewohnten
Radarsensor) teilen. Die Analyse der Wirksamkeit Funktionsumfang aufweisen werden, aber wegen
von ACC Systemen zur Erhöhung der Verkehrssi- der Mehrfachnutzung für andere Anwendungen
cherheit auf der Basis von realen Unfallzahlen be- konkurrenzlos günstig sein können.
rücksichtigt in diesen Fällen den Anteil der Colli-
sion Avoidance oder Collision Mitigation-Systeme
stets mit. Eine Analyse des Ersatzteilabrufs für alle 46.14.2 Funktionserweiterungen
Mercedes Benz S-Klasse Modelle in Deutschland
über eine Zeitspanne von 3,5 Jahren zeigt, dass mit Obwohl FSRA schon eine große Entlastung errei-
Ausrüstung des DISTRONIC PLUS Systems im chen kann, ist natürlich der Wunsch da, dass auch
Fahrzeug eine Reduktion von Auffahrunfällen um die Querführung übernommen wird. Für den
35 % erreicht wurde [31]. Wie . Abb. 46.27 darstellt, Niedriggeschwindigkeitsbereich ist der Staufolge-
entsprechen dabei die realen Feldzahlen erstaunlich assistent (▶ Kap. 52) das Nachfolgesystem, mit dem
genau der errechneten Prognose [31]. die Fahraufgabe schon vollständig automatisiert
werden kann, auch wenn mit Maßnahmen wie der
Hands-on-Überwachung sichergestellt wird, dass
46.14 Ausblick der Fahrer diese Automatisierung hinreichend
überwacht. Technisch bieten sich Stereo-Kamera
46.14.1 Aktuelle Entwicklungen und Radar oder Scanning Lidar für die Realisierung
an.
Mit der Serien-Einführung von FSRA werden vom Im mittleren und höheren Geschwindigkeits-
Funktionsumfang die meisten Situationen im All- bereich wachsen die Spurhaltefunktion und ACC
tagsverkehr abgedeckt. Nachdem ACC nun auch zu einem Fahrzeugführungsassistenten der dritten
Fahrzeugklassen erreicht hat, in der in Europa vor- Generation zusammen und werden gemeinsam
wiegend Handschaltgetriebe eingesetzt werden, ist aktiviert bzw. deaktiviert. Eine derartige Funkti-
unklar, ob FSRA an dieser Hürde aufläuft und sich onalität ist seit der Einführung in der Mercedes-
auf die bisherige Nische der Fahrzeuge mit Automa- Benz S-Klasse (W222) auch in anderen Modellen
tikgetriebe begnügen muss oder die Kraft hat (ggf. verfügbar. Diese Assistenz folgt der Philosophie
flankiert von Maßnahmen zur Energieeinsparung) der beiden Vorgängersysteme und beschränkt sich
890 Kapitel 46  •  Adaptive Cruise Control

auf „milde“, komfortorientierte Eingriffe, wobei [12] Mitschke, M., Wallentowitz, H., Schwartz, E.: Vermeiden
41 aber parallel Schutzfunktionen (Auffahrwarnung, querdynamisch kritischer Fahrzustände durch Fahrzu-
standsüberwachung VDI Bericht, Bd. 91. VDI, Düsseldorf
Automatische Notbremse, Fahrstreifenwechselab- (1991)
42 sicherung, Lane Departure Warning) diese Funk- [13] Winner, H., Luh, S.: Fahrversuche zur Bewertung von ACC –
tionalität „flankierend“ absichern, wenn Grenzen Eine Zwischenbilanz. In: Bruder, R., Winner, H. (Hrsg.) Darm-
erreicht werden, in denen die milden Eingriffe nicht städter Kolloquium Mensch & Fahrzeug – Wie objektiv sind
43 ausreichen. Fahrversuche?. Ergonomia, Stuttgart (2007)
[14] Luh, S.: Untersuchung des Einflusses des horizontalen

44 Sichtbereichs eines ACC‐Sensors auf die Systemperfor-


mance Fortschritt‐Berichte Reihe 12. VDI, Düsseldorf
Danksagung (2007). Dissertation TU Darmstadt

45 [15] Winner, H.: Die Auf klärung des Rätsels der ACC‐ Tagesform
und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen für die Ent-
Die Autoren danken den Herren Bernd Danner
wicklerpraxis. Tagungsbeitrag Fahrerassistenzworkshop.
und Dr. Joachim Steinle für ihre Beiträge, die sie als
46 Ko-Autoren an diesem Kapitel für die ersten beiden
Walting, 2005
[16] Witte, S.: Simulationsuntersuchungen zum Einfluss von
Auflagen dieses Handbuch erbracht haben. Fahrerverhalten und technischen Abstandsregelsystemen
47 auf den Kolonnenverkehr. Dissertation Universität Karls-
ruhe. Karlsruhe, 1996. S. 23
Literatur [17] Becker, S., Sonntag, J.: Autonomous Intelligent Cruise Con-
48 trol – Pilotstudie der Daimler‐Benz und Opel Demonstrato-
ren. Prometheus CED 5. TÜV Rheinland, Köln (1993)
[1] TC204/WG14, ISO. ISO 15622:2010 Transport information [18] Nirschl, G., Kopf, M.: Untersuchung des Zusammenwirkens
49 and control systems – Adaptive Cruise Control systems –
Performance requirements and test procedures. 2010
zwischen dem Fahrer und einem ACC‐ System in Grenzsi-
tuationen. Tagung: „Der Mensch im Straßenverkehr“ VDI
[2] TC204/WG14, ISO. ISO 22179:2009 Intelligent transport Bericht, Bd. 1317. VDI‐FVT, Düsseldorf (1997)
50 systems – Full speed range adaptive cruise control (FSRA)
systems – Performance requirements and test procedures.
[19] Nirschl, G.; Blum, E.‐J.; Kopf, M.: Untersuchungen zur Be-
nutzbarkeit und Akzeptanz eines ACC‐Fah‐ rerassistenz-
2009 systems. IITB Mitteilungen, Fraunhofer Institut für Infor-
51 [3] Ackermann, F.: Abstandsregelung mit Radar. Spektrum der mations‐ und Datenverarbeitung. 1999
Wissenschaft Juni 1980, 24–34 (1980) [20] Fancher, P., et al.: Intelligent Cruise Control Field Operati-
[4] Watanabe, T.; Kishimoto, N.; Hayafune, K.; Yamada, K.; Ma-
52 ede, N.: Development of an Intelligent Cruise Control Sys-
onal Test. Final Report. University of Michigan Transporta-
tion Research Institute (UMTRI), Michigan (1998)
tem. In: Proceedings 2nd ITS World Congress in Yokohama. [21] Abendroth, B.: Gestaltungspotentiale für ein PKW‐Ab-
1995, S. 1229–1235
53 [5] Furui, N., Miyakoshi, H., Noda, M., Miyauchi, K.: Develop-
standregelsystem unter Berücksichtigung verschiedener
Fahrertypen Schriftenreihe Ergonomie. Ergonomia‐Verlag,
ment of a Scanning Laser Radar for ACC. SAE Paper No. Stuttgart (2001). Dissertation TU Darmstadt
980615. Society of Automotive Engineers, Warrendale
54 (1998)
[22] Filzek, B.: Abstandsverhalten auf Autobahnen – Fahrer und
ACC im Vergleich Fortschritt‐Berichte Reihe 12, Bd. 536.
[6] Winner, H.: Die lange Geschichte von ACC. Tagungsband VDI‐Verlag, Düsseldorf (2002). Dissertation TU Darmstadt
55 Workshop Fahrerassistenzsysteme. Leinsweiler, 2003
[7] Prestl, W.; Sauer, T.; Steinle, J.; Tschernoster O.: The BMW
[23] Weinberger, M.: Der Einfluss von Adaptive Cruise Control
Systemen auf das Fahrverhalten Berichte aus der Ergono-
Active Cruise Control ACC. SAE 2000‐01‐0344, SAE World mie. Shaker‐Verlag, Aachen (2001). Dissertation TU Mün-
56 Congress 2000, Detroit, Michigan, 2000
[8] Steinle, J., Toelge, T., Thissen, S., Pfeiffer, A., Brandstäter, M.:
chen
[24] Winner, H., et al.: Fahrversuche mit Probanden zur Funkti-
Kultivierte Dynamik – Geschwindigkeitsregelung im neuen onsbewertung von aktuellen und zukünftigen Fahreras-
57 BMW 3er. In: ATZ/MTZ extra, S. 122–131. Vieweg Verlag,
Wiesbaden (2005)
sistenzsystemen. In: Landau, Winner, (Hrsg.) Fahrversuche
mit Probanden – Nutzwert und Risiko, Darmstädter Kollo-
[9] Pasenau, T., Sauer, T., Ebeling, J.: Aktive Geschwin‐ digkeits- quium Mensch & Fahrzeug, 3./4. April 2003, TU Darmstadt
58 regelung mit Stop&Go‐Funktion im BMW 5er und 6er. ATZ
10, 900–908 (2007). Wiesbaden, Vieweg Verlag, Okt. 2007
Fortschritt‐Berichte VDI Reihe 12, Bd. 557, VDI‐Verlag, Düs-
seldorf (2003)
[10] Winner, H.; Olbrich, H.: Major Design Parameters of Adap- [25] Becker, S., Sonntag, J., Krause, R.: Zur Auswirkung eines In-
59 tive Cruise Control. AVEC’98. Nagoya, Paper 130, 1998 telligenten Tempomaten auf die mentale Belastung eines
[11] Meyer-Gramcko, F.: Gehörsinn, Gleichgewichtssinn und an- Fahrers, seine Sicherheitsüberzeugungen und (kompen-
dere Sinnesleistungen im Straßenverkehr. Verkehrsunfall
60 und Fahrzeugtechnik 3, 73–76 (1990)
satorischen) Verhaltensweisen. Prometheus CED 5. TÜV
Rheinland, Köln (1994)
Literatur
891 46
[26] Weinberger, M.; Winner, H.; Bubb, H.: Adaptive cruise con-
trol field operational test – the learning phase. In: JSAE
Review 22. Elsevier, 2001, S. 487
[27] Neukum, A.; Lübbeke, T.; Krüger, H.‐P.; Mayser, C.; Steinle,
J.: ACC‐Stop&Go: Fahrerverhalten an funktionalen System-
grenzen, 5. Workshop Fahrerassistenzsysteme, Walting,
2008
[28] Didier, M.: Ein Verfahren zur Messung des Komforts von
Abstandsregelsystemen (ACC‐Systemen) Schriftenreihe Er-
gonomie. Ergonomia‐Verlag, Stuttgart (2006). Dissertation
TU Darmstadt
[29] Mayser, Ch.; Steinle, J.: Keeping the Driver in the Loop while
using Assistance Systems. SAE 2007‐01‐1318, SAE World
Congress 2007. Detroit, Michigan, 2007
[30] Steinle, J.; Hohmann, S.; Kopf, M.; Brandstäter, M.; Pfeiffer,
A.; Farid, N.: Keeping the Focus on the Driver: The BMW Ap-
proach to Driver Assistance and Active Safety Systems that
interact with Vehicle Dynamics. FISITA F2006D185, FISITA
World Automotive Congress, Yokohama, Japan, 22.–27.
Okt. 2006
[31] Schittenhelm, H.: N.: Advanced Brake Assist – Real World
effectiveness of current implementations and next genera-
tion enlargements by Mercedes‐Benz. 23. Technical Confe-
rence Enhanced Safety of Vehicles, Proceedings, Paper‐No.
13‐0194; 23. ESV‐Conference; Seoul, Repub. of Korea; 2013
893 47

Grundlagen von Front­


kollisionsschutzsystemen
Hermann Winner

47.1 Problemstellung – 894
47.2 Unfallschutz durch präventive Assistenz  –  894
47.3 Reaktionsunterstützung – 895
47.4 Notmanöver – 896
47.5 Bremsassistenz  – 896
47.6 Warn- und Eingriffszeitpunkte  –  898
47.7 Ausblick – 911
Literatur – 912

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_47, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
894 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

47.1 Problemstellung dass von dieser Möglichkeit nur unzureichend


41 oder gar nicht Gebrauch gemacht wird.
Unfälle im Längsverkehr zählen zur größten 3. Notmanöver: „Harte Eingriffe“ im Bereich
42 Gruppe der Unfallarten und zur zweitgrößten der der letzten Sekunde vor dem Unfall, die den
Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten. Daher Unfall per Notmanöver vermeiden, wenn die
besitzen Systeme zum Schutz gegen diese Unfallart rechtzeitige, richtige Fahrerreaktion ausgeblie-
43 ein sehr hohes Potenzial (s. ▶ Kap. 4). Auf welche ben ist, oder zur Unfallschadensverminderung
Weise Gegenmaßnahmen abgeleitet werden, zeigt (Collision Mitigation) beitragen. Die wegen
44 . Abb. 47.1. der vorsichtigen Interpretation der rechtlichen
Zunächst besteht zwischen dem Unfallereignis Rahmenbedingungen, insbesondere des für
45 kein unmittelbarer und sofortiger Zusammenhang Deutschland gültigen Wiener Übereinkom-
zu einer aufgetretenen Störung. Ausgehend von mens (s. ▶ Kap. 3), herrschte anfänglich noch
einem vorher eingegangenen latenten Gefahren- große, rechtlich begründete Zurückhaltung bei
46 niveau erhöht die Störung dieses Niveau, wobei der Markteinführung von unfallvermeidenden
aber zunächst noch eine beträchtliche Reserve zum Systemen für die letzte Sekunde, wenn sie nicht
47 tatsächlichen Unfallgeschehen besteht. Erst mit zu- mehr durch den Fahrer überstimmbar sind. Er-
nehmender Zeit ohne Reaktion oder mit falscher folgt der Einsatz eines aktiven Bremseingriffs
Reaktion führt diese Störung zum Unfall. Ein recht- erst „zu einer Zeit, zu der ein Ausweichen ob-
48 zeitiges, richtiges Eingreifen durch den Fahrer kann jektiv unmöglich ist“ (s. [4]), dann werden keine
dagegen diese Situation entschärfen, sodass die kri- rechtlichen Vorbehalte gesehen. Da mittlerweile
49 tische Situation nur zu einem Beinaheunfall führt. die Akzeptanz durch Bremseingriff unfallver-
Aus dieser Strukturierung des Ablaufs lassen sich meidend wirkender Systeme gestiegen ist und
50 nun drei Strategien zum Unfallschutz ableiten, die durch Anforderungen aus Verbrauchertests (vgl.
im Folgenden kurz skizziert werden und im Wei- ▶ Kap. 11) sogar gefordert werden, wurden Sys-
teren auf die Umsetzung für den Frontkollisions- teme entwickelt, die mit dem harten Bremsein-
51 schutz ausführlich erläutert werden. griff nicht mehr warten, bis ein Unfall unver-
meidbar ist.
52 1. Präventive Assistenz: Präventive Unfallver­
meidung durch Herabsetzen der latenten Gefahr
und damit Reduktion der Wahrscheinlichkeit, 47.2 Unfallschutz durch präventive
53 in eine kritische Situation zu geraten oder zu- Assistenz
mindest bei einer Störung einen effektiv größe-
54 ren Handlungsspielraum zu haben. Zur Verringerung der latenten Gefahr lassen sich
2. Reaktionsunterstützung: Unfallvermeidung zwei Hauptrichtungen angeben: die Erhöhung des
55 durch Assistenz in kritischen Situationen, damit fahrdynamisch nutzbaren Handlungsspielraums
der Fahrer rechtzeitig und richtig reagiert. Für sowie die Erhöhung der Fahrerfähigkeit, eine Stö-
die Unfallvermeidung im Längsverkehr kom- rungssituation zu bewältigen. Letztere ist im We-
56 men praktisch nur zwei Strategien infrage: Ver- sentlichen durch die Fahrerkonstitution und die
zögern oder Ausweichen. Hier haben die Assis- Fahrfertigkeiten gegeben. Wiederum Letzteres
57 tenzsysteme auf der Stabilierungsebene wie ABS kann mit Fahrerassistenzsystemen kaum verbes-
und ESP als erste Voraussetzung die „Gutmütig- sert werden, sondern durch Training, z. B. auf dem
keit“ des Fahrzeugs auf diese Aktionen geschaf- Verkehrsübungsplatz. Die Konstitution des Fahrers
58 fen, weil fahrdynamisch kritische Folgesituatio- kann hingegen dadurch verbessert werden, dass er
nen wie insbesondere das Schleudern schon im von beanspruchenden Fahraufgaben entlastet wird,
59 Ansatz vermieden werden und die Fahrer von z. B. durch die Übernahme des Folgefahrens durch
Beginn an die Grenzen der Fahrphysik gehen ACC. Sowohl über physiologische (weniger An-
60 können. Trotzdem zeigen die Unfallanalysen strengung für die Augen) als auch psychologische
(s. ▶ Kap. 4) [2] und Probandenversuche [3], Wirkungszweige (entspanntere Verkehrswahrneh-
47.3 • Reaktionsunterstützung
895 47
.. Abb. 47.1  Ablauf einer kritischen Verkehrs-
situation zur Ableitung von Assistenzstrategien
und Handlungsabläufe bei einer kritischen
Fahrsituation (nach [1]), Ziffern: Einsatzbereiche
von Fahrerassistenzsystemen (s. Text)

mung) [5] kann zur Verbesserung der Konstitution dieses Zustands notwendige Voraussetzung für eine
beigetragen werden. in der Folge korrekten Aktion. Die Aufmerksam-
Natürlich ist ACC auch ein sehr geeignetes Mit- keitserregung erfolgt üblicherweise explizit durch
tel zur Erhöhung des objektiv zur Verfügung ste- Warnelemente, kann jedoch auch implizit durch
henden Handlungsspielraums. In den bekannten nicht erwartete Regelreaktionen bei ACC erfolgen.
Untersuchungen (s. ▶ Kap. 46) wählen ACC-Nutzer Wie bereits in ▶ Kap. 37 erläutert, unterscheiden sich
höhere Zeitlücken, als wenn sie selbst den Abstand die Warnstrategien hinsichtlich ihres Informations-
einregeln. Unklar ist hingegen, ob ein Verlassen auf grades. Eine einfache auditive Warnung erreicht
ACC zu einem späteren Fahrereingriff führt oder eine hohe Aufmerksamkeit, allerdings ist damit
aber durch eine schon früh einsetzende Fahrzeug- noch kein Hinweis auf die Situation oder die nun
verzögerung die Reaktionszeit verkürzt wird. Waren notwendige Reaktion verbunden. Dies kann durch
die ersten ACC-Ausführungen noch wenig geeig- eine ergänzende visuelle Information oder ein audi-
net, im Stadtverkehr eingesetzt zu werden, so erlau- tives Icon erreicht werden. Da sich eine ausführliche
ben die FullSpeedRange-ACC-Systeme auch diesen Beschreibung der Warnmöglichkeiten einschließlich
Einsatz, wobei noch keine Studien zur Nutzung und der Bewertung der Verzeihlichkeit bei Fehlwarnung
zum möglichen Sicherheitspotenzial bekannt sind. in ▶ Kap. 37 findet, wird hier nicht weiter auf die
Eine ähnlich wie ACC geeignete Lösung zur Ab- unterschiedlichen Möglichkeiten eingegangen.
standshaltung kann mit einem Aktiven Fahrpedal Bei einer kritischen Situation im Längsverkehr
(auch als Force-Feedback-Pedal bezeichnet) darge- kommen grundsätzlich zwei Unfallvermeidungs-
stellt werden. Hier bleibt der Fahrer in der direkten strategien infrage: dem Hindernis ausweichen oder
Regelschleife. Hält er eine weitgehend konstante Pe- vor dem Hindernis anhalten. In ▶ Abschn. 47.6
dalkraft aufrecht, verändert sich der Fahrpedalwin- werden anhand bestimmter Ausgangsparameter
kel in der Art, dass die Zeitlücke konstant bleibt und die für eine erfolgreiche Unfallabwendung not-
somit eine Abstandshaltung wie mit ACC ermög- wendigen Eingriffszeitpunkte berechnet. In allen
licht wird, allerdings ohne aktiven Bremseingriff. praktischen Situationen findet sich eine Geschwin-
digkeit, oberhalb derer Ausweichen als letztmög-
liches Manöver berechnet wird, während unter-
47.3 Reaktionsunterstützung halb dieser Geschwindigkeit Bremsen nach dem
letztmöglichen Ausweichabstand noch erfolgreich
Die Reaktionsunterstützung umfasst die Schritte den Unfall vermeiden kann. Aber in beiden Fällen
Aufmerksamkeitserregung, Situationsklärung und wird ein optimales Manöver betrachtet. Während
Eingriffsunterstützung (s. a. ▶ Kap. 37). Da einer bisher nur in einer Fahrzeugreihe (Lexus LS, seit
kritischen Situation im Längsverkehr zumeist eine 2006) eine Ausweichassistenz angeboten wird, ist
Unaufmerksamkeit vorausgeht [6], ist die Änderung der Bremsassistent seit 1997 auf dem Markt und
896 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

in der einfachen, bremspedalgesteuerten Basisva- Die automatische Notbremsung ist hingegen


41 riante in nahezu allen Neuwagen zu finden. Diese schon eine im Markt eingeführte Technik. Diese
Grundfunktion und zusätzliche Funktionserwei- wird aber u. a. wegen der zuvor genannten recht-
42 terungen werden in ▶ Abschn. 47.5 beschrieben. lichen Randbedingungen erst dann aktiv, wenn ein
Allen gemeinsam ist, dass der Bremsassistent erst Ausweichen nicht mehr erwartet werden kann. In
dann Wirkung erzielen kann, wenn auch wirklich allen bekannten Umsetzungen ist die Einleitung der
43 das Bremspedal getreten wird. Da aber in etwa ei- automatischen Notbremsung der letzte Schritt einer
nem Drittel der untersuchten Fälle in [2] und [3] Aktionskette und wird erst ausgelöst, wenn die vor-
44 und sogar der Hälfte bei [7] keine Bremsaktion herigen Warnstufen ohne Brems- oder Lenkreak-
unternommen wurde, kann in diesen Fällen der tion blieben oder bei der maschinellen Erkennung
45 Bremsassistent allein keine Wirkung entfalten. Wie der Notsituation für Fahreraktionen keine ausrei-
in den Probandenuntersuchungen [3] und [8] be- chende Zeitdauer gegeben ist.
legt wurde, führt ein automatischer Bremseingriff Die Wirksamkeit der verschiedenen Ausle-
46 zu einer Bremsreaktion des Fahrers. Somit kann gungen einer automatischen Notbremsung wird in
ein automatischer Bremseingriff zur Stimulation ▶ Abschn. 47.6.3 sowohl theoretisch abgeleitet als
47 der Fahrer­entscheidung eingesetzt werden. Dafür auch experimentell belegt.
kommt ein kurzzeitiger Bremsruck oder eine per-
manente Teilbremsung infrage. Wenn daraufhin
48 der Fahrer mit einer Bremspedalaktion die Frei- 47.5 Bremsassistenz
gabe für den Bremsassistenten gibt, erfolgt eine
49 Bremsung mit maximaler Verzögerung oder als 47.5.1 Basisfunktion
„Zielbremsung“, wenn die Umfeldsensorik eine
50 solche Funktion erlaubt (s. ▶ Abschn. 47.5.2). Wie Unfallanalysen [2] und Probandenversuche
im Fahrsimulator [9] oder auf dem Testgelände
[10] zeigen, sind viele Bremsungen in Notsituati-
51 47.4 Notmanöver onen nicht für einen kurzen Bremsweg optimal.
Nach einer steilen Druckanstiegsphase setzt sich
52 Sollten alle vorher genannten Warnstufen noch der Druckaufbau oft nur zögerlich fort. Daraus lei-
nicht zu Ausweich- oder Bremsaktionen des Fahrers tet sich die Funktion des Bremsassistenten ab: Der
geführt haben, können automatische Notmanöver Bremsassistent (BAS) soll, sobald die Notbrems-
53 mit „harten“ Eingriffen in der letzten Sekunde vor absicht eindeutig erkannt ist, schnellstmöglich die
einem vorhergesagten Aufprall den Schaden abwen- maximale Verzögerung aufbauen und so lange hal-
54 den oder verringern. Automatische Ausweichmanö- ten, bis eine Rücknahme des Notbremswunsches er-
ver sind bei hohen Differenzgeschwindigkeiten als kannt wird. Das damit erreichbare Potenzial bezif-
55 unfallvermeidende Manöver wirksamer als Brems- fert Weiße [10] für eine Notbremsung aus 100 km/h
manöver (zumindest dann, wenn durch das Aus- mit einer mittleren Bremswegverkürzung von 8 m,
weichen nicht ein schlimmerer Folgeunfall auftritt). also etwa 20 %. Noch höher wird der relative An-
56 Wie Ausweichmanöver realisiert werden können, teil bei niedrigen Geschwindigkeiten, womit auch
wurde im Projekt PRORETA (s. ▶ Kap. 57) gezeigt, verständlich wird, dass der Nutzen besonders unge-
57 nämlich mit einem automatischen Lenkimpuls, der schützten Verkehrsteilnehmern zugute kommt [11].
zum aktuellen Lenkwinkel addiert wird und so be- Die anfängliche Bremspedalgeschwindigkeit
messen ist, dass das Hindernis umfahren werden oder der folglich ausgelöste Anstieg des Brems-
58 kann. Diese Form des Ausweichmanövers kann drucks eignen sich als Basiskriterien für das Vor-
nach den in der Studie gewonnenen Erkenntnissen liegen einer Notbremsung. Die Unterscheidung
59 als akzeptabel angesehen werden, allerdings reichen zwischen normaler Bremssituation und einer Not-
die Fähigkeiten heutiger Umfelderfassungssysteme bremsung geschieht auf Basis von empirisch ermit-
60 für die Auslösung eines automatischen Notauswei- telten Werten. Die Schaltschwellen beziehen sich auf
chens bei weitem nicht aus. die Pedalgeschwindigkeit und werden direkt über
47.5 • Bremsassistenz
897 47
.. Abb. 47.2  Boxplot-Darstellung der Brems­
pedalgeschwindigkeiten bei Standard-, Not- und
Schreckbremsungen [10]

den Membranweg des Bremskraftverstärkers oder Hilfsenergie, um die für die maximale Verzögerung
indirekt über Drucksensoren am Hauptbremszy- notwendige Spannkraft der Bremssättel bereitzu-
linder gemessen. Sie variieren in Abhängigkeit der stellen. ▶ Kapitel 30 und ▶ Kap. 31 erläutern die
Fahrgeschwindigkeit und des Hauptzylinderdrucks für den Kraftaufbau notwendigen und heute einge-
bzw. des Bremspedalwegs. Obwohl ein Entschei- setzten Techniken. Funktional ist es von geringer
dungsfehler nicht ausgeschlossen werden kann, so Bedeutung, auf welche Weise die Zusatzspannkraft
ist dieses Kriterium allen anderen Kriterien, die aus erreicht wird. Es verbleiben Unterschiede in der
der Fußbewegung abgeleitet werden können, weit Aufbaudynamik.
überlegen [10]. Die im realen Straßenverkehr ge- Da das Hauptauslösekriterium die Bremspedal-
messenen Standardbremsungen reichten nicht an geschwindigkeit ist, lässt sich die Bremsassistent-
die Pedalgeschwindigkeiten (s. . Abb. 47.2) heran, Basisfunktion auch mit mechanischer Steuerung
die eine Notbremsung kennzeichnen. Allerdings mithilfe des Bremskraftverstärkers durchführen. Bei
können etwa gleiche Pedalgeschwindigkeiten bei schneller Kolbenstangenbewegung wird eine erheb-
den von Weiße [10] so genannten Schreckbremsun- lich höhere Bremskraftverstärkung ausgelöst, so dass
gen erreicht werden, ohne dass für diese Situation bei gleicher Pedalstellung gegenüber einer „langsa-
eine Vollbremsung notwendig war. Diese „Neben- men“ Bremsbetätigung mehr Bremskraft entwickelt
wirkungen“ können durch das Zurückziehen des wird. Diese Funktion wird ergänzt durch die Mög-
Bremspedals ohne größere Probleme und Auswir- lichkeiten des Druckaufbaus per Hydraulikpumpe
kungen für den nachfolgenden Verkehr beherrscht des ESC, vgl. ▶ Kap. 40.
werden und ähneln den Reaktionen, die bei Wechsel
von einem Fahrzeug mit höherer Bremsbetätigungs-
energie auf ein anderes Fahrzeug mit einem „kna- 47.5.2 Weiterentwicklungen
ckigen“ Bremspedal zu beobachten sind.
Die für die Bremsassistenzfunktion notwendi- In der hier schon häufig zitierten Arbeit von Weiße
gen Stellsysteme sind Teil moderner Bremssysteme [10] finden sich auch weitere Ansätze zur Brems­
und bedienen sich pneumatischer oder elektrischer assistenzauslösung, insbesondere um eine frühere
898 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

Auslösung zu erreichen. Allerdings wurde kein allerdings kann diese Unterstützung im Vorfeld ei-
41 Kriterium gefunden, dass nur annähernd die glei- ner kritischen Situation nützlich werden, wenn der
che Entscheidungsqualität wie die Bremspedalge- Fahrer die Situation unkritischer einschätzt, als sie
42 schwindigkeit bot. Mit einer Kombination von Kri- tatsächlich ist, sowie unangemessen gering bremst
terien im Sinne einer ODER-Verknüpfung ließe sich und somit wiederum die Reserve für den rechtzeiti-
das Potenzial von 8 auf 11 m steigern. Das Gleiche gen Geschwindigkeitsabbau verkleinert. So wird in
43 ließe sich auch durch eine abgestufte Funktion, die dem in . Abb. 47.3 dargestellten Beispiel angenom-
mit drei Stufen – der Vorkonditionierung, der Vor- men, dass bei einer Ausgangsdifferenzgeschwindig-
44 bremsung (mit 3 m/s2) und der Vollbremsung – ar- keit von 70 km/h und einer ttc von knapp 2 s vom
beitet, erreichen. Allerdings muss für die Vorbrem- Fahrer nur eine Verzögerung von 3 m/s2 eingeleitet
45 sung die Fußbewegung in Fahrzeuglängsrichtung wurde. Die Verzögerung wird durch den adaptiven
gemessen werden, was nicht leicht zu realisieren ist. Bremsassistenten nun auf mindestens 5 m/s2 erhöht,
Allein die Abstufung von Vorkonditionierung bei damit bei dieser Verzögerung der noch verfügbare
46 Überschreitung einer Fahrpedalgeschwindigkeits- Abstand für eine gleichmäßige Verzögerung genutzt
schwelle und von Bremspedalgeschwindigkeit ge- werden kann.
47 triggerter Vollbremsung bringt den vergleichsweise
geringen Gewinn von 0,6 m auf insgesamt 8,6 m.
47.6 Warn- und Eingriffszeitpunkte
48 Für eine weitere Verbesserung der Bremsassis-
tenzfunktion ist eine zeitliche Vorverlagerung des In den folgenden Unterabschnitten werden fahrdy-
49 Bremsbeginns erforderlich. Dafür bieten sich zwei namisch und fahrerverhaltensbasierte Warn- und

50 -
Strategien an:
Verkürzung der Umsetzzeit von Fahrpedal auf
Bremspedal. In vielen Untersuchungen [12, 10,
Eingriffszeitpunkte abgeleitet, die für unterschiedli-
che Frontkollisionsgegenmaßnahmen geeignet sind.
Grundsätzlich sind für die Auslösung einer Gegen-

51
52
2, 13] hat sich gleichlautend eine Umsetzzeit
von ca. 0,2 s ergeben. Diese Umsetzzeit ließ
sich nur durch ein alternatives Betätigungs-
konzept erheblich verkürzen, was im Falle ei-
-
maßnahme zwei Betrachtungsweisen möglich:
Zeitkriterien (Time-to-Collision, Time-
Threshold-Evasion, Time-to-Stop, Time-
Threshold-Brake; für Kollisionsvermeidung

53
-
nes in Längsrichtung isometrischen Sidesticks
von [14] auch nachgewiesen wurde.
Absenkung der Schwellen bei Erkennung einer
Notbremssituation auf Basis umfelderfassen-
- benötigte zeitliche Reserve)
Beschleunigungskriterien (für Kollisionsver-
meidung benötigte Längsverzögerung bzw.
Querbeschleunigung)
54 der Sensorik.
Für die Zeitkriterien werden aktuelle Abstands-,
55 Liegt aber eine Situationserkennung schon vor, Geschwindigkeits- und Beschleunigungswerte he-
dann ist es auch nahe liegend, den Unterstüt- rangezogen und dann mit Zeitschwellwerten ver-
zungsgrad abhängig von dem noch zur Verfügung glichen, die sich aus Annahmen über die maximal
56 stehenden Abstand auszulegen, also nur so viel möglichen Verzögerungen und Querbeschleuni-
zusätzliche Verzögerung zu erzeugen, wie zum gungen ableiten und sich bei Warnungen additiv
57 rechtzeitigen Geschwindigkeitsabbau benötigt um die angenommene Reaktionszeit vergrößern.
wird. Die benötigte Verzögerung Dreq D vdiff
2
=2d Die Beschleunigungskriterien sind bezüglich der
in Abhängigkeit der Time-to-Collision ttc  = d/vdiff, fahrdynamischen Betrachtungen recht einfach, da
58 die wiederum aus dem Abstand d und der Diffe- es ausreicht, diese mit den angenommenen Maxi-
renzgeschwindigkeit vdiff zwischen Egofahrzeug malwerten für die Beschleunigung zu vergleichen.
59 und Hindernis gebildet wird, ist in . Abb. 47.3 für Der Vorteil verschwindet, wenn eine Reaktionszeit,
verschiedene Ausgangsdifferenzgeschwindigkei- wie bei Warnstrategien benötigt, oder eine System-
60 ten dargestellt. Natürlich führt die Absenkung der totzeit mit in die Berechnung eingeht. Da beide
Verzögerung nicht zur Verkürzung des Bremswegs, „Kriterienwelten“ Vor- und Nachteile in der Darstel-
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
899 47

lung haben, werden die relevanten Gleichungen und


Schwellwerte im Folgenden für beide Betrachtungen
vorgestellt, auch wenn letztlich beide Betrachtungen
ineinander überführt werden können. Bei Berech-
nungen zum Ausweichen führt die Zeitbetrachtung
zu einfacheren Termen, zum Bremsen sind die Be-
schleunigungskriterien einfacher darzustellen. Am
Ende dieses Abschnitts werden die Ergebnisse zu
den einzelnen Kriterien in einer gemeinsamen
Übersicht referenziert.

47.6.1 Fahrdynamische
Betrachtungen

Bei den fahrdynamischen Betrachtungen werden


drei Fälle unterschieden. Der einfachste geht von .. Abb. 47.3  Benötigte mittlere Verzögerung in Abhängigkeit
einem mit konstanter Geschwindigkeit bewegten, von der Time-to-Collision für verschiedene Ausgangsdiffe-
unbeschleunigten Hindernis (inkl. Spezialfall des renzgeschwindigkeiten
stehenden Hindernisses) aus. Danach erfolgt die
Herleitung der Kriterien für ein Fahrzeug, das sich Der Bremsabstand berechnet sich in für heutige
mit konstanter Relativbeschleunigung zum Egofahr- Bremsanlagen guter Näherung zu
zeug bewegt. Im dritten Spezialfall führt die Verzö- 2
vdiff
gerung des Hindernisfahrzeugs zum Stillstand, noch dB .vdiff / D vdiff  B C :(47.1)
bevor das Egofahrzeug das Hindernis erreicht. In 2Dmax
einer weiteren Betrachtung wird die Ausweichmög- Die Bremsenverlustzeit τB berücksichtigt den ef-
lichkeit bei gemischt längs- und querbeschleunigter fektiven Zeitverlust beim Verzögerungsaufbau. Bei
Bewegung des Egofahrzeugs betrachtet. angenommenem linearem Anstieg der Verzögerung
innerhalb einer Schwellzeit τs bis zur mittleren Voll-
47.6.1.1 Berechnungen verzögerung Dmax kann die Verlustzeit durch die
für ein unbeschleunigtes Hälfte der Schwellzeit (also τs/2) angenähert werden,
Hindernis ohne dass der Fehler bei der Bremswegberechnung
Verzögerungsmanöver über einstellige Zentimeterwerte hinausgeht. Die im
Wenn sich das Hindernis mit konstanter Geschwin- Bereich von 50 ms liegende Bremsenansprechzeit
digkeit bewegt, so lassen sich trotzdem alle Berech- wird der deutlich höher liegenden Fahrerreakti-
nungen auf ein Relativsystem zu diesem Objekt be- onszeit τR zugeschlagen, die ihrerseits aus Blickzu-
ziehen. Somit entsprechen alle Ergebnisse dem Fall wendungszeit, Reaktionsgrundzeit und Umsetzzeit
eines ruhenden Hindernisses, wobei die negative besteht und zwischen 0,5 und 1,5 s anzusetzen ist.
Relativgeschwindigkeit –vrel als Differenzgeschwin- Für die Berechnungsbeispiele wird dieser Wert auf
digkeit vdiff die Absolutgeschwindigkeit vx,v ersetzt τR = 1 s gesetzt, wobei dies in für den Fahrer klaren
und der Abstand d den Absolutweg s. So lässt sich Situationen ein deutlich zu hoher Wert ist, vgl. [2]
aus dem Bremsweg in den Stand sB(vxv,0) aus der und [13].
Ausgangsgeschwindigkeit vxv,0 mit dem Bremsab- Der Warnabstand dwarn für eine rechtzeitige Not-
stand dB(vdiff ) gleichsetzen, der für einen Ausgleich bremsung fügt zur Bremsverlustzeit in Gl. (47.1) ad-
der gleich großen Differenzgeschwindigkeit vdiff be- ditiv die Reaktionszeit des Fahrers τR hinzu,
nötigt wird. Die später eingeführte Time-to-Stop 2
vdiff
bezieht sich entsprechend auf die Zeit, die zum Ge- dwarn .vdiff / D vdiff  .B C R / C :(47.2)
2Dmax
schwindigkeitsausgleich benötigt wird.
900 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

Bezieht man die aktuellen Abstände d auf die Dif- deva D vdiff  teva(47.9)
41 ferenzgeschwindigkeit vdiff, so erhält man die Größe
Time-to-Collision (TTC) Die maximale Querbeschleunigung ay,max beträgt je
42 d
nach Reifentyp zwischen 80 und 100 % der maxima-
ttc D I d; vdiff > 0;(47.3) len Verzögerung Dmax, die ihrerseits bei trockenen
vdiff
Fahrbahnen etwa 10 m/s2 beträgt (im Weiteren wird
43 und die Gleichungen (47.1) und (47.2) vereinfachen ein Verhältnis von ay,max/Dmax = 90 % angenommen).
sich zu Für den Ausweichversatz kann man bei schmalen
44 tts .vdiff ; Dmax /
Hindernissen 1 m annehmen, bei größeren wie Lkw
ttB .vdiff / D B C ;(47.4) 1,8 m. Damit erhält man Werte von 0,55 bis 0,7 s
2
45 für teva. Im Folgenden wird ein die Fahrdynamik-
mit der Time-Threshold-Brake ttB sowie der Time- überlegungen repräsentierender Wert teva,phys = 0,6 s
To-Stop angenommen. Dieser ist natürlich zu hoch, wenn
46 ein deutlich verringerter Ausweichversatz benötigt
vdiff
tts .vdiff ; Dmax / D ;(47.5) wird, z. B. weil das Hindernis seitlich zur Fahrtrich-
47 Dmax
tung versetzt ist.
und entsprechend In Analogie zur benötigten Verzögerung lässt
sich eine benötigte Querbeschleunigung ay,req be-
48 twarn .vdiff / D R C ttB .vdiff /:(47.6) rechnen, wobei nun neben Abstand und Differenz-
geschwindigkeit der Ausweichversatz dieses Krite-
49 Die Zeitdauer für den Vollbremsvorgang tts ist dop- rium mitbestimmt:
pelt so groß wie die TTC bei Beginn des Bremsens. 2
2yeva vdiff
50 Dieser Grundsatz gilt auch für die nachfolgenden (47.10)
2
ay;req D 2yeva ttc D 2
d
Betrachtungen, solange eine konstante und positive
Relativverzögerung vorausgesetzt werden kann.
51 Neben der Betrachtung von Zeit- und Ortsab- 47.6.1.2 Berechnungen für ein
ständen kann auch die aktuell notwendige Verzöge- konstant verzögerndes
52 rung Dreq bestimmt und als Schwelle herangezogen Hindernis
werden. Für den einfachen Fall des mit konstanter Verzögerungsmanöver
Geschwindigkeit bewegten Hindernisses ermittelt Für ein Hindernis, das sich mit einer konstanten
53 diese sich wie folgt: Verzögerung Dobs bewegt, ist die TTC abhängig von
der Relativverzögerung Drel = Dobs – Dsub zum nach-
54
2
vdiff
Dreq;v D (47.7) fahrenden Fahrzeug.
2d q
55
2
vdiff C 2Drel d  vdiff
Ausweichmanöver ttc .Drel / D I(47.11)
Drel
Der Ausweichabstand deva berechnet sich aus dem
56 Produkt der Differenzgeschwindigkeit und der für
2
vdiff > 2Drel d
das Ausweichen benötigten Zeitdauer teva, die ihrer- ttc(Drel) wird auch als Enhanced Time-to-Collision
57 seits in guter Näherung aus dem für das Ausweichen (ETTC) bezeichnet. Bei verschwindender Relativ-
notwendigen Versatz yeva, der mittleren maximalen verzögerung geht Gl. (47.11) in einer Grenzwertbe-
Querbeschleunigung ay,max und der Lenkverlustzeit trachtung in Gl. (47.3) über.
58 τS, die wie die Bremsenverlustzeit in der Größen- Die für das rechtzeitige Bremsen hinter einem
ordnung von 0,1 s liegt, angegeben werden kann. ebenfalls verzögernden Hindernis (Dobs > 0) not-
59 wendige ETTC errechnet sich aus der maximalen
s Relativverzögerung
2yeva
60 teva D
ay;max
C S(47.8)
Dmax;rel D Dmax  Dobs(47.12)
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
901 47

lerdings ist zur Berechnung der benötigten Querbe-


tts .vdiff C Drel  B ; Dmax;rel /
ttB .vdiff ; Drel / D B C (47.13) schleunigung der Umweg über die Variable ttc(Drel)
2
nötig, die die für eine Querbewegung verfügbare
Zeitdauer beschreibt.
twarn .vdiff ; Drel / D R C ttB .vdiff ; Drel /(47.14) 2
2 (47.19)
2 2yeva Drel
ay;req;D D 2yeva ttc .Drel / D q
2
vdiff C 2Drel d  vdiff
 B 
dB .vdiff ; arel / D vdiff C Drel  B C(47.15)
2 47.6.1.3 Berechnungen für ein in den
.vdiff C Drel  B /2 Stand bremsendes Hindernis
2Dmax;rel
Der hier betrachtete Fall liegt zwischen den beiden
vorherigen Szenarien. Entsprechend liegen die Re-
B C R
 
dwarn .vdiff ; arel / D vdiff C Drel  .B C R /C(47.16) sultate auch zwischen deren Ergebnissen.
2
.vdiff C Drel  .B C R //2
2Dmax;rel Verzögerungsmanöver
Kommt das Hindernisobjekt (Geschwindigkeit vobs)
Die Verzögerung des Hindernisses wirkt sich für vor dem Erreichen (also bei ETTC) zum Stillstand,
den Bremsweg praktisch als Reduktion der maxi- wenn also (vobs / Dobs) < ttc(Drel) ist, so erhöht sich die
malen Verzögerung des Egofahrzeugs aus. Für die TTC, und die für das Anhalten und Ausweichen
Warnschwelle kann sich die Relativgeschwindigkeit notwendigen Abstände verkleinern sich gegenüber
innerhalb der Reaktionszeit noch um Drel · τR deut- den Gl. (47.11) bis (47.18):
lich erhöhen.
q
In das Kriterium der benötigten Verzögerung 2 2 Dsub
vsub  vsub  2Dsub  d  vobs
geht nicht die Relativverzögerung ein, sondern zu- ttc;stop D
Dobs

sätzlich zu Gl. (47.7) nur die absolute Hindernis- Dsub


verzögerung Dobs:  
2 2 Dsub
2 vsub  2Dsub  d  vobs > 0(47.20)
vdiff Dobs
Dreq;D D Dobs C (47.17)
2d
Im Vergleich zu dem vorherigen einfachen Fall mit Somit ist ein Bremsabstand notwendig, der sich aus
vobs = const. muss der Bremseingriff früher, d. h. bei der Differenz der Bremswege des Egofahrzeugs und
größeren Abständen erfolgen, wenn das Hindernis- des Hindernisfahrzeugs zuzüglich des durch die
fahrzeug verzögert, da um diese Verzögerung die Bremsverlustzeit bedingten Wegs ergibt:
Relativverzögerungsfähigkeit reduziert wird, vgl. 2
vsub v2
Gl. (47.12). dB;stop D  obs C vsub  B(47.21)
2Dmax 2Dobs
Ausweichmanöver Ein Zeitkriterium ttB für diesen Fall vereinfacht die
Die für das Ausweichen notwendige Zeit teva ändert Darstellung von Gl. (47.21) nicht, wie auch schon an
sich auch bei einer Relativbeschleunigung nicht, Gl. (47.20) zu sehen ist. Für den Warnabstand ist Gl.
wohl aber der notwendige Abstand, der bei einem (47.21) um die Reaktionszeit multipliziert mit der
stärker als das Egofahrzeug verzögernden Hinder- mittleren Differenzgeschwindigkeit während des
nisobjekt nun um .Drel  teva
2
=2/ größer ausfallen Reaktionsintervalls zu erweitern:
muss.
2
vsub v2
2
teva
(47.18) dwarn;stop D  obs C vsub  B(47.22)
deva .vdiff ; Drel / D vdiff  teva C Drel 2D 2Dobs
2  max R 
C vdiff C Drel   R
Ebenso erhöht sich die benötigte Querbeschleuni- 2
gung gegenüber dem nicht beschleunigten Fall. Al-
902 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

41 .. Tab. 47.1  Auslöseschwellen mit Verweisen auf die Berechnungen des Abschnitts 47.6

Warnungs- und Eingriffsauslöseschwellen


42 Fahrdynamische Szenarien

43 unbeschleunigtes
Hindernis
mit Drel relativ verzöger-
tes Hindernis
in den Stand brem-
sendes Hindernis

44 Ausweichzeit (Time-Threshold-
Evasion teva)
Gl. (47.8) 0,55 … 0,7 s

45
Ausweichabstand deva Gl. (47.9) Gl. (47.18) Gl. (47.25)
vdiff  teva 2
teva
vdiff  teva C Drel
2
46 Benötigte Querbeschleunigung ay,req Gl. (47.10) Gl. (47.19) Gl. (47.26)
2
2yeva vdiff
47 d2
Anhaltezeit (Time-Threshold-Brake ttB) Gl. (47.4, 47.5) Gl. (47.13) –
48 B C
vdiff
2Dmax
49 Bremsabstand dB Gl. (47.1) Gl. (47.15) Gl. (47.21)
v2
 B C diff :
50 vdiff
2Dmax
Warnzeit twarn Gl. (47.6) Gl. (47.14) Gl. (47.16)
51 Warnabstand dWarn Gl. (47.2) Gl. (47.16) Gl. (47.22)
R C ttB
52 Benötigte Verzögerung Dreq Gl. (47.7) Gl. (47.17) Gl. (47.23)
2
vdiff v2
Dobs C diff
53 2d 2d
Fahrerverhalten
54 Fahrergrenze Komfortgrenze

55 Ausweichzeit 1s 1,6 s

56 Die benötigte Verzögerung Dreq,stop errechnet sich Dreq;v  Dreq;stop  Dreq;D(47.24)


aus der Summe des aktuellen Abstands d und des
57 2
Bremswegs vobs =2Dobs des vorausfahrenden Fahr- Dreq,stop liegt nahe an dem Wert Dreq,v für ein unbe-
zeugs schleunigtes Hindernis (Gl. (47.7)), wenn vobs/Dobs
klein ist, und nahe an einem dauerhaft verzögern-
58 Dreq;stop D
2
vsub
 :(47.23) den Hindernis (Gl. (47.17)), wenn vobs/Dobs groß ist.
2

vobs
2 dC
59
2Dobs
Ausweichmanöver
Das Ergebnis liegt immer zwischen den Werten für Auch für diesen Fall des in den Stand bremsenden
60 konstante Geschwindigkeit und für konstante Ver- Hindernisses bleibt die benötigte Ausweichzeit un-
zögerung verändert gemäß Gl. (47.8), allerdings ist für die
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
903 47

Berechnung des benötigten Ausweichwegs diese ax


Zeit mit der mittleren Egogeschwindigkeit (vdiff –
Dsub· teva/2) zu multiplizieren. Zur Verfügung steht
der aktuelle Abstand d und der Verzögerungsweg
2
vobs =2Dobs des Hindernisobjekts. ay,max(ax) = a 2
max – a2x

ay,max(ax)
eva 
 eva(47.25)

deva .vobs ; Dobs / D vdiff  Dsub 
2 ay
v2
 obs
2Dobs

Die benötigte Querbeschleunigung

2
ay;req D 2yeva ttc .vobs ; Dobs / D (47.26)
2
2yeva Dsub
q .. Abb. 47.4  Aufteilung der Längs- und Querkräfte beim
.vsub  2  2D 2 Dsub 2
vsub sub  d  vobs  /
Dobs Reifen (Kammscher Kreis)

liegt wie die benötigte Verzögerung zwischen


den Werten für ein unbeschleunigtes Hindernis verlängert, da nun in Gl. (47.8) die reduzierte maxi-
(Gl. (47.10)) und denen für ein konstant verzögern- male Querbeschleunigung ay,max(D) einzusetzen ist.
des (Gl. (47.19)). Die Wurzel bleibt nur dann real, Anderseits verlängert sich die Zeitdauer bis
wenn auch wirklich die Kollision bei Fortsetzung zum Erreichen des Hindernisses durch die mit dem
der Bewegung stattfinden würde. Ansonsten bleibt Bremsen erreichte positive Relativbeschleunigung
das Egofahrzeug noch mit endlichem Abstand vor gemäß Gl. (47.11).
dem Hindernis stehen und bricht auf diese Weise Dieser Effekt dominiert bei kleinen Verhältnis-
den Ausweichvorgang ab, sodass keine sinnvolle Lö- sen von D/Dmax. In einer [15] nachempfundenen
sung zur benötigten Querbeschleunigung errechnet Darstellung lässt sich die Wirkung der kombinierten
werden kann. Brems- und Lenkeingriffe über die Bewegung einer
Mit Hilfe der . Tab.  47.1 können für alle ge- mit der Zeit größer werdenden Ellipse verdeutli-
nannten Kriterien und für die drei hier unterschie- chen, deren Mittelpunkt sich mit der Ausgangsge-
denen Fälle die zu einander korrespondierenden schwindigkeit bewegt (s. . Abb. 47.5).
Ergebnisse gefunden werden. Diese Darstellung zeigt, dass Bremsen bis zu
einem von der Ausgangsbedingung abhängigen
Berechnungen für gleichzeitiges Bremsen Maß eine größere ortsbezogene Ausweichfähigkeit
und Lenken nach sich zieht. Auf den Abstandspunkt des Aus-
Wenn der Reifen mit Längskräften beansprucht weichbeginns bezogen beträgt der Gewinn durch
wird, so kann er nicht mehr die maximalen Quer- ein optimales Brems-/Lenkmanöver gegenüber dem
kräfte bereitstellen. Diese Abhängigkeit beschreibt – reinen Lenkmanöver zumeist nur wenige Zentime-
vereinfachend – der Kammsche Kreis, s. . Abb. 47.4, ter [15] und liegt somit im Bereich der sonstigen
der gemäß der Gleichung Ungenauigkeiten. Damit können die Gleichun-
s gen hinsichtlich der Ausweichkriterien, insbe-
D2 sondere die Basisgleichung für das Zeitkriterium,
ay;max .D/ D ay;max 1  2 I 0  D  Dmax Gl. (47.8), weiter verwendet werden. Allerdings ist
Dmax
(47.27) bei einem verzögernden Hindernisobjekt (Dobs > 0)
2
noch der Abstand d D Dobs teva =2 , bei in den
auch für eine Ellipse mit unterschiedlichen Ma- Stand bremsendem Hindernisobjekt der Abstand
2
ximalreibwerten für Längs- und Querrichtung d D vobs =2Dobs hinzuzuaddieren. Bezogen auf
angesetzt werden kann. Bei einem kombinierten die TTC bei unbeschleunigten Ausgangsbedingun-
Brems- und Lenkmanöver wird die Ausweichzeit teva gen erhöht sich somit der Zeitbedarf um Dd / vsub,
904 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

.. Abb. 47.5  Mögliche Aufenthaltsbereiche bei


41 kombinierter Längs- und Querbeschleunigung.
Die Ellipsen bewegen sich mit der Ausgangsge-
schwindigkeit v0 und werden mit dem Quadrat
42 der Zeit größer. Die durchgezogene Linie
entspricht dem jeweils optimalen Seitenabstand,
die gestrichelte der Trajektorie bei ausschließli-
43 cher Querbeschleunigung. Darstellung nach [15]

44
45 wobei der kleinere der oben genannten Dd-Werte schnitten nach dem kubischen Glied. Je kleiner der
einzusetzen ist. Mit dem zuvor angegebenen reprä- Radius ist (implizit bei kleinerer Geschwindigkeit)
sentativen Wert teva,phys = 0,6 s für Hochreibwert und und je größer die Ausweichbreite ist, umso stärker
46 mittleren Ausweichversatz ist ein zusätzlicher Ab- fällt diese Differenz ins Gewicht. Der zeitliche Un-
stand von 1,8 m zu berücksichtigen, was in Folge zu terschied hängt zum einen vom Quadrat des Ver-
47 einer Anhebung der Zeitgrenze um maximal 0,3 s, hältnisses ay / v0und zum anderen von der dritten
typisch eher um 0,15 s führt. Potenz von (2y / ay) ab, der Zeit zum Querversatz y
Auch wenn die Darstellung des Aufenthalts- (vgl. Gl. (47.8), erster Term):
48 raums gemäß . Abb. 47.5 sehr leicht zu konstru-
ieren ist, so ist Vorsicht geboten, wenn neben der ∆x ⁄ v0 ≈ (ay / v0) (2y / ay)3 / 2 / 6. (47.31)
49 räumlichen Betrachtung auch die zeitliche erfor-
derlich ist, vgl. ▶ Kap. 49. Für den Fall einer rei- Dieser Unterschied ist erst relevant, wenn v0 klein ist
50 nen Querbeschleunigung verläuft die Trajektorie und y in der Größenordnung einer Fahrstreifenbreite
nicht auf der in . Abb. 47.5 zu sehenden Parabel, liegt (Beispiel: x=v0  100 ms bei v0 D 10 ms ;
sondern, wie allgemein bekannt, auf einem Kreis. ay D 10 sm2 D 3;5 m).
51 Die Hauptabweichung zwischen diesen beiden
Verläufen betrifft zunächst nicht die Querrichtung, 47.6.1.4 Ausweichverhalten von
52 sondern die Längsrichtung, wie folgende Rechnung Fahrern
zeigen wird. Im vorherigen Abschnitt sind allein fahrphysika-
Die Projektion der Kreisbewegung mit kon- lische Betrachtungen ausgeführt worden. Aller-
53 stanter Kreisgeschwindigkeit auf die ursprüngli- dings werden nur besonders geübte Fahrer bis an
che Längsachse weist gegenüber dem Verlauf nach die Fahrphysikgrenzen herangehen. In einer Un-
54 . Abb. 47.5 eine Abweichung von tersuchung von Honda [16] (. Abb. 47.6) wurden
Ausweichmanöver in drei Gefährlichkeitsstufen
55 ∆x = R (ϑ – sin ϑ); ϑ = v0t / R; R = v02 / ay (47.28) bewertet. Die untere Grenze der mittleren Bewer-
tung („feel somewhat dangerous“) lässt sich sehr
auf, wobei in Querrichtung die Strecke gut im Bereich von TTC > 1,6 s identifizieren. Die
56 untere Grenze der als ungefährlich eingestuften
y = R (1 – cos ϑ); ϑ = arccos (1 – y / R)(47.29) Ausweichmanöver kann mit einer TTC von 2,5 s
57 angegeben werden. Aus diesen beiden Werten kann
zurückgelegt wird. Somit lässt sich der Winkel ϑ geschlossen werden, dass ein Ausweichmanöver in-
durch einen von y und R abhängigen Term ersetzen: nerhalb von einer Sekunde TTC zwar fahrphysika-
58 lisch möglich ist, aber wegen der Einstufung selbst
∆x / R = (arccos (1 – y / R) – sin [arccos unter großer Risikobereitschaft nicht beabsichtigt
59 (1 – y / R)]) ≈ (2y / ay)3 / 2 / 6 (47.30) durchgeführt wird. Diese Schwelle wird im Folgen-
den Driver’s Limit genannt. Aber bereits früher, bei
60 Die Näherung ergibt sich durch die Reihenent- einer TTC von etwa 1,6 s, wird der Ungefährlich-
wicklung der trigonometrischen Funktionen, abge- keitsbereich verlassen, sodass auch hier nicht mehr
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
905 47
.. Abb. 47.6  Subjektive Bewertung von Aus-
weichmanövern [Quelle: Honda [16]]

von einer normalen Ausweichsituation ausgegan-


gen werden kann und eine Frontkollisionsgegen-
maßnahme berechtigt erscheint. Dieser Schwell-
- die Warnschwelle twarn mit Werten zwischen
2,5 und 3 s,
eingeführt.
wert wird im Folgenden Comfort Limit genannt.
Für diese den normalen Fahreinsatz beschreibenden
Zusammen mit der fahrphysikalischen Grenze er- Einsatzschwellen können noch weitere Kriterien zu
geben sich nun drei repräsentative Schwellwerte für einer Veränderung der Werte führen. Eine Strate-

-
Frontkollisionsgegenmaßnahmen:
Bei teva (ca. 0,6 s) ist ein Ausweichen physika-
gie ist die Beobachtung des Fahrers hinsichtlich der
Aufmerksamkeit. In einem im Markt eingeführten

- lisch nicht mehr möglich.


Bei tdriver (ca. 1 s) wird ein Ausweichen vom
Beispiel (Lexus LS, APCS-Paket) bestimmt ein auf
der Lenkkonsole montierter Driver Monitor, ob der

- Fahrer praktisch nicht mehr geleistet.


Bei tcomfort (ca. 1,6 s) wird ein Ausweichen als
gefährlich angesehen.
Fahrer zur Seite schaut. Wird eine längere Blickab-
wendungszeit ermittelt, erfolgen eine frühere War-
nung und ein früherer Eingriff. Weitere Kriterien für
die Änderung der Schwellwerte können der Reibwert
Allerdings kommen selbst bei der früheren Schwelle µ und die Sichtweite sein. Ein verminderter Reibwert
tcomfort Warnungen mit der Aufforderung zum Brem- erhöht die fahrphysikalisch abgeleiteten Grenzwerte,
p
sen nicht mehr rechtzeitig. Wenn von einer Reak- und zwar die Ausweichzeiten um 1=  und die
tionszeit von 1 s (zzgl. Verlustzeit der Bremse von Bremszeiten um 1/µ. Bei der Verwendung von Be-
0,1 s) ausgegangen wird, so lässt sich eine Diffe- schleunigungsschwellen für die Auslösung lässt sich
renzgeschwindigkeit von nur 2Dmax · 0,6 s ≈ 12 m/s der Reibwert, falls in irgendeiner Weise ermittelt,
ausgleichen. Eine besonders wirksame Warnung direkt für den Vergleich zwischen benötigter Ver-
mit einer Reaktionszeit von 0,5 s käme immerhin zögerung/Querbeschleunigung verwenden, da die
schon auf Werte von 22 m/s. In diesen Beispielen maximal mögliche Verzögerung/Querbeschleuni-
wird allerdings eine Vollbremsung unter guten gung über µ · g abgeschätzt werden kann. Allerdings
Fahrbahnzustandsbedingungen angenommen. sind zurzeit keine Verfahren bekannt, die schon im
Eine Warnung, die etwa eine Sekunde früher er- Vorfeld den Reibwert ermitteln können, um entspre-
folgt, lässt dem Fahrer den Spielraum für eine chende Schwellwertmodifikationen zu erlauben.
moderatere Reaktion und kann bei Einsatz einer Für die Sichtweite gibt es optische Verfahren
Vollbremsung sogar Differenzgeschwindigkeiten über die Messung der Rückstreuung mit Lidar oder
von 30 bis 40 m/s ausgleichen, womit die weitaus Lidar-ähnlichen Sensoren oder mit Kameras. Als
meisten Einsatzfälle abgedeckt sind. Gemäß diesen weiterer Indikator sowohl für geringe Sichtweite als
Überlegungen wird eine weitere Schwelle, auch verminderten Reibwert kann ein mit hoher
906 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

41
42
43
44
45
46
.. Abb. 47.7  Darstellung von Warn- und Eingriffszeitpunkten im Fall der nicht beschleunigten Bewegung von Hindernis und
Egofahrzeug (TTC = Abstand/Relativgeschwindigkeit)
47
Geschwindigkeit betriebener Scheibenwischer sein. Linie näherungsweise doppelt so lang wie der an-
48 Auch ein angeschalteter Nebelrückscheinwerfer gegebene TTC-Wert, weil die (zeitlich) mittlere
kann als Modifikationsgrund herangezogen werden, Relativgeschwindigkeit durch die Verzögerung nur
49 insbesondere bei Warnungen mit einem größeren etwa halb so groß ist wie die Ausgangsgeschwin-
Abstand zum Hindernis. digkeit.
50 47.6.1.5 Zusammenfassung
Die hier gewählte Darstellung repräsentiert ei-
nen eher günstigen Fall. Bei niedrigeren Reibwerten
In einer vereinfachten Darstellung sind in oder verzögernden Hindernisobjekten verschieben
51 . Abb. 47.7 alle in den vorherigen Abschnitten ab- sich die Schwellen zu höheren TTC-Werten, die
geleiteten Eingriffe in ein Diagramm gezeichnet. Ausweichwerte verschieben sich weitgehend unab-
52 Als fahrphysikalische Grenze findet sich der reprä- hängig von der Relativgeschwindigkeit zu höheren
sentative Wert teva (ca. 0,6 s) wieder, für die Grenze, TTC-Werten, während die Bremsgrenze und damit
die von Fahrern gemieden wird, steht der Wert tdri- auch die Warngrenze stärker geneigt ist, also pro-
53 (ca. 1 s), während die Warnschwelle wegen des portional zur Relativgeschwindigkeit zu größeren
ver
mit der Geschwindigkeit quadratisch wachsenden TTC-Werten verschoben. Allein im Falle der Kur-
54 Bremswegs linear abhängig von der Relativge- venfahrt könnte bei Ausweichen zur kurvenäuße-
schwindigkeit ist. Eine Vollbremsung, die noch vor ren Seite ein noch später eingeleitetes Ausweich-
55 der gestrichelten Grenze eingeleitet wird, kann die manöver erfolgreich möglich sein (wobei sich der
Kollision vermeiden. Eine Kollisionsvermeidung Erfolg auf das auszuweichende Hindernis bezieht
per Ausweichmanöver ist bei den hier getroffenen und nicht berücksichtigt, ob der Ausweichkorridor
56 Annahmen bei Differenzgeschwindigkeiten ober- gefahrlos ist).
halb von 10 m/s (36 km/h) immer später möglich
57 als durch Verzögern.
Die in . Abb. 47.7 gewählte Darstellung er- 47.6.2 Frontkollisionsgegenmaßnah­
möglicht eine einfache und korrekte Betrachtung men
58 für den Fall mit konstant angenommenen Ge-
schwindigkeiten für Hindernis und Egofahrzeug. Neben der Reaktionsassistenz können informie-
59 Verzögert hingegen das Egofahrzeug (relativ zum rende und automatisch eingreifende Gegenmaß-
Objekt), so ist die TTC-Achse nicht mit einer Zeit- nahmen ergriffen werden. Sind die informierenden
60 achse identisch. So dauert im Falle einer Vollbrem- Maßnahmen darauf ausgerichtet, den Unfall zu ver-
sung mit Eingriffsbeginn entlang der gestrichelten meiden, so sind dagegen die eingreifenden zusätz-
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
907 47

lich darauf ausgelegt, die Unfallschwere zu lindern. mance requirements and tests procedures“ werden
Die im Folgenden diskutierten Maßnahmen können die Einsatzzeitpunkte spezifiziert, die sich aus der
als gesamtes Bündel oder im Teilumfang umgesetzt notwendigen Verzögerung und einer Reaktionszeit
sein, wobei eine Maßnahme, die in einer späteren ergeben, analog zu den Betrachtungen zum ▶ Ab-
Phase ausgelöst wird, prinzipiell auf einen stärkeren schn. 47.6.1. Als Höchstwerte werden Dreq = 6,67 m/
Bremseingriff hinweisen sollte. s² und τR = 0,8 s spezifiziert.
Für zwei System-Familien existieren Normen.
Zum einen beschreibt die seit 2002 gültige und 47.6.2.2 Konditionierung auf ein
2013 überarbeitete Norm ISO 15623 „Road vehicles Notmanöver
– Forward Vehicle Collision Warning System – Per- Gleichzeitig mit der Warnung oder etwas später kön-
formance requirements and tests procedures“ [17] nen Maßnahmen ergriffen werden, die ein vom Fah-
die Mindestanforderungen an Warnsysteme zur rer durchgeführtes Notmanöver unterstützen. Schon
Frontkollisionsvermeidung. Zum anderen die seit fast standardmäßig wird das Pre-Fill der Bremse
2013 gültige Norm ISO-22839 „Intelligent Trans- ausgelöst. Gemeint ist damit die Beaufschlagung der
port System – Forward Vehicle Collision Mitigation Bremse mit einer kleinen Spannkraft (bei hydrauli-
Systems – Operation, Performance, and Verification schen Bremsen mit etwa 1–5 bar Bremsdruck). Die
Requirements“ [18], die die Anforderungen an Sys- damit verursachte Verzögerung ist nicht merklich,
teme mit Bremseingriffen zum Geschwindigkeits- führt aber dazu, dass die Bremse nun schneller an-
abbau (speed reduction braking, SRB) und/oder spricht. Eine weitere in den Frontkollisionsschutz-
zur Kollisionsfolgenlinderung (mitigation braking paketen beinhaltete Maßnahme ist die Absenkung
(MB)) beschreibt. der Bremsassistent-Auslöseschwelle bei drohender
Frontkollision. Eine Änderung der Fahrwerkeinstel-
47.6.2.1 Warnungen (Collision lung, wenn im Fahrzeug überhaupt möglich, kann
Warning) sowohl das Notbremsen als auch das Notauswei-
Da in ▶ Kap. 37 die Warnelemente ausführlich chen fördern. Somit kann mit einer kurzzeitigen,
beschrieben sind, wird hier nur erwähnt, welche zu Lasten des Komforts gehenden Verstellung das
Warnelemente heute im Einsatz sind. Besonders Handling verbessert werden. Sind eine Überlage-
weit verbreitet ist die auditive Warnung mit zumeist rungslenkung und/oder eine elektrische Lenkun-
kurzen Warntönen, die von einer dazu auch meist terstützung vorhanden, so lassen sich auch die Not-
blinkenden optischen Anzeige mit einem Warn- ausweichmanöver durch veränderte Charakteristika
symbol ergänzt wird. Bei Fahrzeugen mit einem vorkonditionieren. Als Beispiele für eine umfang-
reversiblen Gurtstraffer bietet sich an, diesen auch reiche Vorkonditionierung können PRE-SAFE von
zur Warnung heranzuziehen. Ein aktives Fahrpedal Mercedes-Benz (allerdings ohne Ausweich-Kondi-
kann ebenfalls eine haptische Warnung auslösen, tionierung) und das Advanced Pre-Crash Safety (A-
indem der verschiebbare Federfußpunkt ruckartig PCS)-System von Lexus genannt werden.
zum Fahrerfuß hin bewegt wird. Allerdings ist die
für eine Wahrnehmung notwendige Voraussetzung, 47.6.2.3 Schwacher Bremseingriff
dass das Fahrpedal auch getreten wird, nicht in allen Bei der Komfortschwelle zwischen 1,5 und 2,0  s
kritischen Situationen gegeben. kann eine automatisch, schon fahrdynamisch wirk-
Der Einsatzbereich der Warnung liegt zwischen same Gegenmaßnahme eingesetzt werden. Es bieten
den beiden frühesten Werten twarn und tcomfort. Abwä- sich zwei Möglichkeiten an:
gungen zwischen Wirksamkeit und Verzeihlichkeit 1. Bremsruck (Warning Braking)
können dazu führen, dass verzeihlichere Warnungen Die Hauptwirkung des Bremsrucks besteht in
früher eingesetzt werden können, während weniger der haptischen Alarmwirkung mit einer klaren
verzeihliche, aber sehr wirksame später, also bei klei- Bremsaufforderung an den Fahrer. Ein beispiel-
neren TTC eingesetzt werden (vgl. ▶ Kap. 37). hafter Bremsruck mit einer typischen Verzöge-
In der Norm ISO 15623 „Road vehicles – For- rungsamplitude 4 m/s2, Auf- und Abbauflanken-
ward Vehicle Collision Warning System – Perfor- dauern von 0,2 s und einer Dauer von typisch
908 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

0,3 s bewirkt einen Geschwindigkeitsabbau von 47.6.2.4 Starker Bremseingriff


41 etwa 2 m/s und damit bei 20 m/s Differenzge- (Mitigation Braking)
schwindigkeit eine Reduktion der kinetischen Ein starker Bremseingriff (hier definiert mit min-
42 Energie bzw. des Bremsabstands von 20 %, führt destens 50 % des maximalen Verzögerungsvermö-
aber noch zu keiner als kritisch zu betrachten- gens) kann dann erfolgen, wenn das Ausweichen
den Änderung des Fahrzustands, sofern man ausgeschlossen werden kann. Allerdings sind für
43 von einem schon begonnenen Überholvorgang diese Entscheidung einige nicht mit hinreichender
absieht. Genauigkeit zu ermittelnde Parameter wie z. B. der
44 2. Schwacher Bremseingriff (Speed Reduction Bra- anzunehmende Ausweichversatz heranzuziehen. In
king, SRB) der bisherigen Praxis für Pkw-Anwendungen wird
45 Mit einer Teilbremsung von 30–40 % der maxi- ab 1 s TTC ein starker Bremseingriff mit einer Ver-
malen Verzögerung lässt sich eine hohe Warn- zögerung von etwa 6 m/s2 ausgeführt. Diese reicht
wirkung mit einer deutlichen Reduktion der dann bei ideal schneller Bremse für einen Abbau
46 kinetischen Energie verbinden. So kann bei ei- zwischen 6 und 12 m/s. Auch hierzu ist bekannt,
nem solchen bei einer TTC von 1,5 s beginnen- dass maximal mit der doppelten Zeit, also 2 s, ge-
47 den und 4 m/s2 starken Verzögerungseingriff bremst wird, sodass auch bei Falschauslösung ma-
die Differenzgeschwindigkeit auf ein nicht ver- ximal um 12 m/s verzögert würde.
zögerndes Hindernis die Fahrgeschwindigkeit Grundsätzlich würde ein noch stärkerer Brems-
48 um etwa 12 m/s abgebaut werden. Allerdings eingriff mehr Nutzen versprechen. Allerdings zeigen
ist bei einer solch frühzeitigen Auslösung dafür Untersuchungen mit Probanden [13], dass dieser
49 Sorge zu tragen, dass dieser durch den Fahrer Nutzen nur dann erreicht werden kann, wenn der
übersteuert werden kann. Insbesondere wenn Anstieg sehr schnell ist. Ist die Verzögerungsaufbau-
50 ein Ausweichen erkennbar ist, ist der Brem- rate eher gering (ca. 10…20 m/s3), dann ist bereits
seingriff wieder zu lösen. Ebenso, wenn die ein Bremseingriff mit 6 m/s2 Stärke wegen der dar-
Fahrpedalbetätigung einen anderen Fahrer- auffolgenden Bremsbetätigungen durch den Fahrer
51 wunsch deutlich macht. Allerdings ist vorher genauso wirkungsvoll wie eine automatische Voll-
auszuschließen, dass die Fahrpedalbewegung bremsung. Darüber hinaus kann eine starke Kol-
52 nicht durch den Bremsruck selbst bedingt ist, lisionslinderungsbremse kontraproduktiv wirken,
wie dies bei Vollbremsungen dokumentiert ist wenn durch die mit dem Bremsruck verbundene
[3]. Eine weitere Maßnahme zur Verminderung Körper- und Kopfvorverlagerung den Insassen au-
53 potenziellen Schadens eines solchen fälschli- ßerhalb des für ihn günstigen Positionsbereichs für
chen Eingriffs besteht in der Begrenzung der den Einsatz von Rückhalteelementen (Airbag, Gurt-
54 Eingriffsdauer auf das Doppelte der Eingriffs- straffung) führt. Eine vor oder gleichzeitig mit dem
TTC: Denn nach Auslegung dieser Grenze starken Bremseingriff einsetzende Rückhaltung
55 hätte diese Dauer entweder schon ausgereicht, durch reversible Gurtstraffer kann diese Nebenwir-
um die Kollision zu vermeiden, oder sie hätte in kung erheblich reduzieren.
dieser Zeitdauer schon stattfinden müssen. Ein
56 Grund für eine weitere Verkürzung ist das aus
Untersuchungen [13] im kontrollierten Fahr- 47.6.3 Nutzenpotenzial für
57 versuch beobachtete Fahrerverhalten, dass eine Kollisionsgegenmaßnahmen
automatische Bremsung die Reaktion des Fah-
rers zum Bremsen beschleunigte und so nach Der Nutzen der Frontkollisionsgegenmaßnahmen
58 spätestens 1,3  s angenommen werden kann, besteht in der Vermeidung von Frontkollisionen
dass der Fahrer reagiert, sofern eine Gefahren- und der Verringerung der Kollisionsschäden, wenn
59 situation vorliegt. eine Kollision nicht mehr verhindert werden kann.
Wie die bisherigen Rechnungen bereits gezeigt ha-
60 ben, hängt es stark von der Ausgangssituation ab, ob
eine Kollision vermieden werden kann, und wenn
47.6  •  Warn- und Eingriffszeitpunkte
909 47

.. Abb. 47.8  Drei Eingriffsstrategien mit gleicher Wirksamkeit (DvCM = 5 m/s) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwin-
digkeiten (40, 50, 70 km/h)

nicht, wie stark die Reduktion der Schäden war. Bremsruck) möglich, wie in ▶ Kap. 13 dokumentiert
Um für einen Nutzenkennwert eine weitgehende wird. . Abbildung 47.8 zeigt den Verlauf von drei
Unabhängigkeit von den Ausgangsbedingungen Strategien mit der gemeinsamen Wirksamkeit von
zu erreichen, kann die durch die Gegenmaßnahme DvCM =  5 m/s. Alle drei könnten bei einer Ausgangs-
effektiv verringerte Geschwindigkeit bestimmt geschwindigkeit v0 ≤ 2DvCM  =  10 m/s  =  36 km/h
werden. Allerdings ist auch diese – selbst bei ei- die Kollision noch vermeiden. Sie reduzieren bei
nem idealisierten System – noch abhängig von der 40 km/h den Schaden auf den von „Parkremplern“
Ausgangsrelativgeschwindigkeit, wie das folgende und verringern die kinetische Energie proportional
Beispiel deutlich machen soll, dem der einfachste zur Ausgangsgeschwindigkeit um m · vsub(ti) · DvCM,
Fall – der des stehenden Hindernisses – zugrunde wobei die Geschwindigkeitsreduktion bei hohen
liegt. Geschwindigkeiten auf DvCM = 5 m/s = 18 km/h ab-
Es wird eine idealisierte Notbremsung ange- fällt.
nommen, die bei einer Zeit ttB ausgelöst und dann Eine Wirksamkeit von DvCM = 5 m/s ist repräsen-
sofort mit D0 verzögert wird. Bei einer Ausgangs- tativ für Einzeleingriffe, wie sie beispielsweise bei
relativgeschwindigkeit von v0 = 2ttB · D0 kann ge- Honda CMBS durch einen Bremseingriff mit 6 m/
rade noch die Kollision vermieden und somit eine s2 Stärke zu finden sind, ausgelöst bei ttc = 1 s und
Geschwindigkeit von Dv = v0 = 2ttB · D0 abgebaut mit ca. τB = 0,2 s Verlustzeit oder alternativ mit ei-
werden. Sei hingegen die Ausgangsgeschwindigkeit ner schwachen, aber frühen Teilbremsung bei 1,6 s
sehr groß (v1 » 2ttB · D0), so wird nur halb so viel mit 3,3 m/s2 und τB = 0,1 s. Die erst bei sicherem
abgebaut. Um einen übertragbaren Kennwert zu er- Ausschluss einer Ausweichmöglichkeit, also bei
halten, wird daher nur die Differenz zur Ausgangs- ttc = 0,6 s aktivierbare Notvollbremsung kann eine
geschwindigkeit betrachtet, die innerhalb der Dauer solche Wirksamkeit mit der Maximalverzögerung
liegt, welche der bei der Auslösung zum Zeitpunkt (10 m/s2) und sehr schneller Bremsaufbaudynamik
ti vorliegenden TTC entspricht, also DvCM = vsub(ti) (τB = 0,1 s) erreichen.
– vsub(ti+ ttB).
Diese Definition der Wirksamkeit erlaubt so- Durch ein mehrstufiges Vorgehen lässt sich aber ein
wohl eine einfache Abschätzung idealisierter Kol- noch größeres Potenzial erreichen. Als Beispiel wird
lisionsgegenmaßnahmen als auch eine lösungsun- die Auslösung einer schwachen Bremsung (Speed
abhängige objektive Bewertung von Maßnahmen. Reduction Braking) nach Erreichen der Komfort-
Dabei ist sogar die vergleichende Bewertung von schwelle für das Ausweichen (ttc = 1,6 s) und eine
automatisch eingreifenden Systemen und fahrermit­ etwa eine TTC-Sekunde später folgende Vollbrem-
wirkenden Systemen (z. B. über Warnung oder sung herangezogen. Daraus ergibt sich eine Wirk-
910 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

41
42
43
44
45
46
.. Abb. 47.9  Zweistufige Eingriffsstrategie (ttc,1 = 1,6 s, D1 = 4 m/s2, ttc,2 = 0,6 s, D2 = 10 m/s2, Verlustzeit jeweils 0,1 s) mit einer
Wirksamkeit von DvCM = 9 m/s (= 1 s · 4 m/s2 + 0,5 s · 10 m/s2)) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwindigkeiten (60, 70,
47 90 km/h)

samkeit von DvCM  =  9 m/s. Da aber die Verzöge- So sind an Warnungen auslösende Hindernisde-
48 rung nicht konstant und sinnvollerweise zunächst tektionen geringere Anforderungen hinsichtlich
schwächer ist, wird anders als bei den einstufigen der Fehlalarmrate gestellt als an solche, die starke
49 Verfahren weniger als der doppelte Geschwindig- Bremseingriffe auslösen. Allerdings unterscheidet
keitsabbau erreicht (s. . Abb. 47.9). Trotzdem ist sich auch der Schwierigkeitsgrad entsprechend,
50 mit einer solchen Auslegung ein Geschwindigkeits- d. h. die Warndetektionen finden bei höheren Ab-
abbau von etwa 60 km/h möglich. Damit wird sogar ständen statt. Mit den Warnschwellen twarn von
der mit der höchsten Geschwindigkeit von 64 km/h 2,5…3,0 s ergeben sich bei unbeschleunigten Hin-
51 durchgeführte Crashtest zu einem „Parkrempler“ dernissen Abstände von vdiff · twarn ≈ 50 m bei Diffe-
heruntergestuft, wobei allerdings nicht vergessen renzgeschwindigkeiten von 60…70 km/h. Die in der
52 werden darf, dass die Betrachtungen einem güns- überarbeiteten Norm ISO 15623 [17] für Forward
tigen Fall entsprechen und sich die Schutzwirkung Vehicle Collision Warning Systems (FVCWS) an-
längst nicht in jeder Kollisionssituation erreichen gegebene Ableitung für dmax als dmax= vrel,max·τmax +
53 lässt. Dennoch zeigt das Beispiel, was erreichbar ist. vrel,max2 /2 Dmax mit vrel,max als obere Relativgeschwin-
Statt den Funktionsnutzen nach oben zu treiben, digkeitsgrenze des Systems, Reaktionszeit τmax ≥ 0,8
54 begann Volvo 2008 auf einem „Bottom-up-Weg“ s und Dmax = 6,67 m/s² führt bei Auslegung vrel,max =
mit dem City-Safety-Konzept eine hohe Markt- 20 m/s zu Mindestwarnabständen von dmax ≥ 46 m.
55 wirkung zu entfalten. Mithilfe eines besonders Dieser Wert vergrößert sich bei verzögerten voraus-
kostengünstigen Lidar-Sensors mit nur geringer fahrenden Fahrzeugen und natürlich für die Reserve
Reichweite lassen sich Auffahrunfälle bei niedrigen zur Zielplausibilisierung.
56 Geschwindigkeiten bis zu 30 km/h vermeiden. Die- Die in der Norm ISO 15623 formulierten Anfor-
ses Konzept wurde auch von anderen Fahrzeugher- derungen hinsichtlich der Genauigkeit der Abstands-
57 stellern übernommen oder als Teilfunktion anderer messung mit MAX(± 2 m, ± 1 % · d) sind hingegen
Automatischer Notbremssysteme integriert. mit Punktzieltestreflektoren ohne Schwierigkeiten zu
erreichen. Der azimutale (laterale) Erfassungsbereich
58 ist abhängig von der Kurvenfähigkeitsklassifikation.
47.6.4 Anforderungen Zu erfüllen ist die Detektion eines Punktziels, das
59 an die Umfelderfassung sich in der Verlängerung der Fahrzeugseitenlinie
in einem als d2 definierten Abstand vom Fahrzeug
60 Die Anforderungen an die Umfelderfassung rich- befindet. Bei einem 1,80 m breiten Fahrzeug ist bei
ten sich nach den ausgelösten Fahrzeugreaktionen. einem in der Mitte montierten Einzelsensor mindes-
47.7 • Ausblick
911 47

tens ein Azimutwinkelbereich von ± 9° (Curve Capa- Dazu werden für Deutschland die Unfälle mit Per-
bility Class I, d2 = 10 m) bis ± 18° (Class III, d2 = 5 m) sonenschaden (über 300 000) auf die Kilometerleis-
vorzuhalten. Der Elevationswinkelbereich (vertikaler tung der Pkw (6 · 1011 km) bezogen. Die Unfallrate
Sichtbereich) muss hingegen groß genug sein, um bei liegt somit bei etwa einem Unfall mit Personen-
d2 ein in der Mitte platziertes Punktziel in 0,2 und in schaden pro 2 Mio. km. Nur ein Teil der Unfälle ist
1,1 m Höhe zu detektieren. Bei geeigneter Ausrich- Frontkollisionen zuzuordnen, sodass von einer im-
tung folgt, dass der Elevationsbereich genau halb so mer noch als optimistisch anzusehenden Nutzrate
groß sein muss wie die Anforderung für den Azimut. etwa 1 pro 5 Mio. km ausgegangen wird. Da nicht
Neu hinzugekommen ist die Forderung der Norm, jede Fehlauslösung zu einem schweren Unfall füh-
Brücken mit einer Durchfahrthöhe von mindestens ren muss, ist eine Fehlauslösungsrate in der gleichen
4,5 m ohne Alarm zu durchfahren. Viele der Sensor- Größenordnung auch für einen starken Eingriff als
Anforderungen von ISO 15623 finden sich auch in akzeptabel einzuschätzen. Das heißt aber auch,
der ISO 22839 wieder. Allerdings werden für die dass zwischen zwei Fehlauslösungen eine mittlere
Eingriffsschwellen keine expliziten Werte angege- Kilometerleistung von 5 Mio. km liegen sollte, oder
ben. Allein der Geschwindigkeitsbereich von Sub- anders betrachtet, nur eine innerhalb von insgesamt
jekt- und Objektfahrzeug ist angegeben, in dem (zu 25 Fahrzeuggesamtnutzungsdauern.
einem nicht direkt definierten Abstand) eine Brems- Für die Genauigkeit der Objektdaten ist die Be-
reaktion erfolgen muss. Allerdings ist diese Reaktion stimmung der TTC und der benötigten Verzöge-
wiederum über die Eingriffsstärke und –wirkung rung heranzuziehen. Eine Ungenauigkeit von 10 %
(Geschwindigkeitsabbau) spezifiziert. TTC und 0,5 m/s2 Dreq sollte nicht überschritten
Aus der Praxis werden für die hier diskutierten werden, wobei die Filterlaufzeiten zu insgesamt
Funktionen Reichweiten von 60 bis 80 m gefordert nicht mehr als 200 ms Zeitverzug führen dürfen.
[19]. Damit lässt sich gegenüber stehenden Hin- Die oben diskutierte Einschränkung auf nied-
dernissen noch bei 100 km/h eine TTC von über 2 s rige Geschwindigkeiten und damit die Eingren-
realisieren, womit ein Wert erreicht wird, der ein un- zung auf den innerstädtischen Bereich reduziert
gefährliches Ausweichen oder bei schneller Reaktion die Anforderung erheblich. Bei geeigneter Sensor-
noch eine erfolgreiche Kollisionsverhinderung durch platzierung z. B. hinter der Windschutzscheibe und
ein Bremsmanöver noch ermöglichen würde. Gerade insgesamt nur geringem Entfernungsbereich von
die für eine Kollisionslinderung erforderlichen star- etwa 10 m lassen sich Bodenreflektionen oder an-
ken Bremsungen werden erst bei TTC von etwa 1 s dere Fehlmessungen verursachende Konstellationen
ausgelöst, woraus sich bei Kollisionen mit Differenz- ausschließen. Somit ist ein in diesem Bereich detek-
geschwindigkeiten bis 50 km/h ein Reaktionsabstand tiertes Objekt grundsätzlich als relevantes Hindernis
von weniger als 15 m gefordert ist. Geht man von zu bewerten, und folglich können geschwindigkeits-
einer Signalplausibilisierungszeit von 0,3 s aus, ver- reduzierende Bremsungen ausgelöst werden, sofern
größert sich der erforderliche Abstand auf etwa 20 m. eine Kollision droht. Da aber eine allein auf niedrige
Die größte Herausforderung ist nicht die Detek- Geschwindigkeiten begrenzte Funktion mittlerweile
tion von relevanten Objekten, sondern die Selektion nicht mehr marktgerecht ist, sind Sensorfunktionen
der tatsächlich bedrohlichen. Weder Schilderbrü- zu erweitern oder weitere Sensorik notwendig.
cken noch Gullydeckel oder „verschmolzene“ Ob-
jekte dürfen zu einer Auslösung führen. Das Ausfil-
tern solcher Falschobjekte gelingt über die längere 47.7 Ausblick
Beobachtung [20] der Reflektionsstärke und der
Konstanz der Winkelwerte in Abhängigkeit vom Obwohl schon seit über 50 Jahren an Frontkolli-
Abstand. Nur Objekte mit diesbezüglich plausiblem sionsschutzsystemen gearbeitet wird, haben erst
Verhalten werden für eine Auswertung hinsichtlich die Fortschritte der Umfeldsensorentwicklung, die
von Kollisionsgegenmaßnahmen herangezogen. durch Komfortfunktionen wie ACC bzw. FSRA sti-
Um die Anforderung an die Robustheit abzu- muliert wurden, zu serientauglichen Umsetzungen
leiten, kann man die Zahl der Nutzfälle betrachten. geführt. Damit war der technologische Weg frei,
912 Kapitel 47  •  Grundlagen von Front­kollisionsschutzsystemen

umfelderfassende Sensoren für den direkten Kol- [9] Kiesewetter, W., Klinkner, W., Reichelt, W., Steiner, M.: Der
41 lisionsschutz einzusetzen. Zum Teil aus Gründen
neue Brake‐Assist von Mercedes‐Benz – aktive Fahrerun-
terstützung in Notsituationen. ATZ Automobiltechnische
der strategischen Marktplatzierung, zum Teil ge- Zeitschrift 99(6), 330–339 (1997)
42 trieben aus Wettbewerbsdruck ist das Angebot stark [10] Weiße, J.: Beitrag zur Entwicklung eines optimierten Brem-
gewachsen, so dass ein Neuwagenkäufer aus einer sassistenten. Ergonomia Verlag, Stuttgart (2003). Disserta-
Vielzahl an Modellen wählen kann, die Frontkolli- tion TU Darmstadt
43 sionsgegenmaßnahmen enthalten. Die Aufnahme in
[11] Busch, S.: Entwicklung einer Bewertungsmethodik zur Pro-
gnose des Sicherheitsgewinns ausgewählter Fahrerassis-
den Katalog des EURO-NCAP reflektiert einerseits tenzsysteme VDI Fortschritt‐Berichte Reihe 12. VDI‐Verlag,
44 diese Entwicklung und forciert sie andererseits, so Düsseldorf (2005). Dissertation TU Dresden
dass die serienmäßige Ausstattung in nahezu allen [12] Morrison, R.W., Swope, J.G., Halcomb, C.G.: Movement

45 Klassen zu erwarten ist. times and brake pedal placement. The Journal of the
Human Factors and Ergonomics Society (HUM FACTORS)
Auf der Funktionswunschliste stehen der Ausbau
05/1986; 28(2), 241–246 (1986)
des Schutzes der ungeschützten Verkehrsteilnehmer,
46 Fußgänger und Zweiradfahrer, und die Ausdehnung
[13] Hoffmann; J. et al.: Das Darmstädter Verfahren (EVITA) zum
Testen und Bewerten von Frontalkollisionsgegenmaßnah-
auf komplexere Szenarien wie der Kollisionsvermei- men, Dissertation TU Darmstadt, noch nicht veröffentlicht.
47 dung und –linderung in Querverkehrskollisionssi- [14] Eckstein, L.: Entwicklung und Überprüfung eines Bedien-
tuationen, vgl. ▶ Kap. 49, ganz oben.
konzepts und von Algorithmen zum Fahren eines Kraft-
fahrzeuges mit aktiven Sidesticks Fortschritt‐Berichte
48 VDI‐Reihe 12, Bd. 471. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2001). Dis-
sertation TU München
Literatur [15] Schmidt, C.; Oechsle, F.; Branz, W.: Untersuchungen zu letzt-
49 möglichen Ausweichmanövern für stehende und bewegte
[1] Braun, H., Ihme, J.: Definition kritischer Situationen im Hindernisse. 3. FAS‐Workshop. Walting, 2005
Kraftfahrzeugverkehr – Eine Pilotstudie. Automobil-Indus- [16] Kodaka, K.; Otabe, M.; Urai, Y.; Koike, H.: Rear‐end Collision
50 trie 1983(3), 367–375 (1983) Velocity Reduction System, SAE paper 2003–01‐0503, 2003
[2] Kopischke, S.: Entwicklung einer Notbremsfunktion mit [17] ISO 15623 Norm: Transport information and control sys-
Rapid Prototyping Methoden. Bericht aus dem Institut für tems – Forward vehicle collision warning systems – Per-
51 Elektrische Messtechnik und Grundlagen der Elektrotech- formance requirements and test procedures. 2013
nik der Technischen Universität Braunschweig, Band 10. [18] ISO 22839 Norm: Intelligent Transport System – Forward
Vehicle Collision Mitigation Systems – Operation, Perfor-
52 Aachen, Mainz., Diss. TU‐Braunschweig, 2000
[3] Bender, E.: Handlungen und Subjektivurteile von Kraftfahr- mance, and Verification Requirements, 2013.
zeugführern bei automatischen Brems‐ und Lenkeingriffen [19] Randler, M., Schneider, K.: Realisierung von aktiven Kom-

53 eines Unterstützungssystems zur Kollisionsvermeidung.


Ergonomia‐Verla, Stuttgart (2008). Dissertation TU Darm-
fort‐ und Sicherheitsfunktionen mit Lidarsensorik. Fach-
forum Sensorik für Fahrerassistenzsysteme. FH Heilbronn,
stadt Heilbronn (2006)

54 [4] Seeck, A., Gasser, T.M.: Klassifizierung und Würdigung der


rechtlichen Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit
[20] Jordan, R.; Ahlrichs, U.; Leineweber, Th.; Lucas, B.; Knoll, P.:
Hindernisklassifikation von stationären Objekten auf Basis
der Einführung moderner FAS. Tagung „Aktive Sicherheit eines nichtwinkeltrennfähigen Long‐Range‐Radar Sensors,
55 durch Fahrerassistenzsysteme“. Organisation der Tagung
TUEV SUED und TU München, München (2006)
4. Workshop Fahrerassistenzsysteme, 4.–6. Oktober 2006,
Löwenstein/Hößlinsülz, S. 153, 2006
[5] Weinberger, M.: Der Einfluss von Adaptive Cruise Control
56 Systemen auf das Fahrerverhalten Berichte aus der Ergo-
nomie. Shaker, Aachen (2001). Diss. Technische Universität
München
57 [6] LeBlanc, D. J.; Kiefer, R. J.; Deering, R. K.; Shulman, M. A.;
Palmer, M. D.; Salinger, J.: Forward Collision Warning: Pre-
liminary Requirements for Crash Alert Timing, SAE 2001–
58 01‐0462, 2001
[7] Wiacek, Ch. J.; Najm, W. G.: Driver/Vehicle Characteristics in

59
Rear‐End Precrash Scenarios Based on the General Estima-
tes System (GES); SAE‐1999–01‐0817, 1999
[8] Färber, B.; Maurer, M.: Nutzer‐ und Nutzen‐Parameter

60 von Collision Warning und Collision Mitigation Systemen


im Verkehr. Tagungsband 3. Workshop Fahrerassistenz
FAS2005. Walting, 2005
913 48

Entwicklungsprozess von
Kollisionsschutzsystemen
für Frontkollisionen: Systeme
zur Warnung,
zur Unfallschwereminderung
und zur Verhinderung1
Andreas Reschka, Jens Rieken, Markus Maurer

48.1 Einführung – 914
48.2 Maschinelle Wahrnehmung der Umgebung
für Frontkollisionswarnung und -verhinderung  –  915
48.3 Thematische Eingrenzung und Abgrenzung zu
anderen Systemen und Kapiteln  –  917
48.4 Aktuelle Systemausprägungen – 918
48.5 Abstufung am Beispiel einer aktuellen Realisierung  –  923
48.6 Systemarchitektur – 924
48.7 Entwicklungsprozess – 926
48.8 Zusammenfassung – 933
Literatur – 933

1 Dieses Kapitel erschien erstmalig in ähnlicher Form und auf Englisch unter dem Titel
„Forward Collision Warning and Avoidance“ in [1].

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_48, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
914 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

48.1 Einführung lässig bestimmen lässt. Sportliche Fahrer betätigen


1 das Bremspedal vielfach auch bei Komfortbrem-
48.1.1 Bedeutung und frühe sungen so dynamisch, dass sich die Betätigungssi-
2 Forschungsansätze tuation ähnlich darstellt wie bei durchschnittlichen
Fahrern in Notsituationen. Um die Falschauslösun-
Frontkollisionen (Forward vehicle collisions) ma- gen zu begrenzen, werden hydraulische Bremsassis-
3 chen einen signifikanten Anteil an den schweren tenten daher heute üblicherweise so eingestellt, dass
Unfällen im Straßenverkehr aus. Entsprechend wur- sie nur in einem Teil der Notsituationen unterstüt-
4 den Systeme zur Hindernis- und Kollisionswarnung zen können. Auch kann das System prinzipbedingt
in die Empfehlungen der eSafety Support Initiative nicht auslösen, wenn der Fahrer überhaupt nicht
5 aufgenommen (eSafety) [2]. Diese Empfehlungen reagiert.
enthalten eine Liste von Maßnahmen mit hohem Mit der Serieneinführung von Radarsystemen
Potenzial zur Verbesserung der Verkehrssicherheit für adaptive Geschwindigkeitsregelanlagen (ACC,
6 und der Reduzierung der jährlichen Unfallopfer [3]. s. ▶ Kap. 46) wurde die technologische Grundlage
Detailanalysen von Unfällen haben gezeigt, zur maschinellen Umgebungswahrnehmung in das
7 dass viele Fahrer nicht oder mit zu geringer Verzö- Fahrzeug integriert. Auf dieser Basis wurden in den
gerung bremsen. In . Abb. 48.1 ist aufgeführt, wie 1990er Jahren Systeme vorgeschlagen, die auch die
viele Fahrer in Prozent nur mit Komfortbremsun- Fahrumgebung vor dem Fahrzeug mit maschinel-
48 gen reagieren oder gar nicht bremsen, obwohl eine ler Wahrnehmung erfassen und eine Notbremsung
Vollbremsung die angemessene Handlung gewesen auslösen, sobald ein Unfall fahrphysikalisch unver-
9 wäre. Dargestellt werden die prozentualen Anteile meidlich ist [7]. 2003 hat Honda als erster Herstel-
hinsichtlich der Unfallschwere, quantitativ erfasst ler ein „Collision Mitigation Brake System“ (CMBS)
10 durch die stärkste Verletzung, die der Fahrer erlitten genanntes System auf den Markt gebracht [8]. Eine
hat (MAIS; Maximum auf der abgekürzten Verlet- Beschreibung der Grundlagen zu solchen Frontkol-
zungsskala). lisionsvermeidungssystemen ist in ▶ Kap. 47 dieses
11 In der Literatur wurden bereits in den 1950er Handbuchs zu finden.
Jahren prototypische Systeme beschrieben, die den
12 Fahrer vor Frontkollisionen warnen sollten. Bei-
spielsweise beschreibt General Motors ein prototy- 48.1.2 Definitionen und Abkürzungen
pisches System, das die Relativgeschwindigkeit und
13 den Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen mit- Aus den ersten Funktionsideen für die Hindernis-
tels eines Radarsystems erfasst und dem Fahrer im und Kollisionswarnung mit maschineller Wahrneh-
14 Kombiinstrument anzeigt [5]. Es dauerte allerdings mung entstand eine Vielzahl von unterschiedlichen
40 Jahre, bis sich Radarsysteme so industrialisieren Systemen, die den Fahrer vor entsprechenden Un-
15 ließen, dass sie wirtschaftlich zumindest für Klein- falltypen schützen sollen. Zunächst werden daher
serien in der Fahrzeugoberklasse produziert werden einige klassifizierende Begriffe definiert, die solche
konnten. Systeme in verschiedene Kategorien einteilen. Zur
16 Durch die Einführung von ESC in den 1990er besseren Lesbarkeit des weiteren Textes werden
Jahren wurde ein elektronisch ansteuerbarer zusätzlich einige Abkürzungen eingeführt. Diese
17 Bremsaktuator mit hoher Einbaurate verfügbar, wurden – soweit verfügbar – gegenüber der ersten
mit dem unterstützende Bremseingriffe prinzipi- Version des Artikels [1] an die Normen ISO 15623
ell möglich waren. Diesen Aktuator nutzte der so- und ISO 22839 angepasst. Die Norm ISO 15623 be-
18 genannte hydraulische Bremsassistent (HBA), der handelt Systeme zur Warnung vor Frontkollisionen
den Fahrerwunsch aufgrund der Betätigungsge- und die Norm ISO 22839 behandelt Systeme zur
19 schwindigkeit des Bremspedals bestimmen sollte (s. Schwereminderung von Frontkollisionen [9, 10].
▶ Kap. 47) [6]. Es stellte sich allerdings heraus, dass Aktive Sicherheit: Unter aktiver Sicherheit wird
20 sich der Fahrerwunsch allein aufgrund der Betäti- die Vermeidung von Unfällen verstanden (z. B.
gungsgeschwindigkeit nur in seltenen Fällen zuver- [11]).
48.2  •  Maschinelle Wahrnehmung der Umgebung
915 48

.. Abb. 48.1  Bremsverzögerung bei Unfällen mit unterschiedlicher Verletzungsschwere nicht assistiert [4]; MAIS – Maximum
auf der abgekürzten Verletzungsskala

FVC Frontkollision Forward vehicle schonender entfalten können (z. B. hydraulischer


collision Bremsassistent)
FVCX Obermenge der Frontkol-
FVCW-Systeme: Systeme, die den Fahrer vor
lisionsassistenzsysteme einer drohenden Frontkollision warnen
FVCM-Systeme: Systeme, die die Unfallschwere
FVCC Frontkollisionsvorberei- Forward vehicle colli-
tung sion conditioning durch geeignete Maßnahmen bei einer Frontkolli-
sion verringern
FVCW Frontkollisionswarnung Forward vehicle
FVCA-Systeme: Systeme, die eine Frontkollision
collision warning
durch aktiven Eingriff in die Fahrdynamik vermeiden
FVCM Frontkollisionsschwere- Forward vehicle colli- Passive Sicherheit: „Unter passiver Sicherheit
minderung sion mitigation
wird die Minderung der Unfallfolgen verstanden.“
FVCA Frontkollisionsverhinde- Forward vehicle colli- (z. B. [11]); aktive Systeme zur passiven Sicherheit
rung sion avoidance dienen der Unfallschwereminderung (z. B. Airbag,
Gurtstraffer, automatische Notbremsung (ANB) bei
FVC: Kollisionen, bei denen das auszurüstende Auslegung als FVCM-System).
Fahrzeug frontal mit einem Verkehrsteilnehmer
zusammenstößt
FVCX-Systeme: Systeme, die geeignete Maß- 48.2 Maschinelle Wahrnehmung
nahmen ergreifen, um eine drohende oder bevor- der Umgebung
stehende Frontkollision im Sinne der Fahrzeugin- für Frontkollisionswarnung
sassen günstig zu beeinflussen und -verhinderung
FVCC-Systeme: Systeme, die Subsysteme im
Fahrzeug so vorbereiten, dass sie im Einsatzfall ihre Die Vielzahl der heute angebotenen Systemvarian-
Wirkung schneller oder für die Insassen günstiger/ ten ist auch deshalb entstanden, weil die maschi-
916 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

nelle Wahrnehmung dem aufmerksamen Fahrer Fahrstreifen mit ihren Begrenzungslinien. Das Be-
1 derzeit in vielen Aspekten unterlegen ist. Bereits in sondere an der maschinellen Wahrnehmung besteht
der Einleitung wurde deutlich, dass die Entwicklung also in der maschinellen Interpretationsleistung.
2 von Systemen zur maschinellen Wahrnehmung die Diese führt nach dem aktuellen Stand der Technik
Schlüsseltechnologie (enabling technology) für die in der maschinellen Wahrnehmung zu bislang un-
Fahrerassistenz darstellt. gewohnten Möglichkeiten der Interpretation, aber
3 Die besonderen Charakteristika von maschi- auch der Fehlinterpretation.
nellen Wahrnehmungssystemen werden zunächst Auf die Funktionsgrenzen der maschinellen
4 an einfachen Systemvergleichen verdeutlicht. Fah- Wahrnehmung nach dem Stand der Technik wird
rerassistenzsysteme mit maschineller Wahrneh- bei der Systementwicklung grundlegend Rücksicht
5 mung sollen dazu kontrastiv mit konventionellen genommen. Eine Strategie zur Systemauslegung
Fahrerassistenzsystemen diskutiert werden, die auf kann darin bestehen, signifikante Fehlinterpretati-
direkte Messungen oder modellbasierte Beobach- onen in Kauf zu nehmen (bei Sicherheitssystemen
6 tungen zurückgehen. z. B. eine Falschauslösung auf 10.000 km Fahrleis-
Konventionelle Fahrerassistenzsysteme un- tung), die Systemreaktion aber so zu gestalten, dass
7 terstützen den Fahrer in Situationen, die einfach der Fahrer dadurch nicht gestört und schon gar
zu messen oder zu schätzen sind. Antiblockier- nicht gefährdet wird. Als Beispiel hierzu wird die
systeme greifen ein, wenn ein Rad zu blockieren Auslegung eines automatischen Warnrucks später
48 droht, was sich über konventionelle Raddrehzahl- im Detail diskutiert (s. ▶ Abschn. 48.4.2).
sensoren bestimmen lässt. Ein elektronisches Sta- Sollen signifikante automatische Eingriffe in die
9 bilitätsprogramm bremst einzelne Räder ab, wenn Fahrdynamik aufgrund von maschineller Wahrneh-
der geschätzte Schwimmwinkel einen applizierten mung vorgenommen werden, so sind maschinelle
10 Schwellwert übersteigt. Dabei stellt das elektroni- Fehlreaktionen grundsätzlich ganz zu vermeiden. In
sche Stabilitätsprogramm bereits einen Grenzfall der Automobilindustrie gibt es derzeit keine klaren
der Klassifikation dar, da die notwendige Reibwert- Standardwerte, wie hoch die Fehlauslöserate bei ei-
11 schätzung eine anspruchsvolle Aufgabe der maschi- ner gegebenen Eingriffsstärke sein darf.
nellen Wahrnehmung ist – insbesondere, da diese in Um die Korrektheit im Interpretationsprozess
12 Echtzeit und idealerweise prädiktiv erfolgen muss, zu erhöhen, nutzen maschinelle Wahrnehmungs-
um die aktuelle Fahrgeschwindigkeit an die Stra- systeme redundante Sensoren, deren Daten in einer
ßenbedingungen anzupassen. Sensordatenfusion zu einer möglichst konsistenten
13 Eine ähnliche Unterscheidung ist in den „Code- Umgebungsrepräsentation zusammengeführt wer-
of-Practice“ für sogenannte „fortschrittliche Fah- den (s. ▶ Kap. 24 und 25). Die Eingriffssituationen
14 rerassistenzsysteme“ (Advanced Driver Assistance werden so spezifiziert, dass Fehlinterpretationen
Systems, ADAS) eingegangen: unwahrscheinlich werden. Die Verfolgung der
15 „Im Gegensatz zu konventionellen Fahreras- temporalen Entwicklung des Verkehrsgeschehens
sistenzsystemen besitzen ADAS Sensoren zur Er- wird zusätzlich eingesetzt, um die maschinelle In-
fassung und Auswertung der Fahrzeugumgebung terpretation zu verifizieren. Im Zweifelsfall wird die
16 und je nach zu unterstützender Fahraufgabe eine assistierende Handlung unterlassen, um Verkehrs­
komplexe Signalverarbeitung.“ [12] teilnehmer gefährdende Falschreaktionen zu ver-
17 Als „Fahrerassistenzsysteme mit maschineller meiden. Bei der Auslegung von Sicherheitssystemen
Wahrnehmung“ werden Systeme bezeichnet, die wird dies auch als konservative Systemauslegung
Unterstützung in Situationen anbieten, welche als bezeichnet.
18 „wahr“ angenommen werden müssen. Im Falle von Die Forderung nach Redundanz wird auch durch
ACC werden Radarreflexe, die gewisse zeitliche und die Argumentation von Juristen unterstützt, die neue
19 räumliche Kriterien erfüllen müssen, als Fahrzeuge Systeme mithilfe von Analogien zu bewerten suchen.
interpretiert. Beim Fahrstreifenverlassenswarner re- Eine mögliche Argumentation könnte lauten, dass
20 präsentieren Hell-Dunkel-Übergänge im Videobild, auch bei einem ESC-System wesentliche Parameter
die eine spezifische Gestaltannahme erfüllen, den ebenfalls (funktional) redundant erfasst werden.
48.3  •  Thematische Eingrenzung und Abgrenzung zu anderen Systemen und Kapiteln
917 48

Um für eine gegebene Eingriffssituation eine Nutzung von ACC generell zu verlangen, um größt-
möglichst robuste maschinelle Wahrnehmung zur mögliche Sicherheit zu gewährleisten [14].
Verfügung zu stellen, ist vielfach eine spezielle Jenseits dieser skizzierten positiven Auswirkun-
Auslegung des Systems auf diese Situation zielfüh- gen von ACC auf die Verkehrssicherheit haben Sys-
rend. Auch wenn die Natur ebenfalls viele Beispiele tementwickler von Anfang an dafür Sorge getragen,
entsprechender Anpassung an Lebensräume oder dass sich der Gebrauch des Systems nicht negativ
Beutesituationen kennt (z. B. Fledermäuse), so ist auf die Fahrzeugsicherheit auswirkt. Wissenschaft-
diese Spezialisierung ein großes Hemmnis, wenn liche Grundlagen für die Bedenken liefern Erfah-
bestehende Wahrnehmungssysteme auch für andere rungen aus der Automatisierung in Kraftwerken
Funktionen verwendet werden sollen. und Flugzeugen [15] oder aus der psychologischen
Grundlagenforschung (Yerkes-Dodson Law, [16]).
Darin wird vereinfacht gesprochen die Erfahrung
48.3 Thematische Eingrenzung formuliert, dass man einen gelangweilten Fahrer
und Abgrenzung zu anderen tunlichst nicht weiter entlasten sollte. Solange der
Systemen und Kapiteln Fahrer für die Fahraufgabe verantwortlich ist und
nicht zum Passagier wird, ist dafür Sorge zu tragen,
Die detaillierte Abgrenzung von anderen Syste- dass er auch hinreichend in die Fahrzeugführungs-
men wird zu einer spezifischeren Definition von aufgabe eingebunden ist.
FVCX-Systemen führen. Bezogen auf die Entwicklung des ACC zeigen
Buld et al. [17] im Fahrsimulator, dass mit einem
Abgrenzung zu ACC zunehmend ausgereiften ACC-System durchaus da-
Das Komfortsystem ACC (s.  ▶ Kap. 46) und mit zu rechnen ist, dass der Fahrer in seiner Fahr-
FVCX-Systeme werden grundsätzlich als eigen- zeugführungsaufgabe schlechter und nicht besser
ständige Systeme diskutiert, die dennoch technolo- wird ([17], S. 184). Auch kann der Gebrauch von
gisch und auch in ihrer Wirkung auf das Unfallge- ACC zu einer schnelleren Ermüdung des Fahrers
schehen verkoppelt sind. Bereits in der Einleitung führen als wenn er ohne Assistenz fährt.
wurde aufgezeigt, dass ACC durch die Einführung Es gehört zum Standardrepertoire im Ent-
des Radarsensors in die Serienproduktion die tech- wicklungsprozess der Automobilhersteller, die Ge-
nologische Grundlage für die maschinelle Wahr- brauchssicherheit von ACC bei der Entwicklung
nehmung von FVCX-Systemen lieferte. jeder neuen Systemausprägung intensiv zu testen.
Immer wieder wird kontrovers die Frage disku- Im Zweifelsfall werden die Systemausprägungen so
tiert, wie sich ACC auf die Verkehrssicherheit allge- verändert, dass sich keine negativen Auswirkungen
mein und speziell auf die Vermeidung von Front- auf die Verkehrssicherheit ergeben [18]. Die Ge-
kollisionen auswirkt. Nutzer berichten, dass ACC brauchssicherheit auch im Langzeitbetrieb wurde
durch sein maschinelles Eingreifen vor gefährlichen erstmalig von Weinberger [19] untersucht und aus-
Situationen gewarnt oder direkt Unfälle verhindert führlich dokumentiert.
hat. In der euroFOT Studie wurde das Verhalten von
Fahrzeugen mit ACC im Hinblick auf Sicherheit und Abgrenzung zu Proactive Pedestrian Protection
Effizienz näher untersucht. Das Ergebnis zeigt, dass Formal haben „Proactive Pedestrian Protecti-
die Sicherheit sowohl bei Pkws als auch bei Lkws er- on“-Systeme (s. ▶ Kap. 23) eine große Überlap-
höht wird [13]. Auch wird im Einzelfall die Wirkung pung mit FVCX-Systemen, ist doch vor allem
als FVCX-System berichtet. Zusätzlich führt der Ge- der Frontalzusammenstoß mit Fußgängern von
brauch von ACC bei vielen Nutzern dazu, dass sie großer Bedeutung im Unfallgeschehen. Die Di-
im Mittel mit höheren Abständen fahren [13]. Hier versifizierung der Systeme ergibt sich wiederum
ist solange eine Reduzierung von Frontkollisionen aus den begrenzten Möglichkeiten der maschinel-
zu erwarten, wie der Fahrer aufmerksamer Überwa- len Wahrnehmung und der daraus resultierenden
cher des Systems bleibt. Diese Nutzenerwartungen Spezialisierung in der maschinellen Wahrnehmung
an ACC veranlassen erste Juristen, vom Fahrer die (s. ▶ Abschn. 48.2).
918 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

FVCX-Systeme konzentrieren sich in erster Li- Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass
1 nie auf den Schutz der Fahrzeuginsassen. Daher ist FVCX-Systeme im Fahrzeug meist vorhandene
besonders die Erkennung von anderen Fahrzeugen Sensoren für maschinelle Wahrnehmung der Umge-
2 auch schon in der größeren Vorausschau von vor- bung nutzen – z. B. den Radarsensor des ACC-Sys-
rangiger Bedeutung. Die „Proactive Pedestrian Pro- tems – um damit Frontkollisionen ganz zu verhin-
tection“-Systeme schützen primär den Fußgänger dern oder zumindest deren Schwere zu mindern.
3 außerhalb des Fahrzeugs, insofern ist hier eine auf Fußgänger werden nach dem heutigen Stand der
Fußgänger spezialisierte Wahrnehmung speziell im Technik in FVCX-Systemen nicht explizit reprä-
4 Nahbereich erforderlich. sentiert und erkannt, da die Systemauslegung und
Bei Fußgängerschutzsystemen werden diese die maschinelle Wahrnehmung spezialisiert für den
5 Personen explizit erkannt und in der Aktion auch Insassenschutz und damit für die Erkennung von
besonders berücksichtigt. In diesem Sinne sind anderen Fahrzeugen entwickelt werden.
Fußgängerschutzsysteme Spezialisierungen zu
6 FVCW-, FVCM- und FVCA-Systemen. Auch ohne
die explizite Erkennung von Fußgängern können 48.4 Aktuelle Systemausprägungen
7 FVCW-, FVCM- und FVCA-Systeme einen Beitrag
zum Fußgängerschutz leisten, nämlich dann, wenn Da FVCX-Systeme die Wahrscheinlichkeit für das
sie die Fußgänger als relevante Objekte (aber nicht Eintreten einer FVC verringern und damit die Si-
48 explizit als Fußgänger) erkennen und geeignet auf cherheit der Fahrzeuginsassen erhöhen sollen, adres-
diese reagieren. sieren sie Situationen, in denen der Fahrer, bzw. die
9 Insassen, potenziell gefährdet sind, in einen Unfall
Abgrenzung zu integrierten verwickelt zu werden. FVCX-Systeme greifen also
10 Sicherheitssystemen dann ein, wenn der nicht assistierte Fahrbetrieb mit
Integrierte Sicherheitssysteme koordinieren meh- erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Kollision führen
rere Sicherheitssysteme. Ein System, das FVCW-, wird.
11 FVCM- und FVCA-Funktionen koordiniert, ist Zentral für das adäquate Eingreifen von
demnach ein integriertes Sicherheitssystem. Von FVCX-Systemen ist eine zuverlässige maschinelle
12 Kompass und Huber [20] wird diese Thematik um- Situationsbewertung. Der Begriff „Situation“ meint
fassend betrachtet. im Kontext dieses Kapitels, dass über die bloße
räumliche und zeitliche Darstellung der wahrge-
13 Abgrenzung zu Ausweichassistenten nommenen Objekte hinaus – wie in der Szene – die
Ausweichassistenten (Evasion Assist Systems) än- Objekte hinsichtlich der eigenen Ziele bewertet
14 dern bewusst die Gierrate des eigenen Fahrzeugs, werden. Zur robusten Situationserfassung benötigt
um die Kollision mit einem Hindernis zu vermei- das FVCX-System daher eine zuverlässige Erfassung
15 den oder günstig zu beeinflussen. Zusätzlich sind der relevanten Objekte in der Fahrumgebung mit-
Eingriffe zur Verringerung der Geschwindigkeit tels maschineller Wahrnehmung und eine sichere
möglich. Ausweichassistenten können damit auch Erkennung der Absichten der Fahrer. Dabei sind
16 als eine spezielle Ausprägung von FVCA-Systemen die Absichten des zu assistierenden Fahrers und die
gesehen werden (s. ▶ Kap. 47). Absichten der wahrgenommenen anderen Verkehr-
17 steilnehmer relevant.
Abgrenzung zu konventionellen Diese Anforderungen überfordern im allge-
Unterstützungssystemen der Längsführung meinen Fall das aktuell technisch Mögliche. Jedes
18 FVCX-Systeme verfügen über maschinelle Wahr- heute verfügbare maschinelle Wahrnehmungs-
nehmungssysteme zur Umgebungserfassung. Damit system für die Umgebungserfassung verfügt über
19 unterscheiden sie sich von konventionellen Unter- relevante Systemgrenzen. Dies führt dazu, dass
stützungssystemen der Längsführung wie dem hy- maschinelle Situationsentscheidungen auch im
20 draulischen Bremsassistenten. Serienbetrieb falsch getroffen werden könnten,
falls ihr Einsatzbereich nicht situativ stark ein-
48.4 • Aktuelle Systemausprägungen
919 48

.. Abb. 48.2  „Pathologische Situation“ eines Notbremsassistenten: Bremseingriff während eines Überholmanövers (Quelle:
Sebastian Ohl)

geschränkt wird. Ebenso unerreichbar nach dem dass das System abweichend von heutigen Serien-
aktuellen Stand der Technik ist die sichere maschi- systemen auch auf Gegenverkehr reagieren würde
nelle Erfassung der Fahrerabsicht in allen Situati- (s. . Abb. 48.2).
onen. Auch dieser Unsicherheit wird dadurch be- Das CU-Kriterium beeinflusst auch wesentlich
gegnet, dass potenzielle Eingriffssituationen stark die Definition vieler Funktionsausprägungen. So ist
eingeschränkt werden. es durchaus verbreitete Praxis, automatische Not-
Zwei Freiheitsgrade erlauben – auch mit ma- bremsungen nur dann zuzulassen, wenn ein Unfall
schineller Situationserfassung nach dem aktuellen unvermeidlich ist:
Stand der Technik – heute schon FVCX-Systeme „Eine Notbremsung, d. h. Bremseingriff mit
zur Marktreife zu bringen: die Schwere des Eingriffs max. Verzögerung, wird dann veranlasst, wenn ein
und die überwiegend eingrenzende Definition der Unfall fahrphysikalisch nicht mehr zu verhindern
Eingriffssituationen. ist. Damit wird dem Fahrer weiterhin jede Freiheit
gelassen und nur dann ausgelöst, wenn er auch bei
noch so guten Fahrfähigkeiten die Kollision nicht
48.4.1 Das CU-Kriterium mehr verhindern könnte …“ [7]
Eine genauere Analyse zeigt, dass das CU-Kri-
Eine besondere Bedeutung bei der Eingrenzung von terium besondere Bedeutung für eine Notbremsung
FVCX-Situationen hat das sogenannte CU-Krite- bei höheren Geschwindigkeiten hat, da in diesem
rium (CU: collision unavoidable, Kollision unver- Fall Ausweichen noch länger unfallvermeidend
meidlich). Ist ein Unfall unvermeidlich, kann er möglich ist als Abbremsen. Bei geringen Geschwin-
auch vom besten vorstellbaren Fahrer nicht ver- digkeitsdifferenzen kehrt sich die Situation um und
mieden werden. Praktisch kommt diesem Fahrer Abbremsen ist länger unfallvermeidend möglich als
der Idealfahrer sehr nahe, der so gut fährt wie die Ausweichen.
besten zwei Prozent aller realen Fahrer. Erfolgt eine In . Abb. 48.3 ist eine Funktion dargestellt, die
Auslösung erst, wenn der Unfall unvermeidlich ist, eine Minimaldistanz für die Auslösung eines Manö-
dann können dadurch zu frühe Reaktionen ver- vers abhängig von der Relativgeschwindigkeit zum
mieden werden, die in seltenen Situationen – auch erkannten Objekt enthält. Die Bremsdistanz abhän-
pathologische Situationen genannt – zu schwerwie- gig von der Relativgeschwindigkeit ist als schwarze
genden Folgen führen. durchgezogene Linie dargestellt. Die Distanz, bei
Ein kurzes Gedankenexperiment veranschau- der einem 2 m breiten Objekt gerade noch ausge-
licht die Bedeutung des CU-Kriteriums: Erfolgt wichen werden kann, ist gepunktet dargestellt. Am
die Auslösung einer Notbremsung in einer Über- Schnittpunkt der beiden Kurven kann eine Kollision
holsituation, bevor der Unfall unvermeidlich ist, durch einen Bremseingriff verhindert werden, selbst
könnte eine automatische Notbremsung einen wenn ein Ausweichen nicht mehr möglich ist. Das
Unfall erst verursachen, wenn der Fahrer sonst CU-Kriterium kategorisiert ein FVCX-System als
den Überholvorgang noch rechtzeitig abgeschlos- passives Sicherheitssystem (FVCM-System) oder als
sen hätte. In diesem Beispiel wurde angenommen, aktives Sicherheitssystem (FVCA-System).
920 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

.. Abb. 48.3  Einfluss der


1 Relativgeschwindigkeit auf
das CU-Kriterium (Quelle:
Michael Reichel)
2
3
4
5
6
7
48
9 48.4.2 Grundsätze der Fahrerwarnung schnell zu interpretierende Warnhinweise zuvor
zielgerichtet auf die Gefahr hinzuweisen. Untersu-
10 Mit Rücksicht auf die eingeschränkte Zuverlässig- chungen zeigen, dass haptische Warnungen durch
keit heutiger maschineller Wahrnehmungssysteme Warnrucke oder Rucke am reversiblen Gurtstraffer
und damit verbundener Produkthaftungsrisiken besonders geeignet sind [22]. Beim Warnruck wird
11 kommt warnenden FVC-Systemen eine besondere kurzzeitig Bremsdruck mit steiler Flanke auf- und
Bedeutung zu: Die Warnung soll rechtzeitig erfol- sofort wieder abgebaut, so dass der Ruck für die
12 gen, so dass der Fahrer das Unfallgeschehen noch Insassen spürbar ist, dabei aber nicht nennenswert
abwenden kann. Gleichzeitig soll der Fahrer aber Geschwindigkeit abgebaut wird.
durch Fehlwarnungen nicht übermäßig belästigt Die zitierten Untersuchungen haben gezeigt,
13 werden. Die genauere Analyse zeigt, dass das Zeit- dass der Fahrer durch den Ruck veranlasst wird,
fenster für sinnvolle Warnungen im allgemeinen den Blick aufmerksam auf die Straße voraus zu
14 Fall sehr klein ist, da die Fahrerabsicht nicht ohne richten, aber nicht automatisch in die Fahrdyna-
Weiteres bekannt ist. mik einzugreifen. Ähnliche Reaktionen werden in
15 Ein kurzes Beispiel soll die Herausforderung Studien über den Ruck am reversiblen Gurtstraffer
aufzeigen, die sich für die maschinelle Situationsin- berichtet.
terpretation stellt: Der zu assistierende Fahrer fährt Das skizzierte Beispiel vom schnell auf das Nutz-
16 mit hoher Relativgeschwindigkeit auf dem rechten fahrzeug auffahrenden Fahrzeug zeigt ferner, wie
Fahrstreifen einer mehrstreifigen Autobahn auf ein wichtig es ist, den Fahrerzustand zu beachten: Ist
17 langsam fahrendes Nutzfahrzeug auf. Der Fahr- der Fahrer durch Nebentätigkeiten – wie Einstellung
streifen links des zu assistierenden Fahrzeugs (und der Navigation, Telefonate mit Freisprecheinrich-
des Nutzfahrzeugs) ist frei; ein Fahrstreifenwechsel tung – abgelenkt oder ist er ermüdet? Oder erfreut
18 dorthin ist möglich und erlaubt. Eine Warnung, die er sich gerade an seinem sportlichen Fahrstil und ist
so rechtzeitig erfolgt, dass der Fahrer auch noch jederzeit Herr der Lage? Erfahrungen mit der Para-
19 bremsen kann, käme für einen sportlichen Fahrer metrisierung von Warnsystemen zeigen, dass bereits
eventuell viel zu früh (s. . Abb. 48.4). relativ einfache echtzeitfähige Warnmodelle einen
20 Da das Zeitfenster zur maschinellen Entschei- wichtigen Beitrag leisten, um das Warndilemma zu
dung so klein ist, ist es wichtig, den Fahrer durch entschärfen [23].
48.4 • Aktuelle Systemausprägungen
921 48

.. Abb. 48.4  Warndilemma: Annäherung an ein langsames Nutzfahrzeug mit einer hohen Relativgeschwindigkeit [21] (Quelle:
Sebastian Ohl)

In der Literatur wird vielfach noch zwischen lision verbleibt. Psychologische Untersuchungen
Latentwarnung und Vorwarnung unterschieden haben gezeigt, dass die TTC auch beim Menschen
(z. B. ▶ Kap. 47). Eine Latentwarnung kann dann die entscheidende Größe für die Situationswahr-
angemessen sein, wenn keine Gefahr bei stationä- nehmung ist [24, 25].
rer Weiterentwicklung der Situation besteht, aber Im Folgenden sind exemplarisch Einzelfunkti-
ein Unfall schon bei geringer Störung unausweich- onen skizziert, auf die aktuelle Ausprägungen von
lich wird. Das klassische Lehrbuchbeispiel für diese FVCX-Systemen in unterschiedlichen Modellen
latente Gefahr sind Fahrzeuge, die einen sehr ge- unterschiedlicher Hersteller derzeit zurückgreifen
ringen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug (vgl. ▶ Kap. 47):
bei geringer Relativgeschwindigkeit halten. Eine
Vorwarnung erfolgt, wenn auf Basis der aktuellen 48.4.3.1 FVCC-Systeme:
Zustandsgrößen ein Unfall prädiziert werden kann. FVCC-Systeme konditionieren das Fahrzeug so vor,
dass es in der drohenden Gefahrensituation dem
Fahrer möglichst gute Überlebenschancen bietet.
48.4.3 Abgestufte Unterstützung Aktuatoren, die zur aktiven und passiven Sicherheit
im Gefahrenfall beitragen, können entsprechend vorkonditioniert

Moderne Eingriffsstrategien folgen mehreren, teil-


-
werden.
Prefill: Im Fall der FVC wird in der Brems­

-
weise widersprechenden Grundsätzen:
Der Eingriff soll rechtzeitig erfolgen, so dass
der Fahrer das Unfallgeschehen noch abwen-
anlage ein leichter Druck aufgebaut – man
spricht auch vom „Vorbefüllen“ der Bremse.
Dadurch verringert sich die Totzeit, sobald

- den kann.
Der Eingriff soll angemessen erfolgen in dem
der Fahrer das Bremspedal betätigt oder ein
FVCX-System Bremsdruck anfordert (z. B.
Sinne, dass der Fahrer zwar unterstützt, aber
genauso wenig durch übertriebene Eingriffe
belästigt wird wie die Insassen oder der umge- - Audi A8).
Adaptive Brake Assist: „Wird aufgrund
der Umfeldsensorik eine Gefahrensituation

- bende Verkehr.
Abhängig von der Eingriffsschwere sind
Falscheingriffe so gering zu halten, dass das
-
erkannt, so wird die Auslöseschwelle des HBA
herabgesetzt.“ [26]
Dämpferverstellung: eine Veränderung der
Verkehrsgeschehen nicht negativ beeinflusst
wird.

Diese Grundsätze führten bei allen aktuellen


- Dämpferparameter (z. B. Audi A8).
Gurtlosereduzierung: Eine erste Reduzierung
der Gurtlose findet bereits nach dem Angurten
statt, eine weitere Reduzierung erfolgt kurz vor
FVCX-Systemen zu einer abgestuften Eingriffsstra-
tegie. Ein wichtiger Parameter, welche Maßnahme
ausgewählt wird, ist die Time-to-Collision (TTC),
also die Zeit, die noch bis zu einer möglichen Kol-
- dem Aufprall (z. B. Audi A8).
Vorkonditionieren des Airbags:
Pre-Crash-Funktionen unterstützen den Ent-
scheidungsprozess zwischen Kollisions- und
922 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

Nicht-Kollisionssituationen bei maschinell aber dadurch das Auffahren eines viel schwereren
1 wahrgenommenen Situationen. Diese zusätz- Fahrzeugs auf das Heck des assistierten Fahrzeugs
liche Information wird zum Zeitpunkt der erst verursacht wird, profitiert der assistierte Fahrer
2 Kollision genutzt ([27]; z. B. Audi A8). nicht unbedingt vom Eingriff. Aus diesem Grund
werden FVCX-Maßnahmen häufig auch durch
48.4.3.2 FVCW-Systeme Maßnahmen ergänzt, die das Fahrzeug nach hin-

-
3 FVCW-Systeme warnen den Fahrer, so dass er die ten absichern:
drohende Gefahr selbstständig erfassen und abweh- Warnblinkanlage: Weitgehend Standard ist
4 ren kann. Die Stärke der Warnung hängt davon ab, das Einschalten einer Warnblinkanlage, wenn
wie viel Zeit dem Fahrer noch zur Gefahrenabwehr eine (automatische) Notbremsung ausgeführt
5
6
bleibt. Um den richtigen Warnzeitpunkt zu bestim-
men, analysieren viele Systeme Fahrerhandlungen –
entweder durch direktes visuelles Beobachten (z. B.
Lexus) oder durch Auswertung seiner Fahrweise. In
- wird.
Rückwärtige Sensorik: Ausgefeilte Systeme
nutzen zusätzlich rückwärtige Sensorik, mit
der analysiert wird, ob eine Notbremsung
▶ Kap. 37 werden die Fahrerwarnelemente umfang- – wie zuvor beschrieben – eventuell mehr
7
48
-
reicher betrachtet.
Optische Warnung: Symbolische und/oder
textuelle Warnbotschaften durch Lampen oder
Displays werden ausgelöst. Bei sehr geringem
schadet als nützt.

48.4.3.4 FVCM-Systeme:
FVCM-Systeme nutzen Aktuatoren im Fahrzeug,
Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen um die Unfallschwere der drohenden Kollision zu
9
10
erfolgt eine optische Latentwarnung. Zu-
sätzlich erfolgt eine optische und akustische
Vorwarnung, wenn die Reaktionszeit auf das
vorausfahrende Fahrzeug einen Schwellwert
-
mindern.
Automatische kurzzeitige Bremseingriffe:
Automatisch ausgelöste kurzzeitige Bremsein-
griffe reduzieren die Relativgeschwindigkeit

11
- unterschreitet.
Akustische Warnung: Verschiedene Warntöne
(Gong, Summer) werden zur Erhöhung der
und warnen den Fahrer mit Nachdruck. Die
Eingriffe erfolgen abgestuft je nach Kritikali-
tät der Situation, solange ein Unfall vermeid-
12
- Fahreraufmerksamkeit erzeugt.
Warnbremsruck: Eine signifikante, kurzzeitige
bar ist (z. B. Audi A8: Stufe 1: 3 sm2 , Stufe 2: 5 sm2 ,
maximal erlaubt nach Norm ISO 22839: 6 sm2
13 Änderung der aktuellen Beschleunigung durch
Einleiten eines kurzen Druckpulses in die
- [10]).
CMS-Bremsung: CMS (Collision mitiga-

14
- Bremsanlage soll den Fahrer warnen.
Warngurtruck: Warnende Rucke am Sicher-
heitsgurt durch den Gurtstraffer dienen als
tion systems) sind 2003 in Japan eingeführt
worden. Nach einer Warnung an den Fahrer
wird eine Notbremsung ausgeführt, falls der
15
- Warnung.
Gegendruck am aktiven Gaspedal: Während
Fahrer eine Kollision nicht mehr verhindern
kann. Das CMS muss dabei mindestens mit 5 sm2

16
17
der Betätigung des Gaspedals durch den Fah-
rer kann ein anwachsender Gegendruck des
Pedals eine notwendige Verzögerung signali-
sieren (z. B. bei Fahrzeugen von Infinity).
- verzögern [10] (z. B. Honda CMBS [28, 8]).
Automatische Notbremsung zur Unfallfol-
genreduzierung: Eine automatische Notbrem-
sung erfolgt, wenn eine Kollision unvermeid-
bar ist, um die Unfallfolgen zu reduzieren. Die
48.4.3.3 Gefahrenabwehr zum Verzögerung kann dabei, je nach Reibungs-

-
18 rückwärtigen Verkehr koeffizient, bis zu 6 sm2 erreichen.
Nicht in allen Verkehrssituationen wirken automati- Gurtstraffer: Kurz bevor eine unvermeidbare
19 sche Notbremsungen unfallschweremindernd oder Kollision eintritt, werden Fahrer und Beifahrer
unfallverhindernd. Speziell für den Fall, dass zwar über den Gurtstraffer in eine aufrechte Sitzposi-
20 eine Frontkollision mit einem leichten Verkehrsteil- tion gebracht und ein „submarining“ (Unter-
nehmer durch eine Notbremsung vermieden wird, tauchen unter den Gurt) wird verhindert [27].
48.5  •  Abstufung am Beispiel einer aktuellen Realisierung
923 48
.. Abb. 48.5  Sensoren für
maschinelle Umfeldwahr-
nehmung im Audi A8 [30]
(Quelle: Audi AG)

- Schließen von Fenstern und Schiebedach:


Bei Erkennung von gefährlichen Situationen
werden die Fenster und das Schiebedach des
48.5 Abstufung am Beispiel
einer aktuellen Realisierung

Fahrzeugs automatisch geschlossen. Als Teil Die Vielfalt von aktuellen FVCX-Systemen sei im
des pre-safe genannten Systems wurde diese Folgenden am Beispiel der Assistenzfunktionen
Funktionalität als Erstes von Daimler einge- illustriert, die unter den Markennamen „Braking

- führt (pre-safe: Erste Ausprägung, 2002, [29]).


Einstellen der Sitzposition: Ebenfalls als Teil
des pre-safe Systems wird die Sitzposition
durch eine Verstellung des Sitzes verändert
Guard“ und „PreSense“ von Audi vermarktet wer-
den. Diese Systeme markieren den aktuellen Stand
der Technik. Außerdem können hier zum Entwick-
lungsprozess dieser Systeme Hintergrundinforma-
[29]. tionen mit freundlicher Genehmigung der Audi
AG ergänzt werden, da einer der Autoren in der
48.4.3.5 FVCA-Systeme: Forschungs- und Konzeptphase für die Systement-
FVCA-Systeme lösen geeignete Maßnahmen aus, wicklung verantwortlich war.

-
um den Unfall zu verhindern.
Zielbremsung: Eine Zielbremsung ist eine Er-
weiterung des hydraulischen Bremsassistenten.
Die Funktion unterstützt den Fahrer in gefähr-
Für FVCX-Funktionen nutzt das Fahrzeug zwei
Radarsensoren (s. ▶ Kap. 17) für den Vorausschau-
bereich (Bosch, ACC3, 77 GHz), eine Monovideo-
kamera (Bosch, 2. Generation) (s. ▶ Kap. 19) und
lichen Situationen durch eine Verstärkung des Ultraschallsensoren (s. ▶ Kap. 16). Zur Absicherung

- Bremsdrucks zur Vermeidung von Kollisionen.


Automatische Notbremsung zur Unfallver-
hinderung: Eine automatische Notbremsung
erfolgt, um eine Kollision zu vermeiden. Die
eines Bremseingriffs werden auch die rückwärtig ge-
richteten Radarsensoren genutzt, die in der Haupt-
funktion für den Fahrstreifenwechselassistenten
entwickelt wurden (Hella, 24 GHz, 2. Generation,
Verzögerung kann dabei – je nach Reibungs- s.▶ Abschn. 17.8.5) (s. . Abb. 48.5).

- koeffizient – bis zu 1,0 g erreichen.


Weitere Systeme: ▶ Kap. 47 und 51
Die Auslösung der FVCX-Systeme erfolgt in
mehreren Stufen: In einer ersten Stufe werden die
Bremse und die Dämpfer vorkonditioniert (Prefill,
HBA, Dämpfer). Anschließend erfolgen eine akus-
tische und eine optische Warnung, bald darauf ein
Warnruck. Parallel dazu reduziert der reversible
Gurtstraffer für den Fahrer und den Beifahrer die
924 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

1
2
3
4
5
6
7
48
9
10 .. Abb. 48.6  Sequenzieller Einsatz von FVCX-Funktionen im Audi A8 [30] (Audi AG)

Gurtlose. Reagiert der Fahrer immer noch nicht Daher kommt der Systemarchitektur und ih-
11 angemessen, werden in schneller Abfolge eine erste rer sorgfältigen Planung eine Schlüsselrolle bei der
Teilbremsung (3 sm2 ), eine stärkere Teilbremsung Beherrschung der Komplexität von vernetzten Si-
12 (5 sm2 ) und nach Erreichen des CU-Kriteriums cherheitssystemen zu. Es empfiehlt sich, die Um-
eine Vollverzögerung eingeleitet. Zusätzlich wer- gebungssensoren bereits in der Planungsphase der
den das Schiebedach und die Fenster automatisch Topologie der Fahrzeugnetze zu berücksichtigen.
13 geschlossen und der Gurtstraffer erhöht nochmals Datenströme, wie sie bei der Fusion von Sensor-
die Zugkraft. Ab der stärkeren Teilbremsung (5 sm2 daten in der Umgebungswahrnehmung auftreten
14 ) wird die Bremsung durch automatisch aktiviertes können, können topologiebestimmend für Fahr-
Notfallblinken unterstützt (s. . Abb. 48.6). zeugnetzwerke werden.
15 Als Beispiel zeigt . Abb. 48.7 die elektronische
Hardware-Architektur des aktuellen Audi A8 [31].
48.6 Systemarchitektur Ein zentrales Gateway verbindet mehrere CAN-Bus-
16 systeme, einen MOST-Bus für Multimediasysteme
Die Forderung nach redundanten multimodalen und ein FlexRay-Cluster für Fahrerassistenz- und
17 Umgebungssensoren führt in heutigen Systemarchi- FVCX-Systeme. Letzteres bindet zentrale Steuerge-
tekturen zu großen Datenströmen auf den Bussyste- räte zur kamerabasierten Wahrnehmung, für ACC
men des Fahrzeugs. Die notwendige Zuverlässigkeit und zur Stoßdämpfer-Ansteuerung, ein spezielles
18 und Systemsicherheit verlangt nach sicherer Über- Steuergerät zur Inertialsensorik-basierten Zustands-
tragungstechnik. Zeitgesteuerte Übertragung und schätzung, das ESP und Quattro Sport an. Sämtli-
19 Architekturen auf den Steuergeräten sind hilfreich che Komponenten müssen für eine angemessene
bei der Fusion von Sensordaten, aber mittelfristig FVCX-Funktionalität präzise zusammenarbeiten.
20 auch bei der präzisen Ansteuerung von innovativen Bis zum heutigen Tage wurde die Systemarchi-
Aktuatorsystemen (z. B. Smart Airbags). tektur auf eine sehr traditionelle Art und Weise als
48.6 • Systemarchitektur
925 48
.. Abb. 48.7 Elektronische
Hardware-Architektur des
Audi A8 [31] (Quelle: Jens
Kötz)

Kollektion von Steuergeräten, Fahrzeugnetzwerken warenahen Programmierung gehören zu den hard-


und Gateways behandelt. Zukünftig ist es notwen- ware-abhängigen Aspekten der Systemarchitektur.
dig, dass auch andere Aspekte in die Systemarchi- Mit der Verwendung der AUTOSAR-Spezifikation
tektur einfließen, um die steigende Komplexität (vgl. ▶ Kap. 7) wird unter anderem eine Standar-
moderner Fahrzeuge bewältigen zu können. disierung der hardwarenahen Software angestrebt,
Die funktionale Systemarchitektur dekompo- so dass sogar diese Aspekte zunehmend unabhän-
niert das Gesamtsystem aus Sicht der Gesamtfunk- gig von ihrer technischen Umsetzung diskutiert
tion und ihrer funktionalen Bausteine. Sie bedient werden können. Es ist davon auszugehen, dass die
sich der Darstellungsweisen aus dem Bereich der Bedeutung dieser Aspekte bei Fahrzeugherstellern
Systemdynamik und Regelungstechnik [32]. Zu- und ihren Zulieferern stark zunehmen wird, um die
sätzlich sollte eine explizite Wissensrepräsentation Komplexität zukünftiger Fahrzeuge beherrschbar
Teil der Entwicklung sein, um an zentraler Stelle zu halten.
den Zustand des eigenen Fahrzeugs repräsentieren
zu können. Dies kann beispielsweise durch Metho-
den der objektorientierten Softwareentwicklung 48.6.1 Funktionale Systemarchitektur
erfolgen. Heutzutage ist dieses Wissen größtenteils
versteckt im Fahrzeug vorhanden, hauptsächlich in Die funktionale Systemarchitektur diskutiert die
Form von dezentralen Diagnosefunktionalitäten. Systemstruktur unabhängig von der Hardware. Be-
Insbesondere im Kontext steigender Automatisie- obachtungen zeigen, dass die Hardwarearchitektur
rung der Fahrzeuge ist Kenntnis über den aktuellen in den unterschiedlichen Stadien der Entwicklung
Fahrzeugzustand essenziell für geeignete Reaktio- (Forschung, Konzeptphase, Vorentwicklung) und
nen [32]. mit den raschen technologischen Fortschritten
Unabhängig von ihrer technischen Realisierung ständigem Wandel unterliegt. Dagegen wird eine
sollten zunächst auch die Eigenschaften des Fahr- bewährte funktionale Systemarchitektur nur erwei-
zeugs aus Kundensicht beschrieben werden [33]. tert, falls funktionale Erweiterungen erforderlich
Alle drei Aspekte werden im Idealfall unabhän- werden, oder sie wird bei fundamentalen Paradig-
gig von der Hardware diskutiert und bleiben bei menwechseln radikal geändert. Die funktionale
der Migration auf andere Hardwareplattformen Systemarchitektur erlaubt die hardwareunabhän-
stabil. Die Hardware selbst und Aspekte der hard- gige Schnittstellenanalyse und zeigt auf, wo güns-
926 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

.. Abb. 48.8 Vereinfachtes
1 Blockschaltbild des Sys-
tems Fahrer-Fahrzeug-Um-
gebung-Assistenzsystem
2 [35] (Quelle: Matthias Kopf,
angepasst)

3
4
5
tige Schnittstellen für die Kommunikation zwischen nete Testfälle spezifiziert werden müssen. Entspre-
6 Modulen zu finden sind. Aus der sorgfältigen Ana- chend zur Top-down-Struktur der Anforderungen
lyse der funktionalen Systemarchitektur sollte die ergibt sich eine Bottom-up-Struktur der Testfälle.
7 Ableitung der Hardware-Topologie erfolgen. Die Einführung des V-Modells als Paradigma in
. Abb. 48.8 zeigt ein einfaches Blockschaltbild der Entwicklung von elektronischen Fahrzeugsys-
des Systems Fahrer-Fahrzeug-Umgebung-Assis- temen hat zu einer deutlich strukturierteren Ent-
48 tenzsystem. Da Fahrer und Assistenzsystem defi- wicklungsform bei Fahrzeugherstellern und Sys-
nitionsgemäß gleiche Aufgaben parallel erledigen tempartnern geführt (z. B. [36]). Je detaillierter die
9 (vgl. [34]), ergibt sich auch in der funktionalen Anforderungen spezifiziert werden, desto deutlicher
Systemarchitektur eine Parallelstruktur. Der Fah- wird aber auch, dass sich komplexe Assistenzsys-
10 rer und das Assistenzsystem beobachten mit den teme nicht vollständig testen lassen. Kritisch wird in
Sinnesorganen und technischen Sensoren die der Literatur der Einsatz des V-Modells diskutiert,
Umgebung und das Fahrzeug; sie beeinflussen das „(…) wenn zu Beginn des Entwicklungsvorhabens
11 Fahrzeug im Sinne ihrer Ziele mit geeigneten Ak- die Informationsbasis noch nicht vollständig ist
tuatoren. Fahrer und Assistenzsystem kommuni- und folglich das System nicht ‚von oben nach un-
12 zieren über eine Mensch-Maschine-Schnittstelle ten‘ entwickelt werden kann“ [37]. „Die Realität ist
miteinander. daher eher durch inkrementelle und iterative Ver-
haltensweisen gekennzeichnet, bei der Schritte des
13 V-Modells oder das gesamte V-Modell mehrmals
48.7 Entwicklungsprozess durchlaufen werden.“ [38]
14 Diesen Bedarf nach iterativen Entwicklungs-
48.7.1 Systematische Entwicklung schleifen berücksichtigt ein einfaches Entwurfs-
von Fahrerassistenzsystemen
15 modell, das im Rahmen des Forschungsprojekts
„Automatische Notbremse“ bei Audi entwickelt
Viele Entwicklungen und viele Entwicklungswerk- wurde [39]. Das Verfahren wurde bewusst einfach
16 zeuge haben ihren Ursprung im militärischen visualisiert:
Bereich. In der Entwicklung von komplexen tech- . Abb. 48.9 zeigt einen Vollkreis, der eine kom-
17 nischen Systemen hat das sogenannte V-Modell plette Iterationsschleife umfasst. Nach weniger als
großen Einfluss. der Hälfte des Kreises ist ein „Abkürzungspfad“
Das V-Modell unterstützt verschiedene Grund- definiert, der wieder zum Ausgangspunkt des Ent-
18 sätze, die helfen, komplexe Systeme strukturiert zu wicklungsprozesses führt. Eine technischere Form
entwickeln: Zunächst unterstützt es ein Top-down- der Notation wurde 2006 vorgestellt, bislang aber
19 Design von den groben Anforderungen auf Syste- nicht weiter verfolgt [40].
mebene stufenweise hin zu Detailanforderungen Durch die beschriebene Struktur ergeben sich
20 auf Komponentenebene. Besonders wichtig ist im zwei Iterationsschleifen: Die erste, zeitlich kürzere
V-Modell, dass zu jeder Anforderung auch geeig- und deutlich Ressourcen sparende Schleife erfordert
48.7 • Entwicklungsprozess
927 48
.. Abb. 48.9 Systemati-
scher Entwurf von Fah-
rerassistenzsystemen [39]

Expertenwissen aus unterschiedlichen Bereichen. mit der verfügbaren Technik realisierbar sind:
Die Arbeiten werden entweder theoretisch durch- Können die zu erwartenden Funktionslücken und
geführt oder durch eine Reihe von aneinanderge- Systemausfälle von jedem untrainierten Nutzer in
reihten X-in-the-Loop-Werkzeugen [41]; während jeder Situation beherrscht werden? Erscheint eine
dieser Phase werden keinerlei Prototypen herge- nutzertransparente Auslegung der Funktion und ih-
stellt. Der Ansatz ist dann besonders wirkungsvoll, rer Grenzen möglich? Sind sinnvolle Mensch-Ma-
wenn die im Unternehmen verfügbaren Experten, schine-Schnittstellen denkbar? Ist die Funktion für
bei Bedarf verstärkt durch externe Wissensträger, die Kunden finanzierbar? Passt sie zum Markeni-
in dieser Iterationsschleife möglichst die zentralen mage des Herstellers? Die Vertiefung der einzelnen
Auslegungskonflikte identifizieren und eine fun- Schritte und die Ausgestaltung der vollen Iterati-
dierte Auswahl treffen zwischen den realisierbaren onsschleife werden im folgenden Abschnitt anhand
und den wünschenswerten, aber noch nicht reali- eines praktischen Beispiels diskutiert.
sierbaren Assistenzfunktionen. In methodischer Hinsicht entspricht der hier
Prototypische Systeme werden erst aufgebaut, beschriebene Ansatz einer Weiterentwicklung von
wenn die Experten als Zwischenergebnis eine Funk- Verfahren, wie sie in der integrierten Produktent-
tionsdefinition gefunden haben, bei der alle in der wicklung beschrieben werden (z. B. [43]). Im For-
theoretischen Diskussion gefundenen Auslegungs- schungs- und Entwicklungsprozess eines Systems
konflikte aufgelöst werden konnten, oder offene sollte dieses Verfahren in jeder Phase berücksich-
Fragen auftreten, die eine experimentelle Untersu- tigt werden. Bereits in der universitären Forschung
chung erfordern. sollte nicht am Bedarf des Nutzers vorbei geforscht
Ausgangspunkt des Entwicklungsprozesses ist und das öffentlich verfügbare Wissen über eine
immer der Fahrer und sein Unterstützungsbedarf. ganzheitliche Produktentwicklung genutzt werden.
Das mag trivial klingen. Dem am Automobil inte- In der Phase der industriellen Forschung und
ressierten Leser werden jedoch sofort viele Beispiele Vorentwicklung werden die beschriebenen Ver-
einfallen, im Falle derer am (Unterstützungs-)Be- fahren dann kommerziell bedeutender für den
darf des Fahrers vorbei entwickelt wurde (beispiels- jeweiligen Hersteller. Die Feinjustierung erfolgt
weise in [42]). Für die Kaufentscheidung des Fah- beim Einsatz innovativer Technologien gerade im
rers und damit den Markterfolg des Systems scheint Bereich der maschinellen Wahrnehmung erst in
der subjektiv empfundene Bedarf, nicht der objektiv der Serienentwicklung – oftmals steht erst mit kurz
zu erwartende Nutzen ausschlaggebend zu sein. vor Markteinführung verfügbaren Musterständen
Aus dem identifizierten Unterstützungsbedarf der Sensoren verlässlich fest, inwieweit die anfangs
werden Ideen für Funktionsausprägungen entwi- aufgestellte Spezifikation von den realen Sensoren
ckelt, die den Fahrer in technisch beschreibbaren wirklich erfüllt wird und welche Funktionsaus-
Szenarien unterstützen sollen. In der Experten- prägungen damit möglich sind. Gegebenenfalls
runde werden diese Funktionsausprägungen da- muss bei Nichterfüllung der zu Beginn festgelegten
rauf getestet, ob sie nach aktuellem Wissensstand Spezifikation der Funktionsumfang entsprechend
928 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

1
2
3
4
5 .. Abb. 48.10  „Geisterobjekt“ – wahrgenommen von einem Radarsystem (Quelle: Sebastian Ohl)

6 angepasst werden. Dies erfolgt über eine weitere nur dann ausgelöst, wenn er auch bei noch so guten
Iterationsschleife im Entwurfsprozess. Fahrfähigkeiten die Kollision nicht mehr verhindern
7 Selbstverständlich sollten auch freiere For- könnte (…)“ [7] (CU-Kriterium, s. ▶ Abschn. 48.4.1).
schungs- und Vorentwicklungsvorhaben durch- Diese Funktionsdefinition zeigt auch, dass be-
geführt werden, die nicht unmittelbar auf einen reits zu Beginn der Konzeptentwicklungsphase
48 bestimmten Kundennutzen zielen. Wichtig ist nur, erhebliches Vorwissen vorhanden war: Man be-
dass diese Vorhaben auch entsprechend deklariert schränkt sich von Beginn an auf ein System der
9 werden und nicht spezifischen Kundennutzen sug- Unfallschwereminderung, um Produkthaftungs-
gerieren. ansprüche von Fahrern oder ihren Angehörigen zu
10 vermeiden, die nach Auslösen einer Notbremse ar-
gumentieren könnten, diese sei zu früh erfolgt und
48.7.2 Beispiel: Systematische habe den Unfall gerade verursacht.
11 Entwicklung Die Sichtung der verfügbaren Radar-, Lidar-
einer automatischen und Videosensorik ergibt, dass die Funktion prin-
12 Notbremsfunktion zipiell einfach darstellbar ist, solange die Szenarien
einfach gestaltet werden und die Witterungsver-
48.7.2.1 Nutzerorientierte hältnisse die jeweiligen Sensorprinzipien nicht an
13 Funktionsdefinition ihre Grenzen führen. Im diskutierten Fall soll un-
Analysen der Unfallforschung zeigen, dass viele tersucht werden, ob die Funktion nicht durch einen
14 Fahrer das Verzögerungspotenzial ihrer Fahrzeuge Radarsensor eines konventionellen ACC-Systems
nicht ausschöpfen. In . Abb. 48.1 ist die statistische dargestellt werden kann. Spätestens bei einer ersten
15 Auswertung einer Unfalldatenbank gezeigt: Für jede Risikoanalyse wird jedoch deutlich, dass es viele
Verletzungsklasse MAIS wird ausgewiesen, welcher mögliche Situationen im Straßenverkehr geben
prozentuale Anteil der Fahrer eine Komfortbrem- kann, die jedes mögliche Sensorprinzip überfor-
16 sung oder gar keinen Bremsvorgang durchgeführt dern. Nichtauslösungen einer automatischen Not-
hat, obwohl eine stärkere Verzögerung zumindest bremse werden als weniger kritisch angesehen, da
17 unfallschweremindernd gewirkt hätte ([44, 4], zi- das ausgerüstete Fahrzeug nicht unsicherer als ein
tiert nach [45]). konventionelles Fahrzeug sein wird.
Aufgrund dieses identifizierten Unterstützungs- Kritisch wird der Fall betrachtet, wenn eine Not-
18 bedarfs wird eine erste Funktionsdefinition für den bremse ohne Vorliegen der zuvor beschriebenen
Start einer Konzeptentwicklungsphase festgelegt: Auslösungssituation automatisch ausgelöst wird.
19 „Eine Notbremsung, d. h. Bremseingriff mit max. Da die Funktionsprinzipien der Einzelsensoriken
Verzögerung, wird dann veranlasst, wenn ein Unfall bekannt sind, ist für die Experten offensichtlich,
20 fahrphysikalisch nicht mehr zu verhindern ist. Damit dass Falschauslösungen zwar selten oder sehr selten
wird dem Fahrer weiterhin jede Freiheit gelassen und vorkommen können, aber zumindest nach dem ak-
48.7 • Entwicklungsprozess
929 48

.. Abb. 48.11  Emotionen (aufgrund von Augen- und Gesichtsausdruck) nach einer Fehlauslösung einer automatischen Not-
bremse (n = 33) [22] (Quelle: Universität der Bundeswehr München, Institut für Arbeitswissenschaft)

tuellen Stand der Technik nicht ganz auszuschließen den folgenden Verkehr sicher zu beherrschen wäre
sind. Radarexperten ist die bei modernen Systemen (Controllability): Die Untersuchung dieser Frage-
selten auftretende Situation der „fahrenden Gasse“ stellung erfordert erstmalig den Aufbau von Proto-
bekannt, bei der sich zwei Fahrzeuge mit sehr ähn- typen und damit das erste vollständige Durchlaufen
licher Geschwindigkeit bewegen, die von der Signal- der äußeren Iterationsschleife. Die Ergebnisse sind
verarbeitung als ein in der Gasse liegendes virtuelles eindeutig: Mehr als ein Drittel der Fahrerreaktio-
Objekt interpretiert werden kann (vgl. . Abb. 48.10): nen werden als „angstvoll, panisch“ kategorisiert,
Ein solches „Geisterobjekt“ könnte eine unberech- ebenfalls mehr als ein weiteres Drittel reagiert „er-
tigte automatische Notbremsung verursachen. schrocken, [mit] Tunnelblick“. Jedoch kann nicht
Folgenschwer kann auch der Einwand der Pro- ausgeschlossen werden, ob die „überraschten“ oder
duktsicherheitsexperten sein, dass Gerichte im „neugierigen“ Reaktionen nicht damit zusammen-
Schadenfall nach Analogien suchen. Hier wird als hingen, dass die im Versuch ausgelösten Fehl-
Analogie erwartet, dass Redundanz in der Wahr- reaktionen auf dem Testgelände gestellt wurden
nehmung der entscheidenden Zustände gefordert (. Abb. 48.11, [22]).
werden könnte, da etwa bei einem ESC-System Diese Untersuchungen zeigen, dass mögliche
wesentliche Zustände ebenfalls redundant erfasst Falschauslösungen einer „automatischen Not-
werden (s. ▶ Kap. 41). bremse“ für den Fahrer, den nachfolgenden Verkehr,
Bereits in dieser frühen Phase weisen Experten den Fahrzeughersteller und den Systempartner ein
darauf hin, dass die zu erwartenden Funktionsgren- nicht zu unterschätzendes Risiko darstellen. Neben
zen auch kommunizierbar sein müssen. Ferner sei den technischen, ergonomischen und juristischen
der Hersteller dafür verantwortlich, die richtige Fraktionen sollte bereits in Konzeptphasen das
Kundenerwartung zu erzeugen. Dank der Respon- Produktmarketing einbezogen werden. Was helfen
se-Projekte floss dieses Expertenwissen in verschie- aber aufwendige, technische Innovationen, wenn sie
dene Hilfsmittel ein (z. B. [46] und [12]). nicht ins Markenleitbild passen und deshalb auch
Ebenfalls wird gefordert, dass das System an sei- nicht ausgelobt werden? Bei den Assistenzfunkti-
nen Grenzen zumindest in der Lage sein muss, seine onen kommt erschwerend hinzu, dass die bereits
Degradation selbst festzustellen und den Fahrer erwähnten, zu erwartenden Funktionslücken dazu
entsprechend zu warnen. Ein Datenrekorder oder führen, dass Produkte nicht allzu offensiv beworben
zumindest entsprechende Eintragungen in den Ent- werden können. Der Hersteller trägt die Verantwor-
wicklungsspeicher werden für den Nachweis, dass tung für die Kundenerwartung.
ein System fehlerfrei funktioniert hat, als sinnvoll Nach der ersten Iterationsschleife ergibt sich
erachtet. folgende Bilanz: Es wurde eine Funktionsausprä-
Zentral ist daher die Frage, ob diese unbegrün- gung mit großem Wirkungsfeld identifiziert. Die
dete automatische Auslösung für einen Fahrer und im Entwicklungsauftrag gewünschte Sensorik be-
930 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

schränkt den Nutzen auf den Längsverkehr, wofür Audi: „Audi Braking Guard“; VW: „Front Scan“,
1 die Realisierung mit der bekannten ACC-Sensorik Markteinführung: 2006).
kostengünstig wäre. Vergleiche mit anderen Sicher- Die Weiterentwicklung der ursprünglichen
2 heitssystemen ergeben aber, dass dort eine redun- Funktionsidee einer automatischen Notbremse wird
dante Erfassung der funktionsbestimmenden Zu- technisch aufwendigere Lösungen erfordern: Für
standsgrößen gefordert wird. Die ergonomischen die aus der ersten Entwicklungsschleife bekannte
3 Untersuchungen, die bereits im Frühstadium prak- Funktionsdefinition können nun quantitative Pro-
tisch durchgeführt werden mussten, zeigen, dass gnosen für den Nutzen angegeben werden. Wichtig
4 Falschauslösungen einer automatischen Notbremse ist auch die Analyse, welche Parameter für den Nut-
dieser Funktionsausprägung nicht akzeptabel sind. zen entscheidend sind. So zeigt . Abb. 48.12, wie
5 Da in diesem Fall kein konsistentes Zwische- die relative Energiereduktion und damit der Nutzen
nergebnis gefunden wird, muss die weitere Ent- von der Systemtotzeit abhängen. Diese Darstellung
wicklung grundlegend modifiziert werden. Eine kann zum einen hilfreich sein – um im Unterneh-
6 langfristige Entwicklungsrichtung kann durch men den Nutzen eines schnelleren Bremssystems
möglichst komplementäre Wahrnehmungsprinzi- quantitativ zu belegen – zum anderen bei der Aus-
7 pien versuchen, die Falschauslösewahrscheinlich- wahl der Sensorik helfen ([4], zitiert nach [45]).
keit sehr klein werden zu lassen. Kurzfristig soll eine Während der ersten Iterationsschleife wurde
konsistente Funktionsdefinition dadurch erreicht deutlich, dass wesentliche Zustandsgrößen redun-
48 werden, dass die Funktionsdefinition variiert wird dant wahrgenommen werden müssen. Die Auswahl
(▶ Abschn. 48.7.1). Die Falschauslösungen haben einer geeigneten Sensorkonfiguration ist eine der
9 sich im Versuch als sehr eindrucksvoll erwiesen. herausforderndsten Aufgaben bei der Entwicklung
Könnte nicht ein schwacher Bremsruck – bei dem eines innovativen Fahrerassistenzsystems. Im All-
10 der Fahrer durch einen haptischen Ruck gewarnt gemeinen sind Sensoren, welche die geforderten Ei-
wird – den Fahrer auf eine Gefahr hinweisen, ohne genschaften – ausgehend von der Funktionsdefini-
dass der rückwärtige Verkehr im Falle einer Fal- tion – erfüllen, am Markt nicht verfügbar. Geeignete
11 schauslösung durch ein plötzliches, unerwartetes Metriken zum Vergleich verschiedener Sensorkon-
Abbauen der Geschwindigkeit gefährdet wird? figurationen und Wahrnehmungsalgorithmen sind
12 Experimentelle Untersuchungen bestätigen bisher nicht vorhanden. Die Sensorauswahl muss
beide Erwartungen. Der Warnruck stellt ein wirk- sich daher auf die Leistungsfähigkeit aktueller Pro-
sames Warnmedium dar, bei dem mit einem geeig- totypen und der von ihren Entwicklern prognosti-
13 neten Bremssystem kaum Verzögerung aufgebaut zierten Leistung stützen.
wird. Daher wird in einer zweiten Iteration zunächst Neben dieser Unsicherheit kann die Verlässlich-
14 ein Warnsystem entwickelt, das den Fahrer wie be- keit der maschinellen Wahrnehmung durch eine
schrieben auf Gefahren hinweist. Da dieser Eingriff geschickte Kombination diversitärer Sensorprin-
15 auch dann unkritisch ist, wenn er ungerechtfertigt zipien verbessert werden: Um die geforderte Ro-
erfolgt, wird als Falschauslöserate eine Falschaus- bustheit der maschinellen Wahrnehmung und die
lösung auf 10.000 km festgelegt. geforderte formale Redundanz zu erfüllen, wurde
16 Diesmal ist das Zwischenergebnis vielverspre- eine Vielzahl unterschiedlicher Sensorkombinatio-
chend: Die Warnung über den haptischen Sinnes- nen berücksichtigt. Von den Entwicklern des ACC
17 kanal ist sehr direkt und wirksam; daher wird hoher (s.  ▶ Kap. 46) wird ein Langreichweiten-Radar als
Kundennutzen prognostiziert. Bei einer Nutzung Sensor bevorzugt, insbesondere aufgrund seiner
der ACC-Sensorik beschränkt sich der Nutzen Leistungsfähigkeiten auch bei schlechten Wetter-
18 wiederum auf den Längsverkehr, wofür die Funk- bedingungen. Eine Monokamera wird ein Stan-
tion kostengünstig ohne weitere Sensorhardware dardsystem für die Fahrstreifenverlassenswarnung
19 dargestellt werden kann. Die Falschauslösungen und die Verkehrszeichenerkennung. Zu diesem
erweisen sich als beherrschbar und akzeptabel. Eine Zeitpunkt ist unklar, ob weitere redundante Da-
20 so definierte Funktion kann nun kurzfristig in Se- tenquellen erforderlich sein werden. Aus diesem
rienfahrzeugen angeboten werden (Produktname: Grund wurden ebenfalls Stereokamerasysteme
48.7 • Entwicklungsprozess
931 48

E E E Coll
E E

.. Abb. 48.12  Einfluss der Totzeit auf die relative Energiereduktion einer automatischen Notbremse [4] (Quelle: Stephan
Kopischke)

(s. ▶ Kap. 20), Lasersensoren (s. ▶ Kap. 18) und tomobilhersteller, stark unterschätzt. Bauraum für
PMD-Systeme (photonic mixing device) evaluiert. Systeme, die über den Basisbetrieb eines Fahrzeugs
Schließlich wurde eine Kombination aus zwei Ra- hinausgehen, ist kaum verfügbar, selbst wenn er
darsensoren und einer Monokamera gewählt [30, bereits in frühen Entwicklungsstadien angefordert
47]. wurde. Die Integration der ACC-Sensorik im Audi
Die Zuverlässigkeit dieser Sensorkombina- A8 wurde unter diesem Aspekt geschickt gelöst: Die
tion ist bedeutend höher als bei einem einzelnen Radarsysteme wurden in dem vorgesehenen Bau-
ACC-Sensor. Zusätzlich werden die Daten der raum für die Nebelscheinwerfer platziert, da diese
rückwärtigen Radar-Sensoren verwendet, um die direkt in die Frontscheinwerfer integriert wurden.
Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Eingriffs der
automatischen Notbremse weiter zu reduzieren: 48.7.2.2 Funktionale Tests
Eine Notbremsung wird nur dann mit maximaler von Fahrerassistenzsystemen
Bremskraft eingeleitet, wenn sich dicht hinter dem Der Begriff des „Testens“ wird heute in der Praxis
eigenen Fahrzeug kein weiteres Fahrzeug befindet. der Automobilentwicklung häufig unspezifisch ge-
Der Nutzen dieses Systems ist weiterhin nur auf braucht: Er beschreibt so unterschiedliche Testka-
den Längsverkehr beschränkt; die Wahrscheinlich- tegorien wie funktionale Tests, Bediensicherheit für
keit einer Falschauslösung wird minimiert. In dieser den Nutzer, Tests zur Nutzertransparenz, Tests zur
dritten Iterationsschleife werden zusätzlich weitere Kundenakzeptanz, Tests zur elektromagnetischen
Aspekte aus der äußeren Schleife berücksichtigt: das Verträglichkeit, Klimatests, Tests zur Fahrzeuga-
Verbaukonzept der Sensorik und die funktionalen kustik, Tests zur aktiven und passiven Sicherheit des
Tests des Systems. Aspekte der Systemarchitektur Fahrzeugs, elektrische und elektronische Tests, die
wurden bereits an anderer Stelle behandelt (s. ▶ Ab- auch Hardware-in-the-Loop mit einschließen, Tests
schn. 48.6). zur Integrität der Software einschließlich Software-
Die Integration von Sensorik in das Design- in-the-Loop. Die Liste ließe sich weiter fortführen.
konzept eines Fahrzeugs wird, außerhalb der Au- Jedes Thema für sich ist im Bereich „Fahrerassistenz“
932 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

anspruchsvoll sowie komplex und jedem stünde ein Untersuchungen im Fahrsimulator wären das Be-
1 eigenes Kapitel zu. Alle technischen Entwicklungs- drohungsszenario und die Dynamik der Fahrzeug­
und Qualitätssicherungsbereiche des Unternehmens reaktion nicht realistisch genug wahrzunehmen. Bei
2 sind betroffen und leisten ihren Beitrag. realen Kollisionen mit Schaumstoffwürfel, Fahr-
In diesem Kapitel liegt der Fokus auf den funk- zeugauslegern und kleinen mobilen Hindernissen
tionalen Tests der hier vorgestellten automatischen wirkte das Bedrohungsszenario ebenfalls nicht re-
3 Notbremse. Zwei Fehlfunktionen verdienen beson- alistisch genug. Der am weitesten fortgeschrittene
dere Beachtung, da sie besonderen Einfluss darauf Aufbau wird in [48] beschrieben (s. auch ▶ Kap. 14).
4 haben, wie das System vom Fahrer und der Öffent- Hier werden FVCX-Systeme mithilfe automatischer
lichkeit wahrgenommen wird. Es wurde bereits er- Fahrzeuge geprüft; in diesem sehr kostspieligen
5 wähnt, dass die Reaktion des Nutzers auf eine unbe- Aufbau werden jedoch noch keine beabsichtigen
rechtigte Auslösung deutlich ausgefallen ist, was zu Fahrzeugkollisionen herbeigeführt.
der Forderung führte, diese zu vermeiden. Aus Sicht Die Anforderungen an funktionale Auslösetests
6 der experimentellen Durchführung sind der Test der wurden von einer Neuentwicklung erfüllt, dem so-
berechtigten Auslösung und die Untersuchung der genannten Vehicle-in-the-Loop-Verfahren („Vehicle
7 Nutzerreaktion aufwendiger, da es hier aufgrund der in the Loop“, VIL, [49], vgl. ▶ Kap. 10). Die grund-
Funktionsdefinition zu einer Kollision kommt. sätzliche Idee hinter diesem Verfahren ist, lediglich
Entscheidend für die Akzeptanz einer automa- die anderen Verkehrsteilnehmer zu simulieren –
48 tischen Notbremse der genannten Funktionsaus- der übrige Teil besteht aus realen Elementen: Der
prägung ist die Fehlerwahrscheinlichkeit für unbe- (reale) Fahrer bewegt ein reales Fahrzeug auf einer
9 rechtigte Auslösungen, die erfolgen, ohne dass sie realen Teststrecke; die reale Umgebung wird durch
ein menschlicher Beobachter für angemessen hält. See-through-Brillen erweitert, welche dem Fahrer
10 Dabei ist die Frage, welche Fehlerwahrscheinlichkeit andere Verkehrsteilnehmer simulieren. Experi-
gesellschaftlich akzeptabel ist, weiterhin offen. Die- mente haben gezeigt, dass die Testfahrer realistisch
ser Standard wurde in der ISO 26262 im Speziellen auf die virtuellen Teilnehmer reagieren, obwohl sie
11 für automotive Anwendungen detailliert und erwei- auf Nachfragen zwischen simulierten und echten
tert; dabei wurden die Ausfallraten durch grundsätz- Elementen des Tests unterscheiden konnten.
12 liche Entwurfsmechanismen ersetzt (s. ▶ Kap. 6).
48.7.2.4 Fehlerwahrscheinlichkeit
48.7.2.3 Testfall „Berechtigte für „unberechtigte
13 Auslösung“ – Vehicle Auslösung“ –
in the Loop trojanische Pferde
14 Im Testfall der berechtigten Auslösung für eine au- Ebenso anspruchsvoll wie der beschriebene Test der
tomatische Notbremse bestehen folgende Anforde- berechtigten Auslösung ist die experimentelle Absi-
15
-
rungen an den Test:
Es wird eine automatische Notbremsung aus-
cherung, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit pro Zeit
maximal 10−8 Fehler pro Stunde betragen dürfe (s.

16
-- geführt.
Es wird dabei zum Aufprall kommen.
Der Fahrer und das Fahrzeug sollen dabei
▶ Kap. 7, [50]). Nimmt man an, dass die mittlere
Kilometerleistung eines Fahrzeugs bei nur 30  Ki-
lometern in der Stunde liegt, müssten mit jedem
17
- nicht gefährdet werden.
Die Situation soll für den Fahrer realistisch
Softwarestand 3 Milliarden Testkilometer gefahren
werden, ohne dass eine Falschauslösung auftreten
18
19
- erscheinen.
Der Test soll möglichst reproduzierbar ausge-
führt werden.
dürfte. Wirtschaftlich kann das im Rahmen einer
Fahrzeugentwicklung nicht geleistet werden, so dass
alternative Absicherungsmethoden erforderlich sind.
Der Vorschlag eines trojanischen Pferdes [51]
Einfache Testaufbauten oder Untersuchungen im sieht vor, neue Funktionen im Kundenfahrzeug zu
20 Fahrsimulator erfüllen nicht alle Kriterien: Bei erproben: Der Kunde würde eine Komfortfunktion
Literatur
933 48

erwerben, die mit der gleichen Sensorkonfigura- wert: Die Motivation für FVCX-Systeme ist stets
tion umgesetzt wird. Das könnte zum Beispiel eine aus der Unfallforschung abzuleiten. Bereits in frü-
Funktionsausprägung von ACC Stop&Go sein. Die hen konzeptionellen Phasen sollten Aspekte der
realisierte Software enthielte zusätzlich alle Funkti- funktionalen Sicherheit, der Rechtsprechung, der
onen einer automatischen Notbremse, der aber der Systemergonomie und der Vermarktung berück-
Zugriff auf die Bremsaktuatorik verweigert würde. sichtigt werden. Weitere Entwicklungen sind nur
Die Notbremsfunktion bewirkt einen Eintrag in ei- dann sinnvoll, wenn für das System eine in sich
nen Entwicklungsspeicher. Wird im Kundendienst konsistente Funktionsdefinition gefunden werden
ein Entwicklungsspeichereintrag entdeckt, resul- kann. In diesen frühen Phasen sollten ebenfalls be-
tiert dieser entweder von einem Unfall, der dann reits Konzepte für den Test und die Evaluation des
bekannt sein müsste, oder er wurde durch eine Fal- Systems entwickelt werden.
schauslösung verursacht. Prinzipiell lägen damit alle
Informationen vor, um die gesuchte Fehlerwahr-
scheinlichkeit einer Auslösung zu ermitteln. Den Literatur
Autoren sind derzeit keine aktiven Diskussionen
unter den Fahrzeugherstellern bekannt, ob dieses 1 Eskandarian, A. (Hrsg.): Handbook of Intelligent Vehicles.
Springer‐Verlag, London (2012)
Verfahren in Zukunft zur Absicherung eingesetzt
2 eSafety: eSafetySupport. 2010, www.esafetysupport.org
werden kann. Auch kann nicht ausgeschlossen wer- 3 Gelau, C., Gasser, T.M., Seeck, A.: Fahrerassistenz und Ver-
den, dass Hersteller oder Systempartner diese Me- kehrssicherheit. In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.)
thode bereits nutzen, ohne es zu kommunizieren. Handbuch Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl., S. 26. Vieweg
und Teubner, Wiesbaden (2009)
4 Kopischke, S.: Persönliche Kommunikation (2000)
5 Wiesbeck, W.: Radar system engineering. Universität Karls-
48.8 Zusammenfassung
ruhe, Vorlesungsunterlagen, 13. Aufl. (2006). http://www2.
ihe.uni-karlsruhe.de/lehre/grt/RSE_LectureScript_WS0607.
Frontkollisionen bilden einen bedeutenden Anteil pdf.
der schweren Verkehrsunfälle: Aus diesem Grund 6 Kiesewetter, W., Klinkner, W., Reichelt, W., Steiner, M.: Der
neue Brake Assist von Mercedes Benz – aktive Fahrerun-
tragen geeignete warnende und eingreifende Sys-
terstützung in Notsituationen. ATZ Automobiltechnische
teme wesentlich zur Verbesserung der Sicherheit Zeitschrift 99(6), (1997)
im Straßenverkehr bei. Verschiedene Systemausprä- 7 Kopischke, S.: Entwicklung einer Notbremsfunktion mit
gungen werden unter dem Begriff der FVCX-Sys- Rapid Prototyping Methoden, Dissertation. Technische
teme zusammengefasst, die sich in ihrem Einfluss Universität, Braunschweig (2000)
8 Sugimoto, Y., Sauer, C.: Effectiveness estimation method
auf das Fahrer-Fahrzeug-Umwelt-Gesamtsystem
for advanced driver assistance system and its application
unterscheiden. Im Wesentlichen wird zwischen to collision mitigation brake system. In: Proceedings of the
vorbereitenden, warnenden, schweremindernden 19th International Technical Conference on the Enhanced
und unfallvermeidenden Systemen unterschieden. Safety of Vehicles, S. 5–148. (2005)
Die Spezifikationen bereits im Markt befindli- 9 ISO 15623 International Organization for Standardization
(ISO): Intelligent transport systems – Forward vehicle col-
cher Systeme können nur dann verstanden werden,
lision warning systems – Performance requirements and
wenn man die Leistung der maschinellen Wahrneh- test procedures. Genf (2011)
mung berücksichtigt. Erst die Fortschritte in die- 10 ISO 22839 International Organization for Standardization
sem Bereich erlauben warnende und vermeidende (ISO): ISO 22839:2013 Intelligent transport systems – For-
Systeme. Dennoch gibt es in aktuellen Ausprägun- ward vehicle collision mitigation systems – Operation,
performance, and verification requirements. Genf (2011)
gen dieser Systeme Einschränkungen gegenüber
11 Naab, K., Reichart, G.: Grundlagen der Fahrerassistenz und
der Wahrnehmungsleistung eines aufmerksamen Anforderungen aus Nutzersicht. Seminar Fahrerassistenz-
Fahrers, die beim Entwurf von FVCX-Systemen systeme und aktive Sicherheit (1998)
berücksichtigt werden müssen. 12 Donner, E., Winkle, T., Walz, R., Schwarz, J.: RESPONSE 3
Für die Entwicklung von FVCX-Systemen ist – Code of Practice für die Entwicklung, Validierung und

ein systematischer Entwurfsprozess empfehlens-


934 Kapitel 48  •  Entwicklungsprozess von Kollisionsschutzsystemen für Frontkollisionen

Markteinführung von Fahrerassistenzsystemen. In: Tech- 33 Kohoutek, P., Dietz, J., Burggraf, B.: Entwicklungsziele und
1 nischer Kongress des VDA (2007) Konzeptauslegung des neuen Audi A4. In: ATZ/MTZ extra
13 Benmimoun, M.; Pütz, A.; Aust, M.; Faber, F.; Sánchez, D.; – Der neue Audi A4. Vieweg, Wiesbaden (2007)
Metz, B.; Saint Pierre, G.; Geißler, T.; Guidotti, L.; Malta, L.: 34 Kraiss, K.-F.: Benutzergerechte Automatisierung – Grundla-
2 euroFOT SP6 D6.1 Final evaluation results, 2012 gen und Realisierungskonzepte at ‐ Automatisierungstech-
14 Vogt, W.: Persönliche Kommunikation (2010) nik 46, Bd. 10. Oldenbourg, München, S. 457–467 (1998)
15 Bainbridge, L.: Ironies of Automation. Automatica 19, 6 35 Kopf, M.: Was nützt es dem Fahrer, wenn Fahrerinformati-
3 (1983) onssysteme und ‐assistenzsysteme etwas über ihn wissen.
16 Yerkes, R.M., Dodson, J.D.: The relation of strength of stimu- In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit
lus to rapidity of habit‐formation. Journal of comparative maschineller Wahrnehmung. Springer, Berlin Heidelberg
4 neurology and psychology 18(5), 459–482 (1908) (2005)
17 Buld, S., Tietze, H., Krüger, H.-P.: Auswirkungen von Teilau- 36 Breu, A., Holzmann, M., Maurer, M., Hilgers, A.: Prozess zur

5 tomation auf das Fahren. In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.)


Fahrerassistenzsysteme mit maschineller Wahrnehmung.
Komplexitätsbeherrschung bei der Entwicklung eines Still-
standsmanagements für ein hochvernetztes Fahrerassis-
Springer, Berlin Heidelberg (2005) tenzsystem Tagung Stillstandsmanagement. (2007)

6 18 Neukum, A., Lübbeke, T., Krüger, H.-P., Mayser, C., Steinle,


J.: ACC Stop&Go: Fahrerverhalten an funktionalen System-
37 Reif, K.: Automobilelektronik – Eine Einführung für Ingeni-
eure. ATZ/MTZ‐Fachbuch, Vieweg (2006)
grenzen. In: Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Workshop Fah- 38 Schäuffele, J., Zurawka, T.: Automotive Software Enginee-
7 19
rerassistenzsysteme. Walting (2008)
Weinberger, M.: Der Einfluss von Adaptive Cruise Control
ring. 3. Ausgabe, ATZ/MTZ‐Fachbuch. Vieweg, Wiesbaden
(2006)
Systemen auf das Fahrverhalten. Dissertation. Technische 39 Maurer, M., Wörsdörfer, K.-F.: Unfallschwereminderung
48 20
Universität, München (2001)
Kompass, K., Huber, W.: Integrale Sicherheit – effektive
durch Fahrerassistenzsysteme mit maschineller Wahrneh-
mung – Potentiale und Risiken, Unterlagen zum Seminar
Wertsteigerung in der Fahrzeugsicherheit. In: Fahrzeugs- Fahrerassistenzsysteme und aktive Sicherheit (2002)
9 icherheit und Elektronik, Umwelt und Energie 11. Techni- 40 Glaser, H.: Fahrwerk und Fahrerassistenz – eine ideale
scher Kongress des VDA. (2009) Kombination? In: 7. Symposium zum Thema Automatisie-
21 Lucas, B.: Persönliche Kommunikation, (2002) rungs‐, Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für
10 22 Färber, B., Maurer, M.: Nutzer‐ und Nutzenparameter von Transportmittel. AAET (2006)
Collision Warning und Collision Mitigation Systemen. In: 41 Bock, T.: Bewertung von Fahrerassistenzsystemen mittels
Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) Workshop Fahrerassistenzsys- der Vehicle in the Loop‐Simulation. In: Winner, H., Hakuli, S.,
11 teme. Walting (2005) Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl.,
23 Mielich, W.: Persönliche Kommunikation, 2005 S. 76. Vieweg und Teubner, Wiesbaden (2009)
24 Gibson, J.J.: The perception of the visual world. Houghton 42 Bloch, A.: Tech. No. 16 (2007). www.auto-motor-und-sport.
12 Mifflin, Cambridge MA (1950) de
25 Färber, B.: Abstandswahrnehmung und Bremsverhalten 43 Ehrlenspiel, K.: Integrierte Produktentwicklung. Hanser,

13 von Kraftfahrern im fließenden Verkehr. Zeitschrift für Ver-


kehrssicherheit 32, 9–13 (1986)
München (2003)
44 Zobel, R.: Persönliche Kommunikation, 1999
26 van Zanten, A., Kost, F.: Bremsenbasierte Assistenzfunkti- 45 Maurer, M.: Entwurf und Test von Fahrerassistenzsyste-

14 onen. In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch


Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl., S. 392. Vieweg und Teub-
men. In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch
Fahrerassistenzsysteme, 1. Aufl. Vieweg und Teubner, Wies-
ner, Wiesbaden (2009) baden (2009)
15 27 Mäkinen, T., Irion, J., Miglietta, M., Tango, F., Broggi, A., Ber-
tozzi, M., Appenrodt, N., Hackbarth, T., Nilsson, J., Sjogren,
46 Knapp, A., Neumann, M., Brockmann, M., Walz, R., Winkle,
T.: RESPONSE 3 Code of Practice for the Design and Evalua-
A., Sohnke, T., Kibbel, J.: APALACI final report 50.10b. (2007) tion of ADAS, Preventive and Active Safety Applications,
16 28 Bishop, R.: Intelligent vehicles technology and trends. Ar-
tech House, Norwood, MA (2005)
eSafety for road and air transport, European Commission
Project, Brüssel (2009)
29 Schmid, V., Bernzen, W., Schmitt, J., Reutter, D.: Eine neue 47 Lucas, B., Held, R., Duba, G.-P., Maurer, M., Klar, M., Freundt,
17 Dimension der Aktiven und Passiven Sicherheit mit PRE‐ D.: Frontsensorsystem mit Doppel Long Range Radar. In:
SAFE und Bremsassistent BAS PLUS in der neuen Merce- Maurer, M., Stiller, C. (Hrsg.) 5. Workshop Fahrerassistenz-
des‐Benz S‐Klasse. In: Elektronik im Kraftfahrzeug 2005, 12. systeme Walting (2008)
18 Internationaler Kongress Electronic Systems for Vehicles. 48 Hurich, W., Luther, J., Schöner, H.P.: Koordiniertes Automa-
VDI‐Berichte, Bd. 1907. (2005) tisiertes Fahren zum Entwickeln, Prüfen und Absichern
30 Duba, G.-P.: Persönliche Kommunikation (2010) von Assistenzsystemen. In: 10. Symposium zum Thema
19 31 Kötz, J.: Persönliche Kommunikation (2010) Automatisierungs‐, Assistenzsysteme und eingebettete
32 Maurer, M.: Flexible Automatisierung von Straßenfahrzeu- Systeme für Transportmittel. AAET (2009)
gen mit Rechnersehen Fortschritt‐Berichte VDI, Reihe 12: 49 Bock, T., Maurer, M., Färber, B.: Vehicle in the Loop (VIL) –
20 Verkehrstechnik/Fahrzeugtechnik, Bd. 443. (2000) A new simulator set‐up for testing Advanced Driving As-
Literatur
935 48
sistance Systems. In: Driving Simulation Conference North
America (2007)
50 ISO 26262: International Organization for Standardization
(ISO): ISO 26262:2011 Road vehicles – Functional safety,
Genf, 2011
51 Winner, H.: Einrichtung zum Bereitstellen von Signalen in
einem Kraftfahrzeug. Patent DE 101 02 771 A1, Deutsches
Patent‐ und Markenamt, Anmeldetag: 23.01.2001, Offen-
legungstag: 25.07.2002
937 49

Querführungsassistenz
Arne Bartels, Michael Rohlfs, Sebastian Hamel, Falko Saust,
Lars Kristian Klauske

49.1 Motivation – 938
49.2 Anforderungen – 938
49.3 Klassifikation – 939
49.4 Vorschriften, Normen und Prüfungen   –  939
49.5 Systemkomponenten – 941
49.6 Beispielhafte Umsetzungen – 950
49.7 Systembewertung  – 954
49.8 Erreichte Leistungsfähigkeit   –  955
49.9 Ausblick – 955
Literatur – 956

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_49, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
938 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

49.1 Motivation Zum Informieren des Fahrers müssen diese Systeme


1 die Fahrzeugposition relativ zur Grenze des Fahr-
Lenken zum Halten des Fahrzeugs im aktuellen streifens bestimmen können, die meist durch eine
2 Fahrstreifen ist eine primäre Aufgabe der Fahr- Linie markiert ist. Mindestens diese Linie müssen
zeugführung, die der Fahrer kontinuierlich wäh- Systeme mit Fahrerinformation erkennen können
rend der ganzen Fahrt ausführen muss. Leider wird („Single Line Detection“).
3 diese Aufgabe durch den Fahrer nicht immer feh- Zum Zurücklenken oder Halten des Fahrzeugs
lerfrei bewältigt. Dies wird aus der Unfallstatistik auf dem Fahrstreifen müssen diese Systeme die
4 in . Abb. 49.1 ersichtlich: Dargestellt ist der pro- Fahrzeugposition relativ zur Fahrstreifenmitte,
zentuale Anteil von Insassen, die sich bei Straßen- die zukünftige Bewegungsrichtung des Fahrzeugs
5 verkehrsunfällen schwere Verletzungen zugezogen sowie den Fahrstreifenverlauf vor dem Fahrzeug
haben (MAIS  2+), aufgeteilt nach Unfallart und bestimmen können. Hierzu sind neben geeigneten
Straßenart. Deutlich wird, dass auf deutschen Stra- Fahrzeugsensoren auch Umfeldsensoren mit hoher
6 ßen für mehr als ein Drittel aller schwerverletzen Vorausschau und Genauigkeit erforderlich. Erfolgt
Insassen (37,9 %) ein ungewolltes Abkommen von die Fahrstreifenerkennung anhand der linken und
7 der Fahrbahn ursächlich ist. Ein Großteil dieser Un- rechten Fahrstreifenmarkierungslinie, dann müssen
fälle ereignet sich außerorts z. B. auf Autobahnen, folglich beide Linien vom System erkannt werden
Bundes- und Landstraßen (29,4 %). („Dual Line Detection“). Diese Liniendetektion
8 Aus dieser Unfallstatistik lässt sich folgern, dass erfolgt idealerweise auf möglichst allen Straßen in
der Fahrer bei der Querführung seines Fahrzeugs allen Ländern auch bei widrigen Umwelteinflüssen.
49 Unterstützung benötigt. Ein System, das den Fah- Fahrerinformationen oder Eingriffe sollten
rer vor dem ungewollten Verlassen des aktuellen hingegen möglichst vermieden werden, wenn die
10 Fahrstreifens rechtzeitig informiert oder dies durch anlassgebende Querlage und Ausrichtung des Fahr-
einen aktiven Eingriff in die Querführung zu ver- zeugs dies nicht erfordern. Ferner sind Informati-
hindern versucht, lässt erwarten, dass es positiv auf onen/Eingriffe zu vermeiden bei einem bewusst
11 das Unfallgeschehen einwirkt, vor allem außerorts durchgeführten Fahrstreifenwechsel, beispielsweise
auf Autobahnen, Bundes- und Landstraßen. bei Überholvorgängen oder in kurvigen Bereichen,
12 Auch das kontinuierliche Stabilisieren des Fahr- in denen der Fahrer die Kurven bewusst „schnei-
zeugs in der Fahrstreifenmitte kann vom Fahrer ins- det“.
besondere bei Langstreckenfahrten als anstrengend Die Fahrerinformation über das ungewollte Ver-
13 empfunden werden. Ein Assistenzsystem, das die- lassen des Fahrstreifens soll für den Fahrer deut-
sen Bereich der Querführung zum Teil übernimmt, lich wahrnehmbar sein, ihn jedoch nicht „nerven“.
14 könnte den Fahrer entlasten und den Fahrkomfort Hierzu ist es zweckmäßig, zwischen visueller, audi-
steigern. tiver und haptischer Fahrerinformation abzuwägen.
15 Zur Rückführung oder zum Halten des Fahr-
zeugs im Fahrstreifen ist ein aktiver Systemeingriff
49.2 Anforderungen in die Fahrzeugquerführung erforderlich. Dieser ist
16 so auszulegen, dass der Fahrer immer in der Lage
Systeme zur Querführungsassistenz sollen das un- ist, das System zu überstimmen.
17 gewollte Abkommen vom Fahrstreifen verhindern, Beim Halten des Fahrzeugs im Fahrstreifen

-
indem sie
den Fahrer hierüber rechtzeitig informieren
sollte die Querführungsunterstützung ein mög-
lichst natürliches Lenkverhalten abbilden, also z. B.

-
18 und keine hochfrequenten ständigen Lenkbewegungen
das abkommende Fahrzeug möglichst in den vorweisen.

-
19 Fahrstreifen zurücklenken oder Dem Fahrer ist transparent und eindeutig an-
den Fahrer beim Halten der Fahrstreifenmitte zuzeigen, ob das System eingeschaltet und aktiv ist.
20 aktiv unterstützen. Gleichermaßen hat das System durch den Fahrer
unkompliziert ein- und ausschaltbar zu sein.
49.4  •  Vorschriften, Normen und Prüfungen
939 49

Abkommen von der Fahrbahn zeugquerführung. Sollte trotz aktiver Lenkunter-


Andere stützung das Überqueren der Markierung nicht
verhindert werden können, wird eine Information
im Sinne einer LDW an den Fahrer ausgegeben.
37,9% Typ II unterstützt den Fahrer beim Halten des Fahr-
zeugs in der Fahrstreifenmitte durch einen aktiven
Eingriff in die Fahrzeugquerführung und informiert
den Fahrer gegebenenfalls (siehe LDW). Die Diffe-
renzierung führt zu einer Unterteilung der Funkti-
62,1% onscharakteristik: Während Typ I einen Beitrag zur
Fahrzeugsicherheit leistet, werden mittels Typ  II
zusätzlich Komfortaspekte angesprochen.
Eine fahrstreifenmittenzentrierte Querführung
ohne Fahrerbeteiligung, wie sie beispielsweise für
Ausserorts 29,4% automatisierte Fahrfunktionen benötigt wird, lässt
sich rein technisch auf den im Folgenden beschrie-
Innerorts 8,5% benen LKA-Systemkomponenten aufbauen. Sie ist
.. Abb. 49.1  An Unfällen beteiligte schwerverletzte Pkw-In-
jedoch nicht Bestandteil dieses Kapitels zur Quer-
sassen (MAIS2+): Prozentualer Anteil an allen Insassen nach führungsassistenz, ebenso wenig wie Seriensysteme
Unfallart und Straßenart [1] mit kombinierter Längs- und Querführungsassis-
tenz (siehe hierzu ▶ Kap. 52 „Stauassistenz und
Das System hat den Fahrer beim Halten der -automation“).
Fahrstreifenmitte zu unterstützen, ohne ihn von
dieser Aufgabe vollständig zu entbinden. Die Ver-
antwortung für die Fahrzeugquerführung verbleibt 49.4 Vorschriften, Normen und
beim Fahrer und er darf sich von dieser Aufgabe Prüfungen
nicht abwenden. Dies gilt insbesondere für Systeme
mit aktivem Eingriff in die Fahrzeugquerführung. Im Folgenden werden exemplarisch einige wichtige
Daher sollte der Fahrer an der motorischen Aus- Vorschriften und Normen mit direktem Bezug zu
führung der Lenkung des Fahrzeugs beteiligt sein. Querführungsassistenzsystemen genannt. Die auf-
geführten Schriften definieren Anforderungen, die
durch in Serie befindliche Systeme berücksichtigt
49.3 Klassifikation werden müssen. Neben Grenzwerten werden An-
forderungen zur Übersteuerbarkeit und zu HMI
Systeme zur Querführungsassistenz lassen sich aus (Human-Machine-Interface)-Konzepten spezifi-
technischer Sicht in zwei Gruppen unterteilen: (a) ziert.
Lane-Departure-Warning (LDW)-Systeme mit Fah- Die ISO 17361 „Lane departure warning sys-
rerinformation und (b) Lane-Keeping-Assistance tems. Performance requirements and test pro-
(LKA)-Systeme mit Eingriff in die Fahrzeugquer- cedures“ [2] bzw. ISO DIS  11270 „Lane keeping
führung (. Tab. 49.1). LDW-Systeme informie- assistance systems (LKAS) – Performance requi-
ren den Fahrer haptisch, visuell und/oder auditiv rements and test procedures“ [3] spezifizieren für
über das bevorstehende, ungewollte Verlassen LDW- bzw. LKA-Systeme u. a. minimale Funktions-
des Fahrstreifens. LKA-Systeme unterstützen den anforderungen, grundlegende HMI-Elemente und
Fahrer durch aktiven Eingriff in die Querführung Testmethoden, dies jeweils für Pkws, Nutzkraftwa-
beim Halten des Fahrstreifens. Dies kann auf zwei gen (Nkw) und Busse auf Autobahnen und gleich-
unterschiedliche Arten erfolgen: Typ I verhindert wertigen Straßen. ISO DIS 11270 differenziert hier-
zunächst bestmöglich das Abkommen vom Fahr- bei nicht zwischen Typ I- und Typ II-Systemen. Da
streifen durch einen aktiven Eingriff in die Fahr- sich die Norm zum Zeitpunkt der Manuskripterstel-
940 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

1 .. Tab. 49.1  Klassifikation der Systeme zur Querführungsassistenz

LDW Lane Departure Warning

2 (Fahrstreifenverlassenswarnung, umgangssprachlich oft Spurverlassenswarner genannt)

Informiert den Fahrer haptisch, optisch, akustisch über das ungewollte Verlassen des Fahrstreifens.

3
LKA Lane Keeping Assistance

4 (Spurhalteassistenz)

Unterstützt den Fahrer durch aktiven Eingriff in die Querführung bei der Spurhaltung des Fahrzeugs.

5 Typ I Verhindert zunächst bestmöglich das Abkommen vom Fahrstreifen durch einen korrigie-
renden aktiven Eingriff in die Fahrzeugquerführung und informiert den Fahrer gegebe-
nenfalls (siehe LDW), sicherheitsgerichtete Funktion.
6 Typ II Unterstützt den Fahrer beim Spurhalten des Fahrzeugs in der Fahrstreifenmitte durch
einen aktiven Eingriff in die Fahrzeugquerführung und informiert den Fahrer gegebenen-

7 falls (siehe LDW), komfortgerichtete Funktion.

lung sich in der Entwurfsphase (Draft) befand, sind keine Querbeschleunigungen größer 3 m/s² bzw. ei-
8 Änderungen in den Anforderungen noch möglich. nen Querruck von maximal 5 m/s³ nach sich ziehen.
Die UN ECE R-79 beschreibt die „Bedingungen Dem Fahrer müssen zusätzlich Mittel bereitgestellt
49 für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich werden, um einen Systemeingriff in die Querfüh-
der Lenkanlage“ und differenziert die Spurhalteas- rung jederzeit übersteuern bzw. unterdrücken zu
10 sistenzsysteme in korrigierende und automatische können. Diese Mittel zur Unterdrückung sind spe-
Lenkfunktionen [4]. Für die korrigierende Lenk- zifizierte Fahreraktivitäten wie Betätigung des Fahr-
funktion eines LKA-Systems fordert sie u. a. eine trichtungsanzeigers oder Lenkeingriff des Fahrers.
11 Übersteuerbarkeit durch den Fahrer sowie eine Die EU-Verordnung 661/2009 verpflichtet den
begrenzte Eingriffsdauer. Automatische Lenkfunk- Verbau von LDW-Systemen für Nkw der Klas-
12 tionen mit kontinuierlicher Steuerung sind in der sen M2, M3, N2 und N3, ab dem 01.11.2013 für
aktuellen Version der UN ECE R-79 nur für Ge- alle neuen Fahrzeugtypen und ab dem 01.11.2015
schwindigkeiten bis maximal 12 km/h erlaubt. Zu- für alle neuen Fahrzeuge. In separater Verord-
13 sätzlich wird eine Beschaffenheit der Lenkunterstüt- nung 351/2012 nennt die EU Typprüfvorschriften
zung gefordert, die jederzeit durch eine willentliche für LDW-Systeme. Für weitergehende Informatio-
14 Handlung des Fahrzeugführers übersteuert werden nen zur Querführungsassistenz von Nutzfahrzeu-
kann. Weiterhin behält gemäß UN ECE-R79 der gen sei auf das ▶ Kap. 53 „Bahnführungsassistenz
15 Fahrzeugführer die Hauptverantwortung für das für Nutzfahrzeuge“ verwiesen.
Führen des Fahrzeugs. In den USA werden alle Neufahrzeuge – inklu-
Das „Ministry of Land, Infrastructure, Transport sive ihrer LDW-Systeme – durch das sogenannte
16 and Tourism“ (MLIT) in Japan hat innerhalb einer „New Car Assessment Program“ (NCAP) bewertet.
sog. „Technical Guideline“ Rahmenbedingungen für Diesbezügliche Testverfahren werden im Dokument
17 LKA-Systeme geschaffen, die neben Anforderungen „Lane Departure Warning System confirmation test
an das HMI auch Grenzwerte in der Querbeschleu- and Lane Keeping Support performance documen-
nigung festlegen, die durch einen Lenkeingriff nicht tation“ von der „National Highway Traffic Safety
18 überschritten werden dürfen. Hierbei wird differen- Administration“ (NHTSA) ausführlich beschrie-
ziert zwischen Kurvenfahrt (max. 2 m/s²) und einer ben. Ab 2014 werden LDW-Systeme ebenfalls für
19 geraden Strecke (max. 0,5 m/s²) [5]. den europäischen Markt durch Euro NCAP bewer-
Vergleichbare Anforderungen zu Grenzwerten tet. Die Testprozedur der NHTSA stellt hierzu die
20 in der Querbewegung werden durch ISO DIS 11270 Grundlage dar, wurde jedoch für den europäischen
verlangt: Eine Handlung des LKA-Systems darf Markt angeglichen.
49.5 • Systemkomponenten
941 49
.. Abb. 49.2 Testanfor- 0,1 m/s ≤ ≤ 0,6 m/s
derung in Anlehnung an
1 deg/s
NHTSA

Warnzone

v = 72 km/h
Zielpylonen
Startpylonen

Exemplarisch ist in . Abb. 49.2 die Testproze- Signalverarbeitung einzubeziehen. Innerhalb des


dur der NHTSA für LDW-Systeme dargestellt, aus Funktionsmoduls (. Abb. 49.4) bestimmt ein War-
der Anforderungen an die sich in Serie befindli- nalgorithmus die Notwendigkeit einer Fahrerinfor-
chen Funktionen hervorgehen. Bei einer defi- mation. Über die Ausgabe der Fahrerinformation
nierten Testgeschwindigkeit von 72 km/h besteht entscheidet eine Zustandsmaschine in Abhängigkeit
die Kernanforderung an LDW-Systeme darin, von Fahrzeugstatus und Systemstatus. Das HMI be-
bei einer begrenzten lateralen Geschwindigkeit inhaltet die Fahrerinformation ebenso wie die Aus-
(0,1 m/s ≤ vquer ≤ 0,6 m/s) und Gierrate ( P  ≤ 1 °/s) gabe des Systemstatus; über Bedienelemente kann
beim Überfahren einer Markierung die Fahrerin- der Fahrer das System ein- und ausschalten sowie
formation in einer vorgegebenen Warnzone von konfigurieren (z. B. Zeitpunkt für Fahrerinforma-
0,75 m vor der Begrenzungsmarkierung und 0,3 m tion justieren).
hinter der Begrenzung an den Fahrer auszugege- LKA-Systeme benötigen zusätzlich einen Quer-
ben. Eine Reproduzierbarkeit der Testdurchfüh- regler. Dieser berechnet Stellgrößen (z. B. Lenk-
rung in Hinblick auf die definierten maximalen momente) und sendet diese an einen Aktor (z. B.
Quergeschwindigkeiten und Gierraten des Fahr- Lenkung) zwecks geeigneter Beeinflussung der
zeugs wird mittels Vorgabe des Kurses erzielt, der Querführung, die idealerweise vom Fahrer als hap-
das Fahrzeug durch Start- und Zielpylonen führt. tisches Feedback wahrgenommen werden kann.
Eine Fahrerinformation kann hierbei über auditive, Eine Erkennung der Freihandfahrt soll eine Fahr-
haptische oder visuelle Kanäle erfolgen. zeugführung ohne Hände am Lenkrad unterbinden.
Im Folgenden werden die einzelnen Kompo-
nenten eines Systems zur Querführungsassistenz
49.5 Systemkomponenten im Detail beschrieben.

. Abbildung 49.3 zeigt das Blockschaltbild eines


Fahrstreifenverlassenswarners (LDW) und eines 49.5.1 Umfeldsensorik
Spurhalteassistenten (LKA) mit den benötigten
Systemkomponenten. Die weißen Blöcke werden Zur Detektion der Fahrstreifenbegrenzung sind ne-
gleichermaßen von LDW- und LKA-Systemen be- ben Kameras auch Infrarot-Dioden und Laserscan-
nötigt. Die grauen Blöcke zeigen Komponenten, die ner prinzipiell geeignet. Zumeist werden mono-
ein LKA-System im Vergleich zu einem LDW-Sys- kulare Kameras verwendet, die in Fahrtrichtung
tem zusätzlich benötigt. schauend hinter der Windschutzscheibe auf Höhe
Umfeldsensoren (z.  B. Kameras) generie- des Innenspiegels für den Fahrer unsichtbar verbaut
ren Messdaten (z. B. Bilder), aus denen eine an- sind (. Abb. 49.7c).
schließende Signalverarbeitung bestimmte Um- Kamerabasierte Systeme zeichnen sich u. a.
gebungsmerkmale extrahiert (z. B. Position von durch einen großen Sichtbereich mit hoher Auflö-
Markierungslinien). Mittels Sensordatenfusion ist sung aus. Bei Sichtfeldern von ±21° und Reichweiten
es möglich, weitere Umgebungsmerkmale in die bis 80 m werden beispielsweise Winkelgenauigkei-
942 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

Human Maschine
1 Interface (HMI)

Statusanzeige
2 Fahrzeugstatus
Fahrdynamik Bedienelemente
Funktionsmodul
3 Signal-
LDW/LKA
Umfeld-Sensor verarbeitung, Warnung
Fahrer
4 Sensorfusion

5
Aktor
LDW LKA
6
.. Abb. 49.3  Systemkomponenten für Querführungsassistenz
7
ten von ±2° erreicht [6]. Markierungslinien können nauigkeit. Vor allem die mangelnde Vorausschau
so bei großer Vorausschau mit vergleichsweise ho- macht sie für LKA-Systeme ungeeignet, da Markie-
8 her Genauigkeit detektiert werden, was die aktive rungslinien erst kurz vor dem Überfahren erkannt
Querführung von Spurhaltesystemen begünstigt. werden. Mehrdeutigkeiten in Baustellen können,
49 Weiterhin bieten kamerabasierte Systeme das Po- wenn überhaupt, erst sehr spät aufgelöst werden.
tenzial für eine Mehrfachnutzung des Sensors, bei- Beides verzögert die Ausgabe einer Fahrerinforma-
10 spielsweise zur Verkehrszeichenerkennung oder für tion. Die Detektion von sog. „Botts’ Dots“, die vor
die Fernlichtassistenz. allem in den USA anzutreffen sind, ist zudem nicht
Werden Farbkameras verwendet, so bleibt das gewährleistet. Im Vergleich zu Kameras sind die in
11 System auch in Baustellenbereichen mit gelben und Bodennähe verbauten Infrarot-Dioden einer stär-
weißen Markierungslinien verfügbar, deren Mehr- keren Verschmutzung ausgesetzt, sind jedoch durch
12 deutigkeiten nun aufgelöst werden können. Bei der ihre senkrechte Blickrichtung gegenüber Gegenlicht
Verwendung von Kameras mit hohem Dynami- und Regen im Vergleich zu Kameras unempfindlich.
kumfang zeigt sich, dass das System robust gegen- Laserscanner zur Fahrstreifenerkennung sind
13 über extremen Änderungen der Lichtverhältnisse bislang nur in Forschungsprojekten zum Einsatz ge-
ist, wie sie z. B. an Tunnelein- und ausfahrten oder kommen [9, 10]. Auch ortungsbasierte Ansätze mit-
14 beim Durchfahren einer Allee im Sommer auftreten tels hochgenauer, digitaler Straßenkarten werden
können. aktuell in Serienprodukten nicht genutzt, ebenso
15 Erste Fahrzeughersteller benutzen mittlerweile wenig wie infrastrukturbasierte Lösungen mittels
3D-Technologien, die eine räumliche Wahrneh- Magnetnägeln oder Leitkabeln.
mung ermöglichen, womit neben einer genaueren Für detailliertere Informationen zur Umfeldsen-
16 Objekt- und Fußgängererkennung auch eine Klas- sorik sei an dieser Stelle auf ▶ Teil IV des Handbuchs
sifizierung von erhabenen Strukturen wie Leitplan- „Sensorik für Fahrerassistenzsysteme“ verwiesen.
17 ken oder auch Randsteinen möglich ist [7]. Neben
Stereosehen (vgl. ▶ Kap. 21 und 22) kann mittels
„Structure from Motion“ auch in einem Mono-Ka- 49.5.2 Signalverarbeitung
18 mera-Konzept eine dreidimensionale Objekterken-
nung ermöglicht werden [8]. Bildverarbeitungsalgorithmen zur Fahrstreifen-
19 Auf Infrarot-Dioden basierende Erkennung erkennung bestimmen maßgeblich die Güte ka-
der Fahrstreifenbegrenzung (. Abb. 49.8a) konnte merabasierter LDW- und LKA-Systeme. Deren
20 sich auf dem Markt nicht durchsetzen, vermutlich zentrale Aufgabe ist die Detektion von Markie-
mangels Mehrfachnutzung, Vorausschau und Ge- rungslinien. Ein Algorithmus hierzu wird beispiel-
49.5 • Systemkomponenten
943 49

haft in ▶ Kap. 21 „Maschinelles Sehen“ vorgestellt. zeugstatus, Fahrdynamik und Fahreraktivität kann
Allgemeine Anforderungen an die Fahrstreifener- bereits ein LDW-System mit Fahrerinformation

-
kennung sind:
Verfügbarkeit auf möglichst allen infrastruktu-
dargestellt werden. Stehen zusätzliche geeignete
Aktoren im Fahrzeug zur Verfügung wie z. B. ein

- rellen Gegebenheiten,
Robustheit gegenüber widrigen Umweltein-
flüssen.
elektromechanisches Lenksystem (EPS „Electric
Power Steering“), dann können darüber hinaus
LKA-Systeme vom Typ I und II realisiert werden.
Zentrales Element hierbei ist u. a. das sogenannte
Die Diversität der Straßeninfrastrukturen ist hier- Funktionsmodul.
bei eine Herausforderung. Erkannt werden müssen . Abbildung 49.4 zeigt beispielhaft den Aufbau
weiße (Europa) und gelbe (USA, Kanada) Mar- einer solchen Softwarekomponente mit zentraler
kierungslinien auf dunklem Asphalt oder hellem Zustandsmaschine und Warnalgorithmus sowie
Beton ebenso wie Markierungsnägel in Baustellen dem für die LKA-Querführung notwendigen Regler,
oder sog. „Botts’ Dots“ in den USA. Linien- und einer Haptikberechnung und Freihanderkennung.
Lückenlängen sowie Linienbreiten variieren dabei Diese Bestandteile sind nachfolgend beschrieben.
weltweit stark (siehe ISO 17361 Anhang A). Neben In aktuellen Fahrzeugarchitekturen ist die für War-
den gut gewarteten Markierungslinien auf Autobah- nalgorithmus und LKA-Querführung zuständige
nen sollen auch abgenutzte oder verwitterte Markie- Hardwarekomponente typischerweise das Steuer-
rungslinien auf Nebenstraßen erkannt werden. Li- gerät der Umfeldsensorik (z. B. das Auswertemodul
nienstrukturen aus Bitumenfugen, Teernähten oder der Kamera).
Leitplanken müssen dagegen als irrelevant erkannt
werden, ebenso wie Brems- und Schneespuren auf 49.5.3.1 Zustandsmaschine
der Straße. Die Zustandsmaschine ist ein zentraler Bestandteil
Widrige Umwelteinflüsse, die die Sichtbarkeit von LDW- und LKA-Systemen (. Abb. 49.4). Sie
von Markierungslinien beeinträchtigen können, prüft, ob alle Randbedingungen für eine Fahrerin-
sind beispielsweise Linienverdeckungen durch formation bzw. einen Eingriff in die Querführung
Schmutz, Laub oder Schnee sowie überwachsenes des Fahrzeugs erfüllt sind. Das jeweilige System
Gras oder Büsche. Markierungslinien sind auf re- muss eingeschaltet (→  Ein/Aus-Taster) und be-
gennasser Fahrbahn im Dunkeln bei Gegenlicht triebsbereit (→ Eigendiagnose) sein; u. a. dürfen die
ebenso wie am Tag bei tiefstehender Sonne auch für Sensoren weder defekt noch verschmutzt sein, der
den Fahrer nur schwer zu erkennen. Gleiches gilt Fahrtrichtungsanzeiger darf nicht gesetzt sein und
bei Starkregen, starker Gischt oder Nebel. die Fahrzeuggeschwindigkeit muss innerhalb der
Idealerweise wird der eigene Fahrstreifen auch Aktivierungsgrenzen liegen (→ Fahrzeugstatus). Um
dann erkannt, wenn die Begrenzungslinien durch ständiges Aktivieren/Deaktivieren zu vermeiden,
solch widrige Umwelteinflüsse kurzzeitig oder können die Geschwindigkeitsschwellen mit einer
dauerhaft nicht sichtbar sind. Kurzzeitige Ausset- Hysterese versehen werden. Bei einem LKA-Sys-
zer der Linienerkennung können durch geeignete tem wird zusätzlich überprüft, ob der Fahrer aktiv
Algorithmen wie z. B. Kalman- oder Partikel-Filter mitlenkt bzw. die Hände am Lenkrad hält oder sich
überbrückt werden. Werden Markierungslinien von dem System fahren lässt (→ Freihandfahrt-Er-
über längere Zeit nicht erkannt, könnten auch an- kennung). In der Zustandsmaschine kann eine
dere Umgebungsmerkmale zur Fahrstreifenerken- Kopplung mit anderen Fahrerassistenzsystemen
nung herangezogen werden (siehe ▶ Abschn. 49.9). realisiert werden. Bei Kombination mit Systemen
zur Fahrstreifenwechselassistenz (siehe ▶ Kap. 50)
kann z. B. das LDW- bzw. LKA-System bei belegtem
49.5.3 Funktionsmodul LDW/LKA Nachbarfahrstreifen eine Fahrerinformation ausge-
ben, obwohl der Fahrer seine Fahrstreifenwechse-
Anhand dieser Umfelddaten sowie der in aktuellen lintention durch Betätigung des Fahrtrichtungsan-
Fahrzeugen verfügbaren Informationen zu Fahr- zeigers angekündigt hat. LDW-und LKA-Systeme
944 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

1 Freihand-
erkennung

2 Übernahme-
Fahreraktivität; Fahrzeugstatus;

Lenkunter-
Fahrdynamik; Umfelddaten

aufforderung stützung

3 Haptik
Warn-
4 algorithmus Stellgröße

Zustands-
5 maschine
HMI

Trajektorien- Soll
6 planung Regelung
Stellgröße
Ist Steuerung

7 LKA-Regler LDW LKA

8 .. Abb. 49.4  Funktionsmodul LDW/LKA

können somit auch dazu beitragen, beim Fahrstrei- lassen des Fahrstreifens prädizieren, wodurch
49 fenwechsel Unfälle mit Fahrzeugen auf dem Nach- unnötige Fahrerinformationen, wie zuvor bei der
barfahrstreifen zu vermeiden. DLC beschrieben, unterbunden werden. Die TLC
10 49.5.3.2 Warnalgorithmus
bezeichnet die Zeitspanne, nach der ein Fahrzeug
die Fahrstreifenbegrenzung basierend auf der Lage
Die sog. „Distance-to-Line-Crossing“ (DLC) dLC ist und Bewegung des Fahrzeugs voraussichtlich über-
11 das einfachste Kriterium für eine Fahrerinformation schreiten wird. Sie berechnet sich im einfachstem
über das bevorstehende Verlassen des Fahrstreifens: Fall zu .tLC D dLC =v  sin. // , wobei v  sin. /
12 Sie bezeichnet den lateralen Abstand zwischen ei- die Annäherungsgeschwindigkeit zum Fahrstrei-
nem bestimmten Teil des Fahrzeugs und der Fahr- fenrand ist mit der Fahrzeuglängsgeschwindigkeit
streifenbegrenzung. Durch Definition einer mini- v und der fahrstreifenbezogenen Orientierung des
13 malen und maximalen DLC wird eine Warnzone Fahrzeugs  (. Abb. 49.5 rechts). Bei einem all-
aufgespannt, die kurz vor der Fahrstreifenbegren- gemeingültigen Ansatz zur Berechnung der TLC
14 zung beginnt und kurz hinter ihr endet (. Abb. 49.5 muss die Krümmung von Fahrzeugtrajektorie und
links). Dringt das Fahrzeug in diese Warnzone ein, Fahrbahn mit berücksichtigt werden. Berechnun-
15 so erfolgt eine Fahrerinformation – verlässt das gen hierzu finden sich in [11, 12]. Im einfachsten
Fahrzeug die Warnzone, so endet die Fahrerinfor- Fall erfolgt eine Fahrerinformation, sobald die TLC
mation. Die DLC kann auch mit einfachen Senso- einen Schwellwert unterschreitet. Zur Bestimmung
16 ren ohne Vorausschau wie z. B. Infrarot-Dioden be- der TLC eignen sich Sensoren mit großer Voraus-
stimmt werden. Der Ansatz, über die DLC auf eine schau und hoher Genauigkeit wie z. B. Kameras.
17 kritische Situation zu schließen, kann sich jedoch Wünschenswert ist die Möglichkeit zur Einstel-
auch nachteilig auswirken: Fährt beispielsweise ein lung dieses Schwellwertes durch den Fahrer, denn
Fahrzeug sehr dicht parallel zur Fahrbahnmarkie- abhängig von Fahrstil und Fahrstrecke kann es
18 rung, so erfolgt eine Fahrerinformation, obwohl das sinnvoll sein, dass die Fahrerinformation kurz vor,
Fahrzeug nicht im Begriff ist, den Fahrstreifen zu während oder sogar kurz nach dem Überschreiten
19 verlassen. der Fahrstreifenbegrenzung erfolgt.
Die sog. „Time-to-Line-Crossing“ (TLC) tLC Schneidet der Fahrer auf ungerader Strecke ab-
20 ist als Kriterium für eine Fahrstreifenverlassens- sichtlich die Kurven, fährt er auf schmaler Straße
warnung besser geeignet, denn sie kann das Ver- eng am Fahrbahnrand oder setzt er bei Überhol-
49.5 • Systemkomponenten
945 49

.. Abb. 49.5  links: DLC und Warnzonen rechts: Laterale Fahrzeuggeschwindigkeit zur Bestimmung der TLC

manövern nicht den Fahrtrichtungsanzeiger, so nung berechnet das Sollverhalten des Fahrzeugs als
kann eine Fahrerinformation als unangebracht Querbeschleunigung auf Basis der Umfelddaten, ein
oder störend bewertet werden. Vermieden werden nachfolgender Regler bestimmt unter Zuhilfenahme
diese ungewünschten Fahrerinformationen mithilfe von Fahrzeugdaten (Ist-Querbeschleunigung) und
einer Fahrerintentionserkennung (siehe ▶ Kap. 39): einem Verhaltensmodell des Fahrzeugs die notwen-
Durch die Auswertung zusätzlicher Umgebungs- dige Stellgröße für die Aktorik.
und Kontextinformationen wie z. B. Fahrzeugbe- Die Trajektorienplanung erfolgt primär auf Ba-
schleunigung, Gaspedalstellung, Lenkradwinkel, sis von Fahrstreifendaten, die beispielsweise als ge-
Gierwinkel, Fahrstreifenkrümmung sowie Fahr- näherte Klothoiden von der Fahrstreifenerkennung
streifenmarkierungstypen links und rechts können bereitgestellt werden. Hierbei ist ein Punkt y .x/
beabsichtigtes Kurvenschneiden und Überholma- auf einer Markierung in der Entfernung x D v  
növer in vielen Fällen erkannt und unnötige Fah- (Fahrzeugkoordinaten) gegeben durch:
rerinformationen unterdrückt bzw. auf schmalen
Straßen der Zeitpunkt für die Fahrerinformation 1 2
y .x/ D y0 C x  sin  C x 
nach hinten verschoben werden. 2
Bei Verfügbarkeit einer Fahrerzustandser- 1 3
C x M
kennung nach ▶ Kap. 38 erscheint es sinnvoll, die 6
Fahrerinformationszeitpunkte anhand der Fahrer-
aktivität zu adaptieren, um beispielsweise bei ab- mit der Querabweichung y0, dem Gierwinkel  , der
gelenkten, müden oder unaufmerksamen Fahrern aktuellen Krümmung  und der Krümmungsände-
früher zu warnen bzw. die Akzeptanz bei aktiven rung M , wobei der Gierwinkelanteil angesichts von
Fahrern durch spätere Informationszeitpunkte zu Messungenauigkeiten für die bei LKA-Systemen
verbessern. relevanten Gierwinkel linear approximiert werden
kann durch sin  D  .
49.5.3.3 Querregelung Die interne Darstellung der Fahrstreifenmar-
Für die Querregelung bei LKA-Systemen des Typs I kierungen als genäherte Klothoiden erscheint unter
und II kommen unterschiedliche Ansätze zum Ein- anderem deshalb naheliegend, da auch Fahrbahn-
satz (siehe bspw. [13, 14, 15]). Bei dem im Folgen- verläufe in vielen Ländern näherungsweise als Klo-
den beispielhaft dargestellten Querregler werden thoiden ausgelegt werden.
das Soll- und Ist-Verhalten des Fahrzeugs in Quer- Zusätzlich können über Umfeldsensoren er-
richtung als Beschleunigungen ausgedrückt. Diese kannte Objekte und Randbebauungen Berücksich-
Betrachtung berücksichtigt die Fahrzeuggeschwin- tigung finden, beispielsweise als Ersatz für fehlende
digkeit bereits in der Trajektorienplanung, wodurch Fahrstreifenmarkierungen oder zur Einschränkung
eine geschwindigkeitsunabhängige Applikation des des befahrbaren Bereichs. Dieser sei hier analog zu
eigentlichen Reglers erleichtert wird. Zudem ist den Fahrstreifenmarkierungen durch eine linke und
die Querbeschleunigung für die wahrgenommene rechte Begrenzung in Klothoidenform dargestellt.
Fahrzeugreaktion von zentraler Bedeutung. Zur Umsetzung eines LKA-Systems errechnet
Der beispielhafte Querregler gliedert sich in die Trajektorienplanung in einem definierten zeit-
zwei Module: Eine vorgelagerte Trajektorienpla- lichen Abstand  unter Berücksichtigung der Fahr-
946 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

Lenkunterstützung .. Abb. 49.6 Lenkunter-
1 stützung in Abhängigkeit
von der Querablage für
LKA; Typ I LKA-Typ I und -Typ II
2
LKA; Typ II
3
Fahrstreifen

Fahrstreifen

Fahrstreifen
4
Grenze

Grenze
Rechte
Linke

Mitte

5
zeugbreite eine Sollquerbeschleunigung vor dem Regleranforderung als Widerstand am Lenkrad
Fahrzeug. Sollte der Informationszeitpunkt durch wahr. Das Modul Haptik reduziert die Anforderung
6 den Fahrer einstellbar sein, ist eine Berechnung des an den Aktor je nach gewünschter Lenkunterstüt-
Sollwerts optional durch den Fahrer konfigurierbar zung des LKA-Systems anteilig. Hierdurch nehmen
7 durch Zuhilfenahme eines Sicherheitsabstands. Warncharakter und Regelgüte zwar ab, gleichzei-
tig wirkt das System jedoch komfortabler, weniger
49.5.3.4 Haptik „störend“. Beim Mitlenken sind Fahreraktivität
8 Obwohl die tatsächliche Umsetzung der vom und Regleranforderung gleichgerichtet, der Fahrer
LKA-Querregler berechneten Stellgröße dem Ak- nimmt die Regleranforderung daher als ungewohnt
49 tor obliegt, sind Haptik und Beherrschbarkeit eines starke Fahrzeugreaktion wahr. Diese wird von vie-
in die Fahrzeug-Querführung eingreifenden LKA len Fahrern als unangenehm bewertet.
10 wesentlicher Bestandteil dieses Systems. Sie wer- Da insbesondere beim Gegenlenken Warncha-
den daher im hier dargestellten Beispiel als Teil des rakter und Regelgüte des LKA mit dem Komfort ei-
LKA-Funktionsmoduls betrachtet, obwohl ihre tat- nes aktiven Fahrers konkurrieren, berücksichtigt das
11 sächliche Umsetzung in den Architekturen aktueller hier beispielhaft dargestellte Modul Haptik zusätz-
LKA-Systeme durchaus auch in anderen Kompo- lich die Position des Fahrzeugs innerhalb des Fahr-
12 nenten erfolgen kann (z. B. als Modul im Steuergerät streifens: Befindet sich das Fahrzeug am Rand des
von EPS oder ESC bei LKA-Systemen mit kurskor- Fahrstreifens, stellt die Haptik beim Gegenlenken
rigierendem Bremseingriff). eine starke Lenkunterstützung ein. Fährt der Fahrer
13 Durch die unmittelbare und regelmäßige (LKA- jedoch weiter in der Mitte, reduziert das Modul die
Typ I) oder sogar dauerhafte (LKA-Typ II) Inter- Lenkunterstützung und nimmt die Regleranforde-
14 aktion mit dem Fahrer über die Querführungs- rung somit bei aktivem Fahrer stärker zurück.
aktorik hat die Haptik unmittelbaren Einfluss auf . Abbildung 49.6 stellt diesen Zusammenhang
15 die Wahrnehmung des Systems durch den Fahrer. grafisch durch zwei mögliche Kennlinien beispiel-
Da Fahreranforderung und LKA-Querführung haft dar: Bei LKA-Typ I steht der Warncharakter
insbesondere bei LKA-Typ  II-Systemen in häufi- am Fahrstreifenrand im Vordergrund, die Lenkun-
16 ger Konkurrenz zueinander stehen (beispielsweise terstützung bleibt also stark – im Mittenbereich
aktive Mittenführung gegen einen Fahrerwunsch findet bei LKA-Typ  I keine Unterstützung statt.
17 zum Einordnen am Fahrbahnrand) bestimmt das Beim LKA-Typ II gilt es, im Randbereich ebenfalls
Haptik-Modul anhand von Fahrzeugstatus, Fahrer- eine deutliche Warncharakteristik umzusetzen, die
aktivität und Umfelddaten, wann und mit welcher Lenkunterstützung ist hier hoch. Im Mittenbereich
18 Spürbarkeit die Anforderungen des Reglers von der können jedoch durch Systemapplikation oder Fah-
Aktorik umzusetzen sind. rereinstellung Bereiche mit niedrigerer Lenkunter-
19 Für die unmittelbare Fahreraktivität existieren stützung eingestellt werden, um den Komfort des
für die Haptik zwei maßgebliche Situationen: Beim Systems zu verbessern.
20 Gegenlenken ist die Fahreraktivität der Regleran- Die Beherrschbarkeit von aktiv eingreifenden
forderung entgegengesetzt, der Fahrer nimmt die Assistenzsystemen in die Querführung kann aus
49.5 • Systemkomponenten
947 49

zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Zum einen Umständen zu einer unberechtigten Freihandfahr-
ist innerhalb der funktionalen Sicherheit nach terkennung kommen. Darüber hinaus gibt es zur
ISO  26262 eine Risikoanalyse gefordert, die eine Fahreraktivitätserkennung noch weitere Methoden,
Beurteilung der Kontrollierbarkeit in verschiede- wie beispielsweise Fahrerbeobachtungskameras
nen Fahrsituationen zugrunde legt, um zusammen oder auch kapazitive bzw. druckempfindliche Sen-
mit einer Exposition und einer Schwere der Aus- soren im Lenkrad.
wirkung auf ein Risiko zu schließen, vgl. ▶ Kap. 6. Falls das System keine ausreichende Lenkakti-
Eine Evaluierung der Kontrollierbarkeit des durch vität feststellen kann, deutet dies darauf hin, dass
das System aufgebrachten Lenkmoments wird bei- der Fahrer die Hände nicht mehr am Lenkrad hat
spielsweise in [16] erläutert. Hierbei wird vor allem – woraufhin der Fahrer in geeigneter Art und Weise
darauf hingewiesen, dass neben einer maximalen (auditiv, visuell, haptisch) aufgefordert werden soll,
Amplitude des Lenkmoments vor allem der Gra- die Lenkung wieder zu übernehmen. Sollte der Fah-
dient des Lenkmoments für die Kontrollierbarkeit rer dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird
durch den Fahrer relevant ist. das System nach einer angemessenen Wartezeit ab-
Zum anderen liegen Anforderungen aus Richt- geschaltet.
linien und Vorschriften vor (siehe ▶ Abschn. 49.4).
Gerade LKA-Systeme unterliegen Vorschriften und
Normen, die Auswirkungen auf die Implemen- 49.5.4 Fahrerinformation
tierung der Kontrollierbarkeit und die zulässigen
Grenzwerte haben. Die Einschränkungen in der Gemäß ISO  17361 „(…) ist eine einfach wahr-
Kontrollierbarkeit von LKA-Systemen durch den nehmbare haptische und/oder akustische Warnung
Fahrer müssen folglich innerhalb des Funktionsmo- vorzusehen. (…) Falls die haptische und/oder akus-
duls LDW/LKA sichergestellt werden, und zwar im tische Warnung nicht dazu konzipiert ist, eine Rich-
Zusammenspiel von Haptik-Modul und Zustands- tung anzuzeigen, dann darf ein visueller Hinweis
maschine. genutzt werden, um die Warnung zu ergänzen.“ [2]
Generelle Anforderungen an eine Fahrerinfor-

-
49.5.3.5 Freihandfahrterkennung mation für LDW- und LKA-Systeme sind u. a.:
Zur Erfüllung gesetzlicher Vorschriften und Nor- deutlich, so dass sie z. B. auch für einen unauf-
men (siehe ▶ Abschn. 49.4) müssen Aufgaben der
Systemüberwachung weiterhin vom Fahrer wahrge-
- merksamen Fahrer gut wahrnehmbar ist,
intuitiv, so dass die Art der Fahrerinformation
nommen werden, da aktuelle LKA-Systeme keiner
automatisierten Fahrt dienen sollen, womit eine
- die intendierte Fahrerreaktion begünstigt,
exklusiv, so dass der Fahrer ohne langes Über-
Erkennung der Freihandfahrt vorzusehen ist.
Bei inzwischen in vielen Fahrzeugen serienmä-
- legen schnell reagieren kann,
seitenselektiv, so dass der Fahrer darauf
ßig verbauten elektromechanischen Servolenkun-
gen (siehe ▶ Kap. 32 „Lenkstellsysteme“) werden
die erforderlichen Daten zur Auswertung der Fah- - schließen kann, wohin er lenken soll,
nur durch Fahrer wahrnehmbar, so dass an-
dere Fahrzeuginsassen die Fahrerinformation
reraktivität bereits von den integrierten Sensoren
der Lenkung bereit gestellt. Durch eine Analyse
der Lenkaktivität können die Lenkradbewegungen
des Fahrers von Lenkeinflüssen, hervorgerufen
- nicht bemerken,
kostengünstig, indem möglichst keine zusätz-
lichen Bauteile benötigt werden.

durch z. B. Fahrbahnunebenheiten, unterschieden Eine haptische Fahrerinformation kann z.  B.


werden. Dabei kann man sich beispielsweise die durch Lenkradvibration, Sitzvibration oder einen
unterschiedliche Frequenz der verschiedenen For- Gurtstraffer erfolgen. Die Lenkradvibration kann
men der Anregungen zu Nutze machen. Da die Un- technisch durch im Lenkrad integrierte Vibrations-
terscheidung bei sehr geringer Lenkaktivität, bei- motoren oder alternativ als Funktionalität der elek-
spielsweise bei langer Geradeausfahrt, zunehmend tromechanischen Lenkunterstützung (EPS) erzeugt
schwieriger wird, kann es in diesen Fällen unter werden. Auch Eingriffe in die Fahrzeugquerführung
948 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

können als haptische Fahrerinformation genutzt Allen haptischen Fahrerinformationen steht der
1 werden, z. B. mithilfe des EPS-Lenkaktors, der dann genutzte Sinneskanal exklusiv zur Verfügung. Der
eine Lenkmomenten-Charakteristik ähnlich wie in Fahrer kann diese daher eindeutig und ohne langes
2 . Abb. 49.6 aufweisen sollte – oder alternativ durch Überlegen einem LDW- bzw. LKA-System zuord-
einen deutlichen, kurskorrigierenden Bremseingriff nen, was eine schnelle Fahrerreaktion begünstigt.
des ESC-Systems. Beim Gurtstraffer gilt dies nur dann, wenn dieser
3 Eine akustische Fahrerinformation kann durch nicht durch andere Applikationen genutzt wird
sogenannte „Auditory Icons“ erfolgen, wie z. B. ei- (dann „+“). Auch spezifische Informationstöne und
4 nen spezifischen Informationston oder den Klang der Klang des Nagelbandratterns erlaubt eine ein-
des Nagelbandratterns. Diese können beispiels- deutige Zuordnung ebenso wie Bilder und Symbole
5 weise über die Stereo-Lautsprecher des Radio-Na- in Kombi und HUD – vorausgesetzt diese sind gut
vigationssystems ausgegeben werden. Im Falle ei- wahrnehmbar und einfach verständlich. Nicht ein-
ner Fahrerinformation müssen dann Musik- und deutig zuortbar sind dagegen Gong oder Summer
6 Sprachausgabe unterdrückt werden. Alternativ kann des Kombiinstruments, da diese auch von vielen
der Fahrer über Summer oder Gong des Kombiin- anderen Applikationen genutzt werden.
7 struments informiert werden. Offensichtlich kann Eine seitenselektive Fahrerinformation kann
mit einer solchen Ausgabe nicht die zuvor genannte nur durch Querführungseingriff, Sitzvibration so-
Anforderung erfüllt werden, dass nur der Fahrer die wie über ein geeignetes Symbol oder Bild in Kombi
8 Information wahrnimmt. oder HUD erfolgen. Auch Stereo-Lautsprecher sind
Eine visuelle Fahrerinformation sollte im primä- hierzu geeignet (+), Mono-Lautsprecher hingegen
49 ren Sichtfeld des Fahrers liegen, z. B. als Bild oder nicht (−).
Symbol im Kombiinstrument oder Head-up-Dis- Nur für den Fahrer wahrnehmbar sind Gurt­
10 play (HUD) (siehe . Abb. 49.9b, . Abb. 49.10b). ruck, Lenkrad- und Sitzvibration sowie eine visuelle
Eine Bewertung dieser unterschiedlichen Mög- Fahrerinformation. Der Querführungseingriff mit-
lichkeiten der Fahrerinformation für LDW- und tels EPS-Lenkung kann moderat und für Passagiere
11 LKA-Systeme gemäß den oben genannten Kriterien fast unmerklich gestaltet werden, denn die Hand-
zeigt . Tab. 49.2. lungsempfehlung für den Fahrer geht aus dem Hilfs-
12 Deutlich wird: Eine eindeutige Wahrnehmung lenkmoment und nicht aus der Fahrzeugbewegung
der Fahrerinformation ist bei nahezu allen Varian- hervor. Ein Querführungseingriff mittels ESC muss
ten möglich. Lediglich die Sitzvibration kann bei di- dagegen stark ausgeprägt sein, damit der Fahrer die
13 cker Kleidung im Winter evtl. nicht erkannt werden. Fahrzeugbewegung deutlich wahrnehmen und hie-
Bei einer ausschließlich visuellen Fahrerinformation raus eine Handlungsempfehlung ableiten kann. Der
14 kann prinzipiell nicht ausgeschlossen werden, dass ESC-Eingriff wird daher ebenso wie akustische Fah-
ein abgelenkter Fahrer die Symbole in Kombi und rerinformationen von allen Fahrzeuginsassen deut-
15 HUD übersieht, weshalb sie gemäß ISO 17361 eine lich wahrgenommen, was sich auf die Systemakzep-
haptische oder auditive Fahrerinformation immer tanz auswirkt. Häufig unnötige Fehlinformationen
nur ergänzen, jedoch nicht ersetzen darf. sind für diese Arten der Fahrerinformation daher
16 Eine intuitive, die intendierte Fahrerreaktion be- besonders störend und tragen zur Minderung der
günstigende Fahrerinformation kann durch Quer- Akzeptanz bei.
17 führungseingriff und Lenkradvibration ebenso er- Kostengünstig ist die Fahrerinformation in der
folgen wie durch den Klang des Nagelbandratterns. Regel dann, wenn die benötigten Bauteile bereits
Auch eine symbolhafte oder bildliche Darstellung serienmäßig im Fahrzeug verbaut sind.
18 in HUD oder Kombi ist hierfür im Prinzip geeignet. . Tabelle 49.2 mag als Entscheidungshilfe zur
Durch Gurtstraffer, Vibrationsinformation im Sitz, Auswahl einer geeigneten Fahrerinformation für
19 Informationston sowie Kombi-Summer oder -Gong Querführungsassistenzsysteme dienen. Die Ge-
ist dies nicht ohne weiteres möglich. Diese Arten wichtung der Faktoren ist jedoch stark abhängig
20 der Fahrerinformation lassen nicht unbedingt auf von Fahrzeugtyp, Fahrzeugausstattung und Fahr-
die Erfordernis eines Lenkeingriffs schließen. zeughersteller: Bei einem Pkw mit in Serie verbau-
49.5 • Systemkomponenten
949 49

.. Tab. 49.2  Bewertung der Fahrerinformation für LDW- und LKA-Systeme

Fahrerinformation deutlich intuitiv exklusiv seiten­ nur


selektiv Fahrer
Art Medium Aktor

Haptisch Querführungseingriff EPS-Lenkung + + + + 0

ESC + + + + −

Lenkrad-Vibration EPS-Lenkung + + + − +

Vibrator + + + − +

Gurt-Ruck Gurtstraffer + 0 +1 −2 − +

Sitz-Vibration Vibrator 0 0 + + +

Auditiv „Nagelband-Rattern“ Lautsprecher + + + +3 −4 −

spez. Info-Ton + 0 + +3 −4 −

Gong, Summer Kombiinstrument + 0 − − −

Visuell Bild, Symbol Kombiinstrument − + + + +

Head-up-Display − + + + +

Gurtstraffer exklusiv für LDW: 1 ja, 2 nein; Stereolautsprecher vorhanden: 3 ja, 4 nein

ter EPS-Lenkung erscheint eine Fahrerinformation 49.5.5 Aktoren


mittels Lenkeingriff besonders vorteilhaft. Ist keine
EPS-Lenkung verbaut, dann bietet sich eine Fah- Als Querführungsaktoren für LKA-Systeme wer-
rerinformation mittels Vibration im Lenkrad oder den in Pkws meist elektromechanische Lenksys-
evtl. auch im Sitz an. Alternativ hierzu ist auch ein teme (EPS „Electric Power Steering“) genutzt, so
ESC-Eingriff sinnvoll, wenn die Rückführung in wie sie in ▶ Kap. 32 „Lenkstellsysteme“ ausführlich
den Fahrstreifen möglichst effektvoll erzielt wer- beschrieben werden. Deren Lenkmomentbeeinflus-
den soll. Für einen in der Regel beifahrerlosen Lkw sung kann vom Fahrer am Lenkrad als haptische
oder Transporter ohne geeigneten Lenkaktor kann Rückmeldung unmittelbar erlebt werden, wodurch
hingegen ein Klang des Nagelbandratterns oder ein informierende Lenkradvibrationen ebenso realisiert
spezifischer Informationston priorisiert werden. werden können wie zusätzliche Lenkmomente als
Unter Kostengesichtspunkten wird diese Lösung Handlungsempfehlung für den Fahrer. Bei hydrau-
dann auch für Pkws attraktiv. Für die Akzeptanz von lischen Servolenkungen ist dies ohne zusätzliche
Fahrerinformationen durch LKA-Systeme sind ne- Aktorik ebenso wenig möglich wie bei einer Über-
ben subjektiven Bewertungskriterien der Fahrzeug- lagerungslenkung.
führer auch Einflüsse aus Kultur und Gesellschaft Auch das gezielte Abbremsen einzelner Räder
relevant: Während asiatische Fahrzeughersteller kann die Querführung des Fahrzeugs geeignet be-
tendenziell häufig auditive Fahrerinformationen in einflussen. Dieser Effekt wird durch das ESC-System
den Vordergrund stellen, setzen europäische Fahr- zur Stabilisierung des Fahrzeugs im fahrdynami-
zeughersteller auf haptische und visuelle Informa- schen Grenzbereich genutzt (siehe ▶ Kap. 40 „Brem-
tionskanäle. senbasierte Assistenzfunktionen“). Mit Rücksicht auf
Kraftstoffverbrauch und Bremsenverschleiß sollten
kurskorrigierende Bremseingriffe jedoch nicht kon-
tinuierlich sondern nur temporär erfolgen. Somit
eignen sie sich hauptsächlich für LKA-Systeme vom
950 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

Typ I mit Spurrückführung und weniger für Typ II-


1 Systeme mit Fahrstreifenmittenregelung.
.. Tab. 49.3  Übersicht von Systemen zur Querfüh-
rungsassistenz verschiedener Fahrzeughersteller

2 Primäre LDW LKA


49.5.6 Statusanzeige Fahrerin-
formation Typ I Typ I & Typ II
und Bedienelemente
3 auditiv Daihatsu, Honda,
Die Systemstatusanzeige soll den Fahrer gut wahr- Mazda, Hyundai,
4 nehmbar, aber unaufdringlich und leicht verständ- Opel, Ren-
ault, Volvo
Lexus,
Toyota
lich über den aktuellen Status des LDW- bzw.
5 LKA-Systems informieren. Diese Information er- auditiv &
haptisch
Hyundai1 Infiniti5
folgt üblicherweise visuell. Im einfachsten Fall wird
dem Fahrer die Einsatzbereitschaft des Systems haptisch Audi, BMW, Mercedes-­ Audi, Ford,
6 durch eine leuchtende LED im Ein/Aus-Taster des Citroёn2,3, Benz4,5 Škoda, Seat,
Ford, VW, Audi, Volvo, VW
Systems zur Anzeige gebracht (. Abb. 49.7a). Eine
Peugeot2,3, Ford, Seat,
7 aufwendigere Lösung zeigt Bild . Abb. 49.10b: Im Mercedes-­ Lancia
Display des Kombiinstruments wird ein Bild mit Benz, VW
den erkannten Linien, dem eigenen Fahrzeug sowie
8 der Position des eigenen Fahrzeugs relativ zu die- Gurtstraffer, 2Sitz-Vibration, 3IR-Dioden, 4Stereo-Ka-
1

mera, 5ESC-Eingriff
sen Linien angezeigt. In Seriensystemen kommen
49 weitere Lösungen zum Einsatz, die Kombinationen
dieser beiden Varianten darstellen.
10 Der Übergang von „einsatzbereit“ zu „nicht ein- angeboten und dies durchgängig von der Luxus- bis
satzbereit“ wird dem Fahrer beispielsweise durch zur Kompaktklasse. Eine weitere Demokratisierung
das Erlöschen der LED im Ein/Aus-Taster oder im solcher Technologien auf das Klein- und Kleinstwa-
11 Bild des Kombi-Displays durch einen Farbwechsel gensegment ist abzusehen.
der Linien verdeutlicht. Eine auditive Information Die Systeme der einzelnen Fahrzeughersteller
12 über diesen Statuswechsel unterbleibt in der Regel. lassen sich nach folgenden Differenzierungsmerk-
Bedienelemente zum Ein- und Ausschalten malen klassifizieren:
von LDW- bzw. LKA-Systemen sind obligatorisch a) LDW (Fahrerinformation) oder LKA (Fahrerin-
13 (Taster). Optional wird dem Fahrer eine Möglich- formation und Querführungseingriff),
keit zum Konfigurieren des Systems angeboten, so b) Typ I (Spurrückführung ) oder Typ I & II (Spur-
14 dass er Schwellen zur Fahrerinformation justieren, rückführung & Spurmittenunterstützung),
bestimmte Fahrerinformationen zu- und abschalten c) primäre Fahrerinformation akustisch oder akus-
15 sowie zwischen einem LKA-System vom Typ I und tisch & haptisch oder haptisch.
Typ II wählen kann (Menüpunkt im Kombi).
. Tabelle 49.3 zeigt exemplarisch eine Übersicht
16 der in Europa erhältlichen Systeme zur Querfüh-
49.6 Beispielhafte Umsetzungen rungsassistenz verschiedener Fahrzeughersteller
17 aufgeteilt nach diesen drei Kriterien. OEM, die so-
LDW-Systeme hatten Ihren Ersteinsatz bei Nutz- wohl LDW- als auch LKA-Systeme anbieten, sind
fahrzeugen im Jahr 2000 in Europa und kurz darauf doppelt genannt. Falls nicht anders vermerkt, wird
18 auch in den USA. Für Pkws waren sie ab 2001 in Ja- als Umfeldsensor eine Mono-Kamera, zur hapti-
pan, ab 2004 in Nordamerika und ab 2005 in Europa schen Fahrerinformation eine Lenkradvibration
19 verfügbar. LKA-Systeme wurden erstmals 2002 in und als Querführungsaktor eine EPS-Lenkung
Japan und 2006 in Europa angeboten. Mittlerweile genutzt.
20 werden Systeme zur Querführungsassistenz in den Folgendes wird deutlich: Die meisten Herstel-
Pkws nahezu aller namhaften Fahrzeughersteller ler bieten ihr System entweder als LDW oder als
49.6 • Beispielhafte Umsetzungen
951 49
.. Abb. 49.7 „Lane
a b
Departure Warning“ von
Volvo a Ein/Aus-Taster
mit Status-LED b Kame-
ra-Sichtbereich c Integ-
ration der Mono-Kamera
(Quelle: Volvo)

LKA mit den Typen I & II im Verbund an. Reine lern exemplarisch vorgestellt (siehe Unterstrich in
LKA-Systeme vom Typ  II (Spurmittenunterstüt- . Tab. 49.3). Hierbei werden die Unterschiede in
zung ohne Spurrückführung) sind selten (Infiniti, Funktionalität, Sensorik und Fahrerinformation he-
Mercedes-Benz). Die primäre Fahrerinformation ist rausgearbeitet. Für die Querführungsassistenz von
entweder auditiv oder haptisch. Die auditive Fahrer­ Nutzfahrzeugen sei auf das ▶ Kap. 53 „Bahnfüh-
information wird von asiatischen Fahrzeugherstel- rungsassistenz für Nkw“ verwiesen. Alle Angaben
lern bevorzugt (Daihatsu, Mazda, Honda, Hyundai, beziehen sich auf den Zeitpunkt der Manuskripter-
Lexus, Toyota), während die europäischen OEM stellung.
fast ausschließlich eine haptische Fahrerinforma-
tion nutzen (Audi, BMW, Citroёn, Ford, Peugeot,
Mercedes-Benz, Škoda, Seat, Volvo, VW). Systeme 49.6.1 „Lane Departure Warning“
mit kombinierter auditiver und haptischer Fahre- von Volvo
rinformation sind die Ausnahme (Hyundai, Infiniti).
Bis auf Citroёn und Renault (Infrarot-Dioden) Volvos „Lane Departure Warning“ informiert den
sowie Mercedes-Benz (Stereo-Kamera) verwen- Fahrer vor dem unbeabsichtigten Überqueren von
den alle Fahrzeughersteller eine Mono-Kamera als Fahrstreifenmarkierungslinien. Das System akti-
Umfeldsensor. Bis auf Hyundai (Gurtstraffer) und viert sich automatisch mit dem Starten des Fahr-
Citroёn (Sitz-Vibration) nutzen alle Fahrzeugher- zeugs und ist ab einer Geschwindigkeit von ca.
steller als haptische Fahrerinformation eine Lenk- 65 km/h einsatzbereit. Eine Deaktivierung erfolgt
radvibration oder einen Lenkeingriff. Nur Infiniti automatisch unterhalb von 60 km/h oder durch
und Mercedes-­Benz gebrauchen zur Spurrückfüh- den Fahrer per Ein/Aus-Taster. Durch eine LED in
rung einen kurzkorrigierenden Bremseingriff mit- diesem Taster wird dem Fahrer die Einsatzbereit-
tels ESC, alle anderen OEM nutzen eine EPS-Len- schaft des Systems angezeigt (. Abb. 49.7a). Eine
kung. Kamera wird zur kontinuierlichen Detektion der
Hersteller, die sowohl LDW- als auch LKA-Sys- Markierungslinien genutzt (. Abb. 49.7b) und ist
teme anbieten, differenzieren deren funktionale Un- hinter der Windschutzscheibe im Fuß des Innen-
terschiede über die Systemnamen. Ford differenziert spiegels verbaut (. Abb. 49.7c). Wenn das Fahrzeug
zwischen „Fahrspur-Assistent“ und „Fahrspurhal- im Begriff ist, eine Markierungslinie zu überschrei-
te-Assistent“, Mercedes-Benz unterscheidet zwi- ten, ohne dass ein aktives Fahrermanöver ersicht-
schen „Spurhalte-Assistent“ und „Aktiver Spurhal- lich ist (z. B. keine Betätigung des Fahrtrichtungs-
te-Assistent“. Volvo nutzt als Produktnamen „Lane anzeigers), dann wird der Fahrer hierauf mithilfe
Departure Warning“ und „Lane Keeping Aid“. eines Informationstons aufmerksam gemacht. Die
Im Folgenden werden jeweils zwei LDW- und Empfindlichkeit des Systems kann vom Fahrer
LKA-Systeme von verschiedenen Pkw-Herstel- wahlweise von „normal“ auf „gesteigert“ eingestellt
952 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

a b
1
2
3
4
5
6 .. Abb. 49.8  „AFIL“ von Citroёn a Sichtbereich der IR-Dioden b Vibrationsalarm im Sitz (Quelle: Citroёn)

7 werden, wodurch u. a. die Fahrerinformation über 49.6.3 „Aktiver Spurhalte-Assistent“


das ungewollte Verlassen des Fahrstreifens früher von Mercedes-Benz
erfolgt.
8 Volvo bietet sein „Lane Departure Warning“-Sys- Der „Aktive Spurhalte-Assistent“ von Mercedes-­
tem in einem Ausstattungspaket namens „Driver Benz [18] überwacht den Bereich vor dem Fahrzeug
49 Alert“ im S60, S80, V60, V70, XC60 und XC70 an. mit einem Kamerasystem, das oben an der Front-
scheibe befestigt ist. Zusätzlich werden mithilfe von
10 49.6.2 „AFIL“ von Citroёn
Radarsensorik verschiedene Bereiche vor, hinter und
seitlich des Fahrzeugs überwacht. Wenn ein Vorder-
rad die als durchgezogen oder gestrichelt erkannte
11 Das AFIL-System von Citroёn („Alerte de Franchis- Fahrstreifenbegrenzungslinie befährt, so erfolgt eine
sement Involontaire de Ligne“, sinngemäß: Alarm Fahrerinformation durch ein Intervall-Vibrieren im
12 bei Fahrstreifenwechsel durch Infrarot-Liniener- Lenkrad für die Dauer von bis zu 1,5 s. Wenn der
kennung) erkennt bei Geschwindigkeiten oberhalb Fahrer die Information ignoriert, kann ein spurkor-
von 80 km/h, ob eine Fahrstreifenmarkierungslinie rigierender Bremseingriff das Fahrzeug wieder auf
13 ohne vorherige Betätigung des Fahrtrichtungsan- den ursprünglichen Fahrstreifen zurückführen. Im
zeigers überfahren wird. An jeder Seite registrie- Multifunktionsdisplay erscheint dann eine Anzeige
14 ren drei hinter der Frontverkleidung befindliche wie in . Abb. 49.9b. Wurde zuvor der Fahrtrich-
Infrarot-Sensoren das Überschreiten der Markie- tungsanzeiger betätigt oder der Lenkeinschlag deut-
15 rungslinie (. Abb. 49.8a). Der Fahrer wird auf die lich ausgeführt, nimmt das System einen bewussten
Überschreitung der Linie aufmerksam gemacht, Fahrstreifenwechsel an und unterdrückt die Aus-
indem eine Vibration in der Sitzfläche jeweils auf gabe der Fahrerinformation. Der Fahrer kann die
16 der Seite erfolgt, auf der die Linie überfahren wurde Funktion über Menüpunkte im Multifunktionsdis-
(. Abb. 49.8b). Auf Wunsch kann der Fahrer die play ein- und ausschalten sowie parametrieren; die
17 Funktion zum Beispiel bei Autobahnfahrten über Funktion steht in einem Geschwindigkeitsbereich
einen Taster deaktivieren [17]. zwischen 60 km/h und 200 km/h zur Verfügung.
Citroёn bietet das AFIL-System im DS5, C4, C4 Ein spurkorrigierender Bremseingriff erfolgt
18 Grand Picasso, C5 und C6 an. nur bei funktionsfähiger Radarsensorik. Zudem
muss ein Fahrstreifen mit Fahrstreifenbegrenzungs-
19 linien auf beiden Seiten erkannt worden sein. Bei ei-
ner als gestrichelt erkannten Markierungslinie kann
20 ein spurkorrigierender Bremseingriff nur erfolgen,
wenn gleichzeitig ein Fahrzeug auf dem Nachbar-
49.6 • Beispielhafte Umsetzungen
953 49

a b

.. Abb. 49.9  „Aktiver Spurhalte-Assistent“ von Mercedes-Benz a Funktionsprinzip b Spurverlassens-Warnung c Übernahmeauf-


forderung (Quelle: Mercedes-Benz)

fahrstreifen erkannt wurde. Fahrzeuge, die einen markierungen – sowohl durchgezogene Linien als
Einfluss auf den Bremseingriff haben können, sind auch unterbrochene Markierungen – und berech-
Fahrzeuge des Gegenverkehrs, überholende oder net unter Berücksichtigung von Fahrdynamikdaten
parallel fahrende Fahrzeuge. die Gefahr des Fahrstreifenverlassens. Wird diese
Einen eventuell unpassenden Bremseingriff akut, warnt „Lane Assist“ den Fahrer optisch und
kann der Fahrer jederzeit abbrechen, indem er leicht durch Lenkradvibration. Fahrzeugabhängig lenkt
gegenlenkt, den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt, das System zudem korrigierend sanft gegen, um das
deutlich bremst oder Gas gibt. Ein spurkorrigieren- Fahrzeug innerhalb der gegebenen Systemgrenzen
der Bremseingriff wird automatisch abgebrochen, in dem Fahrstreifen zu halten (. Abb. 49.10a). Der
sobald ein Fahrsicherheitssystem eingreift (z. B. eine „Lane Assist“ ist für die Nutzung auf Autobahnen
fahrdynamische Regelaktion des ESC) oder wenn und gut ausgebauten Land- und Bundesstraßen
keine Fahrstreifenbegrenzungslinie mehr erkannt ausgelegt.
wird. Bei der Weiterentwicklung des „Lane Assist“,
Nimmt der Fahrer seine Hände dauerhaft vom die mit der Golf 7-Generation eingeführt wurde, ist
Lenkrad, so wird er durch eine Anzeige im Mul- die Möglichkeit geschaffen worden, die Funktion
tifunktionsdisplay (. Abb. 49.9c) in Kombination zu konfigurieren. Wird die „Adaptive Spurfüh-
mit einem Informationston dazu aufgefordert, die rung“ aktiviert, hilft „Lane Assist“ nicht erst beim
Hände wieder an das Lenkrad zu legen. Wird die drohenden Verlassen des Fahrstreifens. Wenn der
Übernahme des Lenkrads unterlassen, dann schal- Fahrstreifen durch zwei Markierungen links und
tet sich der aktive Spurhalteassistent nach ca. 5 s ab. rechts des Fahrzeugs begrenzt wird, unterstützt die
Dem Fahrer wird dies über die System-Statusan- Funktion vielmehr dauerhaft beim Fahren durch
zeige mitgeteilt. korrigierende Lenkeingriffe und führt das Fahrzeug
Der „Aktive Spurhalte-Assistent“ wird von somit in der Mitte des Fahrstreifens. Das System
Mercedes-Benz in der E-, GLK-, SL- und S-Klasse adaptiert dabei die vom Fahrer bevorzugte Posi-
in einem Ausstattungspaket namens „Fahrerassis- tion innerhalb des eigenen Fahrstreifens. Möchte
tenz-Paket Plus“ angeboten. der Fahrer z. B. etwas versetzt außerhalb der Mitte
des Fahrstreifens fahren, so lernt das System die
neue Position in wenigen Sekunden, was zu einer
49.6.4 „Lane Assist“ von VW Verschiebung der Ordinatenachse aus . Abb. 49.6
führt.
Der Spurhalteassistent „Lane Assist“ von Volkswa- Der „Lane Assist“ lässt sich bei Geschwindig-
gen [19] erfasst mittels einer Kamera Fahrbahn- keiten von über 65 km/h aktivieren, beim Unter-
954 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

a b
1
2
3
4
5
6 .. Abb. 49.10  „Lane Assist“ von VW a Lenkeingriff b Multifunktionsanzeige (Quelle: Volkswagen)

schreiten von 60 km/h deaktiviert sich das System. von der Fahrbahn und leisten hierdurch ihren ei-
7 Der Assistent funktioniert auch bei Dunkelheit und genständigen Beitrag zur positiven Beeinflussung
schlechten Witterungsbedingungen. Der Fahrer des Unfallgeschehens. Betrachtet man die einzelnen
kann „Lane Assist“ jederzeit mit geringem Kraftein- Systemausprägungen jedoch im Detail, so ergeben
8 satz „überstimmen“ und wird nicht von seiner Ver- sich Unterschiede sowohl in ihrem Unfallvermei-
antwortung entbunden, das Auto bewusst zu fahren. dungspotenzial als auch in ihrer Kundenakzeptanz.
49 Um diese Anforderung zu überwachen, analysiert Unfallvermeidungspotenzial und Fahrerunter-
das System die Lenkaktivität des Fahrers kontinu- stützung von LKA-Systemen Typ I sind eventuell
10 ierlich, um zu registrieren, ob der Fahrer mitlenkt höher als die von LDW-Systemen. Dies deuten
oder sich durch das System fahren lässt. Wird Analysen des Unfallgeschehens und Fahrsimu-
dies erkannt, erfolgt eine akustische und optische latorstudien an [20, 21]. Der Kundennutzen von
11 „Übernahmeaufforderung“. Reagiert der Fahrer da- LKA-Systemen könnte zudem durch Systeme des
rauf nicht, schaltet sich das System ab. Ein Wechsel Typs II nochmals gesteigert werden: Anders als Sys-
12 in den passiven Zustand erfolgt zudem, wenn der teme des Typs I, die für den Fahrer nur bei einem
Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, der Fahrer vermeintlich kritischen Spurverlauf erlebbar sind –
stark bremst, keine Markierungen erkannt werden eine Situation, die eher selten auftritt – unterstützen
13 oder das ESC deaktiviert ist. Typ II-Systeme den Fahrer ständig beim Halten des
In selten auftretenden Situationen wird der Fah- Fahrzeugs in der Fahrstreifenmitte, wodurch Au-
14 rer per Lenkradvibration aufgefordert, die Lenkung tofahren entspannter und komfortabler wird [22].
aktiv zu übernehmen. Eine Vibration wird ausge- Die Kundenakzeptanz für unterschiedliche Aus-
15 geben, wenn ein korrigierender Lenkeingriff nicht prägungen von LDW- und LKA-Systemen wurden
ausreicht, um das Fahrzeug in dem Fahrstreifen zu vom ADAC 2012 in einer Probandenstudie unter-
halten oder falls während eines starken Lenkein- sucht [23]. Aus den Rückmeldungen der Proban-
16 griffs keine Fahrstreifenmarkierungen vom System den wurden Anforderungen an ein ideales System
erkannt werden. abgeleitet.
17 Der „Lane Assist“ wird bei Volkswagen in annä- Gemäß ADAC wird beim „Spurverlassenswar-
hernd allen Fahrzeugmodellen angeboten. ner“ (LDW) die Lenkradvibration – da exklusiv
für den Fahrer – als Warnhinweis beim Überfah-
18 ren einer Linie bevorzugt. Idealerweise wird die
49.7 Systembewertung Erkennung der Fahrstreifen im Display und, wenn
19 vorhanden, im Head-up-Display dargestellt. Ge-
Alle Querführungsassistenzsysteme unterstützen schätzt werden die Einstellbarkeit des Warnzeit-
20 den Fahrer beim Halten des Fahrstreifens, vermei- punkts (Nähe zur Fahrbahnbegrenzung) und der
den in vielen Fällen das ungewollte Abkommen Vibrationsstärke. Gut bewertet wird eine adaptive
49.9 • Ausblick
955 49

Einstellung, damit auf kurviger Landstraße nicht zu Einsatz von Farbkameras mit höherer Auflösung
viele unnötige Warnungen an einen aktiven Fahrer und Dynamik, adaptiven Warnalgorithmen mit
ausgegeben werden, der sich dann gestört fühlen Fahrer­intentionserkennung sowie robusteren Bild-
könnte und das System abschaltet.  verarbeitungsalgorithmen.
Gemäß ADAC werden beim Spurhalteassis- Trotzdem unterliegen diese Systeme weiter-
tenten (LKA) Lenkkorrekturen gut akzeptiert. Der hin vielen Beschränkungen, was deutlich wird,
Lenkeingriff sollte einstellbar sein, so dass zwischen wenn man in die Bordbücher der Fahrzeugher-
einer Zentrierung des Autos in der Fahrstreifen- steller schaut. In diesen wird darauf hingewiesen,
mitte (Typ II) oder einem „Wegdrücken“ des Autos dass Querführungsassistenten nur Hilfsmittel sind
vom Fahrbahnrand (Typ I) gewählt werden kann. und die Verantwortung für die Querführung beim
Aber auch der Eingriff mittels gezielter ESC-Brem- Fahrer verbleibt. Die Funktion steht herstellerab-
sungen einzelner Räder kam bei vielen Probanden hängig erst ab Geschwindigkeiten oberhalb von
gut an. Die Erkennung der Fahrstreifen sollte im 60–70 km/h zur Verfügung, wodurch komplexe
Instrumentendisplay und im Head-up-Display Markierungssituationen in Städten größtenteils
(wenn verfügbar) angezeigt werden. Ein Lenkein- ausgegrenzt werden und eine Querführungsunter-
griff erfordert eine sichere Fahrstreifenerkennung stützung nicht angeboten wird.
– ist diese aufgrund schlechter Markierungen nicht Fahrstreifenbegrenzungslinien können nicht
möglich, sollte zumindest eine Fahrstreifenverlas- immer eindeutig erkannt werden, z. B. bei schlech-
senswarnung erfolgen. ter Sicht, Blendung, verdeckten oder abgenutzten
Bei akustischer Fahrerinformation wurden sys- Linien, verschmutzten oder beklebten Windschutz-
temspezifische Töne mit seitlicher Unterscheidbar- scheiben sowie in Baustellen, kurvenreichen Stre-
keit gelobt; generell wurden Informationstöne aber cken, Alleen oder Tunnelein- und Ausfahrten. In
als wenig intuitiv und teilweise als störend empfun- diesen Fällen kann das System beeinträchtigt (aus-
den. Bei einer Sitzvibration wurde die seitliche Un- bleibende bzw. unnötige Fahrerinformation) oder
terscheidung positiv angemerkt. Uneinig war man ohne Funktion sein. Bei einem LKA-System reicht
sich allgemein über die Vibration im Sitz; einige fan- der Lenkeingriff unter Umständen nicht dazu aus,
den diese gut, weil es eine klare Systemzuordnung das Fahrzeug zurück in den Fahrstreifen zu führen.
der Fahrerinformation ermöglicht. Andere störte Straßen- und Witterungsverhältnisse werden beim
und irritierte die Vibration im Sitz – auch nach Lenkeingriff nicht berücksichtigt. Verfügbarkeit
längerer Fahrt. Beim ESC-Eingriff störte die damit und Robustheit von Querführungsassistenten könn-
verbundene Geschwindigkeitsreduzierung etwas. ten aus Nutzerperspektive daher weiter verbessert
Die Fahrstreifenerkennung auf Landstraßen wurde werden.
bei nahezu allen Systemen bemängelt.
Für die Kundenakzeptanz maßgeblich ist neben
der Gestaltung der Fahrerinformation auch die Sys- 49.9 Ausblick
temverfügbarkeit. Dies zeigt ein Vergleichstest der
Auto-Bild [24]: Bei ähnlicher Verfügbarkeit konn- Robustheit und Verfügbarkeit der Fahrstreifener-
ten sich LKA-Systeme gegenüber LDW-Systemen kennung können weiter gesteigert werden, indem
durchsetzen. LDW-Systeme mit guter Verfügbarkeit zur Fahrstreifenerkennung und Querführung des
lagen aber gleichauf oder sogar vor LKA-Systemen Fahrzeugs nicht nur Markierungslinien, sondern
mit schlechter Verfügbarkeit. auch andere Umgebungsmerkmale herangezogen
werden, wie beispielsweise andere Fahrzeuge, Bord-
steine, Randstreifen oder Leitplanken. Werden nur
49.8 Erreichte Leistungsfähigkeit einige wenige Merkmale genutzt, dann kann ein
einfacher, z. B. regelbasierter Ansatz zweckmäßig
Die Leistungsfähigkeit von Querführungsassis- sein. Bei vielen Merkmalen erscheint jedoch ein
tenzsystemen konnte in den letzten Jahren konti- modellbasierter Ansatz sinnvoll. Bei diesem wird
nuierlich gesteigert werden: Dies gelang durch den eine Fahrbahnhypothese durch Umgebungsmerk-
956 Kapitel 49 • Querführungsassistenz

male gestützt oder verworfen. Markierungslinien 4 ECE‐R 79: Uniform provisions concerning the approval of
1 können hierbei mit einem höheren Gewicht ein-
vehicles with regard to steering equipment, 2005
5 MLIT – Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tou-
gehen als andere Merkmale. Bereits heute können rism: technical guidance to Lane‐Keeping Assist Devices
2 viele dieser Merkmale durch existierende Umfelds- of Motor Vehicles, In: technical guidelines in Blue Book
ensoren erfasst werden. Die Herausforderung be- 11‐6‐1‐3, 2013
steht folglich in der anschließenden Datenverarbei- 6 TRW Homepage, Datenblatt „Skalierbare Kamera“, http://
3 tung bzw. Fahrbahnmodellierung.
www.trw.de/technology_information/electronics/driver_
assist_system_electronics, Zugriff am 26.04.2014
Erste Ansätze einer Fahrbahnmodellierung zeigt 7 Hegemann, S., Lüke, S., Nilles, C.: Randsteinerkennung als
4 der Mercedes-Benz Lenk-Assistent. Oberhalb von Teil der Urbanen Fahrerassistenz. ATZ-Automobiltechni-
ca. 60 km/h orientiert dieser sich an vorhandenen sche Zeitschrift 115(11), 895–899 (2013)

5 Markierungslinien. Im Geschwindigkeitsbereich 8 Derendarz, W., Graf, T., Wahl, F.M.: Monokamerabasierte


Umfelderkennung für komplexe Umgebungen. In: 4. VDI‐
zwischen 0–60 km/h orientiert er sich am voraus-
Tagung Optische Technologien in der Fahrzeugtechnik
fahrenden – von Radarsensoren erfassten – Fahr-
6 zeug unter Berücksichtigung von Markierungsli- 9
VDI‐Berichte, Bd. 2090, S. 141–156. (2010)
Montemerlo, M., et al.: Junior: The Stanford Entry in the
nien, beispielsweise beim Staufolgefahren [18]. Das Urban Challenge. Journal of Field Robotics 25(9), 569–597
7 System dient dann nicht dazu, den Fahrer über das
10
(2008)
Homm, F., Kaempchen, N., Burschka, D.: Fusion of La-
ungewollte Abkommen vom Fahrstreifen rechtzeitig
serscannner and Video Based Lanemarking Detection
zu informieren, sondern den Komfort in Stausitua-
8 tionen zu steigern. Wechselt das Führungsfahrzeug
for Robust Lateral Vehicle Control and Lane Change Ma-
neuvers. In: IEEE Intelligent Vehicles Symposium, Bd. IV, S.
im Stau z. B. an einer Autobahnabfahrt den Fahr- 969–974. (2011)
49 streifen, so würde der Lenk-Assistent folgen – also 11 van Winsum, W., Brookhuis, K.-A., de Waard, D.: A compari-
son of different ways to approximate time‐to‐line crossing
auch den Fahrstreifen wechseln – ohne den Fahrer
(TLC) during car driving. Accid. Anal. Prev. 32, 47–56 (2000)
10 hierüber zu informieren. Deutlich wird aber: Eine 12 Mammar, S., Glaser, S., Netto, M.: Time to line crossing for
Fahrzeugquerführung ist, wenn auch mit Ein- lane departure avoidance: a theoretical study and an ex-
schränkungen, bei Nutzung der Positionsdaten des perimental setting. IEEE Trans, Intell. Transport Syst. 7(2),
11 vorausfahrenden Fahrzeugs möglich. Dies demons- 226–241 (2006)
13 Gayko, J.: Lane Keeping Support. In: Handbuch Fahreras-
triert das Potenzial einer fahrbahnmodellbasierten
sistenzsysteme, S. 554–561. Vieweg+Teubner Verlag, Wies-
12 Querführung, die zusätzlich zu den Markierungs- baden (2012)
linien von möglichst vielen weiteren Umgebungs- 14 Kölbl, C.: Darstellung und Potentialuntersuchung eines in-
merkmalen gestützt wird.
13 Können Robustheit und Verfügbarkeit der
tegrierten Quer‐ und Längsreglers zur Fahrzeugführung,
Dissertation. Cuvillier Verlag, Göttingen (2011)
15 Mann, M.: Benutzerorientierte Entwicklung und fahrerge-
Querführung weiter gesteigert werden, dann eröff-
14 net sich die Möglichkeit für viele neue Systeme mit
rechte Auslegung eines Querführungsassistenten, Disser-
tation. Cuvillier Verlag, Göttingen (2008)
kombinierter Längs- und Querführung vom bei- 16 Schmidt, G.: Haptische Signale in der Lenkung: Controllabi-
15 spielsweise Stauassistenten (▶ Kap. 52) bis hin zum lity zusätzlicher Lenkmomente Berichte aus dem DLR‐Ins-
fahrerlosen Fahren (▶ Kap. 61). titut für Verkehrssystemtechnik, Bd. 7. (2009). Dissertation
17 Renault Pressemitteilung: Peugeot 308 SW – Spurhal-
16 teassistent AFIL erhöht aktive Fahrsicherheit. www.peu-
geot-presse.de/download/rtf/PM_308SW_200807.rtf, Zu-
Literatur gegriff: 26.4.2014
17 18 Bedienungsanleitung der Mercedes-Benz E Klasse (2013)
1 GIDAS, Datenbankabzug 12/2012, Pkw‐Insassen mit Ver- 19 Gies, S., Brendes, C.: Der neue Golf – Fahrwerk – Modularität
letzungsschwere MAIS2+ in erster Kollision als Prinzip. ATZ extra, 52–63 (2012)
18 2 ISO 17361: Intelligent transportation systems. Lane depar- 20 Daschner, D., Gwehenberger, J.: Wirkungspotenzial von Ad-
ture warning systems. Performance requirements and test aptive Cruise Control und Lane Guard System bei schweren
procedures. British Standards Institution, (2007) Nutzfahrzeugen. Allianz Zentrum für Technik GmbH, Mün-
19 3 ISO DIS 11270: Intelligent transport systems – Lane chen (2005). Bericht Nr. F05‐912, im Auftrag von MAN für
keeping assistance systems (LKAS) – Performance requi- das BMBF‐Projekt Safe Truck
rements and test procedures. International Organization
20 for Standardization, (2013)
Literatur
957 49
21 Navarro, J., Mars, F., Hoc, J.-M.: Lateral Control Assistance for
Car Drivers: A Comparison of Motor Priming and Warning
Systems. Human Factors 49(5), 950–960 (2007)
22 Freyer, J., Winkler, L., Waarnecke, M., Duba, G.-P.: Eine Spur
aufmerksamer – Der Audi Active Lane Assist. ATZ 112(12),
926–930 (2010)
23 ADAC Probandenstudie: Warnsignale von Assistenzsys-
temen (2012). http://www.adac.de/infotestrat/tests/
assistenzsysteme/assistenzsysteme_2012/, Zugegriffen:
06.10.2013
24 „On‐Board‐Computersysteme im Vergleich: Wer spurt am
besten?“, Auto‐Bild, Heft 32, S. 36‐46, 2011
959 50

Fahrstreifenwechselassistenz
Arne Bartels, Marc-Michael Meinecke, Simon Steinmeyer

50.1 Motivation – 960
50.2 Anforderungen – 960
50.3 Klassifikation der Systemfunktionalität   –  962
50.4 Beispielhafte Umsetzungen – 963
50.5 Systembewertung – 971
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit   –  972
50.7 Weiterentwicklungen – 973
Literatur – 973

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_50, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
960 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

50.1 Motivation Eine weitere Unfallursache bei einem Fahrstrei-


41 fenwechsel ist die Fehleinschätzung der Geschwin-
Fahrerassistenzsysteme dienen dazu, den Fahrer bei digkeit von überholenden Fahrzeugen. Insbeson-
42 seiner Fahraufgabe zu unterstützen. Der zu erwar- dere die Annäherungsgeschwindigkeit schneller
tende Kundennutzen eines Fahrerassistenzsystems und weit entfernter Fahrzeuge wird auf Autobahnen
ist dann besonders hoch, wenn die Fahraufgabe, bei und Schnellstraßen häufig unterschätzt. In dieser
43 welcher der Fahrer unterstützt werden soll, mit ei- Situation kann ein Fahrstreifenwechsel sowohl zur
nem hohen Fehlerpotenzial behaftet ist. Zu diesen Kollision mit dem überholenden Fahrzeug führen,
44 Fahraufgaben mit hohem Fehlerpotenzial gehört falls dieses nicht mehr ausreichend verzögern kann,
u. a. der Fahrstreifenwechsel. als auch zu Auffahrunfällen mit anderen Verkehrs-
45 Dies wird ersichtlich aus einer statistischen Ana- teilnehmern, wenn diese auf die starke Verzöge-
lyse von Unfällen mit Personenschäden, welche in rung des überholenden Fahrzeugs nicht rechtzeitig
einer Datenbank der Volkswagen Unfallforschung reagieren.
46 und der GIDAS (German In-Depth Accident Study) Auch bei einem Fahrstreifenwechsel auf der Bei-
gesammelt wurden. . Abbildung 50.1 zeigt für die fahrerseite benötigt der Fahrer Unterstützung. Die-
47 Jahre 1985 bis 1999 den Anteil der Fahrstreifen- ser wird in Deutschland durch das Rechtsfahrgebot
wechselunfälle mit Pkw als Hauptverursacher für erzwungen. Nach einem Überholvorgang muss der
die Straßenarten Stadt, Land und Bundesautobahn Fahrer wieder auf den rechten Fahrstreifen wech-
48 (BAB). Deutlich wird, dass durchschnittlich mehr seln, sobald es die Verkehrssituation zulässt. Im Ge-
als 5 % aller Unfälle bei einem Fahrstreifenwech- gensatz dazu wird in vielen anderen europäischen
49 sel erfolgen. Ebenfalls deutlich wird, dass sich ein Ländern auch das Überholen auf der Beifahrerseite
Großteil dieser Unfälle auf Landstraßen oder Bun- praktiziert. In den USA ist es zudem alltäglich, dass
50 desautobahnen ereignen. auf beiden Nachbarfahrstreifen andere Verkehrs-
Diese Überlegungen legen nahe, dem Fahrer ein teilnehmer mit nahezu gleicher Geschwindigkeit
System zur Verfügung zu stellen, das ihn bei einem im Toten Winkel des eigenen Fahrzeugs fahren.
51 Fahrstreifenwechsel unterstützt. Diese Unterstüt-
zung ist zunächst für Landstraßen- und Autobahn­ Aus der obigen Analyse ergeben sich für einen Fahr-
52 szenarien auszulegen. streifenwechselassistenten folgende funktionelle

53 50.2 Anforderungen -
Anforderungen:
Der Fahrstreifenwechselassistent soll den Fah-
rer über Gefahrensituationen informieren, die
aus einer unzureichenden Überwachung des
54
55
Bei einem Fahrstreifenwechsel muss der Fahrer
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
ausschließen können. Nach den einschlägigen
Vorschriften obliegt es dem Fahrer, vor einem
- Umfeldes durch den Fahrer resultieren.
Hierzu soll die Assistenzfunktion in der Lage
sein, sowohl sich schnell von hinten annä-
hernde Verkehrsteilnehmern als auch andere
Fahrstreifenwechsel den hinteren und seitlichen Verkehrsteilnehmer im Toten Winkel des

-
56 Fahrzeugbereich zu kontrollieren. Dabei ist so- eigenen Fahrzeuges wahrzunehmen.
wohl ein Blick in den Außen- und Innenspiegel, Die Assistenzfunktion soll gleichermaßen für
57 als auch ein Schulterblick zwingend vorgeschrie- die Nachbarfahrstreifen sowohl auf der Fahrer-

58
ben. Wird der Schulterblick unterlassen, sind die
Außenspiegel falsch eingestellt oder ist der Fahrer
schlicht unaufmerksam, so können andere Ver-
kehrsteilnehmer im Toten Winkel unter Umstän-
- als auch auf der Beifahrerseite arbeiten.
Idealerweise ist die Assistenzfunktion bei allen
Straßen-, Witterungs- und Verkehrsbedingun-
gen mit annähernd gleicher Qualität verfügbar.
59 den übersehen werden. Wird in einem solchen Fall
ein Fahrstreifenwechsel initiiert, so kann dies zu Eine besondere Bedeutung kommt der Mensch-
60 einer Kollision mit dem Fahrzeug auf dem Nach- Maschine-Schnittstelle (HMI) zwischen Fahrer
barfahrstreifen führen. und Fahrstreifenwechselassistenten zu. Erscheint
50.2 • Anforderungen
961 50
.. Abb. 50.1  Anteil Fahr-
streifenwechselunfälle mit
Hauptursache Pkw an allen
Unfällen nach Straßenart
und Unfalljahr [1]

der Fahrstreifenwechsel aufgrund des vom System In der Informationsstufe 1 wird jedes bei einem
wahrgenommenen Umfelds als potenziell prob- Fahrstreifenwechsel potenziell gefährliche Fahrzeug
lematisch, so wird der Fahrer hierüber geeignet dem Fahrer zur Anzeige gebracht, auch dann, wenn
und rechtzeitig informiert. Die Information kann der Fahrer keinen Fahrstreifenwechsel beabsichtigt.
prinzipiell über optische, akustische oder haptische Die Anzeige in der Informationsstufe 1 sollte für den
Sinneskanäle des Menschen erfolgen. Bei der Aus- Fahrer zwar wahrnehmbar, jedoch auch bei häufiger
legung des HMI sollte jedoch darauf geachtet wer- Aktivierung nicht störend oder ablenkend wirken.
den, dass der Blick des Fahrers in den Spiegel, zu Werden die optischen Anzeigen in bzw. in der Nähe
dem er auch bei aktiviertem Fahrstreifenwechselas- der Außenspiegel positioniert, so kann dieses z. B.
sistenten weiterhin verpflichtet ist, mit unterstützt über eine geeignete Steuerung der Lampenhelligkeit
wird. Hierfür bietet sich die Positionierung von op- in Abhängigkeit vom Umgebungslicht erzielt werden.
tischen Anzeigen in bzw. in der Nähe der Außen- In der Informationsstufe 2 wird zusätzlich die
spiegel an. Durch die räumliche Nähe von Außen- Intention des Fahrers für einen Fahrstreifenwech-
spiegel und optischer Anzeige wird sichergestellt, sel erkannt, z. B. über die Betätigung des Fahrtrich-
dass der Fahrer beim Blick in den Spiegel simultan tungsanzeigers (Blinkerhebels). Beabsichtigt der
die optischen Informationen der Assistenzfunktion Fahrer einen Fahrstreifenwechsel duchzuführen,
wahrnehmen kann. Die Helligkeit dieser optischen und wird dieser Fahrstreifenwechsel aufgrund des
Anzeigen sollte hierbei so gestaltet sein, dass diese vom System wahrgenommenen Umfelds als poten-
einerseits bei allen vorkommenden Umgebungs- ziell gefährlich bewertet, dann sollte eine intensivere
bedingungen für den Fahrer gut wahrnehmbar Information an den Fahrer erfolgen. Bei einer Fah-
sind. Andererseits darf der Fahrer und auch Fahrer rerinformation über optische Anzeigen in bzw. in
anderer Fahrzeuge durch die optischen Anzeigen der Nähe der Außenspiegel kann dies z. B. über ein
insbesondere bei Nacht nicht irritiert oder geblen- sehr helles, kurzes Aufblinken der optischen Anzei-
det werden. gen realisiert werden. Auch haptische oder akusti-
Bei der Auslegung des HMI ist ebenfalls zu sche Informationen können hierfür genutzt werden.
entscheiden, ob die Fahrerinformation einstufig Ebenfalls wichtig für den Fahrstreifenwechsel­
oder zweistufig erfolgen soll. Bei einer zweistufigen assistenten ist eine intelligente Informationsstra-
Fahrerinformation wird von der Informationsstufe tegie. Um eine ausreichende Kundenakzeptanz zu
1 zur Informationsstufe 2 eskaliert, sobald die In- gewährleisten, muss der Fahrstreifenwechselassis-
tention des Fahrers für einen Fahrstreifenwechsel tent einerseits alle als potenziell gefährlich wahr-
erkannt wird. Bei einer einstufigen Fahrerinforma- genommenen Verkehrssituationen zuverlässig zur
tion unterbleibt diese Eskalation. Anzeige bringen. Andererseits müssen unnötige
962 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

41 .. Tab. 50.1  Klassifikation nach Zonenabdeckung [2]

Typ Überwachung Überwachung Überwachung Überwachung Funktion


42 Toter Winkel
linke Seite
Toter Winkel
rechte Seite
linke Annähe-
rungszone
rechte Annähe-
rungszone

43 I X X Warnung vor Fahrzeugen im


Toten Winkel

II X X Warnung vor Fahrzeugen, die


44 sich von hinten annähern

III X X X X Warnung vor Fahrstreifen-


45
-
wechsel

Fahrerinformationen vermieden werden. Unnötig Typ I-Systeme informieren über Fahrzeuge im


46 ist in diesem Zusammenhang z. B. die Information Toten Winkel auf der linken und rechten Seite.
über ein Fahrzeug auf dem Nachbarfahrstreifen, das Sie informieren nicht über Fahrzeuge, die sich
47 von den Umfeldsensoren zwar erfasst wird, jedoch auf der linken oder rechten Seite von hinten

48
so langsam und noch so weit entfernt ist, dass ein
Fahrstreifenwechsel gefahrlos möglich ist. Eben-
falls unnötig ist die Information über ein geradeaus
fahrendes Fahrzeug auf dem übernächsten benach-
- annähern.
Typ II-Systeme informieren über Fahrzeuge,
die sich von hinten auf der linken und rechten
Seite annähern. Sie informieren nicht über
49 barten Fahrstreifen. Die Informationsstrategie muss Fahrzeuge im Toten Winkel auf der linken

50
somit die Messdaten der Umfeldsensoren auswerten
und anhand dieser sehr sorgfältig entscheiden, ob
eine Fahrerinformation erfolgen soll oder nicht. - oder rechten Seite.
Typ III-Systeme informieren sowohl über
Fahrzeuge im Toten Winkel als auch über sich
von hinten annähernde Fahrzeuge, beides
51 sowohl auf der linken als auch auf der rechten
50.3 Klassifikation Seite.
52 der Systemfunktionalität
Die Systeme vom Typ II und III werden weiterhin
In der aktuellen ISO-Norm 17387 „Lane Change in drei Unterklassen aufgeteilt. Diese werden in
53 Decision Aid System“ werden verschiedene Aus- der genannten Norm durch die maximal zulässige
prägungen des Fahrstreifenwechselassistenten Relativgeschwindigkeit des sich von hinten annä-
54 spezifiziert und in diverse Subtypen klassifiziert. hernden Zielfahrzeugs vmax sowie durch die minimal
Weiterhin wird ein Systemstatusdiagramm mit den zulässigen Kurvenradien Rmin unterschieden. Eine
55 Systemstatus und Übergangsbedingungen spezifi- Übersicht zeigt . Tab. 50.2.
ziert. Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt. Die maximale Relativgeschwindigkeit zwischen
Ego-Fahrzeug und dem sich von hinten annähernden
56 Fahrzeug hat bei gegebener Rechenzeit des Systems
50.3.1 Klassifikation nach Leistung und bei einer vorgegebenen minimalen Reaktionszeit
57 der Umfelderfassung des Fahrers einen direkten Einfluss auf die benötigte
Sensorreichweite. Bei vmax = 20 m/s, einer Rechenzeit
Nach der ISO-Norm 17387 sind drei Systemtypen des Systems von 300 ms und einer geforderten mini-
58 zu unterscheiden. Diese differenzieren sich über die malen Reaktionszeit von 1,2 s beträgt die minimale
von den Umfeldsensoren überwachten Zonen. Eine Sensorreichweite 20 m/s × (1,2 s + 0,3 s) = 30 m. Soll
59 Übersicht zeigt . Tab. 50.1. auch bei größeren Annäherungsgeschwindigkeiten
noch rechtzeitig informiert werden, so muss die Sen-
60 Die genannten Systemtypen weisen folgende Funk- sorreichweite erhöht werden. Bei vmax = 30 m/s ergibt
tionen auf: sich z. B. eine minimale Sensorreichweite von 45 m.
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
963 50

Die Klassifizierung hinsichtlich des minimalen


.. Tab. 50.2  Klassifikation nach maximaler Relativ-
Kurvenradius erfolgt aus zwei Gründen. Einerseits geschwindigkeit des sich von hinten annähernden
kann die frühzeitige Detektion des Zielfahrzeugs Fahrzeugs und nach dem minimalen Kurvenradius [2]
durch den eingeschränkten Erfassungsbereich der
verwendeten Umfeldsensorik erschwert werden. Typ Maximale Relativgeschwin- Minimaler
digkeit des sich von hinten Kurvenradius
Bei kegelförmigem Erfassungsbereich ist beispiels- annähernden Fahrzeugs
weise der Öffnungswinkel des Sensors maßgeblich
für eine gute Abdeckung der relevanten Fahrstreifen A 10 m/s 125 m

innerhalb von Kurven. Andererseits ist die maxi- B 15 m/s 250 m


male Relativgeschwindigkeit des sich von hinten an-
C 20 m/s 500 m
nähernden Zielfahrzeugs bei gegebenem Kurvenra-
dius und typischen Geschwindigkeiten des eigenen
Fahrzeugs durch die Fahrdynamikeigenschaften des Fahrers für einen Fahrstreifenwechsel anzeigen.
Zielfahrzeugs begrenzt. Diese Auswahlkriterien können z. B. sein
a) die Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers oder
b) eine Auswertung von Lenkwinkel oder Lenkmo-
50.3.2 Systemzustandsdiagramm ment oder
c) die Position des eigenen Fahrzeugs innerhalb
In der ISO-Norm 17387 ist für den Fahrstreifen- des Fahrstreifens oder
wechselassistenten ein Systemzustandsdiagramm d) der laterale Abstand zu einem Fahrzeug im
mit den verschiedenen Systemstatus und Über- Nachbarfahrstreifen.
gangsbedingungen spezifiziert. Dieses wird in
. Abb. 50.2 gezeigt. Für den Fall c) können z. B. Synergieeffekte mit ei-
Ist das System inaktiv, so wird keine Informa- nem eventuell vorhandenen System zur Erkennung
tion an den Fahrer ausgegeben. Zur Aktivierung der Fahrstreifenmarkierung genutzt werden. Die
des Systems müssen bestimmte Kriterien erfüllt Fahrer­information der Stufe 2 kann prinzipiell gestaf-
sein. Das System kann beispielsweise über die Be- felt bzw. mehrstufig erfolgen. Wurde der Fahrer z.B.
tätigung eines Tasters aktiviert werden, wenn das ei- bei Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers deutlich
gene Fahrzeug schneller fährt als eine vorgegebene, über ein fremdes Fahrzeug im Toten Winkel infor-
minimale Aktivierungsgeschwindigkeit. Das System miert, und lenkt der Fahrer trotzdem sein Fahrzeug
wird deaktiviert, wenn z. B. der Fahrer die Aus-Taste auf den benachbarten Fahrstreifen, so kann die Fah-
betätigt oder die minimale Aktivierungsgeschwin- rerinformation nochmals intensiviert werden oder
digkeit unterschritten wird. sogar in die Querführung des Fahrzeugs eingegriffen
Ist das System aktiv, so werden nur dann Infor- werden.
mationen an den Fahrer ausgegeben, wenn wiede-
rum bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, z. B.
wird ein Fahrzeug im Toten Winkel erkannt oder es 50.4 Beispielhafte Umsetzungen
nähert sich ein Fahrzeug von hinten mit hoher Ge-
schwindigkeit an. Sind diese Voraussetzungen nicht Fahrerassistenzsysteme, die den Fahrer bei einem
erfüllt, so erfolgt keine Fahrerinformation. Fahrstreifenwechsel unterstützen, sind bei vielen
Fahrzeugherstellern bereits seit mehreren Jahren
Die Fahrerinformation kann in mehreren Stufen zu kaufen. Diese setzten zunächst in den Oberklas-
erfolgen. In der Informationsstufe 1 erfolgt eine sefahrzeugen ein; bei Audi im A8 und Q7, bei VW
„dezente“ Information an den Fahrer, die weniger im Phaeton und Touareg, bei Mercedes in der S-
dringlich ist als die Fahrerinformation der Stufe 2. Klasse. Mittlerweile ist jedoch eine Demokratisie-
Sie hat eher informativen Charakter. Die Fahrerin- rung dieses Fahrerassistenzsystems zu beobachten,
formation der Stufe 2 erfolgt dann, wenn bestimmte viele Fahrzeuge der Mittelklasse bzw. unteren Mit-
Auswahlkriterien erfüllt sind, die die Intention des telklasse sind mittlerweile mit Systemen zur Fahr-
964 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

.. Abb. 50.2 System­
41 zu­stands­­diagramm für
einen Fahrstreifenwechsel­
assistenten nach
42 ISO 17387 [2]

43
44
45
46
47
48 streifenwechselassistenz ausgestattet, wie z. B. dem Systeme vom Typ I, die ausschließlich den Toten
Audi A4 bzw. A3, dem 3er BMW, dem Ford Focus, Winkel überwachen, werden Ultraschall-, Kamera-
49 der Mercedes B- bzw. A-Klasse, dem Mazda 3, dem und Radarsensoren eingesetzt, jeweils mit Sensor-
Volvo V40 oder dem VW Passat. reichweiten von 3 bis 5 m. Für Systeme vom Typ
50 Die Systeme der einzelnen Fahrzeughersteller III, die sowohl über Fahrzeuge im Toten Winkel als
unterscheiden sich in ihrer Ausprägung teilweise auch über sich von hinten annähernde Fahrzeuge
deutlich voneinander, wobei sie sich größtenteils informieren, werden ausschließlich Radarsenso-
51 in die unterschiedlichen Kategorien der ISO 17387 ren jeweils mit einer Reichweite von 70 bis 100 m
einordnen lassen, so wie sie in ▶ Abschn. 50.3 be- (Klasse B) eingesetzt. Aufgrund ihrer eingeschränk-
52 schrieben werden. Die Unterschiede ergeben sich ten Sensorreichweite scheiden Ultraschall- und Ka-
hauptsächlich durch merasensoren für Typ-III-Systeme ebenso aus wie
a) die unterschiedlichen Sensoren, die zur Umfeld- Radarsensoren mit geringer Reichweite (Klasse
53 wahrnehmung eingesetzt werden, A). Deutlich wird ebenfalls, dass eine mehrstufige
b) die Anzahl der Informationsstufen, sowie Fahrerinformation aktuell nur bei Radar-basierten
54 c) die Klassifizierung in Typ I und Typ III Systeme. Systemen erfolgt.
Um sich von ihren Wettbewerbern zu differen-
55 . Tabelle 50.3 zeigt eine Übersicht der sich aktuell zieren, sicherlich aber auch um die herstellerspezi-
auf dem Markt befindlichen Fahrstreifenwechsel­ fische Systemfunktionalität zu verdeutlichen, wur-
assistenz-Systeme aufgeteilt nach diesen drei Kri- den bei den unterschiedlichen Fahrzeugherstellern
56 terien. Um einen Systemvergleich zu erleichtern, jeweils unterschiedliche Produktnamen gewählt.
wurde hierbei eine dritte Informationsstufe einge- So wird der Fahrstreifenwechselassistent bei Audi
57 führt. Fahrzeughersteller, die ihre Systeme wahl- „Audi Side Assist“ genannt. Das nahezu baugleiche
weise mit zweistufiger oder dreistufiger Fahrerin- System heißt bei VW „Side Assist“. Bei BMW trägt
formation anbieten, sind doppelt genannt. es den Namen „Spurwechselwarnung“. Das System
58 Deutlich wird, dass viele Hersteller mittlerweile von Citroën heißt „Toter Winkel Assistent“. Ford
Systeme vom Typ I oder Typ III für ihre Fahrzeuge nutzt den Namen „Blind Spot Information System“.
59 anbieten. Systeme vom Typ II ohne Tote-Winkel- GM wählte den Namen „Side Blind Zone Alert“.
Information, die ausschließlich über sich von hinten Mercedes-Benz nennt sein System „Totwinkel-As-
60 annähernde Fahrzeuge informieren, werden dage- sistent“. Mazda wiederum nutzt den Namen „Rear
gen auf dem Markt aktuell nicht angeboten. Für Vehicle Monitoring System“. Nissan/Infiniti be-
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
965 50

.. Tab. 50.3  Übersicht von Fahrstreifenwechsel-Assistenz-Systemen verschiedener Fahrzeughersteller aufgeteilt nach


Typ, Anzahl der Warnstufen und Umfeldsensorik

Warnung Typ I Typ II

1 Stufig Ultraschall Citroën, Opel -

Kamera Volvo

Radar (A) Ford, Jaguar, Jeep, Land Rover, Lexus

2 Stufig GM, Mercedes Benz Radar (B) Audi, BMW, Mazda, Porsche, Volvo, VW

3 Stufig Mercedes Benz, Infiniti/Nissan VW

zeichnet sein System als „Side Collision Prevention“. beiden hinteren Sensoren dienen zur Überwachung
Volvo taufte sein System auf den Namen „Blind Spot des Toten Winkels. Die beiden vorderen Sensoren
Information System“. werden allein für eine Plausibilitätsprüfung genutzt.
Im Folgenden wird aus den Kategorien der Citroën hat den „Toten Winkel Assistent“ 2010
. Tab. 50.3 das Serien-System jeweils eines Fahr- erstmals im C4 eingeführt und bietet ihn dort ak-
zeugherstellers exemplarisch vorgestellt (siehe tuell als Zusatzausstattung für 290,- € im Paket mit
Unterstrich). Hierbei werden die Unterschiede in einer Reifendruckkontrolle an.
Funktionalität, Sensorik und Fahrerinformation
herausgearbeitet.
50.4.2 „Blind Spot Information
System“ (BLIS) von Volvo
50.4.1 „Toter Winkel Assistent“
von Citroën Das BLIS von Volvo informiert den Fahrer über
Fahrzeuge, die sich im Toten Winkel seines Fahr-
Der „Tote Winkel Assistent“ von Citroën infor- zeugs aufhalten. Insbesondere im dichten Verkehr
miert den Fahrer, sobald sich ein Auto oder ein sollen so Verkehrsunfälle bei Fahrstreifenwechseln
Motorrad im Toten Winkel des eigenen Fahrzeugs vermieden werden. Das System basiert auf zwei
befindet. In diesem Fall leuchtet eine Warn-Leucht- in den Außenspiegeln integrierten Digitalkame-
diode in einem der äußeren Rückspiegel gelb auf ras. Diese Kameras sind nach hinten ausgerich-
(. Abb. 50.3a). Eine zweite Warnstufe, ausgelöst tet und überwachen den Verkehr auf den beiden
z.B. durch eine Betätigung des Fahrtrichtungsan- Nachbarfahrspuren rechts und links vom eigenen
zeigers, ist nicht vorgehalten. Das System ist bei Ge- Fahrzeug (siehe . Abb. 50.4a). Wenn ein Fahrzeug
schwindigkeiten zwischen 10 und 140 km/h über in den Toten Winkel eintritt, dann leuchtet eine
einen Taster aktivierbar. Außerhalb dieser Grenzen Lampe in der rechten oder linken A-Säule dezent
erfolgt keine Warnung an den Fahrer. Gemäß Her- auf, um den Fahrer hierüber zu informieren (siehe
stellerangaben unterstützt das System den Fahrer in . Abb. 50.4a). Eine Eskalation der Fahrerinforma-
komplexen Verkehrssituationen bei niedrigen Rela- tion z. B. bei Betätigung des Fahrtrichtungsanzei-
tivgeschwindigkeiten und entlastet ihn daher haupt- gers erfolgt nicht.
sächlich innerorts im Stadtverkehr und auf Stadt- Der Überwachungsbereich der Kameras beschränkt
autobahnen sowie auf mehrspurigen Landstraßen. sich auf einen 3 m breiten und 9,5 m langen Korri-
Der durch das System überwachte Bereich er- dor links und rechts neben dem eigenen Fahrzeug
streckt sich bis ungefähr 5 Meter hinter den hinte- (siehe . Abb. 50.4b). BLIS erfasst dabei alle Objekte,
ren Stoßfängern und bis 3,5 Meter seitlich neben die sich bis zu 70 km/h schneller bzw. 20 km/h lang-
das eigene Fahrzeug. Als Sensoren kommen vier samer als das eigene Fahrzeug bewegen.
Ultraschallsensoren zum Einsatz, die im vorderen Diese Kamera basierte Version des BLIS wurde
und hinteren Stoßfänger seitlich verbaut sind. Die von Volvo im Modelljahr 2005 eingeführt und an-
966 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

41
42
43
44
45
.. Abb. 50.3  „Toter Winkel Assistent“ von Citroën [3, 4]: a) Gelbe Leuchte hinter Spiegelglas des Außenspiegels, b) Prinzipdar-
46 stellung der Funktion

.. Abb. 50.4  Blind Spot


47 Information System (BLIS)
von Volvo [5]: a) Im Außen-

48 spiegel integrierte Kamera


und Lampe in der A-Säule,
b) Überwachungsbereich

49
50
51
52 schließend schrittweise in nahezu allen Volvo Pkw res Fahrzeug (Lkw, Pkw, Motorrad, Fahrrad, etc.)
angeboten. 2012 stellte Volvo das Radar basierte im Toten Winkel des Fahrzeuges befindet, wird der
Enhanced BLIS vom Typ III vor [6], das aktuell in Fahrer über eine gelbe, hinter dem Spiegelglas inte-
53 den Modellen S60, V40, V60 und XC60 erhältlich grierte Warnleuchte im Außenspiegel der betroffe-
ist. Das Kamera basierte BLIS wird aktuell in den nen Seite aktiv darauf hingewiesen (. Abb. 50.5a).
54 Modellen S80, V70, XC70 und XC90 angeboten. Im Das „Blind Spot Information System“ garantiert
V40 wir das System für 540,- € verkauft. In allen gemäß Ford durch eine erweiterte Sicht eine Stress-
55 anderen Modellen beträgt der Mehrpreis jeweils reduzierung für den Fahrer und somit eine erhöhte
620,- €. Sicherheit im Straßenverkehr. Die Aktivierungsge-
Volvo ist aktuell der einzige Fahrzeughersteller, schwindigkeit des Systems liegt bei 10 km/h.
56 der ein Kamera basiertes System zur Fahrstreifen- Die Radarsensoren sind seitlich am hinteren
wechselassistenz vertreibt. Stoßfänger platziert. Sie arbeitet im Frequenzbe-
57 reich bei 24 GHz. Mit mehreren ausgeprägten An-
tennenkeulen wird die Überwachung des Seitenbe-
50.4.3 „Blind Spot Information reiches vorgenommen und eine Winkelzuordnung
58 System“ von Ford der Objekte ermöglicht (. Abb. 50.5b). Auf der Fah-
rer- und Beifahrerseite wird ein Bereich überwacht,
59 Das „Blind Spot Information System“ von Ford der ca. 3 m breit ist und von den seitlichen Rück-
überwacht während der Fahrt automatisch den spiegeln bis ca. 3 m hinter das Fahrzeugheck reicht.
60 Toten Winkel neben dem Fahrzeug mit Hilfe von Gegenwärtig bietet Ford seinen Kunden in
Nahbereichsradarsensoren. Sobald sich ein ande- Deutschland das „Blind Spot Information System“
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
967 50

.. Abb. 50.5  „Blind Spot Information System“ von Ford: a) Gelbe Leuchte hinter Spiegelglas des Außenspiegels [7], b) Sichtbe-
reich des Radarsensors [8]

im Focus, Mondeo, C-Max, S-Max, Kuga und Ga- dauerhaft angezeigt. Eine erneute akustische Fahrer­
laxy als Zusatzausstattung Fahrzeug- und Varian- information erfolgt nicht.
tenabhängig für einen Mehrpreis zwischen 390,- Ignoriert der Fahrer dies und leitet einen Fahr-
und 675,- € an. streifenwechsel ein, indem er sein Fahrzeug in
Systeme mit ähnlicher Radarsensorik und Fah- Richtung des benachbarten, belegten Fahrstreifens
rerinformation werden aktuell von Jaguar, Jeep, lenkt, so besteht unmittelbare Kollisionsgefahr. Dies
Land Rover und Lexus angeboten. erkennt der Aktive Totwinkel-Assistent mit Hilfe ei-
ner Kamera zur Erkennung von Markierungslinien
sowie von vorne und hinten verbauten Radarsen-
50.4.4 „Aktiver Totwinkel-Assistent“ soren zur Erkennung anderer Verkehrsteilnehmer,
von Mercedes Benz und nimmt einen kurskorrigierenden Brems­eingriff
vor, der vom Fahrer aber jederzeit übersteuert wer-
Der „Aktive Totwinkel-Assistent“ von Mercedes den kann. Zusätzlich wird der Fahrer durch Doppel-
Benz überwacht den Toten Winkel des eigenen ton, dauerhaftes Blinken der roten Leuchten sowie
Fahrzeugs auf der Fahrer- und Beifahrerseite mit einer Anzeige im Multifunktionsdisplay gewarnt.
Hilfe von Nahbereichsradarsensoren. Diese senden Der kurskorrigierende Bremseingriff des Aktiven
breitbandig bei einer Mittenfrequenz von 24 GHz Totwinkel-Assistent steht in einem Geschwindig-
und sind von außen unsichtbar im Front- und keitsbereich zwischen 30 und 200 km/h zur Verfü-
Heckstoßfänger des Fahrzeugs integriert. gung. Bis zu einer Fahrzeuggeschwindigkeit von 30
Sobald ein Fahrzeug im überwachten Bereich km/h ist der Totwinkel-Assistent inaktiv, die Kon-
erkannt wird, erfolgt eine Information an den Fah- trollleuchten im linken und rechten Außenspiegel
rer durch ein rotes, dauerhaftes Leuchten der hinter leuchten dann gelb.
dem Spiegelglas des Außenspiegels nahezu unsicht- In . Abb. 50.6b ist der Erfassungsbereich der
bar verbauten optischen Anzeigen (. Abb. 50.6a). Sensoren dargestellt. Überwacht wird ein Bereich
Wird ein Fahrzeug im Totwinkel-Überwachungs- von ca. 3 m Breite, gemessen in einem Abstand
bereich erkannt, und hat der Fahrer den Fahrtrich- von der Fahrzeugseite von ca. 50  cm. Die Länge
tungsanzeiger aktiviert, so erfolgt ein Hinweis auf des überwachten Bereiches reicht von der Schulter-
eine drohende Kollision. Hierzu ertönt einmalig ein höhe des Fahrers bis ca. 3 m hinter den hinteren
Doppelton und die rote Leuchte blinkt. Bleibt der Stoßfänger.
Fahrtrichtungsanzeiger eingeschaltet, werden er- In bestimmten Ländern und in der Nähe von
kannte Fahrzeuge durch Blinken der roten Leuchte radioastronomischen Anlagen müssen die Radar-
968 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

41
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45
46 .. Abb. 50.6  „Totwinkel-Assistent“ von Mercedes-Benz [5]: a) Integration der Leuchte im Außenspiegel, b) Erfassungsbereich

47 sensoren des „Totwinkel-Assistenten“ ausgeschaltet Diese Informationssstufe 1 ist unterschwellig ausge-


werden. Dies ergibt sich aus der eingeschränkten legt, d. h. sie wird vom Fahrer nur bei direktem Blick
Funkzulassung breitbandig sendender 24  GHz- auf den Spiegel wahrgenommen. Hierdurch ist für
48 Radare für Automotive Anwendungen. den Fahrer die Funktion des Systems auch außerhalb
Basierend auf dem 2007 in der S-Klasse einge- einer Gefahrensituation ständig erlebbar, ohne dass
49 führten „Totwinkel-Assistent“ wurde der „Aktive er hierbei durch die Leuchte gestört oder abgelenkt
Totwinkel-Assistent“ mit kurskorrigierendem Brem- wird. Bestätigt der Fahrer den Fahrtrichtungsanzei-
50 seingriff erstmalig 2010 von Mercedes Benz vorge- ger, so wird die Informationsstufe 2 aktiviert. Hier-
stellt [10]. Aktuell bietet Mercedes dieses System in bei wird der Fahrer über eine Gefährdung bei einem
einem Paket zusammen mit anderen Fahrerassis- Fahrstreifenwechsel durch mehrmaliges, helles Blin-
51 tenzsystemen in der C-, CL-, GL-, GLK-, M-, S- und ken der Lampe informiert (. Abb. 50.7c,d). Bleibt der
SL-Klasse für einen Aufpreis von 2.677,50 € an. Als Fahrtrichtungsanzeiger dauerhaft gesetzt, so werden
52 separates System ist der „Totwinkel-Assistent“ ohne erkannte Fahrzeuge durch ein dauerhaftes Leuchten
kurskorrigierenden Bremseingriff für jeweils 535,50 der Lampe angezeigt; ein dauerhaftes Blinken erfolgt
€ in der A-, B-, C-, CLA-, CLS, E- und GLK-Klasse, nicht. Weitere Unterlagen zum HMI des „Audi Side
53 für 1.082,90 € in der G-Klasse und für 650,- € im SLS Assist“ finden sich unter [11].
AMG als Sonderausstattung zu bestellen. Der „Audi Side Assist“ basiert auf zwei schmal-
54 bandig sendenden 24 Ghz-Radarsensoren, die von
außen unsichtbar hinter der linken und rechten
50.4.5 „Audi Side Assist“/„Side
55 Assist„von VW
Ecke des Heckstoßfängers verbaut sind. Nach hin-
ten schauend besitzen diese Radarsensoren in der
neuesten Generation eine Reichweite von ca. 70 bis
56 Der „Audi Side Assist“ informiert den Fahrer so- 100 m. Hierdurch kann der Fahrer auch über Fahr-
wohl über Fahrzeuge im Toten Winkel als auch über zeuge rechtzeitig informiert werden, die sich schnell
57 Fahrzeuge, die sich von hinten schnell annähern. von hinten annähern. Der linke und rechte Seiten-
Diese Information erfolgt sowohl für die Fahrer- als bereich neben dem eigenen Fahrzeug wird jeweils
auch für die Beifahrerseite. durch eine ausgeprägte und gezielt „gezüchtete“ Ne-
58 Die Fahrerinformation erfolgt durch Leuchten, benkeule der Radarsensoren erfasst. Hierdurch kann
die in das Gehäuse des linken und rechten Außen- über Fahrzeuge im Toten Winkel informiert werden.
59 spiegels integriert sind. Erscheint der Fahrstreifen- Die aktuellen Systeme des „Audi Side Assist“ können
wechsel aufgrund des vom System wahrgenommenen oberhalb einer Fahrgeschwindigkeit von 30 km/h
60 Umfelds auf einer Seite als potentiell gefährlich, dann voll genutzt werden. Weitere Unterlagen zum „Audi
leuchtet die jeweilige Lampe auf (. Abb. 50.7a,b). Side Assist“ finden sich unter [12].
50.4 • Beispielhafte Umsetzungen
969 50
.. Abb. 50.7  „Audi Side
Assist“ [13]: a) und c) Er-
fassungsbereich; b) und d)
Integration der Leuchte im
Gehäuse des Außenspie-
gels; a) und b) Dauerleuch-
ten der gelben Anzeige,
wenn Fahrstreifenwechsel
kritisch; c) und d) kurzzei-
tiges, helles Blinken der
gelben Anzeige, wenn
Fahrtrichtungsanzeiger
gesetzt und Fahrstreifen-
wechsel kritisch

Die Radarsensoren des „Audi Side Assist“ ar- wärtigem Verkehr den Fahrstreifen zu wechseln, so
beiten als sog. Schmalband-Systeme innerhalb der erfolgt ein Lenkeingriff ergänzt durch eine leichte
Vorgaben des ISM-Bandes zwischen 24,000 GHz Vibration des Lenkrades sowie durch das Blinken
und 24,250 GHz. Ihre Sendeleistung von maxi- der Leuchten in den Außenspiegeln. Der Lenkein-
mal 20 dBm EIRP ist konform zur Europäischen griff kann hierbei jederzeit vom Fahrer übersteuert
Norm EN 300 440. Eine spezielle Modifikation werden.
der Funkzulassungsvorschriften ist für diese Ra- Der Ersteinsatz des „Side Assist Plus“ erfolgte
darsensoren nicht erforderlich. Sie unterliegen 2011 im Passat. Im Paket mit dem „Lane Assist“
nicht den Restriktionen von breitbandig senden- beträgt der Mehrpreis für das als Zusatzausstattung
den 24 GHz-Radaren und müssen in der Nähe angebotene System bei CC und Passat 1.100,-  €.
von radioastronomischen Anlagen nicht abge- Ohne aktiven Lenkeingriff wird der „Side Assist“
schaltet werden. in diesen Fahrzeugen für 550,- € offeriert. In Toua-
Der „Audi Side Assist“ wurde erstmalig 2005 im reg bzw. Phaeton beträgt der Preis des „Side Assist“
Audi Q7 angeboten. Heute ist das System in nahezu 605,- € bzw. 610,- €.
allen Audi-Fahrzeugen erhältlich. Der Mehrpreis Diese Kombination eines Typ III Systems mit
für das als Zusatzausstattung angebotene System einer dreistufigen Fahrerinformation ist bislang ein-
beträgt aktuell 500,- € im Audi A3, A6, A7 und malig und wird aktuell von keinem anderen Fahr-
Q3, 550,- € im Audi A4, RS4, A5, und Q5, 600,- € zeughersteller angeboten.
im Audi Q7 bzw. 800,- € im Audi A8 im Paket mit
„Audi pre sense rear“.
Mit dem „Audi Side Assist“ eng verwandte Sys- 50.4.7 Nutzfahrzeuge
teme kommen bei Porsche und VW zum Einsatz.
Ähnliche Sensoren wie bei Audi werden bei BMW, Bei den leichten Nutzfahrzeugen haben Fahrstrei-
Mazda und Volvo eingesetzt. fenwechsel-Assistenten bereits Einzug gehalten.
VW Nutzfahrzeuge bietet z.  B. den „Side Assist“
in den Modellen Caravelle, Multivan, California
50.4.6 „Side Assist Plus“ von VW und Transporter in einem Paket zusammen mit
anderen Ausstattungen an. Die Preise liegen hier-
Der „Side Assist Plus“ erweitert die Funktion des bei zwischen 952,- € und 1.154,- €. Mercedes bietet
„Side Assist“ von VW mit Hilfe eines Kamera ba- seinen „Totwinkel-Assistent“ im Sprinter in einem
sierten Systems zur Querführungsassistenz (Lane Ausstattungspaket für 1.178,- € an.
Assist). Die wesentliche Neuerung des „Side Assist Bei schweren Nutzfahrzeugen sind Fahrstrei-
Plus“ ist die dritte Warnstufe: Erkennt das System fenwechsel-Assistenten zurzeit kaum verbreitet,
beispielsweise die Absicht des Fahrers, trotz rück- obwohl es bei diesen im Vergleich zu Pkw deutlich
970 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

41
42
43
44
45
46
47
48 .. Abb. 50.8  : „Spurwechselunterstützung“ von Volvo Trucks [14]: a) LED-Anzeige im Bereich der Haltestange bzw. A-Säule, b)
Überwachter Bereich auf der Beifahrerseite

49 größere, schwer einsehbare Bereiche gibt. Ursache Gegenwärtig gibt es kein Seriensystem für
hierfür ist wohl die besondere Anforderung schwe- schwere Nutzfahrzeuge, das den gesamten Sei-
50 rer Nutzfahrzeugen, die Sensoren möglichst nur an tenbereich links und rechts neben dem Sattel-
der Zugmaschine zu verbauen, damit nach einem zug vollständig überwacht. Die exemplarische
Wechsel des Sattelaufliegers das System weiterhin Umsetzung eines solchen Systems ist jedoch von
51 funktionsfähig bleibt. Folglich müssen die Sensoren SCANIA im Rahmen eines Forschungsprojektes
vorzugsweise an der Zugmaschine montiert sein. realisiert worden [15, 16]. Dort werden beide Sei-
52 Dort müssen sie eine Position einnehmen, die eine tenbereiche vollständig überwacht, indem jeweils
direkte Sicht auf den zu überwachenden Seitenbe- auf der rechten und linken Lastzugseite neben
reich erlaubt. Ferner ist festzuhalten, dass es aktuell einem Radarsensor im Seitenbereich der Kabine
53 keine Norm für derartige Systeme im Segment der ein zusätzlicher Radarsensor im Außenspiegel
schweren Nutzfahrzeuge gibt. verbaut worden ist (. Abb. 50.9a). Die rückwärts
54 Nichtsdestotrotz existieren erste Systeme, die gerichteten Sensoren in den Außenspiegeln weisen
Teile des Seitenbereichs abdecken: Unter der Be- einen schmalen Öffnungswinkel auf, um eine hohe
55 zeichnung „Spurwechselunterstützung“ bietet ak- Reichweite bei gleicher Sendeleistung zu ermög-
tuell ausschließlich Volvo ein System für Lkw an, lichen. Die seitlich schauenden Radare arbeiten
das den Toten Winkel auf der Beifahrerseite über- hingegen mit einem sehr großen Öffnungswinkel
56 wacht (. Abb. 50.8b). Hierzu nutzt Volvo einen (. Abb. 50.9 Mitte).
24 GHz-Radarsensor mit großem Öffnungswinkel, Ein zonenbasiertes Warnkonzept unterstützt
57 der über dem Radhaus und unter dem Stauraum den Fahrer beim Einschätzen der Position ande-
auf der Beifahrerseite verbaut ist. Das System in- rer Fahrzeuge in dem auch über Zuhilfenahme
formiert den Fahrer über eine Leuchte in der A- der Außenspiegel nur schwer einsehbaren Sei-
58 Säule der Beifahrerseite (. Abb. 50.8a), wenn der tenbereich neben dem Sattelzug. Hierzu wurden
überwachte Bereich belegt ist, die Geschwindigkeit insgesamt drei Zonen definiert, die jeweils einer
59 mehr als 35 km/h beträgt und der Fahrtrichtungs- LED-Anzeige im Spiegel bzw. der A-Säule zugeord-
anzeiger betätigt wurde. Wahlweise kann vom Fah- net sind (. Abb. 50.9). Somit ist der Fahrer immer
60 rer ein zusätzliches akustisches Signal ausgewählt informiert, in welcher der drei Zonen sich gerade
werden. andere Verkehrsteilnehmer aufhalten.
50.5 • Systembewertung
971 50

In dem Prototyp wurde ein dreistufiges Infor-


mationskonzept umgesetzt: Die Informationsstufe 1
erfolgt unterschwellig mit Hilfe der LED-Leuchten.
Bei Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers trotz
belegtem Seitenbereich wird die Informationsstufe
2 aktiviert. Initiiert der Fahrer trotzdem ein Fahr-
streifenwechselmanöver, dann wird die Intensität
der LED-Leuchten weiter erhöht, und es erfolgt ein
Eingriff in die Querführung mit einem so dosierten
Lenkmoment, dass einerseits das Fahrzeug in den
Ego-Fahrstreifen zurückgeführt wird, anderseits
aber der Lenkeingriff jederzeit vom Fahrer über-
steuert werden kann.

50.5 Systembewertung

Die Leistungsfähigkeit von Fahrstreifenwechselas-


sistenzsystemen wird maßgeblich durch die Aus-
.. Abb. 50.9  : Prototyp von Scania: a) Spiegel mit zusätzli-
wahl der Umfeldsensoren bestimmt. Radarsensoren
chem Radarsensor, b) Zonenbasiertes Warnkonzept durch 3
der Klasse B, die den Nachbarfahrstreifen sowohl LED-Leuchten [15]
neben als auch bis zu 100 m hinter dem eigenen
Fahrzeug einsehen können, ermöglichen die Erfas- diese auch bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten
sung fremder Fahrzeuge sowohl im Toten Winkel als z.B. im Stop & Go-Verkehr in der Stadt oder auf
auch bei schneller Annäherung von hinten (Typ-III- der Autobahn zur Verfügung stehen. Im Vergleichs-
System). Radarsensoren der Klasse A sowie Kamera test der Auto-Bild führte dies jedoch nicht zu einer
und Ultraschall basierte Systeme können hingegen höheren Platzierung der Typ-I-Systeme gegenüber
nur fremde Fahrzeuge im Toten Winkel des eigenen den Typ-III-Systemen. Auch die Unfallstatistik aus
Fahrzeugs erfassen (Typ I System). Der Kundennut- . Abb. 50.1 lässt vermuten, dass größere Sensor-
zen von Typ-III-Systemen ist folglich höher als der reichweiten gegenüber sehr niedrigen Aktivierungs-
von Typ I Systemen. Zu dieser Erkenntnis gelangt geschwindigkeiten zu bevorzugen sind.
auch ein Vergleichstest der Auto-Bild [17]. Alle vor- Der Kundennutzen der kostengünstigen auf
deren Plätze werden von Typ-III-Systemen belegt Ultraschall basierenden Systeme wird weiterhin
mit Bewertungen von 14,0 bis 17,5 von 20 mögli- dadurch eingeschränkt, dass diese lediglich bis zu
chen Punkten. Die Bewertung der Typ-I-Systeme einer Fahrzeug-Eigengeschwindigkeit von ca. 130
lag zwischen 8,0 und 10,5 Punkten. km/h zur Verfügung stehen.
Anzunehmen ist, dass Radar-basierte Systeme Weiterhin wird der Kundennutzen maßgeblich
eine höhere Verfügbarkeit und Robustheit aufwei- durch die Art und Weise der Fahrerinformation
sen als Kamera oder Ultraschall basierten Systeme. bestimmt. Diese sollte unaufdringlich und eher un-
Bei Schlechtwetterbedingungen wie Regen, Gischt terschwellig ausgelegt sein, solange der Fahrer bei
oder Nebel können andere Verkehrsteilnehmer zu- belegtem Nachbarfahrstreifen keinen Fahrstreifen-
verlässiger detektiert werden. wechsel beabsichtigt bzw. andeutet. Tut er dieses,
Die Aktivierungsgeschwindigkeiten von Ultra- so sollte die Fahrerinformation intensiviert werden.
schall-, Kamera- und Radar- (Klasse A) basierten Dieses Kriterium kann Prinzip bedingt nur von Sys-
Systemen vom Typ I liegt meist bei 10 km/h. Die temen mit zwei- oder dreistufiger Fahrerinforma-
Radar (Klasse B) basierten Typ-III-Systeme weisen tion erfüllt werden. Aktuelle Systeme mit einstufiger
meist eine Aktivierungsgeschwindigkeit von 30 Fahrerinformation sind hingegen auf eine unter-
km/h auf. Dies ist ein Vorteil der Typ-I-Systeme, da schwellige Anzeige beschränkt. Wohl auch deshalb
972 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

wurde im Vergleichstest der Auto-Bild für alle Typ Dies kann durch einen kurskorrigierenden Brems-
41 I Systeme die schlechte Wahrnehmbarkeit der Stufe eingriff erfolgen, wobei durch das gezielte Anbrem-
1 Fahrerinformation kritisiert. sen einzelner Räder ein Moment so aufgebracht
42 Zur Fahrerinformation der Stufe 1 haben sich wird, dass das Ego-Fahrzeug in die alte Fahrspur
mittlerweile Leuchten in oder in der Nähe der zurückgeführt wird (Mercedes, Infiniti), oder über
Außenspiegel etabliert. Der Einbauort der Leuch- einen Lenkeingriff mittels elektromechanischem
43 ten variiert fahrzeugherstellerspezifisch zwischen Lenksystem (VW). Als vorteilhaft ist hier das Ab-
A-Säule (Volvo), Spiegeldreieck (Infiniti, Mazda), wenden einer unmittelbaren Gefahrensituation zu
44 Spiegelgehäuse des Außenspiegels (Audi, BMW, nennen. Nachteilig ist jedoch, dass zur technischen
Porsche, VW) und äußerem Rand des Spiegelglases Realisierung eines solchen Systems immer auch ein
45 (Citroën, Ford, GM, Jaguar, Jeep, Land Rover, Mer- zusätzlicher Sensor zur Fahrstreifenerkennung er-
cedes, Opel). Auch die Detailausprägung der opti- forderlich ist, wodurch sich die Systemkosten in der
schen Anzeige variiert fahrzeugherstellerspezifisch Regel mindestens verdoppeln. Dies wurde auch im
46 zwischen roten und gelben optischen Anzeigen, die Vergleichstest der Auto-Bild bemängelt.
als leuchtende Punkte, Piktogramme oder Flächen Systeme zur Fahrstreifenwechselassistenz sind
47 ausgeführt sind. Durch Position, Größe, Helligkeit bei schweren Nutzfahrzeugen aktuell kaum verbrei-
und Farbe der Leuchten versuchen die Fahrzeug- tet. Bei der Systemauslegung müssen sicherlich die
hersteller letztendlich die Wahrnehmbarkeit der spezifischen Anforderungen der Lkw-Branche be-
48 Stufe 1 Fahrerinformation herzustellen, die sie rücksichtigt werden. Die grundsätzlichen Kriterien
für ihr jeweiliges System als angemessen erachten. zur Auslegung von Sensorik und Fahrerinformation
49 Punktförmige Leuchten oder Piktogramme, die hin- sind aber wahrscheinlich ähnlich wie bei Pkw.
ter dem Spiegelglas des Außenspiegels integrierten
50 sind, wurden im Auto-Bild Vergleichstest als „zu
50.6 Erreichte Leistungsfähigkeit
schwach“, „nur schwer zu erfassen“ oder „eher mä-
ßig erkennbar“ kritisiert. Zudem wurde befürchtet,
51 dass sie bei hellem Hintergrund nicht sichtbar oder Die Leistungsfähigkeit der zuvor beschriebenen
durch Scheinwerfer anderer Fahrzeuge überstrahlt Fahrstreifenwechselassistenten ist bereits beachtlich.
52 werden können. Lobend erwähnt wurden jeweils All diese Systeme haben aber ihre Grenzen, auf wel-
große Leuchten mit einer vom Fahrer einstellbaren che der Fahrer von den Fahrzeugherstellern u. a. in
Helligkeit. der Bedienungsanleitung aufmerksam gemacht wird.
53 Auch für die Fahrerinformation der Stufe 2 ha- Unisono weisen nahezu alle Fahrzeugherstel-
ben sich die Leuchten in bzw. in der Nähe der Au- ler darauf hin, dass ihr System nur ein Hilfsmittel
54 ßenspiegel etabliert. Nahezu alle Fahrzeughersteller, ist, möglicherweise nicht alle Fahrzeuge erkennt
die ein zweistufiges System anbieten, informieren und die Aufmerksamkeit des Fahrers nicht erset-
55 den Fahrer durch ein helles, mehrmaliges Blinken zen kann. Weiterhin weisen alle Fahrzeughersteller
dieser Leuchten. Bei einigen Fahrzeugherstellern darauf hin, dass bei verschmutzten Sensoren oder
erfolgt zusätzlich ein Warnton (Mazda, Mercedes) widrigen Witterungsbedingungen wie z. B. Regen,
56 oder eine Lenkradvibration (BMW). Ob es sinnvoll Schnee oder starker Gischt Fahrzeuge unzurei-
ist, in der zweiten Stufe neben einer optischen auch chend oder unter Umständen gar nicht erkannt
57 eine akustische oder haptische Fahrerinformation werden.
auszugeben, darüber lässt sich unter Experten si- Bei Fahrzeugen mit im Heckstoßfänger verbau-
cherlich vortrefflich diskutieren. Der erhöhte Kun- ten 24 GHz-Radaren sind die Systeme nicht nutz-
58 dennutzen einer mehrstufigen Fahrerinformation bar, wenn der Sichtbereich der Sensoren durch z. B.
ist dagegen offensichtlich. Fahrradträger, Anhänger oder Aufkleber verdeckt
59 Wesentliches Merkmal der Fahrerinformation wird.
in der Stufe 3 ist ein Eingriff in die Querführung Beim „Audi Side Assist“ und beim „Side Assist“
60 des Fahrzeugs, sobald dieses beginnt, auf den Nach- von VW wird darauf hingewiesen, dass der Fahrer
barfahrstreifen zu fahren, obgleich dieser belegt ist. über Fahrzeuge mit sehr hoher Annäherungsge-
50.7 • Literatur
973 50

schwindigkeit nicht rechtzeitig informiert werden Fahrstreifen werden aktuell meist rein Kamera-ba-
kann. In engen Kurven mit Radien unterhalb von sierte Systeme verwendet. Diese unterliegt diversen
200 m erfolgt keine Fahrerinformation. Einschränkungen, die Verfügbarkeit und Robustheit
Weiterhin kann es zu Fehlern bei der Fahr- des Systems beeinträchtigen.
streifenzuordnung kommen, da die Breite der be- Wünschenswert ist daher die Erstellung eines
nachbarten Fahrstreifen nicht gemessen sondern Fahrbahnmodells, das sich zusätzlich zu den Mess-
geschätzt wird. So wird darauf hingewiesen, dass daten der Kamera auch auf die Messdaten andere
bei sehr breiten Fahrstreifen in Kombination mit Sensoren abstützt. So können zur Stützung des
einer Fahrweise, bei der die Fahrzeuge jeweils am Fahrbahnmodells neben dem Verlauf der Markie-
äußeren Rand ihres Fahrstreifens fahren, die Infor- rungslinien auch andere Merkmale wie z.B. der
mation über Fahrzeuge auf dem Nachbarstreifen Verlauf von Leitplanken, der Verlauf des Übergangs
möglicherweise unterbleibt. Bei engen Fahrstreifen zwischen Asphalt und Grünstreifen, die Fahrweise
in Kombination mit einer Fahrweise, bei der die anderer Fahrzeuge sowie Kartendaten mit z.B. An-
Fahrzeuge jeweils am inneren Rand ihres Fahrstrei- gabe von Krümmung, Anzahl und Breite von Fahr-
fens fahren, kann es möglicherweise zu unnötigen streifen herangezogen werden.
Fahrerinformationen über Fahrzeuge auf dem über- Momentan helfen Fahrstreifenwechselassisten-
nächsten Fahrstreifen kommen. ten dem Fahrer nur bei der Entscheidung, ob ein
Diese Fehler bei der Fahrstreifenzuordnung Fahrstreifenwechsel möglich ist oder nicht; der
können durch eine Ergänzung mit Systemen zur Fahrstreifenwechsel selbst muss vom Fahrer allein
Fahrstreifenerkennung teilweise vermieden wer- durchgeführt werden. Mithilfe von Sensoren, wel-
den. Aber auch die meist Kamera basierte Fahr- che den gesamten Nachbarfahrstreifen vor, neben
streifenerkennung unterliegt aktuell vielen Ein- und hinter dem eigenen Fahrzeug erfassen, dem
schränkungen wie z.B. dem Vorhandensein von oben beschriebenen Fahrbahnmodell inklusive
Markierungslinien sowie deren Sichtbarkeit, die verbesserter Odometrieschätzung in Kombination
durch Verschmutzung der Fahrbahn oder des Sen- mit einer elektronisch ansteuerbaren Lenkaktorik
sors sowie durch z.B. Nebel und Starkregen ver- könnte auch dieser Schritt assistiert werden; durch
schlechtert werden kann. geeignete Lenkmomente könnte die Querführung
Somit zeigt sich, dass die oben beschriebenen während eines Ein- oder Ausschermanövers unter-
Fahrstreifenwechsel-Assistenzsysteme aus reiner stützt [18] oder sogar automatisiert werden.
Nutzerperspektive weiter verbessert werden könnten.

Literatur
50.7 Weiterentwicklungen
[1] Unfalldatenbank der Volkswagen Unfallforschung und der
GIDAS (German In‐Depth Accident Study)
Eine Verbesserung der Systemfunktionalität von
[2] ISO‐Norm 17387, “Lane Change Decision Aid System”
Fahrstreifenwechselassistenten kann durch eine [3] Heise Online: Der neue Citroën DS4: Bilder und Details
Leistungssteigerung der Umfeldsensoren erzielt (2010). http://www.heise.de/autos/artikel/Der-neue-Cit-
werden, indem z. B. Sensorreichweiten erhöht und roen-DS4-Bilder-und-Details-1069445.html, Zugegriffen:
der Geschwindigkeitsbereich, in welchem die Sen- 9.9.2013
[4] Citroën Homepage: Fahrerassistenzsysteme. http://www.
soren zuverlässig betrieben werden können, erwei-
citroen.de/technologien/toter-winkel-assistent.html#/
tert wird. technologie/fahrassistenzsysteme/toter-winkel-assistent/,
Wie in ▶ Abschn. 50.6 geschildert kann es auf- Zugegriffen: 9.9.2013
grund der fehlerhaften Fahrstreifenzuordnung [5] Internet Magazin Gizmag, Volvo Launches Blind Spot Infor-
fremder Fahrzeuge zu überflüssigen oder ausblei- mation System (BLIS), http://www.gizmag.com/go/2937/,
Zugriff am 11.7.2008
benden Fahrerinformationen kommen. Dies kann
[6] Volvocars homepage: The All‐New Volvo V40‐the most
vermieden werden, wenn das System neben der IntelliSafe Volvo ever, http://m.volvocars.com/za/mobile/
Position des Zielfahrzeuges auch die Position der Pages/News.aspx?itemId=63, Zugriff am 9.9.2013
Nachbarfahrstreifen erkennt. Zur Detektion von
974 Kapitel 50 • Fahrstreifenwechselassistenz

[7] IndianCarsBikes: Blind spots? Call Ford For Help, http://


41 www.indiancarsbikes.in/automotive-technology/ford-
blind-spot-information-system-2010-uk-cars-s-max-ga-
laxy-7751/, Zugriff am 9.9.2013
42 [8] prova Galerie: Jaguar Toter‐Winkel‐Überwachung: Das
Auto blickt zurück, http://www.prova.de/archiv/2007/00-
artikel/0141-jaguar-toter-winkel/index.shtml, Zugriff am
43 9.9.2013
[9] Heise Online, Mercedes: Neuer Totwinkel‐Assistent, http://
www.heise.de/autos/S-und-CL-Klasse-Neuer-Totwinkel-
44 Assistent-fuer-mehr-Sicherheit-beim-Spurwechsel--/
artikel/s/4517, Zugriff am 9.9.2013

45 [10] Daimler Homepage: Neue Fahrer‐Assistenzsysteme – Pre-


miere: Aktiver Totwinkel‐Assistent und Aktiver Spurhalte‐
Assistent mit Bremseingriff, http://media.daimler.com/

46 dcmedia/0-921-658892-49-1298797-1-0-0-0-0-1-11702-
1549054-0-1-0-0-0-0-0.html, Zugriff am 9.9.2013
[11] Vukotich, A.; Popken, M.; Rosenow, A.; Lübcke, M.: Fahreras-
47 sistenzsysteme, Sonderausgabe von ATZ und MTZ, S. 170
– 173, 2, (2008)
[12] Popken, M.: Audi Side Assist. Hanser Automotive electro-
48 nics + systems 7–8, 54–56 (2006)
[13] Bedienungsanleitung des Audi Q7 und VW Touareg
[14] Volvo Produktinformation zu Spurwechselunterstützung
49 LCS, http://productinfo.vtc.volvo.se/files/pdf/hi/LCS_
Ger_02_880763.pdf, Zugriff am 9.9.2013
[15] Degerman, P.; Ah‐King, J.; Nyström, T.; Meinecke, M.‐M.;
50 Steinmeyer, S.: Targeting lane‐change accidents for heavy
vehicles, VDI/VW‐Tagung Fahrerassistenz und Integrierte
Sicherheit, Wolfsburg, (2012).
51 [16] Meinecke, M.‐M.; Steinmeyer, S.; Ah‐King, J.; Degerman, P.;
Nyström, T.; Deeg, C.; Mende, R.: Experiences with a radar‐
based side assist for heavy vehicles, International Radar
52 Symposium, Dresden, (2013).
[17] Auto‐Bild, Heft 11/2013: Was taugen Totwinkelwarner?

53 Siehe auch http://www.autobild.de/artikel/assistenzsys-


teme-test-3920250.html, Zugriff am 9.9.2013
[18] Habenicht, S.: Entwicklung und Evaluation eines manö-

54 verbasierten Fahrstreifenwechselassistenten, Dissertati-


onsschrift, TU Darmstadt, (2012)

55
56
57
58
59
60
975 51

Kreuzungsassistenz
Mark Mages 1, Alexander Stoff, Felix Klanner

51.1 Unfallgeschehen an Kreuzungen   –  976


51.2 Kreuzungsassistenzsysteme – 976
51.3 Situationsbewertung – 984
51.4 Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien  –  986
51.5 Herausforderungen bei der Umsetzung  –  990
Literatur – 993

1 Der Beitrag zu dieser Veröffentlichung wurde während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitar-
beiter am Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Darmstadt erarbeitet.

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_51, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
976 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

51.1 Unfallgeschehen 51.2 Kreuzungsassistenzsysteme


1 an Kreuzungen
Bei der Annäherung an eine Kreuzung wirken viele
2 Eine der Hauptunfallursachen im Straßenverkehr Informationen auf den Fahrer ein. Auf Grundlage
ist das Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern im dieser Informationen fällt der Fahrer die Entschei-
Bereich von Kreuzungen und Einmündungen. So dung einer Kreuzungsdurchfahrt. Zu einer kri-
3 ereigneten sich im Jahr 2012 etwa 42 % aller Unfälle tischen Situation, d. h. einer Situation mit hoher
mit schwerem Sachschaden, 37 % aller Unfälle mit Kollisionsgefahr, kommt es, wenn der Fahrer nicht
4 Personenschaden und 19 % aller Unfälle mit To- mehr in der Lage ist, diese Informationen richtig
desfolge bei den kreuzungsrelevanten Unfalltypen aufzunehmen und auszuwerten. Um dies zu ver-
5 Abbiegen (Unfalltyp 2 gemäß [1]) bzw. Einbiegen/ meiden, ist es erforderlich, den Fahrer durch vor-
Kreuzen (Unfalltyp 3) [2]. Daher stand und steht die ausschauende Assistenzsysteme sowohl bei der Si-
Kreuzung aus verkehrs- und sicherheitstechnischer tuationsinterpretation als auch bei der Vermeidung
6 Sicht im Fokus der Forschung. potenzieller Kollisionen zu unterstützen.
Auf Basis detaillierter Unfalldatenbanken – wie Eine Herausforderung für die Kreuzungsassis-
7 beispielsweise der GIDAS-Datenbank – lassen sich tenz besteht in der großen Anzahl von möglichen
über gezielte Fallanalysen wesentliche Ursachen für kritischen Situationen, die zu Unfällen führen kön-
Unfälle im Kreuzungsbereich finden. Die haupt- nen. Diese lassen sich – wie in . Abb. 51.1 darge-
8 sächlichen Fehler sind hierbei [3, 4]: stellt – nach Unfalltyp und vorliegender Verkehrs-
a) Fehlinterpretation, d. h. die Situation an sich regelung unterteilen. Entsprechend adressieren die
9 wurde wahrgenommen, jedoch falsch inter- im Folgenden vorgestellten Assistenzsysteme diese
pretiert: Ein typisches Beispiel hierfür ist die Kategorien. Die unterschiedlichen Systeme und
10 Fehleinschätzung der Geschwindigkeiten vor- zugehörige, potenzielle Assistenzstrategien veran-
fahrtsberechtigter Fahrzeuge bzw. der Verkehrs-
regelung.
-
schaulicht . Abb. 51.2
oben: Stop-Schild Assistenz (gestaffelt in Infor-

-
51 b) Unaufmerksamkeit, d. h. Ablenkung von der mation und Warnung),
eigentlichen Fahraufgabe, welche zu stark ver- Mitte: Querverkehrsassistenz an Vorfahrt Ach-
12 längerten Reaktionszeiten führt: Ein typisches
Beispiel ist die Bedienung des Autoradios.
- ten (gestaffelt in Information und Warnung),
links unten: Ampelassistenz mit Geschwindig-
13
14
c) Mangelnde Berücksichtigung möglicher Sicht-
behinderungen an einer Kreuzung: Fahrzeug-
bezogen wirkt häufig die A-Säule behindernd,
hinter der insbesondere Zweiräder leicht ver-
- keitsempfehlung,
rechts: Linksabbiegeassistenz.

deckt werden, während äußere Sichthindernisse 51.2.1 STOP-Schild-Assistenz


15 typischerweise parkende Fahrzeuge oder an die
Kreuzung heranreichende Bauwerke oder Be- Als STOP-Schild-Assistenz wird im Folgenden die
pflanzung (dauerhaft), aber auch entgegenkom- Unterstützung des Fahrers bei der Annäherung an
16 mende Linksabbieger (temporär) sein können. eine Kreuzung zur Vermeidung des versehentli-
chen Überfahrens eines STOP-Schildes (Zeichen
17 Innerhalb der Kreuzungsunfälle gibt es unterschied- 206 StVO – Halt! Vorfahrt gewähren!) verstanden.
liche Verteilungen hinsichtlich der Unfallhäufigkeit Nach dem vorschriftsmäßigen Anhalten an der
bei bestimmten Verkehrsregelungen und der resul- Halte- bzw. Sichtlinie begangene Vorfahrtsmissach-
18 tierenden Unfallschwere, wie in . Abb. 51.1 darge- tungen sind keine spezifischen STOP-Schild-Situa-
stellt. tionen, sie sind vielmehr den Verkehrssituationen
19 beim Einbiegen/Kreuzen zuzuordnen. Auf diese
wird im Rahmen der Einbiegen-/Kreuzen-Systeme
20 (▶ Abschn. 51.2.3) eingegangen. An dieser Stelle sei
allerdings darauf hingewiesen, dass eine nachträg-
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
977 51
.. Abb. 51.1 Unfallge-
schehen im Kreuzungsbe-
reich [5]

.. Abb. 51.2  Übersicht der Kreuzungsassistenzsysteme

liche Unterscheidung z. B. zum Zwecke der Erfas- Haltelinie vorgegeben. Verglichen mit den von an-
sung in Unfalldatenbanken nicht immer eindeutig deren betrachteten Assistenzansätzen adressierten
ist, weshalb die Zuordnung in Unfallstatistiken nur Verkehrssituationen weist dieses Kreuzungsszenario
teilweise (beispielsweise aufgrund einer Unfallre- daher die geringste Komplexität auf.
konstruktion) möglich ist. In [6] wird die Kombination aus Informa-
Ein isoliertes System zur STOP-Schild-Assistenz tion und Warnung als Eingriffsstrategie eines
erfordert streng genommen keine Berücksichtigung STOP-Schild-Assistenten vorgeschlagen, da sie ei-
anderer Verkehrsteilnehmer, da das Haltegebot ge- nen geeigneten Kompromiss zwischen zu erwarten-
mäß StVO ungeachtet eventueller vorfahrtsberech- der Wirksamkeit und erforderlicher Erkennungs-
tigter Fahrzeuge immer Bestand hat; im Gegensatz sicherheit darstellt und darüber hinaus für den
zu Lichtsignalanlagen unterliegt dieses Gebot zu- aufmerksamen und angemessen agierenden Fahrer
dem keiner zyklischen Änderung. Zusätzlich wird keine unnötigen Systemausgaben generiert. Für die
im Gegensatz z. B. zum Linksabbiegen die Hal- Mensch-Maschine-Schnittstelle bietet sich hier u. a.
teposition des Fahrzeugs durch eine obligatorische die Nutzung des Head-up-Displays (HUD) an, da
978 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

dadurch der Fahrer sowohl die relevante Umgebung einbiegt oder kreuzt“ (amtliche Unfallart 5), und bis
1 als auch die Assistenz ohne anstrengende Akkom- zu einem weiteren Viertel aller Unfälle durch einen
modation wahrnehmen kann. Zusammenstoß mit einem Fahrzeug, „das voraus-
2 Wie bei allen warnenden Systemen ergibt sich fährt oder wartet“ (amtliche Unfallart 2), geschehen
auch für einen warnenden STOP-Schild-Assistenten [5]. Während erstere Kollisionen („Querverkehrs-
die Notwendigkeit, dass der als Warndilemma be- unfall“) hauptsächlich durch eine Rotlichtmissach-
3 zeichnete Zielkonflikt zwischen rechtzeitiger War- tung verursacht werden, passieren letztere („Auf-
nung und Quote der zu erwartenden Falschwarnun- fahrunfall“) überwiegend durch unterschiedliche
4 gen beherrschbar ist. Wesentliche Herausforderung Interpretation der Fahrtmöglichkeiten bei Phasen-
in der Umsetzung eines STOP-Schild-Assistenten wechseln (insbesondere von Grün auf Gelb). Es ist
5 ist demnach – abgesehen von der Sensorik – die ein bekanntes Ziel, mittels verschiedener Maßnah-
rechtzeitige Erkennung, dass der Fahrer nicht die men Rotlichtmissachtungen und damit Unfälle zu
Absicht hat, vor Einfahren in die Kreuzung an der vermeiden. Jedoch hat sich teilweise gezeigt, dass
6 Haltelinie anzuhalten. beispielsweise durch Rotlichtblitzer eine Verringe-
Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich rung der Querverkehrsunfälle mit einer Erhöhung
7 aus dem im realen Straßenverkehr häufig anzutref- der Auffahrunfälle erkauft wurde [7].
fenden Fahrverhalten an STOP-Schildern. Während Sowohl aus Gründen der Verkehrssicherheit als
gemäß StVO immer ein vollständiger Fahrzeugstill- auch des Verkehrsflusses bieten Lichtsignalanlagen
8 stand vorgeschrieben ist, wird dieses Gebot erfah- Potenzial für verschiedene unterstützende Maßnah-

9
10
rungsgemäß von einem Teil der Fahrer in der Pra-
xis großzügig ausgelegt. Die Geschwindigkeit wird,
wenn es der Verkehr auf der vorfahrtsberechtigten
Straße zulässt, nur reduziert und auf den Fahr-
-
men:
Assistenz ohne Infrastrukturmaßnahmen:
Um die Kritikalität des plötzlichen Phasen-
wechsels von Grün auf Gelb zu entschärfen,
zeugstillstand wird bewusst verzichtet: Dies würde wird praktisch eine zusätzliche kurze Phase in
zu einer Vielzahl verkehrsrechtlich richtiger, aber den Zyklus eingefügt. Bereits in der DDR gab
51 sicherheitstechnisch zunächst nicht erforderlicher es beispielsweise eine grün-gelbe, in Österreich
Warnungen führen. Die Vermeidung dieser unnö- gibt es weiterhin eine grün blinkende Zwi-
12 tigen und potenziell störenden Warnungen bedingt schenphase; dem Fahrer wird dadurch mehr
daher zusätzlich eine Unterscheidung zwischen Zeit für das Fällen der richtigen Entscheidung
versehentlicher und vorsätzlicher STOP-Schild- – Anhalten oder Durchfahren – gegeben. Da-
13 Überfahrt, andernfalls ist ein negativer Einfluss auf mit kann die Problematik der Auffahrunfälle
die Akzeptanz durch den Fahrer zu erwarten. Es adressiert werden, die der Rotlichtüberfahrt
14 ist zudem nicht davon auszugehen, dass eine War- jedoch weniger. Zudem wird der Fahrzeug-
nung oder gar eine Notbremsung zur Vermeidung durchsatz der Kreuzung je Zeiteinheit durch
15
16
einer STOP-Schild-Überfahrt ohne Kollisionsgefahr
(mangels Querverkehr) von Fahrern im Nachhinein
als angemessen akzeptiert wird. - die Dauer der Zwischenphase verringert.
Assistenz über externe Infrastrukturmaßnah-
men:
Ebenfalls mit dem Ziel, die Kritikalität bei der
Entscheidung Anhalten oder Durchfahren zu
17 51.2.2 Ampelassistenz verringern, existiert beispielsweise in den USA
der Ansatz, farbliche Markierungen mit defi-
Als Ampelassistenz wird im Folgenden die Unter- niertem Abstand zur Haltelinie der LSA auf
18 stützung des Fahrers bei der Annäherung bzw. beim die Fahrbahn aufzubringen [8]. Passiert der
Warten an einer Kreuzung mit Lichtsignalanlage Fahrer mit Auslegungsgeschwindigkeit diesen
19 (LSA) verstanden. Aus den Daten der Unfallfor- Entscheidungsbereich bevor die Ampelphase
schung lässt sich ableiten, dass rund zwei Fünftel auf Gelb wechselt, kann er sie noch bei gelb
20 aller Unfälle an ampelgeregelten Kreuzungen durch überfahren, andernfalls nicht. Diese statische
einen Zusammenstoß mit einem Fahrzeug, „das Methode erfordert geringen infrastrukturellen
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
979 51

Aufwand, die Zuverlässigkeit sinkt allerdings Diskussion des STOP-Schildassistenzsystems


bei deutlicher Abweichung von der Ausle- muss ein Ampelassistenzsystem ggf. die
gungsgeschwindigkeit; weiterhin wird die vorsätzliche Rotlichteinfahrt ohne unange-
Länge der Gelbphase fixiert. brachte Warnungen ermöglichen. Dies ist bei-
Ein weiterer Ansatz ist der Einsatz von Se- spielsweise auch der Fall, wenn Platz für ein
kundenanzeigen für die Restzeit einer Phase Einsatzfahrzeug mit Sondersignal geschaffen
(z. B. in den USA oder Taiwan): Damit ist es werden muss. Der Fahrer ist in einer sol-
dem Fahrer frühzeitig möglich, sich auf einen chen Situation bereits über Gebühr gestresst
bevorstehenden Phasenwechsel vorzuberei- und sollte demnach nicht durch zusätzliche
ten. Nachteilig ist, dass der Fahrer in einem Systemausgaben belastet werden. Neben den
ohnehin komplexen Umfeld eine zusätzliche genannten Warnfunktionen zur Vermeidung
Information verarbeiten muss. Das Hauptpro- von Rotlichtüberfahrten lassen sich durch
blem der Abschätzung der Fahrtmöglichkeiten einen Ampelassistenten auch informierende
bleibt damit bestehen und kritische Manöver Funktionen mit sowohl Sicherheits- als auch
(Überqueren bei Rot/unnötige Verzögerungen Komfortaspekten realisieren: So ist es bereits

- bei Gelb) werden dadurch nicht vermieden.


Assistenz mittels interner Infrastrukturmaß-
nahmen:
Für ein Assistenzsystem, das Rotlichtmissach-
in einer frühen Phase der Annäherung an die
Kreuzung möglich, eine Aussage über die zu
erwartende Signalstellung beim Erreichen zu
treffen und mittels Geschwindigkeitsempfeh-
tungen vermeiden und den Fahrer während lungen (innerhalb der zulässigen Höchstge-
der Annäherung unterstützen soll, erge- schwindigkeit) bzw. Anhalteinformationen
ben sich zusätzliche Anforderungen. Zwar den Annäherungsvorgang hinsichtlich
sind ähnlich dem STOP-Schild-Assistenten Sicherheit und Effizienz zu optimieren. Es
zunächst keine Informationen über andere ist bekannt, dass bei der ungestörten Annä-
Verkehrsteilnehmer erforderlich. Dafür ergibt herung (d. h. ohne Vorderfahrzeuge) an eine
sich ein zusätzlicher Informationsbedarf über Grün zeigende Ampel je etwa ein Drittel aller

-
Daten aus der Lichtsignalanlage: Darunter Fahrer
fallen neben statischen Parametern – wie der die Geschwindigkeit erhöht, um die Ampel

-
Position der Haltelinie die Kenntnis des Be- noch bei Grün zu passieren,
triebszustands und der aktuellen Phase – auch die Geschwindigkeit reduziert, um im Falle
Informationen über anstehende Phasenwech- des Umschaltens „mehr Zeit (Weg) zum

-
sel, die z. B. durch Verwendung von Infra- Entscheiden zu haben“,
struktur-Fahrzeug-Kommunikation übermit- mit konstanter Geschwindigkeit weiterfährt
telt werden können [9, 10]. [4].
Liegen diese vor, so ist das Vorgehen zur
Vermeidung von Rotlichtüberfahrten aus Ersteres ist unter sicherheitstechnischen Aspekten
der Annäherung weitestgehend vergleich- kritisch und auch aus Sicht des Kraftstoffverbrau-
bar mit der Vermeidung von ungebremsten ches unvorteilhaft, während die Reduktion der Ge-
STOP-Schild-Durchfahrten; zusätzlich ist eine schwindigkeit (Fall 2) im Hinblick auf die vielerorts
Einfahrt in die Kreuzung durch den Ampelas- bereits erreichte Kapazitätsgrenze des Verkehrsrau-
sistenten für die gesamte Dauer der Rotphase mes ungünstig erscheint.
zu unterbinden. Dies umfasst demnach auch Die genannten Ansätze geben einen Eindruck,
die Warnung des Fahrers zur Vermeidung von welche Funktionen sich mit unterschiedlichen Aus-
Rotlichtüberfahrten durch Anfahren aus dem prägungen eines Ampelassistenzsystems umsetzen
Stillstand, beispielsweise zur Vermeidung des lassen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang,
sog. Mitzieheffekts an Kreuzungen, an denen dass Assistenzfunktionen auf Basis von Infrastruk-
gleichgerichtete Fahrstreifen unterschied- turmaßnahmen neben Sicherheits- und Komfortas-
lich signalisiert werden. Ähnlich wie bei der pekten auch Potenzial bieten, um aktuelle Probleme
980 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

des Verkehrsflusses und der Energieverbrauchs- und 2. Assistenz mit Intelligenz im Fahrzeug: Zur
1 Emissionsproblematik positiv zu beeinflussen. Unterstützung des wartepflichtigen Fahrers
beim Einbiegen/Kreuzen – bereits während der
2 Kreuzungsannäherung sowie beim Anfahren
51.2.3 Einbiege-/Kreuzenassistenz aus dem Stillstand – existieren mehrere aktu-
elle Forschungsansätze (vergleiche beispiels-
3 Als Einbiege-/Kreuzenassistenz oder auch Querver- weise [12, 13, 14]), die sich unter anderem
kehrsassistenz wird im Folgenden die Unterstützung hinsichtlich der verwendeten Technologien
4 des wartepflichtigen Fahrers beim Einbiegen in und zur Informationsgewinnung unterscheiden.
beim Queren einer Vorfahrtsstraße verstanden. Ad- Bei einigen Systemen basiert die Umfelderfas-
5 ressiert werden Unfälle an Kreuzungen mit Vorfahrt sung auf fahrzeugautonomer On-Board-Sen-
achten (Zeichen 205 StVO – Vorfahrt gewähren!) sorik: So wird in [4] eine Kombination aus
und Rechts-vor-links-Regelung. Laserscanner, Videosystem und einer hochge-
6 Wie bei anderen Systemen unterteilen sich die nauen digitalen Karte verwendet. Andere An-
Unfälle beim Einbiegen und Kreuzen in Unfälle sätze stützen sich bezüglich der erforderlichen
7 mit und ohne Fahrzeugstillstand an der Haltelinie Informationen über andere Verkehrsteilneh-
bzw. Sichtlinie. Ein grundlegender Unterschied zur mer auf Fahrzeug-Fahrzeug-Kommunikation
Ampel- oder STOP-Schild-Assistenz besteht darin, [13]. Grundlage hierzu ist neben einer geeig-
8 dass das wartepflichtige Fahrzeug nur dann anhal- neten Kommunikationslösung ein System zur
ten muss, wenn vorfahrtsberechtigter Querverkehr Generierung von Positions- und Fahrdyna-
9 vorhanden ist. Andernfalls kann die Kreuzung ohne mikdaten in jedem Fahrzeug, wobei zur Posi-
Stopp passiert werden. Daher werden als Grund- tionsbestimmung meist auf globale Navigations-
10 lage für die Einbiege-/Kreuzenassistenz neben Po- satellitensysteme (GNSS) zurückgegriffen wird.
sitions- und Bewegungsdaten des wartepflichtigen Unabhängig von der verwendeten Sensor-
Fahrzeugs Informationen über eventuell vorfahrts- oder Kommunikationstechnologie erfordert
51 berechtigten Querverkehr benötigt. ein System zur aktiven Unfallvermeidung die
Möglichkeiten der Realisierung sind: frühzeitige Identifikation und Bewertung po-
12 1. Assistenz mit Intelligenz in der Infrastruktur: tenziell bevorstehender Kollisionen. Der Ent-
Um eine Unterstützung des wartepflichtigen scheidungsprozess, ob ein Systemeingriff aus-
Fahrers beim sicheren Einbiegen/Kreuzen aus zuführen ist, wird für den Fall des Einbiegens/
13 dem Stillstand zu ermöglichen, wird beispiels- Kreuzens in zwei Teilaufgaben unterteilt [14]:
weise der Rural Intersection Decision Support a) Die Entscheidung, ob bei Einfahrt oder
14 [11] eingesetzt. Grundlage dieses Systems sind Durchquerung der Kreuzung eine Kollision
Radarsensoren, die Position und Geschwindig- mit dem Querverkehr droht, falls keine
15 keit der Fahrzeuge auf der Hauptstraße erfas- intervenierenden Maßnahmen eingeleitet
sen: Hieraus werden die Zeitabstände zwischen werden und
den Fahrzeugen auf der Hauptstraße bestimmt; b) die Erkennung ausbleibender Präventions-
16 außerdem erfolgt eine Vorhersage, wann diese maßnahmen zu einem Zeitpunkt während
Fahrzeuge den Kreuzungsbereich erreichen der Annäherung an die Kreuzung, zu dem
17 werden. Wartepflichtige Fahrzeuge an der Hal- der Eintritt des eigenen Fahrzeugs in die
telinie werden über ein Kamerasystem erfasst Konfliktzone noch vermieden werden kann.
und kategorisiert. Auf Basis dieser Informati- Einige Ansätze zur Situationsbewertung sind in
18 onen wird entschieden, ob sicheres Einbiegen/ ▶ Abschn. 51.4 genauer beschrieben.
Kreuzen möglich ist. Falls erforderlich, wird Sind unfallvermeidende Maßnahmen zur
19 eine Warnung für das wartepflichtige Fahrzeug Unterstützung des Fahrers in der vorliegen-
eingeleitet; als mögliches Schnittstellenkonzept den Gefahrensituation erforderlich, erlauben
20 wird ein herkömmliches STOP-Schild um eine situationsadaptiv unterschiedliche Informa-
Risikowarnung ergänzt. tions- und Warnstufen oder Volleingriffe die
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
981 51

Unfallvermeidung. Besonders bei höheren Ansätze, die zum Teil eine Kombination bereits
Geschwindigkeiten können potenzielle Gefah- vorgestellter Ideen beinhalten. So bietet sich nach
rensituationen bereits in einer frühen Phase der [15] eine kommunikationsbasierte Kombination
Annäherung an die Kreuzung erkannt werden; aus infrastrukturgebundener Umfelderfassung
somit steht vergleichsweise viel Zeit für eine und fahrzeuggebundenem Assistenzsystem für
Fahrerreaktion zur Verfügung. In dieser Situa- besonders unfallträchtige Kreuzungen an. An
tion reicht meist ein visueller Hinweis im HUD diesen Kreuzungen werden Sensoren zur Erfas-
als informierende Vor-Warnung auf die bevor- sung des Verkehrsbildes eingesetzt, deren Infor-
stehende Situation. mationen dann über ein Kommunikationssys-
Bleibt eine Reaktion des Fahrers auf die Vor- tem an beteiligte Verkehrsteilnehmer verbreitet
warnung aus oder wird die Gefahrensituation werden. Bedingung für die Nutzung dieser Um-
beispielsweise bei geringeren Fahrgeschwindig- feldinformationen im Fahrzeug ist, dass dieses
keiten oder aufgrund veränderter Rahmenbe- über eine geeignete Kommunikationstechnologie
dingungen erst später erkannt, so bietet eine verfügt. Ein großer Vorteil des Ansatzes – ver-
Akutwarnung zusätzliches Unfallvermeidungs- glichen mit einem rein-kommunikationsbasier-
potenzial. Diese kann beispielsweise aus einem ten Kreuzungsassistenten – besteht darin, dass
visuellen Hinweis im HUD sowie einer akus- auch Informationen von nicht mit Funkeinheiten
tischen Warnung bestehen, eventuell ergänzt ausgestatteten Fahrzeugen erfasst und verbreitet
um eine aktive Anbremsung. Der Teileingriff werden. Hierdurch kann bereits bei einer gerin-
in Form einer autonomen Anbremsung wird gen Ausstattungsrate der Fahrzeuge ein Sicher-
verwendet, um die dem Fahrer für eine Re- heitsgewinn erzielt werden, dafür jedoch nur für
aktion zur Verfügung stehende Zeitspanne zu entsprechend ausgerüstete Kreuzungen.
vergrößern [14]. Dadurch kann die Akutwar-
nung nach hinten verschoben werden, so dass
selbst sportliche Fahrer nicht unnötig gewarnt 51.2.4 Linksabbiegeassistenz
werden.
Fährt das direkt an der Kreuzung stehende Als Linksabbiegeassistenz wird im Folgenden die
Fahrzeug aus dem Stillstand an, so kann ein Unterstützung des Fahrers bei der Durchführung
Einfahren in die Kreuzung durch eine Warnung eines Abbiegemanövers, d. h. bei der Konfliktsitu-
nicht vermieden werden, da keine Zeit für eine ation mit entgegenkommenden Verkehrsteilneh-
Fahrerreaktion zur Verfügung steht. Für diesen mern, verstanden.
Fall ist eine Kollision durch Unterbinden des Der amtliche Unfalltyp Abbiegeunfall umfasst
Anfahrens bei Fahrpedalbetätigung vermeid- eine Vielzahl solcher Situationen, wohingegen der
bar. Fokus in diesem Kontext auf der Vermeidung des
Um die Quote der zu erwartenden Falschwar- Zusammenstoßes eines nach links abbiegenden
nungen möglichst gering zu halten, sind die Fahrzeugs mit einem Fahrzeug im Gegenverkehr
jeweiligen Warnkriterien an das übliche Fah- liegt. Als Hauptursachen von Abbiegeunfällen wer-
rerverhalten anzupassen (▶ Abschn. 51.4). Als den in unterschiedlichen Untersuchungen (beispiels-
zusätzliche Herausforderung ergibt sich die weise [3, 16]) die Fehleinschätzung von Abstand und
Unterscheidung von Einbiegen oder Kreuzen Geschwindigkeit des Gegenverkehrs, das Übersehen
während der Annäherung an die Kreuzung, da von Fahrzeugen (insbesondere fallen Zweiräder vor
die Fahrzeuge eventuell nicht denselben Kreu- größeren Pkws oder Nutzfahrzeugen kaum auf) so-
zungsbereich durchfahren – beispielsweise wie Sichtbehinderung durch ebenfalls abbiegenden
wenn sich das vorfahrtsberechtigte Fahrzeug Gegenverkehr genannt.
von rechts annähert und das wartepflichtige Das Abbiegen stellt aufgrund der Komplexität
Fahrzeug nach rechts abbiegt. des Fahrmanövers eine Herausforderung für den
3. Assistenz mit Intelligenz im Fahrzeug und Sen- Fahrer dar: Für ein Assistenzsystem kommt er-
soren in der Infrastruktur: Es existieren weitere schwerend der Umstand hinzu, dass im Gegensatz
982 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

zu den bisher beschriebenen Systemen kein eindeu- einem autonomen Eingriff in der Form eines
1 tig definierter Abbiegepunkt existiert, was zu einer – vom Fahrer übersteuerbaren – Festhaltens
Vielzahl möglicher Trajektorien führt. Demzufolge des Fahrzeugs Potenzial zur Unfallvermeidung
2
3
ist der Analyse des Fahrerverhaltens und der Prä-
diktion des Abbiegewunsches große Bedeutung
beizumessen.
Insbesondere das geringe Raumbudget er-
- gesehen.
Der Fahrer nähert sich einer Kreuzung, an der
er links abbiegen möchte, und erkennt eine
Lücke im Gegenverkehr, um ohne anzuhalten
schwert eine sinnvolle Assistenzstrategie, da unbe- abbiegen zu können. Das entscheidende Prob-
4 dingt zu vermeiden ist, dass das Fahrzeug zu weit lem aus Assistenzsicht ist, dass für ein System
in den gegnerischen Fahrstreifen als potenzielle das eigentliche Abbiegen erst zu erkennen ist,
5 Konfliktzone hineinragt. Je flacher nun die Abbie- wenn Lenkradwinkel und -geschwindigkeit
getrajektorie verläuft und je später demzufolge die bestimmte Schwellenwerte überschreiten [17].
Abbiegeabsicht sicher detektiert werden kann, desto Daraus wird deutlich, dass für eine Informa-
6 näher ist das Fahrzeug schon an der (gedachten) tion über den Gegenverkehr – wie sie für das
Mittellinie und desto geringer sind die Hilfsmög- Abbiegen aus dem Stillstand eingesetzt wird
7 lichkeiten eines Assistenzsystems [17]. – aufgrund der Notwendigkeit eines unmittel-
Wie bereits für den STOP-Schild-Assistenten baren Eingriffs keine Zeitreserve mehr besteht.
ist auch für das Linksabbiegen eine Unterscheidung Auch eine Warnung ist hier häufig nicht
8 zwischen Unfällen, die sich durch Anfahren nach mehr zielführend. In diesem Anwendungsfall
einem Fahrzeugstillstand ereigneten, und solchen erscheint eine – vom Fahrer übersteuerbare –
9 ohne vorigen Fahrzeugstillstand retrospektiv nicht Abbremsung des Fahrzeugs zur Unfallvermei-
immer möglich. Entsprechende Untersuchungen dung geeignet, was aufgrund der möglichen
10 der Unfallzahlen [18, 17] zeigen, dass beide Szena- Auswirkungen von False Positives eine hohe
rien einen relevanten Anteil am Unfallgeschehen im Zuverlässigkeit der zur Verfügung stehenden
Kreuzungsbereich haben. Informationen voraussetzt.
51 Aus Sicht eines Linksabbiegeassistenzsystems

12
13
-
stellen sich diese Situationen wie folgt dar:
Der Fahrer hält sein Fahrzeug in der Kreu-
zungsmitte an, wo er einen ausreichenden
Blick für eventuelle, ausreichend große Lücken
Für beide Situationen ist bei der Bewertung der
Lücken im Gegenverkehr die übliche Beurteilung
dieser Lücken durch den Fahrer zu berücksichti-
gen. Ein Vergleich verschiedener Studien zu diesem
im Gegenverkehr hat. Der Vorteil dieser Situ- Punkt ergibt nach [1, 17], dass die Bewertung der
ation ist aus Sicht eines Assistenzsystems, dass Zeitlücken im Gegenverkehr durch den Fahrer von
14 der Abbiegewunsch nun mit nahezu 100%iger einer Vielzahl teils kreuzungsabhängiger Faktoren
Sicherheit erkennbar ist [19, 17]. Beim Warten beeinflusst wird und dass die Größe akzeptierter
15 auf eine Abbiegemöglichkeit wird der Fahrer Lücken daher einer großen Streuung (zwischen 4 s
rein visuell über potenziell gefährlichen Ge- und 14 s) unterliegt.
genverkehr informiert und bei der Wahl einer Die erforderlichen Eingangsgrößen eines Links­
16 ausreichend bemessenen Lücke unterstützt. abbiegeassistenten umfassen insbesondere die Fahr-
Zur Übermittlung dieser Informationen eignet zustandsgrößen des Gegenverkehrs. Wird für die
17 sich erneut ein HUD, da der Fahrer dadurch Prädiktion des Abbiegens ein Fahrermodell einge-
sowohl externe als auch interne Informationen setzt, das, wie in [17] beschrieben, den Einfluss der
nahezu gleichzeitig erfassen kann. Nachteilig Kreuzung auf das Fahrerverhalten berücksichtigt,
18 an dieser Situation ist, dass sich das Fahrzeug kommen weitere kreuzungsspezifische Informati-
bereits sehr nahe an der Konfliktzone befindet onsanforderungen hinzu.
19 und dem Fahrer somit kein ausreichendes
Zeitbudget für die Reaktion auf eine Warnung
20 zur Verfügung steht – sollte der Fahrer trotz
Gegenverkehr anfahren. In diesem Fall wird in
51.2 • Kreuzungsassistenzsysteme
983 51
51.2.5 Kreuzungsassistenz tenzsystemen für den wartepflichtigen Verkehr-
für vorfahrtberechtigte steilnehmer ist der Nachweis bereits erbracht, dass
Verkehrsteilnehmer Systemeingriffe von Warnung bis Volleingriff bei
geeigneter Systemauslegung vom Fahrer – aufgrund
Die bisher vorgestellten Assistenzansätze adres- des im Nachhinein erkannten Fehlverhaltens – als
sieren den wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer nachvollziehbar und zielführend akzeptiert werden
mit dem Ziel, diesen vor der Einfahrt oder dem [14]. Für den vorfahrtsberechtigten Verkehrsteil-
Einbiegen in eine Kreuzung in kritischen Situati- nehmer stellt sich die Situation grundlegend anders
onen durch eine Warnung und/oder einen aktiven dar: Auch hier steigt das theoretische Nutzenpoten-
Bremseingriff zu bewahren. Würden alle Fahrzeuge zial eines solchen Systems, je früher eine Warnung
diese Assistenzfunktionalität aufweisen, wären na- oder ein Eingriff vorgenommen wird. Da jedoch
hezu alle Kreuzungsunfälle zu verhindern oder zu- kein Fehlverhalten des Fahrers jenes ausgestatteten
mindest in ihren Folgen maßgeblich zu lindern. Bei Fahrzeugs vorliegt, steigt das Risiko, dass ein wie
Berücksichtigung realer Lebenszyklen – bspw. abzu- auch immer gearteter Eingriff von diesem nicht
leiten anhand des momentanen Durchschnittsalters akzeptiert wird und folglich die Systemfunktion
der deutschen Fahrzeugflotte von ca. 8,5 Jahren [20] deaktiviert wird. Um nur akzeptierte Eingriffe zu
– sowie einer angenommenen Marktentwicklung erzeugen, sollten subjektiv als falsch empfundene
vergleichbarer aktiver Schutzsysteme, ist zumin- Eingriffe soweit wie möglich vermieden werden.
dest mittelfristig nicht von einem solchen Szena- Die subjektiv empfundene Notwendigkeit eines
rio auszugehen. Wird dies berücksichtigt, ist der Systemeingriffs in den hier betrachteten Szenarien
Nutzen von Kreuzungsassistenzsystemen aus Sicht wird erst im Resultat eines solchen Eingriffs für die
eines individuellen Kunden, zumindest in den ers- Beteiligten beurteilbar und hängt primär vom Ver-
ten Jahren nach einer Markteinführung, stark von halten des potenziellen Kollisionspartners ab. Re-
dessen jeweiliger Beteiligung in einer kritischen agiert dieser bspw. spät, aber noch rechtzeitig, auf
Verkehrssituation abhängig. Sofern die potenziellen die vorliegende Vorfahrtsregelung und kommt das
Kollisionsobjekte und andere zur Unfallvermeidung wartepflichtige Fahrzeug knapp vor der Kreuzung
notwendigen Informationen rechtzeitig erkannt zum Stillstand, so wäre ein Eingriff auf Seiten des
werden, entfaltet eine solche Funktionalität in der vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs zur Vermeidung
Situation als wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer, einer Kollision objektiv nicht notwendig und mög-
unabhängig vom kreuzenden Fahrzeug, sofort licherweise auch subjektiv nicht nachvollziehbar.
seine volle Wirksamkeit. Als vorfahrtberechtigter Aus diesem Grund hat ein Eingriff im vorfahrtbe-
Verkehrsteilnehmer ist es jedoch ausschließlich da- rechtigten Fahrzeug erst dann zu erfolgen, wenn
von abhängig, ob das kreuzende Fahrzeug entspre- das Hindernisobjekt die Kollision aus eigener Kraft
chend ausgerüstet ist; die Wahrscheinlichkeit einer nicht mehr vermeiden kann. Aus Akzeptanzgrün-
Unterstützung entspricht in diesem Fall somit der den sollte dieser Umstand zudem für den Fahrer
aktuellen Ausstattungsrate in der Fahrzeugflotte. unstrittig sein – sprich der Eingriff muss für den
Aus diesem Grund ist es zur Steigerung der Ver- Fahrer nachträglich eindeutig als zur Kollisionsver-
kehrssicherheit aus Sicht eines individuellen Kun- meidung zwingend notwendig nachvollziehbar sein.
den zumindest mittelfristig angeraten, diesen auch Dies im Blick kann für den vorfahrtberechtig-
direkt in seiner Rolle als vorfahrtberechtigten Ver- ten Verkehrsteilnehmer, neben der bereits für den
kehrsteilnehmer aktiv durch Schutzfunktionalitäten wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer als Mittel der
zu adressieren. Wahl anzusehenden Notbremsung, auch ein No-
Bei der Unterstützung des vorfahrtberechtigten tausweichmanöver eine notwendige, weil effektivere
Verkehrsteilnehmers in Kreuzungsszenarien ist ne- und die Kollision vermeidende Maßnahme sein. Ist
ben den rechtlichen Rahmenbedingungen, in Bezug das Fahrzeug mit einem entsprechenden Kreuzung-
auf die Zulässigkeit eines aktiven Systemeingriffs, sassistenten ausgestattet, so ist es in einer kritischen
(▶ Kap. 3) besonderes Augenmerk auf die Nutzer- Situation vor dem Einfahren in die Kreuzung in den
akzeptanz zu legen. Im Fall von Kreuzungsassis- Stillstand zu bringen.
984 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

Die zielführende Handlungsstrategie für das chern lässt. Selbst unmittelbar vor der Kollision ist
1 vorfahrtberechtigte Fahrzeug ist davon abhängig, immer noch mit einer Reaktion des Kollisionspart-
welches der beiden beteiligten Fahrzeuge letztmög- ners zu rechnen. Analysen der GIDAS-Datenbank
2 lich, unabhängig vom Verhalten des jeweils ande- haben gezeigt, das in fast 45 % aller betrachteten
ren, die Kollision durch Bremsen noch vermeiden Fälle das Hindernisobjekt noch nach einem not-
kann – räumliche Kollisionsvermeidung durch Ver- wendigen Systemeingriff im Ego-Fahrzeug gebremst
3 meidung des Einfahrens in die Kreuzung. In dem hat, wodurch der Versuch einer zeitlichen Kollisi-
Fall, dass dies auf das vorfahrtberechtigte Fahrzeug onsvermeidung – sei es durch Ausweichen entgegen
4 zutrifft, sollte ein entsprechender Notbremsein- der Bewegungsrichtung oder Bremsen – weiterhin
griff zum spätestmöglichen Zeitpunkt erfolgen. In zu einer Kollision geführt hätte [21].
5 Längsverkehrsszenarien ist bei der Initiierung einer Ist eine Kollisionsvermeidung auch durch Not­
Notbremsung zusätzlich noch ein später mögliches ausweichen nicht mehr möglich, verbleibt als letzte
und durch den Fahrer ggf. gewünschtes Überholen Alternative noch die Linderung deren Folgen durch
6 des potenziellen Kollisionsobjekts zu berücksichti- entsprechende Eingriffe in die Fahrdynamik des
gen. Bei einer Kreuzungssituation hingegen ist ein Ego-Fahrzeugs.
7 solches Verhalten situationsbedingt auszuschließen,
so dass folglich im vorliegenden Fall die Notbrem-
sung die zielführende Maßnahme darstellt, ohne die 51.3 Situationsbewertung
8 Gefahr einer Bevormundung des Fahrers – obwohl
ein Ausweichen ggf. noch später möglich wäre. Für jedes der dargestellten Kreuzungsassistenzsys-
9 Ist es jedoch das wartepflichtige Fahrzeug, das teme ergibt sich die Fragestellung, ob der Fahrer die
letztmöglich die Kollision – unabhängig vom Ver- Absicht hat, einen charakteristischen Punkt (Hal-
10 halten des jeweils anderen – noch vermeiden kann, telinie bzw. Einfahren in Kreuzung oder Gegen-
stellt sich die Situation anders dar: Das vorfahrt- verkehr) zu überfahren – oder ob er das Fahrzeug
berechtigte Fahrzeug kann in diesem Fall durch selbstständig an oder vor diesem Punkt zum Still-
51 Bremsen die Kollision nur noch, bei entsprechend stand bringen wird. Diese Fragestellung kann für
kooperativem Verhalten des wartepflichtigen Ver- eine STOP-Schild-Assistenz aufgrund der fest vor-
12 kehrsteilnehmers, zeitlich vermeiden – das vor- gegebenen Haltelinie und des immer bestehenden
fahrtberechtigte Fahrzeug fährt aufgrund der Ver- Haltegebots durch eine Verknüpfung unterschied-
zögerung erst dann in die Kreuzung ein, wenn das licher Indikatoren in einer vergleichsweise frühen
13 potenzielle Kollisionsobjekt diese bereits wieder Phase der Annäherung an die Kreuzung beantwor-
verlassen hat. Eine Kollisionsvermeidung, unabhän- tet werden [6]. Ähnliches ist für einen Ampelassis-
14 gig von dem die Vorfahrt missachtenden Fahrzeug tenten zu erwarten [10].
ist, wenn überhaupt, nur noch durch Ausweichen Für Einbiege-Kreuzen-Assistenz wird diese
15 möglich. Dies wirft wiederum die Frage nach der Fragestellung dadurch erschwert, dass der Fahrer
geeigneten Ausweichrichtung auf, d. h. in oder ent- die Entscheidung, ob er anhalten wird, erst in einer
gegen der Bewegungsrichtung des Hindernisses. vergleichsweise späten Phase der Annäherung an
16 In vielen Kreuzungsszenarien stellt die zeitliche die Kreuzung trifft – da ihm eine Beurteilung des
Kollisionsvermeidung durch gezieltes kurzzeiti- Querverkehrs (beispielsweise aufgrund von Sichtbe-
17 ges Abbremsen oder Ausweichen – entgegen der hinderungen) zuvor meist nicht möglich ist. Dem-
Bewegungsrichtung des Kollisionspartners – den entsprechend ist von einem Querverkehrsassisten-
physikalisch letztmöglichen Eingriff zur Kollisions- ten auch die Möglichkeit einer Umentscheidung des
18 vermeidung dar. Wegen des geringen erforderlichen Fahrers zu berücksichtigen: Eine einmal getroffene
Zeitbudgets für einen derartigen Eingriff ergibt sich Aussage über den Haltewunsch des Fahrers muss
19 ein vergleichsweise hohes, theoretisches Unfallver- unter Umständen zu einer späteren Phase der An-
meidungspotenzial, das sich jedoch ohne ein aufein- näherung korrigiert werden.
20 ander abgestimmtes, kooperatives Verhalten beider Als problematisch erweisen sich dabei Sze-
(aller) beteiligten Verkehrsteilnehmer nicht absi- narien, in denen der Fahrer zunächst die eigene
51.3 • Situationsbewertung
985 51

Geschwindigkeit verringert, um sich mehr Zeit


für die Erkennung eventuell vorfahrtsberechtigter
Fahrzeuge im Querverkehr zu verschaffen. Das Ver-
ringern der Geschwindigkeit als Reaktion auf eine
Kreuzung mit „Vorfahrtachten“ ist üblicherweise
deutlich vor dem letztmöglichen Warnzeitpunkt
erkennbar – ein Ausbleiben dieser Geschwindig-
keitsreduktion ist im Umkehrschluss ein guter
Indikator für einen Fehler des Fahrers bei der Be-
achtung von Kreuzung bzw. Vorfahrtsregelung. Der
Abbruch dieser Fahrzeugverzögerung oder gar das
erneute Beschleunigen des Fahrzeugs hingegen ist
als Indikator für den Fahrerentschluss, in die Kreu-
zung einzufahren (und somit gegebenenfalls für
einen Fehler bei der Wahrnehmung bzw. Interpre-
tation des Querverkehrs) üblicherweise erst nach
dem letztmöglichen Warnzeitpunkt erkennbar. In
diesem Fall ist das für intervenierende Systemaus- .. Abb. 51.3  Kollisionsbereich in der Kreuzung
gaben verfügbare Zeitbudget üblicherweise bereits
so klein, dass sich ein Einfahren des Fahrzeugs in Kollision ist möglich, wenn es zu einem Schnittbe-
die Kreuzung nur noch durch einen Volleingriff ver- reich der Wolke des eigenen und der eines fremden
meiden lässt [14]. Ähnliches gilt auch für die Erken- Fahrzeugs kommt.
nung des Fahrerwunsches beim Abbiegen, wobei Eine alternative Darstellung des gleichen Zu-
hier der zusätzliche Freiheitsgrad der unbekannten sammenhangs ermöglicht die Delta-t-Karte, wie
Halteposition zu berücksichtigen ist. sie im Einbiege-Kreuzen-Assistenten aus [14] einge-
Zusätzlich zur Fahrerabsichtserkennung erfor- setzt wird. In der dritten Dimension des Koordina-
dern Systeme zur Abbiege- und Einbiegen-/Kreu- tensystems wird anstelle der Brutto-Zeiten für ein-
zenAssistenz eine Bewertung der Verkehrssituation zelne Fahrzeuge nur noch die Zeitdifferenz Delta-t
in Bezug auf andere Verkehrsteilnehmer. Ziel dieser zwischen eigenem Fahrzeug und einem möglichen
Bewertung ist eine Aussage über die Gefahr einer Kollisionspartner dargestellt. Unterschreitet jT j
Kollision mit anderen Fahrzeugen. Neben einer Prä- |Δt| eine vom Fahrer gerade noch akzeptierte Zeit-
diktion des künftigen Fahrerverhaltens – sowohl für differenz (beispielsweise zwischen Ego-Fahrzeug
das eigene Fahrzeug als auch für andere beteiligte und Querverkehr), so ist eine Warnung auszugeben.
Verkehrsteilnehmer – erfordert dies eine Abstrak- Bei der Assistenz für den vorfahrtberechtigten
tion der Problematik, um die Gefahr einer Kollision Verkehrsteilnehmer stellt sich im Rahmen der Situ-
zu quantifizieren. Zwei mögliche Ansätze werden ationsanalyse neben den zuvor betrachteten Aspek-
im Folgenden kurz vorgestellt: ten, wie in ▶ Abschn. 51.2.5 diskutiert, zusätzlich die
Eine Möglichkeit, Kollisionen mit anderen Ver- Frage nach dem Beteiligten, welcher letztmöglich
kehrsteilnehmern zu erkennen, ist die Darstellung die Kollision unabhängig vom Verhalten des jeweili-
der Situation mithilfe von 3D-Trajektorien. Dieser gen Hindernisses noch vermeiden kann, um darauf
Ansatz findet in einem prototypischen Linksab- aufbauend die entsprechenden Handlungsstrategien
biegeassistenten Verwendung [17]. In einem kreu- für diesen abzuleiten. Ein mögliches Kriterium zur
zungsfesten Koordinatensystem wird neben zwei Situationsbewertung stellt, wie in . Abb. 51.3 darge-
räumlichen Größen x und y als dritte Dimension stellt, die ttB (Time-to-Brake) beider Fahrzeuge, d. h.
die Zeit dargestellt, die ein Fahrzeug bis zum Errei- die verbleibende Zeitspanne bis zum letztmöglichen
chen des durch die zugehörigen x/y-Werte definier- die Kollision räumlich vermeidenden Bremseingriff.
ten Punkts benötigt. Somit ergeben sich für jedes ttB,ego und ttB,obs, entsprechend der nachfolgenden
beteiligte Fahrzeug dreidimensionale Wolken: Eine Gl.  51.1 bis 51.2, mit sk als dem aktuellen Abstand
986 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

.. Abb. 51.4 Vergleich
1 Kollisionskonstellation mit
zur Vermeidung der Kollisi-
on relevanter Konstellation
2
3
4
5
zum Kollisionsbereich und sb als dem minimalen Sobald bei der Annäherung ttB,obs < 0 gilt, ist die
Bremsweg bei maximaler Verzögerung Dmax. Bei Kollision durch das wartepflichtige Fahrzeug nicht
6 diesem Kennwert handelt es sich jeweils um die mehr eigenständig zu vermeiden. Spätestens zu
Time-to-Collision (kurz TTC, bezeichnet die Zeit- diesem Zeitpunkt sind mögliche Handlungsalter-
7 dauer, die bei konstanter Geschwindigkeit des/der nativen des Ego-Fahrzeugs in Bezug auf ihr Vermei-
Fahrzeuge bis zu einer Kollision vergehen würde) dungspotenzial zu überprüfen: Gilt zu diesem Zeit-
für Ego- und Hindernis-Fahrzeug, erweitert um den punkt ttB,ego ≥ 0, so ist ein Notbremsen noch möglich
8 individuellen Abstand zum prädizierten Kollisions- bzw. andernfalls ein Notausweichen notwendig oder
bereich. es sind je nach Konstellation die Folgen der Kolli-
9 sk;obs  sb;obs
sion nur noch zu lindern.
t tB;obs D
vobs
10 2
vobs 51.4 Geeignete Warn-
mit sb;obs D
2  Dmax und Eingriffsstrategien
51 sk;ego  sb;ego
t tB;ego D Auffahrunfälle im Längsverkehr ausgenommen
vego
12 2
vego
haben Kollisionen zwischen mehreren Fahrzeu-
mit sb;ego D gen im Kreuzungsbereich üblicherweise Fehler bei
2  Dmax der Beachtung der vorliegenden Vorfahrtsregelung
13 durch einen eigentlich wartepflichtigen Verkehr-
Beim Fahrzeug mit der höheren ttB ist folglich re- steilnehmer zur Ursache. In erster Instanz bieten
14 lativ betrachtet noch zu einem späteren Zeitpunkt sich daher zur Vermeidung von Kreuzungsunfällen
ein erfolgreicher Bremseingriff möglich. Eine aus- Assistenzmaßnahmen für den wartepflichtigen Ver-
15 schließliche Betrachtung der üblicherweise heran- kehrsteilnehmer an, die entweder die Beachtung der
gezogenen TTC reicht in einer solchen Kreuzungs- Vorfahrtsregelung unterstützen oder im Falle einer
konstellation nicht aus. Zwar lässt sich diese für bereits erfolgten Vorfahrtsmissachtung die Folgen
16 beide Beteiligten eindeutig bestimmen. Es unter- dieses Fehlers minimieren: Dies wird im Folgenden
scheiden sich jedoch mit Ausnahme einer Kollision als „Assistenzmaßnahme für den wartepflichtigen
17 Fahrzeugecke auf Fahrzeugecke (. Abb. 51.4 links) Verkehrsteilnehmer“ bezeichnet.
für einen der beiden Beteiligten die zur Kollisions-
vermeidung max. zulässige Position PCA von der die
18 Kollision beschreibenden Fahrzeugposition PColl, 51.4.1 Assistenzmaßnahmen
da sich dieses dann bereits im Kollisionsbereich für den wartepflichtigen
19 KB befindet und eine Kollision nur noch durch Verkehrsteilnehmer
ein paralleles rechtzeitiges Bremsmanöver in den
20 Stillstand des jeweils anderen verhindert werden Ordnet man die beschriebenen Systeme der Reihe
kann. nach hinsichtlich des verfügbaren Zeit- und Raum-
51.4  •  Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien
987 51
.. Abb. 51.5 HMI-Lösun-

Zeitbudget
gen für Kreuzungsassis- Autonomer
tenzsysteme im HUD [12] Volleingriff

STOP-Schild Einbiegen/Kreuzen Linksabbiegen

budgets vor der sicheren Bestimmung einer kri- wartenden False Positives auf nicht mehr akzeptable
tischen Situation an, so sinkt in gleichem Maße Werte ansteigen würde.
die Möglichkeit, mittels reiner Informationen Derartige Grenzen lassen sich teilweise durch
die Situation zu entschärfen – ausgenommen das die Wahl der Warnstrategie beeinflussen. Eine Mög-
Anfahren aus dem Fahrzeugstillstand, hier ist das lichkeit ist, die Warnung um eine aktive Teilbrem-
Raum/Zeitbudget für alle Systeme gleichermaßen sung zu ergänzen [14]. Durch die Teilbremsung
klein. Dieser Zusammenhang ist in . Abb. 51.5 wird bereits während der Reaktionszeit des Fahrers
dargestellt. Geschwindigkeit abgebaut; dies vergrößert die dem
Explizite Warnungen werden notwendig bzw. Fahrer effektiv zur Verfügung stehende Reaktions-
das Potenzial für autonome Eingriffe steigt; in den zeit, wodurch die Warnschwelle „sportlicher“ aus-
vorangegangenen Kapiteln wurde im Zusammen- gelegt werden kann.
hang mit Fahrerwarnungen bereits das sogenannte Zu den Situationen, in denen selbst durch ei-
Warndilemma erwähnt. nen Teileingriff keine wirksame Unfallvermeidung
Als Warndilemma wird im Bereich der Fah- möglich ist, gehört unabhängig von der vorherr-
rerassistenz allgemein der Zielkonflikt zwischen schenden Vorfahrtsregelung das Anfahren aus
der Wirksamkeit einer Warnung und den zu er- dem Stillstand: So steht beim Einbiegen/Kreuzen
wartenden Falschwarnungen bezeichnet. Dieser an Kreuzungen, an denen der Fahrer aufgrund von
Konflikt entsteht aus der Problematik heraus, dass Sichtbehinderung direkt an der Sichtlinie anhält,
eine effektive Warnung aufgrund der zu erwar- meist kein Weg mehr für eine Reaktion des Fahrers
tenden Reaktionszeit des Fahrers bereits zu einem auf eine eventuelle Warnung zur Verfügung – da die
Zeitpunkt erfolgen muss und zudem noch eine Haltelinie bei STOP-Schildern üblicherweise nicht
selbstständige Fahrerreaktion auf die bevorstehende identisch mit der Sichtlinie ist, steht beim Anfah-
Gefahrensituation möglich ist. Eine Möglichkeit zur ren an STOP-Schildern geringfügig mehr Zeit für
Warnung ohne das Risiko, den Fahrer durch häu- eine Systemausgabe zur Verfügung. Für den Fall des
fige Falschwarnungen (sogenannte False Positives) Abbiegens gilt dies häufig sogar für das fahrende
zu stören, besteht demnach nur, wenn sich bei der Fahrzeug (▶ Abschn. 51.2.4): Für diese Szenarien
überwiegenden Zahl der Fahrer bereits vor dem lässt sich ein Eintreten des Fahrzeugs in die Kon-
spätestmöglichen Warnzeitpunkt Indizien auf eine fliktzone nur noch durch einen autonomen Eingriff
selbstständige Reaktion finden lassen. vermeiden; geeignet erscheint hierzu das Unterbin-
Demnach ist für die Umsetzung eines Warn- den des Anfahrens bei gleichzeitiger Warnung des
systems im Fahrzeug zunächst eine Untersuchung Fahrers. Um Systemmissbrauch bzw. unbeabsichtig-
des „typischen“ Fahrerverhaltens erforderlich, um tes Einfahren in die Kreuzung nach einer durch das
sicherzustellen, dass das Warndilemma für das System vermiedenen Kollision vorzubeugen, ist es
vorliegende Szenario beherrschbar ist. Häufig ist zweckmäßig, das Fahrpedal erst nach vollständigem
dies nur für einen Teil der betrachteten Verkehrssi- Lösen wieder freizugeben.
tuationen der Fall: So ergibt sich für einen Einbie- Die Absichtsänderung des Fahrers während
ge-Kreuzen-Assistenten, dass eine Aussage, ob der der Annäherung ist beim Einbiegen/Kreuzen ge-
Fahrer nicht mehr selbstständig anhalten wird, nur nauso wenig durch Warnung/Teileingriff abzude-
oberhalb einer gewissen Mindestgeschwindigkeit cken. Die Entscheidung, eine bereits begonnene
möglich ist [14]. Unterhalb dieser Geschwindigkeit Bremsung abzubrechen und – aufgrund falscher
nimmt die Zuverlässigkeit einer entsprechenden Wahrnehmung oder Fehlinterpretation des Quer-
Aussage rapide ab, wodurch die Anzahl der zu er- verkehrs – in die Kreuzung einzufahren, lässt sich,
988 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

wie in ▶ Abschn. 51.3 beschrieben, erst dann erken- Information des Fahrers über den Systemeingriff
1 nen, wenn eine Warnung nicht mehr zielführend einzuordnen.
wäre. Da beim Einbiegen/Kreuzen als Unfallursache Wie hergeleitet (▶ Abschn. 51.2.5) gilt es je
2 häufig Fehler bei der Erkennung/Beurteilung des nach Situation, bspw. beschrieben durch die beiden
Querverkehrs vorliegen, ist das Unfallvermeidungs- Kennwerte ttB,ego und ttB,obs, die durch den warte-
potenzial eines ausschließlich warnenden Systems pflichtigen Kollisionspartner nicht mehr vermeid-
3 gegenüber einem volleingreifenden System deutlich bare Kollision durch eine Notbremsung oder ein
eingeschränkt [14]. Notausweichmanöver des vorfahrtberechtigten
4 Eine weitere Möglichkeit, die sich aus dem Fah- Teilnehmers zu verhindern.
rerverhalten ergebenden Grenzen zu verschieben, Der wesentliche Schritt dabei ist die Beantwor-
5 besteht darin, für besonders kritische Situationen tung der Frage, ob zum Zeitpunkt ttB,obs = 0 ein Aus-
eine Toleranzzone vorzusehen: Ein prototypisch weichen noch möglich ist oder nicht. In Längsver-
umgesetzter Linksabbiegeassistent beispielsweise kehrsszenarien wird hierzu in der Regel von einem
6 vermeidet das Eindringen in den Fahrstreifen des situationsabhängig konstanten Ausweichversatz
Gegenverkehrs selbst unter Verwendung einer au- zur Vermeidung einer Kollision ausgegangen. Im
7 tonomen Notbremsung nur in etwa 80 % der Fälle, Kapitel „Grundlagen von Frontkollisionsschutz-
jedoch kommt das Ego-Fahrzeug für 95 % der Ver- systemen“ (▶ Kap. 47) wurde hergeleitet, dass die
suchsfahrten so zum Stehen, dass die Eindringtiefe Maximierung des streckenbezogenen Querversat-
8 in den Gegenverkehr kleiner gleich 20 cm ist, so dass zes, woraus wiederum der letztmöglichen Eingriffs-
auch hier von einer Vermeidbarkeit des Unfalls aus- zeitpunkt folgt, durch ein kombiniertes Brems-/
9 gegangen wird [17]. Ausweichmanöver realisiert werden kann. In Kreu-
Für alle genannten Teil- und Volleingriffe gilt, zungsszenarien ist der notwendige Ausweichversatz
10 dass der Fahrer in der Lage sein muss, sie zu über- durch die sich kreuzenden Trajektorien prinzipbe-
steuern: Eine Möglichkeit hierzu ist die Verwen- dingt über die Zeit betrachtet variabel. Darüber hi-
dung der Kick-Down-Stellung des Fahrpedals; so naus gilt: Je länger die mit einer Ausweichtrajektorie
51 kann der Fahrer beispielsweise das Festhalten des verbundene Wegstrecke und je größer die mit der
Fahrzeugs ohne die Betätigung zusätzlicher Bedie- Wegstrecke einhergehende Fahrzeugverzögerung
12 nelemente übersteuern. ist, desto später erreicht das Ego-Fahrzeug den po-
tenziellen Kollisionsbereich und desto größer ist
folglich aufgrund der parallel stattfindenden Bewe-
13 51.4.2 Kreuzungsassistenz gung des Hindernisses der notwendige Versatz, um
für vorfahrtberechtigten das Hindernis erfolgreich passieren zu können. Aus
14 Verkehrsteilnehmer diesem Grund sind neben der Kenntnis der zukünf-
tig erreichbaren Positionen auch deren zugehörige
15 Aus Akzeptanzgesichtspunkten ist für einen vor- Zeitpunkte notwendig; andernfalls können die er-
fahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer ein System­ reichbaren Positionen des Ego-Fahrzeugs nicht mit
eingriff – einschließlich einer Warnung – erst zum der prädizierten Hindernisposition in Bezug gesetzt
16 letztmöglichen Zeitpunkt, d. h. insbesondere erst werden. Die Ausweichtrajektorie sollte unter der
dann zu empfehlen, wenn die durch das Fehlver- Randbedingung, den Kollisionsbereich schnellst-
17 halten des wartepflichtigen Verkehrsteilnehmers an- möglich wieder zu verlassen – das Hindernisob-
dernfalls hervorgerufene Kollision ohne Eingriff auf jekt sollte möglichst wenig zusätzliche Wegstrecke
Seiten des Ego-Fahrzeugs unvermeidbar wäre. Dies senkrecht zum Ego-Fahrzeug zurücklegen – den
18 führt zu einem signifikant geringeren Zeitbudget Lateralversatz maximieren. Bei der Planung der
zur Kollisionsvermeidung. Daher ist das Potenzial für dieses Szenario „optimalen“ Trajektorie sind
19 einer Warnung als Vorstufe zum aktiven Systemein- der verfügbare Ausweichraum, potenzielle weitere
griff in einem solchen Szenario zu vernachlässigen Kollisionsobjekte und die Fahrdynamikgrenzen
20 und eine entsprechende HMI-Ausprägung eher als zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit zur Planung
51.4  •  Geeignete Warn- und Eingriffsstrategien
989 51

.. Abb. 51.6  Vergleich möglicher Handlungsalternativen mit der prädizierten Hindernistrajektorie

einer diesen Randbedingungen entsprechenden Kollisionspunkt am Fahrzeug. Dies gilt insbeson-


Ausweichtrajektorie ist die situationsabhängige dere für eine Kollision auf Höhe der Fahrgastzelle,
zweifache Integration der reibwertabhängigen die statistisch betrachtet eine höhere Verletzungs-
Sollbeschleunigung ay,soll, wobei sich die einzelnen schwere zur Folge hat. Ein in Kreuzungsszenarien
Zeitabschnitte – d. h. die Dauer des Ein- und Ge- die Folgen lindernder Eingriff sollte demnach –
genlenkens – aus dem verfügbaren Ausweichraum wenn eine Kollision unvermeidlich ist – die Kolli-
ymax als maßgeblichen Einflussfaktor, gemäß den sionsgeschwindigkeit minimieren und den Kollisi-
nachfolgenden Gleichungen, ergeben. onspunkt am Fahrzeug auf einen Punkt außerhalb
In . Abb. 51.6 ist exemplarisch der Vergleich der Fahrgastzelle verlagern. Eine solche Verlagerung
der verschiedenen Handlungsalternativen grafisch kann durch eine gezielte Dosierung der Verzöge-
aufbereitet. Eine Maßnahme kann die Kollision nur rung [22] oder eine parallele Längs- und Querrege-
dann vermeiden, insofern die damit einhergehende lung der Fahrzeugbewegung [21] erreicht werden.
Trajektorie zu keinem Zeitpunkt die prädizierte Tra- Neben der Möglichkeit der nahezu vollständigen
jektorie des potenziellen Kollisionsobjekts berührt Ausnutzung des verfügbaren Kraftschlusspoten-
oder gar schneidet. Im Beispiel verbleibt somit le- zials Reifen – Fahrbahn führt ein kombinierter
diglich noch ein Ausweichmanöver, um die Kolli- Quer- und Längseingriff aufgrund der bereits dis-
sion zu vermeiden. kutierten Ausweichrichtung – in Bewegungsrich-
Ist aufgrund der jeweiligen Konstellation – be- tung des Hindernisses (vergleiche ▶ Abschn. 51.2.5)
dingt durch den verfügbaren Ausweichraum oder – zu einer Reduzierung des Kollisionswinkels. Dies
das grundsätzliche Annäherungsverhalten der bei- wiederum hat die weitere Reduktion der während
den Beteiligten – weder ein die Kollision vermei- der Kollision abgebauten Relativgeschwindigkeit
dendes Bremsen noch ein Ausweichen durchführ- zur Folge, gleichbedeutend mit einer zusätzlichen
bar, so verbleibt als letztmögliche Maßnahme noch Linderung der Kollisionsfolgen.
die Linderung der Kollisionsfolgen. In [21] wird eine Möglichkeit zur Realisierung
Maßgeblich für die Folgen einer Kollision im eines solchen Ausweichmanövers auf Basis der Be-
Kreuzungsbereich ist, neben dem während der Kol- trachtung einer Trajektorienschar mit variierten
lision abgebauten Geschwindigkeitsvektor Δv, der Beschleunigungsvektoren aEi beschrieben, durch
990 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

deren Betrag kE ai k D   g sowie dem zugehörigen durch die Vernachlässigung der Kurswinkelände-
1 Winkel i – gemäß den nachfolgenden Gl.  51.3 bis rung während des Manövers, mit zunehmender
51.6 vorgestellt: Manöverdauer zu steigenden Abweichungen zwi-
2 Z schen Soll- und Ist-Position (siehe ▶ Kap. 47). Die
xD v  cos Abweichungen überschreiten bei weitem die Tole-
 dt;
ranz für den Zielbereich eines die Kollisionsfolgen
3 durch Verlagerung des Kollisionspunktes lindern-
Z
yD v  si n den Manövers (Bereich des Hindernisfahrzeugs vor
4  dt;
der Vorderachse), so dass eine gewünschte Kollisi-
Z onskonstellation auf diese Weise nicht sichergestellt
5 v D v0 C ax;sol l . / dt; werden könnte.

6 D
Z
ay;sol l . /
dt:
51.5 Herausforderungen
v bei der Umsetzung
7
Der Winkel γ wird dabei von γ0 = 0° (Vollverzöge- Die Unfalldatenanalyse verdeutlicht, dass im Kreu-
rung) bis γmax = 90° (maximaler Lenkeingriff ohne zungsbereich ein vergleichsweise hohes Potenzial
8 Bremsbetätigung) variiert. Abhängig von der Be- zur Erhöhung der Verkehrssicherheit besteht, insbe-
wegungsrichtung des Hindernisses können die im sondere, da derzeit kein Seriensystem zur umfassen-
9 Prädiktionszeitraum tpred mit variiertem γ erreich- den Kreuzungsassistenz verfügbar ist. Einen ersten
baren Positionen der für den Stoßpunkt relevanten Schritt in diese Richtung geht die im Sommer 2013
10 vorderen Fahrzeugecke Pego,γ,t, mit der jeweils prädi- in der Mercedes-Benz S-Klasse (W222) eingeführte
zierten Position eines zu definierenden Soll-Kollisi- Ausprägung des Bremsassistenten „BAS plus“, die
onspunktes Pobs,soll,t am Hindernisobjekt verglichen Fußgänger und als Neuerung im Vergleich zu be-
51 werden (vgl. . Abb. 51.7). Das Minimum dieser reits verfügbaren Systemen (▶ Kap. 47) erstmals
Differenzbetrachtung nach Gl.  51.7 beschreibt die auch Fahrzeuge im Querverkehr erkennen kann.
12 minimal realisierbare euklidische Distanz zum Auf Basis dieser Erkennung kann der Fahrer im
Sollkollisionspunkt, der mit zugrunde liegender Kreuzungsbereich vor Querverkehr gewarnt wer-
Trajektorienschar im betrachteten Prädiktionszeit- den; zusätzlich wird die Bremsleistung einer vom
13 raum realisiert werden kann. Insofern dieses einen Fahrer eingeleiteten Gefahrenbremsung situations-
zu definierenden Grenzwert Δsmax nicht überschrei- gerecht verstärkt. Der Hersteller selbst bezeichnet
14 tet, bestimmt es über das korrespondierende γ = γCM, das System daher als Bremsassistenten mit Fußgän-
umgerechnet in den zugehörigen Beschleunigungs- ger- und querverkehrsspezifischer Funktionalität
15 vektor, die Vorgabe an die Trajektorienregelung [23]. Da das System eine Reaktion des Fahrers auf
sowie über t = tCM den prädizierten Kollisionszeit- die vorliegende Gefahrensituation voraussetzt, fällt
punkt: es noch nicht in die Kategorie eines Kreuzungsas-
16 sistenzsystems im Sinne dieses Kapitels.
max tpr ed
X X Ein möglicher Grund dafür, dass sich die Ein-
17 Pego;y;t  Pobs;sol l;t

Min führung designierter Kreuzungsassistenzsysteme
 D0 t Dt0
in Serie – trotz diverser Forschungsaktivitäten in
D
sCM ;tCM : den vergangenen Jahren – schwierig gestaltet, ist
18 die vergleichsweise komplexe Verkehrssituation im
Der aus Ausweichmanövern im Längsverkehr be- Kreuzungsbereich, die hohe Anforderungen ins-
19 kannte Ansatz der Übertragung des Kammschen besondere an die benötigte Umfeldsensorik stellt.
Kreises in den Ortsraum ist bei vorliegender Pro- Abhängig von der umzusetzenden Assistenzfunk-
20 blematik nicht zielführend. Bei einem Ausweichen tion ergeben sich Informationsanforderungen, die
ohne Zurücklenken führt dieser Ansatz, bedingt sich mit aktuellen Seriensensoren nicht oder nur
51.5  •  Herausforderungen bei der Umsetzung
991 51

.. Abb. 51.7  Prädiktion – Vergleich erreichbare Positionen mit Soll-Stoßpunkt

teilweise erfüllen lassen: Entsprechend leiten sich Ein spürbarer Sicherheitsgewinn ist in diesem Fall
Einschränkungen an die realisierbaren Assistenz- jedoch erst zu erwarten, wenn ein relevanter Anteil
funktionen ab. der Fahrzeuge oder Kreuzungen mit entsprechen-
Während für die Umsetzung des beschriebe- den Kommunikationssystemen ausgerüstet ist. In
nen STOP-Schild-Assistenten die Kenntnis über diesem Zusammenhang ist beispielsweise das For-
die vorliegende Verkehrsregelung und über den schungsprojekt simTD zu nennen, in dem Kom-
Abstand zur Haltelinie ausreichen, erfordern die munikationstechniken unter anderem hinsichtlich
beschriebenen Systeme zu Abbiege- oder Einbie- ihrer Eignung für Kreuzungsassistenzanwendungen
ge-Kreuzen-Assistenten zusätzliche Informationen untersucht werden [25].
über Position und Fahrzustandsgrößen anderer Stehen alle erforderlichen Informationen zur
Fahrzeuge im vorfahrtsberechtigten Verkehr so- Verfügung, so ergeben sich aus der Genauigkeit
wie grundlegende Daten über die Geometrie der dieser Daten zusätzliche Einschränkungen für
vorliegenden Kreuzung. Geometrie, Position und die vermeidbaren Unfalltypen. Am Beispiel der
Vorfahrtsregelung der Kreuzung ließen sich bei- Haltewunscherkennung des vorgestellten Einbie-
spielsweise in einer digitalen Karte vermerken [24] ge-Kreuzen-Assistenten ist dieser Zusammenhang
(mit den bekannten Problemen hinsichtlich der Ak- in . Abb. 51.8 qualitativ dargestellt [14]: Abgebil-
tualität des Kartenmaterials). det sind das Anhalteverhalten eines eher sportlichen
Die Herausforderung aus Sicht der Sensorik Fahrers, der geschwindigkeitsabhängige Bremsweg
liegt in der Bestimmung der Position des eige- des Fahrzeugs bei als konstant angenommener
nen Fahrzeugs und in der Erkennung des Fremd- Verzögerung (ax = −8 m/s2) und der Anhalteweg
verkehrs; letzteres erweist sich unter Verzicht auf des Fahrzeugs. Dieser Anhalteweg entspricht dem
Kommunikation insbesondere im Fall von Sicht- spätestmöglichen Warnpunkt bei Einsatz einer
behinderung als große Einschränkung für Systeme Teilbremsung und setzt sich vereinfacht aus dem
zur Einbiegen-/Kreuzen- und Abbiegeassistenz. während der Reaktionszeit des Fahrers teilverzögert
Dann nämlich ist der Nutzen autarker Umfeldsen- zurückgelegten Weg (TR = 1 s; ax = −2 m/s2) und dem
soren (Radar, Lidar oder Video) begrenzt, da durch Bremsweg zusammen.
Objekte wie parkende Fahrzeuge je nach Unfalls- Die Abbildung zeigt, dass sich das Anhaltever-
zenario auch der Erfassungsbereich der Sensoren halten des eher sportlichen Fahrers mit abnehmen-
eingeschränkt wird. Hier werden die Vorzüge von dem Abstand zur Kreuzung näher an die Kurve
Kommunikationslösungen deutlich, die den In- des spätestmöglichen Warnpunktes anschmiegt
formationsaustausch zwischen Fahrzeugen – un- und diese sogar schneidet. Dementsprechend ist
geachtet parkender Fahrzeuge etc. – ermöglichen. das Warndilemma für diesen Fahrertyp nur ober-
992 Kapitel 51 • Kreuzungsassistenz

.. Abb. 51.8 Auswirkung
1 von Sensorungenauigkei-
ten auf die Warnschwellen
eines Einbiege-/Kreu-
2 zen-Assistenten
Fahrzeuggeschwindigkeit

3
4
5
6 Bremsweg
Anhalteweg
7 Sportlicher Fahrer

8 Abstand Fahrzeug - Kreuzung

halb der durch diesen Schnittpunkt gegebenen ne-Interaktion in Probandenversuchen im dynami-


9 Mindestgeschwindigkeit beherrschbar. Ergeben schen Fahrsimulator der BMW Group [26]. Die im
sich nun Ungenauigkeiten in der Bestimmung von Rahmen dieser Versuche gewonnenen Daten lassen
10 Abstand und Geschwindigkeit (in . Abb. 51.8 bei- erste Abschätzungen hinsichtlich Sicherheitserhö-
spielhaft durch Rechtecke für eine fiktive Sensorik hung, Entlastungspotenzial für den Fahrer, aber
dargestellt), so ist dies bei der Auswahl eines geeig- auch hinsichtlich möglicher Risikokompensation
51 neten Warnkriteriums zu berücksichtigen. Für den zu. Im Rahmen abgeschlossener Forschungspro-
in . Abb. 51.8 dargestellten Fall bedeutet dies, dass jekte wie AKTIV und INTERSAFE-2 existieren
12 die Mindestgeschwindigkeit, unterhalb derer keine zudem prototypisch umgesetzte Kreuzungsassis-
rechtzeitige Aussage über die Notwendigkeit einer tenzsysteme im Fahrzeug [27, 28].
Warnung möglich ist, mit zunehmender Ungenau- Die aufgeführten Funktionalitäten adressieren
13 igkeit der genannten Eingangsgrößen ansteigt. Ein jeweils nur einen Teil des Unfallgeschehens im
ähnlicher Zusammenhang zeigt sich bei der Berück- Kreuzungsbereich. Ausblickend erscheint die In-
14 sichtigung anderer Verkehrsteilnehmer. Auch hier tegration unterschiedlicher kreuzungsspezifischer
ergeben sich mit abnehmender Fahrzeuggeschwin- Assistenzfunktionen in einem Kreuzungsassis-
15 digkeit höhere Sensoranforderungen [14]. Somit tenzsystem sinnvoll. Aus technischer Sicht erge-
entstehen gerade für den hinsichtlich des Unfallge- ben sich einerseits Synergieeffekte hinsichtlich der
schehens besonders interessanten innerstädtischen erforderlichen Technologien, andererseits ist die
16 Bereich – aufgrund der geringeren Geschwindigkeit Unterstützung des Fahrers durch ein einheitliches
– höhere Anforderungen bezüglich der Sensorge- Human-Machine-Interface (HMI) möglich. Zu-
17 nauigkeit. dem erscheint ein sämtliche Szenarien abdeckendes
Zusätzliche Bedingung für eine Verringerung Kreuzungsassistenzsystem gegenüber Insellösungen
der Unfallzahlen an Kreuzungen ist, dass der Fah- hinsichtlich der zu erwartenden Fahrerakzeptanz
18 rer tatsächlich bereit ist, Systeme zur Kreuzungsas- vorteilhaft. Als Ergebnis des EU-Projekts PReVENT
sistenz zu nutzen. Daher ist bereits in einer frühen sind erste Schritte in Richtung eines derartigen, um-
19 Entwicklungsphase sicherzustellen, dass der Fahrer fassenden Kreuzungsassistenten erkennbar [9].
die beschriebenen Systemfunktionen annimmt und Als möglicher Treiber für die baldige Einführung
20 akzeptiert. Für einen Teil der vorgestellten Funktio- von Kreuzungsassistenzsystemen – auch außerhalb
nen erfolgte eine Evaluierung der Mensch-Maschi- des Segments der Premium- und Oberklassefahr-
Literatur
993 51

zeuge – könnte sich die Verbraucherschutzorgani- 12 Hopstock, M.: Advanced Systems for Intersection Safety wi-
thin the BMW Dynamic Driving Simulator. In: Proceedings
sation Euro NCAP erweisen: diese hat für die kom-
of PReVENT in Action, Versailles (2007)
menden Jahre eine Erweiterung der bestehenden 13 Klanner, F.: Entwicklung eines kommunikationsbasierten
Testverfahren zur Bewertung der Fahrzeugsicher- Querverkehrsassistenten im Fahrzeug VDI‐Berichte Reihe
heit angekündigt [29]. Das künftige Sterne-Rating 12, Bd. 685. VDI-Verlag, Düsseldorf (2008)
könnte daher auch Tests von Notbremssystemen in 14 Mages, M.: Top‐Down‐Funktionsentwicklung eines Ein-
biege‐ und Kreuzenassistenten VDI Berichte Reihe 12, Bd.
typischen Kreuzungsszenarien beinhalten.
694. VDI-Verlag, Düsseldorf (2009)
15 Suzuki, T., Benmimoun, A., Chen, J.: Development of an
Intersection Assistant. Technischer Bericht, Denso Auto-
Danksagung motive 12(1), 94 (2007)
16 Pierowicz, J., et al.: Intersection Collision Avoidance Using
IST Countermeasures, NHTSA DOT HS 809 171, Final Report
Herzlicher Dank gilt Matthias Hopstock, der als
(2000)
Koautor dieses Kapitels an der ersten und zweiten 17 Meitinger, K.-H., Heißing, B., Ehmanns, D.: Linksabbiegeas-
Auflage des Handbuchs Fahrerassistenzsysteme be- sistenz – Beispiel für die Top‐Down‐Entwicklung eines
teiligt war. aktiven Sicherheitssystems. In: Aktive Sicherheit durch
Fahrerassistenzsysteme, München (2006)
18 Chovan, J., Tijerina, L., Everson, J., Pierowicz, J., Hendricks,
D.: Examination of Intersection, Left Turn Across Path Cras-
Literatur
hes and Potential IVHS Countermeasures, Potential IVHS
Countermeasures, Cambridge (1994)
1 Institut für Straßenverkehr: Unfalltypenkatalog. Gesamt- 19 Branz, W., Öchsle, F.: Intersection Assistance – Collision
verband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., Köln Avoidance System for Turns Across Opposing Lanes of
(1998) Traffic. In: Proceedings of 5th European Congress on ITS,
2 Statistisches Bundesamt: Verkehr – Verkehrsunfälle 2009 Hannover (2005)
Fachserie 8/Reihe 7. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 20 Kraftfahrt‐Bundesamt: Bestand an Kraftfahrzeugen und
(2010) Kraftfahrzeuganhängern nach Fahrzeugalter, FZ 15, 2012
3 Hoppe, M., Zobel, R., Schlag, B.: Identifikation von Einfluss- 21 Stoff, A., Liers, H.: Ausweichfunktionalität für Kreuzungss-
größen auf Verkehrsunfälle als Grundlage für die Beurtei- zenarien zur Unfallfolgenlinderung durch Optimierung der
lung von Fahrerassistenzsystemen am Beispiel von Kreu- Crash‐Kompatibilität. In: 9. VDI‐Tagung Fahrzeugsicherheit
zungsunfällen. In: Fahrer im 21st. Jahrhundert. VDI-Verlag, – Sicherheit 2.0, Berlin (2013)
Braunschweig (2007) 22 Heck, P., et al.: Collision Mitigation for Crossing Traffic in Ur-
4 D40.4 „INTERSAFE Requirements”, PReVENT SP Deliverable, ban Scenarios. In: Proceedings of IEEE Intelligent Vehicles
Brüssel, 2005 Symposium, Gold Coast (2013)
5 GIDAS – German In‐Depth Accident Study – Unfalldaten- 23 Daimler AG: Mercedes‐Benz S‐Klasse Werbebroschüre.
bank Stand 07.2010, Dresden und Hannover, 2010 Daimler AG, Stuttgart (2013)
6 Meitinger, K.-H., et al.: Systematische Top‐Down‐Entwick- 24 Weiss, T., Dietmayer, K.: Automatic Detection of Traffic In-
lung von Kreuzungsassistenzsystemen VDI‐Berichte, Bd. frastructure Objects for the Rapid Generation of Detailed
1864. (2004) Digital Maps Using Laser Scanners. In: Proceedings of IEEE
7 Garber, N., Miller, J., Abel, R., et al.: The Impact of Red Light Intelligent Vehicles Symposium. IEEE Intelligent Transpor-
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Virginia Transportation Research Council, Final Report, 25 simTD Deliverable D21.4 – Spezifikation der Kommunika-
Charlottesville (2007) tionsprotokolle, Sindelfingen, 2009
8 Yan, X., Radwan, E., Klee, H., Guo, D.: Driver Behavior Du- 26 Gradenegger, B., et al.: Untersuchung des Linksabbiegeas-
ring Yellow Change Interval. In: Proceedings of DSC North sistenten, des Querverkehrsassistenten, des Ampelassis-
America, Orlando (2005) tenten und des potentiellen Nutzens eines Workload‐Ma-
9 Hopstock, M., Klanner, F.: Intersection Safety – Just a Vision? nagement‐Systems, Abschlussbericht. Würzburger Institut
BMW Activities for Active and Preventive Safety at Intersec- für Verkehrswissenschaften, Würzburg (2006)
tions. In: Proceedings of Car Safety, Berlin (2007) 27 AKTIV Internetseite: www.aktiv-online.org (abgerufen am
10 Kosch, T., Ehmanns, D.: Entwicklung von Kreuzungsassis- 16.12.2010)
tenzsystemen und Funktionalitätserweiterungen durch 28 Meinecke, M.‐M. et al.: User Needs and Operational Re-
den Einsatz von Kommunikationstechnologien. In: Aktive quirements for a Cooperative Intersecion Safety System,
Sicherheit durch Fahrerassistenzsysteme, München (2006) Intersafe2 Deliverable 3.1, 2009
11 Donath, M., et al.: Intersection Decision Support: An Over- 29 Euro NCAP: 2020 ROADMAP, Brüssel, June 2013
view – Final Report. University of Minnesota, September
(2007)
995 52

Stauassistenz
und -automation
Stefan Lüke, Oliver Fochler, Thomas Schaller, Uwe Regensburger

52.1 Einleitung – 996
52.2 Umfeldinformationen – 997
52.3 Ausprägungsstufen – 998
52.4 Interaktion von Fahrer und System  –  1003
52.5 Schlussbemerkungen – 1007
Literatur – 1007

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_52, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
996 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

52.1 Einleitung 52.1.2 Nutzerakzeptanz


1
Die Stausituation, s.  . Abb. 52.1, wird von jedem Eine wachsende Zahl von Nutzern ist durch die
2 Autofahrer als belastend und störend empfunden: zunehmende Verbreitung von ACC-Systemen in-
Der meist unvorhergesehene zusätzliche Zeitauf- zwischen mit der Übernahme der Längsführung
wand durch einen Stau bei einer Fahrt zur Arbeit, durch das Fahrzeug vertraut. Im Stau oder stocken-
3 zum Einkaufen, zu Freunden oder in den Urlaub den Verkehr müssen Fahrer bei diesen Systemen
beinhaltet ein hohes Maß an Unzufriedenheit, Stress jedoch noch permanent die Querführung gewähr-
4 und Aggression. leisten. Studien zeigen, dass die meisten Fahrer
Somit stellt der Stau eine der Situationen dar, in daher Systeme bevorzugen würden, die ihnen in
5 denen ein hoher Automatisierungsgrad einen hohen Stop-and-go-Situationen auch die Querführung
Kundennutzen erwarten lässt – wenn die Situation abnehmen. Aus Kundensicht stehen dabei sowohl
an sich nicht vermeidbar ist. Des Weiteren können die Entlastung von den monotonen Fahraufgaben
6 aufgrund der vergleichsweise wenig komplexen Si- im Stau als auch das erhöhte Sicherheitsgefühl bei
tuation schon in naher Zukunft hohe Automatisie- möglichen Nebentätigkeiten im Vordergrund [1].
7 rungsgrade im Stau erwartet werden. Im Folgenden Es ist demnach davon auszugehen, dass die Erwei-
soll dazu auf die Motivation, Bedingungen und Aus- terung der reinen FSRA-Lösung um eine Querfüh-
prägungen der Assistenz und Automation im Stau rungsfunktion die Attraktivität und Marktchancen
8 näher eingegangen werden. dieser Systeme weiter steigern wird.

9
52.1.1 Motivation 52.1.3 Begriffsdefinitionen
10
Heutige Assistenzsysteme für den Stop-and-go-Ver- Zur begrifflichen und rechtlichen Einordnung ver-
kehr übernehmen nur die Längsregelung und entlas- schiedener Realisierungsformen der Systeme zur Un-
11 ten den Fahrer damit nur teilweise von der Fahrauf- terstützung des Fahrers in Stausituationen ist es sinn-
gabe; durch die zusätzliche Assistenz oder Automation voll, diese nicht einzeln zu betrachten, sondern sie
52 der Querführungsaufgabe kann der Fahrer weiter anhand einer allgemein gefassteren Kategorisierung
entlastet werden. Bei der Systemausprägung stehen zu bewerten. Eine solche begriffliche Kategorisierung
rechtliche Rahmenbedingungen, Systemkosten, Haf- von Ausprägungsstufen allgemeiner Assistenz- oder
13 tungsfragen und zusätzliche Automatisierungsrisi- Automationssysteme findet sich in einem Bericht der
ken einem hohen Automatisierungsgrad gegenüber. Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) [2]. Details
14 Adaptive Cruise Control (ACC)-Systeme, die zur rechtlichen Einordnung dieser Systeme sind in
– zumeist radargestützt – die Längsführung des ▶ Kap. 3 dieses Buches ausgeführt. Entscheidend für
15 Fahrzeugs übernehmen, haben sich auf dem Markt die Diskussion an dieser Stelle sind die Definitionen
etabliert und werden inzwischen von nahezu allen der Ausprägungsstufen und deren Implikationen für
Herstellern angeboten. In den letzten Jahren wur- die Verantwortlichkeit des Fahrers hinsichtlich der
16 den vermehrt Full Speed Range Adaptive Cruise Fahrzeugführung in der Stausituation.
Control (FSRA)-Systeme (s. ▶ Kap. 46) eingeführt, Bei assistierten Systemen übernimmt das Sys-
17 die eine Regelung der Geschwindigkeit bis hin zum tem entweder die Längs- oder die Querführung des
Stillstand des Fahrzeugs inklusive anschließendem Fahrzeugs in gewissen Grenzen, wobei sich daraus
Wiederanfahren bieten. ableitet, dass der Fahrer wegen der verbleibenden
18 Der größere Fahrernutzen solcher Systeme lässt Aufgabe das System jederzeit überwacht und zur
zudem eine verstärkte Nutzung durch die Kunden Übernahme der Fahrzeugführung bereit ist. Teilau-
19 erwarten. Eine längere Nutzungszeit von Regelsyste- tomatisierte Systeme übernehmen nun gleichzeitig
men erhöht wiederum die damit verbundenen Vor- die Längs- und die Querführung in bestimmten
20 teile einer flüssigeren Fahrweise, wie beispielsweise Szenarien, der Fahrer muss das System aber auch
eine verbesserte CO2-Effizienz. hier dauerhaft überwachen und zur sofortigen Über-
52.2 • Umfeldinformationen
997 52

.. Abb. 52.1  Beispielhafte Stausituation auf deutscher Autobahn

nahme der Fahraufgabe bereit sein. Eine hierzu 52.2 Umfeldinformationen


mögliche Maßnahme ist der Hands-on-Zwang. Eine
Hands-off-Erkennung – bezogen auf das Lenkrad – Bevor auf die verschiedenen Ausprägungen und re-
und eine damit verknüpfte Deaktivierungsstrategie gelungstechnischen Aspekte der Stauassistenz und
sollen verhindern, dass der Fahrer sich längere Zeit Stauautomation einzugehen ist, wird hier zunächst
vom Verkehrsgeschehen abwendet. Ein entscheiden- die Frage behandelt, welche Informationen über die
der Schritt ergibt sich daher beim Übergang zu hoch- Umgebung für die Realisation der Funktionen zur
automatisierten Systemen, die dem Fahrer in spezifi- Verfügung stehen (müssen) und wie diese gesam-
schen Situationen eine Zeitreserve zur Übernahme melt werden.
der Fahrzeugführung einräumen und ihn von der Grundlage für alle Funktionen der Stauunter-
Verantwortung der dauerhaften Überwachung des stützung bilden zum einen Informationen über
Systems entbinden. Die höchste Ausprägungsstufe Fahrstreifenstrukturierung – z. B. Fahrstreifenmar-
bilden vollautomatisierte Systeme, die den Fahrer in kierungen – und zum anderen Informationen über
definierten Anwendungsfällen vollständig von der weitere Verkehrsteilnehmer, die sich in unmittelba-
Überwachung des Systems entbinden. rer Nachbarschaft zum eigenen Fahrzeug befinden.
Ein für das praktische Erleben des Systems Fahrbahnmarkierungen werden üblicherweise mit
relevanter Aspekt ist die Frage, ob und wie lange kamerabasierten Systemen (vgl. ▶ Kap. 21) detek-
der Fahrer die Hände vom Lenkrad nehmen, also tiert, Daten über Positionen und Bewegungen um-
„hands-off “ fahren kann. Auch teilautomatisierte gebender Fahrzeuge sind u. a. über Radarsysteme (s.
Systeme können dies dem Fahrer bereits ermögli- ▶ Kap. 17) und/oder Kamerasysteme mit entspre-
chen, solange überraschende Situationen durch den chenden Objekterkennungsalgorithmen verfügbar
– per definitionem jederzeit aufmerksamen – Fahrer (s. ▶ Kap. 25).
sicher bewältigt werden können [2]. Ein deutlicher Für eine grundlegende Basis-Funktionalität
Komfortgewinn ergibt sich, wenn der Fahrer die einer Stauunterstützung ist zunächst die Kenntnis
Hände im Stop-and-go-Verkehr für längere Zeit über die unmittelbar vor dem eigenen Fahrzeug
vom Lenkrad nehmen und sich damit auch fahr- liegenden Fahrstreifenbegrenzungen und über Po-
fremden Tätigkeiten widmen kann. sition und Bewegungszustand des Vorderfahrzeugs
998 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

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6
7 .. Abb. 52.2  Illustration der Abstufungen in Komplexität und Größe der Fahrerentlastung

ausreichend. Damit sind in vielen heutigen Fahr- betrachteten Systems bis hin zu hochautomatisierten
8 zeugen, die mit Frontradaren für ACC-Systeme Funktionen gesteigert, so kann die Einbindung von
(s. ▶ Kap. 46) und Kameras für Lane Departure GPS-Positionen und hochgenauen Kartendaten nötig
9 Warning oder Lane Keeping Support (s. ▶ Kap. 49) werden, um die erforderliche Redundanz hinsicht-
ausgerüstet sind, bereits die sensorischen Grund- lich der Anzahl und Krümmung der Fahrstreifen
10 lagen verfügbar. Insbesondere in dichtem Verkehr, zu erlangen. Diese Informationen spielen insbeson-
wo Fahrstreifenmarkierungen durch das vorausfah- dere für eine Applikation der Funktionen auf inner-
rende Fahrzeug ganz oder teilweise verdeckt sein städtische Szenarien eine entscheidende Rolle. Der
11 können, muss die Fahrzeugquerregelung eine Mi- Abgleich mit der sensorischen Erfassung von über
schung aus Orientierung an Fahrstreifenmarkierun- Fahrbahnmarkierungen hinausgehenden Landmar-
52 gen und Vorderfahrzeug vorsehen. ken, beispielsweise Brückenpfeilern oder Verkehrs-
Für eine umfassendere, weitergehende Ent- zeichen, ist in solchen Realisierungen naheliegend.
lastung des Fahrers sind Informationen über den
13 seitlichen und rückwärtigen Verkehr unerlässlich.
Seitlich fahrende Fahrzeuge und seitlich liegende 52.3 Ausprägungsstufen
14 Fahrstreifenmarkierungen könnten hierbei durch
seitlich und rückwärtig angebrachte Kameras eines 52.3.1 Stop-and-go-Assistent
mit reiner Längsregelung
15 sogenannten Surround-View-Systems erfasst wer-
den. Auch Nahbereichsradare zur Verfolgung seit-
lich fahrender Fahrzeuge können hier zum Einsatz FSRA kann funktional und technisch als Grund-
16 kommen. Aufgrund der vergleichsweise niedrigen lage für die weitergehenden Ausprägungsstufen der
Relativgeschwindigkeiten in den für Stausysteme Stauassistenz und -automation, s.  . Abb. 52.2, ge-
17 relevanten Szenarien kann auf rückwärtige Fernbe- sehen werden, da es die komplette Längsregelung
reichsradare verzichtet werden. eines Fahrzeugs abdeckt.
GPS-Unterstützung könnte in niedrigen Auto- Neben der Assistenz bei der Längsführung muss
18 matisierungsstufen dazu verwendet werden, um die der Fahrer bei FSRA-Systemen die Querführung
Funktion auf sichere und daher dem vorgesehenen permanent selbst durchführen. Das System bleibt
19 Nutzungsszenario entsprechende Bereiche – beispiels- somit technisch und rechtlich ein Assistenzsystem,
weise Autobahnen – einzuschränken. Kartendaten bei dem der Fahrer in seiner Fahraufgabe unter-
20 können aber auch zur Verbesserung der Systemver- stützt wird, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt die
fügbarkeit genutzt werden: Wird die Komplexität des Verantwortung abzugeben.
52.3 • Ausprägungsstufen
999 52

0 1 0 1 0 1
yP0 0 vEV 0 y0
B C B C B C
BP C D B0 vEV C B C
@ A @ 0 A  @ A
P T 0 0 0 T
0 1
vEV 0 !
B C ˇEV
B
C@ 0 1C
A  P :
EV
0 0 (52.1)

Um für den Fahrzeugfolgemodus die relative Po-


sition des Vorderfahrzeugs PF C .xF C =yF C / zu
berücksichtigen, wird angenommen, dass sich das
Vorderfahrzeug entlang der Solltrajektorie bewegt,
wodurch mit xT D xF C und yT D yF C gilt:

.. Abb. 52.3  Illustration der relevanten Größen für die 1 2


Beschreibung der Trajektorienregelung yF C D y0 C xF C   C  x  T :
2 FC (52.2)

52.3.2 Stauassistent (Fahrzeugfolge- Informationen aus der Kamera-Bildverarbeitung


und Fahrstreifenhalteassistent) über die relative Position von Fahrstreifenmarkie-
rungen und somit der Abstand zur Mitte des Fahr-
Gegenüber einer Längsführungsassistenz durch streifens y0BV , die Orientierung BV zu den Linien
FSRA unterstützen Assistenzsysteme für Stausitu- und der Krümmung der Fahrbahn TBV können
ationen auch in der Querführung. Dies geschieht direkt dazu genutzt werden, eine Solltrajektorie zur
über das Aufbringen eines Lenkmoments, mit dem Querführung zur Fahrstreifenmitte – Mitte zwi-
Ziel, dass das Fahrzeug einer definierten Solltrajek- schen zwei Fahrstreifenmarkierungen – zu errech-
torie folgt. nen. Der Index BV verdeutlicht hier die Herkunft
Zur Berechnung dieser Solltrajektorie liegen dem der Fahrstreifenmarkierungsinformation aus der
System, wie in ▶ Abschn. 52.2 erläutert, zwei grund- Bildverarbeitung.
sätzlich diversitäre Informationen vor: zum einen die Somit gilt für die Messgleichung:
Position – und somit die Bewegung relevanter Fahr-
zeuge – und zum anderen die Information über Fahr- 0 1 0 1
yF C 1 xF C 1 2
x 0 1
streifenmarkierungen. Damit ein entsprechender B C B 2 FC C
y0
Bahnregler aufgesetzt werden kann, muss die zum B y C B1 0 C
0 C B C
B 0BV C B
Ego-Fahrzeug relative Solltrajektorie aus den Daten B CDB B
C  @ CA:
B C B0 1 C
0 A
@ BV A @
Abweichung y0 (Exzentrizität im Fahrstreifen), Ori- T
TBV 0 0 1
entierung  (Heading) zur Trajektorie und Trajek- (52.3)
torienkrümmung T bestehen (vgl. . Abb. 52.3). Da
diese die Eingangsgrößen für den Vorausschauregler Je nach zu erwartender Güte der für die Berechnung
in . Abb. 52.4 darstellen, sollen diese Werte über ein der Solltrajektorie relevanten Informationen kann
Kalman-Filter beobachtet werden. Der Aufbau dieses mittels der Messwert-Kovarianzmatrix Q eine Ge-
Filters ist im Folgenden dargestellt. wichtung zwischen Vorderfahrzeug und Fahrstrei-
Die Bewegung eines Fahrzeugs entlang einer fenmarkierung vorgenommen werden.
Trajektorie kann unter Berücksichtigung der Fahr- Der berechnete Zustandsvektor und somit die
zeugeigenbewegung (Eigengeschwindigkeit vEV , relative Solltrajektorie kann nun dafür verwendet
Schwimmwinkel ˇEV und Gierrate P EV ) mit fol- werden, eine Querregelung, wie in . Abb. 52.4
genden Bewegungsgleichungen dargestellt werden: gezeigt, aufzusetzen. Somit wird ein Soll-Lenk-
1000 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

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.. Abb. 52.4  Regelkreis für die Querregelung

10
moment zur Ansteuerung der Servoeinheit des Fahrstreifenmarkierungen (Exzentrizität im Fahr-
Lenksystems berechnet. Durch dieses Lenkmoment streifen, Orientierung zur Trajektorie und Trajekto-
11 erfolgt eine dauerhafte Querführung hin zur Soll- rienkrümmung) dient – falls verfügbar – zum einen
trajektorie. grundsätzlich der Verbesserung der Regelungsquali-
52 Stauassistenten der ersten Generation nut- tät durch Berücksichtigung einer globalen Orientie-
zen die Information über die Relativ-Position des rungs- und Krümmungsinformation. Zum anderen
Vorderfahrzeugs in Fällen, in denen Fahrstreifen- dient es dem Generieren einer frühzeitigen Über-
13 markierungen nicht ausreichend erkannt werden. nahmeaufforderung und Abschaltung der Quer-
Die Sicht üblicher, hinter der Windschutzscheibe führungsunterstützung, falls das Vorderfahrzeug
14 montierter ADAS-Kameras auf Fahrstreifenmarkie- die Fahrstreifenmarkierungen überschreitet und
rungen wird bei Staugeschwindigkeiten häufig auf- einen Fahrstreifenwechsel ausführt. Besser als ein
15 grund geringer Abstände durch andere Fahrzeuge einfaches Abschalten ist in dieser Fahrsituation ein
verdeckt. Gleichzeitig stehen jedoch Informationen Folgen entlang der Fahrstreifenmarkierungen (Zen-
über das Vorderfahrzeug – vor allem in Stausitua- trierung im Fahrstreifen), falls diese ausreichend gut
16 tionen – wesentlich häufiger und stabiler zur Ver- und lange erkannt werden. Auf diese Weise ist es
fügung. In diesem Zustand ist der Stauassistent als das Ziel des Assistenzsystems, das Fahrzeug bis zur
17 Folgeassistent ausgeprägt, siehe . Abb. 52.5. Dabei Übernahme durch den Fahrer im eigenen Fahrstrei-
erhält der Fahrer ein für ihn durchgängig nachvoll- fen zu halten.
ziehbares Systemverhalten, nämlich die Verfolgung Aus Sicht des Fahrers erscheint eine Querfüh-
18 des Vorderfahrzeugs. Bei einem Fahrstreifenwechsel rungsunterstützung innerhalb des Fahrstreifens auf
des Vorderfahrzeugs muss der Fahrer die Querrege- Basis der Fahrbahnmarkierung als erstrebenswert.
19 lung wieder vollständig selbst übernehmen, da das Somit wird das Entwicklungsziel von Stauassis-
System in der Ausprägung Folgeassistent dem Vor- tenten der Zukunft stärker in die Richtung Fahr-
20 derfahrzeug auch beim Fahrstreifenwechsel folgen streifenhalteassistent gehen, wofür eine höhere
würde. Die Informationen aus der Detektion der Verfügbarkeit und stabilere Erkennung der Fahr-
52.3 • Ausprägungsstufen
1001 52

.. Abb. 52.5  Systemausprägung Folgeassistent

.. Abb. 52.6  Systemausprägung Fahrstreifenhalteassistent

streifenmarkierung nötig ist. Dies kann beispiels- 52.3.3 Fahrstreifenfolgeautomat


weise mithilfe weiterentwickelter Kamerasensoren bis Grenzgeschwindigkeit
erreicht werden, die bereits im Bereich der Ein-
parkassistenz verwendet werden und Bildverar- Die im vorigen Abschnitt beschriebene Ausprägung
beitungsalgorithmen auf Basis der Informationen einer Stauassistenz-Funktion als Fahrstreifenhal-
von Außenspiegelkameras und Rückfahrkameras teassistent erfüllt die Erwartungen der Nutzer an
beinhalten. Außerdem kann durch erweiterte Sen- das Systemverhalten; es erfordert vom Fahrer aber
sorik im Seiten- und Heckbereich des Fahrzeugs noch eine dauerhafte Überwachung des Systems. Der
die Information über umliegende Fahrzeuge dafür Mehrwert dieses Assistenzsystems liegt damit primär
verwendet werden, ein „Mitschwimmen“ im Stau in der Entlastung des Fahrers, die Beschäftigung mit
zu ermöglichen – auch wenn kurzfristig keine Fahr- Nebentätigkeiten ist formell nicht möglich. Ein ge-
streifeninformationen zur Verfügung stehen [1]. mäß der BASt-Einstufung (s. ▶ Abschn. 52.1.3) bis
Obwohl anzunehmen ist, dass das Systemver- zu einer Grenzgeschwindigkeit hochautomatisiertes
halten eines Fahrstreifenhalteassistenten, siehe Fahrstreifenfolgesystem, s. . Abb. 52.7, ist damit als
. Abb. 52.6, der Erwartungshaltung des Fahrers logischer nächster Schritt anzusehen. Durch die in
entspricht, wird dieses – aufgrund von Einschrän- Maßen mögliche Durchführung von Nebentätigkei-
kungen der Sensorik bezüglich Falscherkennungen ten wird ein solcher Fahrstreifenfolgeautomat einen
und Nichtverfügbarkeiten – nicht als hochautoma- spürbaren Kundennutzen mit sich bringen.
tisiertes System nach ▶ Abschn. 52.1.3 ausgeprägt Trotz vergleichbarer Funktionalität sind die
sein, sondern als Teilautomatisierung einzuordnen Anforderungen an ein solches System deutlich hö-
sein. Die Systemüberwachung durch den Fahrer ist her als bei einem Fahrstreifenhalteassistenten. Da
somit ein wichtiger Bestandteil der Systemausle- der Fahrer nicht mehr in der Pflicht ist, das System
gung eines Fahrstreifenhalteassistenten. dauerhaft zu überwachen, muss sichergestellt sein,
dass das System keinen unbeabsichtigten Fahrstrei-
fenwechsel ausführt. Damit ergeben sich höhere
1002 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

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11 .. Abb. 52.7  Illustration einer automatisierten Staufahrt (Quelle: Continental AG)

0 1 0 10 1
52 Anforderungen an die Verfügbarkeit der Fahrstrei- y0l
B C B
1 0 0
CB C
y0
feninformation. B C D B0 0A @ C
C B
@ lA @ 1 A:
Zudem muss dem Fahrer im Vergleich zum
13 Fahrzeugfolgeassistent und Fahrstreifenhalteassis- T l 0 0 1 T (52.4)
tent beim Erreichen von Systemgrenzen – im be-
14 trachteten Fall insbesondere der Grenzgeschwin- Der Index l gibt hierbei an, dass die Messgrößen zur
digkeit des Fahrstreifenfolgeautomaten – oder in Berechnung der Solltrajektorie aus verschiedenen
15 Fehlerfällen eine ausreichende Übernahmezeit zur Quellen stammen können, z. B. Frontkamera, Park-
Verfügung gestellt werden, bevor er die Fahraufgabe kamera, hochgenaue digitale Karten.
wieder übernehmen muss. Um den Komfortgewinn Aus diesen Anforderungen ergeben sich hohe
16 des Fahrers nicht durch zu häufige Übernahmeauf- Ansprüche an Redundanzkonzepte für Umgebungs-
forderungen zunichte zu machen, ist zudem eine erfassung, Funktion und Aktorik. Das System muss
17 hohe Verfügbarkeit des Systems zu gewährleisten. so ausgelegt und abgesichert werden, dass innerhalb
Die Einbindung von hochgenauem Kartenmaterial der definierten Übernahmezeiten keine kritischen
in Verbindung mit einem Straßenmodell könnte Situationen auftreten, die das Fahrzeug nicht selbst-
18 hier eine Möglichkeit bilden, die Verfügbarkeit des ständig beherrschen kann.
Systems – beispielsweise bei fehlenden Fahrbahn- Die Grenzgeschwindigkeit des Systems sollte
19 markierungen – weiter zu erhöhen. Durch den – wie auch schon im Fall der Ausprägung als As-
Wegfall der Vorderfahrzeuginformation zur Be- sistenzsystem – so gewählt werden, dass ein „Mit-
20 rechnung der Solltrajektorie vereinfacht sich die in schwimmen“ in typischen Stop-and-go-Situationen
Gl. 52.3 dargestellte Messgleichung zu ermöglicht wird, ohne durch eine zu hoch gewählte
52.4  •  Interaktion von Fahrer und System
1003 52

.. Abb. 52.8  Stauassistent a) aktiv und b) verfügbar (Quelle: Bedienungsanleitung BMW i3, 2013)

Grenze unnötige Systemanforderungen zu erzeu- stellt einen neuen Betriebszustand (Mode) dar, der
gen. Studien über Stausituationen zeigen, dass eine allerdings nur in bestimmten Situationen (Stau, sto-
obere Grenze in der Größenordnung von 50 km/h ckender Verkehr) zur Verfügung stehen soll.
ein komfortables Erleben der Funktion durch den
Nutzer ermöglichen sollte [3]. 52.4.1.1 Beispiel: HMI bei BMW
Im Folgenden ist das Anzeigekonzept des Stauassis-
tenten des BMW i3 dargestellt. Ziel des BMW-Stau-
52.4 Interaktion von Fahrer assistenten ist es, dem Fahrer eine Entlastung in
und System der Längs- und Querführung in Stausituationen zu
ermöglichen. Der bei BMW seit 2013 angebotene
Ein wichtiger Aspekt bei der Realisation solcher Stauassistent benötigt zur Längs- und Querführung
Systeme – wie auch bei der Ausprägung als Assis- nur eine Monokamera, wodurch dieses System ver-
tenzsystem – wird die Gestaltung der Mensch-Ma- gleichsweise kostengünstig über alle Baureihen, und
schine-Schnittstelle (engl. Human Machine Inter- somit auch im BMW i3, angeboten wird.
face, kurz HMI) sein. Der Fahrer sollte sich über Die aktive Längs- und Querführungsunterstüt-
den Systemzustand jederzeit im Klaren sein, um in zung im Stau wird hier, wie in . Abb. 52.8a dar-
Übernahmesituationen intuitiv richtig reagieren gestellt, durch das Lenkrad und den verlängerten
können. Über eine Fahrerzustandserkennung, s. seitlichen Balken angezeigt. Ist die Funktion akti-
▶ Kap. 38, ist künftig eine dynamische Interaktion viert und aufgrund der Rahmenbedingungen (z. B.
zwischen Fahrzeug und Fahrer möglich, bei der sich Autobahn verifiziert über Kartendaten) verfügbar,
der Zeitpunkt einer angeforderten Übernahme nach die Fahrzeuggeschwindigkeit jedoch außerhalb des
dem aktuellen Aufmerksamkeitsgrad des Fahrers Funktionsbereichs von 0–60 km/h, werden nur die
richtet. seitlichen Balken angezeigt (. Abb. 52.8b). ACC
ist aktiv und die Querführung ist in Bereitschaft;
in diesem Zustand erfolgt bei Unterschreiten der
52.4.1 Mensch-Maschine-Schnittstelle 60 km/h-Grenze eine Aktivierung der Querführung
(HMI) ohne Nutzerinteraktion. Bei Überschreiten einer
Systemgrenze (z. B. detektiertes Hands-off) und der
Gegenüber einem reinen Längsführungssystem damit verbundenen Deaktivierung der Querfüh-
(FSRA) steigen die Anforderungen an das HMI bei rung erfolgt eine optische (rot blinkendes Lenkrad
zusätzlicher Querführungsunterstützung. Diese in . Abb. 52.8a) und akustische Fahrerinformation.
1004 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

52.4.2 Übergabe
1 und Kontrollierbarkeit

2 Generell bedarf jedes technische System zur Längs-


und Querführung von Straßenfahrzeugen der Mög-
lichkeit, im Fehlerfall oder beim Auftreten von nicht
3 spezifikationsgemäßen Verkehrssituationen (Sys-
temgrenzen), die Fahrzeugführung wieder an den
4 Fahrer abzugeben. Variabel bei den verschiedenen
Systemausprägungen ist die Zeit, die dem Fahrer
5 vom System für die Fahrzeugübernahme zur Ver-
.. Abb. 52.9  Taster (2) mit LED-Kontrollleuchte (1) zum Ein- fügung gestellt wird.
bzw. Ausschalten des Lenk-Assistenten (Quelle: Bedienungs- Bei Fahrerassistenzsystemen in Form von teil­
6 anleitung Mercedes Benz S-Klasse (BR 223), 2013) automatisierten Systemen kann diese Notwendig-
keit der Übernahme plötzlich auftreten. Aus diesem
7 52.4.1.2 Beispiel: HMI bei Daimler Grund sind derartige Systeme so konzipiert, dass
Mit der Einführung von DISTRONIC PLUS mit der notwendigerweise anwesende Fahrer dauerhaft
Lenk-Assistent und Stop-and-go-Pilot als Teil von die Fahrzeugführung überwachen muss, um jeder-
8 „Mercedes-Benz Intelligent Drive“ wird seit 2013 zeit in die Fahrzeugführung einzugreifen. Dabei ist
in der neuen S-Klasse [4] und der modellgepfleg- bekannt, dass ein sehr hohes Systemvertrauen dazu
9 ten E-Klasse erstmals ein durchgängiges längs- und führt, dass der Fahrer auf Systemgrenzen später
querführendes Fahrerassistenzsystem für den ge- reagiert [5]; das Systemvertrauen wiederum hängt
10 samten Geschwindigkeitsbereich angeboten. Das stark von der wahrgenommenen Zuverlässigkeit des
System folgt im unteren Geschwindigkeitsbereich Systems ab [5]. Gleichzeitig reduzieren Nichtver-
einem vorausfahrenden Fahrzeug und orientiert fügbarkeit oder erlebte Systemfehler die Akzeptanz
11 sich zusätzlich an erkannten Fahrstreifenmarkie- beim Fahrer. Mit steigendem Unterstützungsgrad
rungen (Stop-and-go-Pilot). Mit zunehmender wird zusätzlich vom System die fortwährende Auf-
52 Geschwindigkeit regelt das System nur noch auf merksamkeit des Fahrers, z. B. durch die in ▶ Ab-
Fahrstreifenmarkierungen, wobei aber andere schn. 52.1.3 dargestellte Hands-off-Erkennung,
Verkehrsteilnehmer und erkannte Fahrbahnbe- kontrolliert.
13 grenzungen berücksichtigt werden. Das Querfüh- Hochautomatisierte Systeme entbinden den
rungssystem schaltet sich also bei einer Grenzge- Fahrer im Rahmen eines definierten Szenarios
14 schwindigkeit nicht ab, sondern geht nahtlos in von der dauerhaften Überwachung des Verkehrs-
ein Fahrstreifenmittenführungssystem über. Die geschehens und ermöglichen ihm eine Hands-off-
15 Querführungsunterstützung für den gesamten Nutzung, während der er in Maßen Nebenaufgaben
Geschwindigkeitsbereich arbeitet nur bei aktivier- erledigen kann. Die Dauer der durch den Fahrer
ter Längsführung (DISTRONIC PLUS) und kann erlebbaren Hands-off-Zeiten ergibt sich aus dem
16 über einen Taster separat zugeschaltet werden Umfang und der Güte des abgedeckten Szenarios.
(s.  . Abb. 52.9). Neben der LED-Anzeige des Tas- Bei der Übergabe der Fahrzeugführung vom Sys-
17 ters wird zusätzlich im Kombiinstrument ein graues tem zurück an den Fahrer stellt sich die Frage, wie
Lenkradsymbol angezeigt, dessen Farbe nach grün schnell und gut diese gelingt und welchen Einfluss
wechselt, sobald die Querführung aktiv wird. die Art der Nebentätigkeit hat.
18 Zeeb und Schrauf [6] unterscheiden zwei As-
pekte der Fahrerübernahme: 1. Die „formale“
19 Übernahme, die den ersten Eingriff in die Fahr-
zeugführung beinhaltet und möglich ist, sobald die
20 motorische Bereitschaft – beispielsweise Hände am
Lenkrad und Blick auf die Straße – vorliegt. 2. Die
52.4  •  Interaktion von Fahrer und System
1005 52

adäquate, unfallvermeidende Übernahme, die darü- schen Verkehrssituationen auch sehr kleine mittlere
ber hinaus eine abgeschlossene kognitive Verarbei- Zeiten um 2 s gemessen wurden. Die Dringlichkeit
tung sowie die Auswahl einer adäquaten Handlung der Übernahme hat offensichtlich großen Einfluss
beinhaltet. Gerade die Zeitdauer für eine adäquate auf die Übernahmezeit, kann aber zu Lasten der
Übernahme hängt davon ab, ob sich der Fahrer in Übernahmegüte gehen.
der Übernahmesituation kognitiv komplett neu Interessant ist auch die Frage, wie sich ein Sys-
orientieren muss oder ob er noch über ein gültiges tem verhalten soll, wenn der Fahrer einer Übernah-
mentales Modell der Verkehrssituation verfügt und meaufforderung nicht nachkommt: Eine Deaktivie-
dieses nur aktualisieren muss. Je nach Fahrertyp er- rung der Funktion ist hier sicherlich die technisch
geben sich in der Studie bei einer unfallkritischen einfachste Lösung; bei teilautomatisierten Funkti-
Verkehrssituation nach der Übernahmeaufforde- onen ist dies gängige Praxis. Je nach Fahrsituation
rung mittlere Zeiten von 1,6 bis 2,3 s bis zur Einlei- kann ein graduelles Abschalten der Funktion der
tung einer Bremsreaktion. abrupten Deaktivierung vorgezogen werden. Ob
Generell muss bei hochautomatisiertem Fah- nach abgelaufener Übernahmezeit bei hochautoma-
ren neben der Dauer einer Fahrerübergabe auch tisierten Funktionen das Deaktivieren der Funktion
die Qualität der Übernahme und damit einher- oder ein sog. „minimal risk maneuver“ vorzuziehen
gehend die Kontrollierbarkeit betrachtet werden. ist, wurde bis heute nicht geklärt und hängt sicher
Für hochautomatisiertes Fahren liegen bzgl. der auch vom Szenario ab.
Kontrollierbarkeit noch wenige Erkenntnisse vor. Untersuchungen zur Fahrerübernahme mit dem
Bisherige Studien adressieren die Normalfahrt und Fokus speziell auf Stausituationen sind nicht be-
untersuchen beispielsweise Störaufschaltungen in kannt. Aufgrund der geringen Fahrzeuggeschwin-
der elektronischen Servolenkung und deren Be- digkeit ist ein „Überreagieren“ eines Fahrers bei
herrschbarkeit [7, 8]. der Übergabe nicht zu vermuten. Des Weiteren ist
Damböck et al. [9] erkennen, dass bei starker in Stauszenarien der sichere Zustand „Anhalten“
manueller, visueller und kognitiver Nebentätigkeit problemloser anzusteuern und somit leicht als Lö-
in nicht-kritischen Verkehrssituationen im Ver- sungsvariante in kritischen Verkehrssituationen zu
gleich zu einer Gruppe von Normalfahrern erst bei nutzen.
einer Übernahmezeit von 6 bis 8 s keine signifikan- Vollautomatisierte Systeme stellen den höchs-
ten Unterschiede in der Güte der Situationsbewäl- ten Automatisierungsgrad dar und entbinden den
tigung mehr existieren. Der Versuch adressiert Sta- Fahrer für lange Zeit von der Überwachung des
bilisierungs-, Führungs- und Navigationsaufgaben: Verkehrsgeschehens. Welche Anforderungen sich
Das Übernahmeszenario stellt in allen drei Varian- an die Übergabeprozeduren zum Verlassen des voll-
ten keine kritische Verkehrssituation dar, sondern automatisierten Zustandes ergeben und wie lange
der Fahrer kann den ihm zur Verfügung stehenden, eine derartige Übergabe wirklich dauert, wirft ak-
relativ langen Zeitraum vollständig ausnutzen. Der tuell noch viele Fragen auf. Man stelle sich zur Ver-
Einfluss einer Variation der Nebentätigkeit führt deutlichung beispielsweise einen schlafenden Fah-
bei Petermann-Stock et al. [10] – unabhängig von rer als Ausgangssituation der Übergabe vor.
Alter oder Geschlecht der Probanden – zu maxima-
len Übernahmezeiten zwischen 2,4 s und 8,8 s. Zu
vergleichbaren Werten kommen Giesler und Müller 52.4.3 Aspekte der marktfähigen
[11] in acht verschiedenen Studien: Der Mittelwert Realisierbarkeit
dieser Übernahmezeiten liegt bei 2,7 s, das Maxi-
mum ebenfalls bei 8,8 s. 52.4.3.1 Rechtliche Einordnung
Insgesamt lässt sich sagen, dass die bisher Für Stauassistenten und insbesondere für Systeme
durchgeführten Studien zum hochautomatisierten zur Stauautomatisierung stellen sich hinsichtlich der
Fahren Übernahmezeiten von bis zu circa 9 s finden. rechtlichen Einordnung und bezüglich Haftungsfra-
So lagen bei zeitlich unkritischen Verkehrssituatio- gen die gleichen Herausforderungen wie für andere
nen längere Übernahmezeiten vor, während in kriti- Assistenzsysteme oder Automatisierungsszenarien
1006 Kapitel 52  •  Stauassistenz und -automation

auch. Während fremdverschuldete Unfälle weiterhin nicht erforderlich. Ob das technische Sicherheits-
1 problemlos einzuordnen sein dürften, ergibt sich bei konzept je nach Ausprägung aufgrund der geringen
Schäden durch technische Ausfälle oder eigenver- Eigengeschwindigkeit des Fahrzeugs und den damit
2 schuldete Unfälle – zum Beispiel durch Ignorieren verbundenen Auswirkungen eines Systemfehlers mit
von Übernahmeaufforderungen – ein Spannungs- heute im Automotive-Bereich verfügbaren Kompo-
feld zwischen Herstellern und Kunden. nenten (Sensoren und Aktoren) umgesetzt werden
3 Für die Einführung und Vermarktung von hoch- kann, ist eine aktuell diskutierte Fragestellung.
automatisierten Systemen für den Stop-and-go- Mikroskopisch betrachtet – also auf das Ego-Fahr-
4 Verkehr werden diese Aspekte noch zu klären sein. zeug und die unmittelbar benachbarten Fahrzeuge
Der Stauautomat ist als hochautomatisiertes System beschränkt – lässt sich die Stop-and-go-Situation auf
5 derzeit oberhalb von 10 km/h nicht zulassungsfähig einer Autobahn allerdings kaum von Stausituationen
[12]. Für eine ausführlichere Diskussion dieser The- auf Landstraßen oder stockendem Verkehr im urba-
men sei an dieser Stelle auf ▶ Kap. 3 verwiesen. nen Umfeld unterscheiden (s.  . Abb. 52.1). Gerade
6 der Stadtverkehr stellt jedoch für ein automatisiertes
52.4.3.2 Analyse der Marktchancen System besondere Herausforderungen dar: Neben
7 Verglichen mit der Umsetzung hochautomatisierter Kreuzungen, Abbiegefahrstreifen, Lichtsignalanla-
Funktionen bei hohen Geschwindigkeiten weist die gen sind hier vor allem die sog. schwächeren Ver-
spezifische Automatisierung von Stauszenarien meh- kehrsteilnehmer zu nennen. Mit zwischen den Autos
8 rere Vorteile auf, die die technische und damit auch kreuzenden Fußgängern oder Fahrradfahrern ist im
marktfähige Realisierbarkeit deutlich vereinfachen. urbanen Umfeld auch im Stop-and-go-Verkehr je-
9 Die Automatisierung der Längs- und Querführung derzeit zu rechnen. Ein System, das in diesem Um-
bei typischen Geschwindigkeiten des Stop-and-go- feld eine sichere Automatisierung anbieten soll, muss
10 Verkehrs bis etwa 50 km/h benötigt im Vergleich daher vor allem schwächere Verkehrsteilnehmer
zur Automatisierung bei höheren Geschwindigkei- jederzeit zuverlässig erkennen können. Kreuzungs-
ten geringere Reichweiten der verwendeten Senso- bereiche und andere komplexe Szenarien muss das
11 rik. Das System ist auch nicht auf ein aufwendiges System so frühzeitig erkennen, dass der Fahrer mit
und kostenintensives Backend-System angewiesen ausreichender Vorwarnzeit zur Übernahme an die-
52 und der Aufwand zur Absicherung der Funktion im sen Systemgrenzen aufgefordert wird. Diese Punkte
Fehlerfall, z. B. bei Aktorausfall, wird wegen des kur- erhöhen die Anforderungen an Sensorik, Umfeld-
zen Anhalteweges ebenfalls verringert. Insbesondere modellierung und Situationsanalyse gegenüber der
13 der Stop-and-go-Verkehr auf Autobahnen stellt ein Autobahnsituation maßgeblich, so dass ein auf Auto-
vergleichsweise einfach zu beschreibendes und zu er- bahnen ausgelegtes System zur Stauautomatisierung
14 fassendes Szenario dar: In diesem kreuzungsfreien nicht ohne Weiteres im urbanen Umfeld angewendet
Umfeld gibt es keine Lichtsignalanlagen – außer in werden kann. Für die zuverlässige Erkennung – ob
15 Sondersituationen vor Tunneln – und auch mit kreu- sich das Fahrzeug im Stadtverkehr oder auf einer
zenden Fußgängern oder Radfahren ist im Normal- Autobahn befindet – reicht die Bordsensorik eines
fall nicht zu rechnen; zudem sind die auf Autobah- auf Autobahnen ausgelegten Systems nicht aus. Eine
16 nen vorzufindenden Kurvenradien sehr groß. Diese mögliche Lösung wäre hier, die Karteninformationen
Einschränkungen der Komplexität des Szenarios eines üblichen Navigationssystems zur Unterschei-
17 reduzieren die Anforderungen an die Auslegung der dung heranzuziehen.
Fahrzeugsensorik und vor allem an die Modellierung In diesem Punkt kann sich ein Spannungsfeld
des Umfelds erheblich. Die Regelung der Funktion zwischen Auslegung des Systems und der Kundener-
18 kann allein anhand der Geschwindigkeiten und Posi- wartung ergeben: Kunden, die eine Automatisierung
tionen der das Ego-Fahrzeug umgebenden Fahrzeuge der Quer- und Längsregelung in Stausituationen auf
19 sowie der Fahrbahnmarkierungen erfolgen. Eine all- der Autobahn positiv erlebt haben, wünschen sich
gemeinere und erheblich aufwendigere Detektion des ein breiteres Einsatzgebiet, beispielsweise auf Land-
20 befahrbaren Raumes ist – zumindest für einfachere straßen oder im urbanen Umfeld.
Ausprägungsstufen des Systems – s. ▶ Abschn. 52.3,
Literatur
1007 52
52.5 Schlussbemerkungen 4 Daimler AG: „Die Fahrassistenzsysteme: Helfer im Hinter-
grund“, Pressemitteilung, Stuttgart/Toronto, 02.07.2013
5 Niederée, U., Vollrath, M.: Systemausfälle bei Längsfüh-
Mit der zunehmenden Verbreitung von FSRA-Sys- rungsassistenten – Sind bessere Systeme schlechter? In:
temen auch in kleineren Fahrzeugklassen und mit 8. Berliner Werkstatt Mensch‐Maschine‐Systeme, Bd. 22.
dem erreichten Stand von Güte, Verfügbarkeit und (2009)
Qualität der reinen Längsregelsysteme zum einen 6 Zeeb, K., Schrauf, M.: Re‐ vs. Neuorientierung: Situationsge-
(s. ▶ Kap. 46), sowie der nun am Markt etablierten
rechtes Blickverhalten beim hochautomatisierten Fahren.
In: AAET 2014: Automatisierungssysteme, Assistenzsys-
Querführungssysteme (s. ▶ Kap. 49) zum anderen, teme und eingebettete Systeme für Transportmittel. ITS
ist es nun an der Zeit, auf dieser Basis den nächs- Niedersachsen, Braunschweig (2014)
ten Schritt zu gehen und die längs- und querfüh- 7 Neukum, A., et al.: Einflussfaktor Fahrzeug – Zur Übertrag-
renden Systeme zu einem neuen, umfassenderen barkeit von Aussagen über die Wirkung von Zusatzlenk-
momenten VDI‐Berichte, Bd. 2104., S. 361–374 (2010)
System zu verbinden. Dies kann klassisch als As-
8 Neukum, A., et al.: Fahrer‐Fahrzeug‐Interaktion bei fehler-
sistenzsystem in der Kategorie Teilautomatisierung haften Eingriffen eines EPS‐Lenksystems VDI‐Berichte, Bd.
erfolgen; einen großen Schritt nach vorne in puncto 2085., S. 107–124 (2009)
Kundennutzen und -akzeptanz stellt aber erst ein 9 Damböck, D., Farid, M., Tönert, L., Bengler, K.: Übernahme-
hochautomatisiertes System dar, das dem Fahrer zeiten beim hochautomatisierten Fahren. In: 5. Tagung
Fahrerassistenz, München (2012)
fahrfremde Nebentätigkeiten ermöglicht. Ein mög-
10 Petermann-Stock, I., Hackenberg, L., Muhr, T., Mergl, C.: Wie
liches erstes System mit verhältnismäßig niedriger lange braucht der Fahrer? Eine Analyse zu Übernahmezei-
Grenzgeschwindigkeit bildet der Fahrstreifenfol- ten aus verschiedenen Nebentätigkeiten während einer
geautomat für den Stau; Nachteil eines derartigen hochautomatisierten Staufahrt. In: 6. Tagung Fahreras-
Systems ist das Erreichen der Systemgrenze an der sistenz: Der Weg zum automatischen Fahren, München
(2013)
Grenzgeschwindigkeit – was je nach Verkehrsfluss
11 Giesler, B., Müller, T.: Opportunities and challenges on the
mehr oder weniger häufig auftreten kann. Aus die- route to piloted driving. In: 4th International Munich Chas-
sem Grund wird beim Kunden schnell der Wunsch sis Symposium, München (2013)
nach einem durchgängigen System für den gesam- 12 UN/ECE Regelung Nr. 79 (ECE‐R 79): „Einheitliche Bedin-
ten Geschwindigkeitsbereich aufkommen. Die Re- gungen für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich
der Lenkanlage”, Revision 2, 20. Januar 2006
alisierung von hochautomatisierten Systemen ist
bis heute aus rechtlichen und technischen Gründen
noch nicht möglich. Einen ersten Schritt bei der Re-
alisierung längs- und querführender Assistenzsys-
teme haben Mercedes-Benz und BMW im Jahr 2013
mit der Einführung von querführenden Funktionen
bereits gemacht. Sicher ist dies erst der Anfang auf
dem weiten Weg hin zum autonomen Fahren und
viele Systeme werden noch am Markt folgen.

Literatur

1 Schaller, T., Schiehlen, J., Gradenegger, B.: Stauassistenz –


Unterstützung des Fahrers in der Quer‐ und Längsführung:
Systementwicklung und Kundenakzeptanz. In: 3. Tagung
Aktive Sicherheit durch Fahrerassistenz (2008)
2 Gasser, T., et al.: Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugau-
tomatisierung. BASt‐Bericht F 83, 1-124 (2012)
3 Sandkühler, D.: Analyse von Stausituationen für die Ent-
wicklung eines Stauassistenten im Rahmen von INVENT“,
INVENT Abschlussbericht. Forschungsgesellschaft Kraft-
fahrwesen mbH, Aachen (2002)
1009 53

Bahnführungsassistenz
für Nutzfahrzeuge
Karlheinz Dörner, Walter Schwertberger, Eberhard Hipp

53.1 Anforderungen an die Fahrer von Nutzfahrzeugen  –  1010


53.2 Wesentliche Unterschiede zwischen Lkw und Pkw  –  1012
53.3 Unfallszenarien – 1014
53.4 Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge  –  1017
53.5 Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge  –  1020
53.6 Notbremssysteme – 1024
53.7 Vorausschauendes Fahren – 1025
53.8 Entwicklung für die Zukunft  –  1026
Literatur – 1027

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_53, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1010 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

Ergänzend zu den vorangegangenen Kapiteln der wagen, Berufskraftfahrer. Das bedeutet zum einen,
41 Bahnführungsassistenz wird in diesem Abschnitt dass diese Fahrer am Steuer der Nutzfahrzeuge ihren
auf die speziellen Merkmale der Bahnführungsas- Arbeitsplatz haben; daher ist auch der Begriff Fahrer-
42 sistenz für Nutzfahrzeuge eingegangen. Mit Nutz- arbeitsplatz geläufig. Die Fahrer gehen in der Regel
fahrzeugen sind hier insbesondere schwere Last- pro Arbeitstag ca. neun Stunden ihrer Fahraufgabe
kraftwagen, z. B. Sattelzugmaschinen, und Busse nach. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine ergono-
43 zur Personenbeförderung gemeint. Statistisch be- mische Gestaltung des Fahrerarbeitsplatzes ist und
trachtet zählen Reisebusse mit zu den sichersten beispielsweise eine Klimaanlage in einem Lkw nicht
44 Verkehrsmitteln im Straßenverkehr. Kommt es als Luxus für den Fahrer angesehen werden kann,
jedoch zu einem Unfall, so besteht im Vergleich sondern zur Erhaltung der täglichen Fahrerkondition
45 zum durchschnittlich mit 1,2 Personen besetzten und somit auch zur Fahrsicherheit beiträgt.
Personenkraftwagen ein erheblich höheres Unfall- Zum anderen ist für viele Berufsfahrer der Lkw
schadenspotenzial aufgrund der deutlich höheren gleichzeitig auch Wohn- und Schlafraum. Dies ist
46 Anzahl an Passagieren. Hinsichtlich der bewegten ein wesentliches Merkmal beim Wohnraumdesign
Massen besteht bei schweren Nutzfahrzeugen auf- von Lkw, die im Fernverkehr eingesetzt werden.
47 grund der kinetischen Energie bei einem Unfall Denn nur ein gut ausgeruhter Fahrer kann seine
ebenfalls ein höheres Unfallschadenspotenzial im tägliche Fahraufgabe souverän und sicher bewälti-
Vergleich zu Personenkraftwagen. Dies gilt insbe- gen. So ist neben einem qualitativ hochwertigen Bett
48 sondere beim Transport von Gefahrgütern. auch eine gute Geräuschdämmung ein wesentlicher
Passive Sicherheitsmaßnahmen erreichen bei Faktor. Häufig sind Rastplätze so angeordnet, dass
49 schweren Nutzfahrzeugen schnell ihre physikali- die Fahrer ihren Lkw stirnseitig mit dem Fahrerhaus
schen Grenzen. Im Gegensatz dazu können aktive zur Autobahn hin abstellen müssen. Für den Fah-
50 Sicherheitssysteme speziell für Nutzfahrzeuge we- rer ist die Kombination aus Wohn- und Arbeitsplatz
sentlich zur weiteren Steigerung der Verkehrssicher- entscheidend, da die Lenk- und Ruhezeiten exakt
heit und der Minimierung von Unfallfolgen beitra- vorgegeben sind (vgl. ▶ Tab. 53.1).
51 gen. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die am Die Lenk- und Ruhezeiten von Fahrern sowie
Markt verfügbaren Bahnführungsassistenzsysteme die Fahrgeschwindigkeiten werden in digitalen
52 und deren nutzfahrzeugspezifische Merkmale. Fahrtenschreibern (EG-Kontrollgerät) regist-
Fahrerassistenzsysteme leisten einen wertvol- riert. Mithilfe dieser EG-Kontrollgeräte kann die
len Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Fahrtätigkeit der Fahrer überwacht werden (vgl.
53 Zu diesem Resultat kommt z. B. die wissenschaftli- . Abb. 53.1). Aufgrund enger Terminpläne, mo-
che Analyse von Unfällen mit Beteiligung schwerer derner Just-in-Sequence-Konzepte und stetig wach-
54 Nutzfahrzeuge, die gemeinsam von Allianz Zen- sendem Güterverkehrsaufkommen sind die Fahrer
trum für Technik und MAN Nutzfahrzeuge im Rah- heute erheblichem Druck ausgesetzt. Da die Park-
55 men des Projekts „Safe Truck“ durchgeführt wurde und Rastplätze für Lkw in der Vergangenheit nicht
[1]. In diesem vom Bundesministerium für Bildung entsprechend dem gestiegenen Verkehrsaufkom-
und Forschung (BMBF) geförderten Projekt wurden men erweitert wurden, ist es für Lkw-Fahrer nicht
56 Technologien für aktive, vorausschauende Sicher- einfach, zu einem geeigneten Zeitpunkt einen freien
heitssysteme entwickelt. Künftig in Nutzfahrzeugen Parkplatz zu finden. Hinzu kommt bei gleichblei-
57 eingesetzt, sollen sie Unfälle vermeiden bzw. deren bend konstanter Fahrgeschwindigkeit die Gefahr,
Folgen mindern. dass die Aufmerksamkeit nach stundenlanger Fahrt
nachlässt. Kritische Situationen entstehen, wenn er-
58 müdete Fahrer einen Parkplatz suchen und mangels
53.1 Anforderungen an die Fahrer Parkmöglichkeiten gezwungen sind weiterzufahren
59 von Nutzfahrzeugen – oder von der Polizei aus dem Schlaf geweckt und
zur Weiterfahrt aufgefordert werden, weil sie in der
60 Die Fahrer der hier angesprochenen Nutzfahrzeuge Not ihr Fahrzeug außerhalb zulässiger Parkbereiche
sind, im Gegensatz zu Fahrern von Personenkraft- abgestellt haben.
53.1  •  Anforderungen an die Fahrer von Nutzfahrzeugen
1011 53

.. Tab. 53.1  Zusammenfassung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 über Lenk- und Ruhezeiten (es sei darauf hingewie-
sen, dass es sich hier lediglich um eine informative Zusammenstellung für dieses Handbuch handelt und dass Fahrer die
kompletten Bestimmungen der jeweils gültigen Verordnung zu beachten haben)

tägliche Lenkzeit – maximal 9 Stunden


– Erhöhung auf 10 Stunden zweimal pro Woche zulässig

wöchentliche Lenk- – maximal 56 Stunden pro Woche


zeiten – maximal 90 Stunden in zwei aufeinander folgenden Wochen

Lenkzeitunterbre- – mindestens 45 Minuten nach 4,5 Stunden Lenkzeit


chung – Aufteilung in 1 Abschnitt von 15 Minuten gefolgt von 1 Abschnitt von 30 Minuten zu­
lässig

tägliche Ruhezeit – mindestens 11 Stunden


– Verkürzung auf 9 Stunden zulässig (dreimal zwischen 2 wöchentlichen Ruhezeiten)
– Aufteilung in 2 Abschnitte möglich, dann sind aber mindestens 12 Stunden tägliche
Ruhezeit einzuhalten; zuerst sind 3, dann 9 Stunden Ruhezeit zu nehmen
– bei Mehrfahrerbetrieb mindestens 9 Stunden innerhalb eines Zeitraums von 30 Stunden

wöchentliche Ru- – mindestens 45 Stunden einschließlich einer Tagesruhezeit


hezeit – Verkürzung auf 24 Stunden möglich, aber innerhalb von 2 Wochen muss mindestens
Folgendes eingehalten werden:
a) zwei Ruhezeiten von 45 Stunden oder
b) eine Ruhezeit von 45 Stunden zuzüglich einer Ruhezeit von mindestens 24 Stunden
(Ausgleich innerhalb von drei Wochen erforderlich)
– wöchentliche Ruhezeit ist nach sechs 24-Stunden-Zeiträumen einzulegen

.. Abb. 53.1  EG-Kontrollgeräte (links digital, rechts analog)

Beim Gütertransport kommt den Fahrern eine Voll beladene Lkw in Strecken mit Steigungen
hohe Verantwortung zu. Dabei ist nicht nur die ter- und Gefälle fahren zu können, erfordert vom Fahrer
mingerechte Abholung und Anlieferung relevant (mit sowohl Erfahrung als auch technisches Fahrkönnen.
sehr kurzen Ladezeiten und wenigen Ruhepausen), Vorausschauendes Schalten ist genauso notwendig,
sondern auch die ausreichende Ladungssicherung wie der richtige Einsatz von Dauer- und Betriebs-
und der sichere Transport zum Zielort. Die Fahrer bremsen. In modernen Nutzfahrzeugen wird der
müssen Lkw bzw. Sattelzüge mit bis zu 40 t Gesamtge- Fahrer durch automatisierte Schaltgetriebe und
wicht bei Geschwindigkeiten bis zu 80 km/h sicher im Bremsomat-Funktionen unterstützt. Neben dem
Straßenverkehr bewegen. Es sind spezielle Kenntnisse technischen Fahrkönnen fordern Fuhrunternehmer
erforderlich und anzuwenden, um die hohen Lasten einen wirtschaftlichen Fahrstil und setzen spezielle
auf den Ladeflächen sicher zu verzurren. Fehler kön- Analysetools ein. Mit deren Hilfe wird die Wirt-
nen zu gefährlichen Situationen führen. schaftlichkeit der Fahrweise von Fahrern bewertet.
1012 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

.. Abb. 53.2 Lkw-Unfall
41 wegen Nichtbeachtung
der Durchfahrtshöhe
(Quelle: Feuerwehr
42 Karlsfeld)

43
44
45
46
47
48
49 Die Ergebnisse werden teilweise verwendet, um den Kurve einzufahren. Auch die Sichtverhältnisse im
Fahrern einen gehaltlichen Anreiz zum wirtschaftli- Nahbereich eines Lkw, insbesondere auf der rech-
50 chen Fahren zu geben. Hierdurch stehen die Fahrer ten Fahrerhausseite, weisen deutlich größere, nicht
oft in direktem Konkurrenzdruck zu ihren Kollegen. direkt einsehbare Bereiche als beim Pkw auf (vgl.
Im Vergleich zu Pkw-Fahrern sind Lkw-Fahrer ▶ Abschn. 53.2). Aus diesem Grund sind für Lkw
51 weiteren Randbedingungen ausgesetzt: Eine Viel- mehrere Spiegel vorgeschrieben.
zahl von Verkehrszeichen ist nur für Nutzfahr- Hinzu kommen etliche Lkw-spezifische Bedie-
52 zeuge relevant und nicht für Pkw. Dies hängt im nelemente, die es im Pkw nicht gibt, auf die hier
Wesentlichen mit den größeren Abmessungen, aber nicht weiter eingegangen wird.
höheren Massen, größeren Wendekreisen, Arten Seit Einführung des Berufskraftfahrer-Qualifi-
53 des Transportguts und im Vergleich zu Pkw gerin- kations-Gesetzes (BKrFQG) besteht für Berufskraft-
geren spezifischen Leistungen zusammen. Unter fahrer, die mehr als acht Personen transportieren
54 spezifischer Leistung versteht man hierbei Motor- oder Kraftfahrzeuge mit über 3,5 Tonnen bewegen,
leistung bezogen auf das Fahrzeug-Gesamtgewicht. eine regelmäßige Weiterbildungspflicht. Dadurch
55 All diese Verkehrszeichen muss der Lkw-Fahrer be- sollen die Sicherheit im Straßenverkehr erhöht, die
wusst wahrnehmen. Tut er dies nicht, können hohe Umweltbelastung reduziert und ungleiche Wettbe-
Sachschäden wie im Fall von Brückendurchfahrten werbsbedingungen im Transportgewerbe innerhalb
56 entstehen (vgl. . Abb. 53.2). der EU vermieden werden. Die Weiterbildung um-
Enge Fahrbahnsituationen und innerörtliche fasst 35 Fortbildungsstunden und ist im Abstand
57 Bereiche erfordern ebenfalls höchste Aufmerksam- von jeweils fünf Jahren zu wiederholen.
keit des Fahrers. Dabei muss er berücksichtigen,
dass andere Verkehrsteilnehmer ggf. nicht mit dem
58 Fahrverhalten von Lkw vertraut sind. Fährt der Fah- 53.2 Wesentliche Unterschiede
rer z. B. durch eine enge Rechtskurve mit mehreren zwischen Lkw und Pkw
59 Fahrstreifen, muss er die links neben ihm fahren-
den Fahrzeuge beobachten. Ein Abbiegen nach Personenkraftwagen und Lastkraftwagen unter-
60 rechts ist erst möglich, wenn der Fahrer auf den scheiden sich sowohl in ihrer wirtschaftlichen Be-
linken Fahrstreifen herüberziehen kann, um in die deutung als auch in der Fahrzeugtechnik. Letzteres
53.2  •  Wesentliche Unterschiede zwischen Lkw und Pkw
1013 53

gilt insbesondere für Antriebs- und Bremstechnik, sein. Mit dem Lkw sind 80 km/h auf der Autobahn
Abmessungen und Massen, aber auch für die Aus- und 60 km/h auf der Bundesstraße erlaubt. Leis-
stattung mit Sicherheits- und Assistenzsystemen. tungsstarke Pkw-Motoren werden erst bei 250 km/h
Aus wirtschaftlicher Sicht stellt die Anschaffung vom Hersteller abgeregelt.
eines Lkw im Vergleich zum Pkw immer ein Investi- Neben der maximalen Masse von 40 t ist eine
tionsgut dar. Der Lkw muss dem Fuhrunternehmer minimale Motorisierung von 6 PS pro Tonne ge-
einen betriebswirtschaftlichen Gewinn „einfahren“. setzlich festgelegt. Dies ist in der heutigen Praxis
Deshalb sind die Life-Cycle-Costs eines Lkw ent- ein sehr geringer Wert, der in der Regel deutlich
scheidend. Neben geringen Anschaffungskosten überschritten wird, um ein zügiges Vorwärtskom-
stellen niedrige Betriebskosten, hohe Laufleistung, men bei Steigungen zu gewährleisten. Dennoch ist
hohe Verfügbarkeit, große Wartungsintervalle, die Längsdynamik bei Lkw deutlich geringer als bei
schneller Service, Langlebigkeit und hohe Wieder- Pkw: Ein 40 t schweres und mit einem 480 PS-Mo-
verkaufswerte die entscheidenden Größen dar. Viele tor ausgestattetes Nutzfahrzeug verfügt über 12 PS
Lkw wechseln nach zwei bis vier Betriebsjahren pro Tonne. Zum Vergleich: Ein mit 12 PS pro Tonne
erstmals den Besitzer. Bis dahin hat ein Fahrzeug motorisierter 1,5 t schwerer Mittelklasse-Pkw hätte
rund eine Million Kilometer im Fernverkehr zu- eine Motorleistung von nur 18 PS.
rückgelegt. Das entspricht einer Laufleistung von Lkw weisen gegenüber Pkw aufgrund der Viel-
200.000 bis 250.000 km pro Jahr. Der nachfolgende falt zu transportierender Güter eine Fülle an Auf-
Eigentümer nutzt den Lkw weitere zwei Millionen bauten auf, wie Koffer- oder Kühlaufbauten. Die
Kilometer. unterschiedlichen Beladungen eines Lkw beein-
Der Vergleich der Betriebsstunden zwischen flussen dessen Masse und Schwerpunkthöhe und
Pkw und Lkw verdeutlicht die höhere Belastung, damit die fahrdynamischen Eigenschaften. Aus
der ein Nutzfahrzeug standhalten muss: Läuft ein diesem Grund wurden von verschiedenen Herstel-
Lkw in zehn Jahren 30 000 Betriebsstunden, sind es lern diverse Verfahren entwickelt, um die jeweili-
bei einem Pkw im gleichen Zeitraum 3 000 Betriebs- gen Beladungen bzw. Fahrzeuggesamtmassen zu
stunden. Hinzu kommt die deutlich längere Lebens- bestimmen. Diese Daten werden in fahrzeuginter-
dauer des Trailers von 20 bis 30 Jahren. Dieser As- nen Regelsystemen verwendet (z. B. Elektronisches
pekt wirkt sich aufgrund der Schnittstellen zwischen Stabilitätsprogramm, Tempomat, Adaptive Cruise
Sattelzugmaschine und Auflieger zuweilen innova- Control), aber auch dem Fahrer direkt angezeigt. So
tionshemmend aus, beispielsweise zur Ausrüstung kann er Überladungen erkennen und vermeiden so-
von Sattelzügen inklusive Aufliegern mit ESP oder wie sich in seiner Fahrweise auch auf die Beladung
modernen Bremssystemen. einstellen. Bislang ist die Berechnung der Schwer-
Ebenso wie die technische Langlebigkeit müssen punkthöhe noch nicht endgültig gelöst, die fahrdy-
sich auch die Investitionen in Assistenz- und Sicher- namisch jedoch von großer Bedeutung ist. Denn
heitssysteme für den Fuhrunternehmer rechnen von der vertikalen Lage des Schwerpunkts hängt der
und zu einem betriebswirtschaftlichen Gewinn bei- Kipppunkt ab. Diese Größe ist entscheidend, um die
tragen. Dies ist gegenüber Pkw der entscheidende maximale Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der
Unterschied für die erfolgreiche Markteinführung das Fahrzeug eine Kurve durchfahren kann. Zudem
von Fahrerassistenzsystemen in Nutzfahrzeugen. fließt sie in die Algorithmen ein, die während des
Zurück zur Technik: Grundlegend ist der deut- Fahrens die notwendigen Rückstellkräfte für die
liche Unterschied zwischen den Fahrzeugabmes- Federung des elektronischen Dämpfungssystems
sungen und Fahrzeugmassen von Lkw und Pkw. entsprechend ausgestatteter Lkw berechnen. Das
Die maximal zulässigen Abmessungen für Zugma- elektronisch geregelte Dämpfungssystem passt im
schinen, Sattelauflieger und Gliederzüge sind genau Lkw die Dämpfungshärte automatisch innerhalb
vorgeschrieben und dürfen nur mit Sondergeneh- von Millisekunden an den jeweiligen Beladungszu-
migungen überschritten werden. Beispielsweise darf stand, die Fahrsituation und die Straßenbeschaffen-
ein Euro-Lastzug als Gliederzug 18,75 m lang, bis heit an – und bewirkt eine effiziente aktive Wank-
zu 4,0 m hoch und ohne Außenspiegel 2,55 m breit stabilisierung.
1014 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

Um Lkw ausreichend und sicher abbremsen zu Eine weitere Belastung für Lkw-Fahrer sind die
41 können, stehen mehrere Bremssysteme zur Verfü- eingeschränkten Sichtverhältnisse. Zwar schreibt
gung. Die Betriebsbremsen von Lkw sind heute in die Straßenverkehrsordnung für Güterkraftfahr-
42 der Regel elektronisch gesteuerte Zweikreis-Luft- zeuge > 7,5 t zwei große Hauptaußenrückspiegel auf
druckbremsanlagen. Bei Ausfall des Elektroniksys- beiden Fahrzeugseiten, jeweils einen Weitwinkel-
tems wird die Pneumatik der Bremsanlage direkt und einen Anfahr-Außenspiegel sowie einen Front-
43 mit dem Bremspedal gesteuert. Zusätzlich sind spiegel vor, dennoch ist die Sicht nach hinten wie
Lkw mit verschiedenen Dauerbremssystemen aus- auch auf die seitlichen Flanken eingeschränkt. Um
44 gestattet. Im Gegensatz zu Betriebsbremsen arbeiten Einblick in die toten Winkel – am Sattelzug treten
Dauerbremsen verschleißfrei. Als Dauerbremsen je nach Ausstattung mit Spiegeln und Sensoren bis
45 existieren verschiedene Varianten von Motorbrem- zu neun tote Winkel auf – zu geben, sollen künftig
sen und Retardern. An Retardern bietet der Markt unterschiedliche technische Lösungen zur Verfü-
sowohl motorseitige als auch getriebeeingangssei- gung stehen: Videokameras am Heck, deren Bilder
46 tige und getriebeausgangsseitige Lösungen. Bei der auf einen Monitor im Fahrerhaus übertragen wer-
Auslegung von Längsregelsystemen ist zu beachten, den, geben einen Überblick über den Raum hinter
47 dass die verschiedenen Arten der Dauerbremsen ein dem Auflieger. Sensoren überwachen Abstand und
sehr unterschiedliches Brems- und Regelverhalten Relativgeschwindigkeit von Objekten seitlich des
aufweisen (z. B. hinsichtlich Unstetigkeiten, Verzö- Fahrzeugs (vgl. ▶ Abschn. 53.7).
48 gerungszeiten, der Abhängigkeit von Getriebegang Das sichere Manövrieren des eigenen Fahr-
und Fahrgeschwindigkeit). zeugs müssen Lkw-Fahrer in den nächsten Jahren
49 Getriebe für Lkw verfügen in der Regel über bei weiter zunehmendem Verkehrsaufkommen
bis zu 16 Gänge beim Handschaltgetriebe und bis bewerkstelligen. Bis zum Jahr 2025 prognostiziert
50 zu 12 Gänge beim automatisierten Schaltgetriebe. das Berliner Institut für Mobilitätsforschung einen
Im Gegensatz zu den Drehmomentwandlern, die Anstieg der Güterverkehrsleistung in Europa um
bei Automatikgetrieben in Pkw üblich sind, haben 80 % [2]. Allein für Deutschland wird bis zum Jahr
51 Lkw mit automatisierten Getrieben keinen Dreh- 2025 eine Verdoppelung des Transitaufkommens
momentwandler, sondern eine eingangsseitige auf der Ost-West-Achse vorhergesagt. Da die Ver-
52 Reibkupplung, die elektronisch gesteuert wird. Die kehrsinfrastruktur nicht in dieser Geschwindigkeit
elektronische Steuerung nimmt dem Fahrer die mitwachsen kann, steigen weiterhin die Anforde-
Schalt- und Kupplungsarbeit ab. rungen an die Fahrzeugtechnik und die Fahrer. Soll
53 Aus den betriebswirtschaftlichen Randbedin- das aktuell erreichte Sicherheitsniveau beibehalten
gungen, den fahrdynamischen Eigenschaften und bzw. noch erhöht werden, sind Anstrengungen im
54 den technischen Daten wird deutlich, dass Sicher- Bereich der Sicherheit auf allen Ebenen – von der
heit beim Lkw unter ganz anderen Rahmenbedin- Infrastruktur über das Fahrzeug bis hin zum einzel-
55 gungen steht als beim Pkw. Für Fahrer bedeuten nen Verkehrsteilnehmer – unerlässlich.
diese Faktoren sowohl eine hohe Belastung durch
die kontinuierliche Fahrleistung im Fernverkehr
56 als auch eine höhere Beanspruchung beim Manö- 53.3 Unfallszenarien
vrieren von bis zu 40 t schweren und 2,55 m brei-
57 ten Fahrzeugen. Zur Entlastung der Fahrer stehen Der Entwicklung von Assistenzsystemen geht in
heute für Lastkraftwagen und Kraftomnibusse eine der Regel eine umfangreiche Analyse der Unfall-
Reihe von elektronischen Sicherheits- und Assis- statistiken voraus. Hierbei werden Anzahl und
58 tenzsystemen zur Verfügung, wie das Elektronische Verteilung der Unfälle auf die jeweilige Unfallart
Stabilitätsprogramm (ESP), der abstandsgeregelte sowie die Anzahl der Unfälle während der letz-
59 Tempomat ACC (Adaptive Cruise Control), das ten 15 bis 20 Jahre geprüft. Soweit möglich, er-
Notbremssystem EBA (Emergency Brake Assist) folgt eine detaillierte Analyse der Unfallabläufe.
60 oder das Warnsystem beim Verlassen des Fahrstrei- In der Statistik wird über den Vergleich der Un-
fens (LDW, Lane Departure Warning). fallzahlen mit der Verkehrsleistung im Güterver-
53.3 • Unfallszenarien
1015 53
Unfallzahlen bei Unfällen mit Gkfz-Beteiligung 1992-2011 in Deutschland
100%

Transportleistung [Mrd.tkm] +82%


80%
Prozentuale Veränderung gegenüber 1992

Getötete bei Unfällen mit Gkfz [%]


60%
Schwerverletzte bei Unfällen mit Gkfz [%]

40%

20%

0%
1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011

-20%

-40%
-41%
-53%
-60%

-80%

.. Abb. 53.3  Verkehrsleistung von Güterkraftfahrzeugen im Vergleich zu Unfalltoten und schwerverletzten Verkehrsteil­


nehmern in Deutschland [3]

kehr das Verkehrsaufkommen berücksichtigt (vgl. fall. In 12,2 % aller Unfälle sind die Fahrzeuge rechts
. Abb. 53.3). oder links von der Fahrbahn abgekommen. Weni-
Die Transportleistung des Straßengüterverkehrs ger häufig (9,7 %) sind Kollisionen von Fahrzeugen,
ist in den Jahren 1992 bis 2011 von 252,3 auf 460 die seitlich voneinander fahren. Auch Unfälle mit
Milliarden Tonnenkilometer um 82 % gestiegen einem stehenden Fahrzeug (5,0 %), mit einem Fuß-
[3]. Trotz steigender Fahrleistung sind im gleichen gänger oder Radfahrer (4,0 %) oder einem sonstigen
Zeitraum die Unfälle mit Beteiligung von Nutzfahr- Hindernis auf der Fahrbahn (0,8 %) sind deutlich
zeugen, die zu schweren Personenschäden mit ge- seltener.
töteten oder schwerverletzten Verkehrsteilnehmern Bei der Analyse der Daten ist zwischen Un-
führten, deutlich zurückgegangen: Wurden im Jahr fallarten und den eigentlichen Unfallursachen zu
1992 genau 1883 Unfalltote erfasst, waren es im Jahr unterscheiden. Auffahrunfälle gehen in der Re-
2011 noch 889. Dies entspricht einem Rückgang um gel auf einen zu geringen Sicherheitsabstand und
53 %. Mit 13.345 Unfallopfern im Jahr 1992 und eine nicht angepasste Geschwindigkeit zurück. Mit
7835 im Jahr 2011 weisen die Zahlen zu schwer- 16,8 % (Abstand) und 10,8 % (nicht angepasste
verletzten Verkehrsteilnehmern eine Verringerung Geschwindigkeit) sind dies die beiden häufigsten
um 41 % auf. Gründe für Unfälle von Güterfahrzeugen [4]. Die
Um die Unfälle mit getöteten oder schwerver- hohe kinetische Energie von Lkw führt meist zu
letzten Verkehrsteilnehmern, an denen Nutzfahr- schweren Unfallfolgen: Fährt ein 40 t schwerer und
zeuge beteiligt sind, zu differenzieren, unterscheidet 90 km/h schneller Lkw ungebremst auf ein stehen-
das Statistische Bundesamt anhand von neun Kate- des Hindernis, so wirkt eine Energie von ca. 3500
gorien (vgl. . Abb. 53.4). Häufigste Unfallart war Wh. Bei einem 2 t schweren Pkw wären es bei 100
im Jahr 2011 mit 29,5 % der Auffahrunfall auf ein km/h gerade einmal ca. 400 Wh.
vorausfahrendes Fahrzeug. Weitere 17,5 % aller Un- Beim Abkommen von der Fahrbahn kann im
fälle gehen auf eine Kollision mit dem Gegenverkehr Wesentlichen zwischen zwei Szenarien unterschie-
zurück. Darauf folgt mit 15,9 % der Kreuzungsun- den werden: fahrdynamisch bedingtes Abkommen
1016 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

Verteilung der Unfallarten: Lkw > 12t zGG und Sattelschlepper bei Unfällen
41 mit Getöteten und Schwerverletzten (2011)
35,0%

42 30,0%

43 25,0%

44 20,0%

15,0%
45
10,0%
46
5,0%

47 0,0%

Unfall mit Fußgänger

sonstigem Hindernis
Unfall anderer Art
Vorausfahrenden

Abkommen nach
Kreuzungsunfall

rechts oder links


Gegenverkehr

mit seitlichem
Auffahrunfall auf

Kollision mit
stehendem

auf der Fahrbahn


Kollision mit

Fahrzeug
48
Fahrzeug
Kollision

Kollision mit
49
50 .. Abb. 53.4  Verteilung der Unfallarten mit getöteten oder schwerverletzten Verkehrsteilnehmern in Deutschland im Jahr
2008. Dargestellt sind nur Kollisionen, an denen Sattelschlepper und Lkw größer 12 Tonnen zulässige Gesamtmasse beteiligt
waren [3]
51
oder langsames Abdriften. Fahrdynamisch beding- ten mit rechtsabbiegenden Lkw (> 3,5 t) und Fuß-
52 tes Abkommen von der Fahrbahn ist eine typische gängern bzw. Radfahrern ereigneten [4]: Der erste
Folge zu schneller Kurvenfahrt, plötzlicher Aus- Kontakt bei Unfällen zwischen Nutzfahrzeug und
weichmanöver oder einer rutschigen Fahrbahn. Sie Fußgängern bzw. Radfahrern verläuft in 88 % der
53 beruhen oft auf einer Fehleinschätzung der Fahrsi- Fälle seitlich oder unmittelbar vor dem Fahrerhaus.
tuation durch den Fahrer. Hingegen geht das lang- In weiteren 7 % aller Unfälle fand der Erstkontakt
54 same Abdriften von der Fahrbahn meist auf Unauf- zwischen Fahrerhaus und Hinterrad der Zugma-
merksamkeit oder Ermüdung des Fahrers zurück, schine statt.
55 beispielsweise infolge von Ablenkung oder langer Fahrdynamische Regelsysteme wie das Elek-
eintöniger Fahrt auf monotonen Strecken. tronische Stabilitätsprogramm (ESP) sowie Fah-
Zu den häufigsten Fehlern an Kreuzungen ge- rerassistenzsysteme mit Umgebungssensorik wie
56 hören, gemäß den Auswertungen des Statistischen der abstandsgeregelte Tempomat ACC (Adaptive
Bundesamtes über das Fehlverhalten der Fahrer Cruise Control), das Notbremssystem EBA (Emer-
57 von Güterkraftfahrzeugen, Fehler beim Abbiegen gency Brake Assist) oder der Spurverlassenswarner
(17,4 %) und Missachtung der Vorfahrt (7,8 %) [3]. (LDW, Lane Departure Warning) können schwere
Unfälle mit stehenden Fahrzeugen wie auch mit Lkw-Unfälle deutlich reduzieren. In einer Studie,
58 Fußgängern und Radfahrern gehen meist auf die die der Gesamtverband der Deutschen Versiche-
eingeschränkten Sichtverhältnisse vor dem Fahrer- rungswirtschaft zusammen mit der Knorr-Bremse
59 haus und seitlich davon zurück. In einer gemeinsa- Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH und der TU
men Studie der DEKRA Automobil GmbH und der München durchführte, wurde das Wirkungspo-
60 Bundesanstalt für Straßenwesen wurden etwa 120 tenzial von ESP anhand von 850 schweren Nutz-
Unfälle analysiert, die sich innerhalb von Ortschaf- fahrzeug-Unfällen geprüft [5]. Mit dem Einsatz
53.4  •  Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge
1017 53

von ESP ließen sich 9 % dieser Unfälle vermeiden. Wunschgeschwindigkeit bergab gibt es komfortable
Bezogen auf fahrdynamisch bedingte Alleinunfälle Lösungen, die z. B. einen Sollwert aus der aktuellen
von Lkw würden ca. 44 % mit ESP vermieden wer- Geschwindigkeit bilden, wenn der Fahrer im Gefälle
den. Zu deutlichen Resultaten kommt auch eine ge- nach einer Anpassbremsung von der Bremse geht.
meinsame Unter­suchung der MAN Nutzfahrzeuge Der abstandsgeregelte Tempomat erweitert die
AG und der Allianz Zentrum für Technik GmbH vorgenannte Tempomat- und Bremsomatfunktion,
[1], die das Wirkungspotenzial von LDW und ACC indem Abstand und Relativgeschwindigkeit voraus-
analysiert: Wäre die deutsche Lkw-Flotte mit einem fahrender Fahrzeuge gemessen werden. Dadurch ist
heute verfügbaren abstandsgeregelten ACC ausge- es möglich, automatisch die eigene Geschwindigkeit
stattet, ließen sich 71 % der schweren Lkw-Auffahr- an die des Vorausfahrenden anzupassen und einen
unfälle auf Autobahnen und rund 30 % der schwe- einstellbaren Wunschabstand einzuregeln. Die ein-
ren Lkw-Auffahrunfälle auf allen bundesdeutschen stellbaren Wunschabstände sind geschwindigkeits-
Straßen vermeiden (vgl. ▶ Abschn. 53.4). Würden abhängig. Sie entsprechen also einer einstellbaren
alle Lkw ihren Fahrer mit einem Spurverlassens- Zeitlücke, die ggf. noch durch konstante Mindest-
warner vor dem ungewollten Abkommen vom abstände ergänzt wird.
Fahrstreifen warnen und die Fahrer korrigierend Sensorische Basis des ACC ist ein Hochfre-
durch Gegenlenken eingreifen, könnten 49 % der quenz-Radar. Das Radarsystem ist in der Regel im
Unfälle vermieden werden, bei denen Fahrzeuge unteren Teil der Bugschürze eingebaut und erfasst
rechts oder links von der Fahrbahn abkommen vorausfahrende Fahrzeuge, vgl. . Abb. 53.5. Hier-
(vgl. ▶ Abschn. 53.5). bei kommen in Lkw die gleichen Radarsensoriken
zum Einsatz, wie sie in Pkw verwendet werden
(vgl. ▶ Abschn.  53.4). Hinsichtlich des Trackings
53.4 Adaptive Cruise Control (ACC) und spezieller Lkw-Randbedingungen sind jedoch
für Nutzfahrzeuge Anpassungen der Sensorik erforderlich, z. B. bezüg-
lich Nickverhalten des Lkw, fahrdynamischer Para-
Adaptive Cruise Control (ACC) ist ein Assistenz- meter, Kolonnenfahrt hinter Trailern mit flattern-
system, das automatisch die Fahrgeschwindigkeit den Rückwandplanen, Lkw-typischer Vibrationen,
an vorausfahrende Fahrzeuge anpasst und einen 24-V-Spannungsversorgung usw.
vom Fahrer einstellbaren Abstand einregelt. Bei Zur Abstands- und Geschwindigkeitsregelung
freier Fahrt arbeitet das System wie ein normaler greift der ACC-Regler in die Motorsteuerung und
Tempomat. die Bremssysteme ein. Für Fahrzeugverzögerungen
Adaptive Cruise Control setzt in Lkw auf den sind in Lkw im Gegensatz zu ACC-Systemen in Pkw
beiden Systemen Tempomat und Bremsomat auf. verschiedene Bremssysteme anzusteuern. Zunächst
Der Tempomat regelt automatisch die Geschwin- werden immer die verschleißfreien Dauerbremsen
digkeit des Fahrzeugs über die Kraftstoffzufuhr im wie Motorbremse und Retarder angesteuert. Dabei
Motor. So kann das Fahrzeug eine vom Fahrer vor- ist deren Übertragungsverhalten zu beachten, das
gegebene Geschwindigkeit einhalten. Bergab kann teilweise ein stufiges Ansprechverhalten und große
es jedoch ggf. auch ohne Kraftstoffzufuhr durch den Ansprechverzögerungen zeigt. Zur Kompensation
Hangabtrieb über die Wunschgeschwindigkeit hi- dieser unerwünschten Effekte gibt es Lösungen, die
naus beschleunigen. Ist dies nicht gewünscht oder eine zwischenzeitliche kurzzeitige, schnelle Ansteu-
nur bis zu einem gewissen Maß, besteht die Mög- erung der Betriebsbremsen vorsehen, so dass sich
lichkeit für den Lkw-Fahrer, eine Bremsomatfunk- ein stetig verlaufendes Bremsmoment mit schneller
tion zu aktivieren. Diese steuert bei Überschreitung Ansprechzeit ergibt.
der Wunschgeschwindigkeit oder eines einstellba- Reicht die Bremsleistung der Dauerbremsen
ren Offsets oberhalb der Wunschgeschwindigkeit nicht aus, um das Fahrzeug gemäß der Reglervor-
den Retarder oder die Motorbremse automatisch gabe zu verzögern, werden zusätzlich die Betriebs-
an, sodass eine vorgewählte Geschwindigkeit auch bremsen angesteuert. Diese Ansteuerung muss
im Gefälle eingehalten wird. Zur Einstellung der jedoch hinsichtlich der in Wärme umgesetzten
1018 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

41
42
43
44
45
46
47 .. Abb. 53.5  Einbausituation eines ACC-Sensors am Lkw

Bremsenergie begrenzt werden, um eine Überhit- tiviert. Hingegen erfolgt durch Auslenkung des
48 zung der Betriebsbremsen zu verhindern. Insofern Fahrpedals eine Übersteuerung der ACC-Systeme.
werden die Betriebsbremsen nur für Anpassbrem- Dies kann der Fahrer nutzen, um z. B. eine ACC-
49 sungen angesteuert, wenn also die Geschwindigkeit Bremsung hinter einem Lkw zu vermeiden, der am
des Fahrzeugs schnell reduziert werden muss. Dabei Beginn einer Steigung langsamer wird. Da heutige
50 liegt die mit heutigen ACC-Systemen maximal ange- ACC-Systeme noch keine Streckenvorausschau
steuerte Fahrzeugverzögerung bei ca. –3 m/s2. Muss leisten, kann nur der Fahrer solche Situationen
ein Fahrzeug bei Bergabfahrt längere Zeit gebremst erkennen, in denen eine Bremsung auf ein voraus-
51 werden, so darf dies nur durch die Dauerbremsen fahrendes Fahrzeug z. B. wegen einer beginnenden
erfolgen und nicht mit den Betriebsbremsen, um Steigung unzweckmäßig ist. Die Übersteuerung
52 deren Überhitzung zu verhindern. Dazu muss das dient darüber hinaus zur Abstandsverringerung
Fahrzeug ggf. mit den Betriebsbremsen auf eine ge- vor einem Überholmanöver oder zum schnelleren
ringere Geschwindigkeit verzögert und in kleinere Beschleunigen.
53 Gänge geschaltet werden, damit anschließend die
Dauerbremsleistung ausreicht. Relevant für die ACC-Regelung sind vor allem fol-
54
55
Je nach Voreinstellung – entweder durch den
Fahrer oder den Systemhersteller – funktionieren
ACC-Systeme mit oder ohne Fahrerübernahmeauf-
forderung. Diese kann dem Fahrer signalisieren,
-
gende Punkte:
Auf Autobahnen gilt in Deutschland für Lkw
bei einer Geschwindigkeit ab 50 km/h ein
gesetzlicher Mindestabstand von 50 m. Dieser
dass die ACC-Regelung die maximale Verzögerung muss von mindestens einer wählbaren Ab-

-
56 von z. B. –3 m/s2 ansteuert, sie in der aktuellen Fahr- standsstufe eingehalten werden.
situation aber nicht ausreicht. Der Fahrer wird also Wird der Wunschabstand unterschritten, z. B.
57 aufgefordert, selbst stärker zu bremsen, als es das aufgrund eines einscherenden Fahrzeugs, so
ACC-System kann. Zusätzlich gibt es ACC-Systeme sind üblicherweise Differenzgeschwindigkeiten
mit Auffahrwarnungen, die teilweise auch bei ausge- von 2 … 4 km/h vorgesehen, um den Abstand
58 schaltetem ACC aktiv sind. Diese sollen dem Fahrer wieder zu vergrößern. Bei überholenden
die akute Gefahr eines Auffahrunfalls signalisieren Fahrzeugen ist diese Differenzgeschwindigkeit
59 und ihn zum Bremsen veranlassen. von vornherein gegeben, so dass der Lkw mit
ACC-Systeme werden durch Betätigung eines ACC konstant weiterfahren kann. Ein „Durch-
60 Bedienelements (z. B. Taste oder Bedienhebel) reichen nach hinten“, wie es gelegentlich von
oder durch Auslenkung des Bremspedals deak- Laien befürchtet wird, findet also nicht statt.
53.4  •  Adaptive Cruise Control (ACC) für Nutzfahrzeuge
1019 53

- Wenn die Differenzgeschwindigkeit einsche-


render Fahrzeuge größer ist als der vorgenannte
Wert zum Aufbau des Wunschabstands, kann
Bundesstraßen ausgelegt. Auf weniger ausgebauten
Bundesstraßen, auf Landstraßen und im Stadtver-
kehr muss der Fahrer das System deaktivieren. Die
es bei geregelter Folgefahrt zu einem uner- Regelung von Abstand und Fahrgeschwindigkeit
wünschten „Mitzieheffekt“ kommen. Der Lkw durch Adaptive Cruise Control erfolgt ab einer
beschleunigt also hinter dem Einscherer. Da das herstellerseitig vorgegebenen Mindestgeschwindig-
einscherende Fahrzeug wegen des langsameren keit. Ein typischer Wert hierfür sind 25 km/h. Wird
Vorausfahrenden jedoch bald seine Geschwin- diese Mindestgeschwindigkeit unterschritten, muss
digkeit verringern oder den Fahrstreifen wieder der Fahrer wieder die Längsführung übernehmen.
verlassen muss (so genannte Durchscherer, z. B. Teilweise sind ACC-Systeme verfügbar, die bis zum
bei Autobahn-Ein/Ausfahrten), können solche Stillstand bremsen und auch im Stop&Go-Verkehr
Situationen im ACC-System entsprechend genutzt werden können. Ein automatisches Wieder-
berechnet und berücksichtigt werden, um ein anfahren im Stop&Go-Verkehr erfolgt dabei nur,

- „Mitziehen“ zu vermeiden.
Neben Abstand und Geschwindigkeit des
Vorausfahrenden ist dessen Beschleunigung
bei der ACC-Regelung von Bedeutung. Die
wenn eine Stillstandszeit von z.B. 2 Sekunden nicht
überschritten wird. Andernfalls muss der Fahrer
eine Bedienung zum Anfahren vornehmen. Auf ste-
hende Objekte – auch Fahrzeuge an einem stehen-
Beschleunigung kann aus der Geschwindig- den Stauende – reagieren viele heutige ACC-Sys-
keit abgeleitet werden, wobei Schaltvorgänge teme noch nicht. Auch Fahrzeuge, die sehr langsam
jedoch kurzzeitige, deutliche Beschleunigungs- fahren, werden als stehende Objekte interpretiert
änderungen verursachen können. Wesentlich und nicht als vorausfahrende Fahrzeuge erkannt.
ist die Berücksichtigung der Beschleunigung Dies sind typische Situationen, in denen der Fahrer
beispielsweise, wenn bei einer Autobahnein- eingreifen muss.
fahrt ein langsamerer Pkw vor dem Lkw ein- Adaptive Cruise Control muss in Lastkraftwa-
schert. Ohne Beschleunigung des Einscherers gen und Reisebussen unterschiedlichen Anforde-
müsste der Lkw abbremsen. Bei ausreichender rungen gerecht werden. Der Lkw bewegt sich häu-
Beschleunigung wird die Differenzgeschwin- fig in längeren Kolonnenfahrten mit einer gleich
digkeit jedoch positiv, bevor der Abstand bleibenden Geschwindigkeit von 80 km/h. Für den
kritisch wird. Der Lkw kann in diesem Fall Lkw-Fahrer ist ACC primär eine Komfortfunktion,

- also konstant weiterfahren.


In die Strategie der Abstandsregelung können
zusätzlich zum direkten Vorausfahrenden auch
Fahrzeuge einbezogen werden, die vor dem
die ihn vor allem bei weitgehend konstantem Ko-
lonnenverkehr entlastet. Während der meist langen
Fahrzeiten bleibt die Leistungsfähigkeit des Fahrers
länger erhalten. Die automatische Abstandsregelung
Vorausfahrenden oder in den Nachbarfahr- erhöht die Verkehrssicherheit, und plötzliche Not-

- streifen daneben fahren.


Das Verhalten der Abstandsregelung stellt
einen Kompromiss dar zwischen Einhaltung
des Wunschabstands und ökonomischer Fahr-
bremssituationen aufgrund zu geringen Abstands
oder Unaufmerksamkeit des Fahrers werden ver-
mieden. Darum werden speziell Lkw für Gefahrgut-
transporte heute bevorzugt von den Spediteuren mit
weise. Eine genaue Einhaltung des Wunschab- ACC geordert, nicht zuletzt aufgrund entsprechen-
stands würde bedeuten, dass ggf. mit Einsatz der Forderungen von Befrachtern.
der Bremssysteme unmittelbar auf Verzöge- Hingegen fährt ein Reisebus mit einer Durch-
rungen des Vorausfahrenden reagiert werden schnittsgeschwindigkeit von 100 km/h, überholt
müsste. Dies widerspricht einer ökonomischen Lkw folglich problemlos, ist aber meist langsamer
Fahrweise, die einen möglichst geringen Ein- als Pkw. Im Vergleich zum Lkw fährt der Reisebus
satz der Bremsen anstrebt. meist nicht in geregelter Folgefahrt. Nähert sich der
Bus jedoch einem langsameren Fahrzeug, veranlasst
Heutige ACC-Systeme für Nutzfahrzeuge sind das ACC die Drosselung der Geschwindigkeit, so-
für Fahrten auf Autobahnen und gut ausgebauten dass ein sicherer Abstand zum vorausfahrenden
1020 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

Fahrzeug eingehalten wird. Für den Reisebus steht licher Verzögerung durch, so könnten 7 %

-
41 daher eher der Sicherheitsaspekt im Vordergrund. vermieden werden.
Wären alle Lkw mit ACC-Systemen ausge-
42 Die Wirksamkeit von ACC-Systemen zur Unfallver- rüstet, die bis zum Stillstand regeln und auch
meidung wurde von der Allianz Zentrum für Tech- innerorts geeignet sind, könnten 8 % aller
nik GmbH im Rahmen des vom BMBF geförder- schweren Nutfahrzeugunfälle vermieden
43 ten Projekts „Safe Truck“ untersucht [1]. Von 583 werden, ohne dass der Fahrer bremst. Greift
analysierten Unfällen waren 127 relevant für ACC, hier zusätzlich innerhalb von zwei Sekunden
44 also Auffahrunfälle im eigenen Fahrstreifen. Darin nach dem ACC-Eingriff der Fahrer mit einer
enthalten sind auch Unfälle im Stadtverkehr und Vollbremsung ein, erhöht sich die Vermeidbar-
45
46
auf Landstraßen sowie Unfälle mit stehenden Hin-
dernissen. Das Wirkungspotenzial wurde darum
für fünf Szenarien analysiert, die verschiedene Ent-
wicklungsstufen von ACC-Systemen repräsentieren.
- keit auf 17 %.
Wären alle Lkw mit ACC-Systemen ausgerüs-
tet, die mit zusätzlicher Sensorik auch auf ste-
hende Fahrzeuge reagieren, könnten 21 % aller
Darüber hinaus wurden die Szenarien dahingehend schweren Lkw-Unfälle vermieden werden.
47 unterschieden, ob der Fahrer eingreift oder nicht. In
allen Szenarien wurde von einer Fahrzeugverzöge- Da heutige ACC-Systeme nur für den Einsatz auf
48
--
rung durch ACC von maximal –2 m/s2 ausgegangen:
ACC-System, das nur oberhalb einer Mindest-
geschwindigkeit regelt
Autobahnen und gut ausgebauten Bundesstraßen
konzipiert sind, wurde das Unfallvermeidungspo-
tenzial für dieses Umfeld gesondert betrachtet. In

-
49 ohne Fahrereingriff (Szenario 0) Bezug auf Auffahrunfälle von Nutzfahrzeugen auf
mit Fahrereingriff mit maximaler Verzöge- Autobahnen ergibt sich, dass mit heute verfügbaren
50 rung (6 m/s2) nach zwei Sekunden (Szena- ACC-Systemen 71 % dieser Unfälle vermieden wer-

51 -- rio 1)
ACC-System, das bis zum Stillstand regelt und
auch für Innerortsverkehr geeignet ist
den könnten, wenn alle Lkw mit ACC ausgerüstet
wären. Angenommen, dass der Fahrer einen ACC-
Bremseingriff als haptische Warnung erkennt und

-
ohne Fahrereingriff (Szenario 2) dann selbst nach 2  Sekunden eine Vollbremsung
52 mit Fahrereingriff mit maximaler Verzöge- einleitet, würden sogar 86 % aller Lkw-Auffahrun-
rung (6 m/s2) nach zwei Sekunden (Szena- fälle auf Autobahnen vermieden werden.
53
54
- rio 3)
ACC-System, das bis zum Stillstand regelt und
für Innerortsverkehr geeignet ist und auch
stehende Fahrzeuge erkennt (Szenario 4)
53.5 Spurverlassenswarner
für Nutzfahrzeuge

55 Basis der Studie bildeten 127 ACC-relevante Un- Ein Spurverlassenswarner (LDW, Lane Departure
fälle von Nutzfahrzeugen. Anhand von Rekonstruk- Warning) eines Nutzfahrzeugs überwacht dessen
tionen der gut dokumentierten Unfälle wurde die Einhaltung des Fahrstreifens und warnt den Fah-
56 Vermeidbarkeit der Unfälle in den einzelnen Sze- rer, wenn er unbeabsichtigt seinen markierten Fahr-
narien analysiert und auf die einzelnen Kategorien streifen verlässt. Das System unterstützt den Fahrer
57 hochgerechnet (vgl. . Abb. 53.6 – Wirkungspoten- insbesondere auf langen und monotonen Strecken,

58 -
zial ACC):
Wären alle Lkw mit heute verfügbaren ACC-
Systemen ausgerüstet, könnten rund 6 % aller
schweren Nutzfahrzeugunfälle vermieden
wenn dessen Aufmerksamkeit nachlässt oder wenn
er abgelenkt ist. Ein unbeabsichtigter Fahrstreifen-
wechsel kann durch Warnung des Fahrers vermie-
den werden, sodass Alleinunfälle durch Abdriften
59 werden, ohne dass ein Bremseingriff durch den von der Fahrbahn oder Kollisionen mit Fahrzeugen
Fahrer notwendig ist. Führt der Fahrer einen auf den Nachbarfahrstreifen bzw. einem Standstrei-
60 Bremseingriff innerhalb von zwei Sekunden fen verhindert werden. Spurverlassenswarner wer-
nach dem ACC-Eingriff mit maximal mög- den seit dem Jahr 2001 für Nutzfahrzeuge angeboten
53.5  •  Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge
1021 53

.. Abb. 53.6  Vermeidbarkeit von Kollisionen durch den Einsatz von Adaptive Cruise Control [1]

.. Abb. 53.7 Detektion
der Fahrstreifenmarkie-
rung durch Spurverlas-
senswarner [Quelle: MAN
Truck & Bus AG]

und sind für den Einsatz auf Autobahnen und gut Voraussetzung für die Zulassung neuer LKW-Ty-
ausgebauten Bundesstraßen ausgelegt. pen > 3,5 t sowie neuer Bus-Typen mit mehr als 8
Gemäß Verordnung der EU [6] ist ab Nov. 2013 Sitzplätzen. Ab Nov. 2015 sind Spurverlassenswar-
die Ausrüstung mit einem Spurverlassenswarner ner für alle Neuzulassungen von LKW > 3,5 t und
1022 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

.. Abb. 53.8 Einbausi-
41 tuation einer Kamera im
Lkw zur Erkennung von
Fahrstreifenmarkierungen
42 [Quelle: MAN Truck & Bus
AG]

43
44
45
46
47
48
49 Bussen mit mehr als 8 Sitzplätzen Voraussetzung. Zwar erfasst die Kamera permanent den Ver-
Lediglich bestimmte Fahrzeugtypen, für die eine lauf der Fahrstreifen, doch die analysierenden Al-
50 solche Ausrüstung keinen Sinn macht, sind von gorithmen überprüfen nicht das gesamte Bild. Um
dieser Regelung ausgenommen. Die heute für Lkw Rechenleistung zu sparen, werden nur die äußeren
verfügbaren Systeme erfassen diese Fahrstreifen- Bereiche der Straße mithilfe von Suchfenstern aus-
51 markierungen mittels einer Kamera, die im Fah- gewertet, vgl. . Abb. 53.7.
rerhaus innen möglichst mittig an der Frontscheibe Erkennt das System, dass sich das Fahrzeug der
52 angebracht ist, vgl. . Abb. 53.8. Außermittige An- Fahrbahnmarkierung nähert oder sie sogar über-
bauorte sind denkbar, sofern eine entsprechende fährt, ohne dass der Fahrtrichtungsanzeiger betätigt
Parametrierung der Auswertealgorithmik erfolgt. wurde, erfolgt eine Warnung. Die Warnung kann
53 Die Kamera sollte im Wischbereich des Scheiben- z. B. haptisch in Form einer Lenkradvibration erfol-
wischers liegen. Im Lkw hat eine solche Kamera we- gen oder durch seitenbezogene akustische Signale
54 gen der erhöhten Anbauposition einen günstigeren (z. B. in Form eines simulierten Nagelbandratterns).
Blickwinkel auf die Straßenoberfläche als im Pkw. In Reisebussen kommen nur Warnungen in Frage,
55 Andererseits ist bei der Auswertung des erfassten die ausschließlich vom Fahrer wahrgenommen
Bildes das Wanken und Nicken des Fahrerhauses werden und nicht von den Fahrgästen. Für Reise-
erschwerend zu berücksichtigen. busse sind daher Systeme verfügbar, die den Fahrer
56 Eine der gängigsten Methoden zur Erkennung mittels seitenbezogener Vibrationen im Fahrersitz
von Fahrstreifenmarkierungen ist die Suche nach warnen. Eine Verunsicherung der Fahrgäste wird
57 Hell-Dunkel-Übergängen auf der Straßenoberflä- so vermieden.
che. Die verwendeten Kameras sind daher Schwarz- Die Bedingungen zur Auslösung einer Warnung
Weiß-Kameras. Die Sensorik kann die Fahrstreifen- können herstellerabhängig variieren, müssen aber
58 markierungen nur bei ausreichenden Kontrasten den Anforderungen der EU-Verordnung genügen.
exakt erfassen, wenn die Markierungen also deut- Beispielsweise kann eine Warnung in Abhängigkeit
59 lich zu erkennen und möglichst geradlinig sind. Für von der Fahrgeschwindigkeit beim Überfahren der
die Erkennung der Fahrstreifenmarkierungen bei Innenseite oder beim Überfahren der Außenseite
60 Dunkelheit reicht das Ausleuchten mit den Schein- der Fahrstreifenmarkierung ausgelöst werden. Auch
werfern des Fahrzeugs. kann die Quergeschwindigkeit berücksichtigt wer-
53.5  •  Spurverlassenswarner für Nutzfahrzeuge
1023 53
.. Abb. 53.9 Unfallver-
meidungspotenzial durch
Spurverlassenswarner in
Lkw [1]

den, mit der der Fahrstreifen verlassen wird. Unter- noch zwingend beidseitig markiert sein mussten,
halb einer Mindestgeschwindigkeit des Fahrzeugs, geht die Entwicklung nun zudem in die Richtung,
z. B. 60 km/h, werden in der Regel bei heutigen Sys- dass auch bei einseitigen Fahrstreifenmarkierun-
temen keine Warnungen ausgegeben. Systeme, wie gen eine Funktion gegeben ist und ggf. lediglich ein
sie zur Zeit auf dem Markt verfügbar sind, greifen ausreichender Kontrast zur Fahrstreifenbegrenzung
nicht aktiv in die Lenkung ein, sondern warnen den vorhanden sein muss.
Fahrer ausschließlich.
Um Fehlwarnungen zu vermeiden, unterliegt die Zur Überprüfung der Wirksamkeit von Spurverlas-
Sensorik zur Erfassung der Fahrbahnmarkierungen senswarnern hat die Allianz Zentrum für Technik
engen Grenzen. In folgenden Situationen wird in GmbH 583 Lkw-Unfälle aus ihrer Datenbank aus-
der Regel nicht gewarnt: bei einer stark verschmutz- gewertet. Davon waren 44 relevant hinsichtlich un-
ten Windschutzscheibe im Bereich des Sensors, beabsichtigtem Verlassen von Fahrstreifen. Bei der
einer verschneiten, verschmutzten oder ausgebes- Analyse, die im Rahmen des BMBF-Projekts „Safe
serten Fahrbahn, bei mehreren Markierungen ne- Truck“ erfolgte, wurden zwei Systemausprägungen
ben- und hintereinander – wie sie vor allem an Ein- mit unterschiedlichem Funktionsumfang betrachtet
und Ausfahrten von Baustellen auftreten – und bei
einer nassen Fahrbahn. Insbesondere wenn sich mit
Regenwasser gefüllte Spurrillen auf der Fahrbahn
befinden oder Schnee die Straße säumt, besteht die
-
[1]:
Heute verfügbare Spurverlassenswarner mit
einer Fahrerwarnung ab einer Fahrgeschwin-
digkeit von 60 km/h und einem angenomme-
Gefahr, dass diese Strukturen als Fahrbahnmarkie- nen Lenkeingriff des Fahrers nach 1 Sekunde
rung erkannt werden. Durch die starken Kontraste
zwischen hellem Schnee oder reflektierender Was-
seroberfläche und dunklem Asphalt lassen sich die
Schwarz-Weiß Bilder der Videokamera nicht exakt
- Reaktionszeit.
Erweitertes System, das ebenfalls für Ge-
schwindigkeiten ab 60 km/h ausgelegt ist, aber
zusätzlich eine automatische Rückführung
auswerten. Die Forschung arbeitet derzeit an einer beim Verlassen der Fahrstreifen vornimmt.
verbesserten Sensorik.
Während in der ersten Systemgeneration für Das Ergebnis der Studie zeigt, dass 49 % aller
die einwandfreie Assistenzfunktion die Fahrstreifen Nutzfahrzeugunfälle durch Abkommen vom Fahr­
1024 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

41
42
43
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46
47
.. Abb. 53.10  Öffnungswinkel und Sichtweite der Kombination aus 77 GHz-Long Range Radar und Kamerasystem
[Quelle: MAN Truck & Bus AG]
48
streifen vermieden werden könnten, wenn alle kann nicht vom Fahrer erwartet werden, das System
49 Nutzfahrzeuge mit Spurverlassenswarnern ausge- z. B. rechtzeitig vor innerstädtischem Verkehr ab-
stattet wären. Erfolgt zukünftig auch eine automa- zuschalten, wenn es dafür nicht ausgelegt wäre und
50 tische Rückführung in den Fahrstreifen, könnten dort Fehlbremsungen einleiten würde.
sogar 72 % dieser Unfälle vermieden werden, vgl. Basis heutiger Notbremssysteme sind Hoch-
. Abb. 53.9 frequenz-Radarsensoren, wie sie auch bei ACC-
51 Systemen eingesetzt werden. Sie erfassen die vor-
ausliegende Verkehrssituation. Die Bewertung der
52 53.6 Notbremssysteme Verkehrssituation erfolgt mit speziellen Algorith-
men, die je nach Verkehrssituation einstufige oder
Assistenzsysteme, die automatisch eine Vollbrem- mehrstufige Systemreaktionen generieren. Die He-
53 sung einleiten, haben sich inzwischen im Nutzfahr- rausforderung ist dabei sicherzustellen, dass keine
zeugmarkt etabliert. Seit November 2013 ist gemäß Fehlbremsungen eingeleitet werden und dass kriti-
54 EU-Verordnung [6] ein Notbremssystem Voraus- sche Verkehrssituationen korrekt erkannt werden,
setzung für neue Typzulassungen von LKW > 3,5t vgl. . Abb. 53.10.
55 und von Bussen mit mehr als 8 Sitzplätzen. Ab Nov. Erfasst der Sensor ein Hindernis und erkennt
2015 sind Notbremssysteme Voraussetzung bei allen zugleich, dass sich der Abstand verringert und der
Neuzulassungen von LKW > 3,5t und Bussen mit Fahrer die Geschwindigkeit nicht reduziert, greift das
56 mehr als 8 Sitzplätzen. Notbremssystem in das Fahrgeschehen ein. Zunächst
Diese Systeme warnen den Fahrer eindringlich wird der Fahrer optisch über ein Signal im Zentral-
57 bei akuter Gefahr eines Auffahrunfalls und leiten display und akustisch über einen Warnton auf die
ggf. automatisch eine Vollbremsung ein, wenn der Gefahr aufmerksam gemacht. Verzeichnet das Assis-
Auffahrunfall unvermeidlich ist. Damit können tenzsystem noch immer keine Reaktion vom Fahrer
58 Auffahrunfälle verhindert und die Schwere von – etwa einen Bremseingriff oder ein Lenkmanöver
Unfällen erheblich verringert werden, wenn eine – erfolgt eine Teilbremsung mit einer Fahrzeugverzö-
59 Kollision unvermeidbar ist. Dafür muss der Not- gerung von ca. –2 m/s2. Verschärft sich dennoch die
bremsassistent für alle Verkehrssituationen ausge- Kollisionsgefahr, leitet das System eine Vollbremsung
60 legt sein; d. h. er darf in keiner Verkehrssituation mit einer Fahrzeugverzögerung von ca. –6 m/s2 ein.
eine unnötige Vollbremsung auslösen – schließlich Kommt es zu einer Bremsung, werden die Bremslich-
53.7  •  Vorausschauendes Fahren
1025 53

ter angesteuert, um den nachfolgenden Verkehr zu eignet in die Fahrstrategie einbinden. Ziel ist dabei,
warnen und Folgeunfälle zu vermeiden. Ziel dieser wo immer möglich und sinnvoll das Fahrzeug ohne
Funktion ist insbesondere, das ungebremste Auffah- Kraftstoff­einspritzung rollen zu lassen oder in spe-
ren auf langsamere Fahrzeuge und das späte Bremsen ziellen Situationen den Triebstrang zu öffnen, um
durch den Fahrer zu vermeiden. Kraftstoff zu sparen. Typische Situationen, in denen
Die Erkennung von stehenden Hindernis- ein Ausrollen sinnvoll ist, bestehen vor einem Ge-
sen, auf die eine Notbremsung erforderlich ist, ist fälle, in dem der Lkw bremsen muss. Während ein
deutlich schwieriger als die Erkennung bewegter normaler Tempomat bis zum Beginn des Gefälles
Hindernisse. Dies wurde auch in der Durchfüh- die Geschwindigkeit konstant hält und das Fahrzeug
rungsverordnung zur Einführung von Notbrems- entsprechend Kraftstoff verbraucht, berücksichtigt
systemen berücksichtigt. Die Verordnung sieht vor, ein vorausschauender Tempomat das vorausliegende
dass ausgehend von einer LKW-Geschwindigkeit Gefälle und nimmt rechtzeitig die Kraftstoffeinsprit-
von 80 km/h bei einem mit 30 km/h vorausfahren- zung zurück, so dass das Fahrzeug auf das Gefälle
den Fahrzeug eine unfallvermeidende Notbremsung zurollt und dabei vor Beginn des Gefälles etwas lang-
erfolgen muss, d.h. der Geschwindigkeitsabbau des samer wird. Die Steuerung berechnet voraus, wann
LKW muss mindestens 50 km/h betragen. Bei ei- die Kraftstoffeinspritzung zurückgenommen werden
nem stehenden Hindernis muss die Geschwindig- muss, um einen herstellerseitig parametrierten oder
keit dagegen nur um 10 km/h abgebaut werden. vom Fahrer einstellbaren maximalen Geschwindig-
Da ein aktives Notbremssystem im Gegensatz zu keitsabfall vor dem Gefälle einzuhalten. Die Höhe
einem Notbremswarner direkt in die Fahrzeugfüh- des tolerierten Geschwindigkeitsabfalls geht pro-
rung eingreift, muss das System und der Entwick- portional in die Kraftstoffeinsparung ein und bildet
lungsprozess erhöhten Sicherheitsanforderungen einen Kompromiss zwischen Effizienz und Akzep-
entsprechen. tanz. Schließlich darf der Lkw mit seinem parame-
Die Interpretation der Daten des Statistischen trierten Geschwindigkeitsabfall vor einem Gefälle
Bundesamtes über Unfälle von Güterfahrzeugen im nicht zu einem Verkehrshindernis werden und das
Straßenverkehr für das Jahr 2011 [3] verdeutlicht, Verhalten muss auch für den Lkw-Fahrer noch ak-
welches Wirkungspotenzial Notbremssysteme ha- zeptabel sein, damit er das System nicht übersteuert,
ben: Mit nahezu 17 % aller Unfälle, die von Güter- womit er gegen die gewünschte Effizienzsteigerung
fahrzeugen verursacht wurden, war der Abstands- arbeiten würde. Ein Übersteuern durch den Fahrer
fehler zum vorausfahrenden Fahrzeug die häufigste ist natürlich jederzeit möglich. Da ein vorausschau-
Unfallursache. Zudem führt die hohe kinetische end betriebener Lkw mit geringerer Geschwindigkeit
Energie bei Auffahrunfällen von Nutzfahrzeugen in das Gefälle fährt, muss er im Gefälle auch später
meist zu schweren Unfallfolgen. Aktive und war- bremsen, was wiederum geringerem Verschleiß und
nende Notbremssysteme sind in der Lage, diese besserem Wärmehaushalt zu Gute kommt.
kritischen Situationen zu entschärfen. Während ein normaler Tempomat bis zum Ende
des Gefälles die Geschwindigkeit konstant hält und
dazu den Lkw im Gefälle mit den Dauerbremsen
53.7 Vorausschauendes Fahren abbremst, berücksichtigt ein vorausschauender
Tempomat das nahende Ende des Gefälles und löst
Ein wesentliches Kriterium beim Betrieb von Nutz- rechtzeitig die Dauerbremsen, so dass der Lkw et-
fahrzeugen ist deren Kraftstoffverbrauch. Dieser was schneller wird und somit Schwung aufnehmen
lässt sich durch vorausschauendes Fahren deutlich kann. Dies kommt ihm bei einer anschließenden
reduzieren. Hierbei werden zwei Ansätze verfolgt. Steigung oder auch in der anschließenden Ebene
Einerseits kann die Fahrstrategie Daten der zugute, in der dann erst später wieder das Motor-
vorausliegenden Fahrstrecke aus digitalen Karten moment aufgebaut werden muss, um die Wunsch-
entnehmen und in der Triebstrangsteuerung be- geschwindigkeit zu halten. Die resultierende Ge-
rücksichtigen. Hier sind Systeme am Markt, die das schwindigkeitserhöhung am Ende des Gefälles kann
vorausliegende Steigungsprofil auswerten und ge- von der Steuerung genau vorausberechnet werden
1026 Kapitel 53  •  Bahnführungsassistenz für Nutzfahrzeuge

und stellt wiederum einen Kompromiss zwischen reagiert. Solche aktiven Eingriffe sind z. B. mit Sys-
41 Akzeptanz und Effizienz dar, wobei auch gesetzli- temen zur Momentenüberlagerung in der Lenkung
che Randbedingungen hinsichtlich der zulässigen oder in Form von gezielten Einzelradbremsungen
42 Maximalgeschwindigkeit zu beachten sind. Beim denkbar.
Schwungaufbau am Ende eines Gefälles wird au- Zukünftige Spurwechsel-Assistenten signalisie-
ßerdem der beim Rollen zu Beginn des Gefälles ren dem Fahrer, ob ein Überhol- oder ein Ausweich-
43 entstandene Zeitverlust kompensiert. manöver gefahrlos möglich ist: Betätigt der Fahrer
Neben der vorausschauenden Motoransteu- den Fahrtrichtungsanzeiger und das System erfasst
44 erung wird die Streckenvorausschau auch in die von hinten herannahende Fahrzeuge, wird er z. B.
Getriebesteuerung einbezogen. So können z.B. über ein rotes Signal im Außenspiegel und eine ent-
45 gezielt die Schaltungen vor und in einer Steigung sprechende Anzeige im Zentraldisplay gewarnt. In
gegenüber bisherigen Systemen ohne Vorausschau Verbindung mit einer Kamera zur Erkennung von
verbessert werden. Fahrstreifen kann das System auch warnen, wenn
46 In modernen Nutzfahrzeugen ist nicht nur die der Fahrer ohne Betätigung des Fahrtrichtungsan-
vorausschauende automatisierte Fahrstrategie zu zeigers den Fahrstreifen wechselt. In diesem Fall
47 finden, sondern auch eine Onboard-Fahrerschulung, kann zusätzlich eine Spurverlassenswarnung abhän-
um dem Fahrer das im Eco-Training gemäß BKrFQG gig von der seitlichen Kollisionsgefahr erfolgen oder
vermittelte Wissen aufrecht zu erhalten. Die On- auch eine automatische Korrektur der Querführung
48 board-Fahrtrainer sind herstellerspezifisch unter- durchgeführt werden.
schiedlich ausgeprägt, haben aber das gleiche Ziel: Um Fußgänger und Radfahrer im Nahbereich
49 dem Lkw-Fahrer eine vorausschauende, effiziente – unmittelbar vor und seitlich neben dem Lkw – zu
und materialschonende Fahrweise beizubringen. schützen, befinden sich Abbiegeassistenten in der
50 Dazu analysiert das System, wie das Fahrerverhalten Entwicklung. Sensoren erfassen dazu das Umfeld
hinsichtlich Verbrauchsreduzierung und Verschleiß- vor und neben dem Lkw. Der Fahrer kann dann
minimierung verbessert werden kann und gibt ihm gewarnt werden, wenn eine Kollisionsgefahr mit
51 entsprechende Hinweise im Fahrzeugdisplay. Radfahrern oder Fußgängern besteht.
An einer kooperativen Form der Bahnführung
52 wurde bis Ende 2009 im vom BMWi geförderten
53.8 Entwicklung für die Zukunft Projekt KONVOI gearbeitet. Universitäten, Spedi-
tionen und Forschungsabteilungen von Unterneh-
53 Heutige Fahrerassistenzsysteme unterstützen Fahrer men aus der Nutzfahrzeugindustrie evaluierten das
in genau definierten Verkehrssituationen. Ein Spur- Verkehrssystem „Lkw-Konvois“ auf Autobahnen
54 verlassenswarner überwacht die Fahrzeugposition im realen Verkehr unter alltäglichen Bedingungen.
im Fahrstreifen, während Adaptive Cruise Control Technologisch baute das Projekt auf Sensorik, Ak-
55 die Geschwindigkeit und den Abstand zum voraus- torik, Kommunikationstechnik und Algorithmen
fahrenden Fahrzeug regelt. Jeder Assistent arbeitet zur Längs- und Querführung auf, die in nationalen
eigenständig als einzelnes System. Künftige Sicher- und europäischen Vorgängerprojekten wie Prome-
56 heitsassistenten werden hingegen kooperativ agie- theus, INVENT und Chauffeur erarbeitet wurden.
ren und zu ganzheitlichen Systemen verschmelzen. Mithilfe von Fahrerassistenzsystemen werden Lkw
57 Zukünftige Adaptive Cruise Control Systeme elektronisch aneinander gekoppelt. Längs- und
werden vermehrt über eine Stop&Go-Funktiona- Querführungssysteme regeln den Abstand zum
lität verfügen. Auch die Bildverarbeitung wird in vorausfahrenden Fahrzeug sowie die Fahrzeugpo-
58 zunehmendem Maße im Nutzfahrzeug zur Anwen- sition im Fahrstreifen. Ein Organisationsassistent
dung kommen. vernetzt potenzielle Konvoiteilnehmer und hilft
59 Ebenfalls werden Spurverlassenswarner zu viel- den Fahrern bei der Bildung von Konvois. In dem
seitigen Querführungssystemen weiterentwickelt. Projekt wurden Möglichkeiten zur Optimierung
60 Diese können in die Querführung eingreifen, falls des Verkehrsablaufs und einer besseren Auslastung
der Fahrer nach der Spurverlassens-Warnung nicht der bestehenden Infrastruktur untersucht. Darüber
Literatur
1027 53

hinaus konnte gezeigt werden, dass durch die Kon-


voifahrt sowohl Kraftstoffeinsparungen als auch ein
Sicherheitsgewinn erzielt werden kann.
Die Idee des Konvois wurde innerhalb des EU
geförderten Projekts SARTRE (09/2009 bis 12/2012)
weitergeführt. Hier wurde das Ziel verfolgt, einen ge-
mischten Konvoi aus Lkws und Pkws zu realisieren.
Weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der
Verkehrssicherheit und des Verkehrsflusses eröffnen
sich mit zukünftiger Fahrzeug-Fahrzeug-Kommu-
nikation und Fahrzeug-Infrastruktur-Kommunika-
tion. Diese Entwicklungen, aufgrund der zu erwar-
tenden Stückzahlen zunächst vorwiegend von der
Pkw-Industrie getrieben, werden auch in Nutzfahr-
zeugen zur Anwendung kommen. So wird ein vo-
rausschauendes und sicheres Fahren weit über den
Sichthorizont des Fahrers hinaus möglich werden.

Literatur

[1] Daschner, D.; Gwehenberger, J.: Wirkungspotenzial von Ad-


aptive Cruise Control und Land Guard System bei schwe-
ren Nutzfahrzeugen. Allianz Zentrum für Technik GmbH,
Bericht Nr. F05–912, im Auftrag von MAN für das BMBF‐
Projekt Safe Truck, München, 2005
[2] ifmo (Institut für Mobilitätsforschung) (Hrsg.): Zukunft der
Mobilität – Szenarien für das Jahr 2025. Erste Fortschrei-
bung. Eigenverlag, Berlin (2005)
[3] StBA, Statistisches Bundesamt: Verkehr. Unfälle von Güter-
kraftfahrzeugen im Straßenverkehr. Statistisches Bundes-
amt, Wiesbaden (2011)
[4] Niewöhner, W.; Berg, A.; Nicklisch, F.: Innerortsunfälle mit
rechtsabbiegenden Lastkraftwagen und ungeschützten
Verkehrsteilnehmern. DEKRA/VDI Symposium Sicherheit
von Nutzfahrzeugen, Neumünster, 2004
[5] Gwehenberger, J., Langwieder, K., Heißing, B., Gebhart, C.,
Schramm, H.: Unfallvermeidungspotenzial durch ESP bei
Lastkraftwagen. ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 105,
504–510 (2003)
[6] VERORDNUNG (EG) Nr. 661/2009 DES EUROPÄISCHEN PAR-
LAMENTS UND DES RATES vom 13. Juli 2009
1029 54

Fahrerassistenzsysteme
bei Traktoren
Marco Reinards, Georg Kormann, Udo Scheff

54.1 Fahrdynamische Assistenzsysteme – 1030


54.2 Prozess-Assistenzsysteme – 1034
54.3 Automatisierung von Lenkfunktionen  –  1037
54.4 Kollaborierende Fahrzeuge – 1042
54.5 Ausblick auf vollautomatisierte Fahrzeuge
in der Landwirtschaft  –  1043
Literatur – 1044

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_54, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1030 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

Bei Straßenfahrzeugen steht der Transport von Grundsätzlich sind Traktoren – analog zu Stra-
1 Personen und Gütern als funktionale Aufgabe der ßenfahrzeugen – Fahrzeuge, deren Bewegungen auf
Fahrzeugbewegung im Vordergrund. Traktoren einer vorgegebenen Oberfläche bzw. Fahrbahn vom
2 bzw. landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge sowie Bau- Fahrer in Längs- und Querrichtung sowie um die
maschinen haben in der Regel mehrere zusätzliche Hochachse innerhalb von den physikalisch vorge-
Funktionen – wie zum Beispiel eine Bereitstellung gebenen Grenzen frei bestimmt werden kann. In
3 und Regelung mechanischer, hydraulischer oder dieser allgemeinen Beschreibung der Fahrdynamik
auch elektrischer Leistung, eine Güterumschlags- wird davon ausgegangen, dass alle äußeren Kräfte
4 leistung und eine Traktionsleistung – gleichzeitig zu und Momente – mit Ausnahme der Schwerkraft,
erfüllen. Diese zusätzlichen Anforderungen, die sich den aerodynamischen Kräften und Momenten über
5 aus der Einbindung in den Prozess der landwirt- die Kontaktzone zwischen Reifen und Fahrbahn –
schaftlichen Erzeugung ergeben, bestimmen damit aufgeprägt werden und damit die Bewegung des
maßgeblich auch die Gestaltung der landwirtschaft- Fahrzeugs bestimmen [2].
6 lichen Nutzfahrzeuge. Damit verbunden ist auch die . Abbildung 54.1 zeigt einen Größenvergleich
Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, um zwischen einem Standardtraktor der 150 PS-Klasse
7 den Fahrer bei der Fahrzeugführung und der Pro- (110  kW) und einer Mittelklasselimousine sowie
zessüberwachung zu unterstützen. einem 18 t-Lkw. Auch wenn dieser Vergleich nur
Zwei Arten von Assistenzsystemen lassen sich einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem universel-

--
8 unterscheiden: len Einsatzbereichs eines Traktors abbildet, werden
fahrdynamische Assistenzsysteme, zwei wesentliche Unterschiede in den Konstrukti-
9 Prozess-Assistenzsysteme.

-
onsmerkmalen der Fahrzeuge deutlich:
Beladung bzw. Ballastierung außerhalb der
10
11
Bei den fahrdynamischen Assistenzsystemen steht
die Fahrzeugführung – ähnlich wie bei Kraftfahr-
zeugen – mit limitierter Einbindung in einen land-
wirtschaftlichen Prozess im Vordergrund. Im Un-
- Achsen,
sehr große Reifen auf kurzem Radstand.

Zusätzlich zu diesen offensichtlichen Unterschie-


terschied dazu steht bei Prozess-Assistenzsystemen den hat die konstruktive Ausführung des Standard-
12 die Unterstützung des Fahrers bei der Ausführung traktorfahrwerks mit einer starr mit dem Chassis
von Aufgaben in der landwirtschaftlichen Erzeu- verblockten Hinterachse und einer pendelnd im
gung durch Automatisierungslösungen im Fokus. Chassis aufgehängten starren Vorderachse einen
13 entscheidenden Einfluss auf die Längs-, Vertikal-
als auch Querdynamik von Traktoren.
54 54.1 Fahrdynamische Durch die starr mit dem Chassis verblockte
Assistenzsysteme Hinterachse und die pendelnd aufgehängte Vor-
15 derachse findet die gesamte Wankabstützung des
In den vergangenen 50  Jahren hat sich die maxi- Fahrzeugs über die Hinterachse, genauer gesagt
male Transportgeschwindigkeit von Traktoren etwa über die Hinterräder statt: Insbesondere beim Ein-
16 verdreifacht: Vergleichbar mit der Zunahme der satz im Transport auf der Straße führt dies je nach
Transportgeschwindigkeit lässt sich eine steigende Ballastierung zu einem übersteuernden oder unter-
17 Tendenz der Traktormasse und der Motorleistung steuernden querdynamischen Fahrverhalten. Neben
beobachten, die auch einen Hinweis auf die Entwick- den Verbesserungen in der Reifentechnologie, der
lungstendenz in der Gesamtfahrzeuggröße gibt. So- Lenkungsabstimmung und der Einführung von ge-
18 wohl aus der Zunahme der Traktormassen als auch federten Vorderachsen wurden in den letzten Jahren
der Steigerung der Transport- und Arbeitsgeschwin- drei wesentliche Systeme zur Fahrerassistenz in der

-
19 digkeiten ergeben sich erweiterte Anforderungen an Querdynamik eingeführt:
die Fahrdynamik von Traktoren, denen insbeson- Vorderachsfederung mit schaltbarer Wankfe-
20 dere durch die Entwicklung erweiterter Fahrwerks-
konzepte Rechnung getragen werden kann [1].
- derungskennlinie,
umschaltbare Lenkübersetzung,
54.1 • Fahrdynamische Assistenzsysteme
1031 54

.. Abb. 54.1  Größenvergleich zwischen Traktor und Straßenfahrzeugen

-
.. Abb. 54.2  Mit und ohne Fendt Stability Control [4]

Steer-by-Wire-Lenkung mit Querdynamikre- Entwicklung des 936 Vario das Fendt Stability Con-
gelung und variabler Lenkübersetzung. trol (FSC) eingeführt, welches abhängig von der Ge-
schwindigkeit eine zusätzliche Wankstabilisierung
Der Einsatz von Vorderachsen mit hydropneumati- an der Vorderachse aufschaltet (siehe . Abb. 54.2).
schen Federungen bietet verschiedene Möglichkeiten Für Traktoren mit einer bauartbedingten Höchst-
zur hydraulischen Kopplung der Federungszylinder geschwindigkeit von 60 km/h wird hierbei ab einer
und damit auch verschiedene Möglichkeiten zur Fahrgeschwindigkeit von 20 km/h die Kopplung
Ausführung der Vorderachsfederung mit und ohne der Federungszylinder verändert und damit eine
hydraulischer Wankstabilisierung. Die Standardaus- Wanksteifigkeit sowie eine geänderte vertikale Fe-
führung einer Vorderachsfederung bei Traktoren dersteifigkeit aufgeprägt. Durch diese Kennlinien-
umfasst meist zwei Hydraulikzylinder; deren jewei- umschaltung werden die querdynamischen Fah-
lige Kolben- und Ringräume sind parallel verschaltet, reigenschaften ohne Fahrereingriff verändert, um
so dass beim Pendeln der Vorderachse Ölvolumen insbesondere bei höheren Fahrgeschwindigkeiten
entsprechend frei verschoben werden kann, ohne die Fahrzeugführung zu erleichtern [4].
dass die Achsbewegung behindert wird. Für eine Neben der Kennlinienumschaltung zur Vari-
Ausführung mit hydraulischer Wankstabilisierung ation der Wankabstützung bietet die Manipula-
lassen sich verschiedene Schaltungen, wie zum Bei- tion der Lenkübersetzung eine weitere technische
spiel eine Kreuzverschaltung oder eine Entkopplung Möglichkeit zur Unterstützung des Fahrers bei
der Kolben- und Ringräume, umsetzen und die zu- der Fahrzeugführung: In Traktoren bzw. landwirt-
sätzliche Ölvolumenverdrängung in der hydropneu- schaftlichen Nutzfahrzeugen sowie Baumaschinen
matischen Federung und Dämpfung nutzen [3]. werden vornehmlich sogenannte Fremdkraft- bzw.
Zur Verbesserung der Fahrdynamik beim Stra- Hilfskraftlenkanlagen ohne mechanische Lenkge-
ßentransport wurde von der Firma Fendt mit der stänge verwendet. Durch diese aufgelöste Bauart, in
1032 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 54.3  a Parallelschaltung eines elektrohydraulischen Proportionalventils zu der Lenkeinheit b Abhängigkeit der Lenk­
7 übersetzung von der Fahrgeschwindigkeit beim Vario-Active [7]

der die mechanischen Übertragungselemente durch Durch eine parallele Anordnung der mechani-
8 hydraulische oder elektrische Komponenten ersetzt schen und der elektrischen Volumenstromdosierung
werden, ergeben sich zusätzliche Optionen für ei- lassen sich grundsätzliche variable Lenkübersetzun-
9 nen Reglungseingriff und damit für eine Assistenz gen realisieren: In der Praxis werden Systeme wie
in der Fahrzeugführung [5, 6]. beispielweise die Fendt VarioActive-Lenkung ange-
10 Neben der hydraulischen Energieversorgung boten. . Abbildung 54.3b zeigt, wie in Abhängigkeit
und dem Lenkzylinder ist die hydrostatische Len- von der Fahrgeschwindigkeit eine vorher durch den
keinheit – die in der Regel aus einem proporti- Fahrer aktivierte Halbierung der Lenkbewegung bzw.
11 onalen, mechanischen Drehschieberventil und eine Verdoppelung der Lenkübersetzung ermöglicht
einer Dosiermaschine besteht – das wesentliche wird. Dies ermöglicht insbesondere bei Rangier- und
12 Element zur Umsetzung der Lenkradbewegung in Umschlagsarbeiten eine Entlastung des Fahrers [7].
eine Radbewegung. In der Standardauslegung wird Eine konsequente Weiterentwicklung der elek-
bei Traktoren eine Lenkübersetzung von ungefähr trohydraulischen Parallelsysteme zur Volumen-
13 14 : 1, entsprechend vier bis fünf Lenkumdrehungen stromdosierung stellt die Einführung eines Steer-
für das Lenken von Lenkanschlag zu Lenkanschlag, by-Wire-Systems mit vollständiger Integration von
54 gewählt. Hierbei kann der maximale Lenkwinkel elektrischen Übertragungselementen in eine Fremd-
am Rad in Abhängigkeit der Ausstattung, Berei- kraftlenkanlage dar. Mit dem Ziel, den Lenkaufwand
15 fung und Anwendung variieren. Die durch den und die Fahrzeugführung zu verbessern und damit
Volumenstrom bestimmte Lenkübersetzung bietet eine Ermüdung des Fahrers zu verringern, führte
eine besonders gute Möglichkeit für eine geregelte John Deere ein vollständiges Steer-by-Wire-Lenksys-
16 Volumenstromverstärkung in Abhängigkeit von tem in einigen Traktorbaureihen ein. Durch dieses
der Lenkradbewegung durch elektrohydraulische unter dem Namen Active Command Steering (ACS)
17 Parallelsysteme. Die unabhängige Volumenstrom- eingeführte Lenksystem wurden folgende Merkmale
verstärkung und damit von der Fahrereingabe
unabhängige Lenkbewegung wird im Abschnitt
--
der Querdynamikassistenz implementiert [8]:
dynamische Lenkwinkelregelung,

--
18 Prozess-Assistenzsysteme (siehe ▶ Abschn. 54.2) variable Lenkübersetzung,
ausführlicher beschrieben. . Abbildung 54.3a zeigt verhindertes Lenkspiel und Lenkungskriechen,
19 die beispielhafte Parallelschaltung eines elektrohy- variabler Lenkaufwand.
draulischen Proportionalventils zu einer Lenkein-
20 heit – auch elektrohydraulische Summierungslen- Bei der dynamischen Lenkwinkelreglung misst ein
kung genannt. Drehratensensor Gierbewegungen des Fahrzeugs.
54.1 • Fahrdynamische Assistenzsysteme
1033 54
.. Abb. 54.4 Typische
Open-Loop-Gierratenant-
wort auf einen Lenkwin-
kelsprung bei 40 km/h [8]

.. Abb. 54.5 Übersicht
über die einzelnen
Steer-by-Wire-Komponen-
ten des ACS-Systems [8]

Das System kann automatisch kleine Lenkanpas- Lenkbereich und bei Transportgeschwindigkeiten
sungen vornehmen und so eine sehr gute Spurhal- etwa fünf Lenkradumdrehungen.
tung bewirken (. Abb. 54.4). Damit wird die Fahr- Durch den Einsatz von Lenkwinkelgebereinhei-
zeugführung zum einen in unwegsamem Gelände ten mit geregelter Dämpfung lassen sich die klas-
verbessert, zum anderen wird bei Transportarbeiten sischen Nachteile einer hydrostatischen Lenkung
ein Übersteuern des Traktors infolge von schnellen wie Lenkspiel und Lenkungskriechen – die sich aus
Lenkbewegungen vermieden. dem Einsatz von klassischen Drehschieberventilen
Ähnlich wie bei den vorher beschriebenen Sys- ergeben – eliminieren und gleichzeitig ein variab-
temen mit kombinierter mechanischer und elek- ler Lenkaufwand realisieren und damit dem Fahrer
trischer Volumenstromregelung ermöglicht der eine der Fahrgeschwindigkeit und Fahrsituation
Einsatz des Steer-by-Wire-Konzepts eine variable angepasste Rückmeldung geben. . Abbildung 54.5
Lenkübersetzung. In dem von John Deere ausge- zeigt eine Übersicht über die einzelnen Komponen-
führten Konzept wurde eine von der Geschwin- ten des Steer-by-Wire-Konzepts.
digkeit abhängige, sich kontinuierlich anpassende Über einen Drehratensensor (1) wird die Gier-
Lenkübersetzung konzipiert. Diese benötigt bei rate des Traktors erfasst und zusammen mit den Si-
niedrigen Fahrgeschwindigkeiten etwa nur drei- gnalen von Lenkwinkelsensoren (2) am rechten und
einhalb Lenkradumdrehungen für den gesamten linken Rad und der Fahrgeschwindigkeit zur Rege-
1034 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

.. Abb. 54.6 Trennung
1 von Fahrzeug-Bus und
Anbaugeräte-Bus durch
die TECU
2
3
4
5
6
7
lung des Lenkeinschlags in Abhängigkeit von der rung der Handgriffe am Vorgewende, die notwendig
vom Fahrer am Lenkradwinkelsensor (4) aufgepräg- sind, um die Traktor-Anbaugerätkombination zu be-
8 ten Lenkbewegung verwendet. Das ACS-System ist dienen. Anbaugerät-interne Automatisierungslösun-
als betriebssicheres System mit zwei parallelen Re- gen werden für eine Reihe an Maschinen angeboten
9 gelkreisen mit jeweils unabhängigen Steuergeräten und bieten spezielle Funktionalitäten für den jewei-
(5) und Hydraulikventilen (6) ausgeführt. Für die ligen Einsatzfall, wie beispielsweise Abladeautoma-
10 Hydraulikversorgung ist neben der Haupthydraulik tikfunktionen bei Silierwagen [10]. Im Folgenden
eine elektrische Zusatzpumpe (7) als Rückfallebene werden verschiedene Prozess-Assistenzsysteme bei
installiert; durch eine Nutzung der Fahrzeugbatterie Traktoren beschrieben.
11 wird eine Rückfallebene für die Lichtmaschine zur
Stromversorgung bereitgestellt [8].
12 54.2.1 Traktor-Anbaugerät-
Systemautomatisierung
54.2 Prozess-Assistenzsysteme
13 Traktoren werden in der Regel in Kombination mit
In der Landtechnik haben sich verschiedene Pro- Anbaugeräten eingesetzt, um die gewünschten Ar-
54 zess-Assistenzsysteme und Automatisierungslö- beitsprozesse durchzuführen: Ein Traktor stellt als
sungen etabliert: Beispielsweise findet man bei universelles Zugfahrzeug aus diesem Zweck diverse
15 selbstfahrenden Arbeitsmaschinen häufig Fahrge- Schnittstellen zur Verfügung, um mit verschiedensten
schwindigkeitsregelsysteme oder auch automatische Anbaugeräten kombiniert werden zu können. Hierzu
Lenksysteme, die nachweislich zur Effizienzsteige- zählen sowohl mechanische Schnittstellen, um das
16 rung der Arbeitsprozesse beitragen [9]. Fahrstrate- Anbaugerät mit dem Traktor zu verbinden; aber auch
gieelemente und Vorgewende-Automatisierungs- Schnittstellen zur Leistungsübertragung – elektrisch,
17 lösungen für Traktoren sind am Markt ebenfalls mechanisch, hydraulisch – werden vorgehalten. Im
etabliert und können daher mittlerweile als Stand Vergleich dazu werden sogenannte selbstfahrende
der Technik angesehen werden. Durch intelligente Arbeitsmaschinen angeboten, die speziell für eine
18 Fahrstrategien wird in Kombination mit Stufenlos- einzige landwirtschaftliche Anwendung entwickelt
getrieben – beispielsweise die Getriebeübersetzung werden, wie beispielsweise selbstfahrende Feldhäcks-
19 – permanent lastabhängig so verstellt, dass der Ver- ler zur Ernte von Mais. Diese Maschinen bieten
brennungsmotor im Punkt der maximalen Leistung durch ihre Spezialisierung auf eine Anwendung ein
20 betrieben wird. Vorgewende-Automatisierungslö- hohes Maß an Automatisierung zur Entlastung des
sungen entlasten den Bediener durch die Reduzie- Bedieners und Steigerung der Prozesseffizienz.
54.2 • Prozess-Assistenzsysteme
1035 54

Die Traktor-Anbaugerät-Systemautomatisie- die Anfrage und übermittelt diese entsprechend auf


rung (oder auch TIM –Tractor Implement Ma- den Fahrzeug-Bus.
nagement) verfolgt das gleiche Ziel, indem Traktor Ein wichtiges Element, das zusätzlich zum
und Gerät gemeinsam als System betrachtet und standardisierten Kommunikationsprotokoll der
optimiert werden. Dazu ist eine Erweiterung der ISO  11783 eingefügt wurde, ist eine Sicherheits-
Infrastruktur des Traktors dahingehend notwen- schicht, die zwei Dinge sicherstellt: Die Sicher-
dig, dass zertifizierten Anbaugeräten der Zugriff heitsschicht regelt Zugriffsrechte, so dass nur
auf Traktorfunktionen – basierend auf einer er- entsprechend durch den Hersteller freigegebenen
weiterten CAN-Schnittstelle nach ISO11783 (ISO- Anbaugeräten sicherer Zugriff auf Traktorfunktio-
BUS) [11] – erlaubt wird. Diese bidirektionale nen erlaubt wird. Des Weiteren regelt die Sicher-
Kommunikation ermöglicht die Entwicklung und heitsschicht, in welchem Umfang Funktionen be-
Implementierung von automatisierten Prozessen, einflusst werden dürfen: So werden beispielsweise
die sowohl Traktor als auch Anbaugerät umfassen. Grenzwerte für maximal zulässige Fahrgeschwin-
Durch diesen ganzheitlichen Ansatz kann die Pro- digkeiten festgelegt, die das Anbaugerät an den
duktivität des Gesamtsystems gesteigert werden, Traktor kommandieren kann.
anstatt – wie in der Vergangenheit üblich – lediglich . Abbildung 54.7 zeigt den initialen Hand­shake
die Einzelkomponente Traktor bzw. Anbaugerät zu zwischen Traktor und Anbaugerät, wenn die Kom-
optimieren. munikation zwischen beiden durch physisches Ste-
cken einer Bus-Steckverbindung hergestellt wird; in
dieser Phase identifiziert sich das Anbaugerät am
54.2.2 Systemarchitektur Traktor und die entsprechende Authentifizierung
findet statt.
Basierend auf dieser erweiterten CAN-Schnittstelle Nach bestandener Authentifizierung kann das
kann das für diese Funktionalität freigegebene An- Anbaugerät zugelassene Funktionsanfragen an den
baugerät auf folgende Funktionen der aktuellen Traktor übermitteln. Diese werden so lange umge-
John Deere-Traktoren der Baureihen 6R/7R/8R setzt, bis der Fahrzeugführer in die Fahrzeugsteue-

-
zugreifen:
Fahrgeschwindigkeitsregelung bis zum aktiven
Stillstand in Kombination mit Stufenlosge-
rung eingreift und eine automatisierte Funktion ma-
nuell beeinflusst; dies kann z. B. durch die manuelle
Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit erfolgen. In

- triebe,
Veränderung der zulässigen Beschleuni-
gungs-/Verzögerungsrate durch Verstellung
der Getriebeübersetzung in Kombination mit
diesem Fall wird die Traktor-Anbaugerät-Automa-
tisierung deaktiviert und das System fällt auf die
manuelle Operationsebene zurück.

- Stufenlosgetriebe,
elektrohydraulische Zusatzsteuergeräte 54.2.3 Traktor-Rundballenpresse-

-- (Durchflussmenge und Öffnungszeiten), Automatisierung


Gangauswahl im Zapfwellengetriebe,
Deaktivierung der Zapfwelle. Als eine der ersten kommerziell verfügbaren Lösun-
gen im Bereich TIM wurde zur Landtechnikmesse
Das Anbaugerät kann dabei nicht in vollem Umfang Agritechnica im Jahr 2009 die automatisierte Kombi-
auf das Fahrzeug-Bussystem zugreifen: . Abbil- nation aus Traktor und Rundballenpresse vorgestellt:
dung 54.6 zeigt die Trennung zwischen dem offenen Mithilfe einer Rundballenpresse (siehe . Abb. 54.8)
Bussystem für das Anbaugerät und dem proprie- verdichtet man Halmgut zum Transport und zur La-
tären Bussystem des Fahrzeugs. Das Steuergerät gerung in Ballen zylindrischer Form. Der Prozess des
„TECU“ ist in dieser Architektur die Schnittstelle Rundballenpressens eignet sich sehr gut zur Auto-
zwischen den beiden Systemen: Das Anbaugerät matisierung, da es sich um ein absetziges Verfahren
kann im Prozess Funktionsanfragen an den Trak- handelt, das sehr viel Interaktion zwischen Mensch
tor über die TECU kommunizieren; diese überprüft (Bediener) und Maschine erfordert [12].
1036 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

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10
.. Abb. 54.7  Initialer Handshake nach Zusammenstecken der Bus-Steckverbindung

11
Durch die Automatisierung kann der Bedie-
12 ner deutlich entlastet werden. Automatisiert wur-
den für diese Kombination die folgenden Schritte
13
-
(. Abb. 54.9):
Abbremsen des Gespanns bis zum Stillstand,
sobald der voreingestellte Ballendurchmesser

-
54 erreicht wird;
Auslösen des Ballen-Bindevorgangs, sobald
15
16
- das Gespann angehalten hat;
Öffnen der Presskammer durch Betätigung
eines hydraulischen Zusatzsteuergerätes am
Traktor, sobald der Bindevorgang abgeschlos-

17
18
.. Abb. 54.8  Traktor mit Rundballenpresse beim Ballenaus-
wurf
- sen ist;
Schließen der Presskammer durch Betätigung
eines hydraulischen Zusatzsteuergerätes am
Traktor, sobald der Ballen ausgeworfen wurde.

Nach Ablauf der automatisierten Sequenz muss der


19 Bediener die Fahrzeugfahrbewegung schließlich per
Bedienelement initiieren, um den nächsten Presszy-
20 klus zu starten.
54.3  •  Automatisierung von Lenkfunktionen
1037 54
.. Abb. 54.9 Zustands-
wechsel beim automati-
sierten Pressen des Ballens

.. Abb. 54.10  Kartoffeldämme und Fahrgassen bei Controlled Traffic Farming

54.3 Automatisierung Grundgedanke dabei ist, dass alle Fahrzeuge und


von Lenkfunktionen Anhänger nur genau auf virtuellen vorgegebenen
Fahrspuren fahren dürfen [13].
Der Anbau von Nahrungs- und Futtermitteln ist Eine Effizienzsteigerung im Produktionsprozess
dadurch geprägt, dass im Feld bestimmte Bear- kann hauptsächlich durch folgende Stellgrößen er-
beitungsmuster eingesetzt werden. Diese werden
typischerweise durch definierte Fahrkonturen und
teilweise auch durch synchronisierte Pflanzmuster --
reicht werden:
hochentwickelte Pflanzenarten/Saatgut,
maximale Nutzung des verfügbaren Wassers
erreicht (. Abb. 54.10). Um die Bodenverdichtung
nur an möglichst wenigen Stellen im Feld zuzulas-
sen, wird die Bearbeitung nach dem Prinzip des
Controlled Traffic Farming vorgenommen. Der
-- und der Nährstoffe,
optimierte Pflanzenpositionierung im Feld,
angepasste Pflanzenernährung und Pflanzen-
schutz,
1038 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

1 -- ausgereifte Transport- und Arbeitslogistik,


Fahrzeugsysteme mit höherer Leistung und
größeren Arbeitsbreiten bei gleichzeitig länge-
müssen erkannt werden. Die besondere Her-
ausforderung hierbei liegt darin, dass die Hin-
dernisse teilweise unter Pflanzenbewuchs ver-
2 ren Einsatzzeiten. borgen sein können.
3. Automatische Werkzeugnachführung
Die letzten vier genannten Parameter definieren Höhenführung und Tiefenführung von Werk-
3 die Notwendigkeit für Automatisierungslösungen zeugen sowie automatische Anpassung von
in der Landwirtschaft. Überladevorrichtungen und Ausbringmengen
4 Der Einsatz von Landmaschinen im Feld ist verbessern die Qualität der Arbeit.
dadurch gekennzeichnet, dass der Fahrer immer 4. Voreingestellte Abfolgen zum Aktivieren und
5 wiederkehrende Aufgaben erledigt: Starke Stauben- Deaktivieren von Werkzeugen
twicklung, unterschiedliche Sonnenstände und im- Bei einem Traktor mit Front- und Heckanbau-
mer größere Arbeitsbreiten (bis zu 60 m) und Fahr- geräten müssen diese beim Erreichen einer
6 zeuglängen erschweren diese Tätigkeiten und führen Schaltgrenze wie z. B. am Vorgewende exakt am
somit zu schnellerer Ermüdung. Diese Rahmenbe- gleichen Punkt ausgeschaltet und dann ausge-
7 dingungen sind prädestiniert für den Einsatz auto- hoben werden.
matisierter Fahrzeugsysteme. Der Zyklus der Arbeits- 5. Automatische Wendemanöver
abläufe sieht für eine Fahrspur folgendermaßen aus: Fahrzeug und Anbaugeräte müssen in kürzester
8 1. Wenden des Fahrzeuggespanns in die ge- Zeit auf möglichst engem Raum meist um 180°
wünschte Arbeitsrichtung; automatisch gewendet werden.
9 2. Aktivieren der Arbeitsfunktionen (dies können
mehrere Funktionen gleichzeitig sein, für Werk- Im Folgenden werden verschiedene Assistenzsys-
10 zeuge im Front-, Mitten- oder Heckanbau); teme vorgestellt, die diese Anforderungen erfüllen:
3. Einstellen der gewünschten Bearbeitungs-/Vor- Bei landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen ist es das
fahrtsgeschwindigkeit; Ziel, die zumeist am Anbaugerät verbauten Werk-
11 4. permanente Anpassung der gewünschten Fahr- zeuge oder Funktionseinheiten positionsgenau ein-
trichtung; zusetzen. Somit ist eine Lenkung des Anbaugerätes
12 5. andauernde Überwachung des Arbeits-/Materi- gefordert, was entweder durch Lenken der Zugma-
alflusses und Vermeiden von Hindernissen; schine oder durch Lenken von Zugmaschine und
6. kontinuierliche Korrektur der Werkzeugeinstel- Anbaugerät erfolgen kann. Zunächst sollen hier
13 lungen; verschiedene Möglichkeiten der Fahrzeuglenkung
7. Einstellen der gewünschten Wendegeschwindig- erläutert werden, gefolgt von aktiven Lenksystemen
54 keit; für Anbaugeräte. Des Weiteren werden dann Auto-
8. Deaktivieren der Arbeitsfunktionen. matisierungslösungen für das Gerätemanagement
15 betrachtet.
Die Schritte 4 bis 6 stellen zeitlich die Hauptaufgabe
während der aktiven Feldbearbeitung dar. In diesen
16 Bereichen wird somit die größte Entlastung für den 54.3.1 Lenkassistenten für
Fahrer erzielt, was sicheres und präzises Arbeiten landwirtschaftliche Fahrzeuge
17 über längere Zeiträume ermöglicht.
Damit ergeben sich folgende Anforderungen an Bei diesen Systemen wird zwischen manuellen
Assistenzsysteme: Lenksystemen und automatischen Lenksystemen
18 1. Automatisches Spurfahren unterschieden: Manuelle Lenksysteme bestehen
Wiederholbares Befahren von Feldspuren und aus einem GNSS (Global Navigation Satellite Sys-
19 -konturen erfordert eine Genauigkeit von ±5 cm. tem)-Empfänger und einer Anzeigeeinheit, die
2. Hinderniserkennung dem Fahrer visuell und/oder akustisch mitteilen,
20 Im Feld vorhandene Hindernisse wie beispiels- in welche Richtung zu lenken ist, um einer vordefi-
weise Bäume, Gräben, Steine, Strommasten nierten Spur zu folgen. Automatische Lenksysteme
54.3  •  Automatisierung von Lenkfunktionen
1039 54

.. Abb. 54.11  Komponenten des integrierten automatischen Lenksystems John Deere AutoTracTM

hingegen übernehmen aktiv das Lenken für den den äußeren Regelkreis und die Benutzerschnitt-
Fahrer. Dieser definiert in diesem Fall eine Spur am stelle.
Bedienelement des Fahrzeugs und aktiviert danach Neben den integrierten Lenksystemen gibt es
die automatische Lenkung. Die dafür notwendigen noch universell nachrüstbare Lenksysteme, bei
integrierten Komponenten sind in . Abb. 54.11 denen ein Elektromotor kraft- oder reibschlüssig
aufgezeigt. Dabei bestimmt der Radlenkwinkelsen- an die Lenksäule oder das Lenkrad verbaut wird.
sor die jeweilige Position der gelenkten Räder. Der In diesem Fall gibt es keine direkte Interaktion mit
GNSS-Receiver ermittelt die Position des Fahrzeugs der Lenkhydraulik. Beispiele dafür sind John Deere
im Weltkoordinatensystem, die Fahrgeschwindig- AutoTrac Universal oder Trimble EZ-Steer [14].
keit, die Richtung sowie mit der integrierten IMU Automatische Lenksysteme erlauben dem Be-
(Inertial Measurement Unit) noch die Längs-, Quer-
neigung und den Gierwinkel des Fahrzeugs. Um
-
nutzer, folgende Konturen zu fahren:
parallele Geraden, definiert durch zwei Punkte
die gewünschte, jederzeit wiederholbare Genauig-
keit von ±5 cm oder besser zu erreichen, werden in
der Landwirtschaft i. d. R. RTK- (Real Time Kine- - oder einem Punkt und der Himmelsrichtung;
parallele Kurven, definiert durch einmaliges
manuelles Abfahren und Speichern der Positi-
matic) GNSS-Systeme eingesetzt. Hierbei werden
die Korrektursignale entweder per Funk oder per
- onen;
Kreisbahnen, definiert durch Mittelpunkt und
Telefonmodem übertragen. Der Lenksystemcon-
troller enthält den inneren Regelkreis, der direkt
auf das Lenkventil zugreifen und die Räder in die
gewünschte Position bringen kann (. Abb. 54.13).
- Radius oder mehrere Punkte auf dem Kreis;
Vorgegebene Muster, definiert durch Spurpla-
nungssoftware oder Aufzeichnung.

Weiterhin überwacht dieses Steuergerät den Lenk- Sobald das Lenksystem aktiviert wird, versucht
winkelgeber, so dass jeglicher manueller Eingriff in der Regler, das Fahrzeug möglichst schnell auf die
das System den automatischen Lenkmodus beendet. gewünschte Spur zu bringen – dazu wird kontinu-
Die Anzeigeeinheit enthält die Spurdefinitionen, ierlich der seitliche Versatz zur Sollspur sowie die
1040 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

1
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6
.. Abb. 54.12  Regelkreis eines automatischen Lenksystems
7
Lösung dar, wenn die Werkzeuge starr mit dem Fahr-
zeug verbaut sind und das Fahrzeug ohne Spurfehl-
8 winkel seiner Sollspur folgt. Diese starre Verbindung
zwischen Fahrzeug und Werkzeug ist derzeit bei gro-
9 ßen Gespannen nicht möglich. Bei gezogenen Anbau-
geräten befindet sich mindestens ein Gelenk zwischen
10 Zugmaschine und Anhängegerät: Somit werden wei-
tere Lenkkonzepte notwendig, um die Werkzeuge mit
der gewünschten Orientierung an die gewünschte
11 Arbeitsposition zu bringen. Nachfolgend werden die
beiden grundsätzlichen Möglichkeiten beschrieben.
12
54.3.2.1 Passive Anbaugerätelenkung
Bei der passiven Anbaugerätelenkung wird die
13 Solltrajektorie des Traktors so weit verändert, dass
.. Abb. 54.13  Traktor am Seitenhang mit passiver Anbauge-
rätelenkung John Deere iGuideTM ein gezogenes Anbaugerät immer auf der Sollspur
54 bleibt: Dies bedeutet in Kurven und an Seiten-
Richtungsabweichung berechnet. Diese beiden hängen, dass der Traktor deutlich von der Spur
15 Werte werden einer Regelstrecke mit PI-Reglercha- des Anbaugerätes abweichen muss [15]. Diese Art
rakteristik zugeführt; die Regelstrecke dafür ist in der Regelung kann im Open-loop-Verfahren an-
. Abb. 54.12 dargestellt. Die Berechnung des kine- gewandt werden, wobei die Position des Anbau-
16 matischen Fahrzeugmodells kann basierend auf ei- gerätes rein aus den verfügbaren Geometriedaten
nem Einspurmodell für Zugfahrzeug und Anhänger errechnet wird. Beim Closed-loop-Verfahren wird
17 erfolgen (. Abb. 54.13). ein GNSS-Receiver dem Anbaugerät hinzugefügt,
womit es möglich ist, die tatsächliche Position des
Anbaugerätes zu erfassen und die Regelung darauf-
18 54.3.2 Lenkassistenten hin anzupassen (. Abb. 54.13). In dieser Abbildung
für Anbaugeräte beschreiben die weißen Linien die Solltrajektorie
19 des Anbaugerätes und die gelbe Linie die Trajekto-
Da wie eingangs erwähnt die exakte Positionierung rie, die der Traktor fahren muss, um das Anbaugerät
20 der Werkzeuge im Vordergrund steht, stellt die Len- auf die gewünschte Spur zu bringen. Daraus wird
kung des Fahrzeugs nur dann eine zufriedenstellende auch ersichtlich, dass ein Lenkmanöver des Traktors
54.3  •  Automatisierung von Lenkfunktionen
1041 54

erst mit starker Verzögerung eine Spuränderung des


Anbaugerätes bewirkt.
Die eingeschränkte Genauigkeit der passiven
Anbaugerätelenkung sowie die Notwendigkeit des
Verlassens der Fahrspur seitens der Zugmaschine
erlauben dieses Verfahren nur für flächige Bearbei-
tungsverfahren. Kommen Beete, Reihen oder Cont-
rolled Traffic zum Einsatz müssen alle Achsen zwin-
gend auf derselben Trajektorie bleiben. Weiterhin
zeigt . Abb. 54.13 deutlich, dass die Orientierung
der Werkzeuge bei Hanglagen nicht optimal der
Arbeitsrichtung entspricht.

54.3.2.2 Aktive Gerätelenkung


Besonders bei hochwertigen Erntegütern und
Beetkulturen ist es wichtig, dass Beschädigungen
der Frucht und der Bewässerungssysteme durch
die Traktorräder ausgeschlossen werden: Dafür ist
absolute Wiederholbarkeit von Traktor- und Gerä-
tespur gefordert, die durch aktive Gerätelenkung
ermöglicht wird. In diesem Fall verfügen Traktor
und Anbaugerät über einen GNSS-Empfänger und
beide Einheiten sind lenkbar; die Kommunikation
zwischen Traktor und Anbaugerät erfolgt über CAN
gemäß ISO11783 [11]. Sollen nicht nur die Spur,
sondern auch die Orientierung der Werkzeuge am
Anbaugerät beeinflusst werden, so sind mehrfache
Lenksysteme für das Anbaugerät notwendig. Wer-
ner et al. [16] beschreiben eine Kombination von
gelenkten Rädern und einer gelenkten Zugdeichsel. .. Abb. 54.14  Einspurmodell eines Traktors und lenkbares
Das Einspurmodell in . Abb. 54.14 verdeutlicht, wie Anbaugerät mit erdbezogenen (exe, eye, eze), traktorbezogenen
(ext, eyt, ezt), anbaugerätbezogenen (exr1, eyr1, ezr1), zugdeichsel-
das Regelsystem durch die Kombination von zwei
bezogenen (exr1d, eyr1d, ezr1d) Koordinatensystemen, Traktor-
Freiheitsgraden die Werkzeuge in ihrer seitlichen lenkwinkel ɗtf, Lenkwinkel des Anbaugerätes ɗr1r, Lenkwinkel
Position und in ihrem Winkel steuern kann. der Zugdeichsel ɗr1d, Anhängewinkel ɗthr, Steuerkurswinkel
Die Herausforderungen bei der Abstimmung von des Traktors Ѱt, Steuerkurswinkel des Anbaugerätes Ѱr1, Ori-
Anbaugeräten bestehen darin, dass beispielsweise entierung der angestrebten Fahrspur Ѱd, seitlicher Spurfehler
des Traktors et1, tangentialer Spurfehlwinkel des Traktors eth,
Feldspritzen, Sämaschinen und gezogene Kartoffelro-
seitlicher Spurfehler des Anbaugerätes er1l, tangentialer Spur-
der ihr Gewicht während der Arbeit stark verändern: fehlwinkel des Anbaugerätes er1h sowie allen notwendigen
In diesem Fall ist eine gefüllte Maschine oft mehr als geometrischen Abmessungen [16]
doppelt so schwer wie eine leere. Da meist hydrauli-
sche Lenkungen in Anbaugeräten verwendet werden,
hängt die Reaktionsfähigkeit des gesamten Systems 54.3.3 Automatische Wendemanöver
von Leitungslängen, Öldruck und Temperatur ab. All und Werkzeuganpassung
diese Einflussfaktoren machen ein kontinuierliches
Anpassen der Feinabstimmung notwendig. Nachdem in den letzten Kapiteln die Lösungen be-
Auf dem Markt sind heute beispielsweise aktive schrieben wurden, die Fahrzeuge und Anbaugeräte
Anbaugerätelenksysteme wie John Deere iSteerTM präzise auf vorgegebenen Bahnen lenken können,
und Trimble True Tracker [17] verfügbar. ist der nächste logische Schritt für eine Automati-
1042 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

1
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.. Abb. 54.15  Automatisches Vorgewendemanagement John Deere iTec ProTM

8 sierung der Feldbearbeitungsprozesse die Einbezie- Feld ohne weitere manuelle Eingriffe des Fahrers
hung von Wendemanövern und die automatische abgearbeitet werden.
9 Anpassung von Werkzeugpositionen. Die Funkti- Dieses System stellt den ersten Schritt in Rich-
onen, wie in . Abb. 54.15 verdeutlicht, sind heute tung hochautomatisierter Fahrzeugflotten bezie-
10 im Vorgewendemanagement John Deere iTec ProTM hungsweise autonomer Fahrzeuge dar.
verfügbar.
Zunächst ist von einem Feld die Grenzlinie
11 notwendig; diese kann durch Umfahren erzeugt 54.4 Kollaborierende Fahrzeuge
oder vom Katasteramt bezogen werden. Basierend
12 auf dieser Information wird das sogenannte Vorge- Auf großen landwirtschaftlichen Betrieben ist es
wende definiert; das ist der Bereich, in dem Fahr- heute üblich, dass mehrere Fahrzeuge die gleiche
zeug und Anbaugerät wenden können. Die Festle- Arbeit verrichten, um die Flächenleistung je Stunde
13 gung dieser feldinternen Grenze erfolgt als Parallele zu steigern. Das Karlsruher Institut für Technolo-
zur Feldgrenze, indem ein Vielfaches der Arbeits- gie entwickelte in einem Forschungsprojekt mit
54 breite des Anbaugerätes verwendet wird. Im nächs- AGCO Fendt eine „elektronische Deichsel“ für
ten Schritt werden die an der Vorgewendegrenze landwirtschaftliche Arbeitsmaschinen [18]; dazu
15 durchzuführenden Funktionen und deren Timing werden gleichartige Fahrzeuge mit gleichartigen
festgelegt: Für eine Sämaschine sind dies beispiels- Anbaugeräten verwendet. Diese Konstellation er-
weise das Absenken der Sämaschine, das Aktivieren laubt es, dass ein Fahrer mehrere Fahrzeuge führt.
16 der Zapfwelle und das Einschalten der Saatgutzu- Ein unbemanntes elektronisch geführtes Fahrzeug
fuhr. Dabei ist zu beachten, dass der Ablagepunkt wird an ein bemanntes Fahrzeug angekoppelt. Das
17 des Saatgutes die ausschlaggebende Position ist. führende Fahrzeug überträgt seine Position bzw.
Sollte bei diesem Arbeitsschritt noch ein Frontar- Wegstrecke an folgende Fahrzeuge, die nun basie-
beitsgerät vor dem Traktor montiert sein, ist dieses rend auf der Arbeitsbreite ihrer Anbaugeräte den
18 entsprechend früher abzusenken. Beim Erreichen Versatz berechnen. Zusätzliche Informationen wie
der nächsten Vorgewendegrenze werden nun die Motorauslastung und potenzielle Stellgrößen des
19 Werkzeuge – in umgekehrter Reihenfolge – wieder Prozesses werden dazu verwendet, das folgende
deaktiviert. Anschließend erfolgt das vordefinierte Fahrzeug dynamisch zu navigieren. Diese Lösung
20 Wendemanöver. Sobald diese Einstellungen für das wurde 2011 von AGCO Fendt als GuideConnect
Feld einmal festgelegt wurden, kann das gesamte System vorgestellt (. Abb. 54.16) [13]. Der Fahrer
54.5  •  Ausblick auf vollautomatisierte Fahrzeuge in der Landwirtschaft
1043 54
.. Abb. 54.16 Fendt
GuideConnect [1]

des Führungsfahrzeuges übernimmt bei diesem


System die Verantwortung für beide Fahrzeuge, die
über eine verschlüsselte Funkverbindung miteinan-
der kommunizieren. Bei Störungen oder Verlust der
Kommunikation wird beim Folgefahrzeug der Not-
stopp aktiviert – das Fahrzeug wird zum Stillstand
gebracht und der Motor abgeschaltet.
Kombinierte Arbeitsmaschinen mit Anbauge-
räten – sowie autonome Fahrzeuge – müssen im
Betrieb hohe Sicherheitsstandards einhalten. Je
mehr Eigenständigkeit diese Systeme bekommen
sollen, desto wichtiger ist es, dass eine komplette
Umfeldüberwachung möglich ist. Vor allem beim .. Abb. 54.17  John Deere-Konzept für Umfeldsensorik einer
Starten und Anfahren eines unbemannten Fahr- unbemannten Arbeitsmaschine mit Anbaugerät
zeugs ist es unerlässlich, dass das Umfeld frei von
Hindernissen und Personen ist. . Abbildung 54.17 Einsatz kommen, die aus Long-range-, Mid-range-
zeigt mögliche Sensorsichtbereiche, die zum einen und Short-range-Sensorik bestehen.
den Bereich um das Zugfahrzeug und zum ande-
ren auch den Bereich zwischen Zugfahrzeug und
Anbaugerät überwachen. Dabei stellen der blaue 54.5 Ausblick auf vollautomatisierte
und der violette Bereich die Abdeckung durch Fahrzeuge in der
LIDAR-Sensoren dar, die gelben und grünen Be- Landwirtschaft
reiche werden durch Mono- bzw. Stereokameras
abgedeckt. Die verschiedenen Sensorsysteme wie Ein Forschungstrend in der Landtechnik sind An-
Radar, LIDAR und Stereokamera sind in ▶ Kap. 17, sätze für autonome bzw. vollautomatisierte Fahr-
18 und 22 beschrieben. zeuge. Verschiedene Hersteller zeigen Konzepte
Bei sehr breiten Anbaugeräten – teilweise bis bzw. bieten erste Lösungen an. In Florida arbeiten
zu 60 m – liegt die Herausforderung in der siche- seit mehreren Jahren autonome John Deere-Trak-
ren Erkennung der Eckpunkte des Anbaugerätes; toren in einer eingezäunten Obstplantage, wie von
in . Abb. 54.17 werden diese durch violette Punkte Moorehead et al. [18] beschrieben. Diese Fahrzeuge
dargestellt. Über kurz oder lang werden hier ähnli- werden zum Mähen und zum Pflanzenschutz ein-
che Lösungen wie bei der Automobilindustrie zum gesetzt (. Abb. 54.18): In diesem Fall werden La-
1044 Kapitel 54 • Fahrerassistenzsysteme bei Traktoren

.. Abb. 54.18 Autono-
1 mous Orchard Tractor [18]

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9 serscanner und Kameras eingesetzt, um die Umfel- automatisierter bzw. autonomer Fahrzeuge geht.
derkennung des Fahrzeugs zu gewährleisten. Die Die Weiterentwicklung der in diesem Kapitel be-
10 Überwachung der Fahrzeuge erfolgt von einem schriebenen Fahrerassistenzsysteme ist als wichti-
zentralen Leitstand aus und der Betriebsleiter ist in ger Meilenstein auf diesem Weg anzusehen. In den
der Lage, über Kameras das Umfeld der Fahrzeuge nächsten fünf Jahren werden vollautomatisierte
11 einzusehen. Systeme zunächst in abgegrenzten Bereichen zu
Eine weitere Lösung in diesem Bereich wird finden sein, bevor diese flächendeckend eingesetzt
12 von der Firma Kinze angeboten (. Abb. 54.19): In werden können. Eine der größten Herausforde-
diesem Fall wird ein Traktor mit entsprechender rungen bei Landmaschinen ist darin zu sehen,
Sensorik nachgerüstet, um autonom einen Überla- dass nicht nur der Betriebszustand der Fahrzeuge,
13 dewagen für Getreide zwischen dem Mähdrescher sondern auch die Prozessgüte – wie beispielsweise
im Feld und einem Lastkraftwagen am Feldrand fehlerfreie Ausbringmenge, fehlerfreie Zufuhr von
54 zu bewegen. Auch in diesem System wird ein La- Erntegut, Befüllen und Entleeren – gewährleistet
serscanner eingesetzt [19]. sein muss.
15 Die Entwicklungen in diesem Bereich werden
durch verschiedene Standards unterstützt: ISO/
CD 18497 beschreibt die Sicherheitsanforderun- Literatur
16 gen, welche an hochautomatisierte Fahrzeuge ge-
stellt werden [20]. Dieser Standard beinhaltet un- Verwendete Literatur
17 ter anderem Vorgaben für Systemkomponenten,
1 Moitzi, G.: Vermeidung von Bodenverdichtung beim Ein-
Kommunikationsprotokolle, Perception-Systeme satz von schweren Landmaschinen; Ländlicher Raum. On-
einschließlich deren Tests und die Betriebsprozedu-
18 ren. Je nach Land müssen die Fahrzeuge schließlich
line‐Fachzeitung des Bundesministeriums für Land‐ und
Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. http://
auch noch von Berufsgenossenschaften und tech- www.bmlfuw.gv.at/land/laendl_entwicklung/Online-Fach-
19 nischen Überwachungsorganisationen freigegeben
2
zeitschrift-Laendlicher-Raum (2007). Wien
Braess, H.-H., Seifert, U.: Handbuch Kraftfahrzeugtechnik.
werden. Vieweg, Braunschweig, Wiesbaden (2000)
20 Zusammenfassend kann festgehalten werden, 3 Bauer, W.: Hydropneumatische Federungssysteme. Sprin-
dass die Landtechnik schrittweise in Richtung ger, Berlin (2008)
Literatur
1045 54
.. Abb. 54.19 Kinze
Autonomer Überladewa-
gen [19]

4 AGCO Fendt (Oktober 2007). Pressemitteilungen: Die er- 15 Bowman, K.: Economic and environmental analysis of con-
folgreichen Vario‐Baureihen. Verfügbar unter: http://www. verting to controlled traffic farming 7th Australian Control-
fendt.at/pressebereich_pressemitteilungen_1033.asp, Ab- led Traffic Conference, Canberra, ACT., S. 61–68 (2009)
gerufen am 24.04.2014 16 Werner, R., Kormann, G., Mueller, S.: Dynamic modeling and
5 Dudzinski, P.: Lenksysteme für Nutzfahrzeuge. Springer, path tracking control for a farm tractor towing an imple-
Berlin (2005) ment with steerable wheels and steerable drawbar 2nd
6 Hesse, H.: Elektronisch‐hydraulische Systeme. expert‐Ver- Commercial Vehicle Technology Symposium, Kaiserslau-
lag, Renningen (2008) tern., S. 241–250 (2012)
7 Wiedermann, A.: Auslegung von Lenksystemen in moder- 17 Trimble Navigation Limited: Datasheet True Tracker Sys-
nen Traktoren. In: Tagung Landtechnik 2012, VDI‐Max‐ tem (2012). 22. August. http://trl.trimble.com/docushare/
Eyth‐Gesellschaft VDI‐Berichte, Bd. 2173, VDI Verlag, Düs- dsweb/Get/Document-343005/022503-282A_TrueTra-
seldorf (2012) cker_FS_0707_lr.pdf, Zugegriffen: 09.03.2014
8 Schick, T., Kearney, J.: „Steer‐by‐Wire“ for Large Row Crop 18 Moorehead, S., Stephens, S., Kise, M., Reid, J.: Autonomous
Tractors. In: Tagung Landtechnik 2010, VDI‐Max‐Eyth‐Ge- Tractors for Citrus Grove Operations 2nd International
sellschaft VDI‐Berichte, Bd. 2111, VDI Verlag, Düsseldorf Conference on Machine Control and Guidance, Bonn, Ger-
(2010) many., S. 309–313 (2010)
9 Balke, S.: Kostensenkung durch Automatisierungssysteme 19 McMahon, K.: Kinze's autonomous tractor system tested
im Mähdrusch, Diplomarbeit FH Weihenstephan, 2006 in field by farmers (2012). 12.11.. http://farmindustrynews.
10 Anonymous: Produktinformation Pöttinger Ladewagen com/precision-guidance/kinze-s-autonomous-tractor-sys-
Jumbo/Torro, Grieskirchen, Österreich, 2008 tem-tested-field-farmers, Zugegriffen: 12.03.2014
11 ISO (International Organization for Standardization). ISO 20 ISO (International Organization for Standardization). CD
11783: Tractors and machinery for agriculture and fore- ISO 18497: Agricultural machinery and tractors – Safety of
stry – Serial control and communications data network. Highly Automated Machines. Frankfurt, Germany, 2013
Geneva, Switzerland, 2012
12 Thielicke, R.: Automatisierung und Optimierung traktorge- Weiterführende Literatur
bundener landwirtschaftlicher Arbeiten mit zapfwellenge- 1 Kormann, G., Thacher, R.: Development of a Passive Im-
triebenen Geräten an ausgewählten Beispielen, Disserta- plement Guidance System AgEng 2008 International Con-
tion, Halle/Saale, 2005 ference on Agricultural Engineering, (OP1585), Knossos
13 AGCO Fendt: Pressemitteilungen: Fendt GuideConnect Royal Village, Crete, Greece. (2008)
(2011). http://www.fendt.com/de/pressebereich_presse- 2 Zhang, X., Geimer, M., Noack, P., Ehrl, M.: Elektronische
mitteilungen_7099.asp, Zugegriffen: 09.03.2014 Deichsel für landwirtschaftliche Arbeitsmaschine 68. Inter-
14 Trimble Navigation Limited: Datasheet EZ‐Steer System nationale Tagung Landtechnik, Braunschweig., S. 407–412
(2014). 20. Februar. http://trl.trimble.com/docushare/ds- (2010)
web/Get/Document-468909/, Zugegriffen: 09.03.2014
1047 55

Navigation
und Verkehrstelematik
Thomas Kleine-Besten, Ulrich Kersken, Werner Pöchmüller,
Heiner Schepers, Torsten Mlasko, Ralph Behrens, Andreas Engelsberg

55.1 Historie – 1048
55.2 Navigation im Fahrzeug  –  1049
55.3 Offboard-Navigation – 1061
55.4 Hybrid-Navigation – 1061
55.5 Assistenzfunktionen – 1063
55.6 Elektronischer Horizont – 1065
55.7 Verkehrstelematik – 1066
55.8 Smartphone-Anbindung im Automobil  –  1073
55.9 Aspekte des Mobilfunks für Navigation
und Telematik – 1075
Literatur – 1079

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_55, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1048 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

55.1 Historie tägliche Informationen zur Verkehrslage. Mit der


1 Einführung des Autofahrer-Rundfunk-Informati-
Die Entwicklung von modernen Radionavigations- onssystems (ARI) am 01.06.1974 für die Abgabe von
2 und Telematikgeräten beginnt mit der Einführung Verkehrsnachrichten im Rundfunk wurde eine erste
von Radiogeräten in das Kfz zu Beginn der 30er Stufe für die Automatisierung im Verkehrsnach-
Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese ersten Radiogeräte richtenwesen geschaffen. Für Verkehrsnachrichten
3 für das Kfz basierten auf der Röhrentechnologie und wurden mit diesem System Bereichskennungen
nahmen ein Volumen von mehr als 10 Litern ein. innerhalb der alten Länder der Bundesrepublik
4 Erst die Erfindung der Halbleitertechnologie und festgelegt: Diese Bereichskennungen werden über
die damit verbundene Miniaturisierung der Bauteile Hinweisschilder an den Autobahnen angezeigt und
5 ermöglichte eine kompakte Bauform dieser Radi- können über einen Bedienschalter am entsprechend
onavigations- und Telematikgeräte und damit den ausgestatteten Radiogerät ausgewählt werden; Ver-
massenhaften Einsatz im Kfz (siehe ▶ Abschn. 55.9.2 kehrsnachrichten werden nun halbstündlich aus-
6 „Aufbau des Navigationssystems“). gestrahlt und für dringende Nachrichten kann das
Navigations- und Telematiktechnologien für laufende Programm unterbrochen werden (z. B.
7 den Einsatz im Kfz wurden durch die zunehmende Warnmeldung vor Falschfahrern). Die Weiterent-
Motorisierung seit den 60er Jahren vorangetrie- wicklung dieser Technik zur Handhabung einer
ben. Die Zahl der Kraftfahrzeuge in den alten Län- großen Anzahl und von langen Verkehrsmeldun-
8 dern der Bundesrepublik hatte sich 1976 – seit den gen führte zum Telematikdienst RDS-TMC (siehe
50er Jahren – mehr als verzehnfacht und war auf ▶ Abschn. 55.7 „Verkehrstelematik“).
9 21,3 Mio. angestiegen. Die jährliche Fahrleistung Die ersten Ideen zur elektronischen Zielfüh-
betrug 1974 ca. 270  Mrd. km. Der Güterverkehr rung (Electronic-Route-Guidance-Systems) von
10 hatte sich zunehmend von der Schiene auf die Kraftfahrzeugen wurden 1968 in den USA von G.
Straße verlagert, so dass 1975 43 % der Transport- Salas veröffentlicht [1]. 1969 wurde diese Idee von
leistung vom Güterstraßenverkehr erbracht wurde. Dr. W. Kumm am Institut für Nachrichtengeräte
11 Damit wurden Staus, insbesondere auf Autobah- und Datenverarbeitung der TH Aachen aufgegrif-
nen, zum Problem. Selbst der weitere Ausbau des fen, als Übertragungsweg von Zielführungsdaten
12 Straßennetzes konnte nicht mehr mit dem Anstieg wurde eine induktive Übertragungsstrecke vorge-
der Nachfrage nach Verkehrsraum Schritt halten. schlagen. Zum Datenaustausch sollten die bereits
Weiterhin entwickelte sich, mit beeinflusst durch die zur Verkehrsdatenerfassung üblichen Induktions-
13 erste Energiekrise, ein zunehmendes Bewusstsein schleifen verwandt und die Funktion Datenerfas-
für die Auswirkungen des Rohstoff- und Energie- sung und Zielführung in einem System zusammen-
14 verbrauchs auf die Umwelt. Im Zusammenhang mit gefasst werden. Damit war die Grundidee für das
dem zunehmenden Straßenverkehr stieg die Anzahl Autofahrer-Leit- und Informationssystem (ALI)
55 der Verkehrsunfälle und damit die Zahl der Verletz- geboren.
ten und Toten signifikant an. ALI stellt ein individuelles, infrastrukturge-
Im Rahmen von Forschungsprojekten entstan- stütztes Zielführungssystem für Autofahrer auf
16 den an Autobahnen die ersten Verkehrsbeeinflus- Bundesautobahnen und Fernstraßen dar: Es dient
sungsanlagen (Warnanlage Aichelberg, Linienbe- sowohl zur Erfassung von Verkehrsdaten als auch
17 einflussungsanlage A3 im Bereich BAB Dreiecke zur Übermittlung von individuellen Fahrempfeh-
Dernbach – Heumar, Alternativroutensteuerung lungen. Bei gestörtem Verkehr führt es über eine
Rhein/Main) zur Erfassung von Verkehrsdaten weniger belastete Route zum Ziel und bewirkt
18 und zur Beeinflussung der Verkehrsströme über dadurch die Senkung der Kfz-Betriebskosten, die
Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverbote Verminderung der Fahrzeitkosten und die Reduzie-
19 und Ausweisung von Alternativrouten. Erste Ver- rung der Unfallgefahr. Ein ALI-Feldversuch wurde
kehrsmeldungen im Radio wurden seit den frühen 1980/1981 im östlichen Ruhrgebiet durchgeführt.
20 60er Jahren gesendet: Zunächst waren dies wö- Eine Kosten-Nutzen-Analyse kam gesamtwirt-
chentliche Berichte und Vorhersagen, später dann schaftlich zu einem ungünstigen Ergebnis: Für die
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1049 55
.. Abb. 55.1 Umgebung
der Navigation

öffentliche Hand musste mit jährlichen Investiti- Hinweise gegeben, mit denen er das Fahrzeug zum
onen von 8,3 Mio. DM gerechnet werden. In der Ziel führen kann (s. . Abb. 55.1).
Folge wurde mit dem Projekt EVA (Elektronischer Die Prozessorbaugruppe der Navigation be-
Verkehrslotse für Autofahrer) eine Idee aus dem steht aus dem Hauptprozessor und angebundenen
Jahr 1978 weiterverfolgt, das als fahrzeugautono- Speichern sowie der Grafik-Hardware. Wesentliche
mes Zielführungssystem eine Verkehrsnavigation Funktionalität der Navigation wird durch Software-
ermöglichte. Wesentliche Elemente waren dabei module realisiert, die auf der Prozessorbaugruppe
fahrzeugseitig installiert und resultierten somit in ablaufen (siehe . Abb. 55.2). Der Fahrer wird über
einem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis, das eine Sprachausgabe über den zu wählenden Weg
1983 in einem Feldversuch nachgewiesen wurde. informiert und erhält über Anzeigeinstrumente
Die Weiterentwicklung dieses Systems führte 1989 im Navigationsgerät (Kartendarstellung und/oder
zum ersten europäischen Seriennavigationsgerät im Symboldarstellung) oder im Kombiinstrument
Kraftfahrzeug. (meist Symboldarstellungen) optische Zusatzhin-
weise.
Auf der Prozessorbaugruppe befinden sich fol-

-
55.2 Navigation im Fahrzeug gende Software-Module:
Ortung zur Ortsbestimmung mit den aus der
Die Hauptaufgabe eines Navigationssystems besteht
darin, den Nutzer zu einem geographischen Ziel zu
- Sensorik zur Verfügung stehenden Daten,
Zieleingabe zur Beschreibung des Ziels durch
führen. Als Eingangsgrößen stehen hierfür die Sen-
sorik zur Positionsbestimmung und digitalisierte
Straßendaten auf Datenträgern zur Verfügung; die - den Nutzer,
Routenberechnung zur Bestimmung des We-
ges vom aktuellen Standort zum eingegebenen
Straßendaten stellen eine digitale Abbildung des real
vorhandenen Straßennetzwerkes dar. Aus diesen
Eingangsdaten werden nach entsprechenden Nut-
zer-Eingaben dem Fahrer optische und akustische
- Ziel (Route),
Zielführung zur Führung des Fahrers entlang
der Route durch optische und akustische Hin-
weise,
1050 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

.. Abb. 55.2 Soft-
1 ware-Module der Navi-
gation

2
3
4
5
6
7
8
- Kartendarstellung zur Anzeige der geogra-
phischen Karte mit aktuellem Ort, Route und
b) der relativen Position des Fahrzeugs bezogen
auf das Straßennetz, repräsentiert durch die di-
9
10 - Zusatzinformationen,
Dynamisierung zur Einbeziehung und Be-
rücksichtigung von Umweltereignissen (zum
Beispiel Nebel, Eisglätte) und Verkehrsinfor-
gitale Karte (Position nach sogenanntem „Map-
Matching“).

Die weitaus meisten Funktionen nutzen derzeit die


mationen (zum Beispiel Stau, Straßensper- Position bezogen auf das Straßennetz. Die Anforde-

-
11 rung) in der aktuellen Route, rungen an die Ortung sind dabei vielfältig: Durch
Korridor zur Voreinlagerung von Daten aus neue Funktionen – insbesondere die Nutzung der
12 dem Navigationsdatenträger in den Hauptspei- Navigation für Fahrerassistenzfunktionen – steigen
cher der Prozessorbaugruppe. Der Korridor die Anforderungen (Ortungsgenauigkeit, Integri-
wird insbesondere bei CD/DVD-basierten Na- tätsangaben, Fehlerschätzungen, Fahrbahnerken-
13 vigationssystemen genutzt, um ein Navigieren nung, Ermittlung der Position innerhalb der Fahr-
ohne eingelegten Datenträger zu ermöglichen bahn).
14 und somit das Laufwerk zur gleichzeitigen Für die Navigation, die den Fahrer zu einem
Wiedergabe von Audio-CD zur Verfügung zu gewählten Ziel führen soll, ergeben sich folgende
55 haben. querschnittliche Anforderungen:
Die von der Ortung ermittelte absolute Position
muss einer Position in der Karte zugeordnet werden;
16 55.2.1 Ortung dabei entscheidet die Ortung, ob sich das Fahrzeug
auf der Straße (On-road) oder neben der Straße (Off-
17 Die Aufgabe der Ortung liegt darin, aus der aktuell road) befindet. Der Ortungsalgorithmus ermittelt
zur Verfügung stehenden Sensorinformation und eine präzise absolute Position und geht gleichzeitig
deren Historie die aktuelle Position sicher zu be- tolerant mit Ungenauigkeiten in der digitalisierten
18 stimmen. Dabei muss zwischen zwei Positionsan- Karte um. Für eine Zielführung hat der Positions-
gaben unterschieden werden: fehler im Straßennetz jederzeit so klein zu sein, dass
19 a) der absoluten Position des Fahrzeugs im Raum Fahrempfehlungen rechtzeitig vor jeder Kreuzung
– z. B. angegeben durch WGS 84-Koordinaten ausgegeben werden können, auch bei kurz hinter-
20 plus Bewegungsvektor – und einander folgenden Fahrmanövern. Alle Fahr- und
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1051 55

.. Tab. 55.1  Sensorik in Navigationssystemen

Sensor Üblicher Verbau Gewonnenes Signal Fehlerquelle

Gyro (Kreiselkompass) Direkter Verbau mikrome- Winkeldifferenz Rauschen


chanischen Gyros oder Temperaturgang
Übertragung Gyro-Werte Einbauwinkel
von vorhandenem Gyro
(z. B. ABS-Gyro) über CAN

Odometer via Draht Rechteck-Impuls Wegdifferenz Reifenausdehnung

Odometer via CAN Wegdifferenz Reifenausdehnung

GPS-Empfänger GPS-Empfänger direkt absolute Position Empfangsstörungen wie


verbaut Wegdifferenz Empfangslücken, Mehrwe-
Winkeldifferenz geempfang

Beschleunigungssensor Direkter Verbau abhängig von der Anzahl Temperaturgang


(ggf. mehrachsig) der Achsen: Beschleuni- Einbauwinkel
gungsänderung

Radimpulse Via CAN von ABS-Sensoren Weg und Winkeldifferenz Reifenausdehnung

Lenkwinkelgeber Via CAN Winkeldifferenz Reifenausdehnung

Wendemanöver dürfen nicht zu einem Ortungsver- Eine Forderung, die der Genauigkeit und dem
lust führen. Das Verlassen der Straße – Fahrt vom Komfort dient, ist die automatische Kalibrierung des
On-road ins Off-road (z. B. bei Einfahrt auf einen Systems, welches die Reifenabnutzung berücksich-
Parkplatz) – muss erkannt werden. Nach dem Ver- tigt und insbesondere einen Reifenwechsel erkennt
lassen des Parkplatzes an einer beliebigen Stelle und und daraufhin eine Neukalibrierung startet. Die Or-
dem Befahren der nächsten Straße – Fahrt vom Off- tung funktioniert dabei zweistufig: Zunächst wird
road zum On-road – muss die Ortung automatisch mittels Koppel-Ortung (engl. „Dead-Reckoning“)
auf die richtige Netzposition aufsetzen. Nach einer eine Position bestimmt, die dann im Folgenden per
beliebig langen Fahrt außerhalb des Straßennetzes ist Map-Matching auf die digital vorliegende Straßen-
unmittelbar nach Eintritt in das digitalisierte Gebiet geometrie abgebildet wird. Bei der Koppel-Ortung
die richtige Position im Netz zu finden. Insbeson- handelt es sich um ein Verfahren, bei dem ausge-
dere für asiatische und nordamerikanische Straßen- hend von einer aktuellen Position mittels Wegdif-
netze ist die Erkennung einer Höhenänderung für ferenz, Winkeländerung und vergangener Zeit eine
die Fahrbahnebene bei mehrgeschossigen Brücken neue absolute Position bestimmt wird. Ausgehend
und Fahrwegen wichtig. Zukünftig wird eine Ortung von einer bekannten Ausgangsposition und bekann-
in Gebäuden erwartet beispielsweise in Parkhäusern tem Ausgangswinkel kann man durch Weg- und
oder für die Fußgängernavigation. Winkelmessung und Addition der Wegvektoren
Eine Bewegung des Navigationsgerätes in aus- die erreichte Position bestimmen; die Addition der
geschaltetem Zustand muss nach dem Wiederein- Wegvektoren nennt man koppeln. Die Ortung sam-
schalten zuverlässig und schnell erkannt und die melt und synchronisiert die Signale, die teilweise
aktuelle Position in der Karte bestimmt werden mit unterschiedlicher Frequenz vorliegen (siehe
können. Für mobile Navigationssysteme (Personal . Tab. 55.1) und führt sie auf eine Zeitbasis zurück,
Navigation Device – PND) oder Mobiltelefone mit um dann die Koppel-Position zu bestimmen.
Ortung ist dies eine Normalsituation; bei in das In mobilen Navigationssystemen (PND) ist es
Fahrzeug integrierten Systemen tritt dieser Fall bei üblich, nur mittels GPS zu orten. GPS (Global Posi-
ausgestellter Zündung z. B. bei der Nutzung von tioning System) ist ein System zur Positionsbestim-
Fähren oder Autoreisezügen ein. mung mittels Satellitenortung. Vom US-Verteidi-
1052 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

gungsministerium wurden bis zu 31 Satelliten in die Daten bei der Datenaufbereitung für die Daten-
1 Erdumlaufbahn gebracht, um Störungen und Aus- träger Informationen entzogen (Generalisierung),
fälle kompensieren zu können, die die Erde zweimal damit die Datenmenge reduziert wird, um auf den
2 am Tag in etwa 20.000 km Höhe umkreisen. Es wird Datenträger zu passen. Das verwendete Verfahren ist
angestrebt, die Zahl der Satelliten aus Kostengrün- üblicherweise eine Trajektorienbildung aus den Sen-
den auf 25 zu reduzieren. Diese Satelliten strahlen sordaten und dem Abgleich dieser Trajektorie mit
3 Funksignale auf 1575,42 MHz und 1227,60 MHz den Kartendaten; daraus erfolgt die Bestimmung der
unter Angabe ihrer Position und Uhrzeit aus. Beim wahrscheinlichsten Position in der Karte. Auch hier
4 Empfang von mindestens vier Satelliten kann ein ist – trotz der Anforderung, die Position möglichst
Empfänger aufgrund der Laufzeit der Signale, die genau zu bestimmen – eine Fehlertoleranz wichtig,
5 aus der Uhrzeitdifferenz zwischen Sender und damit es im Falle einer geringfügigen Abweichung
Empfänger gewonnen wird, sowie der Positionsan- vom digitalisierten Straßennetz nicht zu Fehlverhal-
gabe der Satelliten die eigene Position bestimmen. ten der Navigation kommt. So darf eine Baustelle auf
6 Das Verfahren entspricht einer Gleichung mit vier einer Autobahn mit Umleitung auf die Gegenfahr-
Unbekannten (Zeit und 3 Positionen) mit Schnitt- bahn nicht dazu führen, dass das Map-Matching die
7 punktbildung von drei Kugeln, deren Radien sich Fahrzeugposition auf die Gegenfahrbahn abgleicht
aus der Signallaufzeit ergeben. Im Jahr 2000 wurde und dem Fahrer eine Wendeempfehlung gegeben
die zuvor beaufschlagte künstliche Ungenauigkeit wird. Hierzu werden vom Map-Matching entspre-
8 der Signale abgeschaltet, um eine verbesserte zivile chende in den Kartendaten hinterlegte Attribute wie
Nutzung des GPS zu erlauben, so dass mittels GPS Fahrtrichtungen ausgewertet.
9 eine Positionsbestimmung mit 10 m bis 20 m Ge- Die Erfahrung zeigt, dass es einem Single­path-
nauigkeit bei ungestörtem Empfang und günstiger Map-Matching trotz Einsatz ausgeklügelter Algo-
10 Satellitenkonstellation möglich ist. rithmen an Zuverlässigkeit mangelt, da bei Betrach-
Kfz-Systeme verfügen in der Regel über Zusatz- tung nur eines Pfades das Erreichen der geforderten
sensorik bzw. eine Anbindung an die im Fahrzeug hohen Map-Matching-Qualität wegen Sensortole-
11 vorhandene Sensorik, um auch ohne GPS-Emp- ranzen, kleinen Digitalisierungsungenauigkeiten
fang eine zuverlässige Position zu liefern. Da alle und Umwelteinflüssen nicht möglich ist. Abhilfe
12 Signale in bestimmten Situationen fehlerbehaftet schafft die gleichzeitige Betrachtung mehrerer Pfade
sind, muss die Ortung die Signale gegeneinander (Multipath-Map-Matching): Durch die gleichzeitige
abgleichen und kalibrieren. Ein gängiges Verfahren Verfolgung mehrerer Pfade erhält die Ortung die
13 stellt die Kalman-Filterung [2] dar, bei der auf Ba- Fähigkeit, Fehler bei der Entscheidung über das
sis eines Systemmodells zunächst der Ausgangswert „wahrscheinlichste Straßensegment“ rückgängig zu
14 abgeschätzt und dann mit dem durch die Sensorik machen – dem System wird quasi ein Gedächtnis
gemessenen Wert verglichen wird: Die Differenz aufgeprägt. Durch eine Bewertung der parallel be-
55 zwischen Abschätzung und Messung dient darauf- trachteten Pfade erhält man den Hauptpfad als den
hin der Verbesserung des aktuellen Systemzustands. Pfad mit der höchsten Bewertung. Die Position auf
Somit ist es möglich, fehlerbehaftete Daten entspre- dem Hauptpfad wird zur Steuerung der Fahremp-
16 chend weniger gewichtet in die Koppel-Ortung ein- fehlungen und zur Anzeige der Fahrzeugposition
zubeziehen (s. ▶ Kap. 26). in der Karte verwendet: Sind die Bewertungen von
17 Ist die Position mittels Koppel-Ortung bestimmt, Hauptpfad und einem der Parallelpfade annähernd
muss ein Abgleich (Matching) mit den digitalen gleich, so wird als zusätzliches Kriterium die be-
Kartendaten (Map) auf dem Datenträger erfolgen, rechnete Route zur endgültigen Bestimmung des
18 das sogenannte Map-Matching. Der Abgleich ist Hauptpfades herangezogen. In diesem Sinne erfül-
nötig, da neben der Koppel-Ortungsposition auch len die Parallelpfade eine Sicherheitsfunktion, auf
19 die digitalen Straßendaten fehlerbehaftet sind. Dies die dann zurückgegriffen werden kann, wenn eine
ist einerseits auf ungenaue/fehlerbehaftete Datener- Plausibilitätsbetrachtung für einen der Parallelpfade
20 hebung bei der Digitalisierung des Straßennetzes eine größere Wahrscheinlichkeit für die Fahrzeug-
zurückzuführen, andererseits werden den digitalen position ergibt als der bisherige Hauptpfad. Neben
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1053 55

.. Abb. 55.3 Zieleingabe-Baumstruktur

der Generierung von Parallelpfaden ist ein Prozess in der hier genannten Reihenfolge: Land, Ort oder
zur Reduzierung der Anzahl der Parallelpfade er- Postleitzahl, Straße, Hausnummer. In Nordamerika
forderlich, da sonst im engmaschigen Straßennetz wird Bundesstaat, Straße, Ort eingegeben. Dabei
binnen kurzer Zeit unbeherrschbar viele Pfade zu erfolgt eine Ausdünnung der dem Nutzer angebo-
betrachten wären. Ein Parallelpfad wird gelöscht, tenen Daten derart, dass beispielsweise in Europa
wenn seine Bewertung einen festgesetzten Gren- nur die jeweils im Ort oder Postleitzahlbereich
zwert unterschreitet [3, 4]; die vom Map-Matching vorhandenen Straßen – bzw. in Nordamerika nur
errechnete und auf die Straße abgebildete Position die Orte, in denen die bereits eingegebene Straße
des Hauptpfades wird den anderen Navigationsmo- vorkommt – zur Auswahl angeboten werden. Wei-
dulen geeignet bereitgestellt. Insbesondere für die tere Unterstützungsfunktionen sind die automati-
genaue und ruckfreie Kartendarstellung wird ein sche Buchstabenausdünnung (automatic spelling
hochfrequentes Positionssignal (> 15 Hz) benötigt, function – ASF ), bei der die nicht mehr möglichen
so dass die Ortung die Position ggf. extra- oder in- Buchstabenkombinationen im Nutzermenü ausge-
terpolieren muss. graut werden, oder die Ähnlichkeitssuche, bei der
ähnlich geschriebene Orte/Straßen zur Auswahl an-
geboten werden. Zudem muss im Falle von Mehr-
55.2.2 Zieleingabe deutigkeiten – der Ort Frankfurt existiert mehrfach
in Deutschland – dem Nutzer eine Auswahl angebo-
Mittels der Zieleingabe – auch Index genannt – kann ten werden (Mehrdeutigkeitsauflösung).
der Nutzer über verschiedene Eingabemöglichkei- Neben der direkten Adresseneingabe können
ten Ziele eingeben. Dazu sind die Straßenbezeich- häufig auch besonders interessante Punkte (points
nungen und ortsbeschreibenden Daten üblicher- of interest – POI) zur Adressauswahl verwendet
weise stark komprimiert in einer Baumstruktur auf werden – wie beispielsweise Tankstellen, Autowerk-
einem Datenträger abgelegt (siehe . Abb. 55.3). stätten, Sehenswürdigkeiten oder Restaurants. Bei
Die politisch hierarchische Adresseneingabe diesen Zielen ist es häufig möglich, einen Reisefüh-
in Europa erfolgt üblicherweise über die Eingabe rer anzuwählen, der neben dem Ort noch Zusatzin-
1054 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

formationen zum Reiseziel wie Art des Restaurants


- optimale Route: Route mit Kompromiss zwi-

-
1 oder Öffnungszeiten liefert. schen kurzer Strecke und Fahrzeit;
Insbesondere bei POI ist die Funktion einer Dynamisierung: Route mit Berücksichtigung
2 Umgebungssuche wichtig, um beispielsweise einen von Verkehrsnachrichten und entsprechend

3
bestimmten Parkplatz an der Zielposition zu suchen
beziehungsweise eine Tankstelle oder ein Restaurant
an der aktuellen Position bzw. entlang der aktuellen
Fahrtstrecke zu finden.
- berechneten Umleitungen;
Meide-Kriterien, mit denen bestimmte Ab-
schnitte gemieden werden können: Autobahn,
Maut, Fähren, Tunnel.
4 Bei der Zieleingabe ist die Antwortzeit im Nut-
zerinterface kurz zu halten, um dem Nutzer ein
55.2.4 Algorithmen der Routensuche
5 zügiges Eingeben des Ziels zu ermöglichen. Ist
auf Festspeichern (Festplatte, SD-Card, Flash) der
Zugriff performant möglich, muss auf rotierenden Bei der Routensuche handelt es sich um eine wich-
6 Medien (CDs, DVDs) – aufgrund der bautechnisch tige Anwendung der mathematischen Graphenthe-
bedingten großen Zugriffszeiten (Seek-Time) ein orie: Innerhalb eines Graphen – bestehend aus K
7 zugriffsoptimierter Algorithmus angewandt wer- Knoten (oder Ecken), welche über N Kanten mit-
den, der trotz aller zuvor genannten Komfortfunk- einander verbunden sind (jede Kante repräsentiert
tionen (z. B. Ausdünnung) mit einer geringstmög- ein Knotenpaar) – gilt es, eine optimale Route zu
8 lichen Anzahl an Zugriffen auskommt. bestimmen. Jeder Knoten repräsentiert dabei den
Zusammenstoß mehrerer Straßensegmente – z. B.
9 einen Kreuzungspunkt. Eine Kante hingegen re-
55.2.3 Routensuche präsentiert ein endlich langes Straßensegment
10 und dessen routenrelevante Eigenschaften – z. B.
Die Routensuche ist dafür verantwortlich, im Stra- Straßenklasse, Durchschnittsgeschwindigkeit auf
ßennetzwerk den bestmöglichen Weg entsprechend dem Segment oder Länge des Straßensegments.
11 der eingestellten Optionen und Kriterien von der Das Straßennetzwerk wird somit durch einen sehr
aktuellen Position zum Ziel zu finden. Hierzu wer- großen Graphen, bestehend aus Knoten und Kan-
12 den die Daten der digitalen Straßenkarten in Kno- ten mit routenrelevanten Kanteneigenschaften, re-
ten und Kanten abgelegt, die den Kreuzungen und präsentiert. Zum Durchführen einer Routensuche
den die Kreuzungen verbindenden Straßen entspre- werden ein Start- und ein Zielknoten im Graphen
13 chen. Diese werden mit entsprechenden Attributen benötigt, eine Kostenfunktion f(Nij) zur Bewer-
belegt, die den Widerstand – d. h. die Durchfahrts- tung der Kosten einer Bewegung von Knoten Ki zu
14 geschwindigkeit für den Routensuchalgorithmus Knoten Kj entlang einer Kante Nij sowie ein Op-
– repräsentieren; wesentliche Attribute sind Stra- timierungsverfahren zur Suche der bezüglich der
55 ßenklasse, Länge, Fahrtrichtung oder Fahr-Be- Kostenfunktion optimalen Route im Graphen. Als
schränkungen (beispielsweise Mautpflicht). Die Kostenfunktion werden in der Regel Funktionen
Straßenklasse gibt dabei an, ob es sich um Auto- verwendet, welche auf Eigenschaften der Kanten Nij
16 bahnen, Bundesstraßen, Landstraßen oder Wohn- beruhen, wie z. B. Länge (Finden kürzester Route),
gebietsstraßen handelt. Mittels Algorithmen aus der Fahrdauer (schnellste Route), Treibstoffbedarf
17 Graphentheorie (beispielsweise A-Stern, Dijkstra (Eco-Route). In der Praxis angewendete Kosten-
[5]) wird durch dieses Widerstands-Netzwerk dann funktionen berücksichtigen oft mehrere Kriterien;
der Weg mit dem geringsten Widerstand entspre- so erfolgt z. B. bei der Kostenbewertung bezüglich
18 chend der eingestellten Optionen und Kriterien ge- einer treibstoffgünstigen Route zusätzlich eine Op-

19
-
sucht. Übliche Routenoptionen und Kriterien sind:
schnelle Route: optimierte Route hinsichtlich
timierung der Fahrzeit oder eine Bestrafung des
Befahrens sehr niederwertiger Straßenklassen. Die

20 - möglichst kurzer Fahrzeit;


kurze Route: optimierte Route hinsichtlich
möglichst kurzer Strecke;
Routensuche besteht nun aus dem Finden einer
Sequenz von Kanten, welche miteinander verbun-
den sind, den Startknoten mit dem Zielknoten ver-
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1055 55

bindet und bezüglich der Kostenfunktion über die .. Abb. 55.4 Grundprinzip Start, Ziel + Kriterien
der Algorithmen zur Routen-
Summe der Kantenabfolge ein globales Optimum
suche
(Minimum bezüglich der Kostenfunktion) darstellt. Potentielle
Hierzu stehen eine Vielzahl von Algorithmen zur Strecke(n)
Verfügung. auswählen
Da es sich bei Navigationssystemen jedoch
um Echtzeitsysteme handelt, die eine Vielzahl von
Funktionen tragen und gewissen Randbedingungen Kosten für
potentielle Strecke
bezüglich ihrer Antwortzeiten unterliegen, kann
berechnen
nicht jeder Algorithmus eingesetzt werden. Es sind
nur diejenigen Algorithmen verwendbar, welche be-
züglich der Rechenzeit und des Speicherverbrauchs Potentielle Strecke
besonders effizient sind – selbst wenn dadurch nur mit Alternativen
eine bezüglich der Kostenfunktion suboptimale hinsichtlich Kosten
Route gefunden wird, die aber nahe am globalen vergleichen
Optimum liegen muss. . Abbildung 55.4 zeigt das
Grundprinzip aller Algorithmen: Ausgehend von Route
einem Anfangspunkt werden potenzielle Strecken
im Graphen ausgewählt, bezüglich ihrer Kosten werden nur noch vorwärtsgerichtete Suchverfahren
bewertet und mit alternativen Strecken verglichen. eingesetzt: Der Grund liegt darin, dass Navigati-
Diese Bewertung wird so lange fortgesetzt, bis onskartenanbieter für Teile des Straßennetzwerkes
eine optimale oder nahezu optimale Route durch mittlerweile uhrzeitabhängige Durchschnittsge-
den Graphen des Straßennetzes gefunden ist. Die schwindigkeiten (sogenannte „Ganglinien“) anbie-
verschiedenen Algorithmen unterscheiden sich ten. Da zur Berechnung der Kostenfunktion bei
im Wesentlichen darin, wie die Suche durch den einer „schnellsten“ Route die Fahrgeschwindigkeit
Graphen erfolgt. In der Vergangenheit fand man relevant ist, muss „vorwärts“ gesucht werden, da nur
in Navigationssystemen Verfahren, die sowohl so die Uhrzeit bekannt ist, zu der man im Graphen
vom Start der Zielführung in Richtung des Zieles eine Kante erreichen wird. Diese Uhrzeit wird benö-
als auch umgekehrt die Routensuche durchführten. tigt, um damit die für die Kostenermittlung richtige
Beide Suchrichtungen bieten spezifische Vor- und „Ganglinie“ – Durchschnittsgeschwindigkeit auf be-
Nachteile: Bei einer „Vorwärtssuche“ kann man treffendem Straßensegment – auszuwählen.
z. B. frühe Fahrempfehlungen abgeben, obwohl die Aufgrund der Randbedingungen, die ein Navi-
Route noch nicht vollständig „gefunden“ wurde. gationssystem bezüglich Antwortzeit, Rechenleis-
Dies erlaubt eine schnelle erste Fahranweisung an tung und verfügbarem Speicher stellt, verbieten sich
den Fahrer nach Start einer Zielführung – mit dem bezüglich der Rechenzeit oder des Speicherbedarfs
Risiko, dass sich die Route im Laufe der Routensu- aufwendige Optimierungsverfahren, wie z. B. „Si-
che auch im Startgebiet noch einmal ändern kann. mulated Annealing“ oder „genetische Algorithmen“.
Bei einer „Rückwärtssuche“ vom Zielgebiet zum Ein möglicher, geeigneter Algorithmus ist der soge-
Startgebiet können Routenalternativen, die entlang nannte A*-Algorithmus (engl. A Star). Es handelt
der endgültigen Route während der „Alternati- sich dabei um eine Erweiterung des Dijkstra-Al-
vensuche“ gefunden wurden, gespeichert werden. gorithmus: Ausgehend von einem Knoten werden
Sie stellen somit schnell verfügbare „Alternativen Nachbarknoten im Graphen „besucht“ und die Al-
zurück zur ursprünglichen Route“ dar, falls der ternativen bezüglich der Kostenfunktion geprüft.
Fahrer von der Route abweichen muss (keine auf- Um nicht jeden Knoten des vollständigen Graphen
wendige Neusuche notwendig). Allerdings hat die auf der Suche „besuchen“ zu müssen, werden mit-
„Rückwärtssuche“ den Nachteil, dass der Fahrer so tels einer Heuristik die vermutlichen „Restkosten“
lange auf die erste Fahrempfehlung warten muss, in verschiedene Richtungen geprüft und damit die
bis die gesamte Route gefunden ist. In der Zukunft Suche in ihrer Richtung beeinflusst. Eine andere
1056 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

.. Abb. 55.5 Suchstrategi-
1 en Ford-Moore Algorith-
mus (links) und A*-Algo-
rithmus (rechts)
2
3
4
5
6
Elemente im Berechnungsgebiet 37746 Elemente im Berechnungsgebiet 13561
7 Optimierungsprüfungen 157634 Optimierungsprüfungen 13561

8 mögliche Alternative ist der Ford-Moore-Algorith- Empfang von Verkehrsmeldungen muss eine neue
mus: Hierbei handelt es sich um eine vollständige Route berechnet werden. Eine Routenneuberech-
9 Suche durch das Straßennetz zwischen Start und nung soll möglichst schnell erfolgen, wozu folgende

10
Ziel – wobei allerdings zuvor sinnvolle Einschrän-
kungen des Suchgebiets vorgenommen werden,
um den Rechenaufwand zu begrenzen. Vor dem -
Techniken angewandt werden:
Zwischenspeichern (cachen) von Daten in
schnelleren Speichern bei langsamen Daten-

11
12
Start der Routensuche werden dabei die Kosten für
jedes Kantenelement vorberechnet, da Kantenele-
mente während der vollständigen Suche mehrfach
„besucht“ werden – um den Rechenaufwand zu
- trägern (CDs, DVDs);
Verwendung von Datenhierarchien (siehe
. Abb. 55.6): Hochklassifizierte, lange Straßen
(z. B. Autobahnen, Bundesstraßen) werden
begrenzen, dürfen die Kosten für eine Kante des in einem separaten Datennetz gehalten. Die
Graphen nur einmal berechnet werden, auch wenn Routensuche berechnet nur an Start und Ziel
13 diese während der Suche mehrfach „besucht“ wird. auf niedriger Hierarchiestufe (d. h. in Wohn-/
. Abbildung 55.5 gibt einen Eindruck der Ele- Stadt-/Landstraßen) und berechnet größere
14 mente des Straßennetzwerkes, die bei einer beispiel- Distanzen auf höheren Stufen – d. h. auf Auto-
haften Routensuche durch die Algorithmen geprüft bahnen und Bundesstraßen – um die Anzahl
55 werden. Beim Ford-Moore-Algorithmus (links) er- der Berechnungsschritte zu reduzieren. Die Da-
folgt während der Optimierung eine Suche durch tenhierarchien sind an Knoten und/oder Kan-
das gesamte Straßennetzwerk, welches auf einen ten über entsprechende Querverweise in den

-
16 sinnvollen Bereich zwischen Start und Ziel begrenzt digitalen Kartendaten miteinander verbunden.
wurde. Der A*-Algorithmus (rechts) begrenzt die Verwendung von vorberechneten Routen oder
17 Prüfung mittels seiner gerichteten Suche auf einen Stützpunkten: Es werden vorberechnete Teil-
Bereich um die voraussichtlich optimale Route. stücke hinzugezogen, die im Bedarfsfall nicht
In der Praxis gibt es weitere Randbedingungen, neu berechnet werden müssen.
18 wie z. B. die Datenstruktur der digitalen Karte, wel- Die Routensuche stellt die berechnete Route
che Auswirkungen auf die Wahl eines geeigneten anderen Navigationsmodulen zur Verfügung: der
19 Routensuchalgorithmus haben. Zielführung zur Erstellung von Hinweisen für den
Die Routensuche in beweglichen Fahrzeugen Fahrer, der Kartendarstellung zur Anzeige und dem
20 ist dabei zumeist kein einmaliger Vorgang: Beim Nutzerinterface zur Erzeugung der Routenliste –
Abweichen von der berechneten Route oder beim d. h. der Abfolge des zu befahrenen Weges.
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1057 55
.. Abb. 55.6 Routenbe-
rechnung mithilfe von
Datenhierarchien

.. Abb. 55.7 Zielfüh-
rungssituation

55.2.5 Zielführung wichtig, ein Rechtsabbiegen rechtzeitig vorher anzu-


kündigen – vorankündigende Fahrempfehlung, z. B.
Aufgabe der Zielführung ist es, den Fahrer recht- „Demnächst rechts abbiegen“ – und dann diese in
zeitig, jedoch möglichst eindeutig und wenig re- einem Abstand vom Abbiegepunkt bzw. Entschei-
dundant über die bevorstehenden Fahrmanöver dungspunkt zu wiederholen, der ein Reagieren des
zu informieren. Dazu erhält sie von der Ortung die Fahrers entsprechend der aktuellen Geschwindig-
aktuelle Position und von der Routensuche die zu keit zulässt (Beispiele hierzu: „In 300 m rechts ab-
befahrene Strecke und generiert daraus die Fahr- biegen“, „Jetzt rechts abbiegen“, s. . Abb. 55.7). Auf
empfehlungen wie „Rechts abbiegen“ oder „Dem Wohnstraßen, die mit kleinen Geschwindigkeiten
Straßenverlauf folgen“. Die Fahrempfehlungen befahren werden, fallen diese Abstände deutlich
werden abhängig von der Straßensituation und der kürzer aus. Zusätzlich werden Folgefahrempfeh-
aktuellen Geschwindigkeit ausgegeben: So ist es lungen bzw. verkettete Fahrempfehlungen (Beispiel:
auf Autobahnfahrten mit hoher Geschwindigkeit „Jetzt rechts abbiegen, danach links abbiegen“) ge-
1058 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

neriert, die dem Fahrer das richtige Einordnen auf einzelne Städte). Bitmap-Daten werden in
1 die Fahrstreifen ermöglichen. Die Ansagen müssen Form von Satellitenkarten oder Texturen für
möglichst eindeutig sein, damit auch ein Navigie- Gebäudemodelle verwendet. Häufig wandelt
2 ren nur mit akustischen Ausgaben möglich ist, ohne die Kartenkomponente diese Daten in eine
die Aufmerksamkeit des Fahrers von der Fahrbahn interne Repräsentation um, die dazu geeignet
abzulenken. So sollte eine Fahrempfehlung nicht ist, möglichst schnell dargestellt zu werden

-
3 gegeben bzw. verzögert werden, wenn die Straßen- (rendering optimiert).
situation nicht klar erkennen lässt, auf welche Straße von der Ortung die Information über die
4 sich eine Empfehlung bezieht. Sowohl die Fahremp- Position und die Bewegung des Fahrzeugs,
fehlungen, die Grammatik als auch das Regelwerk um an der aktuellen Position einen Positions-
5 und die Parameter, welche die zeitliche Abfolge der marker darzustellen, der möglichst flüssig der

6
Fahrempfehlungen festlegen, sind herstellerspezi-
fisch (Applikations-Know-how, das über mehrjäh-
rige Erfahrung gewonnen wird). Die Empfehlungen - Bewegung des Fahrzeugs folgt.
von der Routensuche die Information über die
aktuelle Route, um diese in der Karte hervor-

7
8
werden akustisch – d. h. durch Sprachausgaben –
und optisch durch Fahrsymbole, Pfeile und ggf. eine
Kartendarstellung (siehe ▶ Abschn. 55.2.6 „Karten-
darstellung“) gegeben. Die Fahrsymbole werden
- gehoben darzustellen.
von der Zielführung die Informationen über
die nächsten Fahrmanöver, um die Manöver
in die Karte einzublenden oder in speziel-
dabei durch eine optische Entfernungsangabe len Ansichten dem Fahrer übersichtlich die
(Bargraph) unterstützt. Fahrempfehlungen können aktuelle Situation vor Augen zu führen, wie
9 durch zahlreiche Zusatzinformationen ergänzt wer- Kreuzungszoom (die nächste Kreuzung und
den, z. B. durch Empfehlungen oder Anzeige der zu das entsprechende Manöver wird vergrößert
10 verwendenden Fahrbahnen, der Name der Straße, dargestellt) oder Highway Entry/Exit Guidance

11
in die eingebogen werden soll (Turn-To-Info), op-
tische Anzeige von Aus- und Einfahrten (Highway-
Entry/Exit-Empfehlungen). - (die Ein-/Ausfahrt wird dargestellt).
von der Dynamisierung die Information über
Verkehrsmeldungen, um diese in die Karte

12
55.2.6 Kartendarstellung - einzublenden.
von der Zieleingabe die Informationen über
POI, die in die Karte eingeblendet werden
(beispielsweise Tankstellen, Parkplätze, Werk-

-
13 Neben der Zielführung dient auch die Kartendar- stätten, Restaurants).
stellung der Orientierung des Fahrers. Das Karten- vom Benutzerinterface die Information über
14 modul bekommt zur Darstellung von den anderen die eingestellte Ansicht, d. h. der Ausschnitt

55 -
Modulen folgende Daten:
vom Datenträger – oder im Cache gespeichert
vom Korridor – die darzustellenden Vektor-
und Bitmapdaten: Vektordaten beschreiben
der Kartendarstellung (Positionskarte, Ziel-
karte, Übersichtskarte), Kartenmaßstab (meist
von 25 m Detailansicht bis 500 km Übersicht)
und Art der Karte (2D, gekippte Karte samt
16 geometrische Formen wie Straßenzüge, Kippwinkel, 3D).
Bebauungsflächen, Gewässer, welche auf
17 dem Datenträger um Straßenklassen (zum Einen Überblick über die Arten der Kartendarstel-
Beispiel unterschiedliche Farbe/Breite zur lung gibt . Abb. 55.8.
Unterscheidung von Autobahn, Landstraße) Eine performante Kartendarstellung hängt we-
18 und weitere Attribute (zum Beispiel erlaubte sentlich von der Leistungsfähigkeit der verwende-
Höchstgeschwindigkeit) angereichert wer- ten Hardware ab, d. h. der Leistungsfähigkeit von
19 den. Bei der 3D-Darstellung werden diese Hauptprozessor und Grafikbeschleuniger. Zur flüs-
ergänzt von 3D-Gebäudemodellen für einzelne sigen Darstellung von 2D- und gekippten, perspek-
20 wichtige Gebäude (POI als-3D Landmarks) tivischen 2D-Karten mit mehr als 10 Bildern pro Se-
oder 3D-Modellen ganzer Regionen (derzeit kunde (frames per second, fps) werden Prozessoren
55.2  •  Navigation im Fahrzeug
1059 55
.. Abb. 55.8 Beispielhafte
Kartendarstellungen

größer 200 MIPS (million instructions per second) oder Mobilfunksysteme (GSM, GPRS) empfangen
und 2D-Grafikbeschleuniger eingesetzt, die Polygone werden. Neben frei empfangbaren, meist von öf-
selbstständig darstellen können. Für performante fentlichen Anstalten bereitgestellten TMC-Nach-
3D-Kartengrafik sind 3D-Grafikbeschleuniger not- richten gibt es kostenpflichtige Dienste (Pay-TMC),
wendig, die selbstständig texturierte Flächen darstel- wie beispielsweise TMC-pro. TMC ist mit einer
len können und Z-Buffer (Tiefeninformation) zur 37-bit-Kodierung auf schmalbandige Übertragungs-
perspektivischen Verdeckungsberechnung besitzen. wege (Ursprung war FM-RDS mit Datenraten von
Zur Beschleunigung der Software wird auch in der 60 Bit/Sek) optimiert. In einer TMC-Meldung sind
Kartendarstellung mit verschiedenen Datenhierar- das Ereignis – beispielsweise Stau, Unfall, Sperrung,
chien gerechnet, die beim Herauszoomen ein Aus- Falschfahrer – und die Ortsangabe (ca. 65.500 Orte,
dünnen des dargestellten Straßennetzes zur Reduzie- auch Locations genannt, jeweils über international
rung der darzustellenden Polygone ermöglicht. Die standardisierte Tabellen länderspezifisch festgelegt)
Darstellung einer perspektivischen Karte erfolgt un- enthalten. Durch die im Ereignis mitgeteilten Infor-
ter Nutzung verschiedener „Levels of Detail“ (LOD) mationen – Längenangabe, Geschwindigkeitsangabe
– weiter entfernt liegende Objekte werden nicht so – kann die Dynamisierung die Berechnung einer
detailgetreu gezeichnet wie nah liegende Objekte. Route beeinflussen, indem nach dem Abbilden der
Zudem sind für eine gute Anmutung der Kartendar- in der Nachricht enthaltenen Location auf das digi-
stellung eine hohe Auflösung und Anti-Aliasing zur tale Straßennetz beispielsweise die Widerstände ein-
Vermeidung von Treppeneffekten bei der Liniendar- zelner Knoten/Kanten entsprechend der Störung er-
stellung wichtig, was jedoch wiederum höhere An- höht werden. So ergibt sich bei der Berechnung eine
forderungen an die Rechenleistung des Systems stellt. entsprechende Umleitungsroute: Eine solche erneute
Routenberechnung wird entweder automatisch an-
gestoßen (Routenoption „dynamische Route“) oder
55.2.7 Dynamisierung der Nutzer wird von der geänderten Verkehrslage
benachrichtigt und kann eine Routenneuberech-
Die Dynamisierung hat die Aufgabe, Umweltein- nung auslösen (benutzerbestätigte Dynamisierung).
flüsse in die Navigation einzubeziehen. Typischer- Neben der Berücksichtigung bei der Routenbe-
weise sind dies Verkehrsmeldungen im TMC-For- rechnung ist die Dynamisierung dafür zuständig,
mat, die über Rundfunksysteme (FM-RDS, DAB) die codierten Verkehrsnachrichten zur Darstellung
1060 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

.. Abb. 55.9 System-
1 vergleich Onboard- vs.
Offboard-Navigation

2
3
4
5
6
7
8
9
in lesbare Form aufzubereiten und die Ereignisse Funktionsumfang und die Leistungsfähigkeit einer
10
11
abgebildet auf das Straßennetz der Kartendar-
stellung zur Verfügung zu stellen. So können sich
Fahrer oder Beifahrer auch optisch einen Eindruck
von der Verkehrssituation verschaffen: Neben der
-
Navigation. Wesentliche Faktoren sind:
die Datenmenge, die neben der regionalen
Abdeckung (einzelne Länder vs. Europa/
Nordamerika), auch den Funktionsumfang
visuellen Darstellung kann auch die Zielführung beschränkt; für bestimmte Funktionen wie
12 beauftragt werden, beim Erreichen der Verkehrs- Geschwindigkeitshinweise sind Datenattribute

13
störung den Fahrer akustisch zu warnen („Achtung
2 km Stau“). Für breitbandigere Übertragungswege
(z. B. DAB, WLAN) sind neue Standards (TPEG) in
Planung, die es erlauben, sowohl Ereignis wie auch
- aufzunehmen, die Speicherplatz belegen;
die Zugriffszeit, die wesentlichen Einfluss auf
die Performance hat, insbesondere wenn über
das Speichermedium verteilte Daten benö-
14 Ortsangabe noch genauer zu spezifizieren. tigt werden – wie bei der Berechnung von
Fernrouten über weite Gebiete/Entfernungen,
55 55.2.8 Korridor und Datenabstraktion
bei der Zieleingabe (Bewegen im Indexbaum)
oder beim Systemstart (viele unterschiedliche

-
(Datenträger) Daten sind zu lesen);
16 die Datentransferrate, wenn größere Daten-
Die digitalisierten Straßendaten stehen der Na- mengen gelesen werden – wie bei der Karten-
17
18
vigation als Massendaten auf Datenträgern zur
Verfügung: Für ein Land der Größe Deutschlands
sind dabei mehrere 100  MB notwendig. Neben
den klassischen Datenträgern CD, meist mit der
- darstellung;
weitere Faktoren wie Abnutzung/Verschmut-
zung im Falle von rotierenden, optischen
Medien wie CD/DVD.
Abdeckung eines einzelnen Landes, und DVD mit
19 kontinentaler Abdeckung – beispielsweise Europa – Um den Zugriff auf diese zum Teil langsamen Da-
kommen heute vermehrt elektronische Massenspei- tenträger ganz oder teilweise zu umgehen, verwen-
20 cher (Flash, SD-Card, Harddisk) zum Einsatz. Die den viele Navigationsgeräte einen Korridor (siehe
Eigenschaften des Datenmediums beeinflussen den ▶ Abschn. 55.2.1). Er lagert benötigte Daten stra-
55.4 • Hybrid-Navigation
1061 55
.. Abb. 55.10 Hybrid-Na-
vigation – durch Nutzung
fahrzeugexterner Daten-
quellen

tegisch vorab in elektronischen Speichern ein, um Der Vorteil einer Offboard- gegenüber einer
diese dann zwischengespeichert (gecached) weiter- Onboard-Navigation liegt in der Aktualität der Da-
geben zu können. Dies sind insbesondere die Daten ten, die auf einem Server besser administriert wer-
um die aktuelle Position, entlang der Route oder im den können; bezüglich der Materialkosten ergeben
Zielgebiet. sich keine Vorteile. Bei der OBN werden der Daten-
träger und das Laufwerk zum Einlesen der Daten
durch die Kommunikationseinheit (zum Beispiel
55.3 Offboard-Navigation GSM-Modul) ersetzt, ansonsten werden die glei-
chen Komponenten wie bei der Onboard-Naviga-
Wenn alle Teilaufgaben der Navigation – zum Bei- tion benötigt. OBN hat sich als Standardapplikation
spiel Ortung, Routenberechnung – im Fahrzeug im Mobilfunkbereich für Handys mit GPS-Unter-
erbracht werden, spricht man von einer autarken stützung etabliert.
oder Onboard-Navigation. Bei der Offboard-Navi-
gation (OBN) werden Teilaufgaben z. B. die Route
auf einem externen stationären Server berechnet. 55.4 Hybrid-Navigation
Die berechneten Daten und Informationen werden
vom Server über eine Luftschnittstelle (siehe ▶ Ab- Zukünftige Anforderungen an eine Navigation sind
schn. 55.7 „Verkehrstelematik“) in das Fahrzeuggerät dynamische Aktualisierung von sog. „points of in-
übertragen. Der Verlagerung sind bei entsprechen- terest (POI)“, Zugriff auf Daten oder Routen gegen
der Auslegung Luftschnittstelle (Bandbreite) sowie Bezahlung, innerstädtische Dynamisierung, Ser-
einer ausreichenden Serverrechnerleistung keine ver-basierte Navigation (Offboard-Navigation) und
Grenzen gesetzt. Im Extremfall verbleiben im Fahr- Kartendarstellung mittels virtueller Realität und
zeug nur die Sensoren für die Ortung und die für Satellitenbildern (siehe . Abb. 55.10). Ein Großteil
die Ein- und Ausgabe notwendigen Komponenten. dieser Ziele erfordert die sog. Hybrid-Navigation:
Eine gängige Konstellation ist jedoch, dass die Zie- Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass bei den Na-
leingabe, die Routensuche und die Dynamisierung vigationsfunktionen auf eine Vielzahl von Daten-
durch den Server bereitgestellt werden. Die Prozesse quellen zurückgegriffen werden muss. Die Daten-
mit höherer zeitlicher Dynamik – wie die Ortung, quellen können weitgehend beliebig auf Fahrzeug
die Zielführung und auch die Kartendarstellung – und Infrastruktur verteilt sein; dabei kommt der
verbleiben im Fahrzeug (Siehe . Abb. 55.9). aus Kostengründen effizienten Übertragung von
1062 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

1
2
3
4
5
6 .. Abb. 55.11  Verdeutlichung des Georeferenzierungsverfahrens AGORA an einem Beispiel

7 Daten über Mobil- und Rundfunk eine große Be- matisch, aber wiederholbar fehlerhafte Daten. Bis-
deutung zu. Es ist weiterhin wichtig, Verfahren zu lang entscheidet der Nutzer, wann die Fehler nicht
entwickeln, die die Abbildung (Georeferenzierung) mehr tolerierbar sind und durch einen Neukauf
8 von Daten aus verschiedenen Quellen und insbe- der Kartendaten ein „Update“ durchgeführt wird.
sondere auf die im Fahrzeug vorhandene digitale Je mehr Funktionen im Fahrzeug von den Karten-
9 Karte ermöglichen. Lediglich die Übertragung der daten abhängen und insbesondere je sicherheitsre-
Koordinaten reicht dabei nicht aus, da das richtige levanter diese Funktionen sind, desto mehr wird die
10 Element aus der Vielzahl der Möglichkeiten heraus- Entscheidung über notwendige Aktualisierung der
zufinden ist. Kartendaten vom Nutzer unabhängig sein müssen.
Auf spezielle Anwendungen zugeschnittene Re- In der Entwicklung befinden sich deshalb derzeit
11 ferenzierungsverfahren gibt es bereits, doch erfüllen verschiedene Verfahren, die eine automatische Ak-
sie bisher nicht die Forderungen nach Flexibilität tualisierung der Kartendaten ermöglichen (s. auch
12 und Unabhängigkeit von den verwendeten Karten ▶ Kap. 27 und 29).
(bzgl. der Genauigkeit und der Herstellerunabhän- Ein kontrollierter, einheitlicher und damit
gigkeit). Ein neues Verfahren, bekannt unter dem qualifizierbarer Austausch von Datenteilen wird
13 Namen AGORA, wurde im gleichnamigen EU-Pro- in der „Physical Storage Initiative“ vorbereitet, die
jekt [6, 7] entwickelt und durch die ISO standardi- neben der OEM-übergreifenden Vereinheitlichung
14 siert. des Datenspeicherformats Mechanismen für den
Hierbei können mittels Korrelationsverfahren inkrementellen Datenaustausch festlegt. Andere
55 Elemente einer detaillierten Karte in eine einfachere Verfahren sollen die Navigation selbst dazu befähi-
Karte eingefügt werden. Die Standardisierung dieses gen, Fehler in der Datenbasis zu erkennen und zu
Verfahrens ist abgeschlossen (siehe . Abb. 55.11). beheben. In den EU-Förderprojekten ActMAP [8,
16 9] und FEEDMAP [10] wurden z. B. Möglichkeiten
und Techniken untersucht, um die Karte aktuell zu
17 55.4.1 Kartendaten – aktuell halten. Die Bandbreite der bereits heute angedach-
und individuell ten möglichen Applikationen ist so vielfältig, dass es
einen immensen Aufwand bedeuten würde, immer
18 Jede einmal erworbene digitale Karte büßt im Laufe alle Informationen in einem Datenpool verfügbar
der Zeit an Aktualität ein: Das Altern der Karte zu halten. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass eine
19 macht sich in Abweichungen von der Realität be- Basiskarte applikationsspezifisch mit Zusatzinfor-
merkbar – neue oder umgebaute Straßen fehlen, Be- mationen aus anderen Quellen angereichert wird.
20 schilderungen wurden geändert. Betrachtet man die Auch das Fahrzeug selbst wird Informationen er-
Karte als Sensor, dann liefert dieser Sensor unsyste- heben und als ortsbezogene Daten in der digitalen
55.5 • Assistenzfunktionen
1063 55
.. Abb. 55.12 Konfigu-
rierbare lernfähige digitale
Karte

Karte ablegen, so dass sie bei nachfolgenden Fahrten Die Bewertung muss dabei aus dem Fahrverhalten
genutzt werden können (siehe . Abb. 55.12). Dies und unter Kenntnis der Verkehrssituation abgeleitet
ist insbesondere sinnvoll für häufig befahrene Stre- werden. Da jeder Fahrer die Schwierigkeiten und
cken (zum Beispiel der Weg zur Arbeit), bei denen Belastungen individuell anders empfindet, wird
sich durch eine ökonomische, verbrauchsoptimierte zwangsläufig eine persönliche Karte entstehen. Die
Fahrweise signifikante Kraftstoffeinsparungen er- Routenwahl erfolgt dann vorzugsweise auf bekann-
zielen lassen. Obwohl die Karte in ihrer Gesamt- ten „stressreduzierten“ Strecken und natürlich unter
heit nur wenig lokal ergänzt wurde, werden teilweise Vermeidung unfallträchtiger Fahrsituationen, wie
80 % der individuellen Fahrstrecke abgedeckt. sie auch von K. Krüger et al. [12] aufgezeigt werden.
Eine optimale Assistenz kann nur durch Adap-
tion an den Fahrer und seine Präferenzen geleistet
werden. Hierfür ist es notwendig, dass Attribute 55.5 Assistenzfunktionen
in der Karte verändert und auch neue „individu-
ell“ ergänzt werden können. Die Mechanismen der Der Begriff Assistenzfunktionen ist weit gefasst
fahrzeugautonomen Verfahren können dazu ge- und wird nicht einheitlich verwendet: Er reicht von
nutzt werden, die Karte, die als Standardkarte ohne Funktionen mit informativem Charakter – z. T. wird
individuelle Merkmale ausgeliefert wird, mit fahrer- schon die Navigation an sich als Assistenzfunktion
oder fahrzeugspezifischen Merkmalen zu ergänzen. angesehen – bis zu sicherheitsrelevanten Funktio-
Ein anderer Anwendungsfall der lernenden Karte nen mit Eingriff in die Fahrzeugführung.
besteht in deren Personalisierung für bestimmte Hierbei können vier Klassen von Assistenzfunk-
Fahrergruppen – zum Beispiel für einen älteren Fah- tionen unterschieden werden: Funktionen, welche
rer – so dass Routineaufgaben auch im Alter noch die Fahrsicherheit erhöhen (z. B. ESC, Bremsassis-
gut bewältigt werden können. Die Fehlerzahl beim tent), Funktionen, die den Fahrkomfort erhöhen
Lösen unbekannter Aufgaben nimmt dagegen stark (z. B. Parkpilot, Verkehrsbotschaften), Funktionen
zu [11, 12]. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass zur Reduktion des Treibstoff-/Energiebedarfs (z. B.
unbekannte und komplizierte Situationen zu ver- Gangwahlempfehlung, Ausrollassistenz) und Funk-
meiden sind. In der digitalen Karte können bereits tionen zum Erhöhen der Fahrleistung (z. B. Deak-
gefahrene Strecken und Kreuzungen gekennzeich- tivierung der Klimaanlage bei Beschleunigung).
net und individuell bewertet werden, je nachdem, Dabei kann die Navigation entscheidenden Anteil
ob der Fahrer diese als „Problemkreuzung“, „stres- an einer dieser Assistenzfunktionen inne haben. In
sige Strecke“ oder als „einfach zu fahren“ einschätzt. den nachfolgenden Ausführungen wird zwischen
1064 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

.. Abb. 55.13  Das Navi-


1 Beispiel: gationssystem als Sensor
Navigationssystem Motorsteuergerät (Quelle: Robert Bosch
GmbH)
2
Elektronischer
Horizont
3
4
5
6
Assistenzfunktionen, die typischerweise auf ande-
7 ren Steuergeräten umgesetzt sind. Die Navigation
stellt die Situation an der aktuellen Position, die
Route bei aktiver Zielführung und das vorauslie-
8 gende Straßennetz (auch ADAS-Horizont oder
elektronischer Horizont genannt) über eine stan-
9 dardisierte Schnittstelle (ADASIS) [13] bereit. Über
den sogenannten AHP (ADAS Horizon Provider)
10 werden die Daten auf der Senderseite in Datentele-
gramme zerlegt und auf dem Fahrzeugbus bereitge-
stellt. Auf der Empfängerseite setzt der AHR (ADAS
11 Horizon Reconstructor) aus den Datentelegrammen
den ADAS-Horizont wieder zusammen. Durch die
.. Abb. 55.14  Grundprinzip des Schnittstellenprotokolls
12 ADASIS (Quelle: ADASIS v2 Protocol [13]) Standardisierung sind die Assistenzfunktionen un-
abhängig von der eingesetzten Navigation.
navigationsgestützten und navigationsunterstützten Beispiele für navigationsunterstützte Assistenz-

-
13 Assistenzfunktionen differenziert. funktionen sind:
Navigationsgestützte Assistenzfunktionen wer- adaptive Lichtsteuerung für bessere Ausleuch-

-
14 den von der Navigation selbst erzeugt und bereitge- tung von Kurven und Kreuzungen,

55 -
stellt. Beispiele für solche Assistenzfunktionen sind:
die „Stau voraus“-Warnung, die es dem Fahrer
kraftstoffsparende Fahrweise durch eine vor-
ausschauende Gangwahl des Automatikgetrie-

16
ermöglicht, die nächste Abfahrt zu nehmen
und den Stau zu umfahren oder sich zumin-
dest dem Stauende mit einer angepassten - bes entsprechend dem Streckenprofil,
weiterführende Beispiele siehe z. B. [14].

17
- Geschwindigkeit zu nähern;
der Kurvenwarner, der den Fahrer bei einer für
die vorausliegende Kurve zu hohen Geschwin-
Durch neue Assistenzfunktionen etabliert sich
neue Sensorik – wie Videokameras und Radar –
im Fahrzeug, von der die Navigation profitiert. Die
18
19
- digkeit warnt;
der Gefahrenpunktwarner, der den Fahrer
vor Gefahrenpunkten (beispielsweise Unfall-
schwerpunkten, Kindergärten/Schulen) warnt.
fahrstreifengenaue Positionsbestimmung wird z. B.
durch die Auswertung des Kamerabildes möglich.
Aktuelle Informationen – wie z. B. Verkehrszeiche-
nerkennung oder Auflösung von Sondersituationen
wie einer Baustelle – kann die Navigation zukünftig
20 Bei den navigationsunterstützten Assistenzfunkti- für verbesserte Fahrempfehlungen oder Warnungen
onen fungiert die Navigation als Sensor für andere nutzen.
55.6 • Elektronischer Horizont
1065 55
PATH 2 Stub offset

Speed Limit offset

Vehicle offset
Path 2
Offset 0 Path 2
Path 1
Offset 0
Path 1

.. Abb. 55.15  ADASIS-Positionscodierung (Quelle: ADASIS v2 Protocol [13])

55.6 Elektronischer Horizont MPP (Most Probable Path) bezeichnet. Alle Infor-
mationen und die aktuelle Position des Fahrzeugs
Ein Navigationssystem kann auch als Sensor für werden mit relativen Offsets bezüglich der mögli-
andere Assistenzfunktionen dienen. Typischerweise chen Pfade angegeben (siehe . Abb. 55.15).
werden in diesem Fall ortsbezogene Informationen Typischerweise beträgt die Vorausschaulänge
von einem Navigationssystem an ein anderes Steu- des elektronischen Horizonts etwa 500 m bis 6 km,
ergerät im Fahrzeug übermittelt; die übermittelten abhängig von den Anforderungen der nutzenden
ortsbezogenen Informationen werden als elektro- Assistenzfunktionen. Aufgrund der Art der Kodie-
nischer Horizont bezeichnet (siehe . Abb. 55.13). rung von Informationen ist die Vorausschaulänge
Der elektronische Horizont wird mittels stan- – bei Nutzung des typischen Längenrasters von 1 m
dardisierter Schnittstellenprotokolle ADASIS (Ad- – für die Inhalte des elektronischen Horizonts auf
vanced Driver Assistance Systems Interface Specifi- etwa 8 km begrenzt.
cation) [13] übertragen. Durch die Standardisierung Neben typischen Informationen einer digita-
sind die Assistenzfunktionen unabhängig von dem len Karte, die für Navigationssysteme verwendet
eingesetzten Navigationssystem. werden – wie z. B. Straßenklasse und Geschwin-
Das Grundprinzip des Schnittstellenprotokolls digkeitsbeschränkungen – werden im elektroni-
ADASIS besteht darin, dass der sogenannte AHP schen Horizont auch spezielle Daten, insbesondere
(ADAS Horizon Provider) die Daten auf der Sen- Steigungen und Krümmungen, übermittelt. Auch
derseite in Datentelegramme zerlegt und auf dem werden besondere Anforderungen an die Güte der
Fahrzeugbus bereitgestellt. Auf der Empfängerseite Ortsgenauigkeit von Informationen im elektroni-
setzt der AHR (ADAS Horizon Reconstructor) aus schen Horizont gestellt; aus diesem Grund werden
den Datentelegrammen den elektronischen Hori- diese Daten von Kartendatenlieferanten üblicher-
zont wieder zusammen (siehe . Abb. 55.14). Typi- weise als sogenannte ADAS-Daten ergänzend an-
scherweise findet der CAN-Bus als Kommunikati- geboten und in der digitalen Karte entsprechend
onskanal in diesem Kontext Anwendung. gekennzeichnet.
Der elektronische Horizont beinhaltet Infor- Die Nutzung des elektronischen Horizonts für
mationen zum vorausliegenden Straßennetz, wobei Assistenzfunktionen erfordert ebenfalls besondere
nur die Straßen relevant sind, die von der aktuel- Eigenschaften bzgl. der Genauigkeit der Ortung
len Position des Fahrzeugs erreicht werden können des Navigationssystems. Nur eine sehr gute Ortung
und die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch liefert einen präzisen und stabilen elektronischen
tatsächlich befahren werden. Der Fahrweg, der mit Horizont: Zum Einsatz kommen daher in diesem
höchster Wahrscheinlichkeit befahren wird, wird als Kontext nur Navigationssysteme, die fest im Fahr-
1066 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

Geschwindigkeit
1
2 hoch Digital Radio
(DAB)

3 Digital Broadcast
Technologies LTE

4
mittel
GPRS
5 DVB-T
GSM
Wide Area Wireless UMTS
6 Technologies

7 stationär BT
Local Area Wireless
WLAN
Technologies
(log)
8 0.01 0.1 1 10 100 Mb/s
Datenübertragungsrate
9 .. Abb. 55.16  Technologien zur Datenübertragung für Telematikdienste

10 zeug verbaut sind und die Fahrzeugsensorik für die Der stationäre Dienste-Server kann entfallen, wenn
Optimierung der Positionsberechnungen nutzen. Daten direkt zwischen den mobilen Endgeräten
ausgetauscht und weiterverarbeitet werden (siehe
11 ▶ Abschn. 55.7.4 „C2C“).
55.7 Verkehrstelematik Die Übertragung der Daten auf der Luftschnitt-
12 stelle – also dem Übertragungsweg mittels elektro-
Bei dem Wort Telematik handelt es sich um ein magnetischer Wellen – lässt sich grob in zwei Kate-
Kunstwort, das sich aus den Begriffen „Telekommu- gorien aufteilen:
13 nikation“ und „Informatik“ zusammensetzt. a) Rundfunk (Broadcast)-basierte Technologien:
Der Begriff Telematik wird in verschiedenen Diese Technologien ermöglichen die Übertra-
14 Fachgebieten verwandt (z. B. Medizintelematik oder gung von Informationen an eine Vielzahl von
Gebäudetelematik) und ist daher nicht eindeutig Empfängern, wobei die Kommunikation unidi-
55 definiert. Telematiksysteme in der Verkehrstelema- rektional, nicht individuell über große Verbrei-

16 -
tik umfassen in der Regel folgende Elemente:
einen stationären Dienste-Server mit einer
Telekommunikations- oder Broadcast-Einrich-
tung zur Verarbeitung und Übertragung von
tungsgebiete erfolgt;
b) Mobilfunk-basierte Technologien: Diese Tech-
nologien ermöglichen die gezielte Übertragung
von Informationen an einen einzelnen oder
17
- Daten;
ein (mobiles) Endgerät mit Telekommunikati-
wenige Empfänger; die Kommunikation kann
dabei bidirektional erfolgen, ist individuell und
18
19
- onseinrichtung zum Empfang von Daten;
einen lokalen Rechner im Endgerät, der auf
Basis der Daten des stationären Dienste-Ser-
vers dem Nutzer Funktionen anbietet oder
geschieht in der Regel über ein begrenztes Ver-
breitungsgebiet.

Neben dieser Einteilung in Kategorien und der


Daten an den stationären Server überträgt, damit verbundenen Eignung für bestimmte Tele-
20 damit dieser Dienste anbieten kann. matikdienste, unterscheiden sich die Technologien
weiterhin in der Übertragungsrate in Abhängigkeit
55.7 • Verkehrstelematik
1067 55

.. Tab. 55.2  Analoge und digitale Rundfunkübertragungstechnologien

Analog Digital

Europa USA Korea/China

UKW (87–108 MHz) DAB HD-Radio DMB

MW (530–1710 kHz) DRM (Digital Radio Mondial) HD-Radio DRM

LW (148–284 kHz) DRM DRM

KW (3–30 MHz) DRM DRM

TV terrestrisch DVB-T

Satellit SDARS

der Geschwindigkeit. Telematikdienste für das Kfz fahren der digitalen Signalverarbeitung kann so eine
benötigen geschwindigkeitsrobuste (> 150 km/h) Richtantennencharakteristik über zwei Antennen
Übertragungstechnologien (siehe . Abb. 55.16). ausgebildet werden.
Digitale Übertragungsverfahren (z. B. DAB –
Digital Audio Broadcasting) wurden entwickelt,
55.7.1 Rundfunk-basierte um die Störungen des Empfangs durch Umwelt-
Technologien einflüsse (Mehrwegeausbreitungen etc.) zu mini-
mieren, bei gleichzeitiger Erhöhung der Datenrate.
Rundfunk-basierte Technologien lassen sich in ana- Die Übertragung kann über stationäre terrestrische
loge und digitale Übertragungsverfahren einteilen: Sender (z. B. DAB) oder über Satelliten erfolgen
Analoge Übertragungsverfahren (z. B. FM) er- (z. B. SDARS – Satellite Digital Audio Radio Sys-
möglichen neben der Übertragung des Radiopro- tem).
gramms und damit der Übertragung von gespro- Die signifikante Erhöhung der Datenrate auf bis
chenen (Verkehrs-)Informationen die Übertragung zu 1,5 Mbit/s bei DAB ermöglicht damit die Über-
von Daten in einem sehr schmalbandigen Kanal. tragung und Anzeige von komplexen Daten und
Diese Daten enthalten zum Beispiel Radiotext zur Bildern in einem Telematiksystem. In . Tab. 55.2
Anzeige im HMI des Radionavigationssystems oder ist eine Übersicht über analoge Rundfunkübertra-
RDS-TMC-Daten für die dynamische Navigation gungsverfahren und die weiterentwickelten digita-
(siehe ▶ Abschn. 55.2.7 Dynamisierung). Obwohl len Übertragungsverfahren dargestellt.
die analoge Empfangstechnologie auch bei hohen Die Verteilung von Informationen über Broad-
Geschwindigkeiten genutzt werden kann, ist sie cast-Technologien ist im Vergleich zum Mobilfunk
störanfällig: Es kann zu Mehrwegausbreitungen eine günstige Methode, um Informationen, die für
durch Reflektion an Gebäuden und Bergen kom- viele Personen interessant sind, zu verbreiten. Neue
men, Abschattungen in der Ausbreitungsrichtung Dienste, die über digitale Übertragungsverfahren
können den Empfang stören, der Doppler-Effekt bereitgestellt werden, werden daher die Bedeutung
verringert die Signalqualität. Um die Empfangssi- im Kfz weiter erhöhen, neben der steigenden Be-
tuation zu verbessern, werden Mehrfachtuner-Kon- deutung des Mobilfunks. Diese Dienste übertragen
zepte oder digitale Tuner-Konzepte (nicht zu ver- bereits heute Daten, die für viele Kunden von Inter-
wechseln mit digitalen Übertragungsverfahren) esse sind, wie zum Beispiel Wetterdienste und Ver-
eingesetzt. Digitale Tuner-Konzepte verfolgen als kehrslagedienste über Satellitenrundfunk (SDARS)
Strategie eine möglichst frühe Digitalisierung des in Nordamerika. Digitaler Rundfunk kann jedoch
analogen Empfangssignals (z. B. Digitalisieren des nicht kundenindividuell und fahrzeugindividu-
Signals nach Heruntermischen auf die Zwischen- ell sein, dazu bedarf es der mobilfunkbasierten
frequenz). Mittels moderner mathematischer Ver- Dienste.
1068 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

55.7.2 Mobilfunk-basierte nerhalb des GSM Standards sind mehrere logische


1 Technologien Kanäle zur Übertragung von (Sprach-)Daten und
von Signalisierungsdaten definiert. SMS werden
2 In Europa ist Mobilfunk nach dem GSM-Standard dabei über den Signalisierungskanal übertragen
(Global System for Mobile Communications) ver- und ermöglichen somit die gleichzeitige Übertra-
breitet: GSM weist eine zelluläre Netzstruktur mit gung von Sprachdaten und SMS. Dies ist für einige
3 terrestrischen Basisstationen auf, die je nach Um- Telematikdienste von Bedeutung, da gleichzeitig ein
gebungssituationen einen unterschiedlichen Zell- Gespräch aufgebaut und Daten übertragen werden
4 radius aufweisen. Der maximale Zellradius kann können – z. B. bei einem Notruf bei gleichzeitiger
dabei 35 km betragen. Übertragung von Positionsdaten über SMS. Eine
5 Auf dem Physical Layer wird für GSM eine SMS besteht dabei aus einem Header und dem In-
FDMA/TDMA-Kombination verwandt. Zwei Fre- halt der Nachricht; dieser ist auf 1120 Bit begrenzt
quenzbänder mit 45 MHz Bandabstand sind für (160 Zeichen bei Textnachrichten). Eine Verknüp-
6 den GSM-Betrieb reserviert: 890 MHz-915 MHz als fung von bis zu 255 Kurzmitteilungen ist möglich.
Uplink und 935 MHz–960 MHz als Downlink. Jedes Die SMS wird nicht direkt von einem Endgerät zum
7 dieser Bänder von 25 MHz Breite ist in 124 einzelne anderen Endgerät gesandt; die Übertragung erfolgt
Kanäle mit 200 kHz Abständen unterteilt; die Fre- an ein SMS-Service-Center, so dass die Nachricht
quenzkanäle sind eindeutig nummeriert und je- auch zwischengespeichert werden kann.
8 weils ein Paar gleicher Nummern aus dem Up- und SMS ermöglichen Push-Dienste für Telema-
Downlink bildet einen Duplexkanal mit 45 MHz tikanwendungen: Damit können aktiv von außen
9 Duplexabstand. Jeder dieser Kanäle (200  kHz) Informationen exklusiv ohne Anforderung in ein
wird in 8 TDMA-Kanäle (8 Zeitschlitze) eingeteilt. Endgerät übertragen werden, wenn die Rufnummer
10 Die Uplink-Kanäle werden mit drei Zeitschlitzen bekannt ist (zum Beispiel Werbung).
Verzögerung gegenüber dem Downlink gesendet. General Packet Radio Service (GPRS) ermög-
Eine Mobilstation verwendet im Uplink und im licht eine paketorientierte Datenübertragung: Die
11 Downlink jeweils den Zeitschlitz mit der gleichen Daten werden vom Sender in einzelne Pakete zu-
Nummer, so dass nicht gleichzeitig gesendet und sammengefasst, übertragen und beim Empfänger
12 empfangen werden muss. Es können kostengüns- wieder zusammengesetzt. Die GPRS-Technik er-
tige Endgeräte angeboten werden, weil hierfür keine möglicht in der Praxis eine Datenrate von bis zu
Duplex-Einheiten notwendig sind. 53,6 kBit/s. Ein Vorteil liegt darin, dass eine virtu-
13 Im Folgenden sind einige Technologien zur Mo- elle Verbindung aufgebaut wird, die nur bei einer
bilfunk-basierten Datenübertragung erläutert: Datenübertragung belegt ist. Die Abrechnung der
14 Circuit Switched Data (CSD) bezeichnet das Daten erfolgt damit volumenabhängig und nicht
Übertragungsverfahren, bei dem eine Datenver- zeitabhängig, wie bei zum Beispiel bei CSD.
55 bindung vom mobilen Endgerät zu einer Gegen- Das Wireless Application Protocol (WAP) ist
stelle (z. B. Server) aufgebaut wird. Die Verbindung ein Protokoll, um Internetinhalte für langsame
ist technisch vergleichbar einer Sprachverbindung; Übertragungsraten und längere Antwortzeiten im
16 die Übertragung von Nutzdaten kann mit 9,6 kbit/s Mobilfunk verfügbar zu machen: Die Kommunika-
erfolgen. tion verwendet dabei das Internet-HTTP-Protokoll.
17 High Speed Circuit Switched Data (HSCSD) ist Die in ▶ Abschn. 55.3 vorgestellte Offboard-Navi-
eine Erweiterung von CSD. Zur Bereitstellung einer gation bedient sich zur Übertragung der Navigati-
höheren Bandbreite werden mehrere Zeitschlitze onsdaten des WAP-Protokolls; mit WAP sind Push-
18 zusammengefasst, was zu einer Nutzdatenrate von Dienste möglich.
38,6 kbit/s führt. Universal Mobile Telecommunications Sys-
19 Sowohl bei CSD als auch bei HSCSD sind die tem (UMTS) bezeichnet einen Mobilfunkstandard
genutzten Zeitschlitze permanent für Sprachdaten der dritten Generation. Mit UMTS werden Daten-
20 nicht nutzbar; alternativ erfolgt die Übertragung raten von 384 kBit/s (außerorts bei 500 km/h) bis
der Daten per SMS (Short Message Service). In- zu 2 MBit/s (innerorts bei 10 km/h) erreicht. Mit
55.7 • Verkehrstelematik
1069 55

UMTS werden Telematikdienste ermöglicht, die werden; Dienste dieser Art werden im C2I (Car to Inf-
eine hohe Datenrate benötigen (z. B. Übertragung rastructure)-Kontext genutzt (siehe ▶ Abschn. 55.7.4).
von Videodaten).
Durch die derzeit erfolgende Einführung des
Mobilfunkstandards „Long Term Evolution“ (LTE) 55.7.3 Telematik – Basisdienste
der vierten Generation wird die Leistungsfähigkeit
der mobilen Kommunikation weiter steigen. Dabei Neben der Einteilung von Telematikdiensten in die
werden sowohl die Datenraten steigen (bis in den Art der verwandten Kommunikationstechnik kann
Bereich > 100MBit/s im Downlink) als auch die La- eine Einteilung in die Art der Nutzung vorgenom-
tenzzeiten für übertragene Informationen sinken men werden (siehe . Abb. 55.17). Eine Unterschei-
(im Bereich 5–100 Millisekunden). Das Sinken der dung zwischen personenbezogenen Diensten und
Latenzzeiten macht den LTE-Standard sehr attraktiv fahrzeugbezogenen Diensten ist hierbei sinnvoll.
für Telematikfunktionen, die von kurzen Übertra- Im Folgenden werden Beispiele für Basistelematik-
gungszeiten abhängen – z. B. bestimmte Warnfunk- dienste gegeben.
tionen, die auf der Datenübertragung von einem Kommunikation: Über einen Voice Call, eine
Fahrzeug zu anderen Fahrzeugen basieren. SMS oder über E-Mail werden Informationen mit
Bluetooth (BT) ist ein Industriestandard zur einem Call-Center oder einem Server automatisiert
drahtlosen Übertragung von Daten und Sprache: Die ausgetauscht. Diese Informationen können kunde-
Übertragung erfolgt im 2,4 GHz ISM-Band und ver- nindividuell gestaltet werden.
fügt über eine Reichweite von 10 m bis zu maximal Sicherheit: Ein Notruf (Emergency Call, eCall)
100 m. Bluetooth ist für den quasi stationären Betrieb kann manuell oder automatisch nach Auslösen z. B.
geeignet; die Datenrate beträgt 723 kbit/s. BT-Mo- der Airbags aufgesetzt werden. Dieser Notruf kann
dule haben eine kleine Bauform, sind im Vergleich an ein Service-Center oder direkt an eine Rettungs-
zu anderen Mobilfunkmodulen kostengünstig und leitstelle erfolgen. Typischerweise werden zeitgleich
weisen einen niedrigen Stromverbrauch auf. BT bie- zum Notruf die Standortdaten – über GPS ermittelt
tet eine Reihe von Profilen an, von denen einige gut – zum Beispiel mittels SMS übersandt, um Hilfs-
in der Kfz-Umgebung genutzt werden können. Bei- maßnahmen einzuleiten. Im Rahmen einer euro-
spiele hierfür sind das Handsfree Profile (HFP) zur päischen Initiative zur Senkung der Verletzten und
Nutzung einer im Radionavigationsgerät verbauten Toten im Straßenverkehr wird der Aufbau eines eu-
Freisprecheinrichtung über ein externes Mobiltele- ropaweiten eCall-Systems geplant. Hierzu müssen
fon. Damit kann ein kostengünstiges BT-Modul im entsprechend Kommunikationseinrichtungen in
Navigationsgerät verwandt werden, um das kosten- allen Fahrzeugen vorgehalten, Standardisierungen
intensivere GSM-Modul im Mobiltelefon zu nutzen. eingeführt (z. B. eine in Europa einheitliche Not-
Ein weiteres Beispiel stellt das Phonebook Access rufnummer) und eine Dienste-Infrastruktur (Ret-
Profile (PBAP) dar – zum Austausch von Telefon- tungssystem) aufgebaut werden.
büchern zwischen dem Radionavigationsgerät und Ein Pannenruf (Breakdown Call) kann nach
dem Mobiltelefon. manueller Auslösung durch den Fahrer abgesetzt
BT bietet die Chance, CE-Geräte in das Kfz ein- werden. Zusätzlich zu einer Sprachverbindung
zubringen (siehe auch ▶ Abschn. 55.9). können die Standort- und Diagnosedaten des Kfz
Eine weitere Möglichkeit, im quasi stationären übermittelt werden. Die Diagnosedaten können
Betrieb Daten auszutauschen, ist über das Wireless automatisch – oder vom Benutzer veranlasst –
Local Area Network (WLAN) gegeben: Ähnlich BT über das Fahrzeugnetzwerk abgefragt werden. Im
erfolgt die Übertragung – je nach verwandtem Stan- Service-Center kann mit diesen Daten eine Ent-
dard – bei 2,4 GHz oder 5,4 GHz. Bei den etablierten scheidung getroffen werden: ob eine Reparatur des
Standards beträgt die Übertragungsrate 54 Mbit/s; die Fahrzeugs möglich ist oder ob das Fahrzeug abge-
Reichweite ist ähnlich begrenzt wie bei BT – auf 100 m schleppt werden muss. Weiterhin können auf Basis
bis maximal 300 m. Damit kann WLAN zum Daten- dieser Daten bereits eine Warenbestellung von Er-
austausch an dedizierten Zugangspunkten genutzt satzteilen und eine Arbeitsplanung erfolgen.
1070 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

.. Abb. 55.17 Katego-
1 risierung von Telematik-
diensten

2
3
4
5
6
7
8
9 Im Unterschied zum Pannenruf wird eine duell –per Anfrage – versandt werden, was zum Bei-
Ferndiagnose (Offboard Diagnosis) – unabhängig spiel in einer Ausprägung der Offboard-Navigation
10 von einem Fehlerfall – vom Benutzer oder vom realisiert werden kann. Hier erfolgt in regelmäßigen
Service-Center ausgelöst. In prädiktiven Systemen Abständen eine Abfrage an den externen Naviga-
kann ermittelt werden, welche Laufleistung be- tionsserver, um zu ermitteln, ob auf der aktuellen
11 stimmte Bauteile aufweisen und ob ggf. Reparatur- Zielführung eine Verkehrsbehinderung vorhanden
maßnahmen einzuleiten sind. ist. Dabei wird ein Fingerprint der Route an den
12 Zielführung: Die entsprechenden Dienste Off- Server zum Abgleich versandt, um die zu übertra-
board-Navigation und hybride Navigation sind in genden Datenmengen möglichst gering zu halten.
▶ Abschn. 55.3 und ▶ Abschn. 55.4 beschrieben. Allgemeine Informationen können über das
13 Komfortfunktionen: Diese Dienste ermögli- Internet abgerufen werden, wobei auch der Down-
chen die Fernsteuerung von im Fahrzeug befindli- load von Entertainment-Inhalten möglich ist – wie
14 chen Komponenten – wie zum Beispiel Tür Öffnen zum Beispiel Musikdateien. Softwaredownload von
oder Standheizung Einschalten. Sie sind zum Teil Steuergeräte-SW wird trotz vorhandener Techniken
55 sicherheitsrelevant und werden daher nur mit Ein- heutzutage in der Regel nicht im OEM-Geschäft an-
schränkungen von OEM-Herstellern angeboten. geboten, da insbesondere bei sicherheitsrelevanten
Weitere Möglichkeiten für Komfortfunktionen sind Bauteilen die Risiken schwerer wiegen als die mög-
16 die Führung eines Fahrtenbuchs über einen exter- lichen Vorteile.
nen Server: Dabei meldet der Nutzer den Beginn
17 und das Ende einer Fahrt am Server an; zusätzlich
werden weitere Daten wie zum Beispiel der Kraft- 55.7.4 Car-to-Car-Kommunikation,
stoffverbrauch dokumentiert. Car-to-Infrastructure-
18 Verkehrsinformationen werden in der Regel Kommunikation
Rundfunk-basiert (Broadcast) übertragen und sind
19 für viele Nutzer zugänglich. Über diese Informa- Neben der Kommunikation des Fahrzeugs über
tionen kann eine Dynamisierung von Navigation Rundfunk- oder Mobilfunk-basierte Technologien
20 und Zielführung erfolgen (siehe ▶ Abschn. 55.2.7  ist ein steigender Bedarf an bidirektionaler Kommu-
TMC). Verkehrsinformationen können auch indivi- nikation mit anderen Fahrzeugen zu verzeichnen.
55.7 • Verkehrstelematik
1071 55

Dabei wird unterschieden zwischen der Kommuni-


kation unter Fahrzeugen – Car to Car (C2C) – und
der Kommunikation des Fahrzeugs mit Infrastruk-
- Es müssen geeignete Routing- und For-
ward-Strategien implementiert werden, um
Informationen zielgerichtet an die Empfänger
tur-Komponenten – Car to Infrastructure (C2I). weiterleiten zu können. Eine Stauinformation
Diese Szenarien ermöglichen weitere Telematik- kann zum Beispiel nur für Fahrzeuge auf einer
dienste [15] (s. auch ▶ Kap. 28). Autobahn relevant sein, während für Fahr-
Bei allen Szenarien ist eine Mischung bzw. Er- zeuge auf der daneben verlaufenden Bundes-
gänzung von C2C und C2I möglich. An besonderen
Gefahrenpunkten können lokale Daten an einzelne
Fahrzeuge übertragen werden (C2I), die dann über
eine Kette von Fahrzeugen (C2C) weiterkommuni-
- straße diese Information unwichtig ist.
Ein Standard muss etabliert werden, der es er-
laubt, dass Fahrzeuge verschiedener Hersteller
und verschiedener Produkt- und Fahrzeug-
ziert werden. Um Dienste für C2C und C2I für den generationen miteinander kommunizieren
automotiven Massenmarkt zur Verfügung stellen zu können.
können, müssen verschiedene Herausforderungen
gelöst werden. Ein möglicher Standard für die Fahrzeugkommu-
Ein verlässliches Kommunikationssystem, das nikation ist der Standard IEEE 802.11p/IEEE 1609,
möglichst kostenlos verfügbar sein sollte, ist ge- der zurzeit in der Entwicklung befindlich ist; dieser
fordert. Dazu müssen die Anforderungen auf die Substandard ist eine Weiterentwicklung des WLAN
einzelnen Schichten des OSI-Schichtenmodells he- Standards IEEE 802.11. Um den Herausforderungen

-
runtergebrochen werden:
Für die Kommunikation vom Fahrzeug nach
hinten und vorne soll die Reichweite ca.
1000 m betragen; die Reichweite zu den jewei-
der C2C und C2I gerecht zu werden, arbeitet dieser
in einem dedizierten Frequenzbereich und ist für
die Datenkommunikation mit Geschwindigkeiten
bis zu 200 km/h konzipiert.

- ligen Seiten wird mit ca. 250 m veranschlagt.


Die Anzahl der beteiligten Teilnehmer im Netz
unterliegt erheblichen Schwankungen (zum
Beispiel im Vergleich Landstraße/innerstädti-
55.7.5 Mautsysteme

scher Verkehr). Um Kollisionen auf einzelnen Bei der Realisierung von einfachen Mautsystemen
Übertragungskanälen bei maximaler Sen- werden die Mautgebühren entweder an Zahlstel-
deleistung zu vermeiden, muss die Sendeleis- len im mautpflichtigen Bereich erhoben oder über

- tung je nach Situation skaliert werden können.


Fahrzeuge können sich mit hohen Eigen-
geschwindigkeiten und damit mit hohen
Relativgeschwindigkeiten zueinander bewegen;
eine Vignette abgerechnet, die eine Nutzung eines
begrenzten Gebietes – in der Regel beschränkt auf
ein oder mehrere Länder – für einen beschränkten
Zeitraum erlaubt. Diese Umsetzungen ermöglichen
der damit verbundene Dopplereffekt muss keine individuelle zeit- und ortsgenaue Abrech-

- ausgeglichen werden.
Insbesondere im innerstädtischen Verkehr
sind Effekte wie Abschattung und Reflexion
bzw. Mehrwegeausbreitung – durch Gebäude
nung. Weitere Nachteile dieser Umsetzungen sind
– in Abhängigkeit der konkreten Lösung – die Un-
terbrechung des Verkehrsflusses und die aufwendige
flächendeckende Überwachung.

- bedingt – zu beachten.
Für sicherheitsrelevante Anwendungen muss
sichergestellt werden, dass die Verbindung
unterbrechungsfrei und störsicher ist. Wei-
Ein komplexes Mautsystem wurde mit dem
ETC-System (Electronic Toll Collection) in
Deutschland eingeführt: Bei diesem System wird
die Höhe der Maut nach dem Verursacherprinzip
terhin müssen sicherheitsrelevante Daten mit auf Autobahnen für Lastkraftwagen ohne Unterbre-
minimaler Verzögerungszeit (Priorisierung) chung des Verkehrsflusses erhoben.
gesendet werden können, so dass diese in Die wesentlichen Teile dieses System sind das
jedem Fall Vorrang vor Daten aus Entertain- duale Mauterhebungssystem, das Kontrollsystem
mentanwendungen erhalten. und die Zentrale zur Steuerung der Prozessabläufe.
1072 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

Das duale Mauterhebungssystem bietet dem Au- 55.7.6 Moderne Verkehrssteuerung


1 tobahnnutzer die Möglichkeit, am automatischen
Erhebungssystem oder am manuellen Einbuchungs- Moderne Verkehrsleitsysteme erfassen Verkehrsda-
2 system teilzunehmen. ten flächendeckend und aktuell, um daraus für die
Bei der automatischen Erhebung wird der Verkehrsteilnehmer Hinweise zu erzeugen und
Mautbetrag durch einen bordautonomen Compu- weiterhin Prognosen über die Entwicklung der Ver-
3 ter (On Board Unit – OBU mit DSRC-Modul und kehrslage abzuleiten. Mit diesen Prognosen können
Kombiantenne GSM/GPS) in Verbindung mit GPS Verkehrsströme gezielt beeinflusst werden.
4 ermittelt und an die zentrale Abrechnungsstelle Ein Beispiel für die gelungene Einführung einer
mittels Mobilfunk weitergeleitet. Dazu werden an modernen Verkehrssteuerung ist das System VICS
5 der OBU vom Fahrer fahrzeugspezifische Angaben (Vehicle Information and Communication System)
erfasst (Achsen, Gewicht, …), um das Fahrzeug für in Japan. VICS wurde seit 1996 – ausgehend von
das automatische System zu aktivieren. Die OBU den Großräumen Tokio und Osaka von der öffent-
6 erkennt mittels des GPS und des hinterlegten Au- lichen Hand bis 2003 flächendeckend in ganz Japan
tobahnnetzes selbstständig, welche mautpflichtigen eingeführt [17]. Die Erfassung der Daten erfolgt
7 Streckenabschnitte auf einer Autobahn zurückge- über die Polizei und die Straßenverwaltung. Über
legt werden. Über diese Streckendaten sowie die das „Japan Road Traffic Information Center“ wer-
vorprogrammierten Tarif- und Fahrzeugdaten den diese Daten an das VICS-Center weitergege-
8 wird der Betrag der zu zahlenden Maut gespeichert ben, das den Fahrer in Echtzeit über die aktuelle
und über das integrierte GSM-Modul an die zen- Verkehrssituation in textueller und graphischer
9 trale Mauterhebungsstelle gesendet. Das manuelle Form informiert – sofern ein entsprechendes Navi-
Erhebungssystem ist für gelegentliche Autobahn- gationsgerät im Fahrzeug installiert ist. Die Aufbe-
10 nutzer gedacht: Diese haben die Möglichkeit, eine reitung in graphischer Form erfolgt derart, dass in
Einbuchung über das Internet oder an stationären Übersichts- und Detailkarten im Navigationsgerät
Zahlstellen an Rastplätzen und Tankstellen vorzu- der Verkehrsfluss auf den einzelnen Straßen farbig
11 nehmen. Um Nicht- oder Falschzahler zu erfassen, klassifiziert wird (rot, gelb, grün) und somit dem
erfolgt eine Kontrolle der entrichteten Mautgebüh- Fahrer eine Einschätzung der Verkehrssituation
12 ren: Diese kann über eine automatische Kontrolle erlaubt. Es werden Informationen zu Verkehrsbe-
durch Kontrollbrücken, durch stationäre Kontrollen hinderungen, zur voraussichtlichen Fahrzeit, über
zum Beispiel an Autobahnparkplätzen oder durch Unfälle und Baustellen, über Geschwindigkeitsbe-
13 mobile Kontrollfahrzeuge im Vorbeifahren erfolgen. schränkungen und gesperrte Fahrbahnen sowie
Die automatisierten Kontrollbrücken überspannen über die Verfügbarkeit von Parkplätzen gesendet.
14 die gesamte Fahrbahn und sind mit Erkennungs- Zur Verteilung der Information werden drei Kom-

55
technik für jede Fahrbahn ausgestattet. Die Annähe-
rung von Fahrzeugen wird von den Brücken mit La-
serabstandssensoren erfasst, so dass die Fahrzeuge
einzelnen Fahrbahnen zugeordnet werden kön-
-
munikationswege genutzt:
Ausstrahlung über FM-Rundfunk flächen-
deckend bis zu einer Reichweite von 50 km
bzgl. aller zuvor erwähnten Informationen auf
16 nen. Anschließend erfassen Vermessungssensoren überregionaler Ebene (Verkehrsgeschehen im
mit 3D-Laserabstandsscannern das Fahrzeug zur Umgebungsradius von 100 km). Die Sendung
17
18
Klassifikation und ermitteln, ob eine Mautpflicht
vorliegt. CCD-Kameras mit LED-Blitz erstellen
ein Übersichtsbild vom Fahrzeug und erfassen das
Fahrzeugkennzeichen, das automatisch erkannt und
- übernehmen dabei die lokalen Radiosender.
Nutzung von Infrarot-Baken an Hauptstraßen.
Diese haben eine typische Reichweite von
3,5 m und senden Informationen über das
ausgewertet wird. Die ermittelten Daten werden mit Verkehrsgeschehen im Umgebungsradius von

-
19 ISDN/GSM-Technik an die zentrale Datenbank ca. 30 km.
kommuniziert, wo ein Abgleich der zuvor über die Mikrowellen-Baken mit einer Reichweite von
20 OBU oder die stationären Mautterminals übertra- ca. 70 m sind an autobahnähnlichen Straßen
genen Daten erfolgt [16]. installiert. Diese verteilen Informationen über
55.8  •  Smartphone-Anbindung im Automobil
1073 55

die Verkehrssituation auf den autobahnähnli- optimieren lassen. Somit werden sich Kfz-Hersteller
chen Straßen – vorausschauend bis zu 200 km. weiterhin schwer tun, CE-Technologien im Kfz voll
nutzbar zu machen (siehe ▶ Abschn. 55.9.2).
Standardisierte Schnittstellen werden helfen,
55.7.7 Zukünftige Entwicklung Telematik-Funktionen in das Kfz zu integrieren,
von Telematikdiensten werfen aber wiederum andere Probleme auf (z. B.
leichten/unkontrollierten Zugang für Wettbewer-
Telematikdienste im Kfz zeichnen sich meist durch berprodukte). Dabei werden Telematik-Funktionen
eine lange Wertschöpfungskette (Content Provider, nicht die heutigen „Onboard-Funktionen“ ersetzen,
Service Provider, Network Provider, Endgeräteher- sondern diese ergänzen. Ein wesentliches Element
steller) aus, die beherrscht werden muss, um qua- für den OEM – in Verbindung mit der Telematik –
litativ hochwertige Dienste anbieten zu können. wird das Customer Relationship Management sein.
Weiterhin birgt die lange „Wertschöpfungskette“ Neue Technologien (LTE, JAVA,  …) werden die
mit vielen Teilnehmern, die „mitverdienen wol- Umsetzung von Telematik-Funktionen erleichtern.
len“, die Gefahr zu hoher Endkundenpreise. Die Dienste mit hohem Kundennutzen unter Berücksich-
Teilnehmer der Wertschöpfungskette kommen aus tigung von Komfort, Sicherheit und Kosten sind für
der Automotive- und der CE-Welt mit unterschied- den Geschäftserfolg erforderlich. Die Telematik wird
lichen Interessen und Geschäftsmodellen, die alle sich dabei vermutlich nicht als vom Kunden bezahl-
integriert werden müssen. Daher ist in der Regel ter Mehrwertdienst durchsetzen, sondern durch den
ein großes Engagement des Kfz-Herstellers nötig, weiteren Ausbau von vorhandenen Verbreitungsme-
um ein qualitativ hochwertiges „Kfz-Diensteportal“ dien (z. B. SDARS) und erweiterter Navigationstech-
aufzubauen und anzubieten. nik (Hybride Navigation). Für die Durchdringung
Im Gegensatz hierzu zeigt der Nutzer nur eine neuer Techniken und Telematikdienste müssen rea-
beschränkte Ausgabebereitschaft für Dienstleis- listische Zeitstrecken zugrunde gelegt werden.
tungen im Kfz. Eine wesentliche Funktion, für die
Ausgabebereitschaft besteht, ist die mobile Kom-
munikation – Telefonieren mit Freisprechanlage; 55.8 Smartphone-Anbindung
diese Funktion reicht in der Regel nicht zur Kos- im Automobil
tendeckung eines Telematik-Moduls aus. Auch für
Zusatzdienste mit unmittelbarem Kundennutzen Unter der Smartphone-Integration im Automobil
wie „Notruf “, „Offboard-Navigation“ besteht nur versteht man die kabelgebundene oder kabellose
geringe Ausgabebereitschaft. Dienste wie „Ferndia- Anbindung eines Smartphones an das Infotain-
gnose“ schaffen keinen unmittelbaren Kundennut- ment-System eines Automobils. Dieses System er-
zen, sondern indirekten Nutzen oder bieten Chan- möglicht dem Benutzer die Interaktion mit dem
cen zum „Customer Relationship Management“. Smartphone z. B. durch Anzeige des Smartpho-
Auch technische Einschränkungen führen zur ne-Bildschirms auf dem Borddisplay und der Be-
Dämpfung der Einführungsgeschwindigkeit telema- dienung durch Steuerungstasten über beispielsweise
tikbasierter Geräte und Funktionen im Kfz. Geringe die Head-Unit oder die Lenkradfernbedienung.
Datenübertragungsgeschwindigkeit und die langen
Kommunikationsaufbauzeiten bei GSM begrenzen
die Gerätereaktionsgeschwindigkeit. Funkeinbrü- 55.8.1 Motivation der Smartphone-
che und Störungen in der Flächendeckung können Integration im Automobil
zu Funktionseinschränkungen führen und damit zur
Unzufriedenheit des Endkunden. „Fernsteuerfunkti- Die Prognose zum Absatz von Smartphones welt-
onen (Remote Control)“ sind im vernetzten Kfz-Um- weit zeigt einen deutlich ansteigenden Trend: Wur-
feld sicherheitskritisch und bis heute nicht befriedi- den 2010 noch etwa 300 Millionen Smartphones ab-
gend gelöst. Die Technologien der „CE-Welt“ werden gesetzt, wird für das Jahr 2016 ein Absatz von rund
sich nicht auf die Bedürfnisse der Kfz-Technologie 1,4 Milliarden Smartphones prognostiziert. Dieses
1074 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

Wachstum ist mit einer stark ansteigenden Zahl von so die Hauptbenutzerschnittstelle bereitgestellt, um
1 Applikationen verbunden, die auf den Smartphones verschiedene Hardware-Komponenten steuern zu
zu jeder Zeit an jedem Ort ausgeführt werden kön- können, wie zum Beispiel ein Radio.
2 nen. Doch laut Paragraph 23 der deutschen Stra-
ßenverkehrsordnung darf im Auto ein Smartphone 55.8.4.1 Marktlösungen Docking-
vom Fahrer während der Fahrt nicht bedient wer- basierter Integration
3 den: In Deutschland darf ein Mobiltelefon während Das Konzept Docking-basierter Integration ging mit
der Fahrt nicht verwendet werden, wenn es dafür der stetig wachsenden Popularität des Apple iPho-
4 aufgenommen oder gehalten werden muss. Einge- neTM einher: Die meisten derzeit verfügbaren Do-
schränkt ist deshalb also auch die Mobiltelefonbe- cking-Lösungen wurden daher nur für iPhone kon-
5 nutzung als Navigationshilfe während der Fahrt; zipiert. Aufgrund der wachsenden Beliebtheit von
mögliche Alternativen sind die Verwendung einer Smartphones mit dem Betriebssystem Android von
Halterung für das Smartphone oder die Steuerung Google sind die Hersteller mit neuen Herausforde-
6 über eine Sprachbedienung. rungen konfrontiert, universelle Docking-Lösungen
Es sind somit Lösungen anzustreben, wie zu entwerfen, die mit Smartphones verschiedener
7 Smartphones in ein Automobil integriert werden Hersteller und Betriebssystemen kompatibel sind.
können, damit der Benutzer während der Fahrt auf
sein Smartphone zugreifen kann – ohne gegen gel- 55.8.4.2 Vor- und Nachteile Docking-
8 tende Gesetzgebung zu verstoßen bzw. die Sicher- basierter Integration
heit während der Fahrt zu mindern [18]. Die Vorteile Docking-basierter Integration sind vor
9 allem die geringen Kosten der Docks und die Mög-
lichkeit, sich schnell an den Markt neuer Smartpho-
55.8.2 Möglichkeiten
10 der Smartphone-Integration
nes anzupassen. Außerdem ist für den Einsatz von
Docking-Lösungen die Entwicklung von Apps un-
vermeidbar, was den optimalen Einsatz des Smart-
11 55.8.2.1 Docking-basierte Integration phones und deren Kompatibilität gewährleistet.
Die Docking-basierte Smartphone-Integration kann Ein großer Nachteil für Docking-Lösungen sind
12 zu den einfachsten Möglichkeiten gezählt werden. die gesetzlichen Bestimmungen einiger Länder, die
Es werden zwei verschiedene Ansätze unterschieden den Einsatz teilweise einschränken oder ganz ver-
[18]. bieten. Darüber hinaus ist der standardgemäße Ein-
13 bau von Displays in immer mehr Neufahrzeuge eine
Bedrohung für Docking-Lösungen, die damit auf
14 55.8.3 Semi-integrierter Ansatz Dauer überflüssig werden könnten. Vollintegrierte
Lösungen haben vor allem den Nachteil, auf Dauer
55 Dock- und Head-Unit sind so konzipiert, dass sie kompatibel mit immer neuen Smartphone-Genera-
unabhängig voneinander arbeiten können. Es wird tionen sein zu müssen.
auf Basisfunktionalitäten der Smartphone-Integra-
16 tion zurückgegriffen, die den Zugriff auf den Au- 55.8.4.3 Proxy-Lösungen
dio-Kanal des Smartphones ermöglichen, so dass Der Begriff „Proxy“ bezeichnet den Teil der Soft-
17 eine Ausgabe auf den im Automobil integrierten ware der Head-Unit, der mit den Apps auf dem
Lautsprechern erlaubt wird. Smartphone kommunizieren kann, die die Informa-
tionen in einem zur Head-Unit kompatiblen For-
18 mat bereitstellen. Die meisten derzeit verfügbaren
55.8.4 Vollintegrierter Ansatz Smartphone-Integrationslösungen auf dem Markt
19 benutzen diese Proxy-Lösung, die es ermöglicht, die
Bei dem vollintegrierten Ansatz ist die Head-Unit Smartphone-Apps direkt auf der Head-Unit ausfüh-
20 für den vollen Funktionsumfang auf das Smart- ren und auf dem Bildschirm des Infotainment-Sys-
phone angewiesen. Über die Smartphone-App wird tems anzeigen zu können.
55.9  •  Aspekte des Mobilfunks für Navigation und Telematik
1075 55
55.8.4.4 Herstellerspezifischer App- bedarf. Der Wartungsaufwand ist in diesen Fällen
Ansatz bei geringer Flexibilität recht hoch.
Ziel dieses Ansatzes ist die Erstellung einer Auto- Trotz der Nachteile entscheiden sich die Auto-
hersteller-spezifischen Smartphone-Anwendung, hersteller momentan eher für Proxy-Lösungen als
die es erlaubt, mit der Head-Unit des Autoherstel- für integrierte Lösungen, da diese mit Blick auf zu-
lers zu kommunizieren. Hintergrund dieses An- künftige Entwicklungen mehr Potenziale zur Um-
satzes ist, dass Anwendungen von Drittherstellern setzung bereithalten.
keinen direkten Zugang zum Infotainment-System
haben, da die Autohersteller den vollen Zugriff nur 55.8.4.5 Zukunft der Smartphone-
ausgewählten Vertragspartnern ermöglichen. Anbindung im Automobil
Es lassen sich insgesamt drei Variationen dieser Die Zukunft und die weitere Entwicklung der
herstellerspezifischen App-Implementierung unter- Smartphone-Integration hängt unter anderem da-
scheiden: von ab, welche Technologien zur Vernetzung des
a) Implementierung als „Meta App“. Die Head- Automobils mit dem Mobilfunknetz ausgebaut
Unit kommuniziert mit einer auf dem Smart- werden. Es können drei Technologien voneinander
phone installierten „Meta App“, die wiederum abgegrenzt werden [19]:
untergeordnete – in die Hauptapp eingebettete Eingebettete Lösungen: Die Verbindung zum
Apps – z. B. Internet-Radio, ansteuert. Mobilfunknetz sowie alle bereitgestellten Funktio-
b) Implementierung als „Gateway App“. Die Head- nalitäten werden durch im Automobil integrierte
Unit interagiert hier mit einer „Gateway App“, Systeme realisiert.
die mit anderen kompatiblen, hierarchisch Tethering-Lösungen: Damit mobilfunkabhän-
gleichgestellten und damit unabhängigen Apps gige Funktionalitäten genutzt werden können, ist
kommuniziert. die Verbindung mit einem Mobiltelefon notwendig,
c) Eine Kombination beider vorgestellter Variatio- das als Modem genutzt wird. Als Verbindungsarten
nen. Die Head-Unit tauscht hier Daten mit einer stehen Modem- und Hotspot/Access Point-Lösun-
„Meta App“ aus, die wiederum sowohl unterge- gen über Bluetooth und WiFi zur Verfügung.
ordnete als auch gleichgestellte kompatible Apps Integrierte Lösungen: Funktionalitäten des
ansteuern kann. Smartphones – vor allem Apps – werden in das Au-
tomobil integriert.
Ein Vorteil von Proxy-Methoden ist die nahtlose Keine dieser Lösungen ist als exklusive Lösung
Implementierung, die den Datenaustausch zwischen zu sehen. Die meisten Autohersteller entwickeln
dem Automobil und dem Smartphone ermöglicht: Strategien, bei denen mehrere dieser Verbindungs-
Beispielsweise wird auf diese Weise das Auslesen von lösungen für verschiedene Marktsegmente (z. B. ein-
Fahrzeugdaten ermöglicht. Dritthersteller können gebettete Lösungen für Modelle compact class und
mithilfe der von einigen Autoherstellern angebote- Tethering-Lösungen für Modelle der subcompact
nen APIs selbst kompatible Multi-Apps entwerfen. class) eingesetzt werden. Außerdem werden auch je
Zu den Nachteilen kann vor allem gezählt wer- nach Anwendung verschiedene Technologien einge-
den, dass es bisher keine generalisierte Lösung zur setzt. Für Aspekte der Sicherheit werden eingebettete
Integration einer App in Automobile verschiedener Lösungen bevorzugt, während für Infotainment-As-
Autohersteller gibt. Für die nötige Kompatibilität pekte integrierte Lösungen verwendet werden. [19]
ist daher oft eine Modifikation der App notwendig;
weiterhin muss in vielen Fällen die App außerdem
zur Darstellung der Benutzerschnittstelle sowohl auf 55.9 Aspekte des Mobilfunks
dem Smartphone als auch auf der Head-Unit des für Navigation und Telematik
Automobils installiert sein. Hinzu kommt, dass die
Benutzerschnittstelle auf die festgelegte Funktiona- Gegenüber anderen elektronischen Steuergeräten
lität limitiert ist und die Erweiterung des Interfaces im Kfz unterliegen Radionavigations- und Tele-
neuer Apps bzw. Software-Updates im Automobil matiksysteme ganz besonderen Randbedingungen;
1076 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

diese üben maßgeblichen Einfluss auf deren Ent- 55.9.1 Consumer-Elektronik (CE)
1 wicklung aus. Die Randbedingungen sind folgende: versus Automobil-Elektronik
Die Funktion eines Radionavigationssystems (AE)
2 wird dem Endkunden unmittelbar präsent: An-
ders als bei einem Bremsensteuergerät oder einem Insbesondere der Einsatz von Komponenten, die üb-
Motorsteuergerät, die ihre ebenfalls komplexe licherweise aus der Consumer-Elektronik bekannt
3 Funktionalität weitgehend unbemerkt vom Fah- sind, führt zu vielfältigen Herausforderungen an die
rer entfalten, besitzt ein Radionavigations- oder Entwicklung und automobilgerechte Zertifizierung
4 Telematiksystem eine komplexe Schnittstelle zum von Navigationssystemen. Der Zwang zum Einsatz
Fahrer. Über diese Schnittstelle nimmt der Fah- solcher Komponenten rührt einerseits daher, dass
5 rer die Funktionalität wahr und erlebt unmittel- Consumer-Elektronikgeräte Funktionen bieten, die
bar viele Geräteeigenschaften. So fällt ein träges der Fahrer auch im Fahrzeug erwartet. Als Beispiel
Start-up-Verhalten oder ein träges HMI mit auch sei das Abspielen von Ton- oder Datenträgern ge-
6 nur leicht verzögerten Rückmeldungen auf Bedien- nannt, die im Heimbereich benutzt werden (Musik
aktionen sofort negativ auf. von CD, MP3-Dateien von CD oder SD-Karte).
7 Hinzu kommt, dass ein Radionavigationssystem Andererseits stellt die Consumer-Elektronik auf-
durch seine präsente Darstellung im Mittelkonso- grund der dort gefertigten, riesigen Stückzahlen
lenbereich und seine Bedienelemente ein Design-re- Komponenten in einer Preisklasse zur Verfügung,
8 levantes Bauteil darstellt. Nicht selten stehen die wie sie bei einer Spezialanfertigung nur für den
Anforderungen an das Design und an eine einfache Fahrzeugbedarf nicht erreichbar wäre (Beispiele:
9 und sichere Bedienung im Widerspruch zueinander CD-Laufwerke für portable Geräte, Heimgeräte und
(Beispiel: Designanforderung verchromtes, glattes, PCs oder Festplatten für PCs und Videorekorder).
10 glänzendes Bedienteil; aber Funktionsanforderung Die Anforderungen und daraus erwachsenden
griffige, sicher zu bedienende Oberfläche). Herausforderungen sollen im Folgenden am Bei-
Nicht zuletzt übt die Entwicklung der Consu- spiel eines DVD-Laufwerks veranschaulicht wer-
11 mer-Elektronik (CE) einen großen Einfluss aus. den (s.  . Tab. 55.3). Für Navigationsgeräte wurden
Einerseits werden Funktionen aus Consumer-Elek- DVD-Laufwerke aufgrund ihrer Speicherkapazi-
12 tronik-Geräten auch im Fahrzeug in einem Radio- tät von ca. 7  GByte als Massendatenspeicher für
navigationssystem erwartet. Dies führt dazu, dass die digitale Karte eingesetzt. Derzeit werden diese
Komponenten aus der Consumer-Elektronik in das durch elektronische Medien wie SD-Karten ersetzt.
13 Fahrzeug übernommen werden müssen. Consu- Zusätzlich wird das Laufwerk in High-End-Ge-
mer-Elektronik-Geräte werden oft in deutlich hö- räten auch zum Abspielen von Video-DVDs ein-
14 herer Stückzahl gefertigt als im Fahrzeug verbaute gesetzt. Die folgende Tabelle zeigt anhand dieser
Geräte. Dies führt zu dem Druck, CE-Komponen- Beispielkomponente sowohl die Anforderungen
55 ten aus Kostengründen ohne oder mit nur geringer der Consumer-Elektronik (= Heimbereich und PC;
Modifikation zu übernehmen, obwohl diese nicht CE-Anforderung) als auch die Anforderungen der
vollständig den Anforderungen im Fahrzeugumfeld Fahrzeugwelt (AE-Anforderung).
16 genügen. Andererseits treten Consumer-Elektro-
nik-Geräte in direkte Konkurrenz zu im Fahrzeug
17 verbauten Geräten: Ein aktuelles Beispiel hierfür 55.9.2 Aufbau
stellen portable Navigationssysteme dar. Da die des Navigationssystems
Consumer-Elektronik kürzere Entwicklungszyklen
18 und andere Vertriebswege aufweist, entsteht ein Für den Aufbau eines Navigations- oder Telema-
hoher Innovationszwang und somit Neuigkeitsgrad tiksystems ist der geplante Verbau entscheidend. So
19 von Gerätegeneration zu Gerätegeneration – sowie existieren Systeme, die als Funktionskomponente
ein sehr starker Kostendruck. Eine Preisreduktion ohne eigene Bedienoberfläche – sozusagen als Kom-
20 von im Mittel über 10 % per anno bei steigendem ponente eines größeren Systemverbunds – eingesetzt
Funktionsumfang ist eine übliche Anforderung. werden. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte
55.9  •  Aspekte des Mobilfunks für Navigation und Telematik
1077 55

.. Tab. 55.3  Anforderungen aus dem CE- und AE-Umfeld an eine Komponente (exemplarisch am Beispiel eines
DVD-Laufwerks)

Parameter CE-Anforderung AE-Anforderung Praktische Kompromisslösung

Umgebungstem- 0 °C bis 60 °C −40 °C bis +95 °C Betriebstemperatur −20 °C bis +80 °C;
peratur Funktionseinschränkung außerhalb (Lauf-
werksabschaltung); Herausforderungen:
Schmierung Laufwerk, Schwingungsdämp-
fungselemente, Verzug in der Kunststoff-
linse – diese Elemente werden für das
Fahrzeug ggf. angepasst

Medientemperatur 55 °C1 95 °C keine, da Medienwahl Endkunde nicht


(CD, DVD) vorgegeben werden kann; ggf. Warnhin-
weis in Bedienungsanleitung ungeeigneter
Datenträger kann im Extremfall im Gerät
zerstört werden

Einbauwinkel um die 0° −30° bis 90° Durch geänderte Laufwerksaufhängung


und Schwingungsraum kann ein Einsatzbe-
reich von −15° bis +45° erreicht werden; für
weiteren Bereich müssen mechanisch un-
terschiedliche Laufwerksvarianten verbaut
werden (= unterschiedliche Gerätevarian-
ten in Fahrzeugen)

CD/DVD-Ladezeit keine Vorgaben; in max. 3–6 s bis Ver- heute nicht lösbar; übliche Zeiten sind eine
der Regel unkritisch fügbarkeit Funktion Funktionsverfügbarkeit von 7–15 s nach
(= Audio-Signal hörbar Einlegen des Datenträgers
nach Einlegen CD)

Full stroke seek unkritisch, da Lese- so klein wie möglich zweidimensionale Navigationskartendaten
(Zeit, die Lesekopf kopf in der Regel we- (möglichst < 150 ms) benötigen vielfache Kopfpositioniervor-
benötigt, um Da- nig positioniert wird, gänge, um Navigationsdaten zu laden;
tenträger komplett da große Datenblö- Daten werden mit hohem Aufwand mög-
zu überfahren) cke linear hinterein- lichst optimal auf linearer Datenspirale auf
ander abgelegt sind; Datenträger abgelegt, damit Kopfpositi-
üblich: 800 ms onierungsvorgänge möglichst minimiert
werden

Streaming-Ge- hoch, um große Da- gering, da Prozessor- für Navigationssysteme ist Kopfpositio-
schwindigkeit tenmengen schnell leistung geringer als nierzeit wichtiger als Streaming-Geschwin-
zu laden bei PCs digkeit

Nachlieferzeitraum 2–3 Jahre 15 Jahre Nachentwicklung von Geräten nach


Produktionsbeginn, damit neue Laufwerks-
varianten verbaut werden können

Lesekopf-Positions- langsam sehr schnell Herausforderung: Ausregelung Lesekopf


regelung bei starken Erschütterungen im Fahrzeug

Verschmutzung keine besonderen Betrieb unter feuchter Herausforderung: Simulation der Kon-
Anforderungen Wärme und nach vektionswärmeströmung im Gerät, um
Druckbestaubung Verschmutzungsverhalten vorherzusehen;
ggf. Kapselung des Laufwerks

1
 Temperaturvorgabe eines namhaften Markenherstellers zum Einsatzbereich seiner „brennbaren“ Datenträgerroh-
linge
1078 Kapitel 55 • Navigation und Verkehrstelematik

„Silver-Box“ mit Vernetzungsschnittstelle (z. B. elek- im Einstiegsbereich. Smartphone müssen über ver-
1 trisches CAN-Interface oder optisches MOST-Inter- schiedene Standards angebunden werden, um de-
face): Diese Bauform ist für reine Telematikgeräte ren Bedienung im Fahrzeug zu ermöglichen und
2 ohne Zusatzfunktionalität üblich. Eine grundsätzlich Daten und Dienste von diesen einzubinden. Neue
andere Bauart ist diejenige mit eigener Bedienober- Empfangsverfahren wie Phasen-Antennen-Diver-
fläche („Silver-Box“ mit Kunststoffkappe). Letztere sity und Hintergrund-TMC-Tuner zum ständigen
3 Bauform wird üblicherweise für Radionavigati- Empfang von RDS-TMC-Botschaften – unabhängig
onsgeräte oder Head-Units eingesetzt, die mehrere vom „Vordergrund-Tuner“ für den „Hör-Empfang“
4 Funktionen umfassen (Radio, Navigation, Musikwie- – sind bereits weitestgehend zum Standard gewor-
dergabe von Ton-/Datenträgern). Ein typisches Ra- den (Einsatz von Mehrfach-Tuner-Systemen).
5 dio-Navigationssystem im Einstiegssegment für den Der hohe Neuigkeitsgrad zu jeder Gerätegene-
Fahrzeugverbau besteht aus ca. 1500 Bauelementen ration macht die Wiederverwendung bereits ent-
(mechanische und elektronische Bauelemente). wickelter Hardware- und Software-Komponenten
6 nur eingeschränkt möglich. Im Bereich der SW-Ent-
wicklung geht der Trend dazu, vermehrt Open
7 55.9.3 Entwicklungsprozess Source Software (OSS) zu nutzen, um den Aufwand
der SW-Entwicklung zu begrenzen und neue Funk-
Der Entwicklungsprozess von Navigations- oder tionen frühzeitig anbieten zu können.
8 Telematikgeräten ist von hoher Komplexität und Hinzu kommen vielfältige Funktionsanfor-
vielfachen Anforderungen geprägt. Reine Naviga- derungen. Zu Entwicklungsbeginn werden in der
9 tions- oder Telematiksysteme in Form von Telema- Regel bis zu mehrere hundert Dokumente zur Last
tik- oder Navigationsmodulen, die zur Steuerung gelegt, hinter denen sich Tausende von Detailanfor-
10 an eine Head-Unit angeschlossen werden, sind derungen verbergen. Eine Funktionsliste für ein Ra-
selten. Die Großzahl der Navigationssysteme im dio-Navigationssystem umfasst üblicherweise 2000
Markt sind Infotainmentsysteme, die auch einen bis 4000 Elemente, wobei sich hinter jeder Einzel-
11 Radio-Tuner beinhalten und Medienfunktionen wie funktion mehrere bis viele Detailfunktionen bzw.
das Abspielen von Audio-/MP3-CDs oder SD-Kar- unterschiedliche Detailanforderungen verbergen.
12 ten und USB-Sticks anbieten. Die grafische Oberfläche umfasst 500 bis 2000 un-
Durch den Einfluss der sich schnell ändernden terschiedliche Masken, deren Gestaltung vom Fahr-
CE-Welt sind selbst Radio-Navigationssysteme zeughersteller vorgegeben wird. Die hohe Menge an
13 (= RNS) im Einstiegsbereich einem hohen Neuig- Detailanforderungen, die eine konsistente, wider-
keitsgrad von Gerätegeneration zu Gerätegeneration spruchsfreie Lastenvorgabe schwierig macht – sowie
14 unterworfen. Selbst Einstiegsgeräte weisen mittler- die Änderung von Funktionsvorgaben während der
weile hochauflösende TFT-Farbgrafikdisplays auf Entwicklung – führen zu einem hohen Änderungs-
55 und erwarten die Unterstützung dieser Display-Res- umfang im Entwicklungsprozess.
sourcen durch leistungsfähige Grafikprozessoren, Der angewendete Entwicklungsprozess muss
um z. B. flüssige Navigationskarten mit 3D-Darstel- daher folgenden Anforderungen genügen:
16 lung oder grafische Animationen bei Menüwech- 1. Verwaltung und Konfigurierung einer großen,
seln zu ermöglichen. CD- und DVD-Laufwerke sich ständig ändernden Dokumentenmenge
17 sind zwar für das Abspielen von klassischen Da- (Lasten);
tenträgern noch in vielen Geräten vorhanden, 2. Identifikation von und Umgang mit wider-
werden aber bereits durch elektronische Medien sprüchlichen Lasten;
18 wie SD-Karten und USB-Sticks teilweise ersetzt. 3. Handhabung eines hohen Änderungsumfangs
Die umfangreichen Datenspeichermöglichkeiten während der Entwicklungsphase;
19 stimulieren den Bedarf an breitbandigen Schnitt- 4. hoher Neuigkeitsgrad der Anforderungen (nur
stellen zum schnellen Zuführen von Daten (USB, teilweise Verfügbarkeit von Erfahrungswerten);
20 WLAN). Bluetooth-Handys fordern den Einsatz der 5. Flexibilität zur Berücksichtigung von Entwick-
Bluetooth-Technologie, zumindest als Option selbst lungsprozessvorgaben der Auftraggeber (die
Literatur
1079 55

OEM verfolgen verschiedene Entwicklungs- 9 Otto, H.-U.: The ActMAP approach – specifications of in-
cremental map updates for advanced in‐vehicle appli-
modelle und machen sehr unterschiedliche
cations. Hannover (2005) Verfügbar unter: http://www.
Entwicklungsvorgaben). researchgate.net/publication/229052300_THE_ACTMAP_
APPROACHSPECIFICATIONS_OF_INCREMENTAL_MAP_UP-
Diese Randbedingungen führen zu großen Heraus- DATES_FOR_ADVANCED_IN-VEHICLE_APPLICATIONS
forderungen bei der Projektplanung und Aufwands- 10 Weblink zum FEEDMAP Projekt: http://www.mapchannels.
com/FeedMaps.aspx
abschätzung, insbesondere zu Projektbeginn, da das
11 Förster, H.J.: Das Automobil, ein Lebenselixier für alte Men-
detaillierte Bearbeiten und Klären der Gerätelasten schen Mai 2001. VDI‐Bericht, Bd. 1613. VDI‐Verlag, Berlin
selbst einen mehrmonatigen Arbeitsprozess nach (2001)
sich zieht. 12 Krüger, K., et al.: Optimierung der Kompetenz älterer Fahre-
Zur Handhabung werden im Entwicklungs- rinnen und Fahrer durch frühzeitige Navigationshinweise
und Knotenpunktsinformationen Tagung Berlin, Mai 2001.
prozess Datenbanksysteme zur Verwaltung von
VDI‐Bericht, Bd. 1613. VDI‐Verlag, Düsseldorf (2001)
Kundenanforderungen eingesetzt, die den Prozess 13 Weblink zum ADASIS Forum: http://adasis.ertico.com/
von der Lastenbewertung über die Entwicklung 14 Nöcker, G., Mezger, K., Kerner, B.: Vorausschauende Fah-
bis hin zum Test unterstützen. Nur so kann eine rerassistenzsysteme 3. Workshop Fahrerassistenzsysteme,
vollständige Berücksichtigung über den gesamten Waltling, DE, 6.‐8. Apr., 2005. Technische Informationsbi-
bliothek/Universitätsbibliothek der Leibniz Universität
Entwicklungsprozess garantiert werden. Ansätze
Hannover, Hannover, S. 151–163 (2005)
zur Hardware- und Software-Strukturierung und 15 Eberhardt, R.: Car to Car Communication Consortium EuCar
Normierung in der Automobil-Industrie werden SGA, 23.10.2003. (2003)
sich zunehmend durchsetzen, die bei konsequenter 16 Systembeschreibung ETC Deutschland, Daimler Chrysler,
Umsetzung die Wiederverwendbarkeit und Aus- 2003
17 Verfügbar unter: http://www.vics.or.jp
tauschbarkeit von Komponenten erleichtern sollen
18 Visveswaran, A.: A status update on in‐car smartphone in-
(Beispiele hierfür sind AUTOSAR [17, 20] oder die tegration. SBD (2012). Verfügbar unter: http://www.sbd.
GENIVI Alliance [21]). co.uk/files/sbd/pdfs/TEL_3640_Smartphone_Guide.pdf
19 GSMA-mAutomotive: Connecting Cars: The Technology Ro-
admap. GSMA (2012) Verfügbar unter: http://www.gsma.
Literatur com/connectedliving/gsma-connecting-cars-the-techno-
logy-roadmap/
20 Zimmermann, W., Schmidgall, R.: Bussysteme in der Fahr-
Verwendete Literatur zeugtechnik – Protokolle und Standards, 2. Aufl. Vieweg‐
Verlag, Wiesbaden (2007)
1 Salas, G.: Highway Coding for Route Destination and Posi- 21 Weblink der GENIVI Alliance: https://www.genivi.org/
tion Coding Highway Research Board, Bd. 1642. (1968)
2 Kalman, R.E.: A New Approach to Linear Filtering and Pre- Weiterführende Literatur
diction Problems, Transactions of the ASME. Journal of
22 Weblink von Autosar: http://www.autosar.org
Basic Engineering 82(Series D), 35–45 (1960)
23 IDC (2013): Prognose zum Absatz von Smartphones welt-
3 Neukirchner, E.-P.: Fahrerinformations‐ und Navigationssys-
weit bis 2017 URL: http://de.statista.com/statistik/daten/
tem. Informatik‐Spektrum 14(2), 65–68 (1991)
studie/12865/umfrage/prognose-zum-absatz-von-smart-
4 Pilsak, O.: Routensuche, digitale Karte und Zielführung. In:
phones-weltweit
Talk held at seminar: Kfz‐Navigation Überblick über Ent-
wicklung und Funktion (1999)
5 Dijkstra, E.W.: A note on two problems in connexion with
graphs. Numerische Mathematik 1, 269–271 (1959). Ver-
fügbar unter: http://www-m3.ma.tum.de/foswiki/pub/
MN0506/WebHome/dijkstra.pdf
6 Hendriks, T., Wevers, K., Pfeiffer, H., Hessling, M.: AGORA‐C
Specification (2005)
7 Weblink zum AGORA Projekt: ISO 17572-3:2008; http://
www.iso.org/iso/home/store/catalogue_tc/catalogue_de-
tail.htm?csnumber=45962
8 Weblink zum ACTMAP Projekt: http://www.transport-rese-
arch.info/web/projects/project_details.cfm?id=14953
1081 X

Zukunft der
Fahrerassistenzsysteme
Kapitel 56 Integrationskonzepte der Zukunft  –  1083
Peter E. Rieth, Thomas Raste

Kapitel 57 Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung


zur Vermeidung von Überholunfällen  –  1093
Rolf Isermann, Andree Hohm, Roman Mannale, Bernt
Schiele, Ken Schmitt, Hermann Winner, Christian Wojek

Kapitel 58 Kooperative Fahrzeugführung – 1103


Frank Flemisch, Hermann Winner,
Ralph Bruder, Klaus Bengler

Kapitel 59 Conduct-by-Wire – 1111
Benjamin Franz, Michaela Kauer,
Sebastian Geyer 1, Stephan Hakuli 1

Kapitel 60 H-Mode 2D – 1123
Eugen Altendorf, Marcel Baltzer, Martin
Kienle, Sonja Meier, Thomas Weißgerber,
Matthias Heesen, Frank Flemisch

Kapitel 61 Autonomes Fahren – 1139


Richard Matthaei, Andreas Reschka, Jens Rieken, Frank
Dierkes, Simon Ulbrich, Thomas Winkle, Markus Maurer

Kapitel 62 Quo vadis, FAS?   –  1167


Hermann Winner
1083 56

Integrationskonzepte
der Zukunft
Peter E. Rieth, Thomas Raste

56.1 Einleitung – 1084
56.2 Bauliche Integration – 1084
56.3 Funktionale Integration – 1086
56.4 Domänenarchitektur – 1087
56.5 Regelung der Fahrzeug­bewegung (Motion Control)  –  1090
Literatur – 1092

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_56, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1084 Kapitel 56  •  Integrationskonzepte der Zukunft

56.1 Einleitung gemeinsam mit der Funktionserweiterung in eine


1 Komponente hochintegriert werden. Zu untersu-
Die Automobilindustrie steht derzeit wieder vor ei- chen ist hierbei für angenommene Einbauraten, ab
2 nem großen Evolutionssprung: Es kommen Funkti- welchem Bauteilpreis für die Erweiterungskompo-
onen in die Fahrzeuge, die ein hochautomatisiertes nente eine Hochintegration finanziell günstiger ist
Fahren möglich machen. Damit verbunden ist ein – was natürlich nicht nur für Steuergeräte sondern
3 zunehmender Elektrik/Elektronik- und Mechatro- ganz allgemein für mechatronische Systeme gilt. Ein
nikanteil sowie ein überproportional wachsender erfolgreiches Beispiel für eine bauliche Hochinteg-
4 Softwareanteil, was wiederum dazu führt, dass die ration eines mechatronischen Bremssystems wird
Komplexität der E/E-Architektur insgesamt stark im nachfolgenden Kapitel vorgestellt. An­schließend
5 ansteigt. Dabei sollen möglichst die System-, Kom- werden die funktionale Integration und die wich-
ponenten- und Entwicklungskosten nicht steigen tigsten Aspekte einer Domänenstruktur näher be-
und die Qualität permanent verbessert werden. trachtet.
6 Das Management dieser Komplexität erfordert
neue Lösungen bei den Architekturkonzepten. Die
7 hohe Variantenvielfalt und damit verbundene Än- 56.2 Bauliche Integration
derungen von Anforderungen sollen beherrschbar
bleiben. Heutzutage sind Plattformstrategien und Die Vielzahl neuer Trends im Automobilbereich,
8 Modulbaukästen aktuelle Antworten auf diese die das Bremssystem betreffen, führen dazu, dass
Herausforderungen. Weitere Verbesserungen ver- der bisherige Ansatz, Zusatzanforderungen mit
9 sprechen die Domänenansätze, [1]: Hierbei werden Erweiterungsarchitekturen des herkömmlichen
Funktions- und Elektronikumfänge neu gruppiert Basisbremssystems zu erfüllen, an seine techni-
10 und in wenigen – vier bis fünf – Domänen zusam- schen Grenzen stößt und damit Motivation für ei-
mengefasst, so dass sich Änderungen möglichst nur nen konsequenten Neuansatz gibt, der zunehmend
innerhalb der Domäne auswirken und nicht auf an- auch eine kommerzielle Grundlage findet, [4]. Die
11 dere Domänen übergreifen. heutige Architektur von Bremssystemen in Pkws
Mit der wachsenden Rechenleistung in moder- (vgl. auch ▶ Kap. 30 und 40) erklärt sich historisch:
12 nen Mehrkern-Prozessoren wird erwartet, dass zu- Zur ursprünglichen unverstärkten Bremsbetätigung
nehmend Regelfunktionen innerhalb einer Domäne kam im Laufe der Entwicklung der unterdruckba-
integriert werden und auf sog. Domänensteuergerä- sierte sog. Vakuumbremskraftverstärker hinzu, der
13 ten laufen. Hierbei sind vielfältige neue Herausfor- daraufhin entwickelt war, seine Hilfsenergie aus
derungen zu meistern, wie z. B. eine Ablaufplanung dem Unterdruck im Saugtrakt des klassischen Saug-
14 (engl. Scheduling) mit kurzen Latenzzeiten, um die motors zu beziehen. Später kam die hydraulische
Stabilität der Regelkreise nicht zu gefährden. Auch Bremsdruckmodulation hinzu, mit der zunächst
15 sind Sicherheitsmechanismen zu realisieren, so Bremsvorgänge besser beherrschbar gemacht wur-
dass trotz einer hochintegrierten Hardware-Basis den (Antiblockiersystem, ABS), bevor zusätzlich
ein hinreichendes Maß an Isolation zwischen den die Fahrstabilität durch elektronisch gesteuerte
56 Softwarekomponenten erreicht werden kann, [2]. Bremseingriffe erhöht wurde (Electronic Stability
Die Auswahl der Architektur geschieht in Ab- Con­trol, ESC). Inzwischen kommt zu diesen bei-
17 hängigkeit der funktionalen Anforderungen und den Systemkomponenten häufig noch eine dritte
der zu erwartenden Ausstattungsraten. Weitere Kos- hinzu: In vielen Pkws wird der Unterdruck für den
tenpositionen, wie Funktionsentwicklung und ab- Bremskraftverstärker neuerdings durch eine Vaku-
18 sicherung, fahrzeugspezifische Anpassungen sowie umpumpe bereitgestellt, weil moderne Motoren im
die Verwaltung von Funktionen und Bauteilen sind Interesse der Effizienz möglichst nicht mehr gedros-
19 ebenfalls zu berücksichtigen, [3]. Der Fahrzeug- selt werden. Damit besteht ein Bremssystem heute
hersteller muss sorgsam entscheiden, ob eine neue aus zwei, vielfach aus drei diskreten Komponenten
20 Funktion durch eine Erweiterungskomponente [5]. Bisher galt diese Architektur als sinnvoll und
realisiert wird oder ob mehrere Basisfunktionen bewährt. Mit dem Aufkommen von Hybrid- und
56.2 • Bauliche Integration
1085 56

Elektrofahrzeugen einerseits, gesteigerten Dyna-


mikanforderungen aus Notbremssystemen und ge-
steigerten NVH-Anforderungen aus Komfortassis-
tenzsystemen andererseits änderte sich die Situation
jedoch grundlegend, wie nachfolgend dargestellt
wird.
Als Beispiel für zwei aktuell an Breitenwirkung
zunehmenden Trends seien der ab 2016 bei Euro
NCAP gewertete aktive Fußgängerschutz und
die zunehmende Nachfrage nach der Stauassis-
tent-Funktion genannt. Die Erfüllung beider Funk-
.. Abb. 56.1  Integriertes Bremssystem MK C1
tionen führt auf der Basis der heutigen ESC-Systeme
zu einem Zielkonflikt: Die Notbremseigenschaften die Funktionen der elektrischen Bremskraftverstär-
beim aktiven Fußgängerschutz werden mit einer kung und die der Stabilitätsregelfunktionen in einer
möglichst großen Pumpen-Förderleistung der Baueinheit zusammenzuführen, so kann nicht nur
Rückförderpumpe des ESC-Systems erzielt. Um auf der Montageaufwand und das Summengewicht er-
der anderen Seite die Follow-to-Stop-Komfort-An- heblich reduziert werden, sondern auch die Qualität
forderungen des Stauassistenten zu erfüllen, ist eine und Robustheit der Funktionen erhöht werden. Es
möglichst geringe Pumpenpulsation erforderlich, entfallen nicht nur die zu montierenden Baugrup-
die bei Pumpen mit großer Förderleistung nur mit pen Vakuumpumpe und ESC-System, sondern auch
erheblichem Zusatzaufwand erzielbar ist. deren Halter und elektrische und fluidische Verbin-
Bedingt dadurch, dass im Zuge der Effizienzstei- dungsleitungen und Anschlüsse.
gerungen bei den Ottomotoren auch die Drosselver- . Abbildung 56.1 benennt die Funktionskompo-
luste im Ansaugtrakt nicht weiter akzeptiert werden nenten der MK C1: Äußere Merkmale sind Pedal-
können, wird, wie schon beim Dieselmotor, auch bei stange und Reservoir, die das auf den ersten Blick
diesem Motortyp eine gesonderte Vakuumpumpe wie ein typisches Stabilitätsregelsystem anmutende
erforderlich. Wenn darüber hinaus zur weiteren Bauteil, klar als integriertes Bremsbetätigungssystem
Effizienzsteigerung der Verbrennungsmotor wäh- erkennen lassen. Die vom Fahrer betätigte Pedal-
rend der Fahrt im Schubbetrieb abgeschaltet wird stange ist mit einem im Ventilblock integrierten Tan-
(sog. Segeln) und damit auch die mechanisch vom demhauptbremszylinder (THz) verbunden, der im
Motor angetriebene Vakuumpumpe, so wird sehr Normalbetrieb den Pedalgefühlssimulator mit Druck
häufig eine von einem Elektromotor angetriebene beaufschlagt und bei Ausfall der elektrischen Versor-
Vakuumpumpe eingesetzt. Dies erhöht nochmals gung als sog. „hydraulische Rückfallebene“ alle vier
Kosten, Gewicht, Platzbedarf, Komplexität und das Radbremsen direkt, d. h. unverstärkt betätigt.
Verfügbarkeitsrisiko. Die Normalbremsfunktion erfolgt bei diesem
Da die Energiedichte des Vakuums – durch den Brake-by-Wire-System mithilfe eines von einem
Umgebungsdruck begrenzt – ohnehin sehr gering elektrisch kommutierten DC-Motor angetriebe-
ist und die Packagingdichte in den Fahrzeugen ste- nen Aktor (Plunger), der für den Druckauf- und
tig zunimmt, liegt es nahe, alternative Energiearten -abbau entsprechend dem Fahrerwunsch sorgt. Die
in Betracht zu ziehen. Die Verfügbarkeit der elek- Fahrerwunscherfassung erfolgt hierbei durch eine
trischen Energie nimmt in Kraftfahrzeugen zu, so Auswertung von Pedalstangenweg- und Drucksen-
dass es sich anbietet, die Bremskraftverstärkung, wie sorsignalen. Alle Sensoren sind im System baulich
auch schon die Lenkkraftunterstützung, elektrisch integriert und mit der ECU verbunden; sowohl die
darzustellen und nunmehr als Energiequelle nicht für die Normalbetätigung erforderlichen Steuerven-
mehr Unterdruck, sondern den ohnehin vorhande- tile als auch die Regelventile der Schlupfregelfunkti-
nen Elektromotor der ESC-Einheit zu verwenden. onen sind im Ventilblock enthalten.
Wenn es dann noch gelingt, wie es das Grund- Ein weiterer Vorteil dieser sehr kompakten An-
konzept der MK C1 (siehe auch ▶ Kap. 30) vorsieht, ordnung betrifft die sehr kurze Baulänge des Ge-
1086 Kapitel 56  •  Integrationskonzepte der Zukunft

samtgerätes. Die äußeren Abmessungen der MK [6]; dieser Ansatz hat potenziell eine sehr hohe
1 C1 werden von der Hüllkurve eines klassischen Leistungsfähigkeit, jedoch ist der Integrations-
8″/9″-Geräts nahezu vollständig umschlossen. Dies aufwand beim Fahrzeughersteller oft sehr hoch.
2 ist wichtig, um in den heutigen Bauräumen auch bei 2. Kooperativer Koexistenzansatz: Ein zentraler
einem Mischverbau mit konventionellen Systemen Koordinator aktiviert vordefinierte Betriebs-
keinen Packagingrestriktionen zu unterliegen. Be- modi bzw. Parameter in den Aktuatoren, z. B.
3 sonders vorteilhaft könnte sich in dem einen oder [7]; bei diesem Ansatz ist die Leistungsfähigkeit
anderen Fahrzeug die Tatsache erweisen, dass die nicht maximal, aber der Integrationsaufwand ist
4 MK C1 um ca. die Länge eines THz kürzer baut und durch weitgehende Entkopplung der Arbeiten
damit in einem Crashfall der Abstand zu den auf- von Fahrzeughersteller und Zulieferer über-
5 schlagenden Aggregaten ausreichend groß ist, um schaubar.
eine Intrusion des Pedalwerks in den Fahrgastraum
zu vermeiden oder abzumildern. Ebenso sind keine Die als „Global Chassis Control“ (GCC) bezeich-
6 Besonderheiten auf der dem Fahrgastraum zuge- nete Entwicklung hat als maßgebliches Ziel die
wandten Seite der MK C1 zu beachten, die das üb- Funktionsintegration für die Horizontaldynami-
7 liche Interface zum Pedalwerk beeinflussen. kregelung [8]. Aus historisch gewachsenen Bezie-
hungen sowie aus einkaufsstrategischen Gründen
wurden anfangs die Chassis-Subsysteme – nach
8 56.3 Funktionale Integration Komponenten aufgeteilt – in den Entwicklungs-
abteilungen bei den Fahrzeugherstellern und Zu-
9 Die Forderung nach mehr Verkehrs- und Fahrsi- lieferern als Stand-alone-Systeme behandelt. So
cherheit, nach mehr Fahrkomfort und gleichzeitig konnten in einem Fahrzeug mit Überlagerungs-
10 geringem Energieverbrauch verlangt nach innovati- lenkung, aktiven Stabilisatoren, elektronischer
ven Systemlösungen aus den Bereichen Chassis und Stabilitätsregelung ESC und elektronischem Diffe-
Antrieb. Die bisherige Entwicklung verlief nicht im- renzial bis zu vier eigenständige Horizontaldynami-
11 mer kontinuierlich, sondern ist durch mehrere Tech- kregler mit jeweils eigener Fahrzustandsschätzung,
nologiesprünge gekennzeichnet: Der erste Sprung, eigener Referenzgrößenberechnung und eigenem
12 den der Kunde als Fortschritt erkannte und dem- Fahrzustandsregler verbaut sein. In dieser als
entsprechend honorierte, war die Einführung von „Koexistenzansatz“ bezeichneten Funktionsarchi-
mechatronischen Systemen wie z. B. das ABS Ende tektur verfolgen die einzelnen Regler – abhängig
13 der siebziger Jahre oder das ESC Mitte der neun- von dem zu regelnden System – unterschiedliche
ziger Jahre. Da die Optimierung der mechatroni- Schwerpunkte der Regelstrategie (Komfort, Hand-
14 schen Einzelsysteme zunehmend an Grenzen stieß, ling und Sicherheit) und müssen hinsichtlich ihres
war der nächste Sprung zeitlich im ersten Jahrzehnt Aktionsbereichs so abgestimmt werden, dass sie
15 des 21. Jahrhunderts datiert, die funktionale Integ- sich nicht negativ beeinflussen können. Sie müs-
ration der Systeme, die, wie bereits geschildert, in sen quasi einen Sicherheitsabstand voneinander
der starken Zunahme durch Fahrerassistenz- und haben, womit kein optimales Gesamtregelergebnis
56 Verbrauchsoptimierungssysteme ihren Ursprung erzielt werden kann. Mit ESP II wurde erstmals die
haben. Über leistungsfähige Bussysteme vernetzt als „integrierter Ansatz“ dargestellte Funktionsauf-
17 mit Bremse, Lenkung, Antrieb und Dämpfer war teilung realisiert [8]: Bei diesem Ansatz besitzt jedes
nunmehr die Möglichkeit gegeben, die Zielkonflikte der Einzelsysteme Lenkung, Bremse, Fahrwerk und
zwischen aktiver Sicherheit, Fahrfreude, Fahrkom- Antriebsstrang eine Grundfunktion. Bezüglich der
18 fort und Effizienz besser zu beherrschen. Dabei gibt Horizontaldynamik bleibt diese Grundfunktion
es heute im Wesentlichen zwei Ansätze für die funk- auf eine reine Steuerung beschränkt, zum Beispiel
19 tionale Integration: geschwindigkeitsabhängige Lenkübersetzung oder
1. Vollintegrierter Ansatz: Ein zentraler Regler querbeschleunigungsabhängige Bremskraftvertei-
20 steuert das gewünschte Fahrverhalten und lung rechts/links. Dabei stehen die Funktionen im
koordiniert die notwendigen Aktuatoren, z. B. ständigen Austausch mit dem Gesamthorizontal-
56.4 • Domänenarchitektur
1087 56

dynamikregler im ESP II und melden diesem ihre basieren, können durch die Einbindung aus dem
momentane Stellreserve und -dynamik. Umfeldmodell im Sinne eines „vorausschauenden“
Der nächste Evolutionssprung kündigt sich Unfallschutzes verbessert werden, z. B. zur Crash-
durch die funktionale Integration von Umfeldsen- prädiktion oder zur Fußgängererkennung.
sorik an, [9]. Funktionen zur Längsführung, wie
Adaptive Cruise Control (ACC) (s. ▶ Kap. 46) und
Notbremsassistent (s. ▶ Kap. 47) oder zur Querfüh- 56.4 Domänenarchitektur
rung, wie Spurhaltung oder Warnung bei Fahrstrei-
fenwechsel oder rückwärtigem Verkehr (s. ▶ Kap. 49 Wenn das Funktionsnetzwerk feststeht, kann die
und 50), sind bereits im Einsatz. Neue Funktionen, Systemarchitektur ausgearbeitet werden. Eine we-
z. B. zur Assistenz in Baustellen oder beim Auswei- sentliche Herausforderung ist die Partitionierung
chen in Notsituationen, sind in der Entwicklung: der Funktionen auf die Steuergeräte; ein Prozess,
All diese Funktionen basieren auf Informationen der, obwohl z. B. in [10] schon ansatzweise mathe-
aus Umfeldsensoren (Radar (s. ▶ Kap. 17), Kamera matisch gelöst, heute noch sehr viel Erfahrung er-
(s. ▶ Kap. 20), Lidar (s. ▶ Kap. 18), Ultraschall (s. fordert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass starke
▶ Kap. 16)), deren Informationen zu einem Umfeld- Wechselwirkungen unter den Komponenten des
modell (s. ▶ Kap. 25) fusioniert werden. Zukünftig Systems auch zu starken Wechselwirkungen einer-
verfügbare sicherheitsrelevante Informationen seits bei der Entwicklung und Herstellung des Sys-
über Fahrzeug-zu-Fahrzeug- bzw. Fahrzeug-zu-In- tems aber auch andererseits bei Lieferantenstruktur
frastruktur-Kommunikation (Car2X; s. ▶ Kap. 28) und Zusammenarbeit führen. Änderungen an einer
werden ebenfalls wie ein Sensoreingang betrachtet, Komponente sind kaum möglich ohne Auswirkun-
wofür jedoch eine sehr genaue Positionsinformation gen auf alle anderen Komponenten – hier setzt die
des Fahrzeugs notwendig ist. Eine Positionierung Idee der Modularisierung an. Der Systementwurf
über die digitale Karte, wie sie in Navigationssyste- und die zugehörigen Realisierungsschritte werden
men durchgeführt wird, ist hier nicht möglich, da mithilfe von Regeln und Standards in Module zer-
die Kartendaten fehlerhaft sein können, evtl. sind legt, die einer der beiden nachfolgenden Kategorien
sie auch gar nicht vorhanden. Vielversprechend sind zugeordnet werden können:
Ansätze, durch die Kopplung der Informationen 1. nach außen sichtbare Module, z. B. Betriebs-
der Fahrdynamiksensoren mit dem GPS-Signal im systeme und andere Diensteschichten (z. B.
Fahrzeug eine genaue Positionierung des Fahrzeugs Middleware), oder Entwurfsparameter, wie z. B.
bei gleichzeitig höherer Verfügbarkeit zu erhalten, Schnittstellenspezifikationen oder Integrations-
s. ▶ Kap. 26. und Testprozeduren;
Im Bereich der passiven Sicherheit, also aller 2. nach außen unsichtbare Module, d. h. Kompo-
Funktionen, die die Unfallfolgen mindern, sind nenten, deren Entwurfsparameter lokal in den
heute eine Vielzahl von Funktionen im Fahrzeug jeweiligen Modulen und den zugehörigen Ent-
enthalten, die kontinuierlich optimiert und wei- wicklungsabteilungen verborgen bleiben.
terentwickelt werden: Zu nennen sind hier die
Crashsensierung (Front, Heck, Seite, Überschlag)
und die Aktivierung der entsprechenden Rückhal- 56.4.1 Konzepte zur Standardisierung
temaßnahmen (Airbags, Gurtstraffer, Kopfstützen). der Architektur
Zusätzlich kann ein automatischer Notruf (eCall)
ausgelöst und die Bremse aktiviert werden, um Eine erfolgreiche Modularisierung basiert auf de-
die Unfallfolgen im Falle eines Sekundärcrashs zu tailliertem Wissen über die gegenseitigen Abhängig-
verringern. Wichtig sind ebenso Maßnahmen zum keiten und Wechselwirkungen zwischen den Ent-
Schutz von Fußgängern, z. B. werden durch das wurfsparametern. Der Systemarchitekt wird dabei
Aufstellen der Motorhaube im Fall des Aufpralls
die Verletzungsfolgen gemindert. Die passiven Si-
cherheitsfunktionen, die primär auf Crashsensoren -
die folgenden Regeln und Standards erarbeiten:
Architektur, d. h. Festlegung, welche Module
und Komponenten Teil des Systems sind, wel-
1088 Kapitel 56  •  Integrationskonzepte der Zukunft

.. Abb. 56.2 Darstellung
1 eines stark vernetzten
(links) und modularen
Systems (rechts) als gerich-
2 teter Graph und als Design
Structure Matrix (DSM). A
bis D: Systemkomponen-
3 ten, DR: Design Rules, I&T:
Integration and Test

4
5
6
7
8 che Rollen sie einnehmen und welche Module . Abbildung 56.2 verdeutlicht den Vorteil des
und Komponenten Quelle für nach außen modularen Designs anhand einer fiktiven Syste-
9
10 - sichtbare Standards sind;
Schnittstellen, d. h. detaillierte Beschreibung,
wie die Module zusammengefügt werden,
kommunizieren, Energie austauschen etc.,
marchitektur mit den vier Komponenten A, B, C,
D. In den gerichteten Graphen in . Abb. 56.2 oben
sind die Abhängigkeiten der Komponenten durch
Pfeile dargestellt. Äquivalent zum Graphen wird
d. h. die Schnittstelle als eine Komponente des hier die Matrixdarstellung in Form der sog. „De-

-
11 funktionalen Gesamtsystems; sign Structure Matrix“ (DSM) eingesetzt, vgl. [12].
Integration und Test, d. h. Anweisungen für den Mit einer DSM werden Beziehungen zwischen den
12 Zusammenbau des Systems und zur Feststel- Elementen eines Systems in einem kompakten und
lung, wie gut das System arbeitet und wie gut visuell vorteilhaften Format dargestellt: Eine DSM
eine Version eines Moduls relativ zu einer ist eine quadratische Matrix, in der die zu untersu-
13 anderen funktioniert. chenden Elemente in der Diagonalen aufgetragen
sind. Wenn zwischen zwei Elementen eine Bezie-
14 Modularisierung ist der erste Schritt hin zu einem hung besteht, wird diese in der Matrix mit einem
Mehrwert für das System. Investitionen in Modu- „x“ gekennzeichnet. Alternativ kann man Zahlen-
15 larisierung lohnen sich aber nur, wenn nach der werte verwenden, um z. B. die Stärke der Beziehung
Zerlegung die verborgenen Module/Komponenten zu dokumentieren. Die Matrix wird in einer vorher
permanent weiterentwickelt und gegen bessere aus- festzulegenden Richtung durchlaufen, wodurch die
56 getauscht werden. Die Zahl der hierfür notwendigen Informationen eines gerichteten Graphen abgebil-
Versuche hängt näherungsweise von der Größe und det werden; hier ist die Konvention „Eingang in
17 vom technischen Potenzial der Module/Komponen- Spalten/Rückwirkung unterhalb der Diagonalen“
ten ab. Dabei gilt der Grundsatz, dass große Module/ gewählt.
Komponenten weniger Entwicklungsprojekte erfor- Im Beispiel des stark vernetzten Systems sind
18 dern als kleine, weil die Kosten pro Experiment hoch die Schnittstellen proprietär, d. h. es gibt keine of-
sind im Vergleich zu den kleinen Modulen, [11]. Die fenen, industrieweit geltenden Regeln für die Ver-
19 Evolution der sichtbaren Module verlangt wegen der knüpfung der Komponenten. Die Konsequenz ist,
umfangreichen Auswirkungen im System hohe In- dass sich jede Änderung an einer Komponente auf
20 vestitionen bzw. Abstimmungsaufwände und daher alle anderen Komponenten auswirkt. Im Gegensatz
sind diese Module vergleichsweise beständig. dazu sind alle Abhängigkeiten der Komponenten
56.4 • Domänenarchitektur
1089 56

Interfaces
SWC SWC
Statically generated
(AUTOSAR Runtime
Middleware Environment)

Services Dynamically generated


(Data Distribution Service)

Multicore OS Platform

.. Abb. 56.3  Steuergerätearchitektur mit Applikationssoftware (Software Components, SWC) und Plattformsoftware (Basic
Software, BSW) mit heutigen statischen Schnittstellen und zukünftigen dynamischen Schnittstellen

im modularen System idealerweise durch offene, in- hängig von der Hardware zu entwickeln. Bestandteil
dustrieweit bekannte Regeln und Standards (Design der Basissoftware ist eine Zwischenschicht (Middle-
Rules, DR) sowie Integrations- und Testprozeduren ware), die für eine Verbindung der Komponenten
(I&T) festgelegt. Die Komponenten sind dann zwar der Applikationssoftware untereinander und mit
weiterhin verborgene Module, sie können jedoch Diensten der Plattform, z. B. Kommunikation oder
völlig unabhängig voneinander weiterentwickelt Systemdienste, sorgt [14].
werden, solange die offenen Standards eingehalten Nach heutigem Standard werden die Zwi-
werden. In der Matrix wird dies dadurch deutlich, schenschicht und die Schnittstellen zur Applika-
dass kein „x“ in dem gekennzeichneten Bereich vor- tionssoftware statisch erzeugt als sog. „Runtime
handen ist. Änderungen an den verborgenen, nach Environment, RTE“. In zukünftigen Generationen
außen unsichtbaren Entwurfsparametern eines von Steuergeräten könnte die Applikationssoftware
Moduls haben somit keine Auswirkungen auf die dynamisch integriert werden, siehe . Abb. 56.3. Die
anderen verborgenen Module des Systems; erst Än- Motivation hierzu liegt darin, dass die Fahrzeugher-
derungen an den sichtbaren Entwurfsparametern steller zukünftig Software über Internetverbindun-
erzwingen auch Änderungen an den verborgenen gen auf die Steuergeräte aufspielen wollen, um ihren
Modulen. Kunden stets aktualisierte Funktionalitäten anbieten
zu können [15]. Die Basissoftware muss daher eine
Zwischenschicht enthalten, die Datenverteilungs-
56.4.2 Konzepte zur Standardisierung dienste (Data Distribution Service, DDS) anbietet.
der Schnittstellen Es existieren bereits offene Standards für Imple-
mentierungen von DDS, z. B. das Robot Operating
Der nächste Schritt ist die Festlegung der Schnitt- System (ROS) [16] und das Open DDS [17]; diese
stellen, wobei für die Domänenarchitektur die fol- Lösungen sind heute jedoch noch kein Standard in

-
genden beiden Ziele im Vordergrund stehen, [13]:
Komplexität durch möglichst wenige Informa-
tionen, die zwischen den Domänen ausge-
der Automobilindustrie.

- tauscht werden, reduzieren; 56.4.3 Konzepte zur Standardisierung


Wiederverwendbarkeit durch abgestimmte der Integration
und damit langfristig stabile Schnittstellen
erleichtern. Die wichtigste Neuerung in der zukünftigen Domä-
nenarchitektur werden Domänensteuergeräte sein,
Ein wichtiger Baustein der Systemarchitektur ist die als Integrationsplattformen für Software des
die sog. AUTOSAR-Basissoftware (Basic Soft- Fahrzeugherstellers und damit zur Differenzierung
ware, BSW; s. ▶ Kap. 7), die es erlaubt, Software­ im Wettbewerb dienen. Ein effektives Varianten-
applikationen (Software Components, SWC) unab- handling durch Skalierungsmöglichkeiten wie
1090 Kapitel 56  •  Integrationskonzepte der Zukunft

Function SW E/E-Architecture Config SW


1
Domain
S1 S2 S3 Controller ECU
2 SWC SWC Sensor ECU .xml
System
Config.
Sensor Fusion
Middleware ECU SWC

3
OS / Services

Domain
4 F1 F2 F3 Controller ECU
SWC SWC Sensor Actuator ECU
.xml
Operating Strategy
Middleware ECU ECU Extract
5 OS / Services

Domain
6 Motion Control Controller ECU
SWC SWC ECU Actuator ECU
ECU .xml
7
Middleware
A1 A2 A3 SWC
Config.
OS / Services

8 SWC

BSW
9
.. Abb. 56.4  Integrationsprozess für eine Systemarchitektur mit Domänensteuergeräten als Integrationsplattformen und
Sensor-/Aktorsteuergeräten in den Subdomänen
10
Umpartitionierung und Hochintegration, die phy- Die Domänensteuergeräte sind bezüglich Re-
sikalische Kapselung der Domänen und der Schutz chenleistung (Single-, Dual-, zukünftig auch Multi-
11 von Know-how sind weitere Treiber für die Domä- core Controller), Speicherausbau und Sicherheits-
nenrechner. level (bis ASIL D) skalierbar, sie verfügen über eine
12 Zur Integration der Basis- und Applikationssoft- AUTOSAR-kompatible Softwarearchitektur und
ware hat der AUTOSAR-Standard eine neue Me- bieten die Möglichkeit, Softwaremodule verschie-
thodik eingeführt. Statt die Zuordnung der Software dener Parteien zu integrieren. Durch den modula-
13 zur Hardware für jedes Steuergerät neu zu kodie- ren Aufbau lassen sich Varianten mit reduzierten
ren, müssen jetzt vordefinierte Module nur noch Funktionsumfängen darstellen.
14 konfiguriert werden. Entsprechende Werkzeuge
unterstützen die Konfiguration und liefern als Er-
56.5 Regelung der Fahrzeug­
15 gebnis XML-Beschreibungsdateien, die zwischen
bewegung (Motion Control)
Fahrzeughersteller und Zulieferer ausgetauscht
werden. Am Anfang der Entwicklung erstellt der
56 Fahrzeughersteller die Gesamtsystembeschreibung Die Regelung der Fahrzeugbewegung ist eine eigene
(System Description), in der z. B. die Topologie, die Domäne und erfordert aufgrund der großen Vari-
17 Kommunikationsdetails und die Partitionierung der antenvielfalt von Funktionen und Stellgliedern eine
Applikationssoftware auf die einzelnen Steuergeräte sorgfältige funktionale und bauliche Integration.
beschrieben sind. Aus der Systembeschreibung wird Ein Ansatz zur Strukturierung wird im Folgenden
18 für jedes Steuergerät die relevante Information ex- beschrieben:
trahiert (ECU Extract) und an den Zulieferer des Die horizontale Bewegung des massebehafteten
19 Steuergerätes weitergegeben. Dieser konfiguriert Systems „Fahrzeug“ wird bestimmt durch die Rei-
anschließend das Steuergerät (ECU Config) und fenkräfte in der Fahrbahnebene, die ihrerseits durch
20 erzeugt mithilfe von Codegeneratoren die ausführ- die aktuell anliegenden Radlenkwinkel und Rad-
bare Software, s. . Abb. 56.4. momente eingestellt werden. Entsprechend wird
56.5  •  Regelung der Fahrzeug­bewegung (Motion Control)
1091 56

Human Driver Artificial Driver


Human Driver Requests Artificial Driver Requests
(acceleration,braking,cornering) (acceleration, steer angle, additionally
Mode requests (sport, comfort, eco..) eg. speed, curvature, slip angle

Motion
Inertial Vehicle Motion Requests Control
Dyamic Vehicle Model

Data,
speed, Estimated
angle, side slip, Motion Request Vector (arbitrated speed,
pressure, offset acceleration, curvature/yaw rate, side slip, ...)
corrected Energy
torque, management
etc. data, etc…
Motion Control Functions

Motion Control Vector


(generalized longitudinal, lateral & vertical forces)

Actuator Abstraction

Actuator Control Vector (friction brake torque,


E-motor torque, engine torque, steering torque/angle…)

Actuators

.. Abb. 56.5  Funktionsarchitektur Motion Control

die vertikale Bewegung durch die Fahrwerkskräfte von externen Systemen, wie z. B. Fahrerassistenz-
bestimmt. Das Grundprinzip von Motion Control systemen. Alle Anforderungen werden in Soll-Be-
ist die Betrachtung der umgekehrten Wirk­richtung: wegungsgrößen umgerechnet, die dann koordiniert
Ausgehend von einer gewünschten Bewegung wer- an die nächste Ebene weitergereicht werden.
den die zugehörigen Reifenkräfte und daraus die In der Regelfunktionsebene (Motion Control
Stellgrößen wie Lenkwinkel bzw. Lenkmoment so- Functions) kommen die Funktionen zur Ausfüh-
wie Antriebs- oder Bremsmomente für die Räder rung, die die Bewegung des Fahrzeugs in longitudi-
bestimmt. Störgrößen, wie Seitenwind oder geneigte naler, lateraler und vertikaler Richtung steuern. Das
Fahrbahn, sind durch Regelungen evtl. in Verbin- Ziel ist die konfliktfreie Optimierung von Sicher-
dung mit Störgrößenaufschaltungen zu kompen- heit, Komfort, Emotion und Effizienz. Der Ausgang
sieren. der Regelfunktionsebene ist ein auf das Gesamtfahr-
Die Bestimmung der Stellgrößen gelingt vor- zeug bezogener Stellvektor.
teilhaft durch Aufteilen des Regelungssystems In der Ansteuerebene (Actuator Abstraction)
in mehrere logisch separierte Ebenen mit ein- werden aus dem auf das Fahrzeug bezogenen Stell-
deutig definierten Schnittstellen untereinander, vektor die Stellgrößen für die einzelnen Aktoren
siehe   . Abb. 56.5. Änderungen oder Ergänzun- ermittelt. Die Koordinierung der Wirkketten steht
gen des Systems sind jetzt einfacher und effektiver hier im Vordergrund, wozu die Ansteuerebene den
durchzuführen, da meist nur eine Ebene betroffen aktuellen Zustand und die Limitierungen der Stell-
ist und nicht das gesamte Regelungssystem. systeme genau kennen. Ebenso sind die maximalen
In der Anforderungsebene (Vehicle Motion Re- Reifenkräfte im Kamm’schen Reibungskreis zu be-
quests) werden die kontinuierlichen Bedienvorga- rücksichtigen.
ben des Fahrers aufgenommen. Zusätzlich können
diskrete Signale über Bedienhebel, Taster o. Ä. ein-
gelesen und verarbeitet werden. Die dritte Klasse
von Eingangsgrößen umfasst Bewegungsvorgaben
1092 Kapitel 56  •  Integrationskonzepte der Zukunft

Literatur
1
1 Reichart, G., Vondracek, P., Bruckmeier, R.: Systemarchitek-

2 tur im Kraftfahrzeug – Status und künftige Anforderungen.


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A.: Skalierbare E/E‐Architekturen als Enabler innovativer
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6 Bremssysteme µ‐Symposium, Bad Neuenahr. (2012)
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7 Held, V.: The Chassis Control Systems of the Opel Insignia:
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105 (12), 2003, S. 1178–1182
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Beispiel einer skalierbaren E/E‐Architektur für die Domä-
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Lochau, M., Müller, T., Steiner, J., Goltz, U., Form, T.: Opti-
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11 Baldwin, C., Clark, K.: The Power of Modularity Design Rules,
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12 Eppinger, S., Browning, T.: Design Structure Matrix Methods
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ronik im Kraftfahrzeug, Baden‐Baden. (2013)
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18 Source Software Platform for Autonomous Driving Sys-


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16 Verfügbar unter: www.ros.org, Zugriff am 18.07.2014

19 17 Verfügbar unter: www.opendds.org, Zugriff am 18.07.2014

20
1093 57

Antikollisionssystem
PRORETA – Integrierte
Lösung zur Vermeidung
von Überholunfällen
Rolf Isermann, Andree Hohm, Roman Mannale, Bernt Schiele,
Ken Schmitt, Hermann Winner, Christian Wojek

57.1 Einleitung – 1094
57.2 Videobasierte Gesamtszenensegmentierung zur
Bestimmung des Manöverraums  –  1094
57.3 Sensorfusion von Radar und Videosignalen  –  1095
57.4 Situationsanalyse für Überholvorgänge  –  1097
57.5 Realisierung von Warnungen und aktiven Eingriffen  –  1098
57.6 Ergebnisse von Fahrversuchen  –  1099
57.7 Zusammenfassung – 1099
57.8 Schlussbemerkung – 1100
Literatur – 1100

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_57, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1094 Kapitel 57  •  Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen

In der Forschungskooperation PRORETA zwi- Farbbild-Video-Kamera (CSF200) verwendet, die


41 schen der Technischen Universität Darmstadt und unterhalb des Rückspiegels montiert ist und ein
der Continental AG wurde zunächst ein elektroni- elektronisches Abbild der Situation vor dem Fahr-
42 sches Fahrerassistenzsystem zur Vermeidung von zeug liefert. Die einzelnen Bildpunkte werden in
Unfällen mit Hindernissen durch Notbremsen und acht Klassen wie z. B. Straße, Fahrzeug, Gras oder
Notausweichen entwickelt, siehe die 1. Auflage die- Bäume/Büsche segmentiert. Die dafür entwickelte
43 ses Handbuches und [1]. In einem zweiten Projekt Methode berücksichtigt neben lokalen Merkmalen
wurde ein Fahrerassistenzsystem für den Begeg- auf der Ebene der Bildpunkte auch Informationen
44 nungsverkehr, speziell für Überholvorgänge auf eines Objektdetektors und den zeitlichen Verlauf
Landstraßen konzipiert und praktisch erprobt [2]. der Videobilder. Der entsprechende grobe Signal-
45 Die Ergebnisse dieses zweiten Projektes werden im fluss ist in . Abb. 57.3 dargestellt.
Folgenden dargestellt. Die entwickelte Methode wird im Folgenden
in drei Stufen erläutert. Für eine eingehendere Be-
46 schreibung sei auf [4, 5] verwiesen.
57.1 Einleitung Bei der Segmentierung mit sogenannten Condi-
47 tional Random Fields (CRF) werden Gruppen von
Das Forschungsprojekt PRORETA 2 teilte sich nach 8  ×  8 Bildpunkten zu Knoten zusammengefasst.
den in . Abb. 57.1 dargestellten Funktionen auf drei Den einzelnen Knoten werden dann für jede Klasse
48 Institute der Technischen Universität Darmstadt (z. B. Straße, Fahrzeug) Wahrscheinlichkeitswerte
auf. Im Folgenden werden die Grundlagen des ent- zugeordnet. Dabei werden auf Basis von Filter-
49 wickelten Fahrerassistenzsystems und Ergebnisse bankantworten und anschließender Klassifikation
aus Fahrversuchen dargestellt. Erkennt das System, (siehe [6]) lokale Knotenpotenziale für größere
50 dass ein Überholmanöver auf Grund von heran- Gruppen von Bildpunkten gebildet. Zusätzlich er-
nahendem Gegenverkehr nicht sicher durchgeführt lauben paarweise Potentiale das Modellieren von
werden kann, wird der Fahrer zu einem Abbruch Nachbarschaftsbeziehungen.
51 des Überholmanövers bewegt, siehe . Abb. 57.2. Methoden zur Objektdetektion (z. B. [7]) er-
In [3] wurden die zur Realisierung einer Fah- lauben zuverlässigere Ergebnisse, da sie zur Be-
52 rerassistenz in Überholsituationen erforderlichen rechnung der Merkmale im Gegensatz zu CRF
Sensorreichweiten abgeschätzt. Für eine Startge- einen größeren Bildbereich mit einbeziehen. Um
schwindigkeit von 90 km/h und einem mit 120 km/h die Merkmale aus einem Objektdetektor mit in
53 fahrenden Gegenfahrzeug ergibt sich selbst für die Szenensegmentierung zu integrieren, wird das
einen relativ späten Zeitpunkt kurz vor der Vor- CRF-Basismodell durch das Einfügen zusätzlicher
54 beifahrt an dem vorausfahrenden Fahrzeug eine Zufallsvariablen zum sogenannten Objekt-CRF er-
Mindestreichweite von 375 m für die verwendete weitert.
55 Sensorik. Da dies deutlich über der Reichweite Die Erweiterung zum sogenannten Dynami-
heutiger ACC-Sensoren liegt, wurde zur Realisie- schen CRF berücksichtigt schließlich, dass die
rung des Fahrerassistenzsystems ein modifizierter Bewegungsgeschwindigkeiten im Bild für Fahr-
56 77-GHz-Radarsensor mit einer Reichweite von zeuge und die Hintergrundklassen (z. B. Bäume) in
400 Metern eingesetzt. hochdynamischen Überholsituationen höchst un-
57 terschiedlich sind. So werden Fahrzeugobjekte mit
einem Kalmanfilter verfolgt und die Wahrschein-
57.2 Videobasierte lichkeitsverteilung der Segmentierung zu einem
58 Gesamtszenensegmentierung Zeitpunkt in das nächste Eingabebild propagiert.
zur Bestimmung des . Abb. 57.4 zeigt einige Beispielergebnisse mit
59 Manöverraums dem von der Kamera aufgenommenen Eingabebild
(Spalte 1) und einer von Hand durchgeführten Klas-
60 Um ein genaueres Szenenverständnis im Nahbe- sifikation (Spalte 2) als Bewertungsgrundlage für die
reich (bis etwa 50 m) zu erhalten, wird eine CMOS- unterschiedlichen Segmentierungsmethoden.
57.3  •  Sensorfusion von Radar und Videosignalen
1095 57
.. Abb. 57.1 Aufgaben-
verteilung und Ablaufplan
der Entwicklung des
Überhol-Fahrerassistenz-
systems (PRORETA 2)

.. Abb. 57.2  Gefährliche Überholsituation mit Abbruchmanöver

.. Abb. 57.3 Signalfluss
für die videobasierte
Objekterkennung und
Szenensegmentierung

Es ist ersichtlich, dass die Verwendung eines 57.3 Sensorfusion von Radar
CRF-Basismodells (Spalte 4) im Vergleich zu einer und Videosignalen
reinen filterbasierten Klassifikation (Spalte 3) ein
deutlich geglättetes Ergebnis liefert. Jedoch treten Ein Fahrerassistenzsystem für Überholmanöver
Probleme bei der Klassifikation von Fahrzeugen auf, setzt die umfassende Kenntnis der Objekte im Fahr-
deren Bildpunkte oft fälschlicherweise zu anderen zeugumfeld voraus. Zentrales Element sind hierbei
Klassen (z. B. Straße) zugeordnet werden. Durch Fahrzeuge des Gegenverkehrs. Um eine frühe Si-
die zusätzlich integrierten Merkmale beim Objekt- tuationserkennung und eine Detektionsreichweite
CRF (Spalte 5) wird die Segmentierungsgenauigkeit von 400 m zu erreichen, sind RADAR oder LIDAR-
für Fahrzeuge deutlich verbessert. Das dynamische Systeme geeignet. Im Projekt PRORETA 2 wurde
CRF-Modell (Spalte 6) kann dagegen auch Fahr- der Radarsensorik der Vorzug gegeben, da diese
zeuge, die zeitweise nicht detektiert werden können, aufgrund der spezifischen Signalverarbeitung eine
besser segmentieren. weitaus geringere Dämpfung bei weit entfernten
Zur Weiterverarbeitung in nachgeschalteten Objekten aufweist. Die geforderte Reichweite von
Fahrerassistenzfunktionen stehen somit die Seg- 400 m konnte im Rahmen des Projekts durch die
mentierung der Gesamtszene im Videobild sowie Modifikation eines Seriensensors erreicht werden.
Objektdetektionen aus einem bildbasierten Objekt- Um eine möglichst exakte Schätzung und un-
detektor zur Verfügung. terbrechungsfreie Detektion des Zustandsvektors
1096 Kapitel 57  •  Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen

41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
.. Abb. 57.4  Beispielergebnisse für die Segmentierung von Landstraßenszenen mit den vorgestellten Modellen
52
für Fahrzeuge zu realisieren, wird ein Objekttra- eine solide Grundlage für die zuverlässige Funktion
cking mit einem Erweiterten Kalman-Filter (EKF) von Algorithmen, die dem Objekttracking nachge-
53 eingesetzt [8, 9, 10]. Dieses Filter ermöglicht auch lagert sind. . Abbildung 57.6 zeigt die Ergebnisse
die Fusion mit den Daten des oben beschriebenen der Detektion eines Gegenverkehrs-Fahrzeugs im
54 Objektdetektors, der im Erfassungsbereich bis 50 m Vergleich mit Ground-Truth Daten.
bessere Werte hinsichtlich der Lateralposition be- Die größte Lateralabweichung tritt hier im mo-
55 obachteter Fahrzeuge auf Landstraßen erreicht. Die deraten Bereich von etwa 2 m bei einer Entfernung
sich im Entfernungsbereich bis 50 m überdeckenden von ca. 260 m auf, wobei diese immer noch unter
Erfassungsbereiche beider Sensoren werden in einer einer Winkelabweichung von 0,5° liegt.
56 kooperativen Fusion zusammengeführt. Zudem verursachen Verlagerungen des Ra-
Eine Besonderheit im Bezug auf die Objekt- dar-Reflexionspunktes auf dem Zielfahrzeug auch
57 verfolgung ist die Anforderung, weit entfernte Abweichungen von etwa 1 m. Eine weitere Beson-
Objekte während eines Fahrstreifenwechsels ohne derheit im Bezug auf die Objekterkennung sind
Objektverlust verfolgen zu können. Dies ist ins- die auftretenden, hohen Relativgeschwindigkeiten.
58 besondere zu Beginn eines Überholvorgangs der Hier konnte die korrekte Funktion der Objektver-
Fall, . Abb. 57.5. Als Ergebnis erhält man eine folgung in realen Verkehrssituationen bis zu einer
59 kontinuierliche Objektverfolgung ohne Verlust der Relativgeschwindigkeit von –265 km/h experimen-
Objektspur, weil der erwartete Querversatz durch tell verifiziert werden und stellt somit ausreichende
60 die Gierbewegung des EGO-Fahrzeuges (A) bei der Reserven für die Beobachtung entgegenkommender
Assoziation berücksichtigt wird. Das Resultat bietet Fahrzeuge auf Landstraßen bereit.
57.4  •  Situationsanalyse für Überholvorgänge
1097 57

.. Abb. 57.5  Tracking eines entfernten Objektes im Gegenverkehr während eines Fahrstreifenwechsels und Verlauf der x- und
y-Positionen in EGO-Koordinaten. Ein Trackverlust wird vermieden, jedes Objekt bleibt dabei lateral getrennt.

.. Abb. 57.6  Schätzung der Position eines entfern-


ten Gegenverkehrsfahrzeuges (+) im Vergleich mit
den Ground-Truth-Daten (x) mit einer Relativ-
geschwindigkeit von 140 km/h und vA = 0. Die
Maximale Abweichung in lateraler Richtung liegt in
der Größenordnung von 2 m.

57.4 Situationsanalyse lich eines zu überholenden Fahrzeugs (B) werden


für Überholvorgänge quer- und längsdynamische Indikatorgrößen ge-
bildet. Die Erkennung der verschiedenen Manöver
Damit das Assistenzsystem im Gefahrenfall reagieren erfolgt über ein Zustandsdiagramm, in dem die
kann, muss in der Situationsanalyse zum einen die Übergänge zwischen den verschiedenen Manövern
Durchführung des Manövers und zum anderen das in Abhängigkeit der Indikatorgrößen modelliert
Vorliegen einer Gefahrensituation erkannt werden. sind. Um – falls notwendig – ein frühes Einleiten
Zunächst werden die Position, Orientierung unfallvermeidender Maßnahmen zu ermöglichen,
sowie Bewegung des Fahrzeugs relativ zu den Fahr- wird außerdem eine Prädiktion des Überholbeginns
streifen bestimmt. Auch dazu wird ein Erweiter- durchgeführt.
tes Kalmanfilter (EKF) verwendet, in dem durch Der Fahrstreifenwechsel beim Beginn des Über-
Kopplung eines Fahrzeug- und Fahrbahnmodells holmanövers wird dazu anhand eines Schwellwertes
die Daten von Fahrzeugdynamiksensorik und einer auf der Time-to-Line-Crossing (TLC) und einem
kamerabasierten Fahrstreifenerkennung fusioniert längsdynamischen Überholindikator I noch vor
werden. Dadurch gelingt eine fahrstreifenübergrei- dem eigentlichen Überfahren der Mittellinie vor-
fende Eigen-Lokalisation und es können kurzzeitige ausgesagt, siehe . Abb. 57.7. (Zur Odometrie und
Ausfälle der Fahrstreifenerkennung odometrisch Manövererkennung vgl. [11, 12]).
überbrückt werden. Basierend auf den geschätzten Bei Erkennung einer Überholsituation wird fort-
Größen der Odometrie sowie Umfelddaten bezüg- laufend bewertet, ob ein aus der Folgefahrtsituation
1098 Kapitel 57  •  Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen

41
42
43
.. Abb. 57.7  Detektion von Überholmanövern mittels längs- und querdynamischer Indikatorgrößen

44
45
46
47 .. Abb. 57.8  Prädizierte Time-to-Collision (TTCpred) zum Gegenverkehr als Maß für den Sicherheitsabstand d bei Überhol-Ende

gestartetes oder bereits begonnenes Überholmanö- tivgeschwindigkeit des entgegenkommenden Fahr-


48 ver ohne Gefahr durchgeführt bzw. beendet werden zeugs bei Überholbeginn ist ein frühes oder spätes
kann. Dazu wird basierend auf einem Modell des Abbruchmanöver erforderlich.
49 Beschleunigungsverhaltens eine Überholprädiktion Wenn ein Zurückfallen hinter das Vorderfahr-
vorgenommen und die Relativkinematik der betei- zeug erforderlich ist, wird mit konstanter Verzö-
50 ligten Fahrzeuge bis zum Ende des Überholmanö- gerung unter die Geschwindigkeit des Vorder-
vers vorausberechnet. fahrzeugs herabgebremst, jedoch nur bis zu einer
Für den Zeitpunkt des vollständigen Verlassens Mindestgeschwindigkeit, um ein dynamisches Zu-
51 des linken Fahrstreifens bei Überhol-Ende wird die rücklenken zu ermöglichen.
Time-To-Collision (TTC) zum Gegenverkehr ab- Aus den aktuellen Abständen und Geschwindig-
52 geschätzt. Diese Größe spiegelt die Abstandsreserve keiten der Fahrzeuge wird sowohl die erforderliche
zum Gegenverkehr (C) am Ende der Überholung Zeit treq als auch die verfügbare Zeit tavail für ein un-
wieder, siehe . Abb. 57.8. fallvermeidendes Abbruchmanöver berechnet.
53 Auf Basis der prädizierten TTC kann bereits Die erforderliche Zeit treq ist die Zeit, die (vo-
vor oder während des Überholbeginns abgeschätzt raussichtlich) vergeht, bis das Fahrzeug den linken
54 werden, ob beim Abschluss der Überholung ein aus- Fahrstreifen wieder verlassen hat. Muss das überho-
reichender Sicherheitsabstand d zum Gegenverkehr lende Fahrzeug vor dem Zurücklenken erst hinter
55 verbleiben wird. das Vorderfahrzeug zurückfallen, verlängert sich
Unterschreitet sie einen Schwellwert, ist der Ge- die erforderliche Zeit entsprechend. Um diese Zeit-
genverkehr bereits zu nah und das Überholmanöver dauer auch dann bestimmen zu können, wenn das
56 sollte unterlassen bzw. abgebrochen werden. Vorderfahrzeug bereits den Erfassungsbereich der
nach vorne gerichteten Sensoren verlassen hat, wird
57 das Fahrzeug ggf. modellbasiert weitergeführt [13,
57.5 Realisierung von Warnungen 12]. Für die Dauer des Zurücklenkens tsteer wird ein
und aktiven Eingriffen fester Wert angenommen, der einen komfortablen
58 Fahrstreifenwechsel ermöglicht (z. B. 3 s).
Sobald das Modul „Situationsinterpretation“ ein Die verfügbare Zeit tavail ist die Zeit, die vo-
59 gefährliches Überholmanöver meldet, informiert raussichtlich bis zum Eintreffen des entgegenkom-
das System den Fahrer durch Warnungen und be- menden Fahrzeugs am Heck des Vorderfahrzeugs
60 ginnt mit der Planung eines unfallvermeidenden vergeht. Beide Zeitmaße sind in . Abb. 57.9 veran-
Abbruchmanövers. Je nach Entfernung und Rela- schaulicht.
57.7 • Zusammenfassung
1099 57

.. Abb. 57.9  Erforderliche und verfügbare Zeit für einen Überholabbruch

Die Differenz der erforderlichen Dauer treq und das Assistenzsystem akustische Warnungen, um den
der verfügbaren Zeit tavail kann als Basis für die Fahrer zu einem Abbruch des Überholmanövers zu
Warnintensität verwendet werden. Ist die Differenz bewegen. Der Fahrer reagiert nicht auf die Warnung
zwischen der erforderlichen Dauer treq und der ver- und die Manövererkennung detektiert das Eintreten
fügbaren Zeit tavail gerade Null, wird das Fahrzeug au- in den Überholfahrstreifen, worauf das System einen
tomatisch abgebremst, so dass der Fahrer wieder hin- geringen Bremsdruck zur Vorbereitung des Brems-
ter dem vorausfahrenden Fahrzeug einscheren kann. systems aufbaut. Im weiteren Verlauf nähert sich die
notwendige Dauer für einen Überhol-Abbruch der
verfügbaren, sich durch den herannahenden Ge-
57.6 Ergebnisse von Fahrversuchen genverkehr verringernden Zeitdauer an. Bei t ≈ 8 s
ist der letztmögliche Zeitpunkt für einen Überho-
Anhand des in . Abb. 57.10 illustrierten Fahrver- labbruch erreicht, und das System bremst automa-
suchs auf dem Testgelände der TU Darmstadt wird tisch bis ein Einscheren hinter dem Vorderfahrzeug
die Funktionsweise des Assistenzsystems beispiel- möglich ist. Die akustische Warnung endet mit der
haft demonstriert. Erkennung des abgeschlossenen Abbruchmanövers.
Das Fahrzeug folgt einem vorausfahrenden
Fahrzeug mit der Geschwindigkeit vA ≈ 60 km/h.
Das vorausfahrende Fahrzeug wird im Abstand von 57.7 Zusammenfassung
dAB ≈ 30 m detektiert.
In der Manövererkennung wird bei t ≈ 4,3 s er- Schwere Unfälle bei Überholvorgängen motivieren
kannt, dass das eigene Fahrzeug beschleunigt und die Entwicklung eines entsprechenden Fahreras-
zu einem Überholmanöver ansetzt. Kurz darauf tritt sistenzsystems. In der vorliegenden Arbeit wird
das entgegenkommende Fahrzeug aus der Verde- die Konzeption und praktische Erprobung eines
ckung durch das vorausfahrende Fahrzeug und wird Fahrerassistenzsystems für Überholsituationen be-
bei t ≈ 4,8 s in einem Abstand von dAC ≈ 185 m de- schrieben.
tektiert. In der Situationsinterpretation wird der am Um die hierzu notwendigen sensorischen In-
Ende des Überholmanövers zu erwartende zeitliche formationen aus dem Fahrzeugumfeld zu erfassen,
Abstand (TTC) berechnet. wurde die Fusion von Video- und Radardaten vor-
Da die vorausberechnete TTC unterhalb der gestellt, die hohe Zuverlässigkeit bei der Detektion
hier gewählten Schwelle TTCmin = 2 s liegt, startet weit entfernter Objekte mit einer genauen Schätzung
1100 Kapitel 57  •  Antikollisionssystem PRORETA – Integrierte Lösung zur Vermeidung von Überholunfällen

41
42
43
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49
50
51 .. Abb. 57.10  Ergebnisse von Versuchsfahrten: Das Assistenzsystem assistiert beim Abbruch eines gefährlichen Überholmanövers

52
der Lateralposition und -geschwindigkeit näherer 57.8 Schlussbemerkung
Objekte vereinigt. Für die Detektion naher Objekte
53 wird der Einsatz eines videobasierten Fahrzeugklas- Dieser Beitrag entstand im Rahmen der For-
sifikators beschrieben. Dies ist die Basis, um eine schungskooperation PRORETA zwischen der Tech-
54 vorliegende Gefahrensituation aus der Verbindung nischen Universität Darmstadt und der Continental
einer signalbasiert erkannten Überholabsicht des AG. Das Forschungsprojekt wurde gemeinsam von
55 Fahrers sowie einer problematischen Konstellation den Instituten Automatisierungstechnik, Fahr-
der beteiligten Fahrzeuge zu detektieren. Wird eine zeugtechnik und Multimodale Interaktive Systeme
solche Gefahr erkannt, erfolgen Warnungen und durchgeführt. Die beteiligten Institute danken der
56 ein letztmöglicher Abbruch des Überholmanövers Continental AG für die großzügige Unterstützung
durch einen automatischen Bremseingriff, der dem und gute Zusammenarbeit.
57 Fahrer das Einscheren hinter dem vorausfahrenden Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Version des
Fahrzeug ermöglicht. Zeitschriftenartikels [14].
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts
58 PRORETA 2 erlauben, dem Fahrer eine Unter-
stützung zu bieten, um gefährliche Situationen bei Literatur
59 Überholmanövern rechtzeitig zu erkennen und un-
fallvermeidende Maßnahmen einzuleiten. [1] Bender, E., Darms, M., Schorn, M., Stählin, U., Isermann, R.,
Winner, H., Landau, K.: Antikollisionssystem Proreta – Auf
60 dem Weg zum unfallvermeidenden Fahrzeug. Automobil-
technische Zeitschrift (ATZ) 109(04), 336–341 (2007)
Literatur
1101 57
[2] Isermann, R.; Schiele, B.; Winner, H.; Hohm, A.; Mannale, R.;
Schmitt, K.; Wojek, C.; Lüke, S.: Elektronische Fahrerassis-
tenz zur Vermeidung von Überholunfällen – PRORETA 2.
VDI‐Berichte Nr. 2075, Elektronik im Kraftfahrzeug. Düssel-
dorf, 2009
[3] Mannale, R.; Hohm, A.; Schmitt, K.; Isermann, R.; Winner, H.:
Ansatzpunkte für ein System zur Fahrerassistenz in Über-
holsituationen. 3. Tagung Aktive Sicherheit durch Fahreras-
sistenz. Garching, 2008
[4] Wojek C.; Schiele, B: A dynamic conditional random field
model for joint labeling of object and scene classes. Eu-
ropean Conference on Computer Vision (ECCV). Marseille,
2008
[5] Wojek, C.: Monocular Visual Scene Understanding from
Mobile Platforms. Darmstadt, Technische Universität, Dis-
sertation 2010
[6] Torralba, A.; Murphy, K. P.; Freeman, W. T.: Sharing features:
Efficient boosting procedures for multiclass object detec-
tion. IEEE Computer Society Conference on Computer Vi-
sion and Pattern Recognition (CVPR), 2004
[7] Dalal, N., Triggs, B.: Histograms of oriented gradients for
human detection. CVPR, San Diego (2005)
[8] Winner, H., Danner, B., Steinle, J.: Adaptive Cruise Control.
In: Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch Fah-
rerassistenzsysteme. Vieweg+Teubner, Wiesbaden (2009)
[9] Darms, M.; Winner, H.: Validation of a Baseline System
Architecture for Sensor Fusion of Environment Sensors.
FISITA World Automotive Congress, Yokohama/Japan, 2006
[10] Hohm, A.: Umfeldklassifikation und Identifikation von
Überholzielen für ein Überholassistenzsystem. Fortschritt‐
Berichte VDI, Reihe 12, Nr. 727, Dissertation Technische
Universität Darmstadt 2010
[11] Schmitt, K.; Habenicht, S.; Isermann, R.: Odometrie und
Manövererkennung für ein Fahrerassistenzsystem für
Überholsituationen. 1. Automobiltechnische Kolloquium,
München, 2008
[12] Schmitt, K.: Situationsanalyse für ein Fahrerassistenzsys-
tem zur Vermeidung von Überhol­unfällen auf Landstra-
ßen. Fortschritt‐Berichte VDI, Reihe 12, Nr. 763, Dissertation
Technische Universität 2012
[13] Schmitt, K.; Isermann, R.: Vehicle State Estimation in Cur-
ved Road Coordinates for a Driver Assistance System for
Overtaking Situations. 21st International Symposium on
Dynamics of Vehicles on Roads and Tracks (IAVSD), Stock-
holm, 2009
[14] Hohm, A., Mannale, R., Schmitt, K., Wojek, C.: Vermeidung
von Überholunfällen. Automobiltechnische Zeitschrift
(ATZ) 112(10), 712–718 (2010)
1103 58

Kooperative
Fahrzeugführung
Frank Flemisch, Hermann Winner, Ralph Bruder, Klaus Bengler

58.1 Einführung  – 1104


58.2 Kooperation und Fahrzeugführung  –  1105
58.3 Kooperative Führung als Komplexbegriff
bzw. Cluster-Konzept – 1106
58.4 Gestaltungsraum der kooperativen
Fahrzeugführung – 1106
58.5 Parallele und serielle Aspekte der kooperativen
Fahrzeugführung – 1107
58.6 Zusammenhänge von Fähigkeiten, Autorität,
Autonomie, Kontrolle und Verantwortung
in der kooperativen Fahrzeugführung  –  1108
58.7 Ausblick: Vertikale und horizontale, zentrale und dezentrale
Aspekte der kooperativen Fahrzeugführung  –  1109
Literatur – 1109

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_58, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1104 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung

58.1 Einführung weg ein konsistentes Bild ganzheitlicher Assistenz


1 und Automation, die in diesem Artikel als inte­
Fahrerassistenzsysteme erlebten bereits seit den grierte, kooperative Führung assistierter, teil- und
2 Anfängen in den 70er und 80er Jahren eine fas- hochautomatisierter Fahrzeuge – kurz kooperative
zinierende Entwicklung, die noch längst nicht Fahrzeugführung – beschrieben wird. Assistiert,
abgeschlossen ist: Einerseits sind Einzelsysteme teil- und hochautomatisiert bezieht sich darauf,
3 wie ACC, LKAS, Parkassistenz etc. bereits in Se- dass die autonomen Fähigkeiten von Assistenz-
rie, die bestimmte Aspekte der Fahrzeugführung und Automationssystemen nicht nur für einen
4 unterstützen, indem sie z. B. die Längs- oder Quer- vollautomatisierten fahrerlosen Einsatz genutzt
führung assistieren. Andererseits gibt es Entwick- werden, sondern in integrierten, aufeinander abge-
5 lungen hin zu Fahrfähigkeiten mit immer höherer stimmten Assistenz- und Automationsgraden, wie
maschineller Autonomie, die ein vollautomatisier- sie in [1] beschrieben werden (s. auch ▶ Kap. 3).
tes Fahren ohne Eingriffe des Fahrers möglich er- So kann der Fahrer wahlweise – unterstützt durch
6 scheinen lassen. Eine weitere Entwicklung geht hin Assistenzsysteme – selbst fahren oder eher die
zum vernetzten Fahren, bei dem autonome Fahr- Teilautomation fahren lassen, z. B. durch Beauf-
7 zeuge untereinander und mit der Infrastruktur tragung von Manövern, wobei der Fahrer selbst
Daten austauschen und miteinander kooperieren ausreichend eingebunden sein und die Kontrolle
können. behalten soll. Der Ansatz enthält auch zukünftige
8 In dieser Entwicklung hin zu einer komplexeren Migrationsstufen, in denen der Mensch sich für
Assistenz und Automation stellen sich zahlreiche bestimmte Zeiträume und Strecken aus der Fahr-
9
-
Fragen:
Wie könnte bzw. wie soll diese Entwicklung
zeugführung herauslösen und die Hochautomation
fahren lassen kann.
10
- weitergehen?
Wie können verschiedene Einzelsysteme
schlüssig zu integrierten Gesamtsystemen
Integriert bezieht sich hier darauf, dass die
verschiedenen Einzelassistenz- und Automations-
systeme mit schlüssigen Assistenz- und Automa-

-
11 integriert werden? tionsgraden vom Fahrer als integriertes Ganzes
Wie können autonome Fähigkeiten genutzt wahrgenommen und genutzt werden können.
12 werden, ohne an ihren Limitierungen und . Abbildung 58.1 zeigt eine starke Vereinfachung

13 - Risiken zu scheitern?
Wie kann der Mensch, der bisher die Fahr-
zeugführung übernommen hat, weiterhin
mit all seinen Limitierungen und Fähigkeiten
des Gestaltungsraumes der Kontrolle, bei dem aus
einer eindimensionalen Skala der Kontrollvertei-
lung diskrete Assistenz- und Automationsgrade
(Modi) definiert werden: Ein Beispiel dafür sind

-
14 sinnvoll eingebunden werden? die in [1] skizzierten Assistenz- und Automations-
Wie können Mensch und Assistenz- bzw. Au- stufen, beginnend mit einem manuellen Modus, in
15 tomationssysteme effizient und sicher zusam- dem der Mensch die vollständige Kontrolle über die

16 - menarbeiten?
Wie kann eine Bevormundung vermieden
und ausreichende Selbstbestimmtheit und
Wahlmöglichkeiten des Fahrers bei gleichzeitig
Fahrzeugführung und regelung besitzt, bis hin zu
einem hochautomatisierten bzw. temporär vollau-
tomatisierten Bereich, in dem zeitlich begrenzt nur
die Maschine Kontrolle ausübt.
17 hoher Gebrauchstauglichkeit, Datenschutz und Kooperativ bezieht sich auf die wichtigste Qua-

58 - Freude an der Nutzung vorgesehen werden?


Wie kann eine Migrationsfähigkeit dieser
anfangs noch limitierten Technik hin zu leis-
tungsfähigeren Verkehrssystemen bei kontrol-
lität in diesen Verkehrssystemen, nämlich dass die
Automation nicht autonom, sondern überwiegend
in Zusammenarbeit mit dem Menschen, hier dem
Fahrer, eingesetzt wird. Die Kooperation von ver-
19 lierbaren Risiken sichergestellt werden? schiedenen Fahrzeugen durch z. B. Fahrzeug-Fahr-
zeug-Kommunikation kann eingeschlossen werden,
20 Anhand einer Reihe von DFG-, EU- und Industrie- entscheidend ist aber die Einbindung von Mensch
projekten entstand über Institutionsgrenzen hin- und Automation zu einer kooperativen Einheit.
58.2  •  Kooperation und Fahrzeugführung
1105 58

Assistiert/ Hoch-/
Semi- Teil-/Hoch-
Manuell Nieder- temporär Voll-
automatisiert automatisiert
automatisiert automatisiert

.. Abb. 58.1  Auf eine Dimension „Kontrollverteilung Fahrerautomation“ vereinfachter Gestaltungsraum der kooperativen
Fahrzeugführung (orientiert an [1, 2, 3])

Wa
hrn
eh
mu
fahrbezogene ng
Aufgabe
Absicht

Interaktion
Arbitrierung Aktion

Absicht
nicht-
fahrbezogene
Aufgabe
ng
h mu
h rne
Wa

.. Abb. 58.2  Links: Prototypischer Wechsel zwischen Aufgabentypen als Teil einer Kooperation; rechts: Kooperative Führung
von Fahrzeugen als integral ineinandergreifende Führungs- und Regelkreise nach [4]

Bevor in den zwei folgenden Beiträgen auf Wahrnehmung basierend Absichten bilden, die
konkrete Instanziierungen der kooperativen Fahr- dann in kooperative Handlung umgesetzt werden
zeugführung näher eingegangen wird (s. ▶ Kap. 59 (s.  . Abb. 58.2). Kooperative Kontrolle und Füh-
und 60), skizziert dieser Übersichtsartikel Grund- rung beinhalten den Fall, dass Mensch und Compu-
konzepte und -philosophie der kooperativen Fahr- ter an der gleichen Kontrollstrecke wirken, was auch
zeugführung. „geteilte Kontrolle/Shared Control“ [7, 8] oder „ge-
teilte Autorität“ [9, 10] genannt wird. Kooperative
Kontrolle beinhaltet aber auch die Möglichkeit, Auf-
58.2 Kooperation gaben ganz oder teilweise an verschiedene Agenten
und Fahrzeugführung delegieren zu können, wie dies z. B. [11] bereits skiz-
ziert; weiterhin kann kooperative Kontrolle Aspekte
„Kooperation“ ist abgeleitet vom lateinischen „co“ von Adaptivität und Adaptierbarkeit beinhalten, wie
(zusammen) und „operatio“ (Arbeit, Arbeiten, Tun) dies z. B. [12] als adaptive Automation beschreiben.
und wird allgemein verstanden als „Zusammenar- Der Gebrauch des Wortes „Kooperation“ im Kon-
beit“ [5] oder „Aktion oder Prozess der Zusammen- text der Mensch-Maschine-Kooperation wurde
arbeit hin zu gemeinsamen Zielen“ [6]. Kooperative bereits durch [11, 13] oder [14] skizziert, in einem
Fahrzeugführung und -regelung wird hier verstan- Rahmenwerk für Mensch-Maschine Kooperation
den als die Zusammenarbeit von mindestens einem generalisiert (z. B. von [15]) und für die Fahrzeug-
Menschen und mindestens einem Computer bei führung angewandt z. B. durch [3, 16, 17, 18, 19]
der Führung eines oder mehrerer Fahrzeuge, wo- und [20]. Weitere Beispiele kooperativer und geteil-
bei sowohl Mensch als auch Automation auf ihrer ter Kontrolle beschreiben auch [8].
1106 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung

1
Umwelt

Mensch-Maschine-System
Navigation Führung Stabilisierung

2 Navigation
Manöver- Trajektorien- Steuerung und
Fahrer

führung führung Regelung

3 Mensch-
Maschine-
Schnittstelle
Eingabe- Eingabe- Eingabe- Eingabe-

4 Aufgabe
gerät gerät gerät gerät
Ergebnis
Fahrzeug

5 Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät
Anzeige-
gerät

6 Navigations- Manöver- Trajektorien-


Steuerungs-und
Regelungs-
rechner US US
rechner

7 Automation

8 .. Abb. 58.3  Generisches Kontrollflussdiagramm der kooperativen Fahrzeugführung nach [21]

9 58.3 Kooperative Führung


- kompatible Repräsentation von Bewegung

-
als Komplexbegriff durch den Raum,
bzw. Cluster-Konzept
10 nicht notwendigerweise explizite, aber

Im Weiteren wird der Begriff „kooperative Fahr-


- kompatible Ziele- und Wertesysteme,
gegenseitige Nachvollziehbarkeit von Fähigkei-

-
11 zeugführung“ weniger als scharfe Definition gese- ten und Absichten,
hen, sondern vielmehr als Komplexbegriff (Clus- klare, möglicherweise dynamische Verteilung
12
13
terkonzept) verstanden. Das Clusterkonzept geht
zurück auf die fundamentale Kritik an der klassi-
schen Definitionstheorie von Ludwig Wittgenstein
und beschreibt ein Konzept anhand einer Liste und
-- der Kontrolle,
Vermeidung oder Arbitrierung von Konflikten,
Adaptivität und Adaptierbarkeit der Maschine
für eine gute Balance aus Stabilität und Agili-
Beschreibung von damit verbundenen Attributen tät.
14 (siehe z. B. [22, 23]). Daher wird kooperative Fahr-
zeugführung hier so verstanden, dass folgende As-
58.4 Gestaltungsraum
15 pekte jeweils einzeln nicht zwingend erforderlich
der kooperativen
sind, aber zu einer Kooperativität der Fahrzeug-

-
führung beitragen: Fahrzeugführung
16 autonome Fähigkeiten zur Führung, sowohl
auf Seite der Maschine als auch beim Men- Kooperative Aktivitäten können nach Ebenen un-
17
58
- schen;
intuitive Interaktion mit ausreichender äußerer
Kompatibilität, d. h. ausreichende Passung der
äußeren Schnittstellen zwischen Mensch und
terschieden werden, z. B. die Aktions-, Planungs-
und Metaebene [24, 25]: Betrachtet man zunächst
die Aktions- und Planungsebene, kann die Kont-
rolle auf verschiedenen Ebenen der Bewegungsauf-

19
20
- Maschine;
innere Kompatibilität zwischen Mensch und
Maschine, d. h. ausreichende Passung der
inneren, i. d. R. kognitiven Untersysteme des
gabe erfolgen. Dazu wurde ausgehend von den drei
Ebenen „Navigation, Führung und Stabilisierung“
[28] und weiteren Anregungen aus [26, 27, 29], ein
gemeinsames generisches Modell der Fahrzeug-
Menschen und der Maschine; insbesondere: führung mit vier Ebenen entwickelt (. Abb. 58.3).
58.5  •  Parallele und serielle Aspekte der kooperativen Fahrzeugführung
1107 58

Fahrer
Steuerung
Manöver- Trajektorien-
Navigation und
führung führung
Regelung

Parallel
Fahrzeug

Seriell

Steuerung
Manöver- Trajektorien-
Navigation und
führung führung
Regelung
Automation

.. Abb. 58.4  Serielle versus parallele Fahrzeugführung

Bereits bei frühen Ansätzen der kooperativen 58.5 Parallele und serielle Aspekte
Fahrzeugführung [30, 31] zeigte es sich von Vor- der kooperativen
teil, die Führungsebene weiter nach Manöver- und Fahrzeugführung
Trajektorienführung zu unterscheiden. Manöver
(ausgeführte Wendung, taktische Bewegung [32]) Kooperative Fahrzeugführung kann über die Ebe-
wird hier, vergleichbar dem Oxford Dictionary [33], nen der Fahrzeugführung verschiedene Formen von
als ein räumlich und zeitlich zusammenhängendes Kontrollflüssen und Verteilungen einnehmen und
Schema der Bewegung des Fahrzeugs in Relation kombinieren. Die für das Verständnis wichtigsten
zur Umgebung verstanden. Ein Beispiel für ein Eigenschaften sind die der Serialität versus Paral-
Fahrmanöver ist der Fahrstreifenwechsel. Die An- lelität (siehe . Abb. 58.4): So können die Koope-
zahl der möglichen Manöver für eine Fahrmission rationspartner Mensch und Maschine seriell, d. h.
ist üblicherweise klein im Vergleich zu den vielen nacheinander agieren, indem z. B. der Mensch der
Möglichkeiten, ein Manöver zu instanziieren, z. B. Maschine einen Auftrag gibt, den die Maschine dann
als Trajektorie – also als Vektor von Ort und Zeit abarbeitet. Ein Beispiel ist die Manöverbeauftragung
einer potenziellen oder realen Bewegung eines aus- über eine gesonderte Manöverschnittstelle, realisiert
gewählten Punktes eines sich bewegenden Objekts, im Konzept Conduct-by-Wire (s. ▶ Kap. 59). Die
z. B. des Schwerpunkts. Kooperationspartner können auch parallel agie-
Ausgehend von ausreichenden Fähigkeiten von ren, z. B. indem sie beide Beiträge zu der gleichen
Mensch und Computer kann auf allen Ebenen der Aufgabe liefern: Ein Beispiel ist die Kooperation auf
Bewegungsaufgabe Kooperation zwischen Fahrer der Steuerungsebene im H-Mode (s. ▶ Kap. 60), bei
und Automation erfolgen: Die Rollenverteilung die- der sowohl der Fahrer als auch der Mensch gleich-
ser Kooperation kann statisch sein, kann sich aber zeitig, aber zu unterschiedlichen Anteilen auf ein
auch dynamisch über die verschiedenen Ebenen än- haptisches Stellteil, z. B. ein aktives Lenkrad oder
dern. Die Kontrollschleifen über die verschiedenen einen aktiven Sidestick wirken. Serielle und paral-
Ebenen beeinflussen einander, unterscheiden sich lele Aspekte können auch kombiniert werden, z. B.
aber auch in ihrer zeitlichen Charakteristik: Übli- im H-Mode, mit dem ein Manöver durch eine Geste
cherweise nimmt die Handlungsfrequenz von der am Stellteil sequenziell beauftragt werden kann, die
vergleichsweise niederfrequenten Navigation hin dann vom Fahrer parallel zur Aktion der Automa-
zur vergleichsweise hochfrequenten Regelung zu. tion noch „mitgefühlt“ und mitbeeinflusst werden
1108 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung

1 Entwicklung Einsatz Evaluation

Situation S1 Situation S2
2
Wahrnehmung
[gut]
3 Kontrolle
Aktion
4 Interaktion
base-
system
Situation S3
Aktion
Gestalte,
5 Implementiere
Vorschriften und
Kontrolle
[schlecht]
Evaluiere Kontrolle,
weise
Verantwortung zu
Richtlinien

6 Erfahrungen aus
Wahrnehmung

der

7 Vergangenheit

Fähigkeiten (der Maschine), Kontrolle Verantwortung


Autorität,
8 Verantwortung

9 .. Abb. 58.5  Kooperation zu Fähigkeiten, Autorität, Autonomie, Kontrolle und Verantwortung im Lebenszyklus eines koopera-
tiven Fahrzeugführungssystems, nach [10]
10
kann. Die Aspekte der Serialität und Parallelität mie, Kontrolle und Verantwortung, z. B. dass die zu-
können entscheidenden Einfluss auf die Zuverläs- gestandene Autorität nicht höher sein sollte als die
11 sigkeit, Adaptierbarkeit, Adaptivität und Resilienz Fähigkeiten. Weiterhin ergibt sich, dass Kontrolle
des Gesamtsystems, z. B. bei Ausfall von Untersys- nur mit ausreichenden Fähigkeiten und einem Min-
12 temen, haben. destmaß an Autonomie möglich und nur mit einem
Mindestmaß an Autorität sinnvoll ist und dass Fahrer
oder Automation vor allem nur dann die Verantwor-
13 58.6 Zusammenhänge tung übernehmen sollten, wenn ein Mindestmaß an
von Fähigkeiten, Autorität, Fähigkeiten, Autonomie und damit möglicher Kon­
14 Autonomie, Kontrolle trolle über eine Situation vorhanden ist. Diese Ab-
und Verantwortung hängigkeiten sind dynamisch, so kann z. B. die Kon­
in der kooperativen
15 Fahrzeugführung
trolle der Automation vom Fahrer autorisiert werden,
sinnvollerweise nur dann, wenn die Automation in
der Situation auch über die Fähigkeiten zur Kontrolle
16 Die Dynamik der Kooperation wird entscheidend verfügt. Andererseits sollte Kontrolle dann wieder an
geprägt durch die Fähigkeiten der Partner zur Si- den jeweils anderen Kooperationspartner zurückge-
17 tuationsbeeinflussung und zur Kooperation, der geben werden, wenn die Fähigkeiten zur Kontrolle
von außen während der Entwicklungsphase oder zu gering werden. Entscheidend dabei ist das Situa-
der vom anderen Partner zugestandenen Autori- tionsbewusstsein zu den Fähigkeiten des jeweiligen
58 tät und des Autonomiegrades, der Kontrolle über Partners und der Autoritäts- und Kontrollverteilung,
Sachverhalte der Situation und der im Nachhinein die durch geeignete Mensch-Maschine-Interaktion
19 evaluierten und eingeforderten Verantwortung wie entscheidend verbessert werden kann.
in . Abb. 58.5 dargestellt wird. Eine Übersicht zu diesen Zusammenhängen ge-
20 Dabei ergeben sich Doppel- und Mehrfachbin- ben [10], den Zusammenhang mit der rechtlichen
dungen zwischen Fähigkeiten, Autorität, Autono- Situation skizzieren [1].
Literatur
1109 58
.. Abb. 58.6 Horizontale horizontal
und vertikale Kooperation
in der Fahrzeugführung

vertikal vertikal

horizontal

58.7 Ausblick: Vertikale werken horizontaler und vertikaler Kooperationen


und horizontale, zentrale die dynamische Verhandlung über die Verteilung
und dezentrale Aspekte von Kontrolle zwischen den menschlichen und ma-
der kooperativen schinellen Akteuren auch dann noch klar zu durch-
Fahrzeugführung denken, wenn die Anzahl der Kooperationspartner
in zukünftigen Verkehrssystemen zunimmt.
Neben der hier betrachteten Kooperation zwischen
Fahrer und Fahrzeug gilt es im realen Straßenver-
kehr auch die Kooperation zwischen Verkehrsteil- Literatur
nehmern zu betrachten, ohne die die Fahrzeugfüh-
rung unvollständig wäre. Zur Unterscheidung der 1 Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Eier, J., Flemisch,
F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer, M.,
Kooperationen wird die Fahrer-Automation-Ko-
Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., Vogt, W.: Projektgruppe
operation als vertikale Kooperation verstanden „Rechtsfolgen zunehmender Fahrzeugautomatisierung“
und die Kooperation zwischen Verkehrsteilneh- Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Wirt-
mern als horizontale Kooperation, vgl. . Abb. 58.6. schaftsverlag NW, Bergisch Gladbach (2012)
Lief letztere bisher ausschließlich über Mensch- 2 Hoeger, R., Zeng, H., Hoess, A., Kranz, T., Boverie, S., Strauss,
M., Jakobsson, E., Beutner, A., Bartels, A., To, T.-B., Stratil,
zu-Mensch-Verhandlung ab, muss die Automation
H., Fürstenberg, K., Ahlers, F., Frey, E., Schieben, A., Mose-
auch angemessen in die horizontale Kooperation bach, H., Flemisch, F., Dufaux, A., Manetti, D., Amditis, A.,
integriert werden, woraus sich eine Vielzahl an Mantzouranis, I., Lepke, H., Szalay, Z., Szabo, B., Luithardt,
neuen Fragen, aber auch neuen Lösungsmöglich- P., Gutknecht, M., Schömig, N., Kaussner, A., Nashashibi, F.,
keiten ergibt. Vertikale und horizontale Koopera- Resende, P., Vanholme, B., Glaser, S., Allemann, P., Seglö, F.,
Nilsson, A.: Final Report, Deliverable D61.1. Highly automa-
tion kann im Sinne von sich gegenseitig ergänzen-
ted vehicles for intelligent transport (HAVEit), 7th Frame-
den Kooperationsnetzwerken gedacht werden, die work programme (2011)
neue Kooperationsschemata ermöglichen [34, 35]. 3 Flemisch, F., Adams, C., Conway, S., Goodrich, K., Palmer,
Ein weiterer wichtiger Freiheitsgrad der Koopera- M., Schutte, M.: The H‐Metaphor as a Guideline for Ve-
tionsnetzwerke ist, dass sie sowohl Aspekte dezen- hicle Automation and Interaction. Report No Bd. NASA/
TM‐2003‐212672. NASA Research Center, Hampton (2003)
traler Kooperation, z. B. Kooperation zwischen den
4 Flemisch, F., Meier, S., Baltzer, M., Altendorf, E., Heesen,
Einzelfahrzeugen, als auch zentraler bzw. zentral M., Griesche, S., Weißgerber, T., Kienle, M., Damböck, D.:
vermittelter Kooperation, z. B. über eine Verkehrs- Fortschrittliches Anzeige‐ und Interaktionskonzept für
leitwarte, umfassen kann. Die ausschließlich zent- die kooperative Führung hochautomatisierter Fahrzeuge:
rale Steuerung durch eine Verkehrsleitzentrale stellt Ausgewählte Ergebnisse mit H‐Mode 2D 1.0 54. Fachaus-
schusssitzung Anthropotechnik: Fortschrittliche Anzei-
im Gestaltungsraum eines ansonsten kooperativen
gesysteme für die Fahrzeug‐ und Prozessführung. (2012)
Verkehrssystems eine extreme Ausprägung dar, die 5 Duden: Kooperation. Online‐URL: http://www.duden.de/
z. B. für besondere Situationen eingesetzt werden rechtschreibung/Kooperation. Letzter Abruf: 16.06.2014
kann. Insgesamt ermöglicht das Denken in Netz-
1110 Kapitel 58 • Kooperative Fahrzeugführung

6 Oxford Dictionaries: cooperation. Online‐URL: http://www. Vehicles: H‐Mode and Conduct‐by‐wire. Ergonomics 57(3),
1 oxforddictionaries.com/definition/english/cooperation. 343–360 (2014)
Letzter Abruf: 16.06.2014 22 Swartz, D.: Culture and Power: The Sociology of Pierre Bour-
7 Griffiths, P., Gillespie, R.: Shared control between human dieu. The University of Chicago Press, Chicago, IL (1997)
2 and machine: haptic display of automation during manual 23 Gottschalk-Mazouz, N.: Was ist Wissen? Überlegungen zu
control of vehicle heading. In: Proceedings of the 12th einem Komplexbegriff. In: Ammon, S., Heineke, C., Selb-
International Symposium on Haptic Interfaces for Virtual mann, K. (Hrsg.) Wissen in Bewegung. Weilerswist, Velbrück
3 Environment and Teleoperator Systems. IEEE, Chicago, IL (2007)
(2004) 24 Hoc, J.: Towards a Cognitive Approach to Human‐Machine

4 8 Mulder, M., Abbink, D., Boer, E.: Sharing Control With Hap-
tics: Seamless Driver Support From Manual to Automatic
Cooperation in Dynamic Situations. International Journal
of Human‐Computer Studies 54, 509–540 (2001)
Control. Human Factors 54(5), 786–798 (2012) 25 Pacaux-Lemoine, M.-P., Debernard, S.: Common Work

5 9 Inagaki, T.: Smart Collaboration Between Humans and Ma-


chines Based on Mutual Understanding. Annual Reviews in
Space or How to Support Cooperative Activities Between
Human Operators: Application to Fighter Aircraft Enginee-
Control 32, 253–261 (2008) ring. In: Harris, D. (Hrsg.) Engineering Psychology and Cog-
6 10 Flemisch, F., Heesen, M., Hesse, T., Kelsch, J., Schieben, A.,
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automation: Authority, Ability, Responsibility and Control Ergonomics 13(3), 353–377 (1970)
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27 Sheridan, T.: Toward a General Model of Supervisory Cont-
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netics 13(3), 257–266 (1983) 190 (1982)
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13 Hollnagel, E., Woods, D.: Cognitive Systems Engineering: 30 Winner, H., Hakuli, S.: Conduct‐by‐Wire – following a new
New Wine in New Bottles. International Journal of Man‐ paradigm for driving into the future FISITA 2006 World Au-
11 Machine Studies 18, 583–600 (1983) tomotive Congress, Yokohama, Japan. (2006)
14 Sheridan, T.: Humans and Automation: System Design and 31 Flemisch, F., Kelsch, J., Schieben, A., Schindler, J.: Stücke

12 Research Issues. Human Factors and Ergonomics Society,


Santa Monica, CA (2002)
des Puzzles hochautomatisiertes Fahren: H‐Metapher und
H‐Mode 4. Workshop Fahrerassistenzsysteme, Löwenstein,
15 Hoc, J.: From Human – Machine Interaction to Human – 4–6 Oktober 2006. (2006)

13 16
Machine Cooperation. Ergonomics 43(7), 833–843 (2000)
Hoc, J., Mars, F., Milleville-Pennel, I., Jolly, E., Netto, M.,
32 Duden: Manöver. Online‐URL: http://www.duden.de/recht-
schreibung/Manoever. Letzter Abruf: 16.06.2014
Blosseville, J.: Evaluation of Human‐Machine Cooperation 33 Oxford Dictionaries: manoeuvre. Online‐URL: http://www.
14 Modes in Car Driving for Safe Lateral Control in Bends:
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oxforddictionaries.com/definition/english/manoeuvre.
Letzter Abruf: 16.06.2014
Humain 69, 153–182 (2006) 34 Flemisch und Lüdke: Persönliches Gespräch, 2009
15 17 Biester, L.: Cooperative Automation in Automobiles. Diss.,
Humboldt‐Universität zu Berlin, 2008
35 Zimmermann, M., Bengler, K.: A Multimodal Interaction
Concept for Cooperative Driving Intelligent Vehicles Sym-
18 Holzmann, F.: Adaptive Cooperation Between Driver and posium (IV). IEEE, Gold Coast, QLD (2013)
16 Assistant System. Springer, Berlin (2007)
19 Flemisch, F., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler,
J.: Automation Spectrum, Inner/Outer Compatibility and
17 Other Potentially Useful Human Factors Concepts for As-
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renz, B., Oberheid, H., Brookhuis, K. (Hrsg.) Human Factors
58 for Assistance and Automation. Shaker, Maastricht (2008)
20 Hakuli, S., Bruder, R., Flemisch, F., Löper, C., Rausch, H.,
Schreiber, M., Winner, H.: Kooperative Automation. In:
19 Winner, H., Hakuli, S., Wolf, G. (Hrsg.) Handbuch Fahreras-
sistenzsysteme. Vieweg + Teubner, Wiesbaden (2009)

20 21 Flemisch, F., Bengler, K., Winner, H., Bruder, R.: Towards a


Cooperative Guidance and Control of Highly Automated
1111 59

Conduct-by-Wire
Benjamin Franz, Michaela Kauer, Sebastian Geyer 1, Stephan Hakuli 1

59.1 Einleitung – 1112
59.2 Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug  –  1112
59.3 Manöver und Fahrfunktionen  –  1113
59.4 Fazit und Ausblick  –  1120
Literatur – 1121

1 Der Beitrag zu dieser Veröffentlichung wurde während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Darmstadt erarbeitet.

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_59, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1112 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire

59.1 Einleitung um eine rote Ampel), das Entscheiden (z. B. an der


1 roten Ampel anhalten) und das Handeln (z. B. die
Eine mögliche Ausprägung der kooperativen Fahr- Bremse betätigen). Hierbei wird davon ausgegangen,
2 zeugführung (▶ Kap. 58) stellt das Fahrzeugfüh- dass der Mensch zum gegenwärtigen Zeitpunkt in
rungsparadigma Conduct-by-Wire [1] dar. Beim einigen Schritten Vorteile gegenüber einer Auto-
Fahren mit Conduct-by-Wire übergibt der Fahrer mation hat, wohingegen in anderen Schritten die
3 dem Fahrzeug Manöverbefehle – wie beispielsweise Automation Vorteile gegenüber dem Menschen hat
ein Fahrstreifenwechsel links – und Parameterbe- (vgl. [6, 10]–[14]). Bei der Entwicklung von Con-
4 fehle – wie beispielsweise die Wunschgeschwindig- duct-by-Wire wurden diese Unterschiede zwischen
keit – die anschließend vom Fahrzeug überprüft menschlichen und technischen Stärken verwendet,
5 und mit der Hilfe von Fahrfunktionen selbstständig um eine Basis für die Aufgabenteilung zwischen
ausgeführt werden [2]. Aus der Sicht des Fahrers Fahrer und Automation zu gestalten (vgl. [9]). Es
wandelt sich hierbei die kontinuierliche Eingabe wurde davon ausgegangen, dass der Mensch bei der
6 von Stellgrößen (z. B. Lenken, Bremsen) auf Stabili- Entdeckung eines Reizes Vorteile gegenüber einer
sierungsebene in eine diskrete Eingabe von Befehlen Automation hat (z. B. hohe Empfindlichkeit für vi-
7 auf Bahnführungsebene (. Abb. 59.1; für eine Erklä- suelle und akustische Reize), wohingegen die Au-
rung des Drei-Ebenen-Modells der Fahrzeugfüh- tomation über eine größere Bandbreite an Sensorik
rung siehe ▶ Kap. 2 sowie [3]). Durch die Verschie- verfügt (z. B. Radarstrahlung) [12]. Das Entdecken
8 bung der Interaktion auf die Bahnführungsebene von Reizen ist deshalb bei Conduct-by-Wire eine ge-
mussten bei der Entwicklung von Conduct-by-Wire meinsame Aufgabe von Mensch und Fahrzeug (siehe
9 mehrere zentrale Themen untersucht werden. Die . Abb. 59.3): Sowohl bei der Erkennung von Reizen
im Folgenden präsentierten Ergebnisse der For- hat zum Teil der Mensch Vorteile gegenüber der
10 schungsarbeiten stammen aus mehreren von der Automation (z. B. sehr gute Mustererkennung bei
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten visuellen und akustischen Reizen) als auch die Au-
Projekten. Begonnen wird hier mit der Aufga- tomation gegenüber dem Menschen (z. B. schnelle
11 benteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug (▶ Ab- Reaktionszeiten) [12]. Die Erkennung von Reizen
schn. 59.2), anschließend werden in ▶ Abschn. 59.3 bei Conduct-by-Wire wird daher gemeinschaftlich
12 die Manöver und deren Fahrfunktionen sowie die vom Fahrer sowie dem Fahrzeug übernommen
Manöverübergabe beschrieben. Das Kapitel schließt (siehe . Abb. 59.3). Auch bei Entscheidungspro-
mit einem Fazit sowie einem Ausblick über zukünf- zessen ergeben sich Vorteile in Bezug auf den Men-
13 tige Forschungsthemen (▶ Abschn. 59.4). schen sowie die Maschine: Maschinen entscheiden
im Allgemeinen schneller und fehlerrobuster als
14 Menschen, wenn ein festgelegter Entscheidungs-
59.2 Aufgabenteilung zwischen baum zugrunde liegt [12]. Der Mensch hat hingegen
Fahrer und Fahrzeug
15 Vorteile, wenn Entscheidungen auf Basis nicht voll-
ständiger Informationen getroffen werden müssen
Die Aufgabenteilung zwischen Mensch und Ma- [12]. Bei Conduct-by-Wire werden daher regelba-
16 schine stellt ein zentrales Element bei der Auto- sierte Entscheidungen vom Fahrzeug und alle wei-
mation von Funktionen dar (u. a. [6, 7]). Um den teren vom Fahrer getroffen (siehe . Abb. 59.3). Bei
17 Fahrer bestmöglich zu unterstützen, wurde bei der der Handlungsausführung überwiegen die Vorteile
Entwicklung von Conduct-by-Wire auf den einfa- der Automation (z. B. präzise Ausregeln von Spurab-
chen Informationsverarbeitungsprozess des Men- weichungen) [12], so dass die Handlungsausführung
18 schen (u. a. [8]) zurückgegriffen. bei Conduct-by-Wire auf der Seite der Automation
Der einfache Informationsverarbeitungspro- angesiedelt ist. Für eine ausführlichere Beschreibung
59 zess (. Abb. 59.2) ist in vier aufeinander folgende der Zuordnung siehe [9].
Schritte gegliedert: die Entdeckung eines Reizes Konkretisiert für die Fahraufgabe bedeutet
20 (z. B. Entdecken eines Lichtreizes), das Erkennen dies bei der Nutzung von Conduct-by-Wire (vgl.
des Reizes (z. B. bei dem Lichtreiz handelt es sich [9]), dass Fahrzeug und System gemeinsam an der
59.3  •  Manöver und Fahrfunktionen
1113 59
.. Abb. 59.1 Drei-Ebe-
nen-Modell der
Fahrzeugführung für
Conduct-by-Wire (aus [4];
nach [5])

.. Abb. 59.2  Einfacher Informationsverarbeitungsprozess (nach [8]). Darstellung aus [9]

.. Abb. 59.3  Grundlegende Aufgabenteilung bei Conduct-by-Wire auf Basis des einfachen Informationsverarbeitungsprozes-
ses nach [8]. Darstellung aus [9]

Entdeckung und Erkennung von Reizen aus der Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug [2]. Nach
Umgebung beteiligt sind. Auf Basis der erkannten Eingabe der Parameter werden diese ebenfalls vom
Reize gibt das Fahrzeug dem Menschen einen Ent- Fahrzeug auf Ausführbarkeit überprüft und selbst-
scheidungsraum vor, der die vom Fahrzeug in der ständig umgesetzt, da beispielsweise die tatsächlich
aktuellen Verkehrssituation sicher durchführbaren gefahrene Fahrzeuggeschwindigkeit nicht immer
Manöver beinhaltet (z. B. wird kein Fahrstreifen- der vom Fahrer eingestellten Wunschgeschwindig-
wechsel nach rechts angeboten, wenn kein rech- keit entspricht, sondern sich nach der rechtlichen
ter Fahrstreifen vorhanden ist). Der Fahrer wählt und physikalischen Geschwindigkeitsbegrenzung
anschließend aus diesem Entscheidungsraum richtet.
eine Option aus und übergibt diese mithilfe der
Mensch-Maschine-Schnittstelle an das Fahrzeug.
Das Fahrzeug übersetzt diese Entscheidung mit der 59.3 Manöver und Fahrfunktionen
Hilfe von Fahrfunktionen in Stellgrößen und führt
die Handlung aus. Im Konzept Conduct-by-Wire wird zwischen ex-
Die an das Fahrzeug übergebenen Manöverbe- pliziten und impliziten Manövern unterschieden
fehle können zusätzlich vom Fahrer parametrisiert (vgl. [2, 4, 15]). Explizite Manöver stellen in sich
werden. Hierfür stehen dem Fahrer insgesamt drei abgeschlossene Handlungseinheiten dar, die durch
Parameter zur Verfügung: die Wunschgeschwin- eine Aktion des Fahrers initiiert und im Anschluss
digkeit, die Exzentrizität im Fahrstreifen und die durch das Fahrzeug ausgeführt werden (z. B. ein
1114 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire

.. Abb. 59.4 Darstellung
1 der Übergänge zwischen
einem expliziten und
einem impliziten Manöver
2 sowie beim Übergang von
der bzw. zur herkömm-
lichen Fahrzeugführung [4]
3
4
5
6
7
.. Tab. 59.1  Manöver und Parameter von Con- Die für Conduct-by-Wire relevanten Manöver
wurden auf Basis von bestehenden Arbeiten (u. a.
8 duct-by-Wire (nach [9, 15])
[2]) durch Verwendung der Entscheidungspunkt-
Manöver
analyse (vgl. [4, 15]) identifiziert und für verschie-
9 dem Straßenverlauf folgen
(inklusive bremsen, stehen und
implizit
dene Nutzungskontexte (Autobahn-, Überland- und
anfahren)
Stadtfahrt) definiert. Weiterhin wurden den einzel-
10 geradeaus explizit
nen Manövern Fahrfunktionen zugeordnet, aus de-
nen das Fahrzeug das gewünschte Manöver zusam-
Fahrstreifenwechsel links/rechts explizit mensetzt. Eine Übersicht über alle Manöver und
11 abbiegen (halb) links/rechts explizit Parameter von Conduct-by-Wire kann . Tab. 59.1
entnommen werden. Im nachfolgenden Abschnitt
12 Parameter
wird die Entwicklung und Evaluation der Fahrfunk-
Wunschgeschwindigkeit tionen beschrieben.
13 Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug (1 s; 1,5 s;
2 s; 2,5 s)
59.3.1 Entwicklung und Evaluation
Exzentrizität im Fahrstreifen (20 % der Fahrstreifen-
14 breite links, 10 % links, keine, 10 % rechts, 20 % rechts) der Fahrfunktionen

15 Fahrstreifenwechsel rechts). Wie bereits eingangs Die dem Fahrzeug vom Fahrer übergebenen expli-
beschrieben, wird vor der Ausführung des explizi- ziten Manöverbefehle sowie die implizit vom Fahr-
ten Manövers die aktuelle Ausführbarkeit überprüft zeug ausgewählten Manöver werden von einer als
16 (z. B. überprüft das Fahrzeug bei einem Fahrstrei- Zustandsautomat ausgeführten Manöversteuerung
fenwechsel rechts, ob sich Fremdverkehr im Wech- interpretiert und zur Ausführung den Fahrfunktio-
17 selbereich auf dem Zielfahrstreifen befindet). Nach nen zugewiesen. Der Fahrfunktionskatalog besteht
Durchführung des expliziten Manövers wird vom aus elementaren, verkettbaren und entweder lon-
Fahrzeug selbstständig ein implizites ausgeführt gitudinal oder lateral wirkenden Funktionen, wie
18 (z. B. dem Fahrstreifen folgen). Im Gegensatz zu beispielsweise Geschwindigkeit halten, Einscheren
expliziten Manövern, die über einen definierten vorbereiten, Zielbremsen, Hindernis innerhalb
59 Start- und Endzeitpunkt verfügen, sind implizite der Fahrstreifengrenzen ausweichen, Fahrstreifen
Manöver Handlungseinheiten, die nicht durch den wechseln, Abbiegen u. v. m. Zu jedem Zeitpunkt ist
20 Fahrer initiiert werden und deren Dauer unbegrenzt genau ein Paar aus einer longitudinal und einer la-
ist (siehe . Abb. 59.4). teral wirkenden Funktion aktiv, deren Auswahl, Ak-
59.3  •  Manöver und Fahrfunktionen
1115 59
.. Abb. 59.5 Iterativer
Falsifikationsansatz

tivierung, Deaktivierung und Parametrierung die und Lösungsstrategie ergibt einen simulierbaren
Aufgabe der übergeordneten Manöversteuerung ist. Versuchsablauf, der entweder bestanden oder nicht
Um seiner Aufgabe als Interpreter von Manöverein- bestanden wird. Eine erfolgreiche Absolvierung er-
gaben gerecht zu werden, hat der Fahrfunktionska- laubt nicht den Schluss auf die Vollständigkeit von
talog verschiedene Anforderungen zu erfüllen, von Funktionskatalog und Regelsatz, sie beweist ledig-
denen im Folgenden einige exemplarisch vorgestellt lich nicht die Unvollständigkeit und resultiert in
werden. der Erhöhung der Szenarienkomplexität oder der
Vollständigkeit Auswahl eines neuen Szenarios für den nächsten
Der Funktionskatalog hat für jede im zugelas- Test. Im Falle eines nicht erfolgreich absolvierten
senen Diskursbereich auftretende Situation eine Testszenarios gilt es zu überprüfen, ob die Ursache
Fahrfunktion bereitzustellen. Ist dies nicht möglich, in einer unzureichend implementierten Funktion
so hat der kontrollierte Rückfall auf eine manuelle oder im Fehlen einer Fahrfunktion oder eines Funk-
Form der Steuerung zu erfolgen. Da es jedoch un- tionsübergangs zu suchen ist.
zulässig ist, aus einer erfolgreich absolvierten Reihe Sicherheit
von Verkehrsszenarien den Schluss der Eignung Wegen der seriellen Anordnung von Fahrer
in jedweden Szenarien zu ziehen, folgt die Funkti- und Fahrfunktionen, in der dem Fahrer im Ge-
onsentwicklung einem Falsifikationsansatz: Es gilt, gensatz zu einer parallelen Anordnung bei aktiver
die universelle Hypothese der Vollständigkeit des Conduct-by-Wire-Funktionalität der mechanische
vorhandenen Funktionskatalogs und des zugehöri- Zugriff auf die Aktoren fehlt, muss die Implemen-
gen Regelwerks zu widerlegen. Mit anderen Worten tierung den an by-Wire-Systemen gestellten An-
ausgedrückt: Gesucht wird die Verkehrssituation, forderungen zur funktionalen Sicherheit gemäß
die mit dem zur Verfügung stehenden Funktions- ISO 26262 genügen.
umfang nicht absolvierbar ist. Leistungsfähigkeit und Ausführungsqualität
In . Abb. 59.5 ist der zugehörige iterative Ent- Im Vergleich zu einem konventionell geführten
wicklungsprozess dargestellt: Oben rechts begin- Fahrzeug darf die Qualität der Manöverausführung
nend wird der jeweils aktuelle Entwicklungsstand nicht zu Akzeptanzproblemen führen. Während
von Funktionskatalog und Manöversteuerung in bei autonomen Fahrzeugen eine im Vergleich zum
relevanten Testszenarien geprüft, die für die Simu- manuellen Fahren geringere Ausführungsqualität
lation auf die notwendigen Details reduziert und wegen des Mehrwerts aus der vollständigen Ent-
dann als Simulationsfall implementiert werden. kopplung von der Fahrzeugführungsverantwortung
Zu jedem Testfall gehört eine Lösungsstrategie in akzeptabel sein mag, steht die Ausführungsqualität
Form von simulierten ereignis- oder wegabhängi- bei der manöverbasierten Fahrzeugführung im stän-
gen Fahrereingaben. Die Kombination aus Testfall digen Wettbewerb zu dem in der Beobachter- und
1116 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire

und Automation zur Entscheidungsfindung wäh-


1 rend der Manöverausführung bietet neue Gestal-
tungsmöglichkeiten in der technischen Umsetzung
2 eines Interaktionskonzepts, das die Anforderungen
des Fahrers und der Automation gleichermaßen
berücksichtigt. Ein aus diesen Überlegungen ab-
3 geleitetes Interaktionskonzept ist das erstmals von
[16] vorgestellte „Gate-Konzept“, was in einer Seg-
4 mentierung der Manöverausführung besteht. Die
Gates markieren dabei die beschriebenen Entschei-
5 dungspunkte entlang der geplanten Trajektorie, an
denen eine Entscheidung über die Fortsetzung der
Manöverausführung spätestens zu treffen ist. Jedem
6 Gate ist ein Informationscluster zugewiesen, das die
.. Abb. 59.6  Exemplarisches Szenario mit identifizierten verschiedenen, an diesem Punkt für die Entschei-
7 Gates (Kreuzungsquadranten Qi, Gate-Positionen I,E und I,L
und Himmelsrichtung der Kreuzungszufahrten) aus [17]
dungsfindung erforderlichen Informationen um-
fasst.
Das Gate-Konzept ist in . Abb. 59.6 am Beispiel
8 Entscheiderrolle befindlichen Fahrer. Maßgebliche einer X-Kreuzung dargestellt, an der die Vorfahrts-
Akzeptanzfaktoren bezüglich der Fahrfunktionen regelung „rechts vor links“ gilt. Hierbei nähert sich
9 sind die Verfügbarkeit, die Vorhersehbarkeit des das Conduct-by-Wire-Fahrzeug der Kreuzung aus
Verhaltens und die Beeinflussung der Ausführung Richtung Süden und biegt links ab. Während der
10 durch Parametrierungsmöglichkeiten. Manöverausführung ist eine Sequenz von zwei Ga-
Alternativenevaluation tes zu passieren: Das erste Gate „Intersection entry
In Abgrenzung zu autonomen Fahrzeugen, die (I,E)“ ist an der Kreuzungseinfahrt positioniert.
11 selbstständig alle fahrrelevanten Entscheidungen Für die Entscheidung, ob eine sichere Fortsetzung
treffen, bleibt die Alternativevaluation bei Conduct- der Ausführung des Linksabbiegemanövers bis
12 by-Wire in der Regel Aufgabe des Fahrers (▶ Ab- zum nächsten Gate möglich ist, sind die sich der
schn. 59.2). Fahrzeugseitig können dennoch in Ab- Kreuzung nähernden vorfahrtsberechtigten Ver-
hängigkeit von der Situation oder von bekannten kehrsteilnehmer aus Richtung Osten zu berück-
13 Fahrerpräferenzen (z. B. häufig gefahrene Routen) sichtigen; zudem ist der für die Manöverausführung
priorisierte Alternativen für das auszuführende Ma- erforderliche Freiraum zwischen den beiden Gates
14 növer vorgegeben werden (z. B. in einer Form, die zu überprüfen. Um das zweite Gate „Intersection
nur noch der Ausführungsfreigabe bedarf). left (I,L)“ zu passieren, müssen entgegenkommende
15 Die vorangegangenen Betrachtungen beschrei- Verkehrsteilnehmer aus Richtung Norden sowie die
ben das grundlegende Interaktionskonzept von Fläche bis zur Kreuzungsausfahrt in die Entschei-
Conduct-by-Wire in Form der Manöverbeauftra- dungsfindung einbezogen werden. Grundlegende
16 gung durch den Fahrer und der Manöverausfüh- Betrachtungen zur Realisierbarkeit des Gate-Kon-
rung durch die beschriebene Manöversteuerung zepts zeigen, dass sich dieses auf 400 repräsentative
17 und den Fahrfunktionskatalog. Neben der reinen Szenarien theoretisch anwenden lässt. So sind die
Manöverentscheidung entsteht in Szenarien mit er- Position der Gates sowie der den Gates zugewiesene
höhtem Kollisionsrisiko, in denen die Trajektorie Informationsbedarf stets eindeutig definierbar [17].
18 anderer Verkehrsteilnehmer gekreuzt wird, zusätz- Hinsichtlich der Gestaltung eines Interakti-
licher Entscheidungsbedarf bezüglich der sicheren onskonzepts für die teilautomatisierte Fahrzeug-
59 Ausführbarkeit des Manövers. Eine alleinige Über- führung lassen sich aus dem Gate-Konzept unter-
nahme dieser Aufgabe durch die Automation stieße schiedliche Systemausprägungen mit zunehmenden
20 schnell an ihre technischen Grenzen. Der Ansatz Automationsgrad ableiten, die von der Anzeige des
einer kooperativen Interaktion zwischen Fahrer nächsten Gates durch die Automation und die Ent-
59.3  •  Manöver und Fahrfunktionen
1117 59

scheidungsfindung durch den Fahrer, über einen mit anderen Verkehrsteilnehmern führte. Diese
Entscheidungsvorschlag durch die Automation, Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass eine klare
bis hin zu einer eigenständigen Entscheidungsfin- Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Automation
dung durch die Automation reichen. Unabhängig in Form der Systemausprägungen „Anzeige“ und
von der jeweiligen Systemausprägung ist das Ga- „Entscheidung“ zu bevorzugen ist.
te-Konzept um ein Sicherheitskonzept zu erwei- Insgesamt betrachtet bildet das Gate-Kon-
tern, das das Fahrzeug im Falle einer ausbleiben- zept die Grundlage für die Übertragung des Con-
den Entscheidung der beiden Interaktionspartner duct-by-Wire-Konzepts auf Knotenpunktszenarien
Fahrer oder Automation in einen sicheren Zustand, und somit auch auf komplexere, innerstädtische Sze-
den Stillstand am Gate, überführt. Die technische narien. Die unterschiedlichen Systemausprägungen
Umsetzung dieses Sicherheitsmanövers bietet die können hierbei als mögliche Entwicklungsstufen
Möglichkeit, den menschlichen Fahrer gemäß dem des entwickelten Interaktionskonzepts angesehen
Gestaltungsgrundsatz einer kooperativen Interak- werden. Beginnend mit einem niedrigen Automa-
tion zu integrieren, indem für die Entscheidungs- tisierungsgrad könnte die Migration vom heutigen
findung ausreichend Zeitpotenzial zur Verfügung assistierten zum teilautomatisierten Fahren erfol-
gestellt wird. Eine bevorzugte Regelstrategie stellt gen. In Abhängigkeit der Systemerfahrung der Nut-
beispielsweise die „Signalverzögerung“ dar [17]: zer und der technischen Entwicklung, insbesondere
Durch eine erste, leichte Verzögerung wird dem im Bereich der maschinellen Umfeldwahrnehmung,
Fahrer der Beginn des Annäherungsmanövers und ist eine Steigerung des Automationsgrades und so-
somit die Entscheidungsaufforderung signalisiert, mit eine Erweiterung des Funktionsumfangs der
ohne die Ausführung des aktuellen Manövers zu Automation denkbar. Aufbauend auf dem in die-
stark zu stören. Die zweite Verzögerungsstufe ent- sem Abschnitt vorgestellten Gate-Konzept wird im
spricht der für die Zielbremsung zum Gate erforder- nächsten Abschnitt die Entwicklung und Evaluation
lichen Verzögerung. einer konkreten Manöverschnittstelle für Conduct-
Eine Simulatorstudie mit 42  Probanden zeigt by-Wire vorgestellt. Hierbei basiert die Entwicklung
Unterschiede in der Bewertung verschiedener Sys- und Evaluation auf der höchsten Automationsstufe
temausprägungen des Gate-Konzepts durch poten- des Gate-Konzepts – Entscheidungsfindung durch
zielle Nutzer [17]: In dieser Studie konnten alle Pro- die Automation – so dass der Fahrer nur Entschei-
banden die ausgewählten repräsentativen Szenarien dungen bezüglich des zu fahrenden Manövers tref-
im Falle des niedrigsten – Anzeige des nächsten Ga- fen muss (z. B. „links abbiegen“). Die Durchführung
tes durch Automation und Entscheidung durch den der Manöver erfolgt durch das Fahrzeug.
Fahrer – und höchsten – eigenständige Entschei-
dungsfindung durch die Automation – untersuchten
Automationsgrades sicher absolvieren. Jedoch lässt 59.3.2 Entwicklung und Evaluation
sich der mittlere Automationsgrad, bei dem der Fah- der Manöverschnittstelle
rer zusätzlich zur Anzeige des nächsten Gates einen
Entscheidungsvorschlag von der Automation erhält, Vor allem in komplexen Kreuzungssituationen (z. B.
aufgrund der schlechteren Ergebnisse im Vergleich Manöver rechts abbiegen ist mehrfach vorhanden)
zu den anderen Systemausprägungen kritisch dis- können Manöver nicht mehr oder nur aufwendig
kutieren. So führt dieser Automationsgrad im Ver- mit herkömmlichen Bedienelementen (Lenkrad
gleich zum niedrigsten Automationsgrad, bei dem und Pedale) an das Fahrzeug übergeben werden [9].
der Fahrer die Entscheidung ohne Unterstützung Daher wurden seit 2008 verschiedene Interaktions-
der Automation trifft, zu längeren Entscheidungs- konzepte für Conduct-by-Wire iterativ entwickelt
zeiten. Andererseits wird diese Systemausprägung und evaluiert, die eine Manövereingabe zunächst
von einigen Probanden nicht wirklich angenom- auf der Autobahn und später auch in den bereits
men, wie die Betrachtung des Entscheidungszeit- beschriebenen komplexen Kreuzungssituationen
punkts zeigt oder führt gar zu sicherheitskritischen ermöglichen (u. a. [4, 9], [18]–[20]). Ausgehend
Irritationen, die in wenigen Fällen zu Kollisionen von Standards und Normen wurden zunächst Emp-
1118 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire

der rechten Armlehne des Fahrersitzes integriertes


1 Touchpad gibt der Fahrer die gewünschten Manö-
ver und Parameter in Form von Gesten ein. Bei der
2 Evaluation zeigte sich, dass das Blickverhalten im
Vergleich zum taktilen Touchdisplay verbessert wer-
den konnte, aber weiterhin schlechter als das Blick-
3 verhalten während der Fahrt mit herkömmlichen
Bedienelementen einzustufen ist [9, 19]. Weiterhin
4 stieg mit der Gestenerkennung die Anzahl der Ein-
gabefehler unerwünscht an, da die Gesten vom Fah-
5 rer zunächst richtig ausgeführt und anschließend
korrekt erkannt werden mussten. Daraufhin wurde
als dritte Entwicklungsstufe das gegenwärtig aktu-
6 .. Abb. 59.7  Auf dem taktilen Touchdisplay dargestellter
Inhalt (aus [21], angelehnt an [18]). In dem Beispiel sind die elle Interaktionskonzept pieDrive entwickelt, das
Manöver „Fahrstreifenwechsel links/rechts“ verfügbar und das die niedrige Eingabefehlerzahl des taktilen Touch-
7 Manöver „dem Straßenverlauf folgen“ ist aktiv. Die Wunsch-
geschwindigkeit beträgt 100 km/h, während das Fahrzeug
displays mit dem verbesserten Blickverhalten der
Gestenerkennung kombiniert [9, 20].
aktuell etwa 85 km/h fährt.
Um eine hohen Anteil der Blicke auf die Straße
8 fehlungen und Messgrößen für die Gestaltung und zu erreichen, basiert das Interaktionskonzept pie­
Bewertung von Interaktion im Fahrzeug gesammelt. Drive ebenfalls auf der Trennung von Bedienung
9 Anschließend wurden diese Empfehlungen und und Anzeige. Wie auch bei der Gestenerkennung
Messgrößen auf Conduct-by-Wire übertragen und erhält der Fahrer alle benötigten Informationen
10 in Form von Anforderungen formuliert (vgl. [4, 9]). über eine Darstellung im Head-up-Display und
Hierbei zeigte sich, dass vor allem die Anzahl der gibt Manöver- sowie Parameterbefehle über ein in
Eingabefehler sowie das Blickverhalten zur Beur- der rechten Armlehne des Fahrersitzes integriertes
11 teilung der Interaktion in manöverbasierten Fahr- Touchpad ein. Nachfolgend werden zunächst das
zeugführungskonzepten geeignet sind. Head-up-Display und anschließend das Bedien-
12 Für die erste prototypische Umsetzung wurde konzept beschrieben.
ein taktiles Touchdisplay auf dem Lenkrad plat- Im Head-up-Display werden die verfügbaren so-
ziert ([4, 18]). Mittels vordefinierter Schaltflächen wie das aktive Manöver in einem halbkreisförmigen
13 können die auf der Autobahn benötigten Manöver Menü angeordnet (siehe . Abb. 59.9). Sind mehrere
und Parameter an das Fahrzeug übergeben werden Manöver verfügbar, wird der Halbkreis in Segmente
14 (s. . Abb. 59.7). Mithilfe dieser Umsetzung konnte unterteilt, wobei jedes Segment für ein Manöver
die Machbarkeit von Conduct-by-Wire aus Fahrer- steht (siehe . Abb. 59.8). Hierbei erfolgt die Anord-
15 sicht für Autobahnfahrten gezeigt werden [4]. Hin- nung der Manöver im Halbkreis richtungskorrekt,
sichtlich der Anforderungen zeigte sich allerdings, so dass beispielsweise ein „Abbiegen rechts“-Manö-
dass die Anforderung nach einem identischen pro- ver rechts und ein „Abbiegen links“-Manöver links
16 zentualen Blickverhalten nicht erreicht wurde [9, im halbkreisförmigen Menü dargestellt wird. Weiter-
19]. Während der Fahrt mit dem taktilen Touchdis- hin wird das Manöversegment des aktiven Manövers
17 play wurde signifikant länger und häufiger auf das hellgrün hervorgehoben.
Eingabegerät geschaut als bei einer vergleichbaren Die Darstellung der Parameter erfolgt im in-
Fahrt mit herkömmlichen Bedienelementen. neren Bereich des halbkreisförmigen Manöver-
18 Um das Blickverhalten zu verbessern, wurde menüs (siehe . Abb. 59.9), wobei die vom Fahrer
bei der nächsten Entwicklungsstufe die Bedienung eingestellte Wunschgeschwindigkeit im linken,
59 von der Anzeige getrennt [19, 21]. Alle vom Fahrer die Fahrzeuggeschwindigkeit im oberen und die
benötigten Informationen (z. B. verfügbare Manö- Geschwindigkeitsbegrenzung im rechten Bereich
20 ver) werden dem Fahrer hierbei in einem (simu- angezeigt werden. Zur besseren Unterscheidung
lierten) Head-up-Display dargestellt. Über ein in der drei Geschwindigkeiten wurde die Darstellung
59.3  •  Manöver und Fahrfunktionen
1119 59
.. Abb. 59.8 Anordnung
der Manöver im halbkreis-
förmigen pieDrive Menü
(nach [20])

.. Abb. 59.9  Kontaktanaloges Head-up-Display der Gestaltungslösung pieDrive (nach [20]). Die auf dem Eingabegerät
dargestellten Inhalte dienen der Erklärung und sind in der umgesetzten Mensch-Maschine-Schnittstelle nicht sichtbar. 1: Das
Manöver „dem Straßenverlauf folgen“ ist aktiv und der Fahrer beginnt eine Manövereingabe. 2: Der Fahrer hat das Manöver
„Fahrstreifenwechsel links“ ausgewählt. 3. Der Fahrer hat den Fahrstreifenwechsel beauftragt, der nun aktiv ist.

der Wunschgeschwindigkeit um ein Kreissegment durch vier vertikale Balken sowie durch die Position
sowie ein Dreieck ergänzt, weiterhin wird um den des stilisierten Fahrzeugsymbols verdeutlicht.
numerischen Wert Geschwindigkeitsbegrenzung Zur Verdeutlichung des aktiven Manövers wird
ein Kreissymbol eingeblendet. zusätzlich zu dem Highlight im Manövermenü
Zwischen den drei Geschwindigkeiten wird die die zukünftige Fahrzeugtrajektorie über einen auf
Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug mithilfe der Straße aufliegenden Pfeil dargestellt (siehe
von maximal vier horizontalen Balken sowie einem . Abb. 59.9). Hierbei erfolgt die Darstellung der
stilisierten Fahrzeugsymbol angezeigt. Die Anzahl Trajektorie ortskorrekt.
der Balken repräsentiert hierbei die eingestellte Zeit- Um einen Manöverbefehl an das Fahrzeug zu
lücke (1 Balken: 1 s bis 4 Balken: 2,5 s). Das stilisierte übergeben, legt der Fahrer einen Finger auf das
Fahrzeugsymbol wird zusätzlich genutzt, um die Ex- Touchpad (siehe . Abb. 59.9 links). Im Head-up-
zentrizität des Fahrzeugs im Fahrstreifen darzustel- Display wird daraufhin der innere Kreis des Manö-
len. Die eingestellte Exzentrizitätsstufe wird hierbei vermenüs hellgrün hervorgehoben, anschließend
1120 Kapitel 59 • Conduct-by-Wire

bewegt der Fahrer den Finger in Richtung des ge- neuen Manövern das Verkehrsgeschehen im Auge
1 wünschten Manöversegments (siehe . Abb. 59.9 und kann gegebenenfalls darauf reagieren.
Mitte). Ist ein Manöversegment erreicht, wird es im
2 Head-up-Display hellgrün hervorgehoben. Zusätz-
lich wird dem Fahrer im Head-up-Display über ei- 59.4 Fazit und Ausblick
nen zweiten auf der Straße aufliegenden, gestrichel-
3 ten Pfeil ortskorrekt angezeigt, welche Trajektorie Alle bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass
das Fahrzeug bei der Beauftragung des ausgewähl- es sich bei Conduct-by-Wire um ein vielverspre-
4 ten Manövers fahren würde. Zur Beauftragung des chendes Konzept zur teilautomatisierten Fahrzeug-
gewählten Manövers wird der Finger anschließend führung handelt. Dabei liegt die Stärke des Kon-
5 über dem zugehörigen Manöversegment abgeho- zepts in der Entlastung des Fahrers von eintönigen
ben (siehe . Abb. 59.9 rechts). Alternativ kann die und wenig anspruchsvollen Aufgaben, ohne einen
Auswahl durch die Wahl eines anderen Manöver- kompletten Rückzug aus der Fahraufgabe zu ermög-
6 segments korrigiert oder durch ein Abheben des lichen.
Fingers im inneren Halbkreis (Startzone) abgebro- Die bisherigen Studien ermöglichen zwar ein
7 chen werden. erstes Fazit, zeigen jedoch noch weiteren For-
Das pieDrive-Interaktionskonzept wurde in schungsbedarf zu dem Konzept auf (vgl. [9]): So
mehreren Fahrsimulatorstudien validiert (siehe wurden bisher nur kürzere Fahreinheiten oder
8 [9]): Hierbei fand unter anderem eine Überprü- wenige Fahrten untersucht – ohne jedoch zu un-
fung des Konzepts in einer Studie mit vier Untersu- tersuchen, wie sich das Fahrerverhalten ausschließ-
9 chungstagen pro Teilnehmer statt, um Veränderun- licher Verwendung von Conduct-by-Wire über
gen im Fahrerverhalten über die Zeit untersuchen längeren Zeitraum verändert. Hier ist durchaus
10 zu können. Es zeigte sich, dass die Probanden trotz denkbar, dass Fahrer Strategien entwickeln, um
einer ausschließlich theoretischen Einführung in über möglichst lange Strecken nicht an der Fahr-
das Konzept nur sehr kurze Lernzeiten benötigten, aufgabe beteiligt zu sein. Dies würde jedoch in ei-
11 um die Bedienung des Interaktionskonzepts zu be- nem Rückzug aus der Fahraufgabe resultieren und
herrschen. Dies wurde vor allem in einer signifikan- die Gesamtsicherheit des Systems senken, da der
12 ten Reduktion der Anzahl der von den Probanden Fahrer nicht mehr als Kontrollinstanz zur Verfü-
falsch eingegebenen Manöver deutlich, die notwen- gung stünde.
dig waren, um der vorgegebenen Zielroute zu folgen Weiterhin basieren alle dargestellten Ergebnisse
13 (Fehler an Entscheidungspunkten). Hierbei konnte auf Fahrsimulatorstudien, so dass noch keine Aus-
bereits in der ersten Versuchsfahrt eine signifikante sagen über die Funktionalität des Conduct-by-Wi-
14 Reduktion gezeigt werden. Die letzte der Versuchs- re-Systems im Realverkehr getroffen werden
fahrten erfolgte bei allen Probanden fehlerfrei; wei- können. Dies gilt sowohl für die erreichbare Zu-
15 terhin traten mit pieDrive keine Eingabefehler durch verlässigkeit eines solchen Systems, als auch für die
eine falsche Zuordnung der Fahrereingaben auf. notwendige Flexibilität in Handlungsausführung
Zusätzlich zeigte sich, dass es allen Fahrern bei abweichenden Verkehrsbedingungen.
16 möglich war, mit Conduct-by-Wire und pieDrive Auch wenn bisher versucht wurde, reale Ver-
alle Streckenelemente und alle simulierten Ver- kehrssituationen möglichst breit abzubilden, lag bis-
17 kehrssituationen innerhalb der Versuche zu bewäl- her der Fokus der Entwicklung auf der Fahrer-Fahr-
tigen. Dies gilt sowohl für die Fahrt auf Autobahnen zeug-Interaktion sowie den Fahrfunktionen für den
als auch auf Überlandstraßen und im Stadtverkehr. Standardfall. Besondere Szenen (z. B. Kreisverkehr
18 Die Analyse der Blickbewegungen zeigte außer- mit mehreren Fahrstreifen) oder kritische Situatio-
dem, dass die Trennung von Ausgabe- (Head-up- nen (z. B. Vorfahrt wird durch ein anderes Fahrzeug
59 Display) und Eingabeelement (Touchpad) äußerst genommen) wurden bisher nur am Rand betrachtet.
wirksam war, um die Blickabwendungszeiten von Der Umgang mit Nicht-Standardsituationen trägt
20 der Straße auf ein Minimum zu reduzieren. Damit jedoch einen wesentlichen Teil zu der Brauchbarkeit
behält der Fahrer auch während der Eingabe von des Systems im realen Straßenverkehr bei.
Literatur
1121 59

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Con- (Hrsg.) Handbuch der Ergonomie: Erg.‐Lfg. 7. Carl Hanser,
München (2002)
duct-by-Wire ein vielversprechendes Fahrzeugfüh-
13 Price, H.E.: The Allocation of Functions in Systems. Human
rungskonzept ist, das in der aktuellsten Umsetzung Factors: The Journal of the Human Factors and Ergonomics
einige Probleme der Interaktion mit bisherigen As- Society 27(1), 33–45 (1985)
sistenzsystemen löst (z. B. keine Priorisierung von 14 Sheridan, T.B.: Supervisory Control. In: Handbook of Hu-
Systemrückmeldungen mehr nötig, keine Blickab- man Factors and Ergonomics, S. 1025–1052. John Wiley &
Sons Inc, Hoboken, New Jersey (2006)
wendungszeiten wegen uneinheitlichen Bedienkon-
15 Schreiber, M., Kauer, M., Schlesinger, D., Hakuli, S., Bruder,
zepts). Zeitgleich weisen die bisherigen Forschungs- R.: Verification of a Maneuver Catalog for a Maneuver‐Ba-
ergebnisse darauf hin, dass Conduct-by-Wire als sed Vehicle Guidance System. In: Systems Man and Cyber-
Migrationsschritt zum vollautomatisierten Fahren netics (SMC), S. 3683–3689. IEEE International Conference,
geeignet sein könnte. Istanbul (2010)
16 Geyer, S., Hakuli, S., Winner, H., Franz, B., Kauer, M.: De-
velopment of a cooperative system behavior for a highly
automated vehicle guidance concept based on the Con-
Literatur duct‐by‐Wire principle. In: 2011 IEEE Intelligent Vehicles
Symposium (IV), S. 411–416. IEEE, New York (2011)
1 Winner, H., Heuss, O.: X‐by‐Wire Betätigungselemente 17 Geyer, S.: Entwicklung und Evaluierung eines kooperati-
– Überblick und Ausblick. In: Darmstädter Kolloquium ven Interaktionskonzepts an Entscheidungspunkten für
Mensch und Fahrzeug. Cockpits für Straßenfahrzeuge der die teilautomatisierte, manöverbasierte Fahrzeugführung.
Zukunft, S. 79–115. (2005) VDI‐Verlag, Düsseldorf (2013)
2 Schreiber, M., Kauer, M., Bruder, R.: Conduct by Wire – Ma- 18 Kauer, M., Schreiber, M., Bruder, R.: How to conduct a car?
neuver Catalog for Semi‐Autonomous Vehicle Guidance. A design example for maneuver based driver‐vehicle inter-
In: Intelligent Vehicles Symposium, 2009 IEEE, S. 1279– action. In: 2010 IEEE Intelligent Vehicles Symposium (IV), S.
1284. IEEE, Xi'an, China (2009) 1214–1221. IEEE, San Diego, CA (2010)
3 Donges, E.: Aspekte der aktiven Sicherheit bei der Füh- 19 Franz, B., Kauer, M., Blanke, A., Schreiber, M., Bruder, R.,
rung von Personenkraftwagen. Automobilindustrie 27(2), Geyer, S.: Comparison of Two Human‐Machine‐Interfaces
183–190 (1982) for Cooperative Maneuver‐Based Driving. Work: A Journal
4 Schreiber, M.: Konzeptionierung und Evaluierung eines of Prevention, Assessment and Rehabilitation 41(1), 4192–
Ansatzes zu einer manöverbasierten Fahrzeugführung im 4199 (2012)
Nutzungskontext Autobahnfahrten. Dissertation, Institut 20 Franz, B., Kauer, M., Bruder, R., Geyer, S.: pieDrive – a New
für Arbeitswissenschaft, TU Darmstadt, 2012 Driver‐Vehicle Interaction Concept for Maneuver‐Based
5 Winner, H., Hakuli, S., Bruder, R., Konigorski, U., Schiele, Driving. In: Proceedings of the 2012 International IEEE In-
B.: Conduct‐by‐Wire – ein neues Paradigma für die Wei- telligent Vehicles Symposium Workshops. IEEE, Alcalá de
terentwicklung der Fahrerassistenz. In: 4. Workshop Fah- Henares, Spanien (2012)
rerassistenzsysteme, S. 112–125. Freundeskreis Mess- und 21 Franz, B., Kauer, M., Schreiber, M., Blanke, A., Distler, S., Bru-
Regelungstechnik Karlsruhe e.V., Karlsruhe (2006) der, R., Geyer, S.: Maneuver‐Based Driving Today and in the
6 Chapanis, A.: On the allocation of functions between men Future – Development of a New Human‐Machine Inter-
and machines. Occupational Psychology 39, 1–11 (1965) face for Conduct‐by‐Wire. In: Fahrer, Fahrerunterstützung
7 Parasuraman, R., Sheridan, T., Wickens, C.: A model for types und Bedienbarkeit VDI‐Bericht, Bd. 2134, VDI Velag GmbH,
and levels of human interaction with automation. Systems, Braunschweig (2011)
Man and Cybernetics, Part A: Systems and Humans, IEEE
Transactions on 30(3), 286–297 (2000)
8 Luczak, H.: Untersuchungen informatorischer Belastung
und Beanspruchung des Menschen. VDI‐Verlag, Düsseldorf
(1975)
9 Franz, B.: Entwicklung und Evaluation eines Interaktions-
konzepts zur manöverbasierten Führung von Fahrzeugen.
Dissertation, Institut für Arbeitswissenschaft, Technische
Universität Darmstadt, Darmstadt, 2014
10 Edwards, E., Lees, F.P.: Man and computer in process cont-
rol. Institution of Chemical Engineers, London (1973)
11 Fitts, P.M.: Human engineering for an effective air‐naviga-
tion and traffic‐control system (1951)
12 Kraiss, K., Schmidtke, H.: Funktionsteilung Mensch‐Ma-
schine. In: Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung
1123 60

H-Mode 2D
Eine haptisch-multimodale Bedienweise für die kooperative
Führung teil- und hochautomatisierter Fahrzeuge

Eugen Altendorf, Marcel Baltzer, Martin Kienle, Sonja Meier,


Thomas Weißgerber, Matthias Heesen, Frank Flemisch

60.1 Einleitung – 1124
60.2 Von der H-Metapher zum H-Mode  –  1124
60.3 Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode  –  1125
60.4 Systemarchitektur und Funktionsweise  –  1129
60.5 Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse  –  1134
60.6 Fazit und Ausblick  –  1136
Literatur – 1136

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_60, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1124 Kapitel 60 • H-Mode 2D

60.1 Einleitung Departure Mitigation/Prevention System), ein Col-


1 lision Mitigation System und einen Stau- und Au-
Vor dem Hintergrund wachsender technischer tobahnassistenten, und ermöglicht den Übergang
2 Möglichkeiten im Bereich der Assistenz und Au- zum autonomen Fahren. H-Mode berücksichtigt
tomation entstehen vielfältige Herausforderungen, sowohl die mögliche dynamische Kontrollverteilung
Risiken und Chancen in der Gestaltung des assis- zwischen Mensch und Technik als auch die Frage-
3 tierten, teil- und hochautomatisierten Fahrens. Eine stellung nach situationsangemessenen Übernahme-
der größten Herausforderungen besteht darin, eine und Reaktionszeiten.
4 Vielzahl von komplexen technischen Funktionen
so zu integrieren und dem Menschen anzubieten,
60.2 Von der H-Metapher
5 dass sie intuitiv als ein zusammenhängendes, mit
zum H-Mode
dem Fahrer kooperierendes System verstanden und
jederzeit zuverlässig, sicher und angenehm bedient
6 werden können. Dabei verschwimmen die Grenzen In der kooperativen Fahrzeugführung [5] kann die
zwischen Assistenz und Automation zunehmend Fahraufgabe von beiden Beteiligten – dem mensch-
7 und es wird notwendig, einander ergänzende As- lichen Fahrer und einer kognitiven Automation –
sistenz- und Automationsgrade zu definieren [1]. gemeinsam ausgeführt werden; ebenso besteht die
Somit ist es sinnvoll, einen stärkeren Fokus auf die Möglichkeit, dass verschiedene Aspekte der Fahr-
8 Einbeziehung des Menschen im Sinne einer kog- aufgabe verteilt werden. Zentraler Bestandteil einer
nitiven Kompatibilität und im Hinblick auf das kooperativen Fahrzeugführung ist eine Automation,
9 Vertrauen zwischen Mensch und Automation bzw. die in der Lage ist, kooperativ mit dem Menschen
Assistenz (vgl. [2, 3] und ▶ Kap. 58) sowie auch dem zusammenzuarbeiten. ▶ Kap. 58 zeigt in . Abb. 58.1
10 Menschen im Entwicklungsprozess zu legen [4]. eine Assistenz- und Automationsskala als stark ver-
Die kooperative Fahrzeugführung adressiert einfachtes Modell der Kontrollverteilung zwischen
diese Fragestellungen und beschreibt als generisches Mensch und Maschine. Entscheidend dabei ist, dass
11 Konzept die generellen Freiheitsgrade des Zusam- es neben den Extremen manuelles Fahren und voll-
menwirkens von Mensch und Automation z. B. auf automatisiertes Fahren Mischstufen wie Teil- und
12 den verschiedenen Ebenen der Fahrzeugführung Hochautomation geben kann, in denen sowohl der
(vgl. . Abb. 60.11). Der im vorliegenden Kapitel Mensch als auch die Automation auf die Fahrzeug-
beschriebene H-Mode ist eine konkrete Umsetzung führung einwirken.
13 einer kooperativen Fahrzeugführung. Ein derartiges technisches System sollte, um den
Ausgangsbasis für den H-Mode ist die H-Me- Menschen sinnvoll in der Fahraufgabe unterstützen
14 tapher – eine Designmetapher vergleichbar der und entlasten zu können, für diesen verständlich
Desktop-Metapher im PC-Bereich – welche das Ge- und nachvollziehbar agieren. Die Anforderungen in
15 samtsystemverhalten und die Interaktion zwischen einem solchen komplexen Mensch-Maschine-Sys-
einem kooperativen bzw. teil- und hochautomati- tem bestehen nicht nur im Hinblick auf technische
sierten Fortbewegungsmittel und dem Menschen Assistenz bzw. Automation, sondern insbesondere
16 skizziert. Die H-Metapher als Grundlage für den auch in Bezug auf die Interaktion zwischen Mensch
H-Mode ist durch das biologische Vorbild Reiter – und technischem System. Um die intuitive Verständ-
17 Pferd bzw. Fahrer – Kutschpferd inspiriert. lichkeit der kooperativen Automation seitens des
Ein Schwerpunkt des H-Modes liegt in der Menschen zu unterstützen, bietet sich die Nutzung
haptisch-multimodalen Interaktion zwischen Fah- einer passenden Design-Metapher – vergleichbar
18 rer und Fahrzeug bzw. der Automation und dem mit der Desktop-Metapher für den PC – an. Auch
Menschen. Aus der heutigen Perspektive der Assis- wenn die hochautomatisierte Bewegungsführung
19 tenzsysteme betrachtet integriert H-Mode ein Ab- auf Basis maschineller Automation vergleichsweise
standshaltesystem (vergleichbar einem ACC+), eine neu ist, gibt es doch bekannte und etablierte histo-
60 aktive Fahrstreifenhalteassistenz (LKAS), ein Fahr- rische Beispiele für eine kooperative, gemeinsame
streifenverlassenswarn- und Eingriffssystem (Lane Bewegungsführung zweier kognitiv fähiger Partner.
60.3  •  Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode
1125 60

Vorbild des H-Modes ist die Beziehung zwischen im Fahrstreifen. In diesem assistierten Modus
Mensch und Reit- oder Kutschpferd: Ein Pferd ver- übernimmt der Fahrer ein hohes Maß an direkter
fügt über eine leistungsfähige Sensorik, Kognition Kontrolle, d. h. seine lateralen und longitudinalen
und Aktorik, um sich autonom bewegen zu können; Stellaktionen werden sehr direkt auf das Fahrzeug
ein Reiter bzw. Kutscher kann in variablen Autono- übertragen. Die Aufgabe der Automation ist in die-
miegraden über Zügel auf die Bewegung des Pfer- sem Modus, den Menschen durch haptische Hin-
des Einfluss nehmen, wobei das Pferd selbstständig weise in entsprechende Richtungen zu unterstützen
auftretende Hindernisse vermeiden, den vorgege- – dies können z. B. Fahrstreifen-zentrierende Kräfte
benen Weg verfolgen oder direkter den Vorgaben bzw. Momente auf das Lenkrad sein.
des Reiters folgen wird. Dieser Vergleich wurde im Im teilautomatisierten „Loose Rein“ („lo-
Laufe der Jahre und mehrerer Forschungskoopera- ckerer Zügel“) wird sowohl die Längs- als auch
tionen zu einer Designmetapher ausgebaut – und die Querführung auf Trajektorien- sowie Stabili-
beschreibt als H(orse)-Metapher die grundlegenden sierungsebene weitgehend von der Automation
Rollen und Interaktionsformen für teil- und hoch- übernommen. Hierbei bleibt der Mensch jedoch
automatisierte, kooperativ kontrollierte Fahrzeuge sinnvoll eingebunden, z. B. indem er das zu fah-
und deren Anwender [6]. rende Manöver und die Randbedingungen – wie
Auf Grundlage der H-Metapher entstand das die Geschwindigkeit – beeinflusst. Unter anderem
Konzept des H-Modes, der die haptisch-multimo- kommen dabei Systeme zum Einsatz, die mit einem
dale Interaktion und Durchführung der Fahraufgabe aktiven Spurhalteassistenten (LKAS) und einer
durch den Menschen und ein hochautomatisiertes Abstandsregelung (ACC) vergleichbar sind, aber,
Fahrzeug beschreibt. Während die H-Metapher eine wie nachfolgend beschrieben, deutlich darüber
eher übergeordnete, metaphorische Beschreibung hinausgehen können. Im „Loose Rein“ werden die
einer kooperativen Fahrzeugführung darstellt, ist entsprechenden Stellaktionen durch die Automa-
der H-Mode eine konkrete Umsetzung der koope- tion sehr direkt auf das Fahrzeug übertragen, sind
rativen Fahrzeugführung als haptisch-multimodale jedoch in der Regel auf einem haptischen Stellteil,
Interaktionssprache für teil- und hochautomati- z. B. einem aktiven Lenkrad, Gaspedal und/oder
sierte Fahrzeuge. Sidestick, spürbar.
„Secured Rein“ („gesicherter Zügel“) beschreibt
das hoch- bzw. temporär-vollautomatisierte Fahren
60.3 Kooperative Fahrzeugführung – vergleichbar dem von Kutschfahrern auf siche-
mit dem H-Mode ren Strecken manchmal praktizierten Ablegen des
Zügels – auf Fahrzeuge übertragen. Hier kann der
Ein Aspekt der H-Metapher und damit des H-Mo- Mensch für eine definierte Zeit aus dem Führungs-
des ist die Beschreibung unterschiedlicher Auto- kreis aussteigen, während das Fahrzeug sonstige
mationsgrade und die Verteilung der Autorität Aspekte der Fahraufgabe autonom übernimmt.
zwischen Fahrer und Automation. Am Beispiel des Damit ein solcher Modus genutzt werden kann,
Zusammenarbeitens von Pferd und Reiter lässt sich muss bereits eine ausreichende Kommunikation
veranschaulichen, dass je nach Situation der Ein- zwischen Fahrzeug, Automation und Umwelt vor-
fluss auf die Bewegung unterschiedlich verteilt sein herrschen, da es einige Zeit dauern kann, bis der
kann; dieser Gedanke kann auf die automatisierte Mensch bei unvorhergesehenen Situationen wieder
Fahrzeugführung übertragen werden. aufmerksam in die Ausführung der Fahraufgabe
Im H-Mode kommen je nach Umsetzungsgrad integriert werden kann. Eine Möglichkeit, eine
zwei bis drei verschiedene Assistenz- und Automa- zuverlässige temporär vollautomatisierte Fahrt zu
tionsstufen zum Einsatz: In der Stufe „Tight Rein“ gewährleisten, könnte auf einer speziell zertifizier-
(„fester Zügel“) steuert der Mensch das Fahrzeug ten Straße, einer sogenannten „Secured Lane“, rea-
weitgehend alleine und erhält von der Automation lisiert werden. Ein entsprechendes Konzept wurde
Handlungsempfehlungen, bspw. in Bezug auf Ge- bspw. mit der „eLane“ im Projekt CityMobil vor-
schwindigkeitsänderungen oder Positionierung gestellt [7].
1126 Kapitel 60 • H-Mode 2D

1 Tight Rein Loose Rein Secured

automated
Manual Rein
ACC +

Fully
2 Assisted/
Lowly automated
Semi-
automated
Partially/
highly automated
Highly/temporarily
fully automated
(driver in the loop) (driver out of the
loop)
3
.. Abb. 60.1  Assistenz- und Automationsspektrum mit H-Mode-Automationsmodi

4
5
6
7
.. Abb. 60.2  Fahren im Tight Rein/niederautomatisiert

8
9 1

10 1 2 3
1
11 3 2
12 .. Abb. 60.3  Annähern an ein anderes Fahrzeug in „Tight Rein“

Zwischen den Stufen kann fließend und/oder 60.3.1 Exemplarische


13 auf Knopfdruck gewechselt werden: . Abb. 60.1 Anwendungsfälle
zeigt die Automationsmodi des H-Modes im As- für den H-Mode
14 sistenz- und Automationsspektrum. Im Folgenden
werden die unterschiedlichen Modi „Tight Rein“, In „Tight Rein“ (assistiert/niederautomati-
15 „Loose Rein“ und „Secured Rein“ anhand prototypi- siert) übernimmt der Fahrer die Fahrzeugführung
scher Fahrsituationen beispielhaft erläutert. Wichtig und wird dabei von der Automation unterstützt
dabei ist, im Hinterkopf zu behalten, dass H-Mode (. Abb. 60.2). Bei dieser Unterstützung handelt es
16 im direkten Zusammenspiel mit Fahrern entwickelt sich um eine Kombination einer schwachen Fahr-
wurde. Ziel war hierbei eine hohe Intuitivität, die in streifenzentrierung (vergleichbar mit einem mit-
17 einer Reihe von Tests nachgewiesen wurde. H-Mode tenzentrierenden LKAS – Lane Keeping Assistant
schlägt erfolgreich eine Brücke zwischen in Software System) sowie einer schwachen Geschwindig-
implementierbarer Logik und vom Fahrer empfun- keits- und Abstandsregelung (bzgl. des Verhaltens
18 dener Intuitivität, wobei Logik und Intuitivität in vergleichbar einem ACC bzw. ACC+, aber schwä-
diesem Zusammenhang als unterschiedliche Kon- cher). „Schwach“ bedeutet hierbei, dass der Fahrer
19 zepte betrachtet werden. Vieles von dem, was hier weiterhin beschleunigt, bremst und lenkt und die
in Worten sperrig beschrieben und vom Leser im Automation über das Lenkrad oder das Gaspedal
60 Kopf rekonstruiert werden muss, ist beim Erfahren schwache Momente bzw. Kräfte beisteuert.
des H-Modes natürlich und einfach.
60.3  •  Kooperative Fahrzeugführung mit dem H-Mode
1127 60

1 2 3 1
3 2
.. Abb. 60.4  Virtuellles Kiesbett/Lane Departure Prevention/Mitigation System in „Tight Rein“/niederautomatisiert

Griff
lockern

.. Abb. 60.5  Transition „Tight Rein“ nach „Loose Rein“

Eine alltägliche Situation im Straßenverkehr Fahrzeug kurz vor dem Abkommen von der Fahr-
ist das Annähern an ein vorausfahrendes Fahrzeug bahn, so wird die Automation versuchen zu brem-
(. Abb. 60.3). Das eigene Fahrzeug fährt bspw. mit sen (. Abb. 60.4, Phase  2). Bevor oder wenn das
einer höheren Geschwindigkeit als das vorausfah- Fahrzeug von der Fahrbahn abkommt, greift die
rende Fahrzeug; in dieser Situation ist eine Anpas- Automation ein und lenkt das Fahrzeug wieder zu-
sung des Fahrverhaltens in Bezug auf die Geschwin- rück auf die Fahrbahn (. Abb. 60.4, Phase 3); dies
digkeit bzw. die Wahl des Fahrstreifens nötig. kann auch mit kurzzeitigem Entkoppeln des Fahrers
Wenn der linke Fahrstreifen frei und ein Fahr- verbunden sein. Ist die Situation gelöst, wird dem
streifenwechsel erlaubt ist, schlägt die Automation Fahrer die Kontrolle zurückgegeben.
dem Fahrer in „Tight Rein“ vor, den Fahrstreifen Der Fahrer kann von „Tight Rein“ zum teil-
zu wechseln, z. B. mit einem schwachen Impuls im bzw. hochautomatisierten „Loose Rein“ wechseln,
Lenkrad („Tick“) sowie der Anzeige von Fahrstrei- indem er entweder den „Loose Rein“ Knopf am
fenwechseltrajektoren (. Abb. 60.3, Phase 1). Wech- Automationsdisplay drückt oder einfach den Griff
selt der Fahrer nicht rechtzeitig den Fahrstreifen, um das Lenkrad lockert und die Aktionen am
beginnt die Automation die Geschwindigkeit her- Lenkrad reduziert – bzw. in Richtung der Auto-
unterzusetzen, z. B. mit zunehmender Gegenkraft mationsaktionen harmonisiert (. Abb. 60.5). Die
auf dem Gaspedal (. Abb. 60.3, Phase 2). Wenn der Automation erkennt dieses Sich-Zurückziehen des
Fahrer immer noch nicht reagiert und eine Kollision Fahrers und übernimmt fließend die Kontrolle,
droht, greift die Automation mit einer Bremsung wobei der Fahrer diese Kontrolltransition jeder-
und einem Warnhinweis ein, vergleichbar mit einer zeit unterbrechen kann. Es ist noch eine offene
automatischen Notbremse (. Abb. 60.3, Phase 3). Forschungsfrage, ob diese fluide Transitionsmög-
Eine weitere kritische Situation ist das un- lichkeit vorher, z. B. bei Fahrbeginn, vom Fahrer
beabsichtigte Abkommen von der Fahrbahn explizit autorisiert wird (z. B. durch Drücken eines
(. Abb. 60.4). Wenn die Gefahr besteht, dass das Fluid-Knopfes, wie in . Abb. 60.5 dargestellt) oder
Fahrzeug mit seinem aktuellen Kurs von der Fahr- von Anfang an eingestellt ist und vom Fahrer ab-
bahn abkommen kann, so wird die Automation geschaltet werden kann.
den Fahrer z. B. durch einen schwachen Impuls In „Loose Rein“ fährt vor allem die Automa-
im Lenkrad „Tick“ darauf hinweisen, den Kurs zu tion, während der Fahrer in die Fahrzeugführung
korrigieren (. Abb. 60.4, Phase 1). Bleibt der Fah- eingebunden bleibt. In diesem Automationsmodus
rer weiterhin auf dem gleichen Kurs und steht das bringt der Fahrer allenfalls leichte Zusatzmomente
1128 Kapitel 60 • H-Mode 2D

Mind. eine Hand

1 am Lenkrad

Manöver durch
Spurablage Lenkgeste

2 anpassen einleiten

Geschwindigkeit /
3 Abstand anpassen

.. Abb. 60.6  Fahren in „Loose Rein“


4
Lenkgeste
(+Blinker)
2a 1
5
1 2a 2b 3
6 2b
3
7
.. Abb. 60.7  Annähern an ein Fahrzeug in „Loose Rein“

8 1
Ursprüngliche
Planung
1 2
9
3
3
10 2 Lenkgeste
(+Blinker) Endgülge
Planung

11 .. Abb. 60.8  Durchfahren einer Gabelung in „Loose Rein“

12 am Lenkrad auf, kann Geschwindigkeit, Abstand mation die Geschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs
und Ablage von der Fahrstreifenmitte durch leichte (. Abb. 60.7, Phase 2b) und versucht dem voraus-
Eingaben am Lenkrad und Gaspedal anpassen oder fahrenden Fahrzeug in einem sicheren, vom Fah-
13 Manöver – wie einen Fahrstreifenwechsel – durch rer anpassbaren Abstand zu folgen (. Abb. 60.7,
gestenhaft angedeutete Bewegung der Stellteile ini- Phase 3) – vergleichbar einem Abstandsassistenten
14 tiieren (. Abb. 60.6). (ACC) mit starkem LKAS.
Am Beispiel des Annäherns an ein Fahrzeug Eine Gabelung stellt einen weiteren Anwen-
15 auf der Autobahn erhält der Fahrer in „Loose Rein“, dungsfall für die kooperative Fahrzeugführung dar.
wenn der linke Fahrstreifen frei und ein Fahrstrei- Die Automation plant auf Basis von Navigationsda-
fenwechsel erlaubt ist, den Vorschlag, das vorausfah- ten eine Route und davon ausgehend die Trajektorie
16 rende Fahrzeug zu überholen – z. B. durch Anzeige (. Abb. 60.8, Phase 1). In diesem Beispiel entspricht
einer Fahrstreifenwechseltrajektorie und durch ei- das dem linken Weg und dieser würde, falls der Fah-
17 nen unaufdringlichen schwachen Impuls am Lenk- rer keine alternative Lösung präferiert, von der Au-
rad (. Abb. 60.7, Phase 1.). Deutet der Fahrer eine tomation abgefahren. Interagiert nun der Fahrer mit
Lenkbewegung in die entsprechende Richtung an dem Fahrzeug, indem er das Lenken nach rechts an-
18 (Manövergeste, . Abb. 60.7, Phase 2a), wird das ent- deutet (Lenkgeste) oder eine andere Fahrtrichtung
sprechende Überholmanöver durch die Automation anzeigt („blinkt“; . Abb. 60.8, Phase 2), erkennt die
19 durchgeführt. Dies kann je nach Ausführung durch Automation seine Intention und plant auf den rech-
ein notwendiges Betätigen des Fahrtrichtungsanzei- ten Weg um (. Abb. 60.8, Phase 3).
60 gers weiter abgesichert werden. Initiiert der Fahrer In dafür geeigneten Situationen bietet die Au-
keinen Fahrstreifenwechsel, verringert die Auto- tomation „Secured Rein“ an, den der Fahrer aus
60.4  •  Systemarchitektur und Funktionsweise
1129 60
Bei zwei
Secured Lanes:
Überholen
Bei einer
Secured Lane:
Fahrzeug folgen

.. Abb. 60.9  Fahren in „Secured Rein“

Fest greifen
und /oder
Hinfassen akv lenken

.. Abb. 60.10  Transitionen; links: „Secured Rein“ nach „Loose Rein“, rechts: „Loose Rein“ nach „Tight Rein“

„Loose Rein“ heraus dadurch aktiviert, indem kann, indem er die Hände vom Lenkrad nimmt.
er die Hände komplett vom Lenkrad wegnimmt Anschließend kann der Fahrer vom „Loose Rein“
(. Abb. 60.9). In „Secured Rein“ fährt die Automa- in den „Tight Rein“ wechseln: Ergreift der Fahrer
tion komplett eigenständig, der Fahrer kann andere stärker oder mit beiden Händen das Lenkrad und
Dinge tun. Die Idee dahinter ist, dass in Fahrum- erhöht seine Aktionen am Lenkrad, so erkennt dies
gebungen mit besonderer technischer Ausstattung die Automation und übergibt wieder fließend die
und -härtung eine temporäre Vollautomation auf Kontrolle an den Fahrer (. Abb. 60.10, rechts).
einer sogenannten „Secured Lane“ (in anderen
Projekten eLane bzw. iLane genannt) sichergestellt
werden kann. In diesem Falle übernimmt die Fahr- 60.4 Systemarchitektur
zeugautomation alle Fahrzeugführungsaufgaben und Funktionsweise
– von der automatisierten Auswahl von Fahrmanö-
vern bis hin zur Steuerung und Regelung. Als Umsetzung einer kooperativen Fahrzeugfüh-
Nähert sich das Fahrzeug einem anderen rung basiert der H-Mode auf den grundlegenden
Fahrzeug an (. Abb. 60.9), so wird die eigene Ge- Erkenntnissen, Prinzipien und Wirkmechanismen
schwindigkeit auf die Geschwindigkeit des voraus- zur gemeinsamen bzw. kooperativen Führung von
fahrenden Fahrzeugs angepasst. Wenn eine zweite, Bewegung, wie im Kapitel „Kooperative Fahrzeug-
parallele „Secured Lane“ zur Verfügung steht, kann führung“ ▶ Kap. 58 erläutert. Um den H-Mode in
die Automation auch selbstständig den Fahrstreifen Grundzügen umsetzen zu können, ist eine Kom-
wechseln. bination von automatischer Abstandsregulierung
Der Fahrer kann im „Secured Rein“ zum teil- (ACC) und Spurhalteassistenz (LKAS) bereits ein
bzw. hochautomatisierten „Loose Rein“ wechseln, guter Startpunkt: Auf diese Art und Weise lässt sich
indem er entweder den „Loose Rein“ Knopf am bereits eine integrierte longitudinale und laterale
Automationsdisplay drückt (vgl. . Abb. 60.2 bis Automation implementieren, welche um ein geeig-
. Abb. 60.10) oder mit mindestens einer Hand das netes Interaktionskonzept erweitert eine erste Stufe
Lenkrad ergreift (. Abb. 60.10, links). Die Automa- des H-Modes ergeben würde. Durch eine koopera-
tion erkennt dieses aktive Zugreifen und übergibt tive Systemarchitektur kann das Potenzial des hier
fließend wieder mehr Kontrolle, wobei der Fahrer vorgestellten Konzepts deutlich leistungsfähiger
diese Kontrolltransition jederzeit unterbrechen ausgeschöpft und realisiert werden. Wie im Kapitel
1130 Kapitel 60 • H-Mode 2D

1
Umwelt

Mensch-Maschine-System

2 Fahrer
- - -
Navigation Manöver- Trajektorien- Steuerung und
führung führung Regelung

3
Haptisch-Multimodale Schnittstelle

4 - Interakonsmediator Ergebnis
HMI
Mode Selecon
Aufgabe Maneuver Trajectory Control Fahrzeug
5
and
Selection and Adaption and Arbitration Unit
Arbitraon Unit
Arbitration Unit Arbitration Unit (Coupling Valve)

6 Automation
Navigations Manöver- Trajektorien-
Steuerungs-und
-rechner Regelungs-
US US
- - - rechner

7
Navigation Führung (Manöver / Trajektorien) Stabilisierung

8
9 .. Abb. 60.11  Kooperative Fahrzeugführung im H-Mode

10 zur kooperativen Fahrzeugführung vorgestellt, be- rung der Bewegungsaufgabe. Trotzdem bewegen
ruht eine solche Architektur auf den zwei Partnern sich beide gemeinsam und ergänzen sich durch
Fahrer und Automation, welche nach definierten ihre jeweiligen Fähigkeiten. Eine leistungsfähige
11 Regeln und Abfolgen in den Gesamtregelkreis der Automation ist Voraussetzung, um die kooperative
Fahrzeugführung eingebunden sind. Im vorherigen Fahrzeugführung im H-Mode umzusetzen.
12 Abschnitt wurden exemplarisch Nutzungsfälle die- Im H-Mode ist die Automation zur kooperativen
ser gemeinsamen Steuerung aufgezeigt und damit Fahrzeugführung kognitiv, d. h. vergleichbar und
verbundene Aspekte der Mensch-Maschine-Inter- kompatibel zur biologischen Kognition, aufgebaut.
13 aktion vorgestellt. Im Folgenden werden die Bau- Dadurch wird erreicht, dass sie sowohl innerlich als
steine der H-Mode-Interaktion und -Automation auch äußerlich kompatibel sowie kooperationsfähig
14 ausführlicher erläutert. . Abbildung 60.11 zeigt auf zum menschlichen Fahrer gestaltet ist [2, 8]. Eine
Basis des generischen kooperativen Regelkreises detailliertere Darstellung der inneren und äußeren
15 aus ▶ Kap. 58 die kooperative Fahrzeugführung im Kompatibilität findet sich in Kapitel „Kooperative
H-Mode als schematisches Systemschaubild. Fahrzeugführung“ ▶ Kap. 58 sowie in [4, 8, 9].
Die kognitive Automation im H-Mode ist auf
16 Basis von Modellen der menschlichen Kognition
60.4.1 Kognitive Automation in der Fahrzeugführung [10] konzipiert [2]: Dies
17 im H-Mode kann mit einem mehrschichtigen Ansatz erreicht
werden, der die verschiedenen Planungs- und
Das metaphorische Beispiel des Zusammenwirkens Ausführungshorizonte bei der Fahrzeugführung
18 von Pferd und Reiter verdeutlicht, dass es sich bei berücksichtigt. Zu diesem Zweck kann auf eta-
den beteiligten Partnern in der kooperativen Bewe- blierte Ansätze der menschlichen Kognition im
19 gungsführung um zunächst selbstständige Entitäten Zusammenhang mit automatisierten technischen
handelt: Sowohl der Mensch als auch sein Koopera- Systemen (z. B. [11, 12]) zurückgegriffen werden.
60 tionspartner verfügen über eine eigene Perzeption, Im H-Mode wird dabei von einem vierschichtigen
Kognition und eigene Möglichkeiten zur Realisie- Modell der Fahrzeugführung mit Ebenen zur Navi-
60.4  •  Systemarchitektur und Funktionsweise
1131 60

gation, Manöverplanung und -durchführung, Tra- 60.4.2.1 Arbitrierung


jektorienplanung und Regelung ausgegangen. Hier- von Verhandlungskonflikten
bei wird das dreischichtige Modell von Donges [10] Auf dieselbe Art und Weise, wie bei der Interak-
in der Form erweitert, dass die Bahnführungsebene tion von zwei oder mehr Menschen oder – wie die
in zwei Schichten aufgegliedert wird – nämlich eine H-Metapher bereits andeutet, zwischen Mensch
Manöver- und eine Trajektorienebene [2]. Manöver und Tier – Konflikte entstehen können, sind diese
beschreiben als Begriffe mit hohem semantischen auch bei der gemeinsamen Bewältigung der Fahr-
Gehalt den Zusammenhang zeitlich und räumlich aufgabe bei der kooperativen Fahrzeugführung zwi-
verbundener Vorgänge; ein typisches Beispiel für ein schen Mensch und Automation zu erwarten. Diese
Manöver im H-Mode ist „Fahrstreifenwechsel nach Konflikte entstehen dabei nicht nur bei der Ausfüh-
links“. Trajektorien (z. B. . Abb. 60.6), als geplante rung der gemeinsamen Handlung, sondern bereits
räumlich und zeitlich definierte Bahnen, stellen in der Planungsphase auf verschiedenen Ebenen
die konkrete Umsetzung von entsprechenden Ma- der Fahrzeugführung. Um Handlungsunfähigkeit
növern, also angepasst an die Umgebung, dar [13]. zu vermeiden, gilt es, Konflikte früh zu arbitrieren.
Dieses vierschichtige Modell der Fahrzeugführung Arbitrierung ist die strukturierte Verhandlung zwi-
dient als Grundlage für die im H-Mode eingesetzte schen Mensch und Automation mit dem Ziel, eine
kognitive Automation (vgl. . Abb. 60.11). gemeinsame, eindeutige Handlungsentscheidung
innerhalb eines begrenzten Zeitraums zu fällen [14,
15]. Während der Arbitrierung sind Mensch und
60.4.2 Interaktionsmediation Automation in der Regel durchgehend miteinander
und Arbitrierung – sowie mit dem Fahrzeug haptisch-multimodal –
gekoppelt. In klar definierten Ausnahmefällen, wie
In der kooperativen Kontrolle von Bewegung wer- einer mit hoher Sicherheit erkannten Kollisionsge-
den, wie das Beispiel von Pferd und Reiter anschau- fahr (. Abb. 60.3), kann auch eine Entkopplung des
lich beschreibt, Autorität, Verantwortlichkeit und Menschen, bei vom Menschen klar erkanntem Fehl-
Kontrolle zwischen den Partnern aufgeteilt: Um verhalten der Automation, auch eine Entkopplung
diese Anforderungen zu erfüllen, muss eine effektive der Automation sinnvoll sein.
und kompatible Interaktion zwischen Mensch und Um Konflikte schnell und effektiv verhandeln zu
Automation gewährleistet sein, wozu im H-Mode können, kommt bei der Arbitrierung das Konzept
ein Interaktionsmediator eingesetzt wird. Der In- handlungshemmender und handlungsfördernder
teraktionsmediator gestaltet und vermittelt situati- Interaktionsanteile zum Einsatz: Grundlage des
onsangepasst die Interaktion zwischen Mensch und Konzepts der handlungshemmenden und hand-
Automation. lungsfördernden Interaktion sind Spannungsfel-
Zentrale Bestandteile der Interaktionsmedia- der, die in [16] zum Konzept der Handlungsspan-
tion sind die Arbitrierung von Verhandlungskon- nung (action tension) konkretisiert wurden; bei
flikten sowie durchgängige und eindeutige Kom- der Handlungsspannung handelt es sich um eine
munikation von Absichten und Zuständen: Eine zu einer bestimmten Handlung gerichteten Moti-
Interaktionsmediation beinhaltet ein Modul zur vation [16].
Arbitrierung und Auswahl des aktuellen Automati- Die Verhandlungen der verschiedenen Hand-
onsgrades, in dem die Verteilung von Verantwort- lungsabsichten von Mensch und Automation wer-
lichkeit und Kontrolle abhängig von zur Verfügung den in der aktuellen Umsetzung des H-Modes 2D
stehender Autorität und zur Verfügung stehenden innerhalb des Interaktionsmediators durchgeführt
Fähigkeiten verhandelt wird. Aufbauend auf dem (. Abb. 60.12). Diese Verhandlungen verlaufen
ermittelten Automationsgrad wird die Interaktion multimodal sowohl für die dynamische Kontroll-
zur Verbesserung der inneren Kompatibilität zwi- verteilung zwischen Mensch und Automation als
schen Automation und Mensch auf jede Planungs- auch für die Durchführung der Fahraufgabe in den
ebene der Fahrzeugführung speziell zugeschnitten verschiedenen Planungsebenen der Fahrzeugfüh-
und dort individuell gestaltet [14]. rung. Der Interaktionsmediator ist dazu in verschie-
1132 Kapitel 60 • H-Mode 2D

dene Module untergliedert: So findet auf oberster ein aktives Lenkrad und ein aktives Gaspedal über-
1 Ebene der Interaktionsmediation die Verhandlung tragen werden [18]. Ob Stick oder Lenkrad/Gaspe-
der Kontrollverteilung in der „Mode Selection and dal, über den haptischen Kanal kann eine durch-
2 Arbitration Unit“ (Erweiterung der MSU nach gängige und gerichtete Interaktion stattfinden, die
[17]) statt. In einer nachgelagerten Ebene der In- eine Arbitrierung zwischen Fahrer und Automation
teraktionsmediation hingegen werden in jeweils vereinfacht. Die haptische Kopplung führt zu einer
3 eigenständigen Arbitration Units für jede einzelne Verkürzung der Reaktionszeit [19, 20] und kann das
Planungsebene der Fahrzeugführung die geplanten Situationsbewusstsein erhöhen [6, 21]: Eine weitere
4 Aktivitäten und Absichten arbitriert: Das durchzu- wichtige Komponente der Zustandskommunikation
führende Manöver in der „Manœuvre Selection and ist die visuelle Darstellung von Trajektorien. Dar-
5 Arbitration Unit“, die Anpassung der verfügbaren gestellte Trajektorien ermöglichen dem Menschen,
Fahrtrajektorien in der „Trajectory Adaption and die nächsten Fahraktivitäten der Automation zu
Arbitration Unit“ und die Kontrollausübung in der erkennen und ggf. zu beeinflussen, da eine direkte
6 „Control Arbitration Unit (Coupling Valve)“ [14]. und dauerhafte Rückmeldung über eingeleitete Ad-
aptierungen übermittelt werden sowie eingeleitete
7 60.4.2.2 Kommunikation von Aktivitäten in die Zukunft übertragen werden kön-
Absichten und Zuständen nen [14].
Neben der Arbitrierung von Verhandlungskonflik-
8 ten ist es Aufgabe des Interaktionsmediators, Ab- 60.4.2.3 Transitionen zwischen
sichten und Zustände eindeutig und durchgängig Automationsgraden
9 zwischen Mensch und Automation zu kommuni- Ein weiterer Schwerpunkt der zum H-Mode
zieren: So muss sichergestellt sein, dass sich Fahrer durchgeführten Arbeiten bezieht sich auf den dy-
10 und Automation stets bewusst sind, welche Ins- namisch-balancierten Wechsel der Kontrollver-
tanz welche Aufgabe übernimmt, ob ausreichend teilung zwischen Fahrer und Fahrzeugautomation
Ressourcen zur Bewältigung dieser Aufgaben zur – sogenannte Transitionen (vgl. . Abb. 60.12). Der
11 Verfügung stehen und ob und mit welchem Zeit- H-Mode umfasst zwei bis drei Automationsgrade,
horizont Kontrolle auch wirklich ausgeübt wird, um zwischen denen während der Fahrt dynamisch ge-
12 Kontrolldefizite bzw. einen Kontrollüberschuss zu wechselt werden kann (s.  . Abb. 60.1). Eine Vari-
vermeiden. ante eines dynamisch-balancierten Wechsels stellt
Weiterhin soll sowohl dem Menschen als auch die zuvor beschriebene sogenannte fluide Transition
13 der Maschine bekannt sein, welche Absichten der dar; hierbei findet der Wechsel zwischen den Au-
jeweils andere Partner gerade verfolgt und wel- tomationsgraden nicht durch die explizite Anwahl
14 che Aktion zeitnah ausgeführt wird, z. B. welcher des Automationsgrades, sondern implizit über die
Trajektorie bei einer Gabelung gefolgt werden soll Aktivität bzw. Involvierung des Fahrers in die Fahr-
15 (. Abb. 60.8) bzw. ob ein Interaktionsmuster auf- aufgabe statt, z. B. durch Lockerlassen oder Fester-
grund einer speziellen kritischen Situation aktiv greifen des Stellteils. Der Übergang zwischen den
wird, wie bspw. das Verhindern des Abkommens beiden Kontrollverteilungen ist dabei nicht abrupt,
16 von der Fahrbahn (virtuelles Kiesbett, . Abb. 60.4) sondern fließend: Nimmt der Mensch die Hände
oder eine Kollisionsvermeidung (. Abb. 60.7). vollständig vom haptischen Kontrollgerät, wird in
17 Ein wichtiges Mittel zur Interaktion ist hierfür der fluiden Bedienform eine Transition zum „Se-
die haptische Interaktionsressource, die im H-Mode cured Rein“ eingeleitet. Fasst der Mensch das Kon-
hauptsächlich durch die Interaktion zwischen Fah- trollgerät leicht an, wird z. B. über eine Detektion
18 rer und Automation über aktive Stellteile realisiert auf der Basis kapazitiver Sensorik eine Transition
wird. Dabei kann es aus ergonomischen Gesichts- in den „Loose Rein“ initiiert und bei einem deutli-
19 punkten heraus sinnvoll sein, die zweidimensionale chen Zugreifen – Detektion über kraftempfindliche
Fahraufgabe durch ein Bedienkonzept mit zwei Widerstände – eine Transition in den „Tight Rein“.
60 Freiheitsgraden, z. B. einem Sidestick, umzusetzen. Aufgrund des Konflikts, dass gerade im „Tight Rein“
Andererseits kann der H-Mode auch sinnvoll auf eine sehr genaue Lenkung des Menschen erforder-
60.4  •  Systemarchitektur und Funktionsweise
1133 60

power off power on

Ai [failure corrected]
Failure Failure
Ai [failure]

MRM / Emergency

Fluid acve, Di [hands off]


Normal driving
Fluid acve, Di [loose grip]
Di [switch SR]

Acvaon impossible Acvaon impossible Acvaon impossible


Di [any switch] Di [any switch] Di [any switch]

Fluid acve, Di[ght grip] Fluid acve


Tight Rein Loose Rein Secured Rein Ai [emergency]
Di[loose grip]

Ai [LR precondions
not longer fullfilled] Di[hands on] [driver
[driver aenve] aenve]
[driver
aenve]
Emergency
Ai [driver distracted] [hands on] Brake
|| [driver drowsy] Di [switch TR]
Di[switch LR]
Ai
Ai[SR precondions not longer fullfilled] [driver distracted]
|| [driver drowsy]
Ai [driver distracted]
|| [driver drowsy] Ai [standsll?]

Ai [No response by driver]

Di [ght grip] Ai [emergency]


MRM

.. Abb. 60.12  Zustandsautomat der Mode Selection and Arbitration Unit nach [14]

lich wird und dafür die Aufwendung der höchsten 60.4.3 Zusammenwirken
Greifkräfte notwendig ist, wurden die für eine Tran- der Interaktionsmodalitäten
sition erforderlichen Greifkräfte als Hysterese defi-
niert, so dass der Griff nach einer Transition, z. B. Ein wichtiger Bestandteil im Interaktionskonzept
nach dem „Tight Rein“, auf einen angenehmeren automatisierter Systeme stellt die Rückmeldung
Wert gelockert werden kann. Neben diesen norma- an den Fahrer dar: Sie sollte bevorzugt innerhalb
len Transitionsmöglichkeiten sind im aktuellen Pro- 200 ms erfolgen und multimodal ausgestaltet sein
totyp sogenannte „Not-Transitionen“ implementiert: [9, 22]. Dabei ist für eine sichere und schnelle Be-
Übt der Mensch bspw. sehr starke Kräfte auf die hap- dienung entscheidend, dass sich die Information
tischen Kontrollgeräte aus, wird dies dahingehend der einzelnen Kanäle nicht widerspricht und damit
interpretiert, dass der Mensch die Kontrolle – sowohl den Fahrer nicht verwirrt, sondern sich gegenseitig
in der Bedienform per Knopfdruck als auch der flui- ergänzt. So sollte dem Fahrer auf dem haptischen
den Bedienform – zurückerhalten möchte. Diese Kanal vermittelt werden, welche Handlung präfe-
Transition geschieht sofort, um möglichen, von der riert ist, und auf dem visuellen Kanal, warum diese
Sensorik der Automation nicht detektierten Gefah- Einschätzung vorliegt. Es besteht die starke Vermu-
ren ohne Zeitverlust begegnen zu können. tung, dass sich diese Kombination positiv auf die
Akzeptanz und das Systemverständnis auswirkt
[23]: Während die haptische Rückmeldung insbe-
sondere eine schnelle Reaktion des Fahrers fördern
soll [24], kann Information über den visuellen Ka-
1134 Kapitel 60 • H-Mode 2D

Fahrer und Automation, Erleichterung des Fahrens


1 sowie gefühlte Sicherheit positiv aufgefasst. Be-
sonders das Fahren im teil-/hochautomatisierten
2 Bereich „Loose Rein“ wurde von den Nutzern als
„ziemlich angenehm“ empfunden. Ebenso wurde
der hoch-/temporär vollautomatisierte Modus
3 „Secured Rein“ überwiegend gut angenommen
(. Abb. 60.14) [26]. In einer weiteren Studie wurde
4 sowohl die H-Mode-Version mit Lenkrad als auch
die Variante mit aktivem Sidestick gut bewertet
5 (. Abb. 60.15) [27].
Darüber hinaus konnte in einer weiteren Studie
nachgewiesen werden, dass die Paarung von hapti-
6 .. Abb. 60.13  Die Anzeigesymbole a Trajektorie, b Klammer
und c Rahmen im kontaktanalogen Head-up-Display (kHuD) scher und visueller Rückmeldung – bei Fehlfunkti-
aus der Sicht des Fahrers [27] onen automatisierter Fahrzeuge – dem Fahrer die
7 Möglichkeit zur schnellen Korrektur gibt. So konn-
nal zielgerichteter und umfangreicher eingesetzt ten die Versuchspersonen bei der Fahrt mit einer
werden; außerdem können durch die Vielfältigkeit kontaktanalogen Anzeige die Falscherkennung
8 der visuellen Darstellung die zahlreichen Funktio- des nebenliegenden Fahrstreifens früher erkennen
nen einer Automation eindeutiger für den Fahrer und somit schneller korrigierend eingreifen. Dabei
9 abgebildet werden. Damit kann der Fahrer dauer- wurde bei der Fahrt mit Anzeige eine deutlich ge-
haft den Systemzustand und die Systemabsicht ringere maximale Querablage erzeugt als bei der
10 abrufen; ebenso ist der Fahrer über Systemgren- Fahrt ohne visuelle Rückmeldung.
zen zu informieren, damit er die Möglichkeit hat, Bei der Betrachtung der Teilkonzepte des
Fehlfunktionen frühzeitig zu erkennen (vgl. auch H-Modes wurden sowohl „Tight Rein“ und „Loose
11 [25]). . Abbildung 60.13 zeigt eine entsprechende Rein“ als auch die Interaktion für spezielle Manö-
Gestaltung: Das vorausfahrende Fahrzeug im eige- ver untersucht: Ein Schwerpunkt lag auf der Eva-
12 nen Fahrstreifen ist mit einer Klammer markiert, luierung der Auswirkungen variierender Fahre-
der erkannte Fahrstreifen wird durch eine mittig rinvolvierung bei „Tight Rein“, „Loose Rein“ und
platzierte Trajektorie gekennzeichnet, erkannte Vollautomation, auf die Kontrollierbarkeit bei
13 Verkehrszeichen werden kontaktanalog umrahmt. Automationsausfall und Automationsfehlverhal-
Jedes Anzeigesymbol visualisiert den Zustand ei- ten sowie die Auswirkung auf die Verteilung vi-
14 nes Teilsystems der Gesamtautomation. Anhand sueller Aufmerksamkeitsressourcen. Ein wesentli-
dieser Anzeigen kann der Fahrer früher erkennen, ches Ergebnis war z. B. für einen gut eingestellten,
15 wann eine Falsch- oder Fehlerkennung vorliegt und d. h. nicht zu stark automatisierten „Loose Rein“,
rechtzeitig Gegenmaßnahmen eingeleitet werden dass dies einerseits zu einer Entlastung des Fah-
müssen. rers mit einer Freisetzung visueller Ressourcen für
16 die Bearbeitung von Nebenaufgaben führte, bei
gleichzeitig akzeptabler Kontrollierbarkeit eines
17 60.5 Fallbeispiele Automationsausfalls. Dies stellt einen wesentlichen
und Untersuchungsergebnisse Vorteil gegenüber einer Vollautomation ohne Fah-
rerinvolvierung dar [28, 29]. Ebenso konnten von
18 Der H-Mode wurde in Simulatorstudien insgesamt der H-Metapher abgeleitete Interaktionskonzepte
gut akzeptiert: So bewerteten die Teilnehmer ei- für Transitionen an Systemgrenzen zur Verbesse-
19 ner Versuchsreihe (n = 20), die 2013 stattfand, den rung der Kontrollierbarkeit beitragen [30, 31]. Ein
H-Mode auf einer siebenstufigen Skala in der zweit- nächster Schwerpunkt lag auf der Untersuchung
60 höchsten Stufe als „ziemlich gut“. Ebenfalls wurden der Verhandlung zwischen Fahrer und Automa-
Nützlichkeit, empfundene Kooperation zwischen tion (Arbitrierung) [32, 33]: Untersucht wurde
60.5  •  Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse
1135 60
.. Abb. 60.14 Bewertung
des H-Modes, Usability-Un-
tersuchung 2013 [26]

.. Abb. 60.15 Bewertung
des H-Modes, Usability-Un-
tersuchung 2011 [27]

dieser Aspekt insbesondere an Weggabelungen, die implizit durchgeführten Transitionen störend


bei denen Automation und Fahrer unterschiedli- oder hilfreich für die Ausführung der Fahrauf-
che Wege ausgewählt hatten. In den untersuchten gabe sind. Die Versuchspersonen befuhren dafür
Konfigurationen war sowohl in „Tight Rein“ als in einem Bewegt-Simulator einen Rundkurs, der
auch in „Loose Rein“ eine Durchsetzung des Fah- sich aus unterschiedlichen Fahrsituationen zu-
rerwunsches ohne Weiteres möglich, die Nachvoll- sammensetzte. Abgebildet wurden verschiedene
ziehbarkeit der Automationsintention war hoch. Situationen auf einer Autobahn – bestehend aus
Weitere Arbeiten fanden zu dem Bereich der hap- der Fahrt auf geraden Strecken, Kurvenfahrt in
tisch-multimodalen Interaktion für das Annähern variierenden Kurvenradien, Fahrstreifenwechsel-
an Vorderfahrzeuge, den Fahrstreifenwechsel, das und Bremssituationen. Des Weiteren befuhren die
Notbremsen und Ausweichen vor Hindernissen Versuchspersonen ein Stadtszenario mit Abbiege-
statt. So wurde erfolgreich die Wirksamkeit von situationen, Weggabelungen und engen Kurven.
haptischen Fahrstreifenwechselempfehlungen, Um Trainings- und Lerneffekte zu erfassen, wurde
haptischen Hinweisen auf einem aktiven Gaspedal zunächst ein sogenannter „Naive-Run“ durchge-
und die teilweise, kurzzeitig vollständige, Entkopp- führt, eine Fahrt ohne jegliches Vorwissen über das
lung [34] des Fahrers von der longitudinalen und/ H-Mode-System. Diesem folgte der sogenannte
oder lateralen Kontrolle in Notfall-, Ausweich- und „Hot Run“, eine zweite Fahrt mit entsprechender
Bremsmanövern untersucht und belegt [35, 36]. Systemerfahrung. Unter anderem zeigte sich, dass
In einer umfassenden Usability-Untersuchung das Fahren im H-Mode mit fluider Transition, un-
wurde die fluide Transition sowohl in einer Um- abhängig von der Art des Stellteils, meist schon im
setzung für ein aktives Lenkrad als auch für einen „Naive Run“, spätestens jedoch im „Hot Run“ von
aktiven Sidestick in vielen verschiedenen Fahrsi- den Fahrern als leicht zu erlernen und die Koope-
tuationen untersucht: Ziel war es herauszufinden, ration zwischen Fahrer und Automation als hoch
wie gut Versuchspersonen mit einer fluiden Tran- empfunden wurde.
sition zwischen zwei Automationsgraden fahren
können, ob das Fahren leicht zu erlernen ist und ob
1136 Kapitel 60 • H-Mode 2D

60.6 Fazit und Ausblick Die Erkenntnisse aus H-Mode und den koope-
1 rativen Automationen in der Fahrzeugführung kön-
Der H-Mode – als eine mögliche Umsetzung der nen auch auf andere Domänen übertragen werden,
2 kooperativen Fahrzeugführung – ist inspiriert durch in denen maschinelle und menschliche kognitive
das Vorbild Reiter/Kutschfahrer – Pferd und bietet Fähigkeiten kooperativ zusammenwirken: So wurde
eine integrierte haptisch-multimodale Bedienweise der H-Mode auf dreidimensionale Bewegungsvor-
3 für teil- und hochautomatisierte Fortbewegungs- gänge zu einem H-Mode 3D erweitert, der eine An-
mittel aller Art. Der hier vorgestellte H-Mode 2D wendung im Bereich der Luftfahrt ermöglicht [38].
4 wurde speziell für Bodenfahrzeuge entwickelt und Mit zunehmender Vernetzung von Menschen,
integriert eine Reihe von Sicherheits- und Kom- Fahrzeugen und Infrastruktur erschließen sich viel-
5 fort-Systemen in drei Assistenz- und Automations- fältige Herausforderungen und Chancen für den
grade, zwischen denen fließend gewechselt werden Einsatz kognitiver und kooperativer Mensch-Ma-
kann. schine-Systeme. Die kooperative Fahrzeugführung
6 Ein vierter Automationsgrad „stark assistiert“ eines einzelnen Fahrzeugs bietet eine Basis für die
bzw. „semiautomatisiert“/ACC+ kann integriert systemische Erweiterung auf größere Kooperations-
7 werden, wenn man ihn aus Gründen der schlüssi- netzwerke.
gen Migration anbieten möchte (vgl. . Abb. 60.1).
H-Mode kann auch bereits eingesetzt werden, wenn
8 das temporär-vollautomatisierte Fahren („Secured Literatur
Rein“) z. B. aus Sicherheitsgründen noch nicht
9 angeboten werden kann oder wenn das gesamte 1 Gasser, T.M., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J.,
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer,
Verkehrssystem so sicher gestaltet („gehärtet“) ist,
M., Ruth-Schumacher, S., Schwarz, J., Vogt, W.: Rechtsfolgen
10 dass teilautomatisiert/„Loose Rein“ nur noch ein zunehmender Fahrzeugautomatisierung – Gemeinsamer
Durchgangsmodus zur höheren Automationsstufe Schlussbericht der Projektgruppe Bundesanstalt für Stra-
darstellt. Ebenso ist denkbar, dass sich der gesell- ßenwesen (BASt) (2012)
11 schaftliche Konsens dahingehend entwickelt, dass 2 Löper, C., Kelsch, J., Flemisch, F.O.: Kooperative, manöver-
basierte Automation und Arbitrierung als Bausteine für
das manuelle/niederautomatisierte Fahren aus Si-
hochautomatisiertes Fahren. In: Gesamtzentrum für Ver-
12 cherheitsgründen, z. B. in bestimmten Gebieten kehr Braunschweig (Hrsg.) Automatisierungs‐, Assistenz-
oder bei bestimmten Umweltbedingungen, gar systeme und eingebettete Systeme für Transportmittel, S.
nicht mehr angeboten wird. Dies mag aus heutiger
13 Perspektive noch futuristisch klingen, ist aber in der 3
215–237. GZVB, Braunschweig (2008)
Vanholme, B.: Highly Automated Driving on Highways ba-
sed on Legal Safety. Diss., University of Evry‐Val‐d’Essonne,
Luftfahrt bereits Realität, in der z. B. bei schlechter
14 Sicht auf dafür ausgerüsteten Flughäfen nur noch 4
2012
Flemisch, F.O., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler, J.:
hochautomatisiert mit einem ILS (Instrumented Automation spectrum, inner/outer compatibility and other
15 Landing System) gelandet werden darf. potentially useful human factors concepts for assistance
and automation. In: de Waard, D., Flemisch, F.O., Lorenz, B.,
Eine vorteilhafte Kombination von H-Mode
Oberheid, H., Brookhuis, K.A. (Hrsg.) Human Factors for as-
mit einer Erfassung der Fahreraufmerksamkeit (at-
16 tention monitor), wie im HAVEIt-Projekt gezeigt, 5
sistance and automation, S. 1–16. Shaker, Maastricht (2008)
Flemisch, F.O., Bengler, K., Winner, H., Bruder, R.: Towards
ist ebenfalls möglich, um z. B. einen eventuellen a cooperative guidance and control of highly automated
17 Missbrauch im teil-/hochautomatisierten Modus vehicles: H‐mode and conduct‐bywire. Ergonomics, Jour-
(„Loose Rein“) einzuschränken [37]. H-Mode kann, nal-Publikation. Taylor & Francis (2014)
6 Flemisch, F.O., Adams, C.A., Conway, S.R., Goodrich, K.H.,
wie hier dargestellt, auf einem normalen Lenkrad
18 und einem aktiven Gaspedal, aber auch mit einem
Palmer, M.T., Schutte, M.C.: The H‐Metaphor as a Guideline
for Vehicle Automation and Interaction Report No. NASA/
aktiven Sidestick, kleineren Fingersticks oder Len- TM‐2003‐212672. NASA Langley, Langley (2003)
19 krädern mit kombiniertem Gaspedal dargestellt 7 Toffetti, A., Wilschut, E.S., Martens, M.H., Schieben, A., Ram-
werden, was bereits erfolgreich untersucht wurde baldini, A., Flemisch, F.: CityMobil: Human factor issues
regarding highly automated vehicles on eLane. Transpor-
60 (z. B. [27]).
tation Research Record Journal of the Transportation Re-
Literatur
1137 60
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8 Flemisch, F., Meier, S., Neuhofer, J., Baltzer, M., Altendorf, 19 Brandt, T., Sattel, T., Böhm, M.: Combining haptic human‐
E., Ozyurt, E.: Kognitive und kooperative Systeme in der machine interaction with predictive path planning for
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10 Donges, E.: Aspekte der Aktiven Sicherheit bei der Füh- ning of lane departure warning system. JSAE Review 24(1),
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183–190 (1982) 21 Abbink, D.A., Boer, E.R., Mulder, M.: Motivation for conti-
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12 Parasuraman, R., Sheridan, T.B., Wickens, C.D.: A Model for 22 Bengler, K., Zimmermann, M., Bortot, D., Kienle, M., Dam-
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13 Altendorf, E., Flemisch, F.: Prediction of driving behavior in 23 Lange, C.: Wirkung von Fahrerassistenz auf der Führungs-
cooperative guidance and control: a first game‐theoretic ebene in Abhängigkeit der Modalität und des Automa-
approach. CogSys, Madgeburg (2014) tisierungsgrades (Dissertation). Technische Universität
14 Baltzer, M., Flemisch, F., Altendorf, E., Meier, S.: Mediating München, Garching (2008)
the Interaction between Human and Automation during 24 Schieben, A., Damböck, D., Kelsch, J., Rausch, H., Flemisch,
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nomics AHFE 2014 Kraków, Poland, 19‐23 July 2014. (2014) Theoretical Foundations. IEEE Transactions on Systems,
15 Kelsch, J., Flemisch, F.O., Löper, C., Schieben, A., Schindler, Man, and Cybernetics 22(4), 589–606 (1992)
J.M.: Links oder rechts, schneller oder langsamer? Grundle- 26 Meier, S., Altendorf, E., Baltzer, M., Flemisch, F.: Partizipative
gende Fragestellungen beim Cognitive Systems Enginee- Interaktions‐ und Automationsgestaltung teil‐ bis hochau-
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sellschaft für Luft‐ und Raumfahrt, Bonn (2006) of the 10. Berliner Werkstatt Mensch‐Maschine‐Systeme:
16 Kelsch, J., Heesen, M., Hesse, T., Baumann, M.: Using hu- Grundlagen und Anwendungen der Mensch‐Maschine‐
man‐compatible reference values in design of cooperative Interaktion, S. 461–468. Zentrum Mensch‐Maschine‐Sys-
dynamic human‐machine systems. Contribution to 30th teme, Berlin (2013)
European Annual Conference on Human Decision‐Making 27 Flemisch, F., Meier, S., Baltzer, M., Altendorf, E., Heesen,
and Manual Control (EAM 2012). Deutsches Zentrum für M., Griesche, S., Weißgerber, T., Kienle, M., Damböck, D.:
Luft‐ und Raumfahrt (DLR), Institut of Transportation Sys- Fortschrittliches Anzeige‐ und Interaktionskonzept für
tems, Braunschweig (2012) die kooperative Führung hochautomatisierter Fahrzeuge:
17 Hoeger, R., Zeng, H., Hoess, A., Kranz, T., Boverie, S., Strauss, Ausgewählte Ergebnisse mit H‐Mode 2D 1.0. 54 Fachaus-
M., Jakobsson, E., Beutner, A., Bartels, A., To, T.-B., Stratil, schusssitzung Anthropotechnik: Fortschrittliche Anzei-
H., Fürstenberg, K., Ahlers, F., Frey, E., Schieben, A., Mose- gesysteme für die Fahrzeug‐ und Prozessführung. DGLR,
bach, H., Flemisch, F.O., Dufaux, A., Manetti, D., Amditis, A., Koblenz (2012)
Mantzouranis, I., Lepke Szalay, H.Z., Szabo, B., Luithardt, P., 28 Flemisch, F., Kelsch, J., Löper, C., Schieben, A., Schindler, J.,
Gutknecht, M., Schömig, N., Kaussner, A., Nashashibi, F., Heesen, M.: Cooperative Control and Active Interfaces for
Resende, P., Vanholme, B., Glaser, S., Allemann, P., Seglö, F., Vehicle Assitsance and Automation FISITA World Automo-
Nilsson, A.: Deliverable D61.1Final Report. HAVEit: Highly tive Congress, München. (2008)
automated vehicles for intelligent transport (2011) 29 Heesen, M., Schieben, A., Flemisch, F.: Unterschiedliche Au-
18 Kienle, M., Damböck, D., Bubb, H., Bengler, K.: The ergono- tomatisierungsgrade im Kraftfahrzeug: Auswirkungen auf
mic value of a bidirectional haptic interface when driving die visuelle Aufmerksamkeit und die Kontrollübernahme-
1138 Kapitel 60 • H-Mode 2D

fähigkeit Tagung experimentell arbeitender Psychologen,


1 Jena, 29. Mär.–1. Apr.2009
30 Heesen, M., Beller, J., Griesche, S., Flemisch, F.: Shake it! Intu-
itive haptische Interaktion zur Übergabe der Kontrolle von
2 einer Automation zum Fahrer. In: Beiträge zur 53. Tagung
experimentell arbeitender Psychologen Tagung experi-
mentell arbeitender Psychologen, Halle, Deutschland. S.
3 67. Pabst, Halle (2011)
31 Schwarzmaier, M.: Unterschiede haptischer und visueller
Hinweisreize an Systemgrenzen. Bachelorarbeit, TU Braun-
4 schweig, 2011
32 Griesche, S., Kelsch, J., Heesen, M., Martirosjan, A.: Adaptive

5 Automation als ein Mittel der Arbitrierung zwischen Fah-


rer und Fahrzeugautomation AAET – Automatisierungs-
systeme, Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für

6 Transportmittel, Braunschweig, Deutschland, 8.–9. Feb.


2012. (2012)
33 Kelsch, J., Temme, G., Schindler, J.: Arbitration based fra-
7 mework for design of holistic multimodal human‐machine
interaction. In: AAET 2013 (proceedings), 6.–7. Feb. 2013.
S. 326–346. (2013)
8 34 Flemisch, F., Heesen, M., Kelsch, J., Schindler, J., Preusche,
C., Dittrich, J.: Shared and cooperative movement control
of intelligent technical systems: Sketch of the design space
9 of haptic‐multimodal coupling between operator, co‐auto-
mation, base system and environment. In: Proceedings of
11th IFAC/IFIP/IFORS/IEA Symposium on Analysis, Design,
10 and Evaluation of Human‐Machine Systems, Valenciennes,
France (2010)
35 Heesen, M., Kelsch, J., Löper, C., Flemisch, F.: Haptisch‐mul-
11 timodale Interaktion für hochautomatisierte, kooperative
Fahrzeugführung bei Fahrstreifenwechsel‐, Brems‐ und
Ausweichmanövern 11. Braunschweiger Symposium Au-
12 tomatisierungs‐, Assistenzsysteme und eingebettete Sys-
teme für Transportmittel (AAET), Braunschweig, 10.–11.

13 36
Feb. 2010. (2010)
Kelsch, J., Heesen, M., Löper, C., Flemisch, F.: Balancierte
Gestaltung kooperativer multimodaler Bedienkonzepte für

14 Fahrerassistenz und Automation: H‐Mode beim Annähern,


Notbremsen, Ausweichen 8. Berliner Werkstatt MMS, Ber-
lin, 7.–9. Okt. 2009. (2009)
15 37 Flemisch, F., Nashashibi, F., Glaser, S., Rauch, N., Temme, T.,
Resende, P., Vanholme, B., Schieben, A., Löper, C., Thomai-
dis, G., Kaussner, A.: Towards a Highly Automated Driving
16 Intermediate report on the HAVEIt‐Joint System. Transport
Research Arena, Brussels (2010)
38 Goodrich, K., Flemisch, F., Schutte, P., Williams, R.: A Design
17 and Interaction Concept for Aircraft with Variable Auto-
nomy: Application of the H‐Mode Digital Avionics Systems
Conference, USA. (2006)
18
19
60
1139 61

Autonomes Fahren
Richard Matthaei, Andreas Reschka, Jens Rieken, Frank Dierkes,
Simon Ulbrich, Thomas Winkle, Markus Maurer

61.1 Einleitung  – 1140


61.2 Stand der Forschung   –  1145
61.3 Ausblick und Herausforderungen   –  1159
61.4 Anhang – Fragebogen zum Thema
„Automatische Fahrzeuge“ – 1160
Literatur – 1162

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3_61, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1140 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

61.1 Einleitung net, die sich mit autonomem Fahren im weiteren


61 Sinne beschäftigen. Dabei beschränkt sich die Be-
61.1.1 Motivation trachtung auf die technischen Aspekte, die nur einen
2 kleinen Anteil daran haben, ob autonome Fahrzeuge
Die Vision vom „autonomen Fahren“ ist heutzutage zukünftig am öffentlichen Straßenverkehr teilhaben
in aller Munde: Medien berichten über Erfolge aus werden. Offene Fragen zu rechtlichen Unklarheiten
3 der Forschung mit zahlreichen Versprechen nahe- („Unter welchen Bedingungen kann eine Zulassung
liegender Markteinführungen, Automobilkonzerne erfolgen?“, „Wer haftet im Schadensfall?“), zu ge-
4 starten ein Wettrüsten der Technologien und Soft- sellschaftlicher Akzeptanz („Werden die Menschen
wareunternehmen treten in Konkurrenz zu Fahr- Maschinen vertrauen, die das Potenzial haben, ihnen
5 zeugherstellern. Dadurch keimt in der Gesellschaft tödliche Verletzungen beizufügen?“), zur Absiche-
die Hoffnung eines unfallfreien Straßenverkehrs rung („Wie können wir sicherstellen, dass das auto-
auf. Man könnte sich endlich selbst während der nome Fahrzeug alle erdenklichen Situationen sicher
6 Fahrt entspannt zurücklehnen, die Reise genießen, beherrscht, das heißt wahrnimmt und bewertet?“)
uneingeschränkt telefonieren, im Internet surfen [2] oder zur Wartung im alltäglichen Betrieb („Wer
7 oder anstehende Vorbereitungen treffen – anstatt überprüft zukünftig regelmäßig die Verkehrs- und
sich über den Stau zu ärgern. Alten und kranken Betriebssicherheit, wenn heute schon kaum jemand
Menschen soll langfristig eine erhöhte, individu- vor Fahrtantritt eine Sichtprüfung sicherheitsrele-
8 elle Mobilität ermöglicht werden. Auch zur effizi- vanter Bauteile an seinem Fahrzeug durchführt?“)
enteren Nutzung der Rohstoffe sollen autonome werden in diesem Kapitel nicht vertieft.
9 Fahrzeuge einen Beitrag leisten: So wäre es denk-
bar, im Rahmen von Car-Sharing-Angeboten die
61.1.2 Historie
10 Fahrzeuge autonom zu den Kunden fahren (vgl.
[1]) beziehungsweise sich eigenständig mit Energie
versorgen zu lassen. Auch die Fahrt an sich könnte Die Anfänge zur Automatisierung von Fahrzeugen
11 unter Berücksichtigung des Verkehrsflusses und liegen laut [3] in den 1950er Jahren. Im General
des gesamten Streckenverlaufs aus energetischer Motors Research Lab entwickelte man dazu Ideen,
12 Sicht optimiert werden. wie sich zunächst das Fahren auf Highways auto-
Diesbezüglich stehen einige Fragen im Raum: matisieren ließe. Da die damaligen Computer und
Ist dies alles noch eine Vision, die in ferner Zukunft Bildverarbeitungsgeräte noch nicht leistungsfähig
13 liegt? Wird es „autonome Straßenfahrzeuge“ jemals genug waren, galt eine Kombination aus Fahrzeug-
geben oder stehen sie schon kurz vor der Markt- technologie und Infrastrukturmaßnahmen als viel-
14 einführung? Was heißt „autonomes Fahren“ grund- versprechend; beispielsweise wurden Magnete in
sätzlich und welche technischen Herausforderungen die Fahrbahn eingesetzt und mit einem Sensor im
15 sind hierbei zu lösen? Fahrzeug erkannt [3].
Die Einschätzungen bezüglich einer Marktein- Vor allem japanische Gruppen erforschten in
führung sind uneinheitlich: Es werden alle Optio- den 1970er und 1980er Jahren die Erkennung von
16 nen mit Voraussagen von 10 bis 20 Jahren bis hin zu Fahrstreifen und Objekten mit bildgebenden Kame-
niemals genannt. Das liegt nicht zuletzt auch daran, ras; basierend auf den gewonnenen Daten wurde die
17 dass das Verständnis über den Funktionsumfang Fahrzeugführung automatisiert [4, 5]. Die damals
eines „autonomen“ Fahrzeugs auseinandergeht. Im gezeigten Resultate entsprechen nach heutigen
Rahmen dieses Kapitels werden die weitreichenden Maßstäben einer adaptiven Geschwindigkeitsre-
18 Fragen nicht beantwortet werden können. Jedoch gelanlage und einem Spurhalteassistenten bei sehr
soll der Versuch unternommen werden, über eine geringen Geschwindigkeiten. Auch die Fahrzeugau-
19 kurze historische Einführung und eine Funktions- tomatisierung mit Anpassungen der Infrastruktur
definition den Begriff des „autonomen Fahrens“ zu wurde weiterhin untersucht, um die Komplexität
20 schärfen. Darauf aufbauend werden Ergebnisse einer des Problems durch ein Zusammenwirken von
intensiven Recherche zu Forschergruppen eingeord- Fahrzeug und Fahrbahn zu verringern [6, 7].
61.1 • Einleitung
1141 61

In den USA wurden sowohl in Projekten der die notwendigen Anforderungen an die Hoch- oder
„California Partners for Advanced Transit and Vollautomatisierung.
Highways“ (PATH) [8] als auch an der Carnegie Die Defense Advanced Research Projects
Mellon University [9] automatisierte Fahrzeuge Agency (DARPA) der USA hatte sich zu Beginn der
entwickelt und deren Fähigkeiten präsentiert. Ein 2000er Jahre das Ziel gesetzt, fahrerlose, automa-
Höhepunkt ist in den 1990er Jahren in der Demons- tisierte Fahrzeuge für den militärischen Gebrauch
tration „No Hands Across America“ von 1995 zu zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde 2004 die
sehen, bei der die USA mit dem Versuchsträger erste DARPA Grand Challenge veranstaltet, in der
NavLab 5 durchquert wurden: Das eingesetzte as- fahrerlose Fahrzeuge eine Strecke in der Wüste Ne-
sistierende System übernahm die Querführung bei vadas absolvieren mussten. Die Vorbereitungszeit
4500 von 4587 gefahrenen Kilometern auf amerika- der Teams war offensichtlich zu kurz und so waren
nischen Highways [10]. die Ergebnisse nicht zufriedenstellend: Keines der
Im Rahmen des von der Europäischen Union Fahrzeuge erreichte das Ziel [18]. Im darauffolgen-
geförderten Projekts PROMETHEUS (PRO- den Jahr 2005 erhöhte die DARPA das Preisgeld und
graMme for a European Traffic of Highest Effi- die Teams bekamen erneut die Gelegenheit zur De-
ciency and Unprecedented Safety, 1987–1994) monstration: Dieses Mal erreichten mehrere Teams
wurden ähnliche Systeme entwickelt, die zu sehr das Ziel der 229 km langen Strecke durch die Wüste
leistungsfähigen Fahrzeugen führten. Die Uni- und der Wettbewerb wurde als Erfolg gewertet.
versität der Bundeswehr in München zeigte auf Als Sieger ging das Stanford Racing Team hervor,
Erprobungsfahrten mit den Versuchsträgern Va- dessen Versuchsträger Stanley die Strecke in knapp
MoRs und VaMoRs-P (VaMP) [11, 2, 12] automa- sieben Stunden absolvierte [18]. Die Fahrzeuge wa-
tisiertes Fahren; auch die Daimler-Benz AG zeigte ren hier ohne Sicherheitsfahrer unterwegs, konnten
mit den vergleichbaren Versuchsträgern VITA und aber durch eine Fernsteuerung gestoppt werden.
VITA II ähnliche Resultate [13, 14]. Eine besondere Die einzelnen Ansätze der verschiedenen Teams
Aufmerksamkeit erhielt die automatische Langstre- wurden in [19] veröffentlicht.
ckenfahrt von München nach Odense mit dem Ver- Da sich das Wettbewerbskonzept als erfolgreich
suchsträger VaMoRs-P im Jahr 1995. Von den ins- erwies, richtete die DARPA 2007 die DARPA Urban
gesamt 1758 gefahrenen Kilometern wurden 1678 Challenge aus: Anstatt durch eine Wüste wurden die
automatisch zurückgelegt; mit einer Automatisie- Fahrmissionen in einer vorstadtähnlichen Umge-
rung sowohl der Längs- als auch der Querführung bung mit weiteren Verkehrsteilnehmern absolviert
konnten Geschwindigkeiten bis 180 km/h erreicht und die weiteren Verkehrsteilnehmer wurden durch
werden. Zusätzlich wurden Fahrstreifenwechsel Stuntfahrer bewegt. Die Anforderungen an die Teil-
vom Sicherheitsfahrer ausgelöst und dann auto- nehmer waren dementsprechend höher und auch
matisiert ausgeführt [15]. Mit dem Versuchsträger der zivile Nutzen erschien hier größer zu sein, da es
ARGO des VisLab-Instituts der Università degli sich hauptsächlich um Pkws handelte, die sich in ei-
Studi di Parma erfolgten ebenfalls Langstrecken- ner Stadt mit den gültigen Verkehrsregeln bewegen
fahrten im Jahr  1998 [16]: Bei den mehrtägigen mussten. Auch dieser Wettbewerb wurde als Erfolg
Versuchsfahrten wurden etwa 1860 km automatisch gewertet, da einige Teams die gestellten Aufgaben
zurückgelegt, wobei die Automatisierung neben der lösten. Die gesamte Forschungsgemeinde erhielt ei-
Längs- und Querführung auch Fahrstreifenwech- nen Schub, der in vielen Projekten zur Fahrzeugau-
sel abdeckte, die vom Sicherheitsfahrer ausgelöst tomatisierung mündete. Das Team Tartan Racing
wurden [16]. der Carnegie Mellon University gewann den Wett-
In all diesen Projekten erfolgte die Überwa- bewerb, den zweiten Platz belegte das Stanford Ra-
chung der Fahrzeuge durch menschliche Fahrer, cing Team und den dritten das Team Victor Tango.
der Einsatzbereich beschränkte sich vorrangig auf Aufgrund der zahlreichen Teilnehmer und der be-
Autobahnen und autobahnähnlichen Straßen. Nach eindruckenden Resultate wurden die Erkenntnisse
dem heutigen Verständnis von Automatisierungs- in [20, 21, 22] ausführlich publiziert. Wie auch in
graden nach [17] erfüllte keiner der Versuchsträger den Grand Challenges waren die Fahrzeuge ohne
1142 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

Sicherheitsfahrer unterwegs, konnten aber ebenfalls Fahrens geht damit über die Umfänge des vollauto-
61 durch eine Funkverbindung gestoppt werden, wie matischen Fahrens im Sinne der BASt [17] hinaus.
auch im Projekt CarOLO der Technischen Uni- Die besondere Beschaffenheit des nicht-infra-
2 versität Braunschweig [23]. Der in diesem Projekt strukturgebundenen Straßenfahrzeugs erhöht die
eingesetzte Versuchsträger Caroline nahm als bestes verfügbaren Freiheitsgrade, wodurch das Fahrzeug
europäisches Fahrzeug am Finalevent teil. Im Finale flexibler nutzbar ist und einen größeren Umfang
3 wurden Caroline und andere Fahrzeuge mit zahlrei- an Missionen erfüllen kann. Gleichzeitig steigen
chen unvorhergesehenen Situationen konfrontiert, jedoch auch die Anforderungen an das Fahrzeug.
4 in denen ein menschlicher Eingriff notwendig war. Außerdem limitiert der infrastrukturunabhängige
Dadurch zeigte sich, dass nicht nur Caroline, son- Betrieb die verfügbare Energie zur Umsetzung der
5 dern auch die anderen Fahrzeuge noch nicht für den Mission sowie die Auswahl technischer Lösungs-
öffentlichen Straßenverkehr tauglich waren [23]. ansätze – bedingt durch den Bauraum und die
Im Anschluss an die DARPA Challenges präsen- bordeigene Energieversorgung. Ein Gegenbeispiel:
6 tierten viele der Teams Versuchsträger im öffentli- Eine Straßenbahn ist lediglich für die longitudinale
chen Straßenverkehr. Neben den Forschungsprojek- Führung verantwortlich, ist permanent mit Strom
7 ten an Universitäten stieg auch die Zahl der Projekte versorgt und kann nur eine signifikant geringere
bei Fahrzeugherstellern, Zulieferern und anderen Menge an Orten erreichen.
Unternehmen; einige dieser Projekte werden in Der Betrieb im öffentlichen Straßenverkehr
8 diesem Artikel genauer untersucht. Einen umfang- bedingt, dass sich das Fahrzeug den Verkehrsraum
reichen Überblick über weitere Aktivitäten auf dem mit anderen durch Menschen gefahrenen Fahr-
9 Gebiet der intelligenten Fahrzeuge bietet [24]. zeugen, anderen automatisierten Fahrzeugen, un-
geschützten Verkehrsteilnehmern, wie Radfahrern
10 61.1.3 Anforderungen an autonomes
und Fußgängern, sowie Tieren (Hunde, Katzen,
Wild, …) teilt. Der Einsatz im öffentlichen Stra-
Fahren im öffentlichen ßenverkehr erfordert zudem die Wahrnehmung
11 Straßenverkehr der Szenerie, also des statischen Umfeldes nach
[26], sowie der dynamischen Elemente – wie etwa
12 Unter dem Begriff des autonomen Fahrens wird hier andere Verkehrsteilnehmer, Zustände der Lichtsi-
(ähnlich der Vorstellung in [25]) die Fortbewegung gnalanlagen oder Witterungsbedingungen (nach
mithilfe eines nicht an eine dezidierte Infrastruktur [25]). Die Szene, als Ergänzung der Szenerie um die
13 gebundenen Straßenfahrzeugs verstanden (also ei- dynamischen Elemente, ist vor dem Hintergrund
nes Personen- oder Lastkraftwagens ohne Schienen- der eigenen Absichten zu interpretieren. Auf Ba-
14 führungssysteme), das ausschließlich durch die Ein- sis dieses Interpretationsergebnisses ist dann eine
gabe oder Adaption einer Mission vom Menschen Handlungsentscheidung – z. B. einer angepassten
15 bedient wird oder sich sogar eigenständig eine Mis- Fahrweise – zu treffen. Die Beschränkung auf den
sion zuweist (z. B. Fahrt zu einer Ladestation nach Straßenverkehr grenzt die zu erwartenden Szenen
erfolgreicher Transportmission): Die Mission be- ein: Es ist beispielsweise nicht damit zu rechnen,
16 steht dabei immer aus einer Transportaufgabe von dass ein autonomes Straßenfahrzeug einen geeig-
einem Standort A zu einem Standort B mit Trans- neten Weg durch einen sumpfigen Acker finden
17 port von Gütern, Personen oder nur dem Fahrzeug muss, ohne stecken zu bleiben oder die Pflanzen
selbst. Die Mission muss vom Menschen angepasst zu beschädigen.
werden können – z. B. durch die Auslösung eines Die autonome Fahrt im öffentlichen Straßenver-
18 Nothalts, der den Fahrgästen einen sicheren Aus- kehr erfordert auch die Einhaltung des lokal gülti-
stieg ermöglicht (wie in [25] beschrieben) oder gen Regelwerks (siehe auch S. 6 in [25]): Zumindest
19 durch die Wahl eines den aktuellen Bedürfnissen die Straßenverkehrsordnung (StVO) definiert somit
der Fahrgäste angepassten Zwischenziels – wie das den geforderten Umfang der Wahrnehmungs- und
20 nächstgelegene WC, ein Krankenhaus oder ein Re- Interpretationsleistung eines autonomen Straßen-
staurant der Wahl. Diese Definition des autonomen fahrzeugs bezüglich der Bedeutung von Verkehrs-
61.1 • Einleitung
1143 61

zeichen und Fahrbahnmarkierungen. Die Öffent- lichen Straßenverkehr robust gegenüber Manipu­
lichkeit des Verkehrsraumes führt dazu, dass ein lationen und Missbrauch sein.
autonomes Fahrzeug schon allein durch seine An- In der Euphorie der zunehmenden Automati-
wesenheit mit dem Umfeld interagiert; für einen sierung der Fahrzeuge sollte aber der eigentliche
reibungslosen Ablauf im Straßenverkehr ist jedoch Nutzen nicht aus den Augen verloren werden: Im
darüber hinaus eine explizite Kooperation mit den Mittelpunkt stehen noch immer der Mensch und
anderen Verkehrsteilnehmern (automatisierten wie sein persönliches Bedürfnis nach individueller Mo-
herkömmlichen Fahrzeugen) erforderlich. Dazu bilität. Ein autonomes Fahrzeug, das zwar unfallfrei
werden hier ein eindeutiges Fahrverhalten, eine und gegebenenfalls auch regelkonform im Sinne
frühzeitige Kommunikation der Fahrentscheidung der StVO fährt, aber dessen Insassen kein Vertrauen
(z. B. Fahrstreifenwechsel ankündigen über Fahrt­ zur eingesetzten Technologie aufbauen und keinen
richtungsanzeiger oder C2X) sowie die Rücksicht- besonderen Fahrkomfort genießen können, wird
nahme auf Wünsche anderer Verkehrsteilnehmer vermutlich nicht akzeptiert werden.
(z. B. Reaktion des autonomen Fahrzeugs auf gesetz-
ten Fahrtrichtungsanzeiger durch Öffnen der Lücke
zum Vorderfahrzeug) gezählt. Für eine unfallfreie 61.1.4 Einordnung relevanter
Fahrt sind außerdem eine absolute Zuverlässigkeit Forschungsprojekte
der Umgebungswahrnehmung sowie der relativen
Lokalisierung zur Umgebung erforderlich. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf zivilen, vollau-
Die gemeinsame Nutzung des Verkehrs­raumes tomatisierten Straßenfahrzeugen, zu denen hinrei-
mit dem Menschen erfordert zudem, dass sich die chend detaillierte Informationen veröffentlicht oder
autonomen Fahrzeuge an denselben optischen durch die Forscherteams den Autoren zugänglich
Merkmalen orientieren, an denen sich die Menschen gemacht wurden. Es wurden primär zivile Systeme
orientieren. Die Einführung anderer Technologien untersucht, da aufgrund unterschiedlicher Anfor-
würde neben den immensen Kosten immer das Ri- derungen (im Militärischen z. B. auch Robustheit
siko in sich tragen, dass die optische Realität für den gegen feindliche Angriffe, unwegsames Gelände
Menschen inkonsistent zu der Realität für das auto- usw.) sich technisch unterschiedliche Systeme für
nome Fahrzeug ist (vgl. auch [27] nach [28]). Diese die militärische und zivile Nutzung ergeben. Fer-
Diskrepanz wird derzeit schon beim Einsatz von lei- ner wurden nur Projekte untersucht, die das Ziel
der schnell veraltenden Kartendaten für das automa- einer prototypischen Umsetzung des hoch- oder
tische Fahren sichtbar, da sich die Informationen in vollautomatisierten Fahrens gemäß der Definition
der Karte im Falle veralteter Daten von der aktuell der Bundesanstalt für Straßenwesen (vgl. [17]) an-
wahrgenommenen Szenerie unterscheiden können. streben oder bereits umgesetzt haben. So wurde im
Die Anwesenheit des Menschen – und gegebenen- Rahmen dieses Buchkapitels bewusst darauf ver-
falls der Tierwelt – im Verkehrsraum schränkt au- zichtet, Projekte aus dem Bereich des assistierten
ßerdem die Menge der umsetzbaren technischen oder teilautomatisierten Fahrens, bei denen in der
Lösungsansätze ein: So können beispielsweise nur Zielsetzung des Projekts der Fahrer stets zu jeder
Lasersensoren verbaut werden, die auch augensicher Zeit eine Systemüberwachungsaufgabe übernehmen
und somit gesundheitlich unbedenklich sind. muss, zu berücksichtigen. Gleichwohl erreichen
Ein autonomes Straßenfahrzeug muss im Sinne genau genommen auch die derzeitigen Prototypen
eines verantwortungsvollen Verhaltens gegenüber zum hoch- bzw. vollautomatisierten Fahren nach
der Umwelt, sich selbst und den Fahrgästen eine ge- unserer Einschätzung im öffentlichen Straßenver-
naue Kenntnis der eigenen Fähigkeiten und Fertig- kehr lediglich die Stufe der Teilautomation (siehe
keiten besitzen. Dazu gehört auch die Kenntnis über dazu ▶ Abschn. 61.2.6). Darüber hinaus werden
den eigenen Systemzustand, sowohl dem Zustand nur Projekte, die explizit Straßenfahrzeuge – also
der Wahrnehmungskomponenten als auch dem Zu- Personenkraftwagen, Lastkraftwagen, Busse oder
stand der Aktorik (Stichwort: Onboard-Diagnose); Motorräder – einsetzen, im Rahmen dieses Kapi-
ferner muss das Fahrzeug beim Einsatz im öffent- tels betrachtet. Von der Betrachtung ausgeschlossen
1144 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

wurden damit eine Vielzahl von mobilen Robotik- Unterscheidungsmerkmal zwischen den Projekten
61 plattformen, humanoiden Robotern oder unbe- darstellen:
mannten Luftfahrzeugen. Projekte, über die bisher 1. Bordautonome Umfeld- und Selbstwahrneh-
2 nur Absichtserklärungen oder allgemein gehaltene mung: Das autonome Fahrzeug muss das lokale
Presseerklärungen veröffentlicht wurden, können Umfeld in der erforderlichen Vollständigkeit
mangels verfügbarer wissenschaftlicher Informa- erfassen und interpretieren bzw. zuordnen
3 tionen nicht diskutiert und mit anderen Projekten können. Dazu gehören: Fahrbahnmarkierun-
verglichen werden. Um den Teams eine gleichbe- gen inkl. ihrer fahrzeugrelativen Position und
4 rechtigte Möglichkeit zu bieten, ihre Ergebnisse im der Auswertung ihrer Symbolik, Verkehrszei-
Rahmen dieses Artikels einzubinden, wurde von chen, andere Fahrstreifenbegrenzungen wie
5 den Autoren ein Fragebogen (siehe ▶ Abschn. 61.4) Bordsteine etc., erhabene Hindernisse, Lichtsi-
entworfen, der vielen über Presse und Tagungen gnalanlagen, andere Verkehrsteilnehmer (Per-
bekannten Forschungseinrichtungen, Fahrzeug- sonen, Radfahrer, Motorradfahrer, Lkws/Busse,
6 herstellern und weiteren Unternehmen zugesandt Straßenbahnen, Rettungsfahrzeuge, Tiere), Wit-
wurde. An dieser Stelle möchten sich die Autoren terung sowie der eigene Zustand (Tankfüllung,
7 herzlich für die Rückmeldungen bedanken. Reifendruck, Raddrehzahl etc.).
Anhand der zuvor genannten Kriterien sowie 2. Missionsumsetzung: Die Missionsumsetzung
der Rückmeldungen aus den Fragebögen ergibt sich muss von einer groben Routenplanung bis hin
8 folgende Liste an Projekten, die in diese Untersu- zur Fahrzeugansteuerung alle Aufgaben umset-

9
10
--
chungen einbezogen wurden:
Sonderforschungsbereich 28 der Deutschen
Forschungsgemeinschaft,
Karlsruher Institut für Technologie – Ver-
zen können. Die Situationsbewertung wird in
diesem Kapitel ebenfalls der Missionsumset-
zung zugeordnet.
3. Lokalisierung: Das Fahrzeug muss wissen, wo es

-
suchsträger Annieway, sich global oder in einer Karte befindet.
Universität der Bundeswehr – Versuchsträ- 4. Nutzung von Kartendaten: Ohne Kartendaten
11
-
ger MuCAR 3, ist eine vollständige Routenplanung schwierig.
Technische Universität München – Ver- Der Einsatz von Kartendaten gibt aber auch
12
-- suchsträger MUCCI,
BMW AG – Projekt Connected Drive,
VisLab Institut der Università degli Studi di
indirekt Aufschluss über die Leistungsfähigkeit
der Umfeldwahrnehmung und Lokalisierung.
Derzeit wird häufig alles, was nicht wahrgenom-

-
13 Parma – Versuchsträger BRAiVE, men oder interpretiert werden kann, mittels
Carnegie Mellon University – Versuchsträger Kartendaten dem Fahrzeug zugänglich gemacht.

--
14 BOSS, Der Nachteil: Die Daten veralten zu schnell. Da-
Stanford University – Versuchsträger Junior 3, her ist es interessant zu kennzeichnen, wie sehr
15 Daimler AG – Automatische Fahrt auf der die Systeme auf Kartendaten angewiesen sind.

16 - Bertha-Benz-Route („Bertha-Benz-Fahrt“),
Technische Universität Braunschweig – Projekt
Stadtpilot mit Versuchsträger Leonie.
5. Kooperation: Das Fahrzeug muss sich in das
Gesamtverkehrsgeschehen integrieren und
kooperativ mit anderen Verkehrsteilnehmern
interagieren können; andernfalls wird es ein
17 Fremdkörper im gemischten Verkehr sein.
61.1.5 Schwerpunkt 6. Funktionale Sicherheit: Ohne den Menschen als
der Untersuchungen Rückfallebene muss sichergestellt sein, dass ein
18 autonomes Fahrzeug keinen Schaden anrichtet.
Auf Basis unserer Anforderungsdefinition an ein
19 „autonomes Straßenfahrzeug“ in ▶ Abschn. 61.1.3 Im Folgenden werden unterschiedliche Lösungsan-
wurden die folgenden zentralen Aspekte identifi- sätze in diesen Schwerpunkten vorgestellt. Es wird
20 ziert (siehe . Abb. 61.1), die ein autonomes Fahr- dabei bewusst auf die vielzähligen Veröffentlichungen
zeug beherrschen muss bzw. die ein relevantes im Bereich der Fahrerassistenz verzichtet, die nicht
61.2  •  Stand der Forschung
1145 61
.. Abb. 61.1 Aspekte
eines autonomen Fahr- Kooperation Lokalisierung
zeugs. Die Abbildung zeigt
das Forschungsfahrzeug
Leonie aus dem Projekt Umfeld- und Selbst-
Stadtpilot der TU Braun- wahrnehmung
schweig.

Sicherheit

Digitale Karten
Missionsumsetzung

im Kontext der Integration in ein Gesamtfahrzeug- 61.2 Stand der Forschung


konzept veröffentlicht wurden. Zum einen würde de-
ren Berücksichtigung den Rahmen dieses Beitrags 61.2.1 Wahrnehmung
sprengen, zum anderen aber auch den tatsächlichen
Stand auf diesem Forschungsgebiet verfälschen. Die Offenbar scheinen derzeit in der maschinellen Um-
Herausforderung des autonomen Fahrens liegt unter feldwahrnehmung die größten Herausforderungen
anderem in der Beherrschung des Gesamtsystems. zu liegen (vgl. [27]), was auch indirekt die Strate-
Während Fahrerassistenzsysteme in der Regel nur gien bestätigen, die beispielsweise in [29] oder [23]
kleine Teilfunktionen übernehmen, muss ein auto- verfolgt wurden, um überhaupt in die Nähe einer
nomes Fahrzeug den kompletten Funktionsumfang Fahrt ohne menschliches Eingreifen zu gelangen.
abdecken. Das hat nachvollziehbarerweise direkten Primär wahrnehmungsgetrieben arbeiten die Ak-
Einfluss auf die Gesamtkomplexität des Systems: Un- tivitäten der Universität der Bundeswehr München
ter anderem können zum Beispiel bei der Integration bzw. die Ansätze in [30]; auch in der DARPA Urban
vieler Einzellösungen in das Gesamtfahrzeugkon- Challenge gab es erste Ansätze, die weitestgehend
zept unvorhergesehene Inkompatibilitäten zwischen wahrnehmungsgetrieben fuhren (z. B. [31]). Jedoch
den einzelnen Modulen auftreten oder es werden haben sich die meisten Ansätze damals zumindest
schlichtweg die verfügbaren (Rechen-) Kapazitäten für das stationäre Umfeld sehr auf Kartendaten ge-
überschritten, die für ein Einzelsystem noch ausrei- stützt (vgl. [27]).
chend waren. Dies kann auch zum Ausschluss einzel-
ner Lösungen des Gesamtsystems führen, weil sich 61.2.1.1 Wahrnehmung des
diese nicht in das Gesamtsystem integrieren lassen. stationären Umfelds
Der im Folgenden zusammengetragene Stand Zu den stationären Umfeldbestandteilen werden
der Forschung basiert ausschließlich auf den hier in erster Linie der Verlauf aller Fahrstreifen und
Selbstauskünften der verschiedenen Forschergrup- Fahrbahnen in direkter Fahrzeugumgebung – z. B.
pen in Form von wissenschaftlichen Veröffentli- an innerstädtischen Kreuzungen – sowie die stati-
chungen bzw. Antworten auf den Fragebogen aus schen Hindernisse gezählt. Aber auch die Position
▶ Abschn. 61.4. Dabei ist es mangels verfügbarer und Bedeutung von Verkehrszeichen, die Typen
Metriken schwer, die Leistungsfähigkeit eines Sys- der Fahrbahnmarkierungen, die Positionen von
tems, z. B. zur maschinellen Umfeldwahrnehmung, Lichtsignalanlagen, Bordsteinen, Tunneleinfahrten,
zu bewerten. Brücken etc. zählen dazu. Bereits bei dieser sicher
1146 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

unvollständigen Auflistung wird deutlich, wie viel- mung des stationären Umfelds derzeit keine Rolle.
61 fältig die zu erwartende Umgebung ist. Alle stationären Informationen – insbesondere die
Aus den Projekten der Universität der Bundes- Begrenzungen der Fahrstreifen – werden über Kar-
2 wehr München stammen Ansätze in der Detektion tendaten in das System integriert. Eine Anpassung
von Straßenverläufen auch ohne Vorwissen aus dieser Begrenzungen an zusätzliche statische Hin-
Kartendaten (z. B. [32] und [33]). In [32] werden dernisse (z. B. parkende Lieferwagen) ist vorgese-
3 Ansätze vorgestellt, die auch Kreuzungen und hen (vgl. [23]), bislang aber nicht auf öffentlichen
Weggabelungen erkennen und modellieren kön- Straßen im Einsatz.
4 nen. Der Fokus dieser Aktivitäten liegt jedoch eher Auch bei der teilautomatisierten Fahrt eines
im Bereich unbefestigter Straßen; auch ein Abbild Mercedes-Benz S500 Intelligent Drive auf der Ber-
5 des Höhenprofils der Umgebung wird erzeugt (vgl. tha-Benz-Route wurde die Wahrnehmung der Fahr-
[34]). Eine weitere Besonderheit ist die Auslegung bahnmarkierungen maßgeblich über Kartendaten
der Wahrnehmungsalgorithmen auf widrige Be- gestützt (vgl. [29]); das stationäre Umfeld wurde
6 dingungen wie Teilverdeckung oder schlechte Sicht mittels Stereokameras erfasst. Inwieweit Verkehrs-
durch Schnee und Regen [32]. Lichtsignalanlagen zeichen beispielsweise erfasst werden, ist den vorlie-
7 und Verkehrszeichen können jedoch nach eigenen genden Unterlagen nicht zu entnehmen.
Angaben in der Antwort auf dem Fragebogen bei-
spielsweise nicht detektiert werden. 61.2.1.2 Wahrnehmung des
8 Im Rahmen des Projekts BRAiVE sind ebenfalls dynamischen Umfelds
umfassende Systeme zur Umfelderkennung inte- Weiter fortgeschritten ist insgesamt die Wahrneh-
9 griert: Den Ausführungen in [30] ist zu entnehmen, mung des dynamischen Umfelds: Neben allen an-
dass das Fahrzeug in der Lage ist, sämtliche itali- deren Verkehrsteilnehmern – wie Straßenbahnen,
10 enische Verkehrszeichen innerhalb von 100 ms zu Busse, Lkws, Pkws, Zweiräder, Krankenfahrstühle,
detektieren und zu klassifizieren; Fahrstreifen kön- Kinderwagen, Fußgänger etc. – zählen vor allem
nen sowohl mit einem Mono- als auch mit einem auch der Status von Lichtsignalanlagen sowie Wech-
11 Stereokamerasystem detektiert werden. Das System selverkehrszeichen dazu. Genau genommen ist so-
ist dabei in der Lage, zwischen weißen und gelben wohl für innerstädtische Szenarien als auch Über-
12 sowie durchgezogenen und gestrichelten Linien zu landstraßen die rechtzeitige Detektion von Tieren
unterscheiden. Ähnlich der Ansätze der Universi- ebenfalls erforderlich.
tät der Bundeswehr München kann ein Höhenpro- Über Bildverarbeitung ist das Versuchsfahrzeug
13 fil der Umgebung für Offroad-Navigation erzeugt BRAiVE in der Lage, vorausfahrende Fahrzeuge zu
werden: Ein Alleinstellungsmerkmal ist die Ein- detektieren und zu klassifizieren. Als Merkmal kom-
14 ordnung der aktuellen Domäne (Autobahn, Land- men dabei Symmetriebetrachtungen und die gezielte
straße, Stadt) anhand der detektierten Merkmale. Detektion von Rücklichtern zum Einsatz; mittels
15 Die Ansätze sind wohl auch in der Lage, Tunnel zu Lasersensoren kann der genaue Abstand bestimmt
detektieren; ferner wurde für spezielle Szenarien werden. Die Verfolgung ist auch in engen Kurven
eine Parklückendetektion entwickelt [30]. möglich und bei Nachtfahrten werden die Schein-
16 In [35] wurde ein Verfahren vorgestellt, dass auf werfer von entgegenkommenden Fahrzeugen via
einer Teststrecke um München durch Fusion von Bildverarbeitung detektiert. Auch die Überwachung
17 Laser- und Kameradaten eine korrekte Detektion der Blind-Spots erfolgt kamerabasiert; mittels Fusion
der Fahrbahnmarkierungen auf 100 % der Strecke von Laser und Kamera ist das Fahrzeug in der Lage,
ermöglicht. Lediglich die Anzahl der Fahrstreifen Personen in Gefahrenbereichen zu detektieren [30].
18 wurde aus gewöhnlichen Navigationskarten zur Mit den Arbeiten in [32] und [38] wurde ge-
Stützung herangezogen [35]. zeigt, wie Fahrzeuge auch bei schlechten Witte-
19 In [36] und [37] werden Ansätze vorgestellt, rungsbedingungen per Bildverarbeitung anhand
die sowohl die Position von Lichtsignalanlagen als signifikanter Konturmerkmale (Räder, Fenster-
20 auch von Verkehrszeichen anhand von Laserdaten scheiben, Fahrzeugsilhouette, Beleuchtungsele-
ermitteln. Im Projekt Stadtpilot spielt die Wahrneh- mente) im Bild gefunden und verfolgt werden kön-
61.2  •  Stand der Forschung
1147 61

nen. Den Angaben zufolge sind die Ansätze auch grund der vorliegenden Literatur allein nicht an-
in der Lage, Querverkehr zu verfolgen; außerdem gegeben werden.
können Personen und Fahrzeuge als solche identi-
fiziert werden [39]. 61.2.1.4 Kontextmodellierung
Für die Detektion und Verfolgung von an- Basierend auf den einzelnen, zuvor genannten
deren Fahrzeugen auf der Autobahn konnten in Grundmodulen einer Umfeldwahrnehmung ist es
[40] Ergebnisse präsentiert werden: Der Versuch- notwendig, die Resultate aus den Modulen mitei-
sträger verfügt über eine lidar- und radarbasierte nander zu verknüpfen, um eine Modellierung des
360°-Rundumsicht und kann mit einer hohen lokalen Kontextes um das automatisierte Fahrzeug
Reichweite nach vorne die anderen Verkehrsteil- herum zu erreichen. In [47] wird der Kontext de-
nehmer detektieren [41]. finiert als „a combination of elements of the user’s
Das Team AnnieWay hat sich im vergangenen environment which the computer knows about“. Für
Wettbewerb der Cooperative Driving Challenge das automatisierte Fahren ist der Begriff des Nutzers
primär auf Autobahnszenarien beschränkt und mit dem automatisierten Fahrzeug selbst zu erset-
Radartechnologie zur Objektverfolgung verwendet zen. Es wurde eine Vielzahl an Ansätzen zur Kon-
[42]. Im Stadtpiloten kommen bisher hauptsächlich textmodellierung präsentiert: In [48, 49] und [50]
Laserscanner zur Wahrnehmung von anderen Ver- finden sich ausführlichere Diskussionen solcher
kehrsteilnehmern zum Einsatz [43]. Ansätze. In vielen Projekten erfolgt beispielsweise
eine Zuordnung der Verkehrsteilnehmer auf einen
61.2.1.3 Selbstrepräsentation Fahrstreifen (vgl. [23, 42, 29]), auch wenn dieser
Zur Wahrnehmung werden im Rahmen des Sys- Schritt nicht überall als Teil der Wahrnehmung be-
temverständnisses, das diesem Kapitel zugrunde griffen wird.
liegt, auch die Ermittlung des eigenen Fahrzeug- Im Stadtpilot-Projekt werden in dieser zentralen
zustandes und somit auch eine Repräsentation der Kontextmodellierung auch beispielsweise die Licht-
eigenen Leistungsfähigkeit gezählt: In vielen Pro- signalzustände abgebildet [23]. Im Rahmen der Ak-
jekten ist bereits eine Form der Eigenbewegungs- tivitäten der Universität der Bundeswehr München
schätzung integriert, die in die zeitliche Fusion der werden – laut der Antwort auf den Fragebogen
Umfelddaten sowie die Stützung einer globalen – erkannte Fahrstreifenverläufe, Kreuzungen und
Lokalisierung einfließt. Die hier gemeinte Selbst- dynamische Objekte in einem Szenenbaum abge-
wahrnehmung geht jedoch weit darüber hinaus legt, statische Hindernisse sind nur im metrischen
und berücksichtigt die Funktionsfähigkeit von allen Hindernisgitter (verbreitet auch „occupancy grid“
Sensoren, Aktoren, Hardware- und Softwarekom- genannt) repräsentiert.
ponenten sowie des Fahrzeugs insgesamt, wie es
beispielsweise in [15, 44] oder [45] in Grundzügen 61.2.1.5 Fazit
diskutiert wird. Zusätzlich zur grundsätzlichen Wie in [27] und [29] angedeutet, ist die maschi-
Funktionsfähigkeit werden auch die Qualität der nelle Umfeldwahrnehmung noch weit entfernt
Informationen und deren Korrektheit betrachtet: von einer vollständigen Umgebungserfassung. In
Die gewonnenen Informationen sind notwendig, ▶ Abschn. 61.2.6 werden Dilemmasituationen an-
um die eigenen Handlungsalternativen hinsichtlich gesprochen, die möglicherweise zu rechtlichen oder
ihrer sicheren Ausführbarkeit zu bewerten und ge- ethischen Entscheidungskonflikten führen können.
gebenenfalls einzuschränken. Im Projekt Stadtpilot Allerdings sind die derzeitigen Systeme im allge-
der Technischen Universität Braunschweig wurden meinen Fall nicht in der Lage, diese Dilemmasitu-
beispielsweise Sensorwerte genutzt, um die Witte- ationen wahrzunehmen: Die für eine derart umfas-
rungsbedingungen und somit auch die Straßen- sende Wahrnehmung erforderlichen physikalischen
bedingungen zu schätzen und in der Fahrzeugre- Größen werden von den Sensoren entweder nicht
gelung zu berücksichtigen [46]. Inwieweit dieser erfasst (z. B. misst ein Lasersensor lediglich Abstand
Punkt in den anderen Projekten eine – eventuell und Reflektivität, nicht aber Elastizität oder Masse)
sogar selbstverständliche – Rolle spielt, kann auf- oder die erforderlichen Algorithmen zur Informa-
1148 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

tionsextraktion sind noch nicht entworfen bzw. Bereits heute sind Kartendaten flächendeckend
61 nicht echtzeitfähig (z. B. in der Bildverarbeitung). als Navigationshilfe und teilweise bereits zur Stüt-
Die Fahrzeuge wissen nicht, wie viele Menschen an zung der Umfeldwahrnehmung (z. B. Verkehrszei-
2 Bord sind, und ob das Hindernis auf der Straße ein chenerkennung) im Fahrzeug vorhanden. Somit ist
Kind, ein Tier oder eine Mülltonne ist. Auch ist die es nicht verwunderlich, dass auch alle Ansätze der
Verfügbarkeit vieler vorgestellter Lösungen bisher von uns untersuchten Forschungsprojekte auf Kar-
3 nicht ausreichend für eine autonome Fahrt auf Basis tendaten angewiesen sind. Der Einsatz der Karten-
einer maschinellen Umfeldwahrnehmung. Um über- daten geht allerdings häufig über die reine Naviga-
4 haupt fahren zu können, behelfen sich daher viele tionsaufgabe hinaus und lässt sich im Wesentlichen
Forschergruppen mit Kartendaten, die sie manuell drei Zwecken zuordnen:
5 erstellen und so dem System die erforderliche Inter- 1. Erweiterung des Sichtbereichs/Horizonts (z. B.
pretationsarbeit abnehmen (siehe ▶ Abschn. 61.2.2). für Navigationsaufgaben),
Die Ansätze aus dem Projekt BRAiVE (vgl. [30]) 2. Stützen der Umfeldwahrnehmung/Kompen-
6 und die Ansätze der Universität der Bundeswehr sieren von Schwächen der Sensorik (z. B. durch
München (vgl. z. B. [32]) arbeiten primär wahrneh- Verwendung der in den Kartendaten hinterleg-
7 mungsbasiert und versuchen, online das Umfeld des ten Positionen und Typen der Fahrbahnmarkie-
Fahrzeugs zu verstehen und heben sich damit von rungen, Verkehrszeichen etc.),
anderen Projekten ab. 3. Stützen der Lokalisierung/Kompensation von
8 Schwächen der satellitenbasierten Lokalisierung
(z. B. map-aided localization).
9 61.2.2 Einsatz von Kartendaten
Die Kartendaten unterscheiden sich dabei unter an-
61.2.2.1 Begriffsdefinition
10 derem in der Art der abgelegten Merkmale (siehe
Im Folgenden wird unter dem Begriff der „Karte“ auch unterschiedliche Klassen der Landmarken
ein Abbild von stationären Umgebungsmerkmalen nach [51] und [52]) sowie deren geometrischer,
11 verstanden, das außerhalb des eigenen Fahrzeugs semantischer und topologischer Richtigkeit und
erstellt wurde. Mit dieser Einschränkung wird deut- Vollständigkeit. Die Geometrie beschreibt die Po-
12 lich, dass eine unmittelbare Kontrolle oder eine sition der Merkmale, die Semantik beschreibt die
Einschätzung der Güte der Daten schwer ist, da Bedeutung oder Klasse der Merkmale (Laternen-
sie von einem fremden System zu einem früheren pfosten, Baumstamm, Haus etc.) und die Topologie
13 Zeitpunkt aufgenommen wurden: So kann mangels beschreibt die Verknüpfung der Elemente unterei-
lückenloser Beobachtung nicht sichergestellt wer- nander, also z. B. das Straßennetz.
14 den, dass seit der Aufnahme keine Veränderungen
am stationären Umfeld aufgetreten sind. Damit ist 61.2.2.2 Kartendaten im derzeitigen
Kontext autonomen Fahrens
15 es vergleichsweise unerheblich, ob die Kartendaten
eine Stunde, eine Woche oder ein Jahr alt sind. Ein Im Rahmen der DARPA Urban Challenge wurde
autonomes System kann sich nach dem Verständ- das „Route Network Definition File“ (RNDF, vgl.
16 nis der Autoren aus Gründen der Absicherung zu- [53]) eingeführt: Das RNDF ist eine Kombination
mindest auf der Ebene der Fahrzeugstabilisierung, aus einer fahrstreifengenauen Karte für die Ab-
17 also insbesondere der Kollisionsvermeidung bzw. schnitte, in denen eine Straße zu finden ist und
Querführung in einem Fahrstreifen, nicht auf Kar- einer Beschreibung von sogenannten Zonen, die
tendaten verlassen. Das vermeintlich stationäre die Grenzen von unstrukturierten Bereichen so-
18 Umfeld ist für die in absehbarer Zeit verfügbare wie die Positionen von Parktaschen repräsentieren.
Aktualisierungsrate von Kartendaten zu dynamisch. Die Straßenbeschreibung beinhaltet alle Informati-
19 Für die Navigationsaufgabe sind Kartenfehler zwar onstypen – geometrisch, topologisch, semantisch:
ärgerlich, weil sie eventuell einen Umweg zur Folge Verlauf und Breite der Fahrstreifen (geometrisch),
20 haben oder nicht ans richtige Ziel führen, aber nicht Verknüpfung der Fahrbahnen und Fahrstreifen
unmittelbar sicherheitsrelevant. (topologisch) sowie die Typen der Fahrbahnmar-
61.2  •  Stand der Forschung
1149 61

kierungen (semantisch). Insbesondere die geo- mit Fahrbahnmarkierungen generiert und wird im
metrische Information ist jedoch mit vereinzelten Dateiformat von OpenStreetMaps abgespeichert.
und global unpräzisen Stützstellen sehr rudimentär Sie beinhaltet neben dem Verlauf der Fahrstreifen-
gehalten, so dass einige Teams die Karten manuell begrenzungen die Fahrstreifentopologie, Vorfahrts-
editiert haben (z. B. [54, 55]). regeln und Lichtsignalanlagen [29].
Bei Team AnnieWay kamen im Rahmen der Co- Auch die Fahrt auf der Autobahn der BMW
operative Driving Challenge 2011 manuell erstellte, Group Forschung und Technik basierte auf Karten-
hochgenaue Karten mit Fahrstreifenverläufen daten mit zentimetergenauen Fahrbahninformatio-
zum Einsatz: Der rechte Fahrstreifen wurde mög- nen [57]. Der genaue Einsatzzweck wird nicht näher
lichst mittig abgefahren und die entsprechenden erläutert; anscheinend dienen die Kartendaten aber
GPS-Stützpunkte aufgezeichnet; die Berücksichti- sowohl zur Stützung der Lokalisierung als auch zur
gung der benachbarten Fahrstreifen für das Szena- Stützung der Wahrnehmung (vgl. Abb. 3 in [57]).
rio erfolgte durch eine modellbasierte Ergänzung. Während die Fahrten der VisLab Interconti-
Eingesetzt wurde die Karte für die Zuordnung von nental Autonomous Challenge (VIAC) mangels
detektierten Fahrzeugen, also zur Stützung der Um- verfügbaren Kartenmaterials noch ohne Kartenda-
feldwahrnehmung [42]. ten erfolgten, kommen in den nachfolgenden For-
Im Projekt Stadtpilot kommen noch detaillier- schungsaktivitäten um Broggi nun auch Kartenda-
tere und genauere Karten zum Einsatz (vgl. S. 97 in ten zum Einsatz: So wurde die Navigationsebene
[23]): Sie beinhalten ähnlich dem RNDF die topolo- (Broggi: long-term planning) eingeführt, die das
gischen Informationen in Form von Verknüpfungen Fahrzeug nach der hier gewählten Definition erst
zwischen den Fahrstreifen [56]; die geometrische zu einem autonomen Fahrzeug werden lässt. Dazu
Information wurde manuell aus hochgenauen Luft- wurden OpenStreetMap-Karten mit weiteren In-
bildern entnommen. Die abgelegten geometrischen formationen wie Anzahl Fahrstreifen, Fahrstreifen-
Merkmale stellen Verläufe der Fahrbahnbegrenzun- breite, Lichtsignalanlagen angereichert (vgl. S. 1412
gen dar. Die Karte wird sowohl zur Stützung der in [30]). Eine Stützung der Lokalisierung bzw. der
Umfeldwahrnehmung (vgl. S. 105 in [23]) als auch Wahrnehmung innerhalb des Sensorsichtbereichs
zur Stützung der Lokalisierung (vgl. S. 97 u. 101 in ist den Veröffentlichungen nicht zu entnehmen.
[23]) genutzt. Im Rahmen der Aktivitäten der Universität der
Die Bertha-Benz-Fahrt erfolgte ebenfalls mit Bundeswehr München kommen den Angaben zu-
hochgenauen Kartendaten, die „von größter Wich- folge lediglich ungenaue Straßenkartendaten (Ge-
tigkeit“ waren [29]. Laut der Darstellung in [29] nauigkeit von ca. 10 m) zum Einsatz; sie dienen der
wurden drei unterschiedliche Kartentypen einge- Routenplanung und gegebenenfalls der Generie-
setzt: Karten mit 3D-Punktlandmarken, Karten mit rung von initialen Kreuzungshypothesen. Die Da-
einem exakten Abbild der Fahrbahnmarkierungen ten werden beispielsweise aus OpenStreetMap ohne
(Seitenmarkierungen, Haltelinien und Bordsteine) eine weitere Attributierung mit Details der Fahrzeu-
und Tramschienen sowie Karten mit etwas abstra- gumgebung verwendet (siehe hierzu auch [33]).
hierter Information auf Fahrstreifenebene. Die Kar-
ten wurden für alle drei der oben genannten Zwecke 61.2.2.3 Fazit
(Lokalisierung und Stützung der Wahrnehmung in- Kartendaten spielen derzeit für das autonome Fah-
nerhalb und außerhalb des Erfassungsbereichs) ein- ren eine zentrale Rolle. Ihre Einsatzzwecke sind viel-
gesetzt. Der Kartierungsprozess der 3D-Punktland- fältig: Von reiner Unterstützung bei der Routenpla-
markenkarte erfolgt offline, aber vollautomatisch nung (z. B. [30] oder [33]) bis hin zur vollständigen
mit einem Stereokamerasystem. Die Projektion des Unterstützung der Wahrnehmung von Fahrbahn-
3D-Fahrzeugumfelds aus den Stereokameras auf markierungen (z. B. [23]) bzw. dem Ersatz einer
die Fahrbahnebene ist Grundlage für die Erstellung satellitengestützten Lokalisierung (z. B. [29] oder
der Karte mit Fahrbahnmarkierungen sowie der [36]) sind alle Formen der Integration von Karten-
fahrstreifengenauen Karte. Die fahrstreifengenaue daten zu finden. Dabei werden keine Strategien zum
Karte wurde durch manuelles Editieren der Karte Umgang mit kurzfristig veränderten Fahrbahnver-
1150 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

läufen vorgestellt; die Frage zur Sicherstellung der 61.2.3 Kooperation


61 Aktualität von Kartendaten bleibt unbeantwortet.
Immerhin sind die Kartendaten – zumindest im 61.2.3.1 Begriffsdefinition
2 Falle einer Fahrzeugregelung auf deren Basis – eine Der Begriff „Kooperation“ beschreibt eine Form der
sicherheitsrelevante Eingangsquelle. gesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen min-
Unter dem Gesichtspunkt der Anforderungen destens zwei Parteien. Ziel dieser Zusammenarbeit
3 an eine Karte sind aus Sicht der Autoren die Projekte ist es, sowohl für die eigene als auch die übrigen
weiter entwickelt, die bereits mit unpräzisen Karten Parteien eine Verbesserung gegenüber einer egois-
4 umgehen können. Eigene Erfahrungen im Rahmen tischen Vorgehensweise zu erreichen [60].
der Aktivitäten im Projekt „Stadtpilot“ zeigen im- Technisch ausgedrückt ist der Grundgedanke ei-
5 mer wieder, wie anfällig ein kartenbasierter Ansatz ner Kooperation, in Anlehnung an diese Definition
zur Fahrzeugführung gegenüber kleinsten Verände- und die Aussagen in [61], durch eine Zusammenar-
rungen ist: Schnell sind Haltelinien an Lichtsignal- beit eine bessere Lösung für ein gegebenes Problem
6 anlagen ein paar Meter vorgezogen, Markierungen im Sinne eines zu definierenden Gütekriteriums zu
durchgezogen oder entfernt, Fahrtrichtungen von erhalten. Dieses Gütekriterium kann verschiedene
7 Fahrstreifen an Kreuzungen geändert, ein Tempo- Ausprägungen annehmen: Ein wesentlicher Aspekt
30-Schild aufgestellt oder eine Baustelle eingerich- der Kooperation ist die Vereinbarung dieser Krite-
tet. Das sind alles kleine Eingriffe, ohne die Infra- rien. Sie können dabei sowohl a priori bekannt sein
8 struktur auf makroskopischer Ebene zu verändern. – beispielsweise das Kriterium, Kollisionen mit an-
Diese Eingriffe führen aber durchaus dazu, dass sich deren Verkehrsteilnehmern zu vermeiden – als auch
9 ein Fahrzeug, das auf veralteten Kartendaten fährt, dynamisch zwischen den beteiligten Partnern ver-
regelwidrig und sogar gefährdend verhalten würde. handelt werden. Die Vereinbarung von Zielen und
10 Seit langem gibt es Ideen, die Aktualisierung ihre gemeinsame Verfolgung erfordert ein hohes
von Kartendaten zu beschleunigen: So wurden be- Maß an Abstimmung zwischen den Parteien und
reits vor mehreren Jahren im Projekt ActMap [58] bildet einen Kernpunkt bei der Betrachtung koope-
11 Online-Kartenaktualisierungen von einem zentra- rativer Mechanismen im Straßenverkehr. Insbeson-
len Server in das Fahrzeug übertragen. Im darauffol- dere bei sich widersprechenden Zielen einzelner
12 genden Projekt FeedMap [59] wurde ergänzend zu Teilnehmer ist die Absprache einer für alle Parteien
den Ansätzen aus ActMap versucht, auch online Da- tragbaren Lösung erforderlich.
ten von verschiedenen Fahrzeugen an einen Server Die Grundvoraussetzung für eine Kooperation
13 zu senden und so eine signifikant höhere Aktualität ist daher eine Kommunikation zwischen den betei-
und vor allem Abdeckung zu erreichen. Diese Idee ligten Parteien, die auf verschiedenen Wegen erfol-
14 wurde in [29] ebenfalls angesprochen. gen kann. Technologische Ansätze sind beispiels-
In einer weiter fortgeschrittenen Ausbaustufe weise der Einsatz von C2X-Technologien (siehe
15 wäre es denkbar, dass die autonomen Fahrzeuge auch ▶ Kap. 28). Der Grundgedanke der Kommu-
selbst aktuelle Umgebungsmerkmale an einen Ser- nikation zwischen Fahrzeugen ist nicht neu. Die
ver schicken und so die Karten eigenständig aktuell StVO schreibt verschiedene Signaleinrichtungen an
16 halten – ein klassisches Beispiel für Kooperation. Fahrzeugen und Infrastruktur vor, die der Kommu-
Allerdings setzt dies voraus, dass die Fahrzeuge nikation zwischen den Verkehrsteilnehmern dienen
17 prinzipiell in der Lage sein müssen, ihr Umfeld – Beispiele hierfür sind die Fahrtrichtungsanzeiger
vollständig zu erfassen und zu interpretieren sowie und Bremsleuchten oder auch das Signalhorn. Im
ihre Position zu bestimmen. Jedes der teilnehmen- Straßenverkehr sind weitere wesentliche Formen der
18 den Fahrzeuge könnte als erstes an eine unbekannte Kommunikation die Gestik und das Verhalten der
oder veränderte Stelle gelangen und müsste sofort Teilnehmer: Menschliche Fahrer signalisieren bei-
19 korrekt reagieren. Basierend auf dieser Argumen- spielsweise über Handzeichen ihre Absichten. Über
tation ist es fraglich, ob Ansätze mit hohem Ver- das Verhalten können Menschen sowohl die eigenen
20 trauen auf Kartendaten tatsächlich wegweisend für Intentionen mitteilen als auch über das Verhalten
das „autonome“ Fahren sind. anderer Rückschlüsse auf deren Absichten ziehen.
61.2  •  Stand der Forschung
1151 61

.. Abb. 61.2  Die derzeitigen optischen Kommunikationsmechanismen erlauben beispielsweise bei der Auffahrt auf die
Autobahn nur eine indirekte Kommunikation. Car-to-Car-Kommunikation würde eine direkte Übermittlung der Fahrerabsicht
erlauben.

Eine klassische Situation, die Kommunikation und projekt „Kooperative und optimierte Lichtsignal-
Kooperation erfordert, ist die Einfädelsiuation in steuerung in städtischen Netzen“ (KOLINE) auf
fließenden Verkehr z. B. an Autobahnauffahrten, wie dem Braunschweiger Stadtring gezeigt. Im Fokus
sie beispielhaft in . Abb. 61.2 skizziert ist. stand die Optimierung des Verkehrsflusses hinsicht-
Auch wenn der Begriff der Kooperation in der lich Lärmentwicklung und Ressourcenverbrauch im
Wissenschaft und im Bereich der Fahrerassistenz weit innerstädtischen Bereich – erreicht wurde dies mit
verbreitet ist, so ist er im Bereich des autonomen Fah- der Minimierung von Lärm- und Umweltbelastun-
rens nicht eindeutig definiert. Fasst man den Koopera- gen durch kooperative Verkehrsflussoptimierung
tionsbegriff weiter, lassen sich zwei Ausprägungsstu- [62]. Durch infrastrukturbasierte Sensorik und
fen erkennen: Die erste Stufe umfasst die Einhaltung die Telemetrie des Versuchsträgers wurden das
der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für eine Verkehrsaufkommen und die durchschnittliche
Fahrt im öffentlichen Straßenverkehr erforderlich Fließgeschwindigkeit bestimmt und eine optimale
sind. Dies sind im Wesentlichen die Vorgaben durch Anfahrstrategie bzgl. obiger Kriterien berechnet.
die StVO und umfassen kollisionsvermeidende Stra- Parallel wurde die Anpassung der Lichtsignalpha-
tegien und grundlegende Ansätze zur Verkehrsfluss- sen untersucht: Es konnte gezeigt werden, dass sich
steuerung, z. B. das Rechts-vor-links-Gebot oder das die Anzahl notwendiger Haltevorgänge um ca. 20 %
Reißverschlussverfahren. Die Kommunikation der reduzieren lässt; erreichte Kraftstoffeinsparungen
eigenen Absichten erfolgt dabei über die Signalein- lagen im mittleren einstelligen Prozentbereich [63].
richtungen des Fahrzeugs oder das jeweilige Verhal- Weitere Veröffentlichungen von Untersuchun-
ten der Verkehrsteilnehmer und dient als Kooperati- gen erfolgten im Rahmen der Grand Cooperative
onsanforderung gegenüber anderen Teilnehmern. Als Driving Challenge (GCDC) im Jahr  2011. Auch
zweite Stufe lassen sich Ansätze zur weitergehenden hier lag der Fokus auf der Optimierung des Ver-
Optimierung des Verkehrsverhaltens identifizieren, kehrsaufkommens durch automatische Pulkbildung
beispielsweise das bewusste Öffnen einer Lücke für auf Autobahnen (sog. Platooning) [64]. Die Kom-
Fahrzeuge, die den Fahrstreifen wechseln möchten. munikation wurde auf Basis einer Car2X-Plattform
Beide Stufen sind nicht an die explizite Verwendung realisiert. An dem Projekt waren insgesamt neun
von C2X – oder anderen Kommunikationsmechanis- Teams beteiligt, die jeweils ihre Ansätze für dieses
men gekoppelt, sondern können prinzipiell ebenfalls Szenario unter Beweis stellen mussten. Das Team
durch bordeigene Sensorik realisiert werden. AnnieWay ging als Sieger aus dem Wettbewerb her-
vor [42]; mit dem Wettbewerb wurde gezeigt, dass
61.2.3.2 Kooperation im derzeitigen dieses Szenario technisch beherrschbar ist.
Kontext autonomen Fahrens
Bisher sind kooperative Aspekte der zweiten Stufe 61.2.3.3 Fazit und Ausblick
im Bereich des autonomen Fahrens nur schwach Auch wenn die Verwendung expliziter Kommuni-
ausgeprägt. Erste Ansätze wurden im Forschungs- kationswege wie Car2X-Technologien zur Reali-
1152 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

sierung kooperativer Mechanismen grundsätzlich denkbare Ausprägung wäre die gemeinsame Aktu-
61 vielversprechende Möglichkeiten bietet, ist dieser alisierung von Kartendaten, wie in ▶ Abschn. 61.2.2
Ansatz mit Herausforderungen verbunden: Beim angesprochen.
2 Einsatz im öffentlichen Straßenverkehr muss immer
mit Verkehrsteilnehmern gerechnet werden, die
nicht über diese Kommunikationskanäle verfügen. 61.2.4 Lokalisierung
3 Diese Teilnehmer sind bei der Ausarbeitung der Ko-
operationsstrategien ebenso zu berücksichtigen wie Auch der Lokalisierung kommt eine Schlüsselrolle
4 direkt involvierte Verkehrsteilnehmer. zu: Ohne eine Lokalisierung des Fahrzeugs ist die
Gleichzeitig werden der Aspekt der Dateninte- Nutzung von Kartendaten unmöglich und ohne
5 grität und die Vermeidung von wissentlichem oder die Kenntnis der relativen Bewegung des eige-
unwissentlichem Missbrauch relevant, ebenso wie nen Fahrzeugs zwischen zwei Zeitpunkten ist die
Fragen der Datensicherheit. Die Verwendung die- Wahrnehmung des Umfelds zumindest signifikant
6 ser Technologien kann also nur eine Ergänzung zu erschwert. Auch die häufig im Kontext der Koope-
bordeigener Sensorik bilden. So ist eine zentrale ration diskutierte Kommunikation zwischen den
7 Erfahrung in [42], dass die endgültige Plausibilisie- Fahrzeugen erfordert größtenteils einen Austausch
rung der Kommunikationsdaten stets durch bordei- der Positionen, um eine Zuordnung der Nachrich-
gene Sensorik erfolgen muss. Bei der GCDC wurde ten zu ermöglichen.
8 ein bordeigener Radarsensor zur Plausibilisierung
der empfangenen Car2X-Nachrichten verwendet, 61.2.4.1 Erkenntnisse aus der DARPA
9 um fehlerhafte Daten anderer Verkehrsteilnehmer Urban Challenge
erkennen zu können (vgl. S. 8 in [42]). Aus der DARPA Urban Challenge folgt zum Thema
10 Die Umsetzung kooperativer Mechanismen kon- Lokalisierung die wesentliche Erkenntnis, die rela-
zentriert sich bisher primär auf diejenigen Bereiche, tive Eigenbewegung von der absoluten Lokalisierung
die sich aus den Regeln des öffentlichen Straßenver- strikt zu trennen [67]. Diese beiden Lösungen unter-
11 kehrs ergeben. Auch wenn der Einsatz weiterführen- scheiden sich in ihrem Optimierungsziel: Die rela-
der kooperativer Mechanismen prinzipiell Potenzial tive Eigenbewegung (in [67] „local frame“ genannt)
12 für eine ganzheitlichere Optimierung des öffentli- beschreibt einen sprungfreien Positionsverlauf von
chen Straßenverkehrs bietet und bereits in einigen einem beliebigen Startpunkt aus mit dem Ziel, zwi-
Forschungsprojekten untersucht wurde, sind Fragen schen zwei Zeitschritten möglichst exakt zu sein. Die
13 wie die effektive Umsetzung im Zusammenspiel mit langfristige Position kann jedoch driftbehaftet sein.
nicht-technisierten Verkehrsteilnehmern und As- Die absolute Lokalisierung (in [67] „global
14 pekte der Datensicherheit und -integrität nach wie frame“ genannt) hat hingegen zum Ziel, in einem
vor ungelöst. Auch die Berücksichtigung und die ortsfesten Koordinatensystem die beste Positions-
15 Kompensation von Fahrfehlern einzelner Verkehr- lösung zum aktuellen Zeitpunkt zu finden und
steilnehmer werden bisher nicht betrachtet. langfristig keine Drift aufzuweisen – dafür kön-
Als einer der nächsten Schritte im Bereich der nen kurzfristige Sprünge in der Position auftreten.
16 Kooperation scheint sich die Fusion von Sensor- Diese absolute, globale Lokalisierung ist in diesem
daten anderer Verkehrsteilnehmer und der Infra- Abschnitt Schwerpunkt der Vergleiche zwischen
17 struktur mit bordeigener Sensorik abzuzeichnen, den Projekten. Dabei geht es in den betrachteten
zusammengefasst im Begriff der kooperativen Projekten primär um die Lokalisierung in einer
Perzeption. Erste Ansätze wurden beispielsweise (globalen) Karte.
18 in der Forschungsinitiative „Kooperative Sensorik
und kooperative Perzeption für die präventive Si- 61.2.4.2 Lokalisierung im derzeitigen
19 cherheit im Straßenverkehr“ (KoFAS) im Jahre 2013 Kontext autonomen Fahrens
untersucht [65, 66], jedoch nach aktuellem Kennt- Als jüngste Veröffentlichung ist hier die Bertha-
20 nisstand bisher noch nicht für autonome Fahrzeuge Benz-Fahrt zu nennen. Die Lokalisierung erfolgt
im Sinne dieses Artikels eingesetzt. Eine weitere durch einen Abgleich der Merkmale mit einer
61.2  •  Stand der Forschung
1153 61

rückwärtsgerichteten Mono-Kamera (siehe z. B. dem Ansatz nach eigenen Angaben Genauigkeiten
[68, 69]). Durch einen Abgleich der im Online-Bild von ca. 10 m bis 20 m in der GPS-Lokalisierung;
gefundenen Markierungen mit den in der Karte eine Stützung der Pose in der Karte erfolgt ebenfalls
hinterlegten Markierungen wird die exakte Position durch einen Abgleich mit Umgebungsdaten – aller-
des Fahrzeugs ermittelt. Dabei werden die Suchbe- dings auf einem sehr hohen Abstraktionslevel [33].
reiche für die Markierungen im Online-Bild gezielt
aus den Kartendaten vorgesteuert. Die Detektion 61.2.4.3 Fazit
der Fahrbahnmarkierungen erfolgt also mit de- Eine globale Position des Fahrzeugs ist in den meis-
tailliertem Vorwissen (siehe auch ▶ Abschn. 61.2.1 ten Projekten erforderlich, um externe Daten in das
sowie [29]). Ergänzend zu diesem Ansatz werden System zu integrieren. Zu diesen externen Daten
einzelne Bildmerkmale aus einem Mono-Bild mit gehören Kartendaten und C2X-Daten. Offenbar
einer 3D-Punktlandmarkenkarte abgeglichen (siehe reichen jedoch – zumindest in innerstädtischer Um-
z. B. [68]); nach eigenen Angaben kommt dieser gebung – die Genauigkeiten selbst der hochgenauen
Ansatz ohne GPS aus [29]. Hier stellt sich jedoch Ortungssysteme nicht aus, um eine Fahrzeugstabi-
die Frage, wie ohne GPS- oder alternative satelli- lisierung zuverlässig durchführen zu können [36].
tenbasierte Lokalisierung Kartendaten von oder mit Daher werden Kartendaten in einer hohen Genau-
anderen Verkehrsteilnehmern genutzt werden soll. igkeit und mit einem hohen Detailgrad eingesetzt,
In [36] werden prinzipiell zwei unterschiedliche um die Fahrzeugpose über Umfeldmerkmale stüt-
Herangehensweisen vorgestellt: Zum einen wurde zen zu können. In einigen Ansätzen ist auch gar
eine Lokalisierung mithilfe einer hochgenauen keine absolute globale Position erforderlich, son-
INS-DGPS-Plattform in den RNDF-Karten wäh- dern eine kartenrelative globale Position (z. B. [33]).
rend der DARPA Urban Challenge durchgeführt. Einige Projekte verfolgen das Ziel, das System
Fehler in den Karten sowie Fehler in der globalen unabhängiger von einer hochgenauen, satelliten-ba-
Ortung wurden mithilfe eines Abgleichs von Reflek- sierten Lokalisierungslösung zu gestalten, indem sie
tanzen der Fahrbahnmarkierungen und Bordstei- entweder mehr auf Kartendaten oder mehr auf die
nen aus Laserscannerdaten abgeglichen. Zum an- Umfeldwahrnehmung setzen.
deren dient eine vorab aufgezeichnete, vollständige
gitterbasierte Umgebung der Fahrbahnoberfläche
mit Reflektanzwerten eines Laserscanners – die off- 61.2.5 Missionsumsetzung
line in ihrer Position korrigiert wurde – bei erneuter
Überfahrt als Einpassungsreferenz zur Ermittlung Planung von Verhalten und eine unterlagerte Rege­
der korrekten Pose (= Position + Ausrichtung). Dies lung sind Kernaspekte der Fahraufgabe, die ein auto-
geschieht ebenfalls durch einen Abgleich mit den nomes Fahrzeug per definitionem selbst beherrschen
Reflektanzwerten des Laserscanners. muss. In [72] bzw. in ▶ Kap. 2 wird die Fahraufgabe
Rein DGPS-getrieben hingegen fährt momen- in drei Ebenen unterteilt: Navigation, Führung und
tan das Fahrzeug Leonie im Projekt Stadtpilot: Dort Stabilisierung. Eine ähnliche Hierarchie findet sich
wurden Ansätze zum Abgleich von Kartendaten bei vielen Projekten im Bereich des autonomen
und Umgebungsdaten (Fahrbahnmarkierungen) Fahrens [30, 73, 74, 75]. Da sich so eine klare hi-
skizziert und auf dem Testgelände erprobt [70, 23], erarchische Gliederung der Aufgaben im Bereich
jedoch bisher nicht im autonomen Betrieb auf dem der Missionsumsetzung ergibt, orientiert sich die
Stadtring eingesetzt. folgende Diskussion ebenfalls an diesem Drei-Ebe-
Der Ansatz der Universität der Bundeswehr nen-Modell: Die Begriffe Navigation, Führung und
München ist grundsätzlich anders: Mit der Er- Stabilisierung werden entsprechend verwendet.
kenntnis „Never Trust GPS“ (vgl. [71]) wurde in der Die obere Ebene hat planenden Charakter:
Tradition von [51] ein System entwickelt, das sich Der Planungshorizont der Navigation umfasst die
nahezu vollständig auf die Wahrnehmung stützt gesamte Mission, so dass sie auch als strategische
und Kartendaten sowie GPS nur als ersten Hinweis Ebene bezeichnet wird. In der Führungsebene wer-
sowie zur Routenplanung einsetzt. Hier reichen den Fahrentscheidungen getroffen, bspw. durch
1154 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

Missionsumsetzung Operator ▶ Kap. 55) neue Aspekte zum Tragen: Sie betreffen


61 das Zusammenspiel mit anderen Modulen des auto-
Navigaon (Strategische Ebene)
nomen Systems und den Wegfall des Menschen als
2
Straßen-
netz Rückfallebene. Auf dieser Ebene findet die eigent-

Mission
Missionsplanung liche Kommunikation mit dem Fahrgast statt: Es
können hier die Zielorte oder spontane Zwischen-
3 haltepunkte dem Fahrzeug übermittelt werden.
Führung (Taksche Ebene) Üblicherweise werden auf dieser Ebene die Kar-

Mensch-Maschine-Schnittstelle
4
Szene
Situaonsbewertung tendaten als gerichteter Graph repräsentiert, so dass
Entscheidungsfindung
sich eine Mission mit Algorithmen zur Graphensu-
5 che planen lässt. Das Ergebnis ist eine hinsichtlich
Stabilisierung (Operave Ebene)
bestimmter Kriterien optimale Route.
Merkmale Der von Team AnnieWay [75] in der Urban
6 Trajektorienplanung
Challenge verwendete Algorithmus erstellt unter
Regelung Verwendung der gegebenen, fahrstreifengenauen
7 Karte (RNDF, vgl. ▶ Abschn. 61.2.2) eine – maßgeb-
Aktorik lich in Bezug auf die Fahrzeit – optimale, fahrstrei-
fengenaue Route, die bereits die zu fahrende Bahn
8
Lenkung Antrieb Bremsen

als zusammengesetzte Spline-Kurve zur Zielposi-


tion beschreibt. Eine reaktive Schicht ermöglicht al-
9 .. Abb. 61.3  Aufteilung der Fahraufgabe in Anlehnung an
Donges [72] mit der Ergänzung um eine Mensch-Maschi-
lerdings weiterhin das Abweichen von dieser Bahn
ne-Schnittstelle nach [99]. (vgl. ▶ Abschn. 61.2.5.3). Bei Boss [73] und Junior
10 [74] wurde ein anderer Ansatz verfolgt: Anstatt ge-
die Auswahl eines Fahrmanövers; sie bewertet die nau eine Route zu planen, werden für jede Kante
vorausliegende Verkehrssituation und gibt die Füh- des Graphen die erwarteten Kosten berechnet;
11 rungsgrößen für die Stabilisierungsebene vor. We- maßgebend ist hier ebenfalls die erwartete Fahr-
gen des lokalen Horizonts wird sie auch als taktische zeit bis zur Zielposition. Die Entscheidung über
12 Ebene bezeichnet. Module der Stabilisierungsebene die zu fahrende Route wird auf die Führungsebene
übernehmen das Ausregeln der Steuervorgaben der verlagert, wo die auf Navigationsebene berechne-
beiden übergeordneten Ebenen. . Abbildung 61.3 ten Kosten mit den sich aus der Verkehrssituation
13 illustriert diese verschiedenen Hierarchieebenen ergebenden Kosten kombiniert werden. Wird eine
und zeigt zusätzlich in Anlehnung an [99] eine Straße als dauerhaft blockiert erkannt, wird die in-
14 Mensch-Maschine-Schnittstelle zu einem Fahrgast terne Repräsentation der Topologie des Straßennet-
oder Systemoperator. Diese Schnittstelle bietet unter zes entsprechend angepasst und eine Neuberech-
15 anderem die Möglichkeit, Missionsziele vorzugeben nung der Kosten [73, 74] bzw. eine Neuplanung der
oder zu verändern (vgl. ▶ Abschn. 61.1.3). Route [75] ausgelöst.
Alle in den folgenden Unterkapiteln betrachte-
16 ten Gruppen gehen vom Planen und Regeln in zum 61.2.5.2 Führung
Entwurfszeitpunkt bekannten und bedachten Situ- Zur Führungsaufgabe bzw. Verhaltensplanung auf
17 ationen aus. Das Handhaben von unbekannten oder taktischer Ebene zählen die Interpretation von Ver-
nicht bedachten Situationen ist für das autonome kehrssituationen unter Berücksichtigung der eige-
Fahren in der Endausbaustufe vermutlich notwen- nen Ziele sowie der Ziele anderer Verkehrsteilneh-
18 dig, liegt jedoch für die meisten Teams noch außer- mer, die Generierung von Handlungsalternativen,
halb der aktuell adressierten Herausforderungen. deren Bewertung und die Entscheidung für eine
19 Handlung.
61.2.5.1 Navigation In der DARPA Urban Challenge und in Fol-
20 Für das autonome Fahren kommen auf Naviga- geprojekten wird auf übergeordneter Ebene fast
tionsebene gegenüber Assistenzsystemen (vgl. immer ein Zustandsautomat eingesetzt [73, 74],
61.2  •  Stand der Forschung
1155 61

[76]. Eine solcher Zustandsautomat hat überge- ner Kreuzung ohne Lichtsignalanlage die Vorfahrt
ordnete Systemzustände wie das Durchführen von gewährt werden muss [74]. In [73] beschreibt das
Fahrstreifenwechseln und Überholvorgängen, das Team der Carnegie Mellon University seine Her-
Anfahren von Haltepunkten in Kreuzungen, das angehensweise an das Problem. Das zentrale Ele-
Entscheiden eines Überfahrens einer Lichtsignalan- ment ist ein Schätzer. Dieser ermittelt zum einen
lage beim Farbwechsel von Grün auf Gelb oder das durch Beobachtung der Ankunftsreihenfolge und
Durchführen von kooperativen Manövern – z. B. Berücksichtigung der Verkehrsregeln die Vorfahrts-
dem gezielten Öffnen einer Einscherlücke für das reihenfolge und identifiziert zum anderen durch Be-
Einfädeln eines Fremdfahrzeugs vor einem auto- obachtung des fließenden Verkehrs an Kreuzungen
matisierten Straßenfahrzeug an Autobahnauffahr- Lücken, die das Passieren der Kreuzung oder das
ten. Das Team Carolo der TU Braunschweig [76] Einfädeln in den fließenden Verkehr erlauben [73].
verwendete einen hybriden Ansatz aus einem tra- Die Verhaltensplanung zum Passieren von
ditionellen, regelbasierten Zustandsautomaten zur Kreuzungen mit Lichtsignalanlagen wird in [62]
Handhabung von abstrakten Manövern wie Parken, und [80] berücksichtigt: Per C2X-Kommunikation
Wenden oder für Kreuzungen und aus einem ver- werden verbleibende Signalzeiten der Ampeln über-
haltensbasierten DAMN-Arbitrationsmodell (vgl. tragen und eine energieoptimale Anfahrstrategie
[77]) zum regulären Fahren entlang von Straßen unter Berücksichtigung möglicher Rückstaulängen
und zur Hindernis- Kollisionsvermeidung. errechnet und als Fahrstrategie ausgeführt.
Der bei BMW im Rahmen des ConnectedDri- Aus Sicht der Autoren ist das Handhaben von
ve-Projekts zum hochautomatisierten Fahren auf Perzeptions- und Situationsprädiktionsunsicherhei-
Autobahnen in [41] und [57] gewählte Ansatz ten eine der zentralen Herausforderungen auf der
weicht von dem zuvor genannten Ansatz dahinge- Führungsebene. An der Carnegie Mellon Univer-
hend ab, dass Längs- und Querführung voneinander sität [81] wird ein analytisches Prädiktionsmodell
entkoppelt betrachtet werden. Es wird ein hybrider, bei der Bewertung von taktischen Fahrmanövern
deterministischer Zustandsautomat zur Definition eingesetzt. Die Trennung von Prädiktions- und Kos-
des übergeordneten Fahrverhaltens eingesetzt und tenmodell vereinfacht hier die Modellierung. Die
ein Entscheidungsbaum als hierarchischer Ent- Evaluation beschränkt sich auf simulierte Daten
scheidungsfindungsprozess durchlaufen. In diesem und Messunsicherheiten werden noch nicht berück-
Entscheidungsbaum wird aus einer Situationsinter- sichtigt. In [82] zeigt das gleiche Team die Berück-
pretation heraus ein Fahrwunsch ermittelt, dessen sichtigung von Unsicherheiten bei der Planung des
Durchführbarkeit überprüft wird; nach erfolgrei- Längs-Fahrverhaltens innerhalb eines Fahrstreifens
cher Prüfung wird in den Zustand gewechselt, der mittels eines Markov-Entscheidungsprozesses.
das entsprechende Fahrmanöver ausführt. An der TU Braunschweig wurde die Berück-
Ähnlich zum zuvor besprochenen Ansatz wird sichtigung von Perzeptions- und Prädiktions-
in [78] an der TU München ein Zustandsautomat unsicherheiten mittels partiell beobachtbarer
kombiniert mit einer Fuzzy-Logik zur Situations- Markov-Entscheidungsprozesse in einer ersten Im-
bewertung eingesetzt. An der Universität der Bun- plementierung für Fahrstreifenwechsel im Innen-
deswehr wird auf taktischer Ebene ein einfacher stadtverkehr gezeigt [43].
hierarchischer Zustandsautomat mit Metazustän-
den wie Konvoi-Fahren, Tentakel-Navigation (vgl. 61.2.5.3 Stabilisierung
▶ Abschn. 61.2.5.3) oder Wenden genutzt [79]. Die Stabilisierungsebene umfasst die Trajektorien-
Besonders herausfordernd für autonome Stra- berechnung und die Regelung der Stellgrößen für
ßenfahrzeuge ist das regelkonforme Verhalten die Fahrzeugaktorik (Lenkung, Antrieb, Bremse).
in Kreuzungssituationen. Im Rahmen der Urban Die Verfahren zur Trajektorienberechnung lassen
Challenge nutzte das Team Junior der Stanford Uni- sich in zwei Gruppen einteilen: Verfahren zur Be-
versität in einer Karte hinterlegte kritische Zonen rechnung in strukturierten Umgebungen, z. B. ent-
(„critical zones“), um zu überprüfen, ob vorfahrt- lang von Straßen, und Verfahren zur Berechnung
berechtigten Fahrzeugen vor einem Überqueren ei- in unstrukturierten Umgebungen. Letztere wurden
1156 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

zum Beispiel in der Urban Challenge zum Fahren ist über die Zeit konsistent. Da die Modellannah-
61 auf Parkplätzen oder zum Umfahren von Blockaden men über die zeitliche Veränderung des Umfeldes
genutzt [73, 74, 75]. Auf die Berechnung in struk- fehlerbehaftet sind, ist eine Rückführung über die
2 turierten Umgebungen wird im Folgenden näher Umfeldwahrnehmung erforderlich. Dadurch ent-
eingegangen. spricht die Grundcharakteristik dieses Ansatzes
Wie bei den meisten Teams der Urban Chal- nach Auffassung der Autoren nach wie vor einer
3 lenge wurde auch vom Team AnnieWay ein bahn- Regelung. Das Verfahren wurde im Versuchsträger
basiertes Konzept zur Bewegungsplanung verfolgt AnnieWay erprobt und kam ebenfalls bei Junior 3
4 [75]: Bei AnnieWay wird von der Führungsebene zum Einsatz [37].
eine Sollbahn vorgegeben, die einem Fahrstreifen- An der TU Braunschweig präsentierte Wille [23]
5 verlauf folgt, aber auch einen Fahrstreifenwechsel eine a priori ausgeführte Bahnplanung zur Berech-
beinhalten oder über eine Kreuzung führen kann. nung einer optimalen Bahn. Die Stanford University
Um der Bahn zu folgen, wird ein geschwindigkeits- demonstrierte zusammen mit dem Electronic Re-
6 unabhängiger Querregler verwendet. Die Trajekto- search Lab von Volkswagen [86] das GPS-basierte
rie ergibt sich erst aus der Längsregelung, die den Abfahren und Ausregeln einer Trajektorie an der
7 freien Vorausbereich der Bahn und somit die Bewe- Haftgrenze beim Pikes Peak Hill Climb.
gungen der anderen Fahrzeuge im Umfeld berück-
sichtigt. Eine zusätzliche reaktive Schicht überprüft 61.2.5.4 Fazit
8 die Bahn unter Verwendung einer gitterbasierten Im Bereich der Missionsumsetzung ergab sich bei
Belegungskarte auf Kollisionen mit Hindernissen vielen Teams eine Dreiteilung. Aus Sicht der Auto-
9 und wählt gegebenenfalls die günstigste der vor- ren liegt ein Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten
berechneten Alternativbahnen – in Anlehnung an im Feld der taktischen Verhaltensplanung und bei
10 die Fühler von Insekten auch als „tentacles“ [83] be- der Trajektorienberechnung. Auf taktischer Ebene
zeichnet – aus. Dieser reaktive Ansatz wird eben- werden von vielen Teams Ansätze zur Bewältigung
falls beim Versuchsträger MuCAR-3 [84] eingesetzt. von abstrakteren Manövern wie Fahrstreifenwech-
11 Dort wird allerdings keiner zuvor geplanten Bahn sel oder kooperative Fahrmanöver untersucht und
gefolgt, stattdessen fließt die Abweichung von ei- verbessert. Großer Forschungsbedarf liegt noch
12 ner vorgegebenen Route – bestehend aus globalen im Bereich der Situationsprädiktion, der Situati-
Wegpunkten – in die Berechnung der Kosten für die onsbewertung und generell im Umgang mit unsi-
tentacles ein [79]. In [30] wird ein ähnliches reakti- cherheitsbehafteten Informationen, insbesondere
13 ves Verfahren vorgestellt. wenn Absichten von anderen Verkehrsteilnehmern
Bei einer höheren Verkehrsdichte, zum Bei- geschätzt werden müssen. Auf Stabilisierungsebene
14 spiel im Stadtverkehr, ist eine trajektorienbasierte fokussiert sich die Forschung oft auf Aspekte der
Bewegungsplanung notwendig [85]. Ähnlich den Trajektorienberechnung. Viele Teams nutzen vor-
15 tentacles werden bei der Trajektorienberechnung ausplanende Ansätze, die Trajektorienbündel (wie
nach [85] zunächst Trajektorien mit minimalem z. B. die tentacles) in die Zukunft berechnen.
Ruck in Quer- und Längsrichtung generiert, die
16 in ihren Endzeitpunkten und Endpositionen vari-
ieren. Die Endpositionen variieren in Längs- und 61.2.6 Funktionale Sicherheit
17 Querrichtung zu einer vorgegebenen Referenzbahn,
typischerweise wieder einem Fahrstreifenverlauf. 61.2.6.1 Anforderungen
In einem zweiten Schritt wird die günstigste Tra- Die funktionale Sicherheit von autonomen Fahrzeu-
18 jektorie unter Berücksichtigung von prädizierten gen im öffentlichen Straßenverkehr wird aus Sicht
Bewegungen der anderen Verkehrsteilnehmer aus- der Autoren einer der wesentlichen Herausforde-
19 gewählt. Ist die Prädiktion der Verkehrssituation rungen bei der Einführung der Technologie sein.
korrekt und die Umfeldrepräsentation über die Es muss ein gesellschaftlicher Konsens gefunden,
20 Zeit konstant, entspricht dieses Verfahren einer op- wann ein autonomes Fahrzeug als sicher gilt –be-
timalen Steuerung und die berechnete Trajektorie ziehungsweise muss ein Niveau definiert werden,
61.2  •  Stand der Forschung
1157 61

innerhalb dessen der Betrieb als sicher angesehen Fehler müssen Aktionen ausgeführt werden, die
werden kann und sich das Fahrzeug in einem siche- vorrangig die Gesundheit von Passagieren und an-
ren Zustand befindet. Bisher ist dies nicht der Fall, deren Verkehrsteilnehmern schützen. Sachschäden
wird aber beispielsweise im Projekt Villa Ladenburg sind zwar ebenfalls zu vermeiden, jedoch mit gerin-
der Daimler und Benz Stiftung erforscht [2]. gerer Priorität: Hierbei kann es zu Situationen kom-
Der Betrieb eines autonomen Fahrzeugs muss men, in denen gegen die Straßenverkehrsordnung
sowohl während des Normalbetriebs als auch in verstoßen werden muss, um einen Personenschaden
unvorhergesehenen Situationen und bei Auftreten zu vermeiden – beispielsweise durch Überfahren ei-
von technischen Fehlern, Fehlverhalten anderer ner durchgezogenen Linie zur Verhinderung eines
Verkehrsteilnehmer und schlechten Umweltbe- Unfalls. Es können sich auch Situationen ergeben,
dingungen möglichst sicher sein. Die Einhaltung in denen zwischen mehreren Handlungsalternati-
eines sicheren Zustands und die Überführung des ven mit möglichen Personenschäden entschieden
Fahrzeugs in einen sicheren Zustand zu jedem werden muss. Die Bewältigung dieser sogenannten
Zeitpunkt einer Fahrt sind notwendig, damit keine Dilemmasituationen erfordert eine schnelle recht-
Gefahr vom Fahrzeug für Passagiere und andere lich wie auch ethisch korrekte Verhaltensweise. Den
Verkehrsteilnehmer ausgeht. Ein möglicher sicherer Autoren ist keine Literatur bekannt, in der Ansätze
Zustand nach [87] ist beispielsweise der Stillstand genannt werden, die solche Situationen erkennen
eines Fahrzeugs an einem sicheren Abstellort, an und berücksichtigen.
dem das Fahrzeug keine Gefährdung für den Ver- Es treten hier noch ungelöste Fragen auf, die ei-
kehr darstellt – dies kann beispielsweise ein Sei- nen starken Bezug zur gesellschaftlichen Akzeptanz
tenstreifen der Autobahn, ein ausreichend breiter der Technologie haben: Hat die Sicherheit der Pas-
Straßenrand auf Landstraßen oder ein Parkplatz sagiere in einem autonomen Fahrzeug eine andere
sein. Im städtischen Straßenverkehr mit niedrigen Priorität als die Sicherheit weiterer Verkehrsteilneh-
Relativgeschwindigkeiten ist ein Halt auch auf ei- mer? Wie soll sich ein Fahrzeug entscheiden, wenn
nem normalen Fahrstreifen denkbar, jedoch nur ein Personenschaden unausweichlich erscheint?
dann, wenn keine Rettungswege blockiert werden. – Neben dem Stillstand sind weitere Aktionen zur
Die Erlangung eines sicheren Zustands ohne die Erlangung eines sicheren Zustands denkbar. Dazu
Übergabe an den menschlichen Fahrer ist technisch gehören eine Reduzierung der aktuellen Geschwin-
anspruchsvoll und einer der Hauptgründe, warum digkeit, eine Erhöhung von Sicherheitsabständen,
der Fahrer in heutigen Fahrerassistenzsystemen Änderungen bei der Planung von Fahrmanövern
eine überwachende Aufgabe einnehmen muss. – wie zum Beispiel eine verringerte Geschwindig-
Ein menschlicher Fahrer steht in einem autono- keit oder erhöhte Kurvenradien – und Änderungen
men Fahrzeug nicht unbedingt zur Verfügung, da bei der Auswahl von Fahrmanövern, einschließlich
der Betrieb sowohl mit als auch ohne Passagiere der Verhinderung von Fahrmanövern. Für Fah-
an Bord möglich ist. Der Einsatz von redundanten rerassistenzsysteme werden daher Aktionspläne
und dadurch hochverfügbaren Systemen erscheint zur Erlangung eines sicheren Zustands von [89, 90]
notwendig; beispielsweise erfordern ein Fahrstrei- vorgeschlagen. Diese werden zwar in Fahrerassis-
fenwechsel und das Anhalten auf dem Seitenstreifen tenzsystemen genutzt, jedoch auch dann, wenn der
der Autobahn eine funktionierende Umfeldwahr- menschliche Fahrer nicht auf eine Übernahmeauf-
nehmung, eine Bewertung von Handlungsalterna- forderung reagiert.
tiven hinsichtlich des auftretenden Risikos und eine Zusätzlich sind im Fehlerfall Aktionen zur
zuverlässige Umsetzung der Fahrentscheidungen. Selbstheilung sinnvoll, die die aktuelle Leistungsfä-
Diese Anforderung eines Anhaltens an einer siche- higkeit des Fahrzeugs wieder erhöhen können (vgl.
ren Stelle im Fehlerfall ist auch ein Bestandteil der dazu [91]). Die Erkennung von Dilemmasituatio-
Zulassung von autonomen Fahrzeugen in Nevada, nen, die Auswahl von Aktionen zur Verhinderung
USA [88]. von gefährlichen Situationen und die Reduzierung
Bei einer drohenden oder akuten Gefährdung von Unfallfolgen erfordern die Kenntnis der eige-
durch externe Ereignisse oder interne technische nen Leistungsfähigkeit eines autonomen Fahrzeugs.
1158 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

Zusammen mit der aktuellen Szene und deren mög- nicht möglich bzw. erfolgreich ist, erfolgt ein Not-
61 lichen Entwicklungen können Handlungsalterna- bremsmanöver [78].
tiven identifiziert und die beste davon ausgewählt Wie bereits erwähnt, zeigte das Fahrzeug BRA-
2 und umgesetzt werden, was unter anderem von [2, iVE automatisiertes Fahren im öffentlichen Stra-
92] und [93] gefordert wird. ßenverkehr 2012 bei einer Demonstration [30]: Auf
Teilen der Strecke war kein Fahrer am Fahrerplatz,
3 61.2.6.2 Funktionale Sicherheit jedoch konnte der Beifahrer durch eine Betätigung
im derzeitigen Kontext des Gangwählhebels ein Notbremsmanöver erzwin-
4 autonomen Fahrens gen. Dies lässt darauf schließen, dass das Fahrzeug
Im Folgenden werden die Versuchsträger der hier be- noch nicht über ein umfassendes Sicherheitssystem
5 trachteten Projekte hinsichtlich ihrer Sicherheitskon- verfügt, was im Fehlerfall oder bei externen Ereig-
zepte untersucht. Für alle gilt bisher, dass aufgrund nissen einen sicheren Zustand erreicht. Außerdem
der zuvor skizzierten, noch ungelösten technischen verfügt das Fahrzeug über eine Fernsteuerung, ge-
6 und ethischen Fragestellungen ein Sicherheitsfahrer nannt e-stop, die das Fahrzeug ebenfalls zum Anhal-
im öffentlichen Straßenverkehr notwendig ist, der in ten zwingen kann [94].
7 gefährlichen Situationen eingreifen kann und muss. Das Fahrzeug BOSS der Carnegie Mellon Uni-
Daraus folgt, dass bisher demonstriertes autonomes versity wurde nach der DARPA Urban Challenge
Fahren im öffentlichen Straßenverkehr nach [17] als weiter entwickelt. Insbesondere das mit SAFER
8 teilautomatisiert einzustufen wäre. (safety for real-time systems) betitelte Konzept zur
Im Projekt Stadtpilot der Technischen Univer- Redundanz von Softwarekomponenten erscheint
9 sität Braunschweig kann der Sicherheitsfahrer im geeignet, um Fehler in Softwarekomponenten
öffentlichen Straßenverkehr zu jedem Zeitpunkt durch Umschaltung auf redundante Komponenten
10 der Fahrt die Kontrolle über das Fahrzeug durch zu kompensieren [95]. Die Umschaltung zwischen
einen Eingriff in die Aktorik erlangen, wodurch er Komponenten erfolgt hierbei in Echtzeit. Da der
sofort das technische System überstimmt. Bei Sys- SAFER-Ansatz keine Hardware-Redundanz oder
11 temfehlern erhält der Sicherheitsfahrer die Kon- Sensor-Redundanz vorsieht, ist er als Erweiterung
trolle über das Fahrzeug und muss daher ständig für weitere Sicherheitsmaßnahmen zu sehen [95].
12 dem Verkehrsgeschehen aufmerksam folgen. Auf Als Nachfolger des Fahrzeugs Junior aus der
abgesperrtem Gelände sind auch Funktionen zur DARPA Urban Challenge entwickelten die Stan-
Degradation der Leistungsfähigkeit implementiert, ford University und das Volkswagen Electronic
13 die beispielsweise abhängig von der Qualität der Research Lab den Versuchsträger Junior  3: Das
ermittelten Position in der Welt eine Reduzierung Fahrzeug verfügt über sogenannte „silver switches“,
14 der Maximalgeschwindigkeit erzwingen. Auch die die eine Aktivierung des Fahrzeugführungssystems
Straßen- und Umweltbedingungen werden bereits steuern; sind diese „silver switches“ aktiviert, wer-
15 berücksichtigt und führen zu einer vorsichtigeren den die Steuerbefehle des Fahrzeugführungssys-
Fahrweise des Versuchsträgers [93, 46, 23]. tems an das Fahrzeug durchgereicht. Bei einem
Der Versuchsträger MuCAR-3 der Universität Fahrereingriff oder einer Deaktivierung wird die
16 der Bundeswehr in München ist in der Lage, sich Kontrolle an den Sicherheitsfahrer übergeben. In
selbst zu überwachen und seine Leistungsfähigkeit der „fail-safe“-Stellung der „silver switches“ wer-
17 zu reduzieren, was bis hin zu Notbremsmanövern den die Steuerbefehle nicht weitergegeben und die
erfolgt. Der vorhandene Sicherheitsfahrer kann Kontrolle obliegt dem Sicherheitsfahrer, wodurch
auch hier zu jedem Zeitpunkt eingreifen. Durch die ein teilautomatisierter Betrieb im Straßenverkehr
18 Überwachung von Lebenszeichen und die Plausibi- möglich ist. Zur Überwachung der Software wird
lisierung von Messwerten und Berechnungsergeb- ein Health-Monitor eingesetzt, der Fehlfunktionen
19 nissen von Hard- und Softwaremodulen werden von Softwarekomponenten überwacht. Anders als
Neustarts oder eine Rekonfiguration fehlerhafter beim SAFER-Ansatz wird hier keine Redundanz
20 Systemteile ausgelöst, womit ein gewisser Grad an verwendet, sondern es werden Selbstheilungsfunk-
Selbstheilung realisiert ist. Falls die Selbstheilung tionen, wie zum Beispiel Komponenten-Neustarts
61.3  •  Ausblick und Herausforderungen
1159 61

ausgelöst. Als Besonderheit verfügt das Fahrzeug Bis vor kurzem wurden autonome Fahrzeuge
über eine Valet-Parking-Funktion, die auch fahrer- vorwiegend in technischen Fachkreisen diskutiert
los auf einem Parkplatz demonstriert wurde. Über und lediglich in Kinofilmen erreichten Zukunftsvi-
eine Fernsteuerung kann das Fahrzeug angehalten sionen vom fahrerlosen Fahren die Öffentlichkeit.
werden [96, 37]. Seit einiger Zeit hingegen wird die allgemeine Auf-
merksamkeit und Erwartung durch regelmäßige
61.2.6.3 Fazit Erfolgsmeldungen und kurzfristige Markteinfüh-
Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen – rungsversprechen in den Medien geschürt: In Zu-
speziell an einen fahrerlosen Betrieb – ist ein Si- kunft werden Fahrzeuge erwartet, die vollautoma-
cherheitssystem notwendig, welches das Fahrzeug in tisiert Missionen ressourceneffizienter und sicherer
einen sicheren Zustand überführen kann. Der Stand absolvieren als heute.
der Forschung zeigt, dass dies bisher in keinem der Der Stand der heutigen Fahrerassistenz, in Serie
Versuchsträger so zuverlässig realisiert wurde, dass oder im Forschungsstadium, lässt zunächst hoffen.
ein Sicherheitsfahrer entbehrlich wurde. Daher Viele neue Funktionen wurden in den letzten Jahren
sind die gezeigten Resultate als teilautomatisiert gezeigt und sind auch Teil dieses Buches. Basierend
einzustufen, da entweder ein Mensch am Steuer, ein auf unseren Recherchen scheint jedoch der Weg
Beifahrer oder eine Fernsteuerung notwendig sind. zum autonomen Fahren weiter zu sein, als derzeit
Lediglich in der DARPA Urban Challenge 2007 wur- teilweise kommuniziert wird. Möglicherweise liegt
den Versuchsträger gezeigt, die auch ohne menschli- die Ursache darin, dass die Leistungsfähigkeit des
chen Fahrer auskamen – jedoch kompensierten die Menschen insbesondere mit der Unterstützung
dort eingeschränkte Umgebung und die geschulten sorgfältig entwickelter Fahrerassistenzsysteme [68]
Stuntfahrer dieses Risiko. Zudem wurden die Fahr- häufig unterschätzt wird. Im Gegensatz zu Fahreras-
zeuge von den Veranstaltern überwacht, so dass im sistenzsystemen, die primär das Ziel verfolgen, auf
Notfall die Möglichkeit genutzt wurde, über Funk in Basis von Unfallanalysen identifizierte Lücken der
die Fahrzeugführung einzugreifen. menschlichen Fähigkeiten zu kompensieren [97,
Der Stand der Forschung liefert dennoch hilf- 98] oder Routinefahrsituationen unter der Überwa-
reiche Ergebnisse zur Bewältigung der Herausforde- chung des Menschen zu automatisieren, müssen für
rung. In den betrachteten Versuchsträgern werden autonome Systeme Fähigkeiten des aufmerksamen
unterschiedliche Sicherheitssysteme und -funktio- menschlichen Fahrers erreicht werden. Erst dann
nen eingesetzt: Eine Kombination all dieser unter- können autonome Systeme über die Fähigkeiten des
schiedlichen Sicherheitssysteme und -funktionen Menschen hinausgehen und zu einer weiteren Re-
stellt einen möglichen Schritt in Richtung einer duktion der Unfallzahlen führen [100].
umfassenden funktionalen Sicherheit für autonome Ein nicht zu unterschätzender Schritt besteht
Straßenfahrzeuge dar. darin, ein aktuelles Assistenzsystem so abzusi-
chern, dass es zukünftig in einem autonomen Fahr-
zeug ohne Beaufsichtigung durch den Fahrer – das
61.3 Ausblick heißt unter anderem fehlerfrei in allen Verkehrssi-
und Herausforderungen tuationen – erwartungsgemäß funktioniert. Dabei
ist die Wahrscheinlichkeit hoch, unvorhersehbare
Zweifelsohne ist autonomes Fahren ein spannendes Konstellationen nicht berücksichtigt zu haben, die
Thema, nicht zuletzt auch deshalb, weil es jeden von gegebenenfalls zu ausbleibenden oder inadäquaten
uns – ob Autofahrer oder Fußgänger – direkt be- Systemreaktionen führen.
trifft. Die Vision, als Endausbaustufe aller Fahreras- Die Abhängigkeit von automatisierten Karten-
sistenz ein Fahrzeug sich selbst zu überlassen, weckt aktualisierungen durch die autonomen Fahrzeuge
jedoch ambivalente Gefühle in der Gesellschaft – selbst hat weitere Konsequenzen zur Folge: Das
zwischen Neugier gepaart mit Forscherdrang und autonome Fahrzeug ist nicht mehr die oberste Ins-
Skepsis, eventuell sogar ängstliche Vorbehalte ge- tanz in einer Umgebung, sondern Teil eines über-
genüber der Technik. geordneten Systems, was wiederum Auswirkungen
1160 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

auf das Konzept der Fahrzeuge hat. Die Autoren 61.4 Anhang – Fragebogen zum
61 konnten Forschungsaktivitäten im Kontext des au- Thema „Automatische
tonomen Fahrens in dieser Richtung bisher nicht Fahrzeuge“
2 identifizieren.
Zudem sind die eingangs skizzierten Frage- 61.4.1 Organisation und Zielsetzung
stellungen ebenfalls noch völlig ungeklärt: Es gibt des Projekts
3 bisher beispielsweise keine Strategie, die Wahrneh-
mungs- bzw. Interpretationsleistung eines Systems In diesem Kapitel möchten wir allgemeine und
4 auf semantischer Ebene zu bewerten. Das Thema organisatorische Informationen zu Ihrem Projekt
Redundanz ist häufig noch nicht akut, da beispiels- erfahren.
5 weise in städtischer Umgebung selbst bei Bemü- 1. Wie lautet der Name des Projekts?
hung aller zur Verfügung stehenden Mittel nicht 2. Mit welchen universitären und/oder industriel-
einmal eine nicht-redundante Lösung umsetzbar len Partnern wird das Projekt realisiert?
6 ist. Im Gegensatz zur Stabilisierungsebene kann 3. Wann wurde das Projekt gestartet bzw. wie lange
hier aber vermutlich nicht auf Redundanzkonzepte arbeiten Sie bereits an diesem Projekt?
7 aus anderen Disziplinen – wie z. B. der Luft- und 4. Was ist das Ziel des Projekts?
Raumfahrttechnik oder Kraftwerkstechnik – zu- 5. Welche Randbedingungen und besonderen An-
rückgegriffen werden. forderungen gelten für Ihr Projekt?
8 Anpassungen in der Infrastruktur sind umstrit- 6. Welche Fahrten hat Ihr Demonstrationsfahr-
ten, weil sie äußerst kostenintensiv und bei techni- zeug wann im öffentlichen Straßenverkehr
9 schen Erweiterungen sogar wartungsintensiv sind. absolviert? In welchen Domänen (Autobahn,
Die Gesetzeslage wird derzeit teilweise für einen Landstraße, urbane Umgebung) wurde Ihr Sys-
10 Probebetrieb adaptiert, allerdings bisher nie ohne tem öffentlich demonstriert?
Sicherheitsfahrer. Somit sind per definitionem
sämtliche öffentliche Demonstrationen nach [17]
11 teilautomatisiert, auch wenn die gesteckten Ziele in 61.4.2 Umfeldwahrnehmung und
den Projekten hoch-, vollautomatisiertes oder sogar -repräsentation, Lokalisierung
12 autonomes Fahren vorgeben.
Das spricht einen wesentlichen Punkt in der Im folgenden Abschnitt möchten wir erfahren, auf
derzeitigen öffentlichen Diskussion an: Es besteht, welche Weise Ihr Fahrzeug sein Umfeld erfassen
13 wie eingangs erwähnt, derzeit kein Konsens über und verarbeiten kann.
den Funktionsumfang des autonomen Fahrens. 1. Erläutern Sie kurz das allgemeine Wahrneh-
14 Ferner scheinen Angaben zur Einführung des au- mungskonzept Ihres Systems.
tonomen Fahrens in vielen Fällen sehr optimistisch 2. Welche Sensortechnologien und -systeme wer-
15 zu sein – wohingegen die Einführung von teilauto- den in Ihrem System eingesetzt?
matisierten Systemen bereits angelaufen ist. 3. Wie und welche dynamischen Objekte kann Ihr
Das Forschungsprojekt „Villa Ladenburg“ der System wahrnehmen? Wie werden diese reprä-
16 Daimler und Benz Stiftung hat die fachübergrei- sentiert?
fende gesellschaftliche Diskussion für eine interdis- 4. Wie werden statische Objekte und Randbebau-
17 ziplinäre Betrachtung zur ganzheitlichen Entwick- ung erkannt und repräsentiert?
lung und Risikoakzeptanz angestoßen. In diesem 5. Ist Ihr System in der Lage, den Status von Licht-
Projekt wurden zahlreiche Fragen und Aspekte im signalanlagen wahrzunehmen? Wie wurde dies
18 Forschungs- bzw. Entwicklungsprozess identifiziert realisiert?
[101]. Langfristig könnte sich dann über einen er- 6. Welche Arten von Verkehrszeichen werden ma-
19 folgreichen Nachweis der überlegenen Verkehrssi- schinell erkannt?
cherheit bei Vollautomatisierung die gänzlich neue 7. Unter welchen Bedingungen werden Fußgänger
20 Frage stellen, ob der fehlerbehaftete Mensch wei- und Radfahrer von der Umfeldwahrnehmung
terhin selbstständig ein Fahrzeug lenken darf [2]. in Ihrem Demonstratorfahrzeug erfasst? Wel-
61.4  •  Anhang – Fragebogen zum Thema „Automatische Fahrzeuge“
1161 61

che Sensorik und welche Algorithmen werden 1. Ist Ihr System in der Lage, autonom (ohne Be-
hierfür verwendet? diener, Unterstützung/Überwachung) Fahrstrei-
8. Auf welche Weise werden Fahrstreifen wahr- fenwechselmanöver auszuführen? Wie wird die-
genommen? Welche Bedingungen müssen die ses Manöver umgesetzt? In welchen Domänen
Fahrstreifen erfüllen, um als solche wahrge- kann es ausgeführt werden (Autobahn, Land-
nommen werden? straße, Stadt)?
9. Welche Anforderungen gibt es an querfahren- 2. Wie reagiert Ihr System auf Zustände von Licht-
den Verkehr an Kreuzungen, damit er sicher signalanlagen auf der relevanten Strecke?
maschinell wahrgenommen werden kann? Wer- 3. Welche Abbiegemanöver wurden umgesetzt? Ist
den Vorfahrtsregeln erkannt? ein Abbiegen in den fließenden Verkehr reali-
10. Ist Ihr System in der Lage, aus wahrgenomme- siert?
nen Daten die Topologie von Kreuzungen zu 4. Wie behandelt Ihr System Kreuzungen ohne
bestimmen? Wie wurde dies umgesetzt? Lichtsignalanlagen? Wie verhält sich Ihr System
11. Welche Intentionen anderer Verkehrsteilnehmer bei einem Kreisverkehr?
kann Ihr System maschinell erkennen? Welche 5. Sind autonome Ein- und Ausfädelvorgänge auf
Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Autobahnen/Bundesstraßen Teil der umgesetz-
12. Wie werden die eigenen Fähigkeiten und die ten Fähigkeiten? Wie wurde dies realisiert?
Leistungsfähigkeit des Systems repräsentiert 6. Welche Notmanöver sind in Ihrem System vor-
und überwacht? Wie beeinflussen die aktuellen gesehen (z. B. Notbremse des Vorderfahrzeugs,
Fähigkeiten das Verhalten des Systems? Fußgänger betreten die Fahrbahn)? Wie wird in
13. Wie erkennt Ihr Fahrzeug die Relativlage bezo- diesen Situationen reagiert?
gen auf den eigenen Fahrstreifen? Welche Vo- 7. Welche Konzepte zum Spurhalten/Folgen des
raussetzungen (Markierungen, geometrische Fahrstreifenverlaufs wurden umgesetzt?
Annahmen) müssen dafür erfüllt sein? 8. Sind Mechanismen zur impliziten und/oder ex-
14. Werden Informationen aus digitalen Karten pliziten Kooperation mit anderen Verkehrsteil-
verwendet? Welchen Detaillierungsgrad haben nehmern umgesetzt?
diese Karten? 9. Wie ist die Missionsplanung umgesetzt? Wird
15. Basiert die Lokalisierung in den digitalen Karten die Planung während des Betriebs durchgeführt
lediglich auf satellitengestützten Systemen oder oder wird auf vorberechnete Datensätze bzw.
wird auch andere Sensorik verwendet? Falls ja, vorgefertigte Missionen zurückgegriffen?
welche Systeme und Algorithmen werden zu- 10. Wie wird auf Eingriffe seitens des/der mensch-
sätzlich zur Lagebestimmung eingesetzt? lichen Fahrer reagiert?
16. Über welche Möglichkeiten der Kommunika- 11. Sind weitere Fähigkeiten oder Manöver umge-
tion mit anderen Verkehrsteilnehmern oder der setzt, die hier bisher nicht angesprochen wurden?
Infrastruktur verfügt Ihr System? 12. Ist Ihr System in der Lage, Domänenübergänge
17. Werden die wahrgenommenen Merkmale (Ob- zu absolvieren (z. B. Abfahrt von der Autobahn
jekte, Straßenverläufe, Randbebauung etc.) in in den urbanen Bereich)? Welche Bereiche sind
einem einheitlichen Umfeldmodell zusammen- hier abgedeckt?
geführt/abstrahiert? Wie ist dieses aufgebaut?

61.4.4 Sicherheitskonzepte
61.4.3 Funktionsumsetzung und
Aktionsausführung 1. Auf welche Basis stützt sich Ihr Sicherheitskon-
zept für die Benutzung im öffentlichen Straßen-
In diesem Abschnitt werden Informationen über verkehr?
umgesetzte Fähigkeiten und durchführbare Manö- 2. Auf welche Weise wurden die oben beschrie-
ver Ihres Versuchsträgers adressiert. benen Fähigkeiten auf ihre korrekte Funktion
getestet? Wie sieht der Testablauf aus?
1162 Kapitel 61 • Autonomes Fahren

3. Wie verhält sich Ihr System bei Ausfall einer 10 Pomerleau, D., Jochem, T.: Rapidly adapting machine vision
61 oder mehrerer Komponenten oder Fähigkeiten?
for automated vehicle steering. IEEE Expert 11(2), 19–27
(1996)
Wie ist Ihr Degradationskonzept umgesetzt? 11 Dickmanns, E., Behringer, R., Hildebrandt, T., Maurer, M.,
2 Thomanek, F., Schiehlen, J.: The seeing passenger car ’Va-
MoRs‐P’. In: Intelligent Vehicles Symposium, S. 68–73. IEEE,
61.4.5 Systemarchitekturen Paris (1994)
3 12 Zapp, A. : Automatische Straßenfahrzeugführung durch
Rechnersehen. Dissertation, Universität der Bundeswehr
Beschreiben Sie die in Ihrem Projekt umgesetzte München, 1988
4 Systemarchitektur (funktional, Hardware, Soft- 13 Ulmer, B.: VITA‐an autonomous road vehicle (ARV) for col-
ware). Nennen Sie zentrale Designkriterien, die die lision avoidance in traffic. In: Intelligent Vehicles Sympo-

5 Architektur Ihres Systems beschreiben. sium, S. 36–41. IEEE, Detroit (1992)


14 Ulmer, B.: VITA II‐active collision avoidance in real traffic. In:
Intelligent Vehicles Symposium, S. 1–6. IEEE, Paris (1994)

6 61.4.6 Besonderheiten
15 Maurer, M.: Flexible Automatisierung von Straßenfahrzeu-
gen mit Rechnersehen. Nummer 443 in Verkehrstechnik/
Fahrzeugtechnik Reihe 12. VDI–Verlag, Düsseldorf (2000)
7 Sind in ihrem Projekt weitere Besonderheiten um- 16 Broggi, A., Bertozzi, M., Fascioli, A.: ARGO and the MilleMig-
lia in Automatico Tour. IEEE 14(1), 55–64 (1999). Intelligent
gesetzt, die bisher hier nicht adressiert wurden?
Systems and their Applications
Falls ja, erläutern Sie diese kurz.
8 17 Gasser, T., Arzt, C., Ayoubi, M., Bartels, A., Bürkle, L., Eier, J.,
Flemisch, F., Häcker, D., Hesse, T., Huber, W., Lotz, C., Maurer,
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1167 62

Quo vadis, FAS?


Hermann Winner

62.1 Stimuli der zukünftigen Entwicklung  –  1168


62.2 Herausforderungen und Auswirkungen  –  1171
62.3 Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens   –  1173
62.4 Evolution zum autonomen Fahren   –  1180
62.5 Zukünftige Forschungsschwerpunkte – 1182
Literatur – 1185

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1168 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

Bei Erscheinen der ersten Auflage dieses Handbuchs Fahren noch erheblich mehr getan werden muss,
1 Fahrerassistenzsysteme im Jahr 2009 war bereits der worauf schon in den vergangenen Ausgaben an
größte Teil der beschriebenen Fahrerassistenzsys- dieser Stelle hingewiesen wurde, wird diesem As-
62 teme in Serie. Allerdings war die tatsächliche Ver- pekt ein ausführlicher Abschnitt gewidmet, der nun
breitung im Markt bis auf wenige Ausnahmen wie auch die verwendeten statistischen Grundlagen für
Bremsassistent, Einparkhilfe und Navigation noch die Bemessung von Absicherungsstrecken darlegt.
3 sehr gering. Durch die technologischen und ferti- Ebenso wird wieder ein Ausblick auf die Evolution
gungstechnischen Fortschritte konnten in den letz- der Fahrerassistenzsysteme gegeben, wenn auch in
4 ten Jahren die Herstellungskosten erheblich gesenkt einer neuen Darstellung als Dreieck des autonomen
werden, so dass heute erhältliche Assistenzpakete Fahrens. Abschließend werden, wiederum dem Po-
5 mit vier oder fünf Hauptfunktionen für den Fahr- sitionspapier entnommen, sehr konkrete Empfeh-
zeugkäufer oftmals nicht mehr Kosten verursachen lungen für die zukünftige Forschung gegeben, die
als frühere Einzelfunktionen. Zudem sind, wie in mehr als deutlich machen, dass dieses Themenge-
6 ▶ Kap. 3 beschrieben, bedingt durch Verbraucher- biet auch für die Zukunft noch viel Potenzial bietet,
tests wie das NCAP-Rating und durch regulative Be- aber auch noch reichlich Forschungsarbeit nach
7 stimmungen für schwere Nutzfahrzeuge Fahrzeuge sich zieht.
bereits in der Serienausstattung mit Assistenzfunk-
tionen ausgerüstet. Es ist also nicht schwer, mit
8 Kenntnis dieser Entwicklung vorherzusagen, dass 62.1 Stimuli der zukünftigen
Fahrerassistenzsysteme als Selbstverständlichkeit in Entwicklung
9 Neufahrzeugen zu finden sein werden und neben
den Maßnahmen zur Antriebseffizienz den größten 62.1.1 Datenkommunikation
10 Wertzuwachs im Straßenfahrzeug bereiten werden.
Bezogen auf die Ambitionen der Entwickler der ers- Das in den 90er Jahren begonnene Internet-Zeital-
ten Stunde könnte man konstatieren: Die Mission ter hat das Fahrzeug bisher nur in einem geringen
11 ist vollbracht. Aber natürlich ist die Entwicklung Maße erreicht. Schon heute lässt sich absehen, dass
nicht abgeschlossen und es fehlt, wie im Folgen- Datenverbindungen zu immer mehr Funktionalitä-
12 den gezeigt wird, nicht nur der letzte Schritt zum ten herangezogen werden, wobei der Schwerpunkt
autonomen Fahren: Zum einen lassen sich bei der aktuell eher im Infotainment-Bereich liegt und
Betrachtung der heutigen Ausführungen noch viele als direkte Fahrunterstützung der Navigationse-
13 inkrementelle Verbesserungsmöglichkeiten identi- bene vorbehalten ist. Trotzdem können die An-
fizieren, worauf hier nicht im Detail eingegangen wendungen des Infotainment-Bereichs wiederum
14 werden soll. Zum anderen steht die Entwicklung zu neuen Wünschen an die Fahrerassistenz füh-
von Fahrerassistenzsystemen unter dem Einfluss ren, die letztlich die durch Nutzung der Infotain-
15 anderer technologischer Entwicklungen und, min- ment-Technik verlorengehende Aufmerksamkeit
destens genauso wichtig, in Wechselwirkung mit durch maschinelle Aufmerksamkeit kompensiert.
den Entwicklungen der Gesellschaft. Diese Stimuli Das „fahrende Büro“ besitzt für Geschäftsleute und
16 auf die Entwicklung wurden 2012 von den Mitglie- Manager sicherlich einen hohen Reiz und für die
dern der Uni-DAS e. V. Vereinigung analysiert und Volkswirtschaft ein nicht vernachlässigbares Pro-
17 in einem Positionspapier beschrieben [1] (s. auch duktivitätspotenzial, weshalb davon ausgegangen
ein daraus entstandener Übersichtsartikel [2]). Die werden kann, dass ein Paket Mobil-Büro mit auto-
nächsten beiden Abschnitte bedienen sich inhaltlich matisiertem Fahren (zumindest in Teilbereichen mit
18 vollständig und zu einem großen Teil auch wörtlich hohem Zeitanteil) im Bereich der Geschäftswagen
dieses Ursprungswerks. Dass Testmethoden einen eine hohe Nachfrage erfahren würde.
19 größeren Stellenwert erhalten, kann zum einen Aber auch ohne „Kompensationsassistenz“ lässt
schon dieser Handbuchausgabe angesehen werden. sich durch Datenkommunikation verkehrsrelevan-
20 Sie bilden einen Schwerpunkt für die neu hinzu- ter Nutzen schaffen, z. B. eine Parkplatz-Allokation
gekommenen Kapitel. Da aber für das autonome noch vor Erreichen der Parkfläche oder die verbes-
62.1  •  Stimuli der zukünftigen Entwicklung
1169 62

serte intermodale Anbindung an andere Verkehr- und Integritätsgarantie, für das noch nicht einmal
sträger wie Bahn oder Flugzeug. ein Konzept bekannt ist.
Während die Basistechnik für ein mobiles Büro Angesichts des hohen Fortschrittpotenzials für
durch Aktivitäten wie Cloud-Computing, IEEE die Fahrsicherheit sowie die Effizienz in Bezug auf
802.11p oder LTE ohne weitere Unterstützung in Energie, Verkehrsinfrastruktur und Zeit ist zu hof-
das Fahrzeug Einzug halten wird, ist eine kommu- fen, dass Netzwerke mit diesen Eigenschaften Wirk-
nikationsbasierte Fahrerassistenz auf den Ebenen lichkeit werden und von allen Verkehrsteilnehmern
der Bahnführung und Stabilisierung auf ein eigen- genutzt werden.
ständiges Netzkonzept angewiesen. In Feldversu-
chen wie SIM-TD [3] und weiteren Projekten wie
Ko-FAS [4] und Koline [5] werden die Grundla- 62.1.2 Elektromobilität
gen für eine flächendeckende Einführung gelegt.
Grundsätzlich ist die Einführung dieser Technik, Auch die Elektromobilität stellt neue Anforderun-
wie allgemein bekannt, immer vom Henne-Ei-Pro- gen an die Fahrerassistenz. So ist die frühzeitige
blem bedroht. Gelingt es jedoch, diese Hürde zu Sicherung eines kombinierten Abstell- und Lade-
überwinden, wird ein neues Fenster der Fahreras- platzes von hoher Bedeutung. Die Garantie der für
sistenz geöffnet, da die Informationsqualität über die beabsichtigte Fahrt benötigten Energie bleibt
die Verkehrsumgebung, Teilnehmer aller Art ein- vermutlich noch Jahrzehnte eine Herausforderung
geschlossen, erheblich steigt und damit auch die für die Elektromobilität, so dass die Art und Weise
Unterstützungsmöglichkeiten. Sollte es gelingen, der Nutzung sich von der heutigen unterscheiden
alle Verkehrsteilnehmer in bestimmten Bereichen wird. Dies betrifft den möglichst effizienten Um-
in ein Netzwerk einzubinden, könnte die Verkehr- gang mit dem „Gas“-Pedal in der mikroskopischen
sinfrastruktur erheblich verändert werden. Betrachtung ebenso wie die makroskopische Sicht,
So könnte eine Lichtsignalanlage durch einen für welche Transportaufgabe welches Verkehrs-
Funk-Access-Point ersetzt werden, der die Fahrzeuge mittel oder welches Geschäftsmodell genutzt wird.
möglichst optimal durch den Knotenpunkt routen Entsprechend werden sich die Assistenzfunktionen
würde. Natürlich wäre dies mit automatisierten Fahr- diesen veränderten Nutzungsformen anpassen und
zeugen noch effizienter und effektiver möglich als demzufolge Zusatzfunktionen für die Reichwei-
bei der Fahrzeugführung durch den Menschen. Das tensicherung bereitstellen sowie intermodale Mo-
Konzept sollte aber nicht davon abhängen. bilitätsassistenzdienste anbieten.
Mit genügend Bandbreite für hohe Datenraten Auch oft im Zusammenhang mit der E-Mo-
und hinreichender Integrität der Datenquellen und bilität diskutiert, aber auch für herkömmlich an-
des Kommunikationssystems lassen sich die Infor- getriebene Fahrzeuge relevant, ist das Ringen um
mationsquellen der Fahrzeuge und, wenn vorhan- ein geringes Fahrzeuggewicht zur Minderung der
den, von der Infrastruktur zu einer sehr detaillierten Fahrwiderstände. Ein wesentlicher Gewichtsanteil
dynamischen Karte fusionieren. Ähnlich zum IT- wird dem hohen Standard der passiven, unfallfol-
Cloud-Konzept könnte man hier von Cloud-Sen- genmindernden Sicherheit zugeschrieben. Eine ver-
sorik sprechen. Natürlich lassen sich auch Infor- besserte aktive, unfallvermeidende oder integrale,
mationsquellen aus „der großen Cloud“ einbinden, den Unfallablauf beeinflussende Sicherheit eröffnet
wie schon an den vielfältigen Aktivitäten von die Möglichkeit, bei den gewichtstreibenden passi-
Google&Co. abzulesen ist. Bei einem Cloud-Sen- ven Maßnahmen wieder zurückzurüsten.
sorik-Konzept könnten die Anforderungen an die
lokale Umfeld-Sensorik zurückgenommen wer-
den, z. B. bei der Reichweite, so dass vermutlich die 62.1.3 Gesellschaftliche Einflüsse
volkswirtschaftlichen Gesamtkosten trotz der In- und Marktentwicklungen
vestition in die Cloud-Technik eher sinken werden.
Aber die notwendige Voraussetzung für ein solches Technik verändert die Gesellschaft, wie das be-
Konzept ist ein verlässliches Netzwerk mit Service- kannte Beispiel der industriellen Revolution im
1170 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

19. Jahrhundert deutlich gemacht hat. Aber Technik hend kommen, dass Autos mit besonderen Design­
1 kann auch als Abbild der Gesellschaft verstanden merkmalen attraktiv werden, die in Analogie als
werden: Sie spiegelt den Bedarf wider, der, wenn „iCar“ vermarktet werden könnten. Bei allen der-
62 die Technik dies zu akzeptierbaren Kosten abbilden artigen Produktwellen waren radikal geänderte Be-
kann, auch gedeckt wird. Dabei ist dieser Bedarf ge- dienkonzepte Schlüsselerfolgsfaktoren. Diese neuen
rade in Wohlstandsgesellschaften keineswegs auf die Bedienparadigmen prägten dann in schneller Folge
3 elementaren Bedürfnisse ausgerichtet. Mehr oder die Wettbewerbsprodukte, so dass sich oftmals in
weniger bewusst reflektiert die genutzte Technik weniger als drei Produktgenerationen eine Pro-
4 den individuellen „Way of Life“. Ändert sich dieser duktgruppe so veränderte, dass alles Vorherige nicht
über die Generationen, ändern sich mit ihnen auch mehr marktfähig war. Ein radikal geändertes Bedi-
5 die Produkte, oft parallel zum technischen Fort- enkonzept kann die über 110 Jahre evolutionierte
schritt: Zwei naheliegende Trends sind die Verän- Bedienung durch Lenkrad und Pedale hinter sich
derung der Demografie und die Neudefinition von lassen und mit neuen Elementen über Assistenz-
6 Statussymbolen. funktionen und (Teil-)Automatisierung die Fahr-
Die Welt der Älteren ändert sich zurzeit zeugführung neu erfinden. Fahrerassistenzsysteme
7 sehr stark. Früher oft durch Entbehrungen und bilden dann keine Zusatzausstattung mehr, sondern
schwierige Arbeitsbedingungen gesundheitlich ge- sind essenzieller Bestandteil des iCars. Gleicher Er-
schwächt, blieben sie mehrheitlich in einer familiä- folg wie bei den heutigen Vorbildern vorausgesetzt,
8 ren Umgebung mit nach außen weniger sichtbaren wären dann herkömmliche Fahrzeuge schlagartig
Aktivitäten. Heute entfällt die familiäre Umgebung nicht „klassisch“, sondern „alt“.
9 immer stärker, sei es durch höhere Wohnmobilität, Eine andere gesellschaftliche Veränderung
zunehmende Entfremdung oder Kinderlosigkeit. kommt aus der Veränderung der Wertschöpfungs-
10 Dafür erhöht sich der Anteil der „mobilen Alten“ kette: Heute erwirtschaften Unternehmen große
bzw. „aktiven Alten“ immer mehr. Diese Generation Gewinne durch Vermittlung von Produktlie­
hat die Individualmobilität fast ihr ganzes Leben ge- ferungen, wie z. B. der Appstore, bei der als eigene
11 nutzt und wird diese nicht nur solange wie möglich Investition eine Vermittlungsplattform bereitge-
erhalten wollen, sondern aufgrund steigender Le- stellt wird, aber das Kunden-Lieferanten-Risiko
12 bensarbeitszeit erhalten müssen. Auch wenn heute anders als bei einem Händler nicht übernommen
noch schwer vorstellbar, werden zukünftige Gene- wird. Ebenso sind Milliarden von Euro durch das
rationen für sich die Cloud-Möglichkeiten nutzen Routing von Werbung zu verdienen. Diese Platt-
13 und daher intelligente Fahrzeuge erwarten, die den form-Geschäftsmodelle führen zu monopolartigen
jeweiligen Fahrfähigkeiten angemessene Unterstüt- Großunternehmen mit einer Marktmacht, die die
14 zung anbieten. anderen Zweige der Handelskette zu „Friss-oder-
Die junge Generation ist mit der Erfahrung stirb-Verhalten“ nötigen. Bisher gibt es nur wenige
15 groß geworden, dass die Verfügbarkeit von Indivi- erfolgreiche Plattformen zur Mobilität, wie z. B.
dualmobilität selbstverständlich ist: Dieser Grund, Mitfahrzentralen oder Gebrauchtwagenportale.
aber auch andere Gründe wie die zunehmende Ur- Smartphone-basierte Ansätze wie mytaxi [6] oder
16 banisierung können dazu führen, dass der Autobe- Uber [7] zeigen die Richtung, wie sich ein Produkt
sitz einen geringeren symbolischen Wert für den „Mobilität“ zu einer „Brokerware“ verändern kann.
17 eigenen Status besitzt. So erfüllen nun oft Reisen, Damit können Plattformen auch die Ausstattung
Gruppenzugehörigkeit, Immobilien, Designiko- bestimmen, was die individuelle Auswahlmög-
nen und Mobilgeräte dieses Darstellungsbedürfnis, lichkeit erheblich einschränken wird. Dies kann
18 welches früher mit dem Auto verbunden wurde. sich für die Fahrerassistenzentwicklung sowohl als
Die Auswirkungen eines solchen Trends sind nicht Hindernis als auch als Push auswirken. Bei einem
19 eindeutig: Zum einen könnte die Folge eine ratio- auf Kostenreduzierung optimierten Verkehrsmittel
nalere Wahl des Verkehrsmittels sein, bei dem der wird alles versucht werden, die gegebenen Anforde-
20 Besitz des eigenen Autos in den Hintergrund tritt. rungen möglichst kostengünstig zu realisieren, so
Aber es könnte auch zu Veränderungen dahinge- dass kein Budget für Innovationen vorhanden sein
62.2  •  Herausforderungen und Auswirkungen
1171 62

wird. Zum anderen können aber zum Geschäfts- lung aufzeigen. Üblicherweise enden diese Road-
modell bestimmte Automatisierungen die tech­ maps mit dem vernetzten autonomen Fahrzeug, das
nische Basis bilden: sei es die fahrerlose Fahrt zu fahrerlos in beliebiger Umgebung fährt. Aber schon
einem Abstellplatz oder zum nächsten Kunden, sei dieser Weg ist als sehr dornenreich anzusehen, da
es das „mobile Bestellbüro“, bei dem ein Versand- viele Fragen aus dem zulassungs- und haftungs-
haus die Fahrt sponsert [8, 9]. rechtlichen Bereich mit diesem verbunden sind. Die
heute üblichen Freigabe- und Testmethoden reichen
bei weitem nicht aus, „denkende“ Maschinen frei
62.1.4 Kulturelle zu testen. Neuartige Metriken für die Messung der
und mediale Einflüsse Leistungsfähigkeit von Fahrrobotern im Vergleich
zu der des Menschen sind vonnöten. Da diese He-
Gesellschaftliche Veränderungen können auch rausforderung in den Augen vieler Experten noch
durch Übernahme von Traditionen oder neuen größer als die Entwicklung der Fähigkeit von ma-
Entwicklungen anderer Kulturen bewirkt werden. schineller Intelligenz für die autonome Fahrt ist
Durch die fortgeschrittene Globalisierung erhöht und als kritischer Pfad zum autonomen Fahrzeug
sich die Geschwindigkeit des Transfers. Der Fah- gewertet wird, werden diese Überlegungen in ▶ Ab-
rerassistenzsektor ist bezüglich Markt und Tech- schn. 62.3 weiter ausgeführt.
nologie bisher sehr stark deutsch und japanisch Die Wirtschaftlichkeit bildet den anderen zu
geprägt, weil sich hier die Kombination von Bereit- beachtenden Aspekt: Die weitere Entwicklung der
schaft und finanzieller Möglichkeit in Automobil- Technik erfordert hohe Investitionen über Jahr-
technik zu investieren sowohl auf der Kundenseite zehnte, die nur durch eine kontinuierliche Refinan-
als auch bei der Automobilindustrie findet. Da aber zierung über den laufenden Markt realistisch sind.
die gesättigten Märkte von den aufstrebenden über- Auch wenn Innovationen nicht über das Produkt
holt werden, kann von einer Änderung der Verhält- Automobil stimuliert werden, wie die Computer-
nisse ausgegangen werden. Die Kundenbedürfnisse oder Kommunikationstechnik zeigen, so sind doch
und die Nutzungsrandbedingungen sind andere, automobil-spezifische Technologien zu entwickeln,
die finanziellen Möglichkeiten und Zahlungsbereit- damit die Technik aus dem Labor oder Spezialan-
schaften sowie die regulativen Eingriffe nur schwer wendungen Eingang in das Volumenprodukt Auto-
abzuschätzen. Stauassistenz und mobiles Büro sind mobil findet, wie die Beispiele ESC und ACC-Ra-
für Megacitys in den aufstrebenden Ländern sicher- dar aus der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben.
lich von hohem Marktinteresse der begüterten Be- Werden die entwickelten Produkte nicht im Markt
völkerungsschicht. angenommen, sind auch die Weiterentwicklungen
Schlussendlich sollte die Rolle der Medien nicht immer schwerer zu finanzieren.
unterschätzt werden: So führte die Präsentation von Der Weg zum Käufer läuft über verschiedene
„Google’s self-driving car“ in den Medien sowohl Stationen mit ihren jeweils eigenen Gesetzen: So-
zu einer offensichtlichen Veränderung in der Ein- genannte Fachmagazine bejubeln eher den Sound
stellung der öffentlichen Wahrnehmung des auto- und die Kraftentfaltung eines Verbrennungsmo-
nomen Fahrens als auch zu einem Aufrütteln der tors, als sich mit der neuen Technik fachgerecht
etablierten automotiven Unternehmen, mehr in auseinanderzusetzen; aber auch die Handelskette
diese Richtung zu investieren. bis hin zum Autoverkäufer steht diesen Entwick-
lungen eher hilflos gegenüber und kompensiert die
Schwäche durch gewohntes Verkäufergerede (z. B.
62.2 Herausforderungen „ESP braucht der nicht, der ist auch ohne schon si-
und Auswirkungen cher“). Daher ist auch bei zukünftigen Produkten
immer mit diesem Gegenwind zu rechnen, womit
Beschränkt man sich auf die technischen Aspekte, das Entwicklungs­risiko nochmals steigt. Allerdings
lassen sich vergleichsweise einfache Roadmaps ab- sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die
leiten, die die verschiedenen Schritte der Entwick- Entwicklung nicht immer nutzerorientiert erfolgte
1172 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

und die Benutzung nicht optimal vorbereitet wurde, integrierten Verkehrssystem zur Effizienz des Stra-
1 vgl. ▶ Kap. 48. Dies wird bei einer Zunahme der As- ßenverkehrs beitragen. Aber sie werden auch Aus-
sistenzfunktionalität die Entwicklung integrierter, wirkungen auf die Verkehrsteilnehmer und sogar
62 kooperativer Bedien- und Anzeigekonzepte hin zu darüber hinaus haben. Je nach Geschwindigkeit
innovativen Fahrzeugführungskonzepten erfordern, der Einführung kann es zu einer Entmischung
um ein stimmiges Gesamtpaket anzubieten. zwischen modernen Hightech-Fahrzeugen auf der
3 Wie in ▶ Abschn. 62.1.3 diskutiert, wird die einen Seite und den immer noch fahrbereiten alten
Entwicklung nicht in einer statischen Gesellschaft Modellen auf der anderen Seite kommen, weil der
4 vorangetrieben, sondern in einer sich ändernden, Unterschied zwischen alt und neu erheblich größer
die wiederum andere Mobilitätsprodukte erwartet. ist als das heute der Fall ist. Diese Situation kann
5 Die Marktreaktion auf die geänderten Randbedin- über empfundene Privilegien als Kaufanreiz wir-
gungen kann sich in der Verschiebung der Ange- ken, aber auch zu belastenden Diskriminierungen
botspalette ausdrücken, aber auch in völlig neuen und Neiddebatten führen. Mit jeder Veränderung,
6 Geschäftsmodellen, wodurch neue Marktformen aber vor allem bei Marktveränderungen wird es
entstehen und sie die alten verdrängen. Assistenz- Gewinner und Verlierer geben. Hier sollte mit
7 systeme können dabei eine Schlüsselrolle spielen, hoher Sensibilität über eine Folgenabschätzung,
wenn sie zum richtigen Zeitpunkt mit dem pas- die deutlich über heutige Technikfolgenabschät-
senden Geschäftsmodell die Individualmobilität zung hinausgeht, der Weg rechtzeitig so gestaltet
8 revolutionieren. Gerade die gut etablierten Berei- werden, dass einerseits der technische Fortschritt
che der deutschen Automobilindustrie wären dann nicht behindert wird, andererseits möglichst viele
9 im höchsten Maße herausgefordert. Beispiele wie Gewinner der technischen Entwicklung erkennbar
die Umwälzungen im IT-Bereich (von der früheren sind.
10 Dominanz von IBM/DEC/Nixdorf über Microsoft/ Die Auswirkungen vernetzter autonomer Au-
Intel/Nokia zu Google/Apple/Facebook) zeigen, tomobile sind aufgrund der langfristigeren Per-
dass jahrzehntelanger Erfolg durch Veränderung spektive noch schwer abzuschätzen: Durch ihre
11 der Rahmenbedingungen und Geschäftsmodelle signifikante Erhöhung des Verkehrsflusses und
schnell vergänglich werden kann. der Fahrzeugsicherheit könnten „alte“ Fahrzeuge
12 Solange das Automobil wie heute genutzt wird, als Verkehrshindernis und -risiko angesehen wer-
ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Gewichte den, so dass eine zügige gesetzliche Verpflichtung
im Markt wesentlich verschieben. Da aber die Ent- zu „neuer“ Technologie diskutabel würde. Gleich-
13 wicklung der Fahrerassistenz, speziell die zu auto- zeitig entfiele die Notwendigkeit eines fußgängigen
nomen Fahrzeugen, andere Nutzungsmöglichkeiten Parkplatzes, da die Fahrzeuge selbst an entlegenere
14 bietet, so kann eine die heute dominierende Auto- Parkplätze fahren und wiederkehren könnten, so
welt bedrohende Veränderung ausgelöst werden. dass der Flächenverbrauch in Städten durch Park-
15 Natürlich lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten, plätze reduziert würde. Verkehrsraum würde zu
so dass Treiber aus anderen Bereichen schon für die einer temporär buchbaren Ressource werden, die
Umwälzungen sorgen werden, wie sich allein schon dynamisch im Netz gemakelt wird, so dass voll-
16 aus den Aktivitäten von Google ablesen lässt. Damit kommen neue Geschäftsmodelle sowohl für die
ergibt sich automatisch die Schlussfolgerung, dass Industrie als auch für die öffentliche Hand entste-
17 nur eine proaktive, die Zukunft mitgestaltende Ent- hen werden.
wicklung Schutz vor diesem Effekt bietet. Sie darf Die neue Qualität der durch autonome Auto-
sich nicht zu stark verzetteln, sie benötigt gute wis- mobile im wahrsten Sinne des Wortes gewonnenen
18 senschaftliche Grundlagen, um Fehlentwicklungen neuen Bewegungsfreiheit kann durchaus mit der
vorbeugen zu können, gute Randbedingungen für Einführung des Mobilfunks verglichen werden. Die
19 eine Einführung, ein positives Technikklima sowie zunächst nur für wenige Nutzer verfügbare Technik
eine aufgeschlossene Marktbetrachtung. ist nun allgegenwärtig und hat dabei die gesamte
20 Die zukünftigen Assistenzsysteme werden si- Kommunikation und dabei auch das gesellschaftli-
cherlich stark zur Verkehrssicherheit und in einem che Leben verändert.
62.3  •  Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1173 62
62.3 Problemfeld Absicherung Sicherheitsbetrachtung. Daher bleiben die Unfälle
des autonomen Fahrens mit Personenschaden maßgebend, so dass die Hy-
pothese:
Unter autonomem Fahren wird die Übergabe der „Durch den breiten Einsatz des autonomen Fah-
Fahrzeugführungsfunktion und -autorität an eine rens wird der Schaden, verursacht durch die Anzahl
Maschine, im Weiteren auch Fahrroboter genannt, von Verletzten und Getöteten, nicht größer sein als
verstanden. Die Übertragung der Führungsfunktion ohne diese Fähigkeit.“
kann örtlich oder zeitlich begrenzt sein und eventu- abzusichern ist. Mit „breit“ ist gemeint, dass die
ell durch den Fahrer unterbrochen werden. Grund- Nutzung des autonomen Fahren in der gleichen
sätzlich ist das autonome Fahrzeug in der Lage, ohne Größenordnung liegt wie das menschengeführte
Mitwirken eines Menschen die Entscheidung über Fahren, zur Unterscheidung von Probephase (3 bis
den Weg, die Bahn und die Fahrdynamikeingriffe 4 Größenordnungen niedriger) oder Einführungs-
zu fällen (in der in ▶ Kap. 3 vorgestellten Definition phase (1 bis 2 Größenordnungen niedriger). Für die
entspricht es dem vollautomatisierten Fahren). An beiden anderen Kategorien sind unter Umständen
eine solche Funktion werden sowohl technisch als andere Maßstäbe anzulegen, wenn z. B. wegen des
auch gesellschaftlich bestimmte Anforderungen höheren Nutzens des autonomen Fahrens der Nut-
gestellt. Nach den heute und voraussichtlich auch zer ein höheres Eigenrisiko akzeptieren würde.
in Zukunft gültigen Rechtsgrundsätzen darf von Ein Beispiel dafür ist im Bereich der motorisier-
einem autonomen Fahrzeug keine größere Gefahr ten Zweiräder zu finden, die einem um mindestens
ausgehen als von einem von Menschen gesteuerten eine Größenordnung höheren Verletzungs- und
Fahrzeug. Dies gilt für alle am Straßenverkehr be- Todesrisiko pro zurückgelegtem Weg ausgesetzt
teiligten Gruppen und für alle Einsatzbereiche, in sind; sie akzeptieren dies mit der Nutzung, sei es
denen heute die Fahrzeuge von Menschen geführt aus dem Mangel an Alternativen oder aus Spaß am
werden. Motorradfahren. Ähnlich könnte es für bisher vom
Die bekannten Konzepte zum autonomen Fah- Fahren ausgeschlossene Personen vertretbar sein,
ren werden in ▶ Kap. 61 beschrieben. Von bisher mit einem gegenüber der nichteingeschränkten
keinem Konzept ist eine Strategie zur Absicherung Vergleichsgruppe unsicheren Fahrzeug mobil zu
bekannt, außer dass immer wieder darauf verwiesen sein. Solange aber die Gruppe mit unsicheren Fahr-
wird, welche Strecken oder welche Streckenlänge zeugen einen unbedeutenden Anteil an der Expo-
autonom gefahren wurde. Das mag zunächst sogar sition für andere Verkehrsteilnehmer belegt, kann
imponieren, allerdings sind diese Strecken hinsicht- die Zusatzgefährdung für andere Verkehrsteilneh-
lich einer allgemeinen Nutzung im Straßenverkehr mer als unerheblich gewertet werden. Allerdings
nahezu ohne Aussage, wie die im Folgenden ange- gibt es zwei Aspekte, die eine Maßstabfestlegung
stellten Überlegungen zeigen werden. erschweren: Im heutigen Individualverkehr kann
der Fahrer das Risiko beeinflussen. Bei autono-
mem Fahren sind er und die Mitinsassen passiv
62.3.1 Anforderungen an die dem „Fremdrisiko“ Fahrroboter ausgesetzt, wie
Absicherung von autonomem bei der Fahrt im öffentlichen Verkehr. In diesem
Fahren im breiten Einsatz Bereich liegt allerdings das Personenschadensri-
siko pro Strecke noch einmal eine Größenordnung
Soll das autonome Fahren tatsächlich die Straßen- niedriger, was natürlich auch noch zu neuen Dis-
verkehrssicherheit durch den breiten Einsatz von kussionen über das Akzeptanzniveau des Risikos
Fahrzeugen mit solchen Fähigkeiten verbessern, führen kann.
so muss das Sicherheitsziel sich am Status Quo der Im Folgenden wird nur der Ansatz betrachtet,
Straßenverkehrssicherheit messen. Da Sachschäden wie er für den breiten Einsatz gilt und für den als
gegenüber dem Nutzen (z. B. Arbeitszeit, Ausruhen, Referenz die allgemeine aktuelle Straßenverkehrs-
Unterhaltung) angerechnet werden können, sind sicherheit noch ohne breiten Einsatz autonomen
diese aus Sicht des Autors nahezu irrelevant für die Fahrens herangezogen wird.
1174 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

Statistische Betrachtung hier nur 5 %; d. h. man müsste bei einem gleich gu-
1 Als Eingangswerte dieser Berechnung wird die ten System mindestens so viel „Glück“ haben wie
mittlere Zahl von Unfällen der jeweiligen Kategorie die Irrtumswahrscheinlichkeit. Um eine realistische
62 i (z. B. mit Personenschaden oder detaillierter, mit Chance (z. B. 50 %) für den Nachweis zu haben,
Leicht- oder Schwerverletzten oder Getöteten) pro muss das autonome Fahren einen deutlich kleine-
Strecke si des Referenzsystems ai; ref D ki; ref =si; ref ren Erwartungswert für einen Unfall haben, doch
3 und des autonomen Fahrzeugs ai; aut D ki; aut =si; aut um wie viel? Damit wird der Erwartungswertfaktor
herangezogen. Somit ergibt sich bei einer Strecke ˛50 % gesucht, mit dem zu 50 % Wahrscheinlichkeit
4 s ein Erwartungswert von hkii;j .s/ D s  ai;j . Als nicht mehr als k0 Ereignisse auftreten. Entsprechend
P0
erstes Ergebnis der Betrachtung wird die Aussage ist nun kkD0 P .k/ D 50 % nach  zu lösen. Das
5 angestrebt, welche Strecke im Verhältnis zum Re- Ergebnis zeigt . Abb. 62.3.
ferenzniveau bei einer gegebenen Zahl von regist- Liegt der Erwartungswertfaktor bei etwa einem
rierten Unfällen ausreichen würde, um bei einer ak- Viertel, so kann der Fall mit 0 Ereignissen auf der
6 zeptierten Irrtumswahrscheinlichkeit den Nachweis dreifachen Referenzstrecke tatsächlich zu 50 % auf-
zu erbringen, dass das Unfallrisiko des autonomen treten. Bei einem „nur“ halb so guten System wie
7 Fahrens nicht größer als im Referenzfall ist. die Referenz treten hingegen 4 Ereignisse auf, die
Für die statistischen Berechnungen wird die gemäß . Abb. 62.2 eine mehr als neunfache Re-
Poisson-Verteilung P .k/ D k e  =kŠ herange- ferenzstrecke nach sich zieht. Auf genau dieselbe
8 zogen, die sich für eine nicht erschöpfende Gesamt- Weise lassen sich andere Kombinationen bilden,
heit, also als Grenzwert der Binominalverteilung für wie in . Abb. 62.4 für Ereigniszahlen bis 5 gezeigt
9 unendliche Elemente, ergibt. Damit kann die Wahr- wird. Aus der halblogarithmischen Darstellung wird
scheinlichkeit berechnet werden, mit der k Ereig- deutlich, dass der Streckenfaktor in diesem Bereich
10 nisse bei einem Erwartungswert  D hki auftreten. überexponentiell wächst, so dass allein daraus das
Wie . Abb. 62.1 zeigt, sind deutlich vom Erwar- Ziel abzuleiten ist, dass ein System, dass nach diesen
tungswert abweichende Auftretenszahlen gar nicht Maßstäben qualifiziert werden soll, einen Erwar-
11 so selten: So tritt beim Erwartungswert von drei tungswertfaktor ≤ 0,5 haben sollte, also mindestens
Ereignissen (Unfälle) zu etwa 5 % Wahrscheinlich- doppelt so gut wie die Referenz sein sollte.
12 keit überhaupt kein Ereignis (Unfall) auf. Oder im Für diese Bedingung (Erwartungswertfaktor
Falle eines Erwartungswerts von 6,3 sind 0 bis 2 Er- von ≤ 0,5) lässt sich für den ersten Test überschlä-
eignisse (Unfälle) zusammengenommen mit einer gig ein Streckenfaktor von 10 annehmen. Zwar wäre
13 Wahrscheinlichkeit von 5 % vertreten. bei einem Erwartungswertfaktor ˛50 %  0;23 die
Werden 5 % als akzeptierte Irrtumswahrschein- dreifache Strecke für eine 50 % Wahrscheinlich-
14 lichkeit "acc angelegt, wie in der empirischen Wis- keit ausreichend, allerdings kann von einem ersten
senschaft oft gemacht, so lässt sich schlussfolgern, Bestehen mit der dreifachen Strecke nicht davon
15 dass wenn auf der dreifachen Referenzstrecke kein ausgegangen werden, dass im Wiederholungsfall
Ereignis auftritt oder auf der 6,3-fachen Strecke die gleiche Strecke reichen würde, denn auch bei
höchstens 2 auftreten, dann wäre zu 95 % Wahr- ˛50 % D 0;5 kann mit 22 % Wahrscheinlichkeit das
16 scheinlichkeit der Erwartungswert des Systems pro Ergebnis von 0  Ereignissen pro dreifacher Refe-
Referenzstrecke ≤ 1. Dieses lässt sich auch für wei- renzstrecke erreicht werden. Erst eine etwa 10 bis
17 tere Ereigniszahlen berechnen, indem die Gleichung
P k0
20-fache Referenzstrecke lässt hier Sicherheit auf-
kD0 P .k/ D "acc numerisch nach  gelöst wird. kommen, dass von einer so guten Grundannahme
Das Ergebnis zeigt . Abb. 62.2 für Ereigniszahlen für den Erwartungswertfaktor ausgegangen werden
18 k0 von 0 bis 5. kann, dass bei Folgetests tatsächlich ein geringerer
Sollte aber das autonome Fahren das gleiche Streckenfaktor ausreichen würde.
19 Risiko wie die Referenz besitzen, also die Erwar-
tungswerte i; ref D i; aut übereinstimmen, dann Referenzstrecke
20 wäre der Fall k0 D 0 ebenso unwahrscheinlich wie Nachdem der Streckenfaktor allgemein hergeleitet
die angenommene Irrtumswahrscheinlichkeit, also ist, existiert nun die Möglichkeit, die Referenzstre-
62.3  •  Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1175 62
0,6

0,5

Erwartungswertfaktor α50%
0,4

0,3

0,2

0,1

0
0 1 2 3 4 5
Ereignisse k0

.. Abb. 62.1  Häufigkeit für das Auftreten einer bestimmten .. Abb. 62.3 Erwartungswertfaktor ˛50 % in Abhängigkeit der
Ereigniszahl k0 für zwei verschiedene Erwartungswerte  vorgegebenen Ereignismaximalzahl k0

12

10
Streckenfaktor λref,acc für e = 5%

0
0 1 2 3 4 5
Ereignisse k0 .. Abb. 62.4 Streckenfaktor ref; acc für Nachweis mit 5 % Irr-
tumswahrscheinlichkeit als Funktion des Erwartungswertfaktors
.. Abb. 62.2 Streckenfaktor ref; acc, um den die Referenzstre- ˛50 %
cke multipliziert werden muss, um mit einer Irrtumswahr-
scheinlichkeit von 5 % und auftretenden Ereigniszahlen k0
nachzuweisen, dass der Erwartungswert für Unfälle kleiner ist
– zumindest für die Einführungsphase – nicht he-
1/Referenzstrecke ist
rangezogen werden. Denn es ist nicht bekannt, ob
das Verhältnis von Unfällen mit Personenschäden
cke für die Freigabe des autonomen Fahrens zu de- zu Unfällen mit nur Sachschäden auch mit Einfüh-
finieren. rung des autonomen Fahrens unverändert bleibt, so
Diese theoretisch notwendige Anzahl von Kilo- dass damit noch keine Hochrechnung auf Unfälle
metern für die Freigabe variiert, wie gezeigt wurde, mit Personenschäden erfolgen kann. Ansonsten
mit der Vergleichsgruppe und weiteren Faktoren. können die Sachschäden bei autonomem Fahren,
Diese in folgende Kategorien aufgeteilten Faktoren wie zuvor erwähnt, mit dem Nutzen aufgerechnet
werden nun beschrieben: werden, so dass dies eher eine Diskussion der Wirt-
schaftlichkeit als der Sicherheit darstellt.
Unfallfolgentyp (nur Sachschaden, Personenschaden: Unfälle mit Personenschäden sind zum über-
alle Verletzungstypen, nur Schwerverletzte, nur Ge- wiegenden Teil Unfälle mit Leichtverletzten. Somit
tötete)  Die weitaus häufiger auftretenden Unfälle lohnt eine Unterscheidung zwischen der Gesamt-
mit Sachschaden ohne Personenschaden können zahl der Unfälle mit Personenschäden und der
1176 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

1 .. Tab. 62.1  Referenzstrecken in Abhängigkeit vom Einsatzbereich und den Unfallfolgen (Quelle: [10, 11] (gerundet)).
Bei Angaben zu Schwerverletzten und Getöteten beziehen sich die Zahlen auf Strecke/Person, da aber mehr als eine
Person pro Unfall in der Kategorie betroffen sind, ist dieser Wert eine untere Abschätzung
62 gesamt außerorts (ohne Autobahnen) innerorts Autobahnen

3 Fahrleistung/Mrd. km 724 110* 225

Unfälle gesamt/Mio 2,42 0,49 1,77 0,15

4 mit Personenschaden/1000 291 73/23,5* 200 18,4

Strecke zwischen zwei Unfällen/Mio. km

5 gesamt 0,34 1,67

mit Personenschaden 2,5 4,6* 12


6 mit Schwerverletzten > 11 > 40

mit Getöteten > 200 > 140* > 500


7
*: nur außerörtliche Bundesstraßen

8
mit Leichtverletzten nicht. Natürlich besitzen die Unfallverursachung (keine Unterscheidung, nur
9 Unfälle mit Schwerverletzten und Getöteten die Hauptverursacher)  Im Mittel ist ein Fahrzeugfüh-
höhere Relevanz. Sie sind in der Zahl um fast eine rer zu ca. 60 % der Hauptverursacher, wenn er in
10 (Schwerverletzte) oder zwei (Getötete) Größenord- einem Unfall verwickelt ist, wobei die mittlere Al-
nungen seltener, wodurch Referenzstrecken, die tersgruppe mit einem niedrigeren Anteil (ca. 50 %)
sich auf die Klasse beziehen, entsprechend stark als Hauptverursacher auftritt als die Gruppen der
11 steigen. jungen und alten Fahrer, vgl. [10]. Würden nur jene
Unfälle für eine Absicherung herangezogen, bei de-
12 Einsatzbereich (gesamt, nur außerorts (ohne Auto- nen Fahrer als Hauptverursacher auftreten, würde
bahnen), nur innerorts, nur Autobahnen)  Gerade zu sich zunächst der Testaufwand entsprechend der
Beginn des automatisierten Fahrens ist mit einem verlängerten Strecke zwischen zwei „verursachten“
13 begrenzten Einsatzbereich zu rechnen, z. B. nur ein Unfällen um 5/3 erhöhen, wobei hier zu vermerken
Autobahnautomat. Daher sind die Referenzwerte ist, dass diese Strecke zumeist weit höher liegt als ein
14 dieser Einsatzbereiche zu verwenden. In . Tab. 62.1 Mensch in seinem Leben fahren kann.
finden sich die Referenzwerte für Pkws im Bezugs- Aber wie sieht es aus, wenn man trotzdem bei
15 raum Deutschland des Jahres  2013: Sie ergeben der Gesamtzahl der Unfälle bleiben will, da für die
sich über die Zahl der im Einsatzbereich zurück- Sicherheit die Verursacheraufteilung irrelevant ist?
gelegten Fahrleistung dividiert durch die Zahl der Zunächst wird angenommen, dass die Zahl der
16 Unfälle der jeweiligen Unfallklasse. Wenn nicht für nichtverursachten Unfälle sich nur wenig ändere,
alle Felder die Daten passend vorliegen, wurden sie da zumeist noch vom Menschen geführte Fahrzeuge
17 gemäß in der Tabellenlegende angegebener Weise diese verursachen. Somit kann selbst bei einem un-
geschätzt. fallverursachungsfreien autonomen Fahrzeug bes-
Anhand der in . Tab. 62.1 dargestellten Zahlen tenfalls einen Erwartungswertfaktor von 0,4 erreicht
18 sieht man zwei statistische Dilemmata: werden. Für den zuvor geforderten Erwartungswert-
Je schwerer und damit relevanter der Unfalltyp faktor von 0,5 darf das autonome Fahrzeug somit
19 ist, desto größer ist die Referenzstrecke. nur noch ein Sechstel so häufig Unfälle verursachen
Je einfacher die Funktion erscheint, z. B. für Au- (˛50 % D 0;5 D 40 % C 60 %=6 ). Alternativ bleibt
20 tobahnen, desto länger ist für den Sicherheitsnach- bei einem bezogen auf die Unfallverursachung dop-
weis zu fahren. pelt so gutem Fahrzeug nur ein Erwartungswert-
62.3  •  Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1177 62

faktor von (˛50 % D 0;7 D 40 % C 60 %=2 ), was jekt unter Test von einer nur halb so hohen Zahl
zu einem etwa dreifach höheren Streckenfaktor verursachter Unfälle mit Personenschaden ausge-
ref; acc  27 führen würde. gangen (d. h. Erwartungswertfaktor ˛50 % D 0;5
Als Argument gegen die alleinige Wahl der ver- und somit Streckenfaktor ref; acc  10 ). Somit
ursachten Unfälle ist die Ungewissheit der zuvor multipliziert sich die Nachweisstrecke auf 240 Mio.
genannten Annahme, dass die Zahl der nicht ver- km. Hier ist zu betonen, dass dieser Wert nur einer
ursachten Unfälle nicht beeinflusst wird. Es ist noch von vielen anderen Werten ist; aber er ist stellver-
offen, ob das Verhalten der autonomen Fahrzeuge tretend für die Größenordnung, in die man sich
Fehler anderer Verkehrsteilnehmer mehr oder begeben müsste, wenn der Sicherheitsnachweis
weniger kompensiert als bisher die menschlichen „über Strecke“ erfolgen sollte und das Ziel bestehen
Fahrer. So ist denkbar, dass trotz deutlich weniger würde, das Risiko gegenüber der Vergleichsgruppe
verursachter Unfälle die Zahl der Gesamtunfälle, in zu senken.
denen autonome Fahrzeuge involviert sind, steigt,
weshalb aus diesem Grund wiederum die Gesamt- Schlussfolgerungen
zahl zu betrachten wäre. Nachweisstrecken in der zuvor skizzierten Größen-
ordnung übersteigen die technischen, personellen
Vergleichsfahrzeug (jeweils aktueller Fahrzeugbe- und wirtschaftlichen Möglichkeiten heutiger Unter-
stand, nur fortschrittliche Fahrzeuge) Auch die nehmen. Selbst wenn dieser Aufwand für ein erstes
Unterscheidung nach dem Vergleichsfahrzeug fällt System unter Umständen gewagt würde, so ist doch
nicht leicht. Das Referenzgeschehen bezieht sich zu bedenken, dass dieser Test mit mindestens einem
auf die Unfallhäufung aller Fahrzeuge einer Klasse Drittel des Anfangsaufwands nach jeder System-
(z. B. alle Pkws). Wie die Vergangenheit gezeigt hat, modifikation erneut durchlaufen werden müsste,
führte der automobile Fortschritt zu einem höheren was offensichtlich ökonomisch nicht vertretbar ist.
Sicherheitsniveau und damit zur Senkung der Zahl Selbst mit einem deutlich besseren System mit Er-
der Unfälle mit Personenschaden. Gerade das erst wartungswertfaktor ˛50 %  0;23 bleibt mindestens
seit kurzem begonnene Ausrollen der unfallvermei- noch ein Drittel des Aufwands, s. Unterabschnitt
denden und kollisionslindernden Sicherheitssys- zur Statistik am Anfang von ▶ Abschn. 62.3.1.
teme in die Breite des Marktes lässt eine erhebliche Diese Argumente lassen den Schluss zu, dass
Senkung der Unfälle mit Personenschäden erwar- mit den bekannten Testverfahren zur Risikomes-
ten. Aus diesem Grund müsste eine deutlich höhere sung über Dauerlaufstrecke keine ökonomisch
Referenzstrecke (1,2- bis 2-fach) als die durch das vertretbare Entwicklung bzw. Zulassung von auto-
aktuelle Unfallgeschehen herangezogene verwendet nomen Fahrzeugen möglich ist. Dieser Aspekt hat
werden. durchaus das Potenzial für einen „Showstopper“
und wird auch als „Freigabefalle des autonomen
Beispielberechnung Fahrens“ bezeichnet.
Trotz der vielen Möglichkeiten, die die Betrachtun- Als besondere Ironie dieses Dilemmas ist her-
gen zur Statistik und Referenz aufweisen, soll an auszustellen, dass die Nachweisstrecke besonders
einem Beispiel die Größenordnung der Nachweis- lang wird, wenn Situationen automatisiert werden,
strecke berechnet werden, wobei dies beileibe kein die scheinbar einfach sind, weil dort auch nur we-
Worst-Case-Szenario ist: nige Unfälle pro Strecke passieren. Im Umkehr-
Dazu wird ein Autobahnautomat gewählt. So- schluss leitet sich die Empfehlung aus Testbarkeits-
mit beträgt die aktuelle Referenzstrecke für Unfälle gründen ab, doch mit Einsatzbereichen besonderer
mit Personenschäden 12  Mio. km. Nimmt man Unfallträchtigkeit zu starten. Dies wird aber auch
nun die für die Statistik eher günstige Hauptverur- schon vor der Validierungsphase deutlich werden,
sacherunfallzahl an und einen sehr konservativen nämlich in der Entwicklungsphase. Mit jeder Ver-
Verbesserungswert moderner Vergleichsfahrzeuge besserungsstufe wird eine immer größere Strecke
von 1,2, so erhält man eine Referenzstrecke von benötigt, um die Sicherheit zu bessern. Daher sind
24 Mio. km (= 12 · 1,2/0,6). Ferner wird für das Ob- Aussagen über 100.000 km oder 1 Mio. km ohne
1178 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

Unfall mit Personenschaden aus technischer Sicht Maße die aktuelle Entscheidung korrekt sein mag,
1 höchst beeindruckend, aber kaum relevant im Ver- ist zeitabhängig und wird vermutlich nur in einfa-
gleich zu den zwei bis drei Größenordnungen hö- chen Situationen bestimmbar sein. Alle anderen in
62 heren Sicherheitszielen. dieser bestimmten Situation möglichen Aktionen
und Reaktionen werden sich in dieser Weise nir-
gendwo und niemals wiederholen, und selbst die
3 62.3.2 Ausweg aus dem Testdilemma Schlussfolgerung, ob die Reaktion richtig war, lässt
sich nicht aus dem Ergebnis der Situation ableiten.
4 Dieses Testdilemma kann nur überwunden werden, Selbst wenn im Anschluss an eine Reaktion ein
indem eine drastische Kürzung der erforderlichen Unfall passiert, so kann die Reaktion dennoch im
5 Strecke erreicht wird. Bei Komponentenhaltbarkeit- Sinne einer Schadensminderung richtig gewesen
stests ist es üblich, zum einen aus dem Betriebsbe- sein. Genauso ist es möglich, dass eine falsche Ent-
lastungskollektiv diejenigen Teile zu selektieren, die scheidung als solche nicht negativ auffällt und nicht
6 die Komponente relevant beanspruchen, und durch zum Unfall führt, da die Umgebungskonstellationen
das Weglassen der irrelevanten Anteile eine erhebli- günstig sind. Damit stellt sich jedoch die Frage, was
7 che Verkürzung zu ermöglichen. Zum anderen wird dem bisherigen Denken von „richtig oder falsch“
auf Beschleunigungsmethoden zurückgegriffen, entgegengesetzt werden kann. Die Antwort ist so
d. h. höhere Lasten oder stärker beanspruchende einfach im Prinzip, wie sie schwierig in der Um-
8 Umgebungsbedingungen zur Belastung des Bau- setzung ist: Der Fahrroboter muss die Fahraufgabe
teils angewendet. Eine Adaption dieser Strategien sicherer ausführen als die menschliche Vergleichs-
9 auf den Sicherheitsnachweis für das autonome Fah- gruppe, beispielsweise erfahrene und sich auf der
ren scheint allerdings schwierig, da die Ausfallme- Höhe ihrer Gesundheit befindliche Vielfahrer. Dazu
10 chanismen nicht auf einem Ausfall der Funktion muss die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrroboters
beruhen, sondern auf falschen Entscheidungen, die bestehend aus Perzeptions-, Kognitions- und Ak-
zu Unfällen führen. Natürlich ist eine Systemsimu- tionsleistung mindestens so hoch sein wie die der
11 lation, sei es als Software-in-the-Loop (SIL) oder als Vergleichsgruppe. Kann man diese Leistungsfähig-
Hardware-in-the-Loop (HIL) zur Absicherung der keit messen, so lässt sich der Fahrroboter freigeben;
12 Funktion denkbar und für die Entwicklung unver- auch auf andere Felder der Robotik kann diese Aus-
zichtbar. Es wird jedoch nicht annähernd möglich sage übertragen werden, wie z. B. humanoide Haus-
sein, die Vielfalt der im Straßenverkehr möglichen haltsroboter.
13 Varianten darzustellen, die einer Fahrstrecke von Eine allgemeine Metrik zum Ausdrücken der
mehreren Millionen Kilometern entspricht und Perzeptions-, Kognitions- und Aktionsleistungs-
14 für alle Nutzergruppen repräsentativ ist. Diese fähigkeit von Robotern und Menschen ist bisher
letzte Überlegung zum Testdilemma ist es aber, nicht bekannt: Ein Beispiel findet man jedoch bei
15 die einen Ausweg aufzeigt: Selbst wenn man alle den Spielen Schach und Go, einem Bereich, in dem
relevanten Zustände für ein Testprogramm darstel- der Computer die Leistungsfähigkeit des Menschen
len könnte, so wäre in manchen Situationen nicht erreicht und zum Teil schon übertroffen hat. Zwar
16 mehr entscheidbar, welche Systemreaktion richtig ist das Schachspiel grundsätzlich nicht probabilis-
oder falsch ist, da diese Frage nicht vom Ego-Sys- tisch, aber durch die schiere Zahl der möglichen
17 tem allein beantwortet werden kann. Insbesondere Zugkombinationen nicht in endlicher Zeit bere-
wenn die Aktionen und Reaktionen anderer Ver- chenbar, wodurch der Schachcomputer nach heu-
kehrsteilnehmer antizipiert werden sollen, kann ristischen Algorithmen Entscheidungen treffen
18 eine hundertprozentig richtige Annahme nicht er- muss, die zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht
wartet werden, da über die Reaktionsmodelle der als richtig oder falsch bewertet werden können.
19 einzelnen Verkehrspartner keine individuelle und Wenn er etwas „richtiger“ entscheidet, kann aber
momentane Korrektheit erreicht werden kann. Die erwartet werden, dass er mehr Partien gewinnen
20 Systemreaktionen nehmen somit probabilistischen wird als ein menschlicher Spieler. Diese erwartete
Charakter an, und die Bewertung, in welchem Spielstärke eines Go- oder Schachspielers wird
62.3  •  Problemfeld Absicherung des autonomen Fahrens
1179 62

anhand seiner Elo-Zahl (offiziell: „FIDE rating“) merkenswerte Leistungsfähigkeit erreicht, wobei
ausgedrückt: Sie beschreibt die erwarteten Punkte- die Wahrnehmung sehr komplexer Situationen,
zahlen einer Partie und ist Teil eines von Arpad E. z. B. dem Verkehr um den Triumphbogen in Pa-
Elo entwickelten objektiven Wertungssystems [12]. ris, noch nicht gelingt. Fahrer, die nicht in Paris
Einschränkend für dieses Beispiel ist zu nennen, heimisch sind, fühlen sich allerdings in dieser Si-
dass zwar sowohl Computer als auch menschliche tuation möglicherweise ebenfalls überfordert und
Spieler eine Elo-Zahl erhalten, diese aber jeweils an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Gleichwohl
nur aus Partien zwischen gleichen Kategorien er- zeigt die verhältnismäßig geringe Anzahl an Un-
mittelt werden (Mensch vs. Mensch bzw. Computer fällen, die geschehen – harmlose Blechschäden
vs. Computer). Trotzdem lässt sich festhalten, dass ausgenommen – dass der Mensch auch solchen
für einen kleinen Bereich damit zwei der Vorausset- Situationen gewachsen ist. Vergleichsweise gering
zungen erfüllt sind, die an eine Metrik zur Freigabe ist momentan noch die maschinelle Kognitions-
von Roboterfunktionen gestellt werden: Zum einen leistung, insbesondere was die Entscheidungsfle-
ist mit der Elo-Skala ein (zumindest theoretischer) xibilität angeht. Vor allem erscheint es noch sehr
Vergleich menschlicher Leistungsfähigkeit mit der schwierig, den Lernprozess des Menschen nachzu-
des Roboters möglich, zum anderen ist mit dieser bilden. Diesen Lernprozess erlebt jeder Autofahrer
Metrik eine absolute Klassifizierung möglich, da nach seiner Fahrausbildung, und ohne diese Erwei-
mit der Elo-Zahl beispielsweise zugeordnet werden terung der Fahrfertigkeiten wären wir sicherlich
kann, ob jemand Amateur oder Großmeister ist. einem höheren Straßenverkehrsrisiko ausgesetzt.
Gäbe es eine solche Metrik auch für Fahrroboter, so Die Aufteilung in die drei Domänen könnte vor-
könnte in Übereinstimmung mit der ISO 26262 für teilhaft für eine Entkopplung der Bewertung ge-
bestimmte Automatisierungsgrade eine definierte nutzt werden: Eine Änderung im Sensorbereich
Fähigkeitsklasse festgelegt werden. kann allein auf der Perzeptionsmetrik zertifiziert
Allerdings kann dieser Ansatz aus dem Schach- werden, ohne dass es erforderlich wäre, die ande-
bereich nicht direkt auf den Fahrroboter übertragen ren zwingend mit zu zertifizieren. Aus gleichem
werden, da der Elo-Wert über den direkten Ver- Grunde kommt es zu einer entsprechenden Mo-
gleich, sprich über die Gewinn-/Verlustbilanz von dularisierung bei der Entwicklung der autonomen
Gegnern einer gegebenen Stärke, ermittelt wird. Fahrzeuge, vgl. ▶ Kap. 61 oder [13, 14].
Weiterhin wird nur die kognitive Leistung gemes- Zurückkehrend zu den vorigen Überlegun-
sen; die der Perzeption erfolgt idealisiert, denn dem gen, dass nur Fahrroboter, die den Menschen in
Schachcomputer wird die Stellung der Schachfigu- der Fahrzeugführung ersetzen, diesen hinsichtlich
ren korrekt und vollständig übermittelt, während der Sicherheit überlegen sein müssen, damit eine
im Straßenverkehr weder dem Fahrer noch dem Chance auf Zulassung besteht, lassen sich zwei
Fahrroboter alle Informationen in dieser Weise zur Schlussfolgerungen ableiten: Die Fahrroboter ha-
Verfügung stehen werden. Eine solche Fülle an In- ben noch ein großes Stück der Entwicklung vor sich,
formationen, wenn sie denn vorläge, wäre darüber doch unter der Voraussetzung einer anerkannten
hinaus in der Praxis nicht mehr zu filtern und zu Metrik für die Fahrleistungsfähigkeit können sie
verarbeiten. Für ein technisches System wie einen dem Menschen überlegen werden. Diese Metrik, die
Fahrroboter wäre daher die Gesamtaufgabe in drei durchaus sehr spezifisch für bestimmte Einsatzbe-
Domänen aufzuteilen und mit jeweils einer geson- reiche sein kann, ist unabdingbare Voraussetzung
derten Metrik zu belegen. für eine zielgerichtete Entwicklung der autonomen
Wie die Kapitel über die Aktorsysteme zeigen, Funktionen, und ihre Entwicklung stellt aus Auto-
reichen die maschinell möglichen Ausführungs- rensicht den kritischen Pfad der Entwicklung des
fähigkeiten schon sehr nahe an die menschlichen autonomen Fahrzeugs dar:
Fähigkeiten heran: In Teilbereichen gehen sie be- Solange keine Metrik in allgemein akzeptierter
reits darüber hinaus, wie z. B. die Einzelradrege- Form existiert, wird ein breiter Einsatz autonomer
lungen oder die Hinterachsverstellung. Zwar hat Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr nicht er-
auch die maschinelle Perzeption schon eine be- reicht werden.
1180 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

62.3.3 Möglicher Weg zu einer Metrik Die Metrik verwendet ökonomisch durchführbare
1 Testverfahren zur Einstufung.  Gerade die Unbe-
Die Anforderungen an eine solche Metrik lauten: zahlbarkeit war, wie bereits zuvor geschildert, der
62 Grund für die Abkehr von der etablierten Frei-
Die Metrik ist valide für den jeweiligen Einsatzbe- gabemethodik. Das neue Verfahren muss daher
reich. Diese Anforderung lässt sich im Grunde deutlich kostengünstiger sein. Reale und virtuelle
3 nicht erreichen, denn erst mit dem Einsatz der Me- Testparcours mit hohem Schwierigkeitsgrad mö-
trik werden die benötigten Fähigkeiten vollständig gen hier einen Ausweg bieten, wobei die Schwie-
4 klar. Allerdings trifft dies auf heutige Entwicklungen rigkeiten repräsentativ für den Einsatzbereich sein
ebenso zu. Hier hilft man sich mit Übertragungen müssen.
5 aus ähnlichen Bereichen, doch dieser Lösungsweg
bedeutet gleichzeitig, dass viele Zwischenstufen Die Metrik darf selbst keine Handlungsmuster fa-
auf dem Weg zum autonomen Fahren eingeführt vorisieren, sondern gerade die Fähigkeit ermit­teln,
6 werden müssen. Nur wenn genügend Erfahrungen in unbekannten Zuständen angemessen zu agie-
mit ähnlichen Systemen vorliegen, lässt sich die ren.  Hiermit ist gemeint, dass kein Training auf die
7 Metrik eichen und mit vertretbarem Restrisiko auf Testmuster erfolgen darf, weil dies zu einer Minde-
die nächste Erweiterung übertragen: Die Validie- rung der Handlungsflexibilität führen würde. Dies
rungsstrategie bestimmt daher die Migrations- und ist auf jeden Fall zu verhindern, da gerade diese
8 Einführungsstrategie und nicht die Entwicklung der Flexibilität überhaupt die Extrapolation von einem
technisch möglichen Funktionen. Testparcours auf den gesamten Einsatzbereich er-
9 laubt.
Die Metrik erlaubt einen Vergleich der Fahrfähigkei- Alle genannten Anforderungen sind sehr an-
10 ten zwischen Mensch und Roboter.  Dies ist vielleicht spruchsvoll. Da aus Autorensicht aber nur mit ei-
die am schwierigsten umzusetzende Anforderung, ner solchen Metrik die Einführung von autonomen
denn sie setzt voraus, dass menschliche Fähigkeiten Fahrzeugen in den öffentlichen Straßenverkehr
11 gemessen und in einer der Fahraufgabe angemes- möglich ist, wird ihre Entwicklung Zeitpunkt und
senen Weise gewichtet werden. Eine Aufteilung Strategie der Einführung bestimmen. Die noch zu
12 auf die drei Domänen wird zwar in arbeitswissen- leistenden Vorarbeiten haben durchaus die Grö-
schaftlichen Modellen durchgeführt, allerdings ßenordnung des Genom-Projekts und werden
lässt sich die Perzeptionsleistung nicht von der viele hundert Personenjahre an Forschung bean-
13 Kognitionsleistung trennen. Bei der Ausführungs- spruchen. Dafür erscheint eine Neuausrichtung der
leistung ist es dagegen möglich, auch wenn durch Computer-Intelligenz-Forschung erforderlich zu
14 Rückwirkungen eine Überkopplung auftreten kann. sein, da die aktuellen Forschungsaktivitäten diese
Aus diesen Gründen bleibt zumindest bis zur Eta- Thematik der Absicherung noch zu gering priori-
15 blierung der Metriken nichts anderes übrig, als die sieren.
kombinierte Leistung von Perzeption und Kogni-
tion von Mensch und Maschine zu vergleichen.
16 Sind die relevanten Niveaus für eine Einstufung 62.4 Evolution
erst einmal etabliert, so lässt sich die Aufteilung zum autonomen Fahren
17 von Perzeptions- und Kognitionsleistung bei Ma-
schinen separat betrachten. Abweichend zu den Darstellungen in den ersten bei-
den Auflagen, in denen eine Evolutions-Roadmap
18 Die Metrik lässt eindeutige Klassenstufen zu. Diese mit zeitlichen und funktionalen Abhängigkeiten
Anforderung wird für eine Zertifizierung benötigt, dargestellt wurde, wird hier ein Ansatz vorgestellt,
19 damit analog zu Automotive Safety Integrity Levels der von drei Evolutionsstartpunkten ausgeht. Wie
der ISO 26262 eine Einstufung erfolgen kann. Hier- ein Farbdreieck kann das autonome Fahren als
20 für sind geeignete Grenzwerte und Gewichtungen Komposition von drei Grundformen betrachtet
einzelner Merkmale zu erarbeiten. werden (s. . Abb. 62.5):
62.4  •  Evolution zum autonomen Fahren
1181 62
.. Abb. 62.5 Evolution
zum autonomen Fahren,
ausgehend von den drei
Das Dreieck des ACC:
LKS:
Adapve Cruise Control
Lane Keeping Support
Startpunkten in den Ecken
zur Mitte des autonomen
autonomen L²A:
FSR-ACC:
Longitudinal & Lateral Assist.
Full-Speed-Range-ACC

Fahrens Fahrens

Risk Em-A: Emergency Assist


Speed
CA-E: Collision Avoidance by Evading AVP: Autonomous Valet-Parking
CA-B: Collision Avoidance by Braking AP: Automated Parking
CMB Collision Migaon by Braking PSA: Park Steering Assist

Einfache Szenarien:  Ausgangspunkt dieser Richtung gert werden. Sobald nicht sichergestellt ist, dass der
bilden die beiden Systeme Adaptive Cruise Control Fahrraum über diese Distanz frei ist, kann über
(ACC, s. ▶ Kap. 46) und Lane Keeping Assist (LKAS, einen solchen Stillstand nicht nur eine sichere Si-
s. ▶ Kap. 49), deren Funktion sich auf die Frei- und tuation geschaffen werden, sondern eine Übergabe
Folgefahrt innerhalb eines Fahrstreifens bei höheren an einen Fahrer oder, per Fernbedienung, an einen
Geschwindigkeiten konzentriert. Die Limitierung Operator erfolgen, die dann die Verantwortung für
der Eingriffsstärke hinsichtlich Beschleunigung die Fahrtfortsetzung übernehmen.
(ACC) und Lenkradmoment (LKAS) erlaubt die
Automatisierung im Komfortbereich, nicht aber Hochrisiko-Situationen: Wie in ▶ Kap. 47 und
für Situationen mit höherer Eingriffsdynamik; das ▶ Kap. 48 dargelegt wurde, können automatische
gilt auch für die kombinierten Längs- und Quer- Eingriffe das Unfallrisiko erheblich senken, wenn
führungssysteme. Die Grundauslegung der Systeme die Fahrsituation derart kritisch einzustufen ist, dass
stützt sich auf die Übernahmefähigkeit des Fahrers. das Risiko ohne Eingriff höher erscheint als mit Ein-
griff. Die ersten Systeme dieses Evolutionsstrangs
Niedrige Geschwindigkeit: Ausgehend von der waren die kollisionsfolgenlindernden Notbremssys-
schon länger verfügbaren Parkunterstützung durch teme. Die Funktionalität wurde in Folgesystemen
aktive Querführung wird sich dieser Strang über auch für kollisionsvermeidende Bremsungen er-
die Vollautomatisierung des gesamten Einparkvor- weitert und auch Ansätze zum Notausweichen in
gangs bis hin zum automatischen Valet-Parking definierten Situationen sind absehbar. Ein Nothal-
entwickeln. Der große Vorteil der Automatisierung teassistent bei erkannter Fahrunfähigkeit des Fah-
des Fahrens bei niedrigen Geschwindigkeiten liegt rers aufgrund gesundheitlicher Probleme setzt diese
in der einfachen Fail-Safe-Strategie. Innerhalb ei- Ausrichtung fort, verlangt aber ein deutlich größe-
ner kurzen Distanz kann in den Stillstand verzö- res Reaktionsrepertoire.
1182 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

Kombinationen: Schon jetzt fassen Fahrerassis- abhängig davon, ob ein Fahrer verfügbar wäre oder
1 tenz(-pakete) Funktionalitäten aus den genannten nicht) auf konzeptionelle Grenzen, die nicht ohne
Startrichtungen zusammen. Beispiele sind Full „Import“ aus den anderen Ecken überschritten
62 Speed Range-ACC (s. ▶ Kap. 46) und der Stauas- werden können. Trotzdem bleiben noch viele Fra-
sistent (s. ▶ Kap. 52). Auch der spurkorrigierende gen der Technik, der rechtlichen Aspekte und der
Bremseingriff, der erst bei Erkennung von Gegen- Nutzerakzeptanz offen, die auch eine solche Evolu-
3 verkehr ein Fahrstreifenverlassen (s. ▶ Kap. 49) ver- tionsbetrachtung auf das Niveau eines, wenn auch
hindert, kann als Kombination angesehen werden. geschulten, Blicks in die Glaskugel verweist.
4 Eine als Safety-Corridor bezeichnete Funktionalität
im Projekt PRORETA 3 [15] setzt dies fort, in dem
62.5 Zukünftige
5 eine permanente Überwachung des Sicherheitsspiel-
Forschungsschwerpunkte
raums erfolgt und bei Annäherung an die Spiel-
raumgrenzen informierend und ggf. eingreifend
6 die Sicherheitsreserve zurückgewonnen wird. Mit Nach dem Überblick über zukünftige Einflüsse,
Cooperative Guidance sind Konzepte der manöver- detaillierter Beleuchtung der Absicherungsproble-
7 basierten kooperativen Automation, s. ▶ Kap. 58, matik und der Vorstellung des Evolutionsdreiecks
speziell des Conduct-by-Wire, s. ▶ Kap. 59, gemeint. zum autonomen Fahren werden abschließend die
Aufgrund der anders konzipierten Arbitrierung des Forschungsschwerpunkte für die Zukunft formu-
8 H-Mode-Konzepts, s. ▶ Kap. 60, sind die Grenzen liert. Diese als Handlungsempfehlung gedachten
zwischen einer Safety-Corridor-Funktion und einer Schwerpunkte sind ebenfalls dem Uni-DAS-Posi-
9 automatisierten Längs- und Querführung fließend, tionspapier [1] entnommen.
ohne aber der Vollautomation näherzukommen, nur
10 ist die Fahrereinbindung umfangreicher gestaltet.
62.5.1 Individualisierung
Die Kombination von Risikobewertung und
Niedriggeschwindigkeitsautomation könnte zu
11 einer erweiterten Anwendung eines City-Shuttles Noch ist die Fahrerassistenz zurzeit weder auf alle
(z. B. [16]) führen, wie sie in Modellversuchen in Verkehrsteilnehmergruppen ausgerichtet, noch ist
12 Singapur und Stanford [17] bereits erprobt wird. sie an individuellen Bedürfnissen oder Präferen-
Hierbei ist der Vorteil, dass solche Fahrzeuge nicht zen orientiert. Für bestehende Funktionalitäten
bisherige Fahrer-Fahrzeug-Einheiten automatisie- kann vermutlich in den meisten Fällen über ge-
13 ren, sondern damit neue Mobilitätsdienste geschaf- eignete Mensch-Maschine-Interaktionskonzepte
fen werden, die von vornherein fahrerlos ausgelegt dieses Defizit ausgeräumt und einem größeren
14 sind. Sie müssen sich weder in Hinblick auf die Nutzerkreis zur Verfügung gestellt werden. Aber
Fahrleistung noch hinsichtlich der Fahrsicherheit es fehlt nicht nur an adäquater Funktionsausle-
15 mit herkömmlich gefahrenen Automobilen mes- gung, sondern auch an Funktionen, die spezifisch
sen, da sie ein anderes Fahrprofil bedienen, für das die Notwendigkeiten einzelner Nutzergruppen
keine Referenzwerte existieren und dank der nied- adressieren. Besonders offensichtlich ist dieser
16 rigen Geschwindigkeit grundsätzlich ein geringeres Mangel im Bereich der älteren Autofahrer, für
latentes Grundrisiko unterstellt werden kann. Die die Fahrerassistenzsysteme der Schlüssel zu einer
17 technische Weiterentwicklung kann dann sukzes- möglichst langen individuellen Mobilität sind.
sive die Fahrgeschwindigkeit nach oben ausbauen Aber auch jüngere Autofahrer werden mit den
und auch die Einsatzbereiche vergrößern. bisherigen Ansätzen nicht erreicht, obwohl sie im
18 Unfallgeschehen eine weit überproportionale Rolle
Synthese Jede der zuvor genannten Richtungen spielen. Fahrerassistenzsysteme für Motorradfah-
19 liefert marktfähige Basisanwendungen und damit rer müssen sowohl für die Fahrzeugart als auch
die Grundlage für eine technologische Weiterent- die Nutzergruppe individualisierbar sein. Eben-
20 wicklung und zunehmender Funktionsreife. Aber falls sehr spezifisch ist die Gruppe der Lkw- und
alle stoßen in Hinblick auf autonomes Fahren (un- Busfahrer, die wegen der hohen Fahrleistung und
62.5 • Zukünftige Forschungsschwerpunkte
1183 62

den schweren Fahrzeugen zu besonders tragischen


Unfallereignissen beitragen. Nach der Einführung - Neue Mensch-Maschine-Schnittstellen zum
Eintauchen in ein integriertes Fahrer/Fahr-
von Notbrems- und Spurhalteassistenzsystemen
in den nächsten Jahren sollte das Unfallgeschehen
neu analysiert und der Bedarf für weitere Unter- -- zeug-System;
Fahrerintentionserkennung;
Konzepte für die Kooperation von Fahrer und
stützung extrahiert werden.
Insgesamt ist die Funktionsentwicklung mehr
- Fahrzeug bei hoher Automatisierung;
Erzielen von hedonischer Qualität für Akzep-
auf diesen Aspekt einer den Individuen gerecht
werdenden Nutzung auszurichten. Bei zukünftigen
Assistenzfunktionen, insbesondere mit höherem
Automatisierungsgrad, ist auf ein optimales Zu-
- tanz und Markterfolg;
internationaler Fahrerassistenzsystem-Ansatz
zur länder- und kulturübergreifenden Akzep-
tanz.
sammenspiel von Mensch und Maschine zu achten.
Neue Schnittstellentechniken für Anzeige und Be-
dienung sollten ein „Eintauchen“ des Fahrers in ein 62.5.2 Maschinelle Perzeption
integriertes Fahrer/Fahrzeug-System ermöglichen, und Kognition
das – im übertragenen Sinne – von der Absicht des
Fahrzeugführers gesteuert wird. Dies betrifft aber Heutige Sensoren erfassen zwar die Fahrzeugum-
nicht nur die Schnittstellenelemente, sondern die gebung bis zur Rundumsicht, von einem Situati-
gesamte Funktionalität für eine intuitive Aufga- onsverstehen ist die Entwicklung jedoch noch weit
benteilung ohne Gefahr der Konfusion, auch wenn entfernt. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die
ein höherer Automatisierungsgrad genutzt werden Objektklassifikation zur Unterscheidung der großen
kann. Alle Zwischenstufen zum vollautomatischen, Vielfalt an verkehrsrelevanten Objekten, auch unter
dann fahrerlos agierenden Fahrzeug benötigen Kon- dynamischen Bedingungen, deutlich zu verbessern,
zepte zur Interaktion, sei es zur Beauftragung und die Abhängigkeiten der Objekte untereinander und
Rücknahme der Fahrfunktion als auch zur explizi- der Einbettung in die Infrastruktur zu erkennen
ten oder impliziten Steuerung. Da die Fortschritte sowie die Verlässlichkeit der Umfeldinformation
nur über einen Markterfolg zu erreichen sind, wer- und Situationsinterpretation zu beschreiben. Nur
den diese Systeme eine hohe hedonische Qualität so lassen sich situationsgerechte Fahrfunktionen
besitzen müssen, eine Herausforderung nicht nur oder Korrektureingriffe auch in komplexeren Um-
für das „Look-and-Feel“ des System-Designs. Spä- gebungen realisieren. Für die Informationsgewin-
testens beim Überdenken dieses Punktes wird die nung werden deutlich mehr Quellen benötigt als in
ortsbezogene Ausprägung der Assistenzfunktionen heutigen Fahrzeugen bisher gezeigt. Eine besondere
als neue Herausforderung auftauchen. Sowohl für Rolle werden hochgenaue digitale 3D-Karten sowie
den Markterfolg als auch für eine weiter erhöhte hochgenaue Eigenlokalisierungssysteme spielen.
Verkehrssicherheit sind lokal angepasste oder sogar Vor allem über neue Auswertekonzepte (sowohl
lokal unterschiedliche Konzepte notwendig. Diese Hardware als auch Algorithmen) der bekannten
Arbeiten müssen international angegangen werden, Sensorprinzipien sollte sich die Leistungsfähigkeit
um den verschiedenen Gesellschaften, Wirtschafts- bei gleichzeitig fallenden Kosten steigern lassen. Die
räumen und Rechtssystemen gerecht zu werden. bildverarbeitende Kameratechnik sowie auf Mikro-
wellen- und Licht basierende aktive Sensoren bieten

-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Assistenzfunktionen, die die spezifischen
Anforderungen spezieller Nutzergruppen
adressieren, vordringlich ältere und jüngere
noch viel Potenzial für die Generierung eines hoch-
auflösenden und verlässlichen Umfeldmodells, das
die Basis für das Situationsverstehen bildet. Metho-
den zur Beschreibung des Umfelds einschließlich

- Autofahrer sowie Motorradfahrer;


Analyse des Unfallgeschehens Nkw nach
Einführung von Notbrems- und Spurhalteas-
sistenzsystemen;
der Informationsqualität sind weiterzuentwickeln,
damit sich daran ein „Verständnis“ der Situation an-
schließen kann, was sich ebenfalls als ein zukünfti-
ges Forschungsschwerpunktsthema erweisen wird.
1184 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

Eine große Rolle wird dabei die Verhaltensvorher- Erst recht problematisch wird die Situation, wie in
1 sage des eigenen Fahrzeugs sowie der anderen Ver- ▶ Abschn. 62.3 ausführlich dargelegt, wenn Funk-
kehrsteilnehmer spielen, die nur über Absichts- und tionen vom Menschen zur Maschine übertragen
62 Verhaltensmodellierung eine hinreichende Qualität werden, bei denen auch auf nicht vorhergesehene
erreichen kann. Situationen reagiert werden muss. Hier wird dann
vor einer Markteinführung der Nachweis erbracht

-
3 Zukünftige Schwerpunktaufgaben: werden müssen, dass diese Aufgabe mit höchstens
Weiterentwicklung der Algorithmen zur dem gleichen Risiko übernommen wird wie zuvor
4 Fahrumgebungserfassung für komplexere vom Fahrer. Dies wirft gleich zwei Probleme auf: die

5 - Szenarien, insbesondere in der Innenstadt;


Weiterentwicklung von Sensorhard- und -soft-
ware für eine höhere Informationsdichte und
Messung der maschinellen und die der menschli-
chen Leistungsfähigkeit. Für beides fehlt eine valide
Methodik, für eine beides vergleichend bewertende

6
- -qualität;
Methoden und Algorithmen zum Situations-
sowieso, ebenso für die Kombination von Fahrer
und Assistenzsystem. Da von einer kurzfristigen

7 - verstehen mit sicherheitsrelevanter Qualität;


Generierung, Bereitstellung und Nutzung
Lösung dieses Problems nicht ausgegangen werden
kann, entsteht ein kritischer Pfad, der die technische

8 - lokaler dynamischer Karten;


Absichts- und Verhaltensmodelle zur Ver-
haltensprädiktion des Fahrers und anderer
Entwicklung der Fahrerassistenzsysteme auf Jahr-
zehnte ausbremsen könnte.

9
Verkehrsteilnehmer.

-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Test- und Bewertungsmethoden für die
maschinelle Wahrnehmung und für (teil-)

-
62.5.3 Bewertungsmethoden
10 automatische Assistenzfunktionen;
Konzepte für die Bewertung der Leistungsfä-
Konzentrierte sich die Fahrerassistenzforschung higkeit von menschlichem und maschinellem
11 in der Vergangenheit fast allein auf technologi- Fahren.
sche Durchbrüche, so verschiebt sich nun der
12 Schwerpunkt: Bewertungsmethoden erhalten ein
deutlich höheres Gewicht. Ohne geeignete und 62.5.4 Vernetzung
allgemein akzeptierte Bewertungsmethoden kön-
13 nen Funktionen mit einem Schadenspotenzial im Anders als die drei ersten Schwerpunkte konzent-
Falle eines Funktionsfehlers nicht in den Markt riert sich der vierte Bereich nicht auf die Assistenz
14 eingeführt werden. Herkömmliche Testmethoden im Fahrzeug, sondern auf die Einbindung in das
und -maßstäbe reichen bei weitem nicht aus, um gesamte Verkehrsnetzwerk. Mit vorhandenen In-
15 zukünftig immer komplexer werdende Assistenz- formationsnetzen, vor allem aber zukünftigen Ve-
funktionen mit maschineller Wahrnehmung abzu- hicle-to-X-Netzen, eröffnen sich viele neue Mög-
sichern. Daher finden sich heute nur „harmlose“ lichkeiten zur Gesamtoptimierung. Daher sollten
16 Assistenzfunktionen oder Funktionen mit sehr gut die bestehenden Ansätze zu einer Einführungsreife
überschaubarem Funktionsumfang wie die automa- weiterentwickelt werden, um schnellstmöglich über
17 tische Notbremsung im Markt. Das abzusehende den Austausch von Information, die Sicherheit der
Funktionswachstum und die Ausdehnung der Ein- einzelnen Teilnehmer zu erhöhen.
satzbereiche werden ohne eine entsprechende Wei- Daran sollten sich bald neue Zukunftskon-
18 terentwicklung der Test- und Bewertungskonzepte zepte anschließen, die ausgehend von einer hohen
auflaufen. Angefangen vom Test der maschinellen Durchdringungsrate von Fahrerassistenzsystemen
19 Perzeption über den Test des gewünschten wie ein optimales Verkehrssystem mit minimalem
auch des fehlerhaften Funktionsverhaltens bis hin Ressourceneinsatz und möglichst hoher Sicherheit
20 zur Akzeptanzbewertung fehlen Konzepte, die eine ermöglichen. Diese Konzepte sollten nicht nur ein-
wirtschaftlich vertretbare Durchführung erlauben. zelne Fahrten von A nach B betrachten, sondern
Literatur
1185 62

auch die Schnittstellen zum ruhenden Verkehr und einen gesellschaftlichen und ggf. auch politischen
zu anderen Verkehrsträgern für eine verbesserte Diskurs sorgen, ohne dass größere schon getätigte
Intermodalität einschließen. Aber auch die Assis- Investitionen damit gefährdet werden [20]. Auch
tenzsysteme müssen dafür geändert, insbesondere hinsichtlich der gesellschaftlichen Aspekte, bei-
kooperationsfähig werden, damit sie auch kollektiv spielsweise der gesellschaftlichen Auswirkung und
verbessert agieren können. Eine besonders reizvolle Wegbereitung des hochautomatisierten oder auto-
Vision ist die des „deterministischen“ Verkehrs, bei nomen Fahrens, wird zukünftig interdisziplinärer
dem in einem hohen Maße die Fahrt wie geplant Forschungsbedarf gesehen.
verläuft und der Verkehrsteilnehmer sich in einem
imaginären Raum-Zeit-Slot bewegt.
Danksagung

-
Zukünftige Schwerpunktaufgaben:
Einbindung der Vehicle-to-X-Netzwerke für Für die Übernahmemöglichkeit der ▶ Abschn. 62.1,

- mehr Sicherheit,
kollektive Bereitstellung verlässlicher lokaler
62.2 und 62.5 aus dem Uni-DAS-Positionspapier wird
den Kollegen der Uni-DAS e. V. herzlich gedankt.

- Verkehrsinformation,
kollektive Verkehrsführung auf Basis koopera-
Den Koautoren der ersten, Frau Dr. Gabriele
Wolf, und der zweiten Auflage, Herrn Dr. Weitzel,

- tiv agierender Einzelsysteme,


durchgängige Missionsplanung mit hoher
wird für die früheren Beiträge, die dieses Kapitel
bisher stark mitgeprägt haben, ebenfalls herzlich

- Vorhersagesicherheit,
Nutzungsoptimierung über Konzepte determi-
nistischer Verkehrssysteme.
gedankt.

Literatur

62.5.5 Gesellschaftliche 1 Bengler, K., Dietmayer, K., Färber, B., Maurer, M., Stiller, C.,
Forschungsaspekte Winner, H.: Die Zukunft der Fahrerassistenz – Ein Strategie-
papier der Uni-DAS. Uni-DAS e. V., Darmstadt (2014). http://
www.uni-das.de/documents/Strategiepapier_Uni-DAS.pdf
Die vorhergehenden Schwerpunkte zeigen die aus 2 Blumenthal, F.: Vernetzt und autonom. ATZ Agenda , 20–23
technischer Sicht erforderlichen Forschungsfelder (2013)
auf, die auf der Expertise der Autoren in diesen 3 simTD-Konsortium: Sichere Intelligente Mobilität – Testfeld
Deutschland; Projekt-Homepage http://www.simtd.de, Zu-
Technikbereichen gründen. Allerdings sind da-
griff Nov. 2014 (2014)
mit nicht alle relevanten Themen angestoßen. Die 4 Ko-FAS: Kooperative Sensorik und kooperative Perzeption
Fahrerassistenzsysteme reflektieren nicht allein für die präventive Sicherheit im Straßenverkehr http://
den technologischen Fortschritt, sondern werden www.kofas.de/, Zugriff Nov. 2014 (2014)
für Menschen entwickelt, die es kaufen und nutzen 5 Saust, F., Wille, J., Maurer, M.: Energy-optimized driving
with an autonomous vehicle in urban environments IEEE
sollen. Sie verändern die individuelle und auch kol-
Vehicular Technology Conference (VTC Spring), Yokohama,
lektive Sicherheit, sie verändern die Mobilität der Japan. (2012)
einzelnen ebenso wie von Gruppen. Die Entwick- 6 Intelligent Apps GmbH: Firmenhomepage https://www.
lung der Assistenzsysteme wird stimuliert durch die mytaxi.com, Zugriff Nov. 2014 (2014)
Marktakzeptanz oder auch zurückgeworfen, wenn 7 Uber Technologies, Inc.: Firmenhomepage https://www.
uber.com, Zugriff Nov. 2014 (2014)
gesellschaftliche Vorbehalte [18, 19] vorliegen. An-
8 Bläser, D., Arch, M., Schmidt, A.: Mobilität findet Stadt. Zu-
dererseits können Assistenzsysteme insbesondere kunft der Mobilität für urbane Metropolräume. In: Proff, H.,
mit hohem Automatisierungsgrad selbst eine Verän- Schönharting, J., Schramm, D., Ziegler, J. (Hrsg.) Zukünf-
derung des Verkehrsverhaltens induzieren und mit tige Entwicklungen in der Mobilität. Betriebswirtschaftli-
neuen Geschäftsmodellen die Mobilitätslandschaft che und technische Aspekte, S. 501–515. Springer Gabler,
Wiesbaden (2012)
erheblich verändern. Eine frühzeitige proaktiv
9 Terporten, M., Bialdyga, D., Planing, P.: Veränderte Kunden-
betriebene Technikfolgenabschätzung kann Kon- wünsche als Chance zur Differenzierung. Herausforderun-
fliktpotenziale schon im Ansatz aufzeigen und für
1186 Kapitel 62  •  Quo vadis, FAS?

gen für das Marketing am Beispiel neuer Mobilitätskon-


1 zepte. In: Proff, H., Schönharting, J., Schramm, D., Ziegler,
J. (Hrsg.) Zukünftige Entwicklungen in der Mobilität. Be-
triebswirtschaftliche und technische Aspekte. S. 367–382.
62 Springer Gabler, Wiesbaden (2012)
10 Statistisches Bundesamt: Verkehrsunfälle Zeitreihen 2013;
Zugriff über
3 11 Lerner, M., Schepers, A., Pöppel-Decker, M., Leipnitz, C., Fit-
schen, A.: Voraussichtliche Entwicklung von Unfallanzah-
len und Jahresfahrleistungen in Deutschland - Ergebnisse.
4 Bundesanstalt für Straßenwesen, (2013)
12 Elo, A.: The Rating of Chess Players, Past and Present. Arco

5 13
Pub, New York (1978)
Langer, D., Switkes, J., Stoschek, A., Hunhnke, B.: Enviro-
ment Perception in the 2007 Urban Challenge: Utility for

6 Future Driver Assistance Systems 5. Workshop Fahrerassis-


tenzsysteme, Walting. (2008)
14 Darms, M., Baker, C., Rybksi, P., Urmson, C.: Vehicle Detec-
7 tion and Tracking for the Urban Challenge 5. Workshop
Fahrerassistenzsysteme, Walting. (2008)
15 Cieler, S., Konigorski, U., Lüke, S., Winner, H.: Umfassende
8 Fahrerassistenz durch Sicherheitskorridor und kooperative
Automation. ATZ (10)20 (2014)
16 INDUCT: Navia – A self-driving shuttle at the service of ur-
9 ban mobility; Zugriff: Juli 2014
17 Beiker, S.: Implementation of a Self-Driving Transportation
System. In: Maurer, M., Gerdes, C., Lenz, B., Winner, H. (Hrsg.)
10 Autonomes Fahren. Springer, Heidelberg (2015)
18 Karmasin, H.: Motivation zum Kauf von Fahrerassistenz-
systemen 24. VDI/VW-Gemeinschaftstagung Integrierte
11 Sicherheit und Fahrerassistenzsysteme, Wolfsburg. VDI-Be-
richte, Bd. 2048. (2008)
19 Krüger, H.-P.: Hedonomie – die emotionale Dimension der
12 Fahrerassistenz 3. Tagung Aktive Sicherheit durch Fahreras-
sistenz, Garching. (2008)

13 20 Homann, K.: Wirtschaft und gesellschaftliche Akzeptanz:


Fahrerassistenzsysteme auf dem Prüfstand. In: Maurer, M.,
Stiller, C. (Hrsg.) Fahrerassistenzsysteme mit maschineller

14 Wahrnehmung, S. 239–244. Springer, Berlin (2005)

15
16
17
18
19
20
1187

Serviceteil
Serviceteil 1187

Glossar – 1188

Stichwortverzeichnis – 1201

H. Winner, S. Hakuli, F. Lotz, C. Singer (Hrsg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme, ATZ/MTZ-Fachbuch,


DOI 10.1007/978-3-658-05734-3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
1188

Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


ABS DE: Antiblockiersystem Verhindert durch radindividuellen Bremskraftabbau zu
EN: Anti-Lock Brake System hohen Bremsschlupf und ermöglicht höhere Fahrstabilität
und Lenkbarkeit beim Bremsen.
ABV Automatische Blockierverhinderung (Basisfunktion des
→ ABS)
ACC Adaptive Cruise Control, Adaptive Fahrgeschwindigkeitsregelung. In der Norm ISO
Active Cruise Control 15622 von der ISO/TC204/WG14 definierte Erweiterung
der Cruise Control durch automatisches Anpassen an die
Geschwindigkeit eines von einem oder mehreren Senso-
ren erkannten voraus fahrenden Fahrzeugs durch Eingriffe
in Motorsteuerung und Bremse. Oft auch Automatische
Distanzregelung genannt.
ADAS Advanced Driver Assistance Systems Fahrerassistenzsysteme mit Umfelderfassung und eigen-
ständiger Informationsverarbeitung, die zu Empfehlungen,
Warnung und/oder Eingriffen führt.
ADAS Horizon Künstlicher Horizont für ADAS-Anwendungen; basierend
auf einer digitalen Karte und einem Ortungssystem wird
der Verlauf der Fahrbahn mit Attributen zur Beschilderung
oder Topologie und Verzweigungen für den vorauslie-
genden angenommenen (most probable path) oder aus
der vorliegenden Route bestimmten Streckenabschnitt
vorhergesagt.
ADASIS Advanced Driver Assistance Systems Schnittstellenprotokoll, um Kartendaten Fahrerassistenz-
Interface Specification systemen zur Verfügung zu stellen, insbesondere für die
ADAS-Horizon-Funktionalität
ADR Automatische Distanzregelung: Alternative, von Volkswa-
gen verwendete Bezeichnung von Adaptive Cruise Control
AEB Automatic Emergency Brake → Automatische Notbremse (ANB)
AHP ADAS Horizon Provider Daten bereitstellende Instanz für ADAS Horizon; zerlegt
Daten auf der Senderseite in Datentelegramme
AHR ADAS Horizon Reconstructor Daten empfangende und zusammensetzende Instanz für
ADAS Horizon
AKSE Automatische Kindersitzerkennung
ALWR Automatische Leuchtweitenregu-
lierung
AMR Anisotrop Magneto Resistive Anisotrop magnetoresistiv (Sensorprinzip)
ANB Automatische Notbremse Löst eine Vollbremsung aus, wenn aus den Daten der
Umfeldsensorik ein Ausweichen ausgeschlossen wird.
Im PKW-Bereich kann meistens die Kollision nicht mehr
verhindert, aber der Kollisionsschaden gelindert werden.
Bei Bussen und Lkw kann die Kollision meist vermieden
werden.
Anbaugerät Gerät, das in Verbindung mit einem Traktor (für Landwirt-
schaft) eingesetzt wird.
ARIB Association of Radio Industries and Japanische Rundfunk-Standardisierungsorganisation
Businesses
ART Abstandsregeltempomat Alternative Bezeichnung des Adaptive Cruise Control
ASC Anti-Slipping-Control Antriebsschlupfregelung
1189
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


ASIL Automotive Safety Integrity Level Sicherheitsintegritätsstufe zur Bewertung des Risikopoten-
zials von E/E Systemen, definiert in ISO 26262.
ASR TCS (Traction Control System) Antriebsschlupfregelung: Verhindert durch radselektiven
Bremseingriff und Motoreingriff zu hohen Antriebsschlupf.
Ermöglicht höhere Fahrstabilität und Lenkbarkeit beim
(forcierten) Gas geben und eignet sich als Traktionshilfe,
die in dieser Funktion dem elektronischen Sperrdiffe-
renzial (ESD) entspricht, wenn von der Reduktion der
Antriebsleistung abgesehen wird.
Autonomes Einparken Vollständig autonome Ausführung einer Einparkaufgabe
AUTOSAR AUTomotive Open System ARchi- Internationaler Verbund, der einen offenen Standard für
tecture Software-Architekturen für Elektrik-/Elektronik-Kompo-
nenten im Kraftfahrzeug herausgibt.
BA Bremsassistent Siehe → Bremsassistent
Ballastierung Zusatzgewichte, die am Traktor angebaut werden,um die
Traktion zu erhöhen.
BAS Brake Assist Bremsassistent-System
BbW Brake-by-Wire Fremdkraftbremse ohne energetische Kopplung zwischen
Bremspedal und Radbremsen
BCI Brain Computer Interface Eine Mensch-Maschine-Schnittstelle, die ohne Aktivierung
des peripheren Nervensystems, wie z. B. die Nutzung der
Extremitäten, eine Verbindung zwischen dem Gehirn und
einem Computer ermöglicht. [Wikipedia]
BDW Brake Disc Wiping Bremsscheibenwischen
BLIS Blind Spot Information System System zur Erkennung des toten Winkels, Volvo-Bezeich-
nung eines Systems zur Fahrstreifenwechselentschei-
dungsunterstützung, geht in Funktionalität etwas über
eine reine Totwinkelerkennung hinaus. Eine Variante des
LCDAS
BLMV Bremslenkmomentverhinderer; Mechatronisches System zur Verhinderung des bremslenk-
EN: Brake Steer Torque Avoidance momentbedingten Aufstellverhaltens von Einspurfahr-
Mechanism (BSTAM) zeugen in Kurvenfahrt. Durch seitliche Verschiebung der
masselosen kinematischen Lenkachse aus der Symmet-
rieebene wird in Schräglage der reifenkonturbedintgte
Lenkrollradius derart vermindert, dass am Vorderrad an-
greifende Bremskräfte kein störendes Bremslenkmoment
mehr hervorrufen.
Bluetooth Standard für kurzreichweitige, drahtlose Kommunikation
zwischen Endgeräten im Frequenzbereich von 2,4 GHz
Bremsassistent Hebt bei Panikbremsungen automatisch das
Bremsdruck-Niveau an, bis die ABS-Regelung einsetzt.
Auslösung bei Überschreiten einer Pedalgeschwindigkeits-
schwelle.
BSW Basic Software Im Kontext von AUTOSAR: Basissoftware, die die infrastuk-
turellen Funktionalitäten einer ECU bereitstellt.
C2C Car-to-Car Fahrzeug zu Fahrzeug
(hauptsächlich in Deutschland gebräuchliche Kurzform)
C2C-CC Car-to-Car Communication Initiative der Fahrzeughersteller und Zulieferer zur Ver-
Consortium besserung der Sicherheit und Effizienz im Straßenverkehr
durch den Einsatz von Fahrzeug-zu-Fahrzeug Kommuni-
kation
C2I Car-to-Infrastructure Fahrzeug zu Infrastruktur
(hauptsächlich in Deutschland gebräuchliche Kurzform)
1190 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


C2X Car-to-X Fahrzeug zu X; verallgemeinerte Bezeichnung, wobei X
den jeweiligen Kommunikationspartner kennzeichnet (Car
oder Infrastructure)
(hauptsächlich in Deutschland gebräuchliche Kurzform)
C2XC Car-to X Communication Fahrzeug zu X Kommunikation
(hauptsächlich in Deutschland gebräuchliche Kurzform)
CAHR Crash Active Head Rest Crash-aktive Kopfstütze
CAM Cooperative Awareness Message Nachrichtentyp bei C2X-Systemen für die kontinuierliche
Beobachtung der in der Nähe befindlichen Fahrzeuge.
Dazu werden jeweils Informationen zum Bewegungs-
zustand des Fahrzeugs (Position, Fahrtrichtung, Ge-
schwindigkeit, etc.) mit einer Frequenz von bis zu 10 Hz
versendet.
CAN Controller Area Network Serieller Datenbus für den digitalen Datenaustausch zwi-
schen Steuergeräten im Fahrzeug bis ca. 500 kBit/s
CBS Combined Brake System (auch Bremssystem, das bei Einspurfahrzeugen eine gekoppelte
deutsch als Kombibremse bekannt) Betätigung beider Bremsen mit nur einem Bedienelement
erlaubt.
CBW Conduct-by-Wire Konzept zur kooperativen manöverbasierten Führung von
Fahrzeugen
CC Cruise Control Regelt die Fahrgeschwindigkeit über Eingriff in die Motor-
steuerung auf den vom Fahrer gesetzten Wert.
CCD Charge Coupled Device Bildsensoren, basierend auf Ladungsverschiebungsele-
menten ähnlich einer Eimerkettenleitung; bisher dominie-
rende elektronische Bildsensortechnik.
CCH Control Channel Kontroll-Kanal im Kontext von ITS-G5
CDD Controlled Deceleration for Driver Verzögerungsregelung für (komfortorientierte) Fahreras-
Assistance Systems sistenzfunktionen
CDP Controlled Deceleration for Parking Verzögerungsregelung für Parkbremse
Brake
CEN European Committee for Standar- Europäisches Standardisierungsgremium
dization (zusammen mit CENELEC und ETSI)
CENELEC European Committee for Electro- Europäisches Standardisierungsgremium im Bereich der
technical Standardization Elektrotechnik
C-ITS Cooperative Intelligent Transport Kooperative intelligente Transportsysteme
Systems
CMOS Complementary Metal Oxid Semi- Heute dominierende Halbleitertechnik für Speicher. Kann
conductor auch für Bildsensoren verwendet werden.
CMS Collision Mitigation System System zur Minderung der Kollisionsschwere
Collision Avoidance Vermeidet durch Notbremsung und/oder Ausweichen
eine Kollision
Controlled Traffic Methode der Flächenbewirtschaftung, bei der alle
Fahrzeuge nur auf virtuell festgelegten Spuren fahren,
die aufgrund der hohen Bodenverdichtung keinen Ertrag
bringen, während die übrigen Bereiche optimales Pflan-
zenwachstum ermöglichen.
CSW Curve Speed Warning Warnsystem bei zu hoher Geschwindigkeit vor Kurven
DAB Digital Audio Broadcast Digitales Rundfunksystem
DENM Decentralized Environmental Notifi- Nachrichtentyp bei C2X-Systemen für die Versendung von
cation Message ereignisgesteuerten Warnungen vor lokalen Gefahren
1191
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


Digitale Karte EN: Digital Map Maßgebundenes und strukturiertes Modell räumlicher
Bezüge. Die digitale Karte ist ein digitales Modell der Reali-
tät. Digitale Karten für die Fahrzeugnavigation beinhalten
Informationen für Ortung, Routensuche und Zielführung
sowie Verweise zum Zugriff auf die Daten.
Disparität Kontext Bildverarbeitung: Versatz korrespondierender
Bildmerkmale (zwischen zwei Bildern)
Distronic Alternative, von Mercedes verwendete Bezeichnung von
Adaptive Cruise Control
Dopplereffekt Veränderung der Frequenz durch Relativgeschwindigkeit
zwischen Objekt und Beobachter. Bekannt auch als Tonhö-
henverschiebung bei Vorbeifahrt eines Fahrzeugs.
DRM Digital Radio Mondial Digitale Rundfunktechnologie mit großer Reichweite
DRS Drehrate(n)sensor Sensor zur Erfassung der Drehrate (gemessen in Winkel/
Zeit) im Kraftfahrzeug zur Messung der Drehung um die
Hochachse und die Wankachse.
DSC Dynamic Stability Control Alternative Bezeichnung von ESC, z. B. durch BMW ver-
wendet
DSP Digital Signal Processor Prozessor mit einer für Signalverarbeitung optimierten
Hardware-Architektur

DSRC Dedicated Short Range Communi- Bezeichnung für kurzreichweitige Kommunikationsnetze


cation
DTM Digital Terrain Model Digitales Höhenmodell
DWS Drehwinkelsensor
Dynamische Zielfüh- Zielführung auf Basis aktueller Verkehrslageinformationen
rung
E/E Komponenten Elektrische/Elektronische Kompo- Komponenten, die mit elektrischen und elektronischen
nenten Prinzipien arbeiten, einschließlich Software.
EBS Electronic Brake System Elektronisches Bremssystem, elektropneumatisches Brake-
by-Wire im Nutzfahrzeugbereich
EBV Elektronische Bremskraftverteilung
ECDSA Elliptic Curve Digital Signature Algorithmus zur Erzeugung einer Signatur unter Verwen-
Algorithm dung der Elliptische-Kurven-Kryptographie
ECIES Elliptic Curve Integrated Encryption Hybrides Verschlüsselungsverfahren, dem elliptische
Scheme Kurven zugrunde liegen
ECU Electronic Control Unit Steuergerät
E-Gas Elektronisches Gas-Pedal: Besitzt keine mechanische Ver-
bindung zwischen Gaspedal und Drosselklappe.
EHB Elektrohydraulische Bremse Elektrohydraulisches Brake-by-Wire mit hydraulischem
Notlaufkonzept, vorübergehend als Sensotronic Brake
Control in Mercedes SL und E-Klasse verbaut, jetzt noch
in Hybridfahrzeugen (z.B. Toyota Prius, Ford Escape) und
Lexus LS verbaut
EHCB Elektrisch-hydraulisches Com- Hybridbremssystem
bi-Bremssystem (Electric-Hydraulic
Combined Brake)
EHM Elektrohydraulisches Modul
E-Horizon Elektonischer Horizont; Synonym zu → ADAS Horizon
Eindeutigkeitsbereich Wertebereich, in dem gemessene Werte (z. B. einer Entfer-
nung) jeweils einem eindeutigen Wert zugeordnet werden
können. Siehe auch → Modulationsfrequenz.
1192 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


EMB Elektromechanische Bremse Rein elektromechanisches Brake-by-Wire mit je einem
elektromotorischen Steller am Rad. Benötigt fehlerto-
lerante Steuerung und Energieversorgung. Schon für
mittelschwere Fahrzeuge ist zudem ein 42-V-Bordnetz
erforderlich.
EMV EMC Elektromagnetic Compatibility Elektromagnetische Verträglichkeit
EPB Electric Parking Brake Elektrische Parkbremse
EPH Einparkhilfe Parkpilot, Parktronic
Ephemeridendaten Von einem → GNSS ausgesendete Daten zur Berechnung
der Satellitenpositionen und –bahnen (Orbits)
EPS Electric Power Steering Elektromechanisches Lenksystem
ESC Electronic Stability Control Elektronisches Stabilitätsregelung, herstellerübergreifende
Bezeichnung, Vereinigung von ABS, ASR und einer Giermo-
mentenregelung. Versucht innerhalb der physikalischen
Grenzen durch radindividuelle Bremseingriffe das Fahr-
zeug in die Richtung zu „zwingen“, die der Fahrer mit dem
Lenkrad vorgibt. Greift dazu auch in den Antrieb ein.
ESP Electronic Stability Programm Elektronisches Stabilitätsprogramm, s. ESC, Bezeichnung
u.a. von Mercedes-Benz
Ethernet In der Datentechnik seit langem übliches Datenbussystem
mit hoher Datenrate, im Kfz lange Zeit nicht verwendet
ETSI European Telecommunications Europäisches Standardisierungsgremium für Informations-
Standards Institute und Kommunikationstechnologien
Fahrstreifen Fachterminus für die Aufteilung der Fahrbahn, durch
Fahrstreifenmarkierungen angezeigt. Umgangssprachlich
oft als Fahrspur bezeichnet.
Fahrstreifenverlassens- Warnt vor unbeabsichtigtem Überqueren von Fahrstreifen-
warnung markierungen mit akustischen oder haptischen Mitteln.
Oft auch Spurverlassenswarnung genannt, auch wenn
Spur hier falsch verwendet wird
FAS Fahrerassistenzsystem(e) Kurzform für Fahrerassistenzsystem
FVCC Forward Vehicle Collision Conditi- Frontkollisionsschutzsystem mit Vorbereitung auf eine
oning drohende Kollision (Bremse, Airbag, Gurtstraffer)
FCC Federal Communications US-amerikanische Behörde zur Regulierung der Frequenz-
Commission nutzung
FCD Floating Car Data Von Fahrzeugen gewonnene Umgebungsinformationen
FDR Fahrdynamikregelung Allg. Bezeichnung von Regelfunktion zur Beeinflussung
der Fahrdynamik mit Schwerpunkt auf Querdynamik
FF Füllfaktor Verhältnis der lichtempfindlichen aktiven Fläche zur
gesamten aktiven Fläche
FFS Fahrzeugführungssystem Ein technisches System bestehend aus Hardware und Soft-
ware integriert in einem Kraftfahrzeug, das die Fahrzeug-
führung vollständig übernehmen kann.
FGR Fahrgeschwindigkeitsregler Tempomat
FIR Far Infrared Langwellige Infrarot-Strahlung mit einer Wellenlänge von
ca. 5 µm bis 100 µm für Wärmebildaufnahme
FlexRay Serielles deterministisches und fehlertolerantes Feld-
bus-System, vornehmlich für sicherheitskritische Fahrzeu-
ganwendungen mit hoher möglicher Datenrate
FLI First Letter Input Eingabemodus der Navigation für den Asiatischen Markt
FMCW Frequency Modulated Continuous Frequenzmodulierte kontinuierliche Welle (Radarmes-
Wave sprinzip)
1193
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


FOV Field of View Blickfeld
FPGA Field programmable gate array Programmierbarer integrierter Schaltkreis
Frequenzmodulation Kennzeichnungs-, (Kodierungs-) und Auswerteverfahren
zur Messung von Abständen und Relativgeschwindigkei-
ten, bei denen die Momentanfrequenz des Sendesignals
zeitlich variiert wird.
Frontkollision Kollision der eigenen Fahrzeugfront bei der Vorwärtsfahrt
mit einem Verkehrsteilnehmer oder einem Objekt. Dies
schließt auch Auffahrunfälle auf sich mitbewegende, ste-
hende und entgegenkommende Fahrzeuge mit ein.
Frontkollisionswarnung Warnt vor drohender Frontkollision; auditiv, haptisch oder
kinästhetisch.
FSRA Full Speed Range Adaptive Cruise In der Norm ISO 22179 von der ISO/TC204/WG14
Control definierte, über den ganzen Geschwindigkeitsbereich
mögliche ACC-Funktion, die auch eine einfache Stop&-
Go-Funktion ermöglicht. Berücksichtigt i.a. nur Standziele,
die vorher als Fahrzeuge klassifiziert wurden.
G&R Gefährdungsanalyse und Risiko­ Bestimmung der potenziellen Gefährdungen durch eine
bewertung situationsabhängige Analyse der betrachteten Fehl-
funktionen des untersuchten Systems. Anschließend
Klassifikation der Gefährdungen mit einer Sicherheitsinte-
gritätsstufe (QM, ASIL A – ASIL D). In der Norm ISO 26262
muss die G&R vor Start der Entwicklung im Rahmen der
Konzeptionsphase durchgeführt werden.
Galileo Unabhängiges, ziviles, europäisches globales Satellitenna-
vigations- und Zeitgebungssystem, im Aufbau begriffen
GATS Global Automotive Telematics Standard für Verkehrstelematik
Standard
GCC Global Chassis Control Vernetzung mehrerer Fahrdynamikregelsysteme (z. B.
→ ABS und → SAF) zu einem Gesamtverbund, der durch
Informationsaustausch und koordinierte Regelung eine
Leistungsverbesserung (z. B. Bremswegverkürzung)
gegenüber der unabhängigen Funktion der gleichen
Einzelsysteme ermöglicht.
GDF Geographic Data Files Standardisiertes internationales Austauschformat der
digitalen Karte
GFS Google File System
GIDAS German In-Depth Accident Study Wird als Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für
Straßenwesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Au-
tomobiltechnik e.V. (FAT) mit dem Ziel einer umfassenden
Dokumentation von Verkehrsunfällen mit Personenschä-
den in zwei Erhebungsgebieten in Deutschland betrieben.

GIS Geographic Information System Geografisches Informationssystem


GLONASS Globalnaja nawigazionnaja sputni- Von Russland betriebenes globales satellitengestützes
kowaja sistema (Globales Satelliten- Navigationssystem
navigationssystem)
GMR Giant magnetoresistance Riesenmagnetowiderstand (Sensormessprinzip)
GNSS Global Navigation Satellite System Globales satellitengestützes Navigationssystem (GPS, GLO-
NASS, Galileo), System zur Positionserfassung basierend
auf der Messung von Laufzeitunterschieden von Satelliten-
signalen
1194 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


GPS Global Positioning System Von den USA betriebenes → GNSS; oft auch als Navstar GPS
bezeichnet
GSM Global System for Mobile Commu- Erster weltweit verbreiteter Standard für digitale Mobilte-
nications (früher Groupe Spécial lefonie,
Mobile)
GRA Geschwindigkeitsregelanlage
GPRS General Packet Radio Service Paketorientierter Dienst zur Datenübertragung in
GSM-Netzen; Basistechnik zur Datenübertragung mit im
Vergleich zu UMTS und LTE geringer Datenrate
HBA Hydraulic Brake Assist Hydraulischer Bremsassistent, Druckerhöhung erfolgt mit
der Pumpe des ESP- oder ASR-Hydroaggregats.
HDC Hill Descent Control Bergab-Kriechregelung
HDFS Hadoop Distributed File System
HECU Hydraulic-Electronic Control Unit Bremshydraulik steuerndes Steuergerät
HFC Hydraulic Fading Compensation Hydraulische Fading-Kompensation
HHC Hill Hold Control Berganfahrassistent
Hil Hardware-in-the-Loop Simulations- und Testkonzept, bei dem Hardware (z. B.
Steuergerät(e)) in eine Simulationsumgebung eingebun-
den ist.
Hintergrundlicht­ Suppression of Background Illumi- Aktive oder passive Unterdrückung der Gleichanteile des
unterdrückung nation empfangenen Lichtsignals, eingesetzt bei Time-of-Flight
Cameras
HMI Human Machine Interface Mensch-Maschine-Schnittstelle
HRB Hydraulic Rear Wheel Boost Hydraulische Hinterachsen-Bremsdruckverstärkung
HUD Head-up-Display Anzeige für Präsentation von Information im oberen Sicht-
bereich. Neben einfachen hochgesetzten konventionellen
Anzeigen sind vor allem Projektionssysteme gemeint, die
die Bildebene deutlich vor Windschutzscheibe präsen-
tieren, um so den Akkomodationsbedarf für den Fahrer
gering zu halten.

ICM Integrated Chassis Management Siehe → GCC


IEEE Institute of Electrical and Electronics Weltgrößte Vereinigung von Elektroingenieuren
Engineers
IEEE 802.11p 802.11 ist eine Normenfamilie für Wireless Local Area
Networks (WLAN). 802.11p ist eine Erweiterung für den
Einsatz in Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Netzen,
IMU Inertial Measurement Unit Inertialmesseinheit (Trägheits-Messsystem), Sensorsatz zur
Erfassung von Beschleunigungen und Drehraten. Eine IMU
zur dreidimensionalen Erfassung dieser Größen besteht
üblicherweise aus jeweils drei senkrecht zueinander ange-
ordneten Beschleunigungs- und Drehratensensoren.
ISO International Standardisation
Organisation
ITS Intelligente Transportsysteme
ITS-G5A Bezeichnung des Frequenzbands für kooperative ITS-
Dienste in Europa (30 MHz Bandbreite zwischen 5,875 und
5,905 GHz). Eine zukünftige Erweiterung des Frequenzbe-
reichs ist als Option vorgesehen.
1195
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


Kartenstützung Unterstützung der Ortung durch Vergleich von möglichen
Aufenthaltsorten (z. B. Straßen auf einer digitalen Karte)
und der aktuell aufgrund der Koppelortung ermittelten
Position. Dadurch wird die Korrektur von Offsetfehlern
möglich.
KB Kollisionsbereich
Konvoi Convoy Dicht aufeinander folgende Fahrzeugkolonnen, die elek-
tronisch geregelt seien können
Koppelortung Stückweise Integration von aufeinander folgenden
Wegabschnitten gekennzeichnet durch die Länge und
den absoluten Kurswinkel (beim Kfz meistens Gierwinkel).
Benötigt Odometer und Winkelsensor, beim heutigen Kfz
werden dafür Raddrehzahlsensoren und ein die Gierrate
messender Drehratensensor verwendet.
KQA Kreuzungs-/Querverkehrsassistent C2X-Funktion zur Warnung vor möglichen Kollisionen mit
Abbiege- oder Querverkehr an Kreuzungen und Einmün-
dungen
Kreuzecho Verfahren, bei denen die Laufzeit gemessen wird, die
zwischen dem Senden eines Signals von einem Sensor
und dem Empfang an einem anderen Sensor vergeht.
Ermöglicht zusammen mit den Laufzeiten der Einzelsen-
soren eine zuverlässigere Triangulation, insbesondere bei
breiten Hindernissen.
LCDAS Lane Change Decision Aid System Fahrstreifenwechselentscheidungsunterstützung
LDW Lane Departure Warning Fahrstreifenverlassungswarnung
LED Light Emitting Diode Licht emittierendes Halbleiterbauelement
LIDAR Light detection and ranging Lichtstrahltechnik zur Objekterkennung und Abstands-
messung, basierend auf Laufzeitmessung
LKA Lane Keeping Assistance Unterstützung beim Halten des Fahrzeugs innerhalb des
Fahrstreifens durch Lenkmomentenüberlagerung bei
Annäherung an die Fahrstreifenmarkierung.
LRR Long-Range-Radar Radar für Fernbereich
LSA Lichtsignalanlage
LSF Low Speed Following (Japanischer) Ansatz einer einfachen Staufahrunterstüt-
zung; folgt nur vom Fahrer ausgewählten Zielfahrzeugen
im Nahbereich.
LTE Long Term Evolution UMTS-Nachfolge System für mobilen Datenfunk mit hoher
Datenrate
LWS Lenkradwinkelsensor
MCAK Microcontroller Abstraction Layer Softwareschicht mit einer definierten API welche die Trei-
ber für die, auf dem Microcontroller integrierten sowie die
extern angebundenen Peripheriegeräte enthält.
MEMS Micro-Electro-Mechanical System Kombination aus mikromechanischen und mikroelektroni-
schen Elementen, üblicherweise auf einem Silizium-Chip.
Im automobilen Umfeld eingesetzte Beschleunigungs-
und Drehratensensoren werden häufig mit dieser Techno-
logie gefertigt.
Mikrowellen Funkwellen mit Wellenlängen von etwa 1 cm bis 10 cm (=
3 bis 30 GHz)
MM Mikromechanik
mm-Wellen Funkwellen mit Wellenlängen von etwa 1 mm bis 10 mm
(= 30 bis 300 GHz)
1196 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


Modulationsfrequenz Frequenz, mit der Strahlung (inkl. Licht) moduliert wird,
um eine Laufzeitmessung über die Phasenauswertung zu
ermöglichen. Wird bei Time-of-Flight-Cameras verwendet.
monokular Einäugig(es Kamerasystem)
MOST-Bus Media Oriented Systems Transport Netzwerk für die Übertagung von Multimediadaten im
Fahrzeug
MPP Most Probable Path Fahrweg, der mit höchster Wahrscheinlichkeit befahren
wird
MSA Motor-Start-Stopp-Automatik
MSR Motorschleppmomentregelung
Nachtsichtsysteme Informationssystem, das dem Fahrer auf einem Display
(inkl. Headup-Display) die Infrarot-Spektral-Ansicht
ermöglicht. Der Infrarotanteil wird entweder mit einem
Infrarot-Fernlicht erzeugt (NIR) oder resultiert aus der
Wärmestrahlung (FIR).
Navigation Ursprünglich: Schiff führen (lat.: navigare), die Gesamtheit
der Funktionen Ortung, Routensuche und Zielführung
NCAP New Car Assessment Program Verbrauchertestprogramm zur Sicherheits-Bewertung für
Neufahrzeuge, für verschiedene Märkte jeweils unter-
schiedlich ausgeführt (US-NCAP, Euro-NCAP, …)
NDS Navigation Data Standard Standard für Kartendaten der Navigation
NHTSA National Highway Transportation Bundesbehörde in den USA zur Aufsicht des Straßenver-
Safety Administration kehrs
Night Vision Nachtsicht Sichtunterstützung mittels Präsentation von Bildern aus
Wellenlängenbereichen, die dem menschlichen Auge
nicht zugänglich sind, z. B. NIR oder FIR
NIR Near Infrared Infrarotstrahlung im Bereich von 700-2400 nm Wellen-
länge
OC Occupant Classification Insassenklassifizierung/-erkennung
Odometer Wegmesser (griech.: hodos = Weg)
OEM Original Equipment Manufacturer Erstausrüster = Fahrzeughersteller
OFDM Orthogonal Frequency Division Digitales Modulationsverfahren, bei dem der Datenstrom
Multiplex(ing) innerhalb des verfügbaren Frequenzbereichs auf eine Viel-
zahl von schmalbandigen Frequenzträgern aufgeteilt wird.
OpenStreetMap Offener Standard für Kartendaten der Navigation
Optischer Fluss Verfahren der Bildverarbeitung, das die Verschiebung von
zu einander korrespondierenden Bildpunkten in einer
Bildfolge auswertet.
Ortung Bestimmung der momentanen Position, Teilfunktion der
Navigation
OSI Open System Interconnection Offenes System für Kommunikationsverbindungen.
Das OSI-Schichtenmodell wurde von der ISO als Grundlage
für die Bildung von Kommunikationsstandards entworfen
und ist ein Referenzmodell für herstellerunabhängige
Kommunikationssysteme
PAS Peripheral Acceleration Sensor Beschleunigungssensor (außerhalb des Steuergerätes)
PBA Predictive Brake Assist Bremsassistent mit Umfelderkennung
PBA Pneumatischer Bremsassistent Druckerhöhung durch pneumatikventilgesteuerten
Bremskraftverstärker
PCW Predictive Collision Warning Prädiktive Kollisionswarnung
PDA Personal Digital Assistant Persönlicher digitaler Assistent
(kompakter, tragbarer Computer)
1197
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


PDC Park Distance Control Einparkhilfe, Parkpilot, Parktronic
PEB Predictive Emergency Brake Automatische Notbremse
Photonic Mixer Device PhotoMischDetektor, alternative Bezeichnung von Time-
of-Flight Cameras
PKI Public Key Infrastructure System, das digitale Zertifikate ausstellen, verteilen
und prüfen kann. Die innerhalb einer PKI ausgestellten
Zertifikate werden zur Absicherung rechnergestützter
Kommunikation verwendet.
Pkw Personenkraftwagen
Platooning → Konvoi
PMD Photonic Mixer Device PhotoMischDetektor (Time-Of-Flight Cameras)
POI Point of Interest Markante Punkte/Ziele für Navigation
PPS Peripheral Pressure Sensor Drucksensor (außerhalb des Steuergerätes)
PROMETHEUS Programme for European Traffic Von 1987 bis 1994 betriebenes vorwettbewerbliches
with Highest Efficiency and Un- europäisches Forschungsprogramm zur Erforschung von
precedented Safety Verkehrstelematiktechniken
Protector Forschungssystem der Daimler AG mit elektronischer
Knautschzone ähnlich einer automatischen Notbremse für
Nutzfahrzeuge
Pseudorange Aus Signal-Laufzeitmessung bestimmter Abstand
zwischen einer GNSS-Empfängerantenne und einer Satel-
litenantenne
PSS Prädiktives Sicherheitssystem
Pulsmodulation Kennzeichnungs-(Kodierungs-) und Auswerteverfahren,
wird bei aktiven umfelderfassenden Sensoren zur Mes-
sung von Abständen verwendet. Dazu wird ein kurzer Puls
ausgesendet.
Radar Radio Detection and Ranging Auf Funkwellen (Mikrowellen und mm-Wellen) basieren-
des Messprinzip zur Ermittlung von Objekten und deren
Position und Relativgeschwindigkeit
RAMSIS Rechnergestütztes Anthropologi- 3D-Menschmodell in Form einer Computersoftware zur
sches Mathematisches System zur ergonomischen Analyse von CAD-Konstruktionen
InsassenSimulation
RDS-TMC Radio Data System – Traffic Message Digitale Verkehrslageinformation über Radio
Reflektivität Verhältnis von reflektierter Leistung eines Körpers zur
bestrahlten Leistung
Routensuche Ein Routensuchsystem bestimmt aus der IST-Position und
der Ziel-Position den günstigsten Weg zum Ziel durch
Zugriff auf eine digitale Karte. Dieser günstigste Weg
wird durch eine Folge von Straßen oder Straßenstücken
beschrieben. Ergebnis der Routensuche ist also eine Opti-
malroute (im Sinne eines Optimierungskriteriums).
RSU Roadside Unit Häufig verwendete Bezeichnung für die Infrastrukturkom-
ponente bei C2X-Systemen
RTE Runtime Environment Middleware von AUTOSAR
RTK Real Time Kinematik Hochgenaues GNSS Ortungssystem, welches Korrektursig-
nale geostationärer Referenzstationen verwendet, um die
Genauigkeit der Positionsbestimmung zu erhöhen
SAE Society of Automotive Engineers US-amerikanisches Standardisierungsinstitut der Ver-
kehrstechnologie
1198 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


SAF Semi-Aktives Fahrwerk Fahrwerkregelsystem, das die Charakteristik der Fahr-
werksdämpfer kontinuierlich an den sensorisch erfassten
Fahrzustand anpasst.
SBC Sensotronic Brake Control Elektrohydraulische Bremse
SBE Sitzbelegungserkennung
SBI Suppression of Background Illumi- Unterdrückung der Gleichanteile des empfangenen Licht-
nation signals, verwendet bei Time-of-Flight Cameras
SbW Steer-by-Wire Elektromechanische oder elektrohydraulische Ausführung
der Lenkung ohne energetische Kopplung von Lenk-
betätigung (Lenkrad) und Radverstellung. Benötigt für
schwerere Fahrzeuge mindestens 42 V Spannung. Besitzt
die höchsten Sicherheitsanforderungen und erfordert
daher ein hohes Maß an Redundanz für eine fehlertole-
rante Auslegung.
SCH Service Channel Service Kanal (ITS-G5)
SCW Side Crash Warning Warnsystem vor Seitenaufprall
SDARS Satellite Digital Audio Radio System Broadcasting Technologie, satellitengestützt für Nordame-
rika
SD-Karte Secure Digital Memory Card Digitales Speichermedium, das nach dem Prinzip der
Flash-Speicherung arbeitet
Semi-Autonomes Einparktrajektorie wird durch umfelderfassendes System
Einparken vorgegeben. Die Umsetzung wird durch Information und
ggf. durch Eingriffe in Lenkung oder Bremse unterstützt.
Fahrer behält die Verantwortung über die Ausführung der
Einparkaufgabe.
Sil Software-in-the-Loop
Silierwagen Erntemaschine zur Bergung von Halmgut
simTD Sichere intelligente Mobilität – Öffentlich gefördertes Projekt (2007-2013) zum Nach-
Testfeld Deutschland weis der Praxistauglichkeit von Car-2-X-Systemen im
Rahmen eines großmaßstäblichen Feldtests unter realen
Verkehrsbedingungen
SoC State of Charge Batterie-Ladezustand
SOC System on chip Hochintegrierte Halbleiterrecheneinheit
SoF State of Function Batterie-Funktionszustand (SoC + SoH = SoF)
SoH State of Health Batterie-Alterungszustand
Spur 1: Abstand der Radaufstandspunkte einer Achse (Fahr-
werk), auch Spurbreite genannt, 2: Abdruck der Räder (z. B.
Spurrinne, Spurrille) 3: Fährte, Bahn, Kurs, Bewegungsbahn
von bewegten Objekten, nicht aber: Fahrstreifen
Spurplanungssoftware Softwarepaket, das die Planung von Fahrspuren im Feld
ermöglicht. Die Fahrspuren werden anschließend ans
Fahrzeug übergeben und können abgefahren werden.
SQLite Programmbibliothek, die ein relationales Datenbanksys-
tem enthält
SRL Short Range Lidar Lidar für Nahbereich
SRR Short Range Radar Radar für Nahbereich
Stereo Kontext Kamera: Empfang mit zwei Kameras und Auswer-
tung der Verschiebung (Disparität) von korrespondieren-
den Mustern
Stop&Go Sammelbegriff für verschiedene Formen der Staufahrt-
unterstützung, Low Speed Following, Full Speed Range
Adaptive Cruise Control
1199
Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


Strapdown-Algorith- Rechenvorschrift zur Fortschreibung einer Navigations-
mus lösung (z. B. Position, Ausrichtung, Geschwindigkeit)
aufgrund von Messungen von Beschleunigungen und
Drehraten
StVO Straßenverkehrsordnung
TCS Traction Control System Antriebsschlupfregelung (→ ASR)
TCU Telematics Control Unit
TFT-Display Thin Film Transistor-Display Spezielle Technologie für Flüssigkristall-Displays; die Tech-
nologie erlaubt hohe Bildwiederholraten im Gegensatz zur
STN- oder DSTNTechnologie
TI Traffic Information Verkehrsinformationen
TLC Time-to-Line-Crossing Zeitdauer bis zum Überfahren der Fahrstreifenmarkierung
= seitlicher Abstand / Quergeschwindigkeit relativ zur
Fahrstreifenmarkierung
ToF Time-of-Flight Laufzeit (zwischen Aussendezeitpunkt und Empfang); wird
bei Umfeldsensoren zur Abstandsbestimmung verwendet.
TPEG Transport Protocol Expert Group Standard für Verkehrsinformationen
Trajektorie Raumzeitlicher Verlauf einer Bewegung, legt Bahn (Spur)
und Geschwindigkeit fest
Traktionsleistung Leistung, die Fahrzeug über die Räder übertragen wird
Triangulation/ Trilate- Verfahren zur Bestimmung der Lage eines Objekts unter
ration/ Verwendung entweder zweier Abstände (Schnittpunkt
von zwei Kreisen) oder zweier Winkel (Schnittpunkt der
Winkelgeraden)
TTB Time-to-Brake Verbleibende Zeitspanne bis zum letztmöglichen die
Kollision (räumlich) vermeidenden Bremseingriff
TTC Time-to-Collision Zeit bis zum Aufprall; bei unbeschleunigter Bewegung =
Abstand/Relativgeschwindigkeit
TT-CAN Time Triggered CAN Übertragungsprotokoll für den CAN-Bus für fehlertole-
rante, zeitgesteuerte Kommunikation zwischen elektroni-
schen Komponenten. Typischer Einsatz bei der Regelung
von Systemen mit harten Echtzeitanforderungen
TTP Time Triggered Protocol Übertragungsprotokoll für Feldbusse für fehlertolerante,
zeitgesteuerte Kommunikation zwischen elektronischen
Komponenten. Typischer Einsatz bei der Regelung von
Systemen mit harten Echtzeitanforderungen
TWD Totwinkeldetektion
TWE Totwinkelerkennung Totwinkelerkennung: Einfachste Form der Fahrstreifen-
EN: Blind Spot Detection wechselentscheidungsunterstützung. Detektiert Fahr-
zeuge im Totwinkelbereich neben dem Egofahrzeug.
Überlagerungslenkung Überlagert zum vom Fahrer eingestellten Lenkwinkel ei-
nen elektronisch steuerbaren Lenkwinkel. Auf diese Weise
kann eine variable Lenkübersetzung erreicht und eine
fahrdynamische Korrektur eingestellt werden.
Ultraschall Schallwellen oberhalb des vom Menschen hörbaren Spek-
trums (also > 16 kHz)
UMTS Universal Mobile Telecommunica- Mobilfunkstandard der 3. Generation; erlaubt Bruttodaten-
tion System rate bis 2 Mbit/s
UTM Universal Transverse Mercator Globales, kartesisches Koordinatensystem
V2V Vehicle-to- Vehicle Fahrzeug zu Fahrzeug
(international gebräuchliche Kurzform)
1200 Glossar

Abkürzung / Begriff Langfassung Beschreibung


V2I Vehicle-to-Infrastructure Fahrzeug zu Infrastruktur
(international gebräuchliche Kurzform)
V2X Vehicle-to-X Fahrzeug zu X; verallgemeinerte Bezeichnung, wobei X
den jeweiligen Kommunikationspartner kennzeichnet
(Vehicle oder Infrastructure)
(international gebräuchliche Kurzform)
V2XC Vehicle–to-X Communication Fahrzeug-zu-X-Kommunikation
(international gebräuchliche Kurzform)
VDC Vehicle Dynamic Control Fahrdynamikregelung, allg. Bezeichnung von Regelfunk-
tion zur Beeinflussung der Fahrdynamik mit Schwerpunkt
auf Querdynamik
VFB Virtual Functional Bus Der virtuelle Funktionsbus stellt eine Abstraktion der
Kommunikation zwischen den atomaren Software-Kom-
ponenten und den AUTOSAR Services dar.
ViL Vehicle-in-the-Loop Simulations- und Testmethodik, bei der das Fahrzeug
eingebunden ist, die Umwelt aber durch (zusätzliche)
virtuelle oder artifizielle Objekte simuliert wird.
Vorgewende Fläche im Feld, die genutzt wird, um Wendemanöver
durchzuführen
VSA Vehicle Stability Assist Elektronisches Stabilitätsregelung, → ESC
VSC Vehicle Stability Control Elektronisches Stabilitätsregelung, → ESC
WAVE Wireless Access in Vehicular US-amerikanischer Satz von Standards für die Fahr-
Environments zeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation
WGS84 World Geodetic System Globales Koordinatesystem, gebräuchlich bei GPS
Wheel-Ticks Einzelne Drehwinkel-Impulse der Raddrehwinkel-Sen-
soren, die beispielsweise bei ABS oder ESC eingesetzt
werden
WiFi Wireless Fidelity Wird quasi als Markenname für WLAN-Produkte verwen-
det; die eingesetzte Technologie ist identisch wie bei
WLAN.
WLAN Wireless Local Area Network Drahtloser Verbindungsstandard nach der Standard-Reihe
IEEE 802.11, wird laufend für höhere Datenraten weiter-
entwickelt
X-by-Wire Fremdkraftsysteme mit energetischer Entkopplung der
Betätigung (Bedienung) und der Ausführung. Beispiele:
Brake-by-Wire, EHB, EMB, Steer-by-Wire, E-Gas
Zapfwelle Frei zugängliche Abtriebswelle am Traktor zur Leistungs-
übertragung an Anbaugeräte
Zielführung Kursvorgabe für das Erreichen des Ziels gemäß der durch
die Routensuche bestimmten Weges bei der durch die
Ortung ermittelten Position.
1201 A

Stichwortverzeichnis

6D-Vision  407 Aktuatorgehäuse  605


77-GHz-Radarsensor  1094 Aktuatorregelung  605
Aktuators  605
Aktuatorversion  604
A Aktuatorwinkel  610
Akzeptanz  147, 885
Abbiegeassistent  68, 69 Alleinunfälle  63
Abbiegeassistenten mit Radfahrer- und Fußgängererken- Alphanumerische Displays  662
nung  68 Alter  8
Abbiegeassistent für Fußgänger  68, 69 Altersgruppen  57
Abbiegeassistent für Radfahrer  68, 69 Altersrisikogruppen  58
Abbiegen  976 Ampelassistenz  976
Abbiegeunfall  62 Anbaugerätelenksysteme  1041
Abbildungsfehler  357 Anbaugerätelenkung  1040
Abblendlicht  825 Anbaugeräten  1034
Abbremsungen automatisch  1099 Anfahrassistent  749
Abbruchmanöver  1098 Anforderungen an die Umfeldsensorik  861
Abhängige Stichproben  186 Anforderungen aus der Fahrzeugführungsaufgabe  11
Ablenkungen  150 Anhalteregelung  878
ABS  562, 727, 798 Anhalteweg  573
Absicherung  1173 Anhängerbetrieb  797
Absicherung der Fahrzeugkommunikation  531 Anhängersysteme  804
Absicherungsmethode  156, 162 Annäherungsstrategie  876
Abstandsinformation  336 Anonymität  530
Abstandsregelung  1019 Anpassbremsungen  1018
Abstraktionsschicht  109, 114, 115 Anti-Blockiersystem  798
ABS-Ventil  802 Antiblockiersystem (ABS)  768, 771, 773, 775
ACC-Sensoren  1094 Anti-Blockier System, ABS  1084
ACC-Zustandsmanagement  857 Antikollisionssystem  197
ACEA  66 Antizipationszeit  22, 23, 25
Active Front Steering  760 antizipatorische Steuerung (open loop control)  19, 21, 22
Active Rear Axle Kinematics  760 Antriebskreis  236
Adaptationsfähigkeit  21, 22 Antriebs-Schlupfregelung  800
adaptive Bremsunterstützung  190 Antriebsschlupf-Regelung (ASR)  782
Adaptive Cruise Control  852, 1017 Antriebssteuerung  856
adaptive Lichtverteilung  824 Anwendungskomponente  111, 112, 114
ADAS  628 Anwendungspartition  118
A-Double Kombination  809 Anwendungsschnittstellen  111, 121
Advanced Driving Assistence Systems  516 Anwendungssoftware  110, 112, 117, 119
AFIL  952 Anzeige  637
agile Softwareentwicklung  121 Anzeigeelemente  660, 860
Ähnlichkeitsmaß  399 Anzeigen  659
Akquisitionsgeschwindigkeit  441 APS  358
Aktionszeiten  200 Arbitration  735
Aktive Lenksysteme  756 Arbitrierung  1131
aktive Nachtsichtsysteme  834 Architektur  442, 1084
Aktiver Spurhalte-Assistent  952 Architektur einer ITS Station  528
Aktive Totwinkel-Assistent  967 Architekturmuster  446
Aktivlenkung  603 arc-Tangensfunktion  239
Aktoren  949 Artefakte  442
Aktorregelung  606 ASIL  90
Aktuator  604, 605, 607, 610, 614 ASR  562, 728, 800
Aktuatordynamik  604 ASSESS  176
1202 Stichwortverzeichnis

Assistenzsysteme  1038 Baseline  203


Assistenz- und Automationsgrad  1104 Basic Software  109, 110, 114
Assoziation  327 Basis  379
Audi Side Assist  964, 968 BASt  56
auditive Information  6 Bauliche Integration  1084
Auditory Icon  683 Bayes-Filter  383, 458
Auditory Icons  948 Bayesian-Occupancy-Filter  475
Aufbau- und Verbindungstechnik  356 Bayessches Belegtheitsfilter  475
Auffahrunfälle  1015 Bayes’sches Netz  710
Auflösung  353, 359 B-Double Kombination  809
Aufmerksamkeit  4, 689 Beanspruchung  72
Auge  693 bearings-only Ambiguität  378
–– Messgrößen  693 Bedieneinheit  665
Augmented Reality  159 Bedienelement  635, 648
Ausblick  889 Bedienelemente  858
ausgelernter Zustand  18, 20 Bedienkonzept  146
Ausgleichbehälter  556 Bedienrichtung  653
Ausstattungsrate  538 Bedienungsanleitung  972
Austauschformat  122 Befragung  147
Ausweichen  69 Beherrschbarkeit  140, 146, 156, 184
Ausweichverhalten von Fahrern  904 beladen/leer-Verhältnis  797
Authentifizierung  1035 Belegungskarte  468
Authentizität  530 Belegungswahrscheinlichkeit  470
Automation  1104, 1124 Belichtungssteuerung  362
automatische Abstandsregelung  237 beobachtbar  738
Automatische Bremsung  190 Beobachter  732
Automatische Notbremse  928 Bertha-Benz Fahrt  389
Automatisiertes Fahren  1001, 1140 Berufskraftfaherqualifizierungsgesetzes  1012
Automatisierung  1035 Berufskraftfahrer  1010
Automatisierungsgrade  30 Beschleunigungskriterien  898
Automotive Safety Integrity Level  90 Beschleunigungsregelung  727
autonome Fahrfunktionen  218 Beschleunigungssensor  730
autonome Fahrzeuge  1104 Beschleunigungssensoren  228
autonomes Fahren  1173 Betätigungszeit  203
Autonomes Fahren  1140 Beurteilungsgröße  201
Autonomiegrad  1108 Beurteilungsleistungen  12
autonomous fusion  447 Beurteilungszeitraum  202
Autonomous Integrity Monitoring by Extrapolation Bewegungsmodell  458
(AIME)  496, 503, 505 Bewegungsmodelle  705
AUTOSAR Associate-Partner  106 Bewegungsraum  140, 141, 145
AUTOSAR Attendee  106 Bewegungsstereotypen  653
AUTOSAR-Betriebssystem  115 Bewegungstrajektorie  377
AUTOSAR Core Partner  106 Bewertungsmethoden  1184
AUTOSAR Development-Partner  106 Bewertungsparameter  186
AUTOSAR Executive Board  106 Bewertungsverfahren  630
AUTOSAR Premium-Partner  106 Bildmerkmalen  425
AUTOSAR Project Leader Team  106 Bildschirm  661
AUTOSAR Steering Committee  106 Bildsensor  358
AUTOSAR Support Functions  106 Binary-Bayes-Filter  471
AUTOSAR Work Package  106 Binomialfilter  373
Avalanchedioden  322 Blattfederung  796
Blend-by-Wire  614
Blending  559
B Blendung  820
Blickabwendung  201, 661
Ballastierung  1030 Blickfeld  353
Balloon-Car  215 Blickverhalten  630
1203 A–D
Stichwortverzeichnis

Blickzuwendungszeit  203 Conditional Random Field  709


Blind Spot Information System  964, 966 Conditional Random Fields  1094
BLIS  965 Conduct-by-Wire  1107, 1112
Block-Matching  377 Controllability  184
Blutalkoholkonzentration  60 Controlled Traffic Farming  1037
Brain Computer Interface  656 Cooperative Awareness Message  533
Bremsassistent  558, 679, 745, 896, 914 Cooperative Intelligent Transportation Systems  526
Bremsbetätigung  556 Corioliskraft  234
Bremsdrucksensoren  228 CPHD-Filter  466
Bremsendiagnose  803 Crash-Target  214
Bremsflüssigkeit  560 CRF  416
Bremskraftverstärker  556, 1084 CU-Kriterium  919
Bremskraftverteilung  556 CVH  232
Bremsleitungen/-schläuche  556
Bremslenkmoment (BLM)  771
Bremslenkmoment-Verhinderer (BLMV)  786
Bremsnickausgleich  773
D
Bremsomat  1011 Daimler  143
Bremspedalwegsensoren  229 Daimler-Benz  140
Bremsregelung  856 DAISY  376
Bremsrekuperation  580 DataScript  521
Bremssattel  563 Datenassoziation  443, 461
Bremsstabilität von Motorrädern  771 Datenassoziationsgewicht  462
Bremssystem  556, 1084 Datenaustauschformat  110
Bremsüberschlag  772 Datenbank  543
Brenngrenze  784 Datenfilterung  445
BRIEF  376 Datenfusion  440, 481, 485, 499
Building-Block  515 –– Sensor-  485
Bussystem  562, 1035 Datenkommunikation  1168
By-Wire-Modus  568 Datensicherheit  529
Datenübertragung  547
Dauerbremse  798
C Dauerbremsen  1014
Dauermessungen  189
C2X-basierte Fahrerassistenzsysteme  526 dead reckoning  468
CAM  533 Decade for Action on Road Safety  60
Canny-Kantendetektor  374 Decentralized Environmental Notification Message  533
Car-to-Car-Kommunikation  1070 Deep Integration  487
CCD  358 Defensives Verhalten  117, 120
Census-Transformation  400 Degradierung der Systemfunktionalität  609
Central ITS Station  528 Dekalibrierung  405
central-level fusion, centralized fusion  447 Delta-t-Karte  985
charakteristische Geschwindigkeit  725 Demokratisierung  963
Circularspline  607 Demonstrationsmode  625
C-ITS System  528 Dempster-Shafer-Evidenztheorie  472
C-ITS Systemverbund  538 DENM  533
Client  542 Dense6D  410
Cloud-Sensorik  1169 Desdemona  141
Clusterkonzept  1106 Design Standard  629
CMOS  358 Design Structure Matrix  1088
CMOS-Bildsensoren  354 Deskriptor  376
CMOS-Farbbild-Video-Kamera  1094 Detektion  387, 441
Code of Practice  87 Detektionskreis  236
Codeof Practice  87 Detektionsleistung  433
Collision Mitigation  894 Detektions- und Falschalarmwahrscheinlichkeit  462
Combined Brake System (CBS)  774 Dezentral  446
Combiner  664 dezentrale Architektur  447
1204 Stichwortverzeichnis

Differential-GPS  210 Einführungsszenarien  537, 538


Differenzialsperrenmanagement  803 Einknicken  805
Differenzielle Nicht-Linearität  236 Einparkassistenzsysteme  842
digitale Karte  466 Einpressverbindung  237
Digitalinstrumente  660 einscheren  1099
Digital Signal Processor  363 Einspurfahrzeug  768
DIRD  376 Einspurmodell  456, 725, 806
Disparitätsschätzung  397, 398 Einzelbildmerkmale  374, 376
Distanzsensor  318 Einzelradlenkung  614
distributed fusion  447 Electric Power Steering  943, 949
diversitär  607 Electronic Rolling Shutter  361
Dolly  809 Electronic Stability Control  756
Domänenarchitektur  1087, 1089 Electronic Stability Control, ESC  1084
Domänensteuergeräte  1089 elektrische Parkbremse  580
Door-Brake  804 elektromagnetische Sperre  605
Dopplereffekt  144 elektromechanischen Parkbremse  588
Drehratensensor  730, 1033 elektromechanische Parkbremse  585
Drehratensignal  228 Elektromechanische Parkbremssysteme  582
Drehschemelanhänger  797 Elektromobilität  1169
Drehschieberventil  1032 elektronische Bremskraftverteilung  803
Drehzahlfühler  230 elektronische Differenzialsperre  801
Drei-Ebenen-Hierarchie  19, 23 Empfangszweig  321
Drei-Ebenen-Modell  18, 25 Ende-zu-Ende Sicherheit  539
Drei-Ebenen-Sicherheitskonzept  609 End- zu Endpunkt Kommunikationsabsicherung  117, 118,
Driver Steering Recommendation  761 119
Drucksensor  730 Entfernungsmessung  252
Drucksteuerventil  802 Entscheidungsbaum  709
Dual-Steller  615

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