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Hans-Hermann Braess | Ulrich Seiffert (Hrsg.

Vieweg Handbuch
Vieweg Handbuch

Kraftfahrzeugtechnik
6. Auflage
ATZ

flage
Hans-Hermann Braess | Ulrich Seiffert (Hrsg.)

Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik


Hans-Hermann Braess | Ulrich Seiffert (Hrsg.)

Vieweg Handbuch
Kraftfahrzeugtechnik
6., aktualisierte und erweiterte Auflage
Mit 1214 Abbildungen und 122 Tabellen

ATZ/MTZ-Fachbuch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Die Abbildungen zur Gestaltung des Umschlags wurden uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von:
AVL-Trimerics, Hauptsitz Filderstadt (Simulation)
Bosch (Foto)

This book is based on the 2nd edition of the German book Fahrwerkhandbuch
edited by Bernd Heißing and Metin Ersoy.
1. Auflage 2000
2. Auflage 2001
3., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2003
4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2005
5., überarbeitete und erweiterte Auflage 2007
6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten


© Vieweg +Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Lektorat: Ewald Schmitt | Elisabeth Lange
Vieweg+Teubner Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien.
Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.
www.viewegteubner.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
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berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im
Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher
von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Satz: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza
Bilder: Graphik & Text Studio, Dr. Wolfgang Zettlmeier, Barbing
Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISBN 978-3-8348-1011-3
Vorwort

Diese Neuauflage des Handbuches Kraftfahrzeugtechnik ist der Nachfolger des über viele
Jahrzehnte herausgegebenen Taschenbuches der Professoren Heinrich Buschmann und Paul
Koeßler. Dessen Erstausgabe erschien im Jahre 1940. Professor Koeßler gab im Jahre 1973 die
achte und damit letzte Auflage heraus. Fahrzeugingenieure benutzen noch heute die in diesem
Buch dargestellten Grundlagen für ihre Arbeit. Wir haben es deshalb als besondere Herausfor-
derung empfunden, an der vollständigen Neufassung dieses für Lehre, Forschung und Praxis
wichtigen Werkes als Herausgeber und Autoren mitwirken zu können. Das vorliegende Buch
beschreibt in umfassender Weise die faszinierende Welt des Automobils und seiner Entwick-
lung. Mehr als 100 namhafte Persönlichkeiten der Automobil- und Zulieferindustrie sind als
Mitautoren beteiligt. Damit ist dieses Handbuch auch ein Zeitdokument, welches den heutigen
hohen Stand und die rasante Weiterentwicklung des Kraftfahrzeuges beschreibt.
Ausgehend von den Bedürfnissen nach Mobilität werden die Anforderungen und die daraus
folgenden Zielkonflikte definiert, aus denen sich in Verbindung mit den physikalisch-tech-
nischen Grundlagen die Rahmenbedingungen für moderne Fahrzeuge ergeben. Das Design ist
ein ganz wesentliches Element für Kundengewinnung, Kaufentscheid und Kundenakzeptanz
und wird deshalb ausführlich behandelt. Das Kapitel Fahrzeugkonzepte und Package zeigt auf,
dass es, je nach konkreten Schwerpunktsetzungen, zu einer großen Vielfalt unterschiedlicher
Gesamtkonzepte und Varianten kommt. Ergänzend wird auf spezielle Aspekte und Konsequen-
zen alternativer Antriebskonzepte wie Elektroantrieb, Brennstoffzelle, Hybridantrieb und Gas-
turbine eingegangen.
Einen breiten Raum nimmt das Kapitel der „klassischen“ Antriebe ein. Moderne Hubkolben-
motor-Technik für Otto- und Dieselmotoren prägen neben der Elektromobilität die absehbare
Zukunft. Es wird deutlich, dass beide Motorarten weiterhin ein hohes Weiterentwicklungspo-
tenzial aufweisen. Abgasnachbehandlung, Aufladung und Optimierung der Nebenaggregate
sind weitere wichtige Themen. Die Getriebevarianten werden immer zahlreicher, wie die Bei-
spiele Doppelkupplungsgetriebe oder Allradantriebskonzepte zeigen. Auch wenn es um den
Zweitaktmotor wieder ruhig geworden ist, werden dennoch seine Chancen und Probleme analy-
siert. Langfristig von großer Bedeutung sind additive und alternative Kraftstoffe bzw. Antriebs-
energien, die im Vergleich behandelt werden. Der Fahrzeugaufbau wird ebenfalls immer an-
spruchsvoller und komplexer, wie schon die Anzahl der behandelten Themen zeigt. Diese rei-
chen von den Grundlagen selbsttragender Karosserien, Space-Frame-Techniken und Cabriolets
über Ergonomie und Komfort bis hin zu Kommunikations- und Navigationssystemen. Auch im
Fahrwerk steigt der Elektronik-Umfang weiter an – Stichworte sind „Drive by Wire“ und Fah-
rerassistenzsysteme. Damit ist schon angedeutet, dass fast alle Funktionen und Systeme im
Fahrzeug elektronische Komponenten beinhalten werden. Neu ist das umfassende Kapitel Fahr-
zeugsicherheit. In diesem werden die unfallvorbeugenden, die unfallfolgenmildernden Maß-
nahmen und die integrale Sicherheit dargelegt.
Die steigenden Anforderungen haben in den letzen Jahrzehnten zu deutlichen Erhöhungen der
Fahrzeuggewichte geführt. Werkstofftechnik, Fertigungsverfahren und Bauweisen der Zukunft
haben deshalb besonders der Forderung nach Leichtbau zu genügen, ohne dabei weitere Aspek-
te, wie das Recycling, zu vernachlässigen. Bei der damit zusammenhängenden steigenden
Komplexität der Fahrzeuge, ihrer Entwicklung, der Vernetzung der Fahrzeughersteller und ihrer
Systemlieferanten, weltweiter Fertigungsstätten usw. ist es zwangsläufig, dass der Optimierung
des Produktentstehungsprozesses eine immer größere Bedeutung zukommt. Verkürzung der
Entwicklungszeiten, Begrenzung der Entwicklungskosten bei steigenden Qualitätsansprüchen
zwingen zum systematischen Einsatz von Berechnungs-, Simulations-, Mess-/Versuchs- und
Qualitätssicherungsverfahren sowie „Virtual Reality“-Methoden; alle am Produktentste-
VI Vorwort

hungsprozess Beteiligten arbeiten, wie ausführlich gezeigt wird, von Anfang an zusammen
(„Simultaneous Engineering“).

Die sechste Auflage geht über Aktualisierungen und Erweiterungen, z.B. hinsichtlich der Fahr-
zeugsicherheit, Software und Wettbewerbsfahrzeuge, hinaus. Dies zeigt sich ganz besonders im
Hauptkapitel Elektrik, Elektronik und Software, das dem aktuellen Stand und den Entwick-
lungstendenzen entsprechend neu strukturiert und in wesentlichen Teilen neu bearbeitet wurde.
In diesem Zusammenhang sind besonders Telematik, Infotainment und Multimediaanwendun-
gen zu nennen.

Verschiedene Neuentwicklungen, aber auch die öffentlichen Diskussionen zur globalen CO2-
Situation, zum Feinstaub und Stickoxid haben einen starken Einfluss auf die Fahrzeugentwick-
lung. Die Aktualisierungen zeigen sich in praktisch allen Antriebskapiteln, vor allem bei den
Hybridantriebs-Konzepten und reinen Elektroantrieben sowie beim umfassenden Bordenergie-
Management. Wegen der rasanten Weiterentwicklung war es notwendig, alle relevanten Kapitel
zu überarbeiten und zu aktualisieren.

Bei der Erstellung dieses Handbuches stand das große Fachwissen vieler Experten aus wissen-
schaftlichen Einrichtungen und der gesamten deutschsprachigen Industrie zur Verfügung. Allen
Autoren sagen wir für ihre Beiträge herzlichen Dank, ebenso wie dem Vieweg+Teubner Verlag
für die Anregung, dieses Handbuch herauszubringen, und den Mitarbeitern, vor allem Frau
Elisabeth Lange und Herrn Ewald Schmitt sowie allen Lesern für die Hinweise, die zu den
Verbesserungen in der sechsten Auflage geführt haben.

Grünwald/Braunschweig im September 2011 Hans-Hermann Braess


Ulrich Seiffert
VII

Kapitel, Beiträge und Mitarbeiter

1 Mobilität Dipl.-Kfm. Frank Hansen

2 Anforderungen, Zielkonflikte
2.1 Produktinnovation, bisherige Fortschritte Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber Ekhard Zinke
Hans-Jürgen Nettlau
2.2.8 Normen Egbert Fritzsche
2.3 Neue Technologien Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h.
Hans-Hermann Braess

3 Fahrzeugphysik
3.1 Grundlagen Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert
3.2 Aerodynamik Dr.-Ing. Heinz Mankau
3.3 Wärmetechnik Dr. Andreas Eilemann
Dr.-Ing. Thomas Heckenberger
Dr. Markus Wawzyniak
3.4 Akustik und Schwingungen Dipl.-Ing. Johannes Guggenmos

4 Formen und neue Konzepte


4.1 Design Dipl.-Des. Hans Dieter Futschik
4.2 Fahrzeugkonzept und Package Dipl. Ing. Dipl. Wirtsch. Ing.
August Achleitner
Dr.-Ing. Gernot Döllner
4.3 Neuartige Antriebe
4.3.1 Elektroantriebe Dr.-Ing. Jürgen K.-H. Friedrich
4.3.2 Brennstoffzellenantriebssysteme Dr. Christian H. Mohrdieck
Herbert Schulze
Dr. Martin Wöhr
4.3.3 Hybridantrieb Dipl.-Ing. (FH) Peter Antony
Dipl.-Ing. Manuel Urstöger
4.3.4 Stirlingmotor, Dampfmotor, Gasturbine Prof. Dipl.-Ing. Karl E. Noreikat
und Schwungrad Markus Wagner, B. Eng.
4.3.5 Der Wasserstoff-Verbrennungsmotor Dr. Edgar Berger
Dipl.-Ing. Manfred Gruber
Dr.-Ing. Gerrit Kiesgen

5 Antriebe
5.1 Grundlagen der Motorentechnik Prof. Dr. Dr. E.h. Franz Pischinger/
5.1.5 Ottomotoren Dr.-Ing. Philipp Adomeit
5.2 Dieselmotor Dipl.-Ing. Richard Dorenkamp
Dr. Klaus-Peter Schindler
5.3 Aufladung Prof. Dr.-Ing. Roland Baar
5.4 Triebstrang Dr. Jürgen Greiner
Dr.-Ing. Gerhard Gumpoltsberger
Dr. Christoph Sasse
Dipl.-Ing. Klaus Steinel
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen
5.5.1 Allradantriebs-Konzepte Dipl.-Ing. Heribert Lanzer
Ing. Hermann Pecnik
5.5.2 Antriebs- und Bremsregelung Gerhard Kurz
5.6 Abgasanlagen Dipl.-Ing. Martin Stüttem
5.7 Bordenergie-Management Dipl.-Ing. Markus Beck
5.8 Chancen und Risiken des Zweitaktmotors Dipl.-Ing. MSc Bert Pingen
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe Dr. rer. nat. Ingo Drescher
und Energieträger Dr.-Ing. Eckart Heinl
VIII Kapitel, Beiträge und Mitarbeiter

6 Aufbau
6.1 Karosseriebauweisen Dipl.-Ing. Lothar Teske
Dipl.-Ing. Helmut Goßmann
6.1.2 Space-Frame Dipl.-Ing. Heinrich Timm
6.1.3 Karosserie Stahlleichtbau-Studien Dr. rer. pol. Dipl.-Ing. Ludwig Hamm
Dipl.-Ing. Volker Peitz
6.1.4 Cabriolet Walter Pecho
6.1.5 Frontendmodule Prof. Dr.-Ing. Roland Lachmayer
6.2 Materialien der Karosserie Prof. Dr. Rudolf Stauber
Dr.-Ing. René Konorsa
6.3 Oberflächenschutz Dr. Klaus Werner Thomer
6.4 Fahrzeuginnenraum
6.4.1 Ergonomie und Komfort Thomas Herpel
Peer-Oliver Wagner
6.4.2 Kommunikationssysteme und Navigation Dipl.-Ing. Ernst Peter Neukirchner
6.4.3 Innenraumbehaglichkeit/Thermischer Dr. Markus Wawzyniak
Komfort
6.4.4 Fahrzeuginnenausstattung Georg Laukart
Dipl.-Ing. Thomas Vorberg
6.5 Wischer- und Wascheranlagen Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h.
Hans-Hermann Braess

7 Fahrwerk
7.1 Einführung Dr.-Ing. Axel Pauly
7.2 Bremssysteme Dipl.-Ing. Steffen Gruber
Dipl.-Ing. Norbert Ocvirk
Dipl.-Ing. James Remfrey
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten Dipl.-Phys. Heiner Volk
7.3.7 Räder Dipl.-Ing. Roman Müller
7.3.8 Gleitschutzketten Dr. Hansjörg Rieger
7.4 Fahrwerkauslegung Dr. Andreas Bootz
Dipl.-Ing. Oliver Hohenöcker
Dipl.-Ing. Johann Niklas
Dipl.-lng. Ludwig Seethaler
7.5 Beurteilungskriterien Dr.-Ing. Erich Sagan
Dipl.-Ing. Thomas Unterstraßer (†)
7.6 Kraftstoffsystem Dipl.-Ing (FH) Martin Lauterbach
Maik Miklis
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen Dipl.-Ing. Gregor Fischer
für alternative Energieträger

8 Elektrik/Elektronik/Software
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software Dipl.-Ing. Bernd Kunkel
für das Automobil Dr.-Ing. Thomas Scharnhorst
Dr. Gabriel Schwab
8.2 Das Bordnetz Prof. Dr. rer. nat. Ludwig Brabetz
Prof. Dr.-Ing. Jürgen Leohold
8.3 Kommunikationsbordnetze Dr. Dirk Dudenbostel
Dipl.-Ing. Klaus Schneider
Dipl.-Ing. Thomas Volk
8.4 Elektromagnetische Verträglichkeit Dr. Wolfgang Pfaff
8.5 Funktionsdomänen
8.5.1 Einleitung
8.5.2 Beleuchtung Prof. Dr.-Ing. Roland Lachmayer
8.5.3 Cockpit-Instrumentierung Dr. Heinz-Bernhard Abel
Dr. Heinrich-Jochen Blume
8.5.4 Infotainment/Multimedia Dipl.-Ing. Gerhard Heyen
Dipl.-Ing. Markus Kreye
Kapitel, Beiträge und Mitarbeiter IX

8.5.4.7 Fahrzeugantennen Dr.-Ing. Guido Schneider


8.5.5 Fahrerassistenzsysteme Prof. Dr.-Ing. Peter Knoll
8.5.6 Telematik Dipl.-Ing. Günther Kasties
8.6 Mensch-Maschine-Interaktion Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer
8.7 Software Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Broy
8.8 Moderne Methoden der Regelungstechnik Dr. Jörg Helbig
Dr. Lothar Ganzelmeier

9 Fahrzeugsicherheit
9.1 Allgemein Dr. Mark Gonter
9.2 Gebiete der Fahrzeugsicherheit Dr.-Ing. Thomas Schwarz
9.3 Ergebnisse aus der Unfallforschung Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert
Dr. rer. nat. Robert Zobel
9.4 Unfallvermeidende Sicherheit
9.5 Biomechanik und Schutzkriterien
9.6 Quasistatische Anforderungen an die Karosserie
9.7 Dynamische Fahrzeugkollision
9.8 Insassenschutz
9.9 Integrale Sicherheit
9.10 Rechnerunterstützung bei der Entwicklung von
Sicherheitskomponenten
9.11 Zusammenfassung

10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren


10.1 Ein Blick zurück Dr. rer. pol. Dipl.-Ing. Ludwig Hamm
Dipl.-Ing. Volker Peitz
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge
10.3 Wettbewerb und Zusammenspiel der Werkstoffe
10.4 Wälzlager im Fahrzeugbau Dr.-Ing. Robert Plank
Berthold Krautkrämer
Reinhart Malik
Dr. Peter Solfrank

11 Produktentstehungsprozess
11.1 Simultaneous Engineering und Projekt- Dr.-Ing. Ulrich Widmann
management im Produktentstehungsprozess
11.2 Fahrzeugkonzeption in der frühen Ent- Dr.-Ing. Claus Ehlers
wicklungsphase Prof. Dr.-Ing. Thomas Breitling
11.3 Berechnung und Simulation in der Fahr- Dr.-Ing. Ulrich Widmann
zeugentwicklung
11.4 Mess- und Versuchstechnik Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h.
Hans-Hermann Braess
11.5 Qualitätsmanagement Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h.
Hans-Hermann Braess
11.6 Betrieb und Instandhaltung von Kraft- Norbert Grawunder
fahrzeugen Prof. Dr.-Ing. Volker Liskowsky

12 Rennfahrzeuge Dipl.-Ing. Willy Rampf


12.1 Einsatzbedingungen Dipl.-Ing. Ulrich Schulz
12.2 Fahrzeug-Kategorien Prof. Dr.-Ing. Mario Theissen
12.3 Bauweise
12.4 Performance und Rundenzeit
12.5 Entwicklung Aerodynamik und Fahrdynamik
12.6 Zuverlässigkeit

13 Ausblick – Wo geht es hin? Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h.


Hans-Hermann Braess
Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert
X

Autorenverzeichnis

Abel, Heinz-Bernhard, Dr. Continental Automotive GmbH, Babenhausen


www.continental-corporation.com
Achleitner, August, Dipl.-Ing.
Dipl. Wirtsch. Ing. Dr.-Ing. h.c. F. Porsche AG, Weissach
www.porsche.de
Adomeit, Philipp, Dr.-Ing. FEV Motorentechnik GmbH, Aachen
www.fev.com
Antony, Peter, Dipl.-Ing. (FH) DaimlerAG, Sindelfingen
www.daimler.com
Baar, Roland, Prof. Dr.-Ing. Voith Turbo Aufladungssysteme GmbH & Co. KG,
Gommern
www.voith.com
Beck, Markus, Dipl.-Ing. Bosch Engineering GmbH, Abstatt
www.bosch-engineering.de
Berger, Edgar, Dr. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Blume, Heinrich-Jochen, Dr. Continental Automotive GmbH, Babenhausen
www.continental-corporation.com
Bootz, Andreas, Dr. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Braess, Hans-Hermann, Honorarprofessor an der TU München,
Prof. Dr.-Ing., Dr.-Ing. E.h. TU Dresden und HTW Dresden
Brabetz, Ludwig, Prof. Dr. rer. nat. Universität Kassel
www.uni-kassel/fb16/fsg
Breitling, Thomas, Prof. Dr.-Ing. Daimler AG, Sindelfingen
www.daimler.com
Broy, Manfred, Prof. Dr. Dr. h.c. Technische Universität München, Garching
www.tu-muenchen.de
Döllner, Gernot, Dr.-Ing. Dr.-Ing. h.c. F. Porsche AG, Stuttgart
www.porsche.de
Dorenkamp, Richard, Dipl.-Ing. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Drescher, Ingo, Dr. rer. nat. ŠKODA AUTO a.s., CZ-Mladá Boleslav
www.skoda-auto.cz
Dudenbostel, Dirk, Dr.-Ing. Continental Automotive Systems Inc., Deer Park, IL (USA)
www.continental-corporation.com
Ehlers, Claus, Dr.-Ing. Daimler AG, Sindelfingen
www.daimler.com
Eilemann, Andreas, Dr. Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart
www.behrgroup.com
Fischer, Gregor, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Friedrich, Jürgen K.-H., Dr.-Ing. Daimler AG, Sindelfingen
www.daimler.com
Fritzsche, Egbert Verband der Automobilindustrie e. V. (VDA), Berlin
www.vda.de
Autorenverzeichnis XI

Futschik, Hans Dieter, Dipl.-Designer Daimler AG, Sindelfingen


www.daimler.com
Ganzelmeier, Lothar, Dr. VEHICO GmbH, Braunschweig
www.vehico.de
Gonter, Mark, Dr. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Goßmann, Helmut, Dipl.-Ing. Adam Opel AG, Rüsselsheim
www.opel.de
Grawunder, Norbert Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Greiner, Jürgen, Dr. ZF Getriebe GmbH Saarbrücken, Kressbronn
www.zf.com
Gruber, Manfred, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Gruber, Steffen, Dipl.-Ing. Continental Teves AG & Co. oHG, Frankfurt
www.conti-online.com
Guggenmos, Johannes, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.de
Gumpoltsberger, Gerhard, Dr.-Ing. ZF Friedrichshafen AG, Friedrichshafen
www.zf.com
Hamm, Ludwig, Dr. rer. pol. Dipl.-Ing. Dr.-Ing. h.c. F. Porsche AG, Weissach
www.porsche.de
Hansen, Frank, Dipl.-Kfm. BMW Group München
www.bmwgroup.com
Heckenberger, Thomas, Dr.-Ing. Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart
www.behrgroup.com
Heinl, Eckart, Dr.-Ing. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Helbig, Jörg, Dr. VEHICO GmbH, Braunschweig
www.vehico.de
Herpel, Thomas BMW Group, München
www.bmwgroup.de
Heyen, Gerhard, Dipl.-Ing. Visteon Innovation & Technology GmbH, Kerpen
www.visteon.com
Hohenöcker, Oliver, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Kasties, Günther, Dipl.-Ing. OECON P&S GmbH, Braunschweig
www.oecon-line.de
Kiesgen, Gerrit, Dr.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Knoll, Peter M., Prof. Dr.-Ing. Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
www.kit.edu
Konorsa, René, Dr.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Krautkrämer, Berthold Schaeffler Technologies GmbH und Co. KG, Herzogenaurach
www.schaeffler.com
XII Autorenverzeichnis

Kreye, Markus, Dipl.-Ing. Visteon Innovation & Technology GmbH, Kerpen


www.visteon.com
Kunkel, Bernd, Dipl.-Ing. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Kurz, Gerhard BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Lachmayer, Roland, Prof. Dr.-Ing. Hella KGaA, Lippstadt (jetzt: Institut für Produktentwicklung,
Leibniz Universität Hannover)
www.hella.com
Lanzer, Heribert, Dipl.-Ing. MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik AG & CO KG, A-Graz
www.magnasteyr.com
Laukart, Georg Magna Exteriors & Interiors Management GmbH, München
www.magna.com
Lauterbach, Martin, Dipl.-Ing (FH) BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Lemmer, Karsten, Prof. Dr.-Ing. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.,
Braunschweig
www.dlr.de/ts
Leohold, Jürgen, Prof. Dr.-Ing. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.com
Liskowsky, Volker, Prof. Dr. Westsächsische Hochschule, Zwickau
www.fh-zwickau.de
Malik, Reinhart Schaeffler Technologies GmbH und Co. KG, Herzogenaurach
www.schaeffler.com
Mankau, Heinz, Dr. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Miklis, Maik BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Mohrdieck, Christian H., Dr. Daimler AG, Kirchheim/Teck-Nabern
www.daimler.com
Müller, Roman, Dipl.-Ing. (FH) BBS GmbH, Schiltach
www.bbs.com
Nettlau, Hans-Jürgen Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg
www.kba.de
Neukirchner, Ernst Peter, Dipl.-Ing. Robert Bosch GmbH, Hildesheim (vormals)
www.bosch.com
Niklas, Johann, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Noreikat, Karl E., Prof. Dipl.-Ing. NorCon Scientific Consulting, Esslingen
Ocvirk, Norbert, Dipl.-Ing. Continental Teves AG & Co. oHG, Frankfurt
www.conti-online.com
Pauly, Axel, Dr.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Pecho, Walter Webasto-Edscha Cabrio GmbH, Hengersberg
www.webasto.com
Pecnik, Hermann, Ing. MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik AG & CO KG, A-Graz
www.magnasteyr.com
Autorenverzeichnis XIII

Peitz, Volker, Dipl.-Ing. Dr.-Ing. h.c. F. Porsche AG, Weissach


www.porsche.de
Pfaff, Wolfgang, Dr. Robert Bosch GmbH, Stuttgart
www.bosch.com
Pingen, Bert, Dipl.-Ing. MSc Ford-Werke GmbH, Köln
www.ford.com
Plank, Robert, Dr.-Ing. Schaeffler Technologies GmbH und Co. KG, Herzogenaurach
www.schaeffler.com
Pischinger, Franz, Prof. Dr. Dr. E.h. FEV Motorentechnik GmbH, Aachen
www.fev.com
Rampf, Willy, Dipl.-Ing.
Remfrey, James, Dipl.-Ing. Continental Teves AG & Co. oHG, Frankfurt
www.conti-online.com
Rieger, Hansjörg, Dr. RUD Ketten Rieger & Dietz GmbH & Co. KG, Aalen
www.rud.de
Sagan, Erich, Dr.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Sasse, Christoph, Dr. ZF Sachs AG, Schweinfurt
www.zf.com
Scharnhorst, Thomas, Dr.-Ing. WiTech Engineering GmbH
www.witech-engineering.de
Schindler, Klaus-Peter, Dr. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Schneider, Guido, Dr.-Ing. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Schneider, Klaus, Dipl.-Ing. Continental Automotive GmbH, Babenhausen
www.continental-corporation.com
Schulz, Ulrich, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmw-motorsport.com
Schulze, Herbert Daimler AG, Kirchheim/Teck-Nabern
www.daimler.com
Schwab, Gabriel, Dr. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
Schwarz, Thomas, Dr.-Ing. Audi AG, Ingolstadt
www.audi.com
Seethaler, Ludwig, Dipl.-Ing. BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Seiffert, Ulrich, Prof. Dr.-Ing. WiTech Engineering GmbH, Braunschweig
www.witech-engineering.de
Solfrank, Peter, Dr. Schaeffler Technologies GmbH und Co. KG, Herzogenaurach
www.schaeffler.com
Stauber, Rudolf, Prof. Dr. Zentralinstitut für Neue Materialien und Prozesstechnik
der Universität Erlangen-Nürnberg
www.zmp.uni-erlangen.de
XIV Autorenverzeichnis

Steinel, Klaus, Dipl.-Ing. ZF Sachs AG, Schweinfurt


www.zf.com
Stüttem, Martin, Dipl.-Ing. Faurecia Emissions Control Technologies, Augsburg
www.faurecia.com
Teske, Lothar, Dipl.-Ing. Adam Opel AG, Rüsselsheim
www.opel.de
Theissen, Mario, Prof. Dr.-Ing. BMW Group, München
www.bmw-motorsport.com
Thomer, Klaus Werner, Dr. Adam Opel AG, Rüsselsheim (vormals)
www.opel.de
Timm, Heinrich, Dipl.-Ing. Audi AG, Ingolstadt
www.audi.de
Unterstraßer, Thomas, Dipl.-Ing. (†) BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Urstöger, Manuel, Dipl.-Ing. Daimler AG, Sindelfingen
www.daimler.com
Volk, Heiner, Dipl.-Phys. Continental AG, Hannover
www.conti-online.com
Volk, Thomas, Dipl.-Ing. Continental Automotive GmbH, Wetzlar
www.continental-corporation.com
Vorberg, Thomas, Dipl.-Ing. Altair Engineering GmbH, Böblingen
www.altairproductdesign.de
Wagner, Markus, B. Eng. Daimler AG, Stuttgart
www.daimler.com
Wagner, Peer-Oliver BMW Group, München
www.bmwgroup.com
Wawzyniak, Markus, Dr. Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart
www.behrgroup.com
Widmann, Ulrich, Dr.-Ing. Audi AG, Ingolstadt
www.audi.de
Wöhr, Martin, Dr. Daimler AG, Kirchheim/Teck-Nabern
www.daimler.com
Zinke, Ekhard Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg
www.kba.de
Zobel, Robert, Dr. Volkswagen AG, Wolfsburg
www.volkswagen.de
XV

Firmen- und Institutionenverzeichnis

Adam Opel AG, Rüsselsheim Dipl.-Ing. Helmut Goßmann


Dipl.-Ing. Lothar Teske
Dr. Klaus Werner Thomer (vormals)
Altair Engineering GmbH, Böblingen Dipl.-Ing. Thomas Vorberg
Audi AG, Ingolstadt Dr.-Ing. Thomas Schwarz
Dipl.-Ing. Heinrich Timm
Dr.-Ing. Ulrich Widmann
BBS International GmbH, Schiltach Dipl.-Ing. (FH) Roman Müller
Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart Dr. Andreas Eilemann
Dr.-Ing. Thomas Heckenberger
Dr. Markus Wawzyniak
BMW Group, München Dr. Edgar Berger
Dr. Andreas Bootz
Dipl.-Ing. Gregor Fischer
Dipl.-Ing. Manfred Gruber
Dipl.-Ing. Johannes Guggenmos
Dipl.-Kfm. Frank Hansen
Thomas Herpel
Dr.-Ing. Gerrit Kiesgen
Dr.-Ing. René Konorsa
Gerhard Kurz
Dipl.-Ing. (FH) Martin Lauterbach
Maik Miklis
Dipl.-Ing. Oliver Hohenöcker
Dipl.-Ing. Johann Niklas
Dr.-Ing. Axel Pauly
Dr.-Ing. Erich Sagan
Dipl.-Ing. Ulrich Schulz
Dipl.-Ing. Ludwig Seethaler
Prof. Dr.-Ing. Mario Theissen
Dipl.-Ing. Thomas Unterstraßer (†)
Peer-Oliver Wagner
Bosch Engineering GmbH, Abstatt Dipl.-Ing. Markus Beck
Continental AG, Hannover Dipl.-Phys. Heiner Volk
Continental Automotive Systems Ind., Deer Park, IL (USA) Dr. Dirk Dudenbostel
Continental Automotive GmbH, Babenhausen Dr. Heinz-Bernhard Abel
Dr. Heinrich-Jochen Blume
Dipl.-Ing. Klaus Schneider
Continental Automotive GmbH, Wetzlar Dipl.-Ing. Thomas Volk
Continental Teves AG & Co. oHG, Frankfurt Dipl.-Ing. Steffen Gruber
Dipl.-Ing. Norbert Ocvirk
Dipl.-Ing. James Remfrey
Daimler AG, Kirchheim/Teck-Nabern Dr. Christian H. Mohrdieck
Herbert Schulze
Dr. Martin Wöhr
Daimler AG, Sindelfingen Dipl.-Ing. (FH) Peter Antony
Prof. Dr.-Ing. Thomas Breitling
Dr.-Ing. Claus Ehlers
Dr.-Ing. Jürgen K.-H. Friedrich
Dipl.-Designer Hans Dieter Futschik
Dipl.-Ing. Manuel Urstöger
Daimler AG, Stuttgart-Untertürkheim Markus Wagner, B. Eng.
Faurecia Emissions Control Technologies, Augsburg Dipl.-Ing. Martin Stüttem
FEV Motorentechnik GmbH, Aachen Prof. Dr. Dr. E. h. Franz Pischinger
Dr.-Ing. Philipp Adomeit
Ford-Werke GmbH, Köln Dipl.-Ing. MSc Bert Pingen
Hella KGaA, Lippstadt Prof. Dr.-Ing. Roland Lachmayer
(Jetzt: Institut für Produktentwicklung,
Leibniz Universität Hannover)
XVI Firmen- und Institutionenverzeichnis

Magna Exteriors & Interiors Management GmbH, Georg Laukart


München
MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik Dipl.-Ing. Heribert Lanzer
AG & CO KG, A-Graz Ing. Hermann Pecnik
OECON P&S GmbH, Braunschweig Dipl.-Ing. Günther Kasties
Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG, Stuttgart Dr.-Ing. Gernot Döllner
Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG, Weissach Dipl. Ing. Dipl. Wirtsch. Ing.
August Achleitner
Dr. rer. pol. Dipl.-Ing. Ludwig Hamm
Dipl.-Ing. Volker Peitz
Robert Bosch GmbH, Hildesheim Dipl.-Ing. Ernst Peter Neukirchner
(vormals)
Robert Bosch GmbH, Stuttgart Dr. Wolfgang Pfaff
RUD Ketten Dr. Hansjörg Rieger
Rieger & Dietz GmbH & Co. KG, Aalen
Schaeffler Technologies GmbH und Co. KG, Herzogenaurach Berthold Krautkrämer
Reinhart Malik
Dr. Robert Plank
Dr. Peter Solfrank
ŠKODA AUTO a.s., CZ-Mladá Boleslav Dr. rer. nat. Ingo Drescher
Vehico GmbH, Braunschweig Dr. Lothar Ganzelmeier
Dr. Jörg Helbig
Visteon Innovation & Technology GmbH, Kerpen Dipl.-Ing. Gerhard Heyen
Dipl.-Ing. Markus Kreye
Voith Turbo Aufladungssysteme GmbH & Co. KG, Gommern Prof. Dr.-Ing. Roland Baar
Volkswagen AG, Wolfsburg Richard Dorenkamp
Dr. Mark Gonter
Norbert Grawunder
Dr.-Ing. Eckart Heinl
Dipl.-Ing. Bernd Kunkel
Prof. Dr.-Ing. Jürgen Leohold
Dr.-Ing. Heinz Mankau
Dr. Klaus-Peter Schindler
Dr.-Ing. Guido Schneider
Dr. Gabriel Schwab
Dr. Robert Zobel
Webasto-Edscha Cabrio GmbH, Hengersberg Walter Pecho
WiTech Engineering GmbH, Braunschweig Dr.-Ing. Thomas Scharnhorst
Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert
ZF Friedrichshafen AG, Friedrichshafen Dr.-Ing. Gerhard Gumpoltsberger
ZF Getriebe GmbH Saarbrücken, Kressbronn Dr. Jürgen Greiner
ZF Sachs AG, Schweinfurt Dr. Christoph Sasse
Dipl.-Ing. Klaus Steinel

Institutionenverzeichnis
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V., Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer
Braunschweig
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Prof. Dr.-Ing. Peter M. Knoll
Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg Ekhard Zinke
Hans-Jürgen Nettlau
NorCon Scientific Consulting, Esslingen Prof. Dipl.-Ing. Karl E. Noreikat
Technische Universität München Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Broy
Universität Kassel Prof. Dr. rer. nat. Ludwig Brabetz
Verband der Automobilindustrie e. V. (VDA), Berlin Egbert Fritzsche
Westsächsische Hochschule Zwickau Prof. Dr.-Ing. Volker Liskowsky
Zentralinstitut für Neue Materialien und Prozesstechnik Prof. Dr. Rudolf Stauber
der Universität Erlangen-Nürnberg
Inhaltsverzeichnis XVII

Inhaltsverzeichnis

1 Mobilität ..................................................................................................................................................... 1
1.1 Einleitung......................................................................................................................................... 1
1.2 Ursachen und Arten der Mobilität ................................................................................................... 2
1.2.1 Definitionen ........................................................................................................................ 2
1.2.2 Aktivitäten bestimmen Mobilität........................................................................................ 3
1.2.3 Transportsysteme für den Güterverkehr ............................................................................. 4
1.2.4 Einige spezielle Ausprägungen von Mobilität.................................................................... 4
1.3 Spannungsfelder und Auswirkungen der Mobilität ......................................................................... 4
1.4 Mobilitätsrelevante Anforderungen an Automobile ........................................................................ 5
1.4.1 Grundsätzliche Anforderungen........................................................................................... 5
1.4.2 Einige spezielle Anforderungen ......................................................................................... 6

2 Anforderungen, Zielkonflikte ................................................................................................................... 7


2.1 Produktinnovation, bisherige Fortschritte........................................................................................ 7
2.1.1 Kundenwünsche.................................................................................................................. 7
2.1.2 Gesetzgebung ..................................................................................................................... 8
2.1.3 Fahrzeugtechnik ................................................................................................................. 9
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber ........................................................................................... 15
2.2.1 Zulassung zum Straßenverkehr .......................................................................................... 15
2.2.2 Die nationalen und supranationalen Rechtsquellen............................................................ 15
2.2.2.1 Straßenverkehrsrecht mit StVZO ....................................................................... 15
2.2.2.2 Rechtsakte der Europäischen Union................................................................... 17
2.2.2.3 Regelungen der UN-Wirtschaftskommission für Europa................................... 18
2.2.2.4 Weitere Maßnahmen zum Abbau von Handelshemmnissen.............................. 18
2.2.3 Unfallvorbeugung (aktive Sicherheit) ................................................................................ 19
2.2.3.1 Allgemeines ........................................................................................................ 19
2.2.3.2 Bremsanlage ....................................................................................................... 19
2.2.3.3 Sichtfeld.............................................................................................................. 20
2.2.3.4 Lichttechnische Einrichtungen ........................................................................... 20
2.2.4 Unfallfolgenmilderung (passive Sicherheit)....................................................................... 20
2.2.4.1 Allgemeines ........................................................................................................ 20
2.2.4.2 Insassenschutz bei Frontalaufprall...................................................................... 20
2.2.4.3 Insassenschutz bei Seitenaufprall ....................................................................... 21
2.2.4.4 Fußgängerschutz................................................................................................. 21
2.2.5 Anforderungen an das Emissionsverhalten ........................................................................ 21
2.2.5.1 Allgemeines ........................................................................................................ 21
2.2.5.2 Geräuschpegel und Auspuffanlage..................................................................... 22
2.2.5.3 Abgase ................................................................................................................ 22
2.2.5.3.1 Emissionen von Kraftfahrzeugen ...................................................... 22
2.2.5.4 Elektromagnetische Verträglichkeit und Funkstörung ....................................... 24
2.2.6 Verschiedenes..................................................................................................................... 25
2.2.6.1 Anbringung des hinteren Kennzeichens ............................................................. 25
2.2.6.2 Sicherungseinrichtungen gegen unbefugte Benutzung, Wegfahrsperre,
Diebstahlschutz................................................................................................... 25
2.2.6.3 Fabrikschild, Fahrzeugidentifizierungsnummer................................................. 25
2.2.6.4 Messung der Motorleistung ................................................................................ 25
2.2.6.5 Massen und Abmessungen von Klasse M1-Fahrzeugen ..................................... 25
2.2.6.6 Altfahrzeuge, Recycling ..................................................................................... 25
2.2.7 Ausblick.............................................................................................................................. 26
2.2.8 Normen ............................................................................................................................... 26
2.2.8.1 Einleitung ........................................................................................................... 26
2.2.8.2 Nationale und internationale Struktur................................................................. 26
2.2.8.3 Grundregeln der Normungsarbeit und Anwendung von Normen ...................... 26
XVIII Inhaltsverzeichnis

2.2.8.4 Erarbeitung einer Norm ...................................................................................... 27


2.2.8.5 Facharbeit in Normenausschüssen...................................................................... 27
2.2.8.6 Normung in der Automobiltechnik..................................................................... 28
2.2.8.7 Aufgaben des NA Automobil ............................................................................. 28
2.2.8.8 Normungsfelder .................................................................................................. 29
2.2.8.9 Nutzen der Normung .......................................................................................... 29
2.3 Neue Technologien .......................................................................................................................... 30

3 Fahrzeugphysik .......................................................................................................................................... 33
3.1 Grundlagen....................................................................................................................................... 33
3.1.1 Definitionen ........................................................................................................................ 34
3.1.2 Fahrwiderstand und Antrieb ............................................................................................... 34
3.1.3 Kraftstoffverbrauch beeinflussende Maßnahmen............................................................... 36
3.1.4 Dynamische Kräfte ............................................................................................................. 37
3.1.5 Weitere Definitionen .......................................................................................................... 37
3.2 Aerodynamik ................................................................................................................................... 37
3.2.1 Grundlagen ......................................................................................................................... 37
3.2.2 Wirkungsbereiche............................................................................................................... 39
3.2.2.1 Luftwiderstand/Fahrleistung............................................................................... 39
3.2.2.2 Fahrsicherheit ..................................................................................................... 41
3.2.2.3 Benetzung und Verschmutzung.......................................................................... 42
3.2.2.4 Einzelkräfte......................................................................................................... 43
3.2.2.5 Kühlung/Bauteiltemperaturen ............................................................................ 44
3.2.2.6 Innenraumklima.................................................................................................. 44
3.2.2.7 Windgeräusche ................................................................................................... 45
3.2.3 Einordnung in die Gesamtentwicklung .............................................................................. 46
3.3 Wärmetechnik .................................................................................................................................. 46
3.3.1 Kühlung von Verbrennungsmotoren .................................................................................. 46
3.3.1.1 Auslegung von Kühlern...................................................................................... 48
3.3.1.2 Kühlerbauarten ................................................................................................... 49
3.3.1.3 Lüfter und Lüfterantriebe ................................................................................... 50
3.3.1.4 Kühlmodule ........................................................................................................ 50
3.3.1.5 Gesamtsystem Motorkühlung............................................................................. 50
3.3.2 Beheizen und Kühlen des Fahrgastraumes......................................................................... 51
3.3.2.1 Die Funktion Heizen und ihre Komponenten..................................................... 52
3.3.2.2 Die Funktion der Kälteanlage und ihre Komponenten....................................... 53
3.3.2.3 Verdichter und Regelung der Kälteleistung ....................................................... 55
3.3.2.4 Auslegung der Klimaanlage ............................................................................... 55
3.3.2.5 Kraftstoffmehrverbrauch durch die Klimaanlage............................................... 56
3.3.3 Komponenten und Systeme zur Heizung und Kühlung von Fahrzeugen
mit alternativen Antriebssystemen ..................................................................................... 57
3.3.3.1 Einführung .......................................................................................................... 57
3.3.3.2 Microhybride ...................................................................................................... 57
3.3.3.3 Milde Hybride und Batteriekühlung................................................................... 58
3.3.3.4 Vollhybride......................................................................................................... 59
3.3.3.5 Batteriebetriebene Elektrofahrzeuge .................................................................. 60
3.4 Akustik und Schwingungen ............................................................................................................. 62
3.4.1 Einleitung ........................................................................................................................... 62
3.4.2 Fahrgeräusche..................................................................................................................... 63
3.4.3 Antriebsgeräusch ................................................................................................................ 64
3.4.3.1 Luftschall ............................................................................................................ 65
3.4.3.2 Körperschall........................................................................................................ 67
3.4.4 Rollgeräusch ....................................................................................................................... 69
3.4.5 Windgeräusch ..................................................................................................................... 70
3.4.6 Mechatronische Geräusche................................................................................................. 72
3.4.6.1 Stellmotoren........................................................................................................ 73
3.4.6.2 Fahrzeugklimatisierung ...................................................................................... 73
3.4.6.3 Lüfter und Gebläse ............................................................................................. 74
Inhaltsverzeichnis XIX

3.4.6.4 Lenkungssystem ................................................................................................. 74


3.4.6.5 Fahrwerksregelung ............................................................................................. 74
3.4.6.6 Biegeschlaffe Leitungen ..................................................................................... 75
3.4.7 Klappern, Knarzen, Quietschen.......................................................................................... 75
3.4.8 Außengeräusch ................................................................................................................... 76
3.4.8.1 Standgeräusch..................................................................................................... 76
3.4.8.2 Fahrgeräusche..................................................................................................... 76
3.4.8.3 Vorbeifahrt nach ISO 362................................................................................... 76
3.4.8.4 Reifen/Fahrbahngeräusch ................................................................................... 78
3.4.9 Schwingungskomfort.......................................................................................................... 79
3.4.9.1 Motorerregte Schwingungen .............................................................................. 79
3.4.9.2 Fahrbahnerregte Schwingungen ......................................................................... 80
3.4.9.3 Raderregte Schwingungen.................................................................................. 81
3.4.10 Akustik und Schwingungen beim Elektrischen Fahren...................................................... 81
3.4.11 Prozess Akustikentwicklung............................................................................................... 82

4 Formen und neue Konzepte ......................................................................................................................... 84


4.1 Design .............................................................................................................................................. 84
4.1.1 Die Bedeutung von Design................................................................................................. 84
4.1.2 Designziele ......................................................................................................................... 84
4.1.3 Der Designprozess.............................................................................................................. 84
4.1.4 Der kreative Prozess ........................................................................................................... 85
4.1.5 Der virtuelle Designprozess................................................................................................ 87
4.1.6 Modellphase ....................................................................................................................... 87
4.1.7 Color, Trim und Individualisierung.................................................................................... 88
4.1.8 Designaktivitäten in der Produktionsvorbereitung ............................................................. 88
4.1.9 Entscheidungen................................................................................................................... 89
4.1.10 Designstudien und Advanced Design................................................................................. 89
4.1.11 Sinnliche Wahrnehmung im Design................................................................................... 89
4.2 Fahrzeugkonzept und Package......................................................................................................... 92
4.2.1 Einführung und Definition ................................................................................................. 92
4.2.2 Gestaltung von Fahrzeugkonzepten.................................................................................... 93
4.2.2.1 Außenabmessungen und Fahrzeugklassen ......................................................... 94
4.2.2.2 Aufbauausprägungen und Konzeptsegmente ..................................................... 94
4.2.2.3 Fahrzeuggrundformen ........................................................................................ 95
4.2.2.4 Sitzigkeit, Gepäckraum und Innenraumvariabilität............................................ 96
4.2.2.5 Wesentliche Innenraumabmessungen................................................................. 96
4.2.2.6 Aggregate- und Antriebsstrangkonzepte ............................................................ 97
4.2.2.7 Hybridkonzepte .................................................................................................. 100
4.2.2.8 Fahrzeuggewicht................................................................................................. 101
4.2.3 Einflussfaktoren und Gestaltungsfelder des Package ........................................................ 101
4.2.3.1 Gesetze und Vorschriften ................................................................................... 101
4.2.3.2 Innenraummaßkonzeption .................................................................................. 101
4.2.3.3 Konzeptbeeinflussende Maßketten..................................................................... 102
4.2.3.3.1 Die Fahrzeuglänge definierende Maßketten ..................................... 103
4.2.3.3.2 Die Fahrzeughöhe definierende Maßketten ...................................... 104
4.2.3.3.3 Die Fahrzeugbreite definierende Maßketten ..................................... 104
4.2.3.4 Ausgewählte Aspekte des Packages ................................................................... 105
4.2.3.4.1 Karosseriestruktur ............................................................................. 105
4.2.3.4.2 Motorraum......................................................................................... 105
4.2.3.4.3 Unterboden ........................................................................................ 105
4.2.3.4.4 Tank, Leitungen und Reserverad ...................................................... 106
4.2.3.5 Anforderungen aus Produktion und Kundendienst ............................................ 106
4.2.3.5.1 Produktion und Modularisierung ...................................................... 106
4.2.3.5.2 Kundendienst..................................................................................... 106
4.2.3.6 Einfluss von Plattform und Baukästen ............................................................... 106
4.2.4 Beispiele ausgewählter Fahrzeugkonzepte in unterschiedlichen Klassen.......................... 107
4.2.4.1 Beispiele nach Fahrzeuggrößenklasse ................................................................ 107
XX Inhaltsverzeichnis

4.2.4.2 Beispiele nach Fahrzeugausprägung .................................................................. 109


4.2.5 Konzeption und Packageprozess in der industriellen Praxis .............................................. 110
4.2.6 Entwicklung der Fahrzeugkonzepte ................................................................................... 110
4.3 Neuartige Antriebe........................................................................................................................... 111
4.3.1 Elektroantriebe ................................................................................................................... 111
4.3.1.1 Antriebssystem für Elektrofahrzeuge ................................................................. 112
4.3.1.2 Elektromotoren für Elektrofahrzeuge................................................................. 113
4.3.1.3 Umrichter............................................................................................................ 115
4.3.1.4 Traktionsbatterien............................................................................................... 116
4.3.1.5 Superkondensatoren............................................................................................ 118
4.3.1.6 Ladegeräte .......................................................................................................... 118
4.3.1.7 Ausblick.............................................................................................................. 118
4.3.2 Brennstoffzellenantriebssysteme ........................................................................................ 119
4.3.2.1 Antriebsarchitektur mit PEM-Brennstoffzellen.................................................. 120
4.3.2.1.1 Brennstoffzellen-Stack ...................................................................... 121
4.3.2.1.2 Stack-Peripherie ................................................................................ 124
4.3.2.1.3 Mobile Wasserstoffspeicher.............................................................. 125
4.3.2.1.4 Hybridisierter Brennstoffzellenantrieb.............................................. 125
4.3.2.2 Sicherheit ............................................................................................................ 126
4.3.2.3 Rechtsvorschriften und Standards ...................................................................... 127
4.3.2.4 Brennstoffzellen-Fahrzeuge................................................................................ 127
4.3.2.4.1 Brennstoffzellen – Pkw und – Transporter ....................................... 128
4.3.2.4.2 Brennstoffzellen-Busse ..................................................................... 129
4.3.2.4.3 Demonstrationen und Flottenversuche.............................................. 130
4.3.2.5 Kraftstoffversorgung und Infrastruktur .............................................................. 131
4.3.2.6 Ausblick.............................................................................................................. 131
4.3.3 Hybridantrieb...................................................................................................................... 133
4.3.3.1 Szenario .............................................................................................................. 133
4.3.3.2 Konzepte und Betriebsstrategien ........................................................................ 133
4.3.3.3 Plug-In Hybride .................................................................................................. 140
4.3.3.4 Hybrid Sportwagen............................................................................................. 142
4.3.3.5 Antriebskomponenten aus Hybridsicht .............................................................. 143
4.3.3.6 Fahrzeugintegration ............................................................................................ 145
4.3.4 Stirlingmotor, Dampfmotor, Gasturbine und Schwungrad ................................................ 146
4.3.4.1 Stirlingmotor....................................................................................................... 146
4.3.4.2 Dampfmotor........................................................................................................ 148
4.3.4.3 Gasturbine........................................................................................................... 149
4.3.4.4 Schwungrad ........................................................................................................ 150
4.3.5 Der Wasserstoff-Verbrennungsmotor................................................................................. 153
4.3.5.1 Konstruktive Merkmale...................................................................................... 153
4.3.5.2 H2-Brennverfahren mit äußerer Gemischbildung ............................................... 154
4.3.5.3 H2-Brennverfahren mit innerer Gemischbildung................................................ 155
4.3.5.4 Wirkungsgradpotenziale..................................................................................... 155
4.3.5.5 H2-Ottomotor als Fahrzeugantrieb...................................................................... 156

5 Antriebe ...................................................................................................................................................... 158


5.1 Grundlagen der Motorentechnik ...................................................................................................... 158
5.1.1 Prozess des Verbrennungsmotors....................................................................................... 158
5.1.1.1 Viertakt-Verfahren.............................................................................................. 158
5.1.1.2 Zweitakt-Verfahren ............................................................................................ 159
5.1.2 Definitionen und Kenngrößen ............................................................................................ 159
5.1.2.1 Leistungskenngrößen.......................................................................................... 159
5.1.2.2 Spezifische Motorkenngrößen............................................................................ 160
5.1.2.3 Wirkungsgrade.................................................................................................... 160
5.1.3 Bauarten.............................................................................................................................. 162
5.1.3.1 Hubkolbenmotoren ............................................................................................. 162
5.1.3.1.1 Bauformen......................................................................................... 162
Inhaltsverzeichnis XXI

5.1.3.1.2 Kinematik des Kurbeltriebs............................................................... 164


5.1.3.1.3 Kräfte und Momente im Triebwerk .................................................. 164
5.1.3.2 Rotationskolbenmotoren..................................................................................... 168
5.1.4 Konstruktion und Motormechanik...................................................................................... 169
5.1.4.1 Kurbelgehäuse .................................................................................................... 169
5.1.4.2 Kurbelwelle ........................................................................................................ 170
5.1.4.3 Pleuel .................................................................................................................. 171
5.1.4.4 Kolben ................................................................................................................ 171
5.1.4.5 Zylinderkopf ....................................................................................................... 171
5.1.4.6 Ventiltrieb und Steuertrieb ................................................................................. 172
5.1.4.6.1 Hauptbauteile des Ventiltriebs .......................................................... 172
5.1.4.6.2 Bauformen des Ventiltriebs............................................................... 173
5.1.4.6.3 Variable Ventilsteuerung................................................................... 176
5.1.4.7 Motorkühlung ..................................................................................................... 179
5.1.4.8 Motorschmierung................................................................................................ 181
5.1.4.9 Saugrohr.............................................................................................................. 183
5.1.4.10 Nebenaggregate und Package............................................................................. 183
5.1.5 Ottomotoren........................................................................................................................ 186
5.1.5.1 Ladungswechsel.................................................................................................. 187
5.1.5.1.1 Ansaugsystem.................................................................................... 187
5.1.5.1.2 Abgassystem...................................................................................... 188
5.1.5.1.3 Ventilsteuerzeiten.............................................................................. 189
5.1.5.1.4 Variable Ventilsteuerung................................................................... 189
5.1.5.2 Gemischbildung.................................................................................................. 191
5.1.5.2.1 Homogene Gemischbildung.............................................................. 192
5.1.5.2.2 Benzin-Direkteinspritzung ................................................................ 193
5.1.5.2.3 Abgasrückführung............................................................................. 199
5.1.5.2.4 Ladungsbewegung............................................................................. 200
5.1.5.3 Zündung.............................................................................................................. 201
5.1.5.4 Downsizing und Aufladung................................................................................ 204
5.1.5.4.1 Betriebspunktverlagerung ................................................................. 205
5.1.5.4.2 Variable Verdichtung ........................................................................ 206
5.1.5.5 Verbrennung ....................................................................................................... 207
5.1.5.6 Abgasreinigung................................................................................................... 209
5.1.5.6.1 Drei-Wege-Katalysator ..................................................................... 209
5.1.5.6.2 DeNOx-Katalysator............................................................................ 212
5.1.5.7 Motormanagement.............................................................................................. 215
5.1.5.7.1 Motorsteuerung ................................................................................. 215
5.1.5.7.2 Betriebsstrategie und Motormanagement
bei Benzin-Direkteinspritzung .......................................................... 217
5.2 Dieselmotor...................................................................................................................................... 219
5.2.1 Definitionen ........................................................................................................................ 219
5.2.2 Historie des Dieselmotors................................................................................................... 220
5.2.3 Motortechnische Grundlagen ............................................................................................. 221
5.2.3.1 Einleitung ........................................................................................................... 221
5.2.3.2 Vergleich motorischer Verbrennungsverfahren ................................................. 222
5.2.3.3 Die Thermodynamik des Dieselmotors .............................................................. 223
5.2.4 Die dieselmotorische Verbrennung .................................................................................... 224
5.2.4.1 Allgemeines ........................................................................................................ 224
5.2.4.2 Einspritzung und Gemischbildung ..................................................................... 224
5.2.4.3 Selbstzündung und Zündverzug ......................................................................... 226
5.2.4.4 Verbrennung und Brennverlauf .......................................................................... 227
5.2.4.5 Abgasemissionen ................................................................................................ 227
5.2.5 Die dieselmotorischen Verbrennungsverfahren ................................................................. 230
5.2.5.1 Ausführungsformen ............................................................................................ 231
5.2.5.2 Vorkammerverfahren.......................................................................................... 231
5.2.5.3 Wirbelkammerverfahren..................................................................................... 231
5.2.5.4 Direkte Einspritzung........................................................................................... 232
XXII Inhaltsverzeichnis

5.2.5.5 Qualitative Bewertung von Verbrennungsverfahren.......................................... 233


5.2.5.6 Simulation der dieselmotorischen Verbrennung ................................................ 234
5.2.6 Konstruktive und funktionale Merkmale des Dieselmotors ............................................... 235
5.2.6.1 Zylinderkopf und Zylinderkurbelgehäuse .......................................................... 235
5.2.6.2 Einspritzsysteme................................................................................................. 236
5.2.6.3 Aufladung ........................................................................................................... 242
5.2.6.4 Abgasrückführung .............................................................................................. 243
5.2.6.5 Luftmanagement................................................................................................. 244
5.2.6.6 Brennverfahren ................................................................................................... 244
5.2.6.7 Downsizing und Downspeeding......................................................................... 244
5.2.7 Abgasnachbehandlung........................................................................................................ 245
5.2.7.1 Oxidationskatalysator ......................................................................................... 245
5.2.7.2 Dieselpartikelfilter .............................................................................................. 246
5.2.7.3 Entstickung ......................................................................................................... 249
5.2.8 Dieselkraftstoffe ................................................................................................................. 252
5.2.9 Regelung............................................................................................................................. 255
5.2.10 Die Zukunft des Dieselmotors............................................................................................ 256
5.3 Aufladung ........................................................................................................................................ 264
5.3.1 Hintergrund......................................................................................................................... 264
5.3.2 Aufladeprinzip .................................................................................................................... 265
5.3.3 Konstruktiver Aufbau ......................................................................................................... 268
5.3.4 Kopplung von Motor und Verdichter ................................................................................. 269
5.3.5 Regelung............................................................................................................................. 270
5.3.6 Motorkomponenten im unmittelbaren Zusammenhang zur Aufladung ............................. 272
5.3.7 Sonstige Regelungssysteme................................................................................................ 273
5.3.8 Downsizing und Aufladung: Potenziale, Grenzen, Auswirkungen.................................... 274
5.3.9 Methoden in der Entwicklung ............................................................................................ 275
5.3.10 Ausblick.............................................................................................................................. 276
5.4 Triebstrang ....................................................................................................................................... 277
5.4.1 Überblick ............................................................................................................................ 277
5.4.1.1 Einleitung ........................................................................................................... 277
5.4.1.2 Aufgaben des Getriebes...................................................................................... 277
5.4.1.3 Aufbau und Elemente des Triebstrangs.............................................................. 279
5.4.1.4 Achsantrieb......................................................................................................... 279
5.4.1.5 Differenzialgetriebe ............................................................................................ 279
5.4.1.6 Allrad-Verteilergetriebe...................................................................................... 280
5.4.1.7 Gelenkwellen ...................................................................................................... 280
5.4.1.8 Schwingungssystem............................................................................................ 280
5.4.2 Anfahrelemente .................................................................................................................. 281
5.4.2.1 Kupplungen ........................................................................................................ 281
5.4.2.2 Hydrodynamische Drehmomentwandler............................................................ 284
5.4.3 Das Handschaltgetriebe-System ......................................................................................... 287
5.4.3.1 Funktion und Aufbau.......................................................................................... 287
5.4.3.2 Verzahnung......................................................................................................... 287
5.4.3.3 Synchronisierung ................................................................................................ 288
5.4.3.4 Weitere Getriebekomponenten ........................................................................... 289
5.4.3.5 Getriebeschaltung ............................................................................................... 289
5.4.3.6 Ausführungsbeispiele ......................................................................................... 289
5.4.3.7 Automatisierte Schaltgetriebe............................................................................. 290
5.4.4 Stufenautomatgetriebe ........................................................................................................ 291
5.4.4.1 Funktionsweise ................................................................................................... 291
5.4.4.2 Aufbau ................................................................................................................ 292
5.4.4.3 Baugruppen......................................................................................................... 292
5.4.4.4 Betätigung........................................................................................................... 296
5.4.4.5 Betriebsverhalten ................................................................................................ 296
5.4.4.6 Ausführungsbeispiele ......................................................................................... 298
5.4.5 Stufenlose Getriebe............................................................................................................. 299
5.4.5.1 Funktionsweise ................................................................................................... 299
Inhaltsverzeichnis XXIII

5.4.5.2 Aufbau ................................................................................................................ 300


5.4.5.3 Baugruppen......................................................................................................... 301
5.4.5.4 Betätigung........................................................................................................... 302
5.4.5.5 Betriebsverhalten ................................................................................................ 302
5.4.5.6 Ausführungsbeispiele ......................................................................................... 303
5.4.6 Doppelkupplungsgetriebe................................................................................................... 304
5.4.6.1 Funktionen und Bauteile..................................................................................... 305
5.4.6.2 Radsatzsynthese.................................................................................................. 306
5.4.7 Hybridantriebe .................................................................................................................... 307
5.4.7.1 Hybridsysteme .................................................................................................... 307
5.4.7.2 Mikrohybrid........................................................................................................ 308
5.4.7.3 Mildhybrid und Vollhybrid ................................................................................ 308
5.4.7.4 Verbrauchseinsparung ........................................................................................ 308
5.4.8 Elektronische Getriebesteuerung........................................................................................ 309
5.4.8.1 Gesamtsystem..................................................................................................... 310
5.4.8.2 Steuergerät .......................................................................................................... 311
5.4.8.3 Bauteile............................................................................................................... 312
5.4.8.4 Funktionen .......................................................................................................... 313
5.4.9 Ausblick.............................................................................................................................. 315
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen ............................................................................. 316
5.5.1 Allradantriebs-Konzepte..................................................................................................... 316
5.5.1.1 Verwendung von Allradantrieben ...................................................................... 316
5.5.1.2 Kennlinien von Allradantrieben ......................................................................... 317
5.5.1.3 Systematik der Antriebe ..................................................................................... 317
5.5.1.4 Systemkomponenten........................................................................................... 318
5.5.1.5 Getriebeabtriebe.................................................................................................. 327
5.5.1.6 Systemauswahl ................................................................................................... 329
5.5.1.7 Einfluss auf Crashverhalten................................................................................ 329
5.5.1.8 Geräusch- und Schwingungstechnik Noise-Vibration-Harshness
(NVH)................................................................................................................. 329
5.5.1.9 Dimensionierung ................................................................................................ 330
5.5.1.10 Allradantrieb und Regelsysteme......................................................................... 330
5.5.2 Antriebs- und Bremsregelung............................................................................................. 330
5.5.2.1 Unfallvorbeugende Sicherheit ............................................................................ 330
5.5.2.2 Traktionssysteme ................................................................................................ 331
5.5.2.3 Stabilitätssysteme ............................................................................................... 331
5.5.2.3.1 Passive Systeme ASC, ASR.............................................................. 331
5.5.2.3.2 Aktive Systeme, DSC, ESP............................................................... 332
5.5.2.3.3 Elektronisches Bremsen Management EBM..................................... 333
5.5.2.3.4 EBMx für Allradfahrzeuge................................................................ 334
5.5.2.3.5 Weiterentwicklung ............................................................................ 335
5.5.2.4 DSC, ESP mit Fremdkraft-Bremsanlage ............................................................ 336
5.5.2.5 Bremssysteme für Fahrzeuge mit Hybridantrieb................................................ 336
5.5.2.6 Sensorik .............................................................................................................. 336
5.5.2.6.1 Raddrehzahlfühler ............................................................................. 337
5.5.2.6.2 Fahrdynamiksensorik ........................................................................ 337
5.6 Abgasanlagen................................................................................................................................... 338
5.6.1 Aufgaben der Abgasanlage................................................................................................. 338
5.6.2 Katalysatoren ...................................................................................................................... 339
5.6.3 Partikelfilter ........................................................................................................................ 340
5.6.4 Canning und Monolith-Lagerung ....................................................................................... 341
5.6.5 Schalldämpfer..................................................................................................................... 343
5.6.6 Akustische Abstimmung..................................................................................................... 343
5.6.7 Körperschall ....................................................................................................................... 344
5.7 Bordenergie-Management................................................................................................................ 345
5.7.1 Ausgangssituation............................................................................................................... 345
5.7.2 Der Klauenpolgenerator im Energiebordnetz..................................................................... 346
5.7.2.1 Leistungs- und Wirkungsgradverhalten.............................................................. 346
XXIV Inhaltsverzeichnis

5.7.2.2 Überspannungsschutz ......................................................................................... 347


5.7.2.3 Generator mit Schnittstellenregler...................................................................... 347
5.7.3 Elektrische Speicher im Energiebordnetz........................................................................... 348
5.7.3.1 Blei-Säure Batterien ........................................................................................... 348
5.7.3.2 Traktionsspeicher................................................................................................ 349
5.7.4 Energiebordnetze für konventionelle Fahrzeuge................................................................ 350
5.7.4.1 Energiebordnetze für Start/Stopp Fahrzeuge..................................................... 350
5.7.4.2 Zwei-Batterie-Bordnetze .................................................................................... 351
5.7.4.3 Elektrisches Energiemanagement EEM in konventionellen Fahrzeugen.......... 351
5.7.4.3.1 Ruhestrommanagement..................................................................... 352
5.7.4.3.2 Fahrbetrieb/Dynamisches Energiemanagement................................ 353
5.7.4.3.3 Diagnose und Anzeige ...................................................................... 353
5.7.4.3.4 Zusatzfunktionen............................................................................... 353
5.7.4.3.5 Batteriezustandserkennung/Batteriemanagement ............................. 354
5.7.4.3.6 Batteriesensor EBS............................................................................ 354
5.7.5 Energiebordnetze für Fahrzeuge mit elektrifiziertem Antriebsstrang ................................ 355
5.8 Chancen und Risiken des Zweitaktmotors....................................................................................... 356
5.8.1 Das Zweitaktverfahren ....................................................................................................... 356
5.8.2 Das verwendete Konzept .................................................................................................... 356
5.8.3 Die Entwicklungsschwerpunkte ......................................................................................... 357
5.8.3.1 Abgasverhalten ................................................................................................... 357
5.8.3.2 Geräuschverhalten .............................................................................................. 358
5.8.3.3 Kraftstoffverbrauch ............................................................................................ 358
5.8.3.4 Mechanische Standfestigkeit .............................................................................. 359
5.8.3.5 Package/Gewicht ................................................................................................ 359
5.8.3.6 Kosten................................................................................................................. 360
5.8.4 Zusammenfassung und Bewertung..................................................................................... 361
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger........................................................ 361
5.9.1 Marktwirtschaftliche Aspekte............................................................................................. 364
5.9.2 Energieversorgungssicherheit............................................................................................. 365
5.9.3 Fossile Energiequellen........................................................................................................ 366
5.9.4 Regenerative Energiequellen.............................................................................................. 367
5.9.5 Zusammenfassung .............................................................................................................. 372
5.9.6 Kraftstoffsteckbriefe........................................................................................................... 372

6 Aufbau......................................................................................................................................................... 379
6.1 Karosseriebauweisen........................................................................................................................ 379
6.1.1 Selbsttragende Karosserie................................................................................................... 379
6.1.1.1 Entwicklungsanforderungen............................................................................... 379
6.1.1.2 Außenhaut........................................................................................................... 379
6.1.1.2.1 Design................................................................................................ 379
6.1.1.2.2 Aerodynamik und Aeroakustik ......................................................... 380
6.1.1.3 Package............................................................................................................... 381
6.1.1.4 Karosseriestruktur............................................................................................... 382
6.1.1.4.1 Unterbau ............................................................................................ 382
6.1.1.4.2 Aufbau............................................................................................... 384
6.1.1.4.3 Zusammenbau Seitenwand................................................................ 385
6.1.1.4.4 Dach .................................................................................................. 385
6.1.1.4.5 Anbauteile ......................................................................................... 385
6.1.1.4.6 Verbindungstechnik .......................................................................... 386
6.1.1.4.7 Materialauswahl und Leichtbau ........................................................ 386
6.1.1.4.8 Sicken und Verprägungen ................................................................. 388
6.1.1.5 Karosserieeigenschaften ..................................................................................... 388
6.1.1.5.1 Zusammenbautoleranzen................................................................... 388
6.1.1.5.2 Karosseriesteifigkeiten ...................................................................... 389
6.1.1.5.3 Aufprallverhalten .............................................................................. 390
6.1.1.6 Ausblick.............................................................................................................. 390
Inhaltsverzeichnis XXV

6.1.2 Space-Frame ....................................................................................................................... 390


6.1.2.1 Einleitung ........................................................................................................... 390
6.1.2.2 AUDI-Space-Frame............................................................................................ 391
®
6.1.2.3 Das Karosseriekonzept des ASF ....................................................................... 392
6.1.2.4 Der Aufbau der ASF Karosserie A8 (D3) .......................................................... 393
6.1.2.4.1 Fortschritte in der ASF Architektur
nach sechzehn Jahren Produktionserfahrung .................................... 394
6.1.2.5 Werkstoffe und Fertigungstechnologien ............................................................ 394
6.1.2.5.1 Blechteile und Verfahren .................................................................. 394
6.1.2.5.2 Strangpressprofile und Verfahren ..................................................... 395
6.1.2.5.3 Gussteile und Verfahren.................................................................... 396
6.1.2.6 Fügeverfahren..................................................................................................... 396
6.1.2.6.1 MIG-Schweißen mit Impulslichtbogen............................................. 397
6.1.2.6.2 Stanznieten mit Halbhohlniet ............................................................ 397
6.1.2.6.3 Vollstanznieten.................................................................................. 397
6.1.2.6.4 Automatisiertes Direktverschrauben
(FDS – Flow Drill Screws)................................................................ 397
6.1.2.6.5 Laserstrahl-Schweißen ...................................................................... 398
6.1.2.6.6 Laserstrahl-MIG-Hybridschweißen .................................................. 398
6.1.2.6.7 Rollfalzen + Kleben .......................................................................... 398
6.1.2.7 Reparaturkonzept................................................................................................ 398
6.1.2.8 Energiebilanz ...................................................................................................... 399
6.1.3 Karosserie Stahlleichtbau-Studien...................................................................................... 400
6.1.3.1 Einleitung ........................................................................................................... 400
6.1.3.2 Zielsetzung.......................................................................................................... 401
6.1.3.3 Umsetzung .......................................................................................................... 401
6.1.3.3.1 Werkstoffleichtbau ............................................................................ 402
6.1.3.4 Fertigungsleichtbau ............................................................................................ 403
6.1.3.4.1 Innenhochdruckumformung (IHU) ................................................... 403
6.1.3.4.2 Laserschweißen ................................................................................. 403
6.1.3.4.3 Tailored blanks/Tailored tubes.......................................................... 404
6.1.3.4.4 Formleichtbau.................................................................................... 404
6.1.3.5 Wirtschaftlichkeit ............................................................................................... 405
6.1.3.6 Ergebnis .............................................................................................................. 405
6.1.4 Cabriolet ............................................................................................................................. 406
6.1.4.1 Einführung .......................................................................................................... 406
6.1.4.2 Rohbau................................................................................................................ 407
6.1.4.2.1 Karosseriesteifigkeit.......................................................................... 407
6.1.4.2.2 Karosserietilger ................................................................................. 408
6.1.4.2.3 Betriebsfeste Auslegung von Cabrioletkarosserien........................... 408
6.1.4.3 Sicherheitsrelevante Auslegung von Cabriolets ................................................. 408
6.1.4.4 Aeroakustik......................................................................................................... 409
6.1.4.5 Türen................................................................................................................... 409
6.1.4.6 Dachsystem......................................................................................................... 410
6.1.4.6.1 Faltbares Festdach (Retractable Hardtop) ......................................... 411
6.1.4.5.2 Stoffverdeck (Softtop)....................................................................... 411
6.1.5 Frontendmodule.................................................................................................................. 413
6.1.5.1 Bestandteile von Frontendmodulen .................................................................... 413
6.1.5.2 Entwicklungs- und Fertigungskompetenz für Frontendmodule ......................... 414
6.1.5.3 Innovationen für Frontendmodule ...................................................................... 414
6.2 Materialien der Karosserie............................................................................................................... 415
6.2.1 Historischer Rückblick ....................................................................................................... 415
6.2.2 Konzepte und Bauweisen ................................................................................................... 416
6.2.3 Anforderungen und Auslegungskriterien an die Werkstoffe der Karosserie ..................... 417
6.2.4 Typische Karosseriewerkstoffe .......................................................................................... 420
6.2.4.1 Stahlwerkstoffe................................................................................................... 420
6.2.4.2 Aluminiumlegierungen....................................................................................... 422
6.2.4.3 Magnesiumlegierungen ...................................................................................... 423
XXVI Inhaltsverzeichnis

6.2.4.4
Kunststoffe.......................................................................................................... 423
6.2.4.4.1 Thermoplaste..................................................................................... 424
6.2.4.4.2 Duroplaste ......................................................................................... 425
6.2.5 Sortenreine Beispiele.......................................................................................................... 425
6.2.5.1 Stahl Seitenrahmen ............................................................................................. 425
6.2.5.2 Aluminium Seitentür .......................................................................................... 426
6.2.5.3 Magnesium Instrumententafelträger................................................................... 426
6.2.5.4 Hardtop als Sandwichkonstruktion..................................................................... 426
6.2.6 Mischbauweisen ................................................................................................................. 426
6.2.6.1 Mischbau in der Karosserie ................................................................................ 426
6.2.6.2 Mischbau im Innenraum (Cockpit) und Frontendmodule .................................. 428
6.2.7 Materialspezifische Aspekte der Fertigungstechnik........................................................... 430
6.2.7.1 Tailored products................................................................................................ 430
6.2.7.2 Superplastisches Umformen (SPF)..................................................................... 431
6.2.7.3 Innenhochdruckumformen (IHU)....................................................................... 431
6.2.7.4 Folientechnik als Alternative zur Nasslackierung .............................................. 432
6.2.7.5 Fügevefahren ...................................................................................................... 434
6.3 Oberflächenschutz............................................................................................................................ 434
6.3.1 Nutzen des Oberflächenschutzes ........................................................................................ 434
6.3.1.1 Korrosionsschutz ................................................................................................ 434
6.3.1.2 Oberflächenschutz .............................................................................................. 436
6.3.2 Entwicklung und Produktion des Oberflächenschutzes ..................................................... 436
6.3.2.1 Blechvorbeschichtung ........................................................................................ 436
6.3.2.2 Maßnahmen in der Karosseriekonstruktion........................................................ 436
6.3.2.3 Maßnahmen in der Produktion ........................................................................... 437
6.3.2.3.1 Kleben und Dichten........................................................................... 437
6.3.2.3.2 Vorbehandlung .................................................................................. 439
6.3.2.3.3 Elektrotauchlackierung...................................................................... 441
6.3.2.3.4 Grund- und Decklackierung .............................................................. 441
6.3.2.4 Hohlraumkonservierung und Unterbodenschutz ................................................ 443
6.3.2.4.1 Hohlraumkonservierung.................................................................... 443
6.3.2.4.2 Unterbodenschutz.............................................................................. 443
6.3.2.5 Transportschutz .................................................................................................. 444
6.3.3 Ausblick.............................................................................................................................. 444
6.4 Fahrzeuginnenraum.......................................................................................................................... 445
6.4.1 Ergonomie und Komfort..................................................................................................... 445
6.4.1.1 Ergonomische Anforderungen an das „Gesamtfahrzeug“.................................. 446
6.4.1.2 Ergonomische Grundauslegungen...................................................................... 448
6.4.1.3 Entwicklungsmethoden, Einbindung der Ergonomie
in den Produktentstehungsprozess...................................................................... 452
6.4.1.4 Neue Entwicklungen zur Mensch-Maschine-Interaktion ................................... 454
6.4.2 Kommunikationssysteme und Navigation......................................................................... 456
6.4.2.1 Ziele und Lösungen ............................................................................................ 456
6.4.2.2 Rundfunkempfang .............................................................................................. 456
6.4.2.2.1 Analoger Rundfunkempfänger.......................................................... 456
6.4.2.2.2 RDS (Radio Data System)................................................................. 458
6.4.2.2.3 TMC .................................................................................................. 458
6.4.2.3 Digitaler Rundfunkempfang ............................................................................... 458
6.4.2.3.1 DAB .................................................................................................. 458
6.4.2.3.2 DRM (Digital Radio Mondiale) ........................................................ 459
6.4.2.3.3 Satellitenradio.................................................................................... 459
6.4.2.4 Mobilfunk im Kfz............................................................................................... 459
6.4.2.4.1 UMTS................................................................................................ 460
6.4.2.4.2 Handys im Fahrzeug.......................................................................... 460
6.4.2.4.3 Internet Dienste im Fahrzeug ............................................................ 460
6.4.2.5 Bakenkommunikation......................................................................................... 460
6.4.2.6 Fahrzeug-Fahrzeug und Fahrzeug Infrastruktur Kommunikation...................... 461
6.4.2.7 Navigation .......................................................................................................... 461
Inhaltsverzeichnis XXVII

6.4.2.8
Digitale Karte ..................................................................................................... 462
6.4.2.8.1 Dynamische Navigation .................................................................... 462
6.4.2.8.2 Fahrerinformationssysteme ............................................................... 463
6.4.3 Innenraumbehaglichkeit/Thermischer Komfort ................................................................. 464
6.4.3.1 Komfortbedürfnisse der Fahrzeuginsassen......................................................... 464
6.4.3.2 Funktionen und Aufbau von Klimageräten ........................................................ 465
6.4.3.2.1 Funktionen des Klimagerätes – Luft fördern .................................... 466
6.4.3.2.2 Funktionen des Klimagerätes – Luft reinigen ................................... 467
6.4.3.2.3 Funktionen des Klimagerätes – Luft temperieren und entfeuchten .. 468
6.4.3.2.4 Funktionen des Klimagerätes – Luft verteilen .................................. 469
6.4.3.2.5 Bauformen von Klimageräten ........................................................... 469
6.4.3.2.6 Mehrzonigkeit und Zusatzgeräte....................................................... 470
6.4.3.3 Steuerung und Regelung von Klimaanlagen ...................................................... 470
6.4.3.3.1 Regelung und Automatisierungsgrade .............................................. 470
6.4.3.3.2 Bedienung.......................................................................................... 471
6.4.3.3.3 Aktuatorik, Sensorik.......................................................................... 472
6.4.4 Fahrzeuginnenausstattung .................................................................................................. 472
6.4.4.1 Zur Geschichte des Innenraums ......................................................................... 472
6.4.4.2 Anforderungen an Innenraum und Komponenten .............................................. 473
6.4.4.2.1 Optik.................................................................................................. 473
6.4.4.2.2 Olfaktorik .......................................................................................... 473
6.4.4.2.3 Ergonomie ......................................................................................... 474
6.4.4.2.4 Haptik ................................................................................................ 474
6.4.4.2.5 Akustik .............................................................................................. 474
6.4.4.2.6 Sicherheit........................................................................................... 474
6.4.4.2.7 Thermischer Komfort........................................................................ 475
6.4.4.3 Baugruppen des Innenraums .............................................................................. 475
6.4.4.3.1 Cockpit/Tunnelkonsole ..................................................................... 475
6.4.4.3.2 Sitze................................................................................................... 476
6.4.4.3.3 Tür-, Seitenverkleidungen................................................................. 477
6.4.4.3.4 Dachhimmel, Säulenverkleidung ...................................................... 478
6.4.4.3.5 Gepäckraum/Laderaum ..................................................................... 478
6.4.4.3.6 Bodenverkleidung, Akustik............................................................... 479
6.4.4.4 Entwicklungsablauf Innenraum.......................................................................... 479
6.4.4.4.1 Lastenheft .......................................................................................... 479
6.4.4.4.2 Berechnung/Digital Mockup ............................................................. 479
6.4.4.4.3 Teilekonstruktion .............................................................................. 480
6.4.4.4.4 Datenkontrollmodelle........................................................................ 480
6.4.4.4.5 Prototypen/Testing ............................................................................ 481
6.4.4.4.6 Serienproduktion/Montage................................................................ 481
6.4.4.4.7 Variantenmanagement....................................................................... 481
6.4.4.5 Ausblick.............................................................................................................. 481
6.5 Wischer- und Wascheranlagen ........................................................................................................ 482

7 Fahrwerk .................................................................................................................................................... 484


7.1 Einführung ....................................................................................................................................... 484
7.1.1 Definition des Begriffs Fahrwerk ....................................................................................... 484
7.1.2 Aufgaben des Fahrwerks .................................................................................................... 484
7.1.3 Fahrdynamik und Fahrwerkskräfte..................................................................................... 485
7.1.3.1 Querdynamik: Fahrwerkskräfte in Querrichtung ............................................... 486
7.1.3.1.1 Lenken der Räder .............................................................................. 486
7.1.3.1.2 Querverschiebung des Radaufstandspunktes .................................... 487
7.1.3.1.3 Stabilisieren des Fahrzeugs auf einer vorgegebenen Bahn ............... 488
7.1.3.2 Längsdynamik: Fahrwerkskräfte in Fahrzeuglängsrichtung .............................. 488
7.1.3.3 Vertikaldynamik: Fahrwerkskräfte in Fahrzeughochrichtung............................ 489
7.1.4 Basis-Zielkonflikte ............................................................................................................. 490
7.1.5 Ausblick.............................................................................................................................. 492
XXVIII Inhaltsverzeichnis

7.2 Bremssysteme .................................................................................................................................. 492


7.2.1 Einführung .......................................................................................................................... 492
7.2.2 Auslegung von Bremssystemen.......................................................................................... 493
7.2.2.1 Physikalische Grundlagen .................................................................................. 493
7.2.2.2 Bremskraftverteilung .......................................................................................... 495
7.2.2.3 Bremspedalcharakteristik ................................................................................... 495
7.2.2.4 Thermische Dimensionierung............................................................................. 496
7.2.2.5 Auslegungsaspekte bei regenerativen Bremssystemen ...................................... 498
7.2.3 Bremssystemkomponenten................................................................................................. 499
7.2.3.1 Bremspedal ......................................................................................................... 499
7.2.3.2 Bremskraftverstärker .......................................................................................... 499
7.2.3.3 Vakuumpumpe.................................................................................................... 500
7.2.3.4 (Tandem)-Hauptzylinder .................................................................................... 501
7.2.3.5 Ausgleichbehälter ............................................................................................... 501
7.2.3.6 Bremsflüssigkeit ................................................................................................. 502
7.2.3.7 Bremsleitungen und -schläuche.......................................................................... 502
7.2.3.8 Bremskraftverteiler............................................................................................. 502
7.2.3.9 Hydraulisch/Elektronische Regeleinheit (HECU).............................................. 503
7.2.3.10 Scheibenbremsen ................................................................................................ 505
7.2.3.11 Bremsscheiben.................................................................................................... 508
7.2.3.12 Bremsbeläge ....................................................................................................... 510
7.2.3.13 Trommelbremsen................................................................................................ 510
7.2.4 Sensoren ............................................................................................................................. 512
7.2.4.1 Betätigungswegsensor ........................................................................................ 512
7.2.4.2 Raddrehzahlsensor.............................................................................................. 512
7.2.4.3 Beschleunigungssensor (längs und quer) ........................................................... 513
7.2.4.4 Gierratensensor................................................................................................... 514
7.2.4.5 Lenkradwinkelsensor.......................................................................................... 514
7.2.4.6 Drucksensor ........................................................................................................ 514
7.2.4.7 Abstandssensoren ............................................................................................... 515
7.2.5 Bremsenfunktionen und Assistenzsysteme ........................................................................ 515
7.2.5.1 Antiblockiersystem (ABS) ................................................................................. 516
7.2.5.2 Elektronische Bremskraftverteilung (EBV) ....................................................... 520
7.2.5.3 Erweitertes Stabilitäts-Bremssystem (ABS-plus)............................................... 520
7.2.5.4 Antriebsschlupfregelung (ASR) ......................................................................... 520
7.2.5.5 Elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP/DSC/VSC)....................................... 521
7.2.5.6 Bremsassistent (MBA, EBA, HBA) ................................................................... 522
7.2.5.7 Bremskraftverstärkerunterstützung .................................................................... 523
7.2.5.8 Active Rollover Protection (ARP)...................................................................... 524
7.2.5.9 Abstandsregelsysteme ........................................................................................ 524
7.2.5.10 Elektrische Feststellbremse (Parkbremse) EPB ................................................. 524
7.2.6 Neue und zukünftige Systemarchitekturen ........................................................................... 526
7.2.6.1 Elektrohydraulisches Bremssystem (EHB) ........................................................ 526
7.2.6.2 Regeneratives Bremsen ...................................................................................... 527
7.2.6.3 Elektrisch-Hydraulische Combi Bremse (EHCB).............................................. 528
7.2.6.4 Vernetztes Chassis.............................................................................................. 529
7.2.6.5 Elektromechanisches Bremssystem (EMB) ....................................................... 531
7.2.6.6 Ausblick.............................................................................................................. 532
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten ..................................................................................................... 533
7.3.1 Einführung .......................................................................................................................... 533
7.3.2 Reifenaufbau....................................................................................................................... 534
7.3.3 Anforderungen an Reifen ................................................................................................... 534
7.3.3.1 Gebrauchseigenschaften ..................................................................................... 535
7.3.3.2 Gesetzliche Anforderungen ................................................................................ 537
7.3.3.3 Reifen und Räder, Normung............................................................................... 538
7.3.3.4 Reifenkennzeichnung, EU-Label........................................................................ 538
7.3.4 Kraftübertragung Reifen Fahrbahn..................................................................................... 539
7.3.4.1 Tragverhalten...................................................................................................... 539
Inhaltsverzeichnis XXIX

7.3.4.2 Kraftschlussverhalten, Aufbau von Horizontalkräften....................................... 540


7.3.4.3 Antreiben und Bremsen; Umfangskräfte............................................................ 541
7.3.4.4 Schräglauf; Kräfte und Momente ....................................................................... 542
7.3.4.5 Reifen unter Quer- und Längsschlupf ................................................................ 544
7.3.4.6 Reifengleichförmigkeit....................................................................................... 544
7.3.5 Reifen als integraler Baustein des Gesamtsystems Fahrzeug............................................. 545
7.3.5.1 Reifenmechanik, Materialeigenschaften ............................................................ 545
7.3.5.2 Reifenmodelle..................................................................................................... 547
7.3.5.3 Gesamtmodelle ................................................................................................... 547
7.3.5.4 Beschreibung des Fahrverhaltens ....................................................................... 547
7.3.5.5 Synergien zwischen Reifen und anderen Systemkomponenten ......................... 547
7.3.5.6 Reifensysteme mit Notlaufeigenschaften ........................................................... 548
7.3.6 Zukünftige Reifentechnologien .......................................................................................... 548
7.3.6.1 Reifenbezogene Zusatzprodukte......................................................................... 549
7.3.6.2 Reifendruckkontrolle .......................................................................................... 549
7.3.6.3 Auf Reifen abgestimmte Komponenten im Fahrwerk........................................ 549
7.3.6.4 Materialentwicklung........................................................................................... 549
7.3.6.5 Reifen mit erweiterten Funktionen ..................................................................... 550
7.3.7 Räder................................................................................................................................... 551
7.3.7.1 Einführung/Historie ............................................................................................ 551
7.3.7.2 Normung/Terminologie ...................................................................................... 552
7.3.7.3 Wesentliche Herstellverfahren ........................................................................... 552
7.3.7.4 Serieneinsatz (Marktanteile heute und in Zukunft) ............................................ 552
7.3.7.5 Entwicklungs-Methodik ..................................................................................... 552
7.3.7.5.1 CAD Konstruktion ............................................................................ 552
7.3.7.5.2 Finite Elemente Analyse ................................................................... 552
7.3.7.5.3 Prüfstandserprobung.......................................................................... 552
7.3.7.5.4 Fahrerprobung im Rahmen der Fahrzeugentwicklung
(Dauerläufer) ..................................................................................... 555
7.3.7.5.5 Entwicklungstendenzen zur Methodik .............................................. 555
7.3.7.6 Fertigungsverfahren – Weiterentwicklung ......................................................... 555
7.3.7.6.1 Stahlrad.............................................................................................. 555
7.3.7.6.2 Leichtmetallrad.................................................................................. 556
7.3.7.6.3 Kunststoff-Rad (Composite-Rad) ..................................................... 557
7.3.7.7 Gewichtsrelationen ............................................................................................. 557
7.3.7.8 Größenrelationen ................................................................................................ 558
7.3.7.9 Rad/Reifen – Besondere Aspekte ....................................................................... 558
7.3.7.10 Energiebetrachtung bei Herstellung/Recycling .................................................. 558
7.3.7.11 Umweltschonung ................................................................................................ 558
7.3.8 Gleitschutzketten ................................................................................................................ 559
7.3.8.1 Einleitung ........................................................................................................... 559
7.3.8.2 Wirkungsprinzip von Gleitschutzketten ............................................................. 559
7.3.8.3 Aufbau von Gleitschutzketten ............................................................................ 559
7.3.8.3.1 Laufnetzformen ................................................................................. 559
7.3.8.3.2 Greifelemente .................................................................................... 559
7.3.8.3.3 Dimensionierung ............................................................................... 560
7.3.8.4 Kraftübertragung Kette – Fahrbahn.................................................................... 560
7.3.8.5 Montagesysteme ................................................................................................. 561
7.4 Fahrwerkauslegung .......................................................................................................................... 562
7.4.1 Kinematik der Radaufhängung........................................................................................... 562
7.4.1.1 Radhubkinematik................................................................................................ 562
7.4.1.2 Lenkkinematik .................................................................................................... 564
7.4.2 Elastokinematik .................................................................................................................. 565
7.4.2.1 Wirkung von Bauteilelastizitäten ....................................................................... 565
7.4.2.2 Elastomerlager .................................................................................................... 566
7.4.2.3 Wirkung äußerer Kräfte...................................................................................... 571
7.4.3 Radaufhängungen ............................................................................................................... 575
7.4.3.1 Starrachsen.......................................................................................................... 576
XXX Inhaltsverzeichnis

7.4.3.2 Einzelradaufhängungen ...................................................................................... 576


7.4.3.3 Verbundachsen ................................................................................................... 579
7.4.4 Federung, Dämpfung, Stabilisatoren .................................................................................. 580
7.4.4.1 Tragfeder ............................................................................................................ 581
7.4.4.2 Stabilisierung ...................................................................................................... 583
7.4.4.3 Schwingungsdämpfung ...................................................................................... 584
7.4.4.4 Vertikaldynamiksysteme .................................................................................... 587
7.4.4.5 Ausblick.............................................................................................................. 591
7.4.5 Lenkung .............................................................................................................................. 592
7.4.5.1 Lenkungskinematik ............................................................................................ 593
7.4.5.2 Lenkgetriebe und -gestänge................................................................................ 601
7.4.5.3 Lenkunterstützung .............................................................................................. 603
7.4.6 Aktive Lenksysteme ........................................................................................................... 608
7.4.6.1 Einleitung ........................................................................................................... 608
7.4.6.2 Aktive Vorderradlenkungen ............................................................................... 609
7.4.6.2.1 Aktive Servolenkungen ..................................................................... 609
7.4.6.2.2 Lenkungen mit aktiv veränderlicher Übersetzung ............................ 609
7.4.6.2.3 Überlagerungslenkungen................................................................... 609
7.4.6.2.4 Integration von Überlagerungslenkung
und geregelter Servolenkung............................................................. 611
7.4.6.2.5 „Steer by wire“-Lenksysteme............................................................ 612
7.4.6.3 Aktive Hinterradlenkungen ................................................................................ 613
7.4.6.3.1 Hinterradlenkungen ohne fahrdynamische Regelung ....................... 615
7.4.6.3.2 Hinterradlenkungen mit fahrdynamischer Regelung ........................ 616
7.4.6.4 Aktive geregelte Vorder- und Hinterachslenksysteme....................................... 617
7.5 Beurteilungskriterien........................................................................................................................ 619
7.5.1 Subjektive Fahreigenschaftsbeurteilung............................................................................ 619
7.5.2 Objektive Fahreigenschaftsbeurteilung ............................................................................. 620
7.5.2.1 Geradeausfahrt.................................................................................................... 621
7.5.2.2 Kurvenverhalten ................................................................................................. 622
7.5.2.3 Übergangsverhalten ............................................................................................ 624
7.5.2.4 Weitere Testverfahren ........................................................................................ 625
7.5.2.5 Ausblick.............................................................................................................. 625
7.6 Kraftstoffsystem............................................................................................................................... 627
7.6.1 Gesetzliche und kundenspezifische Vorschriften............................................................... 627
7.6.1.1 Gesetzliche Vorschriften .................................................................................... 627
7.6.1.2 Kundenspezifische Anforderungen .................................................................... 629
7.6.2 Anordnung im Fahrzeug..................................................................................................... 629
7.6.3 Systemvarianten ................................................................................................................. 630
7.6.3.1 Externes Ausgleichsvolumen ............................................................................. 630
7.6.3.2 Internes Ausgleichsvolumen............................................................................... 630
7.6.3.3 Auslegungskriterien............................................................................................ 630
7.6.4 Kraftstoff-Behälter.............................................................................................................. 630
7.6.4.1 Metall-Kraftstoff-Behälter.................................................................................. 631
7.6.4.2 Kunststoff-Kraftstoff-Behälter ........................................................................... 631
7.6.5 Fördersysteme..................................................................................................................... 632
7.6.5.1 Förderung des Kraftstoffs................................................................................... 632
7.6.5.2 Elektro-Kraftstoff-Pumpe (EKP) und deren Anordnung.................................... 632
7.6.5.3 Pumpenanordnungen .......................................................................................... 633
7.6.5.4 Anforderungen zur elektrischen/elektronischen Systemeinbindung .................. 633
7.6.5.5 Elektro-Kraftstoff-Pumpen-Regelung ................................................................ 633
7.6.5.6 Saugstrahlpumpe ................................................................................................ 634
7.6.5.7 Schwalltopf......................................................................................................... 634
7.6.6 Filtrierung des Kraftstoffs .................................................................................................. 634
7.6.7 Volumen-Messeinrichtung ................................................................................................. 635
7.6.7.1 Hebelgeber.......................................................................................................... 635
7.6.7.2 Tauchrohrgeber................................................................................................... 635
7.6.8 Aktivkohlefilter (AKF)....................................................................................................... 635
Inhaltsverzeichnis XXXI

7.6.9 Besondere Anforderungen an die KVA bei hybridisierten Fahrzeugen............................. 636


7.6.10 Ausblick.............................................................................................................................. 637
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen für alternative Energieträger ........................................................... 637
7.7.1 Anforderungen.................................................................................................................... 637
7.7.2 Gesetzliche Vorschriften .................................................................................................... 638
7.7.3 Anordnung im Fahrzeug..................................................................................................... 638
7.7.4 Kraftstoffbehälter und Kraftstoffsysteme für Druckgas.................................................... 638
7.7.4.1 Kraftstoffbehälter................................................................................................ 638
7.7.4.2 Kraftstoffsysteme................................................................................................ 640
7.7.5 Kraftstoffbehälter und Kraftstoffsysteme für tiefkalt flüssige Gase .................................. 640
7.7.5.1 Kraftstoffbehälter................................................................................................ 640
7.7.5.2 Kraftstoffsysteme................................................................................................ 641
7.7.6 Entwicklungstendenzen ...................................................................................................... 642

8 Elektrik/Elektronik/Software ................................................................................................................... 644


8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil .......................................................... 644
8.1.1 Einleitung ........................................................................................................................... 644
8.1.2 Neue Anforderungen an Entwicklungsprozess und Technologie....................................... 646
8.1.3 Systems Engineering .......................................................................................................... 646
8.1.3.1 Eigenschaften des Entwicklungsprozesses......................................................... 647
8.1.3.2 Systemintegration ............................................................................................... 649
8.1.4 Neues Technologiekonzept: AUTOSAR............................................................................ 651
8.1.5 Ausblick.............................................................................................................................. 653
8.2 Das Bordnetz.................................................................................................................................... 654
8.2.1 Bestandteile des Bordnetzes ............................................................................................... 654
8.2.1.1 Übersicht............................................................................................................. 654
8.2.1.2 Randbedingungen ............................................................................................... 655
8.2.1.3 Leitungen ............................................................................................................ 655
8.2.1.4 Knotenpunkte...................................................................................................... 657
8.2.1.5 Sicherungen ........................................................................................................ 657
8.2.1.6 Steckverbindungen ............................................................................................. 657
8.2.1.7 Kontakte.............................................................................................................. 659
8.2.2 Auslegungskriterien............................................................................................................ 660
8.2.2.1 Bestandteile einer qualitätsorientierten Bordnetzauslegung............................... 660
8.2.2.2 Leitungsstrangfertigung...................................................................................... 662
8.2.2.3 Variantenbildung ................................................................................................ 663
8.2.2.4 Logistik und Fahrzeugmontage .......................................................................... 665
8.2.3 Architektur des Bordnetzes ................................................................................................ 666
8.2.3.1 Topologie, Koppel- und Trennstellen................................................................. 666
8.2.3.2 Ausstattungsvarianten......................................................................................... 667
8.2.3.3 Systemarchitekturen ........................................................................................... 667
8.2.3.4 Energieversorgung und Absicherung ................................................................. 669
8.2.3.5 Bordnetzstabilisierung ........................................................................................ 669
8.2.3.6 Hochvoltbordnetze.............................................................................................. 672
8.2.4 Der Bordnetz-Entwicklungsprozess ................................................................................... 673
8.2.4.1 Abläufe ............................................................................................................... 673
8.2.4.2 CAE und CAD-Werkzeuge ................................................................................ 675
8.2.4.3 Lieferantenstruktur ............................................................................................. 677
8.2.5 Entwicklungstrends ............................................................................................................ 677
8.3 Kommunikationsbordnetze .............................................................................................................. 679
8.3.1 Einleitung ........................................................................................................................... 679
8.3.2 Kabelgebundene Bordnetze................................................................................................ 679
8.3.2.1 Elektrische Kommunikationsbordnetze.............................................................. 680
8.3.2.2 Optische Kommunikationsbordnetze ................................................................. 682
8.3.3 Drahtlose Kommunikationsbordnetze ................................................................................ 683
8.3.4 Zusammenfassung und Ausblick........................................................................................ 686
8.4 Elektromagnetische Verträglichkeit – EMV.................................................................................... 686
8.4.1 Eigenentstörung .................................................................................................................. 686
XXXII Inhaltsverzeichnis

8.4.2 Störfestigkeit gegen externe elektromagnetische Felder .................................................... 688


8.4.3 Fernentstörung .................................................................................................................... 688
8.4.4 Normen und Richtlinien ..................................................................................................... 688
8.4.5 Sicherstellung der EMV ..................................................................................................... 688
8.5 Funktionsdomänen........................................................................................................................... 690
8.5.1 Einleitung ........................................................................................................................... 690
8.5.2 Beleuchtung ........................................................................................................................ 690
8.5.2.1 Zulassung............................................................................................................ 690
8.5.2.2 Lichttechnische Begriffe..................................................................................... 690
8.5.2.3 Scheinwerfer....................................................................................................... 691
8.5.2.3.1 Historische Entwicklung ................................................................... 691
8.5.2.3.2 Scheinwerferarten.............................................................................. 691
8.5.2.3.3 Reflektortechnologie ......................................................................... 692
8.5.2.3.4 Abschlussscheibe .............................................................................. 692
8.5.2.3.5 Scheinwerfer-Einstellung .................................................................. 693
8.5.2.3.6 Scheinwerfer-Lichtquellen ................................................................ 694
8.5.2.3.7 Xenonlicht ......................................................................................... 695
8.5.2.4 Bi-Xenon ............................................................................................................ 696
8.5.2.5 Lichtbewertung................................................................................................... 696
8.5.2.6 Tagfahrlicht und Positionslicht........................................................................... 697
8.5.2.7 Zusatzscheinwerfer............................................................................................. 697
8.5.2.8 Intelligente Scheinwerfer.................................................................................... 698
8.5.2.9 LED Scheinwerfer .............................................................................................. 699
8.5.2.10 Signalleuchten .................................................................................................... 700
8.5.2.11 Lichtquellen für Signalleuchten.......................................................................... 701
8.5.2.12 Bauformen .......................................................................................................... 702
8.5.2.13 Dynamisches Bremslicht und Leuchten-Zukunftsentwicklungen...................... 702
8.5.2.14 Innenbeleuchtung und Einstiegsleuchten ........................................................... 702
8.5.2.15 Beleuchtungsstyling ........................................................................................... 703
8.5.3 Cockpit-Instrumentierung ...................................................................................................... 703
8.5.3.1 Einleitung ........................................................................................................... 703
8.5.3.2 Informationsdarstellung...................................................................................... 704
8.5.3.2.1 Kombinations-Instrument.................................................................. 704
8.5.3.2.2 LC-Displays im Kombinations-Instrument....................................... 704
8.5.3.2.3 Weitere Display-Arten im Cockpit ................................................... 705
8.5.3.2.4 Head-up-Display (HUD) ................................................................... 705
8.5.3.3 Eingabeelemente................................................................................................. 705
8.5.3.4 Ausblick.............................................................................................................. 706
8.5.4 Infotainment/Multimedia.................................................................................................... 707
8.5.4.1 Einleitung ........................................................................................................... 707
8.5.4.2 Broadcasting ....................................................................................................... 707
8.5.4.2.1 Audio Broadcasting........................................................................... 707
8.5.4.2.2 Video Broadcasting ........................................................................... 708
8.5.4.3 Medien ................................................................................................................ 709
8.5.4.3.1 Interne Medienquellen....................................................................... 709
8.5.4.3.2 Connectivity ...................................................................................... 709
8.5.4.4 HMI .................................................................................................................... 712
8.5.4.4.1 Anzeigeelemente ............................................................................... 712
8.5.4.4.2 Bedienelemente ................................................................................. 713
8.5.4.4.3 Spracherkennung............................................................................... 713
8.5.4.5 Architektur.......................................................................................................... 714
8.5.4.5.1 Hardwarearchitektur im Fahrzeug..................................................... 714
8.5.4.5.2 Infotainment-Hardwarearchitekturen ................................................ 715
8.5.4.5.3 Infotainment-Softwarearchitekturen ................................................. 717
8.5.4.6 Ausblick.............................................................................................................. 718
8.5.4.7 Fahrzeugantennen............................................................................................... 718
8.5.5 Fahrerassistenzsysteme....................................................................................................... 722
8.5.5.1 Unfallursachen und Fahrerassistenzsysteme zu ihrer Vermeidung.................... 722
Inhaltsverzeichnis XXXIII

8.5.5.2 Fahrerassistenz.................................................................................................... 723


8.5.5.3 Fahrzeugkommunikationssysteme...................................................................... 723
8.5.5.4 Fahrerassistenzsysteme zur Fahrzeugstabilisierung ........................................... 724
8.5.5.5 Prädiktive Fahrerassistenzsysteme ..................................................................... 724
8.5.5.5.1 Sensoren für Fahrerassistenzsysteme ................................................ 724
8.5.5.5.2 Ultranahbereichssensoren in Ultraschalltechnik .............................. 724
8.5.5.5.3 Fernbereichsradar 77 GHz ................................................................ 725
8.5.5.5.4 Fernbereichslidar............................................................................... 725
8.5.5.5.5 Nahbereichssensoren......................................................................... 726
8.5.5.5.6 Video Sensor ..................................................................................... 726
8.5.5.6 Fahrerassistenzsysteme für Komfort und Sicherheit ......................................... 726
8.5.5.6.1 Einparkhilfe-Systeme ........................................................................ 726
8.5.5.6.2 Adaptive Cruise Control (ACC)........................................................ 727
8.5.5.6.3 Prädiktive Sicherheitssysteme
(Predictive Safety Systems, PSS)...................................................... 728
8.5.5.6.4 Bildgebende Video Systeme ............................................................. 729
8.5.5.6.5 Videosysteme mit Bildverarbeitung.................................................. 731
8.5.5.7 Adaptive Systeme ............................................................................................... 733
8.5.5.8 Zusammenfassung und Ausblick........................................................................ 734
8.5.6 Telematik ............................................................................................................................ 736
8.5.6.1 Grundlagen und Technologien der Verkehrstelematik....................................... 737
8.5.6.2 Endgeräte ............................................................................................................ 738
8.5.6.3 Dienstleistungen der Zukunft ............................................................................. 739
8.6 Mensch-Maschine-Interaktion ......................................................................................................... 740
8.6.1 Das System Fahrer – Fahrzeug............................................................................................ 742
8.6.2 Informationsvermittlung..................................................................................................... 743
8.6.3 Ein einfaches kognitives Fahrermodell .............................................................................. 744
8.6.4 Messung der Leistung, Belastung und Beanspruchung...................................................... 745
8.6.5 Simulation........................................................................................................................... 746
8.7 Software ........................................................................................................................................... 747
8.7.1 Vorbemerkungen zum Thema Software............................................................................. 748
8.7.2 Softwareentwicklungsprozess ............................................................................................ 748
8.7.2.1 Einbettung in den Systementwicklungsprozess.................................................. 749
8.7.2.2 Anforderungsanalyse und -spezifikation ............................................................ 749
8.7.2.3 Design und Architektur ...................................................................................... 749
8.7.2.4 Implementierung und Modultest ........................................................................ 750
8.7.2.5 Integration........................................................................................................... 750
8.7.2.6 Validierung und Verifikation.............................................................................. 750
8.7.2.7 Produktion und Wartung .................................................................................... 750
8.7.3 Erfolgsfaktoren ................................................................................................................... 750
8.7.3.1 Modellbildung .................................................................................................... 750
8.7.3.2 Mensch-Maschine-Interaktion............................................................................ 751
8.7.3.3 Qualitätssicherung .............................................................................................. 751
8.7.4 Entkopplung von Infrastruktur und Plattformen ................................................................ 752
8.7.5 Produktlinien ...................................................................................................................... 752
8.7.6 Anwendungsfelder.............................................................................................................. 753
8.7.6.1 Fahrerassistenzsysteme....................................................................................... 753
8.7.6.2 Infotainment....................................................................................................... 753
8.7.6.3 Karosserie- und Komfortfunktionen................................................................... 753
8.7.6.4 Sicherheitsfunktionen ......................................................................................... 753
8.7.7 Technische Herausforderungen zur Software im Fahrzeug ............................................... 754
8.7.7.1 Zuverlässigkeit.................................................................................................... 754
8.7.7.2 Wartung und Logistik......................................................................................... 754
8.7.7.3 Vernetzung.......................................................................................................... 755
8.7.7.4 Multiplexing, Zeitbeherrschung und Determinismus......................................... 755
8.7.7.5 IT-Security.......................................................................................................... 755
8.7.8 Potenzial ............................................................................................................................. 755
XXXIV Inhaltsverzeichnis

8.7.9 Organisatorische Herausforderungen ................................................................................. 756


8.7.9.1 Prozesse .............................................................................................................. 756
8.7.9.2 Auswirkungen und langfristige Perspektiven.................................................... 756
8.8 Moderne Methoden der Regelungstechnik ...................................................................................... 757
8.8.1 Anforderungen an Regelsysteme im Kraftfahrzeug ........................................................... 757
8.8.2 Moderne Reglerentwurfsverfahren..................................................................................... 758
8.8.2.1 Adaptive Regelung ............................................................................................. 758
8.8.2.2 Fuzzy-Regelung.................................................................................................. 758
8.8.2.3 Γ-Synthese .......................................................................................................... 759
8.8.2.4 Neuronale Regelung ........................................................................................... 759
8.8.2.5 Norm-optimale Regelung ................................................................................... 760
8.8.2.6 Prädiktive Regelung ........................................................................................... 760
8.8.2.7 Quantitative Feedback Theory (QFT) ................................................................ 760
8.8.3 Evaluierung moderner Regelungsverfahren ...................................................................... 761
8.8.4 Ausblick.............................................................................................................................. 761

9 Fahrzeugsicherheit..................................................................................................................................... 763
9.1 Allgemein......................................................................................................................................... 763
9.2 Gebiete der Fahrzeugsicherheit........................................................................................................ 764
9.3 Ergebnisse aus der Unfallforschung ................................................................................................ 764
9.3.1 Einleitung ........................................................................................................................... 764
9.3.2 Amtliche Straßenverkehrsunfallstatistik............................................................................. 765
9.3.3 Verkehrsunfalldaten der Versicherungen .......................................................................... 766
9.3.4 „In-Depth“ Unfallerhebungen ............................................................................................ 766
9.4 Unfallvermeidende Sicherheit ......................................................................................................... 769
9.4.1 Assistenzsysteme der Fahrzeugebene................................................................................. 769
9.4.2 Assistenzsysteme mit Umfeldsensorik................................................................................ 770
9.4.2.1 Systeme der Längsführung ................................................................................. 770
9.4.2.2 Systeme der Querführung................................................................................... 771
9.4.2.3 Nachtassistenz .................................................................................................... 772
9.5 Biomechanik und Schutzkriterien.................................................................................................... 773
9.5.1 Biomechanik....................................................................................................................... 773
9.5.1.1 Grundlagen ......................................................................................................... 773
9.5.1.2 Belastungsgrenzen .............................................................................................. 773
9.5.2 Schutzkriterien.................................................................................................................... 774
9.5.3 Simulationseinrichtungen ................................................................................................... 776
9.5.3.1 Kopf .................................................................................................................... 776
9.5.3.2 Bein, Hüfte.......................................................................................................... 776
9.5.3.3 Rumpf ................................................................................................................. 776
9.5.3.4 Gesamtkörper...................................................................................................... 776
9.6 Quasistatische Anforderungen an die Karosserie ............................................................................ 776
9.6.1 Sitz- und Sicherheitsgurtverankerungspunkttests............................................................... 776
9.6.2 Dachfestigkeit..................................................................................................................... 777
9.6.3 Seitenstruktur...................................................................................................................... 777
9.7 Dynamische Fahrzeugkollision........................................................................................................ 777
9.7.1 Frontale Kollision ............................................................................................................... 777
9.7.2 Seitliche Kollisionen........................................................................................................... 779
9.7.3 Heckkollision...................................................................................................................... 780
9.7.4 Fahrzeugüberschlag ............................................................................................................ 780
9.8 Insassenschutz.................................................................................................................................. 781
9.8.1 Fahrzeuginnenraum ............................................................................................................ 781
9.8.2 Rückhaltesysteme ............................................................................................................... 781
9.8.2.1 Sicherheitsgurte .................................................................................................. 782
9.8.2.2 Kinderrückhaltesysteme ..................................................................................... 782
9.8.2.3 Airbag-Systeme .................................................................................................. 783
9.8.2.4 Sitze, Sitzlehne und Kopfstütze.......................................................................... 785
9.8.3 Zusammenwirken von Rückhaltesystemen und Fahrzeug ................................................. 785
9.8.3.1 Unangegurteter Insasse....................................................................................... 785
Inhaltsverzeichnis XXXV

9.8.3.2 Angelegter Dreipunktgurt................................................................................... 786


9.8.3.3 Airbag-Systeme .................................................................................................. 786
9.8.4 Seitenkollisionen ................................................................................................................ 787
9.8.4.1 Theoretische Betrachtung ................................................................................... 787
9.8.4.2 In den USA und Europa definierte Seitenaufpralltests....................................... 788
9.8.5 Kompatibilität..................................................................................................................... 788
9.8.5.1 Allgemeine Aussage ........................................................................................... 788
9.8.5.2 Pkw/Lkw-Kollision ............................................................................................ 789
9.8.5.3 Fußgängerkollision ............................................................................................. 790
9.9 Integrale Sicherheit .......................................................................................................................... 791
9.9.1 Fahrer, Fahrzeug und Umfeld............................................................................................. 791
9.9.2 PreCrash ............................................................................................................................. 792
9.9.2.1 Automatischer Bremseingriff ............................................................................. 793
9.9.2.2 Präventiv wirkender Insassenschutz................................................................... 793
9.9.2.3 Irreversible Rückhaltesysteme............................................................................ 794
9.9.3 Integraler Fußgängerschutz ................................................................................................ 795
9.9.4 Entwicklungsprozess integraler Funktionen....................................................................... 796
9.9.4.1 Simulation vorausschauender Sicherheitssysteme ............................................. 796
9.9.5 Retten und Bergen .............................................................................................................. 797
9.9.6 Car2X Safety – Ausblick.................................................................................................... 798
9.10 Rechnerunterstützung bei der Entwicklung von Sicherheitskomponenten ..................................... 799
9.10.1 Grundlagen ......................................................................................................................... 799
9.10.2 Beschreibung der numerischen Werkzeuge ....................................................................... 799
9.10.3 Komponentenberechnung................................................................................................... 799
9.10.4 Gesamtfahrzeugauslegung.................................................................................................. 801
9.10.4.1 Gesamtfahrzeugmodell....................................................................................... 801
9.10.4.2 Fahrzeugmodell .................................................................................................. 801
9.10.4.3 Insassensimulation.............................................................................................. 801
9.11 Zusammenfassung ........................................................................................................................... 802

10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren ...................................................................................................... 805


10.1 Ein Blick zurück .............................................................................................................................. 805
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge .............................................................................................. 808
10.2.1 Materialanteile im Automobilbau....................................................................................... 808
10.2.2 Fortschritte in den Leistungsmerkmalen ............................................................................ 809
10.2.2.1 Festigkeit und Verarbeitung ............................................................................... 809
10.2.2.1.1 Stahlwerkstoffe.................................................................................. 809
10.2.2.1.2 Leichtmetalle..................................................................................... 814
10.2.2.1.3 Edelmetalle........................................................................................ 826
10.2.2.1.4 Kunststoffe ........................................................................................ 826
10.2.2.2 Tribologie ........................................................................................................... 834
10.2.2.3 Korrosionsschutz ................................................................................................ 837
10.2.3 Fortschritte in der Fügetechnik........................................................................................... 839
10.2.3.1 Schweißen und Löten ......................................................................................... 839
10.2.3.2 Mechanische Fügeverfahren............................................................................... 840
10.2.3.3 Kleben................................................................................................................. 843
10.2.4 Fortschritte in der Um- und Urformung ............................................................................. 844
10.2.4.1 Metalle ................................................................................................................ 844
10.2.4.1.1 Innenhochdruckumformen ................................................................ 844
10.2.4.1.2 Hydromechanisches Umformen........................................................ 845
10.2.4.1.3 Zwei-Platinen-Innenhochdruckumformen ........................................ 846
10.2.4.1.4 Kaltfließpressen................................................................................. 847
10.2.4.1.5 Gießtechnik ....................................................................................... 847
10.2.4.1.6 Schmieden ......................................................................................... 850
10.2.4.1.7 Schmiedestahl.................................................................................... 850
10.2.4.2 Polymere............................................................................................................. 851
10.2.5 Fortschritte in der Umweltverträglichkeit .......................................................................... 853
XXXVI Inhaltsverzeichnis

10.2.6 Thermoelektrizität und mögliche Anwendungen im Pkw.................................................. 858


10.2.7 Nanotechnologie (im Automobil)....................................................................................... 860
10.3 Wettbewerb und Zusammenspiel der Werkstoffe............................................................................ 866
10.4 Wälzlager im Fahrzeugbau .............................................................................................................. 867
10.4.1 Einleitung ........................................................................................................................... 867
10.4.2 Gebräuchliche Wälzlager-Bauarten.................................................................................... 867
10.4.2.1 Einreihige Rillenkugellager................................................................................ 867
10.4.2.2 Nadellager, Nadelkränze .................................................................................... 868
10.4.2.3 Kegelrollenlager ................................................................................................. 868
10.4.3 Auslegung von Wälzlagern ................................................................................................ 868
10.4.3.1 Wellen- und Lagerberechnung nach Formelsammlung...................................... 868
10.4.3.2 Wellen- und Lagerberechnung mittels spezieller Software................................ 870
10.4.4 Exemplarische Ausführungen aus der jüngeren Wälzlager-Entwicklung.......................... 870
10.4.4.1 Kugelrollenlager ................................................................................................. 871
10.4.4.2 Radlager.............................................................................................................. 872
10.4.4.3 Beispiele für richtungweisende Technologien mit Wälzlagerung...................... 875
10.4.4.3.1 Doppelkupplungs-Systeme................................................................ 875
10.4.4.3.2 Ausgleichswellen mit direkter Wälzlagerung ................................... 875
10.4.4.3.3 Kugelgewinde-Antrieb ...................................................................... 876
10.4.4.3.4 CVT-Getriebe.................................................................................... 876
10.4.4.3.5 Leichtbau-Differenzial ...................................................................... 877
10.4.4.3.6 Hybridantriebe................................................................................... 877
10.4.4.3.7 Wälzlagerung des Kurbeltriebs im Verbrennungsmotor................... 878
10.4.5 Schmierung und Schmierstoffe für Wälzlager ................................................................... 878

11 Produktentstehungsprozess ...................................................................................................................... 881


11.1 Simultaneous Engineering und Projektmanagement im Produktentstehungsprozess ..................... 881
11.1.1 Einleitung ........................................................................................................................... 881
11.1.2 Produktentstehungsprozess................................................................................................. 881
11.1.2.1 Organisationsformen .......................................................................................... 881
11.1.2.2 Projektorganisation eines OEM.......................................................................... 883
11.1.2.3 PEP-Ablauf und Meilenstein-Definition ............................................................ 884
11.1.3 Produktplanung................................................................................................................... 885
11.1.4 Innovationsmanagement..................................................................................................... 886
11.1.5 Produktinhalte, Lastenhefte, Gesetze ................................................................................. 887
11.1.6 Konzeptentwicklung........................................................................................................... 888
11.1.7 Produkt Daten Management (PDM)................................................................................... 889
11.1.8 Product Lifecycle Management (PLM).............................................................................. 890
11.1.9 Serienentwicklung .............................................................................................................. 891
11.1.9.1 Strak.................................................................................................................... 891
11.1.9.2 Datenkontrollprozess .......................................................................................... 891
11.1.9.3 Planungsfreigabe ................................................................................................ 891
11.1.9.4 Virtuelle Entwicklung......................................................................................... 892
11.1.9.5 Fahrzeugerprobung............................................................................................. 893
11.1.9.6 Änderungsmanagement und Launch-Freigabe................................................... 894
11.1.9.7 Meisterbock ........................................................................................................ 895
11.1.9.8 Breitenabsicherung ............................................................................................. 895
11.1.10 Serienbetreuung .................................................................................................................. 895
11.1.11 Ausblick.............................................................................................................................. 895
11.2 Fahrzeugkonzeption in der frühen Entwicklungsphase ................................................................... 896
11.2.1 Einführung .......................................................................................................................... 896
11.2.1.1 Definition............................................................................................................ 896
11.2.1.2 Zielsetzung der frühen Entwicklungsphase........................................................ 896
11.2.1.3 Fahrzeugkonzeptinhalte der frühen Phase.......................................................... 897
11.2.2 Vorgehensweise.................................................................................................................. 897
11.2.2.1 Prozess ................................................................................................................ 897
11.2.2.2 Digitaler Prototyp ............................................................................................... 897
11.2.2.3 Tools ................................................................................................................... 899
Inhaltsverzeichnis XXXVII

11.2.3 Beispiele ............................................................................................................................. 899


11.2.3.1 Fahrdynamik....................................................................................................... 899
11.2.3.2 Passive Sicherheit – Betriebsfestigkeit............................................................... 900
11.2.3.3 Aerodynamik ...................................................................................................... 900
11.2.3.4 Fahrleistung und Verbrauch ............................................................................... 901
11.2.4 Ausblick.............................................................................................................................. 901
11.3 Berechnung und Simulation in der Fahrzeugentwicklung............................................................... 901
11.3.1 Einleitung ........................................................................................................................... 901
11.3.2 CAE-Prozess und notwendige Infrastruktur in der Produktentstehung.............................. 902
11.3.2.1 CAE-Einsatz in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen............................. 902
11.3.2.2 CAE-Organisation im Unternehmen .................................................................. 904
11.3.2.3 Computer Ressourcen für CAE .......................................................................... 905
11.3.3 Anwendungsgebiete und Methoden ................................................................................... 905
11.3.3.1 Finite Element-Methoden ................................................................................... 905
11.3.3.2 Mehrkörpersystem-Methoden ............................................................................ 910
11.3.3.3 Strömungssimulation .......................................................................................... 911
11.3.3.4 Elektromagnetische Verträglichkeit ................................................................... 915
11.3.4 Simulation von Bauteil-Herstellprozessen ......................................................................... 915
11.3.4.1 Umformsimulation.............................................................................................. 915
11.3.4.2 Gießsimulation.................................................................................................... 916
11.3.4.3 Schweißsimulation ............................................................................................. 917
11.3.4.4 Lackiersimulation ............................................................................................... 918
11.3.5 Optimierung........................................................................................................................ 918
11.3.5.1 Struktur-Optimierung ......................................................................................... 918
11.3.5.2 Multidimensionale Optimierung......................................................................... 918
11.3.5.3 Stochastische Simulationen ................................................................................ 919
11.4 Mess- und Versuchstechnik ............................................................................................................. 920
11.4.1 Kurzer Rückblick................................................................................................................ 920
11.4.2 Grundsätzliches zur Mess- und Versuchstechnik im Automobilbau.................................. 921
11.4.3 Einige ausgewählte Beispiele ............................................................................................. 925
11.4.4 Zur Effizienz der Mess- und Versuchstechnik ................................................................... 927
11.5 Qualitätsmanagement....................................................................................................................... 930
11.6 Betrieb und Instandhaltung von Kraftfahrzeugen............................................................................ 933
11.6.1 Einführung .......................................................................................................................... 933
11.6.1.1 Definitionen ........................................................................................................ 934
11.6.1.2 Entwicklungstendenzen ...................................................................................... 934
11.6.2 Instandhaltbarkeit und Zuverlässigkeit............................................................................... 935
11.6.2.1 Zuverlässigkeitskenngrößen ............................................................................... 935
11.6.2.2 Weibullverteilung ............................................................................................... 935
11.6.2.3 Anwendung von Zuverlässigkeitskenngrößen.................................................... 936
11.6.3 Lebenslaufkosten ................................................................................................................ 937
11.6.3.1 Anschaffungskosten............................................................................................ 938
11.6.3.2 Gesetzgeber abhängige Kosten........................................................................... 938
11.6.3.3 Versicherungskosten........................................................................................... 938
11.6.3.4 Betriebskosten .................................................................................................... 938
11.6.3.5 Werkstattkosten .................................................................................................. 938
11.6.4 Organisation des Service-Prozesses in den Werkstätten .................................................... 939
11.6.5 Instandhaltungsgerechte Konstruktion ............................................................................... 940
11.6.5.1 Ziele und Anforderungen zur Instandhaltbarkeit................................................ 940
11.6.5.2 Werkstattkostenfaktor Zeit (Instandhaltungszeit, Planzeiten)............................ 940
11.6.5.3 Kostenfaktor Werkstattausrüstung, Spezialwerkzeuge ...................................... 942
11.6.5.4 Ersatzteile, Zerlegungstiefe, Transport-, Lagerfähigkeit
und Lieferzeitraum ............................................................................................. 942
11.6.5.5 Nachweis der Instandhaltbarkeit ........................................................................ 942
11.6.5.6 Datensysteme...................................................................................................... 943
11.6.5.7 Virtuelle Beurteilung der Servicefreundlichkeit................................................. 943
11.6.5.8 Berichtswesen..................................................................................................... 944
XXXVIII Inhaltsverzeichnis

11.6.6 Strategie und Konzept ........................................................................................................ 945


11.6.6.1 Instandhaltungsstrategien ................................................................................... 945
11.6.6.2 Instandhaltungskonzept ...................................................................................... 945
11.6.6.3 Anforderungen zur Instandhaltbarkeit................................................................ 945
11.6.6.4 Kunden- und Lieferantenbeziehungen................................................................ 945
11.6.6.5 Rolle des Managements...................................................................................... 946
11.6.6.6 Einfluss der EU................................................................................................... 946
10.6.6.7 Einfluss alternativer Antriebskonzeptionen........................................................ 946

12 Rennfahrzeuge ........................................................................................................................................... 949


12.1 Einsatzbedingungen ......................................................................................................................... 949
12.1.1 Sportbehörde....................................................................................................................... 949
12.1.2 Technik-Reglement ............................................................................................................ 949
12.1.3 Sport-Reglement................................................................................................................. 949
12.2 Fahrzeug-Kategorien........................................................................................................................ 949
12.3 Bauweise .......................................................................................................................................... 951
12.3.1 Monocoque ......................................................................................................................... 951
12.3.1.1 Struktur ............................................................................................................... 952
12.3.1.2 Entwicklung........................................................................................................ 952
12.3.1.3 Fertigung............................................................................................................. 952
12.3.2 Bodywork ........................................................................................................................... 953
12.3.3 Motor .................................................................................................................................. 953
12.3.4 Getriebe .............................................................................................................................. 953
12.3.5 Fahrwerk............................................................................................................................. 955
12.3.5.1 Achskonzept ....................................................................................................... 955
12.3.5.2 Federungssystem ................................................................................................ 955
12.3.5.3 Dämpfungssystem .............................................................................................. 956
12.3.5.4 Abstimmung ....................................................................................................... 956
12.4 Performance und Rundenzeit........................................................................................................... 956
12.4.1 Fahrzeugparameter ............................................................................................................. 956
12.4.2 Sensitivität der direkt messbaren Fahrzeugparameter ........................................................ 956
12.4.3 Entwicklungspotenzial........................................................................................................ 957
12.5 Entwicklung Aerodynamik und Fahrdynamik................................................................................. 958
12.5.1 Aerodynamische Effizienz und Aerobalance ..................................................................... 958
12.5.2 Einflussgrößen auf die Aerodynamik ................................................................................. 958
12.5.2.1 Radeinschlag beim Lenken................................................................................. 958
12.5.2.2 Gierwinkel und Schräganströmung .................................................................... 958
12.5.2.3 Mechanische Fahrwerksabstimmung ................................................................. 959
12.5.2.4 Durchströmung des Fahrzeugs ........................................................................... 959
12.5.3 Aerodynamik und Reifeneinfluss ....................................................................................... 960
12.5.4 Aerodynamik und Fahrdynamik......................................................................................... 960
12.6 Zuverlässigkeit................................................................................................................................. 961

13 Ausblick – Wo geht es hin? ....................................................................................................................... 963

Sachwortverzeichnis ........................................................................................................................................ 965


1 Mobilität

1.1 Einleitung flexiblen Einsetzbarkeit bis heute am meisten genutzt


wird. Nur das Automobil kann praktisch zu jeder
Wie Bewegung eine Voraussetzung des Lebens ist, beliebigen Zeit an fast jeden gewünschten Ort fahren.
wird ihr Gegenteil, Bewegungslosigkeit, Starre, mit Das Auto ermöglicht heute in fast allen Regionen
Leblosigkeit oder gar mit Tod gleichgesetzt. Die dieser Erde individuelle Mobilität und den Transport
Materie selbst ist unaufhörlich in Bewegung. So sagt von Gütern (Bild 1.1-1, aus [1]).
Galileo Galilei: „Nichts ist älter in der Natur als Immer wieder zeigt sich, dass zivilisatorischer, wirt-
Bewegung“. Und Pascal sagt in seinen Pensees: „Zu schaftlicher und kultureller Fortschritt weltweit
unserer Natur gehört die Bewegung; vollkommene untrennbar mit Mobilität verbunden ist.
Ruhe ist der Tod“. Nicht umsonst zählt Gefängnis seit Derzeit werden in Deutschland 80 % der Perso-
jeher zu den besonders harten Strafen für Mensch und nenverkehrsleistung mit dem Pkw abgewickelt (Bild
Tier. Es bedeutet nämlich nicht nur kein Aus-dem- 1.1-2 nach [2]).
Haus-gehen, Fahren, Fliegen, sondern auch starken Trotz ständiger Verbesserungen beim öffentlichen
Verlust an Informationsaufnahme und damit Mangel Verkehr kann man davon ausgehen, dass der Pkw
an Erkenntnis-Gewinn und Erkenntnis-Weitergabe. aufgrund seiner Einsatzbreite (Bild 1.1-3) sowie sei-
In der Urzeit emanzipierte die Fähigkeit zur Fortbe- ner vielfältigen individuellen Nutzungsmöglichkeiten,
wegung die Tiere von den Launen der Natur, befreite sogar in Ballungsräumen, auf lange Sicht von großer
sie von den Fesseln eines festen Standortes. Fortbe- Bedeutung sein wird.
wegung war und ist für das Überleben einer Gattung
immer eine wesentliche Grundvoraussetzung und
somit ein Erfolgsprinzip der Evolution. Eisenbahnen Öffentl.
Der Mensch hat seit alters her den Wunsch sich 83 Mrd. pkm (7 %) Straßenpersonen-
schneller, weiter und mit größeren Lasten bewegen zu verkehr
80 Mr. pkm (7 %)
können, als er mit eigener Muskelkraft dazu im
Stande wäre – und das möglichst ohne körperliche Luftverkehr
Anstrengung. Daher hat er zu jeder Zeit die Möglich- 61 Mrd. pkm (6 %)

keiten der Technik geradezu begierig aufgegriffen:


Im Altertum das Schiff, durch Wind und Menschen-
kraft bewegt, mit der Erfindung des Rades den Wa- Motorisierter
Individualverkehr
gen, der über Jahrhunderte von Tieren gezogen wur- 870 Mrd. pkm
de, bis dann vor mehr als 170 Jahren die Eisenbahn ( 80 %)
eine erste Revolution in Sachen Mobilität herbei-
führte.
Mit der Entwicklung des Automobils, die vor
125 Jahren begann, wurde dann das Verkehrsmittel Bild 1.1-2 Personenverkehrsleistung in Deutschland
geschaffen, das aufgrund seiner individuellen und 2008 (Quelle: DIW 2009)

Personen-km [%] Zeit


100
Individual- Flugzeug
verkehr Pkw
Eisenbahn
75 Öffentl. Straßen-
Personenverkehr, Eisenbahn
Fuhrwerk
Bus
50
Bus, Strab, U-Bahn
Individualverk.,
Strab
Fuhrwerk
25
Öffentl. Verk.,
PKW
Binnen-
schiff Luftverkehr
0
1825 1850 1875 1900 1925 1950 1975 2000
Fuhr- 1. verkehrl. Zeitalter der Über- 2. verkehrl. Zielentfernung
werk Revolution Eisenbahn gang Revolution
städtisch ländlich regional überregional interkon-
tinental
Bild 1.1-1 Personenverkehr in der Bundesrepublik
Deutschland seit 1820 Bild 1.1-3 Einsatzbreite verschiedener Verkehrsmittel

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_1,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
2 1 Mobilität

2500 tät zusätzlich die Bewegung von Menschen zwischen


sozialen Schichten, für den Psychologen geistige
2000 Beweglichkeit. Mobilitätsbedürfnisse sind zuweilen
spontan oder emotional; Mobilität kann aber auch
Mrd. pkm

1500
Selbstzweck sein.
1000 Die Summe aller Bewegungen von Menschen und
500
Gütern wird als Verkehr bezeichnet. Zur Quantifizie-
rung physischer Mobilität dienen in verkehrswirtschaft-
0
2000 2005 2010 2020 2025
lichem Zusammenhang vor allem zwei Indikatoren:
• Verkehrsaufkommen (Transportaufkommen): Im
Bild 1.1-4 Entwicklung und Prognose der Verkehrs- Personenverkehr werden damit die beförderten
leistung im motorisierten Individualverkehr in China Personen (Beförderungsfälle) bzw. im Güterver-
(Quelle: ProgTrans 2010) kehr die transportierten Tonnen pro Zeiteinheit in
einem definierten Gebiet oder am Querschnitt ei-
Die Zahl der Automobile beträgt weltweit heute etwa nes Verkehrsweges gemessen.
630 Millionen, wobei die Massen-Motorisierung • Verkehrsleistung (Transportleistung): Sie ergibt
einiger großer und vieler kleiner Länder erst im sich durch Multiplikation des Verkehrsaufkom-
Anfang begriffen ist bzw. noch gar nicht begonnen mens mit den jeweils zurückgelegten Entfernun-
hat. Der motorisierte Individualverkehr ist in Ländern gen (Personenkilometer (pkm) bzw. Tonnenkilo-
wie China und Indien in den vergangenen Jahren meter (tkm)).
stark gewachsen und wird aller Voraussicht nach Zur weiteren Spezifizierung der physischen Mobilität
auch in den kommenden Jahren große Wachstumsra- von Personen dienen außerdem die drei folgenden
ten aufweisen (siehe Bild 1.1-4 nach [5]). Deshalb Indikatoren:
haben nicht nur die Vorteile, sondern auch die Nach- • Anzahl der Wege pro Person und Zeiteinheit
teile des Straßenverkehrs, insbesondere Ressourcen-
(z.B. legte 2008 eine Person in Deutschland im
Verbrauch, Unfallgefahren und Umweltwirkungen in
Durchschnitt durchschnittlich 3,4 Wege pro Tag
Technik und Gesellschaft einen hohen Stellenwert.
zurück).
Dies führt immer wieder zu Diskussionen über reg- • Zurückgelegte Streckenlänge pro Person und
lementierende Eingriffe der öffentlichen Hand, mit
Zeiteinheit (z.B. legte 2008 eine Person in
dem Ziel, die ungehinderte Nutzung des Automobils
Deutschland durchschnittlich 39 Kilometer pro
einzuschränken.
Tag zurück).
Man könnte durchaus sagen, dass der große Erfolg • Für alle Wege benötigte Zeit pro Person und
des Automobils zum Teil als die Ursache des Pro-
Zeiteinheit (z.B. benötigte eine Person in
blems angesehen werden kann. Trotz der Nachteile
Deutschland durchschnittlich 1 h 20 min für die
muss man aber konstatieren, dass es in allen Politik-
Bewältigung der zurückgelegten Wege pro Tag,
bereichen und auf allen politischen Ebenen eine hohe
alles aus [4]).
Anzahl an Entscheidungen gibt, bei denen eine stei-
gende Verkehrsnachfrage überhaupt erst Vorausset- Die Bedeutung der individuellen Mobilität lässt sich
zung für die erfolgreiche Umsetzung der jeweiligen z.B. an der Entwicklung des Pkw-Bestandes ablesen
Entscheidung oder die Folge davon ist [3]. (Bild 1.2-1 nach [5]).
Eine unabdingbare Voraussetzung für jeden, der sich Personen- und Güterverkehr finden unimodal (mit nur
mit dem Verkehr im Allgemeinen und dem Auto- einem Verkehrsmittel) oder multimodal (unter Nut-
mobil im Speziellen beschäftigt, ist außerdem die Be- zung verschiedener Verkehrsmittel) von Quelle A zu
rücksichtigung der Erkenntnisse verschiedenster
Fachdisziplinen. So müssen die unterschiedlichsten
Technologiebereiche, aber auch Fachgebiete wie 50 000
Soziologie, Psychologie und Ökologie, direkt oder in- 45 000
40 000
direkt bei den Entwicklungen neuer Fahrzeuge be- 35 000
rücksichtigt werden. 30 000
25 000
20 000
1.2 Ursachen und Arten der Mobilität 15 000
10 000
1.2.1 Definitionen 5 000
0
Mobilität bedeutet allgemein Raumüberwindung, 2000 2005 2010 2020 2025
Erreichen von Zielen; teilweise wird unter Mobilität
bereits das Bedürfnis bzw. die Fähigkeit zur Ortsver- Bild 1.2-1 Pkw-Bestand in Deutschland: Entwicklung
änderung verstanden. Für den Soziologen ist Mobili- und Prognose (in Tausend) (Quelle: ProgTrans 2010)
1.2 Ursachen und Arten der Mobilität 3

130
Güter-
120 verkehr
BIP
110
100
Index 2009 = 100 Personen-
90 verkehr
80 Bild 1.2-2 Entwicklung
70 Wirtschaftsleistung und Ver-
60
kehrsleistung Personen-/Gü-
terverkehr in Deutschland im
50
Vergleich – mittleres ifmo-
40
1991 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Szenario „Gereifter Fort-
schritt“ (Quelle: ifmo 2010)

Ziel B, gegebenenfalls mit Zwischenzielen, statt. ser Effekte durch physische Mobilität statt, die durch
Beispiele für den Personenverkehr wären: virtuelle Mobilität induziert wird, wenn man z.B. den
Facebook-Kontakt auch real treffen möchte [6].
• Fahrt mit dem Auto zum Büro, nachmittags Auto-
fahrt zum Supermarkt, dann zum Kino, anschlie-
ßend wieder Autofahrt nach Hause; also eine uni- 1.2.2 Aktivitäten bestimmen Mobilität
modale Wegekette.
• Fahrt mit dem Auto zum Bahnhof, von dort Fahrt
Die Mobilitätsnachfrage wird von zahlreichen Ein-
mit dem Zug in eine andere Stadt, dann mit einem flussfaktoren beeinflusst. Dies sind unter anderem
Call-a-Bike zu einem Geschäftstermin usw.; also Faktoren aus den Umfeldern Gesellschaft, Ökonomie,
eine multimodale Wegekette. Politik, Umwelt oder Technologie [7]. Die enge
Schon aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, Kopplung zwischen Wirtschafts- und Verkehrsleis-
wie unterschiedlich Mobilitätsformen sein können, tung der vergangenen Jahrzehnte scheint sich jedoch
und welch differierende Anforderungen an die ver- abzuschwächen, zumindest im Personenverkehr. Der
schiedenen Verkehrsmittel und ihr Zusammenwirken Güterverkehr ist in den letzten Jahren hingegen sogar
im Verkehrssystem (Intermodalität) daraus resultieren. deutlich überproportional zum Bruttoinlandsprodukt
In der Vergangenheit wurden immer wieder Erwar- gewachsen. Dieser Trend wird sich aller Voraussicht
tungen geäußert, dass durch die neuen Medien (z.B. nach in den kommenden Jahren fortsetzen (siehe Bild
Social Media, Video-Konferenzen) der Zuwachs an 1.2-2 nach [7]).
physischer Mobilität zumindest in seinem Wachstum Die wichtigsten Anlässe für Mobilität von Personen
gebremst werden könnte. sind in Deutschland Freizeit, Beruf und Einkauf [8]
Es sind jedoch nur in einigen wenigen Fällen Substi- (siehe Bild 1.2-3 nach [2]).
tutionseffekte von physischer durch virtuelle Mobili- Von besonderer Bedeutung ist der Freizeitverkehr
tät zu beobachten, wie beispielsweise beim Online- (z.B. [9, 10, 11]), der den höchsten Anteil an der
Banking. Tatsächlich findet eine Kompensation die- Verkehrsleistung aufweist.

350

300

250 Freizeit

Beruf
Mrd. pkm

200
Einkauf
150
Geschäft
100 Urlaub

50 Ausbildung
Bild 1.2-3 Entwicklung der
0 Verkehrsleistung im motori-
1992 1994 1996 1998 2000 2002* 2004 2006 2007 sierten Individualverkehr in
* Die ausgewiesenen Werte ab 2002 sind aufgrund geänderter Abgrenzungen Deutschland nach Verkehrs-
und Neuberechnungen nur eingeschränkt mit den Vorjahren vergleichbar.
zwecken (Quelle: DIW 2009)
4 1 Mobilität

Zudem stellt der Freizeitverkehr wegen seiner beson- haben große Auswirkungen auf den Güterverkehr.
deren Anforderungen, wie z.B. spezielle Zielorte, Transportqualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
Zahl der Passagiere, spezielles Gepäck wie Sportge- sind wichtige Kriterien für die Auswahl des zu bevor-
räte besonders hohe Anforderungen an die dazu zugenden Verkehrsmittels.
geeigneten bzw. bevorzugten Verkehrsmittel.
Wie schon einleitend angedeutet, resultiert der insge- Rohrleitungen
samt hohe Anteil des motorisierten Individualver- 16 Mrd. tkm (2 %)
kehrs (MIV) aus den besonderen Vorteilen des Eisenbahnen
116 Mrd. tkm (17 %)
Automobils.
In Städten und Ballungsräumen, die über leistungsfä-
hige U-und S-Bahnen verfügen, ist der ÖPNV-Anteil
Binnenschifffahrt
deutlich höher (Bild 1.2-4). 64 Mrd. tkm (10 %)
Neben der schon angesprochenen, vorzugsweise
zweckorientierten Mobilität spricht man auch von Straßengüter-
sog. „Erlebnismobilität“. Hier steht die emotionale verkehr
Komponente des Unterwegssein im Vordergrund. Oft- 473 Mrd. tkm (71 %)

mals mit Freizeit und Urlaub gekoppelt, führt Erleb-


nismobilität häufig zu speziellen Fahrzeugkonzepten
und Ausstattungsmerkmalen.
Besondere Anforderungen an Fahrzeugkonzept und Bild 1.2-5 Güterverkehrsleistung in Deutschland
Ausstattung stellt aber auch der Wirtschaftsverkehr 2008 (Quelle: DIW 2009)
mit dem Pkw, z.B. hinsichtlich Transportvolumen
und -gewicht, Wirtschaftlichkeit oder Variabilität. Auch beim Güterverkehr ist die Straße der Verkehrs-
Für den Pkw-Verkehr ist darüber hinaus der sog. träger mit dem größten Anteil beim Modalsplit (2008
ruhende Verkehr von hoher Bedeutung, da für den in Deutschland: ca. 70 %, siehe Bild 1.2-4 nach [2]).
Pkw nach jeder Fahrt ein Stellplatz verfügbar sein Die Gründe sind vor allem die hohe Dichte des Stra-
muss. Die Regulierung von Kapazitäten des ruhenden ßennetzes, die hohe Flexibilität des Lkw, die Mög-
Verkehrs durch Parkraumbewirtschaftung ist für viele lichkeit des Transportes vom Absender zum Emp-
Städte ein etabliertes Mittel zur Verkehrssteuerung fänger ohne Umladevorgang (z.B. [13] sowie Bild
geworden und wird aller Voraussicht nach weiterhin 1.2-5). Da Güter- und Personenverkehr meist dieselbe
an Bedeutung gewinnen [7]. Infrastruktur nutzen, muss man bei Diskussionen über
den Straßenverkehr immer beide Entwicklungen im
Vorteile des privaten Vorteile öffentlicher
Auge behalten.
Personenwagens Verkehrsmittel

Weitgehend örtlich und Benutzung auch für solche


1.2.4 Einige spezielle Ausprägungen
zeitlich unabhängige Personen, die nicht Auto von Mobilität
Verfügbarkeit fahren können (z.B. Kinder,
Minimaler Anmarschweg,
Senioren) oder wollen Werden Personenwagen normalerweise für möglichst
kein Warten und Umsteigen Direkte finanzielle Belastung vielfältige Anwendungen ausgelegt („Einhüllende
erforderlich nur bei Inanspruchnahme
(kein Kauf oder Leasing)
aller Anforderungen“, siehe Kap. 2), gibt es spezielle
Meist günstige Reisezeiten
Keine Beanspruchung durch
Mobilitätsformen, die aufgrund spezifischer Zielset-
Private Umgebung, Komfort,
Schutz vor schlechtem Wetter aktives Fahren. Lesen und zungen zu eingeschränkten bzw. speziellen Fahrzeug-
Schreiben während der Fahrt konzepten führen können. Hierzu gehören:
Leichte Mitnahmemöglichkeit möglich
für Gepäck; Sportgerät usw.,
Keine Parkplatzsuche • Nutzung vor allem in Ballungszentren (ausgespro-
Aufbewahrungsmöglichkeiten
im parkenden Fahrzeug erforderlich chene Stadtautos, wenig Stauraum, geringe Au-
Geringe Zusatzkosten bei Schienenfahrzeuge: ßenmaße, geringe Höchstgeschwindigkeit)
Mitnahme von Passagieren Bei sehr schlechtem Wetter
höherer Grad an Pünktlichkeit
• Mitnahme von größeren Lasten in Anhängern
Freude an der aktiven (Boote, Pferde) oder das Ziehen von Wohnwagen
Steuerung und Bewegung
möglich
• Fahrten auf unbefestigten Wegen und im Gelände
Freude am Besitz möglich
• Fahrten in gepanzerten Sicherheitsfahrzeugen
• Mobilität von Senioren (möglicherweise mit spe-
Bild 1.2-4 Vorteile verschiedener Verkehrsmittel im zieller Fahrzeugausstattung zur Kompensation kör-
Vergleich perlicher Einschränkungen).

1.2.3 Transportsysteme für den 1.3 Spannungsfelder und Auswirkungen


Güterverkehr der Mobilität
Globalisierung, fortschreitende europäische Integrati- Mobilität und Wohlstandsentwicklung sind eng an-
on sowie zunehmende Arbeitsteiligkeit der Wirtschaft einander gekoppelt. Durch die Struktur unserer Wert-
1.4 Mobilitätsrelevante Anforderungen an Automobile 5

schöpfung führt ein Anstieg der Wirtschaftsleitung Einige Wirkungen haben vorwiegend oder aus-
vor allem im Güterverkehr zu einem weiteren Wachs- schließlich lokale oder regionale Bedeutung wie z.B.
tum. In Schwellenländern wie China und Indien ist Geräuschemissionen, Flächenbedarf für Infrastruktur.
aber bei weiteren Wohlstandszuwächsen auch weite- Andere Belastungen wie Ressourcenverbrauch oder
res Wachstum im Personenverkehr zu erwarten. CO2-Emissionen betreffen den gesamten Globus.
Mobilität ist aber auch Voraussetzung für das Wohl- Nicht alle Problembereiche haben allerdings den
befinden des Einzelnen und für seine Teilnahme am gleichen Kritikalitätsgrad. Als Beispiel für das Thema
sozialen Leben (z.B. Fahrten zur Ausbildung oder zur Ressourcenreichweite sei der Rohstoff-Sektor ge-
Arbeitsstelle, Besuch von Freunden oder anderen nannt. So kommen Eisenwerkstoffe weltweit in gro-
Ländern). ßem Umfang vor, während spezielle Materialien wie
Die hohe Bedeutung von Mobilität und die damit Edelmetalle für Katalysatoren oder seltene Erden für
verbundene hohe Nachfrage nach Mobilität brachten Magnete in Elektromotoren nur in beschränktem
aber schon immer auch Probleme mit sich. So erließ Umfang verfügbar sind.
schon Caesar aus Gründen der Geräuschreduzierung Eine wichtige Herausforderung an Wissenschaft und
eine Verordnung, welche Streitwagen zeitweise von Praxis ist die ständige Arbeit an den Herausforderun-
den Straßen Roms verbannte. Und vor der Erfindung gen der Zukunft. So gibt es Belastungen, die bis
des Automobils drohten Großstädte im Verkehr der heute bereits drastisch verringert werden konnten,
Pferdefuhrwerke zu ersticken. In Berlin gab es im wie z.B. Schadstoff-Emissionen der Verbrennungs-
Jahr 1875, also vor Erscheinen der ersten Automo- motoren oder umweltbelastende Effekte von Ferti-
bile, mehr Tote im Straßenverkehr als derzeit. gungsprozessen. Die weitere Reduktion des Ressour-
Heutzutage, bei einer Weltbevölkerung von knapp cenverbrauchs, vor allem bei fossilen Energieträgern
7 Milliarden Menschen, sind die Konsequenzen des stellt eine zentrale Herausforderung für die Zukunft
Verkehrs von Personen und Gütern zu einer globalen dar.
Herausforderung für Ballungsräume, Magistralen und Die Knappheit von Finanzmitteln für Infrastrukturin-
den Globus insgesamt geworden. vestitionen stellt für die Politik eine andere wesent-
Allgemein bekannt sind die direkten Auswirkungen liche Herausforderung für eine zukunftsorientierte
des Verkehrs, wie Gestaltung von Mobilität dar. Eine auf langfristige
• Ressourcenbedarf strategische Zielsetzungen ausgerichtete Verkehrspo-
• Emissionen litik wird damit für einen effektiven und effizienten
• Unfälle Mitteleinsatz noch wichtiger [16].
die den verschiedenen Lebenszyklusabschnitten der Eine weitere Herausforderung liegt darin, Koopera-
Verkehrsmittel zugeordnet werden können (Bild 1.3-1 tionen zur Umsetzung vielfältiger Lösungen einzuge-
aus [14]). hen. Eine unternehmens- und verkehrsträgerübergrei-
In einer Untersuchung im Auftrag des Bundesamtes fende Zusammenarbeit gemeinsam mit Institutionen
für Raumentwicklung wurde in einer Abschätzung für der öffentlichen Hand ist sowohl zur Optimierung der
den gesamten Straßen- und Schienenverkehr in der Schnittstellen zwischen den Verkehrsträgern als
Schweiz ermittelt, dass der Gesamtnutzen größer als auch für eine effizientere Gestaltung des gesamten
die Gesamtkosten sind [15]. Allerdings sind Ergeb- Verkehrssystems zukünftig eine Notwendigkeit [7].
nisse solcher Untersuchungen stark davon abhängig, In einem Bereich allerdings gibt es zweifellos eine
unter welchen Annahmen die Berechnungen durchge- Grenze, die bei Null liegt: die Anzahl der im Verkehr
führt und welche Kriterien einbezogen wurden. Getöteten. Denn jeder Verkehrstote ist einer zuviel!
Bereits hier sei angedeutet, dass dieses Problem nicht
allein mit sichereren Automobilen zu lösen ist, aber
Lebens-
Rohstoff- auch der Verzicht auf Automobile stellt keine Lösung
zyklus Herstellung Betrieb Entsorgung
Betroffene
gewinnung dar. Erforderlich ist neben der technischen Weiter-
entwicklung im Hinblick auf die aktive und passive
Toxische
Verkehrs- Belastung von Sicherheit ein den gesamten Verkehrsbereich umfas-
Umwelt Boden und
emissionen
• Abgas Grundwasser sendes Verkehrsmanagement.
• Lärm
Industrie-
emissionen, Verkehrs-

Individuum
-abfälle, -abwässer infarkt
• Stau
1.4 Mobilitätsrelevante Anforderungen
(Mensch) • Parkraum
• Stress an Automobile
Automobile
Ressourcenverbrauch
• Materialrohstoffe
Strukturen
• Flächenbedarf
1.4.1 Grundsätzliche Anforderungen
• Energieerzeugung • Mobilitäts-
Gesellschaft bedarf Der automobil- und verkehrstechnische Fortschritt
(nach Berger/Servatius)
hat seit der Einführung der ersten Fahrzeuge Ende der
80er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts eine un-
Bild 1.3-1 Negative Auswirkungen des Autos übersehbare Fülle an grundlegenden Verbesserungen
6 1 Mobilität

Pannen- und Unfallfreiheit auf befestigten Straßen akzeptable Fahreigenschaften


Zielfindung in fremden Gebieten, Hilfe bei Parkplatzsuche
aufweisen, aus verschiedenen Gründen weltweite
Vermeidung unerwarteter Zeitverluste (Staus, ...)
Erfolge erzielt.
Vermeidung bzw. Beherrschung von kritischen Situationen
Neue Angebote im motorisierten Individualverkehr,
wie z.B. Car Sharing [19] haben in den vergangenen
Bewältigung unvermeidbarer Unfallsituationen
Jahren durchaus an Bedeutung gewonnen. Auch
Minimierung von Unannehmlichkeiten ind Sonder-
situationen (ungünstige Witterung, ...) wenn sie bezogen auf den gesamten Mobilitätsmarkt
Einparkhilfen nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle spielen,
„Freude am Fahren“
weisen die derzeit hohen Wachstumsraten auf eine
weiter steigende Bedeutung dieser Konzepte hin, vor
Bild 1.4-1 Erwartungen des Fahrers an sein Fahrzeug allem für die individuelle Mobilität in Ballungsräumen
[19].
auf allen Teilgebieten gebracht. Doch bleiben weder
der Anstieg der Ansprüche noch der weitere techni- Literatur
sche Fortschritt stehen. Die aus der Massenmotorisie-
[1] Burgert, W. et al.: „Tendenzen im Karosserieleichtbau“, VDI-
rung resultierenden Anforderungen wurden schon in Ber. 1256, 1996, S. 29 – 50
Kap. 1.3 angesprochen; nicht zuletzt entwickeln sich [2] Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
aber auch die Wünsche und Anforderungen jedes (Hrsg.): Verkehr in Zahlen 2009/2010, Deutscher Verkehrs-
Autofahrers an seine künftigen Fahrzeuge weiter Verlag GmbH, Hamburg, 2009
[3] Bruckmann, D. et al.: „Untersuchung ausgewählter Entscheidun-
(Bild 1.4-1 aus [18]). gen auf Verkehr und Umwelt“, Institut für Mobilitätsforschung
Eine andere Sichtweise geht von den Anforderungen (Hrsg.) Berlin, 2000
der Verkehrsabläufe aus und zielt auf Maßnahmen- [4] Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
bereiche zu deren Verbesserung, insbesondere auf (Hrsg.): Mobilität in Deutschland 2008, Bonn/Berlin 2010
[5] ProgTrans: „World Transport Reports“, Volume I, Edition
interne und externe Assistenzsysteme (z.B. [17), und 2010/2011, Basel, 2010
bezieht die zugehörigen Verantwortungsträger und [6] Institut für Mobilitätsforschung (Hrsg.): „Auswirkungen der
Akteure ein. virtuellen Mobilität?“. Berlin: Springer-Verlag, 2003
[7] Institut für Mobilitätsforschung: „Zukunft der Mobilität –
1.4.2 Einige spezielle Anforderungen Szenarien für das Jahr 2030“, München, 2010
[8] Zängler, T.: „Mikroanalyse des Mobilitätsverhaltens in Alltag
Trotz zunehmender Bedeutung des ÖPNV wird auch und Freizeit“. Berlin: Springer-Verlag, 2000
[9] Institut für Mobilitätsforschung (Hrsg.): „Freizeitverkehr“.
der MIV in Ballungszentren weiterhin unverzichtbar
Berlin: Springer-Verlag, 2000
sein. Damit werden auch die (an sich alten) Bemü- [10] Institut für Mobilitätsforschung (Hrsg.): „Erlebniswelten und
hungen um ausgesprochen stadtverträgliche Fahr- Tourismus“. Berlin: Springer-Verlag, 2004
zeugkonzepte fortgesetzt. Zugehörige Anforderungen [11] Institut für Mobilitätsforschung Berlin (Hrsg.): Öffentlicher
Personennahverkehr – Herausforderungen und Chancen. Berlin:
betreffen vor allem besonders geringe Abgas- und
Springer-Verlag, 2006
Lärm-Emissionen sowie geringen Platzbedarf beim [12] Seiffert, U.: „Mobilität – Gesellschaftliche Anforderungen und
Parken, was sowohl zu speziellen Package-Konzepten technologische Optionen der Zukunft“; RWE-Zukunftstagung
als auch zu eigenständigen Antriebsaggregaten (z.B. „Gesellschaft und Technik im 21. Jahrhundert“, Essen 22.8.1998
[13] Schulz, J.: „Bewertung des Güterverkehrs auf Straße und
Hybrid- oder Elektroantrieb) führen kann (Kap. 4.3). Schiene“, FAT-Schrift Nr. 125, 1996
Während für Fahrzeuge von körperlich Behinderten [14] Berger, R.; Servatius, H.-G.: „Die Zukunft der Autos hat erst
speziell angepasste Umrüstmaßnahmen angeboten begonnen – Ökologisches Umsteuern als Chance“, Piper-Verlag
werden, gibt es zur Frage ausgesprochener „Senioren- 1994
[15] INFRAS/IWW: Externe Kosten des Verkehrs, Zürich/Karlsruhe,
Autos“, die vor allem den ergonomischen Eigen- Oktober 2004
schaften dieser Nutzerpopulation Rechnung tragen, [16] Institut für Mobilitätsforschung.: „Verkehrsinfrastruktur-Bench-
von der Zielgruppe selbst häufig eher Ablehnung als marking Europa – Verkehrsinfrastrukturausstattung und ver-
Zustimmung. kehrspolitische Rahmenbedingungen in ausgewählten europä-
ischen Staaten“, Berlin, 2007
Obwohl im Taxieinsatz ebenfalls bestimmte Eigen- [17] Jürgensohn, T.; Timpe, K.-T.: „Kraftfahrzeugführung“. Berlin:
schaften bevorzugt werden (bequemer Einstieg, ge- Springer-Verlag, 2001
ringer Wendekreis, etc.) haben sich (bis auf das [18] Braess, H.-H.; Reichart, G.: „PROMETHEUS – Vision des
Londoner Taxi) spezielle Fahrzeugkonzepte kaum intelligenten Automobils auf der intelligenten Straße?“, ATZ
1995, S. 200 – 205 und S. 330 – 343
durchsetzen können. Im Gegensatz dazu haben Off- [19] Frost & Sullivan: "Sustainable and Innovative Personal Trans-
road-Fahrzeuge für Extremeinsätze sowie Abwand- port Solutions – Strategic Analysis of Carsharing Market in Eu-
lungen (z.B. Sport Utitily Vehicles – SUV), die auch rope”, 2010
2 Anforderungen, Zielkonflikte

2.1 Produktinnovation, Anteil „äußerst wichtig/wichtig“ in %

bisherige Fortschritte Kompakte Außenmaße/


Sicherheit 95 handlich/wendig 53
Das Automobil ist seit mehr als einhundert Jahren Qualität/Zuverlässigkeit 93 Spaß am Autofahren 51
Wirtschaftlichkeit 85 Vollzähligk. d. Ausstattung 50
ein Transportmittel für Menschen, Tiere und Güter.
Obwohl es für den größten Anteil der Fahrzeuge in Niedriger Treibstoffverbrauch 84 Vielseit. Nutzungsmöglichkeiten 48
Fahrverhalten/Straßenlage 81 Großer Kofferraum 44
seinen Grundzügen gleich geblieben ist – vier Räder, Umweltfreundlichkeit 78 Gestaltung d. Innenraums 42
Otto- oder Dieselmotor als Antrieb, Getriebe als Preiswürdigkeit 78 Formgebung/äußeres Design 40
Drehmomentwandler – hat es doch erhebliche Verän- Fortschrittliche Technik 73 Hohe Motorleistung 25
Komfort/Bequemlichkeit 62 Auto mit Pers. u. Charakter 22
derungen erfahren. Diese wurden geprägt durch den Geräumigkeit des Innenraums 55 Sportlichkeit 18
Mobilitätsbedarf, den internationalen Wettbewerb,
den technischen Fortschritt, das weltweite Produkt- Bild 2.1-2 Der Stellenwert der Kaufkriterien
angebot, die Aktivitäten der Gesetzgeber, die einge-
setzte Energie, Erdöl, Gas, Biokraftstoffe und Elekt- zahlreiche Hersteller stark gestiegen. Sie reicht
rizität sowie durch die vielfältigen Kundenanforde- innerhalb eines Konzerns inzwischen von sehr kom-
rungen. pakten Fahrzeugen wie dem „smart“ [2], [3] mit einer
Fahrzeuglänge von 2,7 m, einer Fahrzeugbreite von
2.1.1 Kundenwünsche 1,56 m und einer Höhe von 1,54 m bis hin zum May-
Besonders die letzte Forderung bedeutet, dass die bach [4] in der langen Version mit einer Länge von
Wünsche der Kunden und der Märkte vorrangig in 6,165 m, einer Breite von 1,98 m und einer Höhe von
den Produktentstehungsprozess eingehen und durch 1,57 m. Das Bild 2.1-3 zeigt in einer Gegenüberstel-
den Fahrzeughersteller berücksichtigt werden müs- lung die Größenverhältnisse. Aber auch andere Seg-
sen. Die Anforderungen an das Automobil selbst sind mente decken den Kundenbedarf ab, z.B. die große
voller Widersprüche, die aber immer wieder gesamt- Anzahl Cabrios, Sportwagen, Multivan und Offroad-
heitlich gelöst werden konnten. Bild 2.1-1 zeigt sehr fahrzeuge, Bild 2.1-4 zeigt den Audi R8. In der
deutlich die Zielkonflikte: Tabelle 2.1-1 sind die Segmente für Deutschland für
2009 dargestellt. Der Kunde ist dann bereit, ein neues
Sicherheit
Intelligente Ver
kehrssysteme Emotionalität

Fahrleistung und Kosten


Transportvolumen (Kauf und Betrieb)

Verbesserung der Zuverlässigkeit


Verkehrssituation und Qualität

Abgas- und Außen-


Kraftstoffverbrauch geräuschemissionen

Energie- Recycling
verfügbarkeit
Komfort
Bild 2.1-3 Größenvergleich Smart und Maybach 62
Bild 2.1-1 Forderungen an das Automobil
Der Gesamtverkehr steigt in der Bedeutung [1], da
der Kunde die zurzeit wachsenden Verkehrsprobleme
auch der Automobilindustrie zuordnet bzw. einen
wesentlichen Beitrag zur Lösung derselben von ihr
erwartet. Bei Befragungen der Kunden (Zusammen-
fassung von mehreren Befragungen) direkt zum
Automobil ergeben sich für ein Mittelklassefahrzeug
die in Bild 2.1-2 gezeigten Antworten. Sicherheit und
Zuverlässigkeit, kein Liegenbleiben haben neben
niedrigem Kraftstoffverbrauch eine hohe Priorität.
Um die Wünsche der Kunden zu erfüllen, ist außer-
dem in den letzten Jahren die Angebotsvielfalt durch Bild 2.1-4 Audi R8 (Quelle: Audi AG)

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_2,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
8 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Tabelle 2.1-1 Fahrzeugsegmentverteilung in Deutsch- len, dass in allen Ländern West-Europa’s die Anzahl
land 2009, Quelle KBA der tödlichen Unfälle und Unfälle mit Verletzungen als
Funktion der gefahrenen Kilometer deutlich zurückge-
Fahrzeugsegment Prozent
gangen ist. Das Bild 2.1-5, [8], [9] zeigt beispielhaft
Mini 4,79 für Deutschland den Rückgang der im Straßenverkehr
Kleinwagen 19,87 Getöteten als Funktion des Jahres pro gefahrenen
Kompaktklasse 27,86 Millionen Fahrzeugkilometer. Daraus ist zu erkennen,
wie notwendig die Aktivitäten waren und sind. Leider
Mittelklasse 26,11
sind weltweit sehr viel mehr Unfälle mit tödlichen
Obere Mittelklasse 5,91 Verletzungen, größer als 1 Million pro Jahr, zu ver-
Oberklasse 0,55 zeichnen. Die länderspezifischen Unterschiede sollten
Geländewagen 3,17 die „schlechteren“ Länder reizen, es den „besseren“
nachzutun. Dies gilt auch für andere Verkehrsträger
VAN’s 7,99
wie Eisenbahn, Öffentlicher Personennahverkehr und
Utilities 2,98 professionelle Airlines, die eine noch deutlich höhere
Sonstige 6,17 Sicherheit pro Personenkilometer aufweisen.

Fahrzeug zu kaufen, wenn es seinen finanziellen Mög- 40


lichkeiten und Neigungen entspricht. Dabei reagiert er

Getötete je 1 Mrd. Fzg-km


35
häufig auf spontane Ereignisse. 30
25
2.1.2 Gesetzgebung 20
15
Während sich das Automobil als Transportmittel bis
10
zum zweiten Weltkrieg zunächst ohne große Beach- 5
tung der Umweltfrage, der unfallfolgenmildernden 0
Fahrzeugsicherheit und der Wiederverwertung entwi- 1980 82 84 86 88 90 92 94 96 98 2000 02 04 06 08
ckelte und nach dem Krieg eine Vielzahl von klei-
neren Fahrzeugen das Transportbedürfnis erfüllte, Bild 2.1-5 Getötete je Milliarden Fahrzeugkilometer
begann Mitte der Sechzigerjahre in den USA durch in Deutschland, ab 1991 einschließlich der neuen
die Sicherheitsgesetze und die Emissionsvorschriften Bundesländer
eine deutliche Veränderung. Einen großen Einfluss
hatte dabei der Verbraucheranwalt Ralph Nader mit Nicht immer gingen die Veränderungswünsche vom
seiner Sicherheitskampagne, diese und die Vorschrif- Automobilkunden aus, häufig hat die Allgemeinheit
ten für den Kauf von Behördenfahrzeugen führte zu diese Veränderungen über die Politik herbeigeführt.
den Federal Motor Vehicle Safety Standards. Ein Ein typisches Beispiel ist Kalifornien. Ausgelöst von
umfassendes Vorschriftenwerk, welches alle Fahr- dem Smog und der schlechten Luftqualität in Los
zeugteile umfasst und bis zum heutigen Zeitpunkt Angeles und in anderen großen Städten, wurden die
ständig erweitert wurde. Gesetzliche Regelungen für Abgasgesetze erlassen. Mitte der 60-er Jahre be-
den Betrieb von Fahrzeugen gab es auch schon An- grenzte man in den USA zunächst das Kohlenmono-
fang 1900 in Deutschland mit einem Gesetz über die xid CO, die Stickoxide NOx, die Kohlenwasserstoffe
Haftpflicht beim Betrieb von Fahrzeugen. Die inter- HC und die Partikel. Anfang der 70-er Jahre wurden
nationalen weltweiten Sicherheitskonferenzen, wie in Europa die Abgasemissionen für die Komponen-
die ESV-Conferences [5] und die Biomechaniktagun- ten: Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe, Partikel
gen [6], taten ein Übriges, um dieses wichtige Thema und zu einem späteren Zeitpunkt die Stickoxide
voranzubringen. Hier treffen sich Unfallforscher, Bio- gesetzlich geregelt. Zusätzlich muss der Fahrzeugher-
mechaniker, Ingenieure und die Vertreter der Gesetz- steller den Beweis antreten, dass die nicht limitierten
gebung, um über die neuesten Ergebnisse der Fahr- Abgasbestandteile keine Gesundheitsgefährdung
zeugsicherheit intensiv zu diskutieren. Besonders zu darstellen. Der eigentliche technologische Durch-
Beginn der Siebzigerjahre [7], gab es auch einen inno- bruch wurde mit dem Dreiwegekatalysator und der
vativen Wettbewerb für die besten Lösungen an Expe- λ = 1-Regelung bei den Ottomotoren im Zusam-
rimentierfahrzeugen oder Teilsystemen. Die Fahr- menhang mit bleifreiem Kraftstoff erreicht, Kapitel
zeugsicherheit kann nicht nur vom Fahrzeughersteller, 5.1. Dies gilt auch für Europa, wo inzwischen ein
sondern ganz wesentlich vom Kunden und durch den sehr hoher Durchdringungsgrad von derartigen Kon-
Gesetzgeber stark beeinflusst werden. Z.B. haben Stra- zepten erreicht wurde. Auch die Emissionen aus den
ßenausbau, Signalgebung, Führerscheinausbildung, Be- Kraftstoffsystemen wurden um ein Vielfaches re-
grenzung des Alkohol- und Drogenkonsums und klare duziert, Kapitel 7.6. Die Verdampfungsverluste beim
Verkehrszeichen ebenfalls einen sehr positiven Beitrag Stillstand und beim Betrieb des Fahrzeuges werden
geleistet. Als Ergebnis der Bemühungen ist festzustel- über entsprechende Dichtheit des Kraftstoffbehälters
2.1 Produktinnovation, bisherige Fortschritte 9

und der Leitungen und der Hinführung der Emis- ders die Stickoxide und die Partikel begrenzt. Im
sionen zu einem Aktivkohlebehälter, der vom Motor NEFZ für Dieselfahrzeuge die NOx auf 0,18 g/km
gereinigt wird, begrenzt. Beim Tanken werden die und Partikel auf 0,005 g/km.
aus dem Kraftstoffbehältereinfüllstutzen entweichen- Auch das Außengeräusch wurde reduziert. In dem
den Gase über geeignete Vorrichtungen an den Zapf- europäischen Zulassungsverfahren wird eine beschleu-
pistolen abgesaugt. Bei den Dieselmotoren wurden nigte Vorbeifahrt im 2. und 3. Gang simuliert. Heute
zunächst die Fortschritte durch motorinterne Maß- können mehr als 5 mal so viele Fahrzeuge diesen Test
nahmen erzielt, bis Ende der 80-er Jahre die Oxida- vollziehen und bleiben insgesamt noch unter dem
tionskatalysatoren einen weiteren Freiheitsgrad in der Grenzwert von 1975 mit 82 dB(A). Bei der momenta-
Reduzierung der Abgaskomponenten ergeben haben. nen Festlegung des Typprüfungswertes mit 74 dB(A)
Die Hochdruckeinspritzung hat weitere Erfolge ge- werden bereits ca. 50 Prozent des Geräusches durch
bracht. Partikelfilter, NOx-Speicherkatalysatoren und den Kontakt Fahrbahn/Reifen erzeugt, bei einer weite-
die SCR-Technologie sind in Serie. Besonders die ren Absenkung z.B. auf 72 dB(A) steigt dieser Wert
Stickoxide und die Partikel konnten deutlich verringert auf 75 Prozent. Die wesentlichen Aktivitäten müssen
werden, Kapitel 5.2. sich daher auf die Reduzierung des Geräusches Rei-
Derzeit wird intensiv an weiteren Verbesserungen für fen/Fahrbahn konzentrieren, Kapitel 3.4. Durch eine
beide Motorkonzepte gearbeitet. Sie lassen sich in besondere Fahrbahnoberfläche, dem „Flüsterasphalt“,
folgende Gruppen einteilen: Minimierung der Kalt- ist viel zu erreichen. Allerdings haben diese Fahr-
startemissionen, weitere Reduzierung der limitierten bahnoberflächen im Vergleich zur Standardbauweise
Abgaskomponenten und der Stickoxide bei Otto- und eine reduzierte Lebensdauer. Das Außengeräusch
Dieseldirekteinspritzern. Die gesetzlichen Forderun- erhält eine zunehmende Bedeutung seitens der Öffent-
gen in Kalifornien mit den ULEV (ULTRA LOW lichkeit. Bei kritischen Stimmen zum Automobil wird
EMISSION VEHICLE), SULEV (SUPER ULTRA es häufig gleichbedeutend mit Parkplatz- und Emis-
LOW EMISSION VEHICLE) und ZERO Emission sionsproblemen in der Stadt genannt.
(Null Emissionen) und die europäischen Ziele mit
Euro 5 + Euro 6 werden dafür sorgen, dass das Au- 2.1.3 Fahrzeugtechnik
tomobil bis auf die Kohlendioxidemission völlig aus
der Diskussion bezüglich der Umweltbelastung ver- Bei der Beurteilung der Fahrzeugtechnik kann man
schwindet. Als Beispiel demonstriert das Bild 2.1-6 feststellen, dass sich alle wesentlichen Eigenschaften
die Absenkungsschritte der Emissionswerte in Europa positiv verändert haben. Dies gilt für die Langlebigkeit,
seit. 1992 bis zum Einsatz von Euro 6. Die Abgaswerte z.B. verzinkte Karosserie und andere verbesserte Kor-
wurden im Schnitt um mehr als 98 Prozent in Rich- rosionseigenschaften (korrosionssicher bis zu 12 Jah-
tung Null gesenkt. Die EURO 5-Regelung hat beson- ren), die höhere Anmutungs- und Lebensdauerqualität,

Pkw mit Benzinmotor (mg/km)


Norm EURO 1 EURO 2 EURO 3 EURO 4 EURO 5 EURO 6
Typprüfung ab 1. Juli 1992 ab 1. Jan. 1996 ab 1. Jan. 2000 ab 1. Jan. 2005 ab 1. Sep. 2009 ab 1. Sep. 2014 [1]
CO 3160 2200 2300 1000 1000 1000
(HC + NOx) 1130 500
NOx 150 80 60 60
HC 200 100 100 100
davon NMHC 68
PM 5* 5*
* mit Direkteinspritzung
Pkw mit Dieselmotor (mg/km)
Norm EURO 1 EURO 2 EURO 3 EURO 4 EURO 5 EURO 6
Typprüfung ab 1. Juli 1992 ab 1. Jan. 1996 ab 1. Jan. 2000 ab 1. Jan. 2005 ab 1. Sep. 2009 ab 1. Sep. 2014
CO 3160 1000 640 500 500 500
(HC + NOx) 1130 700/900* 560 300 230 170
NOx 500 250 180 80
PM 180 80/100* 50 25 5 5
* mit Direkteinspritzung

Bild 2.1-6 Verringerung der Abgaswerte in Europa [17] und EG-Gesetzgebung


10 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Lenkradverstellung
Einparkassistent
Servolenkung
Sitzverstellung, Sitzheizung und -belüftung
automatisch schaltende Getriebe
El. Spiegelverstellung
Komfort Innenraumbehaglichkeit
(Klimaanlage, Temperaturregelung)
Gurtschlösser am Sitz
höhenverstellbare Verankerungspunkte
Geschwindigkeitsregelung und Abstandsradar
adaptive Dämpfer
Bremsassistent
ABS, EDS, ESP
ACC mit Bremseingriff
Automatische Notbremsung
Regensensor
Sichtfelder und Beleuchtung
(Scheinwerfer mit dynamischer Leuchtweiten-
regelung, dritte Bremsleuchte und automatisches
Sicherheit Kurvenlicht)
Fahrverhalten
Fahrbahneinhaltung
Spurwechselassistent
Kindersitz, normierte Befestigung und Sensierung
von Rückhaltesystemen und Insassen
C2C mit C2I
precrash-Funktionen
RDS, TMC
dynamische Navigation
Kommunikation Diebstahlschutz, Wiederauffinden der Fahrzeuge
Spracheingabe Bild 2.1-7 Beispiele für eine
Notruf
Fahrerunterstützung

die größere Verwindungssteifigkeit und die damit ver- 1978 bis 2003 auf im Durchschnitt 6,92 l/100 km (im
bundene Klapperfreiheit, eine verbesserte Ergonomie, NEFZ-Test) um 35 % gesenkt werden. Obwohl das
Sitzgestaltung sowie Lage und Betätigung von Bedien- Fahrzeuggewicht in den letzten Jahren im Mittel um
elementen und die wesentliche Verbesserung des mehr als 300 kg, von Ausnahmen abgesehen, gestie-
Schwingungsverhaltens und Geräuschniveaus im Fahr- gen ist, haben andere Innovationen und umgesetzte
zeuginnenraum. Die diesbezügliche Leistungsfähigkeit Maßnahmen im Wesentlichen diese Verbrauchsredu-
beurteilt der Kunde sowohl im Stand als auch beim zierung erzielt.
Fahren besonders hoch. Viele Detailoptimierungen: Durch viel Feinarbeit bezüglich der aerodynamischen
Entkopplung, Tilger, Dämpfung bis hin zur geregelten Formgebung wurde der Luftwiderstandsbeiwert cw,
Luftfeder haben für den Kunden wesentliche Verbesse- aber auch der Luftwiderstand selbst deutlich redu-
rungen erzielt. Dieser Trend wird sich fortsetzen. ziert. Der cw-Wert konnte seit 1960 um 40 Prozent
Einen Hauptanteil an den Verbesserungen hat die auf im Schnitt auf einen Wert von 0,3 [–] gesenkt
Karosserie. Sie bietet bei zwar absolut gestiegenem werden, Bild 2.1-8. Die Luftwiderstandsfläche (die
Gewicht eine wesentlich bessere Ausnutzung des Multiplikation von cW × Querschnittsfläche) liegt
Fahrgastraumes bezogen zur Gesamtverkehrsfläche. heute bei vielen Fahrzeugen unter 0,6 m2. Trotz der
Durch die Kompaktbauweise haben sich diese Werte größeren Querschnittsfläche durch den momentanen
in den letzten 10 Jahren um 10 Prozent verbessert. Designtrend – kürzer, breiter und höher – gab es eine
Dies gilt auch für die Verwindungssteifigkeit: teilt ständige Reduzierung des Luftwiderstandes und
man das Karosseriegewicht durch Verwindungsstei- damit des Fahrwiderstandes. Der Luftwiderstand trägt
figkeit und Aufstandsfläche, dann sind die heutigen auch bei den momentanen EG-Messzyklen für ein
Karossen um mehr als 50 Prozent besser. Interessant Mittelklassefahrzeug je nach Ausgangslage mit ca.
wird die Karosseriegestaltung im Zusammenhang mit 40 % zum Verbrauch bei. Allerdings schwankt dieser
den weltweiten Aktivitäten zur Elektrotraktion. Wert. Pro 10 % cw × A Änderung liegt die Einsparung
Für den Fahrzeugbetrieb haben inzwischen zahlreiche bei einem großen/schweren Fahrzeug bei 2,2 % und
Unterstützungssysteme in der Serie eingesetzt. Sie bei einem kleinen Fahrzeug, 4 % [11].
beinhalten beispielhaft die im Bild 2.1-7 dargestellten Auch bei der Reduzierung des Rollwiderstandes
Gebiete. Eine sehr gute Übersicht findet man auch im konnte durch neue Reifengenerationen u.a. mit Silika-
Handbuch für Fahrerassistenzsysteme [10]. technik der Rollwiderstandsbeiwert von 0,02 im Jahr
Ein ganz wichtiger Grund für den Kaufentscheid ist 1960 auf heute fr = 0,008 gesenkt werden. Zusätzlich
für die Kunden der Kraftstoffverbrauch. Dieser konn- werden auch alle weiteren den Rollwiderstand beein-
te für die von deutschen Herstellern in der Bundesre- flussenden Bauteile, wie Lager, Gelenke, Antriebs-
publik angebotenen Fahrzeuge in den Jahren von wellen, der Optimierung unterzogen.
2.1 Produktinnovation, bisherige Fortschritte 11

1,0
cw
0,8
0,7

0,6

0,5

0,4

0,3 W
V

W Luftwiderstand
cw = r W r Luftdichte
2
0,2 2V A V Fahrgeschwindigkeit
A Stirnfläche

0,1
1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Modelljahr

Bild 2.1-8 Luftwiderstandsbeiwert als Funktion der Jahre (Schaukasten: Sönke Hucho)

Den größten Anteil an der Verbrauchsreduzierung kraftunterbrechnung, so dass erst mit den geregelten
und zur Steigerung des Komforts haben die An- Doppelkupplungsgetrieben der Marktdurchbruch ge-
triebsaggregate erzielt. Beim Ottomotor: Multipoint- lang [12]. Die kontinuierlich variablen Getriebe
einspritzung, kontaktfreie Zündung, Mehrventiler, haben noch nicht den prognostizierten Markterfolg
variable Ventilverstellung, Direkteinspritzung, be- erzielt. Abzuwarten ist der Einsatz im Zusammen-
darfsgesteuerte Kraftstoffpumpe, Zylinderabschaltung, hang mit Hybridantrieben (4.3.3). Hybridantriebe
Leichtbauweise, Kühlkreislaufoptimierung, mechani- steigern zunehmend ihren Marktanteil.
sche Aufladung zur Drehmoment- oder Leistungs- Durch die Verbesserung der Antriebsaggregate konn-
steigerung und trotzdem spezifische Verbräuche mit te die Verbrauchsverschlechterung, die durch die
minimalen Werten von 225 g/kWh. Beim Dieselmo- Erhöhung der Fahrzeugmasse eingetreten ist, mehr
tor Direkteinspritzung mit variabler Aufladung zur als wettgemacht werden. Dabei kann man beim Otto-
Drehmoment- und Leistungssteigerung, CommonRail kraftstoff überschlägig rechnen, dass 1 l verbrannter
und Pumpe/Düse mit Einspritzdrücken von mehr Kraftstoff ca. 2400 g CO2 emittiert, beim Diesel sind
als 1600 bar bzw. größer als 2000 bar und mit Vor- dies ca. 2640 g CO2 Die Aufgaben der Zukunft sind
einspritzung zur Geräusch- und Emissionsminderung. besonders intensiv bezüglich der weiteren Kraftstoff-
Die piezoelektrische Einspritzung erlaubt zahlreiche verbrauchsreduzierung. Die Eckpunkte der euro-
Optimierungen bezüglich des Einspritzvorgangs. Die päischen Regelung bis 2008 zeigt das Bild 2.1-9.
besten Motoren derartiger Ausführung liegen beim Diese Regelung wird durch Aktivitäten wie Steuerer-
spezifischen Verbrauch unter 200 g/kWh. leichterungen oder direkte Förderung beim Kauf von
Die Getriebe wurden ebenfalls bezüglich der Dreh- Fahrzeugen unterstützt [13]. Inzwischen werden für
momentenübertragung pro Getriebegewicht und -bau- 2020 95 g CO2/km und für 2050 20 g CO2/km gefor-
größe wesentlich verbessert. Bei den Schaltgetrieben dert.
führte dies zu 5- und 6-Gang-Getrieben, bei den Die Notwendigkeit die CO2-Emissionen zu reduzie-
Automatikgetrieben haben elektronische Regelung ren erfordert eine Vielzahl von Aktivitäten: verstärk-
und Steuerung mit dem Einsatz von 5 bis 8-Gang- ter Einsatz von alternativen Kraftstoffen, wie biofuel,
Getrieben erhebliche Verbrauchseinsparungen er- CNG, synfuel und Ausschöpfung des Potentials von
bracht. Die eingeführten mechanischen automatisier- Diesel- und Ottofahrzeugen, inklusive der Hybridisie-
ten Schaltgetriebe bis 7-Gänge, bei denen die Gang- rung. Das Bild 2.1-10 zeigt den Volkswagen Ablue
wahl sowohl vom Fahrer als auch automatisch vorge- Motion Polo, 3 Zylinder 1,2 l TDI mit Schaltanzeige,
nommen werden können, einschließlich des Stopp/ Start-Stopp, Bremsenergierückgewinnung, Verbrauch
Start-Systems, stellen einen wesentlichen Beitrag zur 3,3 l/100 km = 87 g CO2/km [14].
Verbrauchsreduzierung dar. Der Kunde erwartet aus Das andere Beispiel ist der Toyota Prius III mit einem
Komfort und Beschleunigungsgründen keine Zug- Normverbrauch von 3,9 l Ottokraftstoff entsprechend
12 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Emissionen und Ist 2005


Treibhausgasemissionen
ihre Verursacher in Deutschland pro PKW1) Soll 2050

[CO2/km] [Benzin/100 km] Begrenzung der


221 g (2005) ~ 9,5 l Erderwärmung auf
2 °C bis 20502)
Bild 2.1-9 CO2-Emission
∅ 20 g CO2/km
~ 0,9 l Benzin/100km in g/km der europäischen
(Deutschland)
20 g (2050) ~ 0,9 l
Automobilindustrie Eck-
Deutschland punkte der CO2-Regulierung
2005 2050 [Jahr]
beim Pkw in Europa [13]
92 g CO2/km [15]. Die Notwendigkeit sowohl bei Blue Motion Technologie
Otto- als auch bei Dieselfahrzeugen den Verbrauch
zu reduzieren, erfordert ein intelligentes Energie-
management, sodass die Komponenten der Hybrid-
antriebe Standard in allen Serienfahrzeugen werden.
Weltweit wird auch an den serienmäßigen Einsatz
von reinen Elektrofahrzeugen gearbeitet.
Ein anderer wesentlicher Aspekt ist die indirekte
Wahrnehmung des Kunden von Verbesserungsmaß-
nahmen. Dazu gehört zweifelsohne die Akzeptanz
des „bleifreien Benzins“, des schwefelarmen Kraft-
stoffes, Bio-Fuel, die Funktionsfähigkeit der Abgas-
konzepte und die Korrosionsbeständigkeit. Dies gilt
ebenso für die Langzeitqualität der eingesetzten Bild 2.1-10 Volkswagen Blue Motion Polo [14]
Elektrik/Elektronik, Aktuatorik und Sensorik, die
einen wesentlichen Anteil an den erzielten Fortschrit- Funktionsfähigkeit von Fahrzeugkomponenten, wie
ten haben. Die Durchdringung aller Fahrzeugbauteile Airbag-System, Motorölstand und Qualität, Servicein-
ist beträchtlich. Alle neuen Innovationen werden zu tervalle und die Onboard-Diagnose (Überwachung der
mehr als 80 % durch elektronische Komponenten das Abgas beeinflussenden Komponenten) eingesetzt.
beeinflusst, wie aus der folgenden Aufstellung, Bild Durch die Informations- und Kommunikationssysteme
2.1-11, ersichtlich ist. Diese lässt sich beliebig erwei- findet zurzeit eine bessere Integration des Automobils
tern, wenn noch vermehrt Fahrerassistenzsysteme und in andere Systeme statt, sei es durch Verbesserung der
Hybridantriebe in der Serie einsetzen. Logistik und der Kommunikation, der dynamischen
Am Beispiel der Steuer- und Regelsysteme sind im Zielführung oder durch die Verknüpfung mit anderen
Bild 2.1-12 bedeutende Meilensteine als Funktion der Verkehrssystemen. Dabei ergeben sich auch mit den
Jahre dargestellt [16]. Man kann sehr schön die konti- Kunden im Automobil völlig neue Kommunikati-
nuierliche Weiterentwicklung erkennen. Die Elektro- onsmöglichkeiten, z.B. allgemeine Serviceleistungen,
nik wird auch zunehmend für die Überwachung der Wartung und Information über Veranstaltungen etc.

Anlasser Radio/CD/Tape/Amplifier
Kraftstoffpumpe Infrarotschlossbetätigung
Zündung Navigation
Aktuator für Leerlaufbypassventil Diebstahlwarnanlage
Drosselklappenbetätigung geheizter Katalysator
ABS-Hydraulikpumpe elektrische Motorkühlung
Scheibenwischer vorne/hinten elektrische Wasserpumpe
Scheinwerfer-Waschanlage elektromagnetischer Ventiltrieb
elektrische Fensterheber vorne/hinten Komponenten für Hybridantrieb
elektrisches Schiebedach aktive Motorlager
elektrische Türverriegelung, auch Heckklappe aktives Fahrwerk
Kopfstützen und Sitzeinstellung Reifendruckwächter
elektrische Spiegel Bremsassistent
elektrische Antenne elektrische Bremse
Leuchten und Scheinwerfer elektrischer A/C-Kompressor
Heckscheibenheizung elektrischer Gangwechsel bei 5- und 6-Gang-
Sitzheizung getrieben
Windschutzscheibendüsenheizung geheizte Windschutzscheibe
geheizte l-Sonde verbesserte Nachtsicht
ECU, Motor-Getriebe Fahrbahnwechselsichtgerät
ABS, Anfahrhilfe, ESP Kurvenlicht
Geschwindigkeitsregelanlage Einparkassistent
elektrisch/mechanische bzw. hydraulische Automatische Abstandshaltung
Lenkung mit Bremseneingriff
Fahrbahneinhaltung Automatsiche Notbremsung
Instrumente intelligente Airbag-Sensoren
Airbag- und Gurtstrafferauslösung Telefon/Fax Bild 2.1-11 Elektrische/elek-
Notruf Stimmeingabe tronische Systeme im Fahr-
Klimaanlage Head up-Display
zeug [18]
2.1 Produktinnovation, bisherige Fortschritte 13

Automatische Notbremsung
lane keeping
Kurvenlicht
PRE-SAFE
Elektro-hydraulische Bremse EHB
Di-Ottomotor
Bremsassistent und ACC
Sequentielles M Getriebe
Elektronische Wegfahrsperre
Adaptive Getriebessteuerung
Dynamische Stabilitätskontrolle
Eigendiagnose mit Notlaufprogramm
Antriebs-Schlupf-Regelung
Elektronisches Gaspedal
Gemeinsame Steuerung von
Motorelektronik und Automatikgetriebe
Warmlauf Kennfeld

Kühlerthermostat Leerlaufdrehzahlregelung
Klopfregelung
Zündung mit lastabhängiger Unterdruckverstellung Digitale Motorelektronik
des Zündzeitpunktes
Dreiweg-Katalysator
Vergaser mit Beschleunigerpumpe mit Lambda-Sonde
Elektronische Einsprit-
Zündung mit drehzahlabhängiger
zung mit Kaltstart- und
Fliehkraftverstellung des Zündzeitpunktes
Warmlaufautomatik
Magnetzündung sowie Schubabschaltung
(konstanter Zündzeitpunkt) Elektronische
Ungesteuerte Benzineinspritzung
Glührohrzündung Transistor-
zündung
1886 1902 1910 1928 1936 1959 67 75 78 81 84 86 88 90 92 93 94 95 96 97 98 00 02 04 06 08

Bild 2.1-12 Bedeutende Meilensteine im Automobilbau am Beispiel Steuer- und Regelsysteme [16]

Der Kunde erwartet: zeigt sich z.B. in einem viel größeren Angebot von
1. Reiseinformationen Fahrzeugmodellen, erweiterten Serviceleistungen,
Reiseplanung, Verkehrsmittelwahl, -übergreifende neuartigen Leasingangeboten, Carsharingangeboten
Fahrtroutenplanung, Service und Dienstleistung, bis hin zu anderen Verkaufsorganisationen. Jeder
Buchungen und Reservierungen, Routenplanung Konzern versucht über zahlreiche Modelle sein Ange-
für Fußgänger, Touristikinformationen bot so attraktiv wie möglich zu machen, sei es inner-
Straßencharakteristik, Parkraumangebot, Ver- halb einer Marke selbst oder über verschiedene Mar-
knüpfung von Verkehrsmitteln, Straßenkarten ken in einem Konzern. Dies gilt auch für die Kommu-
Persönliche Kommunikation nikation mit den Kunden über Kundenkliniken, interne
Persönlicher Briefkasten, Notfallmeldung, Notruf und externe Befragungen, customer satisfaction index,
2. Managementsysteme im öffentlichen Nahverkehr Werkstatttests, Langzeittests durch Verbraucherorga-
Statische und dynamische Fahrtinformation, indivi- nisationen wie ADAC und TÜV, Crashtests und
duelle ÖV-Reiseplanung, Fahrscheinverkauf bzw. direkte Informationen über die Fachzeitschriften. Im
Fahrscheinersatz Vergleich zu früher ist der Kunde heute hervorragend
3. Parkraummanagement über das Produkt und die Marke informiert bzw. kann
Parkraumbelegung, dynamische Parkrauminforma- Informationen über das Internet abfragen.
tion, Parkleitempfehlung, Stellplatzreservierung Die erwähnte Recyclingfähigkeit hat sich in einer
4. Verkehrsinformation inzwischen vorhandenen Rücknahmekette etabliert.
Navigation, Routenführung individuell und kol- Im Sinne der Schonung von Ressourcen ist es außer-
lektiv, dynamische Information über Unfälle, all- dem notwendig, das wiederverwertbare Material einer
gemeine Verkehrszustände (Stau, Straßenarbeiten, erneuten Verwendung zuzuführen. Die Recycling-
Wettervorhersage, Umweltbedingungen, Sonder- richtlinie wurde inzwischen in Brüssel für die EU
veranstaltungen, örtliche Einschränkungen – Zu- rechtsgültig definiert [19].
fahrt, Durchfahrt) Das Automobil mit einem jährlichen Umsatz von
5. Management der Verkehrsnachfrage mehr als 1000 Milliarden EUR und der zusätzliche
car-pooling, Verknüpfung im Güterverkehr, City- Umsatz der Vertriebs- und Werkstattaktivitäten stellt
Logistik, Mauteinfluss. einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Die konti-
Parallel mit der Automobiltechnik hat sich auch das nuierlich steigenden Herausforderungen müssen von
Angebot der Hersteller zum Kunden geändert. Dies der Automobilindustrie und ihren Zulieferanten be-
14 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Technologieniveau Elektroantrieb
Elektrizität
Automatische Notbremsung

Hybridantrieb
Alternative Kraftstoffe
„drive by wire“
PRE-SAFE
„global CO2 warming“
Mechatronik,
Mikrosystemtechnik
Verkehrsinfarkt
Information,
Öffnung der Märkte Kommunikation
Hochkonjunktur Leichtbau,
zweite Ölkrise Verbrauch
Mikroelektronik Sicherheit, Airbag
Emissionsvor- Leistung, ABS
schriften USA
Kraftstoffverbrauch
Sicherheits-
gesetze USA CO, HC, NOx-Emission
Sicherheit, Frontaufprall
Komfort, Innengeräusch
Bild 2.1-13 Innovations-
1950 60 70 80 90 2000 Jahr
wellen im Automobilbau

wältigt werden: Globalisierung, internationaler Wett- Literatur


bewerb, Produktivitätssteigerung, kontinuierliche [1] ACATECH: Mobilität 2020, ISBN 38167-7023-1, Fraunhofer
Verbesserungsprozesse, Modularisierung, Verände- IRB Verlag
rung in der Zusammenarbeit mit den Zulieferanten [2] Smart Presseinformation 1998: Micro Compact Car GmbH, Remmingen
[3] Micro Compact Car GmbH: „Smart“, Presseinformation 1998
und wissenschaftlichen Einrichtungen, Entwicklungs- [4] ATZ/MTZ: Der neue Maybach, Sonderausgabe, Wiesbaden,
partnern und die Neuorientierung des Produktentste- September 2002
hungsprozesses. Diese Veränderungen beinhalten das [5] ESV-Conference: Proceedings, Amsterdam 2001. Braess, H.-H.
frühzeitige Einbeziehen aller am Produktentstehungs- et al.: 25 Jahre ESV-Entwicklung Chancen und Risiken von
regierungsseitigen vorgegebenen Zielen, Katalognummer der
prozess beteiligter Bereiche. Zur Reduzierung der Automobil Revue 1996, Seite 73 – 86
Fahrzeug- inkl. der Entwicklungskosten dienen auch [6] IRCOBI International Conference on the Biomechanics of
die Gleichteile, firmenspezifisch und firmenübergrei- impact: Proceedings, München, 18. – 20. September 2002
fend und die Modulstrategie, die eine große Varian- [7] ESV-Conference Proceedings, Sindelfingen 1971; Washington 1972
[8] Seiffert, U.: Möglichkeiten und Grenzen der Erhöhung der
tenzahl von Modellen bei einer günstigen Kosten- Sicherheit im Kfz. ÖVK II/97, Technische Universität Wien
struktur ermöglicht. [9] Verkehr in Zahlen 2008/2009 Deutscher Verkehrs-Verlag, Bun-
Die Automobilindustrie muss auch in Zukunft mit desministerium für Verkehr, ISBN 978-3-87154-390-6
innovativen Lösungen aufwarten. Traditionell ist die [10] Winner, H.; Hakuli, S.; Wolf, G. (Hrsg.): Handbuch Fahrer-
assistenzsysteme. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2009
Bereitschaft zu großen Veränderungen nur dann [11] Wiedemann, J.: Institut für Verbrennungsmotoren, Universität
vorhanden, wenn sie vom Kunden akzeptiert werden. Stuttgart 2002
Das Bild 2.1-13 zeigt zwei Arten von Innovations- [12] Schreiber, W. et al.: Das neue Doppelkupplungsgetriebe, Volkswa-
änderungen. Die linke Seite zeigt externe, nur sehr gen, ATZ 11/2003, ISSN 0001-2785, Vieweg Verlag Wiesbaden
[13] Krebs, R.: Elektromobilität als Chance. 8. Symposium – Hybrid-
schwer zu beeinflussende Faktoren wie Ölkrisen, und Elektrofahrzeuge, ITS, Februar 2011, Braunschweig
Aktivitäten der Gesetzgeber auf, auf der rechten Seite [14] Volkswagen AG-Pressemitteilung und Produktangebot 2009
die mehr von Technologien getriebene Veränderung [15] Toyota Verkaufsunterlagen Deutschland 2006
wie die Mikroelektronik, Fuzzy Logic, neuronale [16] Reitzle, W.: Das Automobil: Zukunft durch Innovation und Fas-
zination Sonderheft der ATZ/MTZ, Geschichte und Zukunft des
Regler. Neuartige Otto- und Dieselmotore, alterna- Automobils, Wiesbaden 1998
tive Antriebe, Brennstoffzelle und Hybride, Unfall- [17] Emission Standards: Europe: Cars and Light Trucks
vorbeugung über Sensorik und gestützte Leitsysteme www.dieselnet.com/standards/eu
inklusive des „elektronischen Beifahrers“, Optimie- [18] Verband der Automobilindustrie e.V.: Auto 2006 Jahresbericht,
Frankfurt am Main
rung von Elektrik/Elektronik im Fahrzeug und der [19] Schäper, S.: Unerwünschte Nebeneffekte der EU-Altauto-
Leichtbau stehen im Vordergrund. Ganz besonders richtlinie auf ökologische Fahrzeugkonzepte. VDI-Bericht 1653,
wird die Elektromobilität sowohl die Energieversor- Düsseldorf 2001
gung als auch das Käuferverhalten und die Automo-
bilbaustellerstrukturen verändern. Allgemeine Literatur:
Die technologischen Herausforderungen sind im- Fersen von, O.: Ein Jahrhundert Automobiltechnik. Personenwagen,
VDI-Verlag, Düsseldorf 1986
mens, aber beherrschbar, wenn alle an dem Prozess ATZ/MTZ: Sonderheft „Geschichte und Zukunft des Automobils“.
Beteiligten, Wissenschaft, Politik und Industrie sich Wiesbaden 1998
von nachvollziehbaren Kriterien leiten lassen und an ATZ/MTZ: Jahresbände, Vieweg+Teubner Verlag Wiesbaden
einem Strang ziehen. VDI-FVT: 100 Jahre aktiv für die Mobilität, ATZ Sonderheft März
2004 D58922, Vieweg-Verlag, Wiesbaden
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 15

2.2 Anforderungen Für die Fahrzeugklasse M1 zeigen Bild 2.2-1 die Ge-
nehmigungsverfahren und Tabelle 2.2-1 eine Übersicht
durch den Gesetzgeber über die Rechtsquellen. Fz der Klasse M1 sind Fz zur
Neben allgemeinen nationalen Vorschriften wird im Personenbeförderung, die außer dem Fahrersitz über
Folgenden speziell auf die europäischen Bestimmun- höchstens acht Sitzplätze verfügen.
gen eingegangen. Falls für einzelne Anforderungen
weltweit andere Regelungen gelten, wird dies in den 2.2.2 Die nationalen und supranationalen
Fachkapiteln abgehandelt. Rechtsquellen
2.2.2.1 Straßenverkehrsrecht mit StVZO
2.2.1 Zulassung zum Straßenverkehr § 6 StVG ermächtigt das Bundesministerium für
Nach § 1 Abs. 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (BMVBS),
müssen Kraftfahrzeuge (Kfz) und ihre Anhänger, die Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungs-
auf öffentlichen Straßen in Betrieb gesetzt werden vorschriften über die Beschaffenheit, die Ausrüstung,
sollen, von der zuständigen Behörde (Zulassungs- die Prüfung und die Kennzeichnung der Fz mit Zu-
behörde) zum Verkehr zugelassen sein. Weiterhin be- stimmung des Bundesrates zu erlassen. § 38 Abs. 2
stimmt § 3 der Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV), und § 39 des Bundesimmissionsschutzgesetzes er-
dass Kfz mit einer durch die Bauart bestimmten mächtigen das BMVBS und das Bundesministerium
Höchstgeschwindigkeit von mehr als 6 km/h und ihre für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit
Anhänger auf öffentlichen Straßen nur in Betrieb ge- Zustimmung des Bundesrates entsprechende Vor-
setzt werden dürfen, wenn sie durch Erteilung einer schriften auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu
Einzelgenehmigung oder einer EU-Typgenehmigung erlassen. Die von beiden Ministerien gemeinsam
und durch Zuteilung eines amtlichen Kennzeichens für erlassenen Vorschriften sind Bestandteile der Stra-
Kfz oder Anhänger zum Verkehr zugelassen sind. ßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO). Die Bau-
Für reihenweise zu fertigende oder gefertigte Fahr- und Betriebsvorschriften für Fz beginnen mit § 30,
zeuge (Fz) der Klasse M1 kann dem Hersteller eine den Allgemeinen Vorschriften über die Beschaffen-
EU-Typgenehmigung erteilt werden. Vor Erteilung heit der Fz. Nach § 30 Abs. 1 StVZO müssen Fz so
der EU-Typgenehmigung muss der Antragsteller das gebaut und ausgerüstet sein, dass
Vorhandensein eines Qualitätssicherungssystems 1. ihr verkehrsüblicher Betrieb niemanden schädigt
gegenüber der Genehmigungsbehörde nach deren oder mehr als unvermeidbar gefährdet, behindert
Bestimmungen nachweisen. oder belästigt,

Betriebserlaubnis für
EU-Typgenehmigung
Einzelfahrzeuge

Straßenverkehrs- EU-/EG-/EWG-
Rechtsquellen Zulassungs- Richtlinie oder ECE- Regelungen
Ordnung (StVZO) Verordnung

Qualitätssichernde
Hersteller oder Maßnahmene
Antragsteller anderer gemäß Richtl.
Verfügungs- Hersteller
2007/46/EG,
berechtigter ECE-Überein-
kommen, ...

amtlich aner- Anforderungen


kannten Sach- an Prüflaborato-
Begutachtung verständiger für Technischer
rien gemäß An-
den Kraftfahr- Dienst
hang V der Richt-
zeugverkehr linie 2007/46/EG

Zulassungs- Kraftfahrt-
Genehmigung
behörde Bundesamt

Bild 2.2-1 Genehmigungs-


verfahren für M1-Fahrzeuge
16 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Tabelle 2.2-1

Fahrzeugklasse M1 EU-/EG-/EWG-Richtlinie ECE-Regelung StVZO


oder Verordnung

Anforderungen an die aktive Fahrzeugsicherheit (Unfallvorbeugung)

Lenkanlagen 70/311/EWG R 79 § 38
Bremsanlagen 71/320/EWG R13-H § 41
Austauschbremsbeläge 71/320/EWG R 90 § 22
Einrichtungen für Schallzeichen 70/388/EWG R 28 § 55
Sichtfeld 77/649/EWG R 125 § 35b
Entfrostungs- und Trocknungsanlagen für VO (EG) 672/2010 – § 35b
verglaste Flächen
Scheibenwischer und Scheibenwascher VO (EG) 1008/2010 – § 40
Einrichtungen für indirekte Sicht 2003/97/EG R 46 § 56
Heizungen 2001/56/EG R 122 § 35c
(Motorabwärme und Zusatzanlagen)
Beleuchtungsanbau, Warnblinklicht 76/756/EWG R 48 § 49a, 53a
Rückstrahler 76/757/EWG R3 § 53
Umrissleuchten, Begrenzungsleuchten, 76/758/EWG R7 § 51, 51b,
Schlussleuchten, Bremsleuchten 53
Seitenmarkierungsleuchten 76/758/EWG R 91 § 51a
Fahrtrichtungsanzeiger 76/759/EWG R6 § 54
Scheinwerfer für Fern- und/oder 76/761/EWG R 1, 8, 20, 112, 113 § 50
Abblendlicht
sowie ihre Lichtquellen 76/761/EWG R 37 § 22a
Gasentladungsscheinwerfer – R 98 –
sowie ihre Lichtquellen – R 99 –
adaptive Frontscheinwerfer – R 123 –
Nebelscheinwerfer 76/762/EWG R 19 § 52
Abbiegeleuchten – R 119 –
Nebelschlussleuchten 77/538/EWG R 38 § 53d
Rückfahrscheinwerfer 77/539/EWG R 23 § 52a
Parkleuchten 77/540/EWG R 77 § 51c
Beleuchtungseinrichtungen für das hintere 76/760/EWG R4 § 60
Kennzeichen
Rückwärtsgang und Geschwindigkeits- 75/443/EWG R 39 § 39, 57
messgerät
Innenausstattung (Symbole, Kontroll- 78/316/EWG R 121 § 30
leuchten)
Radabdeckungen VO (EG) 1009/2010 – § 36a
Profiltiefe der Reifen 89/459/EWG – § 36
Reifen und ihre Montage 92/23/EWG R 30 § 36
Reifen Nasshaftvermögen – R 117 –
Austauschräder – R 124 –
Anhängelast, Stützlast 92/21/EWG – § 42, 44
Verbindungseinrichtungen (Anhängekuppl.) 94/20/EG R 55 § 43
Pedalanordnung – R 35 § 30

Anforderungen an die passive Fahrzeugsicherheit (Unfallfolgenmilderung)

Innenausstattung (vorstehende Teile) 74/60/EWG R 21 § 30


Lenkanlagen (Verhalten bei Unfallstößen) 74/297/EWG R 12 § 38
Frontalaufprall, Insassenschutz 96/79/EG R 94 §–
Seitenaufprall, Insassenschutz 96/27/EG R 95 §–
Verankerung der Sicherheitsgurte 76/115/EWG R 14 § 35a
Sicherheitsgurte und Rückhaltesysteme 77/541/EWG R 16, R 44 § 22a,35a
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 17

Tabelle 2.2-1 (Fortsetzung)

Fahrzeugklasse M1 EU-/EG-/EWG-Richtlinie ECE-Regelung StVZO


oder Verordnung

Sitze, ihre Verankerungen und Kopfstützen 74/408/EWG R 17, R 25 § 35a


Kopfstützen 78/932/EWG R 17, R 25 § 35 a
vorstehende Außenkanten 74/483/EWG R 26 § 30 c
Kraftstoffbehälter und Unterfahrschutz 70/221/EWG R 58 § 47 – 47 c
Autogasanlagen (Flüssig- und Erdgas) – R 67, R 110, R 115 § 41 a, 45,
47
wasserstoffbetriebene Fahrzeuge VO (EG) 79/2009 – –
Türen (Schlösser und Scharniere) 70/387/EWG R 11 § 35e
Stoßstangen vorn und hinten – R 42 –
Auffahrunfall (nicht in D) – R 32 –
Sicherheitsscheiben 92/22/EWG R 43 § 40
Elektroantrieb (Sicherheit) – R 100 § 62
Fußgängerschutz, Frontschutzsysteme VO (EG) 78/2009 – –
Airbag – R 114 –
Gepäckabtrennsysteme – R 126 –
Anforderungen an das Emissionsverhalten
Geräuschpegel und Auspuffanlage 70/157/EWG R 51 § 49
Austauschschalldämpfer 70/157/EWG R 59 § 49
Schadstoffemissionen, Kraftstoffverbrauch, 70/220/EWG, VO (EG) R 83, R 103 § 47, 47c
Abgastrübung und CO2-Emissionen 715/2007 und VO (EG)
595/2009
Kraftstoffverbrauch und CO2-Ausstoß 80/1268/EWG R 101 § 47d
Funkentstörung und elektromagnetische 72/245/EWG R 10 § 55a
Verträglichkeit (EMV)
Elektr. Energieverbrauch bei Elektroantrieb – R 101 –
Reifenabrollgeräusch 92/23/EWG R 117 –
Emissionen aus Klimaanlagen 2006/40/EG – –
Verschiedenes
Betriebserlaubnis (Typgenehmigung) 2007/46/EG – § 19, 20
Kennzeichenanbringung hinten VO (EG) 1003/2010 – § 60
Sicherungseinrichtungen gegen unbefugte 74/61/EWG R 18, R 116 § 38a
Benutzung
Alarmsysteme und Wegfahrsperren 74/61/EWG R 97, R 116 § 38b
Fabrikschild, Fahrzeugidentifizierungs- VO (EG) 19/2011 – § 59
nummern
Abschleppeinrichtungen VO (EG) 1005/2010 – § 43
Motorleistung, Messung 80/1269/EWG R 24, R 85 § 35
Massen und Abmessungen von M1-Fz 92/21/EWG – § 32, 34
Höchstgeschwindigkeit (Messung) – R 68 § 30a

Verbraucherinformation über Kraftstoff- 1999/94/EG – –


verbrauch und CO2-Emissionen von Pkw
Altfahrzeuge, Recycling 2000/53/EG, 2005/64/EG – –

2. die Insassen, insbesondere bei Unfällen vor 2.2.2.2 Rechtsakte


Verletzungen möglichst geschützt sind und das der Europäischen Union
Ausmaß und die Folgen von Verletzungen mög- Die Rolle der Europäischen Gemeinschaft ergibt sich
lichst gering bleiben. u.a. aus den Römischen Verträgen von 1957, insbe-
Nähere Einzelheiten werden durch § 30 ff. StVZO sondere aus dem Vertrag zur Gründung der Europä-
geregelt. ischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).
18 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Der EWG-Vertrag definiert als Hauptaufgabe die wurden.“ Die dem Übereinkommen angefügten Rege-
Errichtung eines Gemeinsamen Binnenmarktes durch lungen betreffen die Sicherheit, den Umweltschutz und
Abbau von Handelshemmnissen. Sichergestellt wird den Energieverbrauch.
dies u.a. dadurch, dass Fz, die die harmonisierten Am 24. März 1998 ist die Europäische Gemeinschaft
technischen Vorschriften erfüllen, an einem ungehin- dem geänderten Übereinkommen beigetreten. Japan,
derten Warenverkehr teilnehmen können. Bei der Australien, Neuseeland, Südafrika und Korea gehören
Erarbeitung der Vorschriften, den sog. Richtlinien, inzwischen ebenfalls dazu.
wird von einem hohen Niveau für Sicherheit und Die meisten der seit 1958 ca. 125 in Kraft getretenen
Umweltschutz ausgegangen. Regelungen wendet Deutschland an. Das Überein-
Der Rat der Europäischen Union hat insbesondere kommen und die Revisionen sind in Deutschland
gestützt auf Artikel 94 und auf Vorschlag der Kom- mittels Gesetz in Kraft gesetzt worden. Dieses Gesetz
mission zahlreiche Richtlinien für Straßenfahrzeuge ermächtigt das BMVBS nach Anhörung der Bun-
erlassen. Heute ist Artikel 95 a i.V.m. Artikel 14 des desländer die Regelungen durch Verordnungen in
Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemein- Deutschland in Kraft zu setzen. Neuere ECE-Rege-
schaft (EG) in der Fassung vom 02. Oktober 1997 lungen sowie Änderungen zu bestehenden ECE-Re-
Rechtsgrundlage für die Rechtsakte. Von der Sys- gelungen müssen nicht mehr per Verordnung in
tematik her werden die Rechtsakte in Rahmenricht- nationales Recht übernommen werden, da sie per
linien/-verordnungen und Einzelrichtlinien/-verord- EU-Annahmebeschluss in allen EU-Mitgliedstaaten
nungen eingeteilt. Drei Rahmenrichtlinien befassen angewendet werden können.
sich mit der Erteilung von Typgenehmigungen für Die technischen Vorschriften mehrerer ECE-Rege-
Kfz und Kfz-Anhänger (2007/46/EG), für land- lungen, insbesondere für lichttechnische Einrichtun-
oder forstwirtschaftliche Zugmaschinen auf Rädern gen, wurden durch Verweisungen in die entsprechen-
(2003/37/EG) und für zwei- und dreirädrige Kfz den EG-Richtlinien übernommen. Darüber hinaus
(2002/24/EG). Neben Fz können auch Systeme, sind zahlreiche ECE-Regelungen von der Europä-
Bauteile und selbstständige technische Einheiten eine ischen Gemeinschaft als bestimmten Richtlinien und
Typgenehmigung erhalten. Verordnungen gleichwertig anerkannt worden; Fahr-
Gemäß der Richtlinie 2007/46/EG werden die Kfz und zeughersteller können diese im Rahmen der EG-
ihre Anhänger, die vorgenannter Richtlinie unterliegen, Typgenehmigung für Fz alternativ anwenden. Mit der
in Klassen eingeteilt. Dabei steht M1 für Pkw, M2 und Verordnung (EG) Nr. 661/2009 über die allgemeine
M3 für Busse, N1 bis N3 für Lkw und O1 bis O4 für Sicherheit werden etwa 50 EG-Richtlinien zum
Anhänger. Mit Ausnahme der Pkw werden alle Klas- 01.11.2014 aufgehoben. Ersetzt werden diese Richt-
sen durch ihre zulässige Gesamtmasse (in einigen linien durch neue Verordnungen oder die verbind-
Richtlinien auch „Höchstmasse“ genannt) definiert. Bei liche Anwendung der entsprechenden ECE-Regelun-
geländegängigen Kfz wird dem Fz-Klassen-Symbol M1 gen.
bis N3 jeweils der Buchstabe G angefügt. Wohnmobile
sind M1-Fz mit besonderer Zweckbestimmung. 2.2.2.4 Weitere Maßnahmen zum Abbau
Je nach Aufbautyp – von Limousine über Kombi- von Handelshemmnissen
Limousine bis Mehrzweckfahrzeug – werden M1-Fz Ausgehend vom Transatlantischen Wirtschaftsdialog
zusätzlich differenziert. Mehrzweckfahrzeuge sind zwischen Europa und USA zur Stärkung der Wirt-
Kfz zur Beförderung von Fahrgästen und deren schaftsbeziehungen und zum Abbau von Handels-
Gepäck oder von Gütern in einem einzigen Innen- hemmnissen wurde im Rahmen der ECE ein Über-
raum. Damit diese Fz unter die Klasse M1 fallen, einkommen über die Festlegung globaler fahrzeug-
müssen zusätzliche Kriterien erfüllt sein. technischer Regelungen ausgearbeitet. Dieses Über-
einkommen soll das ECE-Übereinkommen von 1958
2.2.2.3 Regelungen der UN-Wirtschafts- nicht ersetzen, sondern neben diesem bestehen und
kommission für Europa wird auch als Parallelübereinkommen bezeichnet.
Auf der Grundlage des Übereinkommens vom Grundlage des Übereinkommens von 1958 ist die
20. 03. 1958 in der Fassung der Revision 2 vom 16. 10. gegenseitige Anerkennung von Genehmigungen auf
1995 befasst sich auch die UN-Wirtschaftskommission der Basis von ECE-Regelungen. Ziel des Parallel-
für Europa (Economic Commission for Europe, ECE) übereinkommens ist lediglich die Erarbeitung und
mit der Harmonisierung kraftfahrzeugtechnischer Festlegung von globalen technischen Regelungen
Vorschriften. Der Titel des Übereinkommens lautet: über die Sicherheit, den Umweltschutz, die Energie-
„Übereinkommen über die Annahme einheitlicher effizienz und die Diebstahlsicherung. Das Verfahren
technischer Bedingungen für Radfahrzeuge, Ausrüs- zur Anwendung der so harmonisierten Vorschriften
tungsgegenstände und Teile, die in Radfahrzeuge(n) bleibt den Vertragsparteien überlassen. Somit sind
eingebaut und/oder verwendet werden können, und die sowohl Typgenehmigungsverfahren als auch Verfah-
Bedingungen für die gegenseitige Anerkennung von ren der Selbstzertifizierung möglich. Die globalen
Genehmigungen, die nach diesen Vorschriften erteilt technischen Regelungen werden in den gleichen
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 19

Arbeitsgruppen ausgearbeitet, die sich auch mit den 2.2.3.2 Bremsanlage


ECE-Regelungen befassen.
Die Bremsanlage muss Betriebsbremsungen, Hilfs-
Neben den USA und der EU können auch Mitglieds-
bremsungen und Feststellbremsungen ermöglichen.
staaten der EU und andere Staaten Vertragsparteien
Die Betriebsbremsung muss bei allen Geschwindig-
des Parallelübereinkommens werden. Auch Deutsch-
keiten und Belastungszuständen und bei beliebiger
land ist Vertragspartei des Übereinkommens (Ge-
Steigung und beliebigem Gefälle die Kontrolle der
mischte Zuständigkeit von Europäischer Gemein-
Fahrzeugbewegung sowie ein sicheres, schnelles und
schaft und Mitgliedstaaten). Das Übereinkommen ist
wirksames Anhalten des Fz ermöglichen. Die Hilfs-
am 25. 08. 2000 in Kraft getreten.
bremsung muss das Anhalten des Fz innerhalb einer
angemessenen Entfernung ermöglichen, wenn die
2.2.3 Unfallvorbeugung (aktive Sicherheit) Betriebsbremsung z.B. bei Ausfall eines Bremskreises
2.2.3.1 Allgemeines versagt. Die Feststellbremsung muss es ermöglichen,
das Fz auch bei Abwesenheit des Fahrers in der Stei-
Die derzeitigen Vorschriften über die Anforderungen gung und im Gefälle im Stillstand zu halten.
an die aktive Fz-Sicherheit stellen allein betrachtet Für die Genehmigung ist die Bremswirkung des
für die Hersteller von M1-Fz keine besonderen Her- beladenen Fahrzeugs bei Prüfungen auf der Straße zu
ausforderungen dar. Nicht zuletzt durch Tests unter- messen. Durchgeführt werden folgende Prüfungen:
schiedlicher Institutionen gibt es auf diesem Gebiet
aber seit vielen Jahren einen Wettbewerb, der zu – normale Wirkung bei kalter Bremse (Typ 0)
einer ständigen Verbesserung der aktiven Fz- – Absinken der Bremswirkung (Typ I) bei wieder-
Sicherheit und des damit in Verbindung zu sehenden holten Bremsungen mit abschließendem Heiß-
Komforts führte. Die sich aus dem Wettbewerb bremstest.
ergebende Messlatte liegt erheblich höher als die des – Hilfsbremswirkung bei kalter Bremse (Typ 0)
Gesetzgebers. Die einzuhaltenden Werte ergeben sich aus Tabelle
Bild 2.2-2 stellt außer der Lichttechnik die im Be- 2.2-2.
reich der aktiven Sicherheit durch Vorschriften gere- Die Feststellbremsanlage muss das beladene Fz auf
gelten Sachverhalte dar. einer Steigung oder einem Gefälle von 18 % im

Innenausstattung
(Symbole, Kontroll-Leuchten)
Geschwindigkeitsmessgerät
Lenkanlage
Scheiben Sichtfeld
Entfrostungs- und Einrichtungen für
Trocknungsanlage indirekte Sicht
Heizung Verbindungseinrichtung
Scheibenwischer
Anhängelast,
Scheibenwascher
Stützlast
Schallzeichen

Pedalanordnung
(nur ECE)
Bremsanlage, Reifen, Räder, Radabdeckungen
Bild 2.2-2 Vorschriften zur
aktiven Sicherheit

Tabelle 2.2-2 Bremsprüfungen


Betriebsbremsung Betriebsbremsung, heiß Hilfsbremsung
Typ 0 Typ 1 Typ 0
(ausgekuppelt) (eingekuppelt) (ausgekuppelt)
Prüfgeschwindigkeit v = 80 km/h 80 % vmax; ≤ 160 km/h 80 km/h
v2 v2 2 v2
Bremsweg s [m] ≤ 0,1 v + 0,1 v + 0,1 v +
150 130 150
mittlere Vollverzögerung dm ≥
2 2 2
5,8 m/s 5,0 m/s 2,9 m/s
Betätigungskraft F ≤ 500 N 500 N 500 N (Fuß)
400 N (Hand)
20 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Stillstand halten können. Bei Handbetätigung darf die


Rumpfsäule
Betätigungskraft 400 N und bei Fußbetätigung 500 N
nicht übersteigen.
Rückenschale
Bei Fz, die nicht mit einem automatischen Blockier-
verhinderer/Antiblockiersystem (ABS) ausgestattet Stützen für die Belastungs-
sind, muss für alle Beladungszustände die Kraft- massen des Rumpfes
Libelle für den Rückenwinkel
schlusskurve der Vorderachse grundsätzlich über Hüftwinkel-Quadrant
Rückenwinkel-
quadrant
derjenigen der Hinterachse liegen. Sitzschale
Von den drei möglichen ABS-Kategorien gelten die Stütze für die Be- „H“-Punkt-
lastungsmassen Visierknopf
höchsten Anforderungen für die Kategorie 1. ABS- der Schenkel
„H“-Punkt-Drehgelenk
Störungen müssen dem Fahrer durch ein optisches T-Stange zur
Seitliche Libelle
Warnsignal angezeigt werden. Soweit das ABS eines Verbindung der Knie
Schenkelstange
Fz ein sog. „komplexes elektronisches Fahrzeugsteu-
ersystem“ enthält, wird dieses nach Anhang 8 der Kniewinkelquadrant
ECE-Regelung Nr. 13-H geprüft.
2.2.3.3 Sichtfeld
Für den Fahrer muss nach vorne ein ausreichendes Fußwinkelquadrant

Sichtfeld vorhanden sein. Mittels eines dreidimensio-


nalen Koordinatensystems (Bild 2.2-3), in dem das Fz
ausgerichtet wird, und mehrerer Bezugspunkte wird Bild 2.2-4 Beschreibung der 3DH-Maschinenteile
geprüft, ob ein ausreichendes Sichtfeld vorhanden ist.

Vertikale Längsmittelebene 2.2.4 Unfallfolgenmilderung


Vertikale Querebene (passive Sicherheit)
+Z
2.2.4.1 Allgemeines
+X Durch vergleichende Crashtests und Veröffentlichung
der bewerteten Ergebnisse hat auch auf dem Gebiet
+Y der passiven Fahrzeugsicherheit ein fruchtbarer Wett-
bewerb unter den Herstellern eingesetzt, der letztlich
dem Schutz der Insassen zugute kommt. In diesem
Horizontale Ebene Zusammenhang ist das europäische New Car Assess-
–Y
ment Program (Euro NCAP) zu erwähnen, dessen
–X
Ziel die unabhängige Bewertung des Sicherheitsni-
veaus von Fz zur Verbraucherberatung ist.
–Z
Derzeit werden folgende Tests durchgeführt:
Bild 2.2-3 Dreidimensionales Koordinatensystem – Frontaufprall, 40 % Offset gegen Defoelement wie
96/79/EG, jedoch mit 64 km/h
– Seitenaufprall wie 96/27/EG; Einbeziehung von
Zwei der oben genannten Bezugspunkte sind der ,H‘-
Ergebnissen nach FMVSS 201
Punkt und der ,R‘-Punkt. Beide Bezugspunkte spielen
– Pfahltest, seitlicher Aufprall gegen eine Säule
auch bei etlichen anderen Richtlinien eine wichtige
– Fußgängertest mit 4 Impaktoren (Bein, Hüfte, Kopf
Rolle.
Kind und Kopf Erwachsener) nach EEVC-Entwurf.
Der H-Punkt ist der Mittelpunkt des Drehgelenks
zwischen dem Rumpf und den Schenkeln der auf den Bild 2.2-6 gibt einen Überblick über die durch Vor-
Fahrzeugsitzen aufgesetzten, in Bild 2.2-4 dargestell- schriften geregelten Sachverhalte.
ten so genannten 3DH-Maschine. Der R-Punkt oder
der Bezugspunkt des Sitzes wird vom Hersteller für 2.2.4.2 Insassenschutz bei Frontalaufprall
jeden Sitzplatz konstruktiv festgelegt. Die Richtlinie 96/79/EG gilt für M1-Fz mit einer
2.2.3.4 Lichttechnische Einrichtungen zulässigen Gesamtmasse von höchstens 2,5 t. Nach
dieser Richtlinie genehmigte Fz erfüllen auch die
Es dürfen nur die vorgeschriebenen oder für zulässig Anforderungen der Richtlinie über das Verhalten der
erklärten Leuchten, Leuchtstoffe und rückstrahlenden Lenkanlage bei Unfallstößen in Bezug auf das Eindrin-
Mittel verwendet werden (Bild 2.2-5). Lichttechni- gen der Lenkanlage in den Insassenraum. Das Fz mit
sche Einrichtungen sind bauartgenehmigungspflichtig Prüfpuppen auf den vorderen Außensitzen prallt mit
und müssen vorschriftsmäßig und fest am Fz ange- einer Geschwindigkeit von 56 km/h auf eine quer
bracht sowie ständig betriebsfertig sein. angeordnete Barriere. Die Front der Barriere besteht
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 21

Scheinwerfer
für Fernlicht u. Bremsleuchten
Abblendlicht Begrenzungs- Schlussleuchten
Parkleuchten leuchten roteRückstrahler
(zulässig) Nebelschlussleuchte

Rückfahr-
adaptive scheinwerfer
Front-
schein- Kennzeichen-
werfer beleuchtung

Nebelscheinwerfer Parkleuchten
(zulässig)
Fahrtrichtungsanzeiger
(zulässig) Bild 2.2-5 Lichttechnische
Warnblinkanlage
Einrichtungen
aus einem verformbaren Bauteil. Die Fahrzeugbreite – Beinprüfkörper gegen den Stoßfänger
muss die Front der Barriere zu 40 % ± 20 mm überde- – Hüftprüfkörper gegen den Stoßfänger
cken. Anhand mehrerer Messwertaufnehmer in den – Hüftprüfkörper gegen die Fronthaubenvorderkante
Prüfpuppen werden die Belastungskriterien ermittelt, – Prüfkörper Kinderkopfform/kleine Erwachsenen-
die bestimmte Höchstwerte nicht überschreiten dürfen. kopfform auf die Fronthaubenoberseite
Neben Kopfbelastung werden Nacken-, Brust- sowie – Erwachsenenkopfform-Prüfkörper gegen die Wind-
Ober- und Unterschenkelbelastung beurteilt. schutzscheibe
– Kinder- und Erwachsenenkopfform-Prüfkörper auf
2.2.4.3 Insassenschutz bei Seitenaufprall
die Fronthaubenoberseite
Die Richtlinie 96/27/EG gilt für M1- und N1-Fz, bei
denen der R-Punkt des niedrigsten Sitzes nicht mehr Zusätzlich enthalten die Verordnungen (EG) 78/2009
als 700 mm über dem Boden liegt. Eine fahrbare, und (EG) 631/2009 Spezifikationen für Bremsassis-
verformbare Barriere prallt mit 50 km/h seitlich auf tenzsysteme (BAS) und für die Prüfung von Front-
die Fahrerseite des Fz auf. Auf dem Vordersitz dieser schutzsystemen. Massen und Aufprallgeschwindigkei-
Fahrzeugseite ist eine Prüfpuppe platziert. Während ten der Prüfkörper sind jeweils gesondert festgelegt.
der Prüfung darf sich keine Tür öffnen. Nach dem Die bei der Prüfung je nach Prüfkörper entstehenden
Aufprall muss es möglich sein, ohne Werkzeuge Verschiebungen, Beschleunigungen, Kräfte, Momente
ausreichend viele Türen zu öffnen, die für den norma- oder HPC-Werte dürfen die in der Verordnung (EG)
len Ein- und Ausstieg der Insassen bestimmt sind, 78/2009 genannten Grenzwerte nicht überschreiten.
erforderlichenfalls die Sitzrücklehnen oder Sitze so zu
verschieben, dass alle Insassen das Fz verlassen kön- 2.2.5 Anforderungen
nen, und die Prüfpuppe aus dem Fz herauszunehmen. an das Emissionsverhalten
Die Kopf-, Brustkorb-, Becken- und Bauchbelastung 2.2.5.1 Allgemeines
darf bestimmte Maximalwerte nicht übersteigen.
Die gesetzlichen Anforderungen an das Emissions-
2.2.4.4 Fußgängerschutz verhalten, insbesondere an das Abgasverhalten, stel-
Die Verordnungen (EG) 78/2009 und (EG) 631/2009 len für die Fz-Hersteller anspruchsvolle Herausforde-
gelten für die Frontpartie von M1-Fz bis zu 2,5 t rungen dar. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung,
Gesamtmasse. Es werden folgende Aufprallprüfun- dass die in der näheren Zukunft geltenden Schad-
gen durchgeführt: stoffgrenzwerte mit den geänderten bzw. zusätzlichen

Innenausstattung ( ausgenommen Innenrückspiegel)


Innenseite des Daches
(Schiebedach)
hinterer Teil der Sitze, Rückenlehnen
Bedienteile Verankerung der Sitze
Lenkanlage
sonstige Teile Kopfstützen

Sicherheitsscheiben Verankerung der


Vorstehende Sicherheitsgurte
Außenkanten

Fußgänger-
schutz

Front-
schutz-
systeme Seitenaufprall Behälter für
Frontal- Sicherheitsgurte flüssigen Kraftstoff
Türverriegelungen Rückhaltesysteme
aufprall Bild 2.2-6 Sicherheit, Un-
und Scharniere
fallfolgenmilderung
22 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Geschwindigkeit (km/h) Gesamtfahrzyklus für die Prüfung Typ I


Teil 1 Teil 2

120

110

100

90

80 Grundstadt-
70 fahrzyklus

60

50

40

30

20
EP
10

0
195 195 195 195 400 Zeit (s)
BP 1180
Bild 2.2-7 Gesamtfahr-
BP: Beginn der Probenahme EP: Ende der Probenahme
zyklus für die Prüfung Typ I

Anforderungen rechtzeitig im Voraus bekannt sind, Für Auspuffanlagen bzw. Austausch-Schalldämpfer-


um so den Herstellern das erforderliche Maß an Pla- anlagen kann eine gesonderte Typgenehmigung
nungssicherheit zu gewähren. erteilt werden.
2.2.5.2 Geräuschpegel und Auspuffanlage
Die Messung des Geräusches erfolgt für das in Fahrt 2.2.5.3 Abgase
befindliche Fz und für das stehende Fz. Die Messung
2.2.5.3.1 Emissionen von Kraftfahrzeugen
des Standgeräusches wird durchgeführt, um für die
Kontrolle der im Verkehr befindlichen Fz desselben Fz sind den folgenden Prüfungen zu unterziehen:
Typs einen Bezugswert zu erhalten.
– Prüfung der durchschnittlichen Auspuffemission
Die Schallpegelmessgeräte zur Messung des Fahrge-
nach einem Kaltstart (Typ 1)
räusches sind in einem Abstand von 15 m zueinander
– Prüfung der Emission von Kohlenmonoxid bei
und quer zur Fahrtrichtung in der Mitte der 20 m
Leerlauf (Typ 2)
langen Prüfstrecke angeordnet. Zunächst wird das Fz
– Prüfung der Gasemissionen aus dem Kurbelge-
mit konstant 50 km/h auf die Prüfstrecke zubewegt.
häuse (Typ 3)
Sobald die vordere Fz-Begrenzung den Beginn der
– Prüfung der Verdunstungsemissionen (Typ 4)
Prüfstrecke erreicht, wird maximal beschleunigt. Der
– Dauerhaltbarkeit der emissionsmindernden Bau-
dabei zu wählende Gang hängt ab von der Anzahl der
teile (Typ 5)
Vorwärtsgänge, der Getriebeart sowie bestimmten
– Prüfung der Emission von Kohlenmonoxid und
Kriterien bei Hochleistungsfahrzeugen*). Sobald die
Kohlenwasserstoffen bei niedrigen Umgebungs-
hintere Fz-Begrenzung das Ende der Prüfstrecke
temperaturen nach einem Kaltstart (Typ 6)
erreicht, wird das Fahrpedal vollständig entlastet. Der
– On-Board-Diagnose (OBD-Prüfung).
bei dieser beschleunigten Vorbeifahrt ermittelte
– Übereinstimmung in Betrieb befindlicher Fahr-
höchste Schallpegel darf 74 dB(A)*) nicht über-
zeuge
schreiten.
– On-Board-Diagnose (OBD-Prüfung)
– CO2-Emissionen und Kraftstoffverbrauch
– Abgastrübung
*) Hinweis: Höhere Grenzwerte für bestimmte M1-Fz
+ 1 dB(A) bei Diesel-Direkteinspritzung Fz mit Dieselmotor werden den Prüfungen Typ 1 und
zusätzlich + 1 dB(A) bei Gelände-Fz Höchstmasse > 2 t und Typ 5 unterzogen. Zusätzlich erfolgen Prüfungen der
< 150 kW oder OBD, Prüfungen hinsichtlich der Übereinstimmung
zusätzlich + 2 dB(A) bei Gelände-Fz Höchstmasse > 2 t und in Betrieb befindlicher Fahrzeuge, Ermittlungen der
≥ 150 kW oder zusätzlich +1 dB(A) bei Hochleistungsfahrzeugen
(> 4 Gänge, > 140 kW, > 75 kW/t der Gesamtmasse sowie CO2-Emissionen bzw. des Kraftstoffverbrauchs sowie
> 61 km/h erreicht im 3. Gang am Ende der Messstrecke) der Abgastrübung.
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 23

Tabelle 2.2-3 Grenzwerte der Auspuffemission


Emissionsart CO THC NMHC NOx THC + NOx PM
Benzin/Diesel B D B D B D B D B D B D
Euro-5 1000 500 100 – 68 – 60 180 – 230 5 5
in mg/km
Euro-6 1000 500 100 – 68 – 60 80 – 170 5 5
in mg/km
THC: Masse der gesamten Kohlenwasserstoffe
NMHC: Masse der Nichtmethankohlenwasserstoffe

Bei der Prüfung Typ 1 ist auf dem Fahrleistungsprüf- Die Verdunstungsverluste aus jeder dieser Phasen
stand ein Fahrzyklus zu durchfahren, der aus einem werden unter Verwendung der Ausgangs- und End-
Teil 1 (Stadtzyklus) und einem Teil 2 (außerstädti- werte der Kohlen-Wasserstoff-Konzentration, der
scher Fahrzyklus) besteht und in Bild 2.2-7 darge- Temperatur und des Luftdrucks sowie des Netto-
stellt ist. volumens der Kabine errechnet. Die Gesamtmenge
Die ermittelten Massen der gasförmigen Emissio- der emittierten Kohlenwasserstoffe ergibt sich aus der
nen und der Partikel müssen innerhalb der in Tabelle Summe der Menge der Kohlenwasserstoffemissionen
2.2-3 angegebenen Grenzwerte liegen. bei der Tankaufheizung und beim Heißabstellen.
Bei der Prüfung Typ 3 gilt das Fz als vorschrifts- Die Prüfung Typ 5 entspricht einer Alterungsprüfung
mäßig, wenn bei der Messung keine Gasemissionen über 160 000 km, die nach einer vorgegebenen Test-
aus dem Entlüftungssystem des Kurbelgehäuses in sequenz auf einer Prüfstrecke, auf der Straße oder auf
die Atmosphäre entweichen. Die Messungen werden einem Rollenprüfstand durchgeführt wird. Der Her-
bei drei unterschiedlichen Betriebsbedingungen auf steller kann die Alterungsprüfung und die durch diese
dem Prüfstand durchgeführt. Alterungsprüfung ermittelten individuellen Ver-
Die Prüfungen zur Messung des Schadstoffausstoßes schlechterungsfaktoren durch vorgegebene pauschale
sind umfangreich und verlangen ein außerordentlich Verschlechterungsfaktoren ersetzen und diese bei der
präzises Arbeiten. Kleinste Unaufmerksamkeiten Prüfung Typ 1 anwenden.
beim Prüfen können zum Abbruch und zur Wieder- Bei Fz mit Ottomotor werden mit der Prüfung
holung der Prüfung führen. (Typ 6) zusätzlich die Auspuffemissionen von CO
Am Beispiel der Prüfung Typ 4 soll der Aufwand und HC bei niedrigen Umgebungstemperaturen nach
dargestellt werden. Bestimmt wird der Verlust an einem Kaltstart ermittelt. Hierzu wird Teil 1 des
Kohlenwasserstoffen durch Verdunstung aus Kraft- Fahrzyklus Typ 1 (Bild 2.2-7) durchfahren. Bei einer
stoffsystemen bei Fz mit Ottomotor. Die Masse der Prüftemperatur von –7 °C müssen CO unter 15 g/km
Verdunstungsemissionen darf 2 g nicht übersteigen. und HC unter 1,8 g/km liegen.
Zur Messung der Verdunstungsemission ist u.a. eine Fz mit Dieselmotor werden einer Prüfung zur Be-
gasdichte, viereckige Messkammer mit ausreichen- stimmung der Trübung der Abgase unterzogen. Dazu
den Abmessungen erforderlich, um das Prüf-Fz zu wird mit einem Trübungsmessgerät der Absorptions-
umschließen. Das Fz muss von allen Seiten zugäng- koeffizient der Auspuffgase stetig gemessen. Die
lich sein. Die Kammer muss nach Verschluss gasdicht Messungen werden bei gleich bleibenden Drehzahlen
und die Innenflächen undurchlässig gegenüber Koh- und bei freier Beschleunigung durchgeführt. Letztere
lenwasserstoffen sein und dürfen nicht mit diesen Prüfung dient insbesondere dazu, einen Bezugswert
reagieren. Um die Volumenänderungen aufgrund von für die Nachprüfung im Betrieb befindlicher Fz zu
Kabinentemperaturschwankungen aufzufangen, kann erhalten. Bei Leerlauf des Motors ist das Fahrpedal
eine Kabine mit veränderlichem oder mit festem schnell und stoßfrei so durchzutreten, dass die größte
Volumen verwendet werden. Die Innenwandtempera- Fördermenge der Einspritzpumpe erzielt wird. Die
turen müssen während der gesamten Tankatmungsprü- Messung der Trübung der Abgase ist bei sechs ver-
fung zwischen 278 K (5 °C) und 328 K (66 °C) und schiedenen Drehzahlen mit Volllast durchzuführen.
während der gesamten Heißabstellprüfung zwischen Der dabei ermittelte Absorptionskoeffizient darf in
293 K (20 °C) und 325 K (52 °C) liegen. Abhängigkeit des Luftdurchsatzes bestimmte Grenz-
Die Luft innerhalb der Kammer wird mit einem werte nicht übersteigen.
Kohlenwasserstoff-Analysator vom Typ eines Flam- Die nach dem Prüfzyklus Typ 1 ermittelten Werte für
menionisations-Detektors (FID) überwacht. Ventila- CO2- und kohlenstoffbezogene Emissionen dienen
toren oder Gebläse müssen zum einen eine gründliche der rechnerischen Bestimmung des Kraftstoffver-
Durchmischung der Luft in der geschlossenen Kam- brauchs (innerorts, außerorts, kombiniert). Grenzwer-
mer sicherstellen, zum anderen für eine ausreichende te sind nicht vorgeschrieben.
Lüftung der geöffneten Kammer sorgen. Alle Fz müssen mit einem On-Board-Diagnosesystem
Der Ablauf der Prüfung ist in Bild 2.2-8 dargestellt. (OBD-System) ausgerüstet sein. OBD-Systeme haben
24 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Ermittlung der Verdunstung aus Kraftstoffsystemen


vor Beginn: 3000 km-Einfahrperiode (ohne übermäßige Spülung oder Beladung), Prüfung
der Alterung der Aktivkohlefalle(n), Dampfreinigung des Fahrzeugs (falls nötig).

Beginn

Kraftstofftemperatur: 283 bis 287 K (10–


Ablassen des Kraftstoffs 14 °C). 40 % ± 2 % der Nennkapazität
und Wiederbefüllung des des Tankes. Umgebungstemperatur:
Kraftstoffbehälters 293 bis 303 K (20–30 °C)
max 1 h

Beladung der Aktiv- Beladung der Aktiv-


Beladung mit Butan und Stickstoff bis
kohlefalle bis zum kohlefalle bis zum zum Durchbruch von 2 Gramm
Durchbruch (Benzin) Durchbruch (Butan)

Wiederholte Tagestemperatur-
Kraftstofftemperatur: 291 ± 8 K
gänge bis zum Durchbruch von Ablassen des Kraftstoffs
(18 ± 8 °C). 40 % ± 2 % der Nennka-
2 Gramm max 1 h und Wiederbefüllung des
pazität des Tanks. Umgebungsluft-
TAnf. = 293 K (20 °C) Kraftstoffbehälters
temperatur: 293 bis 303 K (20–30 °C)
ΔT = 15 K

Vorkonditionierungs- Typ I: ein Teil 1 und zwei Teile 2


fahrzyklus TAnf. = 293 bis 303 K (20–30 °C)
max 5 Min.
12 bis Umgebungslufttemperatur:
Abstellperiode
36 h 293 bis 303 K (20–30 °C)

Fahrzyklus der Prüfung Typ I: ein Teil 1 und zwei Teile 2


Typ I TAnf. = 293 bis 303 K (20–30 °C)
max.
2 Min. Fahrzyklus zur Konditio-
nierung des Verdunstungs- Typ I: ein Teil 1
begrenzungssystems

max und max. 2 Min. nach


7 Min. dem Motorabstellen
Tmin = 296 K (23 °C)
Heißabstellprüfung Tmax = 304 K (31 °C)
60 Min. ± 0,5 Min.

6 bis T = 293 ± 2 K (20 ± 2 °C) in den


Abstellperiode letzten 6 Stunden
36 h

TAnf. = 293 K (20 °C)


Prüfung der Tmax = 308 K; ΔT = 15 K
Tankatmungsverluste 24 Stunden; Zahl der 24-Stunden-
Zeiträume: 1

Ende

Anmerkung: 1. Fahrzeugfamilie hinsichtlich der Verminderung der Verdunstungsemissionen – Details festgelegt


2. Auspuffemissionen können während der Prüfung Typ I zwar gemessen werden, doch werden diese
nicht für die Typgenehmigung herangezogen. Prüfungen der Auspuffemissionen im Hinblick auf die
Typgenehmigung werden getrennt durchgeführt

Bild 2.2-8 Ermittlung der Verdunstung aus Kraftstoffsystemen


die Aufgabe, während der gesamten Lebensdauer des 2.2.5.4 Elektromagnetische Verträglichkeit
Fz auftretende Störungen emissionsrelevanter Ein- und Funkstörung
richtungen aufzuzeichnen und anzuzeigen, sobald die
Im Sinne der Richtlinie 89/336/EWG über die elekt-
Störung zu einer Überschreitung der Grenzwerte
romagnetische Verträglichkeit sind Geräte alle elekt-
führen würde.
rischen und elektronischen Apparate, Anlagen und-
Durch ein Stichprobenverfahren werden in Betrieb
Systeme, die elektrische und/oder elektronische
befindliche Fahrzeuge, die höchstens fünf Jahre alt
Bauteile enthalten. Diese Geräte müssen so herge-
sind und nicht mehr als 100 000 km gefahren wurden,
stellt werden, dass
auf Übereinstimmung geprüft. Die dabei einzuhalten-
den Grenzwerte liegen jedoch deutlich über den für a) die Erzeugung elektromagnetischer Störungen so
die Typprüfung anzuwendenden Werten. weit begrenzt sind, dass ein bestimmungsgemäßer
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 25

Betrieb von Funk- und Telekommunikationsgerä- sein. U.a. muss auf dem Fabrikschild der Name des
ten sowie sonstiger Geräte möglich ist, Herstellers, die Nummer der EG-Typgenehmigung,
b) die Geräte eine angemessene Festigkeit gegen die Fahrzeug-Identifizierungs-Nr. und die amtlich
elektromagnetische Störungen aufweisen, sodass zulässige Gesamtmasse des Fz angegeben sein. Die
ein bestimmungsgemäßer Betrieb möglich ist. Fahrzeug-Identifizierungs-Nr. hat 17 Stellen und ist
Bei dieser Richtlinie handelt es sich um eine so außerdem auf dem Fahrgestell oder dem Rahmen
genannte „horizontale“ Richtlinie. Sie gilt mit weni- auf der rechten Hälfte des Fz unveränderbar anzu-
gen Ausnahmen für alle Geräte unabhängig vom bringen.
Einbauort. 2.2.6.4 Messung der Motorleistung
Werden in der Richtlinie 89/336/EWG festgelegte
Schutzanforderungen für bestimmte Geräte durch Die Messungen sind unter vorgegebenen Bedingun-
Einzelrichtlinien, sog. „vertikale“ Richtlinien harmo- gen mit einer ausreichenden Anzahl von Motor-
nisiert, so gilt diese Richtlinie nicht für diese Geräte drehzahlen durchzuführen, um die Lastkennlinie
und diese Schutzanforderungen. Die Richtlinie zwischen der vom Hersteller angegebenen Mindest-
72/245/EWG ist nun eine solche Einzelrichtlinie, die und Höchstdrehzahl genau und vollständig festlegen
bezogen auf Fz schärfere Anforderungen an die zu können. Dieser Drehzahlbereich muss die Dreh-
elektromagnetische Verträglichkeit und die elektro- zahl einbeziehen, bei der der Motor seine Nennleis-
magnetischen Störungsaussendungen vorschreibt. tung abgibt. Motorrelevante Hilfseinrichtungen wie
Grenzwerte sind für breitbandige und schmalbandige z.B. Wasserpumpe, Generator, Lader bleiben in
elektromagnetische Störaussendungen sowie für die Betrieb, andere Hilfseinrichtungen wie z.B. Klima-
Störfestigkeit von Fz gegenüber elektromagnetischen kompressor, Kompressor für Luftfederung werden
Feldern festgelegt. entfernt. Für die Messung der Motorleistung nach der
Richtlinie 80/1269/EWG wird bei Hybridfahrzeugen
2.2.6 Verschiedenes die Leistung des Elektromotors nicht berücksichtigt.
Zur Genehmigung des gesamten Fahrzeugtyps ist je-
2.2.6.1 Anbringung des hinteren Kennzeichens doch die Leistung des Elektromotors und das dabei
Für die Anbringung des hinteren Kennzeichens ist angewandte Messverfahren anzugeben.
eine ebene oder nahezu ebene rechteckige Fläche mit
folgenden Mindestabmessungen (Länge × Höhe) vor- 2.2.6.5 Massen und Abmessungen
zusehen: von Klasse M1-Fahrzeugen
520 mm und 120 mm oder Die technisch zulässige Höchstmasse des Fz darf
340 mm und 240 mm. nicht größer als die Summe der zulässigen Achslasten
sein und muss mind. der Summe aus der Masse des
Die Unterkante muss mind. 0,30 m über der Fahrbahn Fz in fahrbereitem Zustand (Kraftstoffbehälter zu
liegen. 90 % gefüllt, siehe Fußnote 0 in Anhang I der Richt-
linie 70/156/EWG) und 75 kg je Sitzplatz ent-
2.2.6.2 Sicherungseinrichtungen gegen unbefugte sprechen. Für die zulässige Anhängelast einschl. der
Benutzung, Wegfahrsperre, Diebstahlschutz tatsächlichen Stützlast gelten folgende Grenzwerte:
Die Sicherungseinrichtung gegen unbefugte Benut- Anhänger mit Bremse: zulässige Höchstmasse des
zung muss so beschaffen sein, dass sie zum Anlassen M1-Fz (Gelände-Fz das
des Motors durch die normale Betätigungseinrichtung 1,5fache), in keinem Fall
sowie zum Steuern, Führen oder Vorwärtsfahren des > 3,5 t
Fz mit eigener Kraft außer Betrieb gesetzt werden Anhänger ohne Bremse: Hälfte der Masse des Kfz in
muss. Zusätzlich sind M1-Fz mit einer Wegfahrsperre fahrbereitem Zustand, in kei-
auszurüsten. Diese Einrichtung ist dazu bestimmt, das nem Fall > 0,75 t
Wegfahren des Fz mit eigener Kraft durch Unbefugte
zu verhindern. Erreicht wird dies entweder durch 2.2.6.6 Altfahrzeuge, Recycling
Außerbetriebsetzung von mind. zwei getrennten Mit den Richtlinien 2000/53/EG und 2005/64/EG des
Fahrzeugstromkreisen, die für den Betrieb des Fz mit Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Sep-
eigener Antriebskraft erforderlich sind (z.B. Anlasser, tember 2000 soll u.a. die Umweltbelastung durch Alt-
Zündung, Kraftstoffversorgung) oder durch Eingriff fahrzeuge verringert und dadurch ein Beitrag zum
mittels eines Codes in mind. eine Steuerungseinheit, Schutz, zur Erhaltung und Qualitätsverbesserung der
die für den Betrieb des Fz erforderlich ist. Umwelt sowie zur Rohstoff- und Energieeinsparung
geleistet werden. In der Europäischen Gemeinschaft
2.2.6.3 Fabrikschild, Fahrzeugidentifizierungs- fallen derzeit jährlich zwischen acht und neun Millio-
nummer nen Tonnen Abfälle aus Altfahrzeugen an.
An einer gut sichtbaren und leicht zugänglichen In den Richtlinien sind Maßnahmen festgelegt, die
Stelle muss ein gut lesbares Fabrikschild angebracht vorrangig auf die Vermeidung von Fahrzeugabfällen
26 2 Anforderungen, Zielkonflikte

und darüber hinaus auf die Wiederverwendung, das 2.2.8 Normen


Recycling und andere Formen der Verwertung von
Altfahrzeugen und ihren Bauteilen abzielen. Zur För- 2.2.8.1 Einleitung
derung der Abfallvermeidung wird die Verwendung Normung ist die planmäßige, gemeinschaftlich durch-
gefährlicher Stoffe wie Blei, Quecksilber etc. redu- geführte Vereinheitlichung von materiellen und im-
ziert. materiellen Gegenständen zum Nutzen der Allge-
Die Hersteller sollen auch dafür sorgen, dass Fahr- meinheit. Sie beschreibt das technisch Mögliche, das
zeuge so konstruiert und hergestellt werden, dass die wirtschaftlich Sinnvolle und das praktisch Erprobte.
quantifizierten Zielvorgaben für die Wiederverwen- Die Normungsarbeit basiert auf Konsens und Trans-
dung, das Recycling und die Verwertung erreicht parenz. Technische Normen dokumentieren den
werden. Stand der Technik. Normung fördert Rationalisierung
Alle ab 15. 12. 2010 neu zugelassenen Pkw müs- und Qualitätssicherung, darf aber nicht zu einem wirt-
sen so beschaffen sein, dass wenigstens 85 % der schaftlichen Sondervorteil einzelner führen.
Fahrzeugmasse wieder verwendbar und/oder recyc-
lingfähig sind und wenigstens 95 % der Fahr- 2.2.8.2 Nationale und internationale Struktur
zeugmasse wieder verwendbar und/oder verwertbar Im Rahmen der historischen Entwicklung der Nor-
sind. mungsarbeit haben sich für die Bereiche Elektro-
Für vor dem 1. Januar 1980 hergestellte Fahrzeuge technik und Telekommunikation branchenspezifische
können die Mitgliederstaaten niedrigere Zielvorgaben Organisationen gebildet, während die verbleibenden
vorsehen. Branchen, und dazu gehört auch die Automobilin-
Bis spätestens 1. Januar 2015 werden die entspre- dustrie, weiter unter den allgemeinen Normungsorga-
chenden Werte auf 95 % bzw. 85 % erhöht. nisationen tätig werden. Diese Aufteilung gilt nicht
nur für die europäische und internationale Ebene, sie
2.2.7 Ausblick gilt auch für Deutschland und die Mehrzahl der
anderen hoch industrialisierten Ländern.
Der Umweltschutz wird seinen hohen Rang behalten.
Die für die Normungsarbeit zuständige Institution in
Demzufolge werden die gesetzlichen Anforderungen
Deutschland ist das DIN – Deutsches Institut für
an die Umweltverträglichkeit der Kfz in den nächsten
Normung. Dies regelt ein mit der Bundesregierung
Jahren weiter steigen.
seit 1975 bestehender Vertrag, der das DIN als natio-
Durch die Vernetzung der elektronischen Komponen-
nale Normungsorganisation anerkennt und zur Be-
ten untereinander werden die für die Sicherheit, die
rücksichtigung des öffentlichen Interesses verpflich-
Umweltverträglichkeit und den Komfort erforderli-
tet. Die Vertretung Deutschlands in den europäischen
chen Systeme immer komplexer. Ihr Ausfall kann
und internationalen Normungsorganisationen erfolgt
sicherheits- und/oder umweltrelevant sein. Daraus
nach diesem Vertrag durch das DIN und nach dem
folgt, dass auch auf diesem Gebiet gesetzliche Anfor-
Delegationsprinzip an die auf einzelne Fachbereiche
derungen erarbeitet werden.
spezialisierten Normenausschüsse.
So wurde z.B. die ECE-Regelung Nr. 13-H über
Bild 2.2-9 zeigt die auf nationaler und internationaler
Bremsanlagen mit der Aufnahme des Anhangs 8 über
Ebene tätigen Normungsorganisationen für die jewei-
„besondere Vorschriften für die Sicherheitsaspekte
ligen Branchen.
komplexer elektronischer Fahrzeugsteuersysteme“
ergänzt. Diese Vorschrift kann optional im Typge-
nehmigungsverfahren angewendet werden. 2.2.8.3 Grundregeln der Normungsarbeit
Ein wichtiger Aspekt dieses Gesamtthemas wurde und Anwendung von Normen
in dem europäischen PEIT (Powertrain Equipped Die Normung basiert auf Konsensfindung und orien-
with Intelligent Technology) – Projekt [1] durch tiert sich dabei an den folgenden fairen Regeln:
eine spezielle Taskforce untersucht. Das Ergebnis • Die Erarbeitung erfolgt in fachbereichsorientierten
dieser Untersuchung war, dass letztlich nur ein hori-
Arbeitsgremien in denen alle interessierten Kreise
zontaler Vorschriftenansatz dem kompletten Einsatz
(z.B. Hersteller, Anwender, Wissenschaft, Prüfor-
von x-by-wire-Elektronik-Systemen im Sinne von
ganisationen) angemessen beteiligt werden.
Sicherheit und Überschaubarkeit gerecht werden • Jede Norm wird der Öffentlichkeit im Entwurf zur
kann.
Stellungnahme vorgelegt, bevor sie Gültigkeit er-
langt.
Literatur • Eine Norm spiegelt den aktuellen Stand der Tech-
[1] Spiegelberg, G., et al.: Homologation und Zulassung zukünftiger nik unter Einbeziehung verfügbarer wissenschaft-
Drive-by-Wire-Systeme – Status und notwendige Modifikationen licher Erkenntnisse wider.
der Vorschriften, ATZ 106, Jahrgang Nr. 9, Wiesbaden 2004 • Normen sollten wirtschaftliche Gegebenheiten
[2] Miese, A.: Sichere Fahrerassistenzsysteme – Welchen Beitrag
leistet das KBA als Produktsicherheitsbehörde? VDI-Berichte berücksichtigen, so dass Anwender und Nutzer
1960, Düsseldorf 2006 nicht über Gebühr belastet werden.
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 27

Allgemeine Normung Elektrotechnik/Elektronik Telekommunikation

Allgemeine Normung und Elektrotechnik/Elektronik Telekommunikation

Elektrotechnik/Elektronik/
Allgemeine Normung Telekommunikation

Bild 2.2-9 Struktur der Normungsorganisationen – national und international

• Eine Überprüfung in einem festen Rhythmus Normungsantrag


(maximal alle fünf Jahre) garantiert die Aktualität
jeder Norm. Öffentliche Abstimmung

Normen werden durch eigenverantwortlich handelnde Normvorlage


Experten erarbeitet und sind freiwillige Übereinkünf-
te. Die Normungsorganisationen achten auf die Ein-
haltung der Regeln und steuern und betreuen die
Manuskript für Normentwurf
Normungsarbeit in den Fachgremien. Eine Pflicht zur
Anwendung besteht nicht, sofern ein Regelungsgeber Normenprüfstelle
die Erfüllung bestimmter Normen nicht ausdrücklich
vorschreibt. Normentwurf
Der Verweis auf Normen durch nationale oder inter- Öffentliche Stellungnahme
nationale Regelungsgebende Organe wird im Allge- Normenprüfstelle
meinen als „New Approach“ bezeichnet. In der Au-
Norm
tomobilindustrie ist dieser Ansatz im Gegensatz zur
Elektroindustrie jedoch bis auf wenige Ausnahmen Bild 2.2-10 Prozess zur Erstellung einer Norm
nicht üblich.
Dennoch bieten die Normen dem Anwender eine 2.2.8.4 Erarbeitung einer Norm
Reihe von Vorteilen, so dass diese auch ohne gesetz- Um dem Anspruch der Einbeziehung aller interessier-
liche Verpflichtung intensiv von der Wirtschaft ten Kreise und der Anerkennung durch die Öffent-
genutzt werden: lichkeit gerecht zu werden, erfolgt die Erarbeitung
• Terminologienormen verbessern die Effizienz einer Norm nach strengen Regeln. Diese Regeln gel-
der Kommunikation unter den Experten, schließen ten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler
Missverständnisse aus und sind vor allem im in- Ebene und werden von allen drei großen Branchenor-
ternationalen Bereich unabdingbar. ganisationen gleichermaßen genutzt.
• Prüfnormen ermöglichen eine vergleichende Be- Abweichend von der in Bild 2.2-10 gezeigten Verfah-
wertung von Produkten und damit eine signifikan- rensweise für die Erstellung einer Norm gibt es ande-
ten Reduzierung der Aufwendungen für das Beur- re Veröffentlichungen (Spezifikationen, Berichte), die
teilungsverfahren. Wertigkeit einer Norm haben, aber als Vorabveröf-
• Qualitäts- und Managementsystemnormen sor- fentlichungen ggf. den Weg für eine spätere Norm
gen für eine ausgewogene Qualität der Produkte bereiten. Zweck solcher Spezifikationen und Fachbe-
und Angebote. richte ist vor allem die schnelle Besetzung eines The-
• Maßnormen leisten in der Serienfertigung einen mas und eine sehr kurze Bearbeitungszeit, u.a. durch
wichtigen Beitrag zur Senkung der Stückkosten. den Verzicht auf einen Vollkonsens.
• Zur Sicherstellung der Austauschbarkeit von Bau-
teilen und die Vernetzung von Komponenten ver- 2.2.8.5 Facharbeit in Normenausschüssen
schiedener Hersteller sind Schnittstellennormen Innerhalb der DIN-Gruppe wird die fachliche Nor-
unabdingbar. mungsarbeit in mehr als 80 Normenausschüssen
28 2 Anforderungen, Zielkonflikte

(NA), die die gesamte Bandbreite der möglicher


Verband der
Normungsaktivitäten abdecken, durchgeführt. Neben Automobilindustrie
branchenübergreifenden NA, wie z.B.:
• NA Akustik, Lärmminderung und Schwingungs-
technik
• NA Materialprüfung Normenausschuss
• NA Mechanische Verbindungselemente Automobitechnik
• NA Schweißtechnik
• NA Verpackungswesen Bild 2.2-11 Träger der Automobilnormung
gibt es auch branchenspezifische NA, wie z.B.: Der NA Automobil unterhält zur Zeit über 60 aktive
• NA Maschinenbau Arbeitsgremien (Ausschüsse und Kreise) zu diversen
• NA Automobiltechnik Fachthemen. Die Mehrzahl dieser Gremien spiegeln
• NA Kautschuktechnik internationale und europäische Arbeitsgruppen und
• NA Bergbau Komitees. In den Gremien arbeiten vor allem Ver-
• NA Schienenfahrzeugtechnik. treter der Fahrzeughersteller, der Anhänger- und
Die branchenspezifischen NA werden häufig direkt Aufbautenhersteller und der Teile- und Zubehör-
von den entsprechenden Fachverbänden getragen und industrie. Neben diesen Experten nehmen Vertreter
sind oft auch dort als sogenannte externe NA ange- von Behörden, Prüforganisationen, Wissenschaftsein-
siedelt. richtungen und Verbrauchervertreter an der Nor-
mungsarbeit teil.
2.2.8.6 Normung in der Automobiltechnik Im Zuge der Einführung der Elektromobilität ist eine
enge Kooperation mit der Elektroindustrie unumgäng-
Seit mehr als 85 Jahren betreut der Normenausschuss lich. Auf nationaler Ebene wurden dabei zu wichtigen
Automobiltechnik (NA Automobil vormals FAKRA) Schlüsselthemen der Sicherheit und der Schnittstelle
die Institutionen und Unternehmen der Automobilin- zum Stromnetz gemeinsame Arbeitskreise gebildet. Je
dustrie, um gemeinsam interessierende Themen der nach Arbeitsschwerpunkt liegt dabei die administrati-
Normung zuzuführen. Der NA Automobil vertritt die ve Leitung entweder bei der Deutschen Elektrotechni-
nationalen und internationalen Normungsinteressen schen Kommission (DKE), dem Normenausschuss für
der Automobilindustrie, vorzugsweise für alle pro- die Elektrotechnische Normung, oder beim NA Auto-
duktspezifischen Normungsthemen von Straßenfahr- mobil. Auf internationaler Ebene garantiert ein ent-
zeugen (ausgenommen Ackerschlepper sowie Spe- sprechendes Abkommen zwischen der ISO und der
zialfahrzeuge wie Kommunal-, Feuerwehr- und Ret- IEC (International Electrotechnical Commission) die
tungsfahrzeuge). Darüber hinaus ist er zuständig für Zusammenarbeit der beiden Branchen.
die Normung der multimodalen Transportbehälter
2.2.8.7 Aufgaben des NA Automobil
wie Frachtcontainer und Wechselbehälter, sowie –
gemeinsam mit der Deutschen Elektrotechnischen Der NA Automobil erfüllt im Rahmen der Betreuung
Kommission (DKE) – für Normung auf dem Gebiet und der Organisation der Normungsarbeit im Wesent-
der Straßenverkehrs-Telematik. lichen die folgenden Aufgaben:
Der NA Automobil ist, wie aus Bild 2.2-11 ersicht- a) bei neuen Themen:
lich, organisatorisch, finanziell und personell dem
Verband der Automobilindustrie (VDA) angegliedert. Die Herbeiführung einer Entscheidung über die
Die Normungsarbeiten werden nach den allgemeinen Annahme eines Projektvorschlages und die damit ver-
Grundsätzen des DIN durchgeführt, die geprägt sind bundene Beurteilung des Nutzens für einen größeren
durch klare, transparente Bearbeitungsschritte, Kom- Anwenderkreis sowie der Vermeidung wirtschaft-
petenz und öffentliches Mitspracherecht. licher Sondervorteile einzelner.
Der NA Automobil vertritt das DIN auf internationaler b) bei laufenden Projekten:
Ebene der ISO (International Organization for Stan-
Das Management des Normenprojektes verbunden
dardization) vor allem in den technischen Komitees:
mit der Konsensfindung und der Einhaltung der
• TC 22 Straßenfahrzeuge, vorgegebenen Zeiträume. Dazu gehört die Durchfüh-
• TC 104 Frachtcontainer und rung der öffentlichen Umfragen, die Steuerung der
• TC 204 Straßenverkehrstelematik Kommentierung sowie die Kommunikation mit der
zuständigen Normungsorganisation bis hin zur
sowie auf europäischer Ebene in CEN in den techni-
Durchführung ggf. nötiger Einspruchsverhandlungen.
schen Komitees:
• TC 119 Wechselbehälter, c) bei der Bestandspflege:
• TC 278 Straßenverkehrstelematik und Die regelmäßige Aktualitätsprüfung des gesamten
• TC 301 Straßenfahrzeuge. Normenwerkes und die Einleitung ggf. notwendiger
2.2 Anforderungen durch den Gesetzgeber 29

Überarbeitungen zur Sicherstellung des Standes der tiert und unterliegen entsprechenden regional spezifi-
Technik. schen Normen. Entsprechend komplex ist die Kon-
d) bei der internationalen Harmonisierung: sensfindung für den elektromechanischen Anschluss
und die dazugehörige Kommunikation zur Steuerung
Die angemessene Vertretung der deutschen Interessen
des Ladeprozesses. Dazu kommt der historisch ge-
in den internationalen und europäischen Normungs-
wachsene unterschiedliche Ansatz bei der Normung.
gremien.
Während die elektrotechnische Normung nach dem
2.2.8.8 Normungsfelder „New Approach“ Festlegungen bis hin zu produkt-
Das Automobil ist ein Musterbeispiel für die Kom- spezifischen Details trifft, folgt die Normung in der
plexität der Technik und damit auch der Normungs- Automobilindustrie vielfach direkten technischen
aufgaben. Nicht nur einfache grundlegende normative Regelungen, die durch produktoffene Normen flan-
Festlegungen sind zu treffen, vielmehr gilt es die kiert werden.
zunehmende Komplexität und Vernetzung der Kom- Zusätzlich zu dieser, im Zuge der Nachhaltigkeit
ponenten und Systeme im Automobil durch entspre- nötigen, Normung rund um die alternativen Antriebs-
chende Normen zu flankieren. konzepte läuft die herkömmliche Normungsarbeit
Die zunehmende elektronische Vernetzung der elekt- weiter. Dazu gehören Projekte zur mechanischen und
rischen und elektronischen Systeme (E/E-Systeme) elektronischen Anbindung von Kindersitzen in Per-
im Fahrzeug zur Steuerung der Sicherheits- und sonenkraftwagen, zu ergonomischen Festlegungen,
Komfortfunktionen (z.B. ABS, ESP, Klimatisierung, zur Fahrdynamik und Fahrsituationen oder zur Dum-
Diagnose) erfordert Normen für die fahrzeuginterne mytechnik.
Datenkommunikation und die elektromagnetische Normen für „konventionelle“ Fahrzeugteile und -sys-
Verträglichkeit. Der Ausbau der On-Board-Diagnose teme (wie z.B. für Zündausrüstung, elektrische Lei-
und die Einbeziehung der Verkehrstelematik verlangt tungen und Steckverbinder, Sicherungen, Beleuch-
nach Kommunikationsschnittstellen vom Fahrzeug tungseinrichtungen, hydraulische und pneumatische
zur Außenwelt und der straßenseitigen Kommunika- Leitungssysteme, Kraftstoffleitungen, Filter für Kraft-
tionseinrichtungen. Ohne einen globalen Standard zur stoff, Schmieröl und Luft (Verbrennungsluft und
Funktionalen Sicherheit kann die komplexe Struktur Insassenraum), Verbindungseinrichtungen für An-
der E/E-Systeme sicherheitstechnische und haftungs- hängefahrzeuge, Diesel-Einspritzausrüstungsteile wie
relevant nicht mehr beherrscht werden. Pumpen und Düsen, Motorteile wie Kolbenringe und
Die Automobilindustrie setzt im Zuge der Nachhal- Kolbenbolzen) müssen nicht nur turnusmäßig auf
tigkeit auf alternative Antriebskonzepte. Neben dem Aktualität geprüft werden, sondern vielmehr oft auch
Einsatz von alternativen Kraftstoffen, wie Erdgas und an den aktuellen technischen Stand angepasst werden.
Biokraftstoffe oder dem Einsatz von „AdBlue©“, in
der Abgasnachbehandlung, wird der Antriebsstrang 2.2.8.9 Nutzen der Normung
zunehmend elektrifiziert. Hierfür braucht es neben Die aktive Teilnahme an Normungs- und Standardi-
Schnittstellennormen für Komponenten, Normen zu sierungsvorhaben bietet zahlreiche Vorteile, da
Betankungssystemen oder zur Kontrolle der Qualität • ein Wissens- und Zeitvorteil im Forschungs- und
und Zusammensetzung der Kraftstoffe und Kraft-
Entwicklungsprozess geschaffen wird,
stoffzusätze. • die Investitionssicherheit erhöht wird,
Nicht nur die Batteriesysteme zum Antrieb von elekt- • Vertrauen und damit Marktakzeptanz für innova-
rischen Fahrzeugen erfordern entsprechende Prüf-
tive Produkte und Dienstleistungen erzeugt wird,
normen. Auch für die elektrischen und elektronischen • die Sicherheit zum Schutz von Menschen, Tieren
Bestandteile dieser hoch komplexen Batteriesysteme
und Sachen garantiert wird und
bis hin zu modernen Lithium-Ionen Zellen für den • das Innovationssystem stimuliert wird, da neue
automobilen Einsatz müssen Normen geschaffen
Lösungen am Markt immer honoriert werden.
werden. Parallel dazu wurden und werden Normen
für zukunftsweisende Systeme, wie für Wasserstoff Schließlich schafft Normung den gemeinschaftlichen
und Brennstoffzellen basierte Antriebe, erarbeitet. Erfolg durch die Stärkung einer schnellen Diffusion
Der Anschluss des Elektrofahrzeuges ans Stromnetz von Innovationen im Markt, die nach Meinung ver-
zum Aufladen der Antriebsbatterien ist ein typisches schiedener Experten wirksamer sein kann, als die
Schnittstellenthema. Die Herausforderung besteht durch Patente und Lizenzen.
hier nicht nur darin, hoch komplexe und mobile Neben Arbeitserleichterung und Kosteneinsparung
Fahrzeugtechnik mit der stationären, in der Umstruk- durch branchenübergreifende und branchenspezifische
turierung hin zum SmartGrid befindlichen, Elektro- Normen schaffen Normen auch Wettbewerb. Durch
technik zu verbinden. Während Fahrzeuge als inter- klare Definition der Anforderungen an Komponenten
nationale Produkte eine lange Tradition und eine und Schnittstellen, haben alle potentiellen Zulieferer
entsprechend international ausgerichtete Normung eine Chance, mitzubieten. Der dadurch erzeugte
haben, sind die Stromnetze noch oft national orien- Wettbewerbsdruck führt zu weiteren Kostensenkun-
30 2 Anforderungen, Zielkonflikte

gen. Der Markt der Wertschöpfungspartner weitet sich Verbesserung vorhandener Eigenschaften
damit aus, mit Chancen für alle Beteiligten. Erzielung bisher nicht möglicher Eigenschaften
Bewältigung von Zielkonflikten
Eine konkrete Bezifferung des gesamtwirtschaftli- Erhöhung der Wirtschaftlichkeit
chen Nutzens der Normung ist jedoch schwierig und Erreichung strategischer Ziele der Hersteller
Verbesserung der Nachhaltigkeit des Automobils und des
kann nur beispielhaft erfolgen. So wurde im Zusam- Straßenverkehrs
menhang mit dem Trend zur „Just-in-time“ Logistik ...
im Jahre 1986 im VDA die Notwendigkeit für eine
Behälterstandardisierung erkannt. Dies führte zu Bild 2.3-1 Gründe für den Einsatz neuer Technologien
entsprechenden Normungsaktivitäten, die mit Veröf-
fentlichung von Europäischen Normen für sogenann- notwendig, wenn bestimmte Gesetze und Vorschrif-
te Kleinladungsträger (DIN EN 13199) im Oktober ten (z.B. des Umweltschutzes) dies erfordern.
2000 ihren Abschluss fanden. Inzwischen sind rund Es gibt also eine Reihe von Gründen zum Einsatz
25 Millionen genormte Kleinladungsträger im Um- neuer Technologien (Bild 2.3-1). Konkrete Lösungen
lauf. Das entspricht einem Investitionsvolumen von können meist mehreren der genannten Kategorien
etwa 125 Mio. EUR. Der wirtschaftliche Nutzen des zugeordnet werden.
Systems liegt primär in der Kostenreduzierung durch Die Technologievielfalt kann in mehrere Bereiche
die Mehrfachverwendung. Die Mehrkosten für die zusammengefasst werden (Bild 2.3-2).
stabil gebauten Transportkästen haben sich bereits Schon heute sind Mikroelektronik und Software an der
nach etwa 6 bis 8 Umläufen amortisiert. Nach Erfah- gesamten Funktionserfüllung des Automobils in hohem
rungswerten können die Systemelemente mindestens Maße beteiligt. Zweck des weiter steigenden Einsatzes
100 Umläufe unbeschadet überstehen. So gilt für die ist es, das Fahrzeug mit all seinen Systemen optimal an
Kosteneinsparung ein Multiplikator von mindestens die jeweiligen Fahr- und Betriebssituationen sowie an
90. Nicht berücksichtigt dabei ist die Einsparung des die Wünsche der Insassen anzupassen. Darüber hinaus
früheren Aufwandes für die Einwegverpackungen, werden Telematiksysteme das Fahrzeug mit anderen
die gesammelt, sortiert und entsorgt hätten werden Fahrzeugen, der Infrastruktur und mit anderen Ver-
müssen. Dieses Beispiel eines einzelnen Normungs- kehrsträgern vernetzen, mit dem Ziel von mehr Sicher-
projektes zeigt, dass Normung ein Schlüssel zur Ra- heit, Umweltschutz, Verkehrseffizienz und Komfort.
tionalisierung ist. Für all diese Aufgaben steht der gesamte Funktionsum-
fang der Elektronik (einschl. vernetzbarer Technolo-
giebereiche) von der Informationsaufnahme bis zur
Literatur
selbstständigen Planung und Ausführung von Aktionen
Jens Kleinemeyer; Standardisierung zwischen Kooperation und Wett- zur Verfügung, was als „technische Intelligenz“ be-
bewerb – Eine spieltheoretische Betrachtung – Peter Lang/
Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main
zeichnet werden kann (Bild 2.3-3). Ein wichtiger Inno-
1998 vationstreiber ist hierbei das weite Gebiet der Sen-
Veit Ghiladi; Strategische Bedeutung der Normung, Daimler AG, sorik.
Intellectual Property Management/Standardisierung, FTP/N Wesentliche Zielrichtungen der anderen in Bild 2.3-2
70546 Stuttgart
FAKRA-Handbuch – Normen für den Kraftfahrzeugbau
genannten Kategorien sind, neben allen fahrzeug-
– Band 1: Allgemeine Kfz-Technik technischen Aspekten, grundsätzliche Verbesserun-
– Band 2: Motoren- und Triebwerkteile gen hinsichtlich Ressourcenschonung, Umweltschutz,
– Band 3: Räder und Reifen Wirtschaftlichkeit und damit Nachhaltigkeit des
– Band 4: Bremsausrüstung
– Band 5: Elektrische und elektronische Ausrüstung
Automobils.
Beuth Verlag GmbH, 10787 Berlin, Fax 030/2601 1260 Internet: Nur ein Teil der vielfältigen Zielkonflikte des Auto-
www.beuth/de mobils [3] lässt sich mit der geometrischen Ausle-
gung des Gesamtkonzeptes, seinen Werkstoffen und
Relevante Internetseiten: mit den Mitteln der „Mechanik“ lösen oder mildern.
Deutsche Normung: www.din.de
Wie aus Bild 2.3-4 ersichtlich, tragen elektronische
Internationale Normung: www.iso.ch Systeme hier ganz wesentlich zur Lösung bei. Damit
Europäische Normung: www.cenorm.be erhält auch die Software einen immer höheren Stel-
Allgemeine Normenanwendung: www.ifan-online.org
Automobilindustrie: www.vda.de
Produkttechnologien
Mikroelektronik, Software, Mechatronik, Telematik
Neue Werkstoffe, Oberflächen, Bauweisen
2.3 Neue Technologien Additive/alternative Energieträger und Antriebe
...
Muss das Rad immer wieder neu erfunden werden?
Neue Technologien sind nur in Sonderfällen Selbst- Prozesstechnologien
Fertigungs- und Recyclingverfahren
zweck. Manchmal sind sie ingenieurgetrieben („tech- Verfahren des Produktentstehungsprozesses
nology push“). Um letztlich erfolgreich zu sein, Qualitätssicherungsverfahren
...
müssen sie vor allem kundengetrieben sein („market
pull“). In einigen Fällen sind neue Technologien Bild 2.3-2 Bereiche neuer Technologien
2.3 Neue Technologien 31

Möglicher Definitionsansatz: Neue Technologien kommen nicht nur für Produkte


Eigenschaft eines technischen Systems, sich in seiner Umgebung (einschl. neuer Design-Konzepte), deren Herstellung,
so zu verhalten, dass einem Menschen bei entsprechendem Ver- Wartung/Reparatur und Recycling, sondern auch für
halten eine Intelligenzleistung zugesprochen würde, kann „techni-
sche Intelligenz“ genannt werden (nach Turing). den Produktentstehungsprozess (Entwicklung bis zur
Nullserie) in Frage. Nicht selten setzen Produktinno-
Merkmale: vationen solche Prozessinnovationen voraus. Somit
Fähigkeit zur Informationsaufnahme, -Verarbeitung und
-Umsetzung in situationsadäquates Verhalten können weitere Gründe für neue Technologien ge-
Fähigkeit zum Abspeichern von Informationen im „Gedächtnis“, nannt werden, wie:
Wiederauffinden, Ableiten von Führungsgrößen
Fähigkeit zum dynamischen Lernen bezüglich wechselnder
• Reduzierung der Komplexität
System- und Umfeld-Zustände • Erhöhung der Flexibilität
Fähigkeit, bei wechselnden System- oder Umfeld-Zuständen • Verringerung des Bauraumbedarfs
eigenständig nützliche Entscheidungen zu treffen • Multifunktionalität, Bauteilintegration
und in Zukunft:
Fähigkeit zur selbsttätigen Planung von Aktionen aufgrund von
• Vermeidung von Problemwerkstoffen
Erfahrungen und Frühindikationen von System- oder Umfeld- • Einsatz nachwachsender Rohstoffe.
Änderungen
Dazu gehört auch: Bei der Umsetzung solcher Ziele können jedoch neue
Mit zunehmender Reife der Intelligenz zunehmende Kommuni- Zielkonflikte entstehen.
kationsfähigkeit zwischen Systemen und zwischen Mensch
und Systemen Aus all dem folgt, dass schon in frühen Entwick-
lungsphasen entschieden werden muss, welche neuen
Bild 2.3-3 Intelligenz technischer Systeme – Eine Technologien in welchen Bereichen eingesetzt wer-
langfristige Entwicklungsrichtung den sollen und geklärt werden muss, ob in Fällen des
Nicht-Erreichens wichtiger Entwicklungs-Meilenstei-
lenwert, die zudem in steigenden Maße den Charakter ne Ersatzlösungen vorhanden sind. Besonders sorg-
eines Fahrzeugs prägt [7]. Die Mechanik darf dabei fältig ist dann vorzugehen, wenn eine Basistechnolo-
aber nicht vergessen werden: Als Beispiel sei das ins gie durch eine andere ersetzt werden soll: Der Einsatz
Schwungrad integrierte Fliehkraftpendel genannt, mit der Brennstoffzelle statt des Verbrennungsmotors
dessen Hilfe das Fahren mit sehr niedrigen Motor- wird das gesamte Antriebssystem einschl. aller
drehzahlen beherrschbar ist. Nebenaggregate fast vollständig verändern. Somit
muss die Vorentwicklung den ersten wichtigen Mei-
Teilweise nicht lösbar (z. B. „innen größer als außen“) lenstein, die Konzeptsicherheit, bestätigen, bevor mit
Geometrische Teilweise durch geschickte Detailkonstruktion lösbar
Zieklkonflikte der Serienentwicklung begonnen werden kann. Mit
Teilweise nur durch Änderung des Grundkonzeoptes
lösbar (z. B. Frontantrieb spart Raumbedarf)
dem ersten serienfähigen Prototyp (Meilenstein
Bedarfsgerechte Anpassung, Variabilität, Steuerung, „Produktsicherheit“) kann die Fertigungsplanung „in
Regelung (Betriebsparameter statt Konstruktions- die Vollen gehen“, bis mit der Prozesssicherheit der
parameter)
Physikalisch-
Beginn der Serienfertigung festgelegt werden kann.
Geschickte Anpassung von Kennlinien und
funktionale Kennfeldern, Algorithmen Nicht alle Konzepte, geschweige denn Ideen und
Zielkonflikte Ansätze für neue Technologien können zum Erfolg
Hinzufügen von Komponenten/Subsystemen
(z. B. Geräuschkapsel, Abgasentstickung, führen. Bild 2.3-5 zeigt am Beispiel des früheren
aktive Kopfstützen)
Übergang auf neue Prinzipien (z. B. Doppelkupplungs- Forschungsprogramms PROMETHEUS [9], dass alle
getriebe statt automat. Schaltgetriebe, Lichtwellenleiter Vorschläge verschiedene „Filter“ zu durchlaufen
statt Metall-Leitungen, bürstenlose Elektromotoren)
haben, und dass am Ende nur ein Teil der Ansätze in
Multifunktionale Auslegung von Komponenten
Zielkonflikt und Aggregaten (z. B. vorhandene Massen für die Praxis umgesetzt werden kann.
Funktion- Crashenergieaufnahme und Schwingungstilger, Manchmal dauerte es Jahrzehnte, bis sich neue Tech-
Gewicht Bauteil- und Subsystem-Integration)
nologien nach einem zunächst schwachen Ersteinsatz
Neue Leichtbau-Werkstoffe
Multifunktionale Werkstoffe (z. B. für Schall- und
auf breiter Front durchsetzen konnten. Hin und wie-
Werkstoffliche
Wärmeisolierung, multifunktionale Gläser) der gelang dies aber auch in relativ kurzer Zeit, wie
Zielkonflikte Verbundwerkstoffe (z. B. Faserverbundwerkstoffe, das aktuelle Beispiel der Fahrstabilitätssysteme zeigt.
Oberflächenbeschichtungen)
So manche Innovationen wurden bald wieder verlas-
Werkstoffe mit variablen Eigenschaften
– selbsttätig variabel, z. B. Memory-Legierungen sen, manchmal später wieder aufgenommen.
– von außen schaltbar, z. B. elektrochrome Werk- Neue Technologien sollten erst dann eingesetzt wer-
stoffe oder elektrorheologische Flüssigkeiten
„Gesunde“ Mischung aus Bewährtem und
den, wenn alle kritischen Pfade der gesamten Pro-
Zielkonflikt Innovativem zesskette des Lebenszyklus eines Automobils be-
Komplexität, Systematische Anwendung aller verfügbaren herrscht werden. Damit sprechen Forderungen nach
Qualität und Methoden in Entwicklung, Fertigung und
Zuverlässigkeit Qualitätssicherung
Zuverlässigkeit und Langzeitqualität, häufig auch
Fehlertolerante Systeme nach Wirtschaftlichkeit, nicht selten zunächst gegen
Neuerungen. Möglichkeiten, sie dennoch einzufüh-
Bild 2.3-4 Grundsätze zur Bewältigung fahrzeug- ren, bestehen z.B. im beschränkten Ersteinsatz (wie
technischer Zielkonflikte bei Nischenmodellen, für die besondere Maßnah-
32 2 Anforderungen, Zielkonflikte

Ideen FZG-FZG-Kommunikation, Intelligente


Konzepte Kreuzungs-Regelung, Unfallver-
(1986) meidung, Notfall-C-Netz, Baken-
gestützte Systeme
usw.

Technische Machbarkeit
Wirksamkeit
Administrative/infrastruk-
turelle Voraussetzungen
Kosten
Juristische Fragen
Akzeptanz der Fahrer

Umsetzbare Intelligenter Tempomat, Sichtweitenmessung,


Ergebnisse UV-Scheinwerfer, Dynamische Routenführung
(1994) Flottenmanagement, Automatischer Notruf, ...
Serienstand 2010: ACC, Nachtsichtsysteme, Spurwechselassistent, Spurhalteassistent, Bild 2.3-5 Von der PROME-
Notbremsassistent, Verkehrszeichenerkennung, Navigation, Flotten- THEUS-Idee zur konkreten
management, automat. Notruf, ...
Umsetzung

men getroffen werden können), oder in der anfäng- [3] Eiletz, R.: Zielkonfliktmanagement bei der Entwicklung kom-
plexer Produkte am Beispiel Pkw-Entwicklung Diss. TU Mün-
lichen Beschränkung auf spezielle Kunden oder
chen 1999
Märkte. Hierzu gehören Hybrid- und Elektroautos. [4] Mehrere Autoren: Fahrzeugkonzepte für das 2. Jahrhundert
Bei aller Würdigung der Potentiale neuer Technolo- Automobiltechnik VDI-Ber. 1653, 2001
gien dürfen jedoch deren Grenzen nicht unerwähnt [5] Mehrere Autoren: Elektronik im Kraftfahrzeug VDI-Ber. 1653,
2001 und VDI-Ber. 1789, 2003
bleiben: [6] Indra, F.: Intelligent Simplicity – Follow up Fort.-Ber. VDI
• Die physikalischen und chemischen Grundgesetze Reihe 12, Nr. 490, 2002, Bd. 1, S. 1 – 22
können auch durch noch so intelligente Werk- [7] Dais, S.: Hardware oder Software: Wer bestimmt Funktion und
Charakter eines Fahrzeugs? 11. Aachener Kolloquium Fahrzeug-
stoffe und noch so raffinierte Regelsysteme nicht und Motorentechnik 2002, Berichtbd. S. 29 – 33
übersprungen werden [8] VDA Techn. Kongresse 2001 bis 2010
• Geometrische Zielkonflikte können nur teilweise [9] Braess, H.-H.: Das intelligente Auto auf der intelligenten Straße
mit anderen Konstruktionsprinzipien gelöst wer- – Was hat PROMETHEUS gebracht? 5. Int. Stuttgarter Sympo-
sium Kraftfahrwesen und Verbrennungsmotoren 2003, Tagungs-
den. Weil die „negative Wandstärke“ wohl auf bericht S. 608 – 627
Dauer Traum bleiben wird, kann es ein Auto „in- [10] Mehrere Autoren: 100 Jahre Fahrzeugtechnik im VDI Sonder-
nen größer als außen“ nicht geben. ausgabe der ATZ 2004
• Neue Technologien müssen kompatibel sein. Das [11] Mehrere Autoren: Innovationsmotor Automobilindustrie VDA-
Forschungstag 2004, FAT Schrift 183
gilt sowohl auf der Komponenten- und System- [12] Mehrere Autoren: Fahrzeugelektronik im Fokus VDI-Ber. 1866,
ebene im Fahrzeug als auch bei der Integration des 2004, 1957 (2006), 2000 (2007), 2075 (2009)
Fahrzeugs in das Verkehrssystem. [13] Mehrere Autoren: 50 Jahre mot, Heft 1 + 2/2005
[14] Mehrere Autoren: Innovative Fahrzeugtriebe 2008, VDI-Ber. 2030
Da zudem mit steigender Komplexität der Technik [15] „Werkstoffe im Automobil“ ATZ extra, Januar 2007
grundsätzlich die Entwicklungszeiten, meist auch die [16] Mehrere Autoren: Jahrbücher VDI FVT Innovationen im Fahrzeug
Kosten, ansteigen, ist das „Genial-Einfache“ anzu- und Verkehr, ATZ extra 2008, 2009, 2010
[17] Mehrere Autoren: Kunststoffe im Automobilbau 2002 bis 2010,
streben, das letztlich ein besonders günstiges Nutzen- VDI-Gesellschaft Kunststofftechnik
Aufwand-Verhältnis aufweist, und damit hohe Wahr- [18] H. Winner et al.: Handbuch Fahrerassistenzsysteme, Vieweg
scheinlichkeit der Marktakzeptanz besitzt. Verlag 2009
[19] Mehrere Autoren: Fahrerassistenz und integrierte Sicherheit, VDI-
Ber. 2104, 2010
Literatur [20] Mehrere Autoren: Elektrisches fahren machbar machen, VDI-Ber.
[1] Seiffert, U.: The Automobile in the next Century FISITA-Kon- 2098, 2010
gress Prag, 1996, Paper K 0011
[2] Mehrere Autoren: Geschichte und Zukunft des Automobils
Sonderheft 100 Jahre ATZ, 1998
3 Fahrzeugphysik

3.1 Grundlagen Beispielhaft zeigt das Bild 3.1-1 die Anforderungen


an die Karosserie, d.h. bauteilbezogen [1] und
Die Fahrzeugphysik stellt die Vernetzung von physi- Bild 3.1-2 die funktionsbezogene Vernetzung unter-
kalisch-technischen Aufgaben an den Fahrzeugent- schiedlicher Anforderungen an das Gesamtfahrzeug
wickler dar. und für die einzelnen Subsysteme [2]. Die physikali-

Außenabmessungen
Raum-Management Nutzräume, Variabilitäten
Räume für Aggregate/Komponenten
Arbeitsplatz des Fahrers
Ergonomie-Management
Äußere Betätigungseinrichtungen
Außenströmungen (Luft, Wasser, Schmutz)
Strömungs-Management Innenströmungen
Wärmeerzeugung, Wärmeabfuhr,
Wärme-/Klima-Management -übertragung, -speicherung
Wärmeisolation
Diebstahlschutz
Unfallvermeidung
Sicherheits-Management Insassensicherheit
Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer
Verhalten nach dem Unfall
Vibrationen
Schwingungs- und Akustik-
Innenakustik, Radio-Sound
Management
(Außengeräusche)
Leuchten, Anzeigen
Elektrik-Management Bordnetz, Energiemanagement,
Datenbus-Systeme
EMV
Werkstoff-, Bauteil- und Werkstoffauswahl, Bauweisen
Gewichts-Management Korrosionsschutz
Herstellverfahren
Qualitäts- und Lebensdauer- Reparaturverhalten
Management Recycling
Betriebsfestigkeit
Kosten-Management Gebrauchstüchtigkeit

Bild 3.1-1 Physikalisch-technische Aufgaben der Fahrzeugentwicklung am Beispiel der Karosserie [1]

Komponenten, Karosserie Antrieb Fahrwerk Fahrzeugübergreifende


wichtige Aus- Subsysteme
legungspara-
Karosserie-Ausstattung
Rohkarosserie-Struktur

meter
Kühllufteintrittsfläche
Begrenzungsflächen

Bremsenbelüftungs-

Aggregatlagerung
Federungssystem

Kraftstoffsystem*)
Heizung, Lüftung,

Kraftübertragung

Fahrzeugelektrik
Geräuschkapsel

Zentralhydraulik
Schallisolierung

Nebeaggregate
Rohkarosserie-

Räder, Reifen
Bremssystem
eintrittsfläche

Abgasanlage
Vorderachse
Klimaanlage

Lenksystem

Hinterachse

Kühlsystem
Motorraum

Anforde-
Getriebe

rungen; Teil-
Motor

disziplinen der
Fahrzeugphysik
Aerodynamik X XX XX X X X**) XX X X X X X X X X X XX
Wärmetechnik XX XX XX X X XX XX X X X X XX X XX XX XX XX X XX XX X
Kraftstoffabhän- XX X X XX
gige Faktoren
Außengeräusche X XX XX XX XX X XX XX XX X XX X X
Pumpe Pumpe
Innengeräusche XX XX XX X XX XX XX XX XX XX X XX XX XX XX XX XX X XX X X X
Pumpe
Schwingungs- XX XX X X XX X X X XX XX XX XX XX XX XX XX XX
technik

XX starke Vernetzung **) äußere Teile *) Zum Kraftstoffsystem gehören insbesondere:


X schwache Vernetzung • Tank, Einfüllstutzen
• Kraftstoffpumpen
• Aktivkohlebehälter
• On board-System (Betankungsemission)
• Rollover-Ventil

Bild 3.1-2 Fahrzeugphysik als Vernetzung von Funktionen mit Systemen, Aggregaten und Bauteilen [2]

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_3,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
34 3 Fahrzeugphysik

schen Grundgesetze und deren Auswirkungen auf die Anhängerfahrzeuge beinhalten die Starr- und Gelenk-
verschiedenen Teilgebiete sind bei der Auslegung des deichselanhänger. Die Fahrzeugkombinationen sind
Fahrzeuges besonders zu berücksichtigen. Analog gilt alle Zugfahrzeuge, Pkw und Nkw mit Anhänger.
dies auch für Fahrzeuge mit reinem Elektromotor Die Klasseneinteilung selbst unterscheidet in Klasse
(Batterie oder Brennstoffzelle). L, M, N und O.
Ein sehr aktuelles Beispiel ist der Verbrauch an elekt- L sind Kraftfahrzeuge mit weniger als 4 Rädern,
rischer Energie „on board“ des Fahrzeuges. Er kann M sind Kraftfahrzeuge zur Personenbeförderung mit
eine Größenordnung von einem Äquivalent von bis mindestens 3 oder 4 Rädern mit einem Gesamt-
zu 3 l/100 km annehmen. Die Fahrzeugphysik erfor- gewicht > 1 t
dert die vernetzte Betrachtung aller Anforderungen M1 ≤ 9 Personen,
innerhalb des Produktentstehungsprozesses. Dies gilt M2 > 9 Personen, < 5 t Gesamtgewicht,
verstärkt für die elektrisch/elektronischen Komponen- M3 > 9 Personen, > 5 t Gesamtgewicht
ten, wo neue Hard- und Softwarestrukturen nach dem N sind Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung mit
Motto, 1+1+Vernetzung ist leistungsfähiger als 2, im mindestens 3 oder 4 Rädern mit einem Gesamt-
Bordnetz einsetzen müssen. Nicht die Optimierung gewicht > 1 t
einer einzelnen Eigenschaft oder Größe, sondern die N1 ≤ 3,5 t Gesamtgewicht,
Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems entscheidet N2 > 3,5 t ≤ 12 t Gesamtgewicht,
über den Produkterfolg. N3 > 12 t Gesamtgewicht
O bedeutet Anhänger oder Sattelhänger
3.1.1 Definitionen O1 einachsige Anhänger ≤ 0,75 t Gesamtgewicht,
O2 > 0,75 t ≤ 3,5 t Gesamtgewicht,
Obwohl in den einzelnen Kapiteln spezielle Defini- O3 > 3,5 t ≤ 10 t Gesamtgewicht,
tionen erläutert werden, wird im Folgenden eine Ge- O4 > 10 t Gesamtgewicht
samtübersicht gegeben.
Die Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft [3, 4] 3.1.2 Fahrwiderstand und Antrieb
definieren die verschiedenen Fahrzeugklassen. All-
gemein wird unterteilt in Gesamtwiderstand
– Straßenfahrzeuge Der Gesamtfahrwiderstand (Bild 3.1-3) wird wie
– mit Anhängefahrzeugen (nicht selbstfahrend) folgt berechnet:
– als Fahrzeugkombination.
FW = FRo + FL + FSt
Innerhalb der Gruppen gibt es beispielhaft folgende
Die Fahrwiderstandsleistung entspricht PW = FW ⋅ v.
Unterteilung:
Straßenfahrzeuge mit der Untergruppe Kraftfahrzeu- Rollwiderstand
ge – hierzu gehören:
Der Rollwiderstand entsteht aus der Formänderungs-
– Krafträder (einspuriges mit 2 Rädern), z.B. Motor- arbeit zwischen Reifen und Fahrbahn:
rad, Motorroller mit Hilfsmotor
– Kraftwagen (mehrspuriges Kfz). Hier unterscheidet FRo = f ⋅ G = f ⋅ m ⋅ g
man in Personenkraftwagen (Pkw) und Nutzkraft-
wagen (Nkw). Nur im Gelände spielt der Verformungswiderstand
des Untergrunds eine Rolle, er kann bei weichem Bo-
Zu den Personenkraftwagen zählen Fahrzeuge, die den mehr als 15 % des Fahrzeuggewichts betragen.
max. 9 Personen befördern können, Limousine,
Coupé, Kabriolett, Kombi, Nkw-Kombi, spezielle
FL
Pkw’s wie Wohnmobile und Multipurpose-Fahrzeuge
(MPV), SUV Sport Utility Vehicle sowie Gelände-
wagen. Zu den Nutzfahrzeugen gehören Fahrzeuge
für den Transport von Personen und vorrangig Gü- FSt
tern, z.B. der Kraftomnibus (mehr als 9 Personen ≈ 1/2 FRo
inkl. Gepäck), Kleinbus (max. 17 Personen), Linien-
bus, Überlandbus, Reisebus, Gelenkbus und Spezial- G
≈ 1/2 FRo b
busse. Zu den Lastkraftwagen (Lkw), die für den
Transport von Gütern vorgesehen sind, gehören der FW = Fahrwiderstand v = Fahrgeschwindigkeit
Vielzweck-Lkw für alle Transportaufgaben und der FRo = Rollwiderstand f = Rollwiderstandsbeiwert
FL = Luftwiderstand g = Erdbeschleunigung
Spezial-Lkw. FSt = Steigungswiderstand m = Fahrzeugmasse
Zu den Zugmaschinen, die dem Ziehen von Anhän- PW = Fahrwiderstandsleistung
gern oder Geräten dienen, gehören die Anhänger- und
Sattelzugmaschine und der Traktor. Bild 3.1-3 Gesamtfahrwiderstand
3.1 Grundlagen 35

Auf befestigten Straßen ergibt sich der Rollwider- und einer schrägen Anströmgeschwindigkeit vA gibt
stand fast ausschließlich aus der Walkverlustarbeit dann:
des Reifens. Bestimmend sind die Walkamplitude
r 2
(Einfederung, Radlast, Reifeninnendruck) und Walk- FL = cT ⋅ A ⋅ vA
frequenz (Fahrgeschwindigkeit). Reibung im An- 2
triebsstrang erhöht den Rollwiderstand. Neue roll- Die Luftwiderstandsleistung PL beträgt:
widerstandsarme Reifen erreichen im unteren Ge-
PL = FL ⋅ v
schwindigkeitsbereich Werte von 0,008. Bei
150 km/h werden Werte von 0,017 erreicht. Bild 3.1-4 Antriebswiderstand
zeigt die Abhängigkeit des Rollwiderstandes als
Funktion der Fahrgeschwindigkeit. Da der FRo in Der Antriebswiderstand beträgt FA = (1 – h) P/v, er
Radlängsachse definiert ist, ist er vom Fahrwider- beinhaltet die mechanischen Verluste vom Motor
stand aus der Seitenkraft (Vorspurwiderstand) zu un- über Getriebe bis zu den Radnaben (h = h1h2h3 ... hn)
terscheiden. Bei Kurvenfahrt nimmt mit steigenden mit P als Leistung und v ≈ der Fahrgeschwindig-
Schräglaufwinkeln auch der Rollwiderstand zu (Kur- keit.
venwiderstand [5]). Steigungswiderstand
Der Steigungswiderstand Fst = m ⋅ g sin b mit der
0,020
Radial H, V, W, Z
Masse m, die Steigungsleistung beträgt:
Radial S, T
Pst = Fst ⋅ v
Rollwiderstandsbeiwert f

Radial Eco

0,015 Beschleunigungswiderstand
FB = mred dv/dt. Bei Vernachlässigung der rotierenden
Bauteile mit kleineren Trägheitsmomenten an Wellen
0,010 und im Getriebe sowie mit dem Ansatz konstanter
Rotationsenergie (J ⋅ w2 = const) ist:
J R+ i2 Jm
mred = m +
0,005 rstat ⋅ r dyn
0 50 100 km/h
Geschwindigkeit v
mit JR, JM den Massenträgsheitsmomenten der Räder
und des Motors, i der Übersetzung, rstat, rdyn den Rei-
Bild 3.1-4 Rollwiderstand als Funktion der Fahrge-
fenhalbmessern (statisch und dynamisch).
schwindigkeit [3]
Zugkraftausnutzung
Luftwiderstand Bei gegebener Zugkraft Fx an den Rädern ergibt sich
Der Luftwiderstand FL wird nach folgender Formel für die Beschleunigung und Steigung
berechnet: FB + FSt = Fx – (FR + FL)
v2
FL = cW A ⋅ r ⋅ Zugkraftdiagramm
2
r = Luftdichte Aus dem Motorkennfeld M(n) können unter Berück-
v = Anströmgeschwindigkeit sichtigung des inneren Widerstandes FI die Zug-
A = Querschnittsfläche kräfte, die in den verschiedenen Gängen verfügbar
cW = Luftwiderstandsbeiwert sind, als Funktion der Fahrgeschwindigkeit Fx(v) er-
Die Luftwiderstandsbeiwerte betragen beim Pkw cW = mittelt werden. Die Volllastkurven sollten sich mög-
0,25 bis 0,4. Beim Lkw cW = 0,4 bis 0,9, die Quer- lichst ohne große Lücken an die Grenzhyperbel aus
schnittsfläche A beim Pkw 1,5 bis 2,5 m2 und beim der maximalen Motorleistung Fx = Pmax/v anschmie-
Lkw 4 bis 9 m2. Der Luftwiderstand entsteht durch gen. Auf der anderen Seite stehen die Summe der
die Umströmung und Durchströmung des Fahrzeugs. Fahrwiderstände S Fw (v). Bild 3.1-5a ist ein Beispiel,
Durch intensive Forschungs- und Entwicklungsarbeit aus dem das Bild 3.1-5b, ein auf gleichen Daten be-
konnte er in den letzten Jahrzehnten deutlich redu- ruhendes Fahrleistungsdiagramm für ein 6-Gang-Ge-
ziert werden. Bei höheren Geschwindigkeiten be- triebe abgeleitet ist. Die Betriebspunkte, Steigungs-
stimmt der Luftwiderstand den Fahrwiderstand und und Beschleunigungsreserven können den Kurven
ist damit die dominierende Größe für den Kraftstoff- entnommen werden. Man kann auch für einen opti-
verbrauch. Bei Schräganströmung unter einen Winkel malen Kraftstoffverbrauch abstimmen. In der Praxis
e zur Fahrzeuglängsachse ändern sich die Wider- fahren die Kunden doch sehr häufig in den ver-
standswerte cT(e). Mit derselben Querschnittsfläche brauchsungünstigeren Gängen.
36 3 Fahrzeugphysik

(121) 51 40 32 21 16 13 8 4 0%
14000 150

Steigung %
12000 (121) 125

Fahrleistung in kW am Rad
10000 1. Gang
Zugkraft in N am Rad

100
8000
51
75
40
6000
32
21 50
4000
16 13
8 4
6. Gang 0% 25
2000
90 kW
30 kW
0 0
0 25 50 75 100 125 150 175 200 225 250 0 25 50 75 100 125 150 175 200 225 250
a) Geschwindigkeit in km/h b) Geschwindigkeit in km/h

Bild 3.1-5 a) und b) Zugkraft- und Fahrleistungsdiagramm (Quelle ZF)

3.1.3 Kraftstoffverbrauch beeinflussende Maßnahmen


3.2 Aerodynamik 37

3.1.4 Dynamische Kräfte Bei Steigungen muss die Gewichtskomponente be-


rücksichtigt werden. Entsprechend Bild 3.1-6 b) gilt
Die Massenkräfte erzeugen beim Antreiben und
Bremsen nach Bild 3.1-6 die dynamische Achsverla- Achslast vorn:
gerung ΔF. G
FzV = ⋅ (lH ⋅ cos b – hS ⋅ sin b) ± DFz
l
l
lV lH Achslast hinten:
FW G
FzH = ⋅ (lV ⋅ cos b + hS ⋅ sin b) ± DFz
l
hW FB
hS 3.1.5 Weitere Definitionen
Zur Fahrdynamik sind weitere Definitionen wie Grö-
G l h /l –ΔFz G l v /l
G ßen der linearen Bewegung, der Drehbewegung,
ΔF z Kräfte und Momente, Radaufhängungen, Lenkung
und für Reifen und Räder in der ISO 8855 [6] und
DIN 70 000 [7] festgelegt.

Literatur
FSt = G sinb [1] Braess, H.-H.: Die Karosserie – Typisches Beispiel für Zielkon-
flikte und Zielkonfliktlösungen für Automobile, VDI-Bericht 968
FZV (1992), Entwicklungen im Karosseriebau, Düsseldorf
[2] Braess, H.-H.: nicht veröffentliche Unterlage
FZ = G cosb [3] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Kraftfahrtechnisches Taschenbuch,
G b
27. Auflage. Wiesbaden: Vieweg+Teubner, 1999
FZH
[4] Seiffert, U. in: Dubbel Taschenbuch für den Maschinenbau. Hei-
delberg: Springer-Verlag, 2001
Bild 3.1-6 a) und b) Statische und dynamische [5] Braess, H.-H., R. Stricker: Eigenlenkverhalten, Kurvenwiderstand,
Kraftstoffverbrauch – Ein weiterer Aspekt des Fahrzeugkonzeptes
Achslasten in der Ebene und in der Steigung und der Fahrwerksabstimmung, VDI-Ber. 418, 1981, „50 Jahre
Frontantrieb im Serienautomobilbau“, S. 275 – 280
Fahrdynamik und Fahrverhalten [6] ISO 8855 Road vehicles – Vehicle dynamics and road-holding
ability – Vocabulary, Dezember 1991
Bei der Fahrt in der Ebene, Bild 3.1-6 a), verändern [7] DIN 70000 Straßenfahrzeuge – Fahrzeugdynamik und Fahrverhal-
sich die Vertikalkräfte: ten – Begriffe, Januar 1994

dv h s
|ΔFz | = m ⋅
dt l
ΔFz = Veränderung der Vertikalkräfte
m = Fahrzeugmasse
dv/dt = Fahrzeugbeschleunigung, -bremsung
hS = Schwerpunkthöhe
l = Radstand 3.2 Aerodynamik
Die beschleunigte Fahrt bewirkt eine Veränderung
von ΔFz, die beim Antreiben zu einer Erhöhung der
3.2.1 Grundlagen
Achslast an der Hinterachse und beim Bremsen an Der Strömungswiderstand eines Körpers hängt von
der Vorderachse führt; diese Nickbewegungen müs- seiner Form, dem Medium, durch das er sich bewegt
sen bei der Fahrwerksauslegung berücksichtigt wer- und seiner Größe ab. Im Falle eines Pkw ist das Me-
den. Besonders störend werden im Fahrbetrieb die dium Luft, die in dem üblichen Geschwindigkeitsbe-
Längsschwingungen, die meistens mit Nickbewe- reich als inkompressibel angesehen werden kann. Ihre
gungen einhergehen, empfunden, so dass die Radauf- Stoffeigenschaften lassen sich durch die Dichte und
hängungen in Längsrichtung möglichst weich ange- die kinematische Zähigkeit beschreiben, die ihrerseits
bunden werden, ohne dass die anderen Steifigkeiten Funktionen des Luftdruckes und der Temperatur sind.
zu gering werden. Unter Normalbedingungen, p = 1013 mbar; t = 10 °C
Bei der stationären Fahrt greift der Fahrwiderstand Fw sind
in der Höhe hw am Fahrzeug an, damit ergibt sich
r = 1,225 kg/m3 n = 1,492 · 10–5 m2/s .
h
Δ Fz = Fw ⋅ w = Angriffspunkt der Widerstands- Die Dichte r ist die auf das Volumen bezogene Mas-
l kraft se der Luft und die Zähigkeit n (Viskosität) die Ei-
38 3 Fahrzeugphysik

+z +z
A A

T, W
W Widerstand
+x M L +y T Tangentialkraft
S A Auftrieb
S Seitenkraft
a s L Rollmoment
M Nickmoment
l N Giermoment
b Anströmwinkel
vS Seitenwindkomponente
vF Fahrgeschwindigkeit
T, W
+x N v∞
+b vS

–vF
S
+y

Bild 3.2-1 Koordinatensystem, Kräfte und Momente

genschaft, zwischen verschiedenen Luftschichten stand als Folge der Durchströmung von Kühlern, Fu-
Spannungen übertragen zu können, d.h. die physikali- gen und Lüftungssystemen.
sche Ursache für das Auftreten eines Reibungswi- Die aerodynamische Güte eines Fahrzeugs äußert sich
derstandes. im Widerstandsbeiwert cW, der als dimensionsloser
Bei der Wärmeabfuhr im Kühler und an Bremsen ist Widerstand nach der Formel
die Wärmeleitfähigkeit der Luft von Bedeutung: cW = W/A · q
l = 0,0242 J/m s K . bestimmt wird. Es gelten:
Der Luftwiderstand des Fahrzeugs entsteht durch die W [N] = Widerstand
Relativbewegung zwischen Fahrzeugoberfläche und A [m2] = Bezugsfläche (beim Auto die Projek-
Luft, und es ist demnach physikalisch zunächst (bei tionsfläche quer zur Fahrtrichtung)
Vernachlässigung drehender Räder, Grenzschicht auf q [N/m2] = Staudruck = r · v2/2
der Fahrbahn usw.) ohne Belang, ob sich der Körper v [m/s] = Fahr-/Windgeschwindigkeit
durch die ruhende Luft bewegt, oder ob ein ruhender In analoger Weise werden Auftriebs- und Seiten-
Körper mit gleicher Geschwindigkeit angeblasen kraftbeiwerte gebildet. Für Windkanalmessungen und
wird, wie z.B. ein Fahrzeugmodell im Windkanal. Strömungsberechnung wurde ein Koordinatensystem
Das Fahrzeug muss auf der Vorderseite Luft beiseite- gemäß Bild 3.2-1 definiert. Die Momente um diese
schieben, wodurch diese aufgestaut wird. Auf der Achsen können im Windkanal in der Regel direkt
Rückseite können die Luftteilchen nicht störungsfrei gemessen werden. Als Bezugslänge für die Momen-
zusammenströmen, was Unterdruck hervorruft. Die tenbeiwerte wurde der Radstand gewählt.
Summe dieser Drücke bildet den Druckwiderstand ei- Die Windkräfte werden üblicherweise in Windkanä-
nes Fahrzeugs. Durch Reibung zwischen der Oberflä- len gemessen, wobei für die Beiwertbestimmung
che und der zähen Luft entsteht der Reibungswider- der Serienfahrzeuge Messungen an Originalfahrzeu-
stand und durch Erzeugung von Wirbeln der induzierte gen in entsprechend großen Windkanälen herangezo-
Widerstand. Bei einem Pkw beträgt der Reibungswi- gen werden. In der Entwicklungsphase kommen auch
derstand ca. 10 %. Die beiden anderen Anteile sind von maßstäbliche Modelle zum Einsatz. Dabei ist die
der Form abhängig. So erzeugt ein Vollheckfahrzeug Feststellung wichtig, ob die sinngemäße Übertragung
mit steiler Rückfront ein großes Gebiet mit abgelöster der Versuchsergebnisse kleiner geometrisch ähnlicher
Strömung und damit großem Druckwiderstand, wäh- Modelle auf die Großausführung möglich ist. Dies ist
rend ein Fließheckfahrzeug zwar einen kleinen Druck- dann zulässig, wenn die Strömungen mechanisch
widerstand, dafür aber intensive Wirbel und damit ei- ähnlich sind, und die dimensionslose Kennzahl (Rey-
nen hohen induzierten Widerstand aufweist. Ein weite- noldszahl) Re = v∞l/n eingehalten wird. Bei Messun-
rer Widerstandsanteil entsteht als innerer Luftwider- gen im Windkanal bedeutet dies, dass die Geschwin-
3.2 Aerodynamik 39

digkeit um den Maßstabsfaktor vergrößert werden widerstands auf den Verbrauch hängt neben anderen
muss. Da andererseits die Machzahl Ma = v∞/a∞ nicht Parametern besonders vom Einsatzprofil eines Fahr-
zu groß werden darf, um Kompressibilitätseffekte zeugs ab. Je höher der Schnellfahranteil (Autobahn),
auszuschließen, werden Modellversuche bei Windge- desto größer der Einfluss. Setzt man einen Autobahn-
schwindigkeiten zwischen 60 und 80 m/s mit Mo- anteil von 1/3 voraus, und nimmt jeweils angepasste
dellmaßstäben nicht unter 1/5 durchgeführt. Dieser Getriebe an, dann zeigen Verbrauchsrechnungen für
Maßstab reicht zur genauen Festlegung von Radien einen Mittelklassewagen eine Reduktion des Ver-
u.U. nicht mehr aus. brauchs um ca. 3 % bis 4 % bei einem um 10 % ab-
Seit Mitte der dreißiger Jahre ist bekannt, dass Wind- gesenkten Luftwiderstand. Gleichzeitig nimmt die
kanäle für Kraftfahrzeugmessungen zweckmäßiger- Höchstgeschwindigkeit um ca. 3 % zu. Die Trendaus-
weise einen annähernd rechteckigen Düsenquer- sage lässt sich auch auf andere Fahrzeuge übertragen.
schnitt aufweisen, und sich der Messstreckenboden Aus diesem Sachverhalt leitet sich das Bestreben her,
unmittelbar an Düse und Auffangtrichter anschließt. Fahrzeuge mit niedrigem Luftwiderstand und niedri-
Etwa genauso lang gilt die Simulation mit bewegtem gem cW zu entwickeln. Bild 3.2-2 veranschaulicht,
Messstreckenboden (Laufband) als die physikalisch wie sich die durchschnittlichen cW-Werte im Laufe
richtigere, aber auch als relativ aufwändig. Darüber der Zeit veränderten. Dieses Diagramm ist weniger
hinaus wird auch aus dem gleichen Grunde die vom Stand der Erkenntnisse geprägt, als von der Ak-
Grenzschichtbeeinflussung (Absaugen und Ausbla- zeptanz der Fahrzeugformen bei den Kunden. Der
sen) bzw. eine Kombination aus beidem zur Verbes- Unterschied der technisch möglichen Forschungs-
serung der Simulation angewandt. Bisher haben sich fahrzeuge zu den tatsächlich gebauten verdeutlicht
diese Techniken im Renn- und Sportfahrzeugbereich diesen Zusammenhang. Die Abhängigkeit vom Kun-
durchgesetzt; dies als Folge der geringen Bodenfrei- dengeschmack erschwert den Versuch, dieses Dia-
heiten. Für normale Pkw ist die Notwendigkeit bei gramm anhand von Forschungsergebnissen in die Zu-
den Entwicklern umstritten, und die Anwendung fir- kunft zu extrapolieren.
menspezifisch. Aus Bild 3.2-3 geht hervor, in welchem Bereich heu-
Die numerische Simulation (CFD) ist zu einem fest tige Fahrzeuge angesiedelt sind. Das Diagramm ent-
etablierten Bestandteil des Entwicklungsprozesses in hält im Wesentlichen Pkw, die in Deutschland ver-
der Automobilindustrie geworden. Sie wird insbeson- kauft werden. Alle Fahrzeuge wurden unter gleichen
dere in frühen Projektphasen eingesetzt, wenn noch Bedingungen im gleichen Windkanal gemessen. Im
keine qualitativ hochwertigen Versuchsträger zur Bereich der niedrigen cW-Werte finden sich nahezu
Verfügung stehen. CFD erlaubt aufgrund der Fort- ausschließlich Stufenheckfahrzeuge. Die hohen Wer-
schritte bei Hard- und Software mittlerweile ein brei- te gehören zu älteren Fahrzeugen und solchen, bei
tes Anwendungsspektrum, das neben dynamischen denen wegen einer festgeschriebenen Designaussage
Versuchsanordnungen (bewegter Boden, drehende keine Kompromisse hinsichtlich der Aerodynamik
Räder) auch die Betrachtung thermischer Aspekte gemacht wurden.
(Wärmeübergangsphänomene) beinhaltet. In der Vergangenheit wurden in der Literatur [1] zwei
Aufgrund der Komplexität der Strömungsfelder um Verfahren vorgestellt, anhand derer man Fahrzeuge
Automobile sind jedoch nur solche Rechenverfahren mit niedrigen cW-Werten entwickeln kann:
industriell einsetzbar, die einen relativ geringen Re-
– Die Formoptimierung, die ausgehend von einem
chenaufwand erfordern. Diese Verfahren arbeiten mit
Grundkörper geringen Widerstandes über Grund-
sogenannten Turbulenzmodellen, die das numerische
form und Grundmodell zum Serienfahrzeug führt
Problem durch Modellannahmen soweit vereinfa-
– Die Detailoptimierung, die von einem unbehandel-
chen, dass der rechnerische Aufwand in akzeptablen
ten Designmodell zu einem akzeptablen Serien-
Grenzen bleibt – trotzdem sind selbst bei Nutzung ei-
fahrzeug führt
niger hundert Prozessorkerne oftmals Berechnungs-
dauern von einem oder mehreren Tagen notwendig. Dabei wurde unterstellt, dass die Formoptimierung
Die Modellannahmen führen fast immer zu gewissen grundsätzlich niedrigere Luftwiderstandsbeiwerte er-
Abweichungen zwischen simuliertem und realem gibt. Heute wird in der Automobilindustrie, von Son-
Strömungsfeld. Deshalb wird CFD bis auf weiteres derfahrzeugen abgesehen, die Detailoptimierung ein-
die Durchführung von Experimenten ergänzen, aber gesetzt, wobei aber die Erfahrung der letzten Jahre
nicht vollständig ersetzen. dazu geführt hat, dass die Ausgangsmodelle der De-
signer mit deutlich niedrigeren cW-Werten starten, als
3.2.2 Wirkungsbereiche das zur Zeit der Entwicklung der beiden Verfahren
der Fall war. Die Detailoptimierung startet meistens
3.2.2.1 Luftwiderstand/Fahrleistung
mit einer Phase der Strömungsberechnung, der sich
Die Aerodynamik oder präziser der Luftwiderstand eine weitere mit zahlreichen Messungen im Windka-
ist einer der Faktoren, welche die Fahrleistung und nal anschließt. Auf Grund der vielfältigen Möglich-
den Verbrauch beeinflussen. Der Einfluss des Luft- keiten zur Auswertung der umfangreichen Ergebnis-
40 3 Fahrzeugphysik

1,2

cw [–]

0,9

0,6

0,3

0
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020
Jahr

Bild 3.2-2 cW-Wert-Entwicklung

>0,40
riationen dargestellt. Es muss allerdings beachtet
0,40 werden, dass diese Ergebnisse jeweils nur für die un-
0,39 Mittelwert tersuchten Modelle gelten und nicht beliebig übertra-
0,38 cw = 0,326
0,37
gen werden können. Die Effekte sind nicht allgemein
0,36 superponierbar. Dies hat auch zur Folge, dass Mes-
cw-Werte

0,35 sungen an Modellen nur dann verlässliche Aussagen


0,34
0,33
liefern, wenn alle Details, wie Motorraum und Fahr-
0,32 werk dargestellt sind. Bild 3.2-4 zeigt z.B. den Ein-
0,31 fluss von Heckneigungswinkel und Hecklänge auf
0,30 den cW-Wert. Diese Kurvenschar wird aber noch
0,29
0,28 deutlich beeinflusst von dem Radius zwischen Dach
0,27 und Heckscheibe, der Form der C-Säulen, der Form
0 10 20 30 40 50 60 70 des Kofferraumdeckels, dem Heckdiffusorwinkel und
Häufigkeit
der Heckdiffursorlänge. Auch das Vorhandensein ei-
Bild 3.2-3 cW-Wert von 421 Pkw’s und Häufigkeit nes Bugspoilers zeigt Auswirkungen. Diese Abhän-
im Jahre 2010 gigkeiten erfordern genaugenommen, die Modelle in
mehreren Iterationsschleifen zu optimieren. Aus Kos-
daten einer Strömungsberechnung liefert diese auch ten- und Zeitgründen werden oft nur einzelne Para-
in späteren Entwicklungsphasen eines Kfz oftmals meter, und die jeweils in einer Messreihe optimiert.
wertvolle Hinweise auf Potentiale für aerodyna- Im Zielkonflikt zwischen der aerodynamisch ge-
mische Verbesserungen. Je nach Firmenphilosophie wünschten Außenform und den Wünschen und For-
wird die Detailoptimierung nur an vollmaßstäblichen derungen der anderen Entwicklungspartner wird oft
Modellen oder häufiger, beginnend mit kleinen Maß- auf das Potential des Unterbodens verwiesen, den der
stäben und dann im Vollmaßstab durchgeführt. Das Aerodynamiker modifizieren könne, ohne die anderen
Endresultat dieser Methode hängt davon ab, inwie- zu stören. Die Fahrzeugunterseite hat am Gesamt-
weit die Entwickler und Designer bereit sind, in ei- widerstand einen Anteil von ca. 50 %. Davon werden
nem Zielkonflikt auf Forderungen der Aerodynamik aber ca. 10 % durch die offenen Radhäuser und ca.
einzugehen und kann durchaus mit dem der Formop- 25 % durch die Räder erzeugt. Der Unterboden ist
timierung vergleichbar sein. mithin nur mit etwa 15 % am Gesamtwiderstand be-
Um ein Fahrzeug mit niedrigem cW-Wert zu ent- teiligt. An heutigen Pkw ist er schon weitgehend ge-
wickeln, müssen alle Karosserieparameter optimiert glättet. Es bleiben unvermeidliche Störstellen für die
werden. In der Literatur sind vielfältige Parameterva- Abgasanlage, die gekühlt werden und für die Ausdeh-
3.2 Aerodynamik 41

Die Auswirkungen der Aerodynamik auf das Fahr-


Fließheck
l verhalten waren vor 1930 wegen der erreichten ge-
l0
ringen Geschwindigkeiten und des kaum vorhande-
nen Interesses von untergeordneter Bedeutung. In den
dreißiger Jahren wurden zunehmend widerstandsre-
duzierte Fahrzeuge entwickelt, die große Giermoment-
Vollheck
anstiege über dem Schiebewinkel, schlechte Fahr-
f
werke und teilweise konzeptbedingt weit hinten lie-
gende Schwerpunkte aufwiesen. Da durch den Auto-
bahnbau zeitgleich höhere Geschwindigkeiten auch
0,04
gefahren werden konnten, trat erstmals das Phänomen
Δc W [–] Seitenwindempfindlichkeit in Zusammenhang mit der
0,02 Stromlinie auf [3]. Es entstand der Ruf, dass wider-
standsarme Fahrzeuge seitenwindempfindlich seien.
15 30 45 60 75 90 Die Weiterentwicklung der Fahrwerke und der Über-
Neigungswinkel f [°]
–0,02 gang zu vorne liegenden Motoren haben dieses Pro-
blem jedoch soweit reduziert, dass heute meist wenig
–0,04 Neigungs- l0
länge l Aufwand betrieben wird, um Formen mit niedrigem
–0,06 0,09 Giermoment zu finden. In Einzelfällen können jedoch
0,18 bei Fahrzeugen mit gerundeten vertikalen Heckkanten,
–0,08
0,27 d.h. ohne definierte Abrisslinien, spürbare Seitenwind-
–0,10 0,36 effekte auftreten. Daher sind definierte Abreißlinien am
0,45 Heck – auch seitlich – anzustreben.
–0,12 Andererseits erreichen die Fahrzeuge heute Ge-
schwindigkeiten, die den Auftrieben an den Achsen
Bild 3.2-4 Einfluss der Heckgestaltung auf den Bedeutung zukommen lassen. Ab ca. 160 km/h wer-
cW-Wert den folgende Bewertungskriterien durch Auftriebe
beeinflusst:
nungsspielraum zur Verfügung stehen muss, für Ach-
sen, die eine gewisse Bewegungsfreiheit aufweisen – Verhalten beim Einlenken
müssen, für Spalte zwischen Tank und Bodenblech, – Kurvenwechselverhalten
die im Falle eines Heckaufpralls Verformungsweg für – Verhalten beim Spurwechsel
die Karosse bereitstellen, ohne den Tank zu zerstören – Lastwechselverhalten
und so weiter. Es bleibt bei einem üblichen Pkw ein – Lenkrückmeldung bei hohen Geschwindigkeiten
Potential, von ΔcW = 0,01 bis 0,02, das durch Unter- – Hochgeschwindigkeitspendeln
bodenverkleidungen ausgenutzt werden kann. Summarisch werden ein niedriger Auftriebsbeiwert
Insbesondere bei der Optimierung von Unterboden- an der Hinterachse und ein nicht zu weit darunter lie-
details liefern Windkanalmessungen und Computer- gender Auftriebsbeiwert an der Vorderachse ange-
simulationen unter Einbeziehung drehender Räder strebt. Die akzeptierten Werte sind firmenspezifisch
und der Relativbewegung zwischen Fahrzeug und und werden auch durch die Qualität des Fahrwerks
Straße (Laufbandtechnik) genauere Ergebnisse [2]. beeinflusst. So können ungünstige Auftriebsvertei-
3.2.2.2 Fahrsicherheit lungen teilweise durch Fahrwerksmodifikationen
kompensiert werden (siehe Kap. 7).
Die Umströmung eines Fahrzeugs führt zu Kräften in Wie schon der Luftwiderstand, so sind auch die ande-
die drei Richtungen und zu Momenten um die drei ren aerodynamischen Kräfte und Momente vor allem
Achsen des fahrzeugfesten Koordinatensytems (Bild auch Räder, Motorraumdurchströmung usw. durch die
3.2-1). Während die Kraft in Längsrichtung, der Wi- äußere Form zu beeinflussen. Derartige Modifikationen
derstand, die Fahrleistungen beeinflusst, haben die müssen in einer frühen Entwicklungsphase in das De-
anderen Kräfte und Momente Auswirkungen auf das sign eingebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt stehen
Fahrverhalten und die Fahrsicherheit. Bei Seitenwind ausschließlich nicht fahrfertige Modelle zur Verfü-
und im strömungsmechanischen Einflussbereich an- gung, so dass Windkanalmessungen und Strömungsbe-
derer Fahrzeuge werden die Kräfte unsymmetrisch. rechnungen zur Beurteilung herangezogen werden müs-
Das Fahrverhalten und die Fahrsicherheit werden sen. Diese liefern quasistationäre Aussagen, d.h. Böen
fahrzeugseitig beeinflusst durch: usw. werden nicht richtig nachgebildet, und enthalten
– Fahrwerk noch keine Verknüpfung mit den anderen Parametern
– Schwerpunktlage des Fahrverhaltens. Es gibt Bestrebungen, dies in Fahr-
– Aerodynamik simulatoren nachzubilden [4] und aus Vergleichsmes-
– Antriebsleistung sungen vorher zu sagen [5]. In der Regel werden je-
42 3 Fahrzeugphysik

doch Erfahrungen mit Vorgängermodellen benutzt, um zustände gibt, in denen im Fahrgastraum großer Un-
von den Windkanalergebnissen auf das Fahrverhalten terdruck herrscht, kann das Abgas ins Fahrzeuginnere
zu schließen. gesogen werden. Die Gefahr wächst mit dem Quadrat
der Geschwindigkeit. Gegenmaßnahmen sind zum ei-
3.2.2.3 Benetzung und Verschmutzung nen die vollständige und auch bei hohen Geschwin-
digkeiten sichere Abdichtung des Hecks und zum an-
Ein fahrendes Auto ist oft einer inhomogenen, d.h. deren eine geeignete Wahl des Abgasendrohres, die
partikelbehafteten Strömung ausgesetzt. Die Band- Abgas gar nicht erst in diese Wirbelstruktur gelangen
breite der Teilchen reicht von Gas, Staub über Wasser lässt. Als vorteilhaft haben sich nach unten abge-
bis zu Insekten und Steinen. Entsprechend ihrer His- kröpfte Endrohre erwiesen. Noch besser sind Endla-
torie ist die Flugbahn der Teilchen zunächst unter- gen, bei denen das Abgas hinter ein Hinterrad gebla-
schiedlich zu den Stromlinien der Luft. Diese Unter- sen wird.
schiede führen zu Relativgeschwindigkeiten, aus denen • Staub folgt den im vorigen Abschnitt beschriebe-
wiederum Kräfte resultieren, welche die Flugbahn der
nen Gesetzmäßigkeiten und kann daher ebenfalls
Teilchen in Abhängigkeit von der Dichte beeinflussen.
ins Fahrzeug gesogen werden. Der von den Rä-
Während sich Abgase nach kurzer Übergangszeit na-
dern unter die Fahrzeugmitte geschleuderte Staub
hezu gleichförmig mit der Luftströmung bewegen,
gelangt durch die Heckwirbel auf das Fahrzeug-
fliegen Steinchen fast unbeeinflusst weiter. Demgemäß
heck. Gegen ein Eindringen ins Fahrzeuginnere
ist bei einer Betrachtung der Verschmutzung nach der
hilft nur ein geeignetes Dichtungssystem. Staub
Dichte der Teilchen zu unterscheiden:
gelangt aber auch aus den vorderen Radhäusern an
• Gasförmige Stoffe folgen weitgehend der Luft- die Türfugen und dabei insbesondere an jene
strömung. Hier ist besonders das Abgas von Inte- oberhalb der Schweller. Im Falle großer Unterdrü-
resse, das nicht ins Fahrzeuginnere gelangen soll. cke im Fahrzeug, wie zum Beispiel bei angehobe-
Da die Abgaskonzentration in Bodennähe zu- nem Hubdach, kann der Staub durch die Türfugen
nimmt, sollten Lufteinlassöffnungen möglichst und durch Wasserablauflöcher ins Türinnere und
hoch angebracht werden. Aus diesem Grund wer- von da entlang der Scheibenführung in den Fahr-
den diese in der Regel im Windlauf vor der Wind- gastraum gelangen. Da die Druckverteilung ent-
schutzscheibe platziert. lang der äußeren Türfugen variiert, entsteht eine
Das Fahrzeug ist aber auch seiner eigenen Abgas- Strömung in den Schächten. Auf diese Weise kann
schleppe ausgesetzt. Bild 3.2-5 zeigt die für ein Voll- Staub unterhalb der hinteren Türen, z.B. vor den
heckfahrzeug typische Strömung am Heck. Sie ist da- hinteren Radläufen, in die Schächte gesogen und
durch charakterisiert, dass sich hinter dem Stoßfänger zur vertikalen Türfuge an der A-Säule hinter dem
ein Wirbel bildet, der Luft und Inhaltsstoffe von der Vorderrad oder oben zur Fuge an den C-Säulen
Stoßfängerunterkante etwa 0,5 m nach hinten und transportiert werden. Dieser Staubeintritt kann zu-
dann wieder zur Heckklappe zurücktransportiert. Da- verlässig nur durch ein umlaufendes Dichtungs-
rüber befindet sich ein Wirbel mit entgegengesetztem system außen an den Türfugen verhindert werden.
Drehsinn. Diese beiden Wirbel haben eine gemein- • Wassertropfen sind nach ihrer Größe und Her-
same Mischzone, in der die Teilchen übergeben wer- kunft zu unterscheiden. Die von den Rädern auf
den. Der obere Wirbel trägt diese Teilchen dann bis nasser Fahrbahn unter das Fahrzeug geschleuder-
zur Abrisskante am Dach. Wird Abgas in den unteren ten Tropfen verhalten sich teilweise wie Abgas
Wirbel geblasen, dann breitet es sich durch diese und Staub. Leichte Tropfen werden wie Staub bis
Wirbel über die gesamte Heckfläche aus. Da es Fahr- oben an die Heckscheibe transportiert und mittel-
schwere erreichen nur die untere Heckfläche.
Schwere Tropfen können der Luftströmung nicht
folgen und bleiben im Strömungsnachlauf des
Fahrzeugs. Schmutzfänger hinter den Rädern ver-
stärken die Sprühwirkung in Richtung zur Fahr-
zeugmitte und sorgen damit eher für eine verstärk-
te Heckverschmutzung.
• Regentropfen sind infolge ihres Gewichtes und ih-
rer Trägheit durch die Fahrzeugumströmung kaum
zu beeinflussen. Ein Freiblasen der Windschutz-
scheibe scheitert schon aus energetischen Grün-
den. Um das auf die Windschutzscheibe auftref-
fende und von den Scheibenwischern zu den A-
Säulen geschobene Wasser daran zu hindern, auf
die Seitenscheibe zu gelangen und dabei die Sicht
Bild 3.2-5 Heckströmung am Vollheck-Pkw auf die Außenspiegel zu behindern, werden oft
3.2 Aerodynamik 43

Wasserfangprofile auf den A-Säulen eingesetzt. 3.2.2.4 Einzelkräfte


Eine weitere Möglichkeit besteht in der Auswahl Die Umströmung wirkt nicht nur auf das Fahrzeug
der Spiegelanbindung an die Tür. Direkt angebun- als Ganzes, sondern auch auf einzelne Bauteile. Die
dene Spiegel haben eine bessere Schutzwirkung Druckverteilung führt auf Teilbereichen der Oberflä-
als Spiegel mit Fuß. Leider führen die Abschirm- che (z.B. auf einer Seitenscheibe) zu örtlichen Kräf-
maßnahmen gegen Seitenscheibenbenetzung meist ten und Belastungen, die aus Widerstand, Auftrieb
zu höheren Luftwiderständen und Windgeräu- und Seitenkraft nicht direkt abzuleiten sind. Bild 3.2-6
schen, so dass ein Zielkonflikt zu lösen ist. zeigt die Druckverteilung im Längsmittelschnitt für
Bei nahezu allen Fahrzeugen entstehen auf den die Fahrzeugtypen
Seitenscheiben hinter den A-Säulen Tütenwirbel, – Kastenwagen
die auf dem Glas zu den A-Säulen hin drehen. Deren – Stufenheck-Pkw
Intensität ist so groß, dass das über die A-Säulen tre- – Vollheck-Pkw.
tende Wasser oft schon ab 100 km/h zunächst nach Die Unterdruckspitze am Fahrzeugbug des Pkw er-
oben und dann entlang des oberen Scheibenrahmens zeugt z.B. eine Kraft, welche die Motorhaube anhebt.
nach hinten transportiert wird. Das Problem der Bei einer Fahrgeschwindigkeit von 200 km/h beträgt
Seitenscheibenverschmutzung stellt sich daher vor- die aufwärts gerichtete Kraft im vorderen Motorhau-
wiegend in dem Geschwindigkeitsbereich 50 bis benbereich je nach Bugform 300 bis 500 Newton. Die
100 km/h. Kräfte auf die Seitenscheiben, unmittelbar hinter den
• Ein Sonderproblem stellt die Wasserschleppe hin- A-Säulen sind etwa halb so groß, erreichen aber unter
ter Scheibenwischern dar. Bei einer Reihe von Seitenwindbedingungen vergleichbare Werte. Diese
Fahrzeugen befindet sich der fahrerseitige Wi- Kräfte bewegen die Bauteile und öffnen u.U. die
scher in der Umkehrlage nahe bei und parallel zur Dichtungssysteme, oder führen durch Strömungsab-
A-Säule. In dieser Position befindet sich relativ lösung zu erhöhten Widerständen. Auch die Funktion
viel Wasser neben dem Wischerblatt und die Luft- kann beeinträchtigt werden. So ist beim Schließvor-
strömung über den Wischer erzeugt dahinter einen gang das Einlaufen abgesenkter Seitenscheiben in die
Wirbel, der in Scheibennähe zum Wischerblatt hin Fensterführung zum Teil nicht möglich.
dreht. Dieser Wirbel transportiert das Wasser Druckbelastungen können zum Eindellen von Bug-
teilweise wieder zum Wischer hin, so dass bei der spoilern führen, zum Abbrechen von Flügeln, zum
Rückbewegung des Blattes eine Wasserschleppe Verstellen von Außenspiegeln usw. Dabei sind nicht
entsteht. Abhilfmaßnahmen müssen im Einzelfall nur stationäre Kräfte zu berücksichtigen. Durch peri-
gesucht werden. odische Ablösungen können Schwingungen angeregt
• Schwere Teilchen, wie hochgeschleuderte Stein- werden, welche die Lebensdauer beeinträchtigen oder
chen sind durch Strömungsmaßnahmen nicht zu die Funktion stören. So bewirken periodische Wir-
beeinflussen. belballen, die vom Spiegelgehäuse ablösen, bei hohen

–1,5
a
cP b
c
–1

–0,5

0,5

1
0,2 0,4 0,6 0,8 x/l 1

a) b) c)

x
l
x
l
x
l Bild 3.2-6 Druckverteilung
im Längsmittelschnitt
44 3 Fahrzeugphysik

Fahrgeschwindigkeiten oft unerwünschte Schwin- Zweck deutlich besser geeignet, da Freistrahlen in-
gungen des Rückspiegelglases. Es wurde auch schon folge des zur Verfügung stehenden Druckgefälles oft
bei hohen Fahrgeschwindigkeiten Schwingen der nur eine geringe Reichweite haben und durch andere
Motorhaube beobachtet. Strömungen abgelenkt werden können.
Die aus den Windlasten resultierenden Formänderun- Die aerodynamische Optimierung der Kühlluftströ-
gen führen häufig zu kantigeren Außenkonturen und mung profitiert, wie die aerodynamische Optimierung
erhöhen damit noch Druckbelastungen. Schwingende selbst, vom Einsatz der neuen Bodensimulationstech-
Bauteile steuern zum Teil selbst die periodische niken [8].
Druckbelastung und verschärfen die Situation.
3.2.2.6 Innenraumklima
Diese Kräfte und Drücke sollten durch Windkanal-
versuche oder Strömungsberechnung möglichst früh- Das Heizungs-, Lüftungs- und Klimasystem eines
zeitig erfasst werden, um sie entweder durch Form- Fahrzeugs hat die Aufgabe, den Komfort und die Si-
änderung zu entschärfen oder in der konstruktiven cherheit der Passagiere, soweit sie von diesem System
Auslegung zu berücksichtigen. beeinflussbar sind, auf möglichst hohem Niveau zu
gewährleisten (siehe 6.4.3). Im relativ kleinen Pkw-
3.2.2.5 Kühlung/Bauteiltemperaturen Innenraum wirken folgende Größen auf die Passagiere:
Das Kühlsystem hat die Aufgabe, unter allen Be- – Temperatur und Temperaturschichtung
triebsbedingungen des Fahrzeugs Motor- und andere – Luftgeschwindigkeit und Verteilung
Bauteile so zu kühlen, dass keine Funktionsstörungen – Luftfeuchte
oder Beschädigungen auftreten. Weiter sollen die – Strahlung von Bauteilen
Heizung gut funktionieren, der Verschleiß minimiert – Direkte Sonneneinstrahlung
und der Verbrauch sowie die Leistung optimiert wer- – Luftinhaltsstoffe
den (Einzelheiten siehe 3.3).
Die Wärmeabfuhr geschieht entweder direkt vom Diese Parameter werden zum Teil durch den Luft-
Bauteil an die umgebende Luft, wie z.B. bei den strom im Fahrzeug beeinflusst. Die Luftströme sind
Bremsscheiben, oder über Kühlflüssigkeit (auch Öl) ihrerseits abhängig von beeinflussbaren Einstellungen
und durch Kühler. Ladeluftkühler unterscheiden sich der Lüfter, Ausströmer usw., der Plazierung der Zu-
aus aerodynamischer Sicht nicht von Wasserkühlern. und Abluftöffnungen und der Position von konstruk-
Alle Fälle setzen einen (Fahrzeug-)internen Luftstrom tiv und funktional nicht beabsichtigten Öffnungen
voraus. (Undichtigkeiten).
Um interne Luftströme zu erzeugen ist Energie not- Durch die Umströmung der Karosserie ergibt sich ei-
wendig. Bei schneller Fahrt wird bei den meisten ne Druckverteilung auf der Oberfläche, die beim Po-
Fahrzeugen das Druckgefälle zwischen Fahrzeugvor- sitionieren von Öffnungen ausgenutzt werden kann.
der- und Unterseite ausgenutzt, um die Luft durch die Austrittsöffnungen werden bevorzugt in Unterdruck-
Kühler bzw. durch den Motorraum zu leiten. Die gebiete gelegt. Dabei muss berücksichtigt werden,
Energie kann auch von Gebläsen aufgebracht werden, dass nicht im Falle starker Unterdrücke im Fahrzeug,
was insbesondere bei Langsamfahrt oder in Stand- wie bei geöffneten vorderen Seitenscheiben, Schad-
phasen erforderlich ist. Interne Strömungen erzeugen stoffe in den Fahrgastraum gesaugt werden. Liegen
wegen der größeren Widerstände grundsätzlich höhe- die Austrittsöffnungen zu nahe an den Ohren, können
re Verluste, als gleiche Volumenströme um das Auto Geräuschbelästigungen auftreten. Eintrittsöffnungen
herum. Dies äußert sich in einem Anstieg des Luftwi- werden oft in Überdruckgebiete gelegt um die not-
derstandes bzw. einem höheren cW-Wert. Im Interesse wendige Lüfterleistung zu minimieren. Andererseits
ist es von Vorteil, wenn der Heizungsbetrieb ge-
eines niedrigen Verbrauchs sind daher der Kühlluft-
schwindigkeitsunabhängig funktioniert. Aus diesem
anteil des Widerstandes und damit der Kühlluftvolu-
Grund wäre eine Position mit geringem Überdruck zu
menstrom auf das notwendige Minimum zu be-
schränken. Maßnahmen dazu sind: bevorzugen, Bild 3.2-7.
– Abschotten der Luftführung vom Eintritt bis zum Druckbeiwert cP
Kühler 1,0
– Eintrittsöffnung so positionieren und Strömungs-
0,5
kanal so formen, dass der Kühler gleichförmig
durchströmt wird 0,0
– Widerstandskörper und Ablösungen in der Luftfüh-
–0,5
rung vermeiden
– Kühlerquerschnitt anpassen –1,0
– Kühler mit hoher spez. Wärmeübertragungsleis-
–1,5
tung verwenden
Zur Bauteilkühlung wird oft ein Luftstrahl gezielt auf Bild 3.2-7 Druckverteilung auf der Oberfläche
das Teil gelenkt. Geschlossene Kanäle sind für diesen (Berechnung)
3.2 Aerodynamik 45

3.2.2.7 Windgeräusche jeweilige Fahrzeug abgestimmt werden müssen. Ge-


Die Fahrzeuginsassen sind in einem Auto einer Reihe lochte-, gezackte oder Netzwindabweiser sind in der
von Geräuschen ausgesetzt, die teilweise außerhalb des Regel wirkungsvoller als glatte, erzeugen aber bei
Fahrzeugs erzeugt und durch dessen Dämmung gemil- höheren Fahrgeschwindigkeiten ein unerwünschtes
dert werden. Die wichtigere Gruppe von Geräuschen Eigenrauschen. Die Tiefe des Dachausschnittes hat
wird aber durch das Fahrzeug bzw. im Fahrzeug selbst ebenfalls einen großen Einfluss, so dass einige Her-
hervorgerufen (siehe auch Kap. 3.4). Wenn man von steller auf Schiebeweg verzichten, um mit einem glat-
den gewollten Geräuschen, wie Radio, Warnsummer ten Windabweiser auszukommen.
usw. absieht, werden drei Quellen unterschieden: Mo- Wummern wird auch bei geöffneten Seitenscheiben,
tor-, Roll- und Windgeräusche. Bedingt durch die insbesondere hinten beobachtet, eine technische Ab-
erfolgreiche Verminderung der Motor- und Rollge- hilfmaßnahme ist bisher nicht bekannt. Der Fahrgast
räusche in den letzten Jahren können Windgeräusche kann diesen Zustand aber vermeiden, indem er zu-
heute nicht mehr außer Acht gelassen werden. sätzlich zum hinteren Seitenfenster auch ein vorderes
Windgeräusche haben folgende Ursachen: teilweise öffnet, beziehungsweise umgekehrt.
• Undichtigkeiten, vor allem in den Tür- und Fens- • Strömungsablösung an der Kontur. Als Folge der
terdichtungen, aber auch durch Öffnungen im Ablösungen entstehen Wirbel und turbulente
Blech. Bedingt durch die Verdrängung der Luft Druckschwankungen, welche die Fahrzeugober-
entstehen auf der Außenseite der Karosserie zum fläche beaufschlagen und zum Schwingen anre-
Teil erhebliche Unterdrücke. Die Bereiche unmit- gen. Diese Schwingungen teilen sich dem Insas-
telbar hinter den A-Säulen sind davon besonders sen als Geräusch mit. Bekannt sind insbesondere
betroffen. Im Fahrzeuginnern finden sich, je nach die A-Säulenwirbel, die ein breitbandiges Rau-
Betriebszustand der Lüftung und Heizung, ver- schen erzeugen. Die A-Säulenwirbel fallen beson-
gleichsweise geringe Unter- oder Überdrücke. ders unter wechselnden Seitenwindbedingungen
Falls die Dichtungen nicht vollständig anliegen, auf, und müssen entsprechend im Windkanal oder
kommt es zu einem Durchströmen dieser Spalte auf der Straße untersucht werden. Diese Ge-
von innen nach außen. Dieses Durchströmen ruft räuschbelästigung kann vermindert werden, indem
Geräusche hervor, die sich hauptsächlich im Fre- die A-Säulen-Wirbel durch Formgebung der A-
quenzbereich 4 bis 10 kHz bemerkbar machen. Säulen reduziert werden oder die Dämmung der
Als Folge der Unterdruckkräfte auf den Seitenschei- Seitenscheiben erhöht wird.
ben der vorderen Türen bewegen sich die Türrahmen Die von den Ablösungen am Heck erzeugten Ge-
bei hohen Geschwindigkeiten um bis zu 2 mm nach räusche liegen infolge der ursächlichen Fluktua-
außen. Falls das Türdichtungssystem nicht ausreicht, tionen im Bereich von 20 Hz, sind aber nur in Son-
um auch in dieser Situation noch zu dichten, kommt derfällen auffallend, wie z.B. bei Cabriolets mit
es zu besonders lauten Durchströmungsgeräuschen weicher Plastikheckscheibe geringer Dämmung.
im gesamten relevanten Frequenzbereich. Die Kon- • Ablösungen an vorstehenden Teilen wie Anten-
struktion eines effektiven Dichtungssystems ist die nen, Achsen, Spiegeln und Scheibenwischer. Hin-
wichtigste Aufgabe, um ein niedriges Windgeräusch- ter Stabantennen entstehen Karmánsche Wirbel-
niveau zu erreichen. straßen, die einzelne Töne hoher Intensität erzeu-
• Resonanzen in Hohlräumen, die durch die Strö- gen. Gegenmaßnahmen sind das Schrägstellen der
mung hervorgerufen werden. Strömungsrauschen Stäbe um mindestens 45° und Gebrauch von Wen-
von ca. 500 Hz bis 3 kHz entsteht, wenn offene deln um die Stäbe. Damit verschwindet der ein-
Tür- und Klappenfugen quer überströmt werden. zelne Ton, allerdings entsteht ein weniger auffäl-
Der Querschnitt der Kanäle hinter den Fugen be- liges Rauschen.
stimmt ebenfalls den Frequenzbereich. Die Laut- Achsen und Scheibenwischer sind aus funktiona-
stärke ist besonders davon abhängig, ob die Hin- len Gründen nicht strömungsgünstig zu profilie-
terkante der Fuge in die Strömung hineinragt, ren, daher sollten sie weitestgehend aus der direk-
oder zurückspringt (Schuppeneffekt). Durch ent- ten Anströmung entfernt werden. So können
sprechende Dichtungen kann dieses Rauschen Scheibenwischer z.B. unterhalb der Motorhaube
vermieden werden, ein geeigneter Schuppeneffekt abgelegt werden.
ist aber nur unwesentlich schlechter. Außenspiegel werden häufig als Geräuschquelle an-
In diese Gruppe gehört auch das Schiebedachwum- gesehen, da der Fahrer Geräusche aus ihrer Richtung
mern, das typischerweise bei ca. 20 Hz und häufig bei wahrnimmt. Sie sind aber nicht immer die Ursache
einer Fahrgeschwindigkeit von 40 bis 60 km/h auf- der Belästigung, Wirbel und Dichtungen an den A-
tritt. Durch die Überströmung des offenen Daches Säulen können ebenfalls beteiligt sein. Die Spiegel-
wird nach Art eines Helmholtzresonators der ganze geräusche selbst werden weniger vom Gehäuse oder
Innenraum zum Schwingen gebracht. Als Abhilfmaß- Ablösungen dahinter verursacht, als vielmehr durch
nahmen werden Windabweiser eingesetzt, die auf das die beschleunigte Strömung in einem zu engen Spalt
46 3 Fahrzeugphysik

zwischen Gehäuse und Scheibe, durch die Umströ- fangrinnen an den A-Säulen, schon vorher zu treffen.
mung des Spiegelfußes und durch Undichtigkeiten Funktionstests im Windkanal erfolgen ebenfalls in
zwischen Spiegelfuß und Tür bzw. vom Spiegelfuß der Prototypenphase.
ins Fahrzeuginnere. Bei den heute üblichen kurzen Entwicklungszeiten
• Turbulente Schwankungen in der fahrzeugnahen droht die Aeroakustik-Entwicklung zu spät einzuset-
Strömung, d.h. der Grenzschicht. Dieser Anteil ist zen. Sinnvolle Messergebnisse sind erst zu erwarten,
der nicht unterschreitbare Grenzwert, beim Fahr- wenn weitgehend seriennahe Prototypen mit richtigen
zeug aber von untergeordneter Größenordnung. Dichtungen und vollständiger Innenraumausstattung
zur Verfügung stehen. Zu diesem Zeitpunkt ist die
Die verschiedenen Geräuschursachen haben zur Fol- Entwicklung aber soweit fortgeschritten, dass bis zum
ge, dass eine aerodynamische Optimierung des Fahr- Serieneinsatz keine größeren Modifikationen mehr
zeugs die Geräuschsituation nur in Einzelfällen ver- möglich sind. Die aeroakustische Entwicklung muss
bessert. Die weitaus wichtigsten Geräuschquellen sind daher ebenfalls schon in der Designphase beginnen,
unvollkommene Dichtungssysteme, die wenig Rück- in der allerdings nur auf Erfahrungen mit Vorgän-
wirkung auf die Aerodynamik haben und dadurch germodellen zurückgegriffen werden kann.
auch wenig beeinflusst werden. Die in jüngster Zeit entwickelten Hybrid- oder Elekt-
rofahrzeuge unterscheiden sich hinsichtlich der Aero-
3.2.3 Einordnung dynamik, Aeroakustik usw. in keiner Weise von den
in die Gesamtentwicklung Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren. Die geschil-
Aerodynamische Erfordernisse haben direkten Ein- derten Betrachtungen, Verfahren und Forderungen
fluss auf die Außenform eines Fahrzeugs. Dement- gelten daher für sie in gleicher Weise.
sprechend muss die aerodynamische Entwicklung pa-
rallel zur Designphase verlaufen [4]. Die Strömungs- Literatur
berechnung ist dafür prädestiniert. Es hängt von [1] Hucho, W. H.: Aerodynamik des Automobils, Vieweg-Verlag,
den Firmengebräuchen ab, ob die Designmodelle im Wiesbaden, 2005
[2] Wäschle, A.: Numerische und experimentelle Untersuchung des
Windkanal optimiert, oder ob zusätzliche Wind- Einflusses von drehenden Rädern auf die Fahrzeugaerodynamik,
kanalmodelle eingesetzt werden. Im zweiten Fall ist Dissertation TU Stuttgart 2006
es unbedingt notwendig, die Parallelmodelle rechtzei- [3] Huber, L.: Die Fahrtrichtungsstabilität des schnellfahrenden
tig herzustellen und fortlaufend an den aktuellen De- Kraftwagens, DKF Heft 44, 1944
[4] Hucho, W. H.: Design und Aerodynamik – Wechselspiel zwi-
signstand anzupassen. Aerodynamische Anbauteile schen Kunst und Physik, in R.J.F. Kieselbach (Hrsg.) „The drive
sollten an Prototypen entwickelt oder zumindest to design – Geschichte, Ausbildung und Perspektiven im Auto-
überprüft werden. Im Regelfall ist es wenig hilfreich, design“ Stuttgart avedion, 1998
vorab Aerodynamikstudien anzufertigen, da sie vom [5] Wagner, A.: Ein Verfahren zur Vorhersage und Bewertung der
Fahrerreaktion bei Seitenwind, Dissertation TU Stuttgart 2003
konkreten Entwicklungsziel zu weit abweichen und [6] Riederer, S.: Strömungsphänomene im Bereich der vorderen Rad-
von den anderen Entwicklern nicht beachtet werden. häuser von Personenfahrzeugen, Dissertation TU München 2004
Ausnahme sind Sonderentwicklungen, bei denen sehr [7] Zivkov, V.: Experimentelle und numerische Untersuchungen der
niedrige cW-Werte hohe Priorität haben. aerodynamischen Kraftfahrzeugeigenverschmutzung, Dissertati-
on TU Karlsruhe 2004
Die für die Fahrsicherheit notwendigen Werte sollten [8] Kuthada, T.: Die Optimierung von Pkw-Kühlluftführungssyste-
vor Entwicklungsbeginn definiert sein und in der Ae- men unter dem Einfluss moderner Bodensimulationstechniken,
rodynamikentwicklung überprüft und sichergestellt Dissertation TU Stuttgart, 2006
werden. Dabei sind Auswirkungen auf die Form zu [9] Hucho, W.-H.: „Grenzwert-Strategie. Halbierung des Cw-Wertes
scheint möglich“. ATZ 2009, S. 16 – 23
erwarten. Nachträglich lassen sich diese Beiwerte nur [10] Fischer, A.: „Integration von Aerodynamik-Simulation in die
durch Spoiler und andere Anbauteile beeinflussen, Konzeptphase des Entwicklungsprozesses“. In: Faszination Ka-
was oft Probleme hinsichtlich der Akzeptanz durch rosserie. 4. Braunschweiger Symp. März 2009, S. 51 – 64
Designer, Konstrukteure, Finanzleute und vor allem
durch Kunden hervorruft.
Die Optimierung des Kühlluftanteils am Widerstand 3.3 Wärmetechnik
beginnt ebenfalls in der Designphase, in der auch die
3.3.1 Kühlung von Verbrennungsmotoren
Kühllufteinlässe gestaltet werden. Sie wird fortgesetzt
mit Versuchsträgern, bei denen neue Vorderwagende- Die Abwärme von Verbrennungsmotoren wird über
tails an aktuellen, ähnlich aufgebauten Serienwagen verschiedene Wege abgeführt. Während der Anteil im
getestet werden. Es folgt die Prototypenphase, in heißen Abgas direkt abgegeben wird, müssen die an
der Versuchsergebnisse weitere Modifikationen not- die Motorbauteile übertragenen Abwärmen indirekt
wendig machen. Erfahrungen mit Vorgängermodellen mittels eines flüssigen Mediums abgeführt werden.
beschleunigen den Entwicklungsprozess. Motorblock und Zylinderkopf werden dabei über das
Benetzung und Verschmutzung werden üblicherweise Kühlmittel gekühlt, das seinerseits die Abwärme über
in der Prototypenphase untersucht, jedoch sind einige den Kühlmittelkühler an die Umgebungsluft abgibt.
Entscheidungen, wie z.B. Verwendung von Wasser- Bild 3.3-1. Der Kolben wird dagegen durch das Mo-
3.3 Wärmetechnik 47

Ausgleichsbehälter • Abgas über kühlmittelgekühlten Abgaskühler an


Kühlmittel
• Getriebeöl über Getriebeöl-Kühlmittelkühler an
Entlüftung

Kühlmittel oder über Getriebeöl-Luftkühler direkt


an Luft

Heizkörper
• Kühlung von Nebenaggregaten direkt an Luft oder
über Kühlmittel
Letztendlich wird die Abwärme immer an die Umge-
Kühler

bungsluft abgeführt.
Motor Die steigenden Anforderungen bezüglich Kraftstoff-
verbrauch, Gewicht, Abgasemissionen, Lebensdauer,
Thermostat Fahrkomfort und geringem Bauraum haben dazu ge-
Kühlmittelpumpe führt, dass moderne Kühlsysteme von Verbrennungs-
motoren im Kraftfahrzeug mit wenigen Ausnahmen
Bild 3.3-1 Kühlkreislauf mit Ausgleichsbehälter die folgenden Merkmale aufweisen:
• Wasserkühlung der Motoren mit Zwangsumlauf
toröl heruntergekühlt. Bei Motoren höherer Leistung
reicht die Wärmeabfuhr über die Ölwanne nicht mehr des Kühlmittels durch eine über Riemen angetrie-
aus, so dass ein separater Ölkühler eingesetzt werden bene Kreiselpumpe
• Betrieb des Kühlsystems bei bis zu 1,5 bar Über-
muss.
Dabei müssen die Temperatur und der Massenstrom druck
• Einsatz einer Mischung von Wasser und Frost-
des Kühlmediums in jedem Betriebspunkt gewähr-
leisten, dass an keiner Stelle im Motor schädigende schutzmittel, meist Äthylenglykol mit einem Vo-
Überhitzungen entstehen. lumenanteil von 30 ... 50 % mit Inhibitoren gegen
Aufgeladene Motoren erfordern Ladeluftkühler, die Korrosion
• Aluminium in korrosionsbeständigen Legierungen
die bei der Kompression im Turbolader oder Kom-
pressor entstehende Wärme abführen. Dadurch erhöht als dominierender Kühlerwerkstoff
• Kunststoff als dominierender Werkstoff für Was-
sich die Dichte der Ladeluft (Dichterückgewinn) und
man erreicht eine höhere Zylinderfüllung und damit serkästen, Lüfter und Lüfterzarge
• In vielen Fällen Vormontage aller Kühlungskom-
eine höhere spezifische Motorleistung. Die NOx-Ent-
stehung wird durch die einhergehende Absenkung der ponenten des Frontendbereichs in einer funktiona-
Verbrennungstemperatur vermindert. len Einheit, dem sog. Kühlmodul
Seit der Einführung schärferer Abgasvorschriften Die heutigen Entwicklungstendenzen gehen in Rich-
(EU4) ist die Kühlung des rückgeführten Abgases tung:
beim Dieselmotor weit verbreitet. Sie beeinflusst die • Optimierung des Kühlluftstromes durch das Kühl-
Dieselruß- und NOx-Emission günstig [1]. modul und den Motorraum
Automatikgetriebe müssen ebenfalls gekühlt werden. • Einführung einer getrennten bzw. regelbaren Küh-
Besonders hohe Anforderungen an die Getriebeöl- lung von Motorblock und Zylinderkopf zur schnel-
kühler stellen CVT-Getriebe. leren Erwärmung und damit Kraftstoffreduzierung
Weiterer Kühlbedarf entsteht an Nebenaggregaten durch Verminderung von Reibungsverlusten
wie Servoölpumpe, Kraftstoffpumpe und Kältekreis- • Regelungseingriffe über Lüfterantrieb, Kühlmit-
lauf des Klimasystems. In Einzelfällen erfordern heu- tel-Thermostate (sog. Kennfeldthermostat) und
te auch schon Elektronikbauteile eine spezielle Küh- Ventile
lung, weil auch dort die Leistungsdichten zunehmen • Einsatz von Elektropumpen zur Regelung des
und eine konvektive Luftkühlung nicht mehr aus- Kühlmittelstromes
reicht. Bei Hybridfahrzeugen ist dies für die Leis- • Niedertemperaturkreisläufe mit einem Tempera-
tungselektronik bereits der Regelfall [32]. turniveau von ca. 60 °C zur Kühlung von Lade-
Die gängigen Übertragungswege der Abwärme für luft, Elektronik und anderer sensibler Bauteile
die einzelnen Kühlaufgaben sind nachfolgend zu- • Integration von Ladeluft-Kühlmittelkühlern in das
sammengestellt: Ansauggehäuse zur Reduzierung des Ladeluftvo-
• Motor über Kühlmittel und Kühlmittelkühler an lumens bzw. Ladeluftdruckabfalls [33, 34]
Luft • Erhöhung der Kühlleistung durch zusätzliche Auf-
• Motoröl über Öl-Kühlmittelkühler an Kühlmittel gaben wie weitere Abgaskühlung oder Kühlmit-
oder über Öl-Luftkühler direkt an Luft telkühlung des Abgaskrümmers [31, 32]
• Luft oder Ladeluft über Ladeluft-Luftkühler direkt • Verringerung der Bauhöhe der Kühler zur Erfül-
an Luft oder über Ladeluft-Kühlmittelkühler an lung der Vorschriften des Fußgängerschutzes
Kühlmittel (Niedertemperaturkreislauf ist dann er- Neben den zahlreichen Entwicklungsaktivitäten für
forderlich) [30] noch kompaktere, leichtere und effizientere Kompo-
48 3 Fahrzeugphysik

nenten bekommt vor allem das ganzheitlich konzi- Zur detaillierten Ermittlung der Kühlluftströmung
pierte Kühlsystem bzw. Thermomanagement immer durch den Fahrzeugvorderbau, die Wärmeübertrager
mehr Bedeutung im Hinblick auf die eingangs er- und den Motorraum kommen CFD-Methoden zum
wähnten Anforderungen [29, 32, 35]. Im Nutzfahr- Einsatz (Kap. 11.3). Mit ihrer Hilfe wird die Luft-
zeug gilt dies verstärkt, hier ist die Komplexität noch strömung dreidimensional berechnet. Dazu werden
größer. Neben zweistufiger Aufladung mit Zwischen- die geometrischen Daten des Fahrzeugs benötigt.
kühlung für die Ladeluft zeichnen sich weitere Mass- Man erhält die Geschwindigkeitsverteilung aus der
nahmen zur Nutzung der im Abgas verbliebenen sich Luftmassenströme und Druckverluste berechnen
thermischen Energie ab, die vornehmlich durch Wär- lassen. In der Kopplung mit der Strompfadmethode
meübetragung aus dem Abgas nutzbar gemacht wer- kann so bereits in der Konzeptphase der Einfluss in-
den kann [36]. homogener Anströmung auf das Verhalten des Kühl-
system ermittelt und geeignete Optimierungsschritte
3.3.1.1 Auslegung von Kühlern vorgeschlagen werden [16].
Grundsätzliches Ziel der Auslegung des Kühlsystems Die Auslegung des Kühlsystems orientiert sich am
ist, die geforderten Kühlleistungen mit möglichst Anforderungsprofil des Fahrzeuges. Thermisch kriti-
kompakten, leichten und kostengünstigen Kühlern in- sche Fahrzustände treten in der Regel bei maximaler
nerhalb des verfügbaren Bauraums zur Verfügung zu Motorleistung Pmax oder maximalem Drehmoment
stellen. Dafür ist ein Optimierungsprozess hinsicht- Mmax auf. Der Betriebsfall „Maximalgeschwindigkeit
lich der Anordnung und Dimensionierung der Wär- in der Ebene“ muss bei leistungsstarken Motoren zu-
meübertrager im Modul, der Auswahl der Rippen/ nehmend durch „mehrfache Vollbeschleunigung“ er-
Rohr-Geometrie der Kühler, der Leistungsaufnahme setzt werden, da bei Erreichen hoher Geschwindig-
des Lüfters, der Abstimmung auf die fahrzeugseitigen keiten die Motoren vielfach abgeregelt und nicht
Randbedingungen, oftmals auch des cW-Wertes und mehr unter Vollast betrieben werden. Das Zusam-
des Crashverhaltens durchzuführen. menspiel zwischen Kühlmittelkühler, Kühlmittelmas-
Gängiges Hilfsmittel für die Auslegung sind ana- senstrom (mechanisch angetriebene Pumpe) und die
lytische Programme zur Wärmeübertrager-Berech- Unterstützung des mangelnden Fahrtwindes durch
nung nach der eindimensionalen Stromfadentheorie den Lüfter in den Fahrzuständen „Schnelle Bergfahrt“
(Kap. 11.3). Bei Vorgabe der Kühlergeometrie, der oder „langsame Bergfahrt mit Anhänger“ sind für die
Wärmeübergangs-, Wärmeleitungs- und Druckabfall- Auslegung relevant. Ebenso werden Einsätze in Eu-
beziehungen sowie der Stoffströme können aus den ropa oder Heißländern unterschieden. Immer sind
Eintrittsgrößen Druck und Temperatur die gleichen Fahrgeschwindigkeit, Umgebungstemperatur, abzu-
Größen am Austritt des Wärmeübertragers berechnet führende Wärmemengen und die Sollwerte für maxi-
werden. Unterstützt mit empirischen Daten aus lang- mal zulässige Kühlmittel-, Ladeluft- und Öltempe-
jähriger Messerfahrung mit einer großen Bandbreite raturen vorgegeben. Leistungsminderung durch Alte-
von Ausführungen können mit diesen Simulations- rung wird in der Auslegung indirekt durch höhere
programmen im Rahmen der Ähnlichkeitstheorie fast Sollwerte berücksichtigt. Typische Faustformeln und
beliebige Rippen/Rohr-Varianten in beliebigen Ab- Sollwerte für die wesentlichen Pkw Kühlungsarten
messungen und für beliebige Betriebspunkte sehr sind in Tabelle 3.3-1 zusammengestellt.
zielgenau vorausberechnet werden.
Heute sind fast nur noch Auslegungen ganzer Kühl- Tabelle 3.3-1 Typische Faustformeln und Sollwerte
module mit Voll- und Teilüberdeckungen von Wär- zur Kühlauslegung
meübertragern, Lüftern und Zargen gefordert. Ent-
Kühlmitteltemperatur 100 °C – 120 °C
sprechend werden für diese Module sog. Topologie-
Kühlmittelvolumenstrom 5.000 ... 25.000 l/h
Modelle mit mehreren Strompfaden erstellt, von denen
jeder wieder nach der Stromfadentheorie berechnet
werden kann. Die gegenseitige Beeinflussung der Ladeluftmassenstrom 0,05 ... 0,6 kg/s
Komponenten wird dabei berücksichtigt [2, 16]. Maximal aus dem Kühlmittel
Schließlich wird dieses Hilfsmittel um Elemente wie abzuführendeWärmemengen
Fahrtwind, Lüfter und alle Druckverbraucher im beim Ottomotor 0,5 ... 0,6 Pmech
Fahrzeug wie z.B. Kühlergrill und Motorraumdurch- beim Dieselmotor IDI 1,0 Pmech
strömung ergänzt. Damit wird die iterative Berech- beim Dieselmotor DI 0,65 ...0,75 Pmech
nung des Kühlluftdurchsatzes im Fahrzeug und folg- Maximal zulässige Temperatur-
lich aller thermodynamischen Kenngrößen der Kühl- differenz:
anlage möglich. Gekoppelt mit einer breiten Erfah- Kühlmittel am Kühlereintritt zu ca. 80 K
rung aus Kühlleistungsmessungen im Windkanal er- Umgebungstemperatur
hält man ein sehr zuverlässiges und schnelles Simula-
tionshilfsmittel, das den Bedarf an Fahrzeugmessun- Ladeluft am Kühleraustritt ca. 35 K
gen deutlich reduziert. und Umgebungstemperatur
3.3 Wärmetechnik 49

3.3.1.2 Kühlerbauarten
Die verschiedenen Leistungsanforderungen wie sie
aus oben aufgeführten Daten hervorgehen und die un-
terschiedlichsten Bauraumanforderungen an Kühl-
mittel-, Öl- und Ladeluftkühler haben zu den unter-
schiedlichsten Kühlerbauarten geführt [4], eine Aus-
führung zeigt Bild 3.3-2.
So reichen z.B. die Systemtiefen (Erstreckung in
Kühlluftströmungsrichtung) für Kühlmittelkühler vom
kleinsten Pkw- bis zum größten Nkw-Kühler von
12 mm bis 55 mm, die kühlluftseitigen Stirnflächen
von 15 dm2 bis 85 dm2.
Für die Leistungsfähigkeit der Kühler ist in erster Li-
nie die Konstruktion der Rippen/Rohr-Geometrie, die
so genannte Kühlermatrix, entscheidend. Die in der
Vergangenheit vielfältig vorhandenen mechanisch ge-
fügten Systeme verlieren an Bedeutung und finden
sich heute vor allem noch im unteren Leistungsseg-
ment. Am Markt vorherrschend sind die gelöteten
Systeme, die durch stoffschlüssige Verbindung eine Bild 3.3-3 Gelötetes Flachrohrsystem
bessere Wärmeübertragung und damit höhere Leis-
tungsdichte ermöglichen. Bei Ladeluftkühlern reichen die Systemtiefen von ca.
Gelötete Systeme aus lotplattierten Flachrohren und 30 mm bis zu über 100 mm, die Stirnflächen von
gewalzten Wellrippen, Bild 3.3-3, werden heute übli- 3 dm2 bei Pkw bis zu 80 dm2 bei Nkw. Im Pkw sind
cherweise mit nur einem Rohr in der Systemtiefe ge- viele Anordnungen gebräuchlich: großflächig vor
fertigt, das zur Festigkeitssteigerung mit Sicken ver- dem Kühlmittelkühler, lang und schlank unter oder
sehen oder gefaltet sein kann. In beiden Fällen wer- neben dem Kühlmittelkühler oder ganz abseits des
den die Rohre in so genannten Böden in die Vertei- Moduls z.B. im Radlauf; daher die große Bandbreite
lerkästen geführt, in denen das Kühlmittel oder die in den Systemtiefen. Ladeluftkühler sind überwie-
Ladeluft auf die Rohre verteilt wird, Bild 3.3.2. gend gelötete Flachrohrkühler aus Aluminium und di-
Motorölkühler werden im Pkw bevorzugt motornah rekt von Kühlluft gekühlt. Zunehmend erfolgt die La-
untergebracht. Die Kühlung des Öls erfolgt dabei durch deluftkühlung auch motornah mit Kühlmittel [30].
das Kühlmittel. Daher werden hier Bauformen wie Dadurch entfällt die aufwändige Verschlauchung für
Flachrohr-, Rundscheiben- oder Stapelscheibenölküh- die Ladeluftführung vom Lader zur Fahrzeugfront
ler, Bild 3.3-4, aus Aluminium eingesetzt. Getriebeöl- und zurück. Als Bauarten finden wir bei der so ge-
kühler bei Pkw mit Automatikgetriebe können wiede- nannten indirekten Ladeluftkühlung heute Rippe/
rum luftgekühlte Flachrohr-Ausführungen sein oder sie Flachrohr-, Rippe/Scheibe-, aber auch Rohrbündel-
können als sehr schlanke, lang gestreckte Flachrohr- systeme mit kühlmittelseitigen Turbulenzeinlagen zur
kühler im Wasserkasten von Kühlmittelkühlern ein- Effizienzsteigerung, Bild 3.3-5.
gebaut sein, wo sie vom Kühlmittel gekühlt werden. Abgaskühler sind sehr hohen Temperaturen sowie
starker Korrosionsbeanspruchung ausgesetzt, daher
3 wird hier Edelstahl als Werkstoff bevorzugt. Als Füge-
5
4 1
3
2
1

1 Wasserkästen
2 Ölkühler (optional)
5 3 Dichtungen
4 Kühler-Netz
6 5 Seitenteile
6 Böden

Bild 3.3-2 Konstruktiver Aufbau eines Aluminium- Bild 3.3-4 Ölkühler in Stapelscheibenbauweise
Kühlmittelkühlers mit Kunststoffkästen (Werkbild Behr)
50 3 Fahrzeugphysik

Bild 3.3-6 Kühlmodul für Pkw (Werkbild Behr)

BILD 3.3-5 Indirekter Ladeluftkühler in Rohrbün- • Weniger Aufwand beim Fahrzeughersteller für
delbauweise (Werkbild Behr) Logistik und Montage, wenn das Modul vorgefer-
tigt angeliefert wird.
verfahren sind das Laser-Schweißen oder Nickel- In normalen Straßenfahrzeugen werden fast aus-
Löten üblich. Konstruktiv sind diese Kühler als Rohr- schließlich karosseriefeste Kühlmodule eingesetzt,
bündel ausgeführt, wobei die abgasführenden Rohre die an den fahrzeugseitig vorhandenen Längs- und
einfache Rundrohre oder Rohre mit speziellen leis- Querträgern befestigt werden. Meist dient einer der
tungssteigernden, aber verschmutzungsunanfälligen Wärmeübertrager als tragendes Modulelement, an
Strukturen sein können. seine Wasser- oder Luftkästen und Seitenteile werden
die anderen Komponenten mittels Rast-, Klemm-
3.3.1.3 Lüfter und Lüfterantriebe
oder Clipsverbindung befestigt. Zur Vereinfachung
Lüfter für die Motorkühlung werden heute fast aus- der Montage und im Falle hoher Variantenvielfalt
nahmslos in axialer Bauart in Kunststoff ausgeführt. kommen auch Tragrahmen zum Einsatz.
Zu der axialen Beschaufelung kommen je nach Be-
triebszuständen im Fahrzeug noch Mantelringe und 3.3.1.5 Gesamtsystem Motorkühlung
Einlaufdüsen an den Blattspitzen hinzu. Weitere typi-
Der Kühlungsbedarf ist vom momentanen Betriebs-
sche Lüftermerkmale können gesichelte Blätter und
zustand des Motors, der Nebenaggregate insbesonde-
ungleichmäßige Blatt-Teilung sein. Mit solchen Maß-
re Klimakreislauf und von der Umgebungstemperatur
nahmen kann der Lüfterwirkungsgrad gesteigert und
abhängig. Die erforderlichen Regelungseingriffe er-
die Geräuschemission vermindert werden.
folgen in gängigen Kühlsystemen heute noch durch
Beim Pkw werden Lüfter in einfacher oder doppelter
verhältnismäßig einfache Einrichtungen:
Anordnung meist saugend eingesetzt mit maximalen
Ein Thermostat, dessen wachsgefülltes Dehnelement
Lüfterdurchmessern von ca. 500 mm. Die als Lüfter-
auf die Temperatur des ihn umströmenden Kühlmit-
antrieb eingesetzten Elektromotoren nehmen bis zu
tels reagiert, lenkt den Kühlmittelstrom bei der ge-
850 W el. Leistung auf, wobei eine stufige Drehzahl-
wünschten „Öffnungstemperatur“ durch den Kühlmit-
variation über Regler, gegebenenfalls auch mit bürs-
telkühler hindurch. Bei tieferen Temperaturen wird
tenlosen Elektromotoren, vorgesehen wird. Direkt an-
der Kühler im Kurzschluss umgangen. So wird bei
getriebene, über eine Viskositätskupplung gesteuerte
sehr niedrigen Kühlmitteltemperaturen und im Kaltstart
Lüfter sind nur noch bei größeren Nutzfahrzeugen im
Kühlung weitgehend vermieden und bei sehr hohen
Einsatz.
Temperaturen für maximale Kühlung gesorgt.
3.3.1.4 Kühlmodule Elektrisch betriebene Lüfter werden in Abhängigkeit
der Kühlmitteltemperatur im Wasserkasten in verschie-
Kühlmodule sind vormontierte Baueinheiten, die aus denen Drehzahlstufen oder stufenlos zugeschaltet.
verschiedenen Komponenten des Kühlsystems und Alle weiteren Komponenten des Kühlsystems sind
dem Klimakondensator bestehen und eine Lüfterein- auf kritische Betriebsbedingungen ausgelegt, werden
heit mit Antrieb einschließen, Bild 3.3-6. Die Modul- dann aber ungeregelt betrieben. So wird die Kühlmit-
technik, bietet prinzipiell mehrere technische und telpumpe über einen Riementrieb von der Kurbel-
wirtschaftliche Vorteile [5]: welle angetrieben, Ladeluftkühlung erfolgt fast aus-
• Optimale Auslegung und Abstimmung der Kom- nahmslos ungeregelt, Ölkühlung nur in Einzelfällen
ponenten, thermostatisch geregelt.
• dadurch besserer Wirkungsgrad im Fahrzeug oder Solche Kühlsysteme waren bisher völlig ausreichend
kleinere, leichtere und kostengünstigere Kompo- und zeichnen sich durch einen sehr zuverlässigen Be-
nenten möglich. trieb aus. Die Zukunft wird aber auch hier, wie in vie-
3.3 Wärmetechnik 51

len anderen Systemen des Fahrzeugs, der elektroni- • dem Fahrer ein wenig ermüdendes Umfeld bieten,
schen Regelung gehören. Über Sensoren, die den • die Insassen vor unangenehmen Gerüchen und be-
thermischen Zustand von Motor und Kühlanlage er- lastenden Stoffen bewahren.
fassen, wird ein Steuergerät mittels der abgelegten
Die Klimatisierung trägt nicht nur zum Komfort bei.
Regelungsalgorithmen Eingriffe an Förderorganen
Sie leistet auch einen Beitrag zur Fahrsicherheit, da
(Lüfter, Pumpen) und Stellorganen (Ventile, Klappen,
die Konzentrationsfähigkeit des Fahrers in einem be-
Jalousien) auslösen, um über eine bedarfsorientierte
haglichen Klima signifikant höher ist als in heißer
Kühlung Antriebsenergie an Nebenaggregaten einzu-
oder kalter Umgebung (siehe hierzu auch Abschnitt
sparen, Abgas- und Geräuschemissionen günstig zu
6.4.3.1 und [8]). Eine sicherheitsrelevante und des-
beeinflussen und zur Komfortsteigerung und Ver-
halb gesetzlich geregelte Funktion [9] besteht darin,
schleißreduzierung Aufheizphasen verkürzen [35]. Da-
die Scheiben von Beschlag und Vereisung freizuhal-
für müssen alle Förder- und Stellorgane elektrisch
ten.
ansteuerbar sein, was heute schon bei el. Lüftern und
Fragen des Komforts und der Funktion des Klima-
Kühlmittelpumpen möglich ist. Der so genannte
geräts werden in Abschnitt 6.4.3 dieses Buches be-
Kennfeldthermostat ist in der Lage verschiedene Öff-
handelt. Der Fahrzeugklimatisierung kommt mit der
nungstemperaturen zu fahren. Damit kann das Tem-
zunehmenden Elektrifizierung des Antriebsstranges
peraturniveau des Kühlmittels an den Betriebszustand
eine zusätzliche Bedeutung zu, da der elektrische
des Motors angepasst werden. Weitere Nebenaggre-
Energiespeicher und die Leistungselektronik ausrei-
gate und Stellglieder des Kühlsystems werden zu-
chend gekühlt werden müssen. Ferner steht je nach
künftig elektrisch ansteuerbar sein [6, 7], [35].
Grad der Hybridisierung der Innenraumheizung deut-
Das Kühlsystem ist schon heute ein sehr komplexes
lich weniger Motorabwärme als bei herkömmlichen
System mit einer großen Zahl von Parametern, die
Fahrzeugen zur Verfügung. Im Falle des rein elektri-
sich gegenseitig beeinflussen. In Auslegung und Op-
schen Antriebs entfällt diese Wärme sogar vollstän-
timierung wird die virtuelle Kühlsystementwicklung
dig.
in zunehmenden Maße eingesetzt. ([16, 34], siehe
Damit die Klimaanlage ihre Funktion erfüllen kann,
auch Kap. 11.3).
muss sie durch den Heiz- und Kältekreislauf ausrei-
3.3.2 Beheizen und Kühlen chend versorgt werden. Die Komponenten dieser
des Fahrgastraumes Kreisläufe und ihre Wechselwirkungen zum Fahrzeug
werden hier erläutert.
Die Klimatisierung des Fahrgastraumes erfüllt mehre- Die Klimatisierung von Fahrzeugen erfolgt durch ei-
re Aufgaben: nen konditionierten Luftstrom, symbolisiert durch
• freie Sicht durch die Scheiben gewährleisten, Pfeile in Bild 3.3-7, der durch Düsen an der Instru-
• ein behagliches Klima für alle Insassen schaffen mententafel, im Fußraum und auch im Fondraum in
und dadurch die Kabine eintritt. Das Klimagerät (3) ist hinter der

3
4

Bild 3.3-7 Die Klimaanlage in einem Fahrzeug der Oberklasse


52 3 Fahrzeugphysik

Instrumententafel angebracht. Die Außenluft wird un- 14 350


Heizleistung (1000 l/h)
terhalb der Windschutzscheibe mithilfe eines Radial- 12 Heizleistung (600 l/h) 300

Luftseitiger Druckverlust in Pa
gebläses (1) über einen Filter (2) angesaugt, im Klima- Heizleistung (200 l/h)
10 Luftseitiger Druckverlust 250

Heizleistung in kW
gerät zunächst durch den Verdampfer (4) geführt, in
dem die Luft gekühlt und dabei getrocknet werden 8 200
kann. Danach erwärmt sich die Luft am Heizkörper (5). 6 150

3.3.2.1 Die Funktion Heizen 4 100


und ihre Komponenten 2 50
Kraftfahrzeuge werden in der Regel durch die Ab- 0 0
2 3 4 5 6 7 8 9 10
wärme des Verbrennungsmotors beheizt. Ein Teil des Luftdurchsatz in kg/min
Kühlmittels wird nach der Durchströmung des Mo-
torblockes für den Heizkreislauf abgezweigt und Bild 3.3-9 Leistung und luftseitiger Druckverlust am
strömt durch den Heizkörper, der im Klimagerät an- Heizkörper
geordnet ist. Dort wird die im Kühlmittel enthaltene
Wärme an die Luft, die in die Fahrgastkabine strömt, fes ist bei allen Fahrzeuggrößen darauf zu achten,
abgegeben. dass für den Heizkörper im Fahrgastraum ein Kühl-
Die Konstruktionsprinzipien der Heizkörper ähneln mittelstrom über 600 l/h zur Verfügung steht, damit
denen von Kühlmittelkühlern, wie sie in Abschnitt eine gute Wärmeübertragung vom Kühlmittel an die
3.3.1.2 beschrieben sind. Die Kühlmittelkästen sind Luft gewährleistet ist. Kann auslegungsbedingt kein
in vielen Fällen allerdings aus Aluminium (Bild ausreichend hoher Kühlmittelmassenstrom im Heiz-
3.3-8). Die Heizleistung ist in Bild 3.3-9 für Kühlmit- kreislauf von der Wasserpumpe des Motors zur Ver-
telmengen in Abhängigkeit des Luftmassenstromes fügung gestellt werden, werden elektrisch betriebene
dargestellt. Die angegebenen Werte gelten für eine Zusatzwasserpumpen eingesetzt (der typische Förder-
Lufteintrittstemperatur von –20 °C und eine Kühlmit- strom dieser Pumpen liegt bei 1.000 l/h bei 1.000 mbar
teleintrittstemperatur von +80 °C. Für andere Ein- Förderhöhe). Diese verhindern dann auch im Leerlauf
trittstemperaturdifferenzen ändert sich die Leistung einen Abfall der Heizleistung.
entsprechend. Die Steigerung der Motorwirkungsgrade führt zu-
Die Regelung der Heizleistung, die in die Fahrgast- nehmend zu einem Mangel an verfügbarer Wärme im
zelle eingebracht wird, erfolgt entweder auf der Kühlmittel. Bei –20 °C Außentemperatur liegt die er-
Kühlmittelseite durch elektrische Taktventile oder kon- forderliche Heizleistung im Beharrungszustand etwa
tinuierlich verstellbare Ventile (wasserseitige Tempe- bei 7 kW. Insbesondere bei modernen direkteinsprit-
ratursteuerung) oder durch Mischung von kalter und zenden Diesel- aber auch zukünftig bei Ottomoto-
warmer Luft im Heiz-/Klimagerät nach Heizkörper, ren sowie im elektrischen Betrieb von Hybrid- oder
der in diesem Fall immer mit dem vollen Kühlmit- Elektrofahrzeugen reicht die Abwärme nicht aus, um
telstrom beaufschlagt wird (luftseitige Steuerung, nä- eine schnelle Aufheizung nach Kaltstart zu gewähr-
heres hierzu siehe Kapitel 6.4.3). leisten oder sogar überhaupt ein komfortables Tempe-
Die Versorgung des Heizkörpers mit warmem Kühl- raturniveau zu erreichen. Als Lösung stehen mehrere
mittel hängt vom momentanen Betriebszustand des Zuheizkonzepte [10] zur Auswahl: Aktive Systeme
Motors ab. Massenstrom und Temperatur des Kühl- decken die Differenz zwischen Wärmeangebot im
mittels variieren stark mit der Motordrehzahl und der Kühlmittel und dem Wärmebedarf des Innenraums
Motorlast. Bei der Auslegung des Kühlmittelkreislau- durch eine weitere Wärmequelle, d.h. durch Einsatz

Bild 3.3-8 Gelöteter Flachrohrheizkörper (Werkbild


Behr) Bild 3.3-10 Brennstoffzuheizer
3.3 Wärmetechnik 53

Tabelle 3.3-2 Zuheizsysteme im Überblick


Zuheizsystem Beschreibung Merkmale
Brennstoffzuheizer Verbrennung von Kraftstoff erzeugt zu- Hohe Leistung, leicht zur Stand-
sätzlich Wärme, die direkt an das Kühl- heizung aufrüstbar, hoher Aufwand
mittel abgegeben wird. Der Brenn- (Kosten, Gewicht, Bauraum).
stoffzuheizer ist in den Kühlmittel-
kreislauf integriert.
Elektrische PTC Heizung Die Wärmeabgabe erfolgt direkt an die Spontane Wirkung, zusätzliche Heiz-
im Luftstrom Luft, die in die Fahrgastzelle strömt. wirkung durch höhere Motorbelastung
(Positive Temperature Die PTC-Charakteristik der Heizele- über den Generator, hohe Belastung
Coefficient, elektrischer mente verhindert unzulässig hohe des elektrischen Bordnetzes, heute
Widerstand steigt mit der Temperaturen (s. Bild 3.3-12). weit verbreitete Serienlösung.
Temperatur an)
Wärmerückgewinnung aus Die Wärmeabgabe erfolgt an das Praktisch kein zusätzlicher Primär-
dem Abgas Kühlmittel, zusätzlicher Druckabfall energiebedarf, eventuell muss
im Abgasstrang und zusätzlicher Wär- Motorsteuerung angepasst werden,
meeintrag in den Motorkühlkreislauf hoher Aufwand (Bauraum, Kosten).
muss berücksichtigt werden
Wärmepumpe Die Kälteanlage wird als Wärme- Geringer zusätzlicher Bauraumbedarf,
pumpe eingesetzt. abhängig von der Quellentemperatur
(Luft oder Kühlmittel) hohe Leistung
und Wirkungsgrade erzielbar, aufwän-
dige Verschaltung erforderlich.

107
Elektrischer Widerstand R in Ω

106

105

105

104

103

102
RN Rmin
101
RRef = 2 Rmin
100
0 50 100 TRef 150 200 250 300
Temperatur T in °C

Bild 3.3-12 Widerstands-Temperatur-Kennlinie


Bild 3.3-11 PTC-Heizung mit Leistungsregler eines PTC-Elements
(Werkbild Behr)
Neben aktiven Systemen werden passive Systeme be-
zusätzlicher Primärenergie. Dies können sein: Brenn- trachtet, wie z.B. Wärmerückgewinnung aus dem Ab-
stoffzuheizer (Bild 3.3-10), luftseitige elektrische Zu- gas mithilfe eines Abgaswärmeübertragers.
heizung (PTC-Heizung, Bild 3.3-11) oder zukünftig 3.3.2.2 Die Funktion der Kälteanlage
auch Wärmepumpen. Tabelle 3.3-2 gibt einen Über- und ihre Komponenten
blick über die verschiedenen Zuheizkonzepte.
In [11] und [12] werden Zuheizsysteme ausführlicher Die Kälteanlage im Fahrzeug beruht auf dem Kalt-
verglichen. [13] und [14] beschreiben neuere Ent- dampfprozess und funktioniert im Prinzip ähnlich wie
wicklungen zum Brennstoffzuheizer und zu elektri- ein Kühlschrank. Der Zuluftstrom zur Fahrgastzelle
schen Zuheizsystemen. Alle elektrischen Zuheizer be- wird an der Außenseite des Verdampfers abgekühlt,
sitzen über die zusätzliche Belastung des Motors aus Bild 3.3-13. Dabei kann die Luftfeuchtigkeit konden-
dem notwendigen Generatorbetrieb eine indirekte Zu- sieren. Auf der Innenseite des Verdampfers nimmt
heizwirkung. Näherungsweise wird etwa die gleiche das Kältemittel die Wärme der Luft auf und verdampft
Wärmemenge, die direkt elektrisch eingebracht wird, dabei bei Temperaturen unterhalb der Umgebungs-
auf indirektem Wege dem Kühlmittel zugeführt. temperatur und bei niedrigem Druck. Im Verdichter
54 3 Fahrzeugphysik

Kondensator mit
integriertem Sammler

Innerer
Wärmeüberträger

Expansionsventil
Verdampfer

Kompressor

Bild 3.3-13 Schema Kältekreislauf im Fahrzeug

(Kompressor) wird der Kältemitteldampf auf einen


höheren Druck gebracht und kann nun Wärme bei
höherer Temperatur (oberhalb der Umgebungstempe- Bild 3.3-14 Flachrohrkondensator mit integriertem
ratur) am Kondensator, der im Motorraum vor dem Sammler (Werkbild Behr)
Kühler angeordnet ist, an die Außenluft abgeben. Da-
bei verflüssigt sich das Kältemittel. Die Flüssigkeit und den Wirkungsgrad der Kälteanlage eine gute Be-
durchströmt den Sammler, der Kältemittel für unter- lüftung des Kondensators maßgebend. Es muss bei
schiedliche Betriebspunkte speichert, und wird dann der Integration ins Fahrzeug darauf geachtet werden,
im Expansionsventil wiederum auf niedrigen Druck dass Rückströmungen von bereits erwärmter Kühlluft
und Temperatur entspannt. Danach gelangt das Käl- durch den Kondensator vermieden werden. Der Kon-
temittel wieder in den Verdampfer. Der Kreislauf ist densator wird als gelötetes System mit Flachrohren
geschlossen. Zur Leistungs- und Wirkungsgradopti- und Wellrippen, Bild 3.3-14, ausgeführt [15].
mierung wird häufig zusätzlich noch ein so genannter Der Verdampfer ist innerhalb des Klimagerätes un-
„Innerer Wärmeübertrager“ eingesetzt [24]. In diesem tergebracht. Durch Erhöhung der Leistungsdichte
wird das flüssige Kältemittel nach Kondensator im konnten in den letzten Jahren die Bautiefen von ca.
Gegenstrom zum verdampften Kältemittel geführt, 65 auf 40 mm verringert werden. Bild 3.3-15 zeigt
um so die mögliche Enthalpiedifferenz im Verdamp- einen Flachrohrverdampfer dieser Art. Beim Abküh-
fer zu erhöhen. len der warmen Luft fällt am Verdampfer Luftfeuch-
Für die energetische Systemeffizienz und das Packa- tigkeit aus. Ein problemloser Wasserablauf ist des-
ge im Motorraum ist die Art des Expansionsorgans halb wichtig. Hierzu dienen hydrophile Beschichtun-
von großer Bedeutung. Ein thermostatisches Expan- gen, die zudem Wachstum von Bakterien und Mikro-
sionsventil sorgt durch die Regelung des Kältemit- organismen hemmen, die zu einem unangenehmen
telmassenstroms dafür, dass am Verdampferaustritt Geruch führen können.
nur Kältemitteldampf vorliegt. Neben einer guten Der Arbeitsstoff einer Fahrzeugklimaanlage darf in
Ausnutzung des Verdampfers in allen Betriebszu- der EU ab 2011 für neu typgeprüfte Fahrzeuge ein
ständen wird damit auch der Kompressor vor so ge- Treibhauspotenzial (GWP = Global Warming Poten-
nannten Flüssigkeitsschlägen geschützt. In diesen Sys- tial) von nur noch kleiner 150 aufweisen. Damit darf
temen wird der Sammler, wie oben beschrieben zwi- das bisherig verwendete Kältemittel R134a (GWP von
schen Kondensator und Expansionsventil eingebaut. 1430) für diese Fahrzeuge nicht mehr eingesetzt wer-
Alternativ zum thermostatischen Expansionsventil
kann als Drosselorgan ein Kapillarröhrchen („Orifice
Tube“) eingesetzt werden. Da das Orifice Tube kei-
nen veränderlichen Querschnitt besitzt, kann am
Verdampferaustritt noch Flüssigkeit vorliegen. Zum
Schutz des Kompressors muss daher in diesen Syste-
men in der Kältemittelleitung vom Verdampfer zum
Kompressor ein so genannter Akkumulator eingebaut
werden, der die Flüssigkeit abscheidet und speichert.
Ein Akkumulator hat etwa das doppelte Volumen ei-
nes Sammlers.
Für die Abstimmung des gesamten Wärmemanage-
ments im Fahrzeug sind vor allem die Wechselwir-
kungen zwischen Kondensator und Motorkühlsystem
wichtig. Zum einen muss die Wärmeabgabe des Kon-
densators bei der Auslegung der Motorkühlung be-
rücksichtigt werden, zum anderen ist für die Leistung Bild 3.3-15 Flachrohrverdampfer (Werkbild Behr)
3.3 Wärmetechnik 55

den. Ab 2017 gilt diese Vorgabe dann für alle Neu- 3.3.2.4 Auslegung der Klimaanlage
fahrzeuge. Als mögliches Kältemittel wird R1234yf
Der Bedarf eines Fahrzeugs zur Beheizung oder Ab-
favorisiert, dessen GWP bei 4 liegt. Grundsätzlich
kühlung des Innenraums hängt von den fahrzeugsei-
wäre es thermodynamisch gesehen auch möglich,
tigen und den klimatischen Randbedingungen ab:
CO2 (Kohlendioxid, auch als R744 bezeichnet) als
Kältemittel einzusetzen. Fahrzeugseitige Randbedingungen:
Dem Kältemittel wird zur Schmierung des Verdich-
• Masse und Wärmekapazität der Einbauten und
ters etwa 10 bis 20 % Öl zugemischt, dadurch müssen
Leistungseinbußen hingenommen werden. Umschließungsflächen
• Größe der Fahrzeugkabine
Die in der Klimaanlage befindliche Menge an Kälte-
• Wärmedämmung der Umschließungsflächen, z.B.
mittel ist in jedem Fahrzeug unterschiedlich und wird
wesentlich vom inneren Volumen der Bauteile, die Dach, Boden, Spritzwand
• Abmessungen, Winkel und Strahlungseigenschaf-
flüssiges Kältemittel führen, bestimmt. Typische
Werte sind 600 bis 900 g R134a bzw. R1234yf. ten der Scheiben
• Entlüftung und Durchströmung der Kabine, Leck-
3.3.2.3 Verdichter und Regelung luftströme durch Undichtigkeiten der Karosserie
der Kälteleistung • Umströmung des Fahrzeugs, je nach Fahr-
geschwindigkeit ändern sich der Wärmeübergang
Der Verdichter der Kälteanlage befindet sich im Rie- außen und die Ansaugbedingungen
mentrieb des Motors. Mit bis zu 6 kW Antriebs-
leistung zählt er zu den größeren Verbrauchern von Klimatische Randbedingungen:
Hilfsenergie, die durch den Motor zur Verfügung ge- • Außentemperatur
stellt werden muss. • relative Luftfeuchtigkeit
Nahezu ausschließlich werden in Fahrzeugen heute • Sonneneinstrahlung
Taumelscheibenverdichter eingesetzt. Eine schräg ste-
hende Scheibe wird durch die Verdichterwelle ange- Ausschlaggebend für die Auslegung der Fahrzeug-
trieben und bewegt über ihre Taumelbewegung meh- klimatisierung sind die Anfahrvorgänge, die ein
rere Kolben in kreisförmig angeordneten Zylinderboh- Mehrfaches der Leistung im Vergleich zur Erhaltung
rungen. Die Ansaugung und der Ausstoß des verdich- eines Beharrungszustandes erfordern. Eine Klimaan-
teten Gases erfolgt über Bohrungen mit Ventilen im lage im Fahrzeug wird üblicherweise so dimensio-
Zylinderkopf. In modernen Verdichtern lässt sich das niert, dass nach längerem Stillstand eine komfortable
Hubvolumen durch Neigung der Scheibe relativ zur Temperatur des Fahrgastraumes nach kurzer Zeit er-
Welle verändern. Dadurch kann man den Förderstrom reicht wird. Im Sommer bei vollem Sonnenschein
und somit die Leistung des Verdichters einstellen. In herrschen in einem parkenden Fahrzeug Temperatu-
Verdichtern mit unveränderlichem Hub (Fixed Displa- ren bis zu 70 °C. Typische Auslegungsbedingung ist
cement) wird die Leistungsanpassung durch periodi- 40 °C Außentemperatur, 40 % relative Luftfeuchtig-
sches Ein- und Ausschalten des Verdichters über eine keit und 1.000 W/m2 Sonneneinstrahlung.
Magnetkupplung erreicht. Der damit verbundene Ein- Im Winter kühlt sich der Fahrzeuginnenraum auf Au-
schaltruck muss besonders bei kleineren Motoren ßentemperatur ab. Man nimmt – 20 °C als Ausle-
über die Motorsteuerung kompensiert werden. gungswert an. Die Aufheizung mit optimalem Luft-
Als Vorteile für Taumelscheibenverdichter sind zu strom um 5 kg/min, der unter dem maximal mögli-
nennen: der gute Liefergrad im unteren Drehzahlbe- chen liegt, verläuft wie die obere Kurve in Bild 3.3-16
reich, die leicht realisierbare Leistungsregelung und zeigt. Die untere Kurve verdeutlicht die unkomfortab-
ein günstiges Verhalten im geregelten Bereich. le Situation für Fahrzeuge mit direkteinspritzendem
Der Trend geht zu geregelten Verdichtern mit verän- Dieselmotor ohne Zuheizer.
derlichem Hubvolumen. Zwischenzeitlich lösen be- Außer den klimatischen Bedingungen werden auch
reits die extern ansteuerbaren Verdichter diejenigen die Fahrzustände vorgeschrieben, typisch ist hier
mit interner Saugdruckregelung ab [17, 18]. Ziel der konstante Fahrt in der Ebene im 3. Gang mit 32 km/h
Regelung ist der Ausgleich der Drehzahländerung des oder 50 km/h. Zumeist wird auch das Verhalten des
Motors. Die externe Ansteuerung ist notwendige Klimasystems im Leerlauf des Motors betrachtet, da
Voraussetzung für kupplungslosen Betrieb. Der Ver- dieser Fahrzustand wegen der geringen Motordreh-
dichter wird dabei nicht mehr mechanisch getrennt, zahl zum Antrieb von Wasserpumpe und Klimaver-
sondern auf Nullhub geregelt, wenn der Kältekreis- dichter den ungünstigsten Fall sowohl für die Abküh-
lauf ausgeschaltet ist. Außerdem kann über eine ex- lung als auch für die Aufheizung des Fahrzeugs dar-
terne Regelung die Verdampfertemperatur so einge- stellt.
stellt werden, dass die Leistungsaufnahme am Ver- Eine typische Abkühlkurve für Betrieb in Umluft bei
dichter bedarfsgerecht erfolgt. Diese Maßnahme ver- voller Leistung des Radialgebläses erreicht Innen-
ringert den durch den Kältekreislauf verursachten raumtemperaturen von 25 °C nach 20 min und 23 °C
Kraftstoffmehrverbrauch. nach 60 min Betriebsdauer. Der zeitliche Tempera-
56 3 Fahrzeugphysik

30
–20 °C Umgebungstemperatur
25

20
Innenraumtemperatur [°C]

15

10

–5
Fahrzustand:
50 km/h@3. Fahrstufe
–10
Diesel-Fahrzeug mit el. Zuheizer
–15
Diesel-Fahrzeug ohne el. Zuheizer
–20
0 10 20 30 40 50 60 Bild 3.3-16 Aufheizkurve
Zeit [min] eines Fahrzeugs der Kom-
paktklasse

turverlauf mit maximaler Leistung der Klimaanlage und Temperaturen im Kältekreislauf. Dies bedeutet,
zeigt zu Beginn einen großen Gradienten, der in einen dass ein Kältekreislauf abschließend nur im Fahrzeug
Beharrungswert übergeht, siehe Bild 3.3-17. beurteilt werden kann.
Zu Beginn der Abkühlung treten am Verdampfer Zur Auslegung der Heiz- und Kältekreisläufe gewin-
Leistungen bis zu 8 kW auf, die jedoch in der Nähe nen Simulationsverfahren eine immer größere Bedeu-
eines Beharrungszustandes auf Werte um 2,5 kW fal- tung [16, 19, 22]. Dabei können stationäre Betriebs-
len. Der Luftstrom in den Fahrgastraum beträgt hier- zustände mit einer hohen Genauigkeit abgebildet wer-
bei zwischen 7 und 11 kg/min. den – dies gilt auch für die Aufheiz- und Abkühlvor-
Für die Beurteilung einer Kälteanlage sind folgende gänge der Fahrgastzelle, da diese bezüglich der Kreis-
Größen maßgebend: läufe mit ausreichender Genauigkeit als quasi-
• Kälteleistung stationär betrachtet werden können. Methoden zur Si-
• Wirkungsgrad mulation von dynamischen Vorgängen (z.B. Schalt-
• Geräusch/Vibration stöße oder auch Massenverlagerungen im Kältekreis-
• Regelverhalten lauf) sind in Entwicklung.
• Dauerlauffestigkeit
3.3.2.5 Kraftstoffmehrverbrauch
Diese Größen werden von den Komponenten selbst
durch die Klimaanlage
sowie von der Systemumgebung beeinflusst – also
vom Verlauf und den Eigenschaften der Kältemittel- Der von der Klimaanlage verursachte Kraftstoff-
leitungen, von der Belüftung des Kondensators sowie Mehrverbrauch eines Fahrzeuges für die Kühlung des
von den Betriebsbedingungen vorgegebenen Drücken Innenraums [23] setzt sich zusammen aus: 1. der für

70
60 min passive Aufheizung Fahrzeug A
Fahrzeug B
60
Fahrzeug C
Innenraumtemperatur [°C]

50

40

30

20
45 °C Umgebungstemperatur
Fahrzustand:
40 % relative Luftfeuchte
10 50 km/h@3. Fahrstufe
1000 W/m2
ab 60 min. Idle
Sonneneinstrahlung
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Bild 3.3-17 Typische
Zeit [min] Abkühlkurve des Innen-
raums
3.3 Wärmetechnik 57

den Verdichterantrieb erforderlichen Motorleistung, Regional kommen dazu noch Bestrebungen zur Ver-
2. dem Mehrverbrauch aufgrund des höheren Fahr- ringerung der Abhängigkeit vom Öl.
zeuggewichtes und 3. der benötigten elektrischen Großes Augenmerk liegt deshalb auf der weiteren Ef-
Leistung für Lüfter und Gebläse. fizienzsteigerung des Verbrennungsmotors und der
Die Extremfälle der klimatischen Randbedingungen Komponenten des Antriebstrangs. Verbrauchseinspa-
bestimmen bei der Auslegung die notwendige Leis- rungen in der Größenordnung von 20 bis 30 % wer-
tung und somit die Größe der Komponenten in Heiz- den als realistisch angesehen. Darüber hinaus können
und Kältekreislauf. Für den Kraftstoffverbrauch des weitere Potenziale durch zunehmende Elektrifizierung
Klimatisierungssystems hingegen sind die am häu- gewonnen werden z.B. [38]. Die Elektrifizierung
figsten auftretenden Betriebspunkte, nämlich Teillast- reicht dabei von der Umstellung der Nebenaggregate
fälle, maßgeblich. Daher berechnet man den Mehr- auf besser regelbare Elektroantriebe über hybride An-
verbrauch im Jahresmittel mithilfe von Lastprofilen, triebssysteme bis zum reinen Elektroantrieb.
in denen der Kraftstoffverbrauch in mehreren Be- Als alternative Antriebe werden hier deshalb aus-
triebspunkten bei verschiedenen Außentemperaturen schließlich elektrifizierte Antriebsysteme einschließ-
und Fahrwerten nach ihrer Häufigkeit gewichtet wer- lich der Brennstoffzelle betrachtet. Alle anderen al-
den [24]. ternativen Antriebsarten wie z.B. Gasturbinen, Stir-
Am Beispiel eines ausgewählten Fahrzeuges wurde ling Motoren oder Dampfprozesse spielen keine nen-
die Leistungsaufnahme des Verdichters anhand eines nenswerte Rolle in der Pkw Entwicklung.
Lastprofils für mitteleuropäisches Klima gemittelt Aus der Sicht des Thermomanagement (TM) ergeben
und mit der jährlichen Betriebsdauer des Fahrzeugs sich auf dem Weg der zunehmenden Elektrifizierung
multipliziert. Die Betriebsstundenzahl ist durch die andere Randbedingungen bestehender Funktionen
Annahme einer Jahresfahrleistung von 15.000 km und gänzlich neue Aufgaben.
und durch die mittlere Geschwindigkeit des zugrunde Generell steht mit zunehmender Effizienz des An-
liegenden Fahrzyklus von 33,6 km/h (Durchschnitts- triebstrangs weniger Abwärme zur Verfügung. Es ent-
geschwindigkeit im NEFZ – Neuer Europäischer Fahr- steht dann bei kalten Temperaturen ein Heizleis-
Zyklus) festgelegt. Damit ergibt sich ein durchschnitt- tungsdefizit. Bereits heute werden deshalb in effizien-
licher jährlicher Kraftstoffbedarf von 0,5 l/100 km für ten Dieselfahrzeugen elektrische Zuheizer eingebaut
die Kühlung des Innenraums. Weitere Maßnahmen [39]. In reinen Elektrofahrzeugen steht zukünftig bei
zur Reduktion des Kraftstoffverbrauchs sind, nur so begrenztem Energieinhalt der Batterie die Klimatisie-
viel und so oft zu Kühlen, wie für Komfort, Fah- rung im Sommer oder die Heizung im Winter mit der
rerkondition und Fahrsicherheit nötig ist. Wichtige Reichweite in Konkurrenz [40]. Deshalb müssen neue
Punkte sind die richtige Regelung, die Verringerung Ansätze zur Heizung und Klimatisierung zum Einsatz
des Wärmeeintrags in die Kabine, des Stromver- kommen.
brauchs und der Verdichterantriebsleistung.
3.3.3.2 Microhybride
3.3.3 Komponenten und Systeme zur Hei- Ein Fahrzeug mit Microhybridantrieb ist eigentlich
zung und Kühlung von Fahrzeugen kein Hybridfahrzeug im strengen Sinne, weil es aus-
mit alternativen Antriebssystemen schließlich mit einem Verbrennungsmotor fährt. Sei-
ne Merkmale sind [41]:
3.3.3.1 Einführung
• Reduktion sämtlicher parasitärer Energieverbräu-
Seit Bestehen von Kraftfahrzeugen wurden immer che
wieder Versuche unternommen, den klassischen • Start-Stopp Funktion im Stadtverkehr
Hubkolbenverbrennungsmotor (ICE = Internal Com- • intelligentes Lademanagement vorwiegend im
bustion Engine) durch andere Antriebsarten zu erset- Schubbetrieb
zen. Bislang blieben alle diese Versuche ohne flä- • Bordnetz ausschließlich auf 12 V
chendeckenden Markterfolg, da die Kombination aus • Energiequelle Kraftstoff
Verbrennungsmotor und hoher Energiedichte von • riemengetriebener Klimakompressor
flüssigen Kraftstoffen die Erfordernisse der Individu- Das Fahrzeug besitzt ein konventionelles Motorkühl-
almobilität technisch und wirtschaftlich gut erfüllen. system abgestimmt auf den eingesetzten Verbren-
In jüngster Zeit richten sich jedoch das öffentliche In- nungsmotor. Die effiziente Betriebsweise verursacht
teresse und die politischen und gesetzlichen Vorga- jedoch bei kalter Witterung ein Heizleistungsdefizit,
ben auf den Kraftstoffverbrauch. Grund dafür sind die das durch elektrische oder kraftstoffbetriebenen Zu-
endlichen Ölvorkommen und die damit einhergehen- heizer ausgeglichen wird.
de Verteuerung fossiler Kraftstoffe und die Klima- Während der Stopp-Phase arbeitet der riemengetrie-
veränderungen bedingt durch den CO2 Ausstoß. Ein bene Klimakompressor nicht. Hier kann ein Speicher-
weiterer Treiber zur Suche nach emissionsfreien An- verdampfer [42] den Klimakomfort aufrecht erhalten
trieben ist die Smogbelastung in den Megastädten. und unangenehme Gerüche durch den feuchtwarmen
58 3 Fahrzeugphysik

25
konventioneller Verdampfer
20
Verdampfergeruch ab 15 °C
Ausblastemperatur [°C]

15
Komfortgrenze 11 °C Zeitgewinn 50 Sek.
10
Speicherverdampfer
5

Motor + Kompressor aus


0

Bild 3.3-18 Ausblastem-


–5
Zeit peratur mit und ohne
Speicherverdampfer

Klimaverdampfer verhindern. Der Speicherverdamp- zur Motorkühlung. Darüber hinaus entsteht ein Kühl-
fer besitzt in einer zweiten Rohrreihe eine wachsarti- bedarf für die Batterie und für die Leistungselektro-
ge Substanz (PCM = Phase Change Material), das nik. Die abzuführenden Wärmeströme sind im Ver-
sich bei einer Temperatur von ca. 7 °C verfestigt. gleich zur Motorkühlung gering, da die Wirkungs-
Fehlt bei Motorstopp der Kältemittelnachschub kühlt grade dieser Komponenten hoch sind. Man benötigt
das PCM die Kabinenzuluft bis es wieder aufge- jedoch verschiedene Temperaturebenen der Kreis-
schmolzen ist. Damit kann ein Ampelstopp bis zu läufe:
50 Sekunden überbrückt werden. In der nachfolgen- • ICE und Antriebsstrang mit E-Motor < 100 °C
den Fahrphase wird der PCM „Kältespeicher“ wieder • Leistungselektronik < 60 °C
geladen. • Li-Ion Batterie < 40 °C
In Bild 3.3-18 ist der Verlauf der Ausblastemperatur
Die Temperaturniveaus ergeben sich aus den Lebens-
an den Kabinenausströmern mit und ohne Speicher-
daueranforderungen der elektrischen Komponenten.
verdampfer dargestellt. Es wird dabei deutlich, dass
Leistungshalbleiter und Li-Ion Zellen unterliegen
bei Motor- und damit Kompressorstopp die Ausblas-
einem temperaturabhängigen Alterungsprozess und
temperatur bei Einsatz eines Speicherverdampfers
dürfen deshalb über die o.a. Temperaturen hinaus
deutlich schwächer ansteigt. Erst nach 50 Sekunden
nicht dauerhaft betrieben werden. Leistungselektroni-
wird der kritische Wert von 12 °C erreicht. Ab 15 °C
ken werden deshalb mit einem separaten Niedertem-
beginnt die Wahrnehmung eines unangenehm feuch-
peratur-Kühlmittelkreislauf bei ca. 60 °C gekühlt.
ten Geruchs.
Die Li-Ion Batterien benötigen bei hohen Außentem-
3.3.3.3 Milde Hybride und Batteriekühlung peraturen die Unterstützung durch das Klimasystem
des Fahrzeugs, da die treibende Temperaturdifferenz
Als milde Hybride werden Fahrzeuge bezeichnet, die zur Kühlung bei 40 °C nicht mehr ausreicht, s. dazu
einen elektrischen Zusatzmotor im Antriebsstrang mit auch [43 – 46]. Bild 3.3-19 zeigt die verschiedenen
ca. 10 bis 20 kW Leistung haben. Dieser dient zur Systemansätze zur Kühlung von Li-Ion Batterien mit
Unterstützung des Anfahr- und Beschleunigungsvor- Anbindung an den Kältekreislauf des Fahrzeugklima-
gangs (Boosten) und im Generatorbetrieb zur Reku- systems.
peration der Bremsenergie. Merkmale eines milden Dargestellt ist jeweils der Kältekreislauf des Fahr-
Hybriden sind: zeugklimasystems mit Kondensator, Kompressor und
Verdampfer zur Kabinenkühlung.
• Start-Stopp Funktion s.o.
Bei der Luftkühlung fördert ein Gebläse Luft, die
• Boosten
bei hohen Außentemperaturen über einen Zusatzver-
• Bremsenergie rekuperieren
dampfer des Kältekreislaufs abgekühlt wird, in die
• Bordnetz 12 V und >120 V (Li-Ion Batterie)
Batterie. Die einzelnen Zellen in der Batterie sind auf
• Energiequelle Kraftstoff und Hochvoltbatterie
Abstand angeordnet und werden von der kalten Luft
• Kühlbedarf für Batterie und Leistungselektronik
umspült.
• I.d.R. kein elektr. Fahren und kein Nachladen an
Kompakter ist die Kühlung direkt mit Kältemittel aus
der Steckdose (plug-in)
dem Klimasystem. Die Batteriezellen sind dabei mit
• Elektrisch angetriebener Klimakompressor
gutem Wärmekontakt auf einer Kühlplatte mit Kanä-
Da der Antrieb durch den ICE erfolgt und der E-Mo- len angeordnet. In diesen Kanälen verdampft das Käl-
tor lediglich unterstützende Funktion hat, besitzen temittel und kühlt so die Batteriezellen gleichmäßig.
solche Fahrzeuge in vollem Umfang die Infrastruktur Bild 3.3-20 zeigt eine solche Batteriekühlplatte.
3.3 Wärmetechnik 59

Luftkühlung Kältemittelkühlung Sekundärkreislauf

Batterie- elektr. Heizer elektr. Heizer


zellen Verdampfer- Kühlmittel-
Platte Platte
Batterie- Batterie-
zellen zellen
elektr. Heizer
Batterie-
verdampfer
Verdampfer

Kabine
Kondensator

Verdampfer
Verdampfer

Kondensator
Kondensator
Batteriekühler Bild 3.3-19 System-
varianten Batteriekühlung

Bild 3.3-20 Batteriekühlplatte mit Kanalstruktur


(Werkbild Behr)
Bild 3.3-21 Chiller zur Batteriekühlung mit TXV
In Systemen mit Sekundärkreislauf wird ein separater (Werkbild Behr)
Kühlmittelkreislauf (Wasser-Glysantin) zur Batterie-
kühlung eingesetzt. Wie bei der Kältemittelkühlung • Start-Stopp Funktion s.o.
besitzt die Batterie eine Kühlplatte mit Kanälen für • Boosten s.o.
das Kühlmittel. Bei ausreichend niederen Außentem- • Bremsenergie rekuperieren s.o.
peraturen (<20 °C) erfolgt die Kühlung durch einen • Bordnetz 12 V und >300 V (Li-Ion Batterie)
Kühlmittel-Luft-Kühler. Hohe Außentemperaturen er- • Energiequelle Kraftstoff und Hochvoltbatterie
fordern wieder die Unterstützung durch den Kälte- • Kühlbedarf für Batterie und Leistungselektronik
kreislauf des Klimasystems über einen Kältemittel- • Rein elektrisches Fahren
Kühlmittel-Wärmeübertrager (Chiller). Der Chiller ist • Eventuell Nachladen an der Steckdose (plug-in)
als flüssig-flüssig Primärflächenwärmeübertrager aus- • Elektrisch angetriebener Klimakompressor
gebildet, Bild 3.3-21. Verdampfendes Kältemittel
kühlt darin das Kühlmittel. In der Betrachtung des Thermomanagements ähneln
sie den milden Hybriden solange die elektrische
3.3.3.4 Vollhybride Reichweite sehr gering ist (300 m bis ca. 3 km). Not-
falls wird auf elektrisches Fahren verzichtet, solange
Fahrzeuge bezeichnet man dann als Vollhybride, wenn die elektrische Energie nicht als Antriebsquelle zur
die installierte verbrennungsmotorische Leistung und Verfügung steht. Dies kann z.B. bei der Aufheizung
die elektrische Leistung in der gleichen Größenord- eines extrem abgekühlten Fahrzeugs mit vereisten
nung sind. Merkmale dieser Fahrzeuge sind: Scheiben oder auch bei der Abkühlung eines von der
60 3 Fahrzeugphysik

Sonne extrem aufgeheiztem Fahrzeug der Fall sein. In da bei der BSZ keine Wärmeabfuhr über das Abgas
diesen Fällen wird die elektrische Energie für die Zu- erfolgt. Zudem beträgt das Temperaturniveau der
satzheizung bzw. den Klimakompressor benötigt. BSZ-Kühlung lediglich ca. 80 °C statt ca. 100 °C.
Will man jedoch größere elektrische Reichweiten (bis Damit wird die treibende Temperaturdifferenz zur
ca. 30 km) bei ausgeschaltetem Verbrennungsmotor Umgebung kleiner. Die Komponenten zur Antriebs-
immer gewährleisten, um z.B in ausgewiesenen städ- strangkühlung sind deshalb entsprechend leistungs-
tischen Zonen nur rein elektrisch zu fahren, zehrt die stark auszulegen, sind jedoch gleicher Art wie dieje-
notwendige Energie zum Heizen oder Kühlen der nigen für Verbrennungsmotoren.
Kabine an der Reichweite. Prinzipiell hat man zwar
die Möglichkeit über den ICE oder eine separate 3.3.3.5 Batteriebetriebene Elektrofahrzeuge
Brennstoffheizung thermischen Komfort sicherzustel- Elektrofahrzeuge (BEV = Battery Electric Vehicle)
len, ob dies jedoch vom Markt und dem Gesetzgeber unterscheiden sich aus energetischer Sicht in drei we-
akzeptiert wird, ist noch nicht entschieden. sentlichen Punkten von allen Hybridfahrzeugen.
Unter den Vollhybriden nehmen die Range Extender 1. Die in der Batterie gespeicherte Energie beträgt
Vehicles (REV) eine besondere Stellung ein. Der An- nur ein Bruchteil derer von flüssigem Kraftstoff.
triebsstrang ist dabei weitgehend elektrisch. Eine Ein- Deshalb ist der Zwang zur Energieeffizienz zum
heit aus Verbrennungsmotor und elektrischem Gene- Vortrieb und zum Thermomanagment sehr hoch.
rator lädt bei Bedarf die Batterie nach. Somit kann die 2. Es besteht prinzipiell die Möglichkeit zur thermi-
elektrische Reichweite (ca. 60 km) auf den Wert von schen Vorkonditionierung während des Ladevor-
konventionellen ICE-Fahrzeugen (ca. 400 km) erwei- gangs, wenn das Fahrzeug mit dem Stromnetz ver-
tert werden. Als Range Extender können in Zukunft bunden ist.
auch Brennstoffzellen dienen. 3. Die abzuführende Kühlleistung des Antriebstrangs
Bild 3.3-22 zeigt ein Kühlmodulaufbau eines REV. ist um Faktoren geringer (<1 kW im Durch-
Die Anordnung der Kühler entgegen der Fahrtrichtung schnitt). Dadurch steht aber auch zum Heizen so
entspricht der erforderlichen Temperaturlage Batterie gut wie keine Abwärme mehr zur Verfügung.
(ca. 40 °C) – Klimakondensator (ca. 50 °C) – Elektro-
nikkühlung (ca. 60 °C) – ICE-Kühlung (ca. 100 °C). Die wesentlichen Funktionsmerkmale eines Elektro-
Vollhybride und REV, die am Stromnetz aufgeladen fahrzeugs sind:
werden, können thermisch vorkonditionert werden. • Start-Stopp Funktion systembedingt
D.h., Innenraum und temperatursensible Komponen- • Bremsenergie rekuperieren, s.o.
ten werden vor Fahrtantritt auf die erforderliche Be- • Bordnetz 12 V und >300 V (Li-Ion Batterie)
triebstemperatur gebracht. Dies gilt besonders für • Energiequelle Hochvoltbatterie
Aufwärmung/Abkühlung des Innenraums und die • Kühlbedarf für Batterie, Leistungswandler und E-
Vorkonditionierung der Batterie. Motor jedoch geringe Abwärmen
Wird als Range Extender statt eines ICE eine Brenn- • Rein elektrisches Fahren
stoffzelle (BSZ) verwendet, ändern sich die Anforde- • Laden an der Steckdose (plug-in)
rungen der Antriebsstrangkühlung dahingegehend, • Sämtliche Hilfsaggregate rein elektrisch (z.B. Kli-
dass höhere Wärmeströme abgeführt werden müssen, makompressor)

Batteriekühler

Kondensator

Modulrahmen

Leistungselektronikkühler

Kühlmittelkühler

Lüfterzarge

Lüftermotoren

Bild 3.3-22 Kühlmodul


eines REV
3.3 Wärmetechnik 61

Die Infrastruktur zur Kühlung des Antriebsstranges Reichweitenreduktion eines Elektrofahrzeugs durch
beschränkt sich auf Batterie, Leistungswandler und einen Einsatz eines solchen Heizers bei einer Außen-
E-Motor mit sehr geringen Abwärmen im Durch- temperatur von 0 °C. Durch Einsatz einer Wärme-
schnitt deutlich unter 1 kW. Hier kommen die Kom- pumpe kann die Reichweite wieder auf 125 km er-
ponenten NT-Kühler und Batteriekühlplatten und je höht werden.
nach Systemwahl ein Chiller zum Einsatz, s. dazu Solche Wärmepumpensysteme kann man durch Mo-
Kap. 3.3.3.3. difikation des bestehenden Kältekreislaufs darstellen.
Die besondere Herausforderung des Thermomanage- Entsprechende Entwicklungen laufen bei Automobil-
ments bei BEV besteht in der Heizung und Kühlung herstellern und Zulieferern.
der Kabine. Der Leistungsbedarf dieser Funktionen
ist in der gleichen Größenordnung wie der des Vor- Literatur
triebs und die Funktionen müssen auch im Stillstand, [1] Lutz, R.; Kern, J.: Ein Wärmeübertrager für gekühlte Abgasrück-
wenn der E-Motor steht, betrieben werden. D.h., der führung; 6. Aachener Kolloquium Fahrzeug und Motorentechnik
1997
Energiebedarf wird durch die Betriebsdauer und [2] Eichelseder, W.; Marzy, R.; Hager, J.; Raup, M.: Optimierung
nicht durch die Fahrstrecke bestimmt. Dabei muss des Wärmemanagements von Kraftfahrzeugen mithilfe von
zumindest immer eine freie Sicht gewährleistet sein. Simulationswerkzeugen, Tagung Wärmemanagement, Haus der
Technik Essen, 9/98
Effizientes Heizen und Kühlen von E-Fahrzeugkabi-
[4] Kern, J.: Neue Konstruktion gelöteter Ganzaluminiumkühler für
nen beinhaltet deshalb ein ganzes Bündel von Maß- Kfz, ATZ 100, 9/98
nahmen. Passive Maßnahmen zielen darauf ab die [5] Löhle, M.; Kampf, H.; Kern, J.: Integrierte Systeme und Produk-
Wärmeverluste im Winter bzw. den Wärmeintrag im te zur Motorkühlung und Innenraumklimatisierung, ATZ Son-
derausgabe Systempartner 98
Sommer zu verringern z.B. über Isolierungsmaßnah-
[6] Martin, M.: Elektronisch geregelte elektromagnetische Visco-
men oder über die Veränderung der Strahlungseigen- Lüfterkupplungen für Nutzfahrzeuge, ATZ 95, 5/93
schaften von Scheiben. [7] Ambros, P.: Beitrag der Motorkühlung zur Reduzierung des
Eine weitere Zielrichtung ist, Wärme und Kälte ge- Kraftstoffverbrauchs, Tagung Wärmemanagement, Haus der
Technik Essen, 9/98
zielt nur dort einzusetzen, wo sie benötigt wird, z.B.
[8] Kampf, H.: Konditionssicherheit des Fahrers – die Klimaanlage
durch Sitzheizung, Scheibenheizung oder gezielte als Instrument der aktiven Sicherheit, Vortrag auf: VDA Techni-
Luftführung (Luftschleier). scher Kongress, Stuttgart 2002
Wie schon im vorigen Kapitel ausgeführt, können E- [9] Richtlinie EWG 79/317 oder US Sicherheitsnorm FMVSS 103
[10] Flik, M.; Löhle, M.; Wilken, H.; Humburg, M.; Vilser, L.: Behei-
Fahrzeuge während des Ladevorgangs thermisch vor- zung von Fahrzeugen mit verbrauchsoptimierten Motoren. Vor-
konditioniert werden. Damit wird der Energiebedarf trag auf dem Wiener Motorenkolloquium 1996
für Heizen und Kühlen auf die Erhaltung begrenzt. [11] Kampf, H.; Kunberger, O.; Weinbrenner, M.: Klimatisierung
Die Kälteerzeugung zur Klimatisierung/Kühlung er- von Fahrzeugen mit kraftstoffsparenden Motoren, in Schlenz, D.
(Hrsg.): Pkw-Klimatisierung II, Expert Verlag, Renningen, 2002
folgt weiterhin über den Kompressionkreislauf, aller- [12] Haubner, F.; Koch, F.: Zuheizerkonzepte zur Verbesserung der
dings mit elektrischem Verdichter, Verdampfer und Heizleistung in verbrauchsoptimierten Fahrzeugen, in Schlenz, D.
Kondensator. (Hrsg.): Pkw-Klimatisierung II, Expert Verlag, Renningen 2002
Erforderliche Antriebsleistungen liegen bei ca. 3 kW. [13] Nothen, M.: Brennerheizungen als Zu- und Standheizungen im
Pkw, in Schlenz, D. (Hrsg.): Pkw-Klimatisierung, Expert Verlag,
Zur Wärmeerzeugung wird ein elektrischer PTC-Hei- Renningen, 2000
zer verwendet, ähnlicher Art wie er bisher auch [14] Beetz, K.: Elektrische Zuheizsysteme – Innovative Lösungen, in
als Zuheizer in Dieselfahrzeugen zur Anwendung Schlenz, D. (Hrsg.): Pkw-Klimatisierung II, Expert Verlag, Ren-
kommt. Die max. Leistung beträgt 3 bis 5 kW. Er ningen, 2002
[15] Condensers of Automotive Air Conditioning Systems with a 3-D
wird mit Hochspannung (>300 V) betrieben und muss Cell Model, VTMS Tagung Indianapolis 1997
entsprechend sicher ausgeführt sein. An kalten Tagen [16] Heckenberger, Th.: Simulationsverfahren im Thermomanage-
reduziert ein rein elektrischer Heizer allerdings die ment von Fahrzeugen, Automotive Engineering Partners, 6/2003.
Reichweite von 146 auf 81 km. Bild 3.3-23 zeigt die [17] Reichelt, J.: Leistungsgeregelte Verdichter zur Pkw-Klimatisie-
rung, Karlsruhe, 1987
[18] Cullen, P.: Variable Stroke Compressor Developments for Im-
proved Air Conditioning Performance, Fuel Economy and Drive
180 Ability, VTMS4, London, 1999
160 146 km
140 125 km
[19] Brotz, F.; Mersch, T.; Morgenstern, S.; Taxis-Reischl, B.: Pro-
120 gress in the Optimized Application of Simulation Tools in Vehi-
100 81 km cle Air Conditioning, VTMS5, Nashville, 2001
80 [20] Austin, K.; Botte, V.: An Integrated Air Conditioning (AC) Cir-
60
cuit and Cooling Circuit Simulation Model, VTMS5, Nashville
40
20 2001
0 [21] Ellinger, M.; Schröder, K.; Wagner, S.: Simulation von Klima-
ohne PTC Wärmepumpe anlage und Fahrgastzelle, Automobiltechnische Zeitschrift, Nr. 2,
Heizen (COP = 1) (COP = 4,5)
2002
[22] Hirate, T.; Fujiwara, K.; Györög, T.: Verbesserung von Fahr-
zeug-Klimaanlagen, KI Luft- und Kältetechnik, Nr. 12, 1999
Bild 3.3-23 Reichweite eines E-Fahrzeugs ohne und [23] Feuerecker, G.; Kampf, H.; Krauß, H-J.; Parsch, W.; Rinne, F.;
mit Wärmepumpe bei 0 °C; COP = Coefficient of Walter, C.: CO2 als alternatives Kältemittel, in Schlenz, D.
Performance (Hrsg.): Pkw-Klimatisierung II, Expert Verlag, Renningen, 2002
62 3 Fahrzeugphysik

[24] Graz, M.; Kuhn, P.; Obrist, F.; Parsch, W.; Rinne, F.: Kohlen- ness) wesentlich verschärft [22]. Ursächlich dafür ist
dioxid-R744 als Kältemittel in Fahrzeug-Klimaanlagen, Auto-
sowohl der Wettbewerbsdruck als auch die Vorgaben
mobiltechnische Zeitschrift, Nr. 12, 2001
[25] Cucuz, S.; Fröhling, J.; Heyl, P.; Wieschollek, F.: Kühlen und des Gesetzgebers. Der erreichte Fortschritt lässt sich
Heizen mit natürlichem Kältemittel CO2, System Partners ATZ/ beispielhaft am Konstantfahrt-Geräuschpegel aufzei-
MTZ, Mai 2002 gen. Dieser hat sich bei der jeweils nachfolgenden
[26] Adiprasito, B.: COP Comparison R134a vs. CO2, SAE Alternate
Refrigerant Symposium Phoenix, 2000
Fahrzeuggeneration im Durchschnitt um ca. 1,5 –
[27] Fröhling, J.; Heyl, P.: Heizen und Kühlen mit CO2-Pkw-Klima- 2 dB(A) verringert und liegt mittlerweile bei moder-
anlagen, in Schlenz, D. (Hrsg.): Pkw-Klimatisierung II, Expert nen Limousinen der Oberklasse im Wertebereich um
Verlag, Renningen, 2002 60 dB(A) bei 100 km/h (Bild 3.4-1).
[28] Dohmen, J. et al.: „Virtuelle Kühlsystementwicklung“. MTZ
12/2006, S. 966 – 973
Die Absenkung von störenden Geräuschpegeln allei-
[29] Edwards, S. et. al.: „CO2-Minderung bei einem Turbo-DI-Otto- ne ist jedoch keine hinreichende Bedingung für die
motor durch optimiertes Thermomanagement“; MTZ 01/2008 Kundenakzeptanz eines Fahrzeugs. Vielmehr verliert
[30] Kramer, W.: „Indirekte Ladeluftkühlung bei Diesel- und Otto- ein Fahrzeug bei zu niedrig gewähltem Motoren-
motoren“; MTZ 02/2006
[31] Borrmann, D. et. al.: „Zylinderkopf mit integriertem Abgas-
Geräuschniveau rein subjektiv an Dynamik, ein Ef-
krümmer als Beitrag zu ottomotorischen Downsizing Konzep- fekt, der zumindest bei sportlich positionierten Fahr-
ten“, 17. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik zeugen nicht erwünscht ist. Insofern ist es eine Tat-
2008 sache, dass ein absolut leises Fahrzeug ein Vehikel
[32] Dietz, S.; Korfmann, S.; Kammler, T.: „Requirements on Vehicle
Cooling Systems due to Alternative Drive Train Concepts and
ohne Seele darstellen würde. Vielmehr erwartet der
CO2 Reduction Measures“, Stuttgarter Symposium 2009 Fahrer beim Betätigen des Fahrpedals neben der Be-
[33] Szengel, R. et. al.: „Der TSI Motor mit 90 kW“, MTZ 07/2007 schleunigung des Fahrzeugs auch eine angemessene
[34] Hummel, K. et. al.: „Ansaugmodul mit indirektem und integrier- akustische Response des Motors [18].
tem Ladeluftkühler“, MTZ 11/2010
[35] Metzner, F. et.al.: „Innovatives Thermomanagement am Beispiel
Aufgrund dieser Zusammenhänge stellt sich dem
des neuen Volkswagen Touareg“, 19. Aachener Kolloquium Akustikingenieur nicht nur die Aufgabe störende Ge-
Fahrzeug- und Motorentechnik 2010 räusche auf ein verträgliches Maß zu reduzieren,
[36] Flik, M.; Edwards, S.; Pantow, E.: „Emissionssenkung bei Nutz- vielmehr muss er einen Schwerpunkt seiner Arbeit
fahrzeugen durch Thermomanagement“, Wiener Motoren Sym-
posium 2009
auch auf das Geräuschdesign nach psychoakustischen
[37] Kemle, A.; Manski, R.; Weinbrenner, M.: Klimaanlagen mit er- Grundsätzen legen [2]. Er hat sicherzustellen, dass
höhter Energieeffizienz; Automobiltechn. Zeitschrift Nr. 9, 2009 jeder Fahrzeugtyp über eine wohl definierte Ge-
[38] Bohr, B.: Antriebsstrangvielfalt und Elektrifizierung: Herausfor- räuschkulisse verfügt, welche den Kundenerwartun-
derungen und Chancen für die Automobilindustrie, Vortrag
Wiener Motorensymposium 2010
gen entspricht. Ein Roadster muss eine sportlich
[39] Molt, K.: PTC Heizung, ATZ 1998-08 ausgerichtete, leistungsbetonte Geräuschcharakteris-
[40] Bloch, A.: Eiszapfen, Auto Motor Sport, 1/2011, S. 142 ff tik mit reichlich akustischem Feedback an den Fah-
[41] Liebl, J.: Fahrzeugenergiemanagement – der Schlüssel zur CO2- reraufweisen, während bei einer Luxuslimousine das
Reduzierung, VDA Technischer Kongress VDA 2007
[42] Manski R.; Weinbrenner, M.; Kerler B.; Heinle, D.: Speicher-
zu realisierende Geräuschambiente beim Innen- und
Klimatisierung für Hybridfahrzeuge mit Start-Stopp-Funktion, Außengeräusch Souveränität und Noblesse vermitteln
ATZ 2006-12 muss. Eine besondere Herausforderung stellt die
[43] Neumeister, D.; Wiebelt, A.; Heckenberger, Th.: Systemeinbin- akustische Gestaltung von Fahrzeugen mit Hybridan-
dung einer Li-Ion-Batterie in Hybrid- und Elektroautos, ATZ
2010-04
trieb dar. Dabei ist es nicht nur notwendig, eine Reihe
[44] Wiebelt, A.; Isermeyer, T.; Siebrecht, T.; Heckenberger, Th.: neuer Störgeräusche zu eliminieren, vielmehr muss
Thermomanagement von Li-Ion-Batterien, ATZ 2009-08 auch das weitgehend geräuschlose elektromotorische
[45] Brotz, F.; Isermeyer, T.; Pfender, C.; Heckenberger, Th.: Küh- Fahren mit dem verbrennungsmotorischen Betrieb zu
lung von Hochleistungsbatterien für Hybridfahrzeuge, ATZ
2007-12
einem homogenen akustischen Charakter integriert
[46] Herrmann, H.-G.; Neumeister, D.; Wiebelt, A.: Li-Ion Batterien werden.
richtig gekühlt, Automobilindustrie Sonderheft Insight, Dezem-
ber 2010
[47] Schmiederer, K.: Thermomanagement als Zukunftsaufgabe im
80
Automobilbau, ATZextra 04/2011, S. 66 – 70
Schalldruckpegel [dB(A)]

75 Kompakt-Klasse

70

65
Luxus-Klasse
60
3.4 Akustik und Schwingungen
3.4.1 Einleitung
1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Während der letzten Dekaden haben sich die Anfor- Jahr der Markteinführung
derungen an die akustische und schwingungstechni-
sche Qualität von Fahrzeugen (im angelsächsischen Bild 3.4-1 Akustikniveau von Serienfahrzeugen bei
Sprachgebrauch NVH: Noise Vibration and Harsh- Konstantfahrt mit 100 km/h
3.4 Akustik und Schwingungen 63

Antrieb
Innengeräusch
• Standgeräusch
Luftschall- • Fahrgeräusch
Übertragungspfade • Betätigungsgeräusch
Rad/ • Störgeräusch
Fahrbahn

Um-
strömung Körperschall- Außengeräusch
Übertragungspfade • Standgeräusch
• Abfahrgeräusch
• Vorbeifahrgeräusch
Bild 3.4-2 Wesentliche
Mechatronik
Schallquellen, Übertra-
gungspfade und Geräusch-
phänomene

Werden solche Aspekte der Subjektivakustik konse- Störgeräusche zu großen Teilen von mechatronischen
quent über die gesamte Modellpalette eines Fahrzeug- Aktuatoren erzeugt werden. Die Geräusche werden
herstellers stimmig umgesetzt, so gelingt es, ähnlich in den Innenraum sowohl über Luftschall- als auch
wie beim geometrischen Design bereits seit langem über Körperschallpfade übertragen. Für das Außenge-
üblich, auch ein akustisches Markenzeichen zu prä- räusch sind Luftschallpfade dominant. In Bild 3.4-2
gen. Wie die Erfahrung zeigt, werden solche Maß- sind die Geräuschquellen, deren Übertragungspfade
nahmen der gezielten akustischen Gestaltung sowohl und die relevanten Geräuschphänomene schematisch
vom Kunden als auch von der Presse honoriert und dargestellt. Die Gliederung der folgenden Abschnitte
als kaufbeeinflussendes Differenzierungsmerkmal zum orientiert sich an dieser Prinzipstruktur.
Wettbewerb anerkannt.
Bei der akustischen Auslegung von Fahrzeugen muss 3.4.2 Fahrgeräusche
man deshalb unterscheiden zwischen Störgeräuschen, Das Fahrgeräusch bei Konstantfahrt ist mit Ausnah-
die am Besten unhörbar bleiben, Betätigungsgeräu- me des Langsamfahrbereichs durch Wind- und Roll-
schen, aus deren Klangbild auf die ordnungsgemäße geräusch dominiert. Erst beim Beschleunigungsvor-
Funktionsausführung geschlossen wird (Blinkerge- gang kommt durch die ansteigende Motorlast ein
räusch) und dem Fahrgeräusch, das dem Fahrzeug- hörbarer Anteil Motorgeräusch hinzu, der bei Volllast
charakter gemäß zu gestalten ist. Das Fahrgeräusch pegelbestimmend wird und sich im Klangbild signifi-
wird ursächlich vom Wind-Rollgeräusch und vom kant vom Wind-Rollgeräusch abhebt. Differenzie-
Motorgeräusch bestimmt, während Betätigungs- und rungspotenzial im Sinne von Soundgestaltung bietet
Innengeräusch [dB(A)]

Fahrgeräusch
bei Volllast

Wind-/Rollgeräusch
bei Konstantfahrt
Pegelsprung
bei Volllast
= subj. Dynamik

Fahrgeräusch Motorgeräusch
bei Konstantfahrt bei Konstantfahrt
10 dB

= Akustikkomfort

50 75 100 125 150 175 Bild 3.4-3 Konstantfahrt-


Fahrgeschwindigkeit [km/h]
pegel vs. Volllastpegel
64 3 Fahrzeugphysik

nur der Teil des Antriebsgeräusches, der sich aus dem 1. 2. 3. 4. 5. 6. Ordnung
Wind-Rollgeräusch abhebt. Er wird durch den Pegel- 6000 70
dB
sprung in Bild 3.4-3 charakterisiert. 1/min
Der akustische Komforteindruck im Fahrzeug-Innen- 60
5000
raum wird maßgeblich über das Konstantfahrtge-
räusch und damit vom Wind-Rollgeräusch bestimmt. 50

Das Motorgeräusch spielt hier nur eine untergeordne- 4000


te Rolle. Fahrzeugdynamik bei Längsbeschleunigung 40

wird dagegen subjektiv durch das Hervortreten des 3000 30


Motorengeräusches stark unterstützt. Ein Maß für die
akustische Rückmeldung bei Beschleunigung ist der
20
Pegelsprung unter Volllast. Soundgestaltung im Fahr- 2000
100 200 300 400 500 600 700 Hz
zeug bedeutet daher, die Pegel von Wind-Roll-
geräusch und Motorgeräusch so aufeinander abzu- Bild 3.4-5 Ordnungsanalyse eines Motorengeräusches
stimmen, dass der geforderte Konstantfahrtkomfort
erreicht wird und gleichzeitig bei Beschleunigung der
liert. Sie ist stark abhängig vom Wind-Rollgeräusch
Pegelsprung das Motorgeräusch adäquat hervortre-
und kann z.B. durch die Messung der Silbenverständ-
ten lässt (Bild 3.4-4). Der Gestaltungsspielraum für
lichkeit quantifiziert werden. Bild 3.4-6 zeigt das er-
den Fahrzeugsound wird somit einerseits durch das
reichte Niveau für ein typisches Fahrzeug der geho-
Wind-Rollgeräusch eingeengt, andererseits durch den
benen Mittelklasse. Bei 100 km/h sinkt hier die Sil-
maximal vertretbaren Gesamtpegel begrenzt. Dieser
benverständlichkeit bereits auf 50 % ab. Aufgrund
wird im Innengeräusch durch Kundenerwartung und
der kognitiven Fähigkeiten der Fahrzeuginsassen be-
Wettbewerbsfeld und im Außengeräusch zusätzlich
trägt die korrespondierende Satzverständlichkeit al-
durch gesetzliche Vorschriften limitiert.
lerdings immer noch ca. 95 %.
Neben der absoluten Pegelhöhe des Antriebsgeräu-
sches bei Lastanforderung, ist dessen spektrale Zu- 3.4.3 Antriebsgeräusch
sammensetzung für den gewünschten Sound-Ein-
druck von essentieller Bedeutung (Bild 3.4-5). Es ist Die Antriebseinheit, bestehend aus den zumeist an-
bekannt, dass die ganzzahligen Motorordnungen ab einander gekoppelten Verbrennungsmotor- und Ge-
der 3. Ordnung, wie sie insbesondere für R6 Motoren triebekomponenten, bildet die vibroakustische Haupt-
charakteristisch sind, den „seidenweichen“ Lauf akus- anregungsquelle in einem Fahrzeug. Insofern ist die
tisch unterstreichen, während die 2. Ordnung bei Akustikoptimierung des Antriebsaggregats von größ-
Vierzylindermotoren für deren eher „brummigen“ ter Bedeutung. Werden bei der Entwicklung des An-
Klangeindruck verantwortlich ist. Vielfache der hal- triebs wesentliche Akustikmerkmale vernachlässigt,
ben Motorordnung erzeugen dagegen einen rauen und so kann beim Gesamtfahrzeug in der Regel kein zu-
eher aggressiven Klangeindruck, der nur zu Sportfahr- frieden stellendes Ergebnis mehr erreicht werden.
zeugen passt. Spektralanteile oberhalb der soundprä- Die Akustikauslegung des Antriebs erweist sich als
genden Ordnungen sollten möglichst vermieden wer- zunehmend anspruchsvoll, da der Trend zu immer
den, um den Klangeindruck nicht zu verfälschen. leichteren und komplexeren Aggregaten oft im Ge-
Psychoakustische Untersuchungen zeigen, dass die gensatz zu den Akustikanforderungen steht. Leicht-
ungestörte Kommunikationsfähigkeit im Fahrzeug- bau-Kurbelgehäuse aus Aluminium bzw. Magnesium
Innenraum bei höheren Geschwindigkeiten in hohem sowie vollvariable Ventiltriebe und Hochdruck-Di-
Maße mit dem subjektiven Komfortempfinden korre- rekteinspritzung seien hier beispielhaft genannt. Nur
die optimale Gestaltung des Motor-Getriebe-Verbun-
Wind-/Rollgeräusch bei 100 km/h [dB(A)]

75
Charakterlose 100
Fahrzeuge Sportwagen 90
Artikulationsindex [%]

80
Satzverständlichkeit
70 Roadster 70
60
50
SUV’s Silbenverständlichkeit
40
65 Sport- 30
Coupe’s 20
Sportliche
Komfort- 10
Limousine
Limousine 0
60 40 60 80 100 120 140 160
1 5 10 15 Fahrzeuggeschwindigkeit [km/h]
Motorgeräusch, Pegelsprung bei 100 km/h [dB(A)]
Bild 3.4-6 Silben- und Satzverständlichkeit im Fond,
Bild 3.4-4 Akustische Positionierung von Fahrzeugen langsame Beschleunigung im längsten Gang
3.4 Akustik und Schwingungen 65

des zur Minimierung der vibroakustischen Emissio- werden neben der Mehrventiligkeit immer aufwän-
nen verbunden mit der gezielten Entkopplung aller digere variable Ventilsteuerungssysteme eingeführt.
relevanten Luft- und Körperschallpfade bei der Integ- Daraus resultieren in der Regel höhere bewegte Mas-
ration des Antriebs in das Fahrzeug machen gute sen. Deren Auswirkung auf die dynamischen Motor-
akustische Eigenschaften möglich. eigenschaften bedarf einer sorgfältigen Analyse und
Die schwingungstechnische Optimierung des Kurbel- eventuell geeigneter Kompensationsmaßnahmen, z.B.
triebs ist ein wesentliches Element der vibroakusti- durch Ausgleichsgewichte. Vom Ventiltrieb erzeugte
schen Auslegung einer Antriebseinheit. So sind u.a. Schwingungen besitzen im allgemeinen eine viel-
die Zylinderanordnung (Reihen- oder V-Motor), die fache Frequenz der 0.5ten Motorordnung, was einen
Zündfolge, das Lagerungskonzept der Kurbelwelle, subjektiv rauen Geräuscheindruck hervorruft, der oft
die Anzahl der Ausgleichsgewichte, die fundamenta- unerwünscht ist.
len Biege- und Torsionseigenfrequenzen der im Mo-
torblock verbauten Kurbelwelle sowie das Schub- 3.4.3.1 Luftschall
stangenverhältnis λ Parameter, die einen großen Ein- Der Luftschall eines Aggregats wird hauptsächlich
fluss auf die dynamischen Eigenschaften haben. (5.1) durch Schallabstrahlung der schwingenden Oberflä-
Hier gilt es, schon im Motorkonzept auf die akusti- chen erzeugt. Die Geräuschemission eines modernen
schen Belange Rücksicht zu nehmen. Bei Motorkon- Kfz-Verbrennungsmotors liegt bei Nennlast gemittelt
zepten ohne inneren Massenausgleich, z.B. bei R4 über die Hüllfläche in 1 m Abstand bei ca. 95 –
Motoren, sind Ausgleichswellen ein wirksames Mittel 100 dB(A). Der akustische Wirkungsgrad beträgt ca.
zur vibroakustischen Optimierung des Triebwerks –6
10 . Das entspricht einem Schalldruckpegel im Mo-
(Bild 3.4-7). torraum von bis zu 115 dB(A). Dieselmotoren sind
Von großem vibroakustischem Einfluss ist auch der im Teillastbereich tendenziell lauter, im Volllastbe-
Ventiltrieb. Aus Emissions- und Verbrauchsgründen reich leiser als vergleichbare Ottomotoren. Der Luft-
schall wird entweder über Öffnungen im Motorraum
nach außen emittiert oder über die Stirnwand und
Nebenwege in die Fahrgastzelle übertragen. Um die
Innenraumpegel auf Werte von 65 – 75 dB(A) zu be-
grenzen, muss die Einfügedämmung der Stirnwand
ca. 40 – 50 dB betragen.
Ventiltriebe mit vielen Variabilitäten, Aufladung und
Direkteinspritzung – auch beim Otto-Motor, führen
zunehmend zu hochfrequenter Schallabstrahlung ober-
halb der soundprägenden Motorordnungen. Diese
Spektralanteile verursachen ein unerwünscht hart und
metallisch klingendes Motorgeräusch. Die Schallab-
strahlung der Begrenzungsflächen des Motors muss
durch gezielte Versteifungsmaßnahmen auf ein erträg-
16000 liches Maß reduziert werden. Bei Bedarf ist auch der
Foszil = moszl lv2
l = s/2· l
Einsatz von Dämpfung durch Verbundblechkonstruk-
14000 tionen, z.B. bei der Ölwanne möglich. Die Abstrahlung
l =Pleuellänge
s = Hub des Ventiltriebs wird durch Abdeckungen aus Kunst-
12000 mosz = bewegte Masse
stoffträgermaterialien mit Absorbern motornah redu-
ziert. Auch die akustische Auslegung der Ansaug- und
freie Massenkraft [N]

10000 Abgassysteme gestaltet sich oftmals als schwierig, da


ohne AGW hier eine ganze Reihe von Zielkonflikten vorliegen. So
8000
wird für hohe Motorleistung ein geringer Abgasge-
gendruck in der Abgasanlage benötigt, verbunden mit
6000
großen inneren Durchmessern der Abgasrohre und den
daraus resultierenden negativen Effekten auf das Ein-
4000
fügedämmmaß der Anlage. Kompensiert werden kann
dieser Effekt durch größere Schalldämpfervolumina,
2000 mit AGW
bei 94 % Ausgleichsgrad die aber nur schwer im Package unterzubringen sind.
Saugseitig sind u.U. Resonatoren vorzusehen, die un-
0
500 1500 2500 3500 4500 5500 6500 erwünschte Frequenzanteile dämpfen.
Motordrehzahl [1/min] Entscheidend für eine signifikante Reduzierung des
Luftschalls ist jedoch die Beherrschung und Optimie-
Bild 3.4-7 Ausgleichswellen, Bauform und freie Mas- rung aller Übertragungswege. Dabei muss jeder ein-
senkräfte mit und ohne AGW beim Vierzylindermotor zelne Übertragungspfad von der motorraumseitigen
66 3 Fahrzeugphysik

den Flächen. Im Falle des Feder-Masse-Systems wird


zwischen Karosseriefläche und biegeweicher Schwer-
p
schicht mit Schaum oder Vliesmaterialen eine Feder
aufgebaut. Damit werden bei höheren Frequenzen
deutlich bessere Isolationswerte bei gleichem Mate-
Hi = p /Qi
Motor
rial- und Gewichtseinsatz erreicht (Bild 3.4-9). Nach-
teil dieser Systeme ist ein charakteristischer Däm-
Qi mungseinbruch bei der Resonanzfrequenz des Feder-
Masse-Systems. Die Abstimmung des Systems setzt
Bild 3.4-8 Luftschall-Übertragungspfade daher die präzise Kenntnis des anregenden Frequenz-
spektrums voraus. Entdröhnfolien aus hoch dämpfen-
Anregungskavität über die Stirnwand, Zwischenkavi- den Materialien werden eingesetzt, um großflächige
täten wie Energieräume und Wasserkästen, bis hin Blechstrukturen zu bedämpfen. Sie sind damit genau
zur Absorption im Innenraum der Fahrgastzelle be- genommen eine Maßnahme zur Bekämpfung von un-
trachtet und durch geeignete Dämmungs- und Ab- erwünschtem Körperschall. Für tieffrequente Ab-
sorptionsmaßnahmen beeinflusst werden. strahlung können die Blechfelder auch durch Versi-
Der Luftschall am Fahrerohr kann als Summe über ckung so versteift werden, dass ihre Eigenschwing-
die Volumenflüsse Qi aller abstrahlenden Oberflächen formen ausreichend angehoben werden, um störende
multipliziert mit der akustischen Transferfunktion Vibrationen und Wummererscheinungen zu vermei-
(ATF) Hi dargestellt werden (Bild 3.4-8). Qi errechnet den.
sich dabei als Produkt von Schwingschnelle vi und Die Stirnwanddämmung heutiger Fahrzeuge besteht
Teilfläche Si [5]. Es ist darauf hinzuweisen, dass die aus bis zu 12 Schichten: Stahl- oder Alublech, ein-
so definierte ATF nur nach der inversen Methode er- oder mehrschichtige Entdröhnfolien, sowie entspre-
mittelt werden kann. chende Schallisoliersysteme im Motorraum und in
der Fahrgastzelle (Bild 3.4-10). Bei tiefen Frequen-
pOhr = ∑ Qi ⋅ Hi , zen werden mit einem solchen System aufgrund der
i
geringen Masse nur Grunddämmungen von bis zu
Qi = Si ⋅ vi .
30 dB erreicht. Im mittleren Frequenzbereich steigt
Beim Aufbau von Schallisolierungen unterscheidet die Dämmwirkung mit 9 dB/Oktave an, während die
man zwischen Masse-Absorber-Systemen, Feder- Dämmung hochfrequent aufgrund der Leckagen bei
Masse-Systemen und Entdröhnfolien. Bei den Masse- ca. 70 – 80 dB begrenzt wird.
Absorber-Systemen werden biegeweiche Schwer- Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Schalliso-
schichtmaterialen zur Dämmung eingesetzt und mit liersystems ist die „akustische Dichtheit“. Dicht heißt
einem auf der freien Oberfläche verbauten Absorber in diesem Zusammenhang, dass außerhalb der Fahr-
kombiniert. Dadurch wird die Grunddämmung einer gastzelle vorhandener Luftschall nicht durch direkte
Karosseriefläche proportional zur Masse des ein- Luftschallübertragung in diesen Raum gelangen kann.
gesetzten Materials erhöht. Der Dämmungsverlauf Bedingung dafür ist, dass alle potentiellen Leckagen
steigt entsprechend dem Berger’schen Massegesetz zwischen dem Fahrgastraum und seiner Umgebung
mit 6 dB/Oktave an. Der Absorber reduziert zusätz- abgedichtet sind. Kritisch sind hier u.a. die Durchbrü-
lich die Schallbelastung auf der Emissionsseite um che in der Stirnwand zur Einfügung des Heiz/Klima-
bis zu 6 dB im Vergleich zu vollständig reflektieren- systems, zur Durchführung der Lenksäule, des Ka-
Einfüge-Dämmung [dB]

Feder-Masse-System

Masse-Absorber-
10 dB

System
Stahlblech

100 1000 Frequenz [Hz] 10000 Bild 3.4-9 Dämmungs-


verhalten
3.4 Akustik und Schwingungen 67

Ebene 2: SI: Dämmungsverhalten einzelner Stirnwandbereiche


Stahl 0,8 mm Absorber und Schwerschicht auch Leckageeinflüsse berücksichtigen (Bild 3.4-12).
Alu 1,2 mm 18 mm
Kunststoff 3.4.3.2 Körperschall
10 mm
Lokale Ver- Im Gegensatz zum Luftschall wird das Motorge-
prägung
SI: räusch als Körperschall nur über eine begrenzte Zahl
genietet oder
Absorber
geschweißt von Lagerpunkten des Motor-Getriebe-Verbunds so-
15 mm
wie über die angetriebene Achse und deren Lager-
Stützträger stellen in den Fahrzeug-Innenraum geleitet (Bild
Verprägung Stahl 0,8 mm
15/20 mm 30 mm 3.4-13).
Alu 1,2 mm
SI:
Zur Reduzierung des Anregungsniveaus an den
Absorber und Schnittstellen zwischen der Antriebseinheit und ihrer
Schwerschicht direkten Umgebung ist besonderer Wert auf die Mi-
18 mm SI:
Viscoschaum mit
nimierung der aus den bewegten Massen und aus der
Schwerschicht Verbrennung resultierenden (äußeren) Kräfte zu le-
Ausschäumung 18 mm gen.
Ebene 1: Das aus Verbrauchsgründen durchgeführte Downsi-
Stahl 0,8 mm Mehrschicht- zing der Motoren durch Übergang zu weniger aber
(Alu 1,2 mm) Dämpfungsmaterial aufgeladenen Zylindern und Verlagerung des Betriebs-
3 mm
Motorraum Innenraum punktes zu deutlich geringeren Motordrehzahlen un-
ter Last hat zu deutlich höheren Drehungleichförmig-
Bild 3.4-10 Dämmungsaufbau einer Stirnwand keiten und daraus resultierenden Brummfrequenzen
geführt, die das beherrschende Problem darstellen
und mit herkömmlichen Lager- und Isolationskonzep-
belbaums und der Pedalerieanschlüsse. Alle diese ten nicht mehr zu beherrschen sind.
Durchbrüche müssen schalldicht abgeschlossen wer-
den. Sind bewegliche Elemente, wie z.B. das Lenk-
100 %
säulensystem abzudichten, so können sich konstruktiv
recht komplizierte Systeme, z.B. in Form von Tüllen Fläche 4
Beitrag der Fläche [%]

80 % Leckagen
mit mehreren Dichtungsebenen (Bild 3.4-11), erge-
ben. 60 % Fläche 3
Bei der Konzeption von Luftschallpfaden hat sich die
statistische Energieanalyse (SEA) als rechnerische 40 %
Fläche 2
Methode im relevanten Frequenzbereich über 400 Hz
bewährt. Die rechnerische Betrachtung der Luftschall- 20 %

pfade ermöglicht eine optimale Auslegung der Schall- Fläche 1


0%
isolierung bereits in frühen Projektphasen. Mit ent-
200
250
315
400
500
630

1000
800

1250
1600
2000
2500
3150
4000
5000
6300

10000
8000
sprechendem Modellierungsaufwand kann der Ener-
giefluss von den Eingangskavitäten im Motorraum Frequenz [Hz]
bis zum Innenraum der Fahrgastzelle genau beschrie-
ben werden. Im SEA-Modell lassen sich neben dem

2 Dämmungsebenen

F1 F2
F3
F4

Dichtebene 2 Dichtebene 1
Bild 3.4-12 SEA-Ergebnisse und Modell zur Luft-
Bild 3.4-11 Lenksäulenabdichtung schall-Übertragung vom Motorraum in den Innenraum
68 3 Fahrzeugphysik

zen auf, werden bei Anregung dieser Eigenschwin-


Rad Rad
gungsformen über die internen Motorkräfte fast
1 4 4 zwangsläufig tieffrequente Schwingungen in die be-
2
nachbarten Komponenten Karosserie und Antriebs-
Motor Getriebe 3 HAG strang übertragen. Zur weitgehenden Reduzierung
solcher Phänomene ist es deshalb z.B. im Fall von
1 4 4
4-Zyl.-Aggregaten wichtig, ein Eigenfrequenzniveau
Rad Rad höher 200 Hz für die Grundbiegung der Antriebsein-
1 Motorlager heit zu erreichen. Daraus resultiert, dass die wesent-
2 Getriebelager
liche Motoranregung infolge der zweiten Motorord-
3 Gelenkwellenlager
4 Hinterachsträgerlager nung bis in den Drehzahlbereich von 6.000 U/min
keine weitere Verstärkung durch Resonanzen der
Bild 3.4-13 Körperschallpfade des Motorengeräu- elastischen Antriebseinheit erfährt. Weiterhin ist auf
sches bei einem Fahrzeug mit Standardantrieb eine akustisch günstige Anordnung der Tragarme
(Motortragböcke und Getriebeaufnahme) an der An-
Die Verwendung eines Zweimassenschwungrades triebseinheit zu achten. Sie sollten weder infolge
zur Reduzierung der Drehungleichförmigkeiten bei der globalen Schwingformen noch aufgrund lokaler
Fahrzeugen ohne Drehmomentwandler ist nicht mehr Nachgiebigkeiten stark angeregt werden. Schließlich
zielführend, da der wirksame Drehzahlbereich nicht ist eine dynamisch steife Auslegung der Tragarme
ausreichend groß ist. Als Lösung bietet sich ein selbst erforderlich. Diese lässt sich vorteilhaft durch
Schwungrad auf Basis des Fliehkraftpendels an, des- eine möglichst schmale Lagerbasis verwirklichen, die
sen Drehzahlspreizung (aufgrund der drehzahlunab- – wie nachstehend gezeigt – auch günstig für einen
hängigen Ordnungstreue) deutlich höher ist und das geringen Körperschalleintrag in die Karosserie ist,
auch bei den gewünschten Drehzahlen bis hinab zu Bild 3.4-15.
1.000/min unter Volllast noch wirksam ist [25 – Der überkritisch gelagerte Motor erzeugt über die
27]. Weganregung an den Motorlagern Reaktionskräfte
Das bisher bei Fahrzeugen mit Drehmomentwandlern des Motormoments, die proportional zur Abstützbasis
zur Dämpfung der Drehungleichförmigkeiten ange- und zur Lagerbasis sind:
wandte Verfahren des geregelten Schlupfs der Wand- Fdyn ∼ cL ⋅ ly
lerüberbrückungskupplung ist aus Verbrauchsgrün-
den zu vermeiden. Durch Übergang auf Zweidämp- Zur Abstützung des statischen Motormoments müs-
ferwandler wird versucht, diese Problemstellung ohne sen die Motorlager jedoch mit abnehmender Lagerba-
Erhöhung des Trägheitsmomentes auf der Pumpen- sis steifer werden, um aus Bauraumgründen den ma-
seite zu lösen. Bei höheren Anregungen sind für diese ximalen Weg xL im Lager bzw. den maximalen Ver-
Antriebsart neuartige Isolationselemente einzusetzen, drehwinkel α des Motor-Getriebe-Verbandes zu be-
wie z.B. Drehschwingungsdämpfer auf der Gelenk- grenzen:
welle.
1
Darüber hinaus ist wesentlich für die Körperschall- cL 
übertragung des Antriebsaggregats die Ausführung xl ly
der Motor-Getriebe-Lagerung. Hierbei sind sowohl
bzw.
die Starrkörper- als auch die Elastizitätseigenschaften
der Antriebseinheit zu berücksichtigen. So ist es zur 1
Vermeidung von Brummgeräuschen im Fahrzeug cL 
aly2
wichtig, dass der gesamte Motor-Getriebe-Verbund
über eine hinreichende dynamische Steifigkeit ver-
fügt. Weisen die fundamentalen Biege- und Torsions- Mdyn Motor-Wechselmoment
schwingungen zu niedrige Werte ihrer Eigenfrequen- U Motor-Trägheitsmoment
FL Kraft am Tragarm
Mdyn FK Kraft an Karosserie
cL Lagersteifigkeit
Fliehkraft vL, FL cK lokale Karosserie-
f U cL
R steifigkeit
a vK, FK vL Schwingschnelle
cK am Tragbock
Motor vK Schwingschnelle
Bogen- Kupplung HK
Karosserie
L feder HK vibroakustische
ly p
Transferfunktion
p Schalldruck am
Ohrpunkt
Bild 3.4-14 Funktionsweise des Fliehkraftpendels
[29] Bild 3.4-15 Motorlagerung
3.4 Akustik und Schwingungen 69

ly
lx
MR

FL
MGW

Bild 3.4-18 Einleitung des Motor-Wechselmomentes


über den Hinterachsträger in die Karosserie

aus der Kurbelwelle in die angetriebene Achse und


von dort in die Karosserie. In Bild 3.4-18 sind die
Verhältnisse für ein heckangetriebenes Fahrzeug dar-
Bild 3.4-16 Verlauf der Lagersteifigkeit gestellt.
Körperschall des Motors kann auch über die Aufhän-
Gleichzeitig gibt es eine Steifigkeitsanforderung an gepunkte der Abgasanlage (AGA) in die Karosserie
die Motorlagerung, die unabhängig von der Lagerba- eingeleitet werden. Gegenmaßnahmen sind einerseits
sis ist: Zur Vermeidung von Stuckerschwingungen der Einbau eines flexiblen Elements zwischen Krüm-
(3.4.9.1) ist die Lagersteifigkeit auf einem Mindest- mer und hinteren Teil der Anlage und andererseits ei-
niveau zu halten. ne entsprechende Isolation der AGA durch weiche
In Bild 3.4.-16 sind die prinzipiellen resultierenden Lager und hohe karosserieseitige Eingangsimpedan-
Steifigkeitsverläufe für die Anforderungen konstanter zen. Zur Vermeidung von Strukturresonanzen der
Lagerweg, konstanter Verdrehwinkel und konstante AGA werden die Anbindungen im Schwingungskno-
Stuckerfrequenz aufgetragen. Aus der Erfüllung die- ten angeordnet (Eigenschwingform-Abstimmung).
ser Anforderungen ergibt sich die resultierende dy- Für den Leerlauf werden die AGA-Eigenfrequenzen
namische Kraft am Motorlager. vom Frequenzbereich der Hauptverbrennungsordnun-
In Bild 3.4.-17 ist zu erkennen, daß sich in Abhän- gen getrennt (Eigenfrequenz-Abstimmung).
gigkeit von Geometrie- und Masseeigenschaften des
Antriebs ein Minimum der dynamischen Lagerkraft 3.4.4 Rollgeräusch
und damit ein Optimum für die Lagerbasis ergibt. Rollgeräuschphänomene bestehen ebenfalls aus luft-
Der Zielkonflikt Akustik-Schwingungskomfort kann schall- und körperschallinduzierten Beiträgen. Im
mit Hilfe von Hydrolagern teilweise aufgelöst wer- Frequenzbereich bis 300 Hz spielt praktisch nur der
den, da diese frequenzabhängig unterschiedliche dy- körperschallinduzierte Anteil eine Rolle. Luftschall-
namische Steifigkeiten besitzen. Pneumatisch oder Phänomene im höheren Frequenzbereich, wie z.B.
elektrisch schaltbare Lager können im Motorleerlauf das Reifensingen bei ca. 800 – 1.000 Hz, werden in
eine gegenüber dem Fahrbetrieb dynamisch noch diesem Kapitel nicht betrachtet. Dort konzentriert man
weichere Variante darstellen (siehe auch Abschnitt sich im wesentlichen auf Maßnahmen, wie z.B. schall-
7.4.2 Elastokinematik). absorbierende Radhausschalen und Dämpfungsbeläge
Ein weiterer Einleitungspfad für motorinduzierten auf den entsprechenden Karosserieblechen.
Körperschall in die Karosserie liegt wie bereits ange- Im Gegensatz zum Motorgeräusch ist die für das
sprochen in der Übertragung der Wechselmomente Rollgeräusch maßgebliche Primärschallquelle Rad/
Reifen nicht direkt an die Karosserie gekoppelt. Viel-
mehr erfolgt die Einleitung des Körperschalls über
Vorder- und Hinterachse. Diese müssen daher neben
den fahrdynamischen Kriterien auch Anforderungen
bezüglich der Isolation von Antriebs- und Rollgeräu-
schen erfüllen. Bei klassischen Heckantriebskonzep-
ten liegen die akustischen Sensitivitäten zwischen
Vorder- und Hinterachse im Verhältnis von ca.
70 : 30, da die Hinterachse in der Regel über Elasto-
merlager von der Karosserie entkoppelt ist. Gute Ent-
kopplung erfordert weiche Lager im Verhältnis zur
Nachgiebigkeit der Karosserie an den Einleitungs-
punkten. Da die Lager aus fahrdynamischen Gründen
jedoch relativ steif ausgeführt werden müssen, ist ei-
ne lokal und global steife Karosseriestruktur ent-
Bild 3.4-17 Dynamische Lagerkräfte scheidend für den akustischen Abrollkomfort.
70 3 Fahrzeugphysik

Bild 3.4-19 Antriebsstrang-


Prüfstand

Zur akustischen Optimierung des Systems aus An- Transferpfade


trieb, Triebstrang und Achsen haben sich hybride ex- z 50
HAT, VR y
perimentell-rechnerische Vorgehensweisen als sehr x
zuverlässig und zielführend erwiesen. Basis dafür ist z
HAT, VL y
der auf einem Rollenprüfstand in Konstruktionslage x
vollständig aufgebaute Antriebsstrang. Er ist an den z
HAT, HR y
karosserieseitigen Anschlusspunkten der Elastomer- x
dB
lager starr gegen seine Umgebung gelagert. Die ein- z
HAT, HL y
zelnen Antriebsräder werden von jeweils einer Prüf- x
z
standsrolle angetrieben (Bild 3.4-19). HAT, HR y
Aus den gemessenen Schnittkräften Fi in den i Auf- x
z
nahmepunkten wird anschließend mit Hilfe der HAT, HL y
mechanisch/akustischen Transferfunktionen Hi der x 15
10 Frequenz [Hz] 300
Schalleintrag p in den Innenraum eines Fahrzeugs be-
stimmt. Bild 3.4-21 Beiträge der einzelnen Transferpfade
p = ∑ pi ; pi = Hi ⋅ Fi
i Eingangsimpedanz der Karosserie deuten [19]. Damit
Die Übertragungsfunktionen Hi können mit Hilfe der wird die Energieübertragung behindert und eine gute
Transferpfadanalyse z.B. an Vorgängerfahrzeugen er- akustische Isolationswirkung des betreffenden Pfades
mittelt werden. Die Schnittkräfte lassen sich alterna- erreicht (Bild 3.4-20).
tiv zum Prüfstand auch durch Simulation auf Basis Erwähnenswert ist aber, dass es in Bereichen guter
von MKS-Modellen [6] des Antriebsstrangs ermit- Impedanzanpassung und damit geringer Isolation
teln. Der Steifigkeitssprung zwischen Lager und Ka- nicht zwangsläufig zu Problemen im Fahrzeug kom-
rosserie lässt sich nach der Vierpoltheorie als gezielte men muss. Dies ist nur dann der Fall, wenn auch ein
akustische Fehlanpassung zwischen der Ausgangs- maßgeblicher Anteil der akustischen Energie über
impedanz des vorgeschalteten Lagerelements und der diesen Pfad fließt (Bild 3.4-21).

3.4.5 Windgeräusch
Windgeräusche entstehen infolge von Wirbelbildung
Impedanz

Karosserie bei abgelöster Strömung unter Grenzschichteinflüssen


(3.2). Sie dominieren im Innengeräusch von Fahrzeu-
Isolation
gen bereits ab ca. 80 – 100 km/h (Bild 3.4-22).
Nach dem Entstehungsmechanismus können tieffre-
Lager quente Windgeräusche bis 400 Hz und hochfrequente
Windgeräusche bis ca. 10 kHz unterschieden werden
20 dB (Bild 3.4-23). Tieffrequente Windgeräusche entste-
hen u.a. durch Strömungsablösungen mit hoher Ener-
gie an der Karosserie und am Unterboden. So können
0 100 200 300 400 500 600 z.B. abgehende Wirbel das gesamte Blechfeld der
Frequenz [Hz] Bodengruppe zum Schwingen bringen. Werden da-
durch die Eigenmoden des Innenraums bei 40 – 50 Hz
Bild 3.4-20 Akustische Isolation durch Impedanz- angeregt, kann sehr unangenehmes Hochgeschwin-
Fehlanpassung digkeitswummern die Folge sein. Speziell Randwirbel
3.4 Akustik und Schwingungen 71

80 chen. Neben den Dichtungen sind Karosseriefugen,


Schiebedächer und Anbauteile wie Außenspiegel,
Scheibenwischer, Wasserfangleisten, und Dachträ-
Innengeräuschpegel [dB(A)]

70 gersysteme potentielle Quellen von hochfrequenten


Wind-/Rollgeräusch Windgeräuschen. Windgeräusche werden auch über
Messstrecke die Scheiben unmittelbar in den Innenraum geleitet.
60 Rollgeräusch
Schallmessraum Da die Dämmung proportional mit der Masse zu-
nimmt, ist die Scheibenstärke maßgebend für die Iso-
50 Windgeräusch lation des Windgeräusches. Biegeschwingungen der
Windkanal elastischen Scheiben verursachen bei höheren Fre-
quenzen einen störenden Dämmungseinbruch. Um
40 Fahrzeuggewicht einzusparen, werden häufig redu-
50 75 100 125 150 175
zierte Scheibenstärken mit entsprechend negativen
Fahrgeschwindigkeit [km/h]
Auswirkungen auf das Windgeräusch eingesetzt. Ge-
Bild 3.4-22 Wind- und Rollgeräusch bei einem typi- wichtsparende Sandwich-Konstruktionen mit hoch-
schen Mittelklasse-Fahrzeug dämpfenden Folien können den Konflikt zwischen
Akustik und Gewicht entschärfen (Bild 3.4-24).
an Spoilern und Unterbodenabdeckungen sind hier In der Serienentwicklung ist die „Fenstermethode“
aeroakustische Störquellen. Ein aerodynamisch opti- ein wichtiges Verfahren zur Beurteilung und Opti-
mierter glatter Unterboden wirkt in erster Linie durch mierung einzelner Bauteile bezüglich Windgeräusch-
verminderten Luftwiderstand und niedrigen Auftrieb, Entstehung bzw. Übertragung. Dabei wird das Fahr-
er hat aber durch die störungsfreiere Unterboden- zeug zunächst im Ausgangszustand gemessen. An-
strömung in der Regel auch ein niedrigeres akusti- schließend wird durch Abdichtung, Isolation oder
sches Störpotenzial. Überdämmung aller windgeräuschrelevanten Bauteile
Höherfrequente Geräuschanteile im Bereich über das Innengeräusch im relevanten Frequenzbereich
400 Hz können auch auf direktem Weg durch Lecka- um ca. 10 dB abgesenkt. Durch gezielte Entdämmung
gen in den Innenraum gelangen. Dieses Windge- können nun interessierende Komponenten aus dem
räusch ist vom Fahrer in den meisten Fällen leicht zu Gesamtgeräusch „herausgelöst“ und einzeln betrach-
orten und wirkt dadurch besonders störend. Anfällig tet werden. Mit dieser Methode können zuverlässige
für diese Störungen sind die Abdichtungen von Fens- Aussagen über die Quellenpegel aller Bauteile und
tern und Türen, da sie bei höheren Geschwindigkeiten deren Frequenzcharakteristik getroffen werden.
genau in dem für das menschliche Gehör empfind- Die numerische Behandlung der Aeroakustik öffnet
lichsten Frequenzbereich lästige Geräusche erzeugen für die Zukunft Prognosemöglichkeiten, wie sie bei
können. Daher gilt der Abdichtung der gesamten der Aerodynamik bereits gängige Praxis sind. Aero-
Fahrgastzelle in der Entwicklung große Aufmerk- akustische Berechnungsverfahren (CAA) sind al-
samkeit. Die Mehrfachdichtungssysteme der Türen lerdings keine trivialen Erweiterungen oder Anwen-
vieler Hersteller zeigen den konstruktiven und ferti- dungen von kompressiblen CFD-Codes, die übli-
gungstechnischen Aufwand, um das Ziel einer unter cherweise für stationäre Strömungen entwickelt wur-
allen Fahrzuständen dichten Fahrgastzelle zu errei- den. Da mittlerweile aber auch CFD-Codes für insta-

80

75

70
Potenzial
Innengeräuschpegel [dB(A)]

Abdichtung/
65
Potenzial Exterieur
60 Karosserie

55

50

45

40

35

30
16 25 40 63 100 160 250 400 630 1k 1.6k 2.5k 4k 6.3k 10k
Frequenz [Hz]
Bild 3.4-23 Windgeräusch
72 3 Fahrzeugphysik

50

45 Akustisch abgestimmte
Durchgangsdämpfung [dB]

Verbundverglasung
40
Koinzidenz-
35 einbruch

30 Standard-
verglasung
25

20

15

10
80
100
125
160
200
250
315
400
500
630
800
1000
1250
1600
2000
2500
3150
4000
5000
6300
8000
10000
Frequenz [Hz]
Bild 3.4-24 Dämmungsver-
halten der Verglasung

tionäre Strömungsbetrachtungen existieren und Fluid- Störgeräusch Betätigungsgeräusch


(unbewusste (bewusste
schall-Akustik nur eine spezielle Form instationärer Beeinflussung) Beeinflussung)
Strömungsvorgänge ist [6], lassen sich aus diesen Lenkhilfe Fensterheber
Betriebsdauer
Codes auch aeroakustische Aussagen generieren. niedrig
Niveauregulierung Sitzverstellung
Sekundärluftpumpe Spiegelverstellung
Motorlüfter Klimagebläse
3.4.6 Mechatronische Geräusche Betriebsdauer
Kraftstoffpumpe Scheibenwischer
hoch
Wankstabilisierung Sitzlüfter
Als mechatronische Komponenten im Kraftfahrzeug
verstehen wir Bedien- und Stelleinheiten, die Fahr- Bild 3.4-25 Einteilung mechatronischer Geräusche
oder Komfortfunktionen erfüllen. Dies geschieht un-
ter Zuhilfenahme elektrischer oder hydraulischer Ak- 3.4-25). Mechatronische Geräusche aufgrund bewuss-
tuatoren. Das Aufgabenfeld umspannt Kühllüfter für ter Bedienhandlungen werden als Betätigungsgeräu-
Verstärkereinheiten des Navigationssystems, geht sche dann positiv wahrgenommen, wenn das Klang-
über Fensterheber und Zusatzwasserpumpen bis zu bild in der subjektiven Erwartung des Kunden zur
kompletten aktiven Fahrwerken. Aus akustischer gewünschten Funktion passt. Typische Beispiele sind
Sicht ist eine Unterteilung der Geräusche nach dem hier das „Relaisklackern“ bei Blinklichtbetätigung
Grad der Beeinflussung in Betätigungs- und Störge- oder das Strömungsrauschen des Klimagebläses. Un-
räusche sowie nach der Betriebsdauer sinnvoll (Bild bewusste Bedienungen sind z.B. die Kraftstoffförde-

Bild 3.4-26 Ausgewählte


Stellmotoren
3.4 Akustik und Schwingungen 73

Geräuschquellen E-Motor 60

l ag

g
n

n
ich

ich

la
he

he
ere

ere
sch

sch
rec

rec
ellb

ellb
Schalldruckpegel [dB(A)]

An

An
sb

sb
Elektromagnetisch Aerodynamisch Elektronisch
50

Lo

Lo
rst

rst
Ve

Ve
Stator Kühlung Regelung
40
Rotor Luftspalt Kommutierung

Magnetfeld
30 Senken Heben

Bild 3.4-27 Geräuschquellen bei E-Motoren


20
0 2 4 6 8 10 12 14 16
rung durch Primär- und Sekundärpumpe oder das Zeit [s]
Ventilschalten der hydraulischen Wankstabilisierung.
Der subjektiv tolerierte Geräuscheintrag reicht hier Bild 3.4-29 Geräuschverlauf Fensterheberbetätigung
von nicht störend hörbar bei kurzzeitiger Einwirkung
bis unhörbar bei periodischen oder dauerhaft einwir- werden, um nicht einen qualitativ minderwertigen
kenden Geräuschen. Antrieb zu suggerieren. Dominante Auswirkung auf
3.4.6.1 Stellmotoren den subjektiven Geräuscheindruck hat deshalb die
Tonhaltigkeit, erzeugt durch die Ordnungen des
Stellmotoren sind die häufigste Form von akustisch Elektromotors. Die Homogenität des Magnetflusses,
relevanten Aktuatoren. In Fahrzeugen der Oberklasse bestimmt durch Luftspalt zwischen Rotor und Stator,
werden z.B. weit über 100 mechatronische Aktuato- Anzahl der Wicklungen, Qualität des Magnetfeldes,
ren in Form von elektrischen Antrieben und Stellmo- Kommmutierungsart, ist maßgeblich für das Ord-
toren verbaut (Bild 3.4-26). Die dadurch verursachten nungsverhalten verantwortlich.
Geräusche besitzen vielfältige Ursachen. Bild 3.4-27
zeigt die wesentlichen Geräuschquellen auf. Sie kön- 3.4.6.2 Fahrzeugklimatisierung
nen elektromagnetischer, aerodynamischer oder elekt- Klimaanlagen gehören ab der Fahrzeugmittelklasse
ronischer Natur sein. zur Serienausstattung. In Bild 3.4-30 sind die Bautei-
Ein klassisches Beispiel für Betätigungsgeräusche ist le einer klassischen Fahrzeugklimaanlage dargestellt.
der elektrische Fensterheber (Bild 3.4-28). Erkennbar als sekundäre Geräuschminderungsmaß-
Die Geräuschemission hat unterschiedliche Ursachen. nahmen ist der Schalldämpfer, auch Muffler genannt,
Sie ist am zeitlichen Ablauf des Fensteröffnens und am saugseitigen Kompressoreingang und eine Tilger-
-schließens in Bild 3.4-29 erkennbar. So entsteht masse auf der Klimasaugleitung zur Reduzierung der
beim Einschalten oder Abschalten ein impulshaltiges vibroakustischen Übertragung in den Fahrzeuginnen-
Losbrech- und Anschlaggeräusch. Der subjektive Ge- raum.
räuscheindruck beim eigentlichen Heben und Senken Die Geräuschemission ist abhängig von der kon-
der Scheibe wird durch Modulationen von Lautstärke zeptionellen Systemauslegung. Bei Kolbenkompres-
oder Frequenz bestimmt. Diese müssen vermieden soren mit Magnetkupplungen können beim Einschal-
ten der Klimaanlage Impulsgeräusche aufgrund des
Anziehens der Magnetkupplung oder dem Verdich-

Druckleitung Verdampfer

Expansionsventil

Saugleitung mit
Kondensator Muffler und
Kompressor Tilgermasse

Bild 3.4-30 Klassische Klimaanlage mit Akustikbau-


Bild 3.4-28 Doppelt geführter Seilfensterheber teilen
74 3 Fahrzeugphysik

ten von Kondensatrückständen des Kältemittels auf


der Saugseite entstehen. Die Ungleichförmigkeit der
Verdichtung und damit auch der Pulsationsgeräusche
im Lastbereich wird durch die konstruktive Zylinder-
und Ventilanordnung, und durch den drehungleich-
förmigen Antrieb des Verbrennungsmotors hervorge-
rufen. Drehschwingungen führen zu erhöhter Pulsa-
tions- und Körperschallabstrahlung des Kompressors,
welche durch die Schallnebenwege der Leitungen in
den Fahrzeuginnenraum gelangen. Bei der Drosse-
lung des Kältemittels am Expansionsventil gelten
die Gesetzmäßigkeiten der adiabaten Düsenströmung,
mit überkritischem Druckabbau und Ausströmen
mit Schallgeschwindigkeit. Aufgrund der hohen Strö-
mungsgeschwindigkeit und dem anschließenden Ver- Bild 3.4-32 Lenkungssystem
dampfen des Kältemittels kommt es zu Zischgeräu-
akustische Berechnungsverfahren (CAA) erlauben Ge-
schen. Die Schallemission des Kältekreislaufes ist
räuschprognosen für Lüfter und Ausströmkanäle. Ne-
lastabhängig und kann im Betriebskennfeld Kom-
ben den aeroakustischen Geräuschen von Lüftern und
pressordrehzahl und Verdichtungsdruck aufgespannt
Gebläsen treten auch Körperschallphänomene auf.
werden. Bei rückwirkungsfreien Leitungsnetzen steigt
Erzeugt werden diese durch den dynamischen Wech-
mit Drehzahl und Druck auch der Geräuschpegel
seldruck der Schaufelgeometrie des Rotorblattes, so-
kontinuierlich und wird in der Regel durch das Ver-
wie durch resultierende Wechselkräfte, welche von
brennungsmotorgeräusch maskiert. Reicht dieser Ef-
Motor- und Zargenlagerung aufgenommen werden
fekt nicht aus, werden Schalldämpfer an den Kom-
müssen.
pressor angebaut. Klimaanlagen von Hybrid- und
Elektrofahrzeugen können von der klassischen Aus- 3.4.6.4 Lenkungssystem
führung stark abweichend sein. Bei Verwendung von Innerhalb der mechatronischen Systeme kommt der
Klimakompressoren werden diese elektrisch ange- Lenkung eine zentrale Stellung zu, prägt sie doch we-
trieben. Kompressorantrieb und Hydraulikanregungen sentlich das Fahrgefühl. Der Zielkonflikt zwischen
müssen bei elektrischem Fahren erhöhte Geräusch- Komfort, Agilität und Fahrbahnrückmeldung wird
und Vibrationsanforderungen erfüllen, da keine Mas- durch aufwendig geregelte Servo-Aktuatoren aufge-
kierung durch einen Verbrennungsmotor stattfindet. löst. Die geregelte Lenkhilfe kann hydraulisch, elekt-
Dies gilt grundsätzlich für alle Mechatroniksysteme. rohydraulisch oder elektrisch erfolgen. Für akustische
3.4.6.3 Lüfter und Gebläse Untersuchungen wird das gesamte Lenkungssystem,
wie in Bild 3.4-32 gezeigt, auf Komponentenprüf-
Die typischen Geräuschquellen von Lüftern und Ge- ständen aufgebaut. Bild 3.4-33 zeigt die vielfältigen
bläsen sind in Bild 3.4-31 aufgezeigt. vibroakustischen Phänomene, welche im Fahrzeugbe-
Neben stochastischem Rauschen aufgrund der Durch- trieb auftreten können.
strömung von Klimakanälen, Lüftungsgittern, Luft- Bei der fahrzeugunabhängigen akustischen Qualifi-
weichen oder Kühlmodulen, können auch stark tonale zierung von Komponentensystemen muss die Korre-
Ordnungen emittiert werden. Als subjektiv besonders lation zum Gesamtfahrzeug gewährleistet sein. An al-
störend erweisen sich die Drehklänge des Lüfterblat- len Schnittstellen werden hierzu die dynamischen
tes und des E-Motors. Ursache können repetierende Kräfte oder Körperschallbeschleunigungen messtech-
Druckwechsel am äußeren Umfang des Lüfterblattes, nisch erfasst. Eine akustische Immissionsbewertung
fehlende Steifigkeit der Lüfterzarge oder erhöhte erfolgt dann durch Verrechnen der Komponentenmess-
Rastmomente des E-Motors sein. Bei geregelten Lüf- werte mit der virtuellen Karosserie. Bei der akus-
tern kann durch Ausblenden der Resonanzdrehzahlen tischen Optimierung werden u.a. die Luftschallab-
ein kritischer Lüfterbetrieb vermieden werden. Aero- strahlung sowie die Körperschallanregung der Pumpe,
das Übertragungsverhalten der Hydraulikleitungen hin-
Lüfter/Gebläse sichtlich der Körper-, Fluid- und Rohrschallübertra-
gung, Spiele von Verzahnungen und Wellenführun-
Aerodynamisch Mechanisch Elektromechanisch gen und die Systemlagerungen im vorgesehenen
Fahrzeug bearbeitet.
Lüfterblatt Zarge und Gehäuse E-Motor 3.4.6.5 Fahrwerksregelung
Strömung Regelung Die Regelgeräusche der Sicherheitsfunktionen sind
akustisch untergeordnet. Jedoch kann auch hier nicht
Bild 3.4-31 Geräuschquellen Lüfter/Gebläse auf eine akustische Auslegung verzichtet werden,
3.4 Akustik und Schwingungen 75

Lenkung
3.4.6.6 Biegeschlaffe Leitungen
Biegeschlaffe Bauteile wie Schlauchleitungen von
Lenkhilfe Lenkgeometrie
hydraulischen Lenksystemen, elektrohydraulischen
Mechanisch Mechanisch Verdecken, Heiz/Klimaanlagen, Kühlwassersystemen
oder auch elektrische Kabelführungen stellen Schall-
Endanschlagimpuls Spielklappern übertragungswege dar. In Summe stellen die übertra-
Lagerspielklappern Lenkradvibrationen genen Teilschallleistungen aller Bauteile, welche eine
Verzahnungsgeräusche Lenkschlossklacken Verbindung vom Verbrennungsmotor bzw. akustisch
Hydraulisch Lenkradverstellsurren
aktiven Nebenaggregaten zur Karosserie haben, einen
erheblichen Anteil dar. In Bild 3.4-34 sind die wich-
Kinematik
Kavitationsklopfen tigsten biegeschlaffen Leitungen in der Silhouette ei-
Ventilzischen Systemschwingen ner Fahrzeugaußenkontur grafisch dargestellt. Deut-
lich erkennbar ist die Vielzahl der sich hieraus erge-
Lenkventilrattern Stößigkeit
benden Schallnebenwege.
Pulsationsheulen Fahrbahnrückmeldung
Leitungsresonanzen

Elektromechanisch

E-Motorlauf
Regelungsheulen
Verzahnung/Riemen

Bild 3.4-33 Vibroakustische Phänomene eines Len-


kungssystems

kommt es doch gerade auf Fahrbahnen mit Niedrig-


reibwerten bei regennasser oder vereister Oberfläche
leicht zu Irritationen des Fahrers. Eine moderate
akustische Rückmeldung ist gewünscht, welche den Bild 3.4-34 Leitungen in einem Fahrzeug
Regeleingriff signalisiert aber den Fahrer nicht zu
Schreckreaktionen animiert. Akustisch besonders kri- Neben der hydroakustischen Druckpulsationsübertra-
tisch sind Regelungen bei geringen Drücken im Kom- gung ist die Bedeutung der Körperschallweiterleitung
fortbereich. Es sind nur einzelne Räder betroffen und der Schlauchleitungen für das Motorgeräusch von
der Fahrer erwartet keinen Regeleingriff, was sich bei großer Bedeutung. So wird das Klangbild des Ver-
schneebedeckter Fahrbahn allerdings nicht vermeiden brennungsmotors im Innengeräusch neben der Aus-
lässt. Ursache ist der zu geringe Druckunterschied legung von Aggregatlagerungen maßgeblich durch
zum Blockierdruck beim Radbremsen und der zu die Schlauchleitungsverlegung beeinflusst. Eine akus-
große Druckunterschied nach dem Blockieren zum tisch günstige Verlegung bedingt allerdings eine
Anlaufen des Rades. frühzeitige Layoutfestlegung im Package.
Wirksame Geräuschminderungsmaßnahmen der Re-
gelhydraulik sind der Verbau von mehrzylindrigen
3.4.7 Klappern, Knarzen, Quietschen
Kolbenpumpen mit großen Kolbenquerschnitten bei Da der durch Fahrgeräusche verursachte Geräuschpe-
geringen Hüben und niedrigen Drehzahlen. Sekundär gel im Innenraum von Kraftfahrzeugen in den letzten
können auch vereinzelt Pulsationsdämpfer verbaut Jahren immer geringer wurde, treten heute Störge-
werden. Proportionalventile und eine Begrenzung des räusche verstärkt in Erscheinung. Speziell Klapper-,
Druckgradienten ermöglichen im Feinsteuerbereich Knarz- und Quietschgeräusche aufgrund von Relativ-
die Regelung von geringen Differenzdrücken und ver- bewegungen von Bauteilen zueinander werden dabei
meiden damit hohe Pulsgeräusche. Vom Regelprinzip nicht nur als störend empfunden, sie beeinträchtigen
sind Druckdifferenzregelungen günstiger als Volu- vielmehr auch den allgemeinen Qualitätseindruck ei-
menstromregelungen. Um unnötige Regelungen und nes Fahrzeuges nachhaltig.
damit auch geräuschrelevante Druckänderungen zu Die Relativbewegung hat entweder eine Haft-Gleit-
vermeiden, muss ein Optimum der Taktzeit gefunden reibung (Stik-Slip Effekt), ein Anschlagen oder einen
werden. So sind geringe Taktzeiten bei der schnellen Hemmungseffekt mit entsprechenden Quietsch-, Klap-
dynamischen Stabilitätskontrolle notwendig aber für per- und Knarzgeräuschen zur Folge. Durch systema-
eine Antiblockierbremsung überzogen. Des weiteren tische Präventiv-Vorgehensweisen müssen potenziell
müssen während der Fahrzeugentwicklungsphasen al- Geräusche verursachende Kontaktstellen gefunden und
le Karosserieanbindungen hinsichtlich ausreichender durch entsprechende Materialpaarungen oder konstruk-
Körperschallisolation ausgelegt werden. tive Gestaltungen entschärft werden. Typischerwei-
76 3 Fahrzeugphysik

se sind dabei bis zu 1.000 relevante Kontaktstellen in Eine zusätzliche Geräuschquelle moderner direktein-
einem Fahrzeug zu betrachten. spritzender Motoren ist das Kraftstoff-Hochdruck-
Die Erfahrung zeigt, dass selbst bei systematischer system. Sowohl Injektoren als auch die Hochdruck-
Bündelung des vorhandenen Ingenieur-Wissens in pumpe emittieren aufgrund ihrer mechanischen Ar-
der präventiven Phase immer noch Restprobleme üb- beitsweise Schall im höherfrequenten Bereich, der
rig bleiben, die nicht bedacht wurden. Um diese Pro- sich auch über Anbauteile wie das Kraftstoffrail oder
bleme aufzudecken und Abhilfemaßnahmen zu be- die Grundmotorstruktur weiter ausbreiten kann.
werten sind Tests mit Hilfe geräuscharmer Gesamt- Bei immer rigideren gesetzlichen Anforderungen be-
fahrzeug- und Komponenten-Störgeräusch-Prüfein- züglich der Abgasemission ist der Spielraum für
richtungen notwendig. Zur objektiven Qualifizierung Akustikverbesserungen durch primäre Maßnahmen
der Störgeräusche wurden Methoden und Messsyste- am Motor geringer geworden. Hier greifen zunehmend
me zur Echtzeit-Erfassung, Analyse und Bewertung verschiedene passive Maßnahmen bei der Akustik-
von Störgeräuschen entwickelt [23, 24]. Die so ermit- optimierung von Fahrzeug und Antrieb.
telten Daten bilden auch die Grundlage für Qualitäts- Primär gilt es, die Motorstruktur selbst von Grund auf
vorgaben an Zulieferanten. unter akustischen Gesichtspunkten zu optimieren. Ei-
ne konstruktiv möglichst steife Gestaltung des Grund-
3.4.8 Außengeräusch motors, der Einsatz dämpfender Werkstoffe und eine
Optimierung mechanischer Komponenten sind Grund-
3.4.8.1 Standgeräusch voraussetzungen für eine effiziente quellenorientierte
Da im Stand und bei sehr geringen Fahrgeschwindig- Geräuschvermeidung.
keiten nahezu keine weiteren Geräuschquellen auftre- Übliche Kapselmaßnahmen in der Motorperipherie
ten, ist die Akustik des Antriebsstranges hier von be- und im Motorraum sind im Bereich der Injektoren die
sonderer Bedeutung. Injektorabdeckung sowie eine seitlich abgedichtete
Das Außenstandgeräusch ist einerseits erlebbar für Motorhaube mit innenliegendem Absorber. Im Be-
den Fahrer, sobald er bei laufendem Motor aus dem reich der Fahrzeugfront gilt der Einsatz von tempera-
Fahrzeug aussteigt oder z.B. an Parkschranken das turgesteuerten Klappen als Stand der Technik. An der
Seitenfenster öffnet. Andererseits ist auch die Wir- Fahrzeugunterseite sind vor allem als Schallquellen
kung auf Passanten entscheidend, beispielsweise bei die Ölwanne und das Getriebe, sowie Teile des Ab-
wartenden Fahrzeugen an Verkehrsampeln oder bei gaskrümmers, Abgasnachbehandlungssysteme und
langsam fahrenden Fahrzeugen auf Parkplätzen. Das der weiterführenden Abgasanlage, sowie Leckagen
Standgeräusch eines Fahrzeugs war bis vor kurzem des Motorraums durch Dämmungsmaßnahmen redu-
vor allem für Dieselfahrzeuge aufgrund ihrer „na- zierbar. Aus Gründen des Wärmemanagements sind
gelnden“ Verbrennungsgeräusche ein entscheidendes der vollständigen Kapselung jedoch Grenzen gesetzt.
Wertigkeitskriterium. Da sich Einspritzdrücke und Deshalb wird zusätzlich mit Absorptionsmaßnahmen
Zylinderdruckverlauf bei modernen Otto- und Die- im Motorraum, unter der Motorhaube und im Unter-
selmotoren aufgrund fortgeschrittener Brennverfah- bodenbereich des Innenraums gearbeitet. Auch Ab-
ren immer weiter annähern, ist das Außenstandge- sorptionsmaßnahmen auf der Außenfläche der Unter-
räusch inzwischen für beide Verbrennungsverfahren bodenverkleidungen und in den Radhäusern sind der-
ein wichtiger Gegenstand der Akustikentwicklung. zeit im Einsatz.
Der Druckgradient zwischen Brennbeginn und Druck-
3.4.8.2 Fahrgeräusche
maximum regt den mittleren Frequenzbereich des
emittierten Luftschalls an. Beim Druckabklingen bil- Das Vorbeifahrtgeräusch setzt sich im Wesentlichen
den sich Brennraumresonanzen aus, die wesentlich aus den zwei Teilschallquellen Antriebsgeräusch und
die höheren Frequenzen im Spektrum prägen. Ziel Reifen-Fahrbahngeräusch zusammen (Bild 3.4-35).
aus akustischer Sicht ist es, den Druckimpuls bzw. Als Ausdruck des langjährigen Entwicklungsfort-
die entstehenden Brennraumresonanzen abzuschwä- schrittes an den Aggregaten des Antriebsstranges zei-
chen. Dies kann bei Dieselmotoren durch neue Ein- gen sich die spektralen Anteile zweier vergleichbarer
spritztechnologien mit Piezoaktuatoren mittels geziel- Fahrzeuge deutlich verändert. Reduziert wurde vor
ter Vor- und Nacheinspritzungen erreicht werden. allem die Oberflächenabstrahlung des Motor-Getrie-
Brennraumresonanzen lassen sich durch Nachein- be-Verbunds und das Mündungsgeräusch der Abgas-
spritzung von Kleinstmengen in den Brennraum ab- anlage (Bild 3.4-36). Das R/F-Geräusch verbleibt in
schwächen. Bei Benzinmotoren sind die Stellhebel der Umgebung von 1 KHz als dominante Quelle und
Zündzeitpunkt und Einspritzzeitpunkt. Diese Maß- erschwert eine weitere Pegelabsenkung.
nahmen laufen aber teilweise dem Ziel der Effizienz-
steigerung und Abgasemissionsreduktion zuwider. 3.4.8.3 Vorbeifahrt nach ISO 362
Hier hilft eine differenzierte, drehzahlabhängige Ein- Die gesetzlichen Grenzwerte in der Außengeräusch-
spritzvorgabe, die speziell im Leerlauf für eine wei- Typprüfung sind durch ECE R51 bzw. durch ISO 362
chere Verbrennung sorgen kann. geregelt. Sie wurden seit 1980 schrittweise von 82
3.4 Akustik und Schwingungen 77

75 hens nicht mehr schlüssig lärmmindernd auswirkt.


Gesamt
Zur Zeit wird ein neues Typprüf-Verfahren (TP) for-
Reifen/Fahrbahn muliert. Es zielt auf eine verbesserte Abbildung der
Schalldruckpegel [dB)A)]

65
Lärmemissionen, wie sie bei Fahrzeugen im realen
innerstädtischen Verkehrsgeschehen auftreten. Eine
Antrieb gesetzlich verbindliche Einführung als ECE R51
55
(neu) ist ab 2013 zu erwarten.
In der z.Z. gültigen TP-Norm werden die Vorbei-
45 fahrtpegel unter Volllast ermittelt (Bild 3.4-37). Für
Fahrzeuge mit manuellen Getrieben werden Pegel-
35 werte des zweiten und dritten Ganges arithmetisch
–15 –10 –5 0 5 10 15 gemittelt, während automatische Getriebe in Stufe D
Weg [m]
gemessen werden. Eine Ausnahme stellen Fahrzeuge
Bild 3.4-35 Teilschallquellen Antriebsgeräusch und dar, die Hochleistungskriterien erfüllen; diese werden
Reifen-Fahrbahngeräusch in der beschleunigten Vor- nur im dritten Gang gemessen. In der Neufassung der
beifahrt TP-Norm „ISO362-neu“ ist die Geräuschemission ei-
nes Fahrzeugs bei v = 50 km/h unter Teillastkriterien
auf 74 dB(A) abgesenkt. Seit 1996 ist dieser Prozess zu ermitteln, die von dessen „power to mass-Ratio“
ausgesetzt, da erkannt wurde, dass die dadurch be- (PMR = Leistung/Gewicht in KW/t) abhängen. Dazu-
wirkte akustische Optimierung der Fahrzeuge sich erfolgen unter Auswahl geeigneter Gangstufen Vor-
unter den Bedingungen des realen Verkehrsgesche- beifahrten am Mikrofon bei Volllast (wot) und zu-

Gaswechsel R/F-Geräusch

80
BMW 1802 MJ ’74
BMW 318i MJ ’04
70
Schalldruckpegel pro Terz [dB(A)]

60

50

40

30

20
12,5

31,5
16
20
25

40
50

100
63

125
80

160
200
250
315
400
500

1000
630

1250
800

1600
2000
2500
3150
4000
5000

10000
6300

12500
8000

16000
20000

Bild 3.4-36 Spektrum des


maximalen Vorbeifahrtgeräu-
Terzmittenfrequenz [Hz]
sches gestern und heute

m/h
50 k

A
1,2 m
P 10 m A′
7,5
m

10 m 7,5
P′
m
B

B′

ISO 362 ISO 362 neu 2001/43/EG


vAA′ = 50 km/h vPP′ = 50 km/h vref = 80 km/h
2. und 3. Gang Gangwahl a < 2,0 m/s2 vmess = 70–90 km/h
Volllast Teillastsimulation (VL, konstant) Rollen/Motor aus
GW. 74 dB(A) GW in Diskussion GW: 76 dB(A) (>215 mm) Bild 3.4-37 Vorbeifahrt-
Typprüfverfahren
78 3 Fahrzeugphysik

74 70
awot, i
73

Schalldruckpegel [dB(A)]
Schallpegel [dB(A)]

awot, i+1 65
72
Lwot, ref
71 60
Lurban
70
55
69
68 50
Lcruise aurban awot, ref
67 LGesamt LRoll LLast
0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 45
Beschleunigung [m/s2] 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0
Beschleunigung [m/s2]
Bild 3.4-38 Neues Messverfahren ISO 362
Bild 3.4-39 Roll- und Lastgeräusch eines Reifens
sätzlich Konstantfahrten (cruise) in diesen Gängen.
Die Mittelungsprozedur für die dabei gemessenen und Geräuscheigenschaften. Der R/F-Geräuschpegel
Pegel führt auf die Hilfspegel Lwot ref und Lcruise. Aus bei beschleunigter Vorbeifahrt setzt sich aus der
diesen wird der Typprüfpegel Lurban interpoliert, der Summe der Teilschallquellen für das Roll- und das
bei einer urbanen Beschleunigung aurban (vom PMR Lastgeräusch zusammen (Bild 3.4-39).
2
abhängig, und stets kleiner 2,0 m/s ) vorliegt. Der Al- Für Reifen traten 2003 zur Begrenzung der Reifen-
gorithmus ist aus Bild 3.4-38 nachvollziehbar. rollgeräusche die Regulierungen der Typprüfung
Im Rahmen einer COP-Prüfung (Conformity of Pro- 2001/43/EG in Kraft. Darin werden Grenzwerte bei
duction) wird die Einhaltung der Grenzwerte vom 80 km/h für das Rollgeräusch in Abhängigkeit von
Gesetzgeber auch in der laufenden Produktion gefor- der Reifenbreite festgelegt. Für verschiedene Reifen-
dert. Derzeit laufen Bestrebungen, Vorbeifahrtstyp- sätze sind in Bild 3.4-40 Rollgeräuschpegel über der
prüfungen auch in der Halle durchzuführen. Dabei Reifenbreite aufgetragen, zusammen mit den Grenz-
wird das Fahrzeug auf Rollen betrieben und die Vor- werten nach 2001/43/EG und Mittelwerten der Rei-
beifahrt über das sequentielle Durchschalten einer fenmessungen, die vor bzw. ab 2000 erfolgt sind. Es
Mikrofonreihe simuliert. Vorteil ist die wetter- und zeigt sich, dass die Pegel nur durch Bezug auf die
umfeldunabhänge Messung. Während des Entwick- Reifenbreite nicht ausreichend charakterisiert werden
lungsprozesses lässt sich die Zielerreichbarkeit mitt- können. Bei breiteren Reifen werden die gültigen ge-
lerweile gut über Berechnungsmethoden prognosti- setzlichen Grenzwerte bereits heute deutlich unter-
zieren. schritten. Mit ca. 2dB(A) hat die Reifenindustrie seit
ca. 2.000 erhebliche Verbesserungen im akustischen
3.4.8.4 Reifen/Fahrbahngeräusch Verhalten der Reifen erzielt.
In Bild 3.4-41 werden die relativen Anteile von R/F-
Das R/F-Geräusch tritt bereits ab ca. 30 – 40 km/h im Geräusch zum Motorgeräusch für ein typisches Fahr-
öffentlichen Verkehr dominant in Erscheinung. Es zeug abhängig vom gewählten Prüfverfahren aufge-
spielt auch bei den gesetzlichen Grenzwerten im zeigt. In den benutzten Gängen werden die Unter-
Rahmen der Typprüfung eine zunehmende Rolle schiede in den Geräuschanteilen hauptsächlich von
(siehe Abschnitt 3.4.8.3). Hier ergeben sich Zielkon- der Motordrehzahl bei Volllast geprägt, während sich
flikte bereits innerhalb der Komponente Reifen, z.B. im R/F-Geräusch das unterschiedliche Drehmoment
bei der gleichzeitigen Maximierung von Handlings- an den Rädern wenig auswirkt. Gegenüber dem Er-

80
Reifen bis 2000
Rollgeräusch [dB(A)] bei v = 80 km/h

79
Reifen ab 2000
78
77 Grenzwert nach RL 2001/43/EG
76
75
74
73
72 Mittelwert bis 2000

71
70 Mittelwert ab 2000
69
175 185 195 205 215 225 235 245 255 265 275 285
Bild 3.4-40 Rollgeräusch
Reifenbreite [mm] abhängig von der Reifen-
breite
3.4 Akustik und Schwingungen 79

[%] ASG RFG [%] ASG RFG


10 Sitzreiten
2. Gang 78 22 3. Gang 42 58
wot Lastwechselschlag

Beschleunigung [m/s2]
3. Gang 40 60 3. Gang 22 78 Ruckeln
cruise Karosseriezittern
1 Stuckern
Bild 3.4-41 Anteile der Teilschallquellen Antrieb- Radunwucht
strang (ASG) und Reifen (RFG) im Vergleich der
Typprüfverfahren 0,1
Motorleerlauf
gebnis für das gültige TP-Verfahren erscheint im künf-
tigen Verfahren das R/F-Geräusch mit deutlich größe-
rem Anteil. Dies entspricht der realen Belästigungssi- 10 20 30 40
tuation in urbanen Bereichen, bedeutet aber auch, Frequenz [Hz]
dass weitere Absenkungen der Grenzwerte mit moto-
rischen Maßnahmen nur noch begrenzt möglich sind. Bild 3.4-42 Schwingungsphänomene

3.4.9 Schwingungskomfort
Nachstehend werden die verschiedenen Schwingungs-
Der Akustik- und der Schwingungskomfort eines phänomene in Abhängigkeit von den unterschied-
Fahrzeugs sind zwei eng miteinander verknüpfte Dis- lichen Anregungsmechanismen näher betrachtet.
ziplinen, da es sich in beiden Fällen um Körperschall-
Phänomene handelt, allerdings in verschiedenen Fre- 3.4.9.1 Motorerregte Schwingungen
quenzbereichen. Zielkonflikte zwischen beiden Fach-
gebieten resultieren im Allgemeinen aus unterschied- Zu den motorerregten Schwingungen gehören neben
lichen Anforderungen in Bezug auf das Schwin- den Leerlaufschwingungen die Phänomene Lastwech-
gungsverhalten einerseits und die Körperschall-Isola- selruckeln und Lastwechselschlag.
tionseigenschaften von Komponenten andererseits. Leerlaufschwingungen werden durch zyklische und
Die Empfindlichkeit eines Menschen auf Schwin- auch stochastische Anregungen aus dem Motor verur-
gungseinwirkung ist empirisch vielfältig abgesichert. sacht. Dabei kommt es im ungünstigen Fall dazu,
In [17] wird die Empfindlichkeit auf Schwingungs- dass die dominierende Motorordnung im Bereich der
einwirkung über den Sitz in Abhängigkeit von der globalen Gesamtfahrzeugeigenmoden liegt. Ist dies
Schwingungsamplitude und Frequenz angegeben. Aus der Fall, verschlechtert sich der Schwingungskom-
den Bewertungskurven kann gefolgert werden, dass fort im Leerlauf des Motors drastisch. In Bild 3.4-43
die Empfindlichkeit des Menschen bzgl. Schwingungs- wird dieser Zusammenhang über der Motordrehzahl
anregungen zwischen 5 und 10 Hz am größten ist. beispielhaft aufgezeigt.
Diese Empfindlichkeit resultiert aus der Tatsache, Dabei ist zu erkennen, dass beim 4-Zylinder-Motor
dass der Mensch im technischen Sinn ein Schwin- der Leerlauf unterkritisch bezüglich der 2. Motorord-
gungssystem darstellt, dessen einzelne Bestandteile, nung abgestimmt wird, während beim 6- und 8-Zy-
wie z.B. Kopf, Gliedmaßen, Magen, usw. im Fre- lindermotor eine überkritische Abstimmung des Leer-
quenzbereich zwischen 5 und 10 Hz zu Resonanz- laufs bezogen auf die 3. bzw. 4. Ordnung gewählt
schwingungen angeregt werden. Im Frequenzbereich wird. Damit es zu keiner Anregung der globalen Ge-
darüber und darunter nimmt die Empfindlichkeit auf samtfahrzeugeigenmoden durch die Motorordnung
Schwingungsanregung kontinuierlich ab. Störungen kommt, müssen die 1. Biegung und 1. Torsion in
durch Schwingungseinwirkung können daher in der einem Frequenzband zwischen 27 und 33 Hz liegen.
Regel nur zwischen ca.1 Hz (Aufbauschwingungen) Um unerwünschte Koppelschwingungen zu vermei-
und 50 Hz (Kribbeln) eintreten. den, sollte zwischen den beiden ersten globalen Ge-
Vor dem Hintergrund der Sensitivität des Menschen samtfahrzeugeigenmoden ca. 3 Hz Abstand bestehen.
gegenüber Schwingungsanregungen müssen zu Be- Da die Vorderwagentorsionsfrequenz über der 1. Tor-
ginn der Entwicklung eines neuen Fahrzeugs Grenz- sion liegt, sollte sie soweit oberhalb liegen, dass sie
werte für Frequenzlagen und Amplituden der system- auch oberhalb der 4. Motorordnung beim 8-Zylinder-
bedingten Schwingungsphänomene beim späteren Motor zu liegen kommt.
Serienprodukt definiert werden (Bild 3.4-42). Eine Zur Gruppe der motorerregten Schwingungen gehören
Schwierigkeit bei der Definition solcher Gesamtfahr- neben den Leerlaufschwingungen auch die Lastwech-
zeugziele besteht allerdings darin, das subjektive selschwingungen. Bei diesem Schwingungsphänomen
Empfinden eines Fahrzeuginsassen auf objektive Kri- wird unterschieden zwischen dem Lastwechselruckeln
terien zurückzuführen. Die Objektivierung der viel- und dem Lastwechselschlag. Beide Schwingungs-
fältigen Schwingungseinflüsse des Fahrzeugs auf den phänomene werden verursacht durch eine sprungför-
Menschen ist immer noch Gegenstand der Grundla- mige Drehmomentänderung im Antriebsstrang infolge
genforschung [20]. einer abrupten Fahrpedalbewegung.
80 3 Fahrzeugphysik

2. Torsion
40 (Vorderwagen)

4. Motor-
ordnung
Frequenz [Hz]

LL-8 Zyl. Diesel


LL-6 Zyl. Motor
30 LL-8 Zyl. Benziner
33
3. Motor- Frequenzband für
ordnung 1. Biegung und 1. Torsion
27
20 LL-4 Zyl. Motor

2. Motor-
ordnung

Bild 3.4-43 Schwingungs-


technische Auslegung von
600 700 800
Motordrehzahl [1/min] Motorleerlauf und Gesamt-
fahrzeug-Eigenfrequenzen

Beim Lastwechselruckeln, auch bekannt unter der nes ZMS bzw. dessen Kennlinie hat spürbare Auswir-
Bezeichnung „Bonanza-Effekt“, kann das Schwin- kungen auf den Lastwechselschlag (Kap. 5.4).
gungssystem als einfaches Feder-Masse-System be- 3.4.9.2 Fahrbahnerregte Schwingungen
schrieben werden. Die translatorische Masse bildet
die Karosserie als Starrkörper, die Feder ist bedingt Hier handelt es sich um Schwingungen im Fahrzeug,
durch die Elastizitäten im Antriebsstrangsystem, aus- welche über die Fahrbahn angeregt werden und da-
gehend von der Reifen-Fahrbahn-Kontaktfläche bis mit geschwindigkeitsabhängig sind. Zu dieser Gruppe
hin zu den Lagerelementen zwischen Karosserie und zählen die Phänomene Karosseriezittern, Motorstu-
Antriebsstrang. Dementsprechend ist es verständlich, ckern und Sitzreiten.
dass das Lastwechselruckeln in Abhängigkeit von Karosseriezittern tritt vor allem bei Fahrzeugen mit
der Antriebsstrangübersetzung (Gangwahl) bei unter- großer Dach- oder Hecköffnung sowie bei offenen
schiedlichen Eigenfrequenzen auftreten wird. Beson- Fahrzeugen (Cabriolets, Roadster) auf. Dabei kommt
ders störend treten Ruckelschwingungen bei niedri- es zur Überlagerung der Anregung aus der Radreso-
gen Drehzahlen im 1. und 2. Gang – mit Frequenzen nanz mit den Resonanzen aus den globalen Torsions-
zwischen 1.5 und 4 Hz – auf. Grund für die Lästigkeit eigenmoden des Fahrzeugs. Die Entstehung dieses
der Ruckelschwingungen sind vorrangig nicht die Schwingungsphänomens ist in Bild 3.4-44 schema-
Amplitudenwerte des von den Insassen wahrgenom- tisch dargestellt.
menen zeitlichen Verlaufs der Fahrzeuglängsbe-
schleunigung sondern vielmehr das mangelhafte Ab- relevanter
amplitude

klingverhalten. Frequenzbereich
Zitter-

Der Lastwechselschlag tritt im Gegensatz zum Last-


wechselruckeln nicht im tieffrequenten, sondern im
höherfrequenten Frequenzbereich auf. Dabei kommt 5 10 15 20 25 30
es durch die plötzliche Drehmomentänderung, her-
vorgerufen durch die Änderung der Fahrpedalstel-
lung, neben einem deutlich wahrnehmbaren Ruck in
nachgiebigkeit
Karosserie-

Statische
der translatorischen Bewegung des Fahrzeugs zu ei- Steifigkeit
globale
Eigenfrequenzen
nem dumpfen, einmaligen Schlaggeräusch, welches der Karosserie
aus dem Anschlag der Lagerelemente des Hinter-
achsgetriebes resultiert. Daraus ergibt sich, dass bei
5 10 15 20 25 30
diesem Schwingungsphänomen die Schwingungs-
amplitude von primärer Bedeutung ist. Radresonanz
anregung

Lastwechselruckeln und Lastwechselschlag lassen


Rad-

sich durch Eingriffe in die Motorsteuerung (Zusatz-


dämpfung durch Zündwinkelverstellung, Begrenzung
des Momentenanstiegs) sowie durch gezielte Gestal- 5 10 15 20 25 30
tung der Steifigkeit des Antriebsstrangs beeinflussen. Frequenz [Hz]
Die Ausführung der Motorlagerung hat ebenfalls Aus-
wirkungen auf das Lastwechselruckeln, der Einbau ei- Bild 3.4-44 Wirkmechanismus Karosseriezittern
3.4 Akustik und Schwingungen 81

Durch die Kopplung der beiden Komponentenreso-


nanzen tritt eine Überhöhung des Amplitudenverlaufs 33
im Frequenzbereich zwischen 10 Hz und 20 Hz auf. 30 Frequenzband für 1. Biegung,
Für den Fahrzeuginsassen macht sich dieses Phäno- 1. Torsion und Lenkradschwingung
27
men als Nachschwingen des Fahrzeugs beim Über-
fahren von Fahrbahnunebenheiten bemerkbar und

LL-Drehzahlband
Frequenz [Hz]
führt zu einem unsoliden Komforteindruck. Neue
g

vGrenzschwingungskomfort
Reifentechnologien (Runflatreifen) sowie straff ab- un
rdn
do

rdnung
gestimmte Fahrwerke verstärken das Problem. Fahr- 20 a
R
1.
zeuge mit sportlich straff abgestimmter Vertikaldyna-

ro
mik des Fahrwerks und hohen Radresonanzfrequen-

3. Moto
zen benötigen dementsprechend steifere Fahrzeug-
strukturen mit einer höherliegenden ersten globalen
Motordrehzahl [1/min]
Torsionseigenmode, um das Karosseriezittern ausrei- 10
chend zu begrenzen. 1000 2000 3000 4000 5000
50 100 150 180
Beim Motorstuckern kommt es durch gleichzeitige An- Fahrgeschwindigkeit [km/h]
regung der beiden Vorderräder zu einer Hubbewegung
des Gesamtfahrzeugs. Erfolgt diese Anregung im Bild 3.4-45 Karosserieauslegung nach den globalen
Frequenzbereich zwischen 5 Hz und 10 Hz, wird der Eigenformen
Motor-Getriebe-Verband zu einer entsprechenden Hub-
bewegung innerhalb seiner Lagergrenzen angeregt. Mensch-Eigenfrequenz zwischen 2,5 und 4 Hz anzu-
Dieses Schwingungsphänomen wird sehr störend als siedeln. Senkt man die Aufbaueigenfrequenz zu weit
Unruhe im Vorderwagen wahrgenommen. Um das ab, werden die Federwege zu groß. Wichtige Charak-
Motorstuckern zu reduzieren, ist das Lagerungskonzept teristika für die Aufbaueigenfrequenz sind neben der
von Motor und Getriebe von entscheidender Bedeu- Aufbaumasse die Lagersteifigkeiten und -dämpfun-
tung. Es muss gewährleisten, dass der Motor-Getriebe- gen. Steifigkeit und Dämpfung sind ebenfalls wichti-
Verband während einer gleichphasigen Anregung des ge Einflussgrößen für die Abstimmung der Sitzeigen-
Fahrzeugs an der Vorderachse nicht zuviel Schwin- frequenz.
gungsenergie aufbaut, die dazu führen kann, dass
der Motor-Getriebe-Verband bis an seine Anschläge 3.4.9.3 Raderregte Schwingungen
schwingt, was als deutlicher Ruck vom Fahrer wahr- Bei den raderregten Schwingungen handelt es sich
nehmbar ist. Deshalb ist eine ausreichend steife Lage- um Schwingungsphänomene die infolge von Radun-
rung zur Unterdrückung des Motorstuckerns notwen- wuchten entstehen. Diese regen u.a. die Karosserie zu
dig. Bei einer steifen Anbindung des Motor-Getriebe- geschwindigkeitsabhängigen Zitterschwingungen an.
Verbands an die Karosserie wird jedoch die Körper- Die Unwuchten können zum einen aus einer Unrund-
schallanregung aus dem Motor vermehrt in die Karos- heit der Reifen resultieren, zum anderen können un-
serie eingeleitet, was neben einer Verschlechterung des gleiche Massenverteilungen im Rad selbst die Un-
Schwingungskomforts im Leerlauf auch zu einer Ver- wucht verursachen. Für einen guten Schwingungs-
schlechterung der akustischen Übertragung führt. komfort bei höheren Geschwindigkeiten hat sich die
Diese gegensätzlichen Anforderungen lassen sich mit strukturdynamische Auslegung der Karosserie orien-
Hydrolagern auflösen, welche hochfrequent hohe Isola- tiert an der 1. Radordnung bewährt [9]. Diese ist di-
tion aufweisen und in der Stuckerfrequenz verhärten. rekt zur Fahrzeuggeschwindigkeit proportional. In
Schaltbare Hydrolager erlauben darüber hinaus über Bild 3.4-45 ist zu erkennen, dass die Leerlaufdreh-
ein Steuersignal sowohl eine dynamisch steife als auch zahl die obere Grenze des Frequenzbandes für die
eine weiche Lagerung einzustellen. Serienmäßig einge- 1. Biegung und 1. Torsion darstellt, während die un-
setzt werden diese Schwingungsisolationselemente vor tere Grenze durch die 1. Radordnung festgelegt wird.
allem bei Diesel-Fahrzeugen mit entsprechend hoher Je kleiner die Eigenfrequenzen der beiden Eigenfor-
Drehungleichförmigkeit des Antriebs im Leerlaufbe- men des Gesamtfahrzeugs sind, desto eher werden sie
trieb. Zur Reduzierung der Vibrationen in die Fahr- durch die 1. Radordnung angeregt und desto größer ist
gastzelle werden im leerlaufnahen Bereich die Lager- die Gefahr, dass es bei höheren Geschwindigkeiten zu
elemente auf „weich“ geschaltet. Im Fahrbetrieb findet einer Anregung der globalen Gesamtfahrzeugeigen-
dann das Umschalten in die Stellung „steif“ statt, wo- moden kommt.
durch das Stuckerverhalten positiv beeinflusst wird.
Beim Sitzreiten kommt es zur Kopplung der Aufbau-
3.4.10 Akustik und Schwingungen beim
schwingungen mit der Sitz-Mensch-Eigenfrequenz
zwischen 4 und 8 Hz, was zu starkem Unwohlsein des
Elektrischen Fahren
Fahrzeuginsassen führen kann. Aus diesem Grund ist Im Zuge der Hybridisierung und Elektrifizierung der
es notwendig, die Aufbaufederung unterhalb der Sitz- Fahrzeugantriebe ergeben sich über die in den einzel-
82 3 Fahrzeugphysik

nen Kapiteln beschriebenen Effekte und Maßnahmen Einsatz von Prototypen zur Konzeptabsicherung und
hinausgehend neue Phänomene und Aufgaben. Beim Detailoptimierung unverzichtbar. Wichtig ist dabei,
Hybridfahrzeug bleiben die Anregungen des Verbren- dass nur Prototypen oder Teilsysteme mit ausreichen-
nungsmotors erhalten, sobald dieser hinzugeschaltet dem Reifegrad die erforderliche Aussagefähigkeit be-
wird. Dabei wird auf ein möglichst wenig wahrnehm- sitzen. Zielführend ist in der Praxis meist eine hybri-
bares Aufstarten und Ablegen des Verbrenners Wert de Vorgehensweise aus Berechnung und Versuch.
gelegt. Geeignete Lagerungskonzepte und Schnell- Neu als Aufgabe ist auch die Auflösung des Zielkon-
startapplikationen erleichtern die Zielerreichung. Glei- fliktes zwischen der Wirksamkeit von Akustik- und
ches gilt im Prinzip für Fahrzeuge mit Motor-Start/ Schwingungsmaßnahmen und Leichtbau. Hier sind
Stop-Systemen. Standgeräusche entfallen völlig. Dies neue Ansätze zu wählen um Karosserien aus Leicht-
bedingt jedoch eine stärkere Wahrnehmbarkeit der metall oder Faserverbundwerkstoffen bzgl. Komfort
anderen Geräusche und Vibrationen im Stand und und Wertigkeit zu ertüchtigen.
rein elektrischen Fahren [28]. Für den Erhalt des Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, dass das Spezi-
Akustik- und Schwingungskomforts sind Rollge- fizieren der Akustikzielwerte wegen der Vielzahl von
räusch, Windgeräusch und die Mechatronikgeräusche Zielkonflikten zwischen den verschiedenen Eigen-
anspruchsvolleren Zielen zuzuführen, als dies bei schaften nicht losgelöst von konkurrierenden Anfor-
Fahrzeugen mit reinem verbrennungsmotorischem derungen erfolgen kann. Wichtig ist in diesem Zu-
Antrieb notwendig war. Während der Elektroantrieb sammenhang ein ausgewogenes Optimum über alle
selbst keine Drehungleichförmigkeiten verursacht, ist Fahrzeug-Eigenschaften hinweg anzustreben, denn
dafür Sorge zu tragen, dass typische Anregungen aus im Endeffekt wird nur ein in allen Disziplinen stim-
der elektromechanischen Wirkkette (Polzahl, Ansteu- miges Fahrzeug hohe Kundenakzeptanz finden.
erfrequenz, Eigenfrequenz E-Maschine) so gering wie
möglich ausfallen oder über geeignete Lager- und Literatur
Kapselkonzepte isoliert werden können. Der geringe-
ren Wahrnehmbarkeit im Straßenverkehr von Fahr- [1] Adam, T.: Untersuchung von Steifigkeitseinflüssen auf das Ge-
räuschübertragungsverhalten von Pkw-Karosserien, Dissertation
zeugen im Elektromode ggü. Verbrennermode be- am Institut für Kraftfahrwesen RWTH Aachen, Aachen, 2000
gegnen einige Länder mit gesetzlichen Regelungen, [2] Zwicker, E.; Fastl, H.: Psychoacoustics, Springer Verlag Berlin/
die die akustische Wahrnehmbarkeit durch künstlich Heidelberg/New York, 2nd Edition, 1999
erzeugte Klangbilder sicherstellen sollen. [3] FVV Forschungsvorhaben „Störgeräusch“, Beurteilung und Ka-
talogisierung von Störgeräuschen bei Verbrennungsmotoren,
Forschungsvereinigung Verbrennungskraftmaschinen e.V. Frank-
3.4.11 Prozess Akustikentwicklung furt am Main, Heft 746, 2001
Zu Beginn einer Entwicklung ist es notwendig, die [4] FVV Forschungsvorhaben „Motorgeräuschgestaltung II“ Ge-
staltung des Geräusches von Verbrennungsmotoren zur Beein-
Positionierung des Fahrzeugs im Markt und damit flussung des Höreindrucks unter Berücksichtigung der Luft- und
auch die akustische und schwingungstechnische Ziel- Körperschallübertragung, Forschungsvereinigung Verbrennungs-
positionierung exakt festzulegen. Hier sind Vorgaben kraftmaschinen e.V., Frankfurt am Main, Heft 746, 2002
[5] Möser, M.; Kropp, W..: Körperschall, Springer Verlag Berlin, 2010
für alle kundenwertigen akustischen und schwin-
[6] Laschet, A.: Systemanalyse in der Kfz-Antr.-Techn. II Expert-
gungstechnischen Phänomene zu machen. Aus die- Verlag, 2003
sen Vorgaben muss ein schlüssiges akustisches und [7] Tonhauser, J.: Außengeräuschemission von Pkw – bisherige Fort-
schwingungstechnisches Konzept entwickelt werden. schritte und zukünftige Reduzierungspotentiale, VDA/WdK Infor-
mationsveranstaltung Straßenverkehrsgeräusche, Aschheim, 1999
Dieses ist wiederum die Basis für die Ableitung von
[8] Mitschke, M.; Wallentowitz, H.: Dynamik der Kraftfahrzeuge,
Subzielen für die wesentlichen eigenschaftsprägenden Springer Berlin, 4. Auflage, 2004
Subsysteme und Komponenten. Der Zielkatalog für [9] Freymann, R.: Strukturdynamische Auslegung von Fahrzeug-
akustische und schwingungstechnische Eigenschaften Karosserien, VDI-Berichte Nr. 968, S. 143 – 158, 1992
[10] Holzweißig, F.: Maschinendynamik – Schwingungslehre, Sprin-
ist damit grundsätzlich hierarchisch strukturiert. Aus-
ger Verlag Berlin, 5. Auflage 2004
gehend von den Gesamtfahrzeugzielwerten der Ebene [11] Sarradj, E.: Energy-based vibroacoustics: SEA and beyond,
0 werden zuerst die akustischen Kenndaten für die CFA/DAGA 2004, Strasbourg
drei wesentlichen Subsysteme der ersten Ebene (Ka- [12] Hucho, W. H.: Aerodynamik der stumpfen Körper, Vieweg Ver-
lag, 1. Auflage, 2002
rosserie, Antrieb und Antriebsstrang, Fahrwerk) fest-
[13] Zeller, P.: Psychoacoustic-based Sound Design in Vehicle Engi-
gelegt. In den nachfolgenden Ebenen 2, 3, . . . werden neering, JSAE Congress Yokohama, May 2005
dann – bei ständig zunehmender Anzahl – die Eigen- [14] Henn, H.; Sinambari, G. R.; Fallen, M.: Ingenieurakustik, Vie-
schaften von deren Subkomponenten mit fortschrei- weg Verlag, 3. Auflage, 2001
[15] Martens, T.: Matrix inversion technology for vibro-acoustic
tender Detaillierung beschrieben [21]. modeling application ISMA 23, 1998
Die Erarbeitung eines akustischen Konzeptes ist [16] ATZ, MTZ: Pkw Neuerscheinungen
gleichbedeutend mit der Ableitung von Komponen- [17] VDI-Richtlinien 2057: Einwirkungen mechanischer Schwingun-
teneigenschaften aus Gesamtfahrzeugzielen. Trotz gen auf den Menschen, Blatt 1 und 2, Beuth Verlag Berlin, 2002
[18] Birch, S.: Good Vibrations, AEI, September 2006, S. 46 – 50
großer Fortschritte, Eigenschaftsaussagen auf der Ba- [19] Sell, H.: Charakterisierung des dynamischen Verhaltens von elas-
sis von virtuellen Produktdaten zu machen, ist gerade tischen Bauteilen im Einbauzustand, Dissertation am Arbeitsbe-
bei Akustik- und Schwingungen auch heute noch der reich Mechanik I der TU Hamburg-Harburg, 2004[20]
3.4 Akustik und Schwingungen 83

[20] Lennert, S.: Zur Objektivierung von Schwingungskomfort in [25] Keller, W.; Wastl, W.: Neue Methoden und Konzepte zur Dre-
Personenkraftwagen – Untersuchung der Wahrnehmungsdimen- hungleichförmigkeits-Reduzierung. VDI-Tagung Getriebe in
sionen, Dissertation am Lehrstuhl für Maschinendynamik der Fahrzeugen, 2008
TU Darmstadt, 2008 [26] Kroll, J.; Kooy, A.; Seebacher, R.: Land in Sicht? – Torsions-
[21] Geib, W.: Akustik und Schwingungstechnik im Spannungsfeld schwingungsdämpfung für zukünftige Motoren, 9. Schaeffler
zwischen Komponenten- und Gesamtfahrzeugeigenschaften, Kolloquium, S. 28 – 39, 2010
VDI-Berichte Nr. 791, S. 1 – 37, 1990 [27] Zink, M.; Hausner, M.: Das Fliehkraftpendel – Anwendung, Leis-
[22] Zeller, P.: Handbuch Fahrzeugakustik, Vieweg + Teubner | GWV tung und Grenzen drehzahladaptiver Tilger, ATZ, Ausgabe 07-
Fachverlage GmbH, Wiesbaden, 2009 08/2009, S. 546 – 553, 2009
[23] Moosmayr, T.: Objektivierung von transienten Störgeräuschen im [28] Sellerbeck, P.: Enhancing Noise and Vibration Comfort of Hyb-
Fahrzeuginnenraum, Dissertation am Lehrstuhl für Mensch- rid/Electric Vehicles Using Transfer Path Models, Aachener
Maschine-Kommunikation der TU München, 2009 Akustik Kolloquium, 2010 [29] Fidlin, A.; Seebacher, R.: Simu-
[24] Kreppold, E.: A Modern Development Process to Bring Silence lationstechnik am Beispiel des ZMS – Die Stecknadel im Heu-
Into Interior Components, SAE World Congress & Exhibition, haufen finden, LUK-Kolloquium 2006
2007
4 Formen und neue Konzepte

4.1 Design Dieser Professionalisierung des Automobildesigns


hatte man in Europa lange nichts entgegenzusetzen.
4.1.1 Die Bedeutung von Design Erst mit Beginn der 50er Jahre setzte dann auch in der
europäischen Automobilindustrie ein, was es in den
Das Design gewinnt innerhalb der Automobilent- USA schon seit den 30er Jahren gab, eine durch
wicklung eine immer größere Bedeutung. Spezialisten, durch Designer betriebene Gestaltung.
Design ist eines der wichtigsten Mittel, eine Marke zu Anfangs waren diese Designer in der Regel organisa-
differenzieren und zu profilieren. torisch der technischen Entwicklung angegliedert.
Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die technischen Erst mit wachsender Größe und auch wachsender Be-
Möglichkeiten aller Hersteller sich in den letzten deutung wurden daraus eigenständige Bereiche gebil-
Jahren auch durch den Prozess der Markenbereini- det.
gung, mehr und mehr angeglichen haben. Natürlich Deren Aufgabe ist heute nicht mehr nur in der eigent-
gibt es auch technologisch noch erhebliche Unter- lichen Gestaltungsumsetzung der geplanten Produkte
schiede, für den normalen Kunden wahrnehmbar zu sehen, sondern zunehmend ist das Design an der
einer bestimmten Marke zuordenbar sind sie jedoch Planung der Produkte und an der Erstellung der
immer weniger. Das Grundkonzept Auto hat sich Produktstrategien beteiligt.
weltweit bei beinahe allen im direkten Wettbewerb Beinahe alle Hersteller agieren heute global. Viele
stehenden Herstellern auf einem hohen Niveau einge- Hersteller beheimaten mehrere Marken unter einem
richtet. Dach.
Umso mehr ist das Design ein Wahrnehmungsfeld, Die Unterschiede in den Erscheinungsformen und in
welches von den umworbenen Kunden einem kon- den Markenprofilen ergeben sich nicht mehr automa-
kreten Hersteller zugeordnet werden kann. tisch durch einen regionalen Bezug oder durch einen
Zu dieser Entwicklung hat auch beigetragen, dass das anderen historischen Hintergrund. Die Unterschiede
Know-how vieler Schlüsseltechnologien nicht mehr müssen heute wie alle Merkmale eines Produktes
bei den Markenherstellern allein liegt, sondern sich geplant werden und hier ist vor allem das Design das
zunehmend auf Entwicklungslieferanten konzentriert, Mittel, diese Differenzierungen zu bewerkstelligen.
bei denen sich dann alle Marken bedienen. Automobildesign hat sich in den letzten Jahren ge-
Fazit: Technologische Merkmale zur Darstellung wandelt.
eines Markenprofils sind immer weniger tragfähig, Es beinhaltet heute nicht mehr nur die konkrete
wenngleich für die Gesamtperformance nicht ohne Gestaltung vorgegebener Produkte, sondern ist heute
Bedeutung. strategische Größe zur Ausrichtung des Unterneh-
Umso mehr gewinnt hier das Design an Bedeutung. mens.
Durch das Design wird die Wahrnehmung der
Marke geprägt. Durch das Design wird die Wahr- 4.1.3 Der Designprozess
nehmung des Produktes geprägt.
Das Design stellt heute in den meisten Unternehmen
4.1.2 Designziele neben der technischen Entwicklung, dem Vertrieb
und Marketing, der Produktion und der Betriebswirt-
Während sich die technischen Produkteigenschaften schaft im Produktentstehungsprozess eine eigenstän-
aller Hersteller auf einem sehr vergleichbaren Ni- dige Größe dar. Bereits bei der langfristigen Produkt-
veau einzufinden scheinen, ist das Design mehr und planung und bei der Formulierung der konkreten
mehr geprägt vom Ziel größtmöglicher Differenzie- Produktziele ist das Design von großer Bedeutung
rung. und erarbeitet gemeinsam mit den anderen Fachdis-
Die Erkenntnis dieses Bedeutungszuwachses ist in ziplinen die Produktspezifizierung aus, die von allen
Europa eine relativ junge Entwicklung. Lange Zeit Beteiligten gemeinsam getragen werden kann.
stand hier bei manchen Firmen das Design im Schat- Die früher gebräuchliche Struktur der seriellen Abar-
ten der technischen Entwicklung. Design war eher ein beitung der verschiedenen Teilprozesse ist einer
nachgelagerter Prozess zur ästhetischen Überformung zunehmenden Parallelisierung gewichen. Entwick-
eines technisch geprägten Konzeptes. lungsprojekte werden projekthaft interdisziplinär
Anders in den USA, wo es schon sehr früh zu einer bearbeitet, d.h. alle am Prozess Beteiligten arbeiten
relativen Marktsättigung kam und Design eine wich- von Anfang an gemeinsam, um Zielkonflikte frühzei-
tige strategische Bedeutung bekam, um durch künst- tig zu orten und zu lösen, wenn möglich durch die
liche Produktdifferenzierung Nachfragesicherung zu gemeinsame Zieldefinition gar nicht erst entstehen zu
betreiben. lassen.

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_4,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
4.1 Design 85

Diese frühzeitige Zusammenarbeit ist daher äußerst Es geht darum in einem verschärften Wettbewerb
bedeutsam für die Effizienz der nachfolgenden Ent- seine Position auszubauen. Die wichtigsten Wettbe-
wicklungsprozesse, Bild 4.1-1. werbsfelder sind dabei Profitabilität und Wachstum.
Das heißt, Optimierung der Kostenstrukturen bei
Vernetzung der Subprozesse gleichzeitiger Steigerung der für den Kunden wahr-
nehmbaren Produktqualitäten.
Design ist dabei ein immer wichtiger werdendes
Produktion Entwicklung Qualitätsmerkmal.
Um dieses langfristig zu sichern, ist es notwendig
diese Qualität langfristig anzulegen, denn nur mit
kurzfristigen Einzelerfolgen kann die Wahrnehmung
Design einer der Marke zugeschriebenen Designqualität nicht
mehr erreicht werden.
Controlling Vertrieb
Im Vorfeld des eigentlichen Entwicklungs- und
Designprozesses steht daher die Erarbeitung der
jeweiligen Produktcharakteristik in Ableitung von der
Einkauf jeweiligen unternehmensspezifischen Produktgesamt-
strategie (Beispiele siehe Bild 4.1-2).
4.1.4 Der kreative Prozess
Bild 4.1-1 Vernetzung der Subprozesse
Nachdem Klarheit über den angestrebten Charakter des
neuen Fahrzeuges gewonnen, sowie ein verbindliches
Zielkonflikte während der eigentlichen Produktent- Maßkonzept erarbeitet ist, kann der eigentliche kreative
stehung (klassisches Beispiel der Konflikt zwischen Prozess auf breiter Ebene gestartet werden. Ziel dieser
Aerodynamik und Formgebung) sind in der Regel Entwicklungsphase ist es, ein möglichst breites Spekt-
sehr teuer und es ist deshalb anzustreben, diese schon rum an Ideen zu generieren. Über Wochen und Monate
im Vorfeld durch eine gemeinsam getragene Zielde- entstehen Hunderte von Skizzen, Zeichnungen und
finition zu lösen anstatt offene Zielkonflikte in die Konzeptbeschreibungen, Bild 4.1-3.
Umsetzungsphase zu tragen. Dieser Prozess ist ein Teamprozess, wobei die Inter-
Die Qualität dieser Zieldefinition ist entscheidend für aktion im Team hier äußerst dynamisch sein kann,
den weiterführenden Prozess. Alle hier definierten Bild 4.1-4.
Ziele sollten Elemente einer langfristig angelegten Ein wichtiges Element in dieser Phase ist das der
Produktstrategie sein, sowohl was die technischen Konkurrenz.
Qualitäten als auch die jeweilige Designausprägung Jeder Designer hat das Interesse, dass möglichst viel
betrifft. von seinen individuellen Ideen weitergeführt wird.
Es ist zu beobachten, dass die Anstrengungen des Wenn in irgend einer Form der Aspekt der künstleri-
Designs daher um den Aspekt einer langfristig angeleg- schen Selbstverwirklichung innerhalb des Design-
ten strategischen Planung erweitert werden musste. prozesses eine Rolle spielt, dann ist es in dieser
Die generellen Ziele aller Hersteller sind im Grund- Phase, in der zwar alle gemeinsam, aber doch jeder
satz sehr ähnlich: auch ganz individuell nur für sich agiert.

Identifikationsmerkmale

Bild 4.1-2 Identifikations-


merkmale
86 4 Formen und neue Konzepte

Rendering

Bild 4.1-3 Entwurfsphase


(Rendering)

Team Brainstorming

Bild 4.1-4 Team-


Brainstorming

Insgesamt ist dieser Aspekt als Katalysator zu sehen, Bereits jetzt in dieser Phase wird dieser kreative
um einen möglichst breiten Ideenansatz zu entwi- Prozess durch die Spezialisten der technischen Absi-
ckeln, aber auch um die besten Ideen zum Zuge cherung begleitet.
kommen zu lassen. In früheren Zeiten setzte dieser Absicherungsprozess
Von sehr großer Bedeutung ist es hierbei, das dieser durch die jeweiligen Fachbereiche erst sehr viel später
Prozess klug gesteuert wird, sowohl offen genug, um ein, nämlich dann, wenn bereits die Gestaltungen sich
keine Ideen zu unterlassen, aber auch zielorientiert sehr weit konkretisiert hatten. Dies musste unweiger-
genug, um sich nicht zu verlaufen. lich zu Konflikten führen, da hier die technische Absi-
Schritt für Schritt werden dann die erfolgverspre- cherung nicht als Unterstützung und Beratung empfun-
chendsten Ideen und Konzepte in intensiven Teambe- den wurde, sondern als Störung der gestalterischen
sprechungen herausgefiltert und in die nächste Kon- Freiheit und Eingrenzung der Möglichkeiten.
kretisierungsstufe überführt. Die viel zitierte Gegnerschaft zwischen Ingenieuren
In dieser Phase der dreidimensionalen Umsetzung gilt und Designern hat seine Ursache in nicht abgestimm-
es, eine noch relativ große Anzahl formal stimmiger ten Zielpositionen und Prozessauffassungen.
Gesamtkonzepte zu konkretisieren. Gleichwohl wird Je besser diese Abstimmung im Vorfeld war, desto
bereits die technische Realisierbarkeit der Studien besser ist der Prozess insgesamt.
überprüft.
Modelle des Karosseriekörpers werden in verkleiner- Einflüsse durch Gesetze und Vorschriften
tem Maßstab aufgebaut, das Interieur wird sofort in Gesetzliche Vorgaben zum Bau und zur Zulassung
Originalgröße erstellt. von Automobilen haben in den letzten Jahren sehr
4.1 Design 87

Datenmodell Interieur

Bild 4.1-5 Datenmodell


Interieur

stark zugenommen. In den Entwicklungsbereichen entlastender Komfort und maximale Konditionserhal-


sind ganze Expertenstäbe mit nichts anderem be- tung konterkarieren.
schäftigt, als die Vorschriften in konkrete Handlungs- Design geht hier in engem Schulterschluss mit den
anweisungen zu übersetzen bzw die Vorschriftenkon- Ergonomen. Nicht nur die Optimierung des Einzel-
formität der entstehenden Entwicklungen abzuprüfen systems ist hier wichtig. Wichtiger noch ist die ge-
und zu dokumentieren. Erschwerend kommt hinzu, stalterische und ergonomische Betrachtung der Ge-
dass diese Vorschriften zum Teil nur regionenspezi- samtheit aller Funktionalitäten (Kap. 6.4.1).
fisch gelten und nicht international harmonisiert sind.
Auch auf das Design wirken sich viele dieser Vor- 4.1.5 Der virtuelle Designprozess
schriften und Gesetze in starkem Maße aus. Als Neben der klassischen Bearbeitung durch Skizzen,
Beispiele angeführt seien hier die Bumperregulations Zeichnungen und handwerklich erzeugten Modellen
für Nordamerika oder die aktuellen Fußgängerschutz- wird mehr und mehr von digitalen Medien Gebrauch
regeln für Europa. gemacht.
Interieur und Ergonomie Der Vorteil liegt in der engen Vernetzung der Kom-
munikation zwischen den Gestaltern und den tech-
Ein immer wichtiger werdendes Teilgebiet der Interi- nisch orientierten Arbeitdisziplinen.
eurgestaltung betrifft die Bedien- und Anzeigenkon-
Auch völlig neue Arten der Simulation von Modellen
zepte, auch MMI genannt, Bild 4.1-5.
sind möglich und finden mehr und mehr Eingang in
Insgesamt ist die Interieurgestaltung der Zielsetzung
den Arbeitsablauf.
unterworfen, ein System zu sein zur maximalen Vor allem dort, wo es darum geht viele Variationen
Erhaltung der Konditionssicherheit von Fahrer und
eines formalen Themas zu visualisieren sind virtuelle
Insassen. Der Fahrer soll sich im wesentlichen auf
Medien das Mittel der Wahl.
das Fahren konzentrieren können und diese Konzent-
Natürlich gibt es noch viele Optimierungsnotwendig-
ration soll möglichst lange anhalten, Kap. 6.4.1. keiten. So gibt es zwischen virtuell dargestellten
Jeglicher Komfort ist entlastender Komfort.
Modellen und Realmodellen immer noch große
Dennoch ist nicht zu verkennen, dass es zahlreiche
Unterschiede in der konkreten Wahrnehmung.
neue Funktionalitäten gibt, die in den letzten Jahren
Diese Unterschiede müssen beseitigt werden, was je-
Eingang in die automobilen Interieurs gefunden
doch noch immer relativ aufwendig zu sein scheint.
haben.
Letztendlich ist die virtuelle Darstellung oder Simula-
Es sind vor allem moderne Fahrassistenzsysteme, wie
tion nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck,
zum Beispiel Navigation, Radarsysteme, Telefon und
d.h. es kommt das zum Zuge, was am besten zum
auch Entertainmentsysteme bis hin zum TV-Empfang
Ziel führt.
Kap. 8).
Man kann daher davon ausgehen, dass auch in Zu-
Auch die klassischen Elemente wie Klimatisierung
kunft auf reale physikalische Modelle nicht verzichtet
oder auch Sitzkonfigurationen sind in sich anspruchs-
werden kann.
voller geworden.
Zielsetzung des Designs muss es sein, die Schnittstel-
le zum Fahrer so zu gestalten, dass es nicht zu Über-
4.1.6 Modellphase
forderungen kommen kann und die an sich sehr Am Ende der ersten dreidimensionalen Bearbeitung
sinnvollen Systeme nicht in Summe die Zielsetzung steht eine weitere Zäsur an, bei der jedes einzelne
88 4 Formen und neue Konzepte

Manuelles Modellieren

Bild 4.1-6 Manuelles Model-


lieren

Modell an dem Anforderungsprofil des neuen Auto- Natürlich ist ein maximales Ausweiten der Varianz
mobils gemessen wird. Nur die Modelle, bei denen immer vor dem Hintergrund der Produktionsanforde-
ein Realisierungspotential besteht, werden im Maß- rungen zu sehen, deren Zielsetzung eher einer großen
stab 1 : 1 weitergeführt, Bild 4.1-6. Vielfalt entgegensteht. Die Möglichkeiten einer
Sowohl die Exterieur- und Interieur-Modelle als auch modernen Logistik helfen hier den Produktionspro-
die Material- und Oberflächenkonzepte werden im zess trotz hoher Bauteilvarianz schlank zu halten,
ständigen Dialog mit den Experten aus Konstruktion, indem Lagerflächen vermieden werden bzw. zu den
Produktion, Vertrieb und Betriebswirtschaft weiter- Bauteilelieferanten verlagert werden.
entwickelt. Viele Hersteller sind zudem dazu übergegangen
Es liegt auf der Hand, dass es in dieser Phase fast besondere Formen der Individualisierung durch
unvermeidlich zu Problemfeldern kommt, die in der geschickte Paketierungskonzepte oder durch Submar-
Definitionsphase im Detail noch nicht erkannt werden ken zusätzlich anzubieten. Obwohl dies die Ziele
konnten. Hier ist dann eine sehr intensive Zusam- einer modernen Produktion eigentlich zu konterkarie-
menarbeit der technischen Experten, Kostenplaner ren scheint sind diese Konzepte wirtschaftlich für die
und Designer gefragt. Ziel ist es, diese Probleme Hersteller von großer Bedeutung, denn der Bedarf
immer zugunsten von Produktqualität und Kunden- nach Individualisierung und passgenauen Angeboten
nutzen zu lösen. scheint grenzenlos.
Schließlich ist die Auswahl des zu produzierenden Ein sehr gutes Beispiel für die Ausweitung der Indi-
Modells final zu treffen – eine Entscheidung, die auf vidualisierungsmöglichkeiten sind Räder. Hier gab es
Vorstandsebene gefällt wird. in früheren Zeiten sicherlich einige Möglichkeiten,
Erst dann werden Interieur und Exterieur zu einem jedoch sind diese in keiner Weise vergleichbar mit
detailliert ausgearbeiteten Einstiegsmodell vereint, dem, was heute angeboten wird.
mit dem sogar eine Erprobungsfahrt simuliert werden Für jedes Modell werden heute nicht nur Räder in
kann. unterschiedlichen Größen entwickelt, sondern auch in
Nach dem nächsten Meilenstein der Produktentwick- unterschiedlichen Designs. Der Bedarf scheint per-
lung, dem sogenannten Design-Entscheid, erfolgt die manent eher zu wachsen, die Bereitschaft für die
formelle Freigabe zur Serienentwicklung. Differenzierung durch unterschiedlich gestaltete
Permanente Design-Betreuung ist auch in dieser Räder hohe Aufwendungen zu akzeptieren ist vor-
Phase erforderlich. handen und sie wächst.
4.1.7 Color, Trim und Individualisierung
4.1.8 Designaktivitäten
Neben der Formgestaltung im Exterieur und Interieur in der Produktionsvorbereitung
stellt das Erstellen von Konzepten zur Farb- und
Materialgebung einen eigenständigen Prozess dar. Mit der Festlegung und Freigabe aller produktbe-
Zielsetzung ist es hier für den Kunden ein maximales stimmenden Form- und Materialdaten kann der ei-
Spektrum an Individualisierung zu bieten. gentliche Designprozess als abgeschlossen betrachtet
Neben den für den Kunden wählbaren technischen Aus- werden.
stattungen, sind es vor allem die Farbe und auch die Dennoch sind die Designer aus dem dann folgenden
Materialien und Farbgebungen der Innenausstattung, Prozess der Produktionsvorbereitung und der Reali-
mit denen sich diese Individualität erzeugen lässt. sierung des Produktes noch nicht entlassen.
4.1 Design 89

Was letztlich bleibt ist, dafür Sorge zu tragen, dass noch in ca. 20 Jahren im Straßenbild präsent und
die einmal getroffenen Festlegungen auch wirklich prägt immer noch die Wahrnehmung der Kunden.
erreicht werden. Eine derart lange Voraussage ist natürlich im Bereich
Feinkonzepte müssen erarbeitet, und gemeinsam mit des Unmöglichen.
den Experten der Produktion, Marktexperten des Zu bedenken ist außerdem, dass tragfähige Aussagen
Vertriebs und in engem Kontakt mit den Zulieferan- erst dann ermittelt werden können, wenn der Ent-
ten müssen die verschiedenen Farb-, Material- und wicklungsprozess schon soweit fortgeschritten ist,
Oberflächenkonzepte abgestimmt werden. dass Korrekturen am Design nur mit äußerst erhebli-
Das Ergebnis dieses Optimierungsprozesses, der chem finanziellen Aufwand darstellbar sind.
methodisch Kundenvorabbefragungen und Car- Ansätze, erheblich früher im Prozess Befragungen
Clinics einschließt, wird wiederum vom Vorstand von Kunden als Grundlage für Entscheidungen he-
diskutiert und entschieden. ranzuziehen sind aufwändig und führen in der Regel
In der Regel ist es ein kleines Team sehr erfahrener nicht zu genauen oder allenfalls sehr interpretie-
Designer, die hier verantwortlich zeichnen. Zahlrei- rungsbedürftigen Ergebnissen.
che Abstimmungen mit den jeweiligen Teilelieferan- Diese Methoden der Kundeneinbeziehung in den
ten sind tägliches Arbeitsprogramm. Entscheidungsprozess sind daher nur als flankierende
Letzlich geht es hier um die Qualität der Ausführung. Maßnahmen brauchbar. Sie können den Entschei-
Das Produkt muss in sich stimmig wirken, die unter- dungsprozess bestenfalls befruchten, aber letzlich
schiedlichen Lieferanten mit ihren zum Teil unter- nicht ersetzen.
schiedlichen Produktionsprozessen müssen koordi- Letztendlich ist die Qualität von Entscheidungen
niert werden. stark abhängig von der Kompetenz und der Erfahrung
Erst wenn das erste kundenfähige Produkt eine Frei- der entscheidenden Personen. Hierin ist die unter-
gabe erlangt hat, kann auch der Designprozess als nehmerische Qualität zu sehen, die letztlich zum
abgeschlossen betrachtet werden Erfolg führt oder auch nicht.

4.1.9 Entscheidungen 4.1.10 Designstudien


und Advanced Design
Eine häufig diskutierte Frage betrifft die Entschei-
dungen im Designprozess, d. h. wer entscheidet und Ein bekanntes Element jeder Automobilausstellung
vor allem auf welcher Grundlage wird entschieden. betrifft Modellstudien, die einen Blick in zukünftige
Zunächst sind Produktentscheidungen im Design eher automobile Welten ermöglichen sollen. Diese Studien
als ein Hinführungsprozess zu sehen. haben unterschiedliche Bedeutungen.
Die Einzelentscheidungen, die letztlich zu einer Zum einen gibt es wirkliche Zukunftsstudien, Ent-
Produktausprägung führen, verteilen sich über einen wicklungen, bei denen man davon ausgehen kann,
längeren Zeitraum. Alle handelnden Personen sind dass sie nie in der gezeigten Form realisiert werden
lange mit dem Objekt der Entscheidungen befasst. können. Die aber exemplarisch bestimmte zukünftige
Es bleibt Zeit, Entscheidungen reifen zu lassen und Technologien aufzeigen können und das in zum Teil
konsequent zu durchdenken. extremer Darstellung.
Ganze Mitarbeiterstäbe sind damit befasst, Entschei- Ein Beispiel hierfür ist die F-Reihe von Mercedes (F
dungen zu strukturieren und vorzubereiten, Alternati- steht hier für Forschung).
ven zu prüfen, Folgen zu durchdenken und Empfeh- Andere Studien dienen der Vorpositionierung geplan-
lungen auszuarbeiten. ter Fahrzeuge. Hier geht es darum ein neues Fahr-
Ungeachtet der Tatsache, dass auch der Designpro- zeugkonzept bei einem breiten Publikum lange vor
zess durch die in großen Unternehmen vorherrschen- dem anvisierten Markteintritt abzutesten und die
den hierarchischen Systeme dominiert wird, stellt Reaktionen darauf vielleicht noch in die Hauptent-
sich die Frage woher ein solches System Sicherheit wicklung des geplanten Modells einfließen zu lassen.
über die zu treffenden Entscheidungen gewinnt. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass der
In diesem Zusammenhang tauchen unterschiedliche Erfolg einer Studie erst zum Beschluss einer Serien-
Methoden der Kundenbefragungen auf, oder auch entwicklung geführt hat.
Carclinics genannt. Diese Methoden werden ange-
wandt, jedoch sind diese Methoden nicht unumstrit- 4.1.11 Sinnliche Wahrnehmung im Design
ten.
Je komplexer das Produkt desto komplexer die Kun- Grundlage der Arbeit eines Designers ist die Kenntnis
denwahrnehmung und desto unmöglicher ist es, diese über die Grundlagen der sinnlichen Wahrnehmung.
Kundenwahrnehmung zu strukturieren und in die Der erste Kontakt mit einem figürlichen Objekt ist in
Zukunft zu projezieren. der Regel ein Sichtkontakt und es sind visuelle Reize,
Man muss hier die sehr langen Zeiträume beachten. die hier ihre Wirkung zeigen müssen, Bild 4.1-7 und
Ein Fahrzeug, über das heute entschieden wird, ist Bild 4.1-8.
90 4 Formen und neue Konzepte

Schlüsselreize

Bild 4.1-7 Schlüsselreize

Ausdruck

Bild 4.1-8 Ausdruck

Die menschliche Wahrnehmung ist vor allem darauf Möglicherweise ist der Erfolg des Autos gerade auch
konditioniert andere menschliche Wesen wahrzu- in der Entsprechung dieses uns Menschen eigenen
nehmen. Wahrnehmungsmusters zu suchen.
Wissenschaftliche Versuche haben ergeben, dass Die Formgebung eines Autos, mit seinen Proporti-
dabei vor allem die Gestalt als ganzes und bestimmte onen und Reizmustern, wie Gesicht, Heck usw. hat
Bereiche, wie das Gesicht eine entscheidende Bedeu- einen starken reizauslösenden Charakter und wir
tung haben. bedienen uns hier der gleichen Wahrnehmungskanäle,
Es weist vieles darauf hin, dass sich dieses Wahr- wie wir das auch sonst tun, etwa bei den Wahrneh-
nehmungsmuster auch auf die Wahrnehmung von mungsvorgängen zwischen zwei Menschen.
Automobilen übertragen lassen. Die ewige Frage nach der Schönheit und wie sie
So wie seit Menschengedenken angeboren schauen funktioniert lässt sich nicht abschließend beantwor-
wir zuerst auf das Gesicht und auf die Figur. ten. Dennoch, es gibt Näherungen.
Das machen wir auch bei einem Auto so und gerade Man kann davon ausgehen, dass bestimmte Propor-
dieses sind die wichtigsten Bereiche, die uns bei der tionen von den meisten Menschen als angenehmer
Gestaltung am intensivsten beschäftigen. empfunden werden als andere, wobei es hier durchaus
Sie definieren den Charakter, den wir in erster Nähe- kulturelle Unterschiede zu beachten gilt.
rung einem Fahrzeug zusprechen, sie bewirken, ob wir Bestimmte Figürlichkeiten haben jedoch auch über
uns angezogen oder abgestoßen fühlen, sie bewirken, lange Zeiträume hinweg betrachtet in ihrer Wirkung
ob es so etwas wie eine emotionale Beziehung geben einen gewissen Ewigkeitswert.
wird und wie diese Beziehung sich gestalten wird.
4.1 Design 91

Ein Lächeln ist ein Ausdruck, der in allen Kulturen


verstanden wird.
So gibt es viele interkulturelle Zeichen und Chiffren
die dem Gestalter hier zur Verfügung stehen.
Andere Gestaltungsinhalte sind dagegen eher aus
einem spezifischen kulturellen Hintergrund entstan-
den.
Wichtig ist dabei, dass die Inhalte der Chiffren so
aufeinander abgestimmt sind, dass die Botschaft
verstanden wird. Sie wird dann verstanden, wenn sie
einem schon vorhandenen Wahrnehmungsmuster
entspricht. Bild 4.1-9 Zur Entwicklung des Mercedes-Benz-
Es ist in der Tat verblüffend festzustellen, wie stark Designs
die erfolgreichsten Fahrzeuge den in unserer Vorstel-
lung wirksamen Archetypen entsprechen.
Je klarer diese Gesamtwahrnehmung einem eingeüb-
ten Wahrnehmungsmuster entspricht, desto bere-
chenbarer ist das voraussagbare Ergebnis.
Die Reize, mit denen Designer zu arbeiten gewohnt
sind, wirken unmittelbar und kaum gefiltert und sind
deshalb umso nachhaltiger wirksam.
Einer der wichtigsten Wahrnehmungsfilter ist die
Marke eines Herstellers.
Voraussetzung dafür ist ein ausgebildeter Stil, denn Bild 4.1-10 Entwicklung des Mercedes-Benz SL-
nicht nur bestimmte Embleme machen eine Marke Gesichts
aus, sondern das mit der Marke verbundene Produkt-
versprechen. Man muss dies als ein Ergebnis einer in den Anfän-
Ein Stil bildet sich dabei aus der konsequenten An- gen unseres Jahrhunderts bereits beginnenden Bil-
wendung und Wiederholung bestimmter Chiffren und dung einer öffentlichen Meinung betrachten.
Themen über einen längeren Zeitraum. Grundlage war und ist natürlich die hervorragende
Der Markenstil bildet dabei eine eigene Wahrneh- Qualität der Produkte unseres Hauses aber auch des
mungsebene ab. Umfeldes, in dem diese Produkte in Erscheinung
Diese Wahrnehmung ist über lange Zeit gelernt und treten.
wenn einmal erworben sehr konstant wirksam. Ich möchte nicht erklären was ein Pawlowscher
Als Beispiel der Bedeutung des Markenstils sei eine Reflex ist, aber es scheint zwischen einer Marke wie
Beschreibung angefügt, die aus einer Veröffentli- Mercedes und der öffentlichen Meinung Wechselbe-
chung des Designbereichs (90er Jahre) der Marke ziehungen zu geben, die diesem Phänomen sehr
Mercedes-Benz stammt: ähnlich sind.
Ein paar bescheidene Anmerkungen dazu, was für Eine Marke weckt aber nicht nur positive Gefühle,
uns Designer die Marke Mercedes-Benz bedeutet. sondern erzeugt auch Erwartungen.
Sie ist für uns eine der Grundsubstanzen unserer Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit sich möglicher-
Arbeit und wir setzen sie gezielt ein. Eine unserer weise bestehenden Produktschwächen zuwendet, die
wichtigsten Anforderungen zu Beginn jeden Projektes durchaus vorgekommen sind, so mag dieses bei ande-
lautet: ein Mercedes muss immer wie ein Mercedes ren Marken als Randnotiz vermerkt werden, in Verbin-
aussehen. dung mit dem Namen Mercedes-Benz ist so etwas
Mit unverkennbaren Hinweisen auf die Zugehörigkeit immer für eine Sensation gut. der in einer sensations-
zur Marke Mercedes-Benz, sind wir in der Lage den gierigen Öffentlichkeit ein hoher Marktwert zukommt.
umfangreichen Erinnerungsspeicher bei unseren Wir wissen das sehr gut und nicht nur deswegen ist
Kunden zu aktivieren, der mit dem Namen Mercedes- uns unsere Marke auch Verpflichtung.
Benz verbunden ist (Beispiele siehe Bilder 4.1-9 und Wenn bereits durch den bloßen Anblick eines neuen
4.1-10). Fahrzeuges viele positive Empfindungen und Mei-
Die Marke Mercedes scheint seit vielen Jahrzehnten nungen ausgelöst werden können, so nützt uns das,
bereits verbunden zu sein mit vielen positiven Eigen- denn wir müssen diese Empfindungen nicht mehr
schaften, die man den Produkten und dem Unterneh- aufwendig erzeugen.
men zuschreibt. In der Vergangenheit haben wir sehr strikt nach
Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass es diesem Muster gehandelt.
so etwas wie ein Urvertrauen in diese Marke und in In den Zeiten, in denen wir noch im wesentlichen drei
seine Produkte gibt. Limousinenbaureihen produzierten, sah ein Mercedes
92 4 Formen und neue Konzepte

vor allem immer wie ein Mercedes aus. Die Marken- 4.2 Fahrzeugkonzept und Package
aussage hatte Vorrang vor allem anderen. Die Fahr-
zeuge waren zuerst Mercedes und erst dann ein 4.2.1 Einführung und Definition
Fahrzeug einer bestimmten Klasse. Wesentliche Aufgabe der Konzepterstellung und
Das haben wir, wie Sie unschwer erkennen können, Packageerarbeitung für ein Fahrzeug ist die konstruk-
etwas geändert. tive Zusammenführung, Verdichtung und Bewertung
Zwar ist ein Mercedes auch heute noch auf den ersten unterschiedlicher Anforderungen und Ziele, vgl. Bild
Blick als Mercedes zu erkennen, dennoch sind die 4.2-1.
Unterschiede zwischen den einzelnen Modellen Die Fahrzeugkonzept- und die Packageerstellung sind
größer geworden. Die Charaktere der Modelle sind im Fahrzeugentwicklungsprozess untrennbar mitei-
deutlicher herausgearbeitet. nander verknüpfte Aktivitäten. Die Begriffe werden
Der Grund dafür ist natürlich die Entscheidung zu in der Automobilindustrie daher auch nicht einheit-
unserer Modelloffensive, die Anfang der 90er Jahre lich verwendet. Eine sinnvolle Abgrenzung gelingt
getroffen wurde. über die zeitliche Abfolge der Aktivitäten und über
Wir wollen Kunden erreichen, die bisher nicht im die behandelten Schwerpunkte. Von der zeitlichen
Mittelpunkt unseres Interesses standen, und dazu Abfolge her wird im Entwicklungsprozess mit der
brauchen wir ein breit gefächertes Angebot. Fahrzeuggrundkonzeption begonnen. Das Grundkon-
Für die Marke Mercedes wiederum bedeutet diese zept wird dann durch ein ständig detaillierter werden-
Erweiterung der Erscheinungsformen eindeutig eine des Package untermauert. Aus diesem Package erge-
Bereicherung. ben sich unter Umständen Aspekte, die auch das
Über lange Zeit tradierte Werte sind zwar ein Segen, Fahrzeuggrundkonzept beeinflussen und ggf. einer
aber sie bergen auch in sich die Gefahr der Verkrus- zunächst favorisierten Lösung entgegenstehen.
tung und genau diese Gefahr galt es zu bannen.
Erweiterung der Ausdrucksformen heißt aber nicht Definition Fahrzeugkonzept
Aufweichung oder Überdehnung des Markenbildes.
Das Fahrzeugkonzept ist der konstruktive Entwurf
Wir sind uns bewusst, dass es hier Grenzen gibt, die
einer Produktidee mit dem die grundsätzliche Reali-
auszuloten uns natürlich reizt.
sierbarkeit abgesichert wird. Der Entwurf umfasst die
In einem Umfeld in dem die rein technischen Qualitä-
„Komposition“ bzw. Zusammenstellung der wesent-
ten von Fahrzeugen immer schwieriger zu kommuni-
lichen, die Fahrzeugeigenschaften und die Fahrzeug-
zieren sind und daher an Kommunikationsbedeutung
charakteristik beeinflussenden Parameter, Hauptmo-
verlieren, kommt dem Design als Differenzierungs-
dule und Komponenten. Der Schwerpunkt liegt dabei
merkmal eine immer größere Bedeutung zu.
auf der Festlegung und Gestaltung von:
Es kommt also besonders darauf an, durch das De-
sign die Eigenarten der Marken noch deutlicher • Aufbauausprägung, Fahrzeuggrundform und zu-
hervorzuheben und zueinander zu profilieren. künftige Varianten,
• Anzahl Sitzplätze, Raumbedarf Insassen,
Literatur und Abbildungen • Stauraum und Volumina (z.B. Tank),
• Hauptabmessungen sowie
Daimler Konzernarchiv
ATZ/MTZ-Sonderhefte: Pkw-Neuentwicklungen • Motor- und Antriebskonzept.
Die wesentlichen Gestaltungsmöglichkeiten werden
in Abschnitt 4.2.2 aufgezeigt.

Sicherheits- -
Aerodynamik
konzept Konzept-
Styling
Segment

Motor+
Fertigung +
Antriebsstrang-
Kundendienst
konzept
Fahrzeugkonzept
und
Package
Außen-
Gesetze
abmessungen

Maßkonzept Cost of Bild 4.2-1 Beispiel für bei


Innenraum Fahrwerks- Ownership Fahrzeugkonzeption und
Produkt-
konzept kosten Package zu berücksichti-
gende Anforderungen
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 93

Hauptziele und
Anforderungen

Gestaltungsfelder der Fahrzeugkonzeption

Aufbauausprägung Maßkonzept Antrieb


(und Fahrzeug- (Sitzplätze, Kofferraum, (Aggregat- und
grundform) Hauptabmessungen) Antriebsstrangkonzept)

Fahrzeugkonzept
Bild 4.2-2 Gestaltungsfelder
der Fahrzeugkonzeption

Definition Package 4.2.2 Gestaltung von Fahrzeugkonzepten


Das Package ist die während der Entwicklung des Für eine erste Fahrzeuggrundkonzeption ist die
Fahrzeugs schrittweise verfeinerte Ausarbeitung des gleichzeitige Berücksichtigung aller Anforderungen
Entwurfs mit den Ziel, ständig die technische Mach- weder zielführend noch erforderlich. Allerdings sind
barkeit des geplanten Produkts und das maßliche die Hauptparameter so zu wählen, dass in späteren
Zusammenspiel aller Baugruppen und Komponenten Phasen der Entwicklung Gestaltungsspielräume ver-
zu überprüfen. bleiben. Einen großen Einfluss auf das Fahrzeugkon-
Es werden dabei alle Anforderungen aus zept haben die folgenden Anforderungen:
• Wesentliche Wettbewerber (heute und Prognose
• kundenrelevanten und gesetzlichen, Zukunft) inkl. relativer Positionierung zu diesen
• umwelt- und sicherheitstechnischen, Wettbewerbern
• stylistischen, • Einsatzbereich (Freizeit-, Nutz-, Stadtfahrzeug,
• wirtschaftlichen, Reiselimousine, Geländefahrzeug, Sportfahrzeug)
• technisch funktionellen, • Karosserievarianten
• produktions- und wartungstechnischen und • Grobes Sicherheitskonzept mit Crashstrukturen
• qualitätssichernden • Anzahl der Sitzplätze, Gepäckraumvolumina, Va-
Gesichtspunkten mit dem Ziel vereint, eine konstruktiv riabilität
bestmögliche Gesamtfahrzeuglösung zu erreichen [1]. • Ergonomische Anforderungen an die Sitzplätze
D.h., die verschiedenen Zielkonflikte, Baurauman- (Komfortanforderungen)
sprüche und funktionalen Abhängigkeiten werden • Aggregatfamilien und Antriebsstrangkonzepte
derart aufgelöst, dass eine geometrisch und physika- Auf die einzelnen in Bild 4.2-2 dargestellten Gestal-
lisch kompatible Anordnung aller Komponenten, das tungsfelder wird in den folgenden Abschnitten detail-
sog. Package, entsteht. lierter eingegangen.
H100-B
H120-1

A117
A116-1 A116-2
H157

L104 L101 L105

L103

Bild 4.2-3 Außenabmessungen in x-/z-Richtung, Benennungen gemäß [3]


94 4 Formen und neue Konzepte

4.2.2.1 Außenabmessungen und Fahrzeugklassen Anhand dieser Außenabmessungen erfolgt innerhalb


der Automobilindustrie und in der Fachpresse die Ein-
Um die Vergleichbarkeit der wesentlichen Maße
teilungen nach Fahrzeugklassen. Eine solche Klas-
innen und außen sicherzustellen, sind die wesent-
seneinteilung nach Außenabmessungen mit Beispiel-
lichen, ein Fahrzeug beschreibenden Maßdefinitionen
fahrzeugen ist in Tabelle 4.2-1 dargestellt.
und -bezeichnungen vereinheitlicht [2, 3] (Bild 4.2-3,
Die Modellvielfalt und die zunehmende Anzahl von
Bild 4.2-4).
Nischenfahrzeugen zeigt jedoch die Grenzen dieser
Einteilung auf. Daher wird die Einteilung in Klassen
anhand der Größe um eine Einteilung in die Fahr-
W114-L W114-R
zeugnutzung bzw. die Fahrzeugausprägung ergänzt.
Beispiele für solche Einteilungen sind:
• Cabrios (inkl. Roadster)
• Sportwagen (inkl. Sportcoupé)
• Geländefahrzeuge (inkl. Sport Utility Vehicles)
• Vans
Diese Aufteilung nach Größe einerseits und Einsatz-
bereich andererseits ist aus technischer und fahrzeug-
konzeptioneller Sicht nicht zufriedenstellend, da nicht
alle realisierbaren Fahrzeugkonzepte abgedeckt wer-
den. Eine Ausweitung der Klasseneinteilung um die
Nutzungsform (Aufbauvariante) wird im folgenden
Abschnitt aufgezeigt. Es ist auch zu beachten, dass
die Klassengrenzen keine festen Werte für bestimmte
Abmessungen haben, sondern einer zeitlichen Anpas-
W101-1 sung unterliegen.

W101-2
4.2.2.2 Aufbauausprägungen
W103 und Konzeptsegmente
Die zu differenzierenden Aufbauausprägungen mit
Bild 4.2-4 Außenabmessungen in y-Richtung, Be- ihren Charakteristika sind in den ersten beiden Spal-
nennung gemäß [3] ten der Tabelle 4.2-2 dargestellt.

Tabelle 4.2-1 Einteilung in Fahrzeugklassen, Beispiele, konkrete Exterieurmaße einzelner Fahrzeuge (*Klasse
„Microcar“), Daten teilweise Vorgängermodelle aktueller Fahrzeuge
Fahrzeugklassen Minicar Compact Untere Mittelkl. Mittelklasse Obere Mittelkl. Luxusklasse Vans SUVs
Beispielfahrzeuge MCC Smart Toyota Yaris Mercedes A-Kl. Ford Mondeo BMW 5er BMW 7er Merc. V-Kl. BMW X5
unterstes Fahrzeug Toyota IQ Fiat Punto Ford Focus Mercedes C-Kl. Mercedes E-Kl. Mercedes S-Kl. Renault Espace Mercedes M-Kl.
dient im weitern Verlauf Fiat 500 Opel Corsa Opel Astra Audi A4 VW Phaeton Audi Q7
jeweils als Beispiel Ford Fiesta Audi A3 Opel Insignia
VW Lupo VW Polo VW Golf BMW 3er Audi A6 Audi A8 VW Sharan Porsche Cayenne
Sitzplätze
Normalzustand/mit
4/2 5/2 5/2 5/2 5/2 5/2 7/2 5/2
umgekl. Rückbank
Exterieurrmaße
Länge (L103) (1) in mm 2500–3600 3600–4000 4000–4400 4300–4600 4500–5000 4800–5200 4600–5000 4400–4900
3527 3970 4199 4580 4916 5137 4854 4846
Breite (W103) in mm 1500–1700 1550–1700 1670–1800 1670–1800 1770–1870 1800–1950 1800–1950 1800–1950
1639 1682 1786 1782 1855 1949 1904 1939
Höhe (H100-B) in mm 1330–1550 1350–1480 1330–1490 1360–1430 1360–1490 1400–1500 1500–2000 1650–1950
1460 1453 1480 1395 1459 1460 1720 1705
Radstand (L101) in mm 1800–2400 2350–2500 2400–2700 2500–2800 2600–2900 2700–3200 2700–3200 2700–3000
2323 2470 2578 2760 2843 2992 2919 2895
Bodenfreiheit (H157) 100–150 80–120 80–120 80–120 100–140 100–140 110–160 160–240
in mm 125 102 87 108 118 127 106 214
Überhang vorne (L104) 350–800 500–850 550–900 700–900 700–1050 700–1050 700–1000 850–1050
in mm 729 839 868 771 1001 1003 968 960
Überhang hinten (L105) 300–500 400–700 700–800 700–1100 800–1200 900–1300 800–1200 850–1050
in mm 475 661 753 1049 1072 1142 967 991
Böschungswinkel vorne 12–50 10–15 10–15 10–18 10–18 10–18 10–18 20–30
(H116-1) in ° 14 13 13 14 15 14 14 25
Böschungswinkel hinten 15–50 10–15 10–15 10–18 10–18 10–18 10–18 20–30
(H116-2) in ° 39 20 18 12 12 16 14 18
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 95

Tabelle 4.2-2 Aufbauausprägungen und Anwendun- Die Zuordnung der Aufbauformen zu den Konzept-
gen der Aufbaukonzepte in unterschiedlichen Grö- segmenten stellt den aktuellen Stand der am Markt
ßenklassen (× = verbreitet, * = Einzelanwendung) befindlichen Fahrzeuge dar. Konzeptstudien deuten
Aufbau- Bemerkung darauf hin, dass eine Ausweitung verschiedener Auf-

Obere Mittelkl.
ausprägung bauausführungen in neue Klassen, sowie auch eine

Luxusklasse
Mittelklasse
Kompaktkl.
Kleinwagen
Vermischung der Aufbauformen verstärkt am Markt

Minicars
aufzufinden sein wird, vgl. Kap. 4.2.6.
Als Roadster (2-sitzig) 4.2.2.3 Fahrzeuggrundformen
oder Cabriolet (meist 4-
sitzig): Cabriolets häufig
von Stufenheck oder
× × × × * * Neben den Aufbauausprägungen wird zunehmend die
Offen Steilheckfahrzeugen Fahrzeuggrundform als Differenzierungsmerkmal ge-
abgeleitet
nutzt. Hierbei kann zwischen 1-, 2- und 3-Box-Aus-
„Klassisches Coupé“
oder Differenzierung führungen unterschieden werden, Tabelle 4.2-3.
× ×
von Stufenheck- oder Die 3-Box-Ausführung stellt die klassische Untertei-
Fließheck Steilheckkonzepten
lung in Motorraum, Raum für Insassen und Koffer-
Die klassische Ausprä- raum dar.
gung der Limousine * × × ×
(u. Klappdachcabrios) Fahrzeuge in 2-Box-Anmutung sind im Bereich der
Stufenheck
Kombis und der Coupés mit variabler Rückbank
In den unteren Fahrzeug-
segmenten als „Hatch- anzutreffen. Hier wird die Trennung zwischen Insas-
back“ in den oberen × × × × × sen und Gepäck aufgehoben oder variabel gestaltet.
Segmenten als Kombi-
Steilheck
fahrzeug Bei der 1-Box-Anmutung muss zwischen zwei
Auch als MPV bezeich- Ausrichtungen unterschieden werden. Zum einen eine
nete Fahrzeuge mit mehr
als 5 Sitzplätzen oder konventionelle 2-Box-Architektur, die stylistisch als
× × × *
vergrößertem Rauman- 1-Box ausgeführt ist, zum anderen eine wirkliche
Großraum gebot, große Fahrzeug-
höhe 1-Box-Ausführung, bei der für den Motorraum ein
Geländefahrzeuge, Sandwichboden genutzt wird und somit die klassi-
Hauptdifferenzierung
über Bodenfreiheit und
schen Trennungen zwischen den Bauräumen in x-
Böschungswinkel. × × × Richtung aufgehoben werden (Unterflurkonzepte).
Basis: höhergelegte
„SUV“ Steilheckfahrzeuge oder Insbesondere spät in bestimmte Segmente eintretende
eigenständige Konzepte Wettbewerber suchen nach Differenzierungspotential
Vor allem in den USA über die Fahrzeuggrundform. Der momentane Trend
verbreitete Aufbauform,
* × × in der Weltautomobilindustrie geht eindeutig von der
meist von SUVs oder
„Pickup“ Trucks abgeleitet klassischen 3-Box-Aufteilung hin zu variableren 1-
und 2-Box-Konzepten.
Durch Kombination der Aufbauausprägungen mit den Fahrzeuge mit 1-Box-Design und Sandwichboden sind
definierten Größenklassen ergeben sich vielfältige zudem konzeptionell gut geeignet, alternative Ener-
Konzeptsegmente. Die derzeit am Markt belegten gieträger wie beispielsweise Batterien oder Brenn-
Segmente sind in Tabelle 4.2-2 gekennzeichnet. stoffzellen zu integrieren, siehe Kapitel 4.3.

Tabelle 4.2-3 Fahrzeuggrundformen und Anwendungsgebiete

Grundform 1 Box 2 Box 3 Box

Das gesamte Fahrzeug wird als ein Volumen Aufteilung des Fahrzeuggrundkörpers in zwei „Klassische“ Aufteilung der Volumina des
wahrgenommen (one Box). Bereiche/Volumina. Fahrzeugs.
Tatsächlich findet jedoch eine Trennung zwischen Ein Bereich (zumeist der vordere) ist als Motor- Trennung zwischen Technik (Motorraum),
Insassen und Gepäck auf der einen Seite, sowie raum ausgeprägt, das zweite Volumen wird als Insassen und Gepäckraum. Zunehmend ist auch bei
Beschreibung Technik (Antriebsstrang, Motor, Getriebe, Tank) Insassen- bzw. Gepäckraum ausgestaltet. 3-Box-Ausführungen variable Trennung zwischen
auf der anderen Seite statt. Insassen und Gepäck vorzufinden.
Häufig wird diese Trennung über einen Sandwich-
boden und/oder einen tief liegenden Motorraum
vollzogen.
– Vans – Kombifahrzeuge – Limousinen
– Neue Kleinwagenkonzepte (Smart, A-Klasse) – SUVs – klassische Coupés
Anwendung
– Kompaktklasse („Golf-Klasse“) – Cabrios
– Roadster
– Geringe Verkehrsfläche – Große Variabilität zwischen Gepäck- und – Trennung der Nutzräume für Innengeräusch
– sehr gute Raumausnutzung Insassenraum möglich positiv
Vorteile – hohe Sitzposition – günstig für passive Sicherheit (Gepäckraum
getrennt)
– hohe Steifigkeit der Karosserie
– Große Fahrzeughöhe, dadurch große Stirnfläche – Großer Innenraum akustisch negativ – geringe Variabilität
– hoher Schwerpunkt fahrdynamisch nachteilig – cw-Wert (Abrißkante) stark vom Winkel des – Abrißkante an Dach oder Heckdeckel muss klar
Nachteile
Hecks abhängig definiert werden (Einfluss Aerodynamik auf
Formgebung)
96 4 Formen und neue Konzepte

4.2.2.4 Sitzigkeit, Gepäckraum und Bezeichnungen international vereinheitlicht [2],


und Innenraumvariabilität [3] (Bild 4.2-5 und Bild 4.2-6).
Tabelle 4.2-4 zeigt für einzelne Fahrzeugklassen an-
Innenräume gewinnen heute zunehmend an Variabili- hand von Beispielen die Größenordnungen dieser
tät. Die wesentlichen Grundvarianten stellen die 2- Interieurmaße auf.
Sitzigkeit bei Kompaktwagen und Roadstern, eine Für die Gestaltung des Fahrzeugpackages und der
2+2- bzw. 4-Sitzigkeit bei Kleinwagen und Coupés Detailkonzeption wesentlichen Maße sind dabei H30,
und eine 5-Sitzigkeit in den anderen Klassen dar. Im H61, L34, L50 sowie der Abstand zwischen Fersen-
Van-Segment sind 6- bis 8-sitzige Ausprägungen punkt und Mitte Vorderrad (L114 – L53). Für das
vorzufinden. Maß L50 ist der Aufbau der Sitzlehne des Vordersit-
Im Bereich der 4- und 5-Sitzigkeit wird eine Variabi- zes zu beachten. Auf die Zusammenhänge zwischen
lität zumeist durch die Umklappbarkeit der 2. Sitzrei- diesen Größen sowie die Einordnung dieser Größen
he (1/1, 1/3 – 2/3, oder 1 / 2 – 1/2) ermöglicht, wodurch in wesentliche Maßketten des Fahrzeugpackages und
eine deutliche Vergrößerung des Kofferraumes er- somit die Abhängigkeiten zu Motorraum- und An-
möglicht wird (vgl. Tabelle 4.2-4). triebskonzepten, Sicherheitskonzept und Rohbau-
Bei Vans mit sechs und mehr Sitzplätzen sind zwei struktur wird in Abschnitt 4.2.3 näher eingegangen.
unterschiedliche Konzepte zur Ermöglichung der Ein wesentlicher Punkt ist bei der Interpretation der
Variabilität zu unterscheiden. Zum einen durch De- Interieurdaten zu beachten. Sämtliche Maße (z.B. H30,
montage der jeweiligen Sitzplätze (Problem der Lage- L34, H61, L50) beziehen sich auf den R-Punkt. Der R-
rung und der geringen Flexibilität während einer Punkt bildet die Hüftgelenkmitte der Passagiere ab.
Reise). Auf der anderen Seite durch besonders flexib- Dieser R-Punkt wird von den Fahrzeugherstellern im
le und raumökonomische Sitzkonzepte, die ein Weg- Rahmen bestimmter Randbedingungen als Basis für die
klappen der nicht benötigten Sitzplätze ermöglichen. Typisierung und die Überprüfung von konstruktiven
4.2.2.5 Wesentliche Innenraumabmessungen Vorschriften (z.B. Sicht- und Gurtfelder) definiert.
Nach ursprünglicher Festlegung sollte der R-Punkt in
Wie die Fahrzeugaußenabmessungen sind auch die „hinterster Position“ liegen. In der Praxis liegt dieser
Interieurabmessungen hinsichtlich der Bezugspunkte Punkt jedoch im hinteren Drittel des Verstellfeldes.

Tabelle 4.2-4 Wesentliche Interieurmaße in den Fahrzeugklassen, Beispielfahrzeuge, teilw. Vorgängermodelle


Fahrzeugklassen Minicar Compact Untere Mittelkl. Mittelklasse Obere Mittelkl. Luxusklasse Vans SUVs
Beispielfahrzeuge MCC Smart Toyota Yaris Mercedes A-Kl. Ford Mondeo BMW 5er BMW 7er Mercedes V-Kl. BMW X5
unterstes Fahrzeug dient im Toyota IQ Fiat Punto Ford Focus Mercedes C-Kl. Mercedes E-Kl. Mercedes S-Kl. Renault Espace Mercedes M-Kl.
weiteren Verlauf jeweils als Fiat 500 Opel Corsa Opel Astra Audi A4 VW Phaeton Audi Q7
Beispiel Ford Fiesta Audi A3 Opel Insignia
VW Lupo VW Polo VW Golf BMW 3er Audi A6 Audi A8 VW Sharan Porsche Cayenne
Sitzplätze
Normalzustand/mit
4/2 5/2 5/2 5/2 5/2 5/2 7/2 5/2
umgekl. Rückbank
Interieurmaße
Fußraum vorne (L34) 960–1080 960–1080 970–1100 1000–1100 1000–1100 1000–1100 900–1050 900–1050
in mm 995 1042 1046 1061 1050 1051 989 1042
Fußraum hinten (L51-2) 650–850 730–920 760–920 750–920 750–950 900–1000 800–1000 850–1000
in mm 805 824 901 857 938 984 947 925
Kopfraum vorne (H61-1) 920–1100 920–1000 940–1010 950–1010 950–1010 980–1020 980–1100 980–1050
in mm 930 974 987 971 996 989 1021 1005
Kopfraum hinten (H61-2) 900–950 900–970 900–990 910–980 910–980 950–990 900–1100 900–1050
in mm 946 943 979 930 960 983 973 968
Schulterbreite (W3-1) 1150–1350 1200–1400 1250–1450 1300–1450 1350–1550 1400–1550 1400–1600 1400–1500
in mm 1305 1372 1389 1404 1450 1501 1479 1500
Sitzabstand (L50-2) 650–850 650–850 700–900 700–900 750–900 800–1000 750–1000 750–950
in mm 725 745 803 788 857 910 851 885
Mitte Vorderrad bis 1100–1300 1150–1350 1200–1450 1300–1550 1300–1550 1450–1650 1200–1500 1400-1600
R-Pkt. vorn (L114) in mm 1222 1285 1323 1531 1414 1485 1282 1535
R-Pkt. bis Fersenpkt. 700–850 700–850 750–850 750–860 800–850 800–850 650–800 750–850
Vorn (L53-1) in mm 751 824 827 859 839 839 714 814
L114-L53 300–600 400–600 400–550 450–700 450–750 500–800 450–750 500–800
471 461 496 672 575 646 568 721
R-Pkt. bis Standebene 500–650 500–650 450–650 450–550 450–550 450–550 550–750 700–800
vorn (H5-1) in mm 515 543 537 475 521 523 687 741
R-Pkt. bis Fersenebene 250–350 250–350 250–350 250–300 250–300 250–300 300–400 250–350
vorn (H30-1) in mm 303 269 279 238 257 257 365 298
Kofferraumvolumen
mit maxim. Sitzplatzanzahl 100–200 200–460 240–550 330–550 330–550 500–600 200–500 350–550
mit minim. Sitzplatzanzahl 500–800 600–1200 800–1400 1000–1400 1000–1600 1000–1600 1800–3000 1500–2500
Beispielfahrzeug min/max 180/830 250/1030 350/1205 440/– 550/– 500/– 250/2610 430/1770
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 97

L114 L50-2

L53-1 A40-1 A40-2


8° 8°

H61-1 H61-2

H30-1
H5-1

L34 L51-2

Bild 4.2-5 Innenraummaßdefinitionen in xz-Richtung, Bezeichnung nach [3]

• Das Antriebskonzept (Front-, Heck- oder Allrad-


vorne hinten antrieb)
• Das Antriebsstrangkonzept (Anordnung Getriebe,
Zwischengetriebe, Achsgetriebe und Gelenkwellen)
W3-1 Die Anzahl der hier aufgezeigten Alternativen ver-
W3-2 deutlicht die theoretisch große Anzahl möglicher
Ausprägungen. Verschiedene zusätzliche Anforde-
rungen und Restriktionen schränken diese jedoch für
den praktischen Einsatz ein.
Bauart des Motors
W20-1 Für die Fahrzeugkonzeption sind die folgenden Punk-
W20-2 te des Motorkonzeptes (vgl. Kapitel 5 – Motor) von
maßgeblicher Bedeutung:
• Die Hauptabmessungen des Grundmotors
• Die Lage der Kurbelwelle (in Abhängigkeit von
Kupplungs- und Wandlerdurchmesser)
• Die Abmessungen von Ölwanne, Sauganlage,
Bild 4.2-6 Innenraummaßdefinitionen y-Richtung,
Bezeichnung gemäß [3] Nebenaggregaten, Abgasanlage und (sofern vor-
handen) Abgasturboladern oder Kompressoren.
Zudem ist die Vergleichbarkeit von Referenzmaßen • Die Schwingungseigenschaften des Motors sind
durch die mittlerweile fast durchgängig gegebene für das Konzept der Aggregatelagerung, die Aus-
Höhenverstellbarkeit der Sitze und die Lenkradver- führung der Motorlager und damit auch für die
stellbarkeit immer schwerer möglich (Details in Notwendigkeit und Ausführung von Fahrschemeln
Abschnitt 4.2.3.2). maßgeblich, vgl. Kapitel 3.4.
Die Hauptabmessungen des Grundmotors sind relativ
4.2.2.6 Aggregate- und Antriebsstrangkonzepte
leicht aus der Grundkonfiguration (Hub, Bohrung, An-
Die zu verbauenden Aggregate und die Antriebs- zahl und Lage Zylinder, Lage und Ausführung des
strangkonzepte ermöglichen einen wesentlichen Ge- Steuertriebs und des Nebenaggregatetriebes) ableitbar.
staltungsspielraum, stellen aber häufig auch eine Die Abmessungen der weiteren Komponenten ge-
maßgebliche Restriktion bzw. Vorgabe dar [4]. Für schieht sehr häufig fahrzeugspezifisch, d.h. ein
das Fahrzeugkonzept sind dabei vor allem folgende Grundmotor wird fahrzeugspezifisch angepasst. Für
Punkte von Bedeutung: die Gestaltung der „Schnittstelle“ Antrieb/Fahrzeug ist
• Die Bauart des Motors (V-, Reihen-, Boxer-Motor) daher eine intensive Abstimmung zwischen Gesamt-
• Die Aggregateanordnung (Längs- oder Querein- fahrzeugkonzeption und Motorkonzeption erforderlich.
bau; Front-, Heck- oder Mittelmotor; jeweils kon- Eine Besonderheit in Bezug auf die Kompaktheit
ventionell oder unterflur) stellen die VR- und V-VR- (W-) Motoren dar. Die
98 4 Formen und neue Konzepte

V6- und V8-Motoren zeichnen sich durch eine kurze sentlichen Restriktionen unterscheiden sich je nach
Bauweise aus. Die Boxer-Motoren zeichnen sich Einbauort und -lage des Aggregats. Tabelle 4.2-5
durch eine geringe Bauhöhe, den damit konkurrenz- gibt einen Überblick über mögliche Aggregatanord-
los tiefen Schwerpunkt und die ausgewogenen nungen, die jeweiligen Restriktionen und verwendba-
Schwingungseigenschaften aus. Details zu den Bau- ren Aggregate.
formen und deren Spezifika finden sich in [5]. Für die Frontmotoranordnung ist noch ein genereller
Vorteil herauszuheben. Bei vielen Frontmotoran-
Aggregateanordnung
ordnungen stützt sich der Motor beim Frontalcrash
Die Aggregateanordnung kann in folgenden Parame- frühzeitig ab und muss nicht mit verzögert werden.
tern variiert werden: Ein genereller Vorteil von Heck- und Mittelmotor-
• Längs- oder Quereinbau des Motors konzepten ist, dass die freie Crashlänge im Vorder-
• Front-, Heck- oder Mittelmotor wagen nicht durch den Motor eingeschränkt ist. Bei
• Konventionelle Anordnung oder Unterfluranord- Unterbringung des Tankes im Vorderwagen entstehen
nung hier ggf. andere Restriktionen.
Wegen der besonderen Anforderungen (in der Regel
Antriebskonzept und Triebstrang
eine geringe Fahrzeuglänge) haben sich für die Un-
terfluranordnung bisher nur quereingebaute Motoren Für die Kombinationen von Antriebsachsen und
durchsetzen können. Die Mittelmotorausführung ist Aggregateanordnung sind unterschiedliche Trieb-
bei Unterflurkonzepten bisher ebenfalls kaum in der strangkonzepte realisierbar, Tabelle 4.2-6 (Details in
Serie eingesetzt worden. Abschnitt 5.4 für den Triebstrang und Abschnitt 5.5
Die einzelnen Ausführungen weisen spezifische für Allradkonzepte).
Restriktionen bezüglich der zu verwendenden Moto- Ohne den detaillierten Darstellungen vorzugreifen,
ren auf. Die aus fahrzeugkonzeptioneller Sicht we- sollen am Beispiel der Frontmotoranordnungen mög-

Tabelle 4.2-5 Vorteile und Restriktionen unterschiedlicher Aggregatanordnungen


Aggregate- Konventionell/ Geeignete Motorbauarten
Vorteile Restriktionen/Nachteile
anordnung Unterflur R3 R4 R5 R6 VR6 V6 W8 V8 V10 V12 B4 B6
– geringe Vorderwagenlänge – Breite zwischen Längsträgern
– kompakte Abmessungen – Motorbreite (Blockbildung Crash)
Front quer konv. × × 䊊 䊊 × × 䊊 䊊 n n n n
– kurze Leitungen – kleine Lagerbasis
– Abbau Crashenergie
– geringe Vorderwagenlänge – Breite zwischen Längsträgern
Front quer Unterflur – Aggregat kann bei Frontcrash – Motorhöhe/Neigungsfähigkeit × × 䊊 n n n n n n n n n
unter Insassen abtauchen
– Lange Motoren möglich – Vorderwagenlänge
Front längs konv. – für fast alle Motoren realisierbar – Breite des Tunnels für Getriebe × × × × × × × × × × × 䊊

– geringe Länge des Motorraumes – Breite zwischen den Trägern


möglich, kompakte Abmessungen hinten
– sehr gute Achslastverteilung – kein Allradantrieb möglich
Mitte quer konv. × × × 䊊 䊊 䊊 n n n n n n
– geringes Trägheitsmoment um die – nur für 2-Sitzer sinnvoll
Hochachse (dadurch gute Reak- – Aufwand Leitungsverlegung
tion auf Lenkwinkelsprünge)
– Ausgewogene Achslastverteilung – Blocklänge Motor und Getriebe
möglich bei Heckcrash
– geringes Trägheitsmoment um die – Breite zwischen den Trägern
Hochachse (dadurch gute – Allradantrieb nur mit R und V-
Mitte längs konv. × × × × × × × × × × × ×
Reaktion auf Lenkwinkelsprünge Motoren mit sehr großem Auf-
– Rennsporttauglichkeit wand realisierbar
– nur für 2-Sitzer (Roadster) sinnvoll
– Aufwand Leitungsverlegung
– gute Traktion – Breite zwischen Trägern hinten
– Traktion weitgehend – Motorbreite Heckcrash
Heck quer konv. unabhängig von Zuladung – Zugänglichkeit Stauraum/Innen- × × 䊊 䊊 × × 䊊 n n n n n
raum
– Aufwand Leitungsverlegung
– Kompakter Vorderwagen – Breite zwischen Längsträgern
– Aggregat kann bei Heckcrash – Motorhöhe/Neigungsfähigkeit
Heck quer Unterflur × × 䊊 䊊 n n n n n n n n
unter Insassen abtauchen – Gepäckraum/Innenraumhöhe
– Kompaktes Gesamtfahrzeug – Aufwand Leitungsverlegung
– sehr gute Traktion – Baulänge Motor- und Getriebe
– optimale Gewichtsverteilung beim – Länge Überhang Hinten
Bremsen – Radstandslänge
– sehr flach bauende Konzepte – Aufwand Leitungsverlegung
möglich – Achslastverteilung
Heck längs konv. × × × × × × 䊊 䊊 n n × ×
– auch in konventioneller
Anordnung ist Raum über dem
Motor nutzbar (Ablage Verdeck,
Gepäckraum)
– Crashlänge Vorderwagen
× = geeignet; 䊊 = in Ausnahmen geeignet; n = nicht geeignet
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 99

Tabelle 4.2-6 Antriebsachsen und übliche Aggrega- Tabelle 4.2-7 Antriebsstrangkonzepte am Beispiel
teanordnungen Frontmotor
Antriebsachse Antriebs-
Prinzipdarstellung Vorteile Nachteile
art
Aggregate-
anordnung Getriebeintegriertes – viele Motorvarianten - langer Vorderwagen
Front Heck Allrad Längs-
Vorderachsengetriebe realisierbar – Achslast auf Vorder-
motor
– Allradantrieb leicht achse sehr hoch
+
Front-Quer ableitbar – tendenziell großer
Front- D G
keine bei großer Überhang vorn
üblich antrieb
Anwendung Motorleistung – breiter Tunnel vorn
– bessere Achslastvertei- – höheres Gewicht als
Front-Längs Standardantrieb lung und Traktion als Frontantrieb
bei großer beim Frontantrieb – höherer Tunnel
üblich Standard – kurzer Vorderwagen erforderlich
Motorleistung
– Sehr viele Motorvari- – Bauraumanspruch
G D
Längs- anten realisierbar Differential/Reserverad
Mitte-Quer motor führt zu Zielkonflikt in
keine keine + der Unterbringung
üblich
Anwendung Anwendung Heck- – sehr kurzer und flacher – höherer Boden hinten
antrieb Transaxle – Anordnung Vorderwagen möglich mit Einschränkung
Mitte-Längs – leichte Kardanwelle Kofferraum- bzw.
keine mit sehr großem – günstige Achslastver- Sitzplatzangebot
üblich
Anwendung Aufwand möglich G D teilung und gute – lange Schaltbetätigung
Traktion – keine Allradtauglich-
keit
Heck-Quer
keine keine – Zentraldifferential und – langer Vorderwagen
üblich
Anwendung Anwendung Vorderachsdifferential – großer Überhang
Getriebeintegriertes können mit dem Ge-
Vorderachsendifferential triebe in einen Block
Heck-Längs bei hohen zusammengefasst wer-
keine
üblich Performance- und den
Anwendung
Leistungsanford. D G D D – kostengünstig
Längs- – gute Achslastverteilung
motor – gute Traktion
+ – tiefe Motorlage
Allrad-
liche Antriebsstrangkonzepte näher angesprochen antrieb
möglich

werden, da sie auf die Gesamtfahrzeuggestaltung ei- Aus Standardantrieb – Nachträglich aus be- – relativ aufwendig
abgeleitetes Konzept stehendem Standard- – Bauraumproblematik
nen starken Einfluss haben. antrieb ableitbar im Vorderwagen
– kurzer Vorderwagen – sehr breiter Tunnel
G D – sehr günstige Achslast- erforderlich
Antriebsstrangkonzepte D
D
verteilung – hohe Motorlage wegen
– gute Traktion Abtrieb erforderlich
Tabelle 4.2-7 zeigt sämtliche gängigen Antriebs- – kompakter Vorder- – Achslast auf Vorder-
strangkonzepte für Frontmotoranordnungen. Die we- wagen
Motor in Reihe mit Getriebe, – gute Platzverhältnisse
achse sehr hoch
– wegen eingeschränk-
sentlichen, für das Gesamtfahrzeug relevanten Gestal- Quer- Differential seitlich
im Fahrgastraum vorne tem Bauraum nur rela-
motor
tungsmöglichkeiten liegen in der Anordnung des +
(Kein Tunnel für Ge-
triebe)
tiv kurze Motoren
möglich
Motors und der unterschiedlichen Lagen von Getrie- Front-
G D – relativ günstige Her- – Leistungs-/Dreh-
antrieb
stellung momentgrenze
be, Differential und Gelenkwellen. – sehr gute Vormontage-
möglichkeiten
Frontlängsmotor mit Frontantrieb Quer- Motor in Reihe mit Getriebe, – gute Auchslastvertei- – wegen eingeschränk-
Differentiale seitlich
motor lung tem Bauraum nur rela-
Der längs eingebaute Motor in Kombination mit + – gute Traktion tiv kurze Motoren
D möglich
Frontantrieb hat als wesentliche Restriktionen den Allrad-
antrieb
D
G D

Abstand zwischen Getriebeabtrieb und Motor-/Ge-


triebeflansch sowie die Beugewinkel der Gelenkwel-
len, wodurch ein langer Übergang vorne entsteht. weit in den Tunnel ragt. Die große Tunnelbreite ist
dabei durch ein größeres W20- und W25-Maß zu
Frontquermotor kompensieren. Erfolgt diese Kompensation nicht,
Der Hauptvorteil der Frontquermotor-Antriebsstrang- entstehen Nachteile einer nicht zur Körpermitte sym-
konzepte liegt im Potential zur Realisierung eines metrischen Anordnung der Pedale.
sehr kurzen Vorderwagens und somit insgesamt sehr
kompakter Fahrzeugabmessungen [6]. Daher kommt Transaxle
dieses Konzept in den unteren Fahrzeugklassen fast Der Transaxle-Antriebsstrang ist geeignet, kurze
ausschließlich zum Einsatz. Vorderwagenlängen und eine ausgewogene Achslast-
verteilung mit guter Traktion zu realisieren. Dieses
Standardantrieb Konzept ist jedoch nicht sinnvoll mit einem Allradan-
Der Standardantrieb bietet die Möglichkeit, die Vor- trieb kombinierbar. Der Transaxle-Antriebsstrang hat
derachse weit vorne anzuordnen. Zudem ist dieses darüber hinaus starken Einfluss auf das Hinterwagen-
Antriebsstrangkonzept geeignet, eine sog. „Frontmit- konzept, insbesondere in Bezug auf die Anordnung
telmotoranordnung“ zu realisieren, indem der Antrieb des Kraftstofftanks.
100 4 Formen und neue Konzepte

Allradantrieb Micro-Hybrid-Konzepte sind in der Regel in das be-


Bei den Allradkonzepten besteht der Unterschied vor stehende Package zu integrieren. Als Energiespeicher
allem darin, dass beim aus dem Standardantrieb dient in der Regel die vorhandene 12 V-Batterie. Die
abgeleiteten Konzept die Bauraumrestriktionen im größte Herausforderung stellt die Integration von
Vorderwagen in Bezug auf Verteilergetriebe, Achsge- Full-Hybriden und Plug-in Hybriden dar. Für ein
triebe und Gelenkwellen (unterhalb bzw. „durch“ den Fullhybrid-Konzept sind folgende Komponenten im
Motor zu führen) größer sind. Konzept zu berücksichtigen:
Beim aus dem Frontantrieb abgeleiteten Konzept • E-Maschine (eine oder mehrere)
verbleibt der Vorderwagen unverändert (mit allen • Energiespeicher (in der Regel Batterien)
Vor- und Nachteilen), im Hinterwagen sind hingegen • Leistungselekronik, diverse Steuergeräte
im Bereich Tank, Kofferraum hinten sowie Hinter- • Hochvoltleitungen
achse zusätzliche Bauraumansprüche für Kardanwel- • Kupplungen, Kupplungsaktuatorik
le, Differential und Gelenkwellen zu berücksichtigen. • Kühlsysteme für die Hybrid-Komponenten inkl.
Der aus dem Frontquermotor abgeleitete Allradan- zusätzlicher Kühlmittelleitungen
trieb ist vor allem bei sehr hohen Motorisierungen aus Für den Plug-In ist ein nochmals deutlich größerer
Traktionsgründen erforderlich. Ein Frontquermotor Energiespeicher und zusätzlich eine Ladesteckdose
mit Heckantrieb ist nicht sinnvoll. und ein Ladegerät für das Nachladen am Stromnetz in
4.2.2.7 Hybridkonzepte das Fahrzeug zu integrieren. Zudem ist bei den Full-
Hybriden und bei den Plug-In Hybridfahrzeugen die
Neben den konventionellen Antriebsstrangkonzepten Elektrifizierung aller Nebenaggregate (Lenkung, Kli-
stellen Hybridkonzepte neue Herausforderungen an matisierung etc.) erforderlich, um diese auch bei rein
die Fahrzeugkonzeption. Die Hybridisierung wird elektrischer Fahrt verfügbar zu haben. Bild 4.2-7
dabei in allen Fahrzeugklassen eine Rolle spielen zeigt die Integration der Hybridkomponenten im
und ist zusätzlich zu konventionellen Antrieben im Porsche Cayenne S hybrid.
Konzept zu berücksichtigen. Unter Hybridfahrzeugen Bei der Anordnung der E-Maschine und deren Ein-
wird die Kombination eines Elektroantriebs mit einer bindung in den Triebstrang unterscheidet man zwi-
konventionellen Verbrennungskraftmaschine verstan- schen leistungsverzweigten (die E-Maschine ist im-
den. Grundsätzlich sind vier Stufen von Hybridkon- mer in den Kraftfluss eingebunden) und parallelen
zepten zu unterscheiden (Kap. 4.3.3): Hybridkonzepten. Bei den Parallelkonzepten wird die
• Micro-Hybrid-Konzepte (Start-Stopp-Systeme, E-Maschine parallel zum Verbrennungsmotor ge-
Startergenerator-Konzepte) schaltet und durch Momentenaddition wirksam.
• Mildhybrid (nur Rekuperation und Boost-Funktio- Hinsichtlich der Fahrzeugkonzepte ist zu unterschei-
nen, kein elektrisches Fahren möglich) den, ob das Fahrzeugkonzept um den Hybridantrieb
• Full-Hybrid (rein elektrisches Fahren mit kurzen herum entwickelt wurde (z.B. Toyota Prius) [10],
Reichweiten möglich) oder eine nachtägliche Integration in ein bestehendes
• Plug-In Hybride (rein elektrisches Fahren mit Konzept erfolgt ist (z.B. Lexus RX 400h) [11]. Kom-
nennenswerten Reichweiten ab ca. 10 km bis zu ponentenseitig ist die zunehmende Integration der
60 km möglich, externe Ladeschnittstelle für den Hybridkomponenten in konventionelle Module zu er-
Speicher fahrzeugseitig vorhanden) warten (beispielsweise der E-Maschine in das Haupt-
Diese Systeme unterscheiden sich hinsichtlich ihres getriebe).
Einflusses auf das Fahrzeugkonzept grundlegend.

1 Hochvolt-Nickel-Metallhydrid-Batterie
2 Zuluftkanal
3 Leistungselektronik
4 Hybridmodul
5 3,0-Liter-V6-Kompressormotor
5
1
4 2

Bild 4.2-7 Hybridkompo-


nenten des Porsche Cayenne
S hybrid [13]
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 101

Die Hybridtechnologie erlebt derzeit noch schnelle Zudem können durch ein Package die Unterhaltskos-
Innovationssprünge, insbesondere im Bereich Ener- ten positiv beeinflusst werden, beispielsweise durch
giespeicher. In den kommenden Jahren werden diese die Vermeidung der Anordnung von Bauteilen in Be-
Fortschritte zusätzliche Freiheitsgrade im Fahrzeug- reichen, die bei Einstufungstests der Versicherungs-
konzept ermöglichen. wirtschaft und bei Unfällen mit geringen Geschwin-
digkeiten („Parkplatzrempler“) belastet werden.
4.2.2.8 Fahrzeuggewicht
4.2.3.1 Gesetze und Vorschriften
Das Fahrzeuggewicht ist bei der Gestaltung von
Fahrzeugkonzepten eine der wesentlichen Zielgrößen. Einen detaillierten Überblick relevanter Vorschriften
Das Fahrzeuggewicht wird wesentlich durch die und Gesetze gibt Kapitel 2.2. Viele dieser Vorschrif-
folgenden Parameter beeinflusst: ten stellen für die Packageerarbeitung wesentliche
• Fahrzeugklasse und Hauptabmessungen Anforderungen dar.
• Aufbauausprägung und das Konzeptsegment Problematisch ist die Tatsache, dass die zu berück-
• Grundarchitektur des Fahrzeugs sichtigen Gesetze, Standards und Regelungen nicht
• Aggregate- und Antriebsstrangkonzept (inkl. international vereinheitlicht sind. Wesentliches Ziel
Hybridisierung) der Auslegung ist ein Package, das länderspezifische
• Werkstoffkonzept Lösungen vermeidet.
Bei den packagerelevanten Gesetzen sind zweierlei
Während die ersten beiden Parameter durch die Fahr- Arten zu unterscheiden. Zum einen Gesetze, die be-
zeugpositionierung weitgehend vorgegeben sind, be- stimmte Maße direkt vorgeben. Zum anderen Geset-
einflussen die anderen das Fahrzeuggewicht, dessen ze, die indirekt (Funktionsvorschriften) berücksichtigt
Zielgröße schon zu Beginn der Produktdefinition fest- werden müssen.
gelegt wird. Im Zielbildungsprozess zum Gewicht Detaillierte gesetzliche Anforderungen werden insbe-
werden in der frühen Definitionsphase alternative sondere gestellt zu:
Konzeptansätze bewertet und gegenübergestellt. Mit
der Konzeptfestlegung wird das Zielgewicht unter • Stoßfängerlage, Anbau und Lage der Leuchten
Berücksichtigung der zukünftigen Produktsubstanz • Wischfelder, Sichtwinkel
definiert. Während des gesamten Entwicklungs- • Innenraummaße, z.B. Pedalerie, Gurtfelder in
prozesses treten häufig nach Detailentscheidungen Abhängigkeit vom R-Punkt
Gewichtssteigerungen auf, die durch gezielte Maß- • Kennzeichenlage
nahmen zu korrigieren oder zu akzeptieren sind. Den weitaus größten Teil der gesetzlich bedingten
Anforderungen beeinflussen das Package indirekt,
4.2.3 Einflussfaktoren indem entsprechende Vorschriften (z.B. zur Fahr-
und Gestaltungsfelder des Package zeugsicherheit) zu berücksichtigen sind (Kap. 9).
Hauptzielkonflikte und Gestaltungsfelder des Fahr-
zeugpackages sind: 4.2.3.2 Innenraummaßkonzeption
• Berücksichtigung gesetzlicher Anforderungen Die Auslegung eines neuen Fahrzeugs beginnt in der
• Anforderungen der Fahrzeugsicherheit: Crashlän- Regel von innen nach außen. Ausnahmen entstehen
gen, Fußgängerschutz, Seitenaufprall, Überroll- dann, wenn auf Basis eines bestehenden Fahrzeugs
schutz (insbesondere bei offenen Fahrzeugen) Anpassungen oder Derivatentwicklungen vorgenom-
• Ergonomie und „Bauraumanspruch“ der Insas- men werden.
sen Der „Bauraumanspruch“ der Insassen stellt die zent-
• Bauraumansprüche von Motor und Antriebs- rale Anforderung an das Fahrzeug dar. So stark sich
strang und Berücksichtigung des Wärmemanage- Fahrzeugkonzepte auch unterscheiden, so sind diese
ments doch für die gleichen Menschen (5 % Frau, 95 %
• Berücksichtigung von Radhüllkurven und gesetz- Mann als gängige Mindestanforderung) auszulegen,
lichen Anforderungen an die Radabdeckung vgl. Kapitel 6.4.1. Dies wird auch bei der Analyse
• Volumina, Variabilität und Zugänglichkeit von wesentlicher Innenraumabmessungen deutlich.
Stauräumen Die Auswirkung der Angabe wesentlicher Interieurma-
• Anordnung von Beleuchtungseinrichtungen ße in Bezug auf den R-Punkt soll an einem Beispiel
• Anforderungen der Fahrzeugaerodynamik: Grund- verdeutlicht werden. Die Datenbasis für alle folgenden
körper und Zusatzmaßnahmen wie beispielsweise Aussagen besteht aus 34 repräsentativen Fahrzeuge aus
Spoiler oder Verkleidungen den in Abschnitt 4.2.2.1 definierten Klassen.
• Anforderungen des Designs an die Fahrzeug- Trägt man den Kopfraum vorne (H61) über dem Rad-
grundform stand (L101) als Bezugsgröße für die Fahrzeugklasse
• Bauraumanspruch von Systemen, Modulen und auf, so wird deutlich, dass anhand dieser Daten kaum
Komponenten Differenzierungspotential zu finden ist, Bild 4.2-8.
102 4 Formen und neue Konzepte

1030

1020
Minicar
1010
Kleinwagen
1000
Kompaktklasse
990
Mittelklasse
H61

980
obere Mittelklasse
970
Oberklasse
960
Sportcoupé
950
Trendlinie
940
930 Bild 4.2-8 Kopfraum vorne in
2300 2400 2500 2600 2700 2800 2900 3000 Abhängigkeit von der Fahr-
L101
zeugklasse

Es wird deutlich, dass anhand der auf den R-Punkt Bauraumbedarfs für den Fahrer um ca. 40 mm er-
bezogenen Daten keine Abhängigkeit zwischen Rad- reicht werden. Die Verkürzung kann direkt in eine
stand und Kopfraum festgestellt werden kann. Das Verkürzung des Fahrzeugs umgesetzt werden, vgl.
Streuband hat eine Breite von ca. 50 mm, das beste hierzu auch [8].
Fahrzeug dieser Darstellung ist ein Minicar. Die Fahr- Diese Abhängigkeit wird bei verschiedenen Mini-
zeuge der Luxusklasse haben durchschnittliche Werte. und Kompaktfahrzeugen und bei Vans genutzt, um
Die gleiche Darstellung mit auf die Sitzposition durch eine hohe Sitzposition in Verbindung mit einer
„hinten unten“ normierten Daten zeigt Bild 4.2-9. großen Fahrzeughöhe eine relativ geringe Fahrzeug-
Erst mit dieser Normierung auf einen real messbaren länge zu erzielen. Im Umkehrschluss bedeutet diese
Punkt wird die erwartete Abhängigkeit zwischen Abhängigkeit, dass sehr tiefe Sitzpositionen mit einer
Kopfraum und Fahrzeugklasse deutlich. großen Innenraumlänge „erkauft“ werden.
Dieses einfache Beispiel verdeutlicht, dass die ur- Die Darstellung der Abhängigkeit zwischen L53 und
sprünglich angestrebte Lage des R-Punktes nur in L34 (Fußraum) verdeutlicht, dass eine Verkürzung
wenigen Ausnahmen gegeben ist. des L53-Maßes um 10 mm zu einer Reduzierung des
Für konstruktive Vergleichsuntersuchungen ist es daher Fußraumes in gleicher Höhe führt, Bild 4.2-11.
in der Regel sinnvoll, sich auf den Bezugspunkt „hin- Eine hohe Sitzposition führt somit zu einem reduzier-
ten unten“ zu beziehen, was für alle folgenden Dia- ten Fußraum und einer Sitzposition mit stärker ange-
gramme durch den Zusatz „hu“ verdeutlicht wird. winkelten Beinen.
Die Gestaltung des Fahrerplatzes geschieht im We- Die Abhängigkeiten für die hintere Sitzreihe sind für
sentlichen durch eine Variation der folgenden Para- die Maße H63, L50, L51 und das korrespondierende
meter: Höhenmaß (H31) ähnlich.
• L53: R-Punkt bis Fersenpunkt
• H30: R-Punkt bis Fersenebene 4.2.3.3 Konzeptbeeinflussende Maßketten
Wie Bild 4.2-10 verdeutlicht, kann durch eine um In Abhängigkeit vom gewählten Grundkonzept stel-
10 mm höhere Sitzposition eine Verkürzung des len sich bei der Erarbeitung der Maßkonzeption unter-

1140
1120
1100
Minicar
1080
Kleinwagen
1060 Kompaktklasse
H61hu

1040 Mittelklasse
1020 obere Mittelklasse
1000 Oberklasse
980 Sportcoupé

960 Trendlinie Bild 4.2-9 Kopfraum vorne


940 für Sitzposition „hinten
2300 2500 2700 2900 unten“ in Abhängigkeit von
L101
der Fahrzeugklasse
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 103

290
280 Minicar
270 Kleinwagen
260
Kompaktklasse
250
H30hu

240 Mitteklasse
230 obere Mittelklasse
220 Oberklasse
210
Sportcoupé
200
Trendlinie
190
800 850 900 950 1000
Bild 4.2-10 Abhängigkeit
L53hu
zwischen L53 und H30

1180

1160 Mincar
Kleinwagen
1140
Kompaktklasse
1120 Mittelklasse
L34hu

obere Mittelklasse
1100
Oberklasse
1080 Sportcoupé
Trendlinie
1060

1040
800 850 900 950 1000 Bild 4.2-11 Abhängigkeit
L53hu
von L53 und L34

schiedliche Maßketten als wesentlich heraus. Es ist Der Bereich L1 besteht aus Bugteil, Querträger und
im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich, für alle ggf. Pralltöpfen und ist funktional zum einen so
Grundkonzepte (Antriebsanordnung, Aufbauform, auszulegen, dass für Unfälle mit sehr geringen Ge-
Grundform) die konzeptbeeinflussenden Maßketten schwindigkeiten (bis 6 km/h) Deformationen reversi-
aufzuzeigen, für Details vgl. z.B. [7]. Anhand ausge- bel sind und bis ca. 15 km/h eine lokale Deformation
wählter Beispiele sollen aber wesentliche Maßketten entsteht, die insbesondere eine Beschädigung der
in Fahrzeuglängsrichtung (x-Richtung), Fahrzeughö- Längsträger und der Einbauten im Bereich L2 verhin-
he (z-Richtung) und Fahrzeugbreite (y-Richtung) dert. Im Bereich L2 befinden sich Komponenten wie
aufgezeigt werden. Kühler, Scheinwerfer, Scheinwerferreinigungsanlage.
Die Länge L3 wird als freie Crashlänge bezeichnet.
4.2.3.3.1 Die Fahrzeuglänge Je nach Vorderwagenkonzept und Herstellerstandards
definierende Maßketten sind hier zwischen 500 – 700 mm vorzuhalten. Die
Die Fahrzeuglänge wird für die wesentlichen Einzel- freie Crashlänge befindet sich in der Praxis sowohl
längen am Beispiel eines Frontquermotorkonzeptes vor als auch hinter dem Aggregat. L3 ist jedoch nicht
mit zwei Sitzreihen aufgezeigt, Bild 4.2-12. als freie Länge sichtbar, wie immer dichter gepackte

L114
L1 L2 L3 L4-1 L4-2 L6 L53 L50 L7 L8 L9

L5

Bild 4.2-12 Maßkette in


x-Richtung
104 4 Formen und neue Konzepte

Motorräume verdeutlichen. Vielmehr ist bei Ver- 4.2.3.3.2 Die Fahrzeughöhe


schiebung aller dreidimensionaler Komponenten in x- definierende Maßketten
Richtung „auf Block“ ein der „freien Crashlänge“
entsprechender Verschiebeweg zu erzielen. Damit ist Mit Bild 4.2-12 und 4.2-13 sind die wesentlichen
der zweite wesentliche Begriff definiert, die soge- Abhängigkeiten zwischen Maßkonzeption in x- und z-
nannte „Blockbildung“. Am Beispiel des Frontquer- Richtung aufgezeigt. Die Fahrzeughöhe ergibt sich
motors ist das wesentliche Blockmaß der Antrieb mit damit aus der Summe der Maße Bodenfreiheit
Nebentrieb und allen Anbauten (Länge L4). (H156), Bodenaufbau (H5 – H30 – H156), der Höhe
Wesentlicher Gestaltungsspielraum ist über den R-Punkt über Fersenpunkt (H30), dem Kopfraum
Abstand zwischen Mitte Vorderrad und Fersenpunkt vorne (H61) und dem Dachaufbau. Dieser Summe ist
(L114-L53) gegeben. um 102 mm zu reduzieren, die sich aus der Definition
Das Maß L114-L53 wird zum einen bestimmt durch des Maßes H61 ergeben (laut Messvorschrift der
die Ausdehnung des Radhauses und die konstruktive durchschnittlicher Abstand R-Punkt zu tiefstem Punkt
Anbindung des Längsträgers an den Schweller zur des Gesäßes). Das H61-Maß ist entsprechend der
Realisierung eines Kraftflusses in Schweller und Messvorschrift in einem Winkel von 8° ermittelt und
Fahrzeugboden. Eine weitere, zu berücksichtigende daher entsprechend auf die reine z-Komponente um-
Maßkette ist L4-2 (Blockbildung) und L5 (Kombina- zurechnen.
tion aus Einbauten, z.B. Bremskraftverstärker und Für den Aufbau in z-Richtung ist das Trägerkonzept
freier Crashlänge) vor der Spritzwand und L6, dem von maßgeblicher Bedeutung. Hier sind ab einer
für das Fußhebelwerk erforderlichen Maß. Ziel einer Bodenstärke von ca. 80 mm Konzepte möglich, bei
jeden Vorderwagenauslegung muss sein, keinerlei denen die Passagiere „auf“ den Längsträgern und auf
Fußraumintrusion zuzulassen, d.h. eine Verkürzung dem Schweller sitzen (ebener Boden vorne). Dieses
des Maßes L6 im Crash zu vermeiden. Konzept führt jedoch auf den hinteren Sitzreihen
Die Darstellung der Abhängigkeiten am (L114-L53)- häufig zu sehr starken Beugewinkeln der Beine.
Maß verdeutlicht, das hier der Hauptgestaltungsspiel- Bei dünnem Bodenaufbau erfolgt der Kraftfluss über
raum zwischen x- und z-Ausdehnung liegt, Bild 4.2-13. die Schweller, ggf. den Tunnel und den Boden. Die
Es wird deutlich, dass durch einen in z-Richtung um Passagiere sitzen bei diesen Konzepten zwischen den
10 mm stärker ausgeführten Boden der Fersenpunkt Schwellern.
um 10 mm weiter nach vorne verlegt werden kann. 4.2.3.3.3 Die Fahrzeugbreite
Die Anhebung des Bodens wirkt dabei auf beide definierende Maßketten
kritischen Maßketten in Längsrichtung gleichermaßen.
Im Heckbereich wird das Maß L7 wesentlich durch Die Fahrzeugbreite wird in vier wesentlichen yz-
das Radhaus hinten sowie durch Tank- und Hinter- Ebenen definiert:
achsauslegung beeinflusst. • Mitte Vorderachse: Die Breite wird durch die Rad-
Das Maß L8 wird bestimmt durch Einbauten wie hüllkurven, die Radhäuser, die Längsträgerbreite,
Hinterachse, Reserverad sowie freie Crashlänge für die Aggregatbreite und durch Montagebedingun-
den Heckcrash. gen definiert. Bei Frontantrieb bestimmt zudem
L9 im Heck wird durch gleiche Inhalte wie L1 im häufig der Beugewinkel der Gelenkwellen die
Vorderwagen bestimmt. Breite.

300

Bodenaufbau nicht zur Minicar


250
Gestaltung (L114-L53)
genutzt Kleinwagen
200
Kompaktklasse
H5-H30-H156

150 Mitteklasse

obere Mittelklasse
100
Oberklasse

Sportcoupé
50
Trendlinie Bild 4.2-13 Abhängigkeit
0 zwischen Abstand Fersen-
300 400 500 600 700 800 punkt zu Mitte Vorderrad und
L114-L53 Bodendicke
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 105

• Fersenpunkt vorne: Die Breite in dieser Ebene und Wartungsarmut der Verbrennungsmotoren zum
wird durch Radhaus mit Trägerstruktur, Fußstütze anderen führen zu immer komplexer aufgebauten
Kupplungsfuß, Breite Pedalerie und Tunnelbreite Motorräumen [4]. Erhöhte Produktinhalte wie ABS-
(insbesondere bei Fahrzeugen mit Längsmotor) Systeme, Scheinwerferreinigungssysteme u.s.w. er-
festgelegt. schweren die Verhältnisse zusätzlich.
• R-Punkt vorne: Das y-Maß wird durch die Breite Durch diese anspruchsvollen Packageverhältnisse so-
der Tür (Seitencrashstrukturen und Airbags), die wie die vor allem bei Dieselmotoren vorhandenen
Schulterbreite der Insassen, und die Abstände Motorkapselungen zur Geräuschdämmung stellen sich
zwischen den Insassen und zu den Türen (Kom- wärmetechnische Aufgaben, bei denen system- und
fortziele, Breite Getriebe und somit Breite Mittel- bauteilbedingte Grenztemperaturen zu beachten sind.
konsole) definiert. Es ist daher die gezielte Belüftung und Durchströ-
• R-Punkt hinten: Die Breite wird durch die Lage mung des Motorraums zu beachten.
des Radhauses hinten, den Türaufbau und die
Komfortansprüche für zwei bzw. drei Sitzplätze 4.2.3.4.3 Unterboden
bestimmt.
Antriebsstrang, Abgasanlage, Leitungen, Tank und
4.2.3.4 Ausgewählte Aspekte des Packages Achsen bestimmen die Gestaltung des Unterbodens
4.2.3.4.1 Karosseriestruktur (Bild 4.2-14).
Das Abgasnachbehandlungssystem stellt einen wichti-
Die mögliche Anordnung der Fahrzeugkomponenten, gen Teil der Abgasanlage dar, vgl. Kapitel 5.6. Es muss
der Innenraumbereich sowie die Gesamtfahrzeugab- zur schnellstmöglichen Erreichung seiner Funktions-
messungen werden durch den Raumbedarf der Karos- temperatur nach dem Kaltstart zumindest zu einem Teil
serieträgerstruktur wesentlich beeinflusst. möglichst motornah angeordnet werden. Eine in den
Die sich aus der Auslegungen für Struktursteifigkei- Drosselverlusten minimierte Abgasrohrführung (bei V-
ten (Torsion, Biegung) und Crashverhalten resultie- und Boxermotoren in der Regel zweiflutig [21, 22])
rende Trägerquerschnitte, -verläufe und Knotenaus- und ein ausreichendes Schalldämpfervolumen ist zur
bildungen stellen beim Package aufgrund ihrer hohen Erreichung eines niedrigen Abgasgegendrucks und
Bedeutung einen wesentlichen „Eckpfeiler“ dar. somit hoher Motoreffizienz und -leistung erforderlich.
Karosserieleichtbau (vgl. Kapitel 6) stellt eine we- Den größten Raumbedarf im Tunnel- und Heckbereich
sentliche Stellschraube zur Reduzierung des Gesamt- haben die Schalldämpfer.
fahrzeuggewichtes dar [7, 9]. Leichtbaustrukturen mit Zur Reduzierung des Luftwiderstands werden bei
ihren tendenziell größeren Querschnitten sind daher Fahrzeugen der höheren Preis- und Geschwindig-
ebenfalls konzeptbeeinflussend. keitsklasse Unterbodenverkleidungen eingesetzt, die
einen relativ glatten Unterboden realisieren. Neben-
4.2.3.4.2 Motorraum
effekte dieser Verkleidungen sind ein besserer Schutz
Härter werdende Forderungen zur Reduzierung der der Leitungen, aber in der Regel etwas schlechtere
Fahrzeugemissionen zum einen sowie die Effizienz thermische Verhältnisse.

Bild 4.2-14 Porsche 911 Carrera 4 – Unterbodenpackage


106 4 Formen und neue Konzepte

4.2.3.4.4 Tank, Leitungen und Reserverad Beispiele großer Module sind Frontendmodul (vgl.
Kapitel 6.1.5), Cockpitmodul, Vorder- und Hinter-
Die Anordnung des Kraftstofftanks wird durch erfor- achse, Antriebsstrang (teilweise inkl. Achse(n)) und
derliche Crashschutzmaßnahmen geprägt. Charakte- bei Cabriolets das Verdeckmodul.
ristisch ist die Platzierung im crashgeschützten Be-
reich vor und im Bereich der Hinterachse bei Front- 4.2.3.5.2 Kundendienst
motorfahrzeugen, vgl. Kapitel 7.6.
Produktions- und sicherheitsrelevante Kriterien prä- Fahrzeugkonzeptbeeinflussende Forderungen sind in
gen das Leitungspackage der Benzin-, Hydraulik- und erster Linie maximal zulässige Zeitwerte zum Aus-
Elektrikleitungen. Eine crashsichere, kreuzungsfreie tausch von Fahrzeugkomponenten sowie eine Mini-
Verlegung muss durch sichere und verwechslungs- mierung etwaiger Reparaturkosten. Diese Forderun-
freie Schnellverbindungen eine hohe Produktionsqua- gen bedeuten während der Packageabsicherung Ein-
lität gewährleisten. Eine Minimierung der Verbin- und Ausbauuntersuchungen von Komponenten oder
dungsstellen kraftstoffführender Leitungen in Ver- Baugruppen und die theoretische Ermittlung der
bindung mit Werkstoffen, die eine geringstmögliche Zeitbedarfe.
Kraftstoffdiffusion ermöglichen, ist zur Minimierung Zweck dieser Optimierung ist eine Reduzierung der
der Kohlenwasserstoffemissionen erforderlich. Aus Wartungs-, Reparatur- und Versicherungskosten für
gleichem Grund werden Aktivkohlebehälter (Volu- den Kunden und damit eine Steigerung der Wettbe-
men 1,5 l bis ca. 5 l je nach Tankvolumen und Betan- werbsfähigkeit des Produkts, vgl. Kapitel 11.6.
kungsentlüftungssystem) zur Zwischenspeicherung
der im Fahrzeugbetrieb (z.B. Tankerwärmung, USA 4.2.3.6 Einfluss von Plattform und Baukästen
auch Betankungsvorgang) freiwerdenden Benzin-
Durch die Definition von Plattformen und Baukästen
dämpfe eingesetzt.
wird das Ziel verfolgt, viele unterschiedliche Fahr-
Ein voluminöses Bauteil ist das Reserve- oder Not-
zeugvarianten (z.B. Limousine 2-, 4-türig, Kombi,
rad, das – bei Frontmotorfahrzeugen im Heckbereich
Cabriolet) mit möglichst wenig variantenspezifischen
angeordnet – einen Bruttoraumbedarf von ca. 50 l
Bauteilen zu entwickeln.
(schmales Hochdrucknotrad) bis etwa 80 l (vollwerti-
Unter einer Plattform wird dabei ein großer Teil der
ges Reserverad) hat. Aus diesem Grund wird es
Bodengruppe (Trägerstrukturen einschließlich Stirn-
zunehmend durch platzsparende Reifenreparatur- und
wand, im Hinterwagenbereich meist längen-, oft auch
füllsysteme oder Reifen mit Notlaufeigenschaften
packagevariabel), der Antriebsstrang inkl. Kühlermo-
(vgl. Kapitel 7.3) ersetzt.
dul, die Achsen mit Lenkstrang, der Cockpitaufbau
ohne Verkleidung und aus diesen Merkmalen zumeist
4.2.3.5 Anforderungen aus Produktion ebenfalls die Sitzposition mindestens vorne verstan-
und Kundendienst den.
Da auf einer gemeinsamen Plattform unterschiedliche
4.2.3.5.1 Produktion und Modularisierung Fahrzeugtypen dargestellt werden, ist der gesamte
Eine durch ein rationelles Fertigungskonzept mit dem „Hut“ und somit die für den Kunden sichtbare Form
Ziel höchster Produktqualität und niedrigster Ferti- (sowohl Interieur wie Exterieur) nicht Inhalt einer
gungszeiten vorgegebene Montagereihenfolge beein- Plattform.
flusst den Fahrzeugentwurf, da z.B. Einbaurichtungen Unter einem Baukasten versteht man im Fahrzeugbau
(Beispiel: Motoreinbau von oben, vorne oder unten) Komponenten oder Baugruppen, die in verschiedenen
berücksichtigt werden müssen. Gleichbedeutend mit Baureihen und Typen zur Verwendung kommen, wie
räumlich großen Komponenten wie die Antriebsein- beispielsweise Aggregate (Motoren, Getriebe), Achs-
heit sind Einbaumodule, deren Montagemöglichkeit teile oder ganze Achsen, Kühler, Nebenaggregate
in das Fahrzeug erst über ihre Realisierbarkeit ent- (Lichtmaschine, Klimaanlagenkompressoren) sowie
scheidet. Heizungs- und Klimaanlage.
Der Trend zu einer stärkeren Modularisierung des Ziel von Plattformdefinition und Baukästen ist, mit
Fahrzeugs, d.h. Bildung größerer Vormontagebau- einem (gesamtheitlich gesehen) Minimum an Ent-
gruppen, hat folgende Ursachen z.B. [30]: wicklungs- und Investitionskosten ein Maximum an
verschiedenen Typen und Varianten darzustellen. Zu-
• Entlastung des Fahrzeugmontagebandes von ar- sätzlich verbessern sich Einkaufsbedingungen und
beitsintensiven Umfängen Produktionskosten für die mit hoher Stückzahl produ-
• Vereinfachung von Montagevorgängen am Band zierten Plattform- und Baukastenteile. Gängig ist
• Variantenbildung und deren Vorprüfung außer- diese Strategie vor allem bei Automobilkonzernen,
halb des Fahrzeugmontagebandes die verschiedene Marken unter sich vereinigen, aber
• Reduzierung von Taktverlustzeiten auch bei kleineren Herstellern, um niedrigere Fahr-
• Möglichkeit zum Out-Sourcing größerer Umfän- zeugstückzahlen einzelner Typen in der Gesamtheit
ge wirtschaftlich darstellen zu können [4, 29].
4.2 Fahrzeugkonzept und Package 107

Bild 4.2-15 Volkswagen Golf (Frontmotor, Quereinbau, Frontantrieb)

4.2.4 Beispiele ausgewählter Fahrzeug-


konzepte in unterschiedlichen
Klassen
4.2.4.1 Beispiele nach Fahrzeuggrößenklasse
Anhand von ausgewählten Fahrzeugen sollen wesent-
liche der in Abschnitt 4.2.2 dargestellten Konzeptpara-
meter und der in Abschnitt 4.2.3 aufgezeigten maßkon-
zeptionellen Zusammenhänge verdeutlicht werden.
Untere Mittelklasse
Bild 4.2-15 zeigt den VW Golf als prägenden Vertre-
ter dieser Klasse. Bild 4.2-17 Smart (Heckmotor, Quereinbau, Heckan-
Typisch für diese Fahrzeugkonfiguration ist der trieb)
kompakte Vorderwagen und der flache Bodenaufbau.
Der Fersenpunkt der hinteren Sitzreihe liegt in z- raumökonomische Anordnung des Aggregats durch-
Richtung unterhalb des Fersenpunktes der ersten eine konsequente Entwicklung des flach querliegen-
Sitzreihe. den Motors und Getriebes, die sich den Gegebenhei-
Bild 4.2-16 zeigt die Mercedes A-Klasse als typi- ten des Raumangebots zwischen Stirnwand und
schen Vertreter eines 1-Box-Aufbaus. Typisch für die Vorderachse anpasst [14].
Unterfluranordnung ist der hohe Bodenaufbau und Micro-/Minicar
das kompakte (L114-L53)-Maß, die beide zusammen Ein Vertreter der Klasse (Microcar) mit ausgeprägter
zu einer kurzen Gesamtfahrzeuglänge beitragen [14]. Konzeptinnovation stellt der Smart dar, Bild 4.2-17.
Erreicht wird diese kompakte Bauart durch ein Über- Mit einer Gesamtlänge von 2690 mm nutzt dieses
einanderschieben der wesentlichen längenbestimmen- Konzept ebenfalls den 1-Box- Aufbau. Der Verzicht
den Elemente wie Antriebsblock und Fahrgastraum auf eine hintere Sitzreihe und die damit gegebene
(vgl. Abschnitt 4.2.3.2). So kann eine im Wettbe- ausschließliche Zweisitzigkeit ermöglicht trotz einer
werbsvergleich sehr kurze Fahrzeuglänge realisiert extremen Fahrzeugkürze ein akzeptables Innenraum-
werden. Möglich wird die äußerst kompakte und angebot für zwei Personen. Auch hier konnte die
kurze Fahrzeuglänge teilweise nur durch ein Auswei-
chen „nach oben“ erzielt werden, was eine größere
Fahrzeughöhe zur Folge hat.
Der querliegende Motor mit Getriebe ist beim Smart
mit der Hinterachse zu einer sehr kompakten Monta-
geeinheit verblockt.
Mittelklasse
Der BMW 3er stellt ein maßkonzeptionell typisches
Fahrzeug der Mittelklasse dar, Bild 4.2-18 [15].
Bild 4.2-16 Mercedes-Benz A-Klasse (Frontmotor, Das Fahrzeug hat einen Frontmittelmotor und Heck-
Quereinbau Unterflur, Frontantrieb) antrieb. Typisch hierfür ist die sehr weit vorne liegen-
108 4 Formen und neue Konzepte

Bild 4.2-18 BMW 3er-Serie (Frontmotor, Längseinbau, Standardantrieb)

Bild 4.2-19 Audi A6 (Frontmotor Längseinbau, Vorderradantrieb)

de Vorderachse (kurzer Überhang vorne) und das weit Charakteristisch für die vorliegende Antriebskon-
mit der Fahrgastzelle in x-Richtung „überlappende“ figuration mit getriebeintegriertem Vorderachsdiffe-
Getriebe. rential ist die Lage des Motors vor der Vorderachse
und der dadurch bedingte relativ große Überhang
Obere Mittelklasse vorne.
Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Mittel- Oberklasse
klasse und Oberer Mittelklasse innerhalb einer Fahr- Die Oberklasse wird wesentlich von Fahrzeugen der
zeugmarke sind zu vernachlässigen. Die Unterschiede Marken Audi, BMW und Mercedes geprägt [17, 18,
liegen hauptsächlich im großzügigeren Maßkonzept. 25]. Als neuen und sportlich positionierten Vertreter
Für die obere Mittelklasse zeigt Bild 4.2-19 den Audi in der Oberklasse zeigt Bild 4.2-20 den Porsche
A6 [16]. Panamera [28].

Bild 4.2-20 Porsche Panamera (Frontmotor, Längseinbau, Standardantrieb/Allradantrieb)


4.2 Fahrzeugkonzept und Package 109

Bild 4.2-21 Porsche Boxster (Mittelmotor, Längseinbau, Heckantrieb)

Luxusklasse Sport Utility Vehicles (SUV)


Die Luxusklasse besitzt eine insgesamt sehr geringe Ein relativ neues und stark gewachsenes Marktseg-
Martdurchdringung und ist mit wenigen tausend Fahr- ment stellen die SUVs dar. Diese Fahrzeugkategorie
zeugen ein kleines Segment. Die Fahrzeuge unter- reicht von aus Mittelklassekombis abgeleiteten und
scheiden sich von der Oberklasse im Wesentlichen höhergelegten Fahrzeugen bis hin zu reinen Gelände-
durch ein sehr großes L50-Maß das bei einigen Fahr- fahrzeugen mit Leiterrahmen.
zeugen sogar eine Liegeposition ermöglicht [18]. Die Konzeptausprägungen sind dabei äußerst unter-
schiedlich. Typisch ist der Allradantrieb, die große
4.2.4.2 Beispiele nach Fahrzeugausprägung Bodenfreiheit, kurze Überhänge für große Böschungs-
Für verschiedene Fahrzeugkonzepte ist eine Einord- winkel und eine hohe Sitzposition der Insassen.
nung nach Größe nicht geeignet. Das gezeigte Grund- Bild 4.2-23 zeigt den Porsche Cayenne als SUV mit
konzept kann natürlich mit unterschiedlichen Maß- selbsttragender Karosserie [23].
konzepten und somit auch verschieden groß ausge-
führt sein. Van
Eine eigenständige Fahrzeugkategorie stellen die
Roadster Vans dar. Entweder aus der Kompaktklasse abgeleitet
Das Roadster-Segment beinhaltet Fahrzeuge mit oder mit eigenständiger Plattform zeichnen Sie sich
Standardantrieb ebenso wie Mittelmotorfahrzeuge. durch das große und zumeist sehr variable Innen-
Bild 4.2-21 zeigt den Porsche Boxster als Fahrzeug raumkonzept mit bis zu 8 Sitzplätzen oder bei ausge-
mit Mittelmotoranordnung. bauten Sitzen bis zu 2.900 l Kofferraumvolumen aus.
Das große Sitzplatzangebot wird durch eine hohe
Coupé und Sportcoupé Sitzposition und somit eine große Fahrzeughöhe er-
Die Coupés reichen konzeptionell von aus der Mittel- reicht. Problematisch ist bei diesen Fahrzeugen, dass
klasse abgeleiteten Fahrzeugen mit Standardantrieb bei Nutzung durch 8 Personen nur ein Kofferraumvo-
und 4 Sitzen über Konzepte mit Transaxle- oder Heck- lumen auf Kompaktwagenniveau zur Verfügung steht.
antrieb und 2+2 Sitzen, Bild 4.2-22 bis zu Mittelmo- Bild 4.2-24 zeigt den VW Sharan als Beispiel für ein
torfahrzeugen mit reiner Zweisitzigkeit. realisiertes Van-Konzept.

Bild 4.2-22 Porsche Carrera (Heckmotor, Längseinbau, Heckantrieb)


110 4 Formen und neue Konzepte

Bild 4.2-23 Porsche Cayenne Turbo (Frontmotor, Längseinbau, Allradantrieb)

Bild 4.2-24 VW Sharan (Frontmotor, Quereinbau, Vorderradantrieb)

4.2.5 Konzeption und Packageprozess tionen werden Modul- und Bauteilentwürfe der Fach-
in der industriellen Praxis bereiche gegen diese Grenzflächen geprüft.
In der Serienentwicklung werden mittels geeigneter
Die Konzeption und der Packageprozess verläuft in Systeme zur Berechnung von Bauteilkollisionen
der industriellen Praxis ähnlich, wie in diesem Kapi- durch die Packageabteilung einzelne Bauteile per
tel 4.2 dargestellt. DMU (Digital Mock-up – Digitale Attrappe) gegen-
Zu Beginn einer Entwicklung werden die Vorstellun- einander geprüft. Geeignete PDM-Werkzeuge ermög-
gen und Ziele für Gesamtfahrzeug und wesentliche lichen hierbei die teilweise Automatisierung der
Komponenten und Module in einem Rahmenheft Fahrzeugkonfiguration und Kollisionsprüfungen.
bzw. Zielkatalog zusammengeführt. Auf dieser Basis Solche Werkzeuge erfordern die durchgängige daten-
wird nachfolgend ein erstes Maßkonzept erstellt und technische Verknüpfung von Fahrzeugstruktur und
erste zwingend einzuhaltende Begrenzungen (Hard- CAD-Datenwelt.
points) werden vorgegeben. Die schrittweise Konkre- Die konsequente Fortsetzung dieser Vorgehensweise
tisierung des Bauraumbedarfs der Fachbereiche und ist die Integration von Systemen zur Erstauslegung
das konkreter werdende Maßkonzept führt zur Defini- von Strukturen und Komponenten in die CA-Land-
tion von Package-Grenzflächen. Diese Package- schaft.
Grenzflächen sind dreidimensionale CAD-Flächen,
die den Bauraumbedarf einzelner Komponenten, 4.2.6 Entwicklung der Fahrzeugkonzepte
Greifräume der Insassen oder gesetzliche Vorgaben,
wie z.B. Sichtstrahlen, darstellen. Die derzeitige Konzeptlandschaft ist geprägt durch
In den frühen Phasen der Entwicklung stellen diese eine Vielzahl von Fahrzeugvarianten, die alle erdenk-
Package-Grenzflächen Vorgaben für die Fachberei- lichen Nischen ausfüllen. Diese Varianten sind auch
che dar. Mit weiterer Konkretisierung der Konstruk- für Großserienhersteller wirtschaftlich darstellbar,
4.3 Neuartige Antriebe 111

weil dabei in der Regel auf identischen Fahrzeug- [7] Bandow, F.; Stahlecker, H.: Ableitung der Hauptabmessungen
eines Fahrzeugs, ATZ 103 (2001) 10
plattformen aufgesetzt wird, vgl. Abschnitt 4.2.3.6.
[8] Braess H.-H.: Zur gegenseitigen Abhängigkeit der Personenwa-
In näherer Zukunft sind folgende Trends zu erwarten: gen-Auslegungsparameter Höhe, Länge und Gewicht, ATZ 81
• Zunehmend Crossover-Konzepte, wie beispiels- (1979) 9
[9] Braess, H.-H.: Negative Gewichtsspirale, ATZ 101 (1999) 1
weise die Kombination aus Van und Coupé oder [10] Toyota Prius, ATZ 3/04
eine Konzeptmischung zwischen Limousine und [11] Lexus LH400, ATZ 09/2005
Van. [12] Die neue C-Klasse, ATZ/MTZ-Sonderausgabe zu ATZ und
• Weitere Abkehr von klassischen Fahrzeugkonzep- MTZ 04/07
[13] Spiegel, L.; Schuermann, M.; Rauner, T.; Stache, I.: Das An-
ten (z.B. Limousine). triebskonzept des neuen Cayenne S Hybrid, 19. Aachener Kollo-
• Größere Variabilität der Fahrzeuge (Interieur und quium Fahrzeug- und Motorentechnik,, Bd. 1; 2010
Exterieur). [14] Die neue A-Klasse von Daimler-Benz, ATZ/MTZ Sonderausga-
• Die Gestaltung markenspezifischer Innenraum- be zu ATZ und MTZ 10/04
[15] Der neue 3er BMW, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und
konzepte, Bedienlogiken und Mensch-Maschine- MTZ 2005
Schnittstellen [19, 25] [16] Der neue Audi A6, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und MTZ
• Fahrzeugklassenspezifische Leistungsgrenzen 01/11
verschwimmen und überlappen zunehmend. [17] Die neue S-Klasse, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und MTZ
• Vordefinierte Plattformen werden zunehmend 10/05
[18] Der neue Maybach, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und
durch flexibel definierte Baukästen ersetzt. MTZ 09/02
• Hybridkonzepte werden in verschiedenen Ausprä- [19] Der neue Audi A8, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und MTZ
gungen in nahezu alle Fahrzeugklassen Einzug 08/02
[20] VW Phaeton, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und MTZ
nehmen. 07/02
Beispiele für Crossoverfahrzeuge sind der Mercedes [21] Der neue Porsche Boxster, ATZ/MTZ 02/05
CLS [26] als Mischung aus Limousine und Coupé, [22] Der neue Porsche 911, ATZ/MTZ 12/04 und 01/05
[23] Der Porsche Cayenne, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und
der Golf Plus [27], der sich zwischen Golf und Tou- MTZ 07/03
ran ansiedelt sowie der Audi A5 Sportback, der sich [24] Jost, K.-E.: Rechts wie links, Christophorus – Das Porsche
zwischen Coupé und Kombi einordnet. Magazin, Nr. 298, 10/02
Technologische Innovationen werden bereits heute [25] „Der neue BMW 7er“ ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ und
MTZ 11/08
sehr schnell nach der Ersteinführung in allen Fahr- [26] Der neue CLS von Daimler Benz, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu
zeugklassen angeboten. Die Differenzierung über ATZ und MTZ 11/04
das Fahrzeugkonzept wird daher als Alleinstellungs- [27] Der neue Golf Plus, ATZ/MTZ Sonderausgabe zu ATZ/MTZ
merkmal immer stärker an Bedeutung gewinnen, die 02/05
[28] Der Porsche Panamera, ATZ 10/2009
Konzeptinnovation wird zu einem der Hauptdiffe- [29] Renner, J.: „Methodische Unterstützung funktionsorientierter
renzierungskriterien gegenüber den Wettbewerbern. Baukastenentwicklung am Beispiel Automobil“ Diss. TU Mün-
Dieser Trend ist bereits heute, insbesondere bei spät chen 2007
in ein Segment einsteigenden Wettbewerbern, zu [30] Dietrich, S.: „Modularisierung und Funktionsintegration am
Beispiel der Automobilkarosserie – Ein Beitrag zur Entwick-
beobachten. lung, Bewertung und Lösungsauswahl“ Diss. TU München 2011
Zudem wird auch die notwendige CO2-Reduzierung [31] Schmidt, G.; Herrmann, G.: Plattformbasierte Lösungen für
zunehmend Einfluss auf die Ausgestaltung von Kon- globale Märkte, ATZextra 04/2011, S. 28–33
zepten (z.B. durch Downsizing und Downweighting)
nehmen. Die Integration von Hybridkonzepten und
auch das zunehmende Angebot voll elektrifizierter
Fahrzeuge wird Rückwirkungen auf die Fahrzeug-
4.3 Neuartige Antriebe
konzeption haben und lässt die Komplexität und den
Anspruch an die Konzept- und Packagearbeit weiter 4.3.1 Elektroantriebe
steigen.
Elektroantriebe kommen in verschiedenen Transport-
Literatur systemen zum Einsatz. Im Folgenden werden elektri-
sche Antriebe für nicht spurgebundene Fahrzeuge für
[1] Braess, H.-H.: 2. Stuttgarter Symposium Kraftfahrwesen und
Verbrennungsmotoren 1997, Das Automobil im Spannungsfeld den Personen- und Güterverkehr behandelt. Diese
zwischen Wunsch, Wissenschaft und Wirklichkeit, S. 786 – 799 Fahrzeuge werden von Elektromotoren angetrieben
[2] SAE-Norm J1100 und beziehen ihre Antriebsenergie aus einer mitge-
[3] ECIE – European Car Manufacturer Information Exchange
führten Traktionsbatterie oder einem Brennstoffzel-
Group – Issue 17
[4] Indra, F.: Package: Die Herausforderung für den Motorenent- lensystem.
wickler, 19. Internationales Wiener Motorensymposium, Fort- Elektrofahrzeuge sind vorteilhaft, weil sie keine
schrittsbericht VDI Reihe 12 Nr. 348, VDI Verlag 1998 Schadstoffe am Einsatzort freisetzen, weder Abgase
[5] Basshuysen, R. v.; Schäfer, F. (Hrsg.): Handbuch Verbren-
nungsmotor. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2010
noch Kraftstoffdämpfe bei der Betankung und Spei-
[6] 50 Jahre Frontantrieb im Serienautomobilbau, VDI-Bericht 418, cherung auftreten. Dies gilt unabhängig vom Alter
1981 und technischem Zustand der Fahrzeuge.
112 4 Formen und neue Konzepte

Da die elektrische Energie zum Betrieb von Elektro- Bei Elektrofahrzeugen werden je nach Reichweite
fahrzeugen jedoch überwiegend in Kraftwerken aus und maximaler Geschwindigkeit noch verschiedene
fossilen Energien erzeugt wird, entstehen hier Emis- Kategorien unterschieden.
sionen. Die Möglichkeiten regional oder global die PZEVs:
Emission von Schadstoffen mit Elektrofahrzeugen zu „Partial ZEVs“, Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor
senken sind deshalb letztlich abhängig vom Schad- und extrem niedrigem Schadstoffausstoß und Lang-
stoffausstoß bei der Stromerzeugung. zeitstabilität der Emissionen.
Vorteilhaft ist, dass moderne Kraftwerke sehr gute AT PZEVs:
Wirkungsgrade aufweisen und mit der Stromversor- Diese „Advanced Technology PZEVs“ haben die
gung eine flächendeckende Infrastruktur zum Wie- gleichen niedrigen Emissionen wie die PZEVs und
deraufladen von Elektrofahrzeugen leicht aufgebaut zusätzlich einen elektrischen Antrieb.
werden kann. Die entscheidenden Fragen der Infra- In der Praxis handelt es sich um extrem schadstoff-
struktur sind jedoch noch nicht geklärt, wie zum arme Hybridfahrzeuge, Fahrzeuge mit H2-Verbren-
Beispiel das Aussehen der Infrastruktur auf öffentli- nungsmotor oder um Brennstoffzellenfahrzeuge mit
chen Verkehrsflächen, die Abgabe der Energie an den Reformer.
Ladestationen, die Steuerung des Ladens und die Das komplexe Gesetz sieht je nach Marktanteil des
Gestaltung des Versorgungsnetzes [1]. Zur Klärung Automobilherstellers in Kalifornien unterschiedliche
dieser Fragestellungen wurden und werden aktuell Prozentsätze für ZEVs, PZEVs und AT PZEVs vor.
eine Vielzahl von Projekten gestartet. Ziel derer ist Dabei wurde den Automobilherstellern eine gewisse
es, die Potenziale der Elektromobilität in großstäd- Flexibilität im Hinblick auf die jeweiligen Anteile
tisch geprägten Modellregionen zu überprüfen und zugestanden. Größere Automobilhersteller müssen je-
neue Geschäftsmodelle zu entwickeln [2]. doch eine definierte Anzahl ZEVs anbieten.
Elektromotoren weisen einen hohen Wirkungsgrad
auf und bieten zusätzlich die Möglichkeit der Ener- 4.3.1.1 Antriebssystem für Elektrofahrzeuge
gierückgewinnung aus Bremsvorgängen. Das gesamte Antriebssystem von Elektrofahrzeugen
Hinzu kommt bei Elektrofahrzeugen, dass sie insbeson- [5] umfasst:
dere bei niedrigen Geschwindigkeiten sehr leise sind.
• Traktionsbatterie mit Batteriemanagement und i.a.
Nachteilig für den Nutzer von Elektrofahrzeugen sind
On-Board-Ladegerät
die derzeit noch hohen Anschaffungskosten und die
• Elektromotor mit elektronischer Steuerung (Um-
eingeschränkte Reichweite dieser Fahrzeuge. Auf-
richter) und Kühlung
grund längerer Ladezeiten zum Wiederaufladen der
• in der Regel notwendiges Getriebe incl. Differen-
Batterien ist die Verfügbarkeit von Elektrofahrzeugen
tial
eingeschränkt.
• Kraftübertragung auf die Antriebsräder
Elektrofahrzeuge sind bereits seit Ende des 19. Jahr-
hunderts im Einsatz, noch vor den Fahrzeugen mit Außerdem müssen Nebenaggregate wie die Lenk-
Verbrennungsmotoren [3]. Zu Beginn des 20. Jahr- und Bremsunterstützung und das Heiz- und Klimati-
hunderts wurden Elektroantriebe dann rasch durch sierungssystem dem elektrischen Betrieb angepasst
Verbrennungsmotoren ersetzt. Neue Impulse für die werden. Wieder aufladbare Traktionsbatterien erfor-
Entwicklung moderner Elektrofahrzeuge gingen erst dern Ladegeräte, die entweder als stationäre Ladege-
wieder von der Erdölkrise in den siebziger Jahren räte oder als On-Board-Ladegeräte ausgeführt werden
und der „ZEV-Gesetzgebung“ (ZEV: Zero Emission können.
Vehicle) Kaliforniens aus. Dieses Gesetz forderte in Für die Kraftübertragung auf die Antriebsräder kann
der ersten Fassung aus dem Jahr 1990 emissionsfreie der Antriebsstrang unterschiedlich konfiguriert wer-
Fahrzeuge für Kalifornien ab dem Modelljahr 1998. den (Bild 4.3-1) [6]. Häufig werden Vorder- oder
Technisch ist dies nur erreichbar mit ausschließlich Hinterradantriebe mit einer Zentralmaschine und
batterieelektrisch angetriebenen Fahrzeugen oder mit einem Getriebe mit einem oder zwei Gängen, auto-
Wasserstoff-Brennstoffzellenfahrzeugen. Bis Ende
der 90er Jahre haben deshalb zunächst alle größeren B E E
Automobilhersteller intensiv die Entwicklung von
B: Batterie
Elektrofahrzeugen verfolgt, ehe diese Entwicklung E B B
E: Elektromotor
dann weitgehend zugunsten der Brennstoffzellenfahr- + Umrichter
zeugentwicklung zurückgestellt wurde. In den Folge- ggf. Getriebe
D EE E E
jahren wurde das ZEV-Gesetz mehrmals geändert [4] D: Differential
und ist nach wie vor in der Diskussion. Die ZEV- Vorder- oder Tandem- Radnaben-
Gesetzgebung sieht folgende Fahrzeugkategorien vor: Hinterrad- antrieb antrieb
antrieb
ZEVs:
Absolut schadstofffreie Fahrzeuge wie Batterie- und Bild 4.3-1 Antriebsstrang-Konfigurationen für Elekt-
Wasserstoff-Brennstoffzellen-Elektrofahrzeuge. rofahrzeuge
4.3 Neuartige Antriebe 113

220 Drehmoment [Nm]

200

180

160

140

120

100
89
80
88
60
85
82
40
76
20 66
Bild 4.3-2 Typisches
0 Wirkungsgradkennfeld eines
0 2000 4000 6000 8000 10000 12000 14000
Drehzahl [1/min]
Asynchronmotors (inklusive
Umrichter)

matisiert geschaltet, und Differential eingesetzt [7]. 200


Max. Moment
100

Eine Alternative sind radnahe Antriebssysteme mit


Drehmoment Nm

zwei Elektromotoren und Radnabenantriebe mit 150 Überlastbereich 75

Leistung kW
Elektromotoren in den Rädern. Die Technologie der
Max. Leistung
Radnabenantriebe bietet attraktive Potentiale. Der 100
Nennmoment
50
automobile Reifegrad ist jedoch noch gering. Darüber
Nennleistung
hinaus sind sie aus heutiger Sicht zu teuer. Dies ist im
50 25
Falle eines Einsatzes in Brennstoffzellen- und Batte-
rie-Elektrofahrzeugen besonders gravierend, da diese
Fahrzeuge aufgrund der verbauten Komponenten von 0
0 2000 4000 6000 8000
0

Grund auf bereits unter einem sehr hohen Kostenan- Drehzahl 1/min
spannungsgrad stehen [8].
Bild 4.3-3 Typische Drehmoment- und Leistungs-
4.3.1.2 Elektromotoren für Elektrofahrzeuge kennlinien einer umrichtergespeisten Asynchronma-
schine
Motoren für den Einsatz in Kraftfahrzeugen müssen
in einem weiten Drehzahl- und Drehmomentbereich • Drehstrommotoren
arbeiten. Nahezu ideale Fahrzeugmotoren sind Elekt- – Asynchronmotoren
romotoren. Sie sind vergleichsweise leise, arbeiten – Synchronmotoren
durchweg mit hohem Wirkungsgrad (Bild 4.3-2) und – permanenterregte Synchronmotoren
weisen eine günstige Drehzahl-Drehmoment-Charak- – fremderregte Synchronmotoren
teristik auf. Ihr maximales Drehmoment ist schon im • Spezialmotoren
Stillstand verfügbar. Auch bei hohen Drehzahlen – bürstenlose Gleichstrommotoren (DC-Brushless
können sie noch ein ausreichendes Drehmoment ab- Motors)
geben, bei nahezu konstanter Leistung über der Dreh- – Transversalflussmotoren
zahl. Bild 4.3-3 zeigt Kennlinien eines umrichter- – Geschaltete Reluktanzmotoren (Switched Re-
gespeisten Asynchronmotors für ein Elektrofahrzeug. luctance Motors)
Da Elektromotoren kurzzeitig überlastbar sind, steht Kriterien bei der Auswahl der Motoren sind kom-
für Beschleunigungsvorgänge zusätzlich Drehmoment pakte Bauweise, geringes Gewicht (hohe Leistungs-
zur Verfügung. Im Unterschied zu Verbrennungsmo- dichte), hoher Wirkungsgrad, einfache Steuerbarkeit
toren kann in der Regel auf ein mehrgängiges Getrie- in einem weiten Drehzahl- und Drehmomentbereich,
be verzichtet werden. Meist genügt ein einfaches Überlastbarkeit, niedrige Geräuschentwicklung, nied-
Getriebe mit fester Übersetzung. rige Kosten und geringer Wartungsbedarf.
Als Elektromotoren für Elektrofahrzeuge kommen An elektrische Antriebe für Elektrofahrzeuge werden
unterschiedliche Ausführungen zum Einsatz: im Vergleich zu stationären Antrieben wesentlich
• Gleichstrommotoren höhere Anforderungen gestellt. Diese beziehen sich
– Gleichstromreihenschlussmotoren sowohl auf die mechanische, als auch auf die elektri-
– Gleichstromnebenschlussmotoren sche Auslegung und widersprechen sich teilweise:
114 4 Formen und neue Konzepte

– hoher Wirkungsgrad über große Betriebsbereiche eine dreisträngige Wicklung in Nuten verteilt. Die
– hohe Überlastbarkeit Ständerwicklung erzeugt ein Drehfeld (drehendes
– hohe Leistungs- und Drehmomentausbeute bei Magnetfeld). Man unterscheidet bei den Drehstrom-
gleichzeitig kleinem Volumen und kleiner Masse motoren zwischen Synchron- und Asynchronmo-
– Widerstandsfähigkeit gegen Umgebungseinflüsse toren. Die Unterscheidung ergibt sich aufgrund der
– inhärentes Sicherheitsverhalten unterschiedlichen Läuferbauart, die dazu führt, dass
– angepasste Lebensdauer der Läufer synchron bzw. asynchron mit dem Dreh-
– wirtschaftliche Fertigungsmöglichkeit bei großen feld des Stators umläuft.
Stückzahlen Bei der Asynchron- oder auch Induktionsmaschine
Die erforderliche Dauerleistung und das gewünschte wird der Läufer als Schleifring- oder Käfigläufer aus-
Drehmoment bestimmen letztlich die Größe eines geführt. Beim Schleifringläufer enthalten die Läufer-
Elektromotors. Dagegen wird die Dimensionierung nuten eine Drehstromwicklung, deren Anschlüsse
der Leistungselektronik (Umrichter) weitgehend von über Schleifringe und Kohlebürsten nach außen ge-
der geforderten Überlastfähigkeit beeinflusst. führt werden. Da die Schleifringe gewartet werden
Volumen und Gewicht von Elektromotoren unterlie- müssen, hat sich diese Ausführung bei Elektrofahr-
gen grundsätzlich bestimmten Einflußgrößen: zeugen nicht durchgesetzt. Beim Käfigläufer sind die
– Volumen und Gewicht sind dem geforderten Läufernuten aus Aluminium, Kupfer oder Bronze
Drehmoment etwa proportional, d.h. höhere Leis- ausgefüllt und an den Seiten über Kurzschlussringe
tungen bei kleineren Drehzahlen erfordern mehr verbunden. Die Funktionsweise dieser Maschinen
Volumen und Gewicht. beruht auf der Tatsache, dass bei unterschiedlichen
– die Verminderung von aktivem Volumen (Kupfer Drehzahlen zwischen Läufer und Drehfeld Spannun-
und Eisen) und Gewicht führt zu höheren spezifi- gen im Läufer induziert werden. Durch die kurz-
schen Belastungen bei elektrischer Stromdichte geschlossenen Läuferstäbe fließen dann Ströme, wo-
und magnetischem Fluß, verbunden mit einer Re- durch im Magnetfeld Kräfte (Drehmomente) auf den
duzierung des Wirkungsgrades. Läufer ausgeübt werden.
– das aktive Gewicht, vor allem von permanent- Bei Synchronmotoren unterscheidet man zwischen
erregten Motoren, sinkt deutlich mit steigender permanenterregten und fremderregten Synchronmoto-
Polzahl. Hochpolige Maschinen sind jedoch nur ren. Bei fremderregten Synchronmotoren wird der
für moderate Drehzahlen und mit großen Durch- mit Wicklungen versehene Rotor von Gleichstrom
messern wirtschaftlich zu fertigen. durchflossen und dadurch magnetisiert. Durch Va-
riation des Läuferfeldes (Erregerstroms) lässt sich
Durch geschickte Auswahl von Randbedingungen ein ausgedehnter Bereich konstanter Maximalleistung
ergeben sich Optimierungsmöglichkeiten. Dennoch erreichen. Der fremderregte Synchronmotor ist aller-
können unter Berücksichtigung von thermischen und dings bisher bei Elektrofahrzeugen kaum zum Einsatz
physikalischen Grenzen spezifische Grenzwerte von gekommen.
Stromdichte oder magnetische Flussdichte nicht über- Bei der permanenterregten Synchronmaschine wird
schritten werden. das Läuferfeld durch Dauermagnete aufgebaut. Da-
Gleichstrommotoren durch ist keine zusätzliche Energie für das Magnet-
Diese Motoren wurden zunächst überwiegend in feld im Läufer notwendig, was gute Wirkungsgrade
Elektrofahrzeugen eingesetzt, haben heute aber als bei dieser Maschine bringt. Man unterscheidet Innen-
Fahrzeugantrieb für moderne Elektrofahrzeuge keine und Außenläuferausführungen. Zu letzteren zählen
Bedeutung mehr [9]. die sogenannten Dauermagnet-Motoren, die bei hoher
Gleichstrommotoren sind technisch ausgereift. Auf- Polzahl höhere Drehmomente liefern.
grund einer relativ einfachen Motorsteuerung sind Die Vorteile von Drehstrommaschinen in Käfigläu-
diese Motoren preiswert. Technische Schwachstelle ferausführung liegen in ihrer kompakten und robusten
ist der Kommutator mit den Bürsten, welche gewartet Bauweise (wartungsfrei). Maximale Drehzahlen bis
werden müssen. Die maximale Motordrehzahl wird 15.000 l/min sind möglich. Vorteilhaft ist auch der
durch die Umfangsgeschwindigkeit am Kommutator höhere Wirkungsgrad von Drehstrommotoren im
auf ca. 7.000 l/min begrenzt. Auch Wirkungsgrad und Vergleich zu Gleichstrommotoren. Permanenterregte
Leistungsdichte der Gleichstrommotoren sind relativ Synchronmaschinen weisen die höchsten Wirkungs-
begrenzt. grade auf. Der erhöhte Steuerungsaufwand bei Dreh-
strommotoren hat sich durch die Weiterentwicklung
Drehstrommotoren der Leistungshalbleiter ständig verringert und wird
In modernen Elektrofahrzeugen werden heute über- heute nicht mehr als Nachteil angesehen.
wiegend Drehstrommotoren [10] eingesetzt.
Spezialmotoren
Hier wird die Gleichspannung der Traktionsbatterie
mittels Umrichter in Drehspannungen variabler Am- Zu den speziellen Motoren gehört der bürstenlose
plitude und Frequenz umgewandelt. Im Ständer ist Gleichstrommotor (DC-Brushless Motor). Im Prinzip
4.3 Neuartige Antriebe 115

handelt es sich hier um einen permanent erregten Batterie zu ermöglichen. Darüber hinaus muss der
Gleichstrommotor ohne Kommutator. Die Kommu- Umrichter Betriebsgrenzen berücksichtigen, die
tierung erfolgt elektronisch über einen Umrichter, durch begrenzte Batteriespannung und Batterieleis-
der die Ständerwicklung mit pulsweitenmoduliertem tung, Traktionszustand des Bremsregelsystems und
Gleichstrom speist. Vom Aufbau ist diese Maschine Temperaturen von Maschine und Umrichter gegeben
ähnlich der einer permanent erregten Synchronma- sind.
schine. Der Fahrwunsch ergibt sich aus Fahr- und Bremspe-
Transversalflussmotoren [11] unterscheiden sich von dalstellung, Fahrtrichtung (vorwärts/rückwärts) und
konventionellen Motoren durch die Führung des Geschwindigkeitseinstellungen (Tempomat) und wird
Flusses. Der Fluss wird quer zur Bewegungsrichtung durch eine vorgeschaltete Fahrzeugkontrolleinheit in
und der Strom in Bewegungsrichtung geführt. Dies ein Solldrehmoment umgesetzt. Dabei kontrolliert
gelingt durch eine koaxiale Ringspule, die den Strom diese Einheit auch die Betriebsgrenzen.
in Umfangsrichtung führt und von hochpoligen Mag- Je nach Elektromotor sind Umrichter unterschied-
netkreisen mit axialer Flussrichtung umgeben ist. licher Ausführung im Einsatz. Gleichstrommaschinen
Jeder Strang benötigt ein eigenes Stator/Rotor-Sys- werden üblicherweise über einen Gleichstromsteller
tem mit zugehörigem Stromrichter. Es sind mindes- direkt aus der Traktionsbatterie versorgt. Synchron-
tens zwei Systeme für einen Antrieb erforderlich. Die oder Asynchronmotoren benötigen ein symmetrisches
Maschinen zeichnen sich durch sehr gute Wirkungs- Drehfeld, wozu eine Wechselrichtung des Stroms er-
grade in einem weiten Drehmoment-/Drehzahlbe- forderlich ist. Bei den Wechselrichtern unterscheidet
reich, hohe erzielbare Drehmomentdichten und kom- man prinzipiell zwischen Umrichtern mit Gleich-
pakte Bauweise aus. Deshalb bieten sich diese Moto- spannungszwischenkreis (spannungseinprägend) und
ren auch als Radnabenantriebe (Direktantrieb ohne solchen mit Gleichstromzwischenkreis (stromeinprä-
Getriebe) an. gend). Wegen des einfacheren Aufbaus und der bes-
Nachteilig ist die komplizierte Geometrie, die zu- seren Dynamik hat sich bei modernen Elektrofahr-
sammen mit den notwendigen Hochenergiemagneten zeugen der spannungseinprägende Umrichter durch-
zu hohen Herstellkosten führt. gesetzt.
Auch der geschaltete Reluktanzmotor (Switched
Reluctance Motor [12]) wird zu den Spezialmoto- Gleichstromsteller
ren gezählt. Es ist ein einfach gebauter, bürsten- Das Grundprinzip des Gleichstromstellers beruht da-
loser Motor. Es fehlen Magnete und Wicklungen im rauf, dass die Batteriespannung pulsförmig auf den
Rotor, der die Form eines Zahnrades hat und aus Antrieb geschaltet wird. Als aktive Leistungsbauele-
weichmagnetischem Material (z.B. Stahl) gefertigt mente kommen abschaltbare Transistoren (Bipolar,
wird. Der Motor arbeitet mit unterschiedlichen Pol- IGBT, MOSFET) mit entsprechender Freilaufdiode
zahlen im Rotor und Stator. Jeder Statorpol hat zum Einsatz.
eine Erregerspule. Mehrere Statorwicklungen wer- Bild 4.3-4 zeigt einen Stromsteller für eine fremd-
den elektrisch zusammengeschaltet, um Nord/Süd- erregte Gleichstrommaschine. Anker- und Feldstrom-
Polpaare einer Phase zu bilden. Jede Phase wird steller werden direkt von der Traktionsbatterie ge-
uni-polar, d.h. nur in einer Stromflussrichtung pro speist. Durch Ankerregelung wird der Grunddreh-
Strang, erregt, bis Rotor- und Statorpole aufeinander zahlbereich mit konstantem Drehmoment abgedeckt.
ausgerichtet sind. Eine sequentielle Erregung der Höhere Drehzahlen sind durch Absenkung des Feld-
Phasen bewirkt das kontinuierliche Drehen des Mo- stroms möglich. Im Feldschwächbereich ist hierbei
tors. der Ankerstromsteller voll durchgeschaltet.
Aufgrund der einfachen mechanischen Ausführung
und der vergleichsweise einfachen Regelstruktur sind Feldstromsteller
Reluktanzmotoren robust und preiswert und bieten
außerdem hohes Spitzenmoment und gute Wirkungs-
grade in einem weiten Drehzahl- und Drehmoment-
bereich. Aufgrund der Drehmomentschwankungen
können abgestrahlte Geräusche Probleme bereiten.
Abhilfe kann sowohl durch eine gute mechanische
Konstruktion als auch durch eine angepasste Ansteue-
UB M
rung erzielt werden.
4.3.1.3 Umrichter
Umrichter in Elektrofahrzeugen [13] haben die Auf- Ankerstromsteller
gabe, den Antriebsmotor aus der Traktionsbatterie zu
speisen und diesen je nach Fahrwunsch anzusteuern Bild 4.3-4 Stromsteller für fremderregte Gleich-
sowie eine Rückspeisung der Bremsenergie in die strommaschine
116 4 Formen und neue Konzepte

Umrichter mit Gleichspannungszwischenkreis 4.3.1.4 Traktionsbatterien


Der spannungseinprägende Umrichter (Bild 4.3-5, in Die Traktionsbatterie ist die wichtigste und teuerste
Verbindung mit einer fremderregten Synchronma- Komponente im Antriebsstrang des Elektrofahrzeugs.
schine dargestellt) besteht im Wesentlichen aus einem Die Reichweite wird von physikalischen, elektroche-
selbstgeführten Pulswechselrichter und erzeugt aus mischen und wirtschaftlichen Randbedingungen be-
der Batteriespannung eine Drehfeldspannung variab- stimmt. Unter Berücksichtigung von Heizung und
ler Amplitude und Frequenz. Der Kondensator ist Klimatisierung liegt die Reichweite heute bei etwa
erforderlich, um die Batterie von Oberschwingungen 150 km. Je nach Fahrzeuggröße werden so Batterien
des Pulswechselrichters zu entkoppeln. Auch die mit 15 bis 35 kWh Energieinhalt eingesetzt, was einer
Rekuperation der Bremsenergie ist ohne zusätzlichen Menge von etwa 1,5 bis 3,5 l Kraftstoff entspricht.
Aufwand möglich. Der Pulswechselrichter kann so- Von Traktionsbatterien wird eine lange Lebensdauer
wohl in Verbindung mit Synchron- als auch mit erwartet, und sie müssen sicher sein.
Asynchronmaschinen verwendet werden. Bei ihnen unterscheidet man zwischen Primär- und
Sekundärsystemen. Primärbatterien, wie beispiels-
weise die Zink/Luft-Batterie, sind nur einmal entlad-
bar. Diese Batterien müssen nach vollständiger Ent-
C ladung ausgetauscht und wiederaufbereitet werden.
M
UB Die elektrochemischen Reaktionen sind praktisch
nicht umkehrbar, während bei Sekundärbatterien eine
wiederholte Ladung und Entladung möglich ist.
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Be-
Bild 4.3-5 Spannungseinprägender Umrichter triebstemperatur. Man unterscheidet Batterien, die bei
Umgebungstemperaturen arbeiten und solche, die bei
Der Umrichter wird über eine Kontrolleinheit gesteu- erhöhten Betriebstemperaturen arbeiten (Hochtempe-
ert, die je nach Fahrwunsch das geforderte Drehmo- raturbatterien). Zu den Batterien, die bei Umgebungs-
ment einstellt. temperatur arbeiten, gehören z.B. die Blei-, Nickel/
Nachfolgende Tabelle 4.3-1 zeigt abschließend eine Cadmium-, Nickel/Metallhydrid-, Zink/Brom- und
Bewertung der elektrischen Antriebe für Elektrofahr- Lithium/Ionen-Batterie. Hochtemperaturbatterien ar-
zeuge. Kein Maschinentyp erfüllt gleichzeitig alle beiten bei Temperaturen bis 350 °C. Hierzu gehören
Kriterien mit hohem Zielerfüllungsgrad. Insofern die Systeme Lithium/Polymer (ca. 80 °C), Natrium/
muss je nach Anwendungsfall der geeignete Antrieb Schwefel (ca. 300 °C) und Natrium/Nickelchlorid (ca.
ausgewählt werden. Trotz hohen Entwicklungsstan- 300 °C).
des sind Gleichstrommaschinen für moderne Elektro- Obwohl es eine Vielzahl an unterschiedlichen Batte-
fahrzeuge wenig geeignet. Bei Asynchronmaschinen riesystemen gibt, haben sich nur einige wenige wirk-
und ebenso bei geschalteten Reluktanzmaschinen er- lich durchgesetzt. Tabelle 4.3-2 zeigt die wichtigsten
gibt sich hingegen ein ausgewogenes positives Ge- Batterien für Elektrofahrzeuge im Vergleich [14].
samtbild. Für Asynchronmaschinen spricht derzeit Aufgeführt sind gegenüber [14] aktualisierte Daten
der hohe Entwicklungsstand und die gute Verfügbar- von kompletten Batteriesystemen (incl. Batterietrog,
keit. Kommt es auf hohe Wirkungsgrade und kom- Batteriemanagement und Kühlung). Die angegebenen
pakte Bauweise an, bietet sich die permanenterregte Zielwerte werden von Automobilherstellern für er-
Synchronmaschine an. forderlich gehalten.

Tabelle 4.3-1 Elektromotoren für Elektrofahrzeuge im Vergleich


GM ASM FSM PSM SRM TFM
Wirkungsgrad –– + + ++ + ++
Maximale Drehzahl –– ++ + + ++ ––
Volumen –– + + ++ + –
Gewicht –– + + ++ + +
Kühlung –– + + ++ ++ +
Fertigungsaufwand – ++ – – ++ ––
Kosten – ++ – –– ++ ––
GM: Gleichstrommaschine; ASM: Asynchronmaschine; FSM: fremderregte Synchronmaschine; PSM:
permanenterregte Synchronmaschine; SRM: geschaltete Reluktanzmaschine; TFM: Transversal-
flussmaschine
4.3 Neuartige Antriebe 117

Tabelle 4.3-2 Batteriesysteme für Elektrofahrzeuge im Vergleich


Batterietyp prakt. Leistungsdichte Lebensdauer Kosten
Energiedichte
Wh/kg W/kg Zyklen Jahre €/kWh
Blei 30 – 35 200 – 300 300 – 1.500 2–3 100 – 150
Nickel/Cadmium 35 – 50 200 – 300 > 2.000 3 – 10 250
Nickel/Metallhydrid 60 – 75 200 – 300 > 2.000 10 300 – 350
Natrium/Nickelchlorid 100 – 120 160 1.000 5 – 10 < 250
Lithium/Ionen 120 – 150 400 – 600 2.000 10 300 – 600
Lithium/Polymer 110 – 130 ca. 300 < 600 k.A. 300
Zink/Luft 100 – 220 ca. 100 k.A. k.A. 60

Zielwerte: 100 – 200 75 – 200 1.000 10 100 – 150


k.A. derzeit keine abgesicherten Angaben bzw. nicht zutreffend

Die gravimetrische Energiedichte charakterisiert den Bleibatterien


Energieinhalt der Batterie bezogen auf das gesamte Bleibatterien sind seit langem in Elektrofahrzeugen
Batteriegewicht und wird in Wh/kg angegeben. Sie im Einsatz. Aufgrund ihrer niedrigen Energiedichten
wird üblicherweise bei zweistündiger Entladung ge- sind diese Fahrzeuge schwer und die erzielbaren
messen. Durch die Energiedichte ist im Wesent- Reichweiten niedrig. Die kalendarische Lebensdauer
lichen die Reichweite eines Elektrofahrzeugs be- der Bleibatterien ist für Fahrzeuganwendungen nach
stimmt. wie vor unbefriedigend, obwohl die Zyklen-Lebens-
Die gravimetrische Leistungsdichte charakterisiert dauer von Bleibatterien in den letzten Jahren deutlich
hingegen die aus der Batterie entnehmbare elektrische erhöht werden konnte [16]. Lediglich die Leistungs-
Leistung bezogen auf das gesamte Batteriegewicht dichte übertrifft die Zielwerte. Günstig sind die rela-
und wird in W/kg angegeben. Die Leistungsdichte ist tiv niedrigen Anschaffungskosten, wegen der be-
abhängig vom Ladezustand der Batterie und wird schränkten Lebensdauer ergeben sich aber keine
üblicherweise auf 80 % Entladung bezogen. Durch Kostenvorteile. In modernen Elektrofahrzeugen kom-
die Leistungsdichte der Batterie ist die Fahrleistung men deshalb Bleibatterien kaum noch zum Einsatz.
(max. Geschwindigkeit, max. Beschleunigung) eines
Elektrofahrzeugs bestimmt. Zu beachten ist, dass die Nickel/Cadmium-Batterien
in Tabelle 4.3-2 angegebenen Leistungsdichten für Die Nickel/Cadmium-Batterie weist im Vergleich zur
Traktionsbatterien in Elektrofahrzeugen gelten. In Bleibatterie eine höhere Energiedichte und Zyklen-
Hybridfahrzeugen kommen Batterien mit höheren zahl auf. Der bei einigen Typen auftretende Memory-
Leistungsdichten (und niedrigeren Energiedichten) Effekt kann die Nutzung einschränken. Darunter
zum Einsatz. versteht man die Verringerung der verfügbaren Ener-
Bei der Lebensdauer einer Batterie unterscheidet man gie des Akkus, wenn dieser immer wieder nur teil-
zwischen Zyklen-Lebensdauer und kalendarischer entladen wird. Aufgrund des giftigen Schwermetalls
Lebensdauer. Die Zyklen-Lebensdauer gibt die An- Cadmium bestehen zum Teil Vorbehalte beim Einsatz
zahl der möglichen Ladungen und Entladungen einer dieses Batterietyps. Heute werden diese Batterien in
Sekundärbatterie an, bis ihre Kapazität auf 80 % der modernen Elektrofahrzeugen kaum noch verwendet.
Nennkapazität absinkt.
Die kalendarische Lebensdauer ist ein praktischer Nickel/Metallhydrid-Batterien
Erfahrungswert, der die Lebensdauer der Batterie Diese Batterie ist umweltverträglich und hat inzwi-
angibt, wenn sie nicht ihre Zyklengrenze erreicht. schen die Blei- und Nickel/Cadmium-Batterien weit-
Die Kosten der Batterie werden auf den Energieinhalt gehend verdrängt. Im Vergleich zur Nickel/Cad-
bezogen und in €/kWh angegeben. Sie sind abhän- mium-Batterie weist sie höhere Energie- und Leis-
gig von den Material- und Fertigungskosten sowie tungsdichten auf. Die Zyklenfestigkeit ist mit über
den Produktionsstückzahlen. In Tabelle 4.3-2 wurden 2.000 Zyklen und einer kalendarischen Lebensdauer
bei den Kosten komplette Batteriesysteme bei Pro- von 10 Jahren sehr gut. Gemessen an mittel- und
duktionsstückzahlen von 10.000 – 20.000/a zugrun- langfristig angestrebten Zielkosten ist der Batterie-
de gelegt. Grundsätzliche Anforderungen zeigt das preis hoch. Diese Batterien haben sich in der Vergan-
USCAR Konsortium auf [15]. genheit besonders in Hybridfahrzeugen bewährt und
118 4 Formen und neue Konzepte

werden dort häufig eingesetzt. Bedingt durch die verwendete organische Elektrolyt erlaubt jedoch den
geringere Energiedichte sind sie für reine Elektrofahr- Betrieb eines einzelnen Kondensators nur im Bereich
zeuge weniger geeignet [17]. zwischen ca. 2 – 3 V. Deshalb muss eine größere An-
zahl von Kondensatoren in Reihe geschaltet werden.
Natrium/Nickelchlorid-Batterien
Moderne Superkondensatoren weisen heute Leis-
Die Natrium/Nickelchlorid-Batterie zählt zu den tungsdichten zwischen 1000 und 10.000 W/kg auf –
Hochtemperaturbatterien. Die Betriebstemperatur im Leistungsdichten, die mit Batterien nicht erreicht
Innern der Batterie liegt bei 270 – 350 °C. Ein doppel- werden. Die Energiedichten von Superkondensatoren
wandiger, evakuierter Behälter begrenzt die Wärme- sind mit ca. 5 Wh/kg allerdings sehr eingeschränkt.
verluste. Zur Aufrechterhaltung der Betriebstempera- Superkondensatoren sind deshalb Energiespeicher für
tur ist ein Temperaturmanagement erforderlich. Diese kurze Lade- und Entladevorgänge mit hohen Leistun-
Batterie zeichnet sich durch hohe Energiedichten und gen. Der Lade- und Entlade-Wirkungsgrad ist mit
limitierte Leistungswerte aus und bietet ausreichende jeweils 95 % hoch, ebenso die Lebensdauer. Sie
Lebensdauer. beträgt 10 Jahre oder 500.000 Lade-/Entladezyklen.
Lithium/Ionen-Batterie Superkondensatoren werden bei Elektrofahrzeugen
Die Lithium/Ionen-Batterie bietet höchste Energie- kaum genutzt, bei Brennstoffzellen- und Hybridan-
dichten, sehr hohe Leistungsdichten und hohe Lade- trieben werden Superkondensatoren allerdings bereits
und Entladewirkungsgrade. Diese Batterie zählt mitt- eingesetzt [22].
lerweile zu den aussichtsreichsten Batteriesystemen 4.3.1.6 Ladegeräte
für moderne Elektrofahrzeuge. Allerdings sind eine
Überwachung der einzelnen Zellen und ein Ladungs- Zum Einsatz kommen in der Regel im Fahrzeug mit-
ausgleich erforderlich. Automobilhersteller setzen geführte Bordlader (AC/DC-Wandler). Man unter-
mittlerweile in Elektrofahrzeugen Lithium/Ionen-Bat- scheidet zwischen konduktiven und induktiven Lade-
terien ein [18]. Von großem Interesse ist dabei deren geräten. Die konduktive Ladetechnik wird heute
Alterungsverhalten [19]. überwiegend eingesetzt, wobei genormte Lade-
schnittstellen zur Anwendung kommen [23]. Die La-
Lithium/Polymer deleistung der Bordlader ist abhängig von der verfüg-
Die Lithium/Polymer-Batterien [20] werden teilweise baren Netzspannung und dem zulässigen maximalen
bei erhöhter Betriebstemperatur betrieben. Die Be- Netzstrom. Werden Batterien über gewöhnliche
triebstemperatur im Innern der Batterie kann bis zu Haushaltssteckdosen mit einer Ladeleistung von etwa
100 °C betragen. Die Zellen werden in Folientechnik 3,6 kW aufgeladen, so dauert dies in Abhängigkeit
hergestellt, auch der Elektrolyt ist als Folie ausgebil- von der Batteriegröße 5 bis 10 Stunden. Ist Dreh-
det. strom verfügbar, so ist eine Ladeleistung von bis zu
Zink/Luft-Batterie 22 kW möglich, die die Ladezeit auf weniger als
2 Stunden reduziert. Wichtig ist hierbei die Kommu-
Diese Batterie zählt zu den Primärbatterien, ist also
nikation mit dem Versorgungsnetz, damit dem Fahr-
nicht wiederholt elektrisch aufladbar. Die Batterie
zeugnutzer die Möglichkeit gegeben werden kann den
weist höchste Energiedichten bei relativ niedrigen
Zeitpunkt der Ladung, die Menge und Kosten be-
Leistungsdichten auf.
stimmen zu können [24]. Intensiv diskutiert werden
Zum Ausbau (Wechseltechnik) und zur Wiederaufbe-
Verfahren zur Schnellladung mit Wechsel- und
reitung der Batterien ist eine spezielle Infrastruktur
Gleichspannung, die Ladezeiten von unter einer Stun-
erforderlich, weshalb sich der Einsatz dieses Batterie-
de ermöglichen [25]. Diese müssen jedoch im Zu-
typs bisher auf wenige Demonstrationsprojekte be-
sammenhang mit der Lebensdauer von Batteriesys-
schränkte.
temen betrachtet werden.
4.3.1.5 Superkondensatoren Eine Alternative hierzu ist der komplette Wechsel des
Superkondensatoren oder Doppelschichtkondensato- Batteriepaketes [26], der besondere Herausforderun-
ren (engl. supercapacitors, ultracapacitors) [21] sind gen an die Schnittstelle zum Fahrzeug stellt.
spezielle Elektrolyt-Folienkondensatoren, die als Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten Lade-
Hochleistungsenergiespeicher zur kurzzeitigen Abde- vorganges bringen induktive Ladeverfahren mit sich
ckung von Spitzenleistungen eingesetzt werden kön- [27], die jedoch mit höheren Verlusten behaftet sind.
nen. Wegen der sehr niedrigen Energiedichten sind
sie allerdings kein Ersatz für Traktionsbatterien in 4.3.1.7 Ausblick
Elektrofahrzeugen. Durch eine spezielle Kohlebe- Die Leistungsfähigkeit von Elektrofahrzeugen wird
schichtung der Aluminiumfolien (Elektroden) bilden im Wesentlichen vom Energiespeicher bestimmt. In
sich zwischen dem organischen Elektrolyt und den der öffentlichen Wahrnehmung wird allerdings die
beiden Elektroden extrem dünne Ladungsschichten Leistungsfähigkeit von Batterien und der Ladeinfra-
aus, so dass sich Kapazitäten von einigen Tausend struktur überschätzt. Im Hinblick auf Beschleuni-
Farad in kompakten Einheiten darstellen lassen. Der gungsvermögen und Spitzengeschwindigkeit erwei-
4.3 Neuartige Antriebe 119

sen sich Elektrofahrzeuge als alltagstaugliche Fahr- [19] Conte, M.; Conte, F.; Bloom, I.; Morita, K.; Ikeye, T.; Belt, J.:
Ageing Testing Procedures on Lithium Batteries in an Interna-
zeuge. Dennoch erweisen sich der beschränkte Akti-
tional Collaboration Context, EVS-25, Shenzhen, China, Nov.
onsradius und das erhöhte Gewicht des Elektrofahr- 5 – 9, 2010
zeugs aus Nutzersicht als Handikap, insbesondere in [20] Sudano, A.: The Lithium-Metal-Polymer Battery Technology,
Verbindung mit den immer noch hohen Anschaf- EVS 20, November 15 – 19, 2003, Long Beach, California
fungskosten dieser Fahrzeuge. Dem stehen unstrittige [21] Burke, A.; Miller, M.; Zhao, H.: Lithium batteries and ultracapa-
citors alone and in combination in hybrid vehicles: Fuel economy
Vorteile des Elektrofahrzeugs für einen umwelt- and battery stress reduction advantages, EVS-25, Shenzhen,
freundlichen Verkehr gegenüber und eröffnen dieser China, Nov. 5 – 9, 2010
Antriebsform nach wie vor eine Langzeitperspektive. [22] Hybridtechnologie von Voith Turbo – Alternative zum konvetio-
Derzeit entwickeln die Automobilhersteller eine neue nellen Antrieb, News, Kundenmagazin von Voith Turbo, 02-2010,
http://www.voithturbo.com/media/VT_NEWS_2_10_Deutsch.pdf
Generation kompakter Elektrofahrzeuge für den [23] Elektromobilität: Mennekes Ladesteckvorrichtung VDE-geprüft,
Stadtverkehr mit Reichweiten von 100 – 200 km. Die Medieninformation, 2010, http://www.mennekes.de
Marktdurchdringung aber hängt – neben der Standar- [24] Ferreira, J.; Afonso, J.: A Conceptual V2G Aggregation Platform,
disierung [28] – wesentlich davon ab, wann leistungs- EVS-25, Shenzhen, China, Nov. 5 – 9, 2010
fähige und kostengünstige Traktionsbatteriesysteme [25] http://www.chademo.com
[26] http://www.betterplace.com
mit hoher Lebensdauer zur Verfügung stehen. Beson- [27] http://www.iav.com/de/index.php?we_objectID=15760
dere Beachtung muss zukünftig das Recycling von [28] VDE Studie E-Mobility 2020, Technologien – Infrastruktur –
Batterien [29] und die Verfügbarkeit von Rohstoffen Märkte, Frankfurt am Main, November 2010
für zukünftige Elektroantriebsstränge finden. [29] Abell, L.; Oppenheimer, P.: World Lithium Resource Impact on
Electric Vehicles, Plug in America, Dec. 2008
Literatur
[1] Braess, H.; Pfab, X.; Aszmann, R.: Charging and infrastructure
services as central link between automotive industry and energy
supplier, EVS-25, Shenzhen, China, Nov. 5 – 9, 2010
[2] Innovationsmonitor Berlin Brandenburg, Leitprojekt: eSolcar,
http://innomonitor.de/index.php?id=260
[3] van Basshuysen/Schäfer (Hrsg.): Handbuch Verbrennungsmotor.
Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2010 4.3.2 Brennstoffzellenantriebssysteme
[4] California Environmental Protection Agency, Air Resources
Board:http://www.arb.ca.gov/msprog/zevprog/zevregs/zevregs.htm Derzeit werden Fahrzeuge nahezu ausschließlich
[5] International Energy Agency: Electric Vehicles: Technology, Per- durch Otto- oder Dieselmotoren angetrieben. Sie stel-
formance and Potential, OECD Publications, 2 rue Andre-Pascal, len zurzeit das kompakteste Fahrzeug-Antriebssystem
75775 Paris Cedex 16, ISBN 92-64-14015-8-No. 46876 1993
[6] Wallentowitz, H.: Einsatz von Elektrofahrzeugen, BMV-For- mit einem sehr hohen Entwicklungsstand dar.
schungsvorhaben FE-Nr. 70466/95, ika Bericht 6062 Nachteilig sind die heute fast vollständige Abhängig-
[7] Knödel, U.; Strube, A.; Blessing, U.; Klostermann, S.: Ausle- keit von nur einer Primärenergiequelle, dem Erdöl,
gung und Implementierung bedarfsgerechter elektrischer Antrie- der relativ geringe Gesamtwirkungsgrad über einen
be, ATZonline, 06-2010
[8] Höfner, B.: Integrations- und Systemanalyse elektrischer Radan- typischen Fahrzyklus, die toxischen Emissionen NOx,
triebe für zukünftige Pkw-Elektrofahrzeuge, EAA Forschungsbe- HC, CO, PM) sowie der Ausstoß des Treibhausgases
richte, Band 7, Shaker Verlag, Aachen, 2010 CO2. Forderungen nach Minderung dieser Nachteile
[9] Spring, E.: Elektrische Maschinen, Eine Einführung, Springer-
führten zur Entwicklung von neuen Antriebskonzep-
Verlag GmbH 1998, ISBN 3-540-63423-1
[10] Falk, K.: Der Drehstrommotor, VDE Verlag, 1997, ISBN 978-3- ten.
8007-2078-1 Elektromotoren wären unter diesen Kriterien optima-
[11] Tseng, W.: Theoretische und experimentelle Untersuchungen zu le Energiewandler, vorausgesetzt die Bereitstellung
einem permanentmagneterregten Transversalfluß-Synchron-li-
von Strom auf dem Fahrzeug wäre zufrieden stellend
nearmotor in Sonderbauform, Dissertation, Fakultät für Elektro-
technik und Informatik, Technische Universität Berlin, 2008, gelöst [3]. Batterien haben heute aber noch spezifi-
http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2008/1942/pdf/ sche Nachteile, die zu teils erheblichen Nutzungs-
tseng_wantsun.pdf einschränkungen bei Elektrofahrzeugen führen
[12] Iderka, R.; Altendorf, J.; Sjöberg, L.; De Doncker, R.: Design of
(Kap. 4.3.1).
a 75 kW Switched Reluctance Drive for Electric Vehicles, EVS
18, Berlin, October 20 – 24, 2001 Hier bietet sich die mit Wasserstoff betriebene
[13] FAT Schriftenreihe Nr. 104, Antriebe für Elektrofahrzeuge Brennstoffzelle in Kombination mit einem Elektro-
[14] Anderman, M.; Kalhammer, F.; MacArthur, D.: Advanced Bat- antrieb als Lösung an:
teries for Electric Vehicles; An Assessment of Performance,
Cost and Availability, June 2000 • Derartige Antriebssysteme besitzen einen bis zu
[15] http://www.uscar.org/guest/article-view.php?articles_id =85 2fach höheren Wirkungsgrad als Verbrennungsan-
[16] http://www.solarmobil.net/download/Exide-Handbuch-Block- triebe (Bild 4.3-6).
batterien.pdf
[17] Rinderknecht, S.; Meier, T.: Electric Power Train Configurations
• Selbst in einer Well-to-Wheel Betrachtung ergeben
and Their Energy Storage Systems, EVS-25, Shenzhen, China, sich bei vielen Energiepfaden energetische Vorteile
Nov. 5 – 9, 2010 [5]
[18] Lee, S.; Kim, T.; Hu, J.; Cai, W.; Abell, J.: A State-of-the-Art • Sie emittieren beim Betrieb der Fahrzeuge keine
Review on Lithium-Ion Battery Joining, Assembly and Packag-
ing in Battery Electric Vehicles, EVS-25, Shenzhen, China, Nov. Schadstoffe und kein CO2 sofern man nicht Me-
5 – 9, 2010 thanol oder andere Kraftstoffe an Bord reformiert
120 4 Formen und neue Konzepte

sich weitere Spezifikationen aus den gewohnten

Wirkungsgrad h
Brennstoffzellensystem Eigenschaften herkömmlicher Fahrzeuge hinsichtlich
Beschleunigung, Höchstgeschwindigkeit, Steigfähig-
keit, Reichweite mit einer Tankfüllung und Zuladung.
Δh Verbrennungsmotor Daneben sind auch noch Komfortanforderungen,
Kaltstartfähigkeit im Winter und ausreichende Fahr-
leistungen bei hohen Umgebungstemperaturen wichtig.
Die Kunden werden nicht bereit sein, Einschränkungen
gegenüber dem heute Gewohnten hinzunehmen, es sei
denn die ausreichende Verfügbarkeit konventioneller
Pmittel im NEFZ Leistung Kraftstoffe ist nicht mehr gewährleistet.
Von den verschiedenen Brennstoffzellentypen (Ta-
Bild 4.3-6 Qualitativer Verlauf des Wirkungsgrads von belle 4.3-4) sind Brennstoffzellen mit Polymer-
Brennstoffzellenantrieben und Verbrennungsmotoren Elektrolyt-Membran (PEM) für den Einsatz in mobi-
len Systemen am besten geeignet. An weiteren Typen
• Bei einigen regenerativen Wasserstoff-Herstel- mit modifizierten bzw. anderen Membranen wird
lungspfaden treten auch in der Gesamtkette keine gearbeitet. Vorrangiges Ziel ist die Anhebung der
Schadstoff- und CO2-Emissionen auf Betriebstemperatur über 100 °C.
• Wasserstoff kann besser als elektrische Energie
gespeichert werden, so dass sich höhere Fahrzeug- 4.3.2.1 Antriebsarchitektur mit
reichweiten ergeben PEM-Brennstoffzellen
• Die abgegebene Leistung ist im Vergleich zu
Bei PEM-Brennstoffzellensystemen unterscheidet man
batterieelektrischen Antrieben unabhängig vom zwischen Systemen mit Reformerbetrieb und solchen
Füllgrad des Energiespeichers mit reinem Wasserstoffbetrieb. Im Folgenden be-
• Die Betankungszeiten sind vergleichbar mit denen
schränkt sich die Betrachtung auf die reinen Wasser-
bei heutigen Flüssigkraftstoffen stoffsysteme, da die Reformertechnologien hauptsäch-
• Wasserstoff kann aus allen anderen Energieroh-
stoffen und -quellen hergestellt werden, was zur
Diversifizierung der Energieversorgung des Ver- Tabelle 4.3-3 Anforderungen an Brennstoffzellen-
kehrs beiträgt (Kap. 5.9). Antriebe
Wegen dieser Eigenschaften haben nahezu alle Fahr- Parameter Größe
zeughersteller begonnen, solche Antriebe zu entwi- Systemleistung 60 – 120 kW
ckeln. Daimler z.B. hat erste Prototypen bereits
Anfang der 90er Jahre aufgebaut und führt heute mit Systemwirkungsgrad BZ (NEFZ) > 45 %
ca. 200 neuentwickelten Brennstoffzellenfahrzeugen Leistungsgewicht < 3 kg/kW
die weltweit größte Flottenerprobung in Kundenhand
Lebensdauer > 5.000 h über
durch.
10 Jahre
Brennstoffzellen-Antriebssysteme für Straßenfahr-
zeuge müssen hohen technischen und ökonomischen Kaltstartfähigkeit bei – 20 °C < 15 sec
Anforderungen genügen, um gegen zukünftige ver- Dynamik (Leerlauf bis 90 %) < 1 sec
brennungsmotorische Antriebe konkurrieren zu kön-
Kosten < 50 €/kW
nen. Die Grundanforderung an Brennstoffzellen-An-
triebe zeigt Tabelle 4.3-3. Darüber hinaus ergeben Reichweite > 500 km

Tabelle 4.3-4 Brennstoffzellentypen mit charakteristischen Daten


Typ Elektrolyt Arbeitstemperatur Brennstoff Anwendung
Alkalische Brennstoffzelle Kalilauge (KOH) ≈ 60 °C H2 (kein CO2) Raumfahrt
Polymer-Elektrolyt- Protonen leitender ≈ 80 °C H2, Methanol Raumfahrt, Fahrzeuge,
Membran-Brennstoffzelle Polymerelektrolyt (max. 95 °C) Stationäranwendungen
Phosphorsäure- Phosphorsäure ≈ 190 °C H2 Stationäranwendungen
Brennstoffzelle (H3PO4)
Karbonatschmelze- Kalium-/Lithium- ≈ 600 °C – 700 °C H2, CO Stationäranwendungen
Brennstoffzelle Karbonat (K/LiCO3) (Kraft-Wärme-Kopplung)
Festkörperoxid- Y2O3/ZrO2 > 800 °C H2, CO Stationäranwendungen
Brennstoffzelle (+ Turbine)
4.3 Neuartige Antriebe 121

Elektromotor

Luftmodul

Lithium-Ionen-Batterie

Wasserstoffspeicher

Brennstoffzellen-Stack
Bild 4.3-7 Komponenten
Wasserstoffmodul eines Brennstoffzellen-
Antriebs

lich aus Gründen der Dynamik, der Emissionen und Wasserstoffatome in Elektronen und Protonen zerlegt
der technologischen Komplexität für die meisten Fahr- werden.
zeuganwendungen derzeit weniger geeignet sind.
H2 → 2 H+ + 2 e–
Eine Übersicht über die Komponenten eines Brenn-
stoffzellen-Antriebssystems zeigt Bild 4.3-7. Das Die Protonen passieren die Membran und gelangen
Brennstoffzellensystem an sich kann aufgeteilt wer- zur Kathode. Die Elektronen sammeln sich an der
den in die Module Stack, Luftversorgung, Befeuch- Anode an. Dadurch entsteht eine Potenzialdifferenz.
tung, Anodenversorgung (Wasserstoff) sowie die ent- Werden beide Elektroden außerhalb der Zelle elek-
sprechenden Zu- und Abführungen. Ein Leistungs- trisch verbunden fließt ein Strom. Die Elektronen
management-System stellt die elektrische Verbindung reagieren an der Kathode mit den Protonen und dem
zwischen Brennstoffzellensystem und Fahrzeug dar. Luftsauerstoff zu Wasser.
Es versorgt über entsprechende Wandler die Hoch-
O2 + 4 H+ + 4 e– → 2 H2O
volt(HV)-Komponenten, wie den elektrischen Fahr-
antrieb, ggf. eine Pufferbatterie sowie elektrisch Bei der Reaktion entsteht Wärme, die abgeführt wer-
angetriebene Hilfsaggregate. Weitere Systemkompo- den muss.
nenten bilden die Wasserstoffspeicher sowie die Die Polymer-Elektrolyt-Membran reagiert sehr emp-
Wärmetauscher zur Abführung der Abwärme an die findlich auf Schwankungen einiger Betriebsparame-
Umgebung. Eine elektronische Überwachungseinheit ter. Insbesondere muss ihre Feuchtigkeit in wohl de-
übernimmt das Sicherheitsmanagement für das ge- finierten Grenzen gehalten werden.
samte System.

4.3.2.1.1 Brennstoffzellen-Stack
Energie
Die Kernkomponente des Brennstoffzellensystems
bildet der Stack, der aus bis zu einigen hundert elek-
trisch in Serie geschalteten Elektrolyt-Elektroden-
Anordnungen aufgebaut ist. Im Falle der PEM- Anode Kathode

Brennstoffzelle wird als Elektrolyt eine sehr dünne Kraftstoff


Polymer-Membran (Dicke zwischen etwa 20 und [H2] Luft [O2]
50 μm) verwendet. Bild 4.3-8 zeigt den Aufbau und
die Funktionsweise einer solchen Membran-Elektro- Katalysator

den-Anordnung (MEA). Die Anode wird mit Wasser- Membran


Wasser [H2O]
stoff, die Kathode mit Luft beaufschlagt. Die Mem- + Wärme + Luft
bran hält beide Gase voneinander getrennt und steuert
die chemische Reaktion. Eine dünne Platinbelegung
auf beiden Elektroden wirkt als Katalysator und
beschleunigt die Reaktionsgeschwindigkeit, mit der Bild 4.3-8 Prinzipdarstellung einer Brennstoffzelle
122 4 Formen und neue Konzepte

Tabelle 4.3-5 Betriebsparameter und Anforderungen an Brennstoffzellen-Stacks


Betriebsparameter und Anforderungen Wert
Gasdruck 1,1 bis 2,5 bar a abhängig
von elektrischer Leistung
Kathode > 30 % rel. Feuchte
Feuchtigkeit
Anode < 35 % rel. Feuchte
Betriebstemperatur 60 °C bis 95 °C
Kaltstarttemperatur – 25 °C und darunter
Zellleistungsdichte 1 W/cm2 bei > 650 mV
Spannungsdegradation < 10 μV/h
Lebensdauer > 5.000 h
Volumetrische Leistungsdichte des Stacks > 1.700 W/l
Gravimetrische Leistungsdichte des Stacks > 1.200 W/kg

Tabelle 4.3-5 zeigt die für einen optimalen Betrieb Lebensdauer, Kaltstartfähigkeit und Kosten beschrie-
einzuhaltenden Betriebsparameter und Anforderun- ben.
gen.
In den letzten Jahren sind große Fortschritte bei der Lebensdauer
Brennstoffzellentechnologie erzielt worden. Vor einer Eine so genannte Membranausdünnung ist der für die
Markteinführung von Brennstoffzellen-Fahrzeugen Lebensdauer eines Stacks beschränkende Faktor. Um
sind jedoch noch vielfältige Probleme zu lösen. eine ausreichende Lebensdauer zu garantieren, müs-
Tabelle 4.3-6 zeigt diese Herausforderungen im sen die Mechanismen dieser Membranausdünnungen
Überblick. verstanden und entsprechende Gegenmaßnahmen
Standen bisher technologische Ziele, wie z.B. Le- entwickelt werden.
bensdauer, Robustheit sowie sicherer, zuverlässiger Ein möglicher Mechanismus für die Membranaus-
und schneller Froststart im Fokus der Entwicklungs- dünnung ist im Handbook of Fuel Cells [1] beschrie-
aktivitäten, so wird in den nächsten Schritten die ben. Sie beginnt an der Anode, wo durch Sauerstoff-
Kostenreduktion eine dominierende Rolle spielen ionen, die durch die Membran diffundieren, Wasser-
[6]. Im Folgenden werden beispielhaft die von Daim- stoffperoxid gebildet wird. Falls gleichzeitig metal-
ler und anderen erreichten Fortschritte hinsichtlich lische Ionen, z.B. Fe2+-Ionen vorhanden sind, werden

Tabelle 4.3-6 Schlüsselprobleme von Brennstoffzellen-Systemen

Problem Angestrebte Eigenschaften Technologische Lösung


Lebensdauer Homogene Wasserverteilung in der Materialien, Produktionsprozesse, Stack-
Membran-Elektroden-Anordnung Aufbau, Hybridisierung
Robustheit Qualitativ hochwertige Elektronik, Komponentenbestellung mit Fahrzeug-
Sensoren, Ventile Produktionsprozessen
Verbrauch/elektrischer Hoher Wirkungsgrad bei Teillast, Luftversorgung mit Radialverdichter und
Wirkungsgrad optimierter Betriebsdruck Expander (Turbolader)
Thermomanagement Vermeidung von Wasserkondensat, Materialien, effizientes Systemkonzept,
Betriebstemperatur > 90 °C fortgeschrittene Kühlsysteme
Kalt-/Froststart Vermeidung von Wasserkondensat Materialien, Stack-Aufbau, Hybridisierung
in der Gasdiffusionsschicht und
den Gaskanälen
Geräuschemission (Noise, Niedriger Geräuschpegel von Kom- Luftversorgung mit Radialverdichter
Vibration, Harshness) pressor und Antriebsmotor
Kosten Hohe Leistungs- und Stromdichte, Materialien, Stack-Aufbau, einfacher
kostengünstige Materialien, geringe Systemaufbau mit hoher Effizienz
Nebenverbrauchsleistung
4.3 Neuartige Antriebe 123

a) b)
100 μm

Membrane edge is smooth

Bild 4.3-9 Membrandegrada-


tion (Quelle: Ballard)
a) Lokale Verringerung der
Dicke der Membran
b) Verringerte Reißfestigkeit
führt zu Membranbrüchen

freie Wasserstoffperoxid-Radikale gebildet, die die werden muss, damit Brennstoffzellen im Alltags-
Membran schädigen. Bild 4.3-9 zeigt eine solche gebrauch in Fahrzeugen uneingeschränkt genutzt
Membrandegradation. werden können. Die Haupteinflussgröße ist die
Ein ähnlicher Mechanismus wurde für die Kathode in Wasserverteilung im Stack vor dem Einfrieren und
Verbindung mit der Diffusion von Wasserstoff be- die Balance zwischen dem Aufwärmen des Stacks
schrieben. Hohe Temperaturen und geringere Be- und der Wasserbildung unterhalb des Gefrierpunktes
feuchtung in der Membran beschleunigen den Schä- während der Startphase. Beides muss genau kontrol-
digungsprozess. liert und gesteuert werden (Bild 4.3-10). Dies kann
Ein gemäß diesen Erkenntnissen modifizierter Stack durch eine spezielle Zellenbauweise erreicht werden,
zeigt erst nach 4facher Zyklenzahl die typische die sowohl haltbarkeits- als auch kaltstartkompatible
Membranlochbildung, obwohl gleichzeitig dünnere Betriebsbedingungen im Normalbetrieb und bei Kalt-
Membranen – 25 μm an Stelle von 50 μm – verwen- start gewährleisten.
det wurden. Alterungsmechanismen und ihre Auswir-
kungen auf den Fahrzeugbetrieb sind Gegenstand Kosten
detaillierter Untersuchungen [7, 8]. Bis zur Marktreife der Brennstoffzellen-Technologie
müssen die Kosten auf ein akzeptables Niveau ge-
Froststartfähigkeit
senkt und die Robustheit sowie die Lebensdauer des
Ein sicherer, zuverlässig reproduzierbarer und schnel- Stacks auf die für die Anwendung im automobilen
ler Froststart ist ein weiterer Problempunkt, der gelöst Bereich notwendige Werte gebracht werden [9]. Stu-

Die Gefrierstart-Prozedur
Die Polarisation der Brennstoffzelle (BZ) hängt von der Temperatur ab (Polarisationskurven durch
gerade Gefällelinien vereinfacht dargestellt).
0 → 1: BZ mit Wasserstoff und Luft versorgen;
1 → 2: Stromstärkesteigerung bis Minimalspannung, v = 0 km/h;
2 → 3: Stromstärkesteigerung so weit wie möglich, während die BZ-Temperatur steigt, v = 0, km/h;
3 → 4: Weitere Erwärmung bei konstanter Leistungsabgabe (P = U · I), v = 0 km/h;
4 → 5: Stabiler Arbeitspunkt wird erreicht, BZ-Fahrzeug kann losfahren und beschleunigen (v > 0 km/h);
5 → 6: Beim Fahren erreichen Brennstoffzelle und Kühlkreislauf den Temperatur-Arbeitspunkt.

U_max
Spannung

Normalbe
trieb
4 6
1 5
Temperatur

Fah
r freig
abe
Ge
fri
er
sta
rt

0
2 U_min 3
Stromstärke
Bild 4.3-10 Gefrierstart-
Prozedur
124 4 Formen und neue Konzepte

dien, z.B. von Arthur D. Little [2], gehen davon aus, den Stack. Heute werden hauptsächlich Schrauben-
dass etwa 75 % der Stack-Kosten allein durch die lader verwendet, die in dem erforderlichen Druck-
Membran-Elektroden-Anordnung (MEA) verursacht und Förderbereich die besten Wirkungsgrade aller
werden. In dieser wiederum ist die Membran der Maschinen mit innerer Verdichtung aufweisen [4].
teuerste Anteil, gefolgt vom Platinkatalysator. Daher Werden in Zukunft ölfrei gelagerte Strömungsma-
konzentrieren sich die Anstrengungen zur Kostenre- schinen (Bild 4.3-11) eingesetzt, kann eine deutliche
duktion hauptsächlich auf diese beiden Komponen- Effizienzsteigerung der Verdichtung im Teillastbe-
ten. Bei einer perfluorierten Membran ist die Feuchte reich erreicht werden. Dies führt zu einer weiteren
eine sehr kritische Größe für die Leitfähigkeit. Sie Verringerung des Energieverbrauchs der Fahrzeuge
schränkt das Betriebsfenster ein. Insbesondere darf im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ). Bei
die Membran nicht deutlich über 100 °C betrieben gleicher Wasserstoff-Speicherkapazität kann so auch
werden, da sonst das Wasser in der Membran ver- die Fahrzeugreichweite vergrößert werden.
dampft. Forschungsanstrengungen konzentrieren sich
deshalb auch auf nicht wässrig ionisch leitende
Hochtemperaturmembranen, mit denen man Betriebs-
temperaturen bis zu 120 °C erreichen möchte.
Ein weiterer Schritt zur Kostenreduktion ist die
Verminderung der Platinbelegung. Eine immer weiter
gehende Senkung des Platingehaltes allein führt aber
nicht zum Kostenminimum. Das Optimum stellt sich
vielmehr bei einem bestimmten Platingehalt und der
mit ihm erreichbaren Leistungsdichte ein. Heute wird
ein Platingehalt von 0,3 g/kW für möglich gehalten.
Damit wäre für die Membran-Elektroden-Einheit ein
Zielkostenbereich von ca. 5 €/kW erreichbar. Die
Department of Energy (DOE)-Zielwerte 2015 für
Stack und Antriebssystem liegen bei 50 €/kW.
Zusammenfassend können somit die Entwicklungs- Bild 4.3-11 Elektrischer Turbolader
ziele auf drei Punkte reduziert werden: Vergrößerung
der Leistungsfähigkeit bei Einhaltung der Kostenli- Luftbefeuchtung
mits, Steigerung von Robustheit und Zuverlässigkeit
sowie Verlängerung der Lebensdauer und Dauerhalt- Zur Befeuchtung der angesaugten Luft wird meist ein
barkeit. Diese Ziele können nur in engem Verbund komplexes Wassermanagementsystem genutzt. Das
zwischen akademischer (grundlagenorientierter) und Wasser wird aus dem Abgas kondensiert und der
industrieller (anwendungsorientierter) Forschung an- Ansaugluft in geeigneter Weise zugeführt. Eleganter
gegangen werden. Entsprechende Förderprogramme lässt sich dies mit einem Modul auf Basis von Hohl-
werden in der Bundesrepublik Deutschland (CEP), faserbündeln bewerkstelligen, wie es Daimler in der
aber auch auf EU-Ebene (HyFLEET CUTE) und in B-Klasse F-CELL nachgewiesen hat (Bild 4.3-12a,
den Vereinigten Staaten (DOE-Freedom Car) sowie b). Damit wird die Abluft ent- und die Zuluft gleich-
Japan (JHFC) durchgeführt. Es zeigt sich inzwischen, zeitig befeuchtet. Damit kann nicht nur die Anzahl
dass die ursprünglich gemachten Annahmen über die Komponenten und das Gewicht verringert sondern
Markteinführung der Brennstoffzellen-Antriebstech- auch das Bauvolumen auf ein Drittel gesenkt werden.
nologie Anfang des Jahrtausends zu optimistisch wa- Ein weiterer wichtiger Vorteil ist, dass Flüssigwasser
ren. Wegen der Komplexität der Technologie muss die- vermieden wird, was das System vor dem Einfrieren
ser Zeitpunkt deutlich nach hinten verschoben werden. schützt.

4.3.2.1.2 Stack-Peripherie Anodenkreislauf


Luftversorgung Auf der Anodenseite des Stacks befindet sich ein
Anodenmodul, das aus einem geschlossenen Kreis-
Die Versorgung der Kathode mit Luftsauerstoff lauf mit Rezirkulationsgebläse und einer Wasserstoff-
erfolgt über ein Luftmodul. Es umfasst Luftfilter, Dosiereinheit besteht. Es hat folgende Funktionen:
Schalldämpfung und einen elektrisch angetriebenen
• Befeuchtung des Kraftstoffmassenstroms durch
Turbolader, der die Luft auf etwa 1,1 bara (Teillast)
bis zu 2,5 bara bei Volllast verdichtet [10]. Durch Rückführung von feuchtem Wasserstoff.
• Dosierung des Kraftstoffmassenstroms
Einsatz einer Expandereinrichtung (Turbine) kann ein
• Rezirkulation von Wasserstoff zur Vermeidung
Teil der Verdichterenergie zurück gewonnen werden.
Dies kommt dem Systemwirkungsgrad zu Gute und von Verarmungszonen auf der Anode
erlaubt es den Stack kleiner auszuführen (– 10 bis Durch den geschlossenen Kreislauf werden Wasser-
15 %). Das Modul enthält auch die Druckregelung für stoffverluste minimiert, was den Systemwirkungsgrad
4.3 Neuartige Antriebe 125

Brennstoffzelle
Turboverdichter Wasserstoff
Trockene Zuluft
Feuchte Zuluft

Hohlfaserbündel

Feuchte Abluft
Trockene
Zuluft

Feuchte Abluft

Feuchte
Zuluft

a) b)

Bild 4.3-12 a) Schema Luftbefeuchtung, b) Hohlfaserbündel

verbessert. Nur soviel Wasserstoff wird zudosiert wie ren zu können, sind weitere Fortschritte bei der
elektrochemisch umgesetzt wird. Allerdings tritt eine Entwicklung mobiler Wasserstoffspeicher notwendig.
Aufkonzentration von Stickstoff durch Diffusion von Neben hohen spezifischen Energiedichten werden
der Kathode auf die Anode auf. Dadurch ist abhängig noch weitere fahrzeugspezifischen Anforderungen
von der Betriebsstrategie von Zeit zu Zeit ein kurzzei- an solche Speicher gestellt: Sicherheitsaspekte, ein-
tiges Abblasen erforderlich, das am einfachsten aus faches Betankungshandling, minimales Gewicht und
dem Anodenkreis in die Kathodenzuluft erfolgt. Einbaumaße, robust gegen mechanische Beschleuni-
gungskräfte, ausreichende Lade-/Entladezyklen, hohe
Kühlung Lebensdauer und natürlich akzeptable Kosten [11].
Das maximale Betriebstemperaturniveau der PEM- Weitere Beurteilungskriterien sind die Energiebilan-
Brennstoffzelle von heute etwa 95 °C ist im Ver- zen und ggf. die Regenerationsfähigkeit von Spei-
gleich zu den 110 bis 120 °C bei Verbrennungsmoto- chermaterialien, die in einem externen Prozess rege-
ren niedrig. Verbrennungsmotoren geben außerdem neriert werden müssen (z.B. Natriumborhydrid).
etwa 30 % der gesamten Verlustwärme über das Eine Übersicht über aktuelle Daten der heute bekann-
heiße Abgas direkt an die Umgebung ab. Bei der ten Wasserstoffspeichermethoden enthält Tabelle 4.3-7.
Brennstoffzelle muss die gesamte Abwärme über Unter Abwägung aller Kriterien scheint die Wasser-
einen Wärmetauscher an die Umgebung abgeführt stoff-Druckspeicherung eine viel versprechende Me-
werden. Durch die niedrigere Temperaturdifferenz thode für mobile Anwendungen zu sein. Heute wer-
des Kühlmittels zur Umgebung und der trotz besse- den in Faserverbunddruckspeichern Drücke bis zu
rem Wirkungsgrad etwa doppelt so hohen Abwär- 700 bar realisiert (Bild 4.3-13). Mittel- und langfris-
memenge stellt die Kühlung bei Brennstoffzellen- tig kommt es darauf an, Wasserstoffspeichersys-
Fahrzeugen eine große Herausforderung dar. Insge- teme mit verbesserten Speichereigenschaften und
samt müssen die Kühleinrichtungen bei Brennstoff- vertretbaren Kosten zur Verfügung zu stellen. Die
zellen-Fahrzeugen auf heutigem Stand eine über vom DOE für das Jahr 2015 herausgegebenen Ziel-
doppelt so hohe Effektivität aufweisen. Obwohl die werte für die spezifischen Energieinhalte liegen bei
heute verwendeten Membranen potentiell Betriebs- 3 kWh/kg bzw. 9 Gew.-%, sowie 2,7 kWh/l. Derzeit
temperaturen bis 95 °C erreichen können, arbeiten werden sie noch von keiner Speichermethode er-
OEMs, Zulieferer und Institute intensiv an neuen reicht.
Membranen für den Temperaturbereich von 110 °C
bis 120 °C. Auf diesem Temperaturniveau kann die 4.3.2.1.4 Hybridisierter Brennstoffzellenantrieb
Abwärme besser abgeführt werden. Zum kompletten Antriebsstrang gehören neben dem
Eine Vereinfachung des Gesamtsystems wäre ein Brennstoffzellensystem der Elektroantrieb und gege-
wichtiger Schritt in Richtung Markteinführung. Dazu benenfalls noch Batterien. Wird der Elektroantrieb
gehören neben der Temperaturanhebung die Reduzie- außer von einer Brennstoffzelle noch von einer Hoch-
rung des Befeuchtungsaufwandes sowie die Verein- spannungsbatterie gespeist, spricht man von einem
fachung oder gar der Wegfall des Anodenkreislaufes. hybridisierten Brennstoffzellenantrieb.
Heute stehen Elektromotoren in verschiedenen Aus-
4.3.2.1.3 Mobile Wasserstoffspeicher führungsarten für Fahrzeugantriebe zur Verfügung
Um die vom Kunden gewohnten und geforderten (Kap. 4.3.1). Elektromotoren weisen eine für den Ein-
Fahrzeugreichweiten mit einer Tankfüllung realisie- satz in Straßenfahrzeugen ideale Drehzahl-Drehmo-
126 4 Formen und neue Konzepte

Tabelle 4.3-7 Charakteristische Daten von mobilen Wasserstoff-Speichern


Typ Spezifischer Energieinhalt des Speichers*) Bemerkungen
kWh/kg Gew.% H2 kWh/l
Druckwasserstoff Spezifische Energie (kWh/l) nimmt
350 bar 1,2 – 1,5 4,0 – 5,0 0,6 mit steigendem Druck zu. Gravime-
700 bar 1,3 – 1,6 4,3 – 5,3 1,0 trische Dichte durchläuft Maximum
Compositebehälter
Flüssigwasserstoff 1,4 – 2,7 4,6 – 9,0 0,8 – 1,5 Angestrebte Abdampfrate 1 – 2 % pro
(– 253 °C) Tag.
Verflüssigungsenergie sehr hoch:
1 kWh PE/kWh H2
Tieftemperaturmetall- 0,4 1,2 0,7 – 1,3 Hohe Wasserstoffreinheit notwendig;
hydride Systemdruck ca. 50 bar
Chemische Hydride 0,3 – 1,4 3,0 – 5,0 1,0 – 1,6 Weitgehend noch im Forschungs-
Alanate stadium; Systemdrücke ca. 50 bis
Amide/Hydride 100 bar
)
* Speicher ohne Peripherie; Stand 2005; Ziele DOE 2015: 3kWh/kg (9 %), 2,7kWh/l

ment Charakteristik auf. Das maximale Drehmoment gie und ermöglicht einen einfacheren Kaltstart unter
ist schon bei geringen Drehzahlen verfügbar. Auch 5 °C. Außerdem kann die Batterie zusätzliche Peak-
die kurzzeitige Überlastbarkeit bringt Vorteile. Au- leistung für Beschleunigungsvorgänge zur Verfügung
ßerdem arbeiten sie mit hohen Wirkungsgraden und stellen. Länger andauernde Leistung hingegen muss
geringer Geräuschemission und in der Regel kann auf über die Brennstoffzelle zur Verfügung gestellt wer-
ein mehrstufiges Getriebe verzichtet werden. den, da sie einen größeren Kostenvorteil bringt als
Heute werden zur Unterstützung von Brennstoffzel- der Einsatz energiereicher Batteriezellen.
lenantrieben Batterien mit wenigen kWh Energie-
inhalt und einigen zehn kW Leistung verwendet. 4.3.2.2 Sicherheit
Hauptsächlich werden dafür Lithiumionen-Batterien
Wasserstoff erfordert wie jeder andere Kraftstoff
mit Zellen hoher Leistungsdichte und geringem spezifische Sicherheitsvorkehrungen. Mit entspre-
Energieinhalt eingesetzt (Kap. 4.3.1.4). chenden Maßnahmen kann das Sicherheitsrisiko bei
Eine zusätzliche Batterie im Antriebsstrang macht das Wasserstofffahrzeugen auf ein mit konventionellen
Gesamtsystem zwar komplizierter, sie bietet aber Fahrzeugen vergleichbares Niveau gebracht werden.
auch einige Vorteile. Z.B. liegen die Dynamikanfor- Wasserstoff-Luftgemische sind in einem weiten
derungen an Elektroantriebe bei etwa 800 A/s. Diese Konzentrationsbereich (4 % bis 77 % Wasserstoff in
Rampe kann das Brennstoffzellensystem aufgrund Luft) entflammbar. Dazu sind außerdem sehr geringe
der Trägheit der Luftverdichtung alleine nicht liefern. Zündenergien notwendig. Deshalb müssen Wasser-
Mit Unterstützung durch Batterien sind solche Strom- stoffansammlungen im normalen Betrieb verhindert
rampen aber problemlos realisierbar. Die Batterie er- werden. Wasserstoff führende Komponenten sind so
laubt zusätzlich die Rückgewinnung von Bremsener- auszulegen, dass sie unter normalen Betriebsbedin-

Bild 4.3-13 CAD-


Darstellung eines 700 bar
Druckspeichersystems
4.3 Neuartige Antriebe 127

gungen dicht sind. Der Fahrgastraum muss gegenüber können und das Vertrauen des Anwenders in die
den Wasserstoff führenden Teilen abgedichtet sein. Sicherheit der neuen Technologie zu gewinnen.
Vor einer Betriebserlaubnis müssen mobile Wasser- Die Gesetzgebung der Europäischen Union bildet
stoffspeicher umfangreiche sicherheitstechnische Typ- schon heute einen weitgehenden gesetzlichen Rah-
prüfungen durchlaufen. Nach dem Einbau in Fahr- men für die Nutzung von Wasserstoff im Straßenver-
zeuge sind regelmäßig wiederkehrende Sicherheits- kehr. Eine Harmonisierung des entsprechenden
überprüfungen vorgeschrieben. Selbstverständlich ist Rechts in den Mitgliedstaaten ist im Gange. Aller-
eine möglichst crashsichere Unterbringung der Spei- dings ist das heute übliche Zulassungsverfahren, das
cher im Fahrzeug vorzusehen. zur EG-Typgenehmigung für Serienfahrzeuge führt,
Wasserstoffkonzentrationen, die sich bei Störfällen auf Wasserstofffahrzeuge noch nicht anwendbar. Hier
bilden können, werden in heutigen Flottenfahrzeugen müssen noch Lücken bei technischen Vorschriften
mit entsprechenden Gassensoren erfasst. Je nach vervollständigt werden.
Wasserstoffkonzentration wird ein abgestuftes zuver- Wasserstoff wird wie Benzin oder Diesel als gefährli-
lässiges Sicherheitssystem aktiviert: von der Warn- cher Stoff eingestuft und bezüglich der Herstellung
meldung, wenn z.B. die Konzentration weit unterhalb rechtlich gleich behandelt. Die geringeren Mengen-
der unteren Entflammungsgrenze liegt, über passive schwellen bei der Lagerung von Wasserstoff z.B. an
und aktive Belüftungsmaßnahmen, bis zum sofortigen Wasserstofftankstellen, zeigen aber, dass Wasserstoff
Stillsetzen des Fahrzeuges. noch als Chemikalie gesehen wird. Die Selbstver-
Bei Fahrzeugbränden wird durch entsprechende ständlichkeit, mit der heute mit Benzin und Diesel
Schmelzsicherungen dafür gesorgt, dass der Wasser- umgegangen wird muss sich für Wasserstoff erst
stoffspeicherinhalt gezielt abgeführt und kontrolliert noch ausbilden. Die für die anderen Kraftstoffe gel-
abgefackelt wird. tenden Vorschriften müssen auch für Wasserstoff als
Vergleichsmaßstab gelten dürfen. Um vorhandene
4.3.2.3 Rechtsvorschriften und Standards Einführungsbarrieren zu verringern, sollten gerade
Vor der Markteinführung von Brennstoffzellen-Fahr- die Vorschriften für die Errichtung von Wasserstoff-
zeugen müssen Vorschriften und Standards erarbeitet tankstellen nicht überzogen und die Wasserstoff-
werden. In mehreren Gremien (ISO/TC22/SC21, Kostenproblematik nicht durch Steuern und Abgaben
SAE und ICE) gibt es derzeit entsprechende Aktivitä- verschärft werden.
ten. Ziel ist die Schaffung einheitlicher Standards, um
4.3.2.4 Brennstoffzellen-Fahrzeuge
die Verbreitung der Brennstoffzellentechnologie zu
beschleunigen, dem Hersteller Orientierung in Bezug 1994 hat Daimler mit NECAR 1 das erste einer Reihe
auf die Produkthaftung zu geben, das Produkt dem von Brennstoffzellen-Prototypfahrzeugen vorgestellt.
Verbraucher zu attraktiven Konditionen anbieten zu Zunächst wollte man nur die Machbarkeit solcher

Konzept und Machbarkeitsstudien Flottentests unter Alltagsbedingungen Markteinführung

Methanol NECAR 3 NECAR 5

Personenkraftwagen F-CELL
A-Klasse
NECAR 2 NECAR 4 F-CELL A-Klasse F600 Advanced F-CELL B-Klasse

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

NECAR 1 Nebus Fuel Cell Sprinter Fuel Cell Citaro Fuel Cell Sprinter Citaro FuelCELL-Hybrid

Nutzfahrzeuge

Bild 4.3-14 Historie der Daimler Brennstoffzellen-Fahrzeuge


128 4 Formen und neue Konzepte

Charakteristische Daten F-CELL: re Hersteller setzen auch auf andere Speicherarten,


Fahrzeugtyp Mercedes-Benz A-Klasse wie z.B. die Flüssigwasserstoffspeicherung, mit der
Brennstoffzellen-System PEM – 72 kW man zwar mehr Energie im gleichen Volumen unter-
Antrieb Asynchronmaschine bringen kann, sich aber Nachteile vorwiegend bei der
Leistung (Dauer/Spitze): 45 kW/65 kW
Maximales Drehmoment: 210 Nm
Handhabung und vor allem bei der Energiebilanz
einhandelt.
Kraftstoff Druckwasserstoff (350 bar)
Reichweite 177 km
4.3.2.4.1 Brennstoffzellen – Pkw und –
Maximalgeschwindigkeit 140 km/h
Transporter
Batterie NiMH; Luftkühlung;
Leistung (Dauer/Spitze): 15 kW/20 kW Im Zuge der weiteren Entwicklung wurden die Kom-
Kapazität: 6,0 Ah, 1,2 kWh
ponenten so klein, dass sie in A- und B-Klasse im
Bild 4.3-15 Charakteristische Daten F-CELL-Fahr- Zwischenboden untergebracht werden können (Bild
zeuge 4.3-7). Diese Fahrzeuge werden unter dem Namen
F-CELL derzeit in vielen Flottenversuchen betrieben.
Fahrzeugantriebe demonstrieren. Von Fahrzeug zu Die charakteristischen Daten enthält Bild 4.3-15 und
Fahrzeug konnten erhebliche Fortschritte bezüglich 4.3-17. Insbesondere die im Neuen Europäischen
Gewichts- und Volumenreduktion des Brennstoffzel- Stadt-Fahrzyklus (NEFZ) gemessenen Äquivalent-
lensystems erzielt werden. So stieg allein die spezifi- verbräuche von unter 3,3 l Diesel/100 km bestätigen
sche Leistung des Brennstoffzellenstacks von 48 W/ die Erwartungen der hohen Wirkungsgrade solcher
kg (NECAR 1) bis heute auf 880 W/kg (F-CELL) an Antriebe. Damit können die im Vergleich zur Benzin-
(Bild 4.3-14). Gleichzeitig wurden verschiedene oder Dieselherstellung höheren Energieverluste bei der
Wasserstoffspeichermethoden und auch der Einsatz Wasserstoffherstellung überkompensiert werden. Bei
anderer Kraftstoffe, wie z.B. Methanol untersucht. Es vielen Wasserstoffherstellungspfaden ergeben sich so-
zeigten sich deutliche Vorteile für einen reinen Was- mit auch in der Gesamtkette (Well-to-Wheel) energe-
serstoffbetrieb mit Druckspeicherung, so dass man tische Vorteile [6].
bei Daimler für die Nachfolgefahrzeuge ausschließ- Das im Pkw verwendete Antriebssystem wurde in
lich dieses Antriebskonzept weiter verfolgt hat. Ande- entsprechend modifizierter Form auch in Mercedes-

Brennstoffzelle Lithium-Ionen-Batterie

Wasserstofftanks Elektromotor mit


Übersetzungsgetriebe

Technische Daten Mercedes-Benz F 800 Style mit F-CELL


Die wichtigsten Daten und Fahrleistungswerte:
F 800 Style mit F-CELL Brennstoffzellenantrieb
Länge (mm) 4738
Breite (mm) 1938
Höhe (mm) 1445
Radstand (mm) 2924
Kofferraumvolumen (l) 440
Schwungmassenklasse (kg) 1700
Reifen 215/45R20
Nennleistung (kW/PS) rund 100/136
Nenndrehmoment (Nm) rund 290
Beschleunigung 0–100 km/h (s) 11
Höchstgeschwindigkeit (km/h) 180*
Wasserstoff-Verbrauch (kg/100 km) 0,9**
CO2 ges. (g/km min.–max.) 0 Bild 4.3-16 a) Forschungs-
Reichweite (km) NEFZ rund 600
Energieinhalt Lithium-Ionen-Batterie (kWh) Batterie (kWh/kW) 1,4
fahrzeug F 800 Style mit
*Elektronisch abgeregelt **NEFZ-Gesamtverbrauch, entspricht 3,0 l Dieseläquivalent
F-CELL, b) Charakteristische
Daten F600
4.3 Neuartige Antriebe 129

Antriebsinnovationen werden häufig vorher zuerst in


Forschungsfahrzeugen eingesetzt und erprobt. Mit dem
F 800 Style hat die Daimler AG gezeigt, dass die
Brennstoffzelle zukünftig im Standardvorbau unter
gebracht werden kann. Der kompakte Elektromotor
sitzt im Bereich der Hinterachse; somit ist der F 800
Style auch das erste Brennstoffzellenfahrzeug mit
Heckantrieb (Bild 4.3-16). In ihm wird die 700 bar
Druckspeichertechnik erstmals eingesetzt, die diesem
Fahrzeug Reichweiten von über 400 km verleiht. Es
konnte auch gezeigt werden, dass durch Einsatz einer
neuen Befeuchtertechnologie (Hohlfaserbündel) auf
Charakteristische Daten B-Klasse F-CELL einen aktiven Wasserkreislauf im Stack verzichtet
Fahrzeugtyp Mercedes-Benz B-Klasse werden kann und das Fahrzeug dadurch auch bei
Brennstoffzellen-System PEM – 80 kW (90 kW) Minusgraden kaltstartfähig wird. Diese Technologien
Antrieb Integrierter Fahrantrieb mit permanent sind in der B-Klasse F-CELL (Bild 4.3-17a), deren
erregter Synchronmaschine
Leistung (Dauer/Spitze):
Produktion 2009 begonnen wurde, erfolgreich einge-
70 kW/100 kW (136 PS) setzt [12].
Maximales Drehmoment: 290 Nm Toyota, Honda, Hyundai, Nissan, GM, Ford und VW
Kraftstoff Druckwasserstoff (70 Mpa/700 bar) haben ebenfalls Prototypfahrzeuge entwickelt, die
Reichweite ca. 400 km ausnahmslos mit PEM-Brennstoffzellen-Antriebs-
Maximalgeschwindigkeit 170 km/h systemen ausgestattet sind (Bild 4.3-18) [13 – 19].
Batterie Li-Ionen (Mn); Leistung (Dauer/Spitze):
24 kW/30 kW; Kapazität: 6,8 Ah, 1,4 kWh 4.3.2.4.2 Brennstoffzellen-Busse
Bild 4.3-17 a) Schnittbild B-Klasse F-CELL, b) Cha- Der öffentliche Personennahverkehr stellt einen An-
rakteristische Daten B-Klasse F-CELL wendungsbereich dar, in dem Brennstoffzellenantrie-
be vorteilhaft eingesetzt werden können. Der schad-
Benz-Sprinter eingebaut, die derzeit in Deutschland stoffemissionsfreie Betrieb ist im innerstädtischen
und USA hauptsächlich im Paketdienst eingesetzt Bereich besonders wichtig. Auch braucht die not-
werden. Die Brennstoffzellenantriebe sind für die spe- wendige Wasserstoff-Betankungsinfrastruktur nur in
zifischen Fahrprofile solcher Versanddienste im urba- den Fuhrparks installiert werden.
nen Verkehr mit vielen kurzen Unterbrechungen bes- Auf Basis des Mercedes-Benz Citaro Stadtbusses
tens geeignet. Auch kann für Fuhrparkgestützte Fahr- wird die zweite Generation Brennstoffzellen-Busse
zeuge in der Anfangsphase einer Wasserstoffwirtschaft aufgebaut, die in mehreren europäischen Städten im
die Infrastruktur einfacher realisiert werden. täglichen Personenverkehr eingesetzt werden. Bild
Die in den nächsten Generationen von Demonstrati- 4.3-19 zeigt die Integration des Antriebssystems im
ons- und Flottenfahrzeugen zum Einsatz kommenden Bus, mit den wichtigsten charakteristischen Daten [20].

Daimler Daimler Ford GM


A-Klasse F-CELL B-Klasse F-CELL Focus FCV Chevrolet Equinox

Honda Hyundai Nissan Toyota


FCX Clarity Tucson FCEV X-TRAIL FCV FCHV-adv

Bild 4.3-18 Brennstoffzellen-Fahrzeuge verschiedener Hersteller


130 4 Formen und neue Konzepte

Hochvoltbatterie
Hochtemperatur-Kühlsystem Wasserstofftanks

Brennstoffzellensystem
Niedertemperatur-
Kühlsystem

Wasserstoff-Einfüllstutzen

Nebenaggregate Hinterachse mit Motoren

Technische Daten
Leistung BZ-System 12 kW (konst.)/140 kW (max.)
Antriebsleistung 2 x 80 kW, Spitzenleistung: 120 kW je Motor für 15–20 s
Wasserstofftank 35 kg Wasserstoff (350 bar)
Reichweite ca. 250 km
HV-Batterie 26,9 kWh, Leistung 250 kW
Effizienz BZ-System 58–51 %
H2-Verbrauch 10–14 kg/100 km
Bild 4.3-19 Antriebssystem
des CITARO-Busses

4.3.2.4.3 Demonstrationen und Flottenversuche mals pro Sekunde in einem Datenspeicher protokol-
Auf dem Weg zur Marktreife stellen Flottenversuche liert [7]. Tritt ein besonderes, vorher nicht definiertes
ein wichtiges Instrument dar, weil sie aus dem All- Ereignis auf, wie z.B. ein ungewöhnlicher Tempera-
tagsbetrieb wichtige Messdaten und Hinweise zur turanstieg in einer Komponente, kann die Anzahl der
Technologieweiterentwicklung liefern. Dazu werden erfassten Parameter um den Faktor 10 gesteigert wer-
die Fahrzeuge zusätzlich zur ohnehin vorhandenen den. Kehrt das Fahrzeug zum Stützpunkt des Betreibers
Fahrzeugelektronik mit weiterer Sensorik und Daten- zurück, werden die Daten über Funkübertragung aus-
loggern ausgestattet. Einerseits ermöglichen sie prä- gelesen und per Internet zu einem Zentralen Server
ventive Maßnahmen für einen ungestörten Fahrzeug- weitergeleitet. Die Entwickler setzen dann ein speziel-
betrieb, andererseits liefern sie dem Entwicklungsin- les Data-Mining-Verfahren ein, mit dem der Rechner
genieur das Datenmaterial für die Weiterentwicklung selbstständig Zusammenhänge erkennt und ihre Bedeu-
der Technologie. In den Daimler-Brennstoffzellen- tung für eine bestimmte Fragestellung bewertet. So
fahrzeugen werden z.B. 60 relevante Parameter mehr- können die riesigen Datenmengen schnell analysiert

Fuel Cell
Vehicle

DSL Link Internet


DSL
WLAN Modem
Firewall
Access Firewall Local
Point File Server T1 Link

Fuel Cell
Vehicle Firewall Central
File Server Bild 4.3-20 FDA-Schema
4.3 Neuartige Antriebe 131

Bild 4.3.-21 CEP-Fahr-


zeugflotte

und auch die komplexesten Fehlerquellen und Zusam- Wasserstoff wahrscheinlich aus Erdgas über Dampf-
menhänge herausgefiltert werden [21] (Bild 4.3-20). reformierungsprozesse gewonnen werden. Wenn die-
Weltweit sind derzeit einige hundert Brennstoffzellen- ser Wasserstoff in Brennstoffzellenfahrzeugen ge-
Fahrzeuge in Erprobung. Allein Daimler, GM und nutzt wird, ist bei vielen Energiepfaden die gesamte
Honda haben jeweils über 100 Fahrzeuge im Einsatz. Energieeffizienz trotz der höheren Verluste der Was-
Insgesamt haben sie bis heute ca. 7 Mill. km zurück- serstoffherstellung besser als bei Benzin- und Diesel-
gelegt (Stand April 2011). Weltweit sind einige fahrzeugen. Auch gegenüber der direkten Nutzung
Hundert Brennstoffzellenfahrzeuge im Praxistest. Sie von Erdgas in Verbrennungsmotoren entstehen ener-
werden im Rahmen von öffentlich geförderten Ko- getische Vorteile. Weitere Informationen hierzu
operationsprojekten in Flotten eingesetzt (Bild 4.3-21). enthält Kap. 5.9.
Ziele sind die Demonstration und Weiterentwicklung Damit Wasserstoff effizient im Verkehrsbereich ge-
der Fahrzeugtechnik, Demonstration der Machbarkeit nutzt werden kann, muss die Brennstoffzellentechno-
einer Wasserstoffinfrastruktur, Identifikation von logie weiter in Richtung Marktreife getrieben werden.
Markteinführungsbarrieren und Erhöhung der öffent- Andererseits bedarf es aber auch noch eines flächen-
lichen Wahrnehmung dieser Technologien. deckenden, gut funktionierenden und kundenfreund-
Im kalifornischen Sacramento haben sich 1998 Au- lichen Tankstellennetzes für Wasserstoff.
tomobilhersteller, Energiefirmen, Brennstoffzellen- Bei fuhrparkgestützten Fahrzeugen (z.B. Stadtbusflot-
entwickler und Regierungsorganisatoren zur Califor- ten) kann der Bedarf durch wenige Tankstellen am
nia Fuel Cell Partnership (CaFCP) zusammenge- Fuhrpark kundengerecht erfüllt werden. Die Infra-
schlossen. Die deutsche Bundesregierung unterstützt struktur für den breiten Massenmarkt muss sukzessi-
ein ähnliches Demonstrationsprojekt, die Clean ve wachsen. In der Anfangsphase mit lokalen An-
Energy Partnership (CEP) und im Rahmen der euro- sammlungen einiger Tankstellen im Rahmen von
päischen Busprojekte CUTE und ECTOS wurden in Demonstrationsversuchen. Diese Einzelcluster wer-
10 europäischen Städten 30 Brennstoffzellenbusse den dann schrittweise über Korridore entlang der
betrieben. Fernstraßen miteinander verbunden. Schließlich bil-
det sich ein flächendeckendes Netz an Tankstellen.
4.3.2.5 Kraftstoffversorgung und Infrastruktur
Neben seiner Kohlenstoff-Freiheit ist ein weiterer 4.3.2.6 Ausblick
großer Vorteil von Wasserstoff, dass er aus einer Einschlägige europäische Industrieunternehmen und
Vielzahl von Primärenergiequellen hergestellt werden Forschungseinrichtungen haben unter Leitung der
kann. Damit hat er das Potenzial signifikant zur Europäischen Kommission in der so genannten
energetischen Diversifizierung des Verkehrsbereiches „Hydrogen and Fuel Cell Platform (HFP)“ Wasser-
beizutragen. In Langfristszenarien wird davon ausge- stoffeinführungsszenarien für Europa entwickelt. Die-
gangen, dass Wasserstoff aus regenerativen Energie- se deuten darauf hin, dass bis etwa 2015 Brennstoff-
quellen (Fotovoltaik, Wind, Geothermie, Wasserkraft zellenfahrzeuge und die notwendige Wasserstoffin-
und Biomasse) aber auch mit Hilfe neuer Kernkraft- frastruktur Marktreife haben könnten, was die Voraus-
anlagen hergestellt wird. Damit ist seine Nutzung von setzung für die beginnende Markteinführung darstellt.
der Quelle bis zum Rad CO2 frei, mindestens aber In der „EU Coalition Study“, einer tiefgreifenden
CO2 neutral. In einer Überbrückungsphase wird der Studie mit weitreichender Beteiligung der Automo-
132 4 Formen und neue Konzepte

Bus PKW Sprinter

Generation 1 Generation 1 Generation 1


2004
Technologiedemonstration Technologiedemonstration Technologiedemonstration
A-Klasse F-CELL

Generation 2 Generation 2 Generation 2


2010
Kundenakzeptanz Kundenakzeptanz Kundenakzeptanz
B-Klasse F-CELL

Zukünftige Generationen 201x Generation 3 Zukünftige Generationen


Kostenreduzierung I

201y Generation 4
Kostenreduzierung II
Markteinführung

202z Generation 5
Massenproduktion

Quelle: Daimler AG

Bild 4.3-22 Entwicklungsphasen bis zur Kommerzialisierung

bil-, Gas-, Energie und Ölindustrie, konnte eine lenmobilität, aufbauend auf den Ergebnissen der EU
zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Brennstoffzel- Coalition Study, erarbeitet werden.
lenmobilität unter Kostenaspekten und Berücksichti-
gung verschiedener Zukunftsszenarien aufgezeigt Literatur
werden [22]. Bis zur flächendeckenden Markteinfüh-
[1] Vielstich, W.; Lamm, A.; Gasteiger, H. A.: Handbook of Fuel
rung sind noch erhebliche finanzielle Anstrengungen Cells, Vol. III, Seite 647, Wiley 2003
zur Technologie-Weiterentwicklung und zum Infra- [2] Carlson, E. J. et al.: Cost Analysis of Fuel Cell Systems for
strukturaufbau notwendig. Der Ausbau der bisher nur Transportation, Report to Department of Energy, Ref. No.
punktuell vorhandenen Betankungseinrichtungen und 49739, SFAA No. DESCO2-98EE50026, 2001
[3] Banken, J.; Daimler AG: „Die Elektrifizierung des Automobils –
Wasserstoffproduktionskapazitäten kann nur sukzes- technische und ökonomische Herausforderungen“, 7. VDI-
sive und im Einklang mit steigender Nachfrage nach Tagung Innovative Fahrzeugantriebe, Dresden, 10.11.2010
Wasserstoff als Kraftstoff für Pkw erfolgen. Infolge [4] Vielstich, W.; Lamm, A.; Gasteiger, H. A.: Handbook of Fuel
steigender Fahrzeug-Stückzahlen, sinkender Kosten Cells, Vol. IV, Seite 727, Wiley 2003
[5] Wind, J.; Fröschle, P.; Höhlein, B.; Piffaretti, M.; Gabba, G.,
und technologischer Weiterentwicklung der aufei- Daimler AG: „WTW analyses and mobility scenarios with OP-
nanderfolgenden Fahrzeuggenerationen kann so nach TIRESOURCE“, World Hydrogen Energy Conference, Essen,
einer koordinierten Startphase ein rentabler, sich May 2010
selbst steuernder Markt für Brennstoffzellenmobilität [6] Sommer, M.; Wöhr, M.; Docter, A., Daimler AG: „Concepts for
future PEM Fuel Cell Systems“, Fuel Cell Seminar, San Anto-
entstehen (Bild 4.3-22). Die hierfür notwendigen nio, 17.10.2007
hohen Aufwendungen können nur im nationalen oder [7] Friedrich, J.; Günther, B.; Liphardt, S.; Nitsche, C.; Peters, D.;
europäischen Rahmen durch langfristige Partner- Reiff, S.; Schamm, R.; Skroza, R.; Walz, H., Daimler AG: „Status
schaften von öffentlichen und privaten Partnern Report: 150.000 km and 3.000 Operating Hours with a Daimler
F-CELL Vehicle“, EVS24, Stavanger, Norway, May 13 – 16,
aufgebracht werden. Das Nationale Innovationspro- 2009
gramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie [8] Herb, F.; Jossen, A.; Reiff, S.; Wöhr, M., Daimler AG: „Investi-
(NIP), welches 2007 von der Deutschen Bundesregie- gation of Li-Battery and Fuel Cell Aging in a Fuel Cell Hybrid
rung initiiert wurde, definiert Ziele, terminiert Mei- Car Model“, Eleventh Grove Fuel Cell Symposium, London, Sep
23, 2009
lensteine und bietet einen Förderrahmen zur Weiter- [9] Fröschle, P., Daimler AG: „Fuel Cell Power Trains“, World
entwicklung und Markteinführung von Brennstoff- Hydrogen Energy Conference, Essen, May 2010
zellenfahrzeugen und Wasserstoffinfrastruktur in [10] Dehn, S.; Srinivas, S.; Dülk, C.; Sundaresan, M.; Heinzel, A.,
Daimler AG: „Semi-physikalische Modellierung und Regelstra-
Deutschland. Im Rahmen der Industrieinitiative H2-
tegie eines elektrisch angetriebenen Turboladers für die Brenn-
Mobility haben sich 2009 Unternehmen der Automo- stoffzellen-Luftversorgung“ in: Gühmann, C. und Thieß-Mag-
bil-, Kraftstoff- und Industriegasindustrie auf eine nus, W. (Hrsg.): Simulation und Test für die Automobilelektro-
koordinierte Vorgehensweise zur Markteinführung nik III, Expert Verlag, Germany, ISBN 978-3-8169-3023-5:
318 – 332, 2010.
von Brennstoffzellenfahrzeugen verständigt. Unter
[11] Maus, S.; Hapke, J.; Na Ranong, C.; Wüchner, E.; Friedlmeier,
Anderem soll innerhalb dieser Initiative ein detaillier- G.; Wenger, D.; Daimler AG: „Filling procedure for vehicles
ter Business Plan für das Geschäft mit Brennstoffzel- with compressed hydrogen tanks“, in: International Journal of
4.3 Neuartige Antriebe 133

Hydrogen Energy 33, 4612 – 4621, www.Elsevier.com, ISSN • Verbrauchsreduzierung


[12]
0360-3199, September 2008
Mohrdieck, C.; Daimler AG: „Fuel Cell Vehicles One Step on
• Niedrigstemissionen bis hin zu lokal emissions-
the Path to Commercialization“, 6th International Hydrogen & freiem Fahren
Fuel Cell Expo Technical Conference, Tokyo, March 5th, 2010 • Geräuscharmes rein elektrisches Fahren
[13] Kojima K.; Morita T.: Fuel Cell System Engineering Div. • Steigerung des Funktionskomforts
TOYOTA Motor Corporation, Japan: „Development of Fuel Cell
Hybrid Vehicle in TOYOTA“, EVS25, Shenzhen, China, No-
• Fahrstabilisierung
vember 5 – 9, 2010 • Erhöhung der Fahrleistungen
[14] Brachmann, T.: Honda R&D Europe (Deutschland) GmbH: „The Die Ausprägung der jeweiligen Vorteilsmerkmale
Honda FCX Clarity – A viable Fuel Cell Electric Vehicle for to-
day and beyond 2015?“, World Hydrogen and Energy Confer- hängt stark vom Hybridkonzept und dessen Ausle-
ence, Essen, May 2010 gung ab, d.h. auch im Umkehrschluss: Die Ausgestal-
[15] Lim, T. W.: R&D Center, Hyundai – Kia Motor Company: tung eines Hybridfahrzeugs wird erheblich durch des-
„Development of Fuel Cell Electric Vehicle in Hyundai – Kia sen Einsatzszenario bestimmt.
Motors“, 6th International Hydrogen & Fuel Cell Expo Techni-
cal Conference, Tokyo, March 5th, 2010
[16] Iiyama A.; Arai T.; Ikezoe K.: EV System Laboratory, Nissan Marktentwicklung
Research Center, Nissan Motor CO., LTD.: „Latest FCV Devel-
opment in Nissan – Challenges for Durability and Cost“, EVS25,
Bereits 1902, als Elektro- und Verbrennungsfahrzeu-
Shenzhen, China, November 5 – 9, 2010 ge noch um die Vorherrschaft im Fahrzeugmarkt
[17] Bork, M.: General Motors Corp.: „Fuel Cell Electric Vehicle rangen, stellte Ferdinand Porsche, getrieben durch die
Development at GM – Progress and Challenges“, 6th Interna- Grenzen der Batterietechnik, seinen „Mixte“-Wagen
tional Hydrogen & Fuel Cell Expo Technical Conference, To-
kyo, March 5th, 2010
vor: Ein Daimler-Vierzylinder-Motor erzeugte über
[18] Flanz, S.: Ford Research Center Aachen GmbH: „Five Years of einen Generator den Strom für Radnabenelektromoto-
Experience with Ford Fuel Cell Vehicle Fleet Operations“, ren.
World Hydrogen and Energy Conference, Essen, May 2010 Diesel-elektrische Antriebe kamen seither immer
[19] Steiger, W.; Seyfried, F.; Huslage, J.; Volkswagen AG: „Zweite
Generation PEM-Brennstoffzellen: Erste Erfahrungen“, in: MTZ
wieder in Bahnantrieben und bei Unterseebooten zur
12/2007, www.all4engineers.de, www.atzonline.de Anwendung.
[20] Mohrdieck, C.; Daimler AG: „Next Generation Fuel Cell Tech- In den 70er und 80er Jahren gab es verstärkt Anwen-
nology for Passenger Cars and Buses“, EVS24, Stavanger, Nor- dungen bei Omnibussen, die teils dieselmotorisch,
way, May 13–16, 2009
[21] Babovsky, C.; Daimler AG: „Defintion einer neuen Zuverlässig-
teils elektromotorisch betrieben werden konnten.
keitsgröße zur realitätsnahen Darstellung des Ausfallverhaltens Die Entwicklung eines Marktes für Hybrid-Pkw be-
kleiner Grundgesamtheiten am Bespiel von Brennstoffzellen- gann mit der Serieneinführung des Toyota Prius 1997
Systemen“, 24. Fachtagung „Technische Zuverlässigkeit 2009“, in Japan, gefolgt vom Honda Insight und mittlerweile
VDI Wissensforum, Leonberg, 29. und 30. April 2009
[22] http://www.zeroemissionvehicles.eu: „The role of Battery Elec-
vielen weiteren Modellen mit den derzeitigen Haupt-
tric Vehicles, Plug-in Hybrids and Fuel Cell Electric Vehicles“, märkten USA und Japan.
2010 Schon bei den heute verkauften Modellen zeigt sich
die Vielfalt hybrider Antriebsformen.

4.3.3.2 Konzepte und Betriebsstrategien


Hybridantriebe lassen sich in drei Gruppen einteilen:
4.3.3 Hybridantrieb Parallelhybride, serielle Hybride und Mischhybride
(Bild 4.3-23).
4.3.3.1 Szenario
Parallelhybride
Für Hybridantriebe hat sich die Definition IEC/TC69
etabliert, wonach diese mindestens zwei verschiedene Bei Parallelhybriden können ein Verbrennungs- und
Energiewandler und zwei verschiedene Energiespei- ein Elektromotor parallel die Räder antreiben. So
cher zu Traktionszwecken beinhalten. bietet sich konzeptabhängig die Möglichkeit, rein
Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich dabei verbrennungsmotorisch, rein elektrisch oder kombi-
heute in der praktischen Umsetzung bei den Wand- niert zu fahren. Je nach Anordnung des Verbren-
lern um Verbrennungs- und Elektromotoren und bei nungsmotors haben sich die Bezeichnungen Px etab-
den Energiespeichern um Kraftstoffe und Batterien. liert, wobei das P für Parallelhybrid steht und das x
Durch den Verbrennungsmotor eröffnen sich dem die Lage des Verbrennungsmotors im Triebstrang
Hybridfahrzeug die Fahrleistungen heutiger verbren- gemäß folgender Tabelle beschreibt (Bild 4.3-24).
nungsmotorisch getriebener Fahrzeuge mit der Kraft- Vereinfachend sind dabei verschiedene Getriebevari-
stoffverfügbarkeit der etablierten Infrastruktur. Der anten und Konzepte mit mehreren E-Maschinen
elektrische Antriebsteil ermöglicht einen geräusch- weggelassen.
armen und lokal emissionsfreien Antrieb. Aus einem Für Parallelhybride mit geringer elektrischer Leistung
geschickten Zusammenspiel aller Antriebskomponen- bis ca. 10 kW hat sich die Bezeichnung „Mild Hyb-
ten eröffnen sich weitere Potenziale, so dass der rid“ verbreitet. Hierbei sind die E-Maschinen i.d.R.
Hybridantrieb folgende Vorteilsmerkmale aufweist: Weiterentwicklungen aus Riemen-Starter/Generato-
134 4 Formen und neue Konzepte

Verbrennungs-
motor

Getriebe

Generator

Elektromotor
Summiergetriebe
Tank

Batterie
Differential
Serieller Parallel Misch-
Hybrid Hybrid Hybrid Bild 4.3-23 Grundkonzepte
von Hybridantrieben

E-Motor drehfest mit


P1 Verbrennungsmotor
verbunden

E-Motor am Getriebe-
eingang, durch
P2 Kupplung vom Verbren-
nungsmotor getrennt

P3 E-Motor hinter dem


Getriebe

E-Motor an der nicht


P4 verbrennungsmotorisch
angetriebenen Achse

Bild 4.3-25 Honda Insight Modell 2009, Parallelhy-


Bild 4.3-24 Basiskonzepte und Nomenklatur von Pa- brid [11]
rallelhybriden
reduziert werden. In der Summe aller Maßnahmen
ren oder am hinteren Kurbelwellenende integrierten wird ein NEFZ Verbrauch von 4,4 l/100 km erreicht.
Starter/Generatoren. Wegen der geringen Leistung Das P1-Hybridkonzept kam auch beim ersten Hybrid-
und der drehfesten Ankopplung an die Kurbelwelle fahrzeug von Mercedes-Benz, dem S400 Hybrid zum
bieten „Mild Hybrids“ nur eingeschränktes elektri- Einsatz. Der 3,5 l 6-Zyl. Ottomotor ist für den Hyb-
sches Fahren, ggf. sogar nur mit ungefeuert mitge- rideinsatz mit einem Atkinson-Cycle ausgestattet. Am
schlepptem Verbrennungsmotor, Stopp/Start des Ver- hinteren Kurbelwellenende ist eine 15 kW perma-
brennungsmotors, Bremsenergierückgewinnung und nent-erregte Synchronmaschine integriert. Erstmalig
Beschleunigungsunterstützung. kam in einem Hybridserienfahrzeug eine Lithium-
Ein Beispiel für eine Mild Hybrid-Lösung mit E-Ma- Ionen Batterie zum Einsatz. Die 0,8 kWh/120 V
schine im Riementrieb war der Toyota Crown Hybrid Batterie konnte in der Batterienormgröße H8 gebaut
mit 36 V Bleibatterie. und damit im Batteriefach des Motorraumes unterge-
Ein Konzept mit der E-Maschine am hinteren Kur- bracht werden. Neu ist auch die Kühlung der Batterie
belwellenende (P1) wurde 1999 mit dem Honda über den Kältemittelkreislauf der Klimaanlage, was
Insight eingeführt und für den Honda Civic und auch bei hohen Außentemperaturen eine uneinge-
Accord weiterentwickelt. Der 4-Zyl. Ottomotor des schränkte Funktion im warmen Motorraum gewähr-
aktuellen Insight (Bild 4.3-25) wurde auf 65 kW bei leistet.
1,3 l Hubraum ausgelegt. Beim Beschleunigen wird er Durch die zielgerichtete Hybridisierung des Fahr-
von einem 10 kW Elektromotor aus einer 0,58 kWh/ zeugs konnte der Kraftstoffverbrauch (NEFZ) auf
100 V NiMH-Batterie unterstützt. Die Kraftübertra- 7,9 l/100 km reduziert werden. Verglichen mit dem
gung übernimmt ein CVT Getriebe. S350 entspricht dies einer Verbrauchsreduktion von
Er verfügt über eine variable Ventilsteuerung, mit der ca. 20 %. Gleichzeitig konnte die Beschleunigung
durch Abschaltung aller Zylinder beim Rekuperieren leicht verbessert werden.
und bei rein elektrischer Fahrt die Schleppleistung Durch eine Erweiterung des P1-Konzeptes mit der E-
und damit die Verluste durch den Verbrennungsmotor Maschine an der Kurbelwelle um eine Kupplung zwi-
4.3 Neuartige Antriebe 135

Laden der Batterie bei stehendem Fahrzeug. Eine


solche Anordnung finden wir im VW Touareg Hybrid
(Bild 4.3-26), in dem die E-Maschine mit einem
Wandler-Automatgetriebe gekoppelt ist (Bild 4.3-27).
Die hybridische Betriebsstrategie ermöglicht im VW
Touareg Hybrid einen Normverbrauch von 8,2 l/
100 km bzw. CO2 Emissionen von 193 g/km bei einer
Systemleistung von 279 kW. Das vergleichbare kon-
ventionelle Fahrzeug mit V6-Benzinmotor hat einen
Normverbrauch von 9,9 l/100 km bzw. CO2 Emissio-
nen von 236 g/km und eine deutlich niedrigere Leis-
tung von 206 kW.
Bild 4.3-26 P2 Hybrid im VW Touareg Hybrid [4] Der Allradantrieb wird mittels Torsen-Differenzial
realisiert. Der Wandlerautomat ermöglicht eine un-
schen Verbrennungsmotor und E-Maschine (P2) wird eingeschränkt hohe Anhängelast von 3,5 t.
die rein elektrische Fahrt und volle Rekuperation Eine weitere Anordnungsmöglichkeit der E-Maschi-
ohne Motorschleppverluste möglich. Eine weitere nen bei Parallelhybriden ergibt sich hinter dem Ge-
Kupplung trennt die E-Maschine vom Getriebeein- triebe (P3), wie bei dem als Prototyp gebauten Smart-
gang zum Start des Verbrennungsmotors und zum Hybriden (Bild 4.3-28). Bei geöffneter Kupplung

HV-Verkabelung
Hybridgehäuse E-Maschine

Kupplungsaktor
Rotor

Kupplungs
druckplatte

Schwungrad

Stator

Hauptlager
Kupplungsscheibe E-Maschine Bild 4.3-27 P2 Hybridkopf
im VW Touareg Hybrid [4]

Batterie/
Leistungselektrik
Modifiziertes
Getriebe

Kühlluftkanal
Ölfilter/
-kühler

Elektromotor Bild 4.3-28 Smart Hybrid


Zwischenwelle mit E-Maschine am
Getriebeausgang
136 4 Formen und neue Konzepte

7 5
6

2
1
3 Technologie PEUGEOT 3008 Hybrid4
4
1 Elektromotor an der Hinterachse
2 Hochspannungsbatterie
3 Automatische Antriebssteuerung PTMU
(Power Train Management Unit) Bild 4.3-29 Peugeot 3008
4 Elektronische Leistungseinheit Hybrid4 mit elektrisch
(Wechselrichter und Spannungswandler)
5 Stop & Start-Automatik angetriebener Hinterachse
6 Automatisiertes Sechsgang-Schaltgetriebe (EGS6) und HV-Riemen-Starter/
7 Verbrennungsmotor an der Vorderachse
Generator [25]

können hier Konstantfahrten bei geringer Fahrleis- sowie der Temperatur- und Schwingungsbeanspru-
tungsanforderung rein elektrisch gefahren werden. chungen im Rad bisher nicht durchsetzen.
Zudem erlaubt diese Anordnung komfortsteigernd die
Erhaltung der Zugkraft während der Getriebeschalt- Serielle Hybride
vorgänge. Beim seriellen Hybriden erfolgt der Radantrieb im-
Allein durch die Hybridisierung konnte der Smart mer rein elektrisch, wobei die elektrische Energie von
Diesel Hybrid einen Verbrauch von unter 3 l/100 km einem Verbrennungsmotor in Verbindung mit einem
im neuen europäischen Fahrzyklus erreichen. Generator an Bord erzeugt wird. Mit einer Batterie
Bei einem weiteren Parallelhybridkonzept ist die als Energiepuffer kann der Verbrennungsmotorbe-
E-Maschine an der nicht vom Verbrennungsmotor an- trieb unabhängig von der aktuellen Fahraufgabe wir-
getriebenen Achse angeordnet (P4). Diese Lösung hat kungsgrad- oder emissionsoptimiert eingestellt wer-
als weiteres Vorteilsmerkmal die elektrische Traktions- den. Wie bei allen anderen Hybridvarianten kann
unterstützung über die zusätzlich angetriebene Achse. auch hier die Bremsenergierückgewinnung ver-
Ein Nachteil bei diesem Konzept ist jedoch, dass bei brauchsmindernd eingesetzt werden. Der Verbrauchs-
Fahrzeugstillstand keine Stromgenerierung über die vorteil wird allerdings dadurch geschmälert, dass die
Traktionsmaschine möglich ist. Dies spielt vor allem gesamte vom Verbrennungsmotor abgegebene Leis-
bei elektrisch angetriebenen Hochvoltnebenaggrega- tung die ganze elektrische Wirkungsgradkette durch-
ten eine Rolle, wenn deren Betrieb auch bei langem laufen muss.
Fahrzeugstillstand bzw. Stop-and-Go Verkehr sicher- Beim seriellen Hybriden gibt es zwei Auslegungs-
gestellt werden muss. varianten. Soll das Fahrzeug dauerhaft die vollen
Im Peugeot 3008 Hybrid4 (Bild 4.3-29) ist deshalb Fahrleistungen bieten, so müssen die Verbrennungs-
neben einer elektrisch angetriebenen Hinterachse ein motor-, die Generator- und die E-Motorleistung unter
Hochvolt-Riemen-Starter/Generator verbaut. Die von Berücksichtigung aller Wirkungsgrade auf die Dauer-
ihm erzeugte elektrische Energie kann zum Laden der höchstgeschwindigkeit ausgelegt werden. Die Elektro-
Batterie (auch im Stand), zur Versorgung der Neben- motoren müssen zusätzlich die maximale Beschleu-
aggregate oder auch zur Aufrechterhaltung des elekt- nigung darstellen. Damit hat dieser Hybridtyp in
rischen Allradantriebs bei geringer Leistung verwen- Summe die höchsten installierten Komponentenleis-
det werden. Es handelt sich also um eine P1/4 Kon- tungen mit den entsprechenden Kostennachteilen. In
figuration mit der Möglichkeit eines seriellen hybridi- der zweiten Variante wird nur die Fahr-E-Maschine
schen Betriebs in geringem Umfang. In Verbindung auf die volle Fahrleistung ausgelegt. Der Verbren-
mit einem 120 kW 2,0 l Dieselmotor werden mit die- nungsmotor wird bewusst kleiner dimensioniert und
sem Antriebskonzept Emissionen von unter 100 g seine Aufgabe besteht darin, bei optimalen Wir-
CO2/km angegeben. kungsgraden über einen Generator die Batterie nach-
In einigen Konzeptstudien findet man auch Radna- zuladen, um damit die Fahrzeugreichweite zu vergrö-
benantriebe, bei denen die E-Maschine inkl. mechani- ßern.
scher Bremse in das Rad integriert ist. Radnabenan- Eine andere Anwendung von seriellen Hybriden
triebe konnten sich jedoch wegen der zusätzlichen kommt aus konstruktiven Nöten, wenn die Übertra-
ungefederten Massen, der engen Bauraumverhältnisse gung der Antriebsleistung zum Rad über Wellen zu
4.3 Neuartige Antriebe 137

Lithium-Ionen-Batterien

Traktions-E-Motor

Generator

Leistungselektronik Bild 4.3-30 Serieller Hyb-


Dieselmotor ridantrieb im OrionVII Bus
der Fa. Daimler Buses NA

aufwendig oder ungünstig für die Raumnutzung wäre, • Der Verbrennungsmotor kann zumindest mit ei-
z.B. bei Fahrkränen oder Niederflurbussen, wie bei nem Teil seiner Leistung direkt das Rad antreiben.
dem in Bild 4.3-30 dargestellten Orion-VII Bus der • Mit einer Leistungsverzweigung können stufenlos
Fa. Daimler Buses NA. 3.000 solcher Busse sind in variable Getriebe für den Verbrennungsmotor dar-
Nordamerika unterwegs, darunter fast die komplette gestellt werden
Busflotte der New Yorker Verkehrsbetriebe. Im Lau- Nachteilig ist die erhöhte Komplexität mit entspre-
fe der Produktion wurde die auf dem Dach unterge- chendem Steuerungsaufwand. Die installierten elekt-
brachte Bleibatterie auf Lithium-Ionen-Technologie rischen Antriebsleistungen sind bei Mischhybriden
umgestellt. konzeptbedingt i.d.R. höher als bei Parallelhybriden
mit entsprechenden Kostennachteilen.
Mischhybride
Beim Toyota Prius wurde das Konzept der mechani-
Die Kombination aus parallelem und/oder seriellem schen Leistungsverzweigung mittels Planetengetriebe
Leistungsfluss führt zu den so genannten Mischhyb- realisiert (Bilder 4.3-31, 4.3-32). Im Prius der dritten
riden. Deren Ausgestaltung mit Verbrennungsmotor, Generation werden die 73 kW seines 1,8 l Ottomotors
elektrischen Maschinen, Getriebekomponenten, Kupp- mit den 27 kW aus einer NiMH Batterie zu einer
lungen, Freiläufen, Bremsen ist beliebig vielfältig. Systemleistung von 100 kW kombiniert. Damit er-
Mischhybride zeichnen sich im Wesentlichen durch reicht das Fahrzeug im NEFZ einen Zertifizierungs-
folgende Vorteilsausprägungen aus: verbrauch von 3,9 l/100 km (89 g CO2/km).

Planetengetriebe für Planetengetriebe für


E-Motor-Übersetzung Leistungsverzweigung

E-Motor Generator Dämpfer

E-Motor
Generator

Differenzial

Vorgelegerad
Bild 4.3-31 Toyota
Hybrid System (THS) mit
Leistungsverzweigung [2]
138 4 Formen und neue Konzepte

höchste Bremsenergierückgewinnung durch ein opti-


miertes Zusammenspiel von mechanischer und elekt-
rischer Bremse. Zudem wurde der Antrieb umfassend
weiter optimiert. So wurde das Gewicht des Hybrid-
gesamtsystems gegenüber der zweiten Generation um
17 % gesenkt. Eine wichtige Maßnahme hierfür war
die Einführung eines zweiten Planetenradsatzes, der
eine Festübersetzung des E-Motors ins Langsame
darstellt. Durch Erhöhung der E-Motordrehzahl und
der Übersetzung seines Moments konnte dieser deut-
lich kleiner und damit leichter werden. Gewichts- und
Bauraumeinsparungen betreffen auch die Leistungs-
elektroniken zur Ansteuerung des E-Motors und des
Generators, die um 36 % leichter und 37 % kleiner
Bild 4.3-32 Getriebeschnitt Toyota Hybrid System mit als beim Prius II ausgeführt wurden (Bild 4.3-33).
Leistungsverzweigung im Prius III (Quelle: Toyota) Um dies umzusetzen wurde die Betriebsspannung der
E-Motoren von 500 auf 650 V erhöht, was zu ent-
Hier wird auch deutlich, wie die konsequente Opti- sprechend kleineren Betriebsströmen und Wärmever-
mierung von Komponenten in Verbindung mit dem lusten führt.
Hybridantrieb neue Synergien eröffnet. So läuft der Nach dem einfach leistungsverzweigten Prinzip ar-
elektrische Klimakompressor mit verbessertem Wir- beiten auch der Toyota Highlander Hybrid, der Toyo-
kungsgrad auf der hohen Traktionsspannung und ta Camry Hybrid, der Lexus LS600h sowie der Lexus
kann unabhängig vom Verbrennungsmotor betrieben RX450h, wobei hier durch die Anordnung eines
werden. Der reibungsoptimierte Verbrennungsmotor weiteren Elektromotors auf der nicht verbrennungs-
arbeitet mit dem Atkinson-Cycle und ist auf die hyb- motorisch angetriebenen Achse zusätzlich eine All-
ridspezifischen Betriebspunkte ausgelegt. Ein elekt- radfunktionalität dargestellt wird. Eine Weiterent-
rohydraulisch geregeltes Bremssystem ermöglicht wicklung des Prius-Antriebs findet sich nun im Lexus

Bild 4.3-33 Vergleich der Transaxle Einheiten (links) und der Inverter (rechts) zwischen Toyota Prius II und
Toyota Prius III (Quelle: Toyota)

Bild 4.3-34 Leistungsver-


zweigtes Getriebe des Lexus
GS450h mit zusätzlicher
2-Gang Schaltstufe des
E-Motors am Getriebeaus-
gang [15]
4.3 Neuartige Antriebe 139

GS 450 h mit einer zusätzlichen, 2-stufigen Überset- Für stärkere Motorisierungen ist in Kooperation von
zung des E-Motors. Damit wird der Zielkonflikt GM, Daimler, Chrysler und BMW der „Two Mode
gelöst, einerseits ein hohes elektrische Anfahrmoment Hybrid“ mit doppelter Leistungsverzweigung entwi-
und andererseits gute Wirkungsgrade im Hochge- ckelt worden (Bild 4.3-35), bei dem der Leistungs-
schwindigkeitsbereich darzustellen (Bild 4.3-34). fluss im elektrischen Zweig deutlich kleiner ausfällt.
Neben Toyota/Lexus setzt auch Ford zur Hybridisie- Je nach Kupplungsstellungen sind damit folgende Be-
rung seiner Fahrzeugflotte auf einfach leistungsver- triebsmodi möglich (Bild 4.3-36):
zweigte Getriebe (Ford Escape Hybrid, Ford Fusion – Einfach leistungsverzweigter stufenloser Betrieb
Hybrid). – Zweifach leistungsverzweigter stufenloser Betrieb
Alle oben genannten leistungsverzweigten Getriebe mit geringer Leistung im elektrischen Zweig
arbeiten mit 1 Planetensatz zum Zwecke der Leis- – 4 feste mechanische Gänge mit 1 bzw. 2 parallel
tungsverzweigung, was die Getriebemechanik einfach arbeitenden E-Maschinen mit der Möglichkeit,
hält, aber aus den erforderlichen Stützmomenten und E-Maschinen zur Wirkungsgradverbesserung bei
Drehzahlen der E-Maschinen einen hohen Leistungs- hohen Geschwindigkeiten abzukoppeln.
fluss durch den elektrischen Zweig und eine entspre- – Rein elektrische Fahrt
chend große Dimensionierung der E-Maschinen und
Das Getriebe ermöglicht sämtliche hybriden Fahrfunk-
Leistungselektroniken zur Folge hat.
tionen in stufenlosem Fahren sowie Fahren in festen
Gängen und kann dabei komfortabel zwischen den
Betriebsmodi wechseln. Serienanwendungen des Ge-
triebes finden sich im Mercedes-Benz ML450 Hyb-
rid, im BMW X6 Active Hybrid sowie in Fahrzeugen
der GM-Marken Cadillac, GMC und Chevrolet.
Hybridgetriebe mit doppelter Leistungsverzweigung
haben auch in Bussen bereits Anwendung gefunden:
Seit 2003 sind über 350 Stadtbusse mit einem Hyb-
ridgetriebe von GM Allison (Bild 4.3-37) in den USA
im Einsatz.
Betriebsstrategien
Um die Vorteile eines Hybridantriebs voll auszu-
schöpfen bedarf es ausgefeilter Betriebsstrategien.
Mit Hilfe mathematischer Simulationsprogramme wer-
Bild 4.3-35 Das Two-Mode Hybridgetriebe aus der den dabei z.B. Verbrauch, Abgasemissionen, Fahr-
Kooperation GM, Daimler, Chrysler und BMW dynamik, Leistungsflüsse in den Komponenten und

Elektromotor 1 Elektromotor 2

Getriebeeingang
C3
Torsionsdämpfer C1
C4
Bild 4.3-36 Struktur des
C2
Two-Mode Hybridgetrie-
bes aus der Kooperation
GM, DaimlerChrysler und
Verbrennungsmotor Getriebeausgang
BMW

Bild 4.3-37 Leistungsver-


zweigtes Hybridgetriebe
EP40/50 Hybrid Transmission
von GM Allison in Bus-
anwendung (Quelle: GM)
140 4 Formen und neue Konzepte

120 4.3.3.3 Plug-In Hybride


100 Eine abzugrenzende Ausführung von Hybriden bilden
Geschwindigkeit [km/h]

die sogenannten „Plug-In“ Hybride. Neben der ver-


80
brauchsreduzierenden hybridischen Betriebsstrategie,
60 die im vorigen Kapitel erläutert wurde, bietet diese
40
Gruppe der Hybridfahrzeuge die Möglichkeit, dass
die Batterien durch Anschluss an das Stromnetz
20 (= Plug-In) aufgeladen werden können. Die so ins
0 Fahrzeug geladene Energie wird im Fahrbetrieb ein-
700 800 900 1000 1100 1200
gesetzt, und somit der Verbrauch an Kraftstoff weiter
Zeit [s]
Verbrennungsmotor an, Nachladung der Batterie reduziert. Die Plug-In Hybride sind damit der Zwi-
Verbrennungsmotor aus, Rekuperation schenschritt zwischen dem rein verbrennungsmoto-
Verbrennungsmotor aus, elektrische Konstantfahrt risch und dem rein elektrisch angetriebenen Fahr-
Verbrennungsmotor aus zeug.
Die gegenwärtige EU-Gesetzgebung ermöglicht den
Bild 4.3-38 Betriebsstrategie eines Parallelhybriden Automobilherstellern durch den Verkauf von Plug-In
im europäischen Fahrzyklus Hybriden ihren Flottenverbrauch signifikant zu sen-
ken. Die Formel zur Ermittlung des CO2-Ausstosses
das thermische Verhalten für vorgegebene Fahrzyk- lautet
len optimiert.
( De × M1 + DAV × M2 )
Bild 4.3-38 zeigt eine einfache Betriebsstrategie eines M=
Parallelhybriden im europäischen Fahrzyklus. Dabei ( De + DAV )
ist ersichtlich, dass der Verbrennungsmotor nur bei
erhöhtem Fahrleistungsbedarf zugeschaltet wird. Im Mit
Stand, Schub, oder bei geringer Konstantgeschwin- De: elektrische Reichweite des Fahrzeugs
digkeit bleibt der Motor abgeschaltet, sofern das der DAV: 25 km (angenommene Strecke zwischen 2 Bat-
Batterieladezustand erlaubt. Mit der Simulation kann terieladevorgängen)
dabei die Größe des Verbrennungsmotors, des Elekt- M1: CO2 Wert [g/km] des Tests im NEFZ mit voller
romotors und der Batterie festgelegt werden. Ebenso Batterie
ist der Einsatz des Elektromotors für rein elektrische M2: CO2 Wert [g/km] des Tests im NEFZ mit leerer
Fahrt und Beschleunigungsunterstützung sowie die Batterie
Nachladestrategie der Batterie optimierbar. „Test im NEFZ mit leerer Batterie“ bedeutet hierbei,
Die Verbrauchseinsparung durch Hybridantriebe er- dass das Fahrzeug mit einer ladungserhaltenden
gibt sich im Wesentlichen aus den folgenden drei Betriebsstrategie wie ein konventioneller Hybrid be-
Punkten: trieben wird. Hierbei bewegt sich der Ladezustand
der Hybridbatterie um einen Arbeitspunkt, d.h. sie ist
1) Bremsenergierückgewinnung (auch Rekuperation nie vollständig entladen.
genannt) Der CO2 Wert des Tests mit voller Batterie M1 darf
2) Abstellen des Verbrennungsmotors in seinen gegenwärtig zu null gesetzt werden, wenn die elektri-
wirkungsgradungünstigen Betriebsbereichen (bei sche Reichweite die Länge des NEFZ überschreitet
Fahrzeugstillstand, geringer Fahrleistungsanforde- (ca. 11 km), wobei hier dem NEFZ Fahrprofil nur in
rung und Fahrzeugverzögerung) den Geschwindigkeitsanteilen kleiner 50 km/h ge-
3) Optimierung des Verbrennungsmotorbetriebsbe- folgt werden muss. Unterschreitet die elektrische
reiches Reichweite die Länge des NEFZ, muss bis zum Zu-
Aus den genannten Punkten wird deutlich, dass start des Verbrennungsmotors jeder Geschwindigkeit
der Verbrauchsvorteil eines Hybridantriebs bei lang- im NEFZ gefolgt werden.
samen Stadtfahrten mit hohem Stopp-Anteil am Für ein Fahrzeug mit z.B. einem CO2-Ausstoss von
größten ist. Bei konstanter Überlandfahrt mit hoher 120 g CO2/km im Test mit leerer Batterie und 30 km
Geschwindigkeit hingegen ergibt sich durch das elektrischer Reichweite mit voller Batterie bedeutet
Mehrgewicht sogar ein leichter Nachteil, wenn keine dies, dass ein Verbrauch von ca. 55 g CO2/km für den
Maßnahmen speziell für diesen Betriebsbereich ge- Flottenverbrauch angerechnet wird.
troffen werden. Beim Mercedes-Benz S400 Hybrid Für die Ankopplung an das Stromnetz bedarf es dazu
konnte durch eine längere Hinterachsübersetzung und eines Ladegerätes welches i.d.R. fahrzeugfest mitge-
Verwendung des Atkinson-Cycle auch bei Konstant- führt wird, um an jeder geeigneten Steckdose nachla-
fahrt mit hoher Geschwindigkeit ein Verbrauchsvor- den zu können.
teil erzielt werden. Der entstehende Dynamiknachteil Für den Anschluss an externe Ladestationen lehnt
kann im Bedarfsfall durch den Boosteffekt des E-Mo- man sich dabei an die Normung der Stecker der
tors wieder ausgeglichen werden. reinen Elektrofahrzeuge an. Vorteil bei den Ladesta-
4.3 Neuartige Antriebe 141

tionen ist die höhere Ladeleistung von derzeit bis zu Bei Volllastanforderung durch den Fahrer ist es
22 kW und damit entsprechend kürzere Ladezeiten. außerdem möglich, die volle Leistung der Batterie
Der alternative Anschluss an Ladestationen oder über Elektromotor und Generator für Antriebszwecke
Haussteckdosen erfolgt über entsprechende Adapter- zu nutzen und mit der Leistung des Verbrennungsmo-
stecker. tors zu einer Systemleistung von 125 kW zu kombi-
Toyota testet seit Ende 2009 in einem Feldversuch nieren.
mit 600 Fahrzeugen die Alltagstauglichkeit seines Die Serieneinführung des Chevrolet Volt ist in den
Plug-In Konzepts mit dem Prius Plug-In Hybrid. Das USA 2010 erfolgt, in Europa soll das gleiche Konzept
Fahrzeug setzt auf das Antriebskonzept des Prius als Opel Ampera ab Ende 2011 verkauft werden. Eine
Vollhybriden auf. Eine Kobalt Lithium-Ionen Batterie 16 kWh Lithium-Ionen Batterie ermöglicht hierbei
mit bis zu 60 kW elektrischer Leistung und einem eine nach EPA (Environmental Protection Agency)
nominalen Energieinhalt von 5,2 kWh ermöglicht Vorschrift zertifizierte elektrische Reichweite von
dabei eine rein elektrische Reichweite von 20 km im 35 Meilen. Der Triebstrang des Chevrolet Volt stellt
NEFZ und elektrische Höchstgeschwindigkeiten bis einen seriell-leistungsverzweigten Mischhybriden dar
zu 100 km/h. Erreicht die Lithium-Ionen Batterie (Bild 4.3-39 und Bild 4.3-40).
ihren Mindestladezustand, wird zu einer ladungs- Die wesentlichen Komponenten dabei sind:
erhaltenden Betriebsstrategie umgeschaltet, bei der • ein elektrischer Traktionsmotor mit einer Leistung
der Verbrennungsmotor die Fahraufgabe übernimmt. von bis zu 111 kW und einem Drehmoment von
Der Kunde erlebt das Fahrzeug dann wie einen Prius bis zu 370 Nm,
Vollhybriden. Ihm stehen dann die 73 kW des 1.8 l • ein elektrischer Generator mit einer Leistung von
Ottomotors zur Verfügung, mit der Möglichkeit die bis zu 55 kW,
Systemleistung durch elektrischen Boost kurzzeitig • ein 1,4 l 4-Zyl. Ottomotor mit einer Nennleistung
zu erhöhen. Eine Markteinführung des Toyota Prius von 63 kW,
Plug-In Hybriden ist für das Jahr 2012 angekündigt. • ein Planetenradsatz sowie drei hydraulisch betä-
Während beim Prius Plug-In Hybriden die installierte tigte Bremsen/Kupplungen.
verbrennungsmotorische Leistung überwiegt, gibt es
auch Konzepte, deren Schwerpunkt auf elektromoto- Hiermit werden vier verschiedene Betriebsmodi reali-
rischer Fahrt liegt. Die Leistung des elektrischen siert.
Traktionsmotors und der Traktionsbatterie übersteigt 1) Im ersten Modus treibt der elektrische Traktions-
dabei die Leistung des Verbrennungsmotors zum Teil motor bei niedrigen und mittleren Geschwindig-
deutlich. Solche Konzepte werden auch als hybridi- keiten über das Sonnenrad des Planetengetriebes
sierte Elektrofahrzeuge oder Elektrofahrzeuge mit das Fahrzeug an. Das Hohlrad des Planetengetrie-
Reichweitenverlängerung bezeichnet. Ebenso hat sich bes ist dabei durch die Bremse C1 am Gehäuse
der englische Begriff „range extender“ durchgesetzt. festgebremst, die Kupplung C2 trennt Generator
Beispiele hierfür sind der BYD F3DM und der Chev- und Ottomotor vom Planetengetriebe.
rolet Volt. 2) Bei E-Fahrt mit höheren Geschwindigkeiten, laut
Der BYD F3DM wird seit Ende 2008 an chinesische Hersteller >70 Meilen pro Stunde (113 km/h),
Firmen- und Regierungskunden verkauft. Ab 2011 wird die Bremse C1 geöffnet, während die Kupp-
soll das Fahrzeug dann in Europa und den USA zum lung C2 geschlossen wird. Kupplung C3 bleibt
Verkauf angeboten werden. Für den Antrieb bei geöffnet und trennt damit den Verbrennungsmotor
elektrischer Fahrt sorgt ein 50 kW starker Elektromo- vom restlichen Triebstrang. Der Generator stellt
tor an der Vorderachse. Dieser wird von einer Li- nun über das Hohlrad eine variable Übersetzung
thium-Eisen-Phosphat Batterie mit einer Spitzenleis-
tung von bis zu 75 kW und einem Energieinhalt von
16 kWh gespeist. Damit ist laut Herstellerangabe eine
rein elektrische Reichweite von bis zu 100 km bei
50 km/h Konstantgeschwindigkeit in der Ebene mög-
lich. Auch hier schaltet die Batterie bei Erreichen des
Mindestladezustands auf eine ladungserhaltende Be-
triebsstrategie um. Dabei wird die Batterie über einen
Generator mit bis zu 25 kW Leistung von einem 1 l
3-Zyl. Ottomotor nachgeladen. Bei höheren Ge-
schwindigkeiten kann dieser das Fahrzeug über einen
direkten Gang aber auch direkt antreiben. Dabei
leistet er bis zu 50 kW. Es handelt sich dabei also um
einen seriell-parallelen Hybriden. Das Umschalten
zwischen seriellem und parallelem Betriebsmodus
wird dabei durch eine Trennkupplung realisiert. Bild 4.3-39 Triebstrang des Chevrolet Volt [22]
142 4 Formen und neue Konzepte

VOLTEC ELECTRIC DRIVE


Antriebsarchitektur
Batterie

Traktions-E-Motor Leistungselektronik

Sonnenrad Generator
Hohlrad
Planetenträger
C1 C3

C2

Bild 4.3-40 Struktur des


Differenzial
GM Voltec Triebstrangs
im Chevrolet Volt [22]

für den Traktionsmotor ein, wodurch dieser bei rungen von bis zu 15 % im ladungserhaltenden
niedrigeren Drehzahlen und somit im optimalen Betriebsmodus durch die Realisierung der Aus-
Wirkungsgradbereich arbeiten kann. gangsleistungsverzweigung bei höheren Geschwin-
3) Bei Erreichen des minimalen Batterieladezustands digkeiten und hohen Lasten.
ist ein Umschalten in den ladungserhaltenden Be-
triebsmodus erforderlich. Hierbei wird bei niedri- 4.3.3.4 Hybrid Sportwagen
gen Geschwindigkeiten ein rein serieller Betriebs- Auch im Rennsport kommt es vermehrt zum Einsatz
zustand hergestellt. Kupplung C3 wird dabei ge- von Hybridsystemen. So wurden in der Formel 1
schlossen und somit wird der Verbrennungsmotor Saison des Jahres 2009 bei einigen Rennställen soge-
mit dem Generator verbunden, der die Batterie nannte KERS-Systeme (Kinetic Energy Recovery
lädt. Die Bremse C1 verbindet das Hohlrad mit System) eingesetzt.
dem Gehäuse, die Kupplung C2 ist geöffnet. Für Beim Vodafone McLaren Mercedes Rennstall be-
Vortrieb sorgt in diesem Modus alleine der elekt- stand das KERS System im Wesentlichen aus den in
rische Traktionsmotor. Bild 4.3-41 abgebildeten Komponenten:
4) Bei höheren Geschwindigkeiten im ladungserhal-
tenden Betriebsmodus wird der rein serielle Be- • Eine Lithium-Ionen HV Batterie zum Speichern
triebszustand aufgrund der hohen Leistungen, die eines Teils der bei Bremsvorgängen anfallenden
die Wirkungsgradkette vom Verbrennungsmotor Energie (bis zu 300 kJ)
über den Generator zum elektrischen Traktions- • eine Leistungselektronik zum Ansteuern des E-
motor durchlaufen und der erhöhten Drehzahlen Motors
des E-Motors unwirtschaftlich. Deshalb wird zum • ein 60 kW E-Motor in Parallelhybrid P1 Anord-
erreichen eines mischhybridischen Betriebs die nung.
Bremse C1 gelöst und Kupplung C2 geschlossen. Die in der Batterie abgespeicherte Batterie kann vom
Dadurch wird eine Ausgangsleistungsverzwei- Fahrer z.B. bei Überholvorgängen abgerufen werden.
gung mit stufenlos variabler Übersetzung reali- Mit dem System wird eine Verbesserung der Run-
siert. GM verweist hierbei auf Verbrauchseinspa- denzeiten um 0,3 s bis 0,5 s erzielt.

Bild 4.3-41 E-Motor, Leistungselektronik und Lithium-Ionen HV-Batterie des Vodafone McLaren KERS
4.3 Neuartige Antriebe 143

1 Leistungselektronik
2 Portalachse mit zwei Elektromaschinen
3 Hochvoltkabel
4 Elektrischer Schwungradspeicher
5 Leistungselektronik 7
1 2 3 4 6 5
3 4
5

1 2

1 Leistungselektronik 5 Porsche Doppelkupplungs-


2 Elektroantrieb getriebe (PDK)
3 Lithium-Ionen-Batterie 6 Elektromaschine
4 V8-Hochdrehzahlmotor 7 Leistungselektronik

Bild 4.3-42 Porsche GT3 R Hybrid Architektur [24] Bild 4.3-43 Porsche 918 Spyder Architektur [24]

die bereits auf der IAA in Frankfurt 2009 vorgestellt


Mit dem Porsche GT3 R Hybrid (Bild 4.3-42) wurde wurde.
auf dem Genfer Automobilsalon 2010 ein Hybridsys- Das Konzeptfahrzeug, für das eine Serieneinführung
tem vorgestellt, das auf der Speicherung von Brems- im Jahr 2013 in Aussicht gestellt wurde verfügt eben-
energie in einem Schwungrad statt in einer Batterie falls über einen Elektromotor an der Vorderachse und
beruht. Damit unterscheidet es sich deutlich von den ein Doppelkupplungsgetriebe mit integrierter E-Ma-
bisher vorgestellten Hybridsystemen. schine. Als Verbrennungsmotor dient in der Studie
Das Schwungrad speichert in seinem Rotor, der mit ein 1,5 l 3-Zyl. Dieselmotor.
bis zu 40.000 Umdrehungen/min rotiert, die Energie Im Fisker „KARMA“ Sportwagen finden wir den
in mechanischer Form. Der Fahrer kann diese Energie sonst eher seltenen seriellen Hybridantrieb (Bild
bei Bedarf abrufen. Dabei wird der Rotor elektrome- 4.3.-44). Der Verbrennungsmotor hat keine mechani-
chanisch gebremst. Aus seiner Bewegungsenergie sche Verbindung zu den Rädern. Stattdessen treiben
können dann bis zu 120 kW elektrische Leistung für 2 Elektromotoren mit je 150 kW die Hinterachse an.
wenige Sekunden gewonnen werden. Durch die somit fehlende Kardanwelle im Mitteltun-
Zwei Elektromotoren an der Vorderachse ergänzen nel wird dieser frei für die Aufnahme der länglichen
dann den verbrennungsmotorischen Hinterachsantrieb Lithium-Ionen Batterie (Eisen Phosphat Typ) mit
mit jeweils 60 kW. Bei Bremsvorgängen wird der einer Kapazität von 20 kWh und max. 200 kW Leis-
Schwungradspeicher dann in umgekehrter Weise auf- tung. Während der Fahrt erzeugt ein 2 l-4 Zyl. Turbo-
geladen. Direkteinspritzer-Ottomotor mit max. 190 kW elek-
Der Porsche GT3 R Hybrid wurde als Rennfahrzeug trische Energie über einen direkt angeflanschten
beim 24-Stunden-Rennen auf der Nordschleife des Generator. Die elektrische Leistung wird entweder
Nürburgrings im Mai 2010 zum ersten Mal einge- direkt dem Fahrantrieb zugeführt, oder aber in der
setzt. Batterie zwischengespeichert. Über ein Ladegerät
Neben Fahrzeugen, die rein für die Rennstrecke ge- kann sie auch je nach Netzanschlusskapazität in 6 bis
dacht sind, lässt sich auch bei Sportwagen für öffent- 14 Stunden extern aufgeladen werden (Plug-In).
liche Straßen ein Trend zur Hybridisierung erkennen.
Sportwagen haben durch hohe installierte Leistungen 4.3.3.5 Antriebskomponenten aus Hybridsicht
einen hohen Verbrauch und stehen deshalb in der Wärmekraftmaschinen
öffentlichen Kritik. Eine Hybridisierung trägt zur
Sozialisierung des Sportwagensegments bei, da sie Die Anbindung der Wärmekraftmaschine an das Rad
den Fahrzeugverbrauch senkt. Gleichzeitig lässt sich variiert bei den Hybriden von der konventionellen
eine Leistungssteigerung erzielen.
Ebenfalls auf dem Genfer Automobilsalon 2010
wurde der Porsche 918 Spyder Plug-In Hybrid (Bild
4.3-43) vorgestellt. Inzwischen wurde dieses Konzept
für eine Serieneinführung angekündigt.
Eine Plug-In Batterie soll hierbei eine elektrische
Reichweite von 25 km ermöglichen. Den Antrieb er-
möglichen dann eine E-Maschine an der Vorderachse
und eine in das Getriebe integrierte E-Maschine mit
einer kombinierten Leistung von 160 kW.
Eine ähnliche Anordnung der Antriebskomponenten
findet man beim BMW Vision Efficient Dynamics, Bild 4.3-44 Antrieb des Fisker Karma [Quelle: Fisker]
144 4 Formen und neue Konzepte

Anordnung mit Getriebe beim Parallelhybriden bis 1000


zur totalen mechanischen Entkopplung beim seriellen Zielfeld für
Hybriden. Hybridanwendungen

Die heute am Markt befindlichen Hybrid-Pkw basie-

Energiedichte [Wh/kg]
Batterien Li-I
ren kostenbedingt alle auf Ottomotoren, doch arbeiten 100 NiM on
H
die Hersteller auch an der Entwicklung von Diesel-
Blei
Hybriden nicht zuletzt wegen des geringeren Abso-
lutverbrauchs. Die Vorteile einer Hybridisierung sind Schwungräder
10
jedoch bei allen Motorenarten und Kraftstoffen vor-
handen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.
Superkondensatoren
Die Möglichkeit, mit dem Elektromotor beim Be-
schleunigen zu unterstützen, kann dazu genutzt wer- 1
10 100 1000 10000
den, die Verbrennungsmotoren kleiner auszulegen als Leistungsdichte [W/kg]
bei konventionellen Antrieben oder besondere Ver-
fahren wie z.B. das Miller- oder Atkinson-Verfahren Bild 4.3-45 Energie und Leistung von Energiespei-
anzuwenden, die den Wirkungsgrad steigern aber die chern
Leistung reduzieren. Bei Hybriden mit fester An-
bindung der E-Maschine an die Kurbelwelle sind und Kosten in Summe noch nicht befriedigend ge-
schleppleistungsreduzierende Maßnahmen besonders löst.
interessant, weil damit das Rekuperationspotenzial Blei-Batterien haben für die beschriebenen Hybridan-
über die E-Maschine gesteigert werden kann. Bei wendungen unzureichende Eigenschaften. Die hohen
seriellen Hybriden im Forschungsstadium findet man Energieumsätze bei teilentladenem Zustand führen
die größte Bandbreite von Energiewandlern vom zu geringen Lebensdauern. Bei Ladezuständen >50 –
kompakten Wankelmotor oder, wo die Dynamik der 60 % muss die Ladeleistung drastisch reduziert wer-
Wärmekraftmaschine von untergeordneter Bedeutung den, da sonst die Gasungsspannung überschritten
ist, auch Gasturbinen und Stirlingmotoren. Auch eine wird. Bleibatterien sind andererseits sehr kostengüns-
Brennstoffzelle als Stromerzeuger lässt sich leicht in tig.
die Systemwelt eines Hybriden einfügen. Die alkalischen Akkumulatoren (Nickel/Cadmium
und Nickel/Metallhydrid) bieten von Hause aus hohe
Batterie
Leistungsfähigkeit auch noch bei relativ niedrigen
Bei der Batterie muss man zwischen zwei verschie- Ladezuständen. Diese Aussage gilt ebenso für schnel-
denen Auslegungen unterscheiden: Werden größere les Laden bei hohen Ladezuständen, z.B. bei der
emissionsfreie Reichweiten gewünscht, so kommen Rekuperation. Das sind für die meisten Hybridan-
Hochenergie-Batterien zum Einsatz mit den gleichen wendungen die entscheidenden Parameter. Alkalische
Problemen bzgl. Gewicht, Packaging und Kosten wie Systeme haben sich trotz der rohstoffbedingten hohen
beim Elektrofahrzeug. (siehe Kap. 4.3.1) Im anderen Kosten bei den heutigen Hybridanwendungen über-
Fall dient die Batterie nur als Leistungspuffer zur wiegend durchgesetzt. Wegen der Toxizität des Cad-
Bremsenergierückgewinnung und Beschleunigungs- miums, des Memory Effektes und der geringeren
unterstützung. Lebensdauer kommen von den alkalischen Systemen
Betrachtet man die elektrischen oder elektromechani- jedoch heute ausschließlich Nickel/Metallhydrid-Bat-
schen Energiespeicher in einem Vergleich der Ener- terien zum Einsatz.
giedichte über Leistungsdichte (Bild 4.3-45), so Alternativ zu den Nickel/Metallhydrid-Batterien kom-
drängt sich zunächst der Gedanke an Superkondensa- men Lithium-Ionen-Batterien für Hybridanwendun-
toren oder Schwungräder auf. Wegen der geringen gen zum Einsatz, deren spezifische Leistung und
Energiedichte ergibt sich bei dem benötigten Energie- Energie über den Nickel/Metallhydridsystemen liegen.
inhalt für die Superkondensatoren jedoch ein relativ Bei Nickeloxid als positivem Elektrodenmaterial be-
großer Bauraum- und Gewichtsbedarf und hohe Kos- steht Entwicklungsbedarf bzgl. Crash- und Betriebs-
ten. Man findet deshalb auch Vorschläge für Kombi- sicherheit, bei Manganoxid hingegen bzgl. Lebens-
nationen aus Batterien und Superkondensatoren. Das dauer.
Problem dabei ist die deutlich höhere Abhängigkeit Wesentliche Auslegungsgrößen für eine Hybridbatte-
der Spannung vom Ladezustand bei Superkondensa- rie sind die erforderliche Leistung und der Energiein-
toren gegenüber Batterien, wodurch entweder nur ein halt, deren Verhältnis auch den Zelltyp bestimmt. Die
kleiner Teil des Energieinhalts ausgenutzt werden Wahl der Zellgröße und damit deren Anzahl be-
kann oder zusätzliche Spannungswandler erforderlich stimmt die Spannungslage, die unter Einbeziehung
werden. der Leistungselektronik, des E-Motors und der Ver-
Für Schwungräder in einer automobilen Anwendung kabelung nach Kosten und Funktion optimiert werden
sind die Entwicklungsaufgaben hinsichtlich Betriebs- kann. Weitere wichtige Batteriekriterien sind das
sicherheit, Crashverhalten, Dauerverlusten, Packaging Temperaturverhalten, die Recyclingfähigkeit und das
4.3 Neuartige Antriebe 145

Verhalten der Batterie bei Betriebsstörungen und Un- Nähe von Motor und Getriebe eröffnet. Die Techno-
fällen. logie ist allerdings noch im Laborstadium. Carbon-
Um die einwandfreie Funktion der Batterie zu ge- NanoTube (CNT) Transistoren lassen auf Grund der
währleisten, werden die Batterien mit einem eigenen Materialeigenschaften sehr gute Leistungsdaten er-
Steuergerät ausgerüstet, häufig als Batteriemanage- warten, sind aber noch in einem frühen Forschungs-
mentsystem bezeichnet. Dessen typische Funktionen stadium.
sind die laufende Überwachung des Batterieladezu- Ein hohes Differenzierungspotenzial bzgl. Wirkungs-
standes, der Ströme, Spannungen und Temperaturen. grad und funktionaler Kundenwahrnehmung liegt in
Das Batteriemanagementsystem steuert häufig auch der Regelungstechnik und der Betriebsstrategie der E-
die Batteriekühlung und schützt die Batterie vor Antriebe. Hier gehen die Automobilhersteller z.T.
Missbrauch. eigene Wege.

Getriebe
4.3.3.6 Fahrzeugintegration
Alle heute bekannten Getriebetypen können mit aus-
gesuchten Hybridkonzepten kombiniert werden. Spe-
Eine große Herausforderung bzgl. einer Anwendung
zielle Hybridgetriebe, z.B. mit Leistungsverzwei-
liegt in der Unterbringung der zusätzlichen Hybrid-
gung, können die herkömmlichen Getriebe aber auch
komponenten, welche sich besonders schwierig ge-
gänzlich ersetzen. Auch beim seriellen Hybriden wird
staltet, wenn das Zielfahrzeug auf konventionellen
kein herkömmliches Getriebe mehr benötigt.
Antrieb ausgelegt wurde. Wird das Hybridfahrzeug
Durch eine Anfahrunterstützung mittels E-Motor
auch rein elektrisch bei abgestelltem Verbrennungs-
können die Anfahrelemente Kupplung oder Wandler
motor bewegt, so muss besonderes Augenmerk auf
vereinfacht oder gänzlich ersetzt werden.
den Betrieb der normalerweise vom Verbrennungs-
Grundsätzlich empfiehlt sich zur Entlastung des Fah-
motor angetriebenen Nebenaggregate Lenkung, Un-
rers, die Schaltungen sowie das Zu- und Abkuppeln
terdruckpumpe und Klimakompressor gelegt wer-
von Maschinen zu automatisieren.
den. Durch die zunehmende Einführung elektrischer
Lenksysteme auf 12 V Basis auch bei konventionel-
Elektromaschinen und Leistungselektronik
len Fahrzeugen sind für das Lenkungsproblem Lö-
Bzgl. der Grundlagen zu elektrischen Antrieben ver- sungen verfügbar. Mit der Verbreitung von Hybrid-
weisen wir auf das Kapitel „Elektroauto“. Beim Hyb- fahrzeugen kamen auch elektrische Klimakompres-
ridantrieb sind die Maschinen i.d.R. im Antrieb soren für den Betrieb mit üblichen Traktionsspannun-
integriert, wodurch das erzielbare Moment im zur gen von 100 bis 350 V auf den Markt. Auch muss das
Verfügung stehenden Bauraum die ausschlaggebende Zusammenspiel der Fahrzeugbremsanlage mit der
Größe für die Maschinenauswahl wird. Deshalb ha- Rekuperationsbremse sowie der Hybridtraktionskom-
ben sich in heutigen Hybridanwendungen permanent ponenten mit Sicherheitssystemen wie Anti-Blockier-
erregte Synchronmaschinen durchgesetzt. Auch bei System oder Fahrstabilitätsregelungen optimiert wer-
der Leistungselektronik steht die Fahrzeugintegration den.
im Vordergrund: So liegt die spezifische Leistung Zur Versorgung des 12 V Bordnetzes werden DC/DC
heute bei ca. 25 kW/l und damit um den Faktor 10 Wandler eingesetzt, die die Energie aus dem Hoch-
höher als bei der ersten Markteinführung von Hybrid- voltnetz des Fahrzeugs zur Verfügung stellen. Bei
fahrzeugen. Der Fokus liegt hierbei auf der Entwick- korrekter Auslegung ist dieser Weg nicht nur energe-
lung der Leistungshalbleiter und natürlich deren tisch günstiger, es können auch längere Verbren-
Packaging und Kühlung. Für mittlere Leistungen und nungsmotor-Stopp- Zeiten überbrückt werden.
bis ca. 200 V haben sich Metal Oxide Semiconductor Zum Schutz der Insassen und empfindlicher elektro-
Feldeffekttransistoren (MOSFETs) etabliert. Insula- nischer Systeme vor elektromagnetischen Wellen aus
ted-GateBipolar Transistoren (IGBTs) werden bevor- dem Antrieb muß auf die Kabelverlegung und geeig-
zugt für mittlere und hohe Leistungen im Spannungs- nete Schirmungsmaßnahmen im Fahrzeug geach-
bereich >200 V eingesetzt. IGBTs bieten noch Ent- tet werden. Die hohe Spannung der Traktionskompo-
wicklungspotenzial in der Leistungsdichte, z.B. durch nenten erfordert entsprechende Kennzeichnungen im
reduzierte Verlustleistung auf Grund verbesserter Fahrzeug, geeignete Schulung von Werkstattpersonal
Dünnwafertechnologie. So soll die 6. Generation sowie Sicherheitsabschaltungen bei unsachgemäßem
IGBT von Infineon (Markteinführung 2012 geplant) Zugriff.
trotz verbesserter Leistungsdaten gegenüber der Das Thema Geräuschkomfort erhält beim Hybriden
aktuellen 5. Generation nur ca. 75 % der Chipfläche eine neue Dimension. Bei abgeschaltetem Verbren-
benötigen. Siliziumcarbid (SiC) Transistoren zeich- nungsmotor treten bislang nicht störende Hinter-
nen sich durch sehr gute Wirkungsgrade und hohe grundgeräusche stärker in den Vordergrund. Auch
thermische Belastbarkeit aus, was neue Perspektiven das Zu- und Abschalten des Verbrennungsmotors
für die Integration der Leistungselektronik in der muss diesbezüglich komfortabel gelöst sein.
146 4 Formen und neue Konzepte

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7. Braunschweiger Symposium vom 24. Februar 2010 CAPACITOR – Where and When ever Power needed, EVS25
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[7] Fleckner, M.; Dr. Göhring, M.; Dr. Spiegel, L.: Dr. Ing. h.c. F.
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Fahrzeug- und Motorentechnik, 18. Aachener Kolloquium vom
06. Oktober 2009 4.3.4.1 Stirlingmotor
[8] Duhme, M.; Dr. Saenger Zetina, S.; Neiß, K.: Daimler AG, Der
Mercedes-Benz ML 450 HYBRID und das Potenzial des elektri- Der Stirlingmotor arbeitet mit kontinuierlicher äuße-
schen CVT-Getriebes, Fahrzeug- und Motorentechnik, 18. Aa- rer Wärmezufuhr oder Verbrennung und äußerer
chener Kolloquium vom 05. Oktober 2009 Kühlung [1]. Ein Wärmetauscher überträgt die Wär-
[9] Hartmann, B.: RWTH Aachen, Christian Renner, Forschungsge-
sellschaft Kraftfahrwesen mbH Aachen, „Autark, Plug-In oder
me auf das Arbeitsgas (z.B. Helium) im Zylinder.
Range Extender? Ein simulationsgestützter Vergleich aktueller Mithilfe eines Verdrängers wird das Arbeitsgas
Hybridfahrzeugkonzepte“, Fahrzeug- und Motorentechnik, 18. zwischen einem Raum mit konstant höherer Tempe-
Aachener Kolloquium vom 06. Oktober 2009 ratur und einem Raum mit konstant niedrigerer Tem-
[10] Dr. Lindemann, M.; Dr. Wolter, Th.-M.; Dr. Freimann, R.;
Fengler, S.: IAV GmbH, „Konfiguration von Hybridantriebs-
peratur hin- und hergeschoben, wodurch der Innen-
strängen mittels Simulation“, ATZ 2009-05, S. 332–338 druck periodisch schwankt. Die Druckschwankungen
[11] Brachmann, Th.: Honda R&D Europe (Deutschland), „Hondas werden über einen Arbeitskolben und einen Kurbel-
heutige und zukünftige Hybrid- und Brennstoffzellenfahrzeuge“, trieb in kinetische Energie umgesetzt. Ein Kühler
Hybridfahrzeuge und Energiemanagement, 6. Braunschweiger
Symposium vom 18. Februar 2009
entzieht dabei dem Stirlingmotor die abzuführende
[12] Dr. Pullen, K.: University of London, Chris Ellis, HyKinesys Wärme. Zur Steigerung des Wirkungsgrades ist zwi-
Inc, “The Vehicle as Kinetic Energy System”, ATZautotechnol- schen dem heißen und dem kalten Raum ein Regene-
ogy 2008-10, Volume 8 S. 54 – 57 rator angeordnet [2] (vgl. Bild 4.3-47).
[13] Sontheim, J.: Compact Dynamics GmbH, „Kinetischer Speicher
für Hybridfahrzeuge – Die mechanische Batterie“, ATZ Ausgabe Der ideale Zyklus des Stirlingprozesses (geschlosse-
2008-03, S. 226 – 231 ner Kreisprozess mit kontinuierlicher Wärmezufuhr)
[14] Dipl.-Ing. Köhler, J.; Dipl.-Ing. Mauz, Th.; Dipl.-Ing. Schnur, J.: ist durch zwei Isothermen und zwei Isochoren be-
ZF Friedrichshafen AG, „Systematische Entwicklung von Simu- schreibbar. In Bild 4.3-46 ist der ideale Kreisprozess
lationsmodellen und Fahrstrategien für frei konfigurierbare hyb-
ride Antriebe“, VDI Kongress „Berechnung und Simulation im des Stirlingmotors als p-V- und T-S-Diagramm darge-
Fahrzeugbau“, September 2006, Würzburg stellt, wobei p den Druck, V das Volumen, T die
[15] Toyota Motor Corporation, www.toyota.co.jp: Toyota Hybrid Temperatur und S die Entropie bezeichnet. Beim
System THS II (04/2003), Dave Hermance, Toyota Technical Motorprozess wird der Zyklus rechtsläufig und bei
Centre, “GS 450H”, Long Lead Press Preview 04/2006
[16] Iijima, T.: Honda R&D Co. Ltd, „Development of Hybrid der Kältemaschine und bei der Wärmepumpe links-
System for 2006 Compact Sedan“, SAE Nr. 2006-01-1503 läufig realisiert.
[17] Nitz, L.; Dr. Truckenbrodt, A.; Dr. Epple, W.: „Das neue Two- Die Einzelschritte des idealen Kreisprozesses sind:
Mode-Hybrid-System der Global Hybrid Cooperation“, 27. In- Von 1 nach 2, isotherme Kompression: Das Arbeits-
ternationales Wiener Motorensymposium 2006
[18] Hata, H.; Kojima, M.; Watanabe, H.; Mizutani, T.; Kamiya, M.; gas wird nach der adiabaten Verdichtung in einem
Yanagida, E.; Takizawa, K.: Toyota Motor Corp.: „Development Kühler auf seine Anfangstemperatur gekühlt, wobei
of a New Hybrid Transmission for FWD Sports Utility Vehi- die Wärme an die Umgebung oder an ein aufzuhei-
cles“, SAE Nr. 2005-01-272, Detroit zendes Medium abgegeben wird.
[19] Kimura, A.; Ando, I.; Itagaki, K.: Toyota Motor Corp. : „Devel-
opment of Hybrid System for SUV“, SAE Nr. 2005-01-0273, Von 2 nach 3, isochore Wärmeaufnahme: In einem
Detroit Regenerator wird Wärme aufgenommen.
4.3 Neuartige Antriebe 147

Druck p Temperatur T
Isochore Isotherme
Isochore
Isotherme T3 = Tmax 4
3 3

4
realer Prozess realer Prozess
idealer Prozess
2 idealer Prozess
T1 = Tmin Bild 4.3-46 Kreisprozess
1 2 1
im Stirlingmotor:
Volumen V Entropie S
V2 = V3 V1 = V4 (a) p-V-Diagramm,
(a) (b)
(b) T-s-Diagramm

Von 3 nach 4, isotherme Expansion: Das Arbeitsgas Wärmeübertrager und Überströmleitungen nicht zu
wird nach adiabater Expansion im Erhitzer auf den vermeiden. Dabei kann das Wärmeübertragervolu-
Ausgangszustand erhitzt, wobei eine Zufuhr von men in keinem Fall zu null werden. Die Wärme-
Wärme durch eine äußere, kontinuierliche Verbren- zufuhr und Wärmeabfuhr erfolgt nicht nur wie ge-
nung notwendig ist. In diesem Teilschritt wird die wünscht über die Zylinderwände, sondern es tritt
kinetische Energie abgegeben. auch eine schwer vermeidbare, schädliche und direkte
Von 4 nach 1, isochore Wärmeabfuhr: Im Regenera- Wärmeleitung zwischen heißem und kaltem Raum
tor wird Wärme abgegeben. auf, die nicht zur Erzeugung kinetischer Energie
Der Wirkungsgrad η des idealen Kreisprozesses ist beiträgt. Auch der Wärmeübertrager arbeitet nicht
gleich dem Carnot-Wirkungsgrad, d.h.: ideal, da seine Temperatur räumlich und zeitlich nicht
konstant ist.
η = 1 – T1/T3 = 1 –Tmin/Tmax (Bild 4.3-46).
Die Anzahl der gebräuchlichsten Bauarten von Stir-
Als Arbeitsmedium für den geschlossenen Kreispro- lingmaschinen als Antriebsmaschinen sind vielfältig
zess werden fast ausschließ1ich Gase wie Wasser- und werden in der weiteren Fachliteratur ausführ-
stoff, Helium, Stickstoff und Luft verwendet. An das licher beschrieben (vgl. [5]).
Arbeitsmedium werden die Anforderungen wie hohe Ein meist mechanisches Triebwerk wandelt die line-
spezifische Wärmekapazität, niedrige Dichte, niedri- are Kolbenbewegung in eine Drehbewegung um. Es
ge Viskosität und hohe Wärmeleitfähigkeit gestellt. werden u.a. Kurbel-, Rhomben- und Schiefschei-
Gut geeignet sind Helium und Wasserstoff. Der bentriebwerke unterschieden, aber auch Triebwerke
mittlere Prozessdruck, der für eine optimale Leis- mit hydrostatischen Verdrängern und Kolben sind
tungsdichte möglichst hoch gewählt werden sollte, bekannt [5]. Die Bauweise als Rotationskolben-
beträgt in der Praxis zwischen 2 und 20 MPa [3]. maschinen wird bei Stirlingmotoren ebenfalls ange-
In der Praxis ergeben sich folgende Abweichungen wendet. Gemeinsames Kennzeichen ist, dass die
vom idealen Stirlingprozess [4]: Im Bild 4.3-46 sieht Bewegungen von Arbeitskolben und Verdrängern
man den idealen Zyklus des Stirlingprozesses. Die gekoppelt ablaufen. Moderne Motoren arbeiten als
Verwirklichung des Stirlingprozesses setzt ideale, doppelt wirkende Motoren mit mehreren Zylindern
diskontinuierliche Kolbenbewegung voraus. Dieses mit geeigneter Phasenverschiebung.
ist beim Einsatz realer kinematischer Triebwerke Vorteile des Stirlingmotors gegenüber Motoren mit
nicht möglich. Des Weiteren ist ein Totraum durch innerer Verbrennung [6] ergeben sich aufgrund der

a) b)

1
3
1
5 2
6 3
4
5
7 6

(1) (2) (3) (4)

Bild 4.3-47 Stirlingmotor: (a) Axialer Aufbau, (b) Funktionsprinzip


1 heißer Raum; 2 Regenerator (am Umfang); 3 Verdrängerkolben; 4 Luftbewegung; 5 kalter Raum; 6 Arbeits-
kolben; 7 Kurbeltrieb. Die Kolbenstellungen (1), (2), (3) und (4) entsprechen den Diagrammeckpunkten des
Stirling-Vergleichsprozesses im p-V- und im T-S-Diagramm (vgl. Bild 4.3-46)
148 4 Formen und neue Konzepte

kontinuierlichen äußeren Verbrennung. Es sind be-


liebige Wärmequellen oder Treibstoffe nutzbar. Es
können sehr niedrige Emissionen aller limitierten
Schadstoffe HC, CO, NOx, erreicht werden, insbeson-
dere bei Verwendung von katalytischen Brenn-
kammern. Stirlingmotoren haben einen hohen Wir-
kungsgrad im Bestpunkt, mit Hubraumregelung kön-
nen sie auch gute Teillastwirkungsgrade erreichen
[7]. Gegenüber Motoren mit innerer Verbrennung
haben sie eine für Fahrzeugantriebe besonders güns-
tige Drehzahl-Drehmoment-Charakteristik, da sie
vom im Stillstand an Drehmoment erzeugen können Bild 4.3-48 Dreizylinder Dampfmotor im Motor-
und kein Starter erforderlich ist. Vorteilhaft ist auch raum eines Pkw (IAV GmbH)
ihr Vibrations- und Geräuschverhalten [8].
Nachteile im Vergleich zu Verbrennungsmotoren mit ger, einem Überhitzer und einem Kondensator. Die
innerer Verbrennung sind u.a. ein langsameres Dreh- Wärmeerzeugung erfolgt wie beim Stirlingmotor mit
moment-Ansprechverhalten (außer bei Stirlingmoto- einem Brenner, so dass auch hier geringe Emissions-
ren mit Hubraumregelung), da die zur Drehmoment- werte erreicht werden. Ein mit Dampfmotor ausge-
erhöhung erforderliche Zunahme der Wärmezufuhr rüsteter Pkw ist in der Lage, ohne zusätzlich Abgas-
infolge von Wärmekapazitäten nicht beliebig schnell nachbehandlung die höchsten Emissionsanforderun-
erfolgen kann; auch bei einem Kaltstart muss erst gen zu erfüllen [13].
vorgeheizt werden [7]. Der Bauraumbedarf der Stir- Fahrzeugantriebe mit Dampfmotoren kommen ohne
lingmotoren ist wegen der Wärmetauscher recht groß, Kupplung und Getriebe aus, da diese Motorart wie
die Fertigungskosten sind wegen der aufwändigen auch der Stirlingmotor bereits im Stillstand ein hohes
Bauweise auch bei einer Serienfertigung höher als bei Drehmoment entwickeln kann. Schon vor über hun-
Motoren mit innerer Verbrennung [8]. dert Jahren ist daher dieser zum Fahrzeugantrieb
Kennwerte von Stirlingmotoren wegen seiner Drehmoment-Drehzahl-Charakteristik
besonders gut geeignete Motor auch in Pkw einge-
Tabelle 4.3-8 gibt einen Überblick über den Bereich setzt worden. Es gibt auch aktuelle Fahrzeugprototy-
der Kennwerte heutiger Stirlingmotoren. Wegen der pen mit Dampfmotor, jedoch keine Serienanwendun-
vielfältigen Bauarten und Anwendungen können die gen. In neuerer Zeit stellte ein automobiltechnisches
spezifischen Leistungsgrößen und die Kosten sehr Forschungs- und Entwicklungsunternehmen erneut
unterschiedlich sein (vgl. [9 – 11]). einen Pkw mit Dampfmotor vor (siehe Bild 4.3-48).
Bild 4.3-49 zeigt einen Schnitt durch einen modernen
Tabelle 4.3-8 Kennwerte von Stirlingmotoren Dampfmotor inkl. Brenner und Dampferzeugungsan-
Kennwert Zahlenwert Einheit lage.
Die Übertragung der kinetischen Energie erfolgt in
Spezifische Leistung 100 … 500 W/kg einer Kolbenmaschine mit geschlossenen Prozesszyk-
Leistungsdichte 50 … 500 W/l lus mittels Phasenumwandlungen des Arbeitsmedi-
Wirkungsgrad Teillast 30 % ums (z.B. Rankine-Prozess). Prozessbedingt ist der
Wirkungsgrad Bestpunkt 40 % Volllastwirkungsgrad des Dampfmotors im Vergleich
Kosten 50 … 1.500 €/kW zu dem des Dieselmotors mit Direkteinspritzung
Lebensdauer (Betrieb) > 11.000 h etwas geringer. Durch den günstigeren Wirkungs-
grad im Teillastbereich ergibt sich aber sowohl im
4.3.4.2 Dampfmotor normalen Fahrbetrieb, als auch z.B. nach dem Neuen
Stirlingmotor und Dampfmotor arbeiten mit äußerer Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) ein äußerst niedri-
Wärmezufuhr (Verbrennung), während das Arbeits- ger Kraftstoffverbrauch [14].
medium in einem inneren geschlossenen Kreislauf Die weiteren Vor- und Nachteile entsprechen etwa
geführt wird. Gegenüber dem Stirlingmotor, der als denen des Stirlingmotors, wobei der Dampfmotor das
Arbeitsmedium verschiedene Gase hat, arbeitet der Potenzial hat, deutlich kompakter gebaut werden zu
Dampfmotor mit Wasser oder organischen Flüssig- können. Trotz einiger Vorteile haben sich Dampf-
keiten (z.B. Pyridin). In einem Kraftfahrzeug ist bei und Stirlingmotoren jedoch nie gegen die Verbren-
der Wahl des Arbeitsmediums auch dessen Winter- nungsmotoren mit innerer Verbrennung durchsetzen
tauglichkeit, seine Toxizität, seine Gefährlichkeit können. Die Gründe hierfür sind in einigen Nachtei-
(z.B. Brennbarkeit) und seine Umweltverträglichkeit len bei der Anwendung, wie z.B. der Vorheizzeit bis
zu beachten [12]. Der Wärmeübergang zum und vom zur Betriebsbereitschaft nach einem Kaltstart und
Medium findet hier nicht im Motor selbst statt (wie dem langsamen Ansprechen beim Beschleunigen zu
beim Stirlingmotor), sondern in einem Dampferzeu- sehen.
4.3 Neuartige Antriebe 149

Injektor/
Einspritzventil

Brenner B

Brenner A
Speise- Überhitzer
wasser
Abdampfwärme- Mischkammer
übertrager
Abdampf
Dampferzeuger
Hubraum

Kurbeltrieb
Abgaswärme- Bild 4.3-49 Schnitt durch
übertrager einen Dampfmotor incl.
Brenner und Dampferzeu-
Abgas
gungsanlage (IAV GmbH)

Zwischenkühler oder Zwischenverbrennungseinheit


4.3.4.3 Gasturbine
zur Verbesserung des thermischen Wirkungsgrades
Die Gasturbine ist eine Verbrennungskraftmaschine [3].
mit kontinuierlicher innerer Verbrennung [29]. Die Bei der Einwellen-Gasturbine sind Verdichter und
für die Oxidation des Brennstoffes benötigte Luft Nutzturbine auf einer Welle angeordnet. Diese einfa-
durchläuft die einzelnen Zustandsänderungen des che Bauweise weist einen für Kraftfahrzeuge ungüns-
offenen Kreisprozesses in voneinander räumlich ge- tigen Drehmoment-Drehzahlverlauf beim Anfahren
trennten Bauteilen wie Verdichter, Brennkammer, auf, da die Verdichterdrehzahl zu jedem Zeitpunkt
Turbine(n), die durch Diffusoren oder Spiralen mit- gleich der Drehzahl der Abtriebswelle ist. Unproble-
einander verbunden sind. matisch ist dieses Drehmomentenverhalten jedoch bei
In einer Gasturbine wird die kontinuierlich durch einem seriellen Hybrid, bei dem die Gasturbine direkt
einen Filter und einen Schalldämpfer angesaugte einen Generator antreibt [16].
Frischluft mit Atmosphärendruck in einem Radial- Bei der Zweiwellen-Gasturbine (vgl. Bild 4.3-50)
oder Axialverdichter auf den Arbeitsdruck kompri- sind Gaserzeugerwelle (mit Verdichter, Verdichter-
miert, anschließend in einem Wärmetauscher vorge- turbine und Hilfsgetriebe) und Abtriebswelle mit
wärmt und in eine Brennkammer geleitet. In diese Nutzturbine mechanisch voneinander entkoppelt. Der
wird kontinuierlich gasförmiger oder flüssiger Brenn- Drehmomentenverlauf der Zweiwellengasturbine ist
stoff eingespritzt und durch eine Initialzündung mit deutlich günstiger und für den direkten mechanischen
einem Teil des Luftstromes gezündet. Durch Zumi- Fahrzeugantrieb besser geeignet als der einer Einwel-
schen der restlichen Luft kühlen sich die Verbren- len-Gasturbine. Um den Kraftstoffverbrauch bei
nungsgase auf etwa 1.300 K am Turbineneintritt ab. Fahrzeuggasturbinen im Teillast- und Leerlaufver-
Sie geben ihre Energie über ein bis drei Turbinenstu- brauch zu verringern sowie das Beschleunigungsver-
fen ab, die auf einer gemeinsamen Welle oder auf halten zu verbessern, erfolgt die Lastregelung über
getrennten Wellen angeordnet sein können. Das die Regelung der Arbeitsgastemperatur oder über
Gasgemisch expandiert in der Turbine, die mit einem verstellbare Leitschaufeln an Turbine und Verdichter.
Teil der Leistung den Verdichter antreibt und den Bei der Dreiwellen-Gasturbine ist die Kompression
Rest als Nutzleistung an der Welle abgibt. Die restli- zweistufig mit einer Zwischenkühlung und zwischen
chen bei der Verbrennung entstandenen heißen Gase den Turbinenstufen ist eine zweite Verbrennung
durchströmen den Wärmetauscher und liefern so die vorgesehen, wodurch die Verbrauchscharakteristik
Energie für die Vorerhitzung der Ansaugluft. Die sehr mit höherem Bauaufwand und größerer Komplexität
hohe Drehzahl der Arbeitsturbine wird über eine weiter verbessert werden kann.
starke Untersetzung (Reduziergetriebe) auf die übli- Als Brennstoffe für Gasturbinen im Fahrzeug kom-
che Getriebeeingangsdrehzahl herabgesetzt [15]. Die men Diesel- oder Otto-Kraftstoffe, aber auch alterna-
Verdichterturbine wird auch genutzt, um Hilfsaggre- tive Kohlenwasserstoffe, Erd- und Kohlegase oder
gate wie Lichtmaschine oder Hydraulikpumpen an- sogar Kohlenstaub in Frage. Der Verbrennungsvor-
zutreiben. Wegen ihrer hohen Arbeitsdrehzahl haben gang erfolgt kontinuierlich mit hohem Luftüberschuss
Gasturbinen, bezogen auf die ihre Leistung, ein sehr und wird durch Beimischen von kalter Luft bei Ein-
geringes Gewicht. tritt in die Brennkammer der Gasturbine so geführt,
Die Bauarten für Gasturbinen für den Einsatz in dass die Verbrennungstemperaturen mit 1.300 K nie-
Kraftfahrzeugen unterscheiden sich in der Anzahl der driger liegen als die Spitzentemperaturen von Ver-
Wellen und der Einzelaggregate wie Wärmetauscher, brennungsmotoren mit diskontinuierlicher innerer
150 4 Formen und neue Konzepte

Wärmetauscher
Abgasaustritt

Automatisiertes
Turbine Getriebe
(Verdichterantrieb)

Verdichter

Lufteintritt Kraftstoffeinspritzdüse

Arbeitsturbine
(Fahrzeugantrieb)
Bild 4.3-50 Gasturbine für
Brennkammer den Pkw-Einsatz (Daimler-
Benz Forschung)

Tabelle 4.3-9 Kennwerte von Gasturbinen 4.3.4.4 Schwungrad


Ein Schwungrad ist ein mechanischer Energiespei-
Kennwert Zahlenwert Einheit
cher, mit dem Energie als kinetische Energie (Bewe-
Spezifische Leistung 300 … 500 W/kg gungsenergie) einer rotierenden Masse übertragen
Leistungsdichte 200 … 400 W/l werden kann. Häufig werden Schwungräder zum
Wirkungsgrad Teillast 10 … 15 % Ausgleich von kurzzeitigen Lastschwankungen, zur
Wirkungsgrad Bestpunkt 25 … 40 % Erzielung hoher Leistungsspitzen und zur Überbrü-
Kosten 15 … 25 €/kW ckung von Leistungsunterbrechungen verwendet. Es
Lebensdauer (Betrieb) 2.000 … 4.000 h kann auch zur Speicherung von Energie ähnlich
einem elektrischen Kondensator oder einer elektro-
chemischen Batterie eingesetzt werden.
In Fahrzeugen kann mit einem Schwungrad (Energie-
Verbrennung. Das hat zur Folge, dass der Treibstoff- speicher) die nicht genutzte kinetische Energie beim
verbrauch des kontinuierlichen Prozesses der Ver- Abbremsen des Fahrzeuges zurückgewinnen. Bei
brennung in bisher für den Einsatz in Fahrzeugen einem regenerativen Bremsvorgang wird die kineti-
verfügbaren Gasturbinen zwar höher ist als die von sche Energie auf ein oder mehrere Schwungräder
herkömmlichen Verbrennungsmotoren, die erreichba- übertragen und so gespeichert. Diese gespeicherte
ren CO-, HC- und mit Einschränkung auch die NOx- Energie kann während eines Beschleunigungsvor-
Emissionen aber deutlich darunter liegen. gangs wieder auf das Fahrzeug übertragen werden
Bei einem Gasturbinenantrieb für Pkw (Bild 4.3-50) [18].
oder Lkw stehen den günstigen Emissionswerten und Die im Schwungrad gespeicherte Energie W lässt sich
Vorteilen wie Vielstofffähigkeit, günstige Drehmo- aus dem Massenträgheitsmoment J und der Winkel-
mentcharakteristik, geringe Vibrationen, lange War- geschwindigkeit ω des Schwungrades zu W = 1/2Jω2
tungsintervalle ein deutlich höherer Kraftstoffver- berechnen. Das Massenträgheitsmoment J ist dabei
brauch, die für gute Wirkungsgrade erforderlichen proportional zur Masse und zu dem Quadrat ihres Ab-
großen Wärmetauscher, für den Serieneinsatz im standes r von der Drehachse. Je nach radialer Mas-
Fahrzeug noch nicht wirtschaftlich verfügbare Mate- senverteilung muss dabei ein Formfaktor Kf berück-
rialien für Bauteile der Brennkammern (hochtempera- sichtigt werden. Der Wert des Formfaktors Kf liegt,
turfeste Keramiken wie Si3N4, SiC, Glaskeramiken), jeweils bezogen auf den gleichen Außendurchmesser,
eingeschränkte Eignung für kleinere Baugrößen so- z.B. bei einem dünnen Kreisring bei 1, bei einer
wie ein schlechteres Ansprechverhalten als Nachteile gelochten Kreisscheibe bei der der Innendurchmesser
gegenüber. Der Haupteinsatzbereich liegt heute daher halb so groß ist wie der Außendurchmesser bei 0,75
überwiegend bei großen Militärfahrzeugen [17]. und bei einem massiven Zylinder bei 0,5. Die je
4.3 Neuartige Antriebe 151

Masseneinheit maximal speicherbare Energie, auch mit dem Schwungradrotor zu einer mechanischen
massespezifische Energiedichte des Schwungrades Einheit verbundenen ist, ausgeführt (vgl. Bild 4.3-51).
genannt, wird durch das Verhältnis von Zugfestigkeit Rein mechanische Energieübertragung mit einem
σ zu Dichte ρ des verwendeten Materials und durch CVT-Getriebe ist bisher nur in besonderen Einzelfäl-
den Formfaktor Kf beschrieben. Aus der massespezi- len eingesetzt worden [22].
fischen Energie (W/m, dabei sind W = Energie und Schwungräder werden heute nicht mehr aus hochzug-
m = Masse des Schwungrads) kann aber auch das festen Walz- und Schmiedestählen hergestellt, son-
Quadrat der maximalen Umfangsgeschwindigkeit vmax dern aus Faserverbundwerkstoffen, mit denen deutlich
berechnet werden: höhere Energiedichten entsprechend dem Verhältnis
W/m = Kfσ /ρ = 1/2Kf v2max. von Zugfestigkeit σ zu Werkstoffdichte ρ realisiert
werden können. Tabelle 4.3-10 zeigt die massebezo-
Hohe spezifische Energiedichten lassen sich also mit gene speicherbare Energie und die dazu gehörige
hoher Zugfestigkeit und kleiner Dichte des Materials maximale Umfangsgeschwindigkeit bei Schwungrä-
und weitgehender Konzentration der Masse am Um- dern aus Stahl, Titan, GFK (Glasfaser-Epoxidharz)
fang des Schwungrades realisieren. Als Kenngröße und CFK (Karbonfaser-Epoxidharz). Die Werte der
für die Leistungsfähigkeit eines Schwungrades kann speicherbaren Energie sind, wie in der Literatur oft
auch die maximale Umfangsgeschwindigkeit angege- angegeben, allein auf die Masse des Schwungrades
ben werden [19]. bezogen. Praktisch erreichbare spezifische Werte des
Schwungradspeicher werden im Betrieb nicht ganz Gesamtsystems Schwungrad sind durch Berücksich-
entladen, da bei niedrigen Drehzahlen nur noch kleine tigung eines Sicherheitsfaktors und der Massen von
Leistungen übertragen werden können. Mit der mi- Antrieb, Lagern, Gehäuse, kardanischer Lagerung
nimalen Winkelgeschwindigkeit ωmin und der maxi- usw. deutlich kleiner [23].
malen Winkelgeschwindigkeit ωmax ergibt sich der Das Gehäuse eines Schwungradspeichers soll einer-
technisch nutzbare Energieinhalt des Schwungrades seits zur Reduzierung der Gasreibungsverluste den
zu W = 1/2J(ω2max – ω2min). Liegt die minimale Dreh- Betrieb des Rotors in einer Atmosphäre geringen
zahl bei der Hälfte der Maximaldrehzahl, kann drei-
viertel der insgesamt speicherbaren Energie technisch
genutzt werden [20].
Ein Schwungradspeichersystem besteht aus dem Ro-
tor, dem Gehäuse, den Lagern und einer Energieüber-
tragungseinrichtung zur Kopplung mit dem Fahr-
zeugantrieb. Die nutzbare Leistung des Schwung-
rades hängt, unabhängig von der speicherbaren Ener-
gie, nur von der Leistungsfähigkeit dieser Übertra-
gungseinrichtung ab. Beim Schwungradspeicher sind
also, anders als bei den meisten anderen Energiespei-
chern, speicherbare Energie und zu- bzw. abführbare
Leistung unabhängig voneinander. Die Speicherzeit-
konstante, definiert als Verhältnis der Maximalwerte
von Leistung und Energie, kann also besonders gut an Bild 4.3-51 Elektrodynamischer Schwungradspeicher
die Anforderungen angepasst werden kann [21]. mit permanenterregtem Synchronmotor und vakuum-
Die Energieübertragung kann sowohl mechanisch mit dichtem Schutzgehäuse (Magnet Motor Starnberg):
einem stufenlosen Getriebe (CVT) als auch elektrisch 1 Schutzgehäuse; 2 Permanenterregter Synchron-
mit einem elektromechanischen Energiewandler reali- motor (Stator); 3 Rotor innerhalb des Schwungrades;
siert werden. Dieser wird heute häufig als umrichter- 4 Karbonfaser-Epoxidharz-Wickelkörper; 5 Präzisi-
gespeiste, permanenterregte Synchronmaschine, die onskugellager

Tabelle 4.3-10 Massebezogene speicherbare Energie und dazugehörige maximale Umfangsgeschwindigkeit

Maximale Zugspannung Dichte Massebezogene Maximale


MN/m2 kg/m3 gespeicherte Energie Umfangsgeschwindigkeit
Wh/kg m/s
Stahl 1.500 7.800 53 620
Aluminium 600 2.700 62 667
Titan 1.200 4.500 74 730
GFK 1.600 2.000 222 1.270
CFK 2.000 1.500 444 1.790
152 4 Formen und neue Konzepte

Druckes ermöglichen und andererseits eine Schutz- Tabelle 4.3-11 Kennwerte von elektromechanischen
funktion beim Bersten des Schwungrades erfüllen. Schwungradspeichern (unter Einbeziehung von
Die Lagerung von Schwungrädern muss sehr hohe Schutzgehäuse, Lagern, elektrischem Antrieb und Si-
Sicherheitsanforderungen erfüllen und soll möglichst cherheitseinrichtungen)
geringe Reibungsverluste verursachen. Für schnelllau-
fende Schwungräder kommen keramische Lager mit Kennwert Zahlenwert Einheit
permanentmagnetischer Lagerentlastung oder elektro-
Spezifische Leistung 500 … 4.000 W/kg
magnetische Lager ohne mechanische Berührung zum
Spezifische Energie 5 … 55 Wh/kg
Einsatz. Die Aufhängung des Schwungradspeichers
Speicherzeitkonstante 20 … 200 s
im Fahrzeug erfolgt idealer Weise kardanisch [24], da
Leistungsdichte 700 … 6.000 W/l
dann keine Reaktionskräfte bei Drehungen um die
Energiedichte 10 … 60 Wh/l
Fahrzeugachsen auftreten können. Bei der Aufhän-
Wirkungsgrad je 90 %
gung im Fahrzeug über eine gedämpfte Federung
(Be-/Entladen)
sollten Schwungradsysteme zur Vermeidung von Prä-
Energieverlust im 2 … 10 %/h
zessionskräften beim Kurvenfahren senkrecht aufge-
Leerlauf
hängt werden. Präzessionskräfte [24] können so nur
Kosten 10.000 … 25.000 €/kWh
beim Kippen und bei Steigungsänderungen auftreten.
Lebensdauer 20 A
Über den elektromechanischen Energiewandler wird
Zyklenzahl 1.000.000 Zyklen
die Energie in elektrischer Form eingespeist und ent-
nommen, welche wiederum als kinetische Energie
durch Erhöhung und Verminderung der Drehzahl Formel 1 erneut aufgekommen [26]. Einige der be-
gespeichert wird. deutenden Formel 1-Rennsportteams haben Lösungs-
Schwungradspeicher sind besonders in solchen Fahr- möglichkeiten eines funktionierenden Systems mit
zeugen sinnvoll, bei deren Betrieb häufige Brems- einem Schwungradspeicher entwickelt. So hat bei-
und Beschleunigungsphasen auftreten (z.B. bei Stadt- spielsweise Williams ein Kinetic Energy Recovery
bussen und Bahnen im öffentlichen Nahverkehr [25]). System (KERS) für das Formel 1 Rennfahrzeug in
Sie bilden zusammen mit dem Verbrennungsmotor der Saison 2009 eingesetzt. Dieses KERS besitzt ein
und dem Elektromotor ein Hybridantriebssystem. Bei Schwungrad mit einem Energieinhalt von 400 kJ und
realisierten Hybridbussen mit Schwungradspeicher einer Leistung von 60 kW. Die gespeicherte Energie
liegt die Treibstoffeinsparung bei etwa 25 % gegen- reicht für 6,6 Sekunden zur Beschleunigung des
über Omnibussen ohne Speicherung der kinetischen Fahrzeugs.
Energie, die beim Bremsen anfällt. Ein KERS mit Schwungrad besteht aus den Kom-
Schwungradspeicher stehen bei Hybridantrieben in ponenten Schwungrad, Kupplung und dem Continu-
Konkurrenz zu elektrostatischen Speichern mit Su- ous Variable Transmission (CVT). Ein von der Firma
percaps und elektrochemischen Speichern mit Hoch- Ricardo veröffentlichtes KERS hat ein Schwungrad
leistungsbatterien. Die pro Masse speicherbare Ener- mit einer Energiedichte von 200 kJ/kg bei einer ma-
gie von Schwungrädern ist deutlich höher als die von ximalen Drehzahl von 60.000/min, einem Durchmes-
Supercaps und ihre Lebensdauer deutlich höher als ser von 280 mm und bei einem Gewicht von ca.
die von Batterien. Der Einsatz von Schwungradspei- 13 kg. Dabei kann ein Energieinhalt von 0,5 kWh
chern kann besonders dann wirtschaftlich sinnvoll gespeichert werden [27, 28].
sein, wenn die hohe Lebensdauer von 20 Jahren und
die mögliche Zahl von mehr als 106 Lastzyklen aus-
genutzt werden kann. Literatur
Moderne Schwungradspeicher mit Faserverbundkrei-
[1] Meijer, R. J.: Der Philips-Stirlingmotor (S. 284 – 289). MTZ 29,
sel sind inhärent sicher und stellen auch bei Unfällen Springer Fachverlag, München Mai 1970
keine besondere Gefahr dar, da im Zerstörungsfall der [2] Meijer, R. J.: Prospects of the Stirling Engine for Vehicular
CFK-Rotor in kleine Teile zerfasert [13]. Die Bruch- Propulsion (pp. 245 – 276). Philips Technical Review (Vol. 20),
1970
stücke werden vom Schutzgehäuse aufgefangen, so
[3] Förster, H. J.; Pattas, K.: Fahrzeugantriebe der Zukunft, Teil 1
dass keine schweren Teile nach außen dringen kön- und 2. Sonderdruck aus der Automobilindustrie, Vogel Buch-
nen. Die im Zerstörungsfall frei werdende Energie verlag, Würzburg März 1972 und Januar 1973
würde lediglich eine geringe Erwärmung des zerstör- [4] Künzel, M.: Stirlingmotor der Zukunft. VDI-Verlag, Düsseldorf
1986
ten Systems um 10 bis 20 K verursachen. Die im
[5] Werdich, M.; Kübler, K.: Stirling-Maschinen – Grundlagen,
Falle eines Unfalls vom Schwungrad ausgehende Ge- Technik, Anwendung. Ökobuch Verlag, Freiburg 2001
fahr wäre nicht größer als die, die in diesem Fall von [6] Gelse, W.: Erfahrungen mit Stirlingmotoren bei DB im mobilen
brennbaren Flüssigkeiten und Feststoffen ausgehen Einsatz. Vortrag beim DB-Technologie-Workshop „Stirling-
motor“, Stuttgart 1994
würde (Treibstofftank). [7] Walker, G.: Stirling Powered Regenerative Retarding Propulsion
Interesse an einem System zur Rückgewinnung von System for Automotive Application. Proc. 5th Int. Autoshow,
kinetischer Energie ist in den Rennfahrzeugen der Prop. Systems Symposium, Detroit April 1980
4.3 Neuartige Antriebe 153

[8] Peters, H.: Stirlingmotor – Stand der Technik und An- 4.3.5 Der Wasserstoff-Verbrennungsmotor
wendungsmöglichkeiten. Staatsexamensarbeit, Universität Bonn
(Bonn – IB-96-32), 1996
Die Wasserstoff-Motorenentwicklung konnte in den
[9] Feulner, P.: Five and Six-cylinder Stirling Engines – a first
essay. European Stirling Forum 2002, Fachhochschule Osna- letzten 30 Jahren, beginnend mit den Arbeiten von
brück, September 2002 Erren [1] und Oehmichen [2] sowie durch die Ent-
[10] Schleder F.: Stirlingmotoren. Vogel Buchverlag, Würzburg 2002 wicklungsprogramme von BMW [3] und fortwähren-
[11] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Kraftfahrtechnisches Taschenbuch
de Aktivitäten weiterer Automobilhersteller [4, 5],
27. Aufl. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
[12] v. Fersen, O.: Saab Dampfmotor. Saab Scania, Schweden große Fortschritte verzeichnen. Dabei hat der Otto-
Dezember 1975 motor das größte Potenzial für Automobilanwendun-
[13] v. d. Burg, P.: Moderne Schwungmassenspeicher – eine alte gen gezeigt. Hierfür wurden hauptsächlich Otto-4-
Technologie in neuem Aufschwung. VDI – GET Fachtagung,
Gelsenkirchen 1998
Takt Motoren mit gasförmigem Kraftstoff [6, 7], aber
[14] Mayr, B.; Buschmann, G.; Hoetger, M.; Clemens, H.: Zero auch H2 2-Takt- [8] und Wankel-Motoren [5] entwi-
Emission Engine (ZEE) – Der isotherme Dampfmotor als Fahr- ckelt.
zeugantrieb. VDI Berichte 1565, VDI Verlag, Düsseldorf 2000 H2-Verbrennungsmotoren können auf den entspre-
[15] Förster, H. J.: Stufenlose Fahrzeuggetriebe in mechanischer,
chenden Grundmotoren der Benzinvarianten aufge-
hydrostatischer, hydrodynamischer, elektrischer Bauart und in
Leistungsverzweigung. Verlag TÜV Rheinland, Köln 1996 baut werden [4, 5, 9, 15, 18 – 20]. Sie können sowohl
[16] Seiffert, U.; Walzer, P.: Automobiltechnik der Zukunft. VDI- mit äußerer als auch mit innerer Gemischbildung
Verlag, Düsseldorf 1989 realisiert werden (Bild 4.3-52). Die spezifische Leis-
[17] Walzer, P.: Die Fahrzeug-Gasturbine. VDI-Verlag, Düsseldorf tungsdichte lässt sich durch Aufladung sowohl bei
1991
[18] Biermann, J. W.: Untersuchungen zum Einsatz von Schwungrad- äußerer als auch bei innerer Gemischbildung erheb-
speichern als Antriebselemente für Kraftfahrzeuge. Dissertation lich steigern.
an der RWTH Aachen, 1981 Am Beispiel des BMW 12-Zylindermotors [9, 15],
[19] Widmer J.; Asper H. K.: Woven ribbon composite flywheel with der über ein äußeres H2-Gemischbildungssystem ver-
self-centering hub (Vol. 2., pp. 538 – 543). Proceedings of the
20th Intersociety Energy Conversion Engineering Conference
fügt, zeigen sich typische H2-Entwicklungsumfänge:
IECEC, SAE, USA, Warendale 1985 • Konstruktive Anpassung des Grundmotors
[20] Sprengel, U. et al.: Positionspapier zur Energieversorgung in der
Raumfahrt. Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft-
• Entwicklung H2-Brennverfahren
und Raumfahrt (DLVR), Stuttgart 1986 • Anpassung der Elektronik und Zündung
[21] Reiner, G.; Reiner, K: Energetisches Betriebsverhalten eines per- • Entwicklung der H2-Motorsteuerung inklusive
manenterregen Drehmassenspeichers in Theorie und Praxis. Steuergeräte-entwicklung und Applikation für H2
VDI-Tagung (Energiespeicher für Strom, Wärme und Kälte),
VDI-Berichte 1168, Leipzig 1994
spezifische Funktionen
[22] Tholen, F. J. M.: Development of an Advanced High Speed Der bivalente Betrieb ermöglicht dabei, kunden-
Flywheel Energy Storage System. Thesis Eindhoven University
of Technology, Holland 1993
wertige H2-Fahrzeuge anzubieten, solange noch kein
[23] v. Druten, R. M. et al.: Design Optimization of a Compact Fly- flächendeckendes H2-Tankstellennetz existiert.
wheel System for Passenger Cars (S. 331 – 343). VDI-Bericht
1459 (Hybridantriebe), VDI-Verlag, Düsseldorf 1999 4.3.5.1 Konstruktive Merkmale
[24] Khammas, A.: Buch der Synergie. Syrien, Damaskus 2007
[25] Reiner, G.; Weck, W.: Operation Experience with Magneto- Brennraumgeometrie und Zündanlage sind für Ben-
dynamic Flywheel Storage Systems in Public Transport Buses. zin- und H2-Verbrennung ausgelegt. Der Motor ist als
EESAT 2000, Florida, Orlando September 2000
[26] Kawamura, T.; Atarashi, H.; Takehiro, M.: Development of F1
bivalentes Motorkonzept ausgeführt. Er wird im
KERS motor. Automobile R&D Center, Honda R&D Co., Ltd., Benzinbetrieb wie die Serienvariante mit Direktein-
Japan, November 2010 spritzung und im H2-Betrieb mit äußerer Gemischbil-
[27] Feulner, P.; Atkins, A.: Reducing CO2, The Ricardo Mechanical dung betrieben.
Hybrid Drive, Ricardo Deutschland, Aachen Kolloquium,
Zur Beherrschung irregulärer Verbrennungserschei-
05. Oktober 2010
[28] Feulner, P.; Atkins, A.: Der mechanische Hybridantrieb von nungen (Klopfen, Selbstentflammung, Rückzündung)
Ricardo, Ricardo Deutschland, MTZ, Springer Fachmedien ist das Verdichtungsverhältnis angepasst. Für eine
Wiesbaden GmbH, Februar 2011 ausreichende Wärmeabfuhr im OT-Bereich sind zu-
[29] Buschmann, H.; Koeßler, P.: Handbuch für den Kraftfahr- sätzliche Kühlungsmaßnahmen vorgesehen (Kühl-
zeugingenieur. Gasturbinen (S. 485 – 510), Deutsche Verlags-
Anstalt, Stuttgart Februar 1991 kanalkolben und ein Kurbelgehäuse mit Schlitzen
[30] Kolk, M.: Ein Schwungrad-Energiespeicher mit permanent- zwischen den Zylinderlaufbuchsen für zusätzlichen
magnetischer Lagerung. Bericht des Forschungszentrums Jülich, Kühlmitteldurchfluss). Ein optimiertes Kolbenring-
1997 paket minimiert die Blow-by-Gase. Zur Vermeidung
[31] Steimle, F.: Stirling-Maschinen-Technik: Grundlagen, Konzepte
und Chancen. Verlag C. F. Müller, Heidelberg 1996
von Rückzündungen in das Kurbelgehäuse ist ein
[32] Ter-Gazarian, A.: Energy Storage for Power Systems. Peter zusätzliches Absperrventil in der Zuleitung der Kur-
Peregrinus ltd. 1994 belgehäuse-Entlüftung verbaut. Für den gasmotori-
[33] van Basshuysen, R., Schäfer, F. (Hrsg.): Handbuch Ver- schen Betrieb sind wegen der fehlenden Additive
brennungsmotor. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
[34] Walker, G. et al.: The Stirling Alternative, Power Systems,
Ventilsitzringe aus verschleißoptimierten Legierun-
Refrigerants and Heat Pumps. Gordon and Breach Science Pub- gen ausgewählt. Die H2-Versorgung erfolgt über ein
lishers, 1994 elektromagnetisches Druckregelventil, eine teilweise
154 4 Formen und neue Konzepte

H2-
Verbrennungsmotor

Äußere Innere
Gemischbildung Gemischbildung

Benzin H2-MPI H2-DI


H2-MPI H2-DI
MPI aufgeladen aufgeladen

H2 H2

Benzin Luft Luft Luft Luft


Luft H2 H2

Bild 4.3-52 Gemischheiz-


Kraftstoffvolumen 17 ml 296 ml 296 ml 420 ml 420 ml
werte von unterschiedlichen
Luftvolumen 983 ml 704 ml 704 ml 1000 ml 1000 ml H2-Motorkonzepten im Ver-
Gemischheizwert 100 % 84 % rGem./rgem.0 120 % rGem./rGem.0 gleich zu einem Benzin-
× 84 % × 120 %
motor (MPI)

flexible Edelstahl-Vorlaufleitung, dem motornahen 4.3.5.2 H2-Brennverfahren


H2-Rail, das in die Sauganlage integriert ist und die mit äußerer Gemischbildung
H2-Einblaseventile, die den Wasserstoff sequentiell
der Ansaugluft zuführen (Bild 4.3-53, Bild 4.3-54). Die Gemischbildung von H2 und Luft findet bei
An die H2-führenden Bauteile sind hohe Dichtigkeits- äußerer Gemischbildung im Ansaugtrakt statt. Maxi-
anforderungen gestellt. Eventuell auftretende Lecka- male Leistungsdichten werden mit äußerer Gemisch-
gen werden über einen zentralen H2-Gassensor im bildung im λ = 1-Betrieb realisiert.
Motorraum erkannt. Die Stoffeigenschaften von H2, weite Zündgrenzen,
geringe Zündenergien sowie die große Flamm-
geschwindigkeit für H2-Luft-Gemische erhöhen das
Risiko irregulärer Verbrennungen (Rückzündungen,
Frühzündungen) und sind maßgeblich dafür verant-
wortlich, dass der Betrieb mit λ = 1 eine Herausforde-
rung für die Entwicklung darstellt. Hierbei ist das
Hauptaugenmerk auf die thermische Bauteilstabilität
sowie auf das spezielle H2-Brennverfahren zu legen.
Die Vermeidung von Abgasemissionen bildet neben
der Maximierung der Leistungsdichte eine weitere
wichtige Randbedingung. Bei H2-Verbrennungs-
Bild 4.3-53 H2-Versorgung des Motors: 1 Druckregel- motoren sind Stickoxide (NOx) die einzig relevanten
ventil, 2 Vorlaufleitung, 3 H2-Rail, 4 Einblaseventile Schadstoffemissionen. Aus der Verbrennung von
Schmieröl entstehen ferner minimale CO und HC
Rohemissionen, die im 3-Wege-Katalysator sowohl
im Mager- als auch im λ = 1 Betrieb auf Werte nahe
Null reduziert werden.
Die Bildung von NOx ist abhängig von der Verbren-
nungstemperatur [12, 18]. Magere homogene Wasser-
stoff/Luft-Gemische (λ 1) verbrennen bei niedrigen
Temperaturen, sehr guten Wirkungsgraden und mi-
nimalen NOx-Emissionen, wobei homogene Wasser-
stoff/Luft-Gemische auch noch bei λ ≈ 4 stabil
verbrennen. Daher kann der Motor in einem weiten
Betriebsbereich ungedrosselt qualitätsgeregelt betrie-
ben werden (Bild 4.3-55).
Bei Laststeigerung (λ < 2,0) steigen die Rohemissio-
nen deutlich an und erreichen bei 1,1 < λ < 1,2 ihr
Maximum. Auch bei λ = 1 ergeben sich Rohemissio-
Bild 4.3-54 Einblaseventil nen auf einem hohen Niveau. Im Gegensatz zum Be-
4.3 Neuartige Antriebe 155

ausgeblendeter Bereich

Drehmoment [Nm]
Laststeuerung über
Quantitätsregelung
l = 1 ⇒ Abgasnachbehandlung
⇒ NOx vernachlässigbar
NOx [ppm]

Laststeuerung über
Laststeuerung über Qualitätsregelung
Quantitätsregelung l >> 1 ⇒ Magerbetrieb
⇒ NOx vernachlässigbar

LL-Punkt, l = 4
Drehzahl [1/min]

Laststeuerung über
Qualitätsregelung Bild 4.3-55 NOx-
Emissionen als Funktion
l
0 1,0 4,0 des Luftverhältnisses und
Katalysator Magerbetrieb ohne Kat. Applikationsstrategie für
H2-Verbrennungsmotoren

trieb mit λ > 1 können diese aber durch einen her- bis 300 bar benötigt, abhängig vom Einblasezeit-
kömmlichen 3-Wege-Katalysator selbst die weltweit punkt. Der Injektor muss hohe Durchflussraten und
strengsten Emissions-Grenzwerte deutlich unter- eine präzise Einblasung des H2 gewährleisten und den
schritten werden [9 – 11, 16, 18]. hohen thermischen Belastungen im Brennraum stand
Die Betriebsstrategie für einen freisaugenden H2- halten.
Motor mit äußerer Gemischbildung wird durch die Aufgrund des effizienteren Gasaustauschs ist der
breiten Zündgrenzen von Wasserstoff sowie die NOx- gemessene Zylinderdruck während der Verdichtung
Bildungsgrenze definiert. Über einen weiten Bereich bei innerer Gemischbildung erheblich höher als bei
wird daher der Motor qualitätsgeregelt mit mageren freisaugenden Benzin- und H2-Motoren mit äußerer
Gemischen betrieben. Vernachlässigbare NOx-Emis- Gemischbildung.
sionen und sehr gute Wirkungsgrade sind die Folge. Bei innerer Gemischbildung bietet sich eine ähnliche
Im Bereich von 2,0 < λ < 2,2 schaltet die Motorsteue- Betriebsstrategie an wie bei äußerer Gemischbildung.
rung direkt auf λ = 1-Betrieb und Quantitätsregelung Durch Aufladung kann die spezifische Leistungsdich-
um, wo maximale Leistungsdichten erzielt werden. te beim H2-DI nochmals deutlich gesteigert werden.
Gemische im Bereich 1,0 < λ < 2,0 werden somit
ausgeschlossen. Mit der dargestellten Betriebsstrate- 4.3.5.4 Wirkungsgradpotenziale
gie werden äußerst niedrige NOx-Emissionen im Die motorische Verbrennung beim Betrieb mit Was-
gesamten Kennfeldbereich garantiert und die Einhal- serstoff ist in der Teillast durch eine sehr stabile
tung aller weltweit geforderten Emissionsgrenzwerte Verbrennung gekennzeichnet. Aufgrund der weiten
sichergestellt [17]. Zündgrenzen der Wasserstoff/Luft-Gemische sind Ver-
Bei äußerer Gemischbildung kann der Gemisch- brennungsverluste von unverbranntem Kraftstoff bei
heizwert durch Aufladung erheblich gesteigert wer- magerem Betrieb sehr gering. Bei Volllast im stö-
den. Bei einer Aufladung von 0,85 bar können indi- chiometrischen Betrieb ist die Verbrennungsgeschwin-
zierte Mitteldrücke größer 18 bar erzielt werden. Das digkeit verglichen mit Benzin erheblich höher.
maximal erreichbare Verdichtungsverhältnis liegt bei Folglich ist die Verbrennungsdauer deutlich kürzer.
ε ≈ 11 und wird durch Frühzündungen im stöchio- Die Annäherung an den Gleichraumprozess durch
metrischen Betrieb an der Volllast begrenzt [10]. schnelle Umsetzung des Wasserstoffs führt zu hohen
Motorwirkungsgraden im Volllastbetrieb. Anderer-
4.3.5.3 H2-Brennverfahren mit innerer
seits verursachen hohe Verbrennungsraten erhöhte
Gemischbildung
mechanische und thermische Belastungen durch steile
Innere Gemischbildung bietet zusätzlich die Mög- Druckanstiege, hohe Verbrennungsenddrücke und
lichkeit, die Verbrennung über die Einspritzrate und hohe Verbrennungstemperaturen.
Zündzeitpunktsvariation zu kontrollieren sowie die Der theoretische thermodynamische Wirkungsgrad
Motorleistung zu erhöhen. Mit innerer Gemischbil- eines Otto-Motors basiert auf dem Wirkungsgrad des
dung können indizierte Mitteldrücke von ≈15 bar er- Gleichraumprozesses ηth = 1 – 1/εκ . Hierbei ist ε das
–1

reicht werden [10, 11]. Verdichtungsverhältnis und κ der Isentropenexpo-


Die Schlüsselkomponente bei H2-DI-Motorkonzepten nent. Höhere Verdichtungsverhältnisse kombiniert
ist der Injektor. Aufgrund der Einblasung in der mit höheren Werten für κ liefern höhere Wirkungs-
Kompressionsphase werden hohe H2-Drücke von 50 grade. Mit κ ≈ 1,4 für Wasserstoff-Luft-Gemische
156 4 Formen und neue Konzepte

Wirkungsgrad Verluste:
59,6 % 56,0 %
60 % 0,6 % unvollk. Verbrennung
4,9 % 3,1 % Verbrennungsverluste
1,4 %
50 % Wandwärmeverluste
47,8 % 13,2 % 11,6 % Prozessverl. inkl. LW (UT-UT)
2,5 %
3,3 % indizierter Wirkungsgrad
1,7 %
40 % * n = 2000 min–1, wi = 0,27 kJ/dm3
5,5 % 5,8 %
6,4 %
30 %

20 %
Bild 4.3-56 Vergleich der
10 % indizierten Wirkungsgrade
eines H2-Ottomotors mit
0% Benzin- und Dieselmotoren
Otto-Motor Diesel-Motor H2-Motor
(l = 1, gedrosselt) mit AGR (mager, l = 4)
aktueller Technologie bei
2.000 U/min und Teillast

haben H2-Motoren Vorteile gegenüber Benzin- und


Diesel-Motoren, für die κ ≈ 1,35 gilt. Der theoreti-
sche Wirkungsgrad ηth steigt als Funktion von ε
(konstantes κ) für größere Verdichtungsverhältnisse
an. Im realen Motorbetrieb wird der Anstieg aller-
dings durch die Zunahme der Reibleistung zumindest
teilweise kompensiert.
In Bild 4.3-56 ist ein Vergleich der indizierten Wir-
kungsgrade eines H2-Ottomotors mit einem Benzin-
und Dieselmotor an einem typischen Teillastpunkt
(2.000 U/min) dargestellt. Der hohe theoretische ther-
modynamische Wirkungsgrad des H2-Motors folgt aus Bild 4.3-57 BMW Hydrogen 7 mit bivalentem V12-
der mageren Verbrennung. Bei Dieselmotoren ist der Motor
wesentliche Faktor das hohe Verdichtungsverhältnis. H2-Verbrennungsmotor profitieren dadurch automa-
Obwohl der theoretische thermodynamische Wir- tisch von allen Entwicklungsfortschritten (z.B. Redu-
kungsgrad des H2-Motors kleiner ist als der des Die- zierung der Reibleistung, Energiemanagement, Elekt-
selmotors haben H2-Motoren einen höheren indizier- rifizierung Antriebsstrang).
ten Wirkungsgrad. Hauptgründe hierfür sind die Dynamik, Leistungsentfaltung, Einbaulage und An-
höhere Verbrennungsgeschwindigkeit, resultierend in triebspackage sowie Schnittstellen im Gesamtfahr-
geringeren Verlusten durch Abweichung vom idealen zeug bleiben praktisch unverändert. Fahrzeugkompo-
Gleichraumprozess, und erheblich geringere La- nenten und Dimensionierung (z.B. Getriebe, HAG,
dungswechselverluste durch ungedrosselten Betrieb. Lager, Bremsen) kann daher von Fahrzeugen mit
Der Vorteil des Dieselmotors durch das höhere Ver- Benzin- und Dieselmotoren übernommen werden.
dichtungsverhältnis wird überkompensiert durch die Alle Vorteile des Wasserstoffs wie CO2-Freiheit, Di-
Vorteile der mageren, ungedrosselten Verbrennung. versifikation der Energiequellen und Nachhaltigkeit
Verglichen mit einem Benzinmotor ist der indizierte bei Nutzung regenerativer Energiequellen, können
Wirkungsgrad der H2-Ottomotoren ca. 8 Prozent- mit H2-Verbrennungsmotoren ökonomisch umgesetzt
punkte höher, resultierend in einem 25 % besseren werden. Bei geeigneter Betriebsstrategie werden Ab-
Kraftstoffverbrauch [10, 11, 13]. gasemissionen auf nahezu Null reduziert.
Der H2-Ottomotor ist daher geeignet, die Anforde-
4.3.5.5 H2-Ottomotor als Fahrzeugantrieb
rungen an Fahrzeugantriebe in einer Zukunft mit H2
Erzielbare gravimetrische und volumetrische Leis- als Kraftstoff zu erfüllen [14 – 16, 18, 21].
tungs- und Drehmomentdichten von H2-Ottomotoren Mit dem BMW Hydrogen 7 (Bild 4.3-57) wurde ein
bewegen sich auf dem Niveau von Benzin- und Die- kompletter Serienentwicklungsprozess durchlaufen,
selmotoren. womit die gleichen hohen Ansprüche, wie bei allen
Dasselbe gilt bei entsprechenden Stückzahlen für Ent- anderen Serienfahrzeugen erfüllt werden. Mit der
wicklungs- und Produktionskosten. Die Wirkungs- Kleinserie von 100 Fahrzeugen wurde insgesamt eine
gradpotentiale bei niedrigen und mittleren Lasten lie- Fahrstrecke von 4 Mio. km zurückgelegt und damit
gen sogar über denen heutiger Dieselmotoren. Die weltweit unter allen Bedingungen die Alltagstaug-
technische Umsetzung basiert auf dem Serienstand lichkeit dieses Konzeptes eindrucksvoll nachgewie-
heutiger Verbrennungsmotoren. Antriebskonzepte mit sen [15, 17).
4.3 Neuartige Antriebe 157

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Yokohama (Japan), 27. Juni – 2. Juli 2004
5 Antriebe

In den über 100 Jahren des Gebrauchs von Kraftfahr- ε = 16 bis 24) zur Darstellung der Selbstzündung
zeugen hat sich der Hubkolben-Verbrennungsmotor erforderlich und tragen auf diese Weise auch zum
mit einem Drehzahl-/Drehmomentwandler und einer überlegenen thermischen Wirkungsgrad bei.
Anfahr-/Schaltkupplung als bevorzugtes Antriebs-
konzept durchgesetzt und behauptet. Der Antrieb hat
eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen, von denen die
5.1 Grundlagen der Motorentechnik
wichtigsten nachfolgend aufgelistet sind: 5.1.1 Prozess des Verbrennungsmotors
– Das Fahrzeug muss aus dem Stillstand anfahren Im Motor wird die im Kraftstoff chemisch gebundene
können und bis zu einer bestimmten Endgeschwin- Energie in einem Arbeitsprozess mit Verbrennung in
digkeit jede gewünschte Geschwindigkeit einstellen Wärme und mechanische Arbeit an der Kurbelwelle
lassen. umgesetzt. Die Theorien für den Arbeitsprozess sind
– Antriebsdrehmoment und -drehzahl müssen schnell in der Lehre der Thermodynamik beschrieben [1 – 4].
regelbar sein, um dynamische Fahrvorgänge zu Ein Charakteristikum ist die „innere Verbrennung“,
ermöglichen. d.h. der Verbrennungsvorgang findet innerhalb des
– Der Energieträger muss auf kleinem Raum bei von Kolben, Zylinder und Zylinderkopf gebildeten
geringem Gewicht einen hohen Energieinhalt be- Arbeitsraumes statt. Soll fortwährend eine Arbeit
reitstellen. Ohne große Nutzlast- und Raumverluste erbracht werden, so muss dieser Prozess zyklisch
soll eine möglichst hohe Reichweite ohne Unter- wiederholt werden. Hierzu muss das Arbeitsmedium
brechung oder Wiederbetankung möglich sein. in seinen Ausgangszustand zurückgeführt werden.
– Masse und das Bauvolumen sind möglichst klein Das kann wegen der vorangegangenen Verbrennung
zu halten. im geschlossenen Raum nur durch Austausch der
– Das gesamte System muss Erschütterungen und Verbrennungsgase mit frisch zugeführtem Kraftstoff
Bewegungen ertragen können. und Luft erfolgen, was als Ladungswechselvorgang
– Der Antrieb soll kurzfristig (auch bei niedrigen und bezeichnet wird. Eine übliche Darstellungsweise des
hohen Temperaturen) betriebsbereit sein. Prozessverlaufes ist das p-V-Diagramm, auch Indika-
tordiagramm genannt, in dem der Verlauf des Dru-
Neben diesen grundlegenden technischen Anforde- ckes im Zylinder in Abhängigkeit vom Zylindervo-
rungen sind auch ökonomische Ziele bei der Herstel- lumen gezeigt ist (Bild 5.1-1).
lung und beim Betrieb des Fahrzeugs zu erfüllen,
zunehmend ökologische Bedingungen einzuhalten 5.1.1.1 Viertakt-Verfahren
sowie ein stetig wachsender Anspruch auf Bedie-
Beim Viertakt-Verfahren (Bild 5.1-1) saugt der Kol-
nungskomfort zu befriedigen.
ben auf dem Weg vom oberen (OT) zum unteren
Von den zwischenzeitlich immer wieder vorgestellten
(UT) Totpunkt bei geöffnetem Einlassventil Luft-
alternativen Antrieben für Kraftfahrzeuge konnte sich
Kraftstoff-Gemisch an (1. Takt). Nach Schließen des
bisher keiner nachhaltig durchsetzen. Ihren speziellen
Einlassventils wird der Zylinderinhalt bei der Auf-
Vorteilen stehen häufig technische oder auch ökono-
wärtsbewegung des Kolbens vom UT zum OT ver-
mische Nachteile gegenüber, die einen guten Kom-
dichtet (2. Takt). Druck und Temperatur steigen dabei
promiss aller zu berücksichtigenden Eigenschaften
entsprechend den physikalischen Eigenschaften des
wie Technik, Kosten, sofortige Einsatzbereitschaft
im Zylinder befindlichen Gemisches (Luft, Kraft-
und Reichweite vermissen lassen.
stoff/Kraftstoffdampf, Restgas) an. Kurz vor dem OT
Die vorherrschende Bauform von Kraftfahrzeugmoto-
erfolgt die Zündung mit anschließender Verbrennung
ren ist der Hubkolben-Verbrennungsmotor, welcher
und Expansion des Verbrennungsgases bis zum UT
nach dem Prinzip des Ottomotors oder des Dieselmo-
(3. Takt). Das Auslassventil wird geöffnet und die
tors arbeitet. Die wesentlichen Unterscheidungs-
verbrannten Gase werden auf dem Kolbenweg nach
merkmale sind die Art der Zündung (Fremdzündung
OT ausgeschoben (4. Takt). Danach wiederholt sich
beim Ottomotor und Selbstzündung beim Dieselmo-
der 4-Takt-Prozess.
tor) sowie die Regelung der Last (Quantitäts- bzw.
Die im Kreisprozess an den Kolben abgegebene
Drosselregelung beim Ottomotor und Qualitätsrege-
Arbeit WKA wird nach der Beziehung
lung beim Dieselmotor). Während beim Ottomotor
das Verdichtungsverhältnis durch die Klopffestigkeit WKA = – ∫ p(α) ⋅ dV
des Benzins begrenzt wird (Saugmotoren ca. ε = 10
bis 14, Turbomotoren ca. ε = 8 bis 11), sind beim ermittelt. Im p-V-Diagramm stellt sich die Arbeit WKA
Dieselmotor höhere Verdichtungsverhältnisse (ca. als die im Uhrzeigersinn umfahrene Fläche dar. Die

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_5,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 159

Darstellung des 4-Takt-Gaswechsel-


5° 5 ... 20°
verfahrens im p-V-Diagramm 0 ...4
.. 15°
10 .
ZOT
p ZZP ÜOT ve

As

rb
ren
Es A E

te n

nen

verdich
pu
As
V

gen
Vc Vh

aus

au
sto

ns
E a

ß

en
Es
A UT °
40 . 60
... 60
° 45 ..

A Auslass Eö Einlass öffnet ZOT Zünd OT


Aö Auslass öffnet Es Einlass schließt UT unterer Totpunkt
As Auslass schließt OT oberer Totpunkt ZZP Zündzeitpunkt
E Einlass ÜOT Überschneidungs-OT pu Umgebungsdruck Bild 5.1-1 4-Takt-
Vc Kompressionsvolumen Arbeitsverfahren des
Vh Hubvolumen
Ottomotors

bei Saugmotoren üblicherweise im Gegenuhrzeiger- 5.1.2 Definitionen und Kenngrößen


sinn umfahrene Fläche (Ladungswechselschleife) ist
physikalisch als die vom Triebwerk für den Ladungs- 5.1.2.1 Leistungskenngrößen
wechselvorgang aufzubringende Arbeit zu interpre- Die Leistung eines Motors wird inkl. aller für den
tieren. Betrieb des Motors erforderlicher Hilfseinrichtungen
unter den in der Norm DIN ISO 1585 festgelegten
5.1.1.2 Zweitakt-Verfahren Bedingungen ermittelt und auf einen „Normzustand“
Tu = 298 K, pu = 990 mbar (bezogen auf trockene
Beim Zweitakt-Verfahren erfolgt der Ladungswech- Luft) zurückgerechnet. Der Bezug auf einen festge-
sel am Ende des Expansionstaktes (Auspuffvorgang) legten Zustand der Umgebung ist wichtig, da sich die
und in der ersten Phase des Kompressionstaktes Motorleistung bei unterschiedlichen Luftzuständen
(Spülvorgang). Hierzu ist ein positives Spüldruckge- ändert. Sie nimmt mit „dünnerer“ Luft ab. Je 100 m
fälle erforderlich, was den Einsatz entsprechender Höhenzunahme beträgt die Reduzierung der Motor-
Spülgebläse notwendig macht. Für kleinere, vorwie- leistung ca. 1 %. Auch feuchtere Luft verringert die
gend in Zweirädern eingesetzte Zweitaktmotoren Motorleistung.
wird hierzu der von der Kolbenunterseite und dem Die an die Kurbelwelle abgegebene Nennleistung Pe, in
Kurbelgehäuse gebildete Raum als Gemischpumpe der Norm auch Nettoleistung genannt, berechnet sich
genutzt. Bei der sogenannten Umkehrspülung wird nach der Beziehung
die Aufgabe der Gaswechselventile von Schlitzen im
unteren Teil des Zylinders übernommen. Bei der Pe = M ⋅ ω = 2π ⋅ M ⋅ n
Längsspülung dagegen erfolgt der Austausch der
wobei n die Motordrehzahl und M das Drehmoment ist.
Zylinderladung einerseits über Schlitze im unteren
Wenn das Drehmoment in der Einheit [Nm] und die
Teil des Zylinders und andererseits über Ventile im
Drehzahl in [1/min] eingesetzt werden, lässt sich die
Zylinderkopf. Diese Bauform findet sich insbesonde-
Leistung in [kW] nach der Formel
re im Großmotorenbau für Schiffsantriebe.
Zur Erzielung einer ausreichenden Ausspülung der Pe = M ⋅ n/9549
Restgase aus dem Zylinder ist ein Spülverlust hinzu-
nehmen. Bei Gemischspülung kommt es auf diese überschlägig berechnen.
Weise zu beträchtlichen Kohlenwasserstoffemis- Unter Verwendung der spezifischen Kenngröße pme
sionen, die einen der wesentlichen Nachteile gegen- (effektiver Mitteldruck, siehe Kapitel 5.1.2.2) be-
über dem Viertaktmotor darstellen. Die Vorteile des rechnet sich die Leistung des Motors zu
Zweitaktmotors liegen dagegen in seinem einfachen
und kompakten Aufbau. Pe = i ⋅ n ⋅ pme ⋅ VH
Im Bereich der Kraftfahrzeugantriebe wird das wobei
Zweitaktprinzip heute nur noch im Zweiradsektor
angewendet. Mit steigenden Anforderungen an die i = 1 beim 2-Takt-Verfahren
Abgasemissionen ist von einer weiteren Verdrängung i = 0,5 beim 4-Takt-Verfahren
durch Viertaktmotoren auszugehen. ist.
160 5 Antriebe

22 12
Direkteinspritzender Dieselmotor Ottomotor
20
VH = 1,9 l VH = 2,0 l
18 e = 18,0 10 e = 10,5
232
16 195 240
8
14
be = 200 g/kWh
210
pme [bar]

pme [bar]
12 250
220 6 260 270
10 230
240 280
8 250
4
300 330
6
290
360 400
4 2
370 500
2 600
be [g/kWh]
0 0
1000 1500 2000 2500 3000 3500 min–1 4500 1000 2000 3000 4000 min–1 6000
Drehzahl Drehzahl

Bild 5.1-2 Verbrauchskennfeld typischer Pkw-Motoren

Mit der Drehzahl in [1/min], dem effektiven Mittel- Bei der thermodynamischen Analyse des Motorpro-
druck pme in [bar] und dem Gesamthubraum des zesses ist es oft nützlich, die Reibungsverluste des
Motors VH in [dm3] ergibt sich die Beziehung Triebwerkes außer Acht zu lassen. In diesem Fall
interessiert ausschließlich die an den Kolben abgege-
Pe = i ⋅ n ⋅ pme ⋅ VH/600 .
bene Volumenänderungsarbeit. Sie kann messtech-
Die maximale Leistung eines Motors wird als Nenn- nisch mittels Zylinderdruckindizierung erfasst und als
leistung bezeichnet. Die Drehzahl, bei welcher diese das auf das Hubvolumen bezogene Integral ∫ p(α) dV
Leistung erreicht wird, heißt Nenndrehzahl. Je nach berechnet werden. In diesem Fall wird vom indizier-
Auslegung des Ladungswechselprozesses hinsichtlich ten (oder auch inneren) Mitteldruck pmi gesprochen.
Ventilsteuerzeiten, Strömungswiderständen der Gas- Weitere gebräuchliche spezifische Motorkenngrößen
wechselorgane und dynamischer Vorgänge im An- sind:
saug- und Abgassystem liegt diese Drehzahl mehr • Hubraumleistung (Literleistung)
oder weniger weit unterhalb der maximal zulässigen üblicherweise angegeben in [kW/l]
Drehzahl des Triebwerks. PH = Pe/VH
• Leistungsmasse
5.1.2.2 Spezifische Motorkenngrößen
üblicherweise angegeben in [kg/kW]
Da die Leistungskenngrößen des Verbrennungsmo- mP = m/Pe
tors direkt von seiner Größe abhängen, ist es sinnvoll • Spezifischer Kraftstoffverbrauch
diese Größen in spezifischen, auf das Zylinderhubvo- üblicherweise angegeben in [g/kWh]
lumen bezogene Größen anzugeben. Dies gestattet be = m B /Pe = 1/( H u ⋅ηe )
einen direkten Vergleich von Motoren unterschiedli- ( m B = Kraftstoffmassenstrom in [g/h])
cher Größe. Bild 5.1-2 zeigt am Beispiel des Verbrauchskennfelds
Das auf das Hubvolumen bezogene Drehmoment des die Verwendung der spezifischen Kenngrößen be und
Motors stellt thermodynamisch gesehen die an den pme zur vergleichenden Beurteilung unterschiedlicher
Kolben geleistete Nutzarbeit abzüglich der Reibungs- Motoren.
verluste des Triebwerks dar. Physikalisch lässt sich
diese Arbeit auch als derjenige Druck interpretieren, 5.1.2.3 Wirkungsgrade
welcher, wenn er während des Expansionstaktes
Die Güte oder Effektivität des Arbeitsprozesses wird
konstant im Brennraum herrschen würde, die gleiche
üblicherweise mit dem verglichen, was theoretisch
Arbeit an den Kolben abgibt wie der zeitlich verän-
unter „idealen“ Randbedingungen möglich wäre. Mit
derliche Verbrennungsdruck. Es hat sich deshalb
idealen Randbedingungen ist eine verlustfreie Pro-
hierfür auch die Bezeichnung Mitteldruck etabliert.
zessführung gemeint, die auch einfachen Berech-
Soweit das an der Motorkupplung verfügbare Dreh-
nungsmethoden zugänglich ist. Aufgrund der diver-
moment gemeint ist, ist vom effektiven Mitteldruck
sen den realen Motorprozess bestimmenden Einfluss-
pme die Rede, der sich nach den folgenden Beziehun-
faktoren ergibt sich eine Wirkungsgradkette des
gen berechnen lässt:
Motors (siehe auch DIN 1940), die sich in die folgen-
pme = Pe/( i ⋅ VH ⋅ n) oder pme = ( i/2π) ⋅ (M/VH) . den Schritte aufteilt (Bild 5.1-3).
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 161

Arbeitsdiagramm Bezeichnung Randbedingungen Definition Wirkungsgrade


1–κ
theoretischer ideales Gas, kon- hthv = 1 – e
p 3 Vergleichs- stante spezifische theoretischer
„Gleichraum- Wärme, unend- oder
2 prozess“ lich schnelle thermischer hthv
4 Wärmezu- und Wirkungsgrad
pu 1 -abfuhr usw.

realer Hoch- Wandwärmever- hGHP


p druck-Arbeits- luste, reales Gas, Gütegrad des
prozess endliche Wärme- Hochdruck-
zu- und -abfuhr prozesses
hi
Geschwindigkeiten,
pu veränderliche spe-
zifische Wärmen he

hG
realer Ladungs- Strömungsver- hGLW
p wechsel luste, Aufheizung Ladungs-
(4-Takt) des Gemisches wechsel-
oder der Luft usw. wirkungs-
pu grad

mechanische Verluste Verluste wegen realer Motor hm


Reibung, Küh- hm hm Bild 5.1-3 Einzel- und
lung, Neben- Gesamtwirkungsgrade des
aggregate
Hubkolbenmotors

Thermischer Wirkungsgrad des Vergleichspro- lässt sich herleiten:


zesses ηthv: ηthv = 1 – T1/T2
Als thermodynamisch idealer Vergleichsprozess wird
der Gleichraumprozess angenommen, der sich aus und mit
einer isentropen Verdichtung (1 → 2), einer isocho- T1/T2 = (1/ε)κ
–1

ren Wärmezufuhr (Verbrennung, 2 → 3), einer isen- folgt für den thermischen Wirkungsgrad des Gleich-
tropen Expansion (3 → 4) und einer isochoren raumprozesses
Rückführung des idealen Arbeitsgases auf den Aus-
1–κ
gangszustand (4 → 1) des Prozesses zusammensetzt. ηthv = 1 − ε .
Als Randbedingungen und Annahmen gelten dabei:
Diese Beziehung macht den direkten Einfluss des
– keine Wärme- und Gasverluste Verdichtungsverhältnisses ε = (Vc + Vh)/Vc auf den
– kein Restgas Wirkungsgrad des Verbrennungsmotors deutlich.
– ideales Gas mit konstanten spezifischen Wärmeka- Hieraus wird auch einer der wesentlichen Unterschie-
pazitäten cp, cv , κ = cp /cv = 1,4 de zwischen dem Ottomotor und dem Dieselmotor
– unendlich schnelle Wärmezufuhr und -abfuhr ermesslich, weil das Verdichtungsverhältnis des
– keine Strömungsverluste. Ottomotors zur Vermeidung klopfender Verbrennung
Der thermische Wirkungsgrad ηthv oder auch der begrenzt ist.
Wirkungsgrad des idealen „vollkommenen Motors“
ist definiert als Gütegrad ηG:
Hierin werden alle Unterschiede zwischen dem „idea-
ηthv = (Qzu – Qab)/Qzu = 1 – Qab/Qzu .
len“ und dem „realen“ Kreisprozess im Hochdruck-
Mit Qzu (zugeführte Wärmemenge von 2 → 3) (ηGHP) und im Niederdruckprozess (ηGLW) erfasst. Dies
Qzu = m⋅ cv ⋅ (T3 – T2) sind das reale Arbeitsgas, das Restgas im Zylinder,
die Wandwärmeverluste, die Gasverluste, die La-
und Qab (abgeführte Wärmemenge von 4 → 1) dungswechselverluste (ηGLW) und der reale Verbren-
Qab = m⋅ cv ⋅ (T4 − T1) nungsablauf. Der Gütegrad berechnet sich nach der
Beziehung
folgt
ηG = ηGHP · ηGLW = Wi/Wthv
ηthv = 1 – (T4 – T1)/(T3 – T2) .
mit
Aus der Gleichung für die adiabaten Zustandsände- Wi = indizierte Arbeit, errechnet aus dem realen
rungen von 1 → 2 und von 3 → 4 Druckverlauf, und
T ⋅ Vκ = const. Wthv = Arbeit des Vergleichsprozesses = Qzu − Qab
–1
162 5 Antriebe

Indizierter (innerer) Wirkungsgrad ηi: Die Zählfolge der Zylinder ist nach DIN 73021 für
ηi ist das Verhältnis der am Kolben geleisteten (indi- Kraftfahrzeugmotoren genormt (für allgemeine Ver-
zierten) Arbeit zu dem im Brennstoff zugeführten wendung und Schiffsmotoren gilt nach ISO 1204, 1205
Wärmeäquivalent die umgekehrte Richtung, von der Kraftabgabe aus
gesehen). Die Zylinder werden von der der Kraftabga-
ηi = Wi/WB
be (Schwungrad) gegenüberliegenden Seite fortlaufend
WB = mB · Hu (Arbeitsinhalt des zugeführten nummeriert. Bei Motoren mit mehreren Zylinderbän-
Brennstoffes). ken werden zunächst die Zylinder der in Blickrichtung
auf die Kraftabgabeseite links von der Kurbelwellen-
Der Wirkungsgrad ηi ist auch durch das Produkt aus achse liegenden Zylinderbank durchgezählt und nach-
dem thermischen Wirkungsgrad und dem Gütegrad folgend die Zylinder der in Drehrichtung des Uhrzei-
zu beschreiben gers um die Motorachse folgenden Zylinderbänke.
ηi = ηthv ⋅ ηG . Die Zündfolge ist die Reihenfolge, in der die Zylinder
nacheinander zünden. Sie wird durch die Bauart des
Mechanischer Wirkungsgrad ηm: Motors sowie durch das Anstreben gleicher Zündab-
Im mechanischen Wirkungsgrad werden die Verluste stände, einfach herstellbarer Kurbelwellenformen so-
aus der Reibung in Triebwerk und Zylinderkopf wie günstiger Beanspruchung der Kurbelwelle be-
sowie die Antriebsleistung der Nebenaggregate (Öl-, stimmt. Bei der Angabe der Zündfolge wird mit
Wasser- und Kraftstoffpumpe, Generator usw.) be- Zylinder 1 (Zählfolge, s.o.) begonnen.
rücksichtigt. Reihenmotoren (Beispiel 1) werden heute bis zu 6-
Zylinder-Ausführungen gebaut und haben eine Kur-
ηm = We/Wi belwellenkröpfung je Zylinder und in der Regel einen
einstückigen Zylinderkopf. Die Boxermotoren (Bei-
We = an der Kupplung effektiv verfügbare Arbeit spiel 4) mit 180° gegenüberliegenden Zylinderreihen
haben auch eine Kurbelwellenkröpfung je Zylinder
Effektiver Wirkungsgrad ηe: und einen Zylinderkopf je Zylinderreihe.
Der Gesamtwirkungsgrad des Motors, auch effektiver V-Motoren (Beispiel 2) sind dadurch charakterisiert,
Wirkungsgrad ηe genannt, ist das Produkt aller Ein- dass von einer Kurbelwellenkröpfung zwei Pleuel von
zelwirkungsgrade der Wirkungsgradkette: je einer Zylinderbank betrieben werden. Jede Zylinder-
ηe = ηthv · ηG · ηm bank verfügt über einen gemeinsamen Zylinderkopf.
Der Winkel zwischen den Zylinderbänken ist entweder
Er entspricht dem Verhältnis We/WB von effektiv an 60°, 72° oder 90°. Der V-Winkel ist von der Anzahl
der Kupplung verfügbarer Arbeit zu dem mit dem der Zylinder (gleichmäßige Zündfolge) oder vom
Kraftstoff zugeführten Arbeitsvermögen. Leitmotor einer Motorfamilie mit unterschiedlichen
Aktuelle Fahrzeugmotoren erreichen effektive Wir- Zylinderzahlen abhängig. Einen Sonderfall stellt das im
kungsgrade von ηe = 0,36 für Pkw-Ottomotoren bis Bild gezeigte Beispiel 3 dar, bei dem der V-Winkel auf
zu ηe = 0,43 für Dieselmotoren. Diese Bestwerte 15° so eng zusammengerückt ist, dass nur ein einteili-
werden in dem vom effektiven Mitteldruck und von ger Zylinderkopf für beide Zylinderbänke gebraucht
der Motordrehzahl aufgespannten Motorkennfeld bei wird, wobei in diesem Fall die Kurbelwelle für jeden
üblicher Auslegung etwa in der Mitte des Drehzahl- Zylinder eine eigene Kröpfung hat. Hiernach wäre er
bandes und etwas unterhalb der Volllastkurve erreicht als Reihenmotor zu benennen, und dementsprechend
(siehe auch Bild 5.1-2). ist auch die Zählfolge der Zylinder angegeben. Darum
wurde dieser Motor anfänglich auch als VR-Motor
5.1.3 Bauarten bezeichnet, was die nicht eindeutige Bauformzuord-
5.1.3.1 Hubkolbenmotoren nung zu den Reihen- oder V-Motoren beschreibt. Er-
wähnenswert ist weiterhin der geschränkte Kurbeltrieb
5.1.3.1.1 Bauformen dieses Motors. Die Schnittlinie der beiden Ebenen durch
Die im Kraftfahrzeugbau anzutreffenden Motorbau- die „ungeraden“ Zylinder 1, 3 usw. und der „geraden“
formen sind Reihenmotoren, V-Motoren, Boxermo- Zylinder 2, 4 usw. liegt unterhalb der Kurbelwellen-
toren und selten auch W-Motoren (Bild 5.1-4). Eine achse. Folglich beträgt der Abstand vom OT zum UT
Untergattung des V-Motors stellt die VR-Bauform dar, für die Zylinder 1, 3, … weniger als 180° KW und für
bei der die beiden Zylinderbänke mit engem V-Winkel die Zylinder 2, 4, … mehr als 180° KW.
unter einem gemeinsamen Zylinderkopf angeordnet Als weitere Variante dieser VR-Motorbauart werden
sind. 1- und 2-Zylinder-Motoren sind nur bei Krafträ- auch V-VR-Motoren (Beispiel 5) ausgeführt, auf die
dern üblich. Im Pkw-Sektor werden 2-, 3-, 4-, 5-, 6-, auch die Bezeichnung W-Motor angewendet wird.
8-, 10- und 12-Zylinder-Motoren eingesetzt, in Ein- Hierbei arbeiten auf einer Kröpfung zwei Pleuel von
zelfällen und Prototypen auch 16- und 18-Zylinder- je einer VR-Zylinderbank. Die Zählfolge wird wie
motoren in V-, V-VR und W-Bauform. beim V-Motor je Seite angegeben.
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 163

Bauformen von Hubkolbenmotoren


1 Reihe 2 V 3 VR (V)

4 Boxer 5 V-VR (W) 6 W


60°

60
°
1
1
2

Zählrichtung Zylinder- Übliche Zündfolge


zahl (Beispiele)

6 3 1 3 2 oder 1 2 3
5 Kraftabgabe
4 1 3 4 2 oder 1 2 4 3
4 5 1 2 4 5 3 oder 1 5 2 3 4
3
2 6 1 5 3 6 2 4 oder
1 1 2 4 6 5 3 oder
1 4 2 6 3 5 oder
1 4 5 6 3 2

R + VR
4 1 3 2 4
4 6 1 2 5 6 4 3 oder
8 Kraftabgabe 5 6 2 3
3 1 4
2 7 8 1 6 3 5 4 7 2 8 oder
1 6
5 1 5 4 8 6 3 7 2 oder
1 8 3 6 4 5 2 7
10 1 6 2 8 4 9 5 10 3 8 oder
1 6 5 10 2 7 3 8 4 9
12 1 7 5 11 3 9 6 12 2 8 4 10 oder
V + V-VR
1 12 5 8 3 10 6 7 2 11 4 9
16 1 14 9 4 7 12 15 6 13 8 3 16 11 2 5 10
4 1 4 3 2
Kraftabgabe
6 1 6 2 4 3 5
2 4
1 3

B
18 1 14 18 15 17 13
6 9 11 7 10 8 12
5 12
4 11 16 4 2 6 3 5
3 10
18
9
2 8 17
1 16
7
15
14
13

Bild 5.1-4 Bauformen, Zählrichtung und Zündfolge von Kraftfahrzeugmotoren


164 5 Antriebe

Auch das im Bild gezeigte Beispiel 6 wird als W- belwinkel α, ausgehend vom oberen Totpunkt, mit
Motor bezeichnet. Dieses Triebwerk hat 3 Zylinder- dem Pleuelstangenverhältnis λ = r/l ableiten:
bänke im Winkel von je 60° zueinander und wird mit
3 × 6 = 18 Zylindern ausgeführt. Auf einer Kurbel- sK = r (1 − cos α ) + l (1 − 1 − λ 2 sin 2 α ) .
kröpfung laufen drei Pleuel. Hauptvorteil dieser
Näherungsweise gilt:
Konstruktionen ist, dass eine große Anzahl von
sK ≈ r · (1 – cos α + λ/2 sin α) .
2
Zylindern sehr kompakt in der Baulänge unterzubrin-
gen ist und ein sehr gleichförmiger, vibrationsarmer Für die Kolbengeschwindigkeit folgt daraus
Motorlauf erreicht wird.
Während die breite Masse der Pkw-Motorisierungen sK = ω ⋅ r ⋅ sin α (1 + λ ⋅ cosα ) mit ω=π⋅n
mit 4-Zylinder-Motoren im Hubraumbereich von ca.
1,2 bis 2,0 l Hubraum ausgeführt ist, kommen im und die Kolbenbeschleunigung
Bereich der Kompakt- und Sub-Kompaktklasse ver- 
sK = ω 2 ⋅ r (cos α + λ cos 2α ).
mehrt 3-Zylinder-Motoren und in jüngster Zeit auch
2-Zylinder-Motoren zum Einsatz. Die 3-Zylinder- Der Verlauf der Beschleunigung über dem Kurbel-
Motoren werden häufig konstruktiv von vorhandenen winkel α und über dem Kolbenweg sK für verschiede-
4-Zylinder-Motorfamilien abgeleitet, was zu gerade ne Werte von λ sind auch in Bild 5.1-5 dargestellt.
in diesem Marktsegment wichtigen günstigen Ent- Bei λ = 0, d.h. unendlich langem Pleuel, sind Kol-
wicklungs- und Herstellkosten führt. Im Komfort- benweg, -geschwindigkeit und -beschleunigung rein
und Luxussegment kommen weiterhin 6-, 8- und 12- sinusförmig.
Zylinder-Motoren zum Einsatz. Insgesamt ist eine
Entwicklung zu geringeren Zylinderzahlen zu beo- 5.1.3.1.3 Kräfte und Momente im Triebwerk
bachten, die durch den zunehmenden Anteil aufgela-
Neben den Gaskräften wirken im Hubkolbentrieb-
dener Motoren mit gleichzeitig gesteigertem Aufla-
werk infolge der zyklischen Arbeitsweise und des
degrad verursacht wird.
ungleichförmigen Bewegungsablaufes Massenkräfte.
5.1.3.1.2 Kinematik des Kurbeltriebs Dabei wirken „innere“ und „äußere“ Kräfte. Die
„inneren“ Kräfte sind für die Auslegung von Kolben,
Der Kurbeltrieb dient dazu, die durch die Verbrennung Pleuel, Kurbelwelle und Lagern bestimmend, die
bewirkte Gaskraft über die hin- und hergehende Bewe- freien „äußeren“ Kräfte verursachen Kräfte und
gung des Kolbens in eine Rotationsbewegung und ein Momente des Motors, die sich in Schwingungen aus-
Nutzdrehmoment zu wandeln [5, 6, 7, 8]. Aus der wirken, in den Motorlagern aufgenommen werden
Geometrie des Kurbeltriebs (Bild 5.1-5) lässt sich für müssen und auf diesem Weg in die Struktur des
den Weg sK des Kolbens in Abhängigkeit vom Kur- Fahrzeuges eingeleitet werden.

l = 1/4
Hubmitte l = 1/3

sk

30° 60°
OT UT
sk OT 90° 120° 150°
A Kolbenweg
sk
s = 2r
l=0
UT l = 1/4
l = 1/3
l cosb b
l
b
S sk
a
30° 60°
D Bv OT UT
r 90° 120° 150°
r cosa a
C Kurbelwinkel
sk
n U/min

Bild 5.1-5 Geometrie und


Beschleunigungen der
oszillierenden Massen des
Kurbeltriebs
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 165

Tabelle 5.1-1 Freie Kräfte und Momente 1. und 2. Ordnung (ohne Ausgleichsmaßnahmen) einiger gebräuch-
licher Motorbauarten
Fr = m r ⋅ r ⋅ ω 2 F1 = mh ⋅ r ⋅ ω2 ⋅ cos α F2 = mh ⋅ r ⋅ ω2 ⋅ λ ⋅ cos 2α

Zylinder- Freie Freie Freie Freie Zünd-


anordnung Kräfte Kräfte Kräfte Kräfte abstände
1. Ord- 2. Ord- 1. Ord- 2. Ord-
nung1) nung1) nung1) nung1)

2-Zylinder

0 2 ⋅ F2 F1 ⋅ a 0 180°/540°

3-Zylinder

0 0 3 ◊ F1 ◊ a 3 ◊ F2 ◊ a 240°/240°

4-Zylinder

0 4 ⋅ F2 0 0 180°/180°

0 0 0 2 ⋅ F2 ⋅ b 180°/180°

5-Zylinder

0 0 0,449 ⋅ F1 ⋅ a 0,449 ⋅ F2 ⋅ a 144°/144°

6-Zylinder

0 0 0 0 120°/120°

1) Ohne Gegengewichte
166 5 Antriebe

Tabelle 5.1-1 (Fortsetzung)


Zylinder- Freie Freie Freie Freie Zünd-
anordnung Kräfte Kräfte Momente Momente abstände
1. Ord- 2. Ord- 1. Ord- 2. Ord-
nung1) nung1) nung1) nung1)

6-Zylinder (Fortsetzung)
a

0 0 3·F1·a2) 6·F2·a 150°/90°


150°/90°
b
V 90°, 3 Kröpfungen

0 0 0,4483·F1·a (0,966 ± 0,256) 120°/120°


b 3·F2·a
Normalausgleich
V 90°, 3 Kröpfungen
30° versetzte Hubzapfen

0 0 0 0 120°/120°
b
Boxer, 6 Kröpfungen
a

0 0 3·F1·a/2 3·F2·a/2 120°/120°


b
V 60°, 6 Kröpfungen

8-Zylinder
a

0 0 10·F1·a2) 0 90°/90°
b
V 90°, 4 Kröpfungen
in zwei Ebenen
12-Zylinder

0 0 0 0 60°/60°
b
V 60°, 6 Kröpfungen

1) Ohne Gegengewichte
2) Durch Gegengewichte voll ausgleichbar
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 167

hältnis λ zu erreichen, also ein langes Pleuel zu


m hrv2(cosa ± l cos2a) = FM verwenden.

m hrv2(1+l)
m hrv2cosa = F1 Bei Mehrzylinder-Motoren überlagern sich die Mas-

m hrv 2l
m hrv 2
m hrv2l cos2a = F2 senkräfte der einzelnen Zylinder und heben sich
0 90 180 270 360 teilweise auf. In Längsrichtung des Motors wirken sie
°KWa aber in verschiedenen Ebenen im Abstand der Zylin-
dermitten voneinander und bewirken auf diese Weise
die sogenannten Massenmomente. Je nach Zylinder-
anordnung und Kurbelwellenbauform kann dies zu
Bild 5.1-6 Aufteilung der oszillierenden Massenkraft Erhöhungen der äußeren Kräfte und zu Momenten
in Grund- und Oberschwingung führen, aber auch zur gegenseitigen Aufhebung der
Kräfte nach außen. Man spricht von den „freien“
Aus der Beschleunigung folgt für die oszillierende Kräften und Momenten des Motors. Einige der meist
Massenkraft FM in Zylinderrichtung verbreiteten Bauformen und deren freie Massenkräfte
FM = mh ⋅ r ⋅ ω2 · (cos α + λ cos 2α) . und -momente der 1. und 2. Ordnung (ohne Massen-
ausgleichsmaßnahmen) sind in der Tabelle 5.1-1
Annähernd gilt für die oszillierende Masse dargestellt.
mh ≈ 1/3 · mS + mK Die auf den Kolben wirkende Gaskraft FG teilt sich in
die auf das Pleuel wirkende Stangenkraft FSG und die
(mS = Pleuelmasse, mK = Kolbenmasse). an der Zylinderwand abgestützte Seitenkraft NG auf
Der Verlauf der oszillierenden Kraft kann grafisch (Bild 5.1-7). Die Stangenkraft FSG wiederum bewirkt
veranschaulicht werden, wenn die Glieder mit cos α an der Kurbelwellenkröpfung eine Radialkraft FRG
und mit cos 2α über dem Kurbelwinkel aufgetragen sowie die tangential wirkende Kraft FTG, die am
werden (Bild 5.1-6). Der sinusförmige Verlauf der Kurbelradius r angreift und das Drehmoment auf die
Massenkraft 1. Ordnung wird überlagert von der Kurbelwelle überträgt. Mit dem Kurbelwinkel α, dem
Massenkraft 2. Ordnung mit zwei vollen Schwingun- Schwenkwinkel β der Pleuelstange und dem Pleuel-
gen je Kurbelwellenumdrehung. In der Überlagerung stangenverhältnis λ kann analog zur Herleitung der
beider Kraftverläufe ergibt sich eine Überhöhung im Massenkräfte berechnet werden:
OT und eine Minderung im UT. Werden nun die auf den Kolben wirkende periodisch
Die rotierende Masse ist näherungsweise veränderliche Gaskraft und die periodisch wirkenden
mr ≈ 2/3 · mS + mKur Massenkräfte der Triebwerksteile zusammengefasst,
wobei mKur die nicht durch Gegengewichte ausgegli- so erhält man den Verlauf der resultierenden Kolben-
chene, auf die Mitte des Kurbelzapfens bezogene kraft FK, welcher in Bild 5.1-7 qualitativ gezeigt ist.
rotierende Masse der Kurbelwelle ist. Die Größe der Gaskräfte verändert sich nahezu linear
Damit berechnet sich die rotierende Kraft nach der mit der Motorlast während die Massenkräfte quadra-
Beziehung tisch mit der Motordrehzahl ansteigen. Bei kleinen
Drehzahlen und Volllast ist deshalb die Gaskraft
Fr = mr ⋅ r ⋅ ω2 . bestimmend, bei hohen Drehzahlen dominieren
Die Größe der Kräfte FM und Fr steigt linear mit der dagegen die Massenkräfte.
Masse und quadratisch mit der Winkelgeschwin- Arbeiten in einem Motor mehrere Zylinder mit relativ
digkeit bzw. Drehzahl an. Das Ziel ist daher, mög- zueinander verschränkten Kurbelkröpfungen auf eine
lichst leichte Kolben, Kolbenbolzen und Pleuel zu Welle, so überlagern sich die einzelnen Drehkräfte.
bauen und ein möglichst kleines Schubstangenver- Der daraus resultierende Drehkraftverlauf FT ist in

NG
+FK Gaskraft piπD 2/4
l Verdichten Ausdehnen Ausschieben Ansaugen
FG FSG
Massenkraft
b mh · sk resultierende
Kolbenkraft FK
a
FRG 0° 180° 720°
360° 540°
h = 2r °KWa
r NG
FTG Bild 5.1-7 Gaskraftzerle-
–FK
FG FSG gung und resultierende
Kolbenkraft FK (aus
Massen- und Gaskraft)
168 5 Antriebe

1-Zylinder-Motor 4-Zylinder-Reihenmotor
Gaskraft
FT resultierende Drehkraft
FTm
FTm

Massenkraft
2-Zylinder-Reihenmotor
6-Zylinder-Reihenmotor
FTm

FTm

12-Zylinder-Reihenmotor
3-Zylinder-Reihenmotor
FTm
FTm

0° 180° 360° 540° 720° 8-Zylinder-V-Motor 90°


Kurbelwinkel a
FTm Bild 5.1-8 Verlauf der
0° 180° 360° 540° 720° Drehkraft FT bei verschiede-
Kurbelwinkel a
nen Motorbauarten

Bild 5.1-8 für verschiedene Motorbauarten über ein triebes. Wesentliche Nachteile sind sein lang gestreck-
Arbeitsspiel von 720° KW dargestellt. Er regt die ter Brennraum mit ungünstigem Oberflächen/Volu-
Kurbelwelle zu Drehschwingungen an, die maßgeb- men-Verhältnis, was zu Quencheffekten und entspre-
lich für die Dauerfestigkeit der Kurbelwelle sind. Je chend hohen HC-Emissionen führt, sowie sein hoher
mehr Zylinder auf eine Welle wirken, desto gerin- Kraftstoff- und auch Ölverbrauch. Dennoch hat die
ger ist die Ungleichförmigkeit der Drehkraft und sie Firma Mazda nach dem Ersteinsatz bei NSU (Wankel
nähert sich der mittleren Drehkraft FTm an. Die Spider, 1964 und RO 80, 1967) diese Motorenbauart
verbleibenden Schwankungen der Drehkraft über kontinuierlich weiterentwickelt, und wird sie auch wei-
dem Arbeitsspiel bewirkt eine ungleichförmige Dreh- terhin mit dem für 2012 angekündigten Renesis RX-9
geschwindigkeit am Kurbelwellenende. Der Un- weiterverfolgen. Dies trägt maßgeblich zum Techno-
gleichförmigkeitsgrad ist dabei definiert als logieimage der Marke Mazda bei. Für die Zukunft
δS = (ωmax − ωmin)/ωmin . wird auch ein Betrieb mit Wasserstoff geplant [9].
Weiterhin wird der Rotationskolbenmotor auch in
Er muss durch die Massenträgheit des Schwungrades einer potentiellen Nutzung als Range Extender, also
auf ein Maß zurückgeführt werden, das dem Anwen- als zusätzlicher Verbrennungsmotor zur Reichweiten-
dungsfall angemessen ist (Kompromiss aus Dreh- steigerung in einem Elektrofahrzeug, gesehen.
gleichförmigkeit und spontanem Beschleunigungs-/
Hochlaufverhalten).
Die freien Kräfte und Momente können durch rotie-
rende Ausgleichsmassen mit Kurbelwellendrehzahl
(1. Ordnung) oder mit doppelter Kurbelwellendreh-
zahl (2. Ordnung) voll oder zumindest teilweise
kompensiert werden, sodass in den Motorlagerungen
keine oder nur geringe Kräfte aus den Massenbewe-
gungen des Triebwerks aufgenommen werden müs-
sen. Die Auslegung der Motor- und Getriebelagerung
Phase 1 Phase 2
konzentriert sich dann auf die Abstützung der Reak-
Ansaugen Verdichten
tionskräfte aus dem Abtriebsmoment des Motor-
Getriebe-Verbunds und aus den Massenträgheiten des
Gesamtmotors im längs, hoch und quer beschleunig-
ten Fahrzeug in Fahrt.
5.1.3.2 Rotationskolbenmotoren
Unter den Rotationskolbentriebwerken hat der 2 : 3-
Kreiskolbenmotor, auch unter dem Namen Wankel-
motor bekannt geworden, eine praktische Anwendung
im Motorenbau gefunden (Bild 5.1-9). Seine Vorteile
Phase ´3 Phase 4
beruhen auf dem vollkommenen Massenausgleich Arbeiten Auspuffen
und der daraus resultierenden großen Laufruhe, seiner
kompakten Bauweise und dem Entfall des Ventil- Bild 5.1-9 Prinzip des Wankelmotors
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 169

5.1.4 Konstruktion und Motormechanik buchsen mit Nikasilbeschichtung (Nickel-Silizium-


Verbindung) ausgerüstet, weil das Grundmaterial
Im Motorenbau haben Kunststoffe mit und ohne nicht als Kolbenlauffläche für Aluminiumkolben ge-
Faserverstärkung, neue Leichtmetalllegierungen und eignet ist. Gehäuse aus übereutektischer Legierung,
Kompositmaterialien auf Basis von Aluminium und im Niederdruck-Kokillenverfahren gegossen, erhalten
Magnesium, Sintermetalle und verbesserte Eisen- eine geeignete Zylinderlauffläche, indem die bei der
werkstoffe Einzug gehalten (siehe auch Kapitel 10) Erstarrung ausgeschiedenen Siliziumkristalle an der
[8, 10]. Antrieb für die Entwicklung und den Einsatz Oberfläche durch chemisches Ätzen freigelegt wer-
neuer Werkstoffe sind das Erreichen verbesserter den. Es gibt auch Verfahren, diese Oberfläche auf
Funktionalität sowie Gewichtseinsparungen. Daneben rein mechanischem Wege herzustellen, wobei die
wird der Einsatz moderner Werkstoffe vorrangig Bearbeitung des harten Materials aber aufwendig ist.
durch die Material- und Prozesskosten bestimmt. Ein Eine weitere Alternative stellt die Beschichtung der
weiterer wesentlicher Gesichtspunkt bei der Auswahl Zylinderlauffläche in einem Laserverfahren oder nach
neuer Werkstoffe ist die Recyclefähigkeit. Die Werk- einem Plasma-Spritzverfahren mit Keramikpartikeln
stoffe müssen nicht nur in den Stoffkreislauf zurück- oder eisenhaltigem Material dar. Andere Hersteller
geführt werden können, sondern sie sollen zu einem fertigen dünne Zylinderbuchsen entweder aus übereu-
möglichst hohen Anteil selbst aus recyceltem Materi- tektischer Legierung oder in einem speziellen Spritz-
al bestehen können. verfahren, das besonders feine Siliziumkornvertei-
Im Zuge der immer mehr verkürzten Entwicklungs- lungen in der Aluminiumlegierung gewährleistet.
zeiten neuer Verbrennungsmotoren kommt der kon- Diese Buchsen werden in die Druckgussmaschine
struktionsbegleitenden Berechnung eine zunehmende eingelegt und mit der „Standardlegierung“ umgossen.
Bedeutung zu. Die unter dem Sammelbegriff CAE In einem weiteren Verfahren wird die Zylinderlauf-
(Computer Aided Engineering) zusammengefassten fläche lokal mit Silizium angereichert. Beim Gieß-
Entwicklungs- und Berechnungsmethoden umfassen prozess wird ein „Preform“ aus Keramikfasern mit
die Vorausberechnung thermischer und mechanischer Siliziumanlagerungen in die Gussform gelegt und mit
Strukturbeanspruchungen sowie von Strukturschwin- „Standardmaterial“ vergossen, das den Preform
gungen, die Simulation von Strömungsvorgängen, durchdringt. (Squeeze casting, Lokasil®-Verfahren,
gasdynamischen Vorgängen bis hin zur vollständigen Bild 5.1-10). Im Bereich der Zylinder bildet sich eine
Simulation eines Fahrzeuges zur Voraussage fahrdy- der übereutektischen Legierung ähnliche Morpholo-
namischer Kenngrößen. CAE-Methoden ermöglichen gie der Randschicht aus, die dann durch Honen und
es heute den Versuchsaufwand deutlich zu reduzieren Ätzen oder Bürsten zu einer geeigneten Zylinderober-
und bereits mit der ersten Prototypen-Generation ein fläche bearbeitet wird.
hohes Maß an Funktionssicherheit und Zuverlässig- Die Entwicklung ist heute so weit gediehen, dass
keit zu erreichen [11], Kap. 11.3. Die weitere Ent- nicht nur bei immer mehr Ottomotoren, sondern auch
wicklung bis zum Serienprodukt konzentriert sich bei den mechanisch sehr hoch beanspruchten Die-
dann vornehmlich auf fertigungsbedingte Anpassun- selmotoren Aluminium-Zylinderkurbelgehäuse einge-
gen der Detailkonstruktion. setzt werden können. In dem extrem auf Gewichts-
5.1.4.1 Kurbelgehäuse reduzierung ausgelegten 3-Liter Auto von Volks-
wagen kam ein 1,2 l TDI-Motor aus Vollaluminium
Der klassische Werkstoff für Zylinderkurbelgehäuse zum Einsatz. Der V8 CDI-Motor von DaimlerChrys-
ist Grauguss. Er ist preiswert, leicht zu vergießen und ler ist in Aluminium mit Grauguss-Buchsen ausge-
zu bearbeiten, hat gute Laufeigenschaften für den führt. Bei allen Motoren mit Aluminium-Zylinder-
Kolben in der Zylinderbohrung, ist warmfest sowie kurbelgehäuse werden Kolben mit einer eisenhaltigen
gut schall- und schwingungsdämpfend. Einige An- dünnen Oberflächenbeschichtung eingesetzt, um ins-
wendungen verwenden heute Grauguss mit Vermi- besondere den Einlauf im Zylinder zu gewährleisten.
kulargrafit (GGV), im englischen Sprachgebrauch Die Ausführung von Kurbelgehäusen in Aluminium
Compacted Graphite Iron (CGI), dessen Festigkeit erfordert im Vergleich zu Grauguss wegen der ab-
höher ist, und der in dünneren Wandstärken vergos- weichenden Schwingungsdämpfungseigenschaften und
sen werden kann, was zu beträchtlichen Bauteilge- Festigkeit gezielte Versteifungen, Verrippungen und
wichtsreduzierungen führt. GGV wird sowohl für optimierte Kraftanbindungen, damit der Motor nicht
Ottomotoren als auch bei größeren Pkw-Dieselmoto- akustisch auffällig wird.
ren (V6, V8) eingesetzt. Die Hauptlagerdeckel kön- Auch Magnesium findet wieder verstärktes Interesse
nen „gecrackt“ werden, d.h. der Bearbeitungs- und als Leichtbauwerkstoff im Motorenbau. Die bekann-
Montageaufwand ist reduziert. ten Probleme hinsichtlich der Korrosionsanfälligkeit
Erhebliche Gewichtsreduzierungen bietet der Werk- und der geringeren Warmfestigkeit von Magnesium
stoff Aluminium. Zylinderkurbelgehäuse aus Alumi- versucht man einerseits mit hochreinem Material
niumlegierung werden mit eingesetzten (sogen. nas- sowie neuen Legierungen und andererseits mit Ver-
sen) Grauguss-Zylinderbuchsen oder Alu-Zylinder- bundkonzepten zu begegnen. Im Motorenbau werden
170 5 Antriebe

Mit Preforms bestückter Vorwärmofen Mit dem „lokalen Werkstoff-Engineering“


während des Gießens erzeugte
LOKASIL-Zylinderlauffläche

REM-Aufnahme

R PROFIL
LC (M50) 0,80 mm
VER 2,50 mm
HOR 250,0 mm

Beispiel: Porsche Boxster


Silizium-Kristalle Aluminium

Ra = 0,15–0,25 μm, Rz = 1,0–3,0 μm, Rpk = 0,4–0,8 μm

LOKASIL-Struktur/Oberflächenrauheit

Bild 5.1-10 Zylinderkurbelgehäuse in Aluminiumlegierung, Lokasil®-Verfahren (Beispiel Porsche)

bevorzugt Saugrohre, Zylinderkopfhauben, Abde-


ckungen und Halter aus Magnesium-Druckguss ge-
fertigt. Einen weiteren Meilenstein hat die BMW AG
mit ihrem neuen Reihensechszylinder Ottomotor in
Mg/Al-Verbundkurbelgehäuse gesetzt (Bild 5.1-11)
[12]. Das open-deck Kurbelgehäuse entsteht aus
einem Insert aus übereutektischer Aluminiumlegie-
rung, welches in einem Druckgießvorgang mit Mag-
nesium umgossen wird. Zur Versteifung der Gesamt-
struktur dient ein Bedplate, welches in Magnesium-
Druckguss mit Stahlsinter-Einlagen im Bereich der
Hauptlager ausgeführt wird. Es wird von einer Ge-
wichtsreduzierung um 24 % gegenüber einem ver-
gleichbaren Aluminium-Kurbelgehäuse berichtet.
5.1.4.2 Kurbelwelle Bild 5.1-11 Mg/Al Verbundkurbelgehäuse
Kurbelwellen für Motoren hoher spezifischer Leis- (BMW AG)
tung werden aus Vergütungsstahl geschmiedet oder
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 171

aus Kugelgrafit-Gusseisen gegossen. Durch verbes- trennen. In der Bruchfläche ergibt sich eine pass-
serte Werkstoffe und Fertigungstechniken können genaue Oberflächenstruktur, weshalb auf die sonst
jetzt auch für Motoren höherer Leistungen gegossene notwendigen Passhülsen oder Passbundschrauben und
Kurbelwellen eingesetzt werden, z.B. auf der Basis den Aufwand für die mechanische Bearbeitung ver-
von leicht modifiziertem GGG70. Besondere Sorgfalt zichtet werden kann. Weil auch eine genaue äußere
ist auf die Lage und Ausführung der Ölbohrungen Kontur des Bauteils gewährleistet ist, kann damit das
(von den Hauptlagern zu den Pleuellagern) zu legen. Klassieren der Pleuel vermieden werden. Wegen der
Mit Rollverdichten oder Induktionshärten wird die Bedeutung für die Massenkräfte werden sonst die
Festigkeit in den hoch belasteten Kehlen am Über- Pleuel nach dem Gewicht des großen Pleuelauges und
gang von den Kurbelwangen zu den Hauptlagern und des kleinen Pleuelauges klassiert und nur eine Ge-
Pleuelzapfen gesteigert. Die Oberflächen an den wichtsklasse je Motor verbaut. An diesem Beispiel
Haupt- und Pleuellagern werden gehärtet und ge- wird deutlich, wie durch Systemkostenoptimierung
schliffen. die Mehrkosten des Rohteils durch Einsparung von
Die Lagerung der Kurbelwelle im Kurbelgehäuse Bearbeitungs- und Handling-Kosten überkompensiert
sowie die Lagerung der Pleuel auf dem Kurbelzapfen werden können. Inzwischen hat man auch Guss- und
wird üblicherweise durch hydrodynamische Gleitla- Schmiedestahlwerkstoffe (z.B. C70S6) mit erhöhter
ger (Mehrschichtlager) ausgeführt [8]. Die Auslegung Sprödigkeit (weniger duktil) entwickelt, die sich gut
der Lager erfolgt unter Anwendung moderner Be- cracken lassen und ist so zu noch günstigeren Sys-
rechnungsverfahren [13]. Bemühungen zur weiteren temkosten für Guss- und Schmiedepleuel gekommen.
Minderung der Triebwerkreibung unter Anwendung Auch bei diesen Lösungen kann die Klassierung
von Wälzlagern sind vereinzelt veröffentlicht worden weitgehend entfallen, da die Toleranzen im Rohteil
[14], befinden sich aber noch im Stadium der Vo- wesentlich eingeschränkt worden sind.
rausentwicklung. Zur weiteren Gewichtsreduzierung dient das soge-
nannte Trapezpleuel, bei dem das kleine Pleuelauge
5.1.4.3 Pleuel auf der Zugseite (oberes Lagerteil) schmaler ausge-
Pleuelstangen werden für normale Belastungsfälle in führt ist. Dies trägt sowohl zur Massenkraft- als auch
GTS-70 gegossen. Hochbeanspruchte Pleuel sind aus zur Reibleistungsminderung bei.
Vergütungsstahl Ckxx geschmiedet (Bild 5.1-12).
Daneben werden Pleuel auch gesintert. Das große 5.1.4.4 Kolben
Pleuelauge solcher Pleuel lässt sich durch „Cracken“ Da die Kolbenmasse direkt in die oszillierende Mas-
senkraft eingeht, bemüht man sich um ausgeprägten
Kolbenringe Leichtbau (Bild 5.1-13). Kolben werden überwiegend
in Kokillenguss, bei höherer Belastung und geeigne-
ter Form auch in Druckguss aus speziellen Alumini-
umlegierungen hergestellt [8, 15]. Das Material muss
Kolben
besonders warmfest sein, geringe Verschleißneigung
aufweisen und hohe Wärmeleitfähigkeit haben sowie
gut vergießbar bzw. pressbar sein. Nach der Ausfor-
Kolbenbolzen
Sicherungsring mung folgt eine Wärmebehandlung (Vergütung), die
die Festigkeit und Härte sowie die Formstabilität im
Betrieb erhöht. Als Maßnahme zur Reduzierung
der Wärmeausdehnung des Alu-Kolbens im Zylinder
werden so genannte Regelglieder verwendet. Dabei
handelt es sich um im Bereich der Bolzennabe einge-
Pleuel gossene Stahlblechstreifen, welche die Wärmedeh-
nung des Kolbenschaftes von der Druck-/Gegendruck-
Pleuellager
richtung in die Bolzenrichtung umlenken. Diese Kol-
ben werden auch als Autothermik- oder Autothermatik-
Kolben bezeichnet. Zur Verbesserung des Einlaufver-
haltens und als Sicherheit gegen Fressen werden Kol-
Pleuel-
ben in der Lauffläche (Kolbenschaft) für Grauguss-
schrauben zylinder mit Graphit und für Aluminiumzylinder mit
einem eisenhaltigen Material beschichtet.
5.1.4.5 Zylinderkopf
Lagerschalen Zylinderköpfe moderner Ottomotoren werden übli-
cherweise in Aluminiumlegierung AlSixx hergestellt.
Bild 5.1-12 Kolben-Pleuel-Komponenten Wegen der komplexen Geometrie der Ein- und Aus-
172 5 Antriebe

Kolbenboden

Kolbenringe Feuersteg

Ringpartie

Bolzen-
sicherung
Kolbenbolzen

Schaft Bolzennabe

Bild 5.1-13 Leichtbaukolben Ottomotor (Beispiel MAHLE)

lasskanäle, des Kühlwassermantels sowie im Bereich raum für den verbesserten Transport der Wärme vom
des Ventiltriebs fertigt man sie im Niederdruck- heißen Ventilteller zum Schaft, von wo sie über die
Kokillen-Gießverfahren. Das Material muss gut ver- Ventilführung abgeleitet wird.
gießbar sein. Die Kühlungsanforderungen, insbeson- Da die Ventilmasse direkt in die Ventiltriebskräfte
dere im Bereich der Zündkerze und der Auslassven- eingeht und auch die notwendige Ventilfedersteifig-
tile, verlangen oft sehr enge und schmale Wasserfüh- keit maßgeblich beeinflusst, werden möglichst leichte
rungen, die beim Gießprozess nicht mit dem Gieß- Ventile angestrebt. Eine in der Erprobung befindliche
kern (Sandkern) versintern dürfen. Hochbeanspruchte Leichtbauvariante eines Ventils ist in Bild 5.1-14
Zylinderköpfe werden zur Homogenisierung und gezeigt. Der Ventilschaft ist aus einem Stahlrohr, der
Steigerung der Warmfestigkeit des Materials an- Ventilteller aus umgeformtem Blech hergestellt. Ge-
schließend noch wärmebehandelt. wichtsreduzierungen von 30 bis 40 % sind das Ziel.
Die Zylinderkopfdichtung stellt ein wesentliches Alternativ wird auch an Ventilen aus Titan-Werkstoff
Konstruktionselement dar, welches den gestiegenen gearbeitet.
Anforderungen hinsichtlich Dauerhaltbarkeit und stei- Auch mit Keramik als Ventilwerkstoff können Ge-
gender Verbrennungsdrücke (insbesondere bei auf- wichtsreduzierungen auf weniger als die Hälfte im
geladenen Dieselmotoren) gewachsen sein muss. Mo- Vergleich zum Standardventil erreicht werden. Sie
derne Zylinderkopfdichtungen sind als Mehrlagen- konnten sich aber insbesondere wegen offener Fragen
stahldichtungen ausgeführt, deren Bereich um den zur Sicherstellung einer gleich bleibend guten Quali-
Brennraum mit Sicken versehen ist. Eine als Stopper tät und nicht konkurrenzfähiger Herstellkosten in der
bezeichnete Gestaltung der Dichtung limitiert die Großserie bisher nicht durchsetzen.
Zusammenpressung dieser Sicken und erhöht somit
die Lebensdauer des Dichtsystems [16, 17]. Nockenwellen
Nockenwellen verlangen eine harte, ermüdungs- und
5.1.4.6 Ventiltrieb und Steuertrieb verschleißfeste Nockenoberfläche. Hierzu kommen
Stahlwerkstoffe (Einsatzstahl, Nitrierstahl) oder Guss-
5.1.4.6.1 Hauptbauteile des Ventiltriebs
eisen mit Lamellen- oder Kugelgrafit, z.B. GGG60
Der Ventiltrieb besteht aus den Ein- und Auslassven-
tilen, den sie schließenden Ventilfedern, dem No- Leichtbau Standard Stahl Keramik
ckentrieb und den Übertragungsgliedern.

Ventile
Ventile werden, zumindest im Ventilteller-Bereich, aus Schaft
hochwarmfestem und zunderbeständigem Stahl (z.B.
NiCr20TiAl, Nimonic) gefertigt. Der Ventilschaft ist
aus weniger hoch legiertem Stahl und wird durch
Reibschweißen verbunden. Im Ventilsitzbereich sind
die Ventilteller entweder mit einem verschleißfesten
Material plasmabeschichtet oder gehärtet. Die Auslass-
ventile von Hochleistungsmotoren werden auch mit Teller

einem bis in den Ventilteller hineinreichenden Hohl- Sitz


raum, welcher teilweise mit Natrium gefüllt ist, ausge-
führt. Durch die schnelle Bewegung des Ventils sorgt Bild 5.1-14 Ventile aus unterschiedlichen Materia-
das flüssige Natrium (Schmelzpunkt = 97 °C) im Hohl- lien (Beispiel MAHLE)
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 173

Stopfen

gesinterte Präzisionsnocken

Präzisionsrohr

Kettenrad
Deckel
Bild 5.1-15 Gebaute
Einzelteile der Nockenwelle (Beispiel
gebauten Nockenwelle Gebaute Nockenwelle MAHLE)

zum Einsatz. Die Nockenoberfläche wird mittels 5.1.4.6.2 Bauformen des Ventiltriebs
Wolfram-Inertgas-Umschmelzverfahren (WIG) oder
induktiv auf die erforderliche Härte gebracht. Auch In Bild 5.1-16 sind die gebräuchlichsten Konstruktio-
das Schalenhartgussverfahren (Croning) wird ange- nen für Ventiltriebe sowie ein typisches Steuerdia-
wandt. Zur Gewichtsreduzierung werden die Wellen gramm mit den zugehörigen Ventilgeschwindigkeiten
auch hohl gegossen oder nachträglich gebohrt. und -beschleunigungen gezeigt. Im Kraftfahrzeugmo-
Neuere Varianten bestehen aus einer Verbundkon- torenbau werden heute generell „hängende“ Ventile
struktion, bei der Nocken, Lager, Antriebsräder, Ab- eingesetzt, was dem englischen Sprachgebrauch ent-
standshülsen und sonst noch erforderliche Teile als lehnend mit „overhead valves“ (OHV) bezeichnet
Einzelteile (kostengünstig) hergestellt und auf ein wird. Ebenso hat sich die oben liegende Anordnung
Tragrohr in Position aufgeschoben werden. Die feste der Nockenwelle(n) durchgesetzt; die gebräuchlichen
Verbindung der Elemente zum Tragrohr erfolgt Bezeichnungen hierfür lauten „overhead camshaft“
entweder über einen Schrumpfsitz, mit einem Lötver- (OHC) bzw. bei zwei oben liegenden Nockenwellen
fahren oder durch mechanische Aufweitung von „double overhead camshaft“ (DOHC). Wesentlicher
innen oder durch hydraulisches Innenhochdruck-Um- Vorteil dieser Bauformen ist die Tatsache, dass die
formen des Tragrohres (Bild 5.1-15). Ziel ist dabei, geringeren bewegten Massen höhere Motordrehzah-
dass keine weitere Endbearbeitung notwendig ist. len gestatten als dies mit der früher bevorzugten
Gelegentlich wird noch ein letzter Schliff für die Bauform der im Kurbelgehäuse untergebrachten
Nockenkontur vorgenommen. Vorteile sind die Frei- „unten liegenden“ Nockenwelle mit Stoßstangenüber-
heit der Materialauswahl für die einzelnen Teile und tragung auf die im Zylinderkopf befindlichen Kipp-
deutliche Gewichtseinsparungen, die durch den Ein- hebel möglich war.
satz eines Rohres anstelle von Vollmaterial erreicht Neben der möglichen Motordrehzahl definiert der
werden. Die Antriebsarten des Ventiltriebes sind in Ventilquerschnitt über die Zylinderfüllung die erziel-
Kapitel 5.1.4.6.2 beschrieben. bare Leistungsdichte des Motors. Dies erklärt den
Für Ventiltriebsteile, die aufgrund ihrer Formgebung anhaltenden Trend zu Mehrventilmotoren, welcher
aufwändig zu bearbeiten wären oder die besondere ausgehend vom klassischen Zweiventilkonzept An-
Legierungen erfordern, werden bevorzugt Sinterme- ordnungen mit 3, 4 und 5 Ventilen pro Zylinder und
talle eingesetzt. Ölpumpen-, Ketten- und Zahnrie- mit einer oder zwei (getrennt für Einlass- und Aus-
menräder sind „Fertigteile“, die keiner mechanischen lassventile) Nockenwellen hervorgebracht hat. Bei
Nachbearbeitung mehr bedürfen. Ventil-Schlepp- ungeraden Zahlen ist immer ein Einlassventil mehr
oder Kipphebel sind weitere Formteile, die nur noch vorhanden als Auslassventile.
geringe Bearbeitung oder Nacharbeit erfordern. Sie Die Bewegung der Ventile wird von der Nockenwelle
werden sowohl gesintert als auch durch Blechumfor- ausgelöst und über Schlepp- oder Schwinghebel,
mung gefertigt. Ventilsitzringe erfordern spezielle Kipphebel oder Tassenstößel auf den Ventilschaft
warmfeste Legierungen, damit die Ventile sich über übertragen. Die Übertragungsglieder nehmen in ihren
die Betriebsdauer nicht „setzen“. Ventilführungen Lagerungen die Kräfte auf, die sich aus der Gleitbe-
werden aus tribologisch vorteilhaften und verschleiß- wegung des Nockens, den Ventilfederkräften und den
armen Legierungen hergestellt. Massenträgheiten ergeben. Der Ventilschaft sollte nur
174 5 Antriebe

1 2 3

OHV/OHC OHV/OHC OHV/DOHC

Auslasstakt Einlasstakt
Geschwindigkeit x

Beschleunigung x
x
Hub x

Ventilspiel

x
Aö Eö As Es Bild 5.1-16 Ventilsteue-
rungsbauarten mit Steuer-
0
diagramm, Ventil-
120° 240° 360° 480° 600° 100° 200° 300° 400°
geschwindigkeit und
UT OT UT Kurbelwinkel
-beschleunigung

möglichst geringe Seitenkräfte aufnehmen müssen; „RSH“). Damit kann die Reibleistung beträchtlich
diesbezüglich weist die Ausführung mit Tassenstö- reduziert werden. Bei kleinen Drehzahlen geht der
ßeln ideale Bedingungen auf, da diese in einem Reibmitteldruck des gesamten RSH-Ventiltrieb bis
1
Schiebesitz in Ventilachsrichtung geführt sind. auf /3 des Wertes für Gleitabgriff mit Tassenstößel
Die Auslegung der Steuernockenkontur erfolgt unter (TS) zurück (Bild 5.1-17). Bei hohen Drehzahlen
Berücksichtigung der zulässigen Hertz’schen Pres- liegen am Gleitkontakt so gute hydrodynamische
sung im Nockenkontakt sowie des Beschleunigungs- Schmierverhältnisse vor, dass ähnlich gute Reibmit-
verlaufs auf der Anlauframpe und auf der Ablauf- teldrücke wie beim Rollenhebel erreicht werden. Da
rampe bis zum Ventilaufsetzen im Interesse maxima- für den praktischen Fahrbetrieb aber die unteren
ler Fülligkeit des Ventilhubes, d.h. möglichst langes Drehzahlbereiche von großem Einfluss sind, wirkt
Offenhalten bei großem Ventilhub. Es werden „har- sich die Reibungsminderung der Rollenschlepphebel
monische“ Nocken ausgelegt, bei denen die Be- merklich auf den Kraftstoffverbrauch aus.
schleunigung des Ventils stetig, d.h. ohne Kraft- Zur Minderung des Wartungsaufwandes am Ventiltrieb
sprünge verläuft. Beim Ventiltrieb mit Rollenkontakt sind Tassenstößel bzw. bei den Schlepp- oder Kipp-
sind konkave Nockenflanken erforderlich, um einen hebeln Widerlager hydraulisch wirkende Ausgleichs-
harmonischen Ventilhub zu erreichen. Das Schleifen elemente entwickelt worden. Diese Hydro-Elemente
solcher Hohlnocken erfolgt mit speziellen Band- und werden vom Motorölkreislauf gespeist und halten das
Scheibenschleifmaschinen. Spiel zwischen Nockengrundkreis und Ventilschaft
In der Kontaktkette vom Nocken bis zum Ventil muss immer auf null. Ventilsetzen infolge von Einschlagen
immer Kraftschluss bestehen. Dies wird einerseits im Ventilsitzring und thermische Längenänderungen
durch entsprechend geringe Massen angestrebt und im Langzeit- und Kurzzeitbetrieb werden somit
andererseits durch ausreichend bemessene Steifigkeit ständig ausgeglichen. Die damit erzielte Spielfreiheit
der Ventilfedern sichergestellt. Wegen der hohen des Ventiltriebs wirkt sich auch günstig auf die Ven-
Flächenpressung im Nockenkontakt sind besondere tiltriebsgeräusche aus. Allerdings bewirkt dieser Aus-
Werkstoffbehandlungen oder Oberflächenbeschich- gleich auch den dauernden Reibkontakt zwischen
tungen auf dem Nocken und der Gegenfläche erfor- Stößel bzw. Hebel und Nockengrundkreis. Einige
derlich, die gleichzeitig in ihrer Paarung günstige Hersteller gehen deshalb wieder vom hydraulischen
Reibeigenschaften aufweisen sollen. Trotz aller Ventilspielausgleich ab, seitdem die Werkstoffe für
Vorkehrungen kommt es bei der Gleitbewegung auf die Ventilsitze besser langzeitwärmestabil sind und
dem Hebel oder Tassenstößel zu beträchtlichen Reib- das eingestellte Ventilspiel sich auch über lange
momenten. Moderne Motoren nutzen deshalb zuneh- Betriebszeiten kaum verändert.
mend Schlepphebel, die an der Nocken-Kontaktstelle Die Nockenwellen werden über eine Kette (Einfach-
nadelgelagerte Rollen haben (Rollenschlepphebel oder Doppel-Rollenkette) oder einen Zahnriemen mit
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 175

Auslass-Ventiltrieb Einlass-Ventiltrieb

Zwillings-
Drillings-
Steckachse, dient Rollenschwinghebel
Rollenschwinghebel
gleichzeitig der
Ölversorgung

Hohlnocken
Hohlnocken

Rolle zwischen hydraulisches


Steckachse
Hebelarmen Ventilspiel-
sitzend Ausgleichselement
mit Gleitschuh

hydraulisches
Ventilspiel-
Ausgleichselement
mit Gleitschuh

Einlassventil 2

Auslassventil Einlassventil
1 und 3

V8-5V RSH
0,40 V8-4V TS

Ventiltriebe (Streubänder):
Gleitabgriff
Reibmitteldruck pmr [bar]

0,30 Rollenabgriff

0,20

0,10

0
0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000
Drehzahl [1/min]

Bild 5.1-17 Ventiltrieb mit Rollenübertragung und Vergleich des Reibmitteldruckverlaufes beim Gleitabgriff
(Beispiel Audi V8 mit Fünfventiltechnik)

halber Kurbelwellendrehzahl angetrieben (4-Takt- querschnitten und -längen sowie den Öffnungscha-
Verfahren). Bei einem festen Nockentrieb (ohne Ver- rakteristiken der Ventile beeinflusst wird. Die Fül-
stellung) laufen Kette oder Zahnriemen über ein oder lung der Zylinder wird daher nur für einen einge-
beide Nockenwellenräder. Die Belastung des Über- schränkten Drehzahlbereich optimal ausgelegt wer-
tragungsgliedes ist schwellend, da der Drehkraft- den können, wenn keine variablen Geometrien und
verlauf an der Nockenwelle aus der Summierung der Ventilsteuerzeiten verwirklicht sind.
zyklischen Belastungen der einzelnen Nocken nicht Zur besseren Anpassung an unterschiedliche Drehzahl-
konstant ist. niveaus des Motors (Drehzahlspanne < 1.000 1/min
Die Ventile mit dem Ventiltrieb steuern im Zusam- bis > 6.000 1/min) dient die variable Verstellung der
menwirken mit dem Ansaugtrakt und dem Abgassys- Einlassnockenwelle. Dabei wird die Ventilüber-
tem den Ladungswechsel des Motors. Dies ist ein schneidung drehzahlabhängig so verändert, dass mit
hochdynamischer Vorgang, der von den Strömungs- zunehmender Drehzahl das Einlassventil früher öff-
176 5 Antriebe

net, während das Auslassventil noch geöffnet ist


(Ventilüberschneidung). Ziel ist, sowohl bei kleineren Schrägverzahnung
als auch bei höheren Drehzahlen des Motors die
Füllung und damit das Drehmoment des Motors zu
steigern. Die praktische Grenze beim Ottomotor liegt
jedoch darin, dass im Zusammenspiel von Füllung,
Verdichtungsverhältnis und Zündung die Klopfgrenze Öldruck
des Motors das Drehmoment begrenzt.
Der Antrieb der Nockenwelle erfolgt mittels Zahnrie- Rückholfeder
men, Kette oder auch Zahnrädern. Primäre Kriterien
für die Auswahl des für den jeweiligen Anwendungs-
fall geeigneten Antriebskonzeptes sind der Wartungs- Bild 5.1-18 Nockenwellensteller
aufwand sowie die zu übertragenden Kräfte. Riemen-
triebe haben selbst für direkteinspritzende Dieselmo- 32 V DOHC Motor des Lexus 460 wurde unter
toren, bei denen zusätzlich die Hochdruck-Einspritz- der Bezeichnung VVT-iE erstmalig ein elektromoto-
pumpe vom Riemen angetrieben werden muss, ihre risch betätigter Einlass-Nockenwellensteller einge-
Tauglichkeit unter Beweis gestellt. Dennoch ist ein setzt. Heute in Serie produzierte Systeme realisieren
Trend zu Kettentrieben zu verzeichnen, die insbesonde- Verdrehwinkel von bis zu 40° NW (entsprechend 80°
re hinsichtlich der Wartungsfreiheit vorteilhaft sind. Kurbelwinkel). Damit lassen sich die Steuerzeiten
aller von der jeweiligen Nockenwelle gesteuerten
5.1.4.6.3 Variable Ventilsteuerung
Ventile in einheitlicher Richtung verschieben. Bei
Neben den konventionellen Systemen mit fester Zu- Motoren mit zwei obenliegenden Nockenwellen
ordnung von Ventilhub und Kurbelstellung des Mo- (DOHC) kann auf diese Weise sowohl die Größe als
tors setzen sich verstärkt Variabilitäten im Ventiltrieb auch die Lage der Ventilüberschneidung beeinflusst
durch. Hierbei wird eine betriebspunktabhängige Ver- werden. Wenn auch damit beträchtliche Verbesserun-
änderung der zeitlichen Zuordnung der Ventilöffnung gen des Teillast- und Volllast-Betriebsverhaltens
zur Kurbelstellung und auch des Ventilhubs verwirk- erzielt werden können, so ist aufgrund des begrenzten
licht. Hierauf wird in Kapitel 5.2.1.4 noch näher Verstellbereiches sowie wegen der fehlenden Beein-
eingegangen. Inwieweit die dort beschriebenen Vor- flussung der Ventilöffnungsdauer eine drosselfreie
teile der variablen Ventilsteuerung in der Praxis Laststeuerung ohne weitere Systemveränderungen
nutzbar gemacht werden können hängt wesentlich nicht möglich.
davon ab, in welchem Ausmaß die gewählte kon- Eine weitere Möglichkeit liegt in schaltbaren Über-
struktive Umsetzung Variabilitäten hinsichtlich der tragungselementen zwischen Nockenprofil und Ven-
Ventilsteuerzeiten und des Ventilhubes gestattet. tilstößel. Schaltbare Tassenstößel oder Abstützele-
Hinsichtlich der konstruktiven Umsetzung der variab- mente ermöglichen die Abschaltung einzelner Ven-
len Ventilsteuerung sind eine Vielzahl von Konzepten tile. Auch der alternierende Betrieb mit zwei unter-
vorgeschlagen und teilweise auch umgesetzt worden. schiedlichen Nockenprofilen ist realisiert worden,
Der nachfolgende Überblick über die wichtigsten wobei die Nockenwelle je Ventil zwei unterschiedli-
Konzepte ist in nockenbetätigte und direkt betätigte che Nocken beziehungsweise Nockenpaare aufweist,
Systeme unterteilt. welche konzentrische Teilflächen eines schaltbaren
Tassenstößels betätigen. Damit sind eine Teillast- und
Nockenbetätigte Systeme eine Volllast-optimale Ventilerhebung darstellbar,
Bei nockenbetätigten Systemen können durch ent- was den ansonsten notwendigen Kompromiss hin-
sprechende Eingriffe in die Kinematik des Ventil- sichtlich Steuerzeiten und Ventilhub entschärft. Ein
triebs die Phasenlage der Ventilöffnung, die Öff- Beispiel für diese Technologie ist der von Mitsubishi
nungsdauer und der Ventilhub in Grenzen variabel in Serie produzierte MIVEC-Motor, bei dem der
beeinflusst werden. Schaltmechanismus in die Kipphebel integriert ist.
Die Variation der Steuerzeiten erfolgt üblicherweise Damit wird eine Umschaltung zwischen einer Ventil-
mittels einer Verdrehung der Nockenwelle relativ hubkurve für niedrige und hohe Motordrehzahlen
zum Kurbeltrieb. Nockenwellensteller wurden erst- sowie eine völlige Deaktivierung einzelner Ventile
mals von Alfa Romeo 1983 in Serie eingesetzt. Ne- zur Zylinderabschaltung realisiert. Bild 5.1-19 zeigt
ben Zwei-Punkt-Stellern, die nur die Einstellung eine ähnliche Lösung der Firma Honda, die unter dem
zweier definierter Positionen ermöglichen, kommen Namen VTEC dieses System an diversen Motoren in
zunehmend auch kontinuierlich wirkende Systeme Serie produziert. Unter der Bezeichnung VarioCam
zum Einsatz [18]. Die Funktion dieser Nockenwel- Plus setzt die Porsche AG diese Technologie in
lensteller beruht auf einer hydraulisch verschiebbaren diversen Hochleistungsmotoren ein.
Schrägverzahnung (Bild 5.1-18) oder auf dem umge- Das von Audi am 2,8 L V6 FSI Motor erstmals unter
kehrten Prinzip der Flügelzellenpumpe. Im 4,6 L V8 dem Namen AVS eingesetzte System schaltet eben-
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 177

Nockenprofil für niedrige Drehzahlen Nockenprofil für hohe Drehzahlen

Ölkanal in Öldruck
Schlepphebel-
lagerung

Schwinghebel entriegelt bei Schwinghebel verriegelt bei


Sperrriegel niedriger Drehzahl Sperrriegel hoher Drehzahl Bild 5.1-19 Schaltbarer
Ventiltrieb (Honda VTEC)

falls zwischen zwei Ventilerhebungskurven. Auf den setzt. Die Variabilität der Ventilerhebung liegt prin-
gewalzten Passverzahnungen der Nockenwelle sind zipbedingt innerhalb der Nockenkontur.
Nockenstücke mit zwei unterschiedlichen Nocken- Zur kontinuierlichen Beeinflussung der Übersetzung
profilen verschiebbar geführt. In der Grundkreisphase zwischen Nockenerhebung und Ventilbewegung sind
bewirken hydraulisch betätigte Stifte in Kombination eine Vielzahl konstruktiver Lösungen vorgeschlagen
mit zwei im Nockenstück eingearbeiteten Verschie- worden. Viele dieser Konzepte arbeiten mit einem
benuten die Schaltung auf das jeweils andere No- Schlepp- oder Kipphebel, dessen Position mittels
ckenprofil. Die Übertragung auf die Ventile mittels Exzenter veränderlich ist. Je nach kinematischer Aus-
Rollenschlepphebeln sowie die Nockenwellenlage- legung ist damit eine kombinierte Beeinflussung des
rung sind dabei prinzipiell vom konventionellen Ventilhubes und der Ventilöffnungsdauer möglich
Ventiltrieb übernommen [19]. Das System wird am (Bild 5.1-21). Die aus den zusätzlichen Ventiltriebs-
2.0 L TFSI System auch auslassseitig eingesetzt, um komponenten resultierende Zunahme der Reibarbeit
eine Zündfolgetrennung zu gewährleisten, die ein bei wird im Teillastbereich infolge des verringerten
maximaler Ventilüberschneidung durch den Voraus- Ventilhubes kompensiert, sodass hier sogar zusätz-
lassstoß des Nachbarzylinders verursachte Rück- liche Vorteile zu verzeichnen sind [20]. In Kombina-
strömen von Abgas in das Saugsystem verhindert tion mit Nockenwellenstellern wird mit diesen Sys-
[26]. temen ein hohes Maß an Variabilität erreicht.
Neben den zwischen zwei Ventilerhebungskurven Seit 2008 wird von Toyota die als Valvematic be-
umschaltenden Systemen gibt es weitere Systeme, die zeichnete variable Ventilsteuerung in Serie produ-
einen variablen Ventilhub ermöglichen. Unter dem ziert. Das System nutzt einen speziellen Ventilhebel
Namen MultiAir ist ein hydraulisches System in zur kontinuierlichen Verstellung der Steuerzeiten und
verschiedenen Motoren von FIAT und Alfa Romeo in des Ventilhubes, der zwischen Nockenwelle und kon-
Serienproduktion [27]. Das System basiert auf dem ventionellem Ventilhebel angeordnet ist. Ein elektri-
Lost-Motion Prinzip, bei dem die Nockenerhebung scher Aktuator steuert Ventilhub und Öffnungsdauer,
hydraulisch auf das Ventil übertragen wird, so dass wobei zusätzlich ein- und auslassseitig hydraulisch
das Schließen des Ventils vorzeitig durch Absteuern kontinuierlich verstellbare Nockenphasensteller ver-
des Hydraulikdruckes ausgelöst wird (Bild 5.1-20). wendet werden [28].
Dadurch werden der Hub und die Schließzeit des
Ventils vom Nockenhubverlauf entkoppelt. Zur Exzenterwelle Hebel
Dämpfung der Ventilbewegung bei Annäherung an Nockenwellen
den Ventilsitz werden hydraulische Systeme einge-

Hydraulischer Stößel

Magnetventil

Drucköl
Schmierkreislauf

Druckspeicher

Bild 5.1-21 Mechanisch variable Ventilsteuerung


Bild 5.1-20 Hydraulische Ventilsteuerung (BMW Valvetronic [20])
178 5 Antriebe

Eine weitere Steigerung der Variabilität folgt aus der men und die magnetische Kraft nur zur Initiierung
Realisierung der Ventilbewegung mittels zweier und Unterstützung des Öffnens und Schließens ge-
Nockenwellen, wobei eine für die Ventilöffnung und nutzt wird. Auf diese Weise kann ein großer Teil der
die andere für das Schließen genutzt wird. Die No- zur Ventilbetätigung üblicherweise aufzuwendenden
ckenerhebungen beider Wellen werden über einen Energie eingespart werden. In dieser Kombination
Hebelmechanismus mechanisch zueinander addiert. spricht man von einer elektromechanischen Ven-
Bei unabhängiger Verdrehung beider Nockenwellen tilsteuerung (EMV). Bild 5.1-22 zeigt den schemati-
lässt sich damit sowohl der Öffnungs- als auch der schen Aufbau eines auf diesem Prinzip beruhenden
Schließzeitpunkt beeinflussen [21]. Mit dieser Lö- Ventiltriebes. Das Ventil wird von einem Stößel
sung wird eine weitgehende Entkoppelung der Steue- betätigt, welcher mit einem Anker verbunden ist.
rung von Ventilhub und Öffnungsdauer erreicht, was Dieser Anker bildet in Kombination mit zwei Federn
sich positiv auf die Einsparung an Ladungswechsel- einen Feder-Masse-Schwinger, dessen Totpunktlagen
verlusten auswirkt. der geschlossenen und voll geöffneten Position des
Eine weitere Möglichkeit zur Steigerung der Variabi- Ventils entsprechen. Die Eigenfrequenz des Schwin-
lität nockengesteuerter Ventiltriebe liegt in konstruk- gers bestimmt maßgeblich die Zeit für das Öffnen
tiven Konzepten, die direkten Einfluss auf die No- und Schließen des Ventils. Mithilfe der beiden Elekt-
ckenerhebung nehmen. Aus dem Großmotorenbau romagneten kann nun die oszillierende Bewegung der
sind axial verschiebbare Nocken mit Raumprofil be- Ventile in den Totpunktlagen unterbrochen werden.
kannt. Für Pkw-Motoren sind Systeme mit zweischa- Ohne Erregung der beiden Elektromagneten schwingt
lig aufgebauten Nockenwellen ausgeführt worden, die das System reibungsbedingt aus und verharrt in der
mittels mechanischen Eingriffs eine Verdrehung Ruhelage, welche dem halben Ventilhub entspricht.
einzelner Nocken auf der Welle zulassen [22]. Vor Inbetriebnahme des Motors muss das System
deshalb zum Beispiel durch wechselweises Erregen
Direkt betätigte Systeme der beiden Magneten in Eigenfrequenz angeschwun-
Für die direkte Betätigung der Ventile kommen im gen werden, bis der Schließmagnet das Ventil in der
Wesentlichen hydraulische und elektromagnetische geschlossenen Position einfängt.
Systeme in Betracht. Die hydraulischen Konzepte Der Ablauf der Ventilsteuerung ist aus den im Bild
arbeiten mit in einem Hydrauliksystem gespeicherter gezeigten typischen Stromverläufen erkennbar. Aus-
Energie. Die Ventilbetätigung wird über schnelle gehend von der geschlossenen Position wird die
Magnetventile und Hydraulikzylinder ausgelöst. Die Erregung des Schließmagneten mit Haltestrom unter-
Ventilbewegung ist sowohl hinsichtlich der Steuer- brochen. Die in der oberen Feder gespeicherte Ener-
zeiten als auch des Ventilhubes variabel. Ebenso ist gie bewegt das Ventil bis der Schwinger seine untere
die individuelle Ansteuerung einzelner Ventile mög- Totpunktlage erreicht. In dieser Stellung wird die
lich. Die bekannt gewordenen Ausführungen weisen Schwingung durch Zuschalten des Stroms für den
jedoch eine begrenzte Dynamik auf, was dem Einsatz unteren Magneten wieder unterbrochen. Die bei der
bei höheren Drehzahlen entgegensteht. Ventilbewegung auftretenden Reibungsverluste wer-
Bei der Betätigung der Gaswechselventile mit magne- den durch eine kurzzeitig erhöhte Bestromung des
tischer Kraft ist es besonders vorteilhaft, wenn die unteren Magneten kompensiert. Dieser Fangstrom
Bewegung der Ventile durch Federkräfte vorgenom- wird kurz vor Erreichen der Totpunktlage des

Stromverlauf oberer Magnet

Geschlossen

Ventilhub

Geöffnet

Stromverlauf unterer Magnet

0
Bild 5.1-22 Elektromecha-
Zeit
nischer Ventiltrieb
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 179

Schwingers zugeschaltet. Das Schließen des Ventils höheren (spezifischen) Leistungen an praktische Gren-
ist ein unabhängiger Vorgang und wird in gleicher zen. Der im Vergleich zur Wasserkühlung schlechtere
Weise vorgenommen, wobei jetzt die untere Feder die Wärmeübergang und die geringere Wärmekapazität
Bewegung auslöst und der obere Magnet aktiviert der Luft erfordern sehr große Kühlflächen, die durch
wird. In Verbindung mit einer Closed-Loop-Regelung Rippen geschaffen werden müssen. Selbst bei Motor-
des Aktuators kann die Annäherung des Ankers an rädern wird zunehmend auf Flüssigkeitskühlung
die Polflächen der Magnete beziehungsweise das umgestellt. Die Flüssigkeitskühlung bietet dagegen
Aufsetzen des Ventils im Ventilsitz so gesteuert wer- bessere Voraussetzungen für eine gleichmäßigere
den, dass einerseits keine akustischen oder sogar die Temperaturverteilung im Motor, und sie hat Vorteile
mechanische Festigkeit beeinträchtigenden Probleme für die Auslegung und Regelung der Fahrzeughei-
auftreten und andererseits auch keine unnötig hohen zung.
Stromstärken zum sicheren Öffnen und Schließen der Die Flüssigkeitskühlung besteht in einem Motor-
Ventile aufgewendet werden müssen. Darüber hinaus Fahrzeug-System in der Regel aus 2 oder 3 Kreisläu-
gestattet diese Technologie auch ein nur teilweises fen, die automatisch per Thermostat und über die
Öffnen (Minihub) oder ein verzögertes Schließen der Steuerung der Fahrzeuginnenraumheizung gesteuert
Ventile, was sich zur Intensivierung der Ladungsbe- werden (Bild 5.1-23; siehe auch Kapitel 3.3). Bei
wegung gezielt nutzen lässt. einigen Fahrzeugen sind auch noch Motorölkühler,
Der elektrische Energiebedarf des elektromechani- Generator, Getriebeölkühler und Abgasturbolader in
schen Ventiltriebs muss den mechanischen Verlusten das Kühlsystem einbezogen.
eines konventionellen Ventiltriebes gegenübergestellt Als Kühlmittel kommt ein Gemisch aus Wasser und
werden. Bei einem Generatorwirkungsgrad von 80 % Frostschutzmittel (meist Äthylenglykol) und, je nach
ergibt sich für den elektromechanischen Ventiltrieb Einsatzfall, spezifischen Inhibitoren (Korrosions-
im Teillastbetrieb ein Energiebedarf, der dem Niveau schutz) zum Einsatz. Das Kühlmittel nimmt die
reibungsarmer Ventiltriebe mit Rollenabgriff ent- Wärme im Motor auf und transportiert sie in den
spricht [23]. Kühler, der die Wärme weiter an die durchströmende
Die mit variabler Ventilsteuerung erreichbaren Ver- Umgebungsluft abgibt.
brauchseinsparungen im europäischen Testzyklus Das Kühlsystem des Motors muss sicherstellen, dass
hängen stark von der realisierten Variabilität ab. Für an den Stellen der größten Wärmebelastung, am
die elektromechanische Ventilsteuerung in Kombina- Zylinderkopf mit den Auslasskanälen, ausreichend
tion mit Teillast-Zylinderabschaltung oder Aufladung Wärme abgeführt wird. Andererseits sollen kühlere
besteht ein Potenzial von 18 %. Im Gegensatz zum Stellen weniger intensiv gekühlt oder gar erwärmt
Schichtbetrieb mit Benzindirekteinspritzung bestehen werden, um eine gleichmäßige Temperaturverteilung
hier keine Beeinträchtigungen von Seiten der Abgas- im Bauteil zu erreichen. In der Regel wird das Wasser
reinigung. Im Gegenteil bietet die variable Ven- in den Zylinderblock hineingefördert und strömt von
tilsteuerung Möglichkeiten, die Kaltstartemissionen dort über die gesamte Motorlänge verteilt in den
zu reduzieren und das Potenzial der Drei-Wege- Zylinderkopf und am anderen Motorende wieder
Katalysatortechnik durch eine beschleunigte Aufhei- hinaus. Die Durchströmung des Zylinderkopfes wird
zung des Katalysators weiter auszuschöpfen. mit den Durchflussquerschnitten in der Zylinderkopf-
dichtung gesteuert und mittels angepasster Strömungs-
5.1.4.7 Motorkühlung führung gezielt zu den „Hotspots“ geleitet. Wichtig
Die Wandwärmeverluste beim realen Arbeitsprozess ist, dass der Strömungsweg im Zylinderkopf keine
führen zur Aufheizung der Brennraumwände (Zylin- Dampfblasenansammlungen zulässt, da diese zum
derkopf, Kolben, Zylinder) und erfordern deren Zusammenbruch der Wärmeabfuhr führen würden.
Kühlung, damit keine Bauteilüberhitzung, Schmier- Auf der anderen Seite ist die Kühlung des Motors nur
ölverkokung und Leistungsverlust infolge von Fül- auf die notwendigen Bereiche zu beschränken. Aus
lungsverlust eintritt. Gut ausgelegte Kühlung und diesem Grund ist der Wasserraum an den Zylinder-
Schmierung sind Grundvoraussetzung für den opti- wänden lediglich auf die obere Hälfte oder das obere
malen Betrieb eines Motors, damit die Reibung aller Drittel des vom Kolben überstrichenen Weges im
bewegten Teile und die Betriebstemperatur in vorge- Zylinder beschränkt. Hiermit wird bezweckt, dass die
gebenen akzeptablen Grenzen ablaufen. Zylinderlaufflächen und der dort brennraumseitig
Luftkühlung wird heute in Fahrzeugmotoren nur noch vorhandene Schmierölfilm ideale Bedingungen hin-
selten angewandt. Obwohl die Kühlfunktion der sichtlich der Reibungsverluste aufweisen. Diese
Luftkühlung immer weiter verbessert wurde durch Bedingungen sollen gerade nach einem Kaltstart des
strömungsgünstige Gestaltung und verfeinerte Gieß- Motors schnell erreicht werden. Da aber die Kühlmit-
techniken für die Kühlrippen, und obwohl die Leis- telpumpe üblicherweise direkt mit dem Motorlauf
tungsaufnahme und Geräuschentwicklung des Geblä- über den Riementrieb gekoppelt ist, wird zunächst
ses durch konstruktive Maßnahmen sehr weit herab- über einen Thermostaten ein kleiner Kühlkreislauf
gesenkt werden konnte, stößt die Luftkühlung bei geschaltet, der den Kühler umgeht und so die aufzu-
180 5 Antriebe

Heizung

Ausgleichs-
behälter

Kühlmittel-
Verteiler-
gehäuse

Ölkühler bei
Automatikgetriebe

Thermostat
Kühlmittelpumpe für kennfeld-
Ölkühler gesteuerte
Motorkühlung
Ventilator

Kühler Bild 5.1-23 Kühlmittel-


kreislauf Flüssigkeitsküh-
lung (Beispiel Volkswagen)

heizende Wassermenge möglichst klein hält. Erst bei men zur Beschleunigung der Schmiermittelerwär-
Erreichen der normalen Betriebstemperatur von ca. mung aktueller Entwicklungsstand.
80 bis 90 °C öffnet der Thermostat gleitend den Die Pumpenförderleistung der mechanischen Was-
Kreislauf durch den Kühler. serpumpe ist auf Volllastbetrieb bei kleinen Drehzah-
Noch besser ist ein Kühlmittelfluss, der nicht nur im len ausgelegt, d.h. maximale thermische Belastung
Start, sondern auch im Warmbetrieb der Motorlast des Motors bei begrenzter Pumpendrehzahl. Dadurch
angepasst ist. Dies wird mit einem elektronisch gere- ist die Förderleistung in den anderen Betriebspunkten
gelten Kühlsystem erreicht wie in Bild 5.1-23 darge- überdimensioniert und mit unerwünschter Verlust-
stellt. Der Thermostat wird nicht allein von der vor- leistung behaftet. Im Warmlaufbetrieb, wenn die
herrschenden Wassertemperatur gesteuert, sondern ist Wasserpumpe der schnellen Erwärmung des Motors
noch überlagert von einer kennfeldgesteuerten elekt- entgegensteht, kann die Wasserpumpe mittels eines
ronischen Regelung. Diese Regelung bewirkt, dass Reibradantriebes zeitweise abgeschaltet werden [25].
die für Teillast auf 95 bis 110 °C eingestellte Kühl- Geregelte, elektrisch angetriebene Wasserpumpen
mitteltemperatur erst bei höheren Lasten wieder auf haben sich aber bisher aus Kostengründen kaum
die sonst üblichen 85 bis 95 °C geregelt wird. Durch durchgesetzt, weil die erforderliche Spitzenleistung
diese Anhebung des Temperaturniveaus erreicht man große Elektromotoren verlangt. Lediglich Elektro-
im Teillastbereich eine Reduzierung des Kraftstoff- pumpen kleinerer Leistung zur Nachlaufkühlung bei
verbrauchs sowie eine Absenkung der CO- und HC- abgeschaltetem heißem Motor sind insbesondere bei
Emissionen. Weitere Verbesserungen lassen sich Motoren mit Abgasturboaufladung zu finden.
durch die getrennte Steuerung der Durchströmung Ansätze zur „Verdampfungskühlung“ blieben bisher
von Kurbelgehäuse und Zylinderkopf (split cooling) vorwiegend auf stationär betriebene Motoren be-
erzielen. Dabei wird nach dem Kaltstart des Motors schränkt. Die Ausnutzung der Verdampfungswär-
zunächst nur der Zylinderkopf gekühlt. Auf diese mekapazität des Wassers würde es ermöglichen,
Weise wird erreicht, dass sich die Zylinderlaufflächen den Kühlmittelstrom auf einen Bruchteil der Durch-
und der dort brennraumseitig vorhandene Schmier- flussmenge der „Flüssigkeitskühlung“ zu reduzieren.
ölfilm schneller erwärmen. Da die Aufheizung von Einer Serienanwendung beim Fahrzeugantrieb haben
Motor, Kühlmittel und Schmiermittel einen direkten aber bislang die damit verbundene grundlegende
Einfluss auf die Reibleistung und damit auch auf den Neuauslegung des gesamten Fahrzeug-Kühl- und
Kraftstoffverbrauch während der Aufwärmephase im Heizungssystems und auch ungelöste Fragen z.B. der
Zertifizierungsfahrzyklus hat, sind gezielte Maßnah- Entmischung der Kühlmittelbestandteile entgegenge-
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 181

standen. Dennoch wird in heute ausgeführten Kühl- und ggf. einen Ölkühler in die Ölkanäle des Motor-
systemen die örtliche Dampfblasenbildung und die blocks. In der Praxis werden sowohl direkt auf der
mit ihr verbundene erhebliche Steigerung des lokalen Kurbelwelle laufende Innenzahnradpumpen als auch
Wärmeübergangskoeffizienten zur Kühlung der Hot- über Kette oder Zahnrad angetriebene Innen- oder
spots gezielt genutzt. Außenzahnradpumpe angetroffen. Die Pumpe ist so
ausgelegt, dass bei heißem Motor und Leerlaufdreh-
5.1.4.8 Motorschmierung zahl über die gesamte Lebensdauer des Motors ein
Die wesentlichen Aufgaben des Öls im Schmierungs- Mindestöldruck nicht unterschritten wird und die
system des Verbrennungsmotors sind die Schmierung Schmierung sichergestellt ist. Bei kaltem Öl und bei
und Kühlung aller Triebwerksteile und ggf. Anbau- hohen Drehzahlen fördert die Pumpe dann zu große
komponenten (z.B. Abgasturbolader), die Über- Ölmengen, weshalb der Öldruck mit einem Über-
tragung von Kräften in Lagern, Spannern, Aus- druckventil begrenzt und ein Teilstrom über einen
gleichs- und Verstellvorrichtungen, die Dämpfung Bypass in den Ansaugkanal oder in die Ölwanne
von Schwingungen, der Abtransport von Verunreini- zurückgeführt wird. Es kann auch noch ein zusätzli-
gungen und Abriebpartikeln sowie die Neutralisie- ches Öldruck-Regelventil im Kreislauf angeordnet
rung von chemisch wirksamen Verbrennungspro- sein, das einen im Normalbetrieb geringeren Öldruck
dukten, die ins Motorinnere gelangen. Alle diese einstellt als das als Sicherheitsventil arbeitende Über-
verschiedenen Funktionen kann das Öl nur erfüllen, druckventil. Moderne Motoren werden zunehmend
wenn es für diese Aufgaben gut geeignet ist und in mit regelbarer Ölpumpe ausgestattet, welche den
ausreichender Menge an die Stellen des Motors trans- Volumenstrom druckabhängig anpasst [12, 25]. Da-
portiert wird, wo es erforderlich ist. Motorenöle sind mit werden die mechanischen Verluste des Motors
auf der Basis von Mineralöl hergestellt und enthalten betriebspunkt- und zustandsabhängig minimiert, was
ein auf den jeweiligen Einsatzzweck angepasstes zur Verbesserung des mechanischen Wirkungsgrades
Additiv-Package. Vollsynthetische Öle weisen ver- und des Verbrauchsverhaltens genutzt werden kann.
besserte Schmiereigenschaften und eine höhere Be- Im Übrigen kommen solche aufwändigen Systeme
ständigkeit gegen Alterung auf, sind aber vergleichs- insbesondere dann in Betracht, wenn die Anforderun-
weise teuer [24]. gen an ein in allen Betriebszuständen ausreichendes
Die meisten Fahrzeugmotoren haben eine Druckum- Öldruckniveau hoch sind, weil über den Öldruck
laufschmierung (Bild 5.1-24). Aus dem Ölsumpf wichtige Motorfunktionen (beispielsweise schaltbare
unterhalb des Kurbeltriebs saugt die Ölpumpe das Öl Ventiltriebskomponenten, Nockenwellen-Phasenstel-
an und fördert es unter Druck durch einen Ölfilter ler) gesteuert werden.

Zylinderbank 1 Zylinderbank 2

Ölrückhalteventile
Nockenwellen- Einlass Einlass Nockenwellen-
verstellung verstellung
Auslass Auslass
Spritz-
düsenventil

Rückschlagventil

Umge- Ölfilter
bungsventil Kurbelwellen- und
Pleuellagerung

Kettenspanner

Ölkühler

Öldrucksicherheitsventil Öldruckregelventil
Filtereinsatz Ausgleichswelle
Öldruckpumpe
Bild 5.1-24 Schmierölkreis-
Ölverlauf ohne Druck lauf Druckumlaufschmie-
Ölverlauf mit Druck
rung (Beispiel Audi V6)
182 5 Antriebe

Von der Hauptölgalerie, die sich längs des gesamten Nur bei einigen Sport- und Geländefahrzeugen sowie
Motorblocks erstreckt, werden alle Kurbelwellen- bei Rennfahrzeugen findet man Motoren mit Tro-
hauptlager versorgt. Von diesen aus werden, wieder ckensumpfschmierung. Das Öl wird mittels einer zu-
durch Bohrungen in der Kurbelwelle, die großen sätzlichen Pumpe aus dem Sammelraum unter dem
Pleuellager und evtl. auch noch durch die Pleuelstan- Motor in einen separaten Ölbehälter abgepumpt und
ge das kleine Pleuellager im Kolben erreicht. Bei von dort wieder der Druckölpumpe zugeführt. Auf
höher belasteten Motoren sind an diesem Hauptöl- diese Weise wird die zuverlässige Versorgung des
kanal auch noch Spritzdüsen für die Kolbenkühlung Schmiersystems mit Drucköl unter allen Betriebs-
montiert, die einen Ölstrahl von unten gegen die bedingungen (Steigung, Gefälle, Schräge, extreme
Kolben richten. Ein Zweigkanal führt hoch in den Kurvenfahrt, Beschleunigung und Bremsung) ge-
Zylinderkopf zur Versorgung der Nockenwellenlager. währleistet.
Je nach Konstruktion werden im Zylinderkopf noch Das Ölfilter ist wichtig für die Betriebssicherheit und
hydraulische Ausgleichselemente für den Ventiltrieb Lebensdauer des Motors. Es entfernt feste Fremdstof-
(in Tassenstößeln oder Abstützelementen) versorgt, fe aus dem Motoröl (Metallabrieb, Staub, Verbren-
evtl. Drucköl für einen Ventil- oder Nockenwellen- nungsrückstände) und erhält damit die Funktions-
Verstellmechanismus bereitgestellt und Sprühöl zur fähigkeit des Schmieröles innerhalb der Wartungs-
Schmierung der Nocken geliefert. intervalle. Überwiegend werden Hauptstromfilter
Das seitlich aus den Lagern austretende Öl und das eingesetzt, die vom gesamten Ölstrom der Pumpe
sonstige Sprüh- und Lecköl sammelt sich im Zylin- durchflossen werden und Verunreinigungen gleich
derkopf und wird durch Ablauf- und Entlüftungska- auffangen. Zur Sicherheit gegen einen Ausfall der
näle wieder durch den Motorblock in den Ölsumpf Schmierung bei verstopftem Filter dient ein Kurz-
zurückgeführt, wo sich auch das Öl aus dem Trieb- schlussventil oder Umgehungsventil. Bei zu geringem
werk sammelt. Zur Vermeidung von Ölverschäumung Durchfluss durch die Filterfläche und damit anstei-
wird der Kurbelraum von der Ölwanne mittels einer gendem Druckabfall im Filter wird das Ventil geöff-
Trennwand mit eingearbeiteten Schlitzen für den net und stellt so den Schmierölkreislauf sicher.
Ölrücklauf („Ölhobel“) getrennt. Die Ölwanne ist Ältere Ölfilter haben einen Papierfiltereinsatz, der in
Vorratsbehälter und Beruhigungsreservoir, in dem einem Blechgehäuse verpackt ist, an den Motorblock
das rücklaufende Öl entschäumt und rückgekühlt angeschraubt wird und damit die Ölführung schließt.
wird. Wenn erforderlich kann es zusätzlich in einem Ein Ölfilterwechsel ist in der Regel mit einer Ölver-
Ölkühler im Druckkreislauf gekühlt werden. Dieser schmutzung durch Tropföl verbunden. Neuere Filter-
Kühler ist entweder in das Kühlflüssigkeitssystem konstruktionen haben eine auswechselbare Papierfil-
eingebunden (Bild 5.1-25) oder es ist ein Öl/Luft- terkartusche in einem geteilten Gehäuse, das ohne
Kühler. Tropfölverschmutzung entnommen und entsorgt wer-

Wasser

Wasser

Öl

Ölkühler

Ölfilter
Bild 5.1-25 Ölfilter-Modul
(Beispiel Audi V8)
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 183

den kann. Bild 5.1-25 zeigt einen Ölfiltermodul, in 5.1.4.10 Nebenaggregate und Package
dem Ölfilter, Ölkühler und ein Generatorhalter zu Der anhaltende Trend zu kompakten Fahrzeugkon-
einer Einheit zusammengefügt sind. Es wird vom zepten einerseits sowie die Kundenforderung nach
Systemzulieferer fertig vormontiert zur Motormonta- zunehmendem Nutzraum für die Fahrgastzelle und
ge angeliefert. Gepäckraumvolumen haben die Package-Anforderun-
Zur Ölstandskontrolle werden zunehmend elektrische gen zu einer wesentlichen Randbedingung für Neu-
Sensoren eingesetzt, die das Erreichen des minimalen entwicklungen werden lassen. Dabei ist nicht nur das
Ölstandes anzeigen und bereits warnen, bevor der eigentliche Triebwerk zu betrachten, sondern es gilt
Öldruck mangels Ölvorrat zusammenbricht. Zur Kos- ausladende Ansauganlagen mit Luftfilter und Luft-
teneinsparung für den Fahrzeugbetreiber und zur führungsschläuchen, evtl. auch noch zu einem Lade-
Reduzierung des Ölverbrauches bzw. des Anfalls von luftkühler, die Abgasanlage mitsamt der katalytischen
Altöl bemüht man sich, die Ölwechselintervalle Abgasreinigung sowie die Nebenaggregate ein-
ständig auszuweiten. Dabei richtet sich der Ölwechsel schließlich Lenkhilfepumpe und Klimakompressor
nicht mehr nach festen Laufstrecken oder maximalen im Motorraum unterzubringen. Das Package-Design
Zeiten sondern nach der Betriebsart und -dauer des muss daneben auch die Montierbarkeit der weitge-
Motors. In der elektronischen Motorsteuerung werden hend vormontierten Antriebseinheit sowie Anforde-
hierzu die Belastungen im Laufe des Betriebes über rungen von Seiten der Crash-Sicherheit berücksichti-
Kraftstoffdurchsatz, Betriebstemperaturen, Laufzei- gen. Auch von der Fahrzeugseite sind viele Elemente
ten, Nachfüllmengen und Ähnliches aufintegriert und für Sicherheit und Komfort dazugekommen, die im
daraus die Notwendigkeit eines Ölwechsels ermittelt „Motorraum“ untergebracht werden sollen. Damit ist
und dem Fahrer angezeigt. Für den normalen Betrieb das Package Gegenstand erheblicher Entwicklungsak-
mit gemäßigter Fahrweise resultieren daraus deutlich tivitäten geworden, die sich nur noch unter Anwen-
längere Fahrstrecken für eine Ölfüllung. dung dreidimensionaler CAD-Modelle bewältigen
lassen.
5.1.4.9 Saugrohr
Zum Antrieb der Nebenaggregate werden heute über-
Ansauganlagen werden (einteilig) aus Aluminium- wiegend Poly-V-Riemen (Keilrippenriemen) ver-
Sand- oder -Kokillenguss oder mehrteilig in Alumi- wendet. Dies sind faserverstärkte Kunststoff-/Kaut-
nium- oder Magnesium-Druckguss hergestellt. Zur schukriemen mit einem Vielkeil-Profil, das nur auf
weiteren Gewichtseinsparung wird häufig glasfaser- einer Seite oder auch beidseitig aufgebracht ist. Im
verstärkter Kunststoff, z.B. glasfaserverstärktes Poly- Gegensatz zu den alten Keilriemen können sie in
amid gewählt. Mit der komplexen räumlichen Geo- beide Richtungen in einer Ebene gekrümmt werden.
metrie wird die Ansauganlage entweder in Schmelz- Es können Umlenk- und Spannrollen mit den An-
kern-Technologie einteilig oder mehrteilig reibver- triebsrollen der Nebenaggregate verschachtelt ange-
schweißt hergestellt. Es gibt auch Mischbauweisen ordnet und so der Anbauraum am Motor sehr kom-
mit Aluminium oder Magnesium. Die Metallkompo- pakt ausgefüllt werden (Bild 5.1-26). Die vorher
nenten dienen der Befestigung am Flansch zum übliche Bauweise mit mehreren Keilriemen in ver-
warmen Zylinderkopf oder sie enthalten den Um- setzten Ebenen für einzelne Aggregate oder Aggrega-
schaltmechanismus für die Saugrohrlängenschaltung tegruppen wird heute in der Regel auf einen Keilrip-
(siehe auch Bild 5.1-30). Die Kunststoffe müssen eine penriemen in einer Ebene beschränkt. Angetrieben
gute Wärmestabilität (bis 150 °C) und Festigkeit (mit werden die Wasserpumpe und der Drehstrom-Gene-
Faserverstärkung) aufweisen. An Anschraubstellen rator (Lichtmaschine). Meistens kommt noch die
oder besonders wärmebeaufschlagten Stellen (z.B. Lenkhilfepumpe und auch der Klimakompressor hin-
Abgasrückführstutzen) sind auch Metalleinlagen zu zu, bei einigen Fahrzeugen zusätzlich noch der An-
finden. Alle Kunststoffteile tragen eine Materialkenn- trieb für einen Viscolüfter (Kühlerventilator). Da
zeichnung nach VDA 260 in Verbindung mit DIN- Keilrippenriemen empfindlich gegen Versatz- und
Normen für Bezeichnungen und Kurzzeichen von Fluchtungsfehler der Antriebsrollen sind, kommt es
Kunststoffen, damit im Recycling die Materialsortie- auch der kompakten Anordnung entgegen, wenn alle
rung gezielt und sicher durchgeführt werden kann. Nebenaggregate auf einen gemeinsamen Halter zu
Zur Verbesserung des Drehmomentverlaufs freisau- einem Modul montiert sind. Dies ermöglicht auch die
gender Ottomotoren werden häufig schaltbare Saug- weitgehende Vormontage der Nebenaggregate, die
anlagen eingesetzt. Dabei lassen sich die die Gas- dann als Block mit großer Anflanschfläche an den
wechseldynamik beeinflussenden Längen und Quer- Motorblock geschraubt wird.
schnitte der Saugrohre drehzahlabhängig verändern. In letzter Zeit bemüht man sich intensiv, den die Ein-
Neben den bereits weiter verbreiteten zweistufigen baulänge bestimmenden Riementrieb an der Frontsei-
Schaltsaugrohren sind jetzt auch kontinuierlich wir- te zu eliminieren. Alternativen sind Ketten- und
kende Systeme verwirklicht worden, welche einen Wellenantriebe für die Nebenaggregate oder auch
noch homogeneren Verlauf des Volllastdrehmomentes Zahnradantriebe sowie Kombinationen daraus, die
über dem gesamten Motordrehzahlband ermöglichen. nicht an der Motorstirnseite, sondern an der Schwung-
184 5 Antriebe

7
5
4
4

1
3 2
3
2 1

5
Quereinbau Längseinbau

1 Antrieb Kurbelwelle 3 Klimakompressor 5 Spann-/Umlenkrolle 7 Viscolüfter


2 Lenkservopumpe 4 Wasserpumpe 6 Drehstrom-Generator

Bild 5.1-26 Poly-V-Riementrieb für Nebenaggregate, Längs- bzw. Quereinbau des Motors (Beispiel Volkswa-
gen Fünfzylindermotor VR5)

radseite angeordnet sind. Ziel ist es, die Nebenaggre- Crashverhalten und zum Fußgängerschutz des Fahr-
gate seitlich am Motor und über dem Getriebeflansch zeugs mit zu betrachten. Sie bilden feste, schwer
zu montieren. Ein Beispiel zeigt Bild 5.1-27. Ein deformierbare Blöcke und können den Verfor-
Kettentrieb an der Schwungradseite führt hier zu mungsweg der Karosserie begrenzen und könnten
einem Zahnradmodul, von dem aus die Ölpumpe, somit die Insassen gefährden. Abhilfemaßnahmen
Lenkhilfepumpe und Wasserpumpe praktisch im Mo- bestehen unter anderem darin diese Bauteile so zu
tor angetrieben werden. Nur der Generator hat noch gestalten, dass sie im Falle eines Unfalls (Fußgänger)
einen Keilrippenriemen-Antrieb. definiert wegbrechen oder sich deformieren.
Zum Motorpackage gehören weiterhin der Anlasser, Zwischen Luftfilter und Drosselklappe ist in vielen
der am Schwungrad eingreift, sowie das Ansaug- und Fällen der Luftmassenmesser angeordnet, der zur un-
Abgasmodul mit den vor- und nachgeschalteten gestörten Messwerterfassung eine Mindestlänge an
Bauteilen. Deren Anordnung ist nicht nur für eine gerader Luftführungsstrecke braucht. Der Unterdruck-
funktional optimierte Auslegung wichtig, sondern die schlauch für den Bremskraftverstärker, der Ver-
Komponenten sind auch bei den Untersuchungen zum bindungsschlauch zum Aktivkohlebehälter (Tankent-

Klimakompressor

Kettentrieb für
Nebenaggregate

Wasser-
pumpe

Bild 5.1-27 Antrieb der


Hilfs- und Nebenaggregate
Thermostat Ölpumpen- Lenkhilfe- Zahnradmodul
modul pumpe
über Kette und Zahnräder
(Beispiel Audi V8)
5.1 Grundlagen der Motorentechnik 185

Motorlänge über Hubraum komponenten zu Modulen zusammengepackt werden,


800 die vormontiert an das Fahrzeugband angeliefert
werden. Dieser Trend erfordert von den Zulieferern
700
zunehmende Kompetenz, die sich über ein gesamtes
Motorlänge [mm]

System erstrecken muss.


600
Bild 5.1-28 zeigt Streubänder für die Länge, Breite
500 und Höhe (Kistenmaße über alle Motoranbauteile)
von 4-Zylinder-Reihenmotoren für Pkw-Antriebe.
400 Die Breite der Streubänder, insbesondere im Bereich
der häufig vertretenen Hubraumklasse zwischen 1,6
300 und 2,0 l deutet auf das große Optimierungspotenzial
500 1000 1500 2000 2500
Hubraum [cm3] hinsichtlich der Kompaktheit moderner Fahrzeugan-
triebe hin.
Motorbreite über Hubraum
800

Literatur zu Kapitel 5.1.1 bis 5.1.4


Motorbreite [mm]

700 [1] Baehr, H. D.: Thermodynamik, 11. Auflage. Springer Verlag


Berlin, Heidelberg 2002
[2] Baehr, H. D.; Stephan, K.: Wärme- und Stoffübertragung,
3. Auflage. Springer Verlag Berlin, Heidelberg 1998
600 [3] Pischinger, R.; Klell, M.; Sams, T.: Thermodynamik der Verbre-
nungskraftmaschine, 3. Aufl. Der Fahrzeugantrieb. Springer Ver-
lag Wien, New York 2002
[4] Warnatz, J.; Maas, U.; Dibble, R.W.: Verbrennung (Physika-
500
500 1000 1500 2000 2500 lisch-Chemische Grundlagen, Modellierung und Simulation, Ex-
Hubraum [cm3] perimente, Schadstoffentstehung), 3. Auflage. Springer Verlag
Berlin, Heidelberg 2001
[5] Maass, H.; Klier, H.: Kräfte, Momente und deren Ausgleich in
Motorhöhe über Hubraum der Verbrennungskraftmaschine. Hrsg. H. List und A. Pischin-
800 ger, Die Verbrennungskraftmaschine Neue Folge Band 2. Sprin-
ger Verlag Wien 1981
Motorhöhe [mm]

[6] Zima, S.: Kurbeltriebe (Konstruktion, Berechnung und Erprobung),


700
2. Auflage. Vieweg Verlag Braunschweig, Wiesbaden 1999,
ATZ-MTZ-Fachbuch
[7] Robert Bosch GmbH: Kraftfahrtechnisches Taschenbuch 27.
Aufl. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
600 [8] van Basshuysen, R.; Schäfer, F. (Hrsg.): Handbuch Verbren-
nungsmotor. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2010
[9] Wakayama, N.: Entwicklung des Premacy Hydrogen RE Hybrid.
31. Int. Wiener Motorensymposium 2010, VDI Forschrittsbe-
500 richt Nr. 716
500 1000 1500 2000 2500
[10] Köhler, E.; Flierl, R.: Verbrennungsmotoren. Wiesbaden: Vie-
Hubraum [cm3]
weg+Teubner Verlag, 2009
[11] Pischinger, S.: Schneller zum Markt durch virtuelle Motoren-
Bild 5.1-28 Package-Abmessungen von 4-Zylinder- entwicklung, ATZ/MTZ Int. Congress Virtual Product Crea-
Reihenmotoren (FEV Motorentechnik) tion“, Stuttgart, 2004
[12] Landerl, C.; Klauer, N.; Klüting, M.: Die Konzeptmerkmale des
neuen BMW Reihensechszylinder Ottomotors, 13. Aachener
Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 2004
[13] Thomas: Analyse des Betriebsverhaltens von Kurbelwellengleit-
lüftung), der Seilzug für die Drosselklappenbetäti-
lagern mittels TEHD-Berechnung, Dissertation RWTH Aachen,
gung (evtl. nur Kabel für elektrische Drosselklappe) 2003
sind auf der Luftzuführungsseite zu verlegen. In der [14] Dohmen: Untersuchungen zum reibungsoptimierten Triebwerk
Abgasanlage ist im Motorraum der Katalysator mit λ- an Pkw-Verbrennungsmotoren, Dissertation RWTH Aachen,
2003
Sonde und Wärmeabschirmblech unterzubringen.
[15] Röhrle, M. D.: Kolben für Verbrennungsmotoren (Grundlagen
Elektrische Kabel, Starterkabel, Schläuche für Kühl- der Kolbentechnik) 2. Auflage. Die Bibliothek der Technik,
mittel, Klimaanlagen, Heizung und vieles mehr füllen Band 98, Verlag moderne Industrie 2001
den Motorraum. Sie alle müssen so verlegt sein, dass [16] Cierocki, Ermert: Topografischer Stopper für Zylinderkopfdich-
tungen, MTZ Motortechnische Zeitschrift, 64. Jahrgang, Heft
keine Scheuerstellen entstehen, sich keine elektrische 1/2003
Beeinflussung ergibt, keine übermäßige Erwärmung [17] Schneider, Schnurrenberger, Ludwig, Unseld, Weiß: Funktions-
auftritt und Wartungs- und Reparaturarbeiten mög- erweiterung von Zylinderkopfdichtungen – Weiterentwicklungen
lichst nicht behindert werden. beim Wellenstopper, MTZ Motortechnische Zeitschrift, 64.
Jahrgang, Heft 10/2003
In der Endmontage beim Fahrzeughersteller versucht [18] Schmidt, Flierl, Hofmann, Liebl, Otto: Die neuen BMW-6-
man der mit dem Package verbundenen Komplexität Zylindermotoren, 19. Internationales Wiener Motorensympo-
dadurch zu begegnen, dass möglichst viele Einzel- sium, 1998
186 5 Antriebe

[19] Wurms, R.; Dengler, S.; Budack, R.; Mendl, G.; Dicke, R.; Eiser, Für die Beurteilung zukünftiger Antriebskonzepte
A.: Audi valvelift system – ein neues innovatives Ventiltriebs-
sind eine Vielzahl von Kriterien von Bedeutung. Die
system von Audi, 15. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Mo-
torentechnik, 2006 Zuverlässigkeit unter allen denkbaren Anwendungssi-
[20] Flierl, Klüting, Unger, Poggel: Drosselfreie Laststeuerung mit tuationen und über die gesamte Gebrauchsdauer wird
vollvariablen Ventiltriebskonzepten, 4. Symposium Entwick- vom Verbraucher als selbstverständlich vorausge-
lungstendenzen bei Ottomotoren, Technische Akademie Esslin-
gen, 1998
setzt. Wesentlich für die Akzeptanz eines neuen An-
[21] Kreuter, Heuser, Reinicke-Murmann: The Meta VVH System – triebskonzeptes ist letztendlich seine Wirtschaftlich-
A Continuously Variable Valve Timing System, SAE 980765 keit. Diese wird sowohl von den Herstellkosten als
[22] Hannibal, Bertsch: VAST: A New Variable Valve Timing auch von den Betriebskosten bestimmt. Der Kraft-
System for Vehicle Engines, SAE 980769
[23] Salber: Untersuchungen zur Verbesserung des Kaltstart- und
stoffverbrauch hat hierauf direkten Einfluss, steht
Warmlaufverhaltens von Ottomotoren mit variabler Ventilsteue- aber auch aus Gründen der Ressourcenschonung so-
rung, Dissertation RWTH Aachen, 1998 wie wegen der mit der Verbrennung von fossilen
[24] Möller, U. J.; Nassar, J.: Schmierstoffe im Betrieb, 2. Auflage. Brennstoffen verbundenen CO2-Emissionen im Vor-
Springer Verlag Berlin, Heidelberg 2002
[25] Kessler, F.; Sonntag, E.; Schopp, J.; Simionesco, L.; Keribin, P.;
dergrund der öffentlichen Diskussion.
Bordes, F.: Die neue kleine 4-Zylinder Motorenfamilie der Die aus der drastischen Zunahme der Verkehrsdichte
BMW/PSA Kooperation, 15. Aachener Kolloquium Fahrzeug- in Ballungsräumen resultierenden Aktivitäten der
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[26] Wurms, R.; Budack, R.; Böhme, J.; Dornhöfer, R.; Eiser, A.;
Hatz, W.: Der neue 2.0L TFSI mit Audi Valvelift System für den
ben immer strengeren Bestimmungen zu unterwerfen,
Audi A4 – die nächste Generation der Audi Turbo FSI Techno- stellen ein weiteres wesentliches Auswahlkriterium
logie, 17. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik für zukünftige Pkw-Antriebe dar. Auch die vom An-
2008 trieb ausgehenden Geräuschemissionen werden als
[27] Bernard, L.; Ferrari, A.; Rinolfi, R.; Vafidis, C.: Fuel Economy
Improvement Potential of UNIAIR Throttleless Technology,
störende und belastende Auswirkung des Straßenver-
ATA Paper 02A5012 kehrs verstanden und müssen deshalb minimiert wer-
[28] Harada, J.; Yamada, T.; Watanabe, K.: Die neuen 4-Zylinder- den. Sie nehmen auch direkten Einfluss auf den von
motoren mit VALVEMATIC System, 29. Int. Wiener Motoren- den Fahrzeuginsassen empfundenen Komfort. Aus
symposium. 2008, VDI Fortschrittsbericht Nr. 672
den Bemühungen zur Absenkung der Fahrzeugge-
wichte und zur möglichst kompakten Bauweise leitet
sich für den Antrieb die Forderung nach hoher Leis-
tungsdichte ab. Das dynamische Betriebsverhalten
5.1.5 Ottomotoren stellt sowohl ein emotional geprägtes Kriterium als
Die Bezeichnung Ottomotor geht zurück auf Nicolaus auch eine mit dem rationalen Begriff „aktive Fahrsi-
August Otto, der im Jahre 1876 den ersten Motor cherheit“ verbundene Anforderung dar.
nach dem Viertakt-Verfahren in der Gasmotorenfab- Insbesondere seit den bedeutenden Fortschritten in
rik Deutz AG betrieb und darüber am 4. August 1877 der Entwicklung von Pkw-Dieselmotoren mit Hoch-
das Patent erteilt bekam [1]. Das Viertakt-Verfahren druck-Direkteinspritzung treten die prinzipbedingten
wird ebenso bei Dieselmotoren angewandt, und Nachteile des konventionellen Ottomotors in den
sowohl Otto- als auch Dieselmotoren können nach Vordergrund. Konzepte zur Entdrosselung des Otto-
dem Zweitakt-Verfahren (siehe auch Kapitel 5.7) motors sind die variable Ventilsteuerung (siehe Kapi-
arbeiten. Wesentliche Unterscheidungsmerkmale des tel 5.1.5.1.4) sowie der Magerbetrieb. Der beim
konventionellen Ottomotors gegenüber dem Diesel- konventionellen Ottomotor möglichen Betriebsweise
motor sind die Drosselregelung, die Homogenität der mit homogenem Kraftstoff-Luft-Gemisch zum ther-
Zylinderladung, die äußere Gemischbildung mit modynamisch vorteilhaften Magerbetrieb sind durch
anschließender Gemischverdichtung und die Fremd- die Zündgrenzen des Kraftstoffes Grenzen gesetzt.
zündung. Deshalb hat sich in den letzten Jahren die Benzindi-
Hieraus resultiert einer der wesentlichen Nachteile rekteinspritzung mit geschichteter Zylinderladung als
des Ottomotors gegenüber dem Dieselmotor, nämlich zielführende Alternative etabliert (siehe Kapitel
die Teillast-Drosselverluste. Zukunftslösungen für 5.1.5.2.2). Solche Magermotorkonzepte erfordern
ottomotorische Kraftfahrzeugantriebe versuchen, die jedoch neue Lösungen zur Abgasreinigung im sauer-
prinzipbedingten Nachteile der konventionellen Otto- stoffreichen Abgas (siehe Kapitel 5.1.5.6.2). Auch
motorentechnik zu überwinden und zielen darauf, Downsizing-Konzepte (siehe Kapitel 5.1.5.4) schöp-
sich von den Einschränkungen der äußeren Gemisch- fen einen wesentlichen Anteil ihres Verbrauchsvor-
bildung, der Quantitätsregelung sowie einer homoge- teils aus der mit der Betriebspunktverlagerung ver-
nen Zylinderladung zu lösen. Danach verbleibt als bundenen Entdrosselung des Motors.
wesentliches Unterscheidungskriterium zum Diesel- Die Begrenzung des Verdichtungsverhältnisses auf-
motor die Art der Zündung, wie es im angelsächsi- grund der bei hohen Motorlasten auftretenden Klopf-
schen Sprachraum mit den Bezeichnungen SI („Spark neigung hat eine direkte Auswirkung auf den Wir-
Ignition“) und CI („Compression Ignition“) zum kungsgrad des Vergleichsprozesses. Üblicherweise
Ausdruck kommt. muss hier ein Kompromiss zwischen Leistungsdichte
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 187

und Teillastwirkungsgrad gefunden werden, welcher Auslegung der Sauganlagengeometrie hinsichtlich


sich bei einer variablen Steuerung des Verdichtungs- Kanallänge und -durchmesser lässt sich der Liefer-
verhältnisses vermeiden lässt. Insbesondere in Kom- grad für einen begrenzten Drehzahlbereich optimie-
bination mit der Aufladung des Ottomotors und den ren. In Bild 5.1-29 ist der Verlauf des effektiven
damit verbundenen Downsizing-Effekten lassen sich Mitteldrucks über der Drehzahl für unterschiedliche
hiermit große Verbrauchseinsparungen realisieren Saugrohrauslegungen dargestellt. Maximale Dreh-
(siehe Kapitel 5.1.5.4.2). momente erreicht man bei niedrigen Drehzahlen mit
dünneren, längeren Ansaugrohren, hohe Maximalleis-
5.1.5.1 Ladungswechsel tung mit größeren, kürzeren Rohren. Bei „Alltagsau-
Der Ladungswechsel ist der Austausch der Verbren- tos“ wird üblicherweise eine Auslegung für hohes
nungsgase durch Frischluft oder frisches Gemisch. Drehmoment bei niedrigen und mittleren Drehzahlen
Hierzu dienen die Ansaug- und Abgasanlage, die vorgezogen, wohingegen bei Sportfahrzeugen eine
zusammen mit den Ventilen und deren Öffnungscha- auf den oberen Drehzahlbereich ausgerichtete Ausle-
rakteristiken die Füllung des Arbeitszylinders be- gung gewählt wird.
stimmen. Die Güte des Ladungswechsels wird durch Die Innenflächen der Ansaugkanäle sollten möglichst
den Liefergrad definiert; das Verhältnis von tatsäch- glatt sein. Stolperkanten und scharfe Krümmungen
lich angesaugter Frischladung mL zu theoretisch würden zu Strömungsablösungen führen und sind
möglicher Ladungsmenge mth bei gegebenem Hub- deshalb zu vermeiden. Bei Mehrzylinder-Motoren
raum: muss auch darauf geachtet werden, dass sich die in
der Zündfolge aufeinander folgenden Zylinder nicht
λl = mL/mth negativ beeinflussen. Für die Saugrohrauslegung be-
Die Zylinderfrischladung ist deutet dies, dass die Verwirklichung gleich langer
mZ = mZL bei innerer und und gleichförmiger Ansaugrohre allein nicht aus-
reicht für jeden einzelnen Zylinder die gleiche Fül-
mZ = mZB + mZL bei äußerer Gemischbildung. lung zu gewährleisten. Durch Detailoptimierung,
auch unter Zuhilfenahme dreidimensionaler Strö-
Nur wenn möglichst viel Luft und damit Sauerstoff in
mungssimulationsrechnungen (CFD – Computational
den Zylinder gelangt und dort verbleibt, kann eine
Fluid Dynamics) sollen dynamische Effekte, welche
entsprechend große Menge Kraftstoff für eine „voll-
zur lokalen Störung der Ansaugströmung führen,
kommene“ Verbrennung zugemischt bzw. einge-
vermieden werden.
spritzt werden und der Motor eine hohe Leistung
Immer häufiger werden auch bei gängigen Motorisie-
erbringen.
rungen Schaltsaugrohre verwendet. Klappen oder
Hinsichtlich der Anordnung der Gaswechselorgane
Drehschieber schalten zwei oder drei unterschiedliche
im Zylinderkopf und der Strömungsführung beim
Saugrohrlängen oder ermöglichen gar eine stufenlose
Ladungswechsel unterscheidet man zwischen dem
Längenverstellung. Damit wird über den vollen
Gegenstrom- und dem Querstrom-Prinzip. Beim
Drehzahlbereich ein optimaler Drehmomentverlauf
Gegenstrom-Zylinderkopf sind die Ein- und Auslass-
erreicht. Auch die vorgelagerte Ansaugstrecke vom
kanäle an der gleichen Kopfseite (deshalb wird er
Ansaugschnorchel über den Luftfilter bis zur Dros-
manchmal auch als „Gleichstromkopf“ bezeichnet),
selklappe hat einen Einfluss auf den Ladungswechsel.
Ansaug- und Auslassstrom laufen entgegengerichtet.
Dieses Prinzip findet man häufig bei klassischen
Zweiventilmotoren mit der Ventilanordnung in Reihe. bar

Beim Querstromkopf ist eine Seite die Ansaugseite,


die gegenüberliegende die Auslassseite. Man findet 11
Eff. Mitteldruck pme

dieses Prinzip auch bei Zweiventilmotoren, grund-


sätzlich aber bei allen Mehrventilmotoren (≥ 3 Ventile 10
je Zylinder). Beim Querstromkopf ist die „kalte“ und
die „warme“ Seite getrennt. Dies eröffnet auch mehr 9
Freiheiten für die Rohrführungen und Kraftstoffein- L1 = 950 mm, D1 = 36 mm
richtungen. 8 L1 = 640 mm, D1 = 36 mm
L1 = 330 mm, D1 = 40 mm

5.1.5.1.1 Ansaugsystem 7
2000 4000 min–1
Drehzahl n
Der Ansaugvorgang des Motors erfolgt in kurzer Zeit L1: effektive Saugrohrlänge
über ca. jeweils 180 – 240° KW, das heißt in ca. D1: Saugrohrdurchmesser
30 bis 5 ms bei Drehzahlen von 1.000 bis 6.000 l/min.
Dieser Prozess ist von hoher Dynamik geprägt und Bild 5.1-29 Verlauf des effektiven Mitteldruckes
wird von Druck- und Unterdruckwellen im Ansaug- über der Drehzahl bei unterschiedlicher Saugrohraus-
system maßgeblich beeinflusst. Mittels der gezielten legung
188 5 Antriebe

Bild 5.1-30 Ansaugmodul


mit Schaltsaugrohr, elektr.
Drosselklappe, Kraftstoffein-
spritzsystem, inkl. Verkabe-
lung und Verschlauchung

Außerdem muss dieser Teil der Ansauganlage im Hin- ist. Mit neuen Fertigungstechnologien, z.B. Hydro-
blick auf das Ansauggeräusch optimiert werden. Dies forming (siehe auch Kapitel 9.2.5), lassen sich tech-
geschieht durch die Integration von Helmholtz- nisch gute und kostengünstige Produkte entwickeln,
Resonatoren zur Dämpfung einzelner kritischer die den erheblichen Temperatur- und Schwingungs-
Frequenzbereiche oder durch Breitbandresonatoren, belastungen standhalten.
welche über eine gute Dämpfung über einen weiten Bei turboaufgeladenen Motoren kommen zunehmend
Frequenzbereich verfügen. Abgaskrümmer mit integriertem Turbinengehäuse
Der anhaltende Kostendruck und das Streben um eine zum Einsatz. Durch den Wegfall der thermisch hoch
bessere Großserienqualität hat in den vergangenen belasteten Flansche zwischen Krümmer und Turbi-
Jahren Modultechnik vorangetrieben. Am Ansaug- nengehäuse kann eine geringe Masse und ein redu-
modul moderner Ottomotoren werden häufig alle mit zierter Bauraum erzielt werden. Das in Bild 5.1-31
der Luftführung und Kraftstoffeinspritzung zusam- gezeigte Integralmodul des Audi V10 TFSI [41] aus
menhängenden Bauteile funktional und räumlich zu Stahlguss ist in Silikatfaserformteile eingepackt und
einer vormontierten und prüffähigen Einheit zusam- aussen mit einer Edelstahlhülle umschlossen, um den
mengefasst. In Bild 5.1-30 ist ein Beispiel eines Energieeintrag in den Motorraum zu reduzieren. Die
Ansaugmoduls mit einem mehrteiligen Saugrohr in Klemmflanschverbindung zum Zylinderkopf ermög-
Kunststoff- und Aluminiumbauweise mit elektronisch licht eine freie Wärmeausdehnung der Gussteile in
gesteuerter Drosselklappe, Saugrohrlängen-Schalt- Längsrichtung.
anlage, Kraftstoff-Verteilerleiste und Kraftstoff-Ein- Dem Abgaskrümmer folgt der Katalysator. Zur Ein-
spritzventilen dargestellt. haltung der aktuellen Emissionsvorschriften ist seine
motornahe Anordnung erforderlich, welche eine
5.1.5.1.2 Abgassystem raschere Erwärmung des Abgaskatalysators nach dem
Zur Erfüllung aktueller und zukünftiger Emissions- Kaltstart ermöglicht. Bei hoher Last ist damit jedoch
vorschriften ist eine schnelle Erwärmung des Abgas- eine erhöhte Wärmebelastung verbunden, die von
katalysators nach dem Motorstart von entscheidender modernen Katalysatoren allerdings beherrscht wird.
Bedeutung. Deshalb werden anstelle der relativ Dennoch ist unter bestimmten Betriebsbedingungen
dickwandigen Gusskrümmer mit hoher Wärmekapa- die Anreicherung des Kraftstoff-Luft-Gemisches zum
zität auch dünnwandige Blechkrümmer verwendet, Schutz des Katalysators vor Übertemperatur erforder-
die sich in strömungsgünstigen Leitungsformen und lich („Bauteilschutz“).
-führungen realisieren lassen. Sie sind leichter und Auch die Geometrie der Abgasanlage (Kapitel 5.6)
entziehen aufgrund ihrer geringeren Wärmekapazität hat einen Einfluss auf die Gasdynamik beim La-
dem Abgas weniger Wärme, so dass mehr Abgas- dungswechselvorgang. Aufwändige Abgasanlagen
energie zur schnellen Aufheizung des Katalysators mit stufenweiser Zusammenführung der einzelnen
zur Verfügung steht. Blechkrümmer werden oft auch Abgasstränge (beim 4-Zylindermotor mit 4-in-zwei-
noch mit einer Blechumhüllung versehen, die durch in-1 Zusammenführung) unterstützen die Darstellung
einen Luftspalt isoliert und damit wärmedämmend homogener Volllast-Drehmomentverläufe. Die nach-
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 189

Bild 5.1-31 Integralmodul


aus Abgaskrümmer und
Turbolader
(Beispiel Audi V10 TFSI)

folgenden Bauteile (Katalysator und Schalldämpfer) sich dies auch zu der sogenannten inneren Abgas-
sollen einen geringen mittleren Abgasgegendruck rückführung nutzen. Auf diese Weise lassen sich die
erzeugen. Die Schalldämpfung soll wirksam und die Rohemissionen, insbesondere die Stickoxidemissio-
eigene Oberflächen-Schallabstrahlung möglichst ge- nen senken, was die Anforderungen an die katalyti-
ring sein. Um der Korrosion vorzubeugen, werden sche Abgasreinigung mindert. Darüber hinaus führt
Edelstahl- oder aluminierte Bleche verwendet. die Abgasrückführung im Teillastbetrieb zu einer
begrenzten Entdrosselung des Motors und darüber zu
5.1.5.1.3 Ventilsteuerzeiten begrenzten Verbrauchseinsparungen. Dieses Beispiel
Neben der Geometrie der Gaswechselorgane hat die zeigt, wie die unterschiedlichen Anforderungen an
zeitliche Steuerung des Ladungswechselvorgangs einen modernen Ottomotor hinsichtlich Leistung,
entscheidende Bedeutung für den Erfolg des La- Verbrauch, Emissionen und Komfort ineinander grei-
dungswechsels (Liefergrad). Im Interesse einer mög- fen und bei der Feinabstimmung des Motors abgewo-
lichst hohen spezifischen Leistung des Motors müs- gen werden müssen.
sen die in der Theorie streng nacheinander ablaufen-
den Prozesse des Ausschiebens und Ansaugens in der 5.1.5.1.4 Variable Ventilsteuerung
Praxis mehr oder weniger zeitlich überlappend ver- Neben dem Betrieb mit magerem Gemisch ermög-
laufen. Maß hierfür ist die Ventilüberschneidung, licht auch die variable Steuerung der Ladungswech-
womit die Dauer der gleichzeitigen Öffnung der Aus- selorgane eine Entdrosselung des Ottomotors. Die mit
und Einlassventile gemeint ist. der üblichen Drosselsteuerung verbundene erhebliche
Bei niedrigen Drehzahlen dagegen hat eine hohe Ladungswechselarbeit stellt einen wesentlichen An-
Ventilüberschneidung relativ hohe Restgasanteile zur teil der Prozessverluste des Ottomotors dar. Bild 5.1-32
Folge, welche die Leerlaufstabilität des Motors emp- zeigt die mittels Zylinderdruckindizierung gemessene
findlich beeinträchtigen können. Durch entsprechen- Ladungswechselarbeit als Anteil an der insgesamt
de Optimierung des Brennverfahrens mittels einlass- geleisteten indizierten Arbeit im Motorkennfeld [2].
seitig generierter Ladungsbewegung wird versucht Dieser Anteil gewinnt mit abnehmender Motorlast
dem entgegenzuwirken. Gelingt es auf diese Weise, deutlich an Bedeutung, was auf ein hohes Potenzial
eine hohe Restgasverträglichkeit darzustellen, so lässt zur Verbrauchsverbesserung hindeutet.

14 (PMI LDW/ PMI) · 100 % = 2%


4%
Indizierter Mitteldruck [bar]

12 6%
AÖ 10
EÖ 8%
ES 8
10 %
OT UT 6 15 %
AS 20 %
4
PMI LDW 25 %
2 30 %
Bild 5.1-32 Ladungswech-
PMI = PMI HD – PMILDW 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 selverluste des konventionel-
Drehzahl [1/min]
len Ottomotors
190 5 Antriebe

Auslass Öffnet Einlass Öffnet


Auslass Schließt Einlass Schließt

Zylinderdruck
Ventilhub

Konventioneller
Ventiltrieb /
Drosselsteuerung

Zylinderdruck
Ventilhub

Frühes
Einlass Schließt
Zylinderdruck
Ventilhub

Spätes
Einlass Schließt

UT OT UT OT OT UT Bild 5.1-33 Laststeuerver-


fahren (Teillast)

Darüber hinaus bietet die variable Steuerung der schiebung beziehungsweise Ausdehnung der Ventil-
Ventile noch weitere Potenziale zur Verbesserung des überschneidungsphase in den Ausschiebetakt strömt
Betriebsverhaltens. Diese liegen sowohl im Volllast- verstärkt Abgas in den Ansaugtrakt („Einlasskanal-
Drehmomentverhalten als auch in der Leerlaufquali- Rückführung“) und verdünnt dort die nachfolgend
tät sowie im Verbrauchs- und Emissionsverhalten bei angesaugte Frischladung. Dieses Verfahren wird auch
Teillast. zur Verbesserung der Gemischbildung im Einlasska-
Die Systeme zur variablen Ventilsteuerung sind in nal genutzt.
Kapitel 5.1.4.6.3 eingehend beschrieben. Die nach- Bei der „Auslasskanal-Rückführung“ wird die Über-
folgend beschriebenen Konzepte zur Entdrosselung schneidungsphase in den Saughub verlegt und in der
des Ottomotors mittels variabler Ventilsteuerung ersten Phase des Ansaugtaktes Frischgemisch über
beziehen sich auf die dort vorgestellten Systeme zur das Einlassventil und Abgas über das Auslassventil
Beeinflussung der Ventilsteuerzeiten und der zeitli- gleichzeitig angesaugt. Alternativ hierzu wird bei der
chen Öffnungsquerschnitte. „Brennraum-Rückführung“ die Restgasmasse durch
Die Ladungswechselverluste des konventionellen ein frühes Schließen des Auslassventils bestimmt,
Ottomotors können zu einem großen Teil vermieden wobei das danach im Brennraum verbleibende Rest-
werden, wenn die angesaugte Ladungsmasse ohne gas infolge der Kolbenbewegung bis zum oberen
Drosselung des Ansaugstromes gesteuert wird. Bei Totpunkt verdichtet und dann wieder expandiert wird.
variabler Beeinflussung der Steuerzeiten kann dies Nach Erreichen atmosphärischen Druckniveaus im
sowohl über ein frühes Schließen der Einlassventile Zylinder wird dann das Einlassventil geöffnet, und
(FES) realisiert werden, nachdem die gewünschte der Ansaugvorgang erfolgt gemäß der Strategie FES
Frischgemischmasse angesaugt wurde, als auch über (vgl. Bild 5.1-33).
ein spätes Schließen (SES), nachdem die überschüs- Bei drosselfreier Laststeuerung entfällt der die Kraft-
sige Ladungsmasse wieder in den Ansaugtrakt ausge- stoffverdampfung fördernder Unterdruck im Saugrohr,
schoben wurde (Bild 5.1-33). Die Alternative FES was insbesondere im Kaltstart- und Warmlaufbetrieb
erfordert die Beherrschbarkeit sehr kurzer Ventilöff- des Motors zu Gemischbildungsproblemen führen
nungsdauern zur Realisierung der im Nulllastbetrieb kann. Dem kann beispielsweise mit dem in Bild 5.1-35
minimalen Frischgemischmassen. Bei der Strategie gezeigten Verfahren mit einem späten Öffnen des
SES dagegen sind tendenziell höhere Ladungswech- Einlassventils [3] begegnet werden. Dadurch wird er-
selverluste infolge der wiederholten Strömung der für reicht, dass zum Zeitpunkt Einlass-öffnet (Eö) im
den jeweiligen Lastpunkt überschüssigen Ladungs- Zylinder ein Unterdruck vorliegt, der ein Einströmen
menge zu verzeichnen. des Frischgemisches mit Schallgeschwindigkeit be-
Die Variabilität der Ventilsteuerzeiten lässt sich auch wirkt. Die mit dieser Prozessführung verbundenen
für die Steuerung der Restgasmasse nutzen (innere Drosselverluste fallen in der Gesamtbetrachtung kaum
Abgasrückführung). Hierzu kommen prinzipiell drei ins Gewicht, weil nach dem Kaltstart wieder auf
Alternativen in Betracht (Bild 5.1-34). Bei einer Ver- drosselfreie Laststeuerung übergegangen wird. Die
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 191

Auslass Öffnet Einlass Öffnet


Auslass Schließt Einlass Schließt

Zylinderdruck
Ventilhub

Einlasskanal-
rückführung

Positive Ventilüber-
schneidung vor OT
OT

Zylinderdruck Auslasskanal-
Ventilhub

rückführung

Positive Ventilüber-
schneidung nach OT
OT
Zylinderdruck

Brennraum-
Ventilhub

rückführung

Negative Ventilüber-
schneidung im Bereich OT
Bild 5.1-34 Restgas-
UT OT UT OT OT UT
Steuerverfahren

600 1/min ; p mi = 5 bar einzelner Zylinder genutzt werden. Für die aktiven
Zylinder resultiert daraus eine Betriebspunktverlage-
rung mit entsprechend günstigerem Kraftstoffver-
Auslass Öffnet brauch. Die Möglichkeiten der Ventilsteuerung rei-
Zylinderdruck

chen dabei bis zum zyklisch intermittierenden Be-


Auslass Schließt trieb, bei dem zwischen den vier Arbeitstakten jedes
einzelnen Zylinders eine wählbare Anzahl von Leer-
Einlass Öffnet Einlass Schließt takten zwischengeschaltet ist.
In Kombination mit der Aufladung ermöglicht die
überkritisches variable Ventilsteuerung beispielsweise die Realisie-
Druckverhältnis rung des Miller-Verfahrens [30]. Oder es können durch
Vc Vc +V h
Zylinderhubvolumen gezielt frühzeitiges Öffnen der Auslassventile Druck-
pulsationen im Auslasssystem erzeugt werden, die
Bild 5.1-35 p-V-Diagramm bei „Spätem Einlass sich im Sinne einer Stoßaufladung zur Verbesserung
Öffnet“ [3] des instationären Betriebsverhaltens nutzen lassen.
mit einigen bekannt gewordenen Systemen verbun- 5.1.5.2 Gemischbildung
dene Variabilität des Ventilhubes (siehe auch Kapitel
5.1.4.6.3) stellt eine weitere Möglichkeit dar, die Zur Gemischbildung im Ottomotor zählen die Ge-
Gemischbildung bei niedrigen Lasten durch Nutzung mischdosierung nach Menge und Zusammensetzung
von Ventilspalt-Effekten zu verbessern. sowie Gemischaufbereitung, -transport und -vertei-
Je nach der erreichten Variabilität der Ventilsteue- lung. Ziel der Gemischbildung beim konventionellen
rung lassen sich auch noch weitere Potenziale zur Ottomotor ist die Darstellung eines möglichst homo-
Verbesserung des Motorbetriebs eröffnen. Beispiels- genen Gemischs mit stöchiometrischem Mischungs-
weise folgen aus der Möglichkeit einer Leerlaufdreh- verhältnis von Luft (Sauerstoff) und Kraftstoff. Die
zahl-Absenkung weitere Verbrauchsvorteile. Darüber Luftmenge wird mit der Drosselklappe reguliert, die
hinaus kann infolge einer optimierten Restgassteue- angepasste Kraftstoffmenge mit der Einspritzung.
rung eine bessere Füllung bei gleichzeitig verringerter Die gleichmäßige Luftverteilung auf die Zylinder wird
Klopfbegrenzung erreicht werden. Das höhere Voll- durch die Ansauganlage gewährleistet (siehe Kapitel
lastdrehmoment, insbesondere im unteren Drehzahl- 5.1.4.9). Die exakte und gleichmäßige Kraftstoffvertei-
bereich, erlaubt eine Verlängerung der Achsüberset- lung wird bei modernen Ottomotoren durch je ein
zung, was über eine Betriebspunktverlagerung zu Einspritzventil für jeden Zylinder bewirkt (multi-point
weiteren Verbrauchsvorteilen führt. injection MPI). Die Einspritzventile sind in den jewei-
Konstruktive Lösungen, die eine vollständige Deakti- ligen Saugarmen der Ansauganlage nahe den Einlass-
vierung einzelner Ventile erlauben, können auch zur kanälen angeordnet (port fuel injection PFI). Die Ge-
Realisierung einer kennfeldgesteuerten Abschaltung mischaufbereitung, d.h. die Verdampfung und Vermi-
192 5 Antriebe

schung des Kraftstoffes mit der angesaugten Luft, wird motors durch teilweise Entdrosselung zu senken.
vom Siedeverlauf des Kraftstoffes, der Temperatur, Wegen der Notwendigkeit zur Zündung an der Zünd-
dem Druck, der Strömungsgeschwindigkeit und Turbu- kerze einen λ-Wert zwischen ca. 0,8 und 1,2 einzu-
lenz, der Zerstäubungsgüte und Kraftstoffkonzentration halten (Zündgrenzen des Kraftstoffs) waren dem
und der zur Verfügung stehenden Zeit beeinflusst. Grenzen gesetzt. Konzepte mit nicht-homogener,
Das Mischungsverhältnis wird mit dem Luftverhält- geschichteter Zylinderladung im Brennraum eröffnen
nis λ angegeben. Dieses ist das Verhältnis von zuge- hier erweiterte Potenziale (siehe Kapitel 5.1.5.2.2).
führter Luftmenge zum theoretischen Luftbedarf für Mit der Einführung des Drei-Wege-Katalysators
die vollkommene Verbrennung der eingebrachten wurden die Bestrebungen nach Magerkonzepten
Kraftstoffmasse. Für die vollständige Verbrennung zunächst aufgegeben, da zur gleichzeitigen Oxidation
von 1 kg Benzin beträgt der stöchiometrische Luftbe- von HC und CO und Reduktion von NOx der Wert
darf etwa 14,6 kg Luft. Bei Kraftstoffüberschuss ist λ = 1 zwingend eingehalten werden muss (siehe
λ < 1 (fettes Gemisch), bei Luftüberschuss ist λ > 1 Kapitel 5.1.5.6.1).
(mageres Gemisch). Der Wert von λ bestimmt das Im normalen Betrieb bei warmem Motor bereitet die
Betriebsverhalten des Motors (Bild 5.1-36). Maxima- Gemischbildung keine gravierenden Probleme. Kri-
les Drehmoment und guter Rundlauf des Motors tisch dagegen ist der Kaltstart und Warmlauf des
ergeben sich bei λ ≈ 0,9, der geringste Kraftstoff- Motors. Bei den tiefen Bauteiltemperaturen sowie
verbrauch bei λ ≈ 1,1 bis 1,2. Ebenso hat das Luft- wegen der geringen Strömungsgeschwindigkeit und
verhältnis Einfluss auf die Emissionen des Motors; Turbulenz im Brennraum wird ein Teil des einge-
bei Luftmangel (λ < 1) steigen die Kohlenwasser- spritzten Kraftstoffes an den Wänden gespeichert und
stoff-(HC)- und Kohlenmonoxid-(CO)-Emissionen, nimmt zunächst nicht an der Verbrennung teil. Um
bei Luftüberschuss (λ > 1) steigt die Stickoxidemis- dennoch ein zündfähiges Gemisch zu erhalten, muss
sion-(NOx) an (siehe auch Bild 5.1-55). eine Übermenge an Kraftstoff eingespritzt werden
Die vorteilhafte Auswirkung einer mageren Be- (Kaltstartanreicherung). Diese kann nicht vollständig
triebsweise war immer wieder Gegenstand von Be- verbrennen und führt zu sehr hohen HC-Emissionen,
mühungen, den Teillast-Kraftstoffverbrauch des Otto- was die größte Herausforderung zur Einhaltung der
Emissionsgrenzwerte darstellt. Zur Minimierung die-
ser Problematik muss die Position und Ausrichtung
Nm
der Einspritzventile sowie die Qualität des von ihnen
110 generierten Sprays optimiert werden.
100 5.1.5.2.1 Homogene Gemischbildung
90 Mit der Einführung der Katalysatortechnik kam es
Drehmoment

az zur vollständigen Substitution der bis dahin vorwie-


80
50° gend eingesetzten Vergaser durch die Benzineinsprit-
70 40° zung. Zunächst wurde an der gleichen Stelle, wo
30° üblicherweise der Vergaser am Ansaugkrümmer an-
60
geflanscht war, der Kraftstoff zentral eingespritzt
20°
50 (single point injection SPI). Dies änderte jedoch nur
0,8 1,0 1,2 1,4
Luftverhältnis l
wenig an dem Umstand, dass die Kanäle des Saug-
rohres mit Kraftstoff benetzt wurden und das dynami-
g/kWh
sche Ansprechverhalten des Motors infolge der Anla-
gerungs- und Verdampfungsvorgänge im Saugrohr
Spezifischer Kraftstoffverbrauch

660 sehr verschleppt war. Deshalb setzte sich schnell die


Einzeleinspritzung (multi-point injection MPI) durch.
az Für jeden einzelnen Zylinder ist ein separates Ein-
580
20° spritzventil vorhanden, möglichst nah am Zylinder-
kopf montiert und in Richtung der Einlassventile
500 spritzend (Bild 5.1-37). Die Einspritzung ist intermit-
30°
tierend, sie wird über einen Magneten im Einspritz-
420
ventil ausgelöst, der die Ventilnadel anhebt und die
40°
Spritzbohrung(en) freigibt. Die Dauer der Magnetan-
50° steuerung und der Kraftstoffüberdruck zum Saug-
340 rohrdruck bestimmen die eingespritzte Kraftstoff-
0,8 1,0 1,2 1,4
Luftverhältnis l menge. Bei 4-Ventil Zylinderköpfen mit zwei Ein-
lasskanälen verwendet man in der Regel ein Ein-
Bild 5.1-36 Einfluss von Luftverhältnis λ und Zünd- spritzventil mit einem Doppelstrahl in Richtung der
zeitpunkt αz auf Kraftstoffverbrauch und Drehmoment beiden Einlassventile.
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 193

1 2 3 4 5 6 7 Motortyp zu erreichen und insbesondere auch eine


gleich bleibende Qualität des Einspritzstrahles bei
allen Betriebsbedingungen und über der Laufzeit zu
gewährleisten. Durch Zuströmen von Luft an der
Abspritzstelle des Ventils kann die Zerstäubung zu-
sätzlich verbessert werden (luftumfasste Ventile).
Dabei wird vor der Drosselklappe ein Teilluftstrom
abgezweigt und das Druckgefälle zum Saugrohr aus-
genutzt, um Kraftstoff und Luft bereits an der Ein-
1 Spritzzapfen, 2 Ventilnadel, 3 Magnetanker, 4 Schließfeder,
5 Magnetwicklung, 6 elektrischer Anschluss, 7 Kraftstoffsieb
spritzstelle zu vermischen und mit hohen Luftströ-
mungsgeschwindigkeiten kleinere Tröpfchengrößen
zu erzeugen.
Bild 5.1-37 Einspritzventil (Bosch)
5.1.5.2.2 Benzin-Direkteinspritzung
Heute üblich ist die Einzeleinspritzung (auch sequen- Beim direkteinspritzenden Ottomotor erfolgt die Ein-
zielle Einspritzung), bei der die Einspritzventile ge- spritzung des Kraftstoffs direkt in den Brennraum.
trennt angesteuert werden, so dass jeder Zylinder zum Die Zeitdauer zwischen Einspritzung und Zündzeit-
vorgegebenen Zeitpunkt im Arbeitsspiel den Kraft- punkt bestimmt die Gemischbildung und damit den
stoff erhält. Dies kann kurz vor, während oder auch Ladungszustand gegen Ende der Verdichtung. Eine
überlappend zum geöffneten Einlassventil vonstatten frühe Einspritzung während des Saughubes ermög-
gehen in Abhängigkeit von Last, Drehzahl und Tem- licht eine weitgehend homogene Zylinderladung.
peratur des Motors. Damit kann über die Motorsteue- Diese Betriebsart wird vor allem für höhere Last und
rung, abgesichert durch eingehende Versuche, der Volllast genutzt.
dynamische Vorgang einer Last- oder Drehzahlände- Beim geschichteten inhomogenen Betrieb erfolgt die
rung beherrscht werden, ohne dass zu viel oder zu Einspritzung gegen Ende der Verdichtung, so dass
wenig Kraftstoff in den Zylinder gelangt. Im Schub- eine ausgeprägte Ladungsschichtung erzielt wird. So-
betrieb wird die Kraftstoffeinspritzung ganz ausge- wohl die damit verbundene Entdrosselung des Motors
setzt (Schubabschaltung). als auch die infolge geänderter Stoffwerte der Zylin-
Die Kraftstoffversorgung zu den Einspritzventilen derladung entstehenden thermodynamischen Vorteile
erfolgt über Verteilerleisten (fuel rail). Bei „top-feed“ wirken sich günstig auf den Kraftstoffverbrauch aus.
Ventilen wie in Bild 5.1-37 wird diese Leiste von Die Zündung erfolgt bei beiden Betriebsarten durch
oben auf die in einer Reihe stehenden Einspritzventile eine konventionelle Zündkerze.
aufgesteckt. Bei „bottom-feed“ Ventilen ist in das Die Direkteinspritzung hat im Vergleich zum konven-
Saugrohr, in Flanschnähe zum Zylinderkopf, ein tionellen Ottomotor mit äußerer Gemischbildung spe-
Kraftstoffkanal integriert, in den das Ventil eingesetzt zifische Vorteile. Die durch die Kraftstoffverdamp-
wird. Unterhalb und oberhalb der Zulaufbohrungen fung verursachte Innenkühlung während des Ansaug-
wird der Ventilkörper durch O-Ringe abgedichtet. vorgangs führt zu einer Luftaufwandssteigerung im
Der Kraftstoffdruck beträgt gewöhnlich 3 bis 4 bar Volllastbetrieb und zu einer verringerten Klopfnei-
über aktuellem Saugrohrdruck und wird von einer gung, so dass höhere Volllastmitteldrücke erreichbar
elektrischen Kraftstoff-Förderpumpe im Kraftstoff- sind. Üblicherweise wird ein Teil dieses Vorteils zur
behälter aufgebracht (siehe auch Kapitel 7.6). Der Anhebung des Verdichtungsverhältnisses genutzt, wo-
Druck wird mit einem Druckregler am Ende der durch eine Steigerung des Innenwirkungsgrades im
Verteilerleiste je nach Saugrohrdruck und Verbrauch Gesamtkennfeld erzielt wird.
auf konstanten Differenzdruck geregelt. Die Über- Der geschichtete Betrieb ermöglicht durch Entdrosse-
schussmenge an Kraftstoff wird durch ein Rücklauf- lung im Teillastbetrieb eine erhebliche Verringerung
Leitungssystem in den Tank zurückbefördert und der Ladungswechselarbeit und eine Reduktion der
sorgt so für die Ableitung von Luft- und Kraftstoff- Wandwärmeverluste durch die isolierend wirkende
dampfblasen aus dem Leitungssystem. Neuere Sys- Luftumhüllung der kraftstoffreichen Gemischzone im
teme arbeiten auch rücklauflos, wobei die Druck- und Schichtladebetrieb.
Mengenregelung in die Pumpe integriert oder im Spezifische Nachteile sind der Mehraufwand für die
Tank angebracht ist und nur die tatsächliche Be- Abgasreinigung des mageren Abgases, die Verringe-
darfsmenge in den Kraftstoffverteiler gefördert wird. rung des mechanischen Wirkungsgrades durch höhere
Neben den bereits erwähnten Varianten mit einem Zylinderdrücke im Schichtladebetrieb und die An-
oder mehreren Einspritzstrahlen je Ventil sind auch triebsleistung der Kraftstoffhochdruckpumpe. Brenn-
Ausführungen mit von der Mittelachse des Ventils verfahrensspezifisch können weitere Nachteile durch
abweichenden Strahlachsen verfügbar. Unterschiede die zerklüftete Brennraum- und Kolbenform und
gibt es auch hinsichtlich der Zerstäubungsqualität. durch eine teilweise zu frühe, wirkungsgradungünsti-
Hier gilt es, eine gute Optimierung auf den jeweiligen ge Schwerpunktslage der Verbrennung entstehen.
194 5 Antriebe

Eine weitere Option der Benzin-Direkteinspritzung diger Verbrennung am Kraftstoffinjektor ist zu mini-
stellt der Direktstart dar [4], bei dem der Motor durch mieren. Auch das direkte Anspritzen der Zündkerze
Direkteinspritzung mit nachfolgender Zündung ohne mit flüssigem Kraftstoff muss wegen der damit ver-
Einsatz eines Anlassers gestartet werden kann. Mit bundenen Thermoschockwirkung ausgeschlossen
Startzeiten von 300 msec bietet sich dieses Verfahren werden.
auch für den kraftstoffsparenden Start-Stopp-Betrieb Der Gemischtransport vom Injektor zur Zündkerze im
an [6]. Schichtladebetrieb kann durch unterschiedliche Brenn-
verfahren realisiert werden. Einen Haupteinfluss bil-
Betriebsstrategie für die Einspritzung den die Lage von Injektor zur Zündkerze, die Brenn-
beim DI-Ottomotor raumform sowie die Ladungsbewegung im Zylinder.
Im Teillastbetrieb kann der direkteinspritzende Otto- Auf Basis dieser Eigenschaften kann eine Einteilung
motor mit geschichteter Zylinderladung und Abgas- der Brennverfahren in strahlgeführte, wandgeführte
rückführung betrieben werden. Ein Beispiel für die und luftgeführte Brennverfahren erfolgen. Wenn auch
Strategie der verschiedenen Betriebsarten im Motor- ausgeführte Brennverfahren nicht immer eindeutig
kennfeld ist in Bild 5.1-62 dargestellt. Die Ausdeh- einer dieser drei Grundmuster zuzuordnen sind, trägt
nung der unterschiedlichen Betriebsarten ist abhängig diese Klassifizierung zu einem besseren Verständnis
vom gewählten Verfahren der Ladungsschichtung. der wesentlichen Vorgänge bei.
Im Leerlauf und bei sehr niedrigen Lasten ist übli-
Strahlgeführte Verfahren
cherweise eine Teilandrosselung erforderlich, um die
Abgastemperaturen auf einem Niveau zu halten, Beim strahlgeführten Verfahren beruht der Gemisch-
welches die katalytische Abgasnachbehandlung er- bildungsprozess und das Schichtungsprofil im We-
fordert. Zu höheren Lasten entstehen im Schichtlade- sentlichen auf den Eigenschaften des Kraftstoff-
betrieb Zonen überfetteten Gemisches und es muss strahls, da keine gezielte Unterstützung durch La-
auf homogenen Betrieb umgeschaltet werden. Im dungsbewegung erfordert wird und der Brennraum
Bereich hoher Last kann die mit der Einspritzdauer für eine ungehinderte Ausbildung des Kraftstoff-
anwachsende Eindringtiefe des Einspritzstrahls durch strahls ausgelegt ist.
eine Mehrfacheinspritzung reduziert werden, was zu Grundsatzuntersuchungen an einem Einzylinder-Ver-
einer Verringerung von Wandbenetzung und Ölver- suchsmotor mit strahlgeführtem Brennverfahren [7]
dünnung beiträgt. haben gezeigt, dass für den Zündort nur eine sehr
Wesentliche Aufgabe eines Brennverfahrens mit Ben- dünne Zone am äußeren Strahlrand infrage kommt.
zin-Direkteinspritzung ist die Nutzung der prinzipbe- Deshalb sind an die Kraftstoffinjektoren hohe Anfor-
dingten Vorteile in möglichst weiten Bereichen des derungen hinsichtlich ihrer Streuung zu stellen. Mit
Motorkennfeldes und in serientauglicher Stabilität. der Einführung nach außen öffnender Einspritzventile
Beim Schichtladebetrieb steht nur eine vergleichs- konnte diesbezüglich ein Durchbruch erzielt werden
weise kurze Zeitspanne für die Gemischbildung zur [8]. Für strahlgeführte Verfahren ist eine nahe räum-
Verfügung. Es sind deshalb besondere Vorkehrungen liche Anordnung von Kraftstoffinjektor und Zünd-
zu treffen, damit das Gemisch ausreichend aufbereitet kerze typisch, um auch bei kleinen Einspritzmengen
wird. Zum Zündzeitpunkt muss an der Zündkerze eine Konzentration von zündfähigem Gemisch an der
zündfähiges Gemisch vorliegen, damit eine zuverläs- Zündkerze sicherzustellen.
sige Entflammung sichergestellt ist. Aus thermody- Durch die Anordnung des Kraftstoffinjektors in der
namischer Sicht ist eine isolierende Umhüllung dieser Mitte des Zylinderkopfes ergibt sich für den Teillast-
kraftstoffreichen Gemischzone mit Luft vorteilhaft, betrieb eine günstige Konzentration der Kraftstoff-
um Wandwärmeverluste minimieren zu können. Luft-Gemischwolke im Zentrum des Brennraumes
Daneben soll das Brennverfahren auch potentiell mit einer wärmeisolierenden Umhüllung aus Luft
negative Begleiterscheinungen der Direkteinspritzung beziehungsweise Luft-Restgas-Gemisch. Hierauf ist
vermeiden. So ist die Benetzung der Zylinderlauf- zurückzuführen, dass derart ausgeführte strahlgeführ-
buchse mit flüssigem Kraftstoff wegen der Gefahr te Brennverfahren sehr günstige Teillastverbräuche
einer Schmierfilmabwaschung durch geeignete Injek- aufweisen. Für den Volllastbetrieb ist die zentrale
torauslegung zu verhindern. Ebenso ist die Ausbil- Anordnung des Kraftstoffinjektors vorteilhaft, weil
dung ausgemagerter Gemischzonen, die unvollstän- auf diese Weise eine gute Gemischaufbereitung bei
dig verbrennen und erhöhte Kohlenwasserstoffemis- möglichst geringer Benetzung der Zylinderwand
sionen verursachen, durch geeignete Maßnahmen zu erreicht wird (Bild 5.1-38).
unterdrücken. Um die Bildung von Rußpartikeln zu Im Vergleich zu den anderen Verfahren stellt das
vermeiden, muss die Aufbereitung des eingespritzten strahlgeführte Brennverfahren die höchsten Anforde-
Kraftstoffes so weit unterstützt werden, dass beim rungen an die Toleranzen und laufzeitbedingten Ab-
Eintreffen der Flammenfront keine flüssigen Kraft- weichungen des Strahlbildes. Das Emissions- und Ver-
stofftröpfchen oder überfettetes Gemisch mehr vor- brauchspotential der Direkteinspritzung lässt sich mit
liegen. Die Ablagerung von Rückständen unvollstän- diesem Verfahren jedoch am weitesten ausschöpfen.
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 195

geführter Gemischtransport des Kraftstoffstrahls führt


jedoch meist zu keinem befriedigenden Betriebsver-
halten, so dass zur Unterstützung der Kraftstoffaufbe-
reitung eine speziell abgestimmte Ladungsbewegung
genutzt wird. Diese führt die Verbrennungsluft an die
kraftstoffreiche Wandanlagerung heran und hilft beim
Gemischtransport zur Zündkerze. Ein optimales Zu-
sammenspiel zwischen Kraftstoffstrahl, Kolbenmulde
und Ladungsbewegung ist notwendig, damit es nicht
zu einem verschleppten Brennende und hohen Koh-
lenwasserstoffemissionen kommt. Bei ausgeführten
Motorkonzepten sind häufig Mischformen der Grund-
ladungsbewegung Drall und Tumble anzutreffen, wo-
bei die Unterscheidung im wesentlich anhand der
Orientierung der Wirbelachse festzumachen ist.
Die aufwendig gestaltete Brennraumform führt zu
einem zerklüfteten Brennraum, der einem optimalen
Volllastbetriebsverhalten entgegensteht. Beim Kalt-
start ist ein Betrieb mit Schichtladung nur einge-
schränkt möglich, da der Verdampfungsprozess deut-
Bild 5.1-38 Strahlgeführtes Brennverfahren (M272 lich von der Temperatur des Kolbenbodens beein-
von Mercedes-Benz) flusst wird.
Die ersten von japanischen Herstellern in Serie pro-
Wandgeführte Verfahren duzierten Motoren mit Benzindirekteinspritzung sind
Bei den wandgeführten Verfahren erfolgt die Ge- als typische Vertreter der wandgeführten Brennver-
mischbildung über die Lenkung des eingespritzten fahren anzusehen. Das 1996 unter dem Namen GDI
Kraftstoffs durch die Brennraumwand. Der Transport eingeführte DI 4-Ventil-Motor der Firma Mitsubishi
des Gemischs zur Zündkerze erfolgt meistens über Motors Co. (Bild 5.1-39) ist mit einem Verdichtungs-
eine speziell geformte Kolbenmulde, von der der verhältnis von 12,5 relativ hoch verdichtet, was durch
Einspritzstrahl abgelenkt wird und anhaftender Kraft- die Innenkühlung infolge der direkten Einspritzung
stoff abdampfen kann. Durch die geometrische Ab- des Kraftstoffes ermöglicht wird. Der Kolben ist mit
stimmung der Kolbenmulde in Bezug zur Zündkerze einer ausgeprägten Mulde versehen, welche zum
wird die Konzentration eines zündfähigen Gemisches einlassseitig angebrachten Kraftstoffinjektor hin flach
am Zündort unterstützt. Ein allein durch die Mulde und zur Zündkerze hin steil auslaufend gestaltet ist.

Kraftstoffeinspritzung in
die Kolbenmulde

Kolben

Auftreffen der Kraftstoffwolke auf


der Oberfläche der Kolbenmulde

Kraftstoff-
dampf
Kolbenbewegung

Kraftstofftropfen

Kraftstoffverdampfung und
Transport zur Zündkerze

Bild 5.1-39 Wandgeführtes


Reverse Tumble Reverse-Tumble-Brenn-
verfahren [9]
196 5 Antriebe

angeordnete Zündkerze in die leicht eingezogene


Mulde hinein.
Das im Jahr 2002 von der DaimlerChryslerAG vorge-
stellte Verfahren mit der Bezeichnung CGI beruht
ebenfalls auf einer wandgesteuerten Gemischbildung
und Drallladungsbewegung [12]. Hier kam die erst-
mals die Kombination von Benzin-Direkteinspritzung
mit Aufladung zum Serieneinsatz. Im vorliegenden
Fall handelt es sich um eine mechanische Kompres-
soraufladung.
Zündkerze Wenn auch wandgeführte Verfahren aus den genann-
ten Gründen nicht das volle thermodynamische Po-
tential der Benzin-Direkteinspritzung auszuschöpfen
vermögen, so haben sie doch in einer Reihe von Ap-
plikationen unter Beweis gestellt, dass sie hinsichtlich
ihrer Betriebsstabilität, das heißt der Vermeidung von
Zündaussetzern unter allen im Fahrbetrieb vorkom-
menden Randbedingungen, günstige praxisrelevante
Bild 5.1-40 Wandgeführtes Drall-Brennverfahren
Eigenschaften aufweisen.
[11]
Luftgeführte Verfahren
Zur Unterstützung der Gemischbildung und des Ge-
mischtransportes wird eine „Reverse Tumble“ La- Bei den luftgeführten Brennverfahren erfolgt die Ge-
dungsbewegung eingesetzt, deren Drehrichtung ent- mischbildung durch das Zusammenwirken des Kraft-
gegengesetzt zu derjenigen üblicher Tumble-Systeme stoffsprays mit einer intensiven und gerichteten
ist [9]. Strömung der Zylinderladung. Dabei findet die Ge-
Das von Toyota Motor Co. im 2,0 l-Ottomotor einge- mischbildung ohne direkte Beeinflussung durch die
setzte 4-Ventil-DI-Konzept [11] beruht ebenfalls auf Brennraumwand statt. Die Brennraumgestaltung hat
einem wandgeführten Brennverfahren (Bild 5.1-40). die Aufgabe, die in den Einlasskanälen beim Ansaug-
Der Kraftstoffstrahl ist auf die Randzone einer im vorgang erzeugte Strömung der Verbrennungsluft zu
Kolben angeordneten Mulde ausgerichtet. Die Ge- stabilisieren und so dafür zu sorgen, dass nach erfolg-
mischbildung wird durch eine Drallströmung unter- ter Einspritzung Luft in den Kraftstoffstrahl einge-
stützt, welche durch einen Dralleinlasskanal bei Ab- mischt und das auf diese Weise gebildete Gemisch
schaltung des zweiten, als Füllungskanal ausgelegten zur Zündkerze transportiert wird.
Einlasskanals erzeugt wird. Durch die Drallströmung Typisch für luftgeführte Brennverfahren ist ein rela-
wird der Wandabtrag des auf der Kolbenoberfläche tiv großer Abstand zwischen Kraftstoffinjektor und
angelagerten Kraftstoffes sowie der Transport des Zündkerze. Der Kraftstoffstrahl ist zur Zündkerze
Gemisches zur Zündkerze bewirkt. Im oberen Tot- ausgerichtet, ohne dabei die Zündelektroden direkt
punkt des Motors ragt die zentral im Zylinderkopf anzuspritzen. Die Brennraumgestaltung ist sowohl für

variables Tumble-System

Bild 5.1-41 Luftgeführtes


Brennverfahren
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 197

10

1,0

0,3
Bild 5.1-42 Optische Diag-
PLIEF-Messung nostik und numerische
CFD-Berechnung von vier Zyklen
Berechnung zur Analyse
der Gemischverteilung [14]

eine optimale Strahlausbreitung bei späten Einsprit- der Klappenposition bestimmt und ist je nach Brenn-
zungen als auch für eine gute Unterstützung der verfahren anzupassen.
Ladungsbewegung auszulegen. Der Transport des Heute umgesetzte Brennverfahren lassen sich nicht
Kraftstoffs zur Zündkerze erfolgt maßgeblich durch immer eindeutig einem der drei Grundmuster zuord-
die von den Einlasskanälen beim Ansaugvorgang nen. Durch den Versuch die günstigsten Eigenschaf-
erzeugte Brennraumströmung. Durch Vermeidung ten der einzelnen Konzepte zu kombinieren, charakte-
von Wandauftrag des Kraftstoffs besitzt das Verfah- risiert vielmehr die Art der Ladungsbewegung (Drall,
ren ein hohes Potential zur Darstellung günstiger Tumble, Reverse-Tumble) das Brennverfahren. Eben-
Kohlenwasserstoffemissionen. Bild 5.1-41 zeigt diese falls wirken sich Restriktionen durch die Übernahme
Konfiguration am Beispiel eines von FEV Motoren- von bestehenden Serienbauteilen, sowie Fertigungs-
technik entwickelten Brennverfahrens mit Tumble- einrichtungen auf die Randbedingungen des Brenn-
Ladungsbewegung [13]. verfahrens aus.
Im Rahmen der Entwicklung dieses Brennverfahrens Bild 5.1-43 zeigt ein luftgeführtes Verfahren mit Wand-
wurden auch Laseroptische und numerische Verfah- führungsunterstützung am Beispiel des von der Volks-
ren zur Analyse des Gemischbildungsprozesses ein- wagen AG in Serie gebrachte FSI-Brennverfahrens
gesetzt [14]. Bild 5.1-42 zeigt die mit LIF (Laser mit Tumble-Ladungsbewegung. Hierbei wird eine
Induzierte Fluoreszenz) gemessenen und mit CFD variable Einstellung der Ladungsbewegungsintensi-
(Computational Fluid Dynamics) berechnete Ge- tät durch eine horizontale Teilung der Einlasskanäle
mischverteilung zu den Zeitpunkten Einspritzende realisiert. Die untere Hälfte der Teilkanäle kann mittels
und Zündung. Es ist erkennbar, in welchem Maße die einer Schaltklappe deaktiviert werden und so die In-
Ladungsbewegung den Kraftstoffstrahl zur Zündker- tensität der Tumble-Ladungsbewegung erhöht werden.
ze hin ablenkt und dadurch an der Zündkerze ein Die Kolbenmulde hat eine zweiteilige Mulde, deren
zündfähiges Gemisch konzentriert wird. Wie dieses der Kraftstoffdüse zugewandter Teil den Kraftstoff-
Beispiel zeigt sind optische Diagnostik und numeri- strahl ablenkt („Kraftstoffmulde“) und deren zwei-
sche Prozesssimulation leistungsfähige Werkzeuge, ter Teil („Strömungsmulde“) die Tumble-Strömung
welche dem Entwickler gute Voraussagen hinsicht- gegen Ende des Verdichtungstaktes so lenkt, dass der
lich der Auswirkung von Modifikationen oder geän- gewünschte Gemischtransport zur Zündkerze hin
derten Betriebsbedingungen erlauben. Diese Metho- stattfindet [15].
den haben sich daher als unverzichtbar in der Ent- Das Brennverhalten des direkteinspritzenden Ottomo-
wicklung von Brennverfahren für Benzindirektein- tors im Schichtladebetrieb unterscheidet sich deutlich
spritzung etabliert. vom konventionellen Verfahren. Verglichen mit dem
Die Generierung der Ladungsbewegung bei wand- konventionellen Ottomotor zeigen alle Verfahren der
und luftgeführten Brennverfahren kann durch ver- Direkteinspritzung einen raschen Umsatz zum Beginn
schiedene Systeme realisiert werden. Da im Volllast- der Verbrennung. Die verbrauchsoptimale Schwer-
betrieb keine Luftaufwandsnachteile toleriert werden punktlage des Kraftstoffumsatzes liegt aufgrund des
können, kommen bevorzugt variable Systeme zum geringeren Wärmeverlustes, sowie des verzögerten
Einsatz. Bei Drall-Verfahren (Bild 5.1-40) kommt Verbrennungsendes früher als bei einem konventio-
vorzugsweise die Kanalabschaltung zum Einsatz. Da- nellen Ottomotor.
bei wird im Teillastbetrieb einer der beiden Einlass-
kanäle durch eine Schaltklappe deaktiviert. Bei Einspritztechnik
Tumble-Verfahren wird die Ladungsbewegung durch Bei den in Serie befindlichen DI Einspritzsystemen
eine horizontale Teilung der Einlasskanäle realisiert. kommt die Hochdruck-Flüssigkeitseinspritzung zum
Eine Hälfte der Teilkanäle kann dann mittels einer Einsatz. Zur Realisierung der auftretenden Drücke bis
Schaltklappe oder -walze deaktiviert werden. Die zu 200 bar erweitert sich das Einspritzsystem gegen-
Intensität der Ladungsbewegung wird von der Kanal- über dem konventionellen Ottomotor um eine Kraft-
geometrie, der Lage der horizontalen Teilung sowie stoffhochdruckpumpe. Als Hochdruckpumpe kommen
198 5 Antriebe

Tumble-Schaltung

Tumble-Blech

Hochdruck-
Einspritzventil

Kraftstoff- Strömungs-
mulde mulde
Bild 5.1-43 Tumble Brenn-
verfahren (VW 2.0 l FSI)

Mehr- und Einkolbenpumpen in radialer oder axialer ren angepasst werden. Bild 5.1-45 zeigt Spraybilder
Bauart zum Einsatz. Ihr Antrieb erfolgt entweder von drei bei der Hochdruck-Flüssigkeitseinspritzung
direkt von der Nockenwelle oder über den Steuertrieb verwendeten Injektortypen bei Umgebungstemperatur
des Motors. Für Zukunftslösungen sind auch elekt- und athmospärischem Gasdruck.
risch angetriebene Hochdruckpumpen in der Ent- Der Drallinjektor zeigt einen eng begrenzten Strahl,
wicklung. Der Systemdruck wird über ein Druckre- was zur Ausbildung einer kompakten Kraftstoffwolke
gelventil auf einen konstanten oder kennfeldgeregel- führt. Eine Erhöhung des Gasdruckes bewirkt eine
ten Wert eingestellt. Aus der Kraftstoff-Verteilerleiste geringe Änderung der Eindringtiefe, vermindert je-
(Common Rail) wird pro Zylinder ein Kraftstoffinjek- doch gleichzeitig den Ausbreitungswinkel des Strahls.
tor gespeist, über den der Kraftstoff direkt in den Dies führt zu einer Strahleinschnürung und stärkeren
Brennraum des Motors eingespritzt wird. Das Ge- Konzentration des Kraftstoffs. Die Erzeugung des
samtsystem ist in Bild 5.1-44 schematisch dargestellt. Strahlkegels erfolgt über eine tangentiale Komponen-
Bei den direkteinspritzenden Brennverfahren werden te der Kraftstoffströmung, welche über entsprechende
unterschiedliche Injektortypen verwendet, die im Hin- Formgebung im Bereich des Düsennadelsitzes der
blick auf ihr Einspritzstrahlbild an das Brennverfah- Strömung aufgeprägt wird. Je nach Ausführung die-

Drucksteuerventil

Druck-
sensor

Steuergerät

Hochdruck-
pumpe
p max ca. 100 bar

Druckventil

Einspritzventile

Elektro-
kraftstoffpumpe
Bild 5.1-44 Hochdruck-
Flüssigkeitseinspritzung

Bild 5.1-45 Spraybilder von


verschiedenen Injektortypen
Drallinjektor Mehrlochinjektor Außen öffnender Injektor
[16]
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 199

ses Drallerzeugers ist diese Strömungsform bei sehr serientauglicher Kraftstoffinjektoren liegen im Be-
kleinen Einspritzdauern beziehungsweise zu Beginn reich <20 μm. Die Optimierung der hydraulischen
des Einspritzvorganges noch nicht voll ausgeprägt. Eigenschaften des Kraftstoffinjektors ist Gegenstand
Infolgedessen entsteht ein kompakter Vorstrahl mit intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, bei
geringem Kegelwinkel. denen sowohl optische Methoden zur Messung der
Die Einzelstrahlen des Mehrlochinjektors sind über Strahleigenschaften als auch numerische Verfahren
die gesamte Eindringtiefe scharf abgegrenzt. Die der Strahlmodellierung zur Anwendung kommen.
Einzelstrahlen bieten die Möglichkeit einer freieren Die Betriebsstabilität des Ottomotors mit Direktein-
Strahlgestaltung bis hin zu asymmetrischen Strahlbil- spritzung hängt wesentlich davon ab, dass die Strahl-
dern. Die Ausbreitungswinkel der Einzelstrahlen sind eigenschaften über die gesamte Nutzungsdauer inner-
unabhängig vom Gasdruck, die Eindringtiefe geht mit halb eng vorgegebener Toleranzen erhalten bleiben.
steigendem Gasdruck leicht zurück. Ein Nachteil des Aus diesem Grund sind auch brennraumseitige Abla-
Mehrlochinjektors ist seine Empfindlichkeit gegen- gerungen am Einspritzventil zu vermeiden. Wesentli-
über Verkokungen der Düsenlöcher, der jedoch durch cher Einflussfaktor für die Ablagerungsbildung ist die
Maßnahmen u.a. zur Düsenlochformung inzwischen Temperatur an der Injektorspitze, weshalb zentrale
weitgehend beherrscht wird. Düsenanordnungen eher kritisch einzuschätzen sind
Der nach außen öffnende Injektor weist im Vergleich als solche, bei denen der Injektor an der Einlassseite
der Injektoren den größten Strahlkegelwinkel auf. unter dem Einlasskanal platziert ist. Weiterhin hat
Durch Kombination dieser Düsenform mit einer sich gezeigt, dass ein möglichst bündiger Abschluss
Piezo-Aktuatorik ist der Winkel nahezu unabhängig der Injektor-Stirnfläche mit der Brennraumwand vor-
vom Gasdruck. Die Eindringtiefe des Strahls zeigt teilhaft ist, weil dann kaum Verwirbelungen oder
hingegen einen deutlichen Gasdruckeinfluss. An der Totwassergebiete im Bereich der Injektorspitze auf-
Außenseite des Einspritzkegels bildet sich eine ring- treten.
förmige Rezirkulationszone aus, die für eine gute
Gemischaufbereitung sorgt und eine hohe Reprodu- Luftunterstützte Einspritzung
zierbarkeit aufweist. Bei strahlgeführtem Brennver- Die Zerstäubung des eingespritzten Kraftstoffes kann
fahren eignet sich dieser Bereich daher besonders zur auch bei niedrigeren Drücken mit Luftunterstützung
Positionierung der Zündkerze. Vorteil des nach außen erzielt werden. Die Zudosierung des Kraftstoffes
öffnenden Injektors sind kleine Tropfengrößen bei erfolgt hierbei in eine Nebenkammer, die dann durch
geringer Eindringtiefe. Der Piezo-Aktuator des In- komprimierte Luft oder auch Abgas in den Brenn-
jektors dehnt sich durch Anlegen einer elektrischen raum ausgeblasen wird. Wegen der Begrenzung des
Spannung aus und öffnet die Injektornadel. Dabei Systemdruckes bestehen allerdings nicht die gleichen
werden sehr geringe Schaltzeiten von 200 μs erreicht. Freiheitsgrade hinsichtlich des Einspritzzeitpunktes
Neben der Möglichkeit von Teilhüben und Mehrfach- wie bei der Hochdruck-Flüssigkeitseinspritzung.
einspritzung zeichnen sich Piezo-Injektoren durch Die für die luftunterstützte Einspritzung zur Verfü-
eine hohe Wiederholgenauigkeit von Strahlausbrei- gung stehenden Systemkomponenten wurden im Rah-
tung und Kraftstoffzumessung sowie eine gute Ge- men der Entwicklung von Zweitakt-Pkw-Ottomoto-
mischaufbereitung aus. ren verfügbar gemacht und werden in einigen Boots-
Die Eigenschaften des vom Einspritzventil erzeugten motoren auch eingesetzt. Die Anpassung dieser
Kraftstoffstrahles werden im Wesentlichen durch den Systeme an die Erfordernisse des 4-Takt-Ottomotors
Durchfluss, den Strahlkegelwinkel und beim Mehr- mit Benzindirekteinspritzung war Gegenstand einer
lochinjektor durch die Winkellage der Einzelstrahlen von Siemens und Orbital betriebenen Gemeinschafts-
sowie durch die Tropfengrößenverteilung charak- entwicklung.
terisiert. Bei der Auslegung des Durchfluss ist der
erforderliche Mengenspreizung zwischen der mit 5.1.5.2.3 Abgasrückführung
kürzestmöglicher Einspritzdauer darstellbaren Leer- Die Abgasrückführung ist ein bekanntes Verfahren
laufeinspritzmenge und der im Nennleistungspunkt zur Beherrschung der NOx-Rohemissionen von
benötigten Einspritzmenge Rechnung zu tragen. Die Verbrennungsmotoren. Sie bewirkt einerseits eine
Mengenspreizung lässt sich dabei über eine lastab- Erhöhung der Wärmekapazität und andererseits eine
hängige Steuerung des Kraftstoff-Systemdruckes er- Abnahme des Sauerstoffgehaltes und folglich eine
weitern. Reduzierung der Brenngeschwindigkeit. Beides führt
Die Quantifizierung der Zerstäubungsgüte des Kraft- zu abgesenkten Spitzentemperaturen während der
stoffsprays erfolgt über die Tropfengrößenverteilung. Verbrennung. Sie wird sowohl bei Otto- als auch bei
Sie wird mit dem Sauter-Durchmesser als eindimen- Dieselmotoren erfolgreich eingesetzt. Insbesondere
sionale Kenngröße quantifiziert. Dieser ist als der für mager betriebene Direkteinspritz-Ottomotoren
Durchmesser eines hinsichtlich Volumen-Oberflä- sind die Stickstoffoxidemissionen problematisch,
chen-Verhältnis repräsentativen Tropfens interpre- weil mit konventioneller katalytischer Abgasreini-
tierbar. Typische Werte für den Sauter-Durchmesser gung im Magerbetrieb keine NOx-Konvertierung er-
200 5 Antriebe

reicht wird. Auch die in Kapitel 5.1.5.6.2 behandelten dungsbewegung wird beim Ansaugvorgang erzeugt
Zukunftslösungen für die Abgasreinigung im sauer- und wird wesentlich durch die Anordnung der Ein-
stoffhaltigen Abgas reichen allein nicht aus, um die lassventile sowie durch die Geometrie des Einlasska-
NOx-Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Deshalb nals im Zylinderkopf bestimmt. Grundsätzlich wird
müssen auch innermotorische Möglichkeiten zur zwischen zwei Ladungsbewegungsformen unter-
Begrenzung der NOx-Rohemissionen genutzt werden. schieden. Bei der Drallströmung liegt eine rotatori-
Hoch entwickelte Direkteinspritz-Brennverfahren sche Bewegung der Zylinderladung um die Zylinder-
weisen im Allgemeinen eine hohe AGR-Verträglichkeit achse vor. Sie wird einerseits durch exzentrische bzw.
–1
auf. Im Teillastbetriebspunkt n = 2.000 min , pme = unsymmetrische Anordnung der Einlassventile und
2 bar sind AGR-Raten in einer Größenordnung von andererseits durch eine spiralförmige Formgebung
30 % als typisch anzusehen. Mit der Abgasrückfüh- der Einlasskanäle bewirkt. Bei Motoren mit mehr als
rung ist auch verbunden, dass der Gesamtluftüber- einem Einlassventil je Zylinder besteht zusätzlich die
schuss des Motors abnimmt und dadurch die Abgas- Möglichkeit, im Teillastbetrieb einen der Einlasska-
temperatur ansteigt. Dies ist ein willkommener Be- näle über eine Klappe oder eines der Einlassventile zu
gleiteffekt, weil ansonsten im Teillastbereich die deaktivieren. Die Tumble-Ladungsbewegung stellt
Abgastemperaturen unter das für die katalytische dagegen die Rotation um eine zur Zylinderachse
Abgasreinigung erforderliche Niveau absinken wür- senkrecht stehende Achse dar. Zu ihrer Erzeugung
den. Darüber hinaus ist vielfach auch zu beobachten, bedarf es einer symmetrischen Anordnung der Ein-
dass die Gemischbildung von der Abgasrückführung lassventile. Infolge einer speziellen Formgebung des
infolge erhöhter Gemischtemperaturen positiv beein- Einlasskanals kommt es ab einem bestimmten Ventil-
flusst wird. hub zu lokaler Strömungsablösung, wodurch sich ein
Beim Ottomotor mit Direkteinspritzung ist die bevor- über den Ventilquerschnitt gesehen einseitiges Ein-
zugte Form der Abgasrückführung die externe Zufuhr strömen ergibt.
von Abgas in das Saugsystem des Motors. Zur Reali- Die vorangegangenen Ausführungen zum Brennver-
sierung des für die Abgasrückführung notwendigen fahren von Direkteinspritz-Ottomotoren (Kapitel
Saugrohrunterdruckes muss der Motor leicht ange- 5.1.5.2.2) haben deutlich gemacht, dass die Zylinde-
drosselt werden. Diese Maßnahme ist jedoch ohnehin rinnenströmung eine zentrale Optimierungsgröße vie-
bei tiefer Teillast erforderlich, um ein für die Abgas- ler Brennverfahrenskonzepte darstellt. In den heute in
nachbehandlung ausreichend hohes Abgastempera- Serie produzierten Ottomotoren mit Benzin-Direkt-
turniveau sicherzustellen. einspritzung sind sowohl Drall- als auch Tumblekon-
Neben der zentralen Einleitung des rückgeführten zepte anzutreffen. In vielen Fällen ist die Ladungs-
Abgases in den Saugsammler kommt auch die ventil- bewegung auch nicht eindeutig einem dieser beiden
nahe dezentrale Einleitung in den einzelnen Saugar- Grundmuster zuzuordnen sondern stellt eine Misch-
men zum Einsatz. Damit wird das Ziel verfolgt, im form beider dar. Insbesondere die Generierung reiner
transienten Fahrbetrieb sowie beim Wechsel der Drallströmungen ist unter den konstruktiven Randbe-
Betriebsart vom Schichtlade-Magerbetrieb zum dingungen heutiger Ottomotoren kaum darstellbar;
Homogenbetrieb mit stöchiometrischem oder fettem zumeist handelt es sich um eine Wirbelströmung mit
Gemisch, wie es für die Regeneration eines NOx- schräg im Brennraum verlaufender Rotationsachse.
Adsorberkatalysators erforderlich ist (siehe hierzu Die für den Teillastbetrieb mit geschichteter Zylin-
Kapitel 5.1.5.6.2), eine möglichst spontane Anpas- derladung erforderliche Ladungsbewegung muss je
sung der AGR-Rate zu ermöglichen. Problematisch nach Brennverfahrenskonzept eine hohe Intensität
ist jedoch dabei, dass die einzelnen Saugarme durch aufweisen. Die Realisierung derartiger Strömungsin-
das AGR-System akustisch gekoppelt sind, was zu tensitäten ist im Allgemeinen nur möglich, wenn die
Luftaufwandseinbußen an der Volllast führen kann. Einlasskanäle zulasten ihrer Durchflusskapazität mo-
Alternativ kommt auch die interne Abgasrückführung difiziert werden. Damit sind Luftaufwandsnachteile
mittels Verstellung der Ventilsteuerzeiten in Betracht. im Volllastbetrieb verbunden, die nicht toleriert
Diese Systeme erfordern jedoch zur Darstellung aus- werden können. Es kommen deshalb bevorzugt Kon-
reichend großer Abgasrückführraten große Nocken- zepte zur Anwendung, die eine Variabilität hinsicht-
wellen-Verstellwinkel und folglich entsprechend tiefe lich Ladungsbewegung und Durchfluss gestatten.
Taschen im Kolben zur Sicherstellung des Ventilfrei- Dabei sind die Einlasskanäle primär auf gutes Durch-
ganges. Dies steht häufig im Konflikt mit der Gestal- flussverhalten ausgelegt. Im Teillastbetrieb wird die
tung der Kolbenkrone, die wesentlich von den Anfor- erforderliche Ladungsbewegung dann über schaltbare
derungen des Brennverfahrens bestimmt wird. Einrichtungen im Saugsystem generiert.
Die bei Drallsystemen an Mehrventilmotoren vor-
5.1.5.2.4 Ladungsbewegung zugsweise zur Anwendung kommende Lösung ist die
Der Strömungszustand der Zylinderladung hat einen Kanalabschaltung. Dabei wird einer der beiden Ein-
signifikanten Einfluss auf den Prozess des Ottomotors lasskanäle mittels einer Schaltklappe deaktiviert
(siehe auch Kapitel 5.1.5.2 und 5.1.5.5). Die La- (siehe auch Bild 5.1-40). Die Einlasskanäle sind hier-
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 201

zu von der Schaltklappe stromabwärts geteilt auszu- 5.1.5.3 Zündung


führen. Hinsichtlich der Dichtheitsanforderungen an Die Zündanlage stellt die Entflammung des Gemi-
die Schaltklappe genügt es, wenn der Einlassstrom sches im Brennraum über einen Hochspannungsüber-
des deaktivierten Kanals so weit gedrosselt wird, dass schlag an der Zündkerze sicher. Neben dem zum
der über den nicht deaktivierten Kanal tangential in Zündzeitpunkt herrschenden Zustand des Gemisches
den Brennraum einströmende Frischladungsstrom an der Zündkerze bestimmen die Zündenergie und die
ungestört bleibt. Alternativ kommt für die Deaktivie- Funkendauer die Entflammung und damit den weite-
rung auch eine Ventilabschaltung infrage. Hierin ren Fortgang der Verbrennung.
bestehen jedoch keine prinzipiellen Vorteile, so dass Die früher gebräuchliche Spulenzündung mit Unter-
die Konzeptentscheidung von anderen, nicht zuletzt brecherkontakten zur Unterbrechung des Stromes aus
kostenrelevanten Argumenten getragen wird. der Batterie (Bordnetz) zur Primärwicklung der
Bei Zweiventilmotoren kommt für die variable Ge- Spule, mit rotierendem Zündverteiler zur Verbindung
staltung der Ladungsbewegung eine Teilaktivierung des Hochspannungsausgangs der Zündspule mit der
des Einlasskanals in Betracht. Dabei ist der Kanal bis Zündkerze des jeweiligen Zylinders in der Zündfolge
kurz vor das Einlassventil geteilt ausgeführt, wobei sowie mit von Fliehkraft und Saugrohrunterdruck
einer der beiden Teilkanäle über eine schaltbare betätigtem Zündzeitpunkt-Versteller wird heute
Drallklappe deaktiviert wird. Alternativ ist auch eine nicht mehr verwendet. Diese Bauart wies einerseits
in den Einlasskanal einschwenkbare Klappe möglich, Verschleiß am Unterbrecherkontakt auf und erfor-
mit deren Hilfe die Strömung im Kanal gezielt beein- derte deshalb einen zu hohen Wartungsaufwand. Ande-
flusst wird. Damit wird eine unsymmetrische Strö- rerseits waren die Möglichkeiten zur bedarfsgerechten
mungsverteilung am Ventilspalt erreicht. Anpassung des Zündzeitpunktes stark eingeschränkt.
Bei Tumblekonzepten wird die variable Beeinflus- Mit der Transistor-Zündung wurde der Unterbrecher-
sung ebenfalls über eine schaltbare Teildeaktivierung kontakt durch einen kontaktlosen Induktionsgeber
des Einlasskanals bewirkt. Bei Mehrventilmotoren oder auch einen Hall-Sensor sowie ein elektronisches
wird der siamesisch ausgeführte Einlasskanal durch Schaltgerät ersetzt, die keinem Verschleiß mehr
das Eingießen eines Bleches horizontal geteilt und unterliegen. Die Zündverteilung und -verstellung ist
einer der beiden entstehenden Teilkanäle mittels einer gleich wie bei der Spulenzündung. Die Hochspan-
Schaltklappe deaktiviert. Die Tumbleintensität wird nungs-Kondensatorzündung (HKZ) oder auch „Thy-
dann von der Kanalgeometrie und der Lage der hori- ristorzündung“ nutzt anstelle der induktiv in der
zontalen Teilungsebene bestimmt. Bild 5.1-46 zeigt Zündspule gespeicherten Energie die kapazitiv in
die konstruktive Lösung eines derartigen variablen einem Kondensator gespeicherte Ladung. Die Fun-
Tumblesystems am Beispiel des Volkswagen Lupo kendauer (0,1 bis 0,3 ms) ist deutlich kürzer als bei
FSI Motors mit 1,4 l Hubraum. Der Klappenflansch der Transistorzündung und garantiert nicht immer eine
ist zwischen Zylinderkopf und Saugrohr angeordnet. sichere Entflammung des Gemisches. Diese Bauart
Zusätzlich ist in dieses Bauteil die Kraftstoff-Ver- wird heute deshalb kaum noch eingesetzt.
teilerleiste integriert. Heute werden überwiegend elektronische Zündanla-
gen mit „ruhender“ Hochspannungsverteilung bzw.
Einzelfunken-Zündspulen verwendet (Bild 5.1-47).
Bis auf die Zündkerzen sind derartige Zündanlagen
völlig wartungsfrei.
Im Gegensatz zu den früher gebräuchlichen Zündan-
lagen ist der Zündzeitpunkt bei vollelektronischen
Zündanlagen in weiten Bereichen frei programmier-
bar. Er kann somit an den Lastpunkt und die Motor-
drehzahl angepasst werden. Bild 5.1-48 zeigt dies im
Vergleich zu einem typischen Zündkennfeld bei me-
chanischer Verstellung. Darüber hinaus ermöglichen
elektronische Zündanlagen die Adaption des Zünd-
zeitpunktes an besondere Betriebsbedingungen wie
Kaltstart und Warmlauf. Beispielsweise kann so
durch vorübergehende Spätzündung kurz nach dem
Kaltstart das Abgastemperaturniveau zur schnelleren
Erwärmung des Katalysators angehoben werden. Im
Bereich hoher Motorlasten führt eine zu frühe Ein-
stellung zum Klopfen, ein zu später Zeitpunkt dage-
gen zu Drehmomenteinbußen und im Extremfall zu
Bild 5.1-46 Klappenflansch des Volkswagen Lupo verschleppter Verbrennung. In Kombination mit einer
FSI Motors in die Motorsteuerung integrierten Klopfregelung
202 5 Antriebe

4
3
2

1 5

7
8
9
10

1 Zündkerze, 2 Einzelfunken-Zündspule, 3 Drosselklappenschalter, 4 Steuergerät, 5 Motortempe- Bild 5.1-47 Schema einer


ratursensor, 6 Klopfsensor, 7 Drehzahl- und Bezugsmarkensensor, 8 Geberzahnrad, 9 Batterie, vollelektronischen Zünd-
10 Zünd-Start-Schalter
anlage (Bosch)

lässt sich der Zündzeitpunkt in Abhängigkeit eines ungünstigsten Umständen genügend Zündenergie
Körperschallsignals mit sicherem Abstand zur Klopf- vorhanden ist. Ausreichender Vorstand in den Brenn-
grenze immer wirkungsgradoptimal einstellen, wobei raum, größerer Elektrodenabstand und dünne Elekt-
auch wechselnde Kraftstoffqualitäten adaptiert wer- roden verbessern die Entflammung und führen damit
den können. Des Weiteren erlaubt der freie Zugriff zu ruhigerem Motorlauf und geringeren HC-Emis-
der Motorsteuerung auf den Zündzeitpunkt auch zu- sionen.
sätzliche Regeleingriffe zur Antischlupf- bzw. Fahr- Der Hochspannungszündfunke verursacht an den
dynamikregelung. Zündkerzen-Elektroden einen erosiven Verschleiß.
Bei stöchiometrischem Gemisch genügt zur Entflam- Infolgedessen vergrößert sich der Abstand der Elekt-
mung eine Energie im Zündfunken von ca. 0,2 mJ. roden und der Zündspannungsbedarf steigt an. Das
Der Energiebedarf steigt auf über 3 mJ bei fetteren kann zu unregelmäßigen Entflammungen bis zu
und magereren Gemischen an. In der Praxis wird Zündaussetzern führen. Dieses Problem der Funken-
jedoch eine wesentlich größere Energie (Faktor 20 bis erosion ist mit hochverschleißfesten, d.h. hochtempe-
30) eingesetzt. Hiermit ist sichergestellt, dass unter raturfesten und chemisch resistenten Materialauflagen

Zündkennfelder
oben: elektronisch optimiert
unten: mechanisches Verstellsystem
Druckverlauf im Brennraum bei Zündwinkel
verschiedenen Zündzeitpunkten.
1 Zündung (Za) im richtigen Zeitpunkt
2 Zündung (Zb) zu früh
3 Zündung (Zc) zu spät
bar
vor OT nach OT
Druck im Brennraum

40
Las zahl
t Dreh
2
1

20 Zündwinkel
Za 3
Zb Zc

0
75° 50° 25° 0° –25° –50° –75°
Zündwinkel az Bild 5.1-48 Druckverlauf
im Brennraum bei verschie-
Las zahl denen Zündzeitpunkten,
t Dreh
Zündkennfelder
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 203

Abbrand- Schematische Darstellung der


wider- Luftfunken- und Gleit-/Luftfunken-
stand strecken bei der 60 000-km-Kerze
(gezeigt an nur zwei Masseelektroden)
Isolator Kupferkern
Mittelelektrode
Ringelektrode
Platin Bild 5.1-49 Langzeit-
Kupferkern Zündkerze, Prinzip der
Masseelektrode
Gleitfunkenstrecke (Beru)

aus Platin an den Stellen des Funkenüberschlags Zündung anstehenden Zylinder mit der Hoch-
wesentlich verbessert worden. Zündkerzenwechselin- spannungsleitung.
tervalle von 60.000 km oder gar 100.000 km konnten b) Zweifunken-Zündspule mit „ruhender Vertei-
realisiert werden (Bild 5.1-49). Eine weitere Innova- lung“. An einer Zündspule sind 2 Hochspan-
tion stellen die Gleitfunken-Zündkerzen dar; der nungsausgänge für zwei im Abstand von 360°
Zündfunke gleitet zunächst über die Isolatorkappe KW zündende Zylinder (z.B. Zylinder 1 und 4
hinweg und dann zur Masseelektrode (Bild 5.1-49). beim 4-Zylinder-Motor). Es entfällt der rotierende
Damit wird ein bei häufigem Kaltstart und Kurzstre- Zündverteiler und damit ein Verschleißteil. Für 4-
ckenbetrieb auftretendes Verrußen der Zündkerze und 6-Zylinder-Motoren werden oft 2 bzw. 3
verhindert. Zweifunken-Zündspulen zu einem Paket zusam-
Auch der direkte Funkenüberschlag von der Zündker- mengefasst.
ze auf eine Spitze in der Kolbenmitte (spark to piston c) Bei der Einzelfunken-Zündspule wird je Zylinder
STP) ist versucht worden. Dieses Verfahren funktio- eine eigene Stecker-Zündspule direkt auf die
niert bei Zündzeitpunkten nahe dem OT bei hoher Zündkerze montiert. Es entfallen die Hochspan-
Last. Bei niedrigeren Lasten und größerer Vorzün- nungs-Zündkabel. Bei elektronischer Klopferken-
dung wird die Funkenstrecke über eine Masseelektro- nung können von der Motorsteuerung für jeden
de an der Zündkerze mit ungewöhnlich großem Zylinder individuelle Zündzeitpunkte eingestellt
Elektrodenabstand ausgebildet, was der Entflammung werden.
stark verdünnter Gemische zuträglich ist. Im Rahmen der Systemintegration werden heute alle
Die Zündspule ist sowohl Energiespeicher als auch zur Zündung gehörenden Komponenten in so genann-
Transformator, der ein induktiv wirkender Span- te Stabzündmodule zusammengefasst [17]. Eine
nungswandler ist. Die Primärwicklung wird aus dem weitere Neuentwicklung ist die Wechselspannungs-
Bordnetz gespeist. Die Sekundärwicklung liefert den zündung (WSZ). Sie ermöglicht die dem Bedarf
Hochspannungsstrom mit der erforderlichen Energie angepasste Vorgabe der Zündenergie, was die Le-
an die Zündkerze. Die Sekundärspannung liegt bei bensdauer der Zündkerzen wesentlich erhöht. Als
20 bis 35 kV, die Funkenenergie beträgt ca. 60 bis weiterer wichtiger Vorteil kann über die Zündkerzen
100 mJ, die Funkendauer ca. 2 ms. Es werden 3 Aus- eine Ionenstrommessung realisiert werden, die eine
führungsformen eingesetzt (Bild 5.1-50). direkte Zündaussetzerkennung je Zylinder gestattet.
a) Eine Zündspule für alle Zylinder des Motors. Ein Damit lassen sich auch für Motoren mit hohen Zylin-
Hochspannungskabel führt von der Zündspule derzahlen, bei denen die Aussetzererkennung über
zum Zündverteiler. Der Verteilerfinger, der mit den Umweg der Laufunruhebestimmung an der Kur-
Nockenwellendrehzahl rotiert, verbindet den zur belwelle erschwert ist, die Anforderungen der On-
204 5 Antriebe

a) Verteiler-Zündspule b) 6-Zyl. Zündmodul (Doppelfunkenkonzept) c) Stecker-Zündspule

Bild 5.1-50 Bauformen Zündspulen (Beru)

Board-Diagnose (OBD) erfüllen [18] (siehe auch Auch für den Ottomotor existieren Konzepte, die eine
Kapitel 5.1.5.7.1). Während in der Spulenzündung Selbstzündung des homogenen Gemisches am Otto-
beim Laden die maximale Zündenergie inkl. aller motor vorsehen. In Abgrenzung zu den bei Dieselmo-
Sicherheitszuschläge in die Spule eingespeichert und toren verfolgten homogenen Brennverfahren (HCCI –
bei jedem Zündvorgang auch umgesetzt wird, kann Homogeneous Charge Compression Ignition) setzen
mit der WSZ die Energie in Intervallen (Paketen) sich für Ottomotoren die Bezeichnungen CAI (Cont-
abgegeben und so die Gesamtenergie geregelt wer- rolled Auto Ignition) und Raumzündung zunehmend
den. Nach jedem Intervall überprüft die elektronische durch. Die wesentliche Zielsetzung dieses Brennver-
Steuerung über Ionenstrommessung an der Zündker- fahren ist eine Verminderung des Kraftstoffverbrau-
ze, ob die Entflammung stattgefunden hat oder nicht. ches durch eine Entdrosselung im Teillastbetrieb, die
Wenn nicht, werden so lange weitere Pakete nachge- sich durch die sehr große Menge an in den Brenn-
schoben, bis Entflammung festgestellt ist. Für jeden raum rückgeführtem Abgas ergibt. Die Restgasmenge
Zylinder wird individuell und bedarfsgerecht in allen ist einerseits zur Erzielen einer für die Selbstzündung
Betriebspunkten die Zündung geregelt. Die Zündspu- ausreichenden Kompressionsendtemperatur notwen-
len werden wesentlich kleiner, der Abbrand an der dig, andererseits wird durch den hohen Restgasgehalt
Zündkerze ist drastisch reduziert. Aus dem Verlauf die Verbrennungsumsatzrate gezielt kontrolliert, um
des Ionenstromsignals lassen sich auch reguläre von akustische Nachteile durch unzulässig hohen Druck-
verschleppten oder klopfenden Verbrennungszyklen anstiegsgeschwindigkeiten zu vermeiden. Das Ergeb-
unterscheiden. Dies eröffnet zusätzliche Möglichkei- nis ist ein thermodynamisch günstiger Hochdruck-
ten bis hin zu der Idealvorstellung eines geschlosse- prozess mit sehr niedrigen NOx-Rohemissionen,
nen Regelkreises zur Optimierung des Verbren- welche eine zusätzliche, nur für die Teillast erfor-
nungsprozesses. derliche NOx-Abgasnachbehandlung (siehe Kapitel
Neben der heute üblichen Funkenzündung verfolgen 5.1.5.6.2) überflüssig machen. Bei niedrigen und
Forschungsvorhaben die Anwendung anderer Funk- hohen Lasten wird das Brennverfahren konventionell
tionsprinzipien wie die Plasmazündung und die Laser- mit Zündkerze gezündet. Die kontrollierte Benzin-
zündung [19]. Hiermit wird das Ziel verfolgt, den selbstzündung wird meist mit einer Kombination von
Zündort unabhängig von der an der Brennraumwand Direkteinspritzung und vollvariablem Ventiltrieb dar-
angeordneten Zündkerze in den Brennraum hinein zu gestellt [40]. Die Firma Daimler AG ergänzt die
verlagern sowie die Wärmeabfuhr aus der einset- Technologie zusätzlich mit einer variablen Verdich-
zenden Verbrennungszone in die Zündkerze zu ver- tung (siehe Kapitel 5.1.5.4.2) und hat dieses Brenn-
mindern und somit günstigere Voraussetzungen für verfahren im Forschungsfahrzeug F700 unter dem
eine verbesserte Entflammung und Prozessführung zu Namen „Diesotto“ realisiert.
schaffen. Ein weiteres in einem frühen Entwicklungs-
stand befindliches Zündverfahren ist die Mikrowellen- 5.1.5.4 Downsizing und Aufladung
zündung, mit der eine Raumzündung in größeren Während die Aufladung bei modernen Pkw-Diesel-
Brennraumvolumenanteilen angestrebt wird [39]. motoren eine weite Verbreitung gefunden hat, war sie
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 205

bei Ottomotoren bis vor kurzem auf wenige Nischen- Bei aufgeladenen Motoren mit entsprechend verklei-
produkte beschränkt. Bei den meisten dieser ottomo- nertem Hubraum ist dagegen häufig eine Anfahr-
torischen Anwendungen der Aufladung steht die Dar- drehmomentschwäche (auch als „Turbo-Loch“ be-
stellung möglichst hoher Leistungsdaten im Vorder- zeichnet) festzustellen, die eine Verkürzung der
grund. Daneben bietet die Aufladung die Möglichkeit, Übersetzung erforderlich macht. Deshalb sind ver-
die vorgegebene Leistung mit einem möglichst kleinen brauchsoptimierte aufgeladene Motoren mit insbe-
Triebwerk zu realisieren. Dieses als Downsizing be- sondere im Hinblick auf das Drehmomentniveau bei
zeichnete Konzept bietet deutliche Verbrauchsvorteile, niedrigen Drehzahlen („Low-End-Torque“) zu entwi-
die primär auf die Verlagerung des Betriebspunktes im ckeln.
Motorkennfeld zurückzuführen sind. Bei einer zunehmenden Anzahl von Pkw-Herstellern
finden sich unter den angebotenen Motorisierungsva-
5.1.5.4.1 Betriebspunktverlagerung
rianten leistungsgleiche aufgeladene Alternativen zu
Der zur Darstellung einer bestimmten Fahrleistung jeweils einem hubraumgrößeren Saugmotor. Die
gehörige Betriebspunkt bestimmt sich bei Fahrt mit zertifizierten Kraftstoffverbräuche unterstreichen
konstanter Geschwindigkeit im Motorkennfeld aus deutlich das mit diesem Konzept verbundene Poten-
der der Fahrgeschwindigkeit entsprechenden Motor- zial. Es ist jedoch zu beachten, dass bei Aufladung
drehzahl und dem zur Überwindung der Fahrwider- zur Vermeidung klopfender Verbrennung das geo-
stände (Luftwiderstand und Rollreibung) notwendi- metrische Verdichtungsverhältnis abgesenkt werden
gen Drehmoment. Dieser Zusammenhang wird durch muss, was sich nachteilig auf den Wirkungsgrad des
die Fahrwiderstandslinie im Motorkennfeld wieder- Hochdruckprozesses auswirkt. Dennoch zeigt der
gegeben. Das in Bild 5.1-51 gezeigte Beispiel des Trend für aufgeladene Motoren eine stetige Zunahme
Saugmotors zeigt, dass die Fahrwiderstandslinie in des Verdichtungsverhältnisses. Der damit verbunde-
Bereichen des Motorkennfeldes verläuft, wo der nen Klopfproblematik bei Volllast begegnet man
spezifische Kraftstoffverbrauch weit über dem opti- durch geeignete Maßnahmen, insbesondere intensive
malen Niveau liegt. Die Gründe hierfür sind, dass der Ladeluftkühlung, reduzierte Ventilüberschneidung zur
Motor im Teillastbereich gedrosselt betrieben wird, Verringerung des Restgasanteiles und erhöhte La-
und dass bei niedriger Belastung die Reibungsverlus- dungsbewegungsintensität. Häufig werden auch eine
te einen relativ hohen Anteil an der abgegebenen späte Zündung und daraus resultierende Volllastver-
Nutzarbeit annehmen. brauchsnachteile zugunsten verbesserter Teillastwir-
Wie das gezeigte Beispiel deutlich macht, wird durch kungsgrade in Kauf genommen.
die Verminderung des Hubvolumens der Betriebs- Die Kombination der Aufladung mit Benzin-Direkt-
punkt des Motors in einen Bereich des Motorkennfel- einspritzung führt wegen der mit ihr verbundenen
des verlagert, in welchem der spezifische Kraftstoff- Ladungsabkühlung zu einem attraktiven Motorkon-
verbrauch günstigere Werte aufweist. Diese Ausle- zept (siehe auch Kapitel 5.1.5.2.2). Im Jahr 2004
gung wird häufig auch als Downsizing bezeichnet. führte die Audi AG unter dem Namen „Turbo FSI“
Alle das Drehmoment, insbesondere bei niedrigen erstmals einen direkteinspritzenden 2,0 L Ottomotor
Drehzahlen, verbessernden Maßnahmen wirken sich mit Turboaufladung in die Serie ein [38]. Die mit
zusätzlich günstig auf das Verbrauchsverhalten des ε = 10,5 für aufgeladene Ottomotoren sehr hohe Ver-
Motors im Fahrbetrieb aus, weil dies die Möglichkeit dichtung deutet darauf hin, wie gut sich die innere
einer längeren Achsübersetzung bietet. Hiermit lässt Gemischbildung mit der Aufladung ergänzt. Gegen-
sich eine weitere Betriebspunktverlagerung erreichen. über dem Vorgänger mit Saugrohreinspritzung weist
dieser Motor im gesamten Kennfeldbereich auch
20 ohne die Anwendung der Schichtlade-Magerver-
2l-Turbo brennung Verbrauchsvorteile bis zu 6 % auf. Um das
75
kW
Downsizing-Konzept auch in kleineren Fahrzeugklas-
Effektiver Mitteldruck [bar]

15 /l sen einführen zu können, wird eine Reduktion der


Zylinderanzahl notwendig. Eine erste Umsetzung in
3l-Sauger 50 k
W/l einem Serienfahrzeug ist der turboaufgeladene 0,9 l
10 Zwei-Zylinder Motor von Fiat [42].
b e,min d
an Das Thema Aufladung wird ausführlich in Kapitel 5.3
rst
ide
h rw ang behandelt. Grundsätzlich können folgende Auflade-
Fa G
5 5.
verfahren zur Anwendung kommen:
120 km/h • Die Abgasturboaufladung nimmt im Wesentlichen
0
wegen der thermodynamischen Vorteile sowie der
1000 3000 5000 7000 relativ niedrigen Systemkosten eine führende
Drehzahl [min –1 ] Marktstellung ein. Das früher vielen Turbomoto-
ren anhaftende schwache Drehmomentverhalten
Bild 5.1-51 Betriebspunktverlagerung bei niedrigen Motordrehzahlen sowie der instatio-
206 5 Antriebe

näre Drehmomentmangel („Turbo-Loch“) ist bei Verbrauchsvorteile. Ausgangspunkt ist ein aufgela-
modernen Varianten kaum noch vorhanden. Maß- dener Motor mit einem Verdichtungsverhältnis von
nahmen hierzu sind die Kombination mit Benzin- ε = 10. Unter der Annahme einer Hochaufladung
Direkteinspritzung [12, 20], der Einsatz kleiner zwecks Erzielung ausgeprägter Downsizing-Effekte
Turbolader mit geringerem Massenträgheitsmo- müsste das Verdichtungsverhältnis um etwa zwei
ment in Bi-Turbo-Anordnungen [21] sowie der Einheiten abgesenkt werden. Hierdurch würde der
Einsatz von Abgasturboladern mit variabler Tur- Teillast-Kraftstoffverbrauch im untersuchten Kenn-
binengeometrie VTG [21]. Die sequentielle zwei- feldpunkt um etwa 7 % ansteigen. Mit variabler Ver-
stufige Aufladung befindet sich in Entwicklung dichtung wird dies vermieden und es wird darüber
[43], ist aber für Ottomotoren bislang noch nicht hinaus eine ε-Anhebung im Teillastbetrieb ermög-
in Serie umgesetzt worden. Durch die Verwen- licht, die im untersuchten Fall ein zusätzliches Ver-
dung hochwertiger Turbinen-Werkstoffe sind heu- brauchspotenzial von 6 % eröffnet. Daraus wird er-
te Abgastemperaturen bis zu 1.050 °C möglich, sichtlich, dass die variable Verdichtung insbesondere
wodurch sich der Anfettungsbedarf zum Bauteil- für aufgeladene Ottomotoren großes Potenzial bietet.
schutz deutlich verringern lässt. Für die praktische Realisierung der variabel steuerba-
• Eine weitere Verbesserung der Drehmomentcha- ren Verdichtung des Hubkolbentriebwerkes sind eine
rakteristik lässt sich durch eine elektrische oder Vielzahl konstruktiver Lösungen vorgeschlagen wor-
auch mechanische, das heißt vom Motor direkt den. Bei der Beurteilung dieser Ausführungen sind
angetriebene Zusatzverdichtung zur Unterstützung eine Reihe von Kriterien heranzuziehen. Wesentlich
der Turboaufladung erzielen. In Serie umgesetzt für den motorischen Prozess ist die Brennraumform,
ist die Doppelaufladung am direkteinspritzenden die möglichst im gesamten Verstellbereich kompakt
1,4 l TSI Motor der Volkswagen AG [22]. gestaltet sein soll und kurze Flammenwege ermög-
• Zur mechanischen Aufladung stehen verschiedene licht. Die Verstellung soll möglichst schnell erfolgen
Geräte wie Roots-Gebläse, Schraubenverdichter können, so dass eine Anpassung des Verdichtungs-
und Spiralkanal-Verdichter (G-Lader) zur Verfü- verhältnisses im Fahrbetrieb mit ausreichender Dy-
gung. Den vergleichsweise höheren Systemkosten namik erfolgt. Bei Konzepten mit Kurbeltrieben ver-
steht ein überlegenes Drehmomentverhalten ge- änderlicher Geometrie darf die Reibung des Trieb-
genüber. werkes einschließlich der mechanischen Verluste für
die ε-Verstellung keine signifikanten Nachteile auf-
5.1.5.4.2 Variable Verdichtung weisen.
Das Verdichtungsverhältnis des Verbrennungsmotors Bild 5.1-53 zeigt beispielhaft ein Triebwerk mit
steht aus thermodynamischer Sicht im direkten Zu- exzentrisch verlagerbarer Kurbelwelle. Die je Haupt-
sammenhang mit dem Prozesswirkungsgrad (Carnot- lager angeordneten Exzenter können mittels einer
Wirkungsgrad). Beim Ottomotor sind dem Verdich- Verstellwelle im Kurbelgehäuse in ihrer Position
tungsverhältnis wegen der Neigung zur klopfenden verdreht werden, wodurch sich die Totpunktlagen des
Verbrennung jedoch Grenzen gesetzt. Diese Begren- Kurbeltriebes verändern. Diese Technologie wurde
von FEV Motorentechnik an einem 1,8 l 4-Zylinder
zung besteht insbesondere an der Volllastlinie, wäh-
Turbomotor in einem Versuchsfahrzeug demonstriert
rend bei Teillast eine höhere Verdichtung Ver-
brauchsvorteile ohne Klopfgefahr bewirken kann. Bei
der Aufladung des Ottomotors muss der mit steigen-
den Prozessdrücken und Temperaturen zunehmenden n = 2000 min–1
Klopfneigung durch eine Absenkung des Verdich- +7 % p me = 2 bar
tungsverhältnisses begegnet werden. Diese Maßnah- l = 1.0
me hat negative Auswirkungen auf den thermodyna-
mischen Wirkungsgrad des Motors, so dass auch im
be [g/kWh]

Teillastbetrieb Verbrauchseinbußen zu verzeichnen


sind. Damit wird ein Teil der mit dem Downsizing
verbundenen Vorteile wieder aufgezehrt.
Mit variabler Verdichtung gelingt es, die Absenkung
der Kompression auf den klopfgefährdeten Volllast- –6 %
bereich zu beschränken. Bei entsprechend großem
Verstellbereich des Verdichtungsverhältnisses kann
sogar zusätzlich die Möglichkeit genutzt werden, im
Teillastbetrieb die Verdichtung über das von konven- 6 8 10 12 14 16
tionellen Ottomotoren bekannte Niveau hinaus anzu- Verdichtungsverhältnis e [–]
heben und zusätzliche Teillast-Verbrauchsvorteile zu
generieren. Bild 5.1-52 zeigt beispielhaft die an Bild 5.1-52 Teillast-Kraftstoffverbrauch bei variabler
einem Motor mit variabler Verdichtung ermittelten Verdichtung
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 207

Bild 5.1-53 Hubkolbentriebwerk mit variabler Verdichtung

[23]. Der realisierte Verstellbereich des Verdich- maßgeblich beeinflusst. Er wirkt sich seinerseits auf
tungsverhältnisses reichte von 8 bis 15. Gegenüber den Wirkungsgrad des Motors und auf die Abgaszu-
dem leistungsgleichen konventionellen Ottomotor sammensetzung aus. Ziel einer optimal geführten
konnte mit dem auf 89 kW/l spezifische Motorleis- Verbrennung ist es, dem idealen Gleichraumprozess
tung aufgeladenen Motor ein Einsparpotenzial (25 %) so nahe wie möglich zu kommen. Neben den erwähn-
nachgewiesen werden, wovon etwa 17 % auf Down- ten Einflussfaktoren spielen die Gas- und Brenn-
sizing-Effekte und 8 % auf die variable Verdichtung raumwandtemperaturen eine Rolle, der Wärmeüber-
rückführbar sind. Zum Ausgleich der veränderten gang an den Brennraumwänden und deren Geometrie.
Position des schwungrad- und steuertriebseitigen Der Verbrennungsraum sollte für kurze Flammenwe-
Kurbelwellenendes kommt ein spezielles Parallelkur- ge möglichst kompakt sein, sollte keine engen Spalte
belgetriebe zum Einsatz. haben, in denen die Flamme erlischt (flame quen-
Der Zwang zur Kraftstoffeinsparung hat die weitere ching) und keine heißen Stellen und Ablagerungen
Entwicklung des Ottomotors stark intensiviert. In aufweisen, von denen aus klopfende Verbrennung
welchem Umfang Direkteinspritzung, Hubraumver- oder gar Glühzündungen ausgehen.
kleinerung, geringere Anzahl von Zylindern, Deakti- Bei einem stöchiometrischen Mischungsverhältnis
vierung von Zylindern, variable Ventilsteuerzeiten von Kraftstoff und Verbrennungsluft sollten theore-
und variable Verdichtung zum Einsatz kommen tisch als Verbrennungsprodukte nur Kohlendioxid
beziehungsweise in welcher Kombination dies ge- (CO2) und Wasser (H2O) gebildet werden. In der
schieht, kann noch nicht präzise vorausgesagt wer- Realität sind die chemischen Reaktionen aber zusätz-
den. Vielversprechend erscheinen die Kombinationen lich vom Druck, von der Temperatur, der Konzentra-
von Aufladung, variabler Verdichtung und Direktein- tion einzelner Reaktionskomponenten und der Zeit
spritzung beziehungsweise von Aufladung und elekt- abhängig. Während des Expansionstaktes nimmt
romechanischer Ventilsteuerung, welche erhebliche die Prozesstemperatur rasch ab und die Reaktionen
Einsparpotenziale am Kraftstoffverbrauch von bis zu „frieren“ teilweise vor Erreichen des chemischen
30 % gegenüber dem konventionellen Ottomotor Gleichgewichts ein. Deshalb verbleiben im Motorab-
ergeben. gas auch Zwischenreaktionsprodukte. Zusätzlich tre-
ten bei insgesamt stöchiometrischem Mischungsver-
5.1.5.5 Verbrennung hältnis örtliche Inhomogenitäten auf, die zu erhöhter
Der Ablauf der Verbrennung im Zylinder wird vom CO-Bildung führen.
Ladungswechsel und der bei ihm erzeugten Ladungs- Bei hohen Temperaturen bricht die Bindung der N2-
bewegung, der Gemischbildung sowie der Zündung Moleküle auf und unter Anwesenheit überschüssigen
208 5 Antriebe

Sauerstoffs bildet sich NO. Dieses unerwünschte Zylinderdruck [bar]


40
Nebenprodukt bildet sich also insbesondere bei hohen
Motorlasten (Temperaturen) und bei Luftüberschuss 30
(λ > 1). Mit einem erhöhten Anteil an Inertgas im
Brennraum in Form von Abgas (Restgas) sinkt die 20
maximale Verbrennungstemperatur, was der Stick-
10
oxidbildung entgegenwirkt. Bei der Abgasrückfüh-
rung (AGR) wird dieser Effekt gezielt genutzt. Ent- 0
180 240 300 360 420 480 540
weder wird beim Ladungswechsel über angepasste
Kurbelwinkel
Ventilsteuerzeiten (innere AGR) der Restgasanteil Pz_mit Pz_mit+Std. Pz_mit-Std Pz_max. Pz_min
beeinflusst oder es wird Abgas, evtl. auch zwischen-
Brennverlauf [1/rad] Durchbrennfunktion [1]
gekühlt, der Ansaugluft (äußere AGR) beigemischt. 2,5 1,25
Unverbrannte Kohlenwasserstoffe bleiben übrig, 2 1
wenn sich Teile des Kraftstoffes an Wänden oder in 1,5 0,75
Ablagerungen im Brennraum bei kaltem Motor nie- Durchbrennfunktion
1 0,5
derschlagen oder wenn die Flammenfront nicht den 0,5 0,25
Brennverlauf
ganzen Brennraum erfassen kann, weil die Flamme 0 0
die engen Spalten (Kolben-Feuersteg, Zylinderkopf-
–0,5 –0,25
dichtung) nicht erfasst. Die nicht verbrannten und die 300 320 340 360 380 400 420 440 460 480 500
wieder abdampfenden Kraftstoffanteile werden mit °Kurbelwinkel
dem Abgas ausgeschoben und als HC-Emission Bild 5.1-54 Beispiel für gemessene Druckverläufe
emittiert. eines Ottomotors und aus dem mittleren Verlauf be-
Der Verbrennungsvorgang besteht in der Realität aus rechneter Brennverlauf und Durchbrennfunktion
einer ganzen Fülle von chemischen Reaktionen, die
nebeneinander, nacheinander und sich gegenseitig die Mittelung aufeinander folgender Zyklen zu einem
beeinflussend ablaufen. Bis heute sind immer noch gemittelten Druckverlauf, welcher dann Basis für die
nicht alle Teilprozesse einer mathematischen Be- im unteren Teil des Bildes gezeigte Brennverlaufs-
schreibung und Berechnung zugänglich. Dennoch analyse ist. Andererseits werden die Druckverläufe
gelingt es durch die Berücksichtigung der wesentli- der Einzelzyklen statistisch ausgewertet und die
chen Reaktionspfade und die Annahme von Ersatzre- Streuung der Kennwerte für die Höhe und Lage des
aktionsmodellen den Verbrennungsablauf realitätsnah Maximaldrucks und der maximalen Druckanstiegsge-
zu beschreiben [24]. schwindigkeit sowie die Werte des indizierten Mittel-
Der Druckverlauf im Zylinder kann mithilfe von druckes der Einzelzyklen und ihre Standardabwei-
Piezo-Druckaufnehmern über dem Kurbelwinkel chung vom Mittelwert zur Beurteilung des Arbeits-
zeitlich aufgelöst gemessen werden. Mit Rechenpro- prozesses herangezogen.
grammen, die ein Verbrennungsmodell abbilden und Für den Entwicklungsingenieur sind diese Informa-
in die Randbedingungen für den Einströmzustand, tionen bei der Optimierung des Motors sehr hilfreich.
den Wärmeübergang etc. eingegeben werden, wird Moderne Indizier- und Auswertesysteme liefern diese
dann der Verbrennungsablauf rechnerisch analysiert. Kenngrößen online am Prüfstand. Zur Begrenzung
Die Durchbrennfunktion ist der Anteil verbrannten des Rechenaufwandes kommen dabei häufig verein-
Kraftstoffes im Verhältnis zur insgesamt eingebrach- fachte Modelle mit Standardrandbedingungen zur
ten Kraftstoffmenge. Der Brennverlauf ist die Ablei- Anwendung, die jedoch relative Aussagen zur zielge-
tung davon über dem Kurbelwinkel. Als Erfahrungs- richteten Anpassung der verschiedenen Parameter
wert gilt, dass der Brennverlauf sein Maximum etwa sicher liefern.
8 bis 12° KW n. OT erreichen soll und ca. 60 bis 65° Zu den kritischen Störungen bei der ottomotorischen
KW n. OT null erreichen soll. Abweichungen hiervon Verbrennung gehören die Zündaussetzer und die
deuten auf falschen Zündzeitpunkt, klopfende oder klopfende Verbrennung. Bei Zündaussetzern wird
verschleppte Verbrennung infolge nicht-optimalem unverbrannter Kraftstoff in das Abgassystem geleitet
Verdichtungsverhältnis oder auch auf mangelndes und führt zu unzulässigen HC-Emissionen. Neben
Ladungsbewegungsniveau hin. schlechter Gemischbildung bei besonders ungünsti-
In Bild 5.1-54 sind reale Zylinderdruckverläufe eines gen Randbedingungen können Defekte im Einspritz-
1,8 l Saugmotors bei einem Betriebspunkt in oder Zündsystem die Ursache sein. Die Nachreaktion
der unteren Teillast dargestellt. Es ist auffällig, wie dieser Kohlenwasserstoffe im Katalysator führt zu
stark der Zylinderdruckverlauf von Zyklus zu Zyklus sehr hohen Temperaturen und kann auf diese Weise
schwankt, obwohl der Gesamtmotor normal und die Zerstörung des Katalysators bewirken.
gleichmäßig läuft. Dieses für Ottomotoren typische Als klopfende Verbrennung wird die Selbstentzün-
Verhalten erfordert eine detaillierte Analyse der Zy- dung des Kraftstoff-Luft-Gemisches vor der Flam-
linderdruckverläufe. Einerseits geschieht dies durch menfront bezeichnet. Bevor die Flammenfront den
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 209

gesamten Brennraum mit der für sie typischen Aus- optimale Einstellung für:
breitungsgeschwindigkeit von ca. 25 bis 30 m/s Verbrauch
durchlaufen hat, kommt es im noch unverbrannten
3-Wege-Katalysator Lauf-
Bereich der Gemischladung infolge des Druck- und grenze
Temperaturanstiegs zu Reaktionen mit Fortpflan- Volllast he max 6000
zungsgeschwindigkeiten bis zu 500 m/s. Durch diese

NOx -Gehalt in ppm


Teillast
5000
unkontrollierten Vorgänge kommt es zu Druckwellen
hoher Frequenz (Klopf- oder Klingelgeräusche) mit 4000
mechanischen und thermischen Überlastungen, die zu
12 3000
Kolben- und Triebwerksschäden führen können. Die CO NOx
Klopfneigung kann durch verschiedene Maßnahmen 10 2000
herabgesetzt werden. Einerseits gilt es kurze Brenn-

CO-Gehalt in Vol-%
wege mit einer mittigen Zündkerzenlage und einen 8 800
kompakten Brennraum darzustellen, die Flammenge-
6

HC-Gehalt
600
schwindigkeit durch hohe Turbulenz im Brennraum
zu steigern, heiße Stellen im Brennraum und zu hohe 4 400
Ansaugtemperaturen zu vermeiden sowie das Ver- HC
dichtungsverhältnis auf ein zulässiges Maß zu be- 2 200
grenzen. Andererseits unterdrückt die Verwendung
0 0
von Kraftstoff mit höherer Oktanzahl das Auftreten 0,7 0,8 0,9 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5
von Selbstentzündung. Da der Motor zur Darstellung Luftverhältnis l
eines optimalen Kraftstoffverbrauchs immer mit frü-
her Zündung in der Nähe der Klopfgrenze betrieben Bild 5.1-55 Einfluss von Luftverhältnis und Motor-
werden soll, haben elektronische Motorsteuerungen belastung auf die Schadstoffemission von Ottomo-
eine Klopfregelung. Ein Klopfsensor registriert an ge- toren
eigneter Stelle der Motorstruktur die hochfrequenten
Schwingungen des Klopfens, der Zündwinkel wird Kohlenwasserstoffe (HC) sind in vielen Verbindun-
entsprechend einer vorgegebenen Regeltiefe etwas gen im Abgas enthalten. Teils sind es direkt hochmo-
nach spät verstellt und dann wieder schrittweise vor- lekulare Komponenten des Kraftstoffes, aber meis-
verlegt, bis sich das Erreichen der Klopfgrenze erneut tens Teil- und Zwischenreaktionsprodukte der Ver-
anzeigt. brennung. Ihre Wirkung reicht von der Reizwirkung
bis hin zur Kanzerogenität. Auch Kohlenwasserstoffe
5.1.5.6 Abgasreinigung nehmen an atmosphärischen Reaktionsprozessen teil
Die vollständige Verbrennung des Kraftstoffes soll und üben auf diese Weise sekundäre Einflüsse auf die
im Idealfall nur zu Kohlendioxid (CO2) und Wasser Luftqualität aus.
(H2O) unter Abgabe von Wärme führen. In der Reali- Feststoffe (engl. particulate matter) umfassen alles
tät verläuft die Verbrennung aber nicht bis zu einem Material (außer Wasser), das bei Normalbedingungen
vollständigen Reaktionsablauf der gesamten Kraft- als Festkörper (Asche, Ruß) oder Flüssigkeit im Ab-
stoffmenge. Zusätzlich treten Reaktionszwischenpro- gas enthalten ist.
dukte auf. Außerdem reagiert der in der Verbren- Diese Abgaskomponenten sind mit der Gesetzgebung
nungsluft enthaltene Stickstoff in der Luft mit Sauer- einzeln oder in Gruppen inzwischen praktisch welt-
stoff zu den unerwünschten Stickstoffoxiden (NOx). weit limitiert. Es gibt jedoch starke Unterschiede in
Eine Reihe von Abgaskomponenten sind als „Schad- der Strenge der Reglementierung. Die höchsten An-
stoffe“ klassifiziert, deren Emissionen gesetzlich forderungen stellt der USA-Staat Kalifornien. Die
limitiert sind (siehe auch Kapitel 2.2.5). Anforderungen der übrigen US-Staaten sowie die
Kohlenmonoxid (CO) ist unmittelbar giftig. Es tritt europäische und japanische Abgasgesetzgebung un-
hauptsächlich im Leerlauf des Motors auf. CO wurde terscheiden sich in Details, erfordern aber in etwa
schon lange als Messgröße für die richtige Einstel- gleiche Aufwendungen zur innermotorischen und
lung der Kraftstoffzumischung genommen. CO ist katalytischen Emissionsminderung.
aber nicht stabil und wandelt sich in der Umgebungs-
5.1.5.6.1 Drei-Wege-Katalysator
luft nach einiger Zeit zu Kohlendioxid (CO2) um.
Stickstoffmonoxid (NO) ist ein die Schleimhäute Nachdem in den 60er Jahren für den Markt Kalifor-
reizendes Gas und nimmt an zahlreichen atmosphäri- nien die zulässigen Abgasemissionen gesetzlich limi-
schen Reaktionen teil, unter anderem auch im Zu- tiert wurden, war es mit rein motorischen Maßnah-
sammenhang mit der Bildung von bodennahem Ozon. men nicht möglich, die geforderten Grenzwerte für
NO wandelt sich in der Luft zu Stickstoffdioxid alle limitierten Komponenten CO, HC und NOx ein-
(NO2). Üblicherweise werden die verschiedenen Stick- zuhalten. Dies stellt den Ausgangspunkt der Kataly-
stoffoxide zusammengefasst bewertet (NOx). satortechnik dar. Beim Drei-Wege-Katalysator wer-
210 5 Antriebe

1 Lambda-Sonde, 2 Monolith, 3 Drahtgestricklagerung, 4 wärmegedämmte Doppelschale

1 2 3 4

100 1000

Sondenspannung US in mV
S
75 750

ΔU
Konvertierungsgrad in %
HC NOx

600 cpsi 900 cpsi 50 500

US
CO

25 250

400 cpsi 1200 cpsi

0 0
0,950 0.975 1,000 1,025 1,050
Keramik-Träger (Quelle NGK) Luftverhältnis l

Bild 5.1-56 Aufbau und Wirkungsweise eines Drei-Wege-Katalysators mit λ-Sonde

den gleichzeitig CO und HC oxidiert sowie NOx chemische Reaktionsfläche noch einmal deutlich
reduziert (Bild 5.1-56). Die gleichzeitige Oxidation erhöht. In diesem Washcoat ist dann das eigentliche
und Reduktion in einem gemeinsamen Prozess ist Katalysatormaterial eingebettet, das die Oxidations-
aber nur möglich, wenn das Gesamtmischungsver- und Reduktionsreaktionen fördert. Als Katalyten
hältnis λ = 1 mit nur minimalen Abweichungen werden die Edelmetalle Platin (Pt), Rhodium (Rh)
eingehalten wird. Man spricht deshalb auch vom λ-1- und Palladium (Pd) verwendet, die in unterschiedli-
Konzept. Die Einhaltung des richtigen Mischungs- chen Mengen und Mischungsanteilen eingesetzt
verhältnisses wird von einer λ-Sonde (Zirkon-Dioxid) werden. Da die Wirksamkeit des Katalysators durch
kontrolliert. Dieser Sensor reagiert auf im Abgas Blei und Bleiverbindungen, welche bis dahin zur
noch enthaltenen Sauerstoff und zeigt den Übergang Erhöhung der Klopffestigkeit eingesetzt wurden,
zwischen fettem und magerem Gemisch mit einem geschwächt oder gar ganz ausgelöscht wird, musste
sprungförmigen Spannungssignal bei λ = 1 an. mit der Einführung der Katalysatortechnik die Ein-
Der Katalysator (Bild 5.1-56) besteht aus einem führung des unverbleiten Benzins einhergehen.
Keramikkörper (Monolith) oder aus einem „Well- Die Effektivität eines Katalysators wird als Konver-
blech“-Wickel (Bild 5.1-57), der eine möglichst große tierungsrate bezeichnet. Sie hängt wesentlich von der
Oberfläche in vielen kleinen Kanälen bildet. Je größer Betriebstemperatur ab. Unterhalb 250 °C finden
die Anzahl der Kanäle pro Querschnittfläche ist, desto praktisch keine Reaktionen statt. Ideale Bedingungen
größer ist die Oberfläche, desto größer wird aber auch für gute Umsetzung und lange Lebensdauer sind bei
der Strömungswiderstand. Deshalb gilt es auch hier 400 bis 800 °C gegeben. Temperaturen über 1.000 °C
einen guten Kompromiss zu finden. Die Zelldichte führen zu thermischer Alterung und zerstören den
wird angegeben in cpsi (cells per square inch). Werte Katalysator. Ein Katalysator, der nah am Abgas-
von 400 bis 1.600 cpsi werden angeboten. Metall- krümmer montiert ist, springt infolge rascherer Er-
Katalysatoren werden auch aus speziellen Stahlfolien wärmung schneller an und kann bereits kurz nach
mit gewellter Oberfläche wie in Bild 5.1-57 oder mit dem Motorkaltstart die Abgasreinigung bewirken. Er
strukturierten Kanälen gefertigt, die die Abgasströ- ist aber auch bei sehr hoher Motorleistung durch hohe
mung durch Turbulenzerzeugung in noch intensiveren Abgastemperaturen gefährdet. Bis zur Einführung der
Katalytkontakt bringen. letzten Grenzwertverschärfungen war der Katalysator
Der Keramik- oder Metallkörper dient nur als Träger bei den meisten Fahrzeugen deshalb in größerer
für die katalytische Beschichtung. Auf der Träger- Entfernung vom Motor unter dem Fahrzeugboden
oberfläche ist ein Washcoat aufgebracht, der die montiert.
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 211

a) Wirkung einer Kanalstruktur

c) Beheizbarer Katalysator

b) Kanalstruktur d) Metallträger S-Kat

Bild 5.1-57 Metall-Katalysatorträger (Beispiel Emitec)

Zur schnelleren Erwärmung des Katalysators nach zeitweisen Fettbetriebs ist auch dieses Verfahren mit
dem Motorstart werden diverse Konzepte verfolgt. einem Verbrauchsanstieg verbunden. Eine weitere
Üblich ist die vorübergehende Spätzündung, welche Option liegt in der Anwendung elektrisch beheizbarer
über eine verschleppte Verbrennung zu erhöhten Ab- (Metall-)Katalysatoren (Bild 5.1-57). Vor dem ori-
gastemperaturen führt. Allerdings sind dieser Maß- ginären Katalysatorteil ist ein kürzerer Metallträger-
nahme dadurch Grenzen gesetzt, dass einerseits eine Katalysator angeordnet, der beim Start oder schon
Zunahme des Kraftstoffverbrauchs hingenommen kurz vorher elektrisch beheizt wird. Die Totzeit bis
werden muss und andererseits auch eine Erhöhung zum Anspringen des Katalysators wird dabei dras-
der Rohemissionen mit ihr verbunden sein kann. Eine tisch vermindert.
Alternative besteht im sogenannten Sekundärluftsys- Die Emissionsgrenzwerte müssen bei definierten
tem. Hierbei wird der Motor nach dem Kaltstart mit Fahrbedingungen nach einem vorgeschriebenen Test-
fettem Gemisch betrieben. In das stark mit unvoll- verfahren eingehalten werden. Die Messung der vom
ständig verbrannten Kohlenwasserstoffen angerei- Fahrzeug emittierten Schadstoffe wird auf einem
cherte heiße Abgas wird über eine zusätzliche Pumpe Rollenprüfstand durchgeführt. Der Widerstand der
Sekundärluft eingeblasen. Dies bewirkt exotherme Prüfbankrollen ist dem Gewicht des Fahrzeugs und
Nachreaktionen im Abgassystem, welche die Abgas- seinen Fahrwiderständen angepasst. Das Fahrzeug
temperatur vor Katalysator stark anheben. Infolge des muss eine vorgegebene (simulierte) Strecke mit vor-
212 5 Antriebe

Neuer Europäischer Fahrzyklus NEFZ


Teil 1 Teil 2
120
(ECE = City-Fahrzyklus) (EUDC)1)
100 Zyklusdauer: 1220 s
80 (km/h) 1180 s2)
Zykluslänge: 11,007 km
60 ES3) Zyklenzahl/Test: 4 + 1
BS2)
40 mittlere
Zyklusgeschw.: 33,6 km/h
20 (44,0 km/h)4)
0 max. Geschw.: 120 km/h
40 195 195 195 195 400 s

1) EUDC = Extra Urban Driving Cycle = Außerorts-Fahrzyklus


2) Beginn der Probenahme (nach 40 s), ab 1.1.2000 (neue Typen) Probenahme ab Motorstart
3) Ende der Probenahme (1220 s)
4) ohne LL-Phasen (LL-Anteil = 26,2 %)

USA-Testzyklus (Federal Test Procedure, FTP 75)


Zykluslänge: 11,115 Meilen mittlere Geschwindigkeit: 34,1 km/h
Zyklusdauer: 1877 s + 600 s Pause maximale Geschwindigkeit: 91,2 km/h

0–505 s 505–1372 s 10 Min Pause 1972–2477 s


= Kaltphase (ct) = stabilisierte Phase (s) (Motor aus) = Warmphase (ht)

mph km/h

60
80
40
50
20

0
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 2000 2200 2400 s

Bild 5.1-58 Abgasemissions-Fahrzyklen: NEFZ für Europa und FTP 75 für USA

geschriebener Geschwindigkeit und Gangwahl (bei gruppen (Gewichtsklassen und Nutzart), gibt die
Handschaltgetrieben) zurücklegen. Der im europäi- Kraftstoffqualität vor und regelt eine Vielzahl von
schen Regelwerk Testzyklus definierte „Neuer Euro- Details. Eine Begrenzung der Partikelanzahl ähnlich
päischer Fahrzyklus“ (NEFZ oder „MVEG A“) und zu Euro VI ist in Californien mit dem noch nicht
der in den USA angewandte FTP 75 Testzyklus sind endgültig festgelegten LEV III zu erwarten, dessen
in Bild 5.1-58 gezeigt. Während der gesamten Mess- „Phase-in“ den Jahren 2014 bis 2022 vorgesehen ist.
zeit wird das Abgas nach der CVS-Methode Die Angaben hier können nur typische Werte für Pkw
(Constant Volume Sampling) in Kunststoffbeuteln veranschaulichen.
gesammelt und dann auf HC, CO, NOx, CO2, O2 ana-
lysiert. Über eine (ebenfalls vorgeschriebene) Re- 5.1.5.6.2 DeNOx-Katalysator
chenoperation werden dann die Emissionen ausge- Die am konventionellen Ottomotor bewährten Edel-
wiesen in g/km (bzw. g/mi) und der Kraftstoffver- metallkatalysatoren realisieren auch am mager betrie-
brauch in l/100 km (bzw. in mpg – miles per gallon). benen Direkteinspritz-Ottomotor die oxidative Nach-
In Tabelle 5.1-2 sind die für Pkw mit Ottomotoren in behandlung der Kohlenwasserstoff- und Kohlenmon-
für Europa (Stufen Euro II bis VI) und die USA oxidemission mit hohen Konvertierungsraten. Dage-
(Federal und Californien) gültigen Grenzwerte wie- gen ist der reduktive, die Stickoxidemissionen betref-
dergegeben. Die Reduzierungen von Stufe zu Stufe fende Reaktionspfad im sauerstoffhaltigen Abgas
entsprechen den jeweils parallel erzielten Fortschrit- praktisch unwirksam. Der Betrieb des direkteinsprit-
ten im Stand der Technik. In den USA gelten jeweils zenden Ottomotors mit magerem Gemisch erfordert
„Phase-in“ Regelungen, wonach die stufenweise Ein- deshalb neue Lösungen für die Reduktion der vom
führung der neuen Grenzwerte in gewissen Stückzah- Motor emittierten Stickstoffoxide. Viele dieser neuen
len bis zur vollständigen Erfüllung der Grenzwerte Konzepte sind auch am Dieselmotor einsetzbar und
der neu zugelassenen Fahrzeugflotte innerhalb eines werden parallel verfolgt.
vorgegebenen Zeitraumes erfolgen muss. Die Grenz- Nach anfänglichen Bemühungen, durch die Verwen-
werte mussten im Zeitraum zwischen 2004 und 2010 dung alternativer Katalyten die NOx-Selektivität des
umgesetzt werden. Das gesamte Regelwerk ist sehr Konverters zu steigern, hat sich zwischenzeitlich die
umfangreich. Es differenziert zwischen Fahrzeug- NOx-Speichertechnologie durchgesetzt. Dabei werden
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 213

Tabelle 5.1-2 Emissionsgrenzwerte in Europa und USA (Auszug)

EUROPA Emissionsgrenzwerte für Personenkraftwagen (≤ 2,5 t, ≤ 6 Personen)


NEFZ mit Ottomotoren

Stufe II Stufe III Stufe IV Stufe V Stufe VI

Typzulassung ab 1.1.1996 1.1.2000 1.1.2005 1.9.2009 1.9.2014


Erstzulassung ab 1.1.1997 1.1.2001 1.1.2006 1.1.2011 1.1.2015

CO 2,2 2,3 1,0 1,0 1,0


HC – 0,2 0,1 0,1 0,1
davon NMHC* – – – 0,068 0,068
NOx – 0,15 0,08 0,06 0,06
HC + NOx 0,5 – – – –
Partikelmasse – – – 0,005 0,005
in g/km
11
Partikelanzahl – – – – 6 ⋅ 10
in 1/km
* Non-Methane-Hydrocarbon-Compound

USA Emissionsgrenzwerte für Kraftfahrzeuge (< 8500 lbs, 120 000 miles)
mit Ottomotoren

US Federal Californien (+14 US-Staaten) LEV II


Tier 1, PKW Tier 2, Bin5 LEV ULEV SULEV

Phase-In 1994 2004 2004 2004 2004


Schedule –1998 –2010 –2010 –2010 –2010

NMHC* 0,31 – – – –
NMOG** – 0,09 0,09 0,055 0,01
CO 4,2 4,2 4,2 2,1 1,0
NOx 0,6 0,07 0,07 0,07 0,02
HCHO*** – 0,018 0,018 0,011 0,004
Partikel 0,1 0,01 0,01 0,01 0,01

in g/mi ** Non-Methane-Organic-Gases *** Formaldehyd

die während des Magerbetriebs emittierten Stick- Schritt werden die im Abgas vorwiegend als NO
stoffoxide chemisch zwischengespeichert, um dann in vorliegenden Stickoxide an einem Edelmetallkataly-
Betriebsphasen mit unterstöchiometrischem Gemisch sator zu NO2 aufoxidiert. Das NO2 kann dann an-
wieder desorbiert und nach dem vom konventionellen schließend an ein Speicherelement als Nitratverbin-
Ottomotor bekannten 3-Wege-Prinzip reduziert zu dung angelagert (adsorbiert) werden. Als Speicher-
werden [25]. Dies erfordert einen intermitterenden elemente haben sich die Alkali- und Erdalkalimetalle
Betrieb des Motors, so dass nach Phasen der NOx- als besonders wirkungsvoll erwiesen.
Einspeicherung immer wieder die Regeneration des Dieses Funktionsprinzip ist temperaturabhängig, wo-
Speichers erfolgt. Das Funktionsprinzip ist schema- bei neuere Entwicklungen hohe NOx-Konvertie-
tisch in Bild 5.1-59 wiedergegeben. In einem ersten rungsraten in einem ausreichend weiten Temperatur-

HC, CO, H 2
NO NO 2 NO2
CO 2 , H2 O,...
O2 Erd- N2 Erd-
Edelmetall alkalimetall Edelmetall alkalimetall

Träger Träger

Speichermodus: l > 1 Regeneration: l ≤ 1


Bild 5.1-59 NOx-Adsorption
214 5 Antriebe

bereich aufweisen. Bei zu niedrigen Temperaturen nachfolgende 3-Wege-Reaktion bereitstehen. Infolge


wird die Wirkung im Wesentlichen dadurch begrenzt, der Sauerstoff-Speicherfähigkeit des katalytischen
dass die katalytisch unterstützte NO2-Bildung aus- Konverters wird nämlich zunächst ein Teil der Koh-
bleibt. Bei zu hohen Temperaturen zerfällt das NO2 lenwasserstoffe und des Kohlenmonoxids oxidiert,
wieder zu NO und kann dann nicht mehr als Nitrat ohne dass eine Einbindung in den Regenerationspro-
eingespeichert werden. Außerdem nimmt mit zuneh- zess erfolgt. Die Beschichtung des vorgeschalte-
mender Temperatur die Stabilität des Nitrats ab und ten Oxidationskatalysators ist deshalb im Hinblick
das gespeicherte Stickoxid wird wieder desorbiert. auf eine geringe Sauerstoff-Speicherfähigkeit auszu-
Daneben sind zu hohe Temperaturen des Konverters legen.
zu vermeiden, weil es ansonsten zur thermischen Die als NOx-Speicher verwendeten Alkali- und Erd-
Alterung kommt. Diese führt infolge einer Verringe- alkalimetalle adsorbieren auch Schwefeloxide, die bei
rung der Dispersion der Edelmetallkomponenten und der motorischen Verbrennung aus dem im Kraftstoff
wegen chemischer Reaktionen des Adsorbermaterials enthaltenen Schwefel entstehen können, in Form von
mit der oxidischen Trägermasse zum dauerhaften Sulfaten. Die thermische Stabilität der Sulfate ist
Aktivitätsverlust [26]. Aus diesem Grund kommt für dabei deutlich größer als die der Nitratverbindungen.
den Adsorberkatalysator vorzugsweise eine motorfer- Eine Schwefel-Regeneration findet deshalb erst bei
ne Einbauposition in Betracht. Besonders vorteilhaft höheren Temperaturen statt, als sie bei der beschrie-
ist in diesem Zusammenhang die Kombination mit benen Speicherregeneration erreicht werden. Deshalb
einem motornah eingebauten Oxidationskatalysator, kommt es mit fortschreitender Zeit zu einer Blockade
der bereits bei niedrigen Abgastemperaturen und kurz der Speicherelemente, so dass die NOx-Speicherfähig-
nach dem Kaltstart die Oxidation von NO zu NO2 keit empfindlich abnimmt. Aus diesem Umstand
unterstützt. leitet sich die Forderung nach minimalem Schwefel-
Kritisch im Hinblick auf die erreichbaren Ver- gehalt des Kraftstoffes ab. Der Gesetzgeber hat hierzu
brauchsvorteile ist der Betrieb bei höherer Teillast, eine Begrenzung auf 50 ppm vorgenommen. Wie
wenn seitens des Brennverfahrens zwar noch thermo- Untersuchungen von Quissek et al. gezeigt haben,
dynamische Vorteile des Magerbetriebs vorliegen, führen jedoch auch kleinste Schwefelkonzentrationen
das Abgasnachbehandlungssystem jedoch aufgrund auf Dauer zur Deaktivierung des NOx-Adsorbers [29].
zu hoher Abgastemperatur nicht mehr in der Lage ist, Deshalb hat sich zwischenzeitlich eine Limitierung
die NOx-Emission ausreichend zu begrenzen. Zur des Schwefelgehaltes zumindest der Kraftstoffqualität
Auflösung dieses Konfliktes sind spezielle Einrich- „Super Plus“ auf ein Niveau unter 10 ppm einge-
tung zur Absenkung der Abgastemperatur mittels stellt.
Fahrtwindkühlung der Abgasführung bis zum NOx- Auf jeden Fall müssen spezielle Regenerationsstrate-
Speicherkatalysator entwickelt worden. Die in Serie gien für die Entschwefelung des Adsorbers vorgese-
gelangten Ausführungen reichen vom mehrflutig hen werden. Die üblichen Regenerationsprozeduren
gestalteten Abgasrohr zwischen Vorkatalysator und erfordern einen Betrieb mit unterstöchiometrischem
Speicherkatalysator über die Kühlluftführung auf den Gemisch und hoher Abgastemperatur über einen
motornahen Vorkatalysator (beides erstmals realisiert längeren, in Minuten anzugebenden Zeitraum. Dabei
im VW Lupo FSI [27]) bis hin zur Schaltklappe in stellt sich die Frage, wie diese Bedingungen in jeder
der Abgasführung (Mercedes CGI [28]), welche bei vorkommenden Fahrsituation dargestellt werden kön-
höherer Last das Abgas auf einem längeren Weg und nen. Im Übrigen entsteht daraus ein weiterer Kraft-
durch eine größere Querschnittsfläche zum NOx- stoffmehrverbrauch, der die Vorteile des mager
Speicherkatalysator leitet. betriebenen Direkteinspritzmotors teilweise aufzehrt.
Wenn der Adsorber seine Speicherkapazität erreicht, Der insgesamt zulasten der Abgasreinigung entste-
muss er regeneriert werden. Hierzu wird der Motor hende Mehrverbrauch ist mit 2 bis 3 %-Punkten
kurzzeitig, typischerweise nur für Sekunden, mit anzunehmen. Damit verringert sich das mit Ben-
unterstöchiometrischem Gemisch betrieben. Dabei zin-Direkteinspritzung in Kundenhand realisierbare
kommt es zur spontanen Desorption des eingespei- Verbrauchspotenzial auf eine Bandbreite von 8 bis
cherten NO2, und unter Anwesenheit von Fettkompo- 12 %.
nenten im Abgas findet der vom 3-Wege-Katalysator Eine weitere Möglichkeit der NOx-Reduktion im
bekannte Abbaumechanismus statt. Die Dauer und sauerstoffreichen Abgas besteht in der Verwendung
die Häufigkeit dieses Regenerationsprozesses hat eines zusätzlichen, selektiv wirkenden Reduktions-
direkten Einfluss auf den Kraftstoffverbrauch. Als mittels. Das in Großkraftwerken sowie an stationär
typischer Wert für den darauf zurückzuführenden betriebenen Verbrennungsmotoren in Blockheizkraft-
Mehrverbrauch im europäischen Testzyklus können werken großtechnisch eingesetzte SCR-Verfahren
1 bis 2 % genannt werden. (Selective Catalytic Reduction) arbeitet vorzugsweise
Die Effektivität des Regenerationsprozesses hängt mit Ammoniak als Reduktionsmittel. Für den Pkw-
unter anderem auch davon ab, ob die Fettkomponen- Einsatz dieser Technologie werden dagegen Harn-
ten des Abgases unmittelbar für die Desorption und stoff in wässeriger Lösung oder feste Reduktionsmit-
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 215

tel diskutiert [30]. Das Verfahren ist für sein hohes Aufbaus eines Motors mit seinen angeschlossenen
Potenzial zur NOx-Reduktion bekannt und hat als Komponenten dargestellt, die zum Umfang der Mo-
weiteren Vorteil eine geringe Empfindlichkeit gegen- torsteuerung gehören. Im Bild 5.1-61 ist ein Block-
über Katalysatorvergiftungen, wie sie aus dem im schaltbild einer Motorsteuerung gezeigt, in dem die
Kraftstoff enthaltenen Schwefel resultieren können. Funktionsgruppen mit ihren Eingangsgrößen und
Problematisch ist dagegen das Harnstoff-Handling Ausgabefunktionen zu erkennen sind. Die Steuerge-
sowie die Notwendigkeit, Harnstoff als zusätzlichen räte sind heute mit 16-bit und teilweise auch mit 32-
Betriebsstoff mit an Bord zu führen. bit-Prozessoren bestückt, damit die Menge der not-
wendigen Informationen bei hohen Drehzahlen und
5.1.5.7 Motormanagement dynamischen Vorgängen zeitgerecht verarbeitet wer-
den kann. Dafür stehen bei einem 6-Zylinder-Motor
Die Fortschritte in der Mikroelektronik und der
zwischen zwei Zündungen bei Maximaldrehzahl nur
elektro-mechanischen Sensorik einerseits und die
ca. 3 ms zur Verfügung.
zunehmenden gesetzlichen Anforderungen an die
Je nach Ausstattung des Fahrzeugs sind weitere Inter-
Einschränkung der Schadstoff-Emissionen und der
aktionen mit anderen elektronischen Steuerungen,
Überwachung aller emissionsrelevanten Systeme an-
z.B. mit Automatikgetrieben, automatisch schalten-
dererseits haben zu immer leistungsfähigeren Syste-
den Stufengetrieben, mit Bremssystemen oder mit
men der Motorsteuerung und -überwachung geführt.
Klimaanlagen zu berücksichtigen. Dabei kommen so-
Die elektronische Motorsteuerung erlaubt ein umfas-
wohl zentrale Architekturen, bei denen alle Systeme
sendes Motormanagement mit gezielten und bewuss-
von einer gemeinsamen Steuerung kontrolliert wer-
ten Eingriffen in den Betriebsablauf des Motors unter
den, als auch dezentrale Kombinationen mehrerer
Berücksichtigung einer Vielzahl von physikalischen
miteinander vernetzter Systeme zur Anwendung.
und mechanischen Größen sowie automatischer Ein-
Die Sensorsignale werden über Eingangsschaltungen
griffe bei nicht vorhergesehenen Ereignissen.
aufbereitet und in einen einheitlichen Spannungsbe-
5.1.5.7.1 Motorsteuerung reich gelegt. Über Analog-Digital-Wandler werden
die aufbereiteten Signale in Zahlenwerte transfor-
Im Steuergerät, der ECU (Electronic Control Unit), miert, die dann vom Mikrocomputer verarbeitet wer-
werden alle eingehenden Informationen verarbeitet den können. Die in digitaler Form ermittelten Aus-
und daraus Stellbefehle sowie Informationen ausge- gangsgrößen müssen dann wieder rücktransformiert
geben. Im Bild 5.1-60 ist ein Abbild des physischen und auf die an den Stellgliedern erforderlichen Leis-

1 6 9

2 3
7

4
8

5 10

15 18
11
17 20
12 13 14 16
19 21

21
25

22 23 24 26

Quelle: Bosch

Motormanagementsystem Motronic.
1 Aktivkohlebehälter, 2 Lufteinlassventil, 3 Regenerierventil, 4 Kraftstoffdruckregler, 5 Einspritzventil,
6 Drucksteller, 7 Zündspule, 8 Phasensensor, 9 Sekundärluftpumpe, 10 Sekundärluftventil, 11 Luft-
massenmesser, 12 Steuergerät, 13 Drosselklappengeber, 14 Leerlaufsteller, 15 Lufttemperatursen-
sor, 16 Abgasrückführventil, 17 Kraftstofffilter, 18 Klopfsensor, 19 Drehzahlsensor, 20 Motortempera- Bild 5.1-60 Motor-
tursensor, 21 Lambda-Sonde, 22 Batterie, 23 Diagnoseschnittstelle, 24 Diagnoselampe, 25 Dif- management-System-
ferenzdrucksensor, 26 Elektrokraftstoffpumpe
komponenten
216 5 Antriebe

System Motronic. tenreserve, Boost-Funktion) und Restriktionen (z.B.


Traktionskontrolle, Regenerationsfunktionen) abge-
Klopf-
Klopfsensor regelung glichen, woraus dann eine Vorgabe für die Drossel-
Schnittstelle
klappenstellung abgeleitet wird.
Zündspule
Getriebe- Ein wichtiges Element moderner Motorsteuerungen
steuerung
ist die Fähigkeit des Systems zur Adaption [31].
Schnittstelle
Antriebsschlupf- Zündung Innerhalb vorgebbarer Grenzen können die Toleran-
regelung Leer-
lauf- zen einiger Bauteile ausgeregelt werden. Beispiele
dreh- Drehsteller sind das Lambda-Kennfeld, die Grundluft im Leer-
Sensoren zahl-
für Betriebs- rege- lauf und der Drosselklappenwinkel. So können in der
daten Ein- lung
Zündung spritzung Einspritz- Produktion und im Kundendienst aufwendige Ein-
und ventile,
Einspritzung Kraftstoff-
stell- und Kalibrierarbeiten reduziert werden. Ein
pumpe anderes Beispiel ist die Adaption des Zündwinkel-
Lambda-
Lambda- regelung kennfeldes über den Klopfsensor in Abhängigkeit von
Sonde
Nocken-
der Kraftstoffsorte.
wellen- Relais Eine weitere Eigenschaft moderner Motorsteuerungen
steuerung
Serielle besteht in der integrierten Eigendiagnose. Neben
Diagnose- Schnitt- klassischen Fehlerdiagnosemethoden kommen heute
teil stelle
auch modellbasierte Vorgehensweisen bis hin zu
Abgas- Abgas- dynamischen neuronalen Netzen zur Anwendung
Stellungs- rückführung
Rückmeldung rückführ-
ventil [32]. Dabei werden aufgetretene Fehler und Störun-
Rückhalte- gen erfasst und hinsichtlich ihrer möglichen Ursachen
System- Regenerier-
Kraftstoff- ventil und Auswirkungen analysiert:
Verdunstung
– Überwachung aller Komponenten und Systeme
Informations-
aufbereitung
CAN mittels logischer und sinnvoller Werte, deren Gren-
Quelle: Bosch zen festgelegt werden können und deren Einhaltung
überprüft wird. Auf diese Weise können Fehlerur-
Bild 5.1-61 Blockschaltbild einer Motorsteuerung sachen selbst in komplexen Systemen eingegrenzt
und ihre Diagnose erleichtert werden.
tungspegel angehoben werden. In einem Halbleiter-
– Schutz empfindlicher Komponenten bei Fehlern.
speicher werden alle Programme (Verknüpfungen
So gefährden z.B. Zündaussetzer den Katalysator
und Algorithmen) und Kennfelder (Applikationsda-
durch Überhitzung; werden an einem Zylinder
ten) abgelegt.
mehrere Verbrennungsaussetzer erkannt, so wird
Neben den in den vorhergehenden Kapiteln behandel-
die Einspritzung für diesen Zylinder abgeschaltet.
ten Systemen Einspritzung (Zeitpunkt, Zeitdauer),
– Sicherstellen eines Notlaufes. Gibt es einen Ausfall
Zündung (Zeitpunkt), Emissionen (λ-Regelung, Ab-
bei Sensoren oder Aktoren, so werden Ersatzwerte
gasrückführung) kommen noch hinzu:
definiert, damit ein Notfahrbetrieb aufrechterhalten
– Klopfregelung, d.h. die Rücknahme des Zündwin- werden kann. Fällt z.B. das Lastsignal aus (Luft-
kels, wenn Klopfen auftritt. masse, Saugrohrdruck), so wird aus der Drehzahl
– Leerlaufdrehzahlregelung, gesteuert über Zündung und dem Drosselklappenwinkel eine Ersatzgröße
und Einspritzung, evtl. noch unterschiedlich bei gebildet, die einen Notbetrieb bis zum Aufsuchen
erhöhter Last, z.B. durch Klimakompressor, Gene- der Werkstatt ermöglicht.
rator oder Lenkhilfepumpe. – Speicherung detaillierter Informationen. Erkennt
– Tankentlüftung, d.h. „entladen“ des Aktivkohle- das Diagnosesystem einen Fehler, so werden die
Kraftstoffdampfabscheiders. Daten in einem fehlerspezifischen Code in einem
– Nockenwellensteuerung in Abhängigkeit von der Fehlerspeicher des Steuergerätes abgelegt. Dazu
Motordrehzahl und evtl. Motorlast. werden auch die Umgebungs- und Betriebsbedin-
– Ladedruckregelung bei aufgeladenen Motoren. gungen des Motors mit gespeichert.
Im Zuge der Ausweitung der x-by-wire-Technologie – On-Board-Diagnose emissionsrelevanter Systeme.
ist die mechanische Kopplung zwischen Gaspedal Vom Fahrer unbemerkbare Ausfälle oder Fehlfunk-
und Drosselklappe durch einen Fahrpedalgeber und tion werden erkannt und, sofern damit ein Versagen
eine elektronische Drosselklappe (E-GAS) ersetzt der Abgasreinigungseinrichtung verbunden sein
worden. Damit ist der unmittelbare Zugriff des Fah- kann, dem Fahrer über eine Signallampe (MIL) an-
rers auf die Drosselklappe aufgehoben. Der mittels gezeigt. Er muss dann schnellstmöglich eine Werk-
Fahrpedalbetätigung übermittelte Wunsch des Fahrers statt aufsuchen. Dem Vorbild der amerikanischen
wird gemeinsam mit den Lastanforderungen anderer OBD-Regelung folgend gelten ähnliche Regelungen
Systeme (Klimaanlage, elektrische Verbraucher, etc.) seit 2000 (Stufe III) auch für Europa und werden
analysiert und mit den Möglichkeiten (z.B. Momen- hier EOBD genannt (European On Bord Diagnosis).
5.1 Grundlagen der Motorentechnik/Ottomotoren 217

– Abfrage der gespeicherten Informationen über


Abgasrückführung Kat-Regenerieren aktiv
eine genormte Schnittstelle (Schnittstellenprotokoll
nach Normen ISO 9141 und 14230) für die Werk-
statt. Anhand der Meldungen kann die Ursache der
Störung eingegrenzt werden. Für die hochkomple- hom. l = 1
xen Systeme ist nur so eine effektive Fehlersuche

Drehmoment
überhaupt möglich. hom. l > 1

Während der Einführung eines neuen Fahrzeugmo-


dells kommt es immer wieder vor, dass aus Erfahrun-
gen und Beanstandungen aus dem Kundenfeld heraus geschichtet l >> 1
Änderungen an den Kennfeldern oder gar an den
Prozessroutinen vorgenommen werden müssen. In
den ersten Entwicklungsstufen der elektronischen
Motorsteuerungen war dies praktisch nur möglich, Drehzahl
indem das Steuergerät komplett ausgewechselt wur-
de. Die heute eingesetzten elektronischen Datenspei- Bild 5.1-62 Betriebsstrategien eines Direkteinspritz-
cher (Flash-EPROM’s) gestatten dagegen ein Über- Ottomotors
schreiben der Daten. Auf diese Weise können bei-
spielsweise im Rahmen der regelmäßigen Wartungs- weise eine Teildrosselung des Motors erforderlich,
arbeiten kurzfristige Anpassungen an den letzten um die Abgastemperaturen auf einem Niveau zu
Entwicklungsstand der Motorapplikation vorgenom- halten, welches die katalytische Abgasnachbehand-
men werden. Ein weiterer wesentlicher Vorteil dieser lung ermöglicht. Im Übergangsbereich zwischen
flexiblen Datenspeicher ist, dass in der Fahrzeugpro- Schichtlade-Magerbetrieb und homogenen λ-1-Be-
duktion mit einer einzigen Steuergeräte-Hardware am trieb kann es vorteilhaft sein, den Motor mit homoge-
Bandende des Fahrzeugherstellers mehrere Motor- nem mageren Gemisch zu betreiben, um die Vorteile
und Applikationsvarianten mit individuellen Steuer- des Magerbetriebs in weiteren Kennfeldbereichen zu
gerätedaten geladen werden können. nutzen. Darüber hinaus ist an der Volllast das Ge-
Der damit mögliche Zugang zu den Applikations- misch häufig zur Limitierung der Abgastemperaturen
daten wird auch im Rahmen des sogenannten Chiptu- (Bauteilschutz) anzufetten. Daneben hat das Motor-
ning genutzt. Vor unqualifizierten Eingriffen in die management auch die Anpassung der Betriebsstrate-
Motorsteuerung ist jedoch zu warnen, weil dabei die gie im Fahrbetrieb zu bewältigen. Hierzu zählt zu-
Gefahr einer Bauteilüberlastung oder einer Über- nächst die Realisierung von Hysteresefunktionen für
schreitung der Emissionsgrenzwerte gegeben sein den Übergang zwischen den jeweiligen Betriebsmo-
kann. Außerdem erlischt bei einer Veränderung der den sowie die Anpassung der Betriebsweise an die
vom Hersteller genehmigten und zertifizierten Be- Betriebsrandbedingungen, zum Beispiel im Kaltstart-
triebsweise die allgemeine Betriebserlaubnis. und Warmlaufbetrieb.
Eine weitere Steigerung der Komplexität folgt aus der
5.1.5.7.2 Betriebsstrategie und Motormanagement Integration des Motors in das Gesamtsystem Fahr-
bei Benzin-Direkteinspritzung zeug, wobei insbesondere die Abgasreinigungsein-
Im Teillastbetrieb wird der Direkteinspritz-Ottomotor richtungen Rückwirkungen auf die Motorsteuerung
mit geschichteter Zylinderladung betrieben. Hierzu ausüben. So erfordert die Anwendung eines Adsor-
wird der Kraftstoff erst während des Verdichtungs- ber-Katalysators (siehe Kapitel 5.1.5.6.2) während
taktes eingespritzt. Bei höherer Last entstehen bei des Magerbetriebs den kurzzeitigen Wechsel zu einer
geschichteter Ladung ausgedehnte Zonen überfetteten leicht unterstöchiometrischen Betriebsweise. Die Häu-
Gemisches, und es muss deshalb auf den Betrieb mit figkeit dieses Regenerationsprozesses hängt von der
homogener Zylinderladung übergegangen werden, NOx-Speicherfähigkeit des Adsorbers und von der
was eine frühe Einspritzung während des Saugtaktes NOx-Emission des Motors ab. Aufgabe des Motor-
erfordert. Gleichzeitig muss dann die vom Motor managements ist dabei, die NOx-Speicherung in
angesaugte Luftmenge der Motorlast und der entspre- einem Modell zu bilanzieren und auf dieser Basis
chenden Kraftstoffmenge angepasst werden. Hieraus die Regeneration bedarfsgerecht zu initiieren [33]. In
folgen funktionale Anforderungen an das Motorma- heutigen Serienkonzepten wird die Regeneration des
nagement, die weit über den von konventionellen NOx-Adsorbers üblicherweise mithilfe einer NOx-
Ottomotoren bekannten Umfang hinausgehen. Messsonde im Abgas gesteuert. In Verbindung mit
Zusätzlich zu diesen beiden Basis-Betriebsarten kön- dem NOx-Speichermodell kann der Alterungs- und
nen weitere Betriebsmoden sinnvoll sein. Bild 5.1-62 Schwefelvergiftungszustand des Adsorbers kontinu-
zeigt beispielhaft die Betriebsstrategie eines Direkt- ierlich überwacht werden. Auf dieser Grundlage er-
einspritz-Ottomotors im Motorkennfeld. Bei sehr folgt eine bedarfsgerechte Auslösung der Desul-
niedrigen Lasten und im Leerlaufbetrieb ist üblicher- fatisierungsprozedur, welche eine Betriebsphase mit
218 5 Antriebe

Momentenanforderung Momentenkoordination Momentenumsetzung

Fahrpedalstellung
Drosselklappenwinkel
Fahrgeschwindigkeitsregler
Aktuelle
Verlustmomente
Start
Leerlaufregelung l-Regelung
Katheizen und Warmhalten
Koordination der
Momentenanforderungen
Motor- und Bauteileschutz
Geschwindigkeitsbegrenzung Einspritzzeit
Drehzahlbegrenzung

Antischlupfregelung (ASR)
Motorschleppregelung (MSR) Zündwinkel
Fahrdynamikregelung (FDR)

Bild 5.1-63 Momentenbasierte Funktionsstruktur [37]

unterstöchiometrischem Gemisch bei hohen Abgas- Ventiltriebs, 7. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motoren-
technik, 1998
temperaturen darstellt. Alle diese dynamischen Vor-
[3] Salber: Untersuchungen zur Verbesserung des Kaltstart- und
gänge sind idealerweise so zu applizieren, dass sie Warmlaufverhaltens von Ottomotoren mit variabler Ventilsteue-
von den Fahrzeuginsassen nicht wahrgenommen rung, Dissertation RWTH Aachen, 1998
werden können. Dies erfordert schnelle Eingriffe der [4] Gerhardt, Kassner, Kulzer, Sieber: Der Ottomotor mit Direkt-
einspritzung und Direktstart – Möglichkeiten und Grenzen, 24.
Motorsteuerung in die Laststeuerung, die über eine Internationales Wiener Motorensymposium, 2003
elektrisch betätigte Drosselklappe (E-Gas) sowie über [5] Tsuji, N.; Sugiyama, M.; Abe, S.: Der neue 3.5L V6 Benzinmotor
Zündwinkeleingriffe erfolgen. mit dem innovativen stöchiometrischen Direkteinspritzsystem D-
Herkömmliche Motorsteuergeräte arbeiten auf Basis 4S, 27. Internationales Wiener Motorensymposium, 2006
[6] Laubender, J.; Kassner, U.; Hartmann, S.; Heyers, K.; Bennin-
der Luftmenge als Führungsgröße. Bei den dargestell- ger, K.; Gerhardt, J.: Vom Direktstart zum marktattraktiven
ten Betriebsarten des Direkteinspritz-Ottomotors be- Start-Stopp-System, 14. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und
steht jedoch kein eindeutiger Zusammenhang zwi- Motorentechnik, 2005
schen der Luftmenge und der Motorlast, so dass [7] Kneer, Befrui, Weiten, Adomeit, Geiger, Ballauf, Vogt: Strahlge-
führtes BDE Brennverfahren mit naher Anordnung von Ein-
derartige Motorsteuergeräte für diesen Anwendungs- spritzdüse und Zündkerze: Anwendbarkeit einer nach außen öff-
fall kaum geeignet sind. Eine momentenbasierte nenden Hochdruck-Einspritzdüse, 11. Aachener Kolloquium
Funktionsstruktur erlaubt dagegen die Darstellung Fahrzeug- und Motorentechnik, 2002
des Fahrerwunschmomentes in den unterschiedlichen [8] Lückert, P.; Waltner, A.; Rau, E.; Vent, G.; Schaupp, U.: Der
neue V6-Ottomotor mit Direkteinspritzung von Mercedes-Benz,
Betriebsmoden [34]. Bild 5.1-63 zeigt in schemati- MTZ Motortechnische Zeitschrift, 67. Jahrgang, Heft 11/2006
scher Form diese Funktionsstruktur. Als Führungs- [9] Kume, Iwamoto, Iida, Murakami, Akishino, Ando: Combustion
größe wird das vom Motor bereitzustellende Moment Control Technologies for Direct Injection SI Engine, SAE
aus dem Fahrerwunsch unter Berücksichtigung der 960600
[10] Hohenberg: Vergleich zwischen Direkteinspritzung und Saug-
Triebstrang- und Nebenaggregateinflüsse berechnet. rohreinspritzung am Mitsubishi GDI, 19. Internationales Wiener
Auch dynamische Regeleingriffe der Antischlupf- Motorensymposium, 1998
oder Fahrdynamikregelung oder anderer fahrzeugsei- [11] Sawada, Tomoda, Sasaki, Saito: A Study of Stratified Mixture
tiger Systeme fließen in die Berechnung des Momen- Formation of Direct Injection SI Engine, 18. Internationales
Wiener Motorensymposium, 1997
tenbedarfs ein. Innerhalb des Steuergerätes wird dann [12] Heil, Enderle, Karl, Lautenschütz, Mürwald: Der neue aufgeladene
die Bereitstellung dieses Momentenbedarfs je nach Mercedes-Benz 4-Zylinder-Ottomotor M 271 mit Direkteinsprit-
der augenblicklich einzustellenden Betriebsart des zung, 23. Internationales Wiener Motorensymposium, 2002
Motors individuell realisiert. Die aus dem Momen- [13] Wolters, Grigo, Walzer: Betriebsverhalten eines direkteinsprit-
zenden Ottomotors mit luftgeführter Gemischbildung, 6. Aache-
tenbedarf und der gewählten Betriebsstrategie resul- ner Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 1997
tierende Luftmenge wird über eine vom Motormana- [14] Adomeit, P.; Pischinger, S.; Graf, M.; Aymanns, R.: Zyklische
gement betätigte Drosselklappe (E-Gas) eingestellt. Schwankungen beim direkteinspritzenden Ottomotor, 7. Int.
Symp. Verbrennungsdiagnostik 18. – 19.05.2006, Baden-Baden
Literatur zu Kapitel 5.1.5 [15] Krebs, Spiegel, Stiebels: Ottomotoren mit Direkteinspritzung
von Volkswagen, 8. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Moto-
[1] Goldbeck, G.: Kraft für die Welt, 1864 – 1964 Klöckner- rentechnik, 1999
Humboldt-Deutz AG. Econ Verlag Düsseldorf, Wien 1964 [16] Krebber-Hortmann, K.: Untersuchung eines strahlgeführten
[2] Pischinger, Hagen, Salber, Esch: Möglichkeiten der ottomotori- ottomotorischen Brennverfahrens in Kombination mit einem
schen Prozessführung bei Verwendung des elektromechanischen vollvariablen Ventiltrieb, Dissertation, RWTH Aachen 2009
5.2 Dieselmotor 219

[17] Adolf, Houben, Mergenthaler, Tridico, Wunderlich: Stabzünd- [40] Pischinger, S.; Stapf, K.G.; Seebach, D.; Bücker, C.; Ewald, J.;
modul für den V8-Motor von Porsche, MTZ Motortechnische Adomeit, P.: Controlled Auto-Ignition: Kontrolle der Ver-
Zeitschrift, 65. Jahrgang, Heft 6/2004 brennungsrate durch gezielte Schichtung, Proceedings 29th Int.
[18] Firmenschriften AUDI, BERU, DaimlerChrysler, EMITEC, Vienna Motor Symposium, VDI Fortschrittsbericht Nr. 672,
Kolbenschmidt KS, MAHLE, SIEMENS, VOLKSWAGEN 2008
[19] Gross, Kubach, Spicher, Schiessl, Maas: Laserzündung und [41] Königstedt, Eiser, Fitzen, Hatz, Heiduk, Hermann, Müller,
Verbrennung im Ottomotor mit Direkteinspritzung, MTZ – Mo- Reeker, Worret, V10 BiTurbo und V10 HDZ – Das neue High
tortechnische Zeitschrift, 71 Jahrgang, Heft 08/2010 Performance Duo von Audi, 17. Aachener Kolloquium Fahr-
[20] Welter, A.; Unger, H.; Hoyer, U.; Brüner, T.; Kiefer, W.: zeug- und Motorentechnik 2008
Der neue aufgeladene BMW Reihensechszylinder Ottomotor, [42] Mastrangelo, G.; Micelli, D.; Sacco, D.: Extremes Downsizing
15. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 2006 durch den Zweizylinderottomotor von FIAT, MTZ Motoren-
[21] Kerkau, M.; Knirsch, S.; Neußer, H.-J.: Der neue Sechszylinder- technische Zeitschrift, 72. Jahrgang, Heft 02/2011
Biturbo-Motor mit Variabler Turbinengeometrie für den Porsche [43] Adomeit, P.; Sehr, A.; Glück, S.; Wedowski, S.: Zweistufige
911 turbo, 27. Internationales Wiener Motorensymposium, 2006 Turboaufladung – Konzept für hochaufgeladene Ottomotoren,
[22] Middendorf, H.; Krebs, R.; Szengel, R.; Pott, E.; Fleiß, M.; MTZ Motorentechnische Zeitschrift, 71. Jahrgang, Heft 05/2010
Hagelstein, D.: Der weltweit erste doppeltaufgeladene Otto-
Direkt-Einspritzmotor von Volkswagen, Aachener Kolloquium
Fahrzeug- und Motorentechnik, 2005
[23] Schwaderlapp, Pischinger, Yapici, Habermann, Bollig: Variable
Verdichtung – eine konstruktive Lösung für Downsizing-
Konzepte, 10. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motoren-
technik, 2001
[24] Heywood: Internal Combustion Engine Fundamentals, McGraw-
Hill Book Company, 1988
5.2 Dieselmotor
[25] Dahle, Brandt, Velji, Hochmuth, Deeba: Abgasnachbehandlung
bei magerbetriebenen Ottomotoren – Stand der Entwicklung, 5.2.1 Definitionen
4. Symposium Entwicklungstendenzen bei Ottomotoren, Techni-
sche Akademie Esslingen, 1998
• Verbrennungsmotor
[26] Strehlau, Höhne, Göbel, v.d. Tillaart, Müller, Lox: Neue Ent- Wärmekraftmaschinen, die durch diskontinuierliche
wicklungen in der katalytischen Abgasnachbehandlung von Ma-
Verbrennung von Kraftstoffen in einem Arbeitsraum,
germotoren, AVL-Tagung Motor und Umwelt, 1997
[27] Krebs, Stiebels, Pott: Das Emissionskonzept des Volkswagen dessen Volumen durch Bewegung von Kolben oder
Lupo FSI, 9. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentech- Läufern verändert wird, nutzbare Energie abgeben,
nik, 2000 werden Verbrennungsmotoren genannt. Dabei wird
[28] Enderle, Heil, Schön, Ried: Das Abgasssystem des neuen
Mercedes-Benz CLK 200 CGI mit mechanisch aufgeladenem
ein brennbares Luft-Kraftstoff-Gemisch im Inneren
Motor M 271 mit Benzindirekteinspritzung, 11. Aachener Kol- eines Arbeitszylinders entzündet und verbrannt. Die
loquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 2002 frei werdende Verbrennungswärme erhöht den Druck
[29] Quissek, König, Abthoff, Dorsch, Krömer, Sebbeße, Stanski: der vorverdichteten Gase. Dieser liefert über den
Einfluss des Schwefelgehaltes im Kraftstoff auf das Abgasemis-
sionsverhalten von Pkw, 19. Internationales Wiener Motoren-
Kolben und die Kurbelwelle mechanische Arbeit.
symposium, 1998 Nach jedem Arbeitshub werden die verbrannten Gase
[30] Lüders, Backes, Hüthwohl, Ketcher, Horrocks, Hurley, Ham- gegen frisches Luft-Kraftstoff-Gemisch ausgewech-
merle: An Urea Lean NOx Catalyst System for Light Duty Diesel selt.
Vehicles, SAE 952493
[31] Isermann, Müller: Modeling and Adaptive Control of Combus- • Dieselmotor
tion Engines with fast Neurol Networks, European Symposium
on Intelligent Technologies, Hybrid Systems and their Imple- Ein Verbrennungsmotor, bei dem der in den Verbren-
mentation on Smart Adaptive Systems, 13. – 15. December 2001, nungsraum eingespritzte flüssige Kraftstoff sich in
Tenerife, Spain der Luftladung entzündet, nachdem diese durch die
[32] Isermann, Hartmanshenn, Schwarte, Kimmich: Fehlerdiagnose-
methoden für Diesel- und Ottomotoren, 12. Aachener Kolloqu-
Verdichtung auf eine für die Einleitung der Zündung
ium Fahrzeug- und Motorentechnik, 2003 hinreichend hohe Temperatur gebracht worden ist,
[33] Schürz, Ellmer: Anforderungen an das Motormanagement bei wird als Dieselmotor bezeichnet.
Anwendung von NOx-Speicherkatalysatoren, 7. Aachener Kollo- Die Idee von Rudolf Diesel galt der Konzeption einer
quium Fahrzeug- und Motorentechnik, 1998
[34] Moser, Küsell, Mentgen: Bosch Motronic MED7 – Motorsteue-
besonders ökonomischen Verbrennungsmaschine,
rung für Benzin-Direkteinspritzung, 19. Internationales Wiener wobei der größere Teil der Wärmeverluste auf ein
Motorensymposium, 1998 Minimum verringert werden sollte: einmal durch die
[35] Hagen: Einfluss variabler Ventilsteuerzeiten auf das transiente Abkühlung des verbrannten Gases auf Umgebungs-
Betriebsverhalten eines Ottomotors mit Abgasturboaufladung,
Dissertation RWTH Aachen, 2003
temperatur, zum anderen über die Begrenzung der
[36] Urlaub: Verbrennungsmotoren, Grundlagen, Verfahrenstheorie, maximalen Verbrennungstemperatur durch allmähli-
Konstruktion, 2. Aufl. 1995, Springer Verlag, Berlin Heidelberg ches Zuführen von Kraftstoff. Zur möglichst effekti-
[37] Moser, Mentgen, Rembold, Preussner, Kampmann: Benzin- ven Kraftstoffausnutzung trägt auch die hohe Ver-
Direkteinspritzung, eine Herausforderung für künftige Mo-
torsteuerungssysteme, MTZ 58 (1997) 9/10
dichtung bei, was zwangsläufig zur Selbstzündung
[38] Wurms, R.; Kuhn, M.; Zeilbeck, A.; Adam, S.; Krebs, R.; Hatz, führt. „Der Zweck der hohen Verdichtung ist nicht
W.: Die Audi Turbo FSI Technologie, 13. Aachener Kolloquium die Selbstzündung, wie vielfach behauptet wird“,
Fahrzeug- und Motorentechnik, 2004 stellte R. Diesel fest. „Ich suchte einen Prozess mit
[39] Hirsch, N.; Gallatz, A.: Neuartiges Raumzündverfahren mittels
Mikrowellenstrahlung, MTZ – Motortechnische Zeitschrift, 70
höchster Wärmeausnutzung und dieser Zweck ver-
Jahrgang, Heft 03/2009 langte die hoch verdichtete Luft“. Der Erfinder wollte
220 5 Antriebe

Geboren am 18. März 1857 in Paris als Sohn deut-


scher Eltern meldet der Ingenieur Rudolf Diesel beim
P Kaiserlichen Patentamt zu Berlin ein Patent auf
„Neue rationelle Wärmekraftmaschinen“ an, worauf
O
C
ihm am 23. Februar 1893 das DRP 67207 über „Ar-
beitsverfahren und Ausführungsart für Verbrennungs-
kraftmaschinen“ datiert auf den 28. Februar 1892 er-
a) b) c) teilt wird.
Rudolf Diesel schreibt selbst in seinem Buch „Die
Bild 5.2-1 Vorschläge R. Diesels zum Verbren- Entstehung des Dieselmotors“: „Eine Erfindung be-
nungssystem steht aus 2 Teilen, der Idee und ihrer Ausführung.“
a) Kolben mit Kolbenmulde (1892) Seine überdurchschnittliche Intelligenz, seine außer-
b) Nebenkammer (1893) gewöhnliche technische Begabung und seine Kraft,
c) Pumpe-Düse-Einspritzsystem (1905) eine einmal gefasste Idee konsequent in die Tat
umzusetzen, waren die notwendigen Komponenten,
dass der Dieselmotor geboren wurde. Noch ein Detail
bei seiner Maschine einen möglichst hohen Kompres- zum technischen Einfühlungsvermögen von Rudolf
sionsdruck erzielen und diesen maximalen Druck Diesel: Obgleich nach dem „Stand der Technik“
dann durch Zugeben von Kraftstoff während des niemand genau wissen konnte, welcher Kraftstoff
Arbeitshubes beibehalten. Ziel war eine besonders sich am besten eignen würde, machte er Vorschläge
gleichmäßige Leistungscharakteristik. zum Verbrennungssystem (Bild 5.2-1).
Die Wegmarken (Tabelle 5.2-1) zur Entwicklung des
5.2.2 Historie des Dieselmotors Dieselmotors, sowohl als leistungsstarker Großdie-
selmotor als auch als schnell laufender Fahrzeug-
„Der Diesel duftet nach Zukunft“ – dieser Ausspruch Dieselmotor, konnte R. Diesel nur anfänglich miter-
hätte auch bei Rudolf Diesel’s Vision stehen können, leben, da er im September 1913 den Freitod wählte.
denn im Blickfeld hatte er, dass die Abgase seines Die Gründe hierfür waren Irrtümer, Fehlspekulatio-
Motors rauch- und geruchlos sind. nen und Erfinderstolz.

Tabelle 5.2-1 Einige Meilensteine des Dieselmotors


1897 Erster Lauf eines Dieselmotors mit einem maximalen Wirkungsgrad von ηe = 26,2 % bei der
Maschinenfabrik Augsburg
1898 Auslieferung des ersten Zweizylinder-Dieselmotors mit 2 × 30 PS bei 180 min–1 an die Vereinig-
ten Zündholzfabriken AG in Kempten
1905 ALFRED BÜCHI schlägt die Nutzung der Abgasenergie zur Aufladung vor
1905 Versuchsmotor von Rudolf Diesel auf Basis eines Vierzylinder-Saurer-Ottomotors mit Luftkom-
pressor und direkter Einspritzung (nicht marktfähig)
1906 DRP 196514 für die Firma Deutz auf Einspritzung in Nebenkammer
1909 Grundpatent DRP 230517 von L’ORANGE auf Vorkammer
1924 Erste Nutzfahrzeug-Dieselmotoren der MAN Nürnberg (direkte Einspritzung) bzw.
der Daimler-Benz AG (indirekte Einspritzung in Vorkammer) vorgestellt
1927 Beginn der Serienfertigung von Dieseleinspritzanlagen bei Bosch
1936 Erste Pkw-Dieselmotoren mit Vorkammer der Daimler-Benz AG (Pkw Typ 260 D)
und Hanomag in Serie
1953 Erster Pkw-Dieselmotor mit Wirbelkammer von Borgward bzw. Fiat
1976 1. schnelllaufender Pkw-Dieselmotor mit kleinem Hubraum bei VW
1978 Erster Pkw-Dieselmotor mit Abgasturboaufladung in Serie (Daimler-Benz AG)
1987 Größte dieselelektrische Antriebsanlage mit neuen MAN-B & W-Viertakt-Dieselmotoren und
einer Gesamtleistung von 95.600 kW zum Antrieb der „Queen Elisabeth 2“ wird in Dienst gestellt
1987 Erste elektronisch geregelte Einspritzung (BMW)
1988 Erster Pkw-Dieselmotor mit direkter Einspritzung in Serie (Fiat)
5.2 Dieselmotor 221

Tabelle 5.2-1 (Fortsetzung)


1989 Erster Pkw-Dieselmotor mit Abgasturboaufladung und direkter Einspritzung bei Audi
in Serie (Pkw Audi 100 TDI)
1991/92 Zweitakt- und Viertakt-Experimentiermotoren von Sulzer (RTX54 mit pZ max = 180 bar,
PA = 8,5 W/mm2) und MAN B & W (4T50MX mit pZ max = 180 bar, PA = 9,45 W/mm2)
1990/91 Erster Pkw-Dieselmotor mit Katalysator in Serie (VW/BMW)
1992 Erster Pkw-Dieselmotor mit direkter Einspritzung und variabler Turbinengeometrie in Serie (VW)
1997 Erster aufgeladener Pkw-Dieselmotor mit direkter Common-Rail-Hochdruckein-
spritzung und variabler Turbinengeometrie (Fiat)
1998 Erster Pkw-Dieselmotor mit Pumpe-Düse-Einspritzsystem (VW)
1998 Erster Pkw-Dieselmotor mit weniger als 3 l/100 km Verbrauch in Serie (VW)
1998 Aluminium-Zylinderkurbelgehäuse
2000 Vierventiltechnik beim Pkw-Dieselmotor
2000 Partikelfilter (Peugeot)
2002 NFZ: Common Rail Einspritzung bis zu 1.600 bar zur Verbrennungsverlaufsformung (MAN)
2003 NFZ mit gekühlter Abgasrückführung
2003 Beschichteter Partikelfilter (DC)
2004 NFZ mit Partikelfilter mit DOC
2004 Erster Pkw-Dieselmotor mit Stufenaufladung (BMW, Opel)
2005 Einführung der SCR-Technologien bei NFZ
2006 NOx-Sensor für NFZ OBD II
2006 Erste Stickoxidnachbehandlung beim PKW (bluetec in USA)
2007 NFZ: Zweistufige Aufladung mit Zwischenkühlung in Verbindung mit AGR (Navistar)
2008 Einspritzdruckerhöhung auf bis zu 2.500 bar bei NFZ
2008 Kraftstoffgeschmierte Einspritzpumpe für NFZ (MAN)
2008 Erster Speicherkatalysator in Serie (VW in USA)
2009 Erste SCR-Anwendungen im Pkw (BMW, Daimler, VW)
2009 Vermehrter Einsatz von Maßnahmen zur CO2-Minderung (Efficient Dynamics, Blue Motion)
2010 NFZ VTG in Verbindung mit Turbo-Compound (Detroit Diesel)
2010 Kombination von Niederdruck- und Hochdruck-EGR sowie zylinderindividueller Regelung

5.2.3 Motortechnische Grundlagen Um


we
ltb
5.2.3.1 Einleitung
el

EVerbrennungsluft
as

Verbrennungsmotoren sind prinzipiell Energiewand-


tun
g

ler, die die im Kraftstoff chemisch gebundene Ener-


gie in mechanische Energie, d.h. Nutzarbeit wandeln. Verbrennung

Dabei wird die im Motor bei der Verbrennung freige- EKraftstoff WNutzarbeit

setzte Energie einem thermodynamischen Kreis-


prozess zugeführt und als Druck-Volumen-Arbeit Kreisprozess
ung

genutzt. Die Energiebilanz des Wandlers lautet somit


on

(Bild 5.2-2): Σ EVerluste


ch
ns

EKraftstoff + EVerbrennungsluft + WNutzarbeit + ∑ EVerluste = 0 . e


ur
c
so
Res
Aus ökonomischer Sicht sind die Energieverluste zu
minimieren. Dies genügt heute aber nicht mehr dem
ökologischen Anspruch, wonach jede Wandlung von Bild 5.2-2 Zur Energieumsetzung des Verbrennungs-
Materie und Energie mit maximalem Wirkungsgrad motors
222 5 Antriebe

Aufladung Verbrennung Einspritzung 5.2.3.2 Vergleich motorischer


Verbrennungsverfahren
Vor einer Zündung und Verbrennung ist der meist
flüssige Kraftstoff aufzubereiten. Es muss ein zünd-
fähiges Gemisch aus gasförmigem Kraftstoffdampf
und Luft hergestellt werden. Diese Abläufe sind bei
Diesel- und Ottomotoren verschieden (Tabelle 5.2-2).
Beim Dieselmotor wird kurz vor OT der Kraftstoff in
die hoch verdichtete und erwärmte Luft eingespritzt
Abgasnach- Elektronik
behandlung
(innere Gemischbildung). Der klassische Ottomotor
hingegen arbeitet mit einer äußeren Gemischbildung:
außerhalb des Arbeitsraumes wird der Kraftstoff mit-
tels Vergaser oder Einspritzung in das Saugrohr über
einen langen Zeitraum eingebracht.
Nach der Einspritzung liegt beim Dieselmotor ein
heterogenes Gemisch aus Luft, Kraftstoffdampf und
Schmierung Mechanik Kühlung
-tröpfchen vor. Demgegenüber wird der Zylinder des
Ottomotors mit einem homogenen Gemisch aus
Kraftstoff und Luft gefüllt.
Die Zündung wird beim Ottomotor durch eine elekt-
rische Entladung an der Zündkerze ausgelöst, sofern
das homogene Gemisch innerhalb der Zündgrenzen
liegt (Vormischflamme). Beim Dieselmotor tritt eine
Selbstzündung ein. Dabei muss nur in einem begrenz-
Bild 5.2-3 Zur Komplexität des modernen Diesel-
ten Bereich ein zündfähiges Gemisch vorliegen
motors
(Diffusionsflamme).
Da der Ottomotor ein homogenes zündfähiges Ge-
misch voraussetzt, kann seine Leistung nur über die
bei minimaler Umweltbelastung zu erfolgen hat. Die- Ladungsmenge (Quantitätssteuerung) geregelt wer-
se Forderung hatte und hat aufwändige Forschungs- den. Der Dieselmotor arbeitet aber mit Luftüber-
und Entwicklungsarbeiten zur Folge, die den einfa- schuss. Somit wird der Lastpunkt über die Einspritz-
chen Motor des Rudolf Diesel in ein komplexeres menge, also das Luftverhältnis (Qualitätssteuerung)
System überführt haben (Bild 5.2-3). Im Bild nicht eingestellt. Ein verlustreiches Drosseln wie beim
enthalten sind die Subsysteme Abgasrückführung und Ottomotor ist nicht erforderlich.
Ladeluftkühlung. Wesentlich dabei ist die verstärkte Aus diesen unterschiedlichen Abläufen leiten sich
Nutzung elektrischer und elektronischer Bauelemente verschiedene Anforderungen an die Kraftstoffe ab:
sowie der Übergang von offenen Steuerungen zu ge- Dieselkraftstoff muss zündwillig sein (hohe Cetan-
schlossenen Regelkreisen. Weiterhin sind aus Wett- zahl). Der Otto-Kraftstoff soll unkontrollierte Selbst-
bewerbsgründen Materialeinsatz und Fertigungsauf- zündungen vermeiden helfen, d.h. zündunwillig sein
wand zu minimieren. (hohe Oktanzahlen).

Tabelle 5.2-2 Vergleich der Merkmale von Diesel- und Ottomotoren


Merkmale Dieselmotor klassischer Ottomotor
Gemischbildung innerhalb des Zylinders außerhalb des Zylinders
Gemisch heterogen homogen
Zündung Selbstzündung bei Fremdzündung innerhalb
Luftüberschuss der Zündgrenzen
Luftverhältnis λV ≥ λmin > 1 0,6 < λV < 1,3
Verbrennung Diffusionsflamme Vormischflamme
Drehmoment-Änderung Änderungen von λV Gemischdrosselung
durch (Qualitätsänderung) (Quantitätsänderung)
Kraftstoff zündwillig zündunwillig
5.2 Dieselmotor 223

5.2.3.3 Die Thermodynamik des Dieselmotors sche Arbeit anfällt,


• Ideale Zustandsänderungen von Gasen 0 = ΔU = ΔQ + ΔA
Es werden abgeschlossene Systeme betrachtet, d.h. es d.h. die Druck-Volumenänderung entspricht der theo-
gibt keine Wechselwirkung mit irgendwelchen ande- retisch nutzbaren Arbeit des idealen Prozesses:
ren Körpern. Thermodynamische Größen beschreiben –dA = pa ⋅ dV
makroskopische Zustände der Körper. Der Gleichge-
Die Unterscheidung des äußeren Druckes pa vom
wichtszustand einer homogenen Gasmasse m wird
inneren Druck pi des Systems kann bei idealen Gasen
durch Angabe zweier thermodynamischer Größen
entfallen. Der Prozess läuft dann quasistatisch ab.
(z.B. Druck, Volumen, Temperatur, innere Energie)
Dabei muss aber auch die Temperatur des Wärme-
bestimmt.
speichers Ta bis auf eine verschwindend kleine Diffe-
Die allgemeine Zustandsgleichung beschreibt ideale
renz gleich der Systemtemperatur Ti sein.
Gase:
Rudolf Diesel dachte bei seiner Erfindung an einen
p⋅V=m⋅R⋅T Motor, der nach dem Gleichdruckprozess arbeitet
mit p = absoluter Druck in Pa, T = Temperatur in K, (Bild 5.2-4a). Der Zylinderinhalt wird zunächst
V = Volumen in m3 und R = Gaskonstante in J/ adiabat entlang der Linie 1 → 2 verdichtet. Die nach-
kg ⋅ K). folgende Verbrennung erfolgt bei konstantem Druck
Der Zustand eines Gases kann also in einem p-V- und zunehmendem Volumen (2 → 3). Anschließend
Diagramm dargestellt werden. Besondere Übergänge expandiert die erhitzte Luft adiabat (3 → 4). Die
lassen sich durch Konstanthalten einer Zustandsgröße ungenutzte Wärme wird danach abgeführt.
berechnen. Gleichungen existieren für Isobaren (p = Im p-V-Diagramm des Diesel-Prozesses ist die Ver-
konst), Isothermen (T = konst) und Isochoren (V = brennungsphase (2 → 3) eine Isobare, denn die Wär-
konst). me Q wird hier bei konstantem Druck zugeführt.
Wenn ein Körper thermisch isoliert ist (also kein Werden diese Abläufe für eine Wärmekraftmaschine
Wärmeaustausch zwischen Gas und Umgebung auf- den Realitäten angepasst, wird aus dem idealen Kreis-
tritt) und die äußeren Bedingungen, in denen er sich prozess ein kombinierter Gleichraum-Gleichdruck-
befindet, hinreichend langsam geändert werden, wird Prozess oder Grenzdruck-Prozess (Seiliger-Prozess).
der Prozess adiabatisch genannt. Die Entropie bleibt Hier (Bild 5.2-4b) erfolgt die Verdichtung entlang
ungeändert, d.h. der adiabatische Prozess ist rever- der Linie 1 → 2, die Wärmezufuhr teils bei konstan-
sibel. Es gilt die Poissonsche Gleichung tem Volumen (2 → 3), teils bei konstantem Druck
(3 → 4). Die Expansion entlang der Linie 4 → 5
p ⋅ Vκ = konst. reicht nicht bis zum Umgebungsdruck. Dieser würde
Der Isotropenexponent κ ist das Verhältnis der spezi- einen unrealistisch langen Kolbenhub voraussetzen.
fischen Wärmekapazität bei konstantem Druck (cp) zu Der Seiliger-Prozess entspricht dem allgemeinsten
der bei konstantem Volumen (cv). Fall eines Vergleichsprozesses, da er dem realen
Motorprozess angepasst werden kann. Er umfasst so-
• Idealer Kreisprozess und Vergleichsprozess wohl die Grenzfälle Gleichdruckprozess beim Diesel
Bei einem idealen Kreisprozess erfährt das Gas eine als auch den Gleichraumprozess für den idealen
in sich geschlossene Zustandsänderung, so dass es Ottomotor.
nach Durchlaufen des quasistatischen Prozesses den Die Annahmen dabei sind:
Anfangszustand wieder erreicht. Nach dem ersten • die Ladung entspricht einem idealen Gas,
Hauptsatz der Thermodynamik (Erhaltung der Ener- • die Verbrennung folgt einer Gesetzmäßigkeit,
gie: Die Änderung der inneren Energie ΔU ist gleich • adiabatische Prozessführung (wärmedichte Wan-
der Summe der von außen zugeführten Wärmemenge dungen),
ΔQ und Arbeit ΔA) folgt damit, dass die im Verlauf • keine Reibung im Zylinder,
des Kreisprozesses umgesetzte Wärme als mechani- • keine Strömungsverluste.

p Qzu p Q1

2 3 3 4

Q2
Druck

Druck

2
Vk
4 5
1at Qab 1at Qab Bild 5.2-4 a) Gleichdruck-
1 1
Vh Vk Vh Prozess; b) kombinierter
Gleichraum-Gleichdruck-
a) Volumen b) Volumen
Prozess
224 5 Antriebe

Beim realen Viertaktprozess (Bild 5.2-5a) entstehen


a) OT UT
zwei Schleifen, von denen die Hochdruckschleife
normalerweise positiv und die Ladungswechsel-
schleife meist negativ ist. Bei aufgeladenen Motoren
kann die Ladungswechselschleife aber auch positiv
werden.
Der Wirkungsgrad des vollkommenen Motors ηv und
der effektive Wirkungsgrad des wirklichen Motors ηe
pa V
unterscheiden sich durch die Summe der Einzelver-
Vk Vh
luste des Letzteren. Die Erfassung dieser Einzelver-
luste ist Zweck der Verlustteilung. Sie werden im
Einzelnen verursacht durch: b)
• unvollkommene Kraftstoffumsetzung (Umset- 100

zungsverlust),
• nicht idealen Brennverlauf, 80
Abgasenthalpie

• Wärmeabfuhr an Brennraumwände,

zugeführte Energie QB [%]


hV
• Leckage undichter Kolbenringe,
Δhu1)
• Überströmen zwischen Haupt- und Nebenbrenn- 60

raum bei Kammermotoren, ΔhV


ΔhLeck
• Ladungswechsel ΔhW
40 Δhü
• mechanische Reibung. hi,HD
ΔhLad
hi Δhm
In Bild 5.2-5b sind die Verluste für einen 1,5 l Die-
20
selmotor mit Wirbelkammer bei 3.000 min–1 in Ab-
1) Verlust im gesamten
hängigkeit von der Last (pe) dargestellt. Es bedeuten he Bereich unter 1 %
ηe den effektiven Wirkungsgrad, ηi den Innenwir- 0
kungsgrad für den ganzen Prozess, ηi HD den Innen- 0 2 4 6
wirkungsgrad ohne Ladungswechselverluste, ηv den effektiver Mitteldruck Pe [bar]

Wirkungsgrad des idealen Vergleichsprozesses, Δηm Bild 5.2-5 a) Realer Viertaktprozess; b) Verlustauf-
den Wirkungsgradverlust durch mechanische Rei- teilung
bung, ΔηLad den Wirkungsgradverlust durch den
Ladungswechsel, Δηü den Wirkungsgradverlust durch
das Überströmen bei Kammermotoren, ΔηLeck den 5.2.4 Die dieselmotorische Verbrennung
Verlust durch Leckage, Δηw den Wirkungsgradverlust 5.2.4.1 Allgemeines
durch den Wärmeübergang, Δηv den Verbrennungs-
verlust und Δηu den Umsetzungsverlust. Alle genann- In Verbrennungskraftmaschinen wird die im zuge-
ten Wirkungsgrade bzw. Wirkungsgradverluste sind führten Kraftstoff gebundene Energie durch Oxida-
auf die zugeführte Kraftstoffenergie QB bezogen. Es tion mit dem in der Verbrennungsluft enthaltenen
gilt damit: Sauerstoff freigesetzt. Die reale Verbrennung erfolgt
allerdings unvollständig und verlustbehaftet. So ent-
ηe = ηv – Δηu – Δηv – Δηw – ΔηLeck – Δηü – ΔηLad – Δηm stehen außer Kohlendioxid (CO2) und Wasserdampf
(H2O) auch Kohlenmonoxid (CO), Kohlenwasser-
Die einzelnen Verluste weisen eine unterschiedliche
stoffe (HC), Stickoxide (NOx) und Rußpartikel (PM).
Lastabhängigkeit auf, wobei die Wirkungsgradeinbu-
Der Ablauf der dieselmotorischen Verbrennung wird
ßen durch Verbrennung, Wärmeübergang und Rei-
üblicherweise unterteilt in Kraftstoffeinspritzung, Ge-
bung weit größer sind als jene durch Ladungswech-
mischbildung, Selbstzündung und Verbrennung mit
sel, Überströmvorgänge, Leckage und unvollkomme-
Abgasbildung.
ne Kraftstoffumsetzung.
• Grenzen der Modellrechnung 5.2.4.2 Einspritzung und Gemischbildung
Bei Betrachtung von idealen Prozessen werden An- • Luftbewegung
nahmen getroffen, die aus Sicht der Physik auf reale Für die Gemischbildung spielen die Strömungsvor-
Vorgänge nicht zu übertragen sind. Tabelle 5.2-3 gänge eine entscheidende Rolle. Sie beeinflussen den
zeigt, welche thermodynamischen Einzelmodelle for- Zündverzug, die Menge des auf die Brennraumwand
muliert werden müssen, um zumindest zu Relativ- treffenden Kraftstoffes und den Verbrennungsablauf,
aussagen (z.B. bei Parameterstudien) kommen zu in dem sie zur Luftausnutzung sowie zum Durch-
können. Die Genauigkeitsansprüche sind hier weniger brennen der Ladung beitragen. Verteilung und Bewe-
hoch als bei Auslegungsrechnungen für eine Aufla- gung von Luft und Kraftstoff müssen im Brennraum
dung oder ein Kühlsystem. im gesamten Betriebsbereich des Motors aufeinander
5.2 Dieselmotor 225

Tabelle 5.2-3 Vergleich der Teilmodelle im Ideal- und Realprozess

Teilmodell Idealprozess Realprozess

Stoffwerte ideales Gas reales Gas; Zusammensetzung ändert sich


während des Prozesses

cp, cV, κ = konstant Stoffwerte abhängig von Druck,


Temperatur und Zusammensetzung

Ladungswechsel Ladungswechsel als Massenaustausch durch die Ventile;


Wärmeabfuhr Restgas bleibt im Zylinder

Verbrennung vollständige Verbrennung unterschiedliche Brennverläufe sind mög-


nach idealisierter Gesetz- lich je nach Gemischbildung und Verbren-
mäßigkeit nungsverfahren; Kraftstoff verbrennt
teilweise nur unvollständig

Wandwärmeverluste keine Wandwärmeverluste Wandwärmeverluste vorhanden, werden


berücksichtigt

Undichtigkeiten keine Undichtigkeiten vorhanden, werden teilweise berücksichtigt

abgestimmt sein. Besonders wichtig ist dies bei


direkteinspritzenden Dieselmotoren. Hier fehlt der
Austrittsimpuls, der bei Vorkammer- und Wirbel-
kammermotoren eine intensive Vermischung der aus
der Nebenkammer austretenden Brenngase und un-
verbrannten Ladung fördert.
Erzeugt wird der Luftdrall im Zylinder eines direkt-
einspritzenden Dieselmotors durch die Geometrie des
Einlasskanals und der Einlassventilsitze. Gebräuch-
lich sind vornehmlich Spiral- und Tangentialkanal,
auch Füll- und Drallkanal genannt (Bild 5.2-6). Der
dem Motor zugeführte Luftstrom wird in eine Rotati-
on um die Zylinderachse versetzt. Der Luftdrall steigt
mit zunehmender Motordrehzahl an – bei schnelllau-
fenden Dieselmotoren für eine effektive Gemisch-
bildung zu schnell. Akzeptable Kompromisse sind
möglich.
Bei Annährung des Kolbens an den Zylinderkopf
wird die rotierende Luftbewegung von einer Quetsch-
strömung überlagert. Dabei strömt die Luft aus dem
Spalt zwischen Zylinderkopf und Kolben in die
Kolbenmulde. Mit Beginn des Expansionstaktes kehrt
sich die Strömungsrichtung um. Diese turbulente
Luftbewegung unterstützt die Gemischbildung kurz
vor und nach der Zündung. Mithilfe moderner Laser-
Doppler-Techniken lassen sich heute die Strömungs-
verhältnisse auch lokal vermessen [1, 2].
Bild 5.2-6 4V-Dieseldirekteinspritzer mit Drallkanal
• Einspritzung und Strahlausbreitung und senkrecht stehendem Injektor
Die Einspritzung des Kraftstoffes erfolgt gegen Ende
des Kompressionstaktes. Die Luft ist hochverdichtet toren sind die Abmessungen des Pumpenelementes,
und entsprechend erhitzt (30 … 60 bar, 300 … die konstruktive Ausführung der Einspritzdüse sowie
400 °C). Der zeitliche Verlauf des Einspritzvorganges die geometrischen Verhältnisse von Einspritzleitung
hängt dabei ganz entscheidend von der konstruktiven und Entlastungsventil. Durch Veränderung eines oder
Ausführung der Einspritzanlage ab. Wesentliche Fak- mehrerer der genannten Parameter kann der Ein-
226 5 Antriebe

spritzverlauf und damit auch der Verbrennungsablauf schen und dem chemischen Anteil zu unterscheiden.
gezielt beeinflusst werden. Letzterer ist derjenige Zeitraum, in dem die Vorreak-
Die Luft bietet bereits zum Zeitpunkt des Einspritz- tionen stattfinden. Der Zündverzug beträgt etwa 1 bis
beginns Zündbedingungen. Der Dieselkraftstoff tritt 2 ms. In dieser Zeitspanne werden die ersten Weichen
aus der Einspritzdüse im Wesentlichen als kompakter bezüglich Kraftstoffverbrauch und Emissionen ge-
Flüssigkeitsstrahl aus. Der Anteil dampfförmigen stellt.
Kraftstoffs ist in dieser Phase relativ gering. Man unterscheidet zwischen kraftstoff- und luftseiti-
Die Kavitation an der Düsenspitze, innere Kräfte im gen Maßnahmen zur Beeinflussung des Zündverzu-
Strahlkern sowie eine äußere Wellenbildung des ges. Die wichtigsten kraftstoffseitigen Maßnahmen
Strahlmantels infolge Luftreibung führen zur Tröpf- sind: Kraftstoffqualität, Einspritzdruck, Kraftstoff-
chenbildung. Die einzelnen Kraftstofftröpfchen ver- temperatur, Geometrie der Einspritzdüse und Ein-
formen und teilen sich auf ihrem Weg durch den spritzzeitpunkt. Luftseitig sind von Bedeutung: Druck
Brennraum mehrmals (Wechselwirkung mit der und Temperatur der Luft im Brennraum, die La-
Luft). Es können aber auch Wechselwirkungen der dungsbewegung (Strömungsfeld) sowie die Minde-
Tröpfchen untereinander auftreten: Zusammenstöße, rung von Luft, Kraftstoff und Restgas. Konstruktiv
die zur Teilung, aber auch Vereinigung führen. Des können die Faktoren beeinflusst werden durch:
Weiteren kann Kraftstoff auf die Brennraumwand − die Einlasskanalgestaltung,
treffen. Damit nun in dem heterogenen Gemisch aus − die Ventilsteuerzeiten,
Luft und Kraftstofftröpfchen unterschiedlicher Größe − die Brennraumgestaltung,
und Verteilung örtlich Zündbedingungen entstehen, − das Verdichtungsverhältnis,
muss der Kraftstoff durch die verdichtete Luft zu- − die Kühlmitteltemperatur,
nächst erhitzt werden. − die Aufladung und
Infolge Wärmetransport von der erhitzten Luft zum − die Kaltstartmaßnahmen.
flüssigen Kraftstoff bildet sich um das einzelne
Tröpfchen eine Kraftstoffdampfschicht, die sich mit So wird sich ein kürzerer Zündverzug einstellen bei
der umgebenden Luft vermischt. Das Gemisch ist Zunahme
zündfähig, sobald das Luftverhältnis über etwa 0,7 − der Cetanzahl der Kraftstoffe,
ansteigt. Dieses erklärt den physikalischen Zündver- − der Kraftstofftemperatur,
zug. − des Einspritzdruckes,
− des Brennraumdruckes und
5.2.4.3 Selbstzündung und Zündverzug
− der Brennraumtemperatur.
Eines der wichtigsten Merkmale für den dieselmoto- Außerdem wird der Zündverzug verkürzt durch
rischen Verbrennungsvorgang ist die Zeitspanne von
Einspritzbeginn bis zum Zündbeginn: der Zündver- − Verlegen des Einspritzzeitpunktes nach spät (im
zug (Bild 5.2-7). Dabei ist zwischen dem physikali- Bereich vor OT),
− gleichmäßige und feine Verteilung des Kraftstof-
fes
100
− hohe Relativbewegung zwischen Kraftstoff und
bar
Luft.
80
Ein kurzer Zündverzug infolge der geringeren, in die-
60 ser Zeit eingespritzten Kraftstoffmenge hat zur Folge
Druckverlauf (Bild 5.2-8):
40
[%]

• Spez. Kraftstoffverbrauch • Verbrennungsgeräusch


20 • Rußpartikelausstoß • Stickstoffoxidausstoß

0 3
Druckanstieg Zü
5 nd
ve
ku rzug
rz
Düsennadelhub günstig günstig
ungünstig g ungünstig
rzu
1 2 4 ve
nd
120 90 60 30 OT 30 60 90 120 150 180 Zü lang

°kW v. OT °kW n. OT

Bild 5.2-7 Dieselmotorischer Zündverzug bei direk-


ter Einspritzung (1. Förderbeginn, 2. Einspritzbeginn, Bild 5.2-8 Zielkonflikt Zündverzug bei dieselmoto-
3. Zündbeginn, 4. Einspritzende, 5. Zündverzug) rischen Verbrennungsverfahren
5.2 Dieselmotor 227

Bild 5.2-9 Selbstzün-


dung und Verbrennung
361,0° 364,3° 372,6°
im 1,9 l VW TDI-Motor

• geringer Druckanstieg → niedriges Verbrennungs- 2. Der eingespritzte Kraftstoff wird aufbereitet und
geräusch verbrannt. Der Brennverlauf wird durch die Ge-
• geringer Spitzendruck → niedriges Verbrennungs- schwindigkeit der Gemischbildung bestimmt. Da-
geräusch und reduzierte Triebwerkbelastung bei ist neben dem Geschwindigkeitsfeld auch das
• geringe Spitzentemperatur → wenig Stickoxide. Temperaturfeld wichtig.
3. Die letzte Phase des Brennverlaufs ist durch die
Bei längerem Zündverzug kommt es so zu hohem
vergleichsweise langsame Umsetzung des zuletzt
Verbrennungsgeräusch und Stickstoffoxidgehalt.
aufbereiteten Kraftstoffs gekennzeichnet. Es neh-
Einige der Einflussgrößen hängen auch vom Betriebs-
men Luftbewegung, Temperatur und Luftüber-
punkt ab. Eine zentrale Aufgabe bei der Optimierung
schuss ab.
des Verbrennungsverfahrens besteht in der Suche
nach einem akzeptablen Kompromiss im gesamten Die erste Phase des Brennverlaufs ist von entschei-
Betriebsbereich. dender Bedeutung für das Geräusch und die NOx-
Emissionen der dieselmotorischen Verbrennung.
5.2.4.4 Verbrennung und Brennverlauf Einen großen Spielraum zur Gestaltung der Gemisch-
Die dieselmotorische Verbrennung ist diffusionskon- bildung und Verbrennung bieten mehrstufige Ein-
trolliert. Die Einspritzung erstreckt sich oftmals über spritzsysteme, mit denen u.a. eine abgesetzte Vorein-
die Zündung hinaus, siehe Bild 5.2-9. So bleiben die spritzung möglich ist.
gebildeten Inhomogenitäten auch weiterhin bestehen. Die dritte Phase beeinflusst den Kraftstoffverbrauch
Außer den Ladungs- gibt es auch Temperaturinho- und die Emissionsbildung, insbesondere der Partikel.
mogenitäten. Um immer ausreichend Sauerstoff für Es ist somit notwendig, auch in dieser Phase eine
die Verbrennung zur Verfügung zu haben, muss der ausreichende Verbrennungsenergie zur Verfügung zu
Dieselprozess bei Luftüberschuss betrieben werden. haben. Damit sollte ein frühes, möglichst schnelles
Der zeitliche Verlauf der Energieumsetzung (Brenn- Brennende realisiert werden.
verlauf) kann in drei Phasen unterteilt werden (Bild Die beschriebenen Vorgänge der dieselmotorischen
5.2-10): Verbrennung sind in schematischer Form in Bild
5.2-11 zusammengefasst.
1. Das bereits zündfähige Gemisch wird thermisch
entflammt. Am Ende dieser Phase ist der Haupt- 5.2.4.5 Abgasemissionen
teil des während des Zündverzuges eingespritzten
Die vollständige Verbrennung des schwefelhaltigen
Kraftstoffes verbrannt. Bestimmend ist die chemi-
Dieselkraftstoffes führt zu den Endprodukten Koh-
sche Energie des Kraftstoffes.
lendioxid (CO2), Wasser (H2O) und Schwefeldioxid
(SO2). Durch den zeitlich kurzen Verbrennungsablauf
kommt es lokal zu unvollständiger Verbrennung
aufgrund der verschiedenen Gemischbildungen, Tem-
pz
peraturverteilungen und Luftverhältnisse.
dQB
Brennverlauf In Bild 5.2-12a ist der Bereich der Rußbildung im T-
df Einspritzverlauf λ-Diagramm den Zuständen von Gemisch und Ver-
dmB
Druckverlauf im branntem nahe dem OT gegenübergestellt. Verbrann-
df Brennraum
tes mit Luftverhältnissen unter λ = 0,5 muss Ruß
enthalten. Zusätzlich sind die innerhalb 0,5 ms gebil-
deten NO-Anteile dargestellt. Die typische Schere
ZV 1. 2. 3. f zwischen Ruß- und NOx-Emission wird erkennbar.
Wenn bei der Verbrennung die Bildung von NOx und
Bild 5.2-10 Zündverzug bei Dieselmotoren mit di- Ruß vermieden werden soll, müsste das Gemisch im
rekter Einspritzung Bereich von λ = 0,6 bis 0,9 liegen.
228 5 Antriebe

Einspritzung Dieselkraftstoff Einspritz- Temperatur


3000
beginn ppm NO 5000
K Rußbildung
2500 3000
1000
Kraftstoffstrahlzerfall 2000 Verbranntes 500
und Tröpfchenbildung
1500 Wand

Kraftstofftröpfchen-Erwärmung 1000 Gemisch


Physikalischer
Zündverzug
500
Zielbereich
Kraftstofftröpfchen-Verdampfung 0
0 0,5 1,0 1,5 2,0
(Dampfzone)
a) Luftverhältnis l

Temperatur
Mischung Kraftstoffdampf/Luft 3000
(Reaktionszone) ppm NO 5000
K Rußbildung
2500 3000
1000
Nichtthermische Vorreaktion 2000 500
Chemischer Verbranntes
(l = 4)
Zündverzug
1500
1 1,5
Lokale Selbstzündung 1000 Gemisch
Zünd-
beginn
500
Zielbereich
0
Cracken von Oxidation
Kraftstoff Kraftstoff/Luft- Verbrennung 0 0,5 1,0 1,5 2,0
Gemisch b) Luftverhältnis l

Temperatur Lebensdauer [ms] ppm NO


Unvollständige Vollständige 3000
Brenn- K Rußbildung (d = 40 nm)
Oxidation Oxidation 5000
(Gastemperatur (Gastemperatur ende 2500 3000
bzw. O2-Partial- und O2-Partial- 1000
druck zu niedrig) druck genügend 0,4
hoch) 2000 0,6 500
0,8 Verbranntes
1500 1,0

Produkte unvollständiger Produkte vollständiger 1000 Gemisch


Verbrennung sowie Verbrennung
Crackprodukte CO2, H2O
(z.B. CO, HC, NOx, PM) 500 Zielbereich

0
Bild 5.2-11 Sequentielle Darstellung der dieselmoto- 0 0,5 1,0 1,5 2,0
rischen Gemischbildung und Verbrennung [3] c) Luftverhältnis l

In der ersten Verbrennungsphase (vorgemischte Bild 5.2-12 a Erste Phase der Dieselverbrennung
Verbrennung) ist aufgrund der Inhomogenität der (Vormischverbrennung); b Zweite Phase der Diesel-
Gemischbildung mit der Bildung von primärem Ruß verbrennung; c Dritte Phase der Dieselverbrennung
und Stickoxiden zu rechnen [3]. Im Interesse einer
schadstoffarmen Verbrennung sollte in der ersten
Phase nur wenig Gemisch und dieses möglichst mit In der dritten Phase (Bild 5.2-12c) nach Ende der
λ = 0,6 … 0,9 verbrannt werden. Der Bereich der Einspritzung magern die Brenngase ab. Der Bereich,
Rußbildung kann zu größeren λ hin verschoben in dem die Rußteilchen mit Sauerstoff verbrennen,
werden, wenn z.B. durch Abkühlung an der Zylin- überdeckt sich teilweise mit dem Bereich der inten-
derwand die Temperatur so weit erniedrigt wird, dass siven NOx-Bildung. Es empfiehlt sich deshalb, die
das Rußbildungsgebiet erreicht wird. Bildung von primärem und sekundärem Ruß gering
Während der zweiten Verbrennungsphase wird der zu halten und nicht auf die Oxidation gegen Ende der
eingespritzte Kraftstoff mit Luft und Verbrennungs- Verbrennung zu setzen.
gas vermischt (Bild 5.2-12b). Dabei ergeben sich
unterschiedlichste Zusammensetzungen (λ). Mischun- • Entstehung von Stickoxiden
gen mit Verbrennungsgasen und niedrigem λ können
zur Bildung von sekundärem Ruß führen. Eine Ver- Stickstoff ist der vorherrschende Bestandteil der Luft.
mischung des Kraftstoffs mit heißen, sauerstoffarmen Die Bildung von Stickoxid läuft während der Ver-
Abgasen sollte vermieden werden. Reichlich frische brennung bei hohen Temperaturen ab (endotherme
Luft muss zugeführt werden. Reaktion) und kann vereinfacht durch den Zeldovich-
5.2 Dieselmotor 229

Mechanismus dargestellt werden: Vermischung der Verbrennungsprodukte mit Ver-


brennungsluft in sauerstoffreiche Umgebung gelan-
N2 + O →← NO + N gen. Zusammengefasst müssen bei der Rußbildung
O2 + N →← NO + O folgende Vorgänge betrachtet werden:
OH + N →← NO + H (dN/dt)gesamt = (dN/dt)Wachstum + (dN/dt)Koagulation
Die Reaktionen laufen verhältnismäßig langsam ab. + (dN/dt)Kondensation
Die Temperatur-, Druck- und Konzentrationsfelder + (dN/dt)Oberfächenwachstum
ändern sich aber während der Verbrennung schnell + (dN/dt)Oxidation
und stark. Dies führt zu Stickoxidkonzentrationen, die
unterhalb der Werte liegen, die sich im thermischen N = Anzahl der Teilchen
Gleichgewicht einstellen würden. Die analytische Beschreibung gelingt heute noch
Stickoxidemissionen lassen sich bei der Dieselver- nicht vollständig, da einige der Prozesse grundsätz-
brennung minimieren, wenn die Verbrennungstempe- lich verstanden, andere nur phänomenologisch erfasst
ratur begrenzt (spätes Einspritzen, Ladeluftkühlung) sind [4]. Hauptschwierigkeiten sind dabei: die hohe
und die Sauerstoffkonzentration gesenkt (Abgasrück- Anzahl der chemischen Reaktionen sowie die Ab-
führung) wird. hängigkeiten von dem hohen Druck, der hohen Tem-
peratur sowie dem Strömungs- und Mischungsfeld.
• Rußbildung und Partikelemission Die zugehörigen Zeiten sind in Tabelle 5.2-4 aufge-
Ruß entsteht aus molekularen Prozessen während der führt. Während des dieselmotorischen Zyklus steht
Verbrennung. nicht genügend Zeit zur Verfügung, um alle größeren
Die Brennstoffmoleküle werden zunächst oxidativ Partikel zu bilden. Die größeren Partikel entstehen
abgebaut. Dabei entsteht Ethin (Azetylen), das den auch noch nach Verlassen des Brennraumes.
Ausgangspunkt für die Bildung höherer Kohlenwas- Wie beschrieben entstehen Rußteilchen aus moleku-
serstoffe und Aromaten bildet. Letztere wachsen laren Prozessen (bis ca. 10 nm), die sich zu Primär-
planar durch einen H-Abstraktions-Ethin-Additions- partikeln (10 – 50 nm) vereinigen (Bild 5.2-14).
mechanismus (Bild 5.2-13). Das räumliche Wachs- Dieselpartikel im Sinne der Abgasgesetzgebung sind
tum erfolgt durch die Zusammenlagerung größerer Abgasbestandteile, die auf einem Filter gesammelt
polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe. werden. Am Rußkern werden organisch lösliche un-
Das Volumen der entstehenden Aggregate nimmt verbrannte Kohlenwasserstoffe, Sulfate, Metalloxide
durch weitere Koagulation und durch Oberflächen- und andere Rückstände adsorbiert. Der Rußkern samt
wachstum zu. Für Letzteres wird oft ein Mechanis- der Anlagerungen wird als Partikel bezeichnet. Die
mus analog zum planaren Wachstum angeführt. Im Partikel aus der dieselmotorischen Verbrennung stel-
Weiteren wird die Entwicklung der Teilchengrößen len nur einen Teil der gesamten Partikelimmission
im Wesentlichen durch Koagulation der Rußteilchen dar (Bild 5.2-15). Der gesamte Straßenverkehr ist in
bestimmt. Die Oxidation ist der maßgebliche Prozess Deutschland mit ca. 20 % an den Feinstaubemissio-
für die letzte Phase der dieselmotorischen Verbren- nen beteiligt (UBA/TU Wien).
nung, in der die gebildeten Rußteilchen durch die Partikelemissionen von Dieselmotoren können ge-
mindert werden durch:
H • Verbesserung der innermotorischen Verbrennung,
C
C • Verbesserung der Kraftstoffqualität,
+ C2H2
+H
• Abgasnachbehandlung (z.B. Filterung).
– H2 –H

Tabelle 5.2-4 Typische Zeiten der Rußbildung


+ H – H2
• Dieselverbrennung:
H H – Nukleation 0.001 ms
C C
C C – Koagulation 0.05 ms
+ C2H2
– Kettenbildung einige ms
C CH – Kondensation einige ms
H
– Oxidation 4 ms
• Turbulenzlänge: 1 ms
+ H2 • laminare Flamme:
–H – vorgemischt Nukleation 2–3 ms
gesamter Bil-
Bild 5.2-13 H-Abstraktion-Ethin-Addition-Mechanis- dungsprozess 10 – 30 ms
mus für das planare Wachstum von polyzyklischen
aromatischen Kohlenwasserstoffen – Diffusion Oxidation > 10 ms > Bildung
230 5 Antriebe

Die kalifornische PKW-Gesetzgebung, die insbeson-

formation
(50 nm)
particle
dere auf die Verringerung der Ozon-Vorläufersubs-
tanzen hinzielt, geht noch einen Schritt weiter und
bewertet die Summe der NMHC nach ihrer Reaktivi-
tät. Als Kriterium für die Bewertung wird das so
genannte maximale Ozonbildungspotenzial der diffe-
reaction time

renzierten Kohlenwasserstoffe herangezogen. Der


molecular zone

bewertete summarische NMHC-Wert wird als Emis-


sion methanfreier organischer Gase (NMOG – non-
methane organic gases) für die Zertifizierung heran-
CO2 gezogen.
H2O Für alle anderen im Abgas von Verbrennungskraft-
CO maschinen vorkommenden Substanzen sind nach wie
H2
vor weder konkrete Emissionsgrenzwerte noch die
O2
anzuwendenden Verfahren zur Ermittlung der Emis-
fuel and oxidizing agent (premixed)
sionsdaten festgelegt. Alle diese Abgasbestandteile
können mit dem allgemeinem Begriff nicht limitierte
Bild 5.2-14 Reaktionsschema der Rußbildung
Abgaskomponenten umschrieben werden. Unter diese
Definition fallen auch diejenigen Komponenten, die
• Nicht limitierte Emissionen z.B. durch die gesetzlich vorgeschriebene Kraftstoff-
Gesetzlich sind die Abgasemissionen der Kohlenwas- zusammensetzung indirekt in ihrer Emissionshöhe
serstoffe (HC), des Kohlenmonoxids (CO), der Stick- begrenzt sind.
oxide (NOx) und der Partikel limitiert. Es handelt sich
dabei – mit Ausnahme des CO – um summarische 5.2.5 Die dieselmotorischen Verbren-
Messgrößen (siehe Kap. 2.2). nungsverfahren
Die differenzierte Zusammensetzung der Kohlenwas-
serstoffe wurde zum ersten Mal für Modelljahr 1994 Die Anforderungen an moderne Dieselmotoren hin-
in den USA mit einem Pkw-Grenzwert für Nicht- sichtlich Leistung, Kraftstoffverbrauch, Abgas- und
Methan-Kohlenwasserstoffe (NMHC) berücksichtigt. Geräuschemissionen werden immer höher. Beim Pkw
Es wurde dabei der Sonderstellung von Methan, das steht wegen der hohen Motordrehzahl nur ein sehr
luftchemisch wenig reaktiv und nicht toxisch ist, kurzer Zeitraum für den Verbrennungsablauf zur Ver-
Rechnung getragen. Neben der methanfreien Koh- fügung. Die Voraussetzung, um diese Anforderungen
lenwasserstoffmessung wurde für die sogenannten zu erfüllen, ist eine gute Gemischaufbereitung. Dazu
Clean Fuel Vehicles ein Formaldehyd-Grenzwert ein- benötigen die Motoren leistungsfähige Einspritzsys-
geführt. teme, die hohe Einspritzdrücke für eine sehr feine

[μm] 0,0001 0,001 0,01 0,1 1 10 100 1000 10000

Technische Rauch Staub


Definitionen Dunst Spray
KFZ-Abgas

Harz Rauch Dünger, Kalkstein


Öl-
Rauch Flugasche
Tabak-
Rauch Kohlenstaub
Typische Zement-
Ruß Staub
Partikel
Metallurgische Stäube
Insekten
Gift Pollen
Keime aus Mineral-
Verbrennung Pflanzensporen
Staub
Meer-
H 2 O 2 CO 2 SO 2 Salz Mehl
Moleküle Viren Bakterien

[nm ] 0,1 1 10 100 1000 104 105 106 107

Bild 5.2-15 Quellen und Größenordnungen der Partikel in der Atmosphäre [9]. Feinstaub bedeutet Partikel
<10 μm
5.2 Dieselmotor 231

dergrund. Statt den Kraftstoff mittels eingeblasener


Luft zu vermischen, wurde dann versucht, die Ver-
brennungsluft auf andere Weise zu verwirbeln, sodass
ein zündfähiges Gemisch entstand.
Beim Vorkammerverfahren (Bild 5.2-16a) wird der
a) b) c) d)
Kraftstoff mit einer Schrägflächenzapfendüse unter
relativ niedrigem Druck in eine konzentrisch zur
Bild 5.2-16 Diesel-Verbrennungsverfahren Zylinderachse angeordnete, rotationssymmetrische
a) Vorkammer Vorkammer eingespritzt, in der eine Vorverbrennung
b) Wirbelkammer beginnt. Die Vorkammer hat einen Volumenanteil
c) Direkteinspritzer von ca. 40 % des Kompressionsvolumens. Durch die
d) MAN-M-Verfahren Vorverbrennung wird der Druck in der Vorkammer
so stark gesteigert, dass die nur teilweise verbrannte
Kraftstoffzerstäubung erzeugen und den Einspritzbe- Ladung mit hoher Geschwindigkeit durch den
ginn und die Einspritzmenge präzise steuern, sowie Schusskanal in den Hauptbrennraum strömt.
eine geeignete Brennraumgestaltung. Zwar finden die Ein in der Kammermitte angeordneter Prallkörper
klassischen Systeme der dieselmotorischen Verbren- zerteilt den hier auftreffenden Strahl und vermischt
nung nach dem Prinzip der indirekten (Bild 5.2- ihn intensiv mit Luft. Er dient außerdem dazu, der
16a + b) und der direkten (Bild 5.2-16c + d) Ein- Luft, die beim Verdichten aus dem Zylinder in die
spritzung Verwendung, doch weisen Pkw-Motoren Vorkammer strömt, einen mäßigen Drall zu geben.
eigenständige Merkmale auf. Durch den relativ sanften Druckanstieg ist das Vor-
Die Entwicklung des Dieselmotors hat prinzipiell zu kammerverfahren prinzipiell interessant für den Pkw.
zwei Ausführungsformen, die auch schon von Rudolf
5.2.5.3 Wirbelkammerverfahren
Diesel vorgeschlagen wurden, geführt.
Das Wirbelkammerverfahren (Bild 5.2-16b) ist wie
5.2.5.1 Ausführungsformen das Vorkammerverfahren ein Dieselverfahren mit
• Dieselmotor mit unterteiltem Brennraum unterteiltem Brennraum. Noch vor wenigen Jahren
Beim Vorkammer-Dieselmotor (Bild 5.2-16a) wird wurde es bei Pkw-Dieselmotoren am häufigsten an-
der Kraftstoff in eine mit dem Arbeitszylinder über gewandt. Seine Vorzüge lagen in den erzielbaren
eine oder mehrere verhältnismäßig enge Öffnungen in hohen Betriebsdrehzahlen bis 5.000 min–1, im relativ
Verbindung stehende Kammer (Vorkammer) einge- günstigen Emissionsverhalten und in dem für die Ge-
spritzt. Eine gerichtete Luftbewegung in der Vor- räuschemissionen bedeutsamen geringen Druckstei-
kammer ist nicht erforderlich. Der Wirbelkammer- gerungsverhältnis.
Dieselmotor (Bild 5.2-16b) ist ein Motor mit unter- Die Kraftstoffeinspritzung erfolgt mit einer Drossel-
teiltem Verbrennungsraum, bei dem der Kraftstoff in zapfendüse bei relativ niedrigem Druck in die kugel-
eine mit dem Arbeitszylinder durch eine verhältnis- förmig ausgeführte Kammer. Die Lage der Düse wird
mäßig weite Öffnung in Verbindung stehende Kam- so gewählt, dass der Kraftstoffstrahl den während des
mer eingespritzt wird. Beim Verdichtungstakt wird Verdichtungshubs gebildeten Wirbel senkrecht zu
eine gerichtete Luftbewegung in der Vorkammer seiner Achse durchdringt und auf der gegenüberlie-
erzeugt. genden Kammerseite in einer heißen Wandzone auf-
trifft. Um eine vollständige Gemischaufbereitung in
• Dieselmotor mit direkter Einspritzung der Wirbelkammer bei allen Drehzahlen und Lastzu-
Ein Dieselmotor, bei dem der flüssige Kraftstoff ständen zu erreichen, müssen Gestaltung und Anord-
direkt in den Hauptbrennraum (eine Vorkammer gibt nung von Wirbelkammer und Düse wie auch die Lage
es nicht) eingespritzt wird, wird als Dieseldirektein- der Glühkerze sorgfältig aufeinander abgestimmt
spritzer bezeichnet (Bild 5.2-16c). werden. Nach heutigem Kenntnis- und Erfahrungs-
Eine besondere Ausbildung des Verbrennungsraumes stand beträgt der optimale Kammeranteil ca. 50 %
findet man beim MAN-M-Verfahren (Bild 5.2-16d). des Kompressionsvolumens, wobei Veränderungen
Der in den kugelförmigen Brennraum eingespritzte im Wirbelkammervolumen gegenläufige Effekte bei
Kraftstoff wird nur zu ca. 5 % fein zerstäubt und NOx-Emission und Geräusch einerseits sowie bei HC-,
95 % treffen als Strahl auf die Brennraumwand. CO- und Partikelemission andererseits bewirken.
Der im Kolben angeordnete Hauptbrennraum ist flach
5.2.5.2 Vorkammerverfahren oder brillenförmig. Die eng begrenzt auf den Kolben-
Der Umweg über die Lufteinblasung des Kraftstoffs boden auftreffenden Verbrennungsgase sorgen für
verhalf dem Dieselmotor zu Beginn seiner Entwick- eine hohe thermische Belastung des Kolbens.
lung zu wachsender Popularität. Gleichzeitig traten Mit diesem Wirbelkammerverfahren wird ein effekti-
aber auch die Nachteile dieses umständlichen, wenig ver Wirkungsgrad von ca. 36 % erreicht. Für den
ökonomischen Verfahrens immer mehr in den Vor- praktischen Fahrbetrieb sind die häufig vorkommen-
232 5 Antriebe

den Fahrzustände im Teillastbereich für den Kraft- • eine Mehrlochdüse zur räumlich gleichmäßigen
stoffverbrauch entscheidend. Innerhalb eines großen Verteilung des Kraftstoffes auf die Luft im Brenn-
Lastbereiches ist der Kraftstoffverbrauch der Wirbel- raum,
kammermotoren ungewohnt niedrig. • eine gezielte, während des Ansaugungs- und Ver-
dichtungstaktes erzeugte Luftbewegung (Drall)
5.2.5.4 Direkte Einspritzung zur Unterstützung der Gemischaufbereitung,
Das Direkteinspritzverfahren (Bild 5.2-16c) wurde • eine tiefe Mulde im Kolben als Brennraum sowie
ursprünglich bei Stationär- und Nutzfahrzeugmotoren • eine in den Brennraum hineinragende Glühkerze
aller Größen angewandt. Seit 1988 hat es auch in der als Starthilfe.
Pkw-Dieseltechnik Einzug gehalten (Tabelle 5.2-1). Heutige Motoren mit Direkteinspritzverfahren haben
Heute hat der direkteinspritzende Dieselmotor die eine Nenndrehzahl bis 5.500 min–1. Ihr effektiver
Konzepte mit geteiltem Brennraum verdrängt. Wirkungsgrad weist im Bestpunkt einen Wert von
Die DI-Motoren tragen den Forderungen nach Pkw 43 % auf. Mit zusätzlichem Technikaufwand wie
mit geringem Kraftstoffverbrauch Rechnung. Direkt- • Hochdruckeinspritzausrüstung,
einspritzer sind aufgrund ihrer geringen Wärmever- • geregelte und gekühlte Abgasrückführung,
luste die wirtschaftlichsten Dieselmotoren. Sie über- • Oxidationskatalysator und
treffen auch jede andere Verbrennungskraftmaschine. • weiterer Abgasnachbehandlung für NOx und Par-
Um den günstigsten thermodynamischen Wirkungs- tikel
grad zu erzielen, sind hohe Anforderungen an die lassen sich Abgasemission und Verbrennungsge-
Kraftstoff- und Luftzuführung bei diesem Verbren- räusch auf ein geringes Niveau bringen. Das Weiter-
nungsverfahren gestellt. Sie müssen so erfüllt werden, entwicklungspotenzial bzgl. der motorischen Verbes-
dass die in einer kurzen zeitlichen Folge ablaufenden serungen ist noch keineswegs ausgeschöpft, z.B.
Einzelvorgänge wie Kraftstoffzerstäubung, -erwär- durch Einsatz der Vierventiltechnik.
mung, -verdampfung und -vermischung mit der Luft Bei der Vierventiltechnik (Bild 5.2-17) werden die
rechtzeitig zum Abschluss kommen. Um diese Auf- beiden Einlasskanäle meist unterschiedlich ausgelegt.
gabe bewältigen zu können, benötigt man Ein Kanal ist spiralförmig ausgebildet und erzeugt bei
• hohe Einspritzdrücke über 2.000 bar zur Verwirk- Teillast einen großen Drall. Der andere Kanal hat
lichung kurzer Einspritzdauern, eine Form, die eine starke Tangentialströmung be-
• eine hohe Zerstäubungsgüte durch kleinen Spritz- wirkt. Es besteht dabei die Möglichkeit, abhängig
lochdurchmesser unter 0,12 mm zur besseren Zer- vom Betriebspunkt, einen Einlasskanal abzuschalten,
stäubung und damit Mischung des Kraftstoffes mit was eine höhere Luftströmung und damit Absenkung
der Luft, der Rauchwerte bedeutet.

Bild 5.2-17 Vierventiltechnik:


Mittiger Brennraum mit
Einlass- und Auslasskanälen
und zentraler Anordnung
des Injektors
5.2 Dieselmotor 233

Das Verbrennungsgeräusch, das bei Beschleunigun- 5.2.5.5 Qualitative Bewertung von Verbrennungs-
gen durch den harten Gang der Verbrennung deutlich verfahren
wahrnehmbar ist, lässt sich dadurch weitgehend
mildern, dass ein kleiner Teil der Kraftstoffmasse vor Aufgrund der Unterschiede in den Brennraumgeo-
der Haupteinspritzung fein zerstäubt in den Brenn- metrien, der Einspritzung und der Gemischbildung
raum vorgelagert wird. sowie der Lastanpassung stellen sich verschiedene
Ein Verbesserungspotenzial besteht auch in der Ge- Verbrennungsabläufe ein (Tabelle 5.2-5).
staltung des Einlasskanals zur Drallerzeugung. Da der Beim Vergleich der Dieselmotoren mit direkter bzw.
Intensitätsbedarf der Drehbewegung der Frischladung indirekter Einspritzung überzeugt der Direkteinsprit-
in Abhängigkeit der Motorendrehzahl unterschiedlich zer durch einen bis zu 15 % geringeren Kraftstoff-
ist, wird einem Einlasskanal mit variablem Drall Be- verbrauch. Dies folgt aus dem höheren Gleichraum-
deutung beigemessen. anteil (Kap. 5.2.4.3), den geringeren Wärmeverlusten
Nach einem ganz anderen Prinzip arbeitet das von und dem Entfall der Strömungsverluste zwischen
MAN in Augsburg entwickelte M-Verfahren (Bild Neben- und Hauptbrennraum.
5.2-16d). Hierbei soll nur ein möglichst kleiner Teil Nebenkammer-Dieselmotoren weisen andere Vorzü-
des eingespritzten Kraftstoffes sich von selbst ent- ge auf. Der kürzere Zündverzug sowie die gestufte
zünden. Die größere Menge (95 %) sollte auf die Verbrennung mindern das Verbrennungsgeräusch, den
Brennraumwand gespritzt werden. Ausstoß limitierter Schadstoffe im Abgas sowie die
Die Verbrennung wird mit der Selbstzündung des Geruchsstoffemissionen.
luftverteilten Kraftstoffes eingeleitet, der mit der Im Vergleich zum Ottomotor bietet der Diesel deut-
heißen, im Brennraum rotierenden Luft den Kraftstoff liche Vorteile im spezifischen Kraftstoffverbrauch,
in Schichten von der Brennraumwand ablöst und insbesondere bei Teillast, sowie bezüglich der Roh-
sozusagen fremd zündet. emission von CO, HC und beim Einsatz von AGR
Die weiche, lange hinausgezögerte Verbrennung führt auch das NOx. Der bessere Wirkungsgrad resultiert
zu einer geringen Ruß- und Geräuschemission. aus der höheren Verdichtung, dem vor allem bei
Leichtsiedende Kraftstoffe mit schlechten Selbstzün- Teillast herrschenden hohen Luftüberschuss und dem
dungseigenschaften können eingesetzt werden (Viel- Verzicht auf Drosselung der angesaugten Luft. Die
stoff-Motoren). relativ geringe dieselmotorische Rohemission von
Die starke Verwirbelung im Brennraum führt zu im Schadstoffen ist auf das hohe Luftverhältnis (CO,
Vergleich mit anderen Direkteinspritzern größeren NOx) und die infolgedessen niedrigere Spitzentempe-
Strömungsverlusten, was sich in Verbrauchsnach- ratur der Verbrennung (NOx), aber auch den Weg-
teilen ausdrückt. Zudem sind die Kolben thermisch fall der Kraftstoffkondensation während des Ansau-
hoch belastet. gens von Ladung, Zündaussetzer und starken zykli-
Im Pkw findet das M-Verfahren keine Anwendung. schen Schwankungen im Verbrennungsablauf sowie

Tabelle 5.2-5 Qualitative Bewertung verschiedener Verbrennungsverfahren am Beispiel von Fahrzeugmotoren


Eigenschaft Art des Verbrennungsverfahrens Ottomotor
(homogenes
Dieselmotor mit
Gemisch)
Vorkammer Wirbelkammer Direkteinspr.
spez. Drehmoment Bezugswerte – ++ 0
spez. Kraftstoffverbrauch – +++ ––
Kohlenmonoxid 0 + +
Rohemissionen
Schadstoffe

Kohlenwasserstoffe 0 + +
Stickstoffoxide 0 – ++
Rußpartikel + +++ (mit DPF) +++
Verbrennungsgeräusch – + ++
Abgasgeruch – 0 ++
0 etwa gleichwertig + + + geringfügig besser ––– geringfügig schlechter
+ + + besser ––– schlechter
+ + + deutlich besser ––– deutlich schlechter
234 5 Antriebe

Flammlöscheffekte in engen Spalten des Brennraums ist eine Vorausberechnung der Verbrennung aus dem
(HC) zurückzuführen. Einspritzverlauf möglich.
Der Ottomotor hat gegenüber dem Dieselmotor Die Grundlage der Berechnung der innermotorischen
Vorteile bei spezifischer Leistung, Verbrennungsge- Prozesse mit dreidimensionalen Modellen sind die
räusch und Partikelausstoß sowie bessere Vorausset- Erhaltungsgleichungen für den Impuls, die Masse, die
zungen für eine Abgasnachbehandlung. Durch Ein- Stoffe, die Enthalpie der turbulenten Energie und die
satz der direkteinspritzenden Technik bei Ottomoto- Dissipation. Die Modellierung des Kraftstoffstrahles
ren wird der Dieselvorteil geringer. beginnt schon bei den Vorgängen im Düsenloch, da
Insgesamt bleibt festzustellen, dass Dieselmotoren die Kavitation in der Düse eine wichtige Rolle für die
infolge ihres geringen und von keiner anderen Ver- Strahleinschnürung und damit Strahlaustrittsge-
brennungskraftmaschine erreichten Kraftstoffver- schwindigkeit spielt. Für die Simulation des Kraft-
brauchs ganz wesentlich zur Schonung der Erdölvor- stoffstrahls hat sich das Modell der „diskreten Trop-
räte sowie zur Verringerung des Treibhauseffektes fen“ etabliert. Dabei wird der Einspritzstrahl durch
beitragen. Hinsichtlich der Abgas- und Geräusch- statistische Tropfenpakete approximiert, die jeweils
emission existiert infolge der inneren Gemischbil- eine Gruppe von Tropfen gleicher thermodynami-
dung ein daraus resultierender thermodynamischer scher Eigenschaften und Zustände repräsentieren.
Zielkonflikt, der trotz aller Bemühungen durch inner- Erst durch diese Vereinfachung wird der Einspritz-
motorische Maßnahmen allein ohne Abgasnachbe- vorgang berechenbar. Die Tropfenpakete durchlaufen
handlung nicht lösbar zu sein scheint. alle physikalischen Prozesse, die die Tropfen auch im
Motor durchlaufen.
5.2.5.6 Simulation der Zerstäubungsmodelle beschreiben das Abscheren der
dieselmotorischen Verbrennung Primärtropfen vom optisch dichten flüssigen Strahl-
Die einfachsten Berechnungsmodelle für die instatio- kern nach dem Austreten des Strahls aus dem Düsen-
nären diffusions-kontrollierten Verbrennungsprozesse loch. „Break-up“-Modelle behandeln das Aufbrechen
bei der Dieselverbrennung sind nulldimensionale Ein- der Primärtropfen in kleine Sekundärtröpfchen. Wei-
Zonen-Modelle. Der Brennraum wird dabei mit dem tere Modelle liefern Informationen über die Wech-
thermodynamischen Modell einer idealen Mischung selwirkungen (Tropfen-Tropfen, Tropfen-Gasphase,
beschrieben. Es existiert keine räumliche Auflösung Tropfen-Brennraumwand). Sobald Kraftstoff ver-
von Druck, Temperatur und Zusammensetzung. Aus- dampft ist und sich der gasförmige Kraftstoff mit dem
sagen über Schadstoffbildung sind nicht möglich. Oxidator mischt, beginnen die Reaktionen des Selbst-
Beim Mehr-Zonen-Modell wird das nulldimensionale zündungsprozesses. Die Zündung wird lokal (in jeder
Modell für jede Zone getrennt berechnet. Damit kön- Gitterzelle) über eine reduzierte chemische Kinetik
nen die zeitlichen Verläufe von Temperatur und Zu- berechnet, die in Abhängigkeit von den Ausgangs-
sammensetzung für jede Zone bestimmt werden. konzentrationen des Oxidators, des Kraftstoffes, der
Anstatt die Wärmefreisetzung wie bei den nulldimen- Radikale und der lokalen Gastemperatur den Reak-
sionalen Modellen mithilfe von experimentell ermit- tionsfortschritt bestimmt. Sobald die Zündung erfolgt
telten Ersatzbrennverläufen vorzugeben, gelangt man ist, wird der weitere Reaktionsablauf durch ein einfa-
durch Modellierung der Strahlausbreitung, Ver- cheres Verbrennungsmodell simuliert.
dampfung, Gemischbildung (Bild 5.2-18), Zündung Die Stickoxidbildung bei Verbrennungsprozessen
und Verbrennung zu den quasidimensionalen oder entsteht auf drei Wegen: Neben der thermischen
phänomenologischen Mehr-Zonen-Modellen. Damit NO-Bildung kann es in der Flammenfront bei lokalen
Temperaturen bis zu 2800 K zur schnellen Bildung
von Prompt-NO kommen. Zusätzlich kann im Brenn-
stoff enthaltener Stickstoff zu NO oxidiert werden.
Im Dieselmotor entstehen etwa 90÷95 % der Stick-
oxide über das thermische NO, 5÷10 % über Prompt-
NO und weniger als 1 % über Brennstoff-NO. Die
Modellierung des thermischen NO, das bei Tempera-
turen über 2.000 K gebildet wird, lässt sich mit dem
Zeldovich-Mechanismus beschreiben:
N2 + O ↔ NO + N2
O2 + N ↔ NO + O2
OH + N ↔ NO + H
Isosurface of swirl 1.5 m/s
DCA =^ Degree Crank Angle 605 Die wesentlichen Einflussgrößen sind: lokales Tem-
peraturfeld, lokales Mischungsfeld und lokales Strö-
Bild 5.2-18 Simulation der Einlassströmung: Dar- mungsfeld (Verweilzeit des betrachteten Massenele-
stellung der Drallachse ments im betrachteten Volumenelement).
5.2 Dieselmotor 235

Der detallierte Mechanismus der Rußbildung ist noch herrschen. Dafür treten aber beträchtlich höhere Ver-
nicht vollständig geklärt. Deshalb werden zur Simula- brennungsdrücke und höhere Temperaturen auf. So
tion der Rußbildung halbempirische Modelle einge- müssen die Bauteile, die an der Übertragung wesent-
setzt, die abhängig von dem verdampften Kraftstoff, lich beteiligt sind (Kolbenbolzen, Pleuel, Kurbel-
dem Oxidator, dem Druckfeld und dem Temperatur- zapfen und die Lager), entsprechend kräftig ausgelegt
feld sind. Der heutige Stand der Modellierung ist und der erhöhte Wärmeanfall abgeleitet werden.
noch unbefriedigend. Der Kolben (Bild 5.2-20) ist also für die höheren
Eine hinreichend exakte Modellierung der dieselmo- Temperaturen und Drücke auszulegen. An die Kol-
torischen Gemischbildung, Verbrennung und Emissi- benringe werden hohe Anforderungen bzgl. der
onsbildung ist heute noch nicht möglich, da wichtige Abdichtung zwischen Brennraum und Kurbelgehäuse
Teilprozesse nicht hinreichend detailliert verstanden gestellt. Außerdem müssen die Ölabstreifringe den
beziehungsweise modelliert sind. Daher sind die Schmierölverbrauch kontrollieren. Der Feuersteg, das
phänomenologischen Modelle weiterhin von Bedeu- Zwischenstück zwischen dem Kolbenboden und dem
tung. Doch langfristig haben die CRFD-Codes (com- ersten Kolbenring, ist besonders sorgfältig auszubil-
putational reactive fluid dynamics) das größere Po- den, damit ein Koksaufbau in den Ringnuten verhin-
tenzial. dert wird. Das Verkoken des Schmieröls kann zum
Festbacken der Kolbenringe führen. Um dies zu ver-
5.2.6 Konstruktive und funktionale hindern, kommt den Kolbenringen auch die Aufgabe
Merkmale des Dieselmotors zu, die Abwärme möglichst schnell an den Zylinder
und damit an das Kühlwasser abzuführen.
5.2.6.1 Zylinderkopf und Zylinderkurbelgehäuse
Typisch für den Dieselmotor sind die im Vergleich
Im Triebwerk (Bild 5.2-19) werden die bei der Ver- zum Ottomotor längeren Hübe. Bei dem viel geringe-
brennung frei werdenden Kräfte in nutzbares Dreh- ren Kompressionsvolumen über dem Kolben (etwa
moment umgesetzt. Die wesentlichen Elemente sind 1/3 des Ottomotors) gehen Schwankungen in den
Kolben, Pleuel und Kurbelwelle. Im Gegensatz zum Abmessungen der Triebwerkbauteile stärker ein, d.h.
Ottomotor, der mit Drehzahlen bis zu 7.000 min–1 und sie beeinflussen stark das Verdichtungsverhältnis.
mehr betrieben werden kann, muss der Kurbeltrieb Dies verschärft die Forderung enger Fertigungstole-
eines Dieselmotors heute nur maximal 5.500 min–1 be- ranzen beim Dieselmotor.

Bild 5.2-19 Zylinderkopf


und Zylinderkurbelgehäuse
des VW 1,6 l Dieselmotors
236 5 Antriebe

Serienstand

Bild 5.2-20 Weiterent-


wicklung eines Kolbens
(VW 1,6l, 4 Zylinder,
CR-Einspritzung): An die
Weiterentwicklung höheren Einspritzdrücke
angepasste Mulde

Weiterhin spricht für langhubige Motoren mit kleiner Des Weiteren ist in einem Dieselzylinderkopf noch
Bohrung, dass die zwangsläufig kleinere Oberfläche Einbauraum für die Einspritzdüsen und die Kaltstart-
des Brennraums die Wärmeverluste verringert und glühkerzen bereitzustellen.
eine Annäherung an das optimale Verdichtungsver-
5.2.6.2 Einspritzsysteme
hältnis ermöglicht. Langhuber gewährleisten einen
einwandfreien Kaltstart und Leerlauf schon bei nied- • Anforderungen und Prinzip
rigerer Verdichtung als Kurzhuber, deren Verdich- Die Voraussetzung für eine effiziente Verbrennung
tung zu diesem Zweck unökonomisch erhöht werden ist eine gute Gemischbildung. Dabei spielt das Ein-
muss. spritzsystem eine zentrale Rolle. Der Kraftstoff muss
Die Unterschiede zum Zylinderkopf eines Ottomo- in der richtigen Menge, zum richtigen Zeitpunkt und
tors sind vielfältig. Bei Vor- und Wirbelkammermo- mit einem hohen Druck eingespritzt werden. Schon
toren sind Brennräume im Zylinderkopf unterge- bei geringfügigen Abweichungen sind ansteigende
bracht. Dadurch entstehen außerordentlich hohe ther- Schadstoffemissionen, laute Verbrennungsgeräusche
mische Belastungen (Temperaturen bis zu 900 °C), oder hoher Kraftstoffverbrauch die Folge. Wichtig für
die besonders hohe Anforderungen an die Konstruk- den Verbrennungsablauf eines Dieselmotors ist ein
tion des Zylinderkopfes (Bild 5.2-21) stellen. Durch geringer Zündverzug. Der Zündverzug ist die Zeit
die Anordnung der Brennkammern können ungleiche zwischen Einspritzbeginn und dem Beginn des
Wärmedehnungen und als Folge ein Verziehen des Druckanstieges im Brennraum. Wird während dieser
Zylinderkopfes auftreten. Außerdem ist das Heran- Zeit eine große Kraftstoffmenge eingespritzt, führt
führen des Kühlwassers an die Brennkammern kon- dies zu einem schlagartigen Druckanstieg und da-
struktiv anspruchsvoll. durch zu lauten Verbrennungsgeräuschen.

Bild 5.2-21 Zylinderkopf


eines Dieselmotors
(VW 1,6l, 4 Zylinder,
CR-Einspritzung)
5.2 Dieselmotor 237

schnell schließt. Dadurch wird verhindert, dass Kraft-


Einspritzrate stoff mit geringem Einspritzdruck und großem Trop-
4 fendurchmesser in den Brennraum gelangt. Er ver-
brennt nur noch unvollständig und führt dadurch zu
3 erhöhten Schadstoffemissionen.
Die heutigen Einspritzanlagen sollen wegen der Ab-
gasnachbehandlung (zum Beispiel aktive Regene-
5 ration des Partikelfilters) auch Nacheinspritzungen
1 2
ermöglichen [5].
Die Einspritzanlage hat die Aufgabe, den Kraftstoff
Zeit vom Tank zum Motor zu fördern und unter hohem
Druck zeitgerecht, wie hier beschrieben, in den
Bild 5.2-22 Optimierte Einspritzverlaufsformung bei
Brennraum zu fördern. Sie besteht prinzipiell aus den
Einspritzsystemen für hohe Drücke
Elementen Vorförderpumpe mit Kraftstofffilter, Ein-
1, 2 Voreinspritzungen
spritzpumpe zur Hochdruckerzeugung, Einspritzdü-
3 Haupteinspritzung
sen (oder Einspritzventilen) und der Einspritzleitung
4, 5 Nacheinspritzungen
zur Verbindung von Pumpe und Düse. Exemplarisch
sind die Ausführungsformen Verteilereinspritzpumpe,
Um einen möglichst sanften Verbrennungsablauf zu
Pumpe-Düse-Element und Common-Rail-System in
erreichen, wird vor Beginn der Haupteinspritzung
Bild 5.2-23 dargestellt.
eine kleine Kraftstoffmenge mit geringem Druck ein-
gespritzt (Bild 5.2-22). Diese Einspritzung wird als • Verteilereinspritzpumpe
Voreinspritzung bezeichnet. Durch die Verbrennung
Für kleine, schnelllaufende Dieselmotoren wurde die
dieser kleinen Kraftstoffmenge steigen Druck und Verteilereinspritzpumpe (VE-Pumpe) [6], entwickelt.
Temperatur im Brennraum. Mit dieser kompakten Pumpe steht eine anpassungs-
Dies schafft die Voraussetzung für eine schnelle fähige, leistungsstarke Einspritzanlage mit geringem
Zündung der Haupteinspritzmenge und verringert da- Gewicht und geringem Einbauvolumen zur Verfü-
durch den Zündverzug der Hauptmenge. Die Vorein- gung. Die Zylinderzahl ist in der Regel auf 6 be-
spritzung und eine „Spritzpause“ zwischen Vor- und grenzt.
Haupteinspritzung bewirken, dass die Druckanstiege Üblicherweise besteht die VE-Pumpe aus folgenden
im Brennraum nicht schlagartig auftreten, sondern die Baugruppen:
Drücke moderat zunehmen. Die Folge sind geringe
Verbrennungsgeräusche und weniger Stickoxid-Emis- • Hochdruckpumpe mit Verteiler
sionen. • Drehzahl/Mengen-Regler
Bei der Haupteinspritzung kommt es auf eine gute • Spritzversteller
Gemischbildung an, damit der Kraftstoff möglichst • Niederdruck-Förderpumpe
vollständig verbrennt. Durch einen hohen Einspritz- • Elektrische Abstellvorrichtung
druck wird der Kraftstoff sehr fein zerstäubt, sodass • Aufschaltgruppen für verschiedene Funktionen.
sich Kraftstoff und Luft gut miteinander vermischen Es gibt zwei Arbeitsweisen: Axialkolbenpumpen und
können. Eine vollständige Verbrennung führt zur Radialkolbenpumpen. Bei den Axialkolbenpumpen
Reduzierung der Schadstoffemissionen und hoher wird die Drehbewegung der Antriebswelle in eine
Leistungsausbeute. Dreh- und Hubbewegung des Verteilerkolbens über-
Am Ende der Einspritzung ist es wichtig, dass der setzt. Die Hubbewegung sorgt für die Druckerzeu-
Einspritzdruck schnell abfällt und die Düsennadel gung und Mengenförderung, wobei die Drehbewe-

Bild 5.2-23 Ausführungs-


formen von Einspritzsyste-
men: Verteilereinspritz-
pumpe, Pumpe-Düse-
Element und Common-
Rail-System
238 5 Antriebe

gung die Verteilung des Kraftstoffes auf die einzelnen • Danach wird der Pumpenkolben von einer Feder
Motorzylinder bewirkt. Somit wird nur ein Kolben wieder in seine Ausgangsstellung zurückgescho-
benötigt, im Gegensatz zu den Radialkolbenpumpen, ben und das ebenfalls federbelastete Druckventil
bei denen jedem Motorzylinder oder einem Paar je ein verschließt die Einspritzleitung.
Kolben zugeordnet wird. Diese Bauart ist durch die Zu der Reihenpumpe [7] gehören ein Regler für die
Funktionstrennung von Hochdruckerzeugung durch die Mengenzumessung, eine Förderpumpe zur Vorförde-
Radialkolben und Verteilung durch die axial zugeord- rung des Kraftstoffes und ein Spritzversteller zur
nete Verteilerwelle gekennzeichnet. Die Schmierung drehzahlabhängigen Verstellung des Förderbeginns.
der Pumpe erfolgt mithilfe des Kraftstoffs. Die Schmierung von Einspritzpumpe und Drehzahl-
In der nächsten Generation der VE-Pumpen wurde regler wird durch Anschluss an den Motorschmieröl-
eine elektronische Regelung eingeführt. Damit wur- kreislauf gewährleistet.
den die verschiedenen, individuell ausgelegten Auf-
schaltgruppen überflüssig. Mithilfe von Sensoren und • Einspritzdüsen und Düsenhalter
im Steuergerät abgelegten Informationen und Kenn- Die Einspritzdüse nimmt beim Dieselmotor zweifel-
feldern werden Einspritzmenge und -beginn geregelt. los eine Schlüsselrolle ein. Sie zerstäubt und verteilt
Die neueste Generation der Verteilereinspritzpumpen den Kraftstoff im Brennraum des Dieselmotors und
arbeitet mit elektronischer Mengen- und Spritzbe- wirkt an der Formung des Einspritzverlaufs mit. So
ginnregelung und erzeugt in der Axialkolbenversion bestimmt sie mit, wie gründlich der von der Ein-
düsenseitige Drücke bis zu 1.400 bar. spritzpumpe bereitgestellte Kraftstoff verbrennt und
Neue magnetventilgesteuerte Radialkolbenpumpen folglich auch wie wirkungsvoll die Energie im Kraft-
erreichen düsenseitige Drücke bis etwa 1.600 bar mit stoff ausgenutzt wird. Diese Aufgabe ist keineswegs
einem Potenzial von über 1.800 bar. Der Kraftstoff einfach, vor allem wenn man bedenkt, dass die Düse
wird in dieser Pumpenversion über zwei bis vier pro Minute maximal bis zu 2.500mal öffnen und da-
Kolben komprimiert, bewegt durch einen sehr steifen bei den Kraftstoff mit Drücken bei Direkteinspritzern
Nockenring. Diese Pumpe ist bis zu maximal sechs bis zu 2.500 bar in den Brennraum verteilen muss.
Zylindern einsetzbar. Eine abgesetzte Voreinsprit- Grundsätzlich handelt es sich bei allen heute ge-
zung im unteren Drehzalbereich, die bisher nur durch bräuchlichen Diesel-Einspritzdüsen um hydraulisch
Einsatz eines Zweifeder-Düsenhalters erreicht wurde, gesteuerte Nadelventile. Sie bestehen aus einem Dü-
ist mithilfe des Magnetventiles möglich. Eine Nach- senhalter und einem Düsenkörper, in den eine feder-
einspritzung erlaubt dieses System aber nicht. Die belastete Düsennadel auf weniger als ein tausendstel
besonderen Vorteile liegen in einer Millimeter genau eingepasst ist. Die Düsennadel
• hohen Mengendynamik (Zylinder-individuelle verfügt in ihrem mittleren Teil über eine Druckschul-
Mengenzumessung), ter, auf die der Druck des durch den Düsenkörper
• hohen Genauigkeit, zulaufenden Kraftstoffs wirkt. Übersteigt die Druck-
• Förderratenbeeinflussung durch variablen Förder- kraft die Vorspannung der Druckfeder, wird die
beginn, Düsennadel angehoben und öffnet an ihrem unteren
• Voreinspritzung (abgesetzt nur bei niedrigen Dreh- Ende die Düsenöffnung zum Brennraum. Der an der
zahlen). Düsennadel vorbei nach oben entweichende Kraft-
stoff wird über einen Leckölanschluss am Düsenhal-
• Reihenpumpe
ter und eine gesonderte Kraftstoffleitung in den Tank
Ähnlich einem Reihenmotor ist für jeden Motorzylin- zurückgeführt. Entscheidend für die Qualitäten einer
der ein eigenes Pumpenelement in einem gemeinsa- Einspritzdüse ist die Düsenöffnung.
men Gehäuse in Reihe angeordnet. Die Wirkungs- Man unterscheidet zwischen Zapfendüsen (Bild 5.2-
weise ist im Prinzip: 24a) und Lochdüsen (Bild 5.2-24b), wobei für die im
• Der von einer besonderen Förderpumpe aus dem Personenwagen eingesetzten Vor- und Wirbelkam-
Tank gesaugte Kraftstoff gelangt am unteren Tot- merdieselmotoren vor allem die Zapfen-Varianten
punkt des Pumpenkolbens durch seitliche Boh- geeignet sind. An ihrem Ende befindet sich ein Zap-
rungen in den Zylinder des Pumpenelements und fen, der in das Spritzloch hineinragt und für einen
wird komprimiert. vergleichsweise gebündelten Einspritzstrahl sorgt.
• Die Fördermenge wird durch Einstellung des Eine Zapfendüse mit besonderen Zapfenabmessungen
Nutzhubes bewirkt. ist die Drosselzapfendüse. Über die Form des Zapfens
• Der von der Nockenwelle angetriebene Kolben kann dabei der Einspritzstrahl den Erfordernissen des
befördert dann den Kraftstoff durch ein Druckven- Motors angepasst werden. Der Spritzquerschnitt wird
til am oberen Ende des Pumpenzylinders in die bei kleinem Nadelhub (also zu Beginn der Einsprit-
Druckleitung zum Motor. zung) verkleinert. Der so erzeugte Einspritzverlauf
• Dort gelangt der Kraftstoff durch die Einspritzdü- (Vorstrahleffekt) verlangsamt den Verbrennungs-
se in Form eines fein zerstäubten Strahls in den druckanstieg und mindert das Verbrennungsge-
Brennraum. räusch.
5.2 Dieselmotor 239

a) Düse Körper Nadel geringe Kohlenwasserstoffemission ist es wichtig,


dass das vom Kraftstoff ausgefüllte Volumen zwi-
Ringnut Druckzapfen
schen Sitzkante und brennraumseitiger Düsenmün-
dung möglichst klein gehalten wird. Dafür verwendet
Nadelschaft man Sitzlochdüsen, bei denen die Düsennadel die
Zulaufbohrung
Düsenlöcher im geschlossenen Zustand abdeckt.
Düsennadel Druckschulter Bei den Optimierungen der Gestalt und der Anord-
nung der Düsenlöcher kommt es heute auf höchste
Druckkammer Spritzzapfen Präzision an. Diese Strömungsverhältnisse und
Druckverteilungen werden mit dreidimensionalen
Düse Körper Nadel
b) Strömungsberechnungen untersucht (Bilder 5.2-25
und 5.2-26). Für die Düsengeometrie sind besonders
Ringnut Druckzapfen
wichtig: Zahl der Löcher, Einlaufform in diese
(scharfkantig oder gerundet) und Verhältnis von
Düsenkörper
Nadelschaft Lochdurchmesser zu Länge. Durch neue Bearbei-
tungsmethoden (z.B. durch das hydroerosive Runden)
Zulaufbohrung
der Düsen wird der Durchfluss durch das Loch er-
Druckschulter
Düsennadel höht, die Toleranz in Bezug auf den Durchfluss
eingeengt und der abrasive Verschleiß der Spritzloch-
Druckkammer Lochwinkel Spritzloch Nadelsitzfläche einlaufkante vorweggenommen. Wird der Einlauf in

Bild 5.2-24 a) Zapfendüsen für Vor- und Wirbelkam-


mermotoren; b) Lochdüsen für Dieseldirekteinspritzer

Lochdüsen eignen sich dagegen hauptsächlich für


Dieselmotoren mit direkter Einspritzung. Der einge-
spritzte Kraftstoffstrahl ist hier breiter gefächert als
bei einer Zapfendüse, was für eine feine Zerstäubung
und eine gründliche Vermischung mit der Verbren-
nungsluft sorgt – eine Aufgabe, die beim Vor- und
Wirbelkammermotor die stärkere Verwirbelung der
Luft übernimmt. Die Einspritzöffnungen sind bei der
Lochdüse an einem Kegel untergebracht, der sich am #5 #1
unteren Ende der Düse befindet. Man unterscheidet
zwischen Einloch- und Mehrlochdüsen, wobei die #4
Letzteren in den meisten Serienanwendungen über #2
5 bis 8 Löcher verfügen. Zukünftige Entwicklungen #3
werden aufgrund verbesserter Fertigungsverfahren
deutlich mehr Löcher haben. Heute können Loch- Bild 5.2-25 3-D-FEM-Modell zur Untersuchung der
durchmesser <0,12 mm hergestellt werden. Für eine Strömungsverhältnisse in der Düsenspitze

Verbesserung der Gemischbildung

Hohe Geschwindigkeit
Kavitation wahrscheinlich

k=0 k = 1,5 ks

Beschleunigung im Düsenloch

Geschwindigkeit Bild 5.2-26 Optimierung


der Strömungsverhältnisse
Min Max
in Düsenlöchern
240 5 Antriebe

das Düsenloch gerundet, so erhöht sich die Einspritz- ler(Reihen)einspritzpumpe und es entsteht ein deut-
energie und damit Kraftstoffaufbereitungsqualität. lich kleineres zu verdichtendes Hochdruckvolumen.
Die Düse sitzt im Düsenhalter, der zum Einbau der Genau wie eine Verteiler(Reihen)einspritzpumpe mit
Düse in den Motorzylinderkopf dient, und bildet mit Einspritzdüsen hat das Pumpe-Düse-Einspritzsystem
ihm die Düsenhalterkombination. Düsenhalter enthal- folgende Aufgaben:
ten im Allgemeinen eine Düsenfeder und eine Hub- • den Hochdruck für die Einspritzung zu erzeugen,
begrenzung. Beim Zweifederhalter werden zwei Dü- • den Kraftstoff in der richtigen Menge zur richti-
senfedern verwendet. Die erste Druckfeder begrenzt gen Zeit einzuspritzen.
den Nadelhub zunächst auf den Vorhub H1 (Vorein-
spritzung). Beim Überschreiten eines über die zweite Die Nockenwelle hat zum Antrieb der Pumpe-Düse-
Druckfeder eingestellten Druckes wird die Düsenna- Einheiten je Zylinder einen zusätzlichen Nocken. Sie
del weiter angehoben, maximal bis zum Hub H2 betätigen über Rollenkipphebel die Pumpenkolben
(Haupteinspritzung). Der mit einem solchen Zweife- der Pumpe-Düse-Einheiten. Der Einspritznocken hat
derhalter erreichte Einspritzverlauf führt zu einem eine steile auflaufende Flanke und eine flache ablau-
verminderten Verbrennungsgeräusch. fende Flanke. Dadurch wird der Pumpenkolben mit
einer hohen Geschwindigkeit nach unten gedrückt
• Pumpe-Düse und somit sehr schnell ein hoher Einspritzdruck er-
reicht. Dann bewegt sich der Pumpenkolben langsam
Ein System, das hohe Anforderungen erfüllt, ist das und gleichmäßig nach oben und der Kraftstoff kann
Pumpe-Düse-Einspritzsystem. blasenfrei in den Hochdruckraum der Pumpe-Düse-
Schon Rudolf Diesel hatte den Gedanken, Einspritz- Einheit nachfließen.
pumpe und Einspritzdüse zu einer Einheit zusam- Im Vergleich zu der Verteilereinspritzpumpe hat der
menzufassen, um auf die Hochdruckleitungen ver- Dieselmotor mit dem Pumpe-Düse-Einspritzsystem
zichten zu können und dadurch einen hohen Ein- folgende Vorteile:
spritzdruck zu erzielen. Es fehlte ihm aber an den
• Begrenzung der Verbrennungsgeräusche durch
technischen Möglichkeiten, diese Idee zu verwirk-
abgesetzte Voreinspritzung,
lichen. Seit den 50er Jahren werden Dieselmotoren
• geringen Kraftstoffverbrauch,
mit einem mechanisch gesteuerten Pumpe-Düse-Ein-
• wenig Schadstoffemissionen und
spritzsystem als Lkw- und Schiffsmotoren eingesetzt.
• hohe Leistungsausbeute.
Volkswagen ist es zusammen mit der Robert Bosch
GmbH gelungen, einen Dieselmotor mit einem mag- Diese Vorteile werden erreicht durch:
netventilgesteuerten Pumpe-Düse-Einspritzsystem zu • einen hohen Einspritzdruck von maximal 2.200 bar
entwickeln, der im PKW zur Anwendung kam. an der Düse,
Eine Pumpe-Düse-Einheit ist eine Einspritzpumpe • einer präzisen Steuerung des Einspritzvorganges
mit Steuereinheit und Einspritzdüse zu einem Bauteil und,
zusammengefasst (Bild 5.2-27). Jeder Zylinder des • einer Voreinspritzung.
Motors hat eine Pumpe-Düse-Einheit. Dadurch ent-
Damit können spezifische Leistungen von mehr als
fallen die Hochdruckleitungen wie bei einer Vertei-
60 kW/l erreicht werden. Die neueste Variante des
Pumpe-Düse-Einspritzsystems ist mit Piezo-Halter
ausgerüstet. Gegenüber dem magnetisch angesteuer-
ten Ventil ist dieses System deutlich schneller und
ermöglicht bis zu fünf einzelne Einspritzungen wäh-
rend eines Einspritzzyklusses.
Ausweichkolben • Speichereinspritzsystem
Ein heute allgemein bei Pkw und NFZ eingesetztes
Hochdruck-Einspritzsystem ist das Speichereinspritz-
oder Common Rail System (Bild 5.2-28a). Dabei
sind Druckerzeugung und Einspritzung entkoppelt.
Der Kraftstoff für die einzelnen Zylinder kommt aus
Drossel einem gemeinsamen Speicher, der ständig auf hohem
Druck gehalten wird.
Der Speicherdruck wird von einer Hochdruck-Radial-
kolbenpumpe erzeugt und lässt sich abhängig von den
Federraum Betriebsbedingungen verändern.
Jeder Zylinder ist mit einem Injektor ausgerüstet, der
Bild 5.2-27 Funktionsschema einer Pumpe-Düse mit über ein Magnet- oder Piezoventil gesteuert wird. Die
Ausweichkolben [12] Einspritzmenge wird durch den Ausflussquerschnitt
5.2 Dieselmotor 241

a)

• 7-Loch
• 158°
• Midi-Sackloch
• KS 2,5
• Durchfluss
460 mm3/
30 s/100 bar

b)

Stecker

Hochdruckanschluss

Piezo-Antrieb Piezo-Stack mit


Kontaktierung Stößel Bild 5.2-28 a) Schemati-
Umkehr- Glocke scher Aufbau des Com-
hebelübersetzer mon-Rail-Einspritzsystems
Umkehrhebel
für einen 5-Zylindermotor,
Düse b) 7-Loch-Injektor mit
Magnetventil, c) Piezo-
c)
Injektor (Continental AG)

des Injektors, die Öffnungsdauer des Magnet- bzw. Die Ausführung eines Common-Rail-Einspritzsys-
Piezoventils und den Speicherdruck bestimmt. Heute tems für einen Dieselmotor ist in Bild 5.2-28b für
werden bis zu 2.200 bar Systemdruck erreicht. Die einen Injektor mit Pumpe-Düse und einen Piezoinjek-
Entwicklung zukünftiger Systeme hat Drücke von tor (Bild 5.2-28c) dargestellt.
mehr als 2.500 bar zum Ziel. Kraftstoffmenge, Ein- Die funktionale Trennung der Druckerzeugung und
spritzbeginn sowie die Vor- und Nacheinspritzung der Einspritzung erlaubt eine bessere Gestaltung des
werden durch extrem schnelle Magnetventile [8] oder Einspritz- und damit des Brennverlaufs. Der Ein-
durch Piezoelemente [9], mit denen extrem kurze spritzdruck kann frei im Kennfeld gewählt werden.
Schaltzeiten von <100 μs realisierbar sind, gesteuert. Voreinspritzungen sind möglich. Vorteilhaft ist, dass
Einspritzmengen deutlich unter 1 mm3 sind das Common Rail Systeme sich auch an vorhandenen
Resultat [10]. Motoren ohne Änderung des Zylinderkopfes anbauen
lassen.
242 5 Antriebe

Einspritz- Einspritz- Einspritz- Kleinst- Einspritz-


dauer charakteristik druck mengen frequenz

2000 bar 1 mm3/Hub

1 mm3
1,5 ms
16.000
Zyklen/Min.
= 250 Hz

Bild 5.2-29 Charakteristika


der Dieselhochdruckein-
spritzung

Beide Systeme (Pumpe/Düse und Speichereinsprit- Aufwand auch bei Untersuchung mehrerer Varianten
zung) sind durch die im Bild 5.2-29 gezeigten Grö- wirtschaftlich bleibt.
ßen charakterisiert.
5.2.6.3 Aufladung
Die funktionalen Vorteile des Common Rail Systems
sind: Die Idee, den Dieselmotor mit vorverdichteter Luft zu
• Hohe Flexibilität durch nahezu frei wählbare füllen, wurde schon von R. Diesel versuchsweise
Gestaltung des Einspritzverlaufs (wählbare Lage umgesetzt. Der Durchbruch für die Aufladung wurde
und Menge der Vor-, Haupt- und Nacheinsprit- erst von A. Büchi (1905) erreicht, der auf die Idee
zungen), kam, die im Abgas vorhandene Energie zu nutzen.
• Verbesserung des Komfortverhaltens des Diesel- Büchi hat auch schon zu Beginn seiner Arbeiten
motors durch bis zu drei Voreinspritzungen, einen Ladeluftkühler zur Verbesserung des Wir-
• Kontrolle der Rohemissionen durch flexible Ein- kungsgrades vorgeschlagen.
stellung der Einspritzzeitpunkte und -mengen und Bis zu 5.500 min–1 ist auch für moderne Dieselmoto-
• effektive Regeneration der Abgasnachbehand- ren das Drehvermögen begrenzt. Eine Erhöhung der
lungseinrichtungen durch bis zu vier Nacheinsprit- Leistung (eine größere Luftmenge erlaubt eine höhere
zungen. Einspritzmenge) ist nur durch Hubraumvergrößerung
oder durch Turboaufladung möglich. Außerdem führt
• Simulation von Einspritzsystemen die Aufladung zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit,
Die Beherrschung der hochbelasteten Einspritzsyste- denn der Abgasturbolader nutzt das auf der Auslass-
me erfordert neben der traditionellen Simulation der seite gegenüber der Atmosphäre herrschende Druck-
Einspritzhydraulik eine gründliche Analyse des und Temperaturgefälle zur Vorverdichtung der Ver-
Kraftstoffverhaltens und des Gesamtenergieumsatzes. brennungsluft. Die sogenannte Gaswechselarbeit (der
Der theoretische Aufwand ist die dem Kolben zuge- Arbeitsschritt, bei dem der Motor seine Arbeitsluft
führte Arbeit. Als Nutzen ist die Energie des Ein- gegen die vor dem Zylinder liegenden Strömungswi-
spritzstrahles anzusehen. Die wesentlichen Verluste derstände ansaugen muss) entfällt.
treten bei der Absteuerung auf. Bei den hohen Drü- Der Wirkungsgrad einer Verbundmaschine aus Ab-
cken im Einspritzsystem müssen Änderungen der gasturbolader und Kolbenmotor ist also aus verschie-
Dichte, Schallgeschwindigkeit, Kompressibilität und denen Gründen besser. Zum einen steigt durch die
Viskosität berücksichtigt werden. Weiterhin müssen höheren Arbeitsdrücke die Ausnutzung der Abgas-
die durch die hohen Temperaturen verursachten un- energie und durch den Wegfall der negativen Pump-
terschiedlichen Ausdehnungen der Bauteile des Ein- leistung der innere Wirkungsgrad, der Aufschluss
spritzsystems mit betrachtet werden [11]. über die wärmetechnische Ausnutzung der zugeführ-
Die numerische Lösung wird für Entwicklungsarbei- ten Energie gibt. Zum anderen wird das Verhältnis
ten im Wesentlichen mit eindimensionalen Program- von mechanischer Verlustleistung (im Wesentlichen
men auf Basis der Stromfadentheorie (Kap. 11.3) Reibungsverluste) im Verhältnis zur Gesamtleistung
durchgeführt. Dabei werden 3D-Effekte mit empiri- günstiger, was zu einer Verbesserung des mechani-
schen Ansätzen und Koeffizienten, so z.B. für die schen Wirkungsgrades führt.
Reibung in den Einspritzleitungen oder die Stoßver- Wie alle Strömungsmaschinen ist auch der Abgastur-
luste an Querschnittsänderungen, berücksichtigt. So bolader für einen bestimmten Betriebspunkt des
können die instationären Vorgänge in kompletten Motors optimal ausgelegt. Aufgrund der großen zu
Systemen so effektiv simuliert werden, dass der überdeckenden Drehzahlspanne des Pkw-Dieselmo-
5.2 Dieselmotor 243

Die Aufladung, eigentlich beim Diesel schon sehr


lange ein „Standard“, bietet in Verbindung mit neuen
Ansätzen beim AGR-Management und der Hochauf-
ladung noch erhebliches Potential zur Verbesserung
von Performance, Verbrauch und Emissionsreduzie-
rung [12].
5.2.6.4 Abgasrückführung
Den größten Einfluss auf die NOx-Reduktion hat die
Abgasrückführung (AGR). Bild 5.2-31 zeigt das
Schema einer AGR, Bild 5.2-32 eine Ausführungs-
form. In Abhängigkeit vom Kennfeldpunkt und der
Temperatur wird ein Teil des Abgasstromes mit der
angesaugten Frischluft gemischt und den Zylindern
wieder zugeführt. Dadurch wird der Sauerstoffanteil
während der Verbrennung reduziert und so die Ver-
brennungstemperatur verringert, was eine verminder-
te NOx-Emission zur Folge hat.
Bild 5.2-30 VTG-Lader Während zur Steuerung der Abgasmenge anfangs nur
Ein/Aus-Ventile eingesetzt wurden, werden heute
tors steigt der Volllast-Ladedruck besonders hoch an, ausnahmslos pneumatisch oder elektrisch geregelte
was zu einer nicht erwünschten Belastung des Trieb- Systeme verwendet. Zur Optimierung der Effektivität
werkes führt. Deshalb ist der Ladedruck zu be- werden zusätzlich Kühler mit zunehmend höherer
grenzen, was mit einem Waste-Gate (Bypass-Ventil) Kühlleistung verbaut. Mit speziell entwickelten Nie-
erreicht wird. dertemperaturkühlkreisläufen können die Wirkungs-
Eine Annäherung des Luftangebots des Turboladers grade der AGR nochmals verbessert werden.
an den betriebspunktabhängigen Luftbedarf des Mo- Heute eingesetzte Hochdruck-AGR-Systeme, bei de-
tors wird heute fast ausschließlich über eine variable nen das Abgas vor dem Turbolader entnommen wird,
Turbinengeometrie (VTG) erreicht (Bild 5.2-30). Um stoßen zunehmend an technische Grenzen hinsicht-
den Anforderungen (hohes Anfahrdrehmoment bei lich der Rückführmengen und der erforderlichen
niedrigen Drehzahlen und hoher spezifischer Leis- Kühlleistung.
tung bei hohen Drehzahlen) im gesamten Kennfeld Eine konsequente technische Lösung stellt hierfür das
besser gerecht zu werden, wurde die Zweistufenauf- nachfolgend beschriebene Niederdruck-Abgasrück-
ladung entwickelt. Dabei werden zwei Turbolader in führsystem (ND-AGR-System) dar. Die Anordnung
Reihe geschaltet. des gesamten AGR-Systems ist in Bild 5.2-31 darge-
Als weitere Möglichkeiten bieten sich eine Register- stellt.
aufladung (Parallelschaltung von mehreren Turbola- Im ND-AGR-System wird das Abgas erst hinter dem
dern), eine Druckwellenaufladung (COMPREX) und motornahen Diesel-Partikelfilter (DPF) entnommen.
mechanische Lader an, siehe Kap. 5.3. Das katalytisch gereinigte und von Russpartikeln be-

Luftfilter
HMF
Luft
Zylinderdruck-
CR-Injektoren sensoren

Ladeluft-
VTG ND AGR-Ventil
kühler
Turbolader
AGR-Kühler
ND AGR
Drosselklappe
HD AGR-Ventil
Abgas
Schallsaugrohr
mit Wegerückmeldung Oxi-Kat + DPF NOx-Speicher- Abgas- H2S-Kata- Schall-
HD AGR katalysator klappe lysator dämpfer

Bild 5.2-31 Schema einer Abgasrückführung (AGR) mit Umschaltung zwischen Hochdruck (HD) und Nieder-
druck (ND)
244 5 Antriebe

5.2.6.5 Luftmanagement
Das Luftführungssystem eines Dieselmotors beste-
hend aus Turbolader, AGR-Systemen, Ladeluftküh-
lern und Ladeluftrohren erfordert ein aufwendiges
Luftmanagement. Aus den Signalen der Druck- und
Temperatursensoren sowie mittels modellbasierter
Informationen werden Daten für ein schnelles Einre-
geln des Kraftstoff-Luft-Gemisches generiert. Neben
der Optimierung der Bauteile ist eine exakte Rege-
lung besonders im transienten Verhalten bei moder-
nen Motoren erforderlich.

5.2.6.6 Brennverfahren
Zur Erreichung hoher Emissionsziele ist es notwen-
dig, die Systemtoleranzen auf ein Minimum zu redu-
zieren. Einen Beitrag hierzu liefert ein verbrennungs-
druckgeregeltes Motormanagement. Dabei handelt es
sich um eine zylinderdruckbasierte Verbrennungsre-
Bild 5.2-32 Ansicht Abgasrückführung (Hochdruck- gelung, die eine schnelle, zylinderindividuelle Rege-
AGR) lung des indizierten Moments und der Verbrennungs-
schwerpunktlage erlaubt (Bild 5.2-33).
Ein wichtiger Bestandteil der Verbrennungsregelung
freite Abgas wird zunächst einem AGR-Kühler zuge- ist der Zylinderdrucksensor, der im Glühstift integ-
führt. Bei Ansteuerung des elektrisch geregelten riert ist. Dieser misst den Verbrennungsdruck zylin-
AGR-Ventils wird das Abgas über ein kurzes Ver- derselektiv und liefert das Signal an das Motorsteuer-
bindungsrohr direkt vor dem Verdichter des Abgas- gerät, welches aus dem gemessenen Signal die benö-
turboladers in den Ansaugluftstrom eingeleitet. Nach tigten Zylinderdruckmerkmale berechnet.
der Verdichtung wird der eingeregelte Abgas- und
Luftmassenstrom in einem Ladeluftkühler herunter- 5.2.6.7 Downsizing und Downspeeding
gekühlt und dem Saugtrakt des Motors zugeführt. Die wachsenden Anforderungen an die Reduktion der
Mit einem Zweikreis-AGR-System bestehend aus CO2-Emissionen erfordert u.a. eine Reduktion der
Hochdruck- und Niederdruck-EGR lassen sich in Fahrzeugmasse. Dies kann durch einen leichteren
jedem Motorbetriebszustand beinahe beliebige Ab- Motor und ein Downsizing dargestellt werden. Der
gasrückführraten und möglichst wählbare Mengenan- Vorteil des Downsizing (Bild 5.2-34) resultiert im
teile von HD- und ND-AGR einstellen. Wesentlichen aus der Lastpunktverschiebung. Der

Zylinder 1
Zylinderdruck

Zylinder 2
Zylinder 3
Zylinder 4 Berechnung pmi Berechnung
Hochdruckschleife Schwerpunktlage
0
80
Integral 1 [%]

180° KW
Pmi_HD = I p = dV
60 VH –180° KW

40
2
Stellgröße: Ansteuerdauer der 20
Status EInspritung [1]

Haupteinspritzung
0 0
Vc Vh
1 Volumen [m3] Kurbelwinkel [°KW]

Ansteuerbeginn Pmi-Regler
PosMC-Regler
–1
Kurbelwinkel [°KW]

Bild 5.2-33 Funktionsweise einer Zylinderdruckregelung


5.2 Dieselmotor 245

Zylinderzahl reduzieren

4-Zyl. 4-Zyl. 3-Zyl. 2-Zyl.

2,0 l

500 cm3
Hubvolumen verkleinern
1,6 l

400 cm3

1,2 l

300 cm3 0,8 l

200 cm3

Bild 5.2-34 Downsizing (Reduktion von Zylinderanzahl und Hubvolumen)

kleinere Motor wird aufgrund des geringeren Hubrau- 5.2.7.1 Oxidationskatalysator


mes spezifisch höher belastet (höherer effektiver Mit- Die Möglichkeit, CO-, HC- und PM-Emissionen
teldruck). durch Oxidationskatalysatoren zu verringern, wird
Eine weitere CO2-Absenkung lässt sich durch eine erstmals beim Diesel-PKW seit 1990 (Tabelle 5.2-1)
längere Getriebeabstufung, also Reduktion der Dreh- genutzt (Bild 5.2-35). Sobald die Zündtemperatur er-
zahl realisieren. reicht ist, lassen sich Konversionsraten oberhalb 80 %
Beide Maßnahmen führen einerseits zu einer CO2- erreichen. Neben den Minderungen der gasförmigen
Reduktion, andererseits aber zu einer NOx-Erhöhung. CO- und HC-Emissionen werden auch an den Ruß-
Deshalb ist abzuwägen, wo ein Downsizing bzw. partikeln adsorbierte Kohlenwasserstoffe konvertiert.
-speeding im NOx-CO2-Trade-off sinnvoll ist. Allerdings besteht bei hohen Temperaturen die Ge-
fahr, dass aus dem Verbrennungsprodukt Schwefel-
5.2.7 Abgasnachbehandlung oxid Sulfate gebildet werden, die bei der Partikelmes-
sung (vorgeschrieben bei 52 °C) zur Bildung von
Die immer strenger werdenden Abgasgrenzwerte und Säurekondensat führen. Dieses wird als Partikelmasse
die Forderungen nach emissionsarmem Fahrzeugbe- bewertet.
trieb führten und führen zur Entwicklung von Abgas- Abhängig von der Beschichtung, der Katalysatorlage
reinigungsanlagen, die dem Motor nachgeschaltet und damit vom Temperaturniveau am Katalysator
werden. sind folgende Minderungen erreichbar:

Metallgehäuse Zellstruktur

H2O

HC CO2
CO
(O2)

Edelmetall-
Keramischer Monolith Beschichtung

Bild 5.2-35 Aufbau und


• HC-CO-Umsatz bei niedrigen Temperaturen Funktion eines Oxidations-
• Exotherme Reaktion für DPF-Regeneration
katalysators
246 5 Antriebe

• HC bis 85 % der besseren Gemischaufbereitung zu verdanken.


• CO bis 90 % Messungen der Größenverteilungen verschiedener
• NOx bis 10 % Fahrzeuge mit unterschiedlicher Technik zeigen Dif-
• Partikel bis 35 % ferenzen nur im Maximalwert der Verteilungen. Der
Die Maßnahmen zur NOx-Reduzierung besonders Größenbereich verschiebt sich nicht! [13]
auch die homogene Verbrennung, führen in der Regel Wissenschaftliche Untersuchungen in Europa, USA
zu höheren HC- und CO-Emissionen, d.h. der Kataly- und Japan unterstützen diese Ergebnisse: die Größen-
sator-Wirkungsgrad muss weiter gesteigert werden. verteilung der Partikel hat sich nicht zu kleineren
Zusätzlich wird für zukünftige Auslegungen das An- Partikelgrößen verändert [14]. Folgerichtig existiert
sprechverhalten bei noch niedrigeren Abgastempera- eine Korrelation zwischen Anzahl und Masse der
turen ganz wichtig werden. Partikel und damit geht mit dem Rückgang der Parti-
Einige wichtige Entwicklungsschritte sind deshalb: kelmasse auch die Anzahl zurück. Trotz dieser Er-
kenntnisse wird von einigen Mitgliedstaaten der EU
• Motornahe Verbauung, weiterhin auf partikelzählende Messverfahren als
• Edelmetalloptimierung, neue Methode zur Bestimmung der Partikelemissi-
• Optimierte Beschichtung, onen in der Abgasgesetzgebung gesetzt.
• Verbesserte Geometrie, Von Instituten [14] und der Automobilindustrie [14]
• Wanddicke, Zellenstruktur. sind verschiedene Studien zu den diskutierten Mess-
verfahren erstellt worden. Grundsätzliche Anforde-
5.2.7.2 Dieselpartikelfilter rungen für ein gesetzliches Zulassungsverfahren sind
• Dieselpartikel und deren Messung • Bestimmungsgrenze,
• Kalibrierbarkeit vor Ort,
Dieselpartikel sind extrem klein. Messungen der • Wiederholbarkeit,
Größenverteilungen (Bild 5.2-36) sind derzeit noch • Reproduzierbarkeit.
nicht standardisiert und damit sind die Resultate nicht
Partikelzählende Messverfahren müssen jedoch, hin-
immer vergleichbar.
sichtlich Kalibrierbarkeit und Reproduzierbarkeit op-
So wurde eine hohe Anzahl von Nanopartikeln fest-
timiert werden [15]. Ein Gesetzesvorschlag ist in der
gestellt, wobei es sich hierbei jedoch fast ausschließ-
UNECE WP29 entwickelt worden. Spätestens mit der
lich um Tröpfchen handelt, die keine Kohlenstoffker-
Einführung von Euro 6 ist das Zählen der Partikel für
ne besitzen. Bei Messungen, die die Partikelgröße auf
Diesel- und Ottomotoren vorgeschrieben. Bis dahin
Basis der Partikelmasse bestimmen, werden die
soll auch ein Grenzwert für Ottomotoren festgelegt
meisten Partikel im Bereich von 0,1 bis 1 μm gefun-
sein.
den.
Nach Verlassen des Abgastraktes reagieren die Die- • Ausführungsformen
selpartikel mit den Staubpartikeln und anderen Be- Sind die Partikelemissionen noch weiter zu senken,
standteilen der Umgebungsluft und verändern damit werden Dieselpartikelfilter mit hoher Abscheide-
ihre Größe und Zusammensetzung. Die in der Atmos- leistung von über 90 % eingesetzt. Die Funktionswei-
phäre ablaufenden Prozesse sind äußerst komplex und se ist in Bild 5.2-37 dargestellt. Eine größere Anzahl
noch nicht vollständig erfasst. von Fahrzeugen ist schon heute serienmäßig mit
Neue Dieselmotoren emittieren bedeutend weniger Partikelfiltern ausgerüstet. Die Hauptmerkmale zur
Rußmasse als ältere Konzepte. Dies ist insbesondere Unterscheidung der Systeme sind:

Normalisierte Konzentration: dC/Ctotal/dlogDp

Feine Partikel
Dp < 2,5 mm
Nanopartikel
Dp < 50 nm PM10
Ultrafeine Partikel Dp < 10 mm
Dp < 100 nm

Anzahl gewichtet
Masse gewichtet

Bild 5.2-36 Typische


Anzahl- und Massenver-
teilung von Dieselparti-
0,001 0,010 0,100 1,000 10,000 keln (Quelle: Kittelson
Durchmesser (mm)
1998)
5.2 Dieselmotor 247

CO – Kohlenmonoxid Gereinigtes Abgas


HC – Kohlenwasserstoffe ohne Ruß
C – Ruß
CO2 – Kohlendioxid
NOx – Stickoxid
H2O – Wasser
O2 – Sauerstoff

Partikelabscheidung

Vorgereinigtes Bild 5.2-37 Funktion des


Abgas mit Ruß geschlossenen Diesel-
partikelfilters

• Trägermaterial (Siliziumcarbid, Sintermetal, Alu- dieren (regenerieren). Dabei werden zwei Ansätze
minium-Titanat), verfolgt:
• Beschichtung, • Kontinuierliche Oxidation (CRT-Effekt),
• Additivunterstützung, • Thermische Oxidation.
• Einbauart motornah oder im Unterboden.
Beim CRT-System (continuously regenerating trap)
Die Kanäle des Dieselpartikelfilters sind abwechselnd wird ein kontinuierlicher Abbrand des Rußes sicher-
auf einer oder der anderen Seite verschlossen. Die gestellt (Bild 5.2-38a). Es besteht aus einer Katalysa-
Abgase durchströmen die Wände, während die Parti- tor-Russfilter-Einheit. Die Fahrzeugabgase durch-
kel ausgefiltert werden. strömen zuerst den Oxidationskatalysator. Im Tempe-
Für eine Serienapplikation ist die Filterung der Parti- raturbereich von 200 ÷ 600 °C werden CO und HC
kel nicht das Kernproblem. Es gilt die gesammelte fast vollständig oxidiert. NO wird zu NO2 umgewan-
Rußmenge unter allen Betriebsbedingungen zu oxi- delt. Dieses NO2 verbindet sich im Russfilter mit dem

Rußoxidation durch
NO2 zwischen 250 °C
und 450 °C:

C + NO2 → CO + NO

2 CO + O2 → 2 CO2

a)

Rußoxidation durch
O2 über 600 °C

C + O2 → 2 CO2
Bild 5.2-38 a) Wirkungs-
weise der Regeneration
durch CRT-Effekt,
b) b) Wirkungsweise der
thermischen Regeneration
248 5 Antriebe

EDC

λ-Sensor

Temperatur-
Sensor
Oxi-Kat

NOx-
Sensor Δp-Sensor
NOx-Speicher-
katalysator Bild 5.2-39 Abgasnach-
behandlungseinheit mit
Diesel-Partikelfilter Partikelfilter und NOx-
Speicherkatalysator

Kohlenstoff zu CO2. Für eine einwandfreie Funktion Menge an Oxidationsmittel zur Verfügung steht. Zu-
muss hinreichend viel NO2 (NO2/Partikel-Verhältnis) sätzlich wird durch die durch Schwefel mögliche
zur Verfügung stehen. NO2 wird dadurch wiederum Sulfatbildung die Filteroberfläche irreversibel blo-
zu NO reduziert. Diese Reaktionen laufen zwischen ckiert.
200 und 500 °C ab. In diesem Bereich befindet sich Neben dem CRT-Effekt arbeiten alle heutigen Serien-
das System im Gleichgewicht. So entstehen keine lösungen mit der thermischen Regeneration (Bild 5.2-
Temperaturspitzen. 38b). Diese wird je nach eingelagerter Russmenge
Es gibt für die Anwendung des CRT-Systems eine eingeleitet. Die erforderliche Abgastemperatur von
wichtige technische Grundvoraussetzung: Diesel- über 600 °C (abhängig u.a. auch von der Einbaulage
kraftstoff mit einem Schwefelgehalt von unter des Dieselpartikelfilters) wird durch Verschiebung
10 ppm wird benötigt. Die Gleichgewichtstemperatur des Einspritzbeginns weit nach OT erzielt. Mittels
zwischen Russanlagerung und -abbrand wird vom Temperatur-, Druck- und Lambda-Sensoren werden
Kraftstoffschwefel beeinflusst. SO2 behindert im Ab- die erforderlichen Zündbedingungen vom Motor-
gas die NO2-Bildung, sodass keine ausreichende steuergerät eingestellt und überwacht (Bild 5.2-39).

CSF motornah mit integriertem DOC

750 °C

620 °C

CSF motornah + späte Nacheinspritzung

750 °C

620 °C 720 °C 620 °C


Abgastemperatur vor Partikelfilter [°C]

650
CSF motornah mit externer Kraftstoffeinspritzung
Fuel metering 550
750 °C
450
620 °C 520 °C 700 °C
350
DOC + CSF motornah
250
750 °C
150
0 5 10 15 20
570 °C 650 °C Zeit [min]

Bild 5.2-40 Dieselpartikelfiltervarianten


5.2 Dieselmotor 249

Oxidationskatalysator

Diesel-Partikelfilter
AdBlue®-Tank

SCR-Katalysator
(Selective Catalytic Reduction)

Oxidationskatalysator
Bild 5.2-41 Dieselabgas-
Diesel-Partikelfilter
nachbehandlung mit
AGR-Filter Oxidationskatalysator,
Dieselpartikelfilter und
NOx-Nachbehandlung
(oben: SCR-Katalysator,
NOx-Speicherkatalysator unten: NOx-Speicher-
katalysator)

Durch Verwendung eines Additivs wird die Zündtem- den, die noch einer weiteren Klärung bedürfen. Im
peratur des Rußes auf etwa 500 °C gesenkt. Der erste realen Fahrbetrieb wurden deutlich geringere Umset-
Serieneinsatz ist bei PSA erfolgt [16] (Bild 5.2-40). zungsraten als im Labor aufgrund höherer Raumge-
Die aktiven Abgasnachbehandlungssysteme beeinflus- schwindigkeiten, Anteile von Wasser und Schwefel
sen das Anforderungsprofil an zukünftige Betriebs- festgestellt: bis ca. 30 % im US-Testverfahren und
stoffe. Bei der Verbrennung metallhaltiger Additiv- bis zu 25 % im neuen europäischen Testzyklus bei
komponenten des Motoröls entsteht Asche, die zu irre- frischen Katalysatoren. Der Kraftstoffschwefel min-
versiblen Ablagerungen in Dieselrussfiltern führen dert die Effektivität mit der Zeit um ca. 15 %. Des-
und deren Lebensdauer verkürzen. Um den Einfluss halb spielen diese Systeme zur NOx-Reduktion im
des Schmierstoffverbrauchs auf die Strömungs- und PKW eine immer kleinere Rolle.
Russbeladungseigenschaften des Partikelfilters be-
werten zu können, wurde ein zusätzlicher motorischer • NOx-Speicherkatalysator
Test entwickelt [17]. Eine weitere Möglichkeit ist der Einsatz von NOx-
Speicherkatalysatoren. Ihre Dauerhaltbarkeit setzt
5.2.7.3 Entstickung beim heutigen Stand der Technik jedoch die Verwen-
• Übersicht dung weitestgehend schwefelfreien Kraftstoffs vor-
aus.
Seit Mitte der Achtzigerjahre wird intensiv nach NOx-
Die Effektivität des NOx-Speicherkatalysators in Ab-
Katalysatoren gesucht, die auch bei Sauerstoff-Über-
hängigkeit von Temperatur und Schwefelempfind-
schuss Stickoxide mit Kohlenwasserstoffen oder CO
lichkeit ist in Bild 5.2-42 dargestellt. Der Katalysator
selektiv umsetzen. Für die Abgasnachbehandlung der
besteht aus zwei Hauptelementen, einer Edelmetall-
Stickoxide sind verschiedene Möglichkeiten bekannt.
Kombination (z.B. Pt/Rh) und dem eigentlichen NOx-
Fahrzeugtaugliche Verfahren müssen zu gasförmigem
Speichermaterial aus der Gruppe der Alkali- oder
Stickstoff bzw. gasförmiger Wasserdampfemission
Erdalkalimetalle oder der Seltenen Erden, in Form
führen. Somit sind folgende praktische Wege zur Re-
des Oxids oder Carbonats, hier als Beispiel Barium-
duktion von NOx möglich (Bild 5.2-41):
carbonat.
• NSCR-Technologie (nicht selektive katalytische Während der NOx-Speicherphase (Bild 5.2-43) wird
Reaktion), das aus dem Motor kommende NOx, das im mageren
• NOx-Speicherkatalysator, Abgas hauptsächlich als NO vorliegt, an der Platin-
• SCR-Technologie (selektive katalytische Reaktion). komponente des Katalysators zum NO2 oxidiert, das
Die NSCR-Katalysatoren sind umfangreich unter- dann mit der Speicherkomponente des Katalysators
sucht worden. Der Verlauf der Konversion eines zum Bariumnitrat weiterreagiert. Gleichzeitig wird
edelmetallhaltigen Katalysators zeigt im testrelevan- auch das im Abgas enthaltene SO2 zum SO3 oxidiert
ten Temperaturbereich ein Maximum mit äußerst und reagiert ebenfalls mit dem Bariumcarbonat zum
geringem Temperaturfenster. Aus den unterschiedli- Sulfat. Das SO2 ist bei dem NOx-Speichervorgang
chen Verläufen der NOx-Konversion kann auf ver- also in zweierlei Hinsicht störend: Es konkurriert mit
schiedene Reaktionsmechanismen geschlossen wer- dem NO um Adsorptionsplätze am Platin und behin-
250 5 Antriebe

100

80
NOx conversion [%]

60
NSC A* fresh
NSC A thermally aged
40
NSC B** fresh
NSC B thermally aged
20
*NSC A = Start of development
**NSC A = Series status
0 Bild 5.2-42a Einfluss ther-
100 150 200 250 300 350 400 450
Temperature before NOx storage catalyst [°C]
mischer Alterung auf die
NOx-Umsetzung

100

80
NOx conversion [%]

60

40
Fresh
Sulfur-poisoned
20

0 Bild 5.2-42b Einfluss einer


100 150 200 250 300 350 400 450
Temperature before NOx storage catalyst [°C]
Schwefelvergiftung auf die
NOx-Umsetzung

Überstöchiometrische Unterstöchiometrische
Abgaszusammensetzung Abgaszusammensetzung
(l > 1) (l < 1)
frischer Katalysator

HC H2
O2 2 NO 2
S
NO2 CO O CO
NO
NO

– H2 NO –
4 –
4 –

3 3
SO 2

SO
N2
SO 2
O2

3
Pt M Pt M

Al2O3 Al2O3

gealterter Katalysator Bedingungen für Sulfatregeneration


l<1
NO2 SO3
T > 650 °C
2
t > 2 min
SO NO SO42–
2
NO

4 –
2

SO
SO

2–
SO

Bild 5.2-43 Funktion der


O2

Pt M
3

NOx-Speichertechnologie
Al2O3
M = Metall und Einfluss des Schwefels
im Kraftstoff

dert damit die NO2-Bildung und, was entscheidend vorliegenden reduzierenden Abgasbestandteile H2,
ist, es verbraucht das Speichermaterial Bariumcarbo- CO und HC wandeln jetzt das Bariumnitrat wieder in
nat. das Carbonat oder das Oxid um, während das freige-
Ist alles verfügbare Bariumcarbonat in Nitrat umge- setzte NOx am Edelmetall zum Stickstoff reduziert
wandelt, muss der Speicher regeneriert werden. wird. Das Sulfat ist wesentlich temperaturstabiler als
Hierzu wird der Motor kurzzeitig in einen fetten das Nitrat und wird bei diesem Regenerationszyklus
Betriebszustand gebracht. Die dann im Überschuss (λ < 1, T > 650 °C, t > 2 min) nicht oder nur zu einem
5.2 Dieselmotor 251

Bild 5.2-44 Ansicht eines Abgasnachbehandlungssystems mit SCR-Katalysator

geringen Anteil umgewandelt. Es verbleibt deshalb • SCR-Katalysatoren


im Katalysator, reichert sich bei jedem Mager/Fett-
Aus der Kraftwerkstechnik ist die Stickoxidreduktion
Zyklus weiter an und vermindert zunehmend die für
durch Einsatz von SCR-Katalysatoren bekannt
eine NOx-Speicherung verfügbare Bariumcarbonat-
(Bild 5.2-44). Vor dem Katalysator wird als selektiv
menge sowie die Zugänglichkeit des Speichermateri-
wirkendes Reduktionsmittel Ammoniak (NH3) ge-
als für NO2.
spritzt. Der dort gebundene Wasserstoff reagiert mit
Der Einsatz der Speicherkatalysatoren beim Diesel
dem freien und im Stickoxid gebundenen Sauerstoff
erfordert einen hohen technischen Regelungs- und
zu Wasser. Vereinfacht gilt:
Applikationsaufwand. Hauptgrund ist, dass Diesel-
motoren mit Luftüberschuss betrieben werden und 4 NH3 + 4 NO + O2 → 4 N2 + 6 H2O
somit keine Bedingung für eine Regeneration auftritt.
8 NH3 + 6 NO2 → 7 N2 + 12 H2O
Das „fette“ Luftverhältnis muss durch entsprechende
Maßnahmen (Anheben der Abgasrückführrate, Dros- Die Übertragung dieser Technologie auf das Fahr-
selung, Kraftstoffeindüsung vor dem Katalysator, zeug ist nicht trivial, da hier aus sicherheitstechni-
veränderte Einspritzung) herbeigeführt werden. Das schen Gründen auf den direkten Einsatz des gesund-
zweite Problem ist die niedrige Abgastemperatur, vor heitsschädlichen NH3-Gases verzichtet und auf ande-
allem bei den Direkteinspritzmotoren. Sie beschränkt re Reduktionsmittel wie Harnstoff ((NH2)2CO) aus-
die Speichereffektivität und insbesondere die mögli- gewichen werden muss. Durch Hydrolyse wird aus
che Regenerationsstrategie. dem Harnstoff NH3 gewonnen:
Verbesserte Regelstrategien und optimierte stabile
(NH2)2CO + H2O → 2 NH3 + CO2
Beschichtungen ermöglichen heute eine Konvertie-
rungseffektivität von 60 – 80 %. NOx-Speicherkataly- Eine Fahrzeuganwendung (Bild 5.2-45) erfordert eine
satoren sind Bestandteil der NOx-Minderungsstra- Dosiereinheit mit Reduktionsmitteltank, Steuergerät
tegien von BMW, Daimler und Volkswagen [16, 18]. und Hydrolyse-SCR-Katalysator. Mittels einer Zer-

Level-Sensor Adblue-Leitung

Befüllung Förder-Modul Mischer Oxi-Kat

Dosierventil
Adblue-Tank
EDC
Temperatur- 17
sensor
TDI
Entleerung EUV
DPF
Heizung

(beschichtet)
NH3-Sperrkat SCR-Kat Bild 5.2-45 Gesamtsystem
NOx (NH3)-Sensor Temp.-Sensor mit Partikelfilter und SCR-
Technik
252 5 Antriebe

Plattenmischer

AdBlue®-Dosiermodul

Bild 5.2-46 Harnstoff-


dosierventil mit Misch-
strecke

stäuberdüse (Bild 5.2-46) wird dem Abgassystem nischen Aufwand (Bild 5.2-46). Bei der SCR-Tech-
lastabhängig die Harnstofflösung zugeführt. Wegen nik muss die Alterungsstabilität und es müssen die
des möglichen NH3-Schlupfes im Fahrbetrieb ist eine Temperaturgrenzen (Bild 5.2-47) verbessert werden
Regelung der NH3-Zufuhr unabdingbar, und es wird [19].
meist ein Oxidationskatalysator nachgeschaltet. Der
Wirkungsgrad lässt sich noch steigern, wenn das 5.2.8 Dieselkraftstoffe
NO/NO2-Verhältnis mit einem vorgeschalteten Oxi- Die Qualität der Dieselkraftstoffe beeinflusst ver-
dationskatalysator angepasst wird. schiedene Komponenten der Dieselfahrzeuge (Bild
Hochaktive Oxidationskatalysatoren erhöhen die Sul- 5.2-48). Gegenwärtig ist weltweit aber ein Trend zur
fat- und damit Partikelemissionen. Deshalb ist auch Diversifikation der Dieselkraftstoffe zu beobachten.
hier ein schwefelarmer Kraftstoff wichtig. Für den Verursacht wird dies auch durch den Versuch, mine-
Kaltbetrieb ist ab –10 °C das Reduktionsmittel aufzu- ralbasierte Kraftstoffe durch Biokraftstoffe zu erset-
heizen. zen. Da sich die Kraftstoffe in ihren Spezifikationen
Harnstoff als Reduktionsmittel muss unabhängig vom (Bild 5.2-49) wesentlich unterscheiden, stellt dies
Fahrzyklus und der NOx-Emissionen zugeführt wer- zusätzliche Herausforderungen an die Materialien
den. Im Mittel werden 1 – 5 % des Kraftstoffver- und Abstimmung der Konzepte dar.
brauchs benötigt. Die Forderungen der weltweiten Verbände der Auto-
Sollte es gelingen, das Reduktionsmittel Harnstoff mobilindustrie [20] sind in der Worldwide Fuel
nicht als wässrige Lösung, sondern als Feststoff im Charter WWFC zusammengefasst. Die wichtigsten
Fahrzeug mitzuführen und aufbereitet dem Abgas Aussagen sind:
beizumessen, könnten auch die Nachteile des zusätz-
lichen Betriebsstoffes deutlich verringert werden. 1. Cetanzahl
SCR- und NOx-Speicher-Systeme werden aktuell mit Eine Anhebung der Cetanzahl auf mind. 58 und
großer Intensität entwickelt. Die SCR-Technik ver- des Cetanindex auf mind. 54 ist wegen der Ver-
spricht im gesamten Drehzahlkollektiv den höchsten besserung der Zündwilligkeit und damit des Kalt-
Abscheidegrad, erfordert aber auch den höchsten tech- starts und der Verbrennung erforderlich (Bild 5.2-
50).
2. Dichte
Eine Eingrenzung (Minimal- und Maximalwert)
100 fresh ist für die Abstimmung der Motoren wichtig. Die
NOx conversion [%]

80 with NO2 : NO = 1 : 1
Dichte hat einen direkten Einfluss auf die Abgas-
60 thermal aged, emissionen. Der Bereich von 820 – 840 kg/m3 wird
24 h 750 °C,
40 with NO2 : NO = 1 : 1 für notwendig gehalten.
20
3. Aromaten
without NO2 Die mehrkernigen aromatischen Kohlenwasser-
0
100 200 300 400 500 stoffe haben einen großen Einfluss auf die Bil-
Temperature [°C] dung von Dieselpartikeln. Deshalb sollten die po-
lyzyklischen Aromaten auf max. 1 Gew.% und die
Bild 5.2-47 Effektivität des SCR-Katalysators als Gesamtaromaten auf max. 10 Gew.% begrenzt
Funktion von Temperaturen und NO/NO2-Verhältnis werden (Bild 5.2-51).
5.2 Dieselmotor 253

Motor und
Brennverfahren

Service Abgasnachbehandlung

Bauteile
Haltbarkeit

Bild 5.2-48 Einfluß des


Materialien
Kraftstoffes auf die ver-
schiedenen Komponenten
des Dieselmotors

Hydriertes
Diesel Biodiesel BTL
Pflanzenöl

Energie [MJ/kg] 41–42 37 42 43

CZ > 51 > 51 > 70 > 70

S [mg/kg] < 50 < 10 < 10 <5

Aschebildner [mg/kg] 1–2 1–20 <1 <1

Paraffin
Methanol Fettsäure Paraffin Paraffin
Aromat
Chemie
Kohlenwasser-
stoffgemisch Ester Paraffin Paraffin

% % % %
Bild 5.2-49 Eigenschaften
Siedeverhalten 330 °C verschiedener Dieselkraft-
°C °C °C °C
stoffe

5. Siedeende
600
Das Siedeende ist ein Hinweis auf den Gehalt
Emissionen in NEFZ [%]

500 schwersiedender Kohlenwasserstoffe (hauptsäch-


400 lich PAH’s), die sich schwer verbrennen lassen
Synthetische
und wesentlich zur Partikelbildung beitragen.
300
Kraftstoffe Deshalb sollte das Siedeende auf 350° herabge-
200 und HVO setzt werden.
USA EU
100 Mit einer Verbesserung der Kraftstoffqualität kann
0 eine sofortige Emissionsminderung aller im Bestand
30 35 40 45 50 55 60 65 70 75
betriebenen Fahrzeuge erreicht werden.
Cetanzahl
Neben diesen die heutige Technologie beeinflussen-
Bild 5.2-50 Abhängigkeit der Abgasemissionen von den Effekten, ist die Schwefelminderung unbedingte
der Cetanzahl Voraussetzung für die Einführung zukünftiger Ab-
gasnachbehandlungstechnologien wie z.B. für den
4. Schwefel DeNOx-Katalysator. Schwefel vergiftet diese Spei-
Schwefel im Kraftstoff trägt zur Partikelbildung chersysteme (Bild 5.2-42b). Deshalb ist eine Begren-
bei. Durch Verwendung schwefelarmer Qualitäten zung auf max. 15 ppm (schwefelarmer Kraftstoff)
können die Emissionen aller im Betrieb befind- erforderlich. Diese Forderung wurde bereits in der
lichen Fahrzeuge reduziert werden. Der Schwefel Europäischen Union umgesetzt. Eine weitere Durch-
beeinflusst auch das Anspringverhalten der Oxi- dringung in anderen Teilen der Welt, in denen an-
dationskatalysatoren: Zum Erreichen der vollen spruchsvolle Abgasgesetzgebungen eingeführt wer-
Wirksamkeit werden höhere Abgastemperaturen den, ist zwingend erforderlich.
benötigt, d.h. die Kaltstartphase wird verlängert und Die vier wesentlichen Forderungen an einen zukünf-
die Kaltstartemissionen werden damit erhöht [21]. tigen Kraftstoff (siehe auch Kap. 5.9):
254 5 Antriebe

14
Premium Diesel
12 Premium Diesel
Worst Case Diesel
10
Worst Case Diesel
8
DQ [%/deg]

0
Bild 5.2-51a Bandbreite
–2 des Einflusses der Kraft-
–20 –10 0 10 20 30 40
Kurbelwinkel [°]
stoffqualitäten auf den
Verbrennungsverlauf

0,8 700

0,7 600
Closed loop Open loop
0,6
500
B
0,5
Rußzahl [FSN]

PD

HC [ppm]
400
WD
0,4
300
0,3
200
0,2
Late Homogeneous Combustion
0,1 100

0 0
20 25 30 35 40 45 50 55 60 500 1000 1500 2000 2500 3000
NOx [ppm] CO [ppm]

Bild 5.2-51b Bandbreite des Einflusses der Kraftstoffqualitäten auf die Abgasemissionen (exemplarisch darge-
stellt für Ruß und HC; B = Basis, PD = Premium Diesel, WD = Worst Case Diesel)

− sichere Versorgung spezifischen CO2-Emissionen von Vorteil ist. Erdgas


− gesamtwirtschaftliche Tragfähigkeit kann und wird direkt zum Fahrzeugantrieb genutzt
− Berücksichtigung von Umwelt- und Klimaschutz- werden. Allerdings ist wegen der bekannten Nachtei-
anforderungen le bezüglich Reichweite und Platzbedarf für den
− hohe Energiedichte Tank, die für alle gasförmigen Kraftstoffe gelten, und
kann heute kein singulärer Energieträger, auch Was- des zunehmenden Aufwandes für die Abgasnachbe-
serstoff nicht, erfüllen. handlung zur Erfüllung strenger Abgasgrenzwerte,
Dies ist die Begründung für die zu beobachtende kein Ersatz der heutigen Kraftstoffe durch Erdgas zu
Diversifikation der Kraftstoffe. Das parallele Angebot erwarten, sondern nur eine begrenzte Ergänzung. Aus
im Markt von Diesel, Ottokraftstoff, Methanol, Etha- Erdgas können aber auch mit bekannten und groß-
nol, Erdgas und anderen Kraftstoffen kann aber keine technisch erprobten Verfahren wie der Shell-Mittel-
wirtschaftliche Lösung darstellen, da für jeden dieser Destillat-Synthese (SMDS) andere Sekundärenergie-
Kraftstoffe ein eigenständiger Antrieb entwickelt träger hergestellt werden [22].
werden müsste. Erdgas wird dazu in einer ersten Verfahrensstufe
Es sollte daher nach einer Möglichkeit, die Primär- mittels einer Dampfreformierung in ein Synthesegas,
energien zu diversifizieren und dabei gleichzeitig die eine Mischung aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid
zum Einsatz kommenden Energieträger für den mobi- umgewandelt. Aus diesem Synthesegas kann über
len Einsatz auf möglichst wenige Varianten zu kon- eine Fischer-Tropsch-Synthese konventioneller Kraft-
zentrieren, der Vorzug gegeben werden. stoff, insbesondere Dieselkraftstoff hoher Qualität,
In den nächsten Jahren wird insbesondere ein ver- ohne Schwefel- und Aromatengehalt, hergestellt wer-
stärkter Einsatz von Erdgas erfolgen, was auch für die den. Diese so genannte Gas-To-Liquid Technologie
5.2 Dieselmotor 255

seiner Produkte zu verringertem Verbrauch und,


Relative Emissionen im NEDC [%] Diesel Synfuel
insbesondere bei Dieselmotoren, zu weiter verbesser-
100
ten Emissionen [23].
80 Die Zwischenstufe Synthesegas ermöglicht in einer
60 weiteren Stufe zusätzlich den Einsatz auch regenera-
tiver Energieträger, wie Restholz, Reststroh, Energie-
40 pflanzen oder Biomüll. Entscheidend ist, dass dabei
20 die Qualität des Endproduktes nicht von der Beschaf-
fenheit der eingesetzten Primärenergie abhängig ist.
0
HC CO NOx Partikel Mit dieser Lösung werden die endliche Verfügbarkeit
und die CO2-Emission der synthetischen Kraftstoffe
Bild 5.2-52 Emissionsminderung bei Verwendung beseitigt. Die CO2-Emission wird damit lokal nicht zu
eines SynFuels in einem Dieselfahrzeug mit Euro4- Null, aber es wird ein CO2-neutraler Kreislauf ge-
Technologie schaffen, dessen Antriebsenergie die Sonne liefert.
Dieser Lösungsansatz eines biomassebasierten Sun-
(GTL) ist beim heutigen Rohölpreis-Niveau in vielen Fuels® kann als mittelfristig bezeichnet werden, da er
Regionen der Erde, in denen kostengünstig Erdgas heute noch nicht wirtschaftlich tragbar ist. Der große
oder Erdölbegleitgas anfällt, höchst wirtschaftlich. Vorteil dieser Route liegt darin, dass auch in dieser
Diese synthetischen Kraftstoffe (SynFuels) besitzen Phase die heutige Kraftstoff-Infrastruktur erhalten
ein hohes Potenzial zur Verbesserung der motori- bleiben kann.
schen Brennverfahren. Die Spezifikation eines syn-
thetischen Dieselkraftstoffs besticht vor allem durch
die hohe Cetanzahl und die Aromaten- und Schwefel- 5.2.9 Regelung
freiheit. Als Beispiel sind aus einem Flottenversuch
in Bild 5.2-52 einige Werte beim Einsatz eines syn- Die zunehmende Elektrifizierung auch des Diesel-
thetischen Kraftstoffes in einem Dieselmotor mit fahrzeuges macht eine Vernetzung der verschiedenen
Euro4-Technologie dargestellt. Die Bezugsbasis stellt installierten Regelkreise erforderlich (Bild 5.2-53).
ein heutiger Standard Dieselkraftstoff. Wie zu erken- Allein die Einführung der Dieselabgasnachbehand-
nen ist, ermöglichen synthetische Kraftstoffe die lungssysteme erfordert eine Vielzahl unterschiedli-
gleichzeitige Reduzierung der NOx- und der Partikel- cher Brennverfahren und Motorbetriebsarten. Um die
emissionen. Setzt man die Kraftstoffe in einem Fahr- Anforderungen und Potentiale nutzen zu können, ist
zeug ein und passt die Kalibrierung an, ermöglichen die Entwicklung entsprechender Regelalgorithmen
sie dem Automobilhersteller eine Weiterentwicklung und Systemmodelle erforderlich [24 – 26].

Abgasnach-
Getriebe behandlung

Motor
Antriebsstrang-
Management

Start-Stopp
Kraftstoffe

Rekuperation
Aerodynamik

Hochschalt-
Empfehlung

Rollwiderstand
Gewicht
Segeln

Bild 5.2-53 Regelkreis Automobil


256 5 Antriebe

NSC DPF
(DeNOx /DeSOx) (DPF-
Regeneration)

Abgastemperatur
Koordinatoren Normalbetrieb
(NSC-Heizen) (HD-/ND-AGR)

Zentraler
Betriebsarten-
koordinator

Dreiklappen-
Einspritzsystem
steuerung
Systemkomponenten Raildruck-
Lambda-Regler
Regelung

Abgasrückführ- Abgastemperatur-
system Regelung
Bild 5.2-54 Regelungs-
Fahrzeug- Ladedruck- Wirkungsgrad-
funktionen regelung Berechnung technik für den zentralen
Betriebsartenkoordinator

Jede Betriebsart, ob Normalbetrieb oder Regenerati- bis 20 Jahre die vorherrschenden Konzepte sein. Der
onsbetrieb für Dieselpartikelfilter oder DeNOx-Ein- schnelllaufende Hochleistungsdiesel hat dabei heute
richtung basiert auf einer Vielzahl von Eingangsgrö- einen hohen Entwicklungsstand erreicht und kann
ßen, die im Steuergerät verarbeitet und als Stellbefeh- sich mit dem Ottomotor messen lassen. Die Entwick-
le an die zugehörigen Aktuatoren gesendet werden. lungen der letzten Jahre waren geprägt durch:
Die verschiedenen Betriebsarten bestehen aus Modu-
len, die von einem Betriebsartenkoordinator gesteuert • Emissionsvorschriften,
werden (Bild 5.2-54). Bespiele sind die Diesel- • Verbrauchsminderung,
verbrennungsregelung (Bild 5.2-55) und die Partikel- • Geräuschvorschriften,
filterregeneration (Bild 5.2-56). • politische Diskussionen und
• Kostenreduzierung.
5.2.10 Die Zukunft des Dieselmotors
Daneben spielen Aspekte wie Rohstoffpreise, markt-
• Anforderungen spezifische Kundenwünsche, Wettbewerbssituation in
Die konventionellen Verbrennungsmotoren (Otto und den weltweiten Märkten und Unternehmensziele eine
Diesel) werden auch noch während der nächsten 10 Rolle (Bild 5.2-57).

Lage-
Sollwerte für die Sollwert
p Lagerregelung Verbrennungs- (1)
U [°KW] schwerpunkt-
p Lage-Istwert Lageregler
Zylinderdruck
U
Mehrmals- [°KW]
p
U berechnung Indiziertes Moment-Istwert
p [Nm] Regler für das (2)
U indizierte Moment

Zusätzliche Komponenten der Zylinderdruckregelung


Gesteuerte Struktur

Ansteuerbeginn Phi-HE Phi-HE-geregelt


Sollwertbildung [°KW] [°KW]

Fahrpedal Momentenpfad TRQ eff. TRQ_Ind. Momentenpfad TRQ_Ind. Momenten- Qnt-HE Qnt-HE-geregelt
Momenten-
(effektive (indizierte Mengen-
[%] [Nm] [Nm] [Nm] Bilanzierung
Momente) Momente) Umrechnung [°mg/Hub] [°mg/Hub]

Qnt-VE TRQ_Ind.-HE
[°mg/Hub] [Nm]

TRQ eff.: effektives Moment Qnt: Einspritzmasse VE: Voreinspritzung


TRQ_ind.: indiziertes Moment Phi: Winkel Ansteuerbeginn HE: Haupteinspritzung

Bild 5.2-55 Modellberechnung für die Zylinderdruckregelung


5.2 Dieselmotor 257

Regenerationsanforderung Interrupt (Systemfehler,


vom Diagnosegerät (Service) Bauteilschutz etc.)
simulierte
Rußmasse Rußbeladungs-
DPF- zustand
gemessene Rußmassen-
Rußmasse berechnung Regenerations-
Fehlerbehandlung koordinator
und Ersatzwerte DPF-
Betriebsarten-
wunsch
Drehzahl

Drehmoment

Abgastemperatur DPF-
Fahrzustands- DPF-
Geschwindigkeit berechnung Betriebsarten-
Fahrzustand
wunsch
Gang

Stationaritäts-
informationen (GRA)

Bild 5.2-56 Berechnung der Rußmasse auf einem DPF mit einem Simulationsmodell

marktspezifische
Rohstoff- Kundenwünsche
preise

Ressourcen- gesetzliche
verknappung Vorgaben

Bild 5.2-57 Anforderungen


Unternehmensziele Wettbewerbssituaion
in den Märkten an zukünftige Dieselfahr-
zeuge

• Diesel oder Otto? werden auch in Zukunft mit einem Dieselmotor


ausgerüstet sein.
Der Dieselmotor hat gegenüber dem Ottomotor Bei der Abgasminderung kommen auf den DI-Otto-
unbestritten Vorteile im Verbrauch (und damit auch motor vergleichbare Probleme wie auf den Dieselmo-
bei den CO2-Emissionen) und verfügt über ein höhe- tor zu, da beide DI-Konzepte mit noch in der Ent-
res Drehmoment, insbesondere im Bereich niedriger wicklung befindlichen komplexen Katalysatoren
Drehzahlen. Voll gebrauchsfähige Fahrzeuge mit ausgerüstet werden müssen.
einer CO2-Emission unter 90 g/km sind nach Mei- Die Verbrennungsgeräusche sind bei den Diesel-DI-
nung aller Experten nur mit Dieselmotoren darstell- Motoren im unteren Drehzahlbereich noch höher als
bar. In anderen Merkmalen war der Dieselmotor dem die der Ottomoren: In der Gesamtfahrzeugbetrach-
Ottomotor, der bei höheren Nenndrehzahlen betrieben tung nähern sich die Geräusche immer mehr an.
wird, unterlegen: beim Leistungsgewicht, beim Ver- Zusammenfassend kann die Frage, welches der in-
brennungsgeräusch und bei der Abgasnachbehand- nermotorischen Brennverfahren im Pkw auch in Zu-
lung (3-Wege Katalysator). kunft eine Daseinsberechtigung hat und welches
Diese Positionen sind durch das Potenzial des direkt- nicht, eindeutig beantwortet werden: Beide Konzepte.
einspritzenden Ottomotors in Diskussion geraten. Der DI-Ottomotor wird den DI-Dieselmotor nicht
Der Verbrauchsvorteil des Dieselmotors wird gegen- ersetzen. Vielmehr ist bei beiden mit weiteren Fort-
über dem Ottomotor kleiner werden. Das Otto-DI- schritten im Spannungsfeld von Verbrauchs- und
Prinzip führt dazu, dass nun der alte Abstand wie Abgasminderung zu rechnen.
zwischen Dieselvorkammer- und Ottomotor wieder
hergestellt ist, da beide Konzepte durch Einführung
• Das weitere Potenzial des Dieselmotors
der DI-Technik etwa denselben Reduktionssprung Die Entwicklung des direkteinspritzenden Dieselmo-
vollführt haben. Aber: Extrem sparsame Fahrzeuge tors wird weitergeführt werden. Die Reduzierung der
258 5 Antriebe

EU4
Partikelemission NEFZ [g/km]

innermotorische
Maßnahmen

BIN2 BIN5 EU6 EU5


DPF
Bild 5.2-58a Stetig
NOx-Nachbehandlung innermotorische Maßnahmen
steigende Anforderungen
an die Dieselmotorentech-
nologie durch die Weiter-
entwicklung der Abgas-
NOx-Emission NEFZ [g/km]
gesetzgebung

190

180 Trend ACEA Flotte 2006

170
ACEA
160
Emissionen [g/km]

150 Zielwert bei 19 % Minderung

140 2012

130

120

110 Zielwert bei 60 % Minderung


Bild 5.2-58b Anforderun-
100 2020 gen durch die CO2-
90
Gesetzgebung in der EU
(ACEA = europäischer
1100 1200 1300 1400 1500
Leergewicht in kg
Verband der Automobil-
hersteller)

Bild 5.2-58c Anforderungen


durch die wachsende
Anzahl von verschiedenen
Kraftstoffen

Abgasemissionen und deren Sicherstellung bei Alte- forderungen zu erfüllen sind. Insbesondere sind zu
rung des Fahrzeugs wird neben sich verschärfenden erwähnen die sich weltweit immer weiter verschär-
Verbrauchsszenarien der wesentliche Schwerpunkt fende Abgasgesetzgebung (Bild 5.2-58a) und die
sein. weltweite Anforderungen an geringe CO2-Emissio-
Dabei ist zu beachten, dass verschiedene Anforde- nen, die in Bild 5.2-58b exemplarisch für die EU
rungen aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher An- dargestellt sind. Daneben ist ein Trend zur einer grö-
5.2 Dieselmotor 259

• Motordrehzahlentwicklung von 4.000 auf 5.500 1/


relative CO2-Emission [%]
min
110 • Spezifische Leistung von 24,6 (1976) auf
66,0 kW/l heute
• Spezifischer Verbrauch von 6,3 (1977) auf 2,9 l/
105
100 km/t heute
• Geräusch eines Dieselmotors mit Common Rail-
100 Einspritzung vergleichbar mit dem Geräusch eines
EU4 EU3 EU2 EU1 Ottomotors
Emissionsstufe Aus heutiger Sicht stellen die Abgasemissionen von
NOx und der Partikel das größte Problem für den Die-
Bild 5.2-59 Zusammenhang zwischen den verschärf-
sel dar. Dabei sind die unterschiedlichen Abgasge-
ten Emissionsanforderungen (hier NOx) und den CO2-
setzgebungen in der Triade zu berücksichtigen.
Emissionen der Fahrzeugflotte
Um der zukünftigen Abgasgesetzgebung und weite-
ren Anforderungen wie Minderung des Kraftstoffver-
ßeren Diversifikation der Kraftstoffqualitäten, die
brauchs genügen zu können, sind große Anstrengun-
nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung führt,
gen bei der Motorenentwicklung, Abgasnachbe-
zu beobachten (Bild 5.2-58c). Die einzelnen Anforde-
handlung, Fahrzeugmassenreduzierung und Kraft-
rungen können nicht isoliert betrachtet werden. So
stoffqualitätsverbesserung erforderlich.
führt z.B. eine Reduktion der NOx-Emissionen, die
Prinzipiell sind hierbei die motorischen Maßnahmen
durch die Abgasgesetzgebung vorgegeben ist, zu
einer Abgasnachbehandlung vorzuziehen. Das größte
einer Erhöhung der CO2-Emissionen, die durch
Potenzial kommt der Mehrventiltechnik und der
andere Maßnahmen aufzufangen ist (Bild 5.2-59).
Weiterentwicklung der Hochdruckeinspritzung zu.
Daraus leiten sich die technischen Anforderungen an
Neben diesen Optimierungen sind Verbesserungen
den Dieselmotor ab (Bild 5.2-60).
bei der Brennraumform, dem Drall und Reibungs-
Die modernen Dieselmotoren zeichnen sich durch
minderung an allen Motorbauteilen wie Kolben und
Mehrventiltechnik, variable Hochdruckeinspritzung,
Kolbenringe, Kurbelwellen- und Pleuellager, Ölpum-
Abgasturbolader mit variabler Turbinengeometrie,
pe, Ventiltrieb und Nebenaggregate erforderlich.
Mehrstufenaufladung, geregelte Abgasrückführung,
Durch innermotorische Verbesserungen ist es gelun-
Oxidationskatalysator und vollelektronisches Motor-
gen, die meisten Motoren für leichtere Pkw soweit zu
mangement sowie Partikelfilter und Entstickung aus.
ertüchtigen, dass sie die Abgasnorm Euro4 ohne
Einige Größen, die die Entwicklung exemplarisch
Abgasnachbehandlung erfüllen können. Aufgrund der
kennzeichnen sind [27]:
definierten Emissionsgrenzwerte Euro5, aber auch
• Einspritzdruck 2.200 bar bei bis zu 7 Vorgängen durch die Immissionsvorgaben für Partikel und die
und Mengen bis 0,3 mm3 dadurch ausgelöste Feinstaubdiskussion wurde aus
• Ladedruck bis 2,5 bar bei bis zu 240.000 1/min politischen Gründen mit Euro4 der Partikelfilter in
und einer Hitzebeständigkeit bis zu 830 °C vielen Modellen freiwillig eingeführt. Ab Euro5 ist er
• Speicherkapazität des Motorsteuergeräts (Indika- auch technisch erforderlich. Damit gehört die Diskus-
tor für Komplexität) von 4 kB (1980) auf 4 MB sion um den Dieselpartikelfilter der Vergangenheit
heute an.

Niedriger Kraftstoff-
verbrauch

Hohes Drehmoment Geringe Emissionen

Niedriger Verbrauch
Hoher Komfort
von Schmierstoffen

Gute Recycling-
Bedienbarkeit fähigkeit

Niedrige Niedrige Bild 5.2-60 Technische


Hohe Lebensdauer Herstellungskosten Wartungskosten Anforderungen an zukünf-
tige Dieselmotoren
260 5 Antriebe

Die Entstickung setzt bei einigen Fahrzeugen mit Kraftstoffqualität spielt dabei speziell hinsichtlich
Euro5 ein, für Euro6 wird sie der Standard sein. Cetan-Zahl-Erhöhung (höher als 55), Reduzierung
Dazu beigetragen hat auch die verbesserte Kraftstoff- der Polyaromaten (kleiner als 0,5 Gew.%), Schwefel-
qualität, die zu einer effektiveren Verbrennung führte. gehalt (max. 10 ppm) und Metallgehalt (max. 1 ppm)
Aus der Reduzierung des Schwefelgehalts folgte eine wichtige Rolle bzw. ist Voraussetzung für eine
wesentlich eine Stabilisierung des Alterungsverhal- saubere Funktion der zukünftigen Technik. Mit erster
tens des Oxidationskatalysators. Die Maßnahmen zur Priorität wird auch in Hinblick auf eine Verschärfung
NOx-Reduzierung (höhere Abgasrückführraten und der Gesetzgebung durch Euro6 weiterhin an der
späterer Förderbeginn) haben aber eine CO-Erhöhung Optimierung des Motors gearbeitet. Wichtige The-
zur Folge. men sind dabei:
Doch durch optimierte Beschichtungsverfahren, hö-
here Edelmetallbeladung, dünnere Wände (besseres • Nochmals verbesserte Einspritzsysteme mit vari-
thermisches Anspringverhalten) und günstigere Ein- ablen Einspritzdrücken für Teillast und Volllast –
baulage (motornah) konnte die Effizienz des Oxida- aber auch für Vor-, Haupt- und Nacheinspritzung.
tionskatalysators erhöht und damit die gasförmigen • Neue Abgasrückführsysteme mit Rückführraten
Emissionen trotzdem nochmals reduziert werden. größer als 50 %.
Auch wenn die NOx-Emission in den letzten Jahren • Aufladesysteme zur Ladedruckerhöhung nicht nur
über 90 % gesenkt werden konnte, wird die weitere zur Drehmoment- und Leistungssteigerung, son-
Reduktion neben der CO2-Minderung die wesentliche dern speziell auch zur Steigerung der AGR-
Aufgabe der nächsten Jahre sein. Unter Berücksichti- Verträglichkeit in der Teillast.
gung eines kostenoptimierten Systems – aber auch • Abgesenkte bzw. variable Verdichtung bis auf ein
unter Beibehaltung der dieseltypischen Vorteile (ge- Verhältnis von unter 16:1.
ringer Kraftstoffverbrauch, hohes Drehmoment bei • Teilhomogene zylinderdruck-geführte Verbren-
niedrigen Drehzahlen) – ist aus den Komponenten nung (Bild 5.2-61) mit dem Ziel, überfettete Ge-
Motor, Oxidationskatalysator, Dieselpartikelfilter, mischzonen (Russbildung) und Temperaturspitzen
NOx-Nachbehandlung und Kraftstoff die geeignete (NOx-Bildung) zu vermeiden (Bild 5.2-62).
Strategie zu bilden. Natürlich muss auch das Fahr- • Triebwerksmaßnahmen an innermotorischen Bau-
zeug (insbesondere das Gewicht) und das Trieb- teilen (Reibung) und an Nebenaggregaten müssen
strangmanagement den zukünftigen Herausforderun- die Verbrennungsoptimierung unterstützen.
gen angepasst werden. Denkt man an die weitere Absenkung der Schadstoff-
Unter Einbeziehung all dieser Aspekte lassen sich emissionen oder an eine Reduzierung des beträcht-
unterschiedliche Strategien der weiteren Dieselent- lichen Aufwandes der Abgasnachbehandlung, so wird
wicklung aufstellen, um die Emissionen weiter zu beides nur dann zu erfüllen sein, wenn vor allem die
senken. NOx-Rohemissionen der geschichteten Brennverfah-
Aus heutiger Sicht ist Potential zur weiteren Reduzie- ren herabgesetzt werden können. Das heißt, eine
rung der Abgasemissionen und des Kraftstoff- NOx-Produktion muss während der Verbrennung
verbrauchs vorhanden. Die weitere Verbesserung der unterdrückt werden, ohne die Effizienz der Motoren

Konventionelle Verbrennung Teilhomogene Verbrennung


Nadelhub

Nadelhub
Zylinderdruck in bar

Zylinderdruck in bar

60 60

40 40

20
dQB/df in J/°KW

dQB/df in J/°KW

60 20 60
Brennverlauf

Brennverlauf

0 40 0 40

20 20

2500 0 2500 0
temperatur in K

temperatur in K
mittlere Gas-

mittlere Gas-

2000 2000

1500 1500

1000 1000

500 500
320 330 340 350 360 370 380 390 400 320 330 340 350 360 370 380 390 400

Kurbelwinkel f in °KW n. LW-OT Kurbelwinkel f in °KW n. LW-OT

–1
Bild 5.2-61 Vergleich der konventionellen und teilhomogenen Verbrennung bei n = 2.000 min und pme = 2 bar
5.2 Dieselmotor 261

Gemisch- Zündung CO
bildung 1. 2. Bildung Oxidation

10
„zu mager“

Aldehyde

CO
3 NOx
homogenisiert

Hoch-
lokales Luftverhältnis

AGR
Ziel THD

1 HG hoch

0,7
teilhomogenisiert

Diffusions-
konventionell

flamme
HG gering
Ruß
Bild 5.2-62 Strategie der
homogenen Verbrennung
0,1 im Dieselmotor (THD =
500 1000 1500 2000 2500 3000
lokale Temperatur [K]
Teilhomogene Diesel-
verbrennung)

zu verschlechtern, wozu man die Qualitätsregelung heute zu übersehen, ist im Wesentlichen das Ver-
mit Direkteinspritzung (DI-, TDI- oder FSI-Verfah- dampfungs- und Zündverhalten, also dessen Kompo-
ren) beibehalten muss. Es gilt daher die jeweiligen sition von entscheidender Bedeutung. Soll eine stär-
Vorteile von Otto- und Dieselmotor in einem neuen kere Homogenisierung der Gemischwolke erreicht
Verfahren zu vereinen. werden, ohne dass die Selbstzündung zu früh beginnt,
Mit der Einführung der Direkteinspritzung auch bei benötigt man einen Kraftstoff mit „frühem Siedebe-
den Ottomotoren näherten sich die Brennverfahren ginn und -ende“ sowie „reduzierten Selbstzündungs-
beider Motorkonzepte bereits deutlich an. Die nächs- eigenschaften“. Diese Eigenschaften steigen an in der
ten Stufen der Brennverfahrensentwicklung verstär- Reihenfolge Diesel > Kerosin > Naphtha > Ottokraft-
ken diesen Trend. Die Entwicklung einer „teilhomo- stoff. In Versuchen wurde die NOx-reduzierende Wir-
genisierten Dieselverbrennung mit/ohne Fremdzün- kung dieser Eigenschaften eindeutig nachgewiesen
dung“ und die in den Forschungs- und Entwicklungs- (Bild 5.2-63).
labors ebenfalls aktuelle Entwicklungsstufe „selbst- Zur Realisierung des kombinierten Verfahrens sind
zündender Ottomotor“ basieren bereits auf einer im noch zahlreiche Hürden zu bewältigen. Im stationären
Kern vergleichbaren Hardware. So ist es nur konse- Betrieb konnte das Verfahren bereits sehr stabil
quent, über die Entwicklung eines neuen kombinier- dargestellt werden. Der dynamische Betrieb setzt aber
ten Brennverfahrens nachzudenken, das die wesent- die Entwicklung völlig neuer Regelkonzepte, Senso-
lichen Merkmale beider Verfahren zusammenfasst. ren und Aktuatoren voraus [25, 26]. Mit einer Markt-
Grundlage eines solchen neuen „kombinierten Ver- einführung ist daher in diesem Jahrzehnt nicht mehr
fahrens“ ist ein neuer synthetischer Kraftstoff. Soweit zu rechnen.

70
Referenz-PD
60
NOx-Emission [g/h]

50

40
Diesel
30

20 Kerosin
Naphtha
10 homogen Bild 5.2-63 Potenzial der
Naphtha Emissionsminderung bei der
0
homogenen Verbrennung
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2
Rußzahl [FSN]
durch die Verwendung
besonderer Kraftstoffe
262 5 Antriebe

Nahrungsmittel Reststoffe, Zellulose


1. Generation 2. Generation

100
CO2-Reduktionspotenzial [%]

Stand der Technik


80 CO2-optimiert

60

40

20
Bild 5.2-64 CO2-Reduk-
0
Ethanol Biodiesel Hydriertes Biogas Ethanol BtL tionspotenzial durch Kraft-
Pflanzenöl 2. Gen.
stoffe

Die Umweltverträglichkeit des Dieselantriebes wird Vergleich zur Brennstoffzelle bezüglich der Treib-
immer mehr ganzheitlich beurteilt. Die Analyse kann hausgasemissionen nicht schlechter gestellt ist, insbe-
verschieden breit angelegt werden. Zur ganzheitli- sondere wenn er als Hybridlösung dargestellt wird.
chen Bewertung des Einflusses von Antriebskonzepten Betrachtet man den Material- und Energieeinsatz
und Kraftstoffen auf die Umwelt durch Energiever- während der Produktion und des Betriebes eines Die-
brauch und zugehöriger Treibhausgas-Emissionen muss selmotors, so lässt sich feststellen, dass der Dieselmo-
die gesamte Prozesskette von der Förderung über die tor über seine Lebensdauer gesehen ein relativ um-
Herstellung bis hin zur Verwendung der Kraftstoffe weltfreundliches Aggregat ist. Dies zeigt sich allge-
im Fahrzeug betrachtet werden (Bild 5.2-64). Die all- mein, insbesondere bei der Sachbilanz nach ISO
einige Betrachtung der Emissionen im Fahrzeug- 14040/41 des ersten „3 Liter Autos“. Dieser VW
betrieb wird dem Umweltgedanken nicht gerecht. Lupo 3 l war mit einem 45 kW Pumpe-Düse-Motor
So werden normalerweise zwei Schritte betrachtet: ausgerüstet, der als erster die EU-Abgasstandards für
• Well-to-Tank (Kraftstoff): Berechnung des Ener- 2005 unterschritten hatte und nur 2,99 l/100 km
gieverbrauchs und der Treibhausgas-Emissionen (entsprechend einer Emission von 81 g/km CO2)
über den gesamten Kraftstoffpfad von der Quelle verbraucht [29].
bis zur Zapfsäule. Der Energieaufwand ergibt sich aus dem Kraftstoff-
• Tank-to-Wheel (Fahrzeug): Berechnung des Ener- verbrauch, der Kraftstoffherstellung und der Herstel-
gieverbrauchs und der Treibhausgas-Emissionen lung und Bearbeitung der Werkstoffe (Bild 5.2-66).
bei Nutzung des Fahrzeugs. Die CO2-Emission ist im Wesentlichen durch die
• Die Kombination beider Elemente, also des Kraft- Energiegewinnung bestimmt, in der Nutzungsphase
stoffanteils und des Fahrzeuganteils, wird als (150.000 km, 10 Jahre) durch die Verbrennung von
Well-to-Wheel bezeichnet. Kraftstoff. Die Kohlenwasserstoffe stammen größten-
teils aus der Erdölverarbeitung. Der große Anteil der
Das Bild 5.2-65 zeigt eine Analyse verschiedener Nutzungsphase an der NOx-Emission ist typisch für
Antriebskonzepte und Kraftstoffe für das Jahr 2020 den Dieselmotor. Die SO2-Emission der Nutzungs-
im Vergleich zu einem heutigen ottomotorischen phase stammt ca. zur Hälfte aus dem Motorab-
Antrieb [28]. Es zeigt sich, dass der Dieselmotor im gas; zugrunde gelegt wurde ein Schwefelgehalt von

Gasoline FC Hybrid
Gasoline FC
Hydrogen FC Hybrid WTW GHG

Hydrogen FC WTW Energy

Diesel ICE Hybrid TTW Energy

Diesel ICE
Gasoline ICE Hybrid Bild 5.2-65 Vergleich der
Gasoline ICE Energieverbräuche im
2020 Baseline Fahrzeug (TTW) und der
gesamten Kette (WTW)
2001 Reference
und zugehöriger Treib-
0 20 40 60 80 100 120 140 160 hausgas-Emissionen nach
Relative Emissions
der MIT-Studie [22]
5.2 Dieselmotor 263

weltfreundlich und ressourcenschonend ist und damit


eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet, die im 21. Jahr-
68 %
hundert von Bedeutung sind sowohl ökonomisch als
Nutzungsphase auch ökologisch. Der Dieselmotor hat auf jeden Fall
neben dem Ottomotor seine Zukunftsberechtigung.
Literatur
24 % PKW-
Herstellung [1] Arcoumanis, C.; Schindler, K. P.: Mixture Formation and Com-
bustion in the DI Diesel Engine, SAE 972681 (1997)
8 % Diesel-/Öl- [2] Blessing, M.: Untersuchung und Charakterisierung von Zerstäu-
Herstellung
bung, Strahlausbreitung und Gemischbildung aktueller Diesel-
Gesamter Primär-Energiebedarf = 256 GJ = 71 MWh einspritzsysteme, Dissertation, Universität Stuttgart, 2004
für 150.000 km, 10 Jahre 3,0 l/100 km [3] Pischinger F. et al.: Grundlagen und Entwicklungslinien der
dieselmotorischen Brennverfahren, VDI-Berichte 714, 61 (1988)
[4] Pflaum, S. et al.: Wege zur Rußbildungshypothese, 31. Internati-
Bild 5.2-66 Energiekuchen des „3 Liter Autos“ [29]
onales Wiener Motorensymposium, 29./30. April 2010, Wien
[5] Predelli, O. et al.: Kontinuierliche Einspritzverlaufsformung in
Pkw-Dieselmotoren – Potentiale, Grenzen und Realisierungs-
100 ppm im Kraftstoff. Bei den Partikeln wurden die chancen, 31. Wiener Motorensymposium, 29./30. April 2010,
unterschiedlichen Stäube der Herstellung und des Wien
[6] Robert Bosch GmbH: Kraftfahrtechnisches Taschenbuch,
Betriebs zusammengefasst. Der Reifenabrieb wird in 27. Aufl. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
dieser Sachbilanz nicht erfasst. Die Emissionen im [7] van Basshuysen, R.; Schäfer, F.: Handbuch Verbrennungsmotor,
Wasser stammen aus der Fahrzeugwäsche und der 4. Aufl. Wiesbaden: Vieweg Verlag, 2007
Herstellung von Ersatzteilen. Bezogen auf die zuge- [8] Schnell, M. et al.: Neue Magnetventiltechnik für Common Rail
Systeme von Bosch für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge, 18. Aa-
hörige Abwassermenge sind diese Emissionen sehr chener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 5./7. Okto-
gering. ber 2009, Band 1, S. 249
Die gute Sachbilanz ist ein Ergebnis: [9] Schöppe, D. et al.: Delphi’s New Direct Acting Common Rail
Injection System, 30. Internationales Wiener Motorensymposi-
• der Verarbeitung von unbedenklichen Werkstof- um, 7./8. Mai 2009, Wien
fen (Eisen, Stahl, Aluminium), [10] Meyer, S. et al.: Ein flexibles Piezo-Common-Rail-System, MTZ
• der Fertigungsverfahren, 2/2002, Verlag Vieweg, Wiesbaden
[11] Engeler, W. et al.: MTZ 58 (1997), 11, 670 – 675
• der beherrschbaren Umweltbelange, [12] Heeb-Keller, A.: Neue Aufladekonzepte – alte Aufladekonzepte
• des hohen recyclingfähigen Materialanteils, im Vergleich, 15. Aufladetechnische Konferenz, 23./24. Sep-
• der langen Lebensdauer, tember 2010, Dresden
• des hohen thermischen Wirkungsgrades. [13] Bechmann, O. et al.: Partikelemission und -messung aus Sicht
des Anwenders: heute und morgen, Wiener Motorensymposium,
Ein Maßnahmenpaket wie das des 3 l-Lupo ließ sich Wien 2002
ACEA Programmes on the emissions of fine particles from
aufgrund der höheren Kosten am Markt nicht breit passenger cars, ACEA Report, Brussels 1999 und Brussels 2002
durchsetzen. Wegen der großen Herausforderung, die M. Mohr: Comparison study of PMP instrument candidates at
CO2-Emissionen des Straßenverkehrs stark zu mini- EMPA, ETH Conference on Nanoparticle Measurement, Zürich
mieren, muss allerdings auch auf diese Ansätze zu- 2002
[14] Schindler, K.-P. et al.: Wege zur weiteren Reduzierung der
rückgegriffen werden. Derzeit werden von verschie- Dieselmotoremissionen und deren Messung VDA Technischer
denen Herstellern verbrauchssparende Konzepte an- Kongress 2003, Band 2, S. 21
geboten, die einen Zwischenschritt darstellen. So lässt [15] Industry comments on proposed particulate measurement
sich der Verbrauch eines Polo 1,4 l 55 kW TDI mit techniques, OICA contribution to PMP, Informal document
Nr. 7, 45th GRPE, 2003
4,4 l/100 km auf 3,9 l/100 km reduzieren (siehe Ta- [16] Sasaki, S. et al.: Neues Verbrennungsverfahren für ein „Clean-
belle 5.2-6). Der Dieselmotor ist wesentlicher Bau- Diesel-System“ mit DPNR, MTZ 11/2002, Verlag Vieweg,
stein des Konzepts. Wiesbaden
[17] Hilzendeger, J. et al.: Anforderungsprofil an zukünftige Schmier-
So kann als Fazit festgestellt werden, dass der mo-
stoffe für PKW-Dieselmotoren mit aktiver Abgasbehandlung,
derne Dieselmotor leistungsfähig, wirtschaftlich, um- VDI-Berichte Nr. 1808, 2003
[18] Chigapov et al.: NOx Aftertreatment Catalyst Development for
Future Emission Standards, 5th Emission Control Conference,
Tabelle 5.2-6 Maßnahmen zur Verbrauchssenkung 10./11. Juni 2010, Dresden
am Beispiel des VW Polo Blue Motion [19] Schütte, T. et al.: Erfahrungen mit AdBlue-Aufbereitung und
daraus abgeleitete Anforderungen an zukünftige Systeme, 8.
Ausgang (1,4 l 55 kW TDI) 4,4 FAD-Konferenz, 3./4.11.2010, Dresden
• 4 + E Getriebe –0,2 [20] World-wide Fuel Charter, ACEA, Brüssel (1996), www.acea.be
• Aerodynamik Generator –0,1 [21] Quissek et al.: Wiener Motorensymposium (1998)
[22] Steiger, W.; Warnecke, W.; Louis, J.: Potenziale des Zusam-
• Rollwiderstand Reifen –0,1 menwirkens von modernen und künftigen Antriebskonzepten,
• Motormaßnahmen –0,3 ATZ 2/2003
• Dieselpartikelfilter +0,2 [23] Steiger, W.: Die Volkswagen-Strategie zum hocheffizienten
Auto, 22. Wiener Motorensymposium 2001, 26./27. April 2001,
Ziel: 1,4 l 59 kW TDI Euro 4/DPF 3,9
Wien
264 5 Antriebe

[24] Ohata, A.: Strategic Innovation for Engine Control System


Development, 31. Internationales Wiener Motorensymposium,
5.3 Aufladung
29./30. April 2010, Wien 5.3.1 Hintergrund
[25] Clever, S., Isermann, R.: Modellgestützte Fehlerdiagnose für
Pkw-Dieselmotoren, 18. Aachener Kolloquim Fahrzeug- und Die Bedeutung der Aufladung hat in der Motoren-
Motorentechnik, 5./7. Oktober 2009, Aachen, Band 1, S. 281 technik in der aktuellen Vergangenheit sehr stark
[26] Duesterdiek, T. et al.: Strategien zur CO2- und Emissionsopti-
mierung von Diesel-Abgasnachbehandlungssystemen, 5th Emis-
zugenommen. Der Einsatz von Turboladern war ein
sion Control Conference, 10./11. Juni 2010, Dresden Grund für den Erfolg von Dieselmotoren in den
[27] Dorenkamp, R.: 10 Jahre Dieselmotorenentwicklung, 8. FAD- letzten Jahren. Heute hat nahezu jeder Dieselmotor
Konferenz, 3./4.11.2010, Dresden einen Turbolader, der Anteil aufgeladener Ottomoto-
[28] MIT: Comparative Assessment of Fuel Cell Cars, Massachusetts
Institute of Technology, Cambridge, MA 2003, USA
ren wächst stetig. Genauso wie davon ausgegangen
[29] Dick, M.: Der 3-l-Lupo – Technologien für den minimalen Ver- werden kann, dass Verbrennungsmotoren noch meh-
brauch, VDI-Bericht 1505, Düsseldorf (1999) rere Jahrzehnte die Antriebssysteme dominieren, wird
die Bedeutung der Systeme zur Aufladung solcher
Motore weiter auf hohem Niveau bleiben bzw. zu-
nehmen. Im Jahr 2010 wurden weltweit etwa 19 Mil-
Allgemeine Literatur lionen Turbolader gefertigt. Die Technologien zur
Erfüllung gleichzeitig steigender Anforderungen
[30] Mollenhauer, K.: Handbuch Dieselmotoren, Springer Berlin
Heidelberg New York (1997) hinsichtlich Verbrauch, Emissionen und Leistung
[31] von Fersen, O.: Ein Jahrhundert Automobiltechnik, VDI-Verlag werden auf verschiedenen Ebenen intensiv weiter-
GmbH, Düsseldorf (1986) entwickelt. Die Aufladung spielt dabei stets eine
[32] Pölzl, H.-W. et al.: Die evolutionäre Weiterentwicklung des
zentrale Rolle. Hierzu werden bei der Mehrzahl der
Automobils. Der neue V8 TDI-Motor mit Common Rail, Euro-
tax International AG, 11/1989 Verbrennungsmotoren unterschiedliche Abgasturbo-
[33] Hack, G.: Der schnelle Diesel, Motorbuchverlag Stuttgart (1985) lader eingesetzt. Dies hat seinen Grund insbesondere
[34] Bauder, R.: Die Zukunft der Dieselmotoren-Technologie, MTZ darin, dass gegenüber anderen Aufladesystemen
59 (1998), 7/8, X – XVII
[35] Basshuysen, G. et al.: Zukunftsperspektiven des Verbrennungs-
höhere Aufladegrade bei besseren Wirkungsgraden
motors, 60 Jahre MTZ, Sonderheft (1999) und verhältnismäßig geringem konstruktiven Auf-
[36] van Basshuysen/Schäfer: Handbuch Verbrennungsmotoren, wand am Motor erreicht werden. Turbolader sind die
Wiesbaden: Vieweg + Teubner Verlag, 2010 technische Voraussetzung, um durch Verkleinerung
[37] MTZ Sonderheft: 25 Jahre Dieselmotoren von Volkswagen, Mai
2001, Verlag Vieweg, Wiesbaden
von Motoren bei gleicher Leistung den Kraftstoff-
[38] Steinparzer, F. et al.: Die Dieselantriebe der neuen BMW 7er verbrauch dadurch zu senken, dass die Reibung redu-
Reihe, MTZ 10/2002, Verlag Vieweg, Wiesbaden ziert, die Gemischbildung verbessert und der Be-
[39] Brüggemann, H. et al.: Dieselmotoren für die neue E-Klasse, triebsbereich in verbrauchsgünstigere Bereiche ver-
MTZ 4/2002, Verlag Vieweg, Wiesbaden
[40] Hadler, I. et al.: Der weltweit stärkste Seriendieselmotor für
schoben wird („Downsizing“). Dabei sind die Gren-
einen PKW, ATZ/MTZ Sonderheft Juli 2002, Verlag Vieweg, zen des Turboladers ähnlich denen des Verbren-
Wiesbaden nungsmotors, wenn sich beide Maschinenarten auch
[41] VDI: Innovative Fahrzeugantriebe, Tagungsband, Dresden 2000, in der Umsetzung thermodynamischer Prozesse
VDI-Berichte 1565, Düsseldorf, ISBN 2-18-091565-X
[42] VDI: Innovative Fahrzeugantriebe, Tagungsband Dresden 2002,
generell unterscheiden. Die thermodynamisch ähnli-
VDI-Berichte 1704, Düsseldorf, ISBN 3-18-091704-0 chen Prozesse der Verdichtung und Entspannung von
[43] VDI: Innovative Fahrzeugantriebe, Tagungsband Dresden 2004, Verbrennungsmotor und Turbolader sind im oszillie-
VDI-Berichte 1852, Düsseldorf, ISBN 3-18-091852-7 renden Verbrennungsmotor naturgemäß vollkommen
[44] Borgmann, K.: Evolution oder Revolution – der PKW-Antrieb
der Zukunft, in VDI-Berichte 1852, ISBN 3-18-091852-7
anders technisch realisiert als im rotierenden Turbo-
[45] Hadler, J.: Der Dieselmotor im Spannungsfeld zwischen lader. Der Abgasturbolader entspricht in Bauart und
Fahrspaß, Verbrauch, Emissionen und Kosten. ATZ/MTZ- Energieumsetzung prinzipiell einer Gasturbine. Der
Tagungsband (Der Antrieb von morgen Ingolstadt 17. – 18. Fe- Arbeitsbereich von Turboladern ist eingegrenzt durch
bruar 2005). Wiesbaden: Vieweg Verlag. 2005
[46] ATZ/MTZ-Tagungsband (Der Antrieb von morgen Ingolstadt
Temperaturen (Abgas), Drehzahlen (Laufräder und
17. – 18. Februar 2005). Wiesbaden: Vieweg Verlag. 2005 Lager), Strömungsverhalten (z.B. Verdichterpum-
[47] Dorenkamp, R.; Garbe, T.: Einsatz moderner Motorentechnik pen), Dynamik („Turboloch“) und Wirkungsgrade
im Zielkonflikt mit landesspezifischen Rahmenbedingungen, (Verdichter, Turbine, Lager).
4. FAD-Konferenz „Herausforderung – Abgasnachbehandlung
für Dieselmotoren“, 8./9. 11. 2006, Dresden
Prinzipiell lässt sich sagen, dass die Aufladung von
[48] Hadler, J.: Die neue 5-Zylinder-Dieselmotoren-Generation für Verbrennungsmotoren dazu dient, die Luftmenge, die
leichte Nutzfahrzeuge, 27. Internationales Wiener Motorensym- für den Verbrennungsprozess im Motor zur Verfü-
posium, 27./28. April 2006, Wien gung steht, zu steigern, um bei bestimmten Vorgaben
[49] Fortschritt – Berichte VDI/30. Internationales Wiener Motoren-
symposium 7. – 8. Mai 2009 (ISBN 978-3-18-369712-0, VDI
für das Mengenverhältnis aus Kraftstoff und Luft
Verlag, Düsseldorf 2009) („Luftverhältnis“) die Menge an zugeführtem Kraft-
[50] Fortschritt – Berichte VDI/31. Internationales Wiener Motoren- stoff steigern zu können, um wiederum die Leistung
symposium 29. – 30. April 2010 (ISBN 978-3-18-371612-8, VDI des Motors zu steigern. Diese Ideen sind so alt wie
Verlag, Düsseldorf 2010)
[51] 19. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik/4. –
die Idee des Verbrennungsmotors selbst und wurden
6. Oktober 2010 (www.aachen-colloquium.com) von Daimler und Diesel früh untersucht. Der Ansatz
5.3 Aufladung 265

der Ausnutzung der Abgasenergie wie beim Abgas- 20


Motoren ohne Turbolader
turbolader geht zurück auf ein Patent des Schweizers 18

Anzahl Pkw pro Jahr [Mio. Stück]


Ottomotoren mit Turbolader
Alfred Büchi aus dem Jahr 1905. Ein erster Meilen- 16 Dieselmotoren mit Turbolader
stein bei der Umsetzung war ein Höhenrekord eines 14
Doppeldecker-Flugzeugs, das mit einem durch einen 12
Turbolader aufgeladenen Motor angetrieben war. 10
Nicht nur in den vielfältigen Anwendungsfällen von 8
aufgeladenen Verbrennungsmotoren in Fahrzeugen
6
auf der Straße, der Schiene, dem Wasser und der Luft
4
sowie Industrieanwendungen sind bedeutende Fort-
2
schritte durch die Aufladetechnik erreicht worden. Im
0
Bereich der Landantriebe für Nutzfahrzeuge und 1995 2000 2005 2010
Personenkraftwagen setzte sich der Turbolader nach Jahr
dem zweiten Weltkrieg zunehmend durch, wobei sich
in einzelnen Anwendungen auch andere Systeme, Bild 5.3-1 Entwicklung des europäischen Markts von
besonders nach dem Verdrängerprinzip arbeitende Pkw-Turboladern
Verdichter (z.B. mechanisch angetriebene Rootsla-
der), durchgesetzt haben. Entscheidende Veränderun- welle, Lader: Verdichterleistung) bezogen auf die
gen haben sich durch direkteinspritzende Dieselmoto- jeweilige Masse miteinander, so lässt sich feststellen,
ren ergeben, die sich auf Grund ihres Arbeits- und dass der Abgasturbolader spezifisch (massebezogen)
Brennverfahrens besonders für die Aufladung mit dreifach höher belastet ist als der Motor (Tabelle 5.3-1;
Turboladern eignen. Dies drückt sich auch dadurch Verhältnis von 1,75 kW/kg zu 0,59 kW/kg).
aus, dass seit den 80er-Jahren die Erfinderaktivität in
Tabelle 5.3-1 Vergleich der Nutzleistung von Motor
Form von Patenten bedeutend zunimmt. In den ver-
und Turbolader am Beispiel eines 100 kW-Diesel-
gangenen Jahren wurden verschiedene bedeutende
motors
Ideen im Bereich der Turbolader-Regelung marktreif
entwickelt, z.B. der variable Düsenring oder die Nutzleistung Masse Nutzleistung/
zweistufig geregelte Aufladung. Aktuell wird viel im Nenn- [kg] Masse
Entwicklungskapazität in weitere Verbesserungen punkt [kW] [kW/kg]
investiert. Gerade die Kombination mehrerer Syste-
me, z.B. von zwei Turboladern, eines Turboladers mit Verdichter 14 8 1,75
einem Kompressor oder eines Turboladers mit einem Motor 100 170 0,59
Elektromotor bieten hier viele Möglichkeiten. Aber
der Turbolader selbst hat auch weiteres Entwick- Die Zukunft des Turboladers wird dadurch entschie-
lungspotential, z.B. durch Werkstoffoptimierungen den werden, wie ein Beitrag zur Verbesserung der
oder Regelbereicherweiterungen. Die Vergangenheit motorischen Prozesse bei akzeptablen Kosten und
hat dabei jedoch gezeigt, dass nicht alle scheinbar verbesserter Qualität erfolgen kann. Der ganz große
sinnvollen Überlegungen zum Erfolg führen. Oft sind Innovationstraum, z.B. durch einen luftgelagerten
die Aufwendungen für Verbesserungen im Verhältnis Turbolader, wird sich dabei an kontinuierlichen Ver-
zum erzielten Erfolg nicht vertretbar. besserungen der bestehenden Techniken messen müs-
Neben den Verbesserungen hinsichtlich Funktionali- sen.
tät spielt eine Verbesserung der Qualität eine bedeu-
tende Rolle. Bei Kundenbeanstandungen ist der 5.3.2 Aufladeprinzip
Turbolader stets auf den vorderen Plätzen zu finden. Bei den im Kraftfahrzeugbereich üblicherweise
Die Mängel lassen sich in die Bereiche Fertigungs- verwendeten 4-Takt-Motoren findet der Austausch
fehler, Funktionseinschränkungen, Lebensdauerpro- von Abgas und Frischluft in der sogenannten „La-
bleme und zunehmend Akustikprobleme einteilen. dungswechselschleife“ statt. Da die Kraftstoffmenge
Begründet liegen diese darin, dass einerseits der insbesondere bei der Direkteinspritzung variabel und
Turboladermarkt überproportional gewachsen ist (in ohne entscheidende Grenze zuführbar ist, ist die
Westeuropa stieg der Anteil von aufgeladenen Moto- Leistungsabgabe durch die zur Verfügung stehende
ren von 20 % im Jahr 1995 auf 50 % im Jahr 2010, Luftmenge begrenzt. Dabei ist der Druck („Lade-
Bild 5.3-1). Darüber hinaus kann festgestellt werden, druck“) bzw. eigentlich die Dichte der Frischluft die
dass, auch bedingt durch steigende spezifische Mo- entscheidende Größe. Freiansaugende Motoren (ohne
torleistung, inzwischen fast alle Bauteile und Bau- Aufladung) kommen somit schnell an natürliche
gruppen des Turboladers an ihre Belastungsgrenzen Grenzen, wenn eingespritzter Kraftstoff nicht voll-
gekommen sind. Vergleicht man an einem 100 kW- ständig verbrannt werden kann. Soll die effektive
Dieselmotor die Nutzleistung von Verbrennungsmo- Leistung Pe des Motors gesteigert werden soll, kann
tor und Turbolader (Motor: Leistung an der Kurbel- dies entweder durch Steigerung des Zylinderhubvo-
266 5 Antriebe

120

100
110 kW TDI

80 96 kW TDI
Leistung [kW]

60 74 kW TDI

40 47 kW TDI

20

0
1000 2000 3000 4000 Bild 5.3-2 Leistungsvariation
Drehzahl [1/min] durch Aufladung (Beispiel
1.9 l-Dieselmotor (VW))

lumens Vh, der Zylinderanzahl z, der Drehzahl n, der motor nahezu beliebig durch Veränderung von Ein-
Taktzahl i oder des effektiven Mitteldrucks pme erfol- spritzmenge und Ladedruck variiert.
gen (Gleichung 1).
Schwingrohraufladung
Pe = Vh ⋅ z ⋅ n ⋅ i ⋅ pme (Gl.1)
Zur Aufladung können verschiedene Prinzipien ein-
Die Motordrehzahl kann üblicherweise nicht beliebig gesetzt werden. Zunächst sei hier die Schwingrohr-
gesteigert werden, eine Erhöhung von Zylinderhub- aufladung (Bild 5.3-3a) genannt. Hierbei wird kein
volumen oder Zylinderzahl würde größere, schwerere aktives Aufladeaggregat eingesetzt. Stattdessen wer-
Motoren mit erhöhter innerer Reibung bedeuten. Der den gasdynamische Schwingungen der Frischluft im
effektive Mitteldruck dagegen lässt sich auf Grund Ansaugtrakt genutzt, um die Ladungsmenge im
der Flexibilität des Einspritzsystems verhältnismäßig Motor zu erhöhen. Dabei kann sich bei geeigneter
einfach steigern, er nimmt linear mit der Dichte der Wahl der Schwingrohrlänge und des Volumens bei
zugeführten Frischluft zu. Hier kommt die Aufladung einer bestimmten Motordrehzahl eine Resonanz der
ins Spiel. In der Praxis lässt sich dieser Zusammen- Luftschwingung einstellen, die zur Erhöhung des
hang am Beispiel des 1.9 l-TDI-Motors von Volkswa- Aufladegrads führt. Dieser ist jedoch in der erreichba-
gen besonders deutlich zeigen, da er in vielen Leis- ren Höhe begrenzt und existiert nur bei einer be-
tungsvarianten existiert (Bild 5.3-2). Gegenüber dem stimmten Motordrehzahl, solange die Schwingrohr-
nicht aufgeladenen SDI-Motor wurde die Leistung länge nicht durch beispielsweise ein Schaltsaugrohr
der aufgeladenen TDI-Motoren bei gleichem Grund- variiert wird.

SR LLK LLK

V T

V V

M M M

a) Schwingrohr- b) Kompressor- c) Abgasturbo-


aufladung aufladung aufladung

M Verbrennungsmotor V Verdichter SR Schwingrohr


LLK Ladeluftkühler T Turbine V Volumen
Bild 5.3-3 Aufladeprinzipien
5.3 Aufladung 267

Kompressoraufladung tors entzogen werden muss. Üblicherweise wird der


Zur aktiven Aufladung kann alternativ ein Verdichter Lader geregelt betrieben. Dies kann mit einem regel-
eingesetzt werden. Zunächst soll der Fall betrachtet baren Bypass realisiert werden (z.B. DaimlerChrys-
werden, dass dieser mechanisch angetrieben wird ler-4-Zylinder-Ottomotor, 1.8 l, 120 kW, „Kompres-
(Bild 5.3-3b). Zur Vermeidung höherer Getriebe- sor“ (Rootsverdichter)). Zusätzlich kann zur Senkung
übersetzungen wird dabei üblicherweise ein Verdich- des Verbrauchs in Bereichen geringen Ladedruckbe-
ter eingesetzt, der nach dem Verdrängerprinzip arbei- darfs eine Abschaltung des Kompressors mit Hilfe
tet und im folgenden als Kompressor bezeichnet wird. eine steuerbaren Kupplung vorgesehen werden. Ins-
Diese Art der motorischen Luftversorgung wird häu- gesamt ist der konstruktive Aufwand am Motor bei
fig „mechanische Aufladung“ oder „Kompressorauf- dieser Art der Aufladung hoch.
ladung“ genannt. Ein Kompressor führt die Drucker-
Abgasturboaufladung
höhung durch Volumenverringerung durch, wodurch
die Antriebsdrehzahl proportional und in der gleichen Die Abgasturboaufladung (Bild 5.3-3c) hat ein ther-
Größenordnung der des Verbrennungsmotors ist. Da- modynamisches Antriebsprinzip. Die Energie zur Auf-
bei haben sich im wesentlichen drei Bauformen ladung wird dem Abgas entzogen. Dies hat den Vor-
durchgesetzt, der Rootslader, der Schraubenlader so- teil, dass dabei ein Teil der Wärmeenergie des Abga-
wie der Spirallader. Die entsprechenden Arbeitsver- ses genutzt werden kann, was den Wirkungsgrad des
fahren zur Druckerhöhung unterscheiden sich in ihrer Motors verbessert. Dabei erfolgt die Energiebereit-
technischen Umsetzung, wobei es insbesondere Un- stellung durch eine Turbine prinzipiell dadurch, dass
terschiede hinsichtlich des erreichbaren Ladedrucks Abgas durch die Turbine entspannt wird. Das Abgas
und der Herstellungsaufwendungen gibt. Mit dem wird vor dem Turbinenrad beschleunigt, im Laufrad
Begriff „mechanische Aufladung“ ist die Art des wird die entsprechende Energie in Form von Drall auf
Antriebs charakterisiert. Dieser erfolgt direkt gekop- die Welle übertragen. Für einen guten Wirkungsgrad
pelt z.B. über eine Riemenübersetzung von der Kur- ist eine hohe Leistungsdichte mit großen Umfangsge-
belwelle aus. Das Kennfeld weist steile Kennlinien schwindigkeiten des Laufrads nötig, was andererseits
(Linien konstanter Verdichterdrehzahl nV) auf (Bild – verglichen mit den Kompressoren – in kleinem Bau-
5.3-4a). Dies bedeutet, dass schon bei kleinen Motor- volumen der Turbolader resultiert. Bei Motoren für
drehzahlen ein hoher Ladedruck bereitgestellt werden Personenkraftwagen werden Turbolader eingesetzt,
kann, was das dynamische Verhalten des Motors die Drehzahlen weit oberhalb von 200.000 l/min
positiv beeinflusst. Begrenzt ist diese Art der Aufla- haben können. Die heute verwendeten Turboverdich-
dung dadurch, dass die aufgewendete Leistung zur ter arbeiten verglichen mit der Turbine mit einem um-
Verdichtung der Luft einschließlich der Systemrei- gekehrtem Wirkprinzip. Das Prinzip der Abgasturbo-
bungsverluste vollständig der Nutzleistung des Mo- aufladung mündet dabei gegenüber der mechanischen

Rootsverdichter Spiralverdichter Turboverdichter

Ke
1/ nV 1/ nV 3/ nV nV nnli
Verdichterdruckverhältnis [–]

Verdichterdruckverhältnis [–]

4 2 4
Kennlinie

instabiler nie
Bereich
ze
en

hV = const.
gr
mp
Pu

hV =
const. nV
3/ nV
4
1/ nV
1/ 2
4 nV
red. nom. Volumenstrom [–] red. nom. Volumenstrom [–]

a) Kennfeld des Verdrängerladers (Kompressor) b) Kennfeld des Strömungsladers (Turbolader)

Bild 5.3-4 Verdichter-Prinzipien


268 5 Antriebe

Aufladung auch in einer vollkommen anderen Ver- turen (selten über 850 °C), dafür höhere Ladedrücke
dichterbauart. Deren Kennfeld unterscheidet sich (je nach spezifischem Drehmoment bis etwa 2 bar
nicht nur durch eine andere Charakteristik der Linien Überdruck). Der Anwendungsbereich in Pkw ist von
gleicher Drehzahl (Kennlinien nV) gegenüber dem flexiblem Fahrverhalten geprägt, sodass die Motoren
Kompressor (Bild 5.3-4b; Abflachen des Druckauf- in einem breiten Kennfeld zwischen Pumpgrenze und
baus bei Reduzierung des Volumenstroms; maximale Nennleistung betrieben werden. Lkw-Dieselmotoren
Drehzahl etwa 20fach höher als bei der Kompressor- werden in einem schmalen Kennfeld betrieben und
aufladung). Für Turboverdichter ist zudem ein in- sind üblicherweise für einen guten Verbrauch opti-
stabiler Strömungsbereich typisch. Hierfür verant- miert. Ihre Ladedrücke liegen deutlich oberhalb der
wortlich sind Ablösungserscheinungen bei der zum der Pkw-Anwendung (bis etwa 3 bar Überdruck) bei
Druckaufbau notwendigen Verzögerung der Strö- wiederum geringeren Abgastemperaturen. Die ge-
mung, die dazu führen können, dass sich die geför- nannten Werte für Abgastemperaturen und Ladedrü-
derte Luft entgegen der eigentlichen Strömungsrich- cke sind als grobe Richtwerte angegeben und variie-
tung zurück durch den Verdichter bewegt. Dieser ren entsprechend motorischer Applikation. Der Lade-
Vorgang vollzieht sich zyklisch und wird auf Grund druck wird letztendlich von der spezifischen Belas-
der Geräuschbildung als „Pumpen“ bezeichnet. Den tung des Motors (Drehmoment) und vom Kraftstoff-
Übergang zwischen dem stabilen und dem instabilen Luft-Verhältnis bestimmt (Bild 5.3-5).
Bereich des Kennfelds nennt man dementsprechend Solange das motorische Brennverfahren nicht bedeu-
„Pumpgrenze“. Bei der Auslegung des Verdichters ist tend umgestellt wird, verändert die Verwendung
darauf zu achten, dass der Motor nur im stabilen eines Turboladers die Konstruktion des Verbren-
Bereich des Kennfelds betrieben werden kann. Bei nungsmotors verhältnismäßig wenig, da er am Ab-
Diesel- und Ottomotoren hat dies in Bereichen hoher gaskrümmer montiert ist und ansonsten keinen bedeu-
Drehmomente, d.h. hoher Ladedrücke und niedriger tenden Eingriff an den Bauteilen des Motors erfor-
Motordrehzahlen, eine Einschränkung des Betriebs- dert. Bei Ottomotoren ist dies nur entsprechend
bereichs zur Folge. eingeschränkt gültig, da die Einführung der Benzindi-
rekteinspritzung das Brennverfahren und damit die
Sonstige Systeme Bauteile des Motors bedeutend verändert hat. Auf der
Neben den drei genannten Arten der Aufladung von anderen Seite folgt aus dem Prinzip, dass der Turbo-
Verbrennungsmotoren existieren noch weitere Ver- lader mit dem Motor nur über das Abgas und nicht
fahren, die sich allerdings noch nicht durchsetzen über die Kurbelwelle gekoppelt ist, dass das dynami-
konnten. Dazu zählt zum Beispiel die „Comprex-Auf- sche Verhalten des Motors nicht dem des stationären
ladung“, bei der in einem als Zellenrad ausgeführten Verhaltens entspricht. Dies liegt einerseits daran, dass
Rotor Abgas direkt Energie auf die Frischluft über- der Rotor mit den beiden Laufrädern eine Masse und
trägt. Der Rotor hat dabei nicht die Funktion des damit eine Trägheit aufweist (mechanische Trägheit)
aktiven, unmittelbaren Druckaufbaus, sondern dient und andererseits daran, dass Abgasenergie bei Be-
der Synchronisierung von Abgas- und Frischluftdy- schleunigungsvorgängen immer verzögert aufgebaut
namik. wird (thermische Trägheit). Dies wird üblicherweise
Bewertet man die jährlichen Verkaufsvolumina der als „Turboloch“ bezeichnet.
verschiedenen Aufladesysteme (Turbolader: etwa
17 Mio Einheiten pro Jahr; Kompressoren etwa 5.3.3 Konstruktiver Aufbau
0,5 Mio Einheiten pro Jahr), so wird der Erfolg der
Turboaufladung offensichtlich. Hierbei kann man Bestimmte konstruktive Elemente von Abgasturbola-
wiederum die drei häufigsten Anwendungsfälle bei dern sind unabhängig vom Anforderungsfall sehr
Pkw-Ottomotoren, Pkw- und Lkw-Dieselmotoren ähnlich (Bild 5.3-6). Die Laufräder von Verdichter
vergleichen und dabei feststellen, dass diese entspre-
chend der unterschiedlichen Ausbildung der thermo- 4500
dynamischen Arbeitsverfahren unterschiedliche Cha- 4000
rakteristika aufweisen. Bei Pkw-Ottomotoren sind 3500
Ladedruck [mbar]

insbesondere bei externer Gemischbildung die reali- 3000


l = 1,5
sierbaren Ladedrücke durch die mit steigendem Auf- 2500
ladegrad zunehmende Klopfneigung auf maximal 2000
l = 1,0
etwa 1 bar Überdruck begrenzt. Mit der Einführung 1500
der Benzindirekteinspritzung wird der Ladedruckbe- 1000
reich zu höheren Werten ausgedehnt. Typische ma- 500

ximale Abgastemperaturen liegen heute bei 950 °C, 0


50 75 100 125 150 175 200 225 250
die Entwicklungen bei Motor- und Turboladerherstel- spezifisches Drehmoment [Nm/l]
lern zielen für die Zukunft auf 1050 °C. Pkw-Diesel-
motoren erreichen deutlich geringere Abgastempera- Bild 5.3-5 Ladedruckabhängigkeit
5.3 Aufladung 269

Verdichterrad
Axiallager
Radiallager
Kolbenring (ts)
Turbinenrad

Bild 5.3-6 Turbolader-


konstruktion

und Turbine werden in radialer Bauweise ausgeführt. nimmt die aerodynamischen Kräfte aus den Laufrä-
Dies bedeutet, dass die Strömungsrichtung auf der dern auf. Die statische Belastung der Axiallagerung
Hochdruckseite (Verdichteraustritt und Turbinenein- ist gegenüber der Belastung der Radiallagerung ver-
tritt) radial gerichtet ist. Die Strömung auf der Nie- hältnismäßig hoch. In der Radiallagerung hat die
derdruckseite (Verdichtereintritt und Turbinenaus- Funktion der Dämpfung hohe Bedeutung, durch die
tritt) hingegen ist zur Reduzierung des Bauvolumens das Bewegungsverhalten des Rotors im gesamten Be-
meist axial gerichtet. Dies führt zu der typischen, triebsbereich des Laders bestimmt wird. Die Abdich-
geometrisch komplexen Bauart dieser Laufräder, tung des Rotors zwischen Turbinen- bzw. Verdich-
welche wiederum dazu geführt hat, dass die Räder in tergehäuse zum dazwischen liegenden Lagergehäuse
der Vergangenheit fast ausschließlich gegossen wur- erfolgt durch Labyrinthdichtungen, die mit Hilfe von
den. Es wird erwartet, dass Verdichterräder zuneh- Kolbenringen aufgebaut werden.
mend häufiger vollständig gefräst werden. Dies Die konstruktive Gestaltung von Kompressoren un-
verbessert gleichzeitig die akustischen Eigenschaften, terscheidet sich naturgemäß entscheidend von Tur-
die Ur-Unwucht sowie die Festigkeitseigenschaften. boladern, da das Verdichtungsprinzip und dem fol-
Um die Laufräder sind jeweils Spiralgehäuse ange- gend auch die Drehzahl vollkommen anders sind.
ordnet. Laufrad und Gehäuse des Verdichters beste- Ihre Rotoren sind komplexe Geometrien, häufig ver-
hen im allgemeinen aus Aluminiumlegierungen, bei schränkt (Roots- oder Schraubenverdichter) oder
besonders hoher Umfangsgeschwindigkeit, hoher nicht rotationssymmetrisch (Spiralverdichter). Da der
Temperatur oder hoher Lebensdauer werden für Ver- Druckaufbau durch Verdrängung realisiert wird, spie-
dichterräder auch Titanlegierungen verwendet. Das len Spaltmaße zwischen rotierenden und nicht-rotie-
Turbinenlaufrad besteht auf Grund der Abgastempe- renden Bauteilen eine zentrale Rolle.
ratur aus Nickel-Basislegierungen. Hier gibt es zur
Reduzierung der Massenträgheit Ansätze, als alterna- 5.3.4 Kopplung von Motor und Verdichter
tiven Werkstoff Titan-Aluminium-Legierungen ein-
zusetzen, die gute Festigkeitseigenschaften bei deut- Ein Fahrzeugmotor wird im allgemeinen nicht nur im
lich geringerer Dichte auch bei typischen Abgastem- Nennpunkt (Punkt mit maximaler Leistung), sondern
peraturen aufweisen. Turbinengehäuse bestehen aus in einem weiten Last- und Drehzahlbereich einge-
verschiedenen hochwarmfesten Gusslegierungen. Die setzt. Bei einem aufgeladenen Motor ist insbesondere
Laufräder werden durch eine Welle miteinander ver- die Änderung des Momentes und des Luftdurchsatzes
bunden, sodass ein Rotor entsteht. Welle und Tur- in Abhängigkeit der Drehzahl wichtig. Hierfür kann
binenrad werden verschweißt, das Verdichterrad mit das Motor-Schluckverhalten und das Verdichterkenn-
der Welle verschraubt. In Einzelfällen werden Kugel- feld betrachtet werden. Die folgenden Betrachtungen
lager zur Lagerung des Rotors verwendet, diese werden hier verallgemeinert durchgeführt, ohne dass
haben jedoch Nachteile hinsichtlich Lebensdauer, zwischen Motortypen oder Leistungsklassen unter-
Kosten und Akustik. Daher hat sich die an dem Mo- schieden wird.
torölkreislauf gekoppelte, hydrodynamische Gleit- Das Zusammenwirken von Motor und Verdichter
lagerung durchgesetzt, wobei hier meist Axial- und kann derart verstanden werden, dass der Motor ein
Radiallager getrennt aufgebaut sind. Das Axiallager „Verbraucher“ des Verdichters ist. Dementsprechend
270 5 Antriebe

lässt er sich als Charakteristik im Verdichterkennfeld ren mit innerer Verdichtung zwingend notwendig
darstellen. Es ergeben sich für verschiedene Motor- (z.B. Schraubenverdichter), um eine Schädigung des
drehzahlen die sogenannten „Schlucklinien“ (Bild Verdichters zu vermeiden.
5.3-7, Beispiel Abgasturbolader-Verdichter, Diesel-
motor). Der auf den Eintrittszustand bezogene, vom Turbolader mit Bypassregelung (Wastegate)
Motor „geschluckte“ Volumenstrom verändert sich
nahezu linear mit dem Druckverhältnis. Schnittpunkte Hierbei kann ein Teil des Abgasmassenstroms um die
zwischen Verdichterkennlinie nV und Motorschluck- Turbine herumgeführt werden, sodass dieser Teil
linie nM stellen Betriebspunkte des Motors dar. Dies nichts zur Verdichterleistung beiträgt (Bild 5.3-8a).
ist insbesondere bei der Auslegung von Verdich- Damit kann eine kleinere Turbine verwendet werden,
tern hilfreich, da das Betriebsverhalten im gesamten die einerseits für höhere Motorleistung bei kleinen
Kennfeld vorab bewertet werden kann. Bei mecha- Motordrehzahlen und andererseits für eine verbesser-
nisch angetriebenen Kompressoren kann so die Über- te Motordynamik sorgt. Zur Begrenzung des Lade-
setzung zwischen Verdichter und Motor bestimmt drucks bzw. Vermeidung von Überdrehzahlen bei
werden, bei Abgasturboladern helfen diese Schnitt- Nennleistung wird eine Klappe oder ein Ventil geöff-
punkte bei der Auswahl eines geeigneten Verdichters net. Die Regelung erfolgt üblicherweise selbstregelnd
und einer geeigneten Turbine. durch einen Überdruck-Aktuator, bei dem der Ver-
dichterdruck an einer Membrane anliegt, die über ein
5.3.5 Regelung Gestänge die Bypassklappe betätigt.

Wachsende Anforderungen an das Betriebsverhalten Turbolader mit Regelung


(Leistung, Verbrauch, Emissionen, Dynamik) aufge- über einen verstellbaren Düsenring
ladener Motoren haben zu einer kontinuierlichen Ent- Zur Verbesserung der Energieausnutzung und der
wicklung der Turboladerregelung mit wachsender Regelbarkeit hat sich in anspruchsvollen Pkw-Diesel-
Komplexität geführt. Ungeregelte Lader spielen in motoren die Regelung mit dem verstellbaren Düsen-
Pkw-Anwendungen keine Rolle mehr. Heute sind ring durchgesetzt (Bild 5.3-8b; Technologie erstmals
folgende Regelungsarten von Bedeutung: bei Dieselmotoren eingesetzt im Jahr 1996 im Audi/
VW-4-Zylindermotor, 1.9 l, 81 kW und bei Ottomo-
Kompressor
toren im Jahr 2006 im Porsche-6-Zylinder-Boxer-
Mechanisch angetriebene Verdichter müssen auf motor, 3.6 l, 353 kW). Hierbei wird der gesamte Ab-
Grund der direkten Kopplung an den Motor vollkom- gasmassenstrom durch die Turbine geführt. Die
men anders als Turbolader geregelt werden. Die Last- Leitschaufeln bilden einen Düsenkranz (häufig VTG
regelung erfolgt mit einem regelbaren Bypass um den genannt), mit dem das Druckgefälle über die Turbine
Kompressor. Dieser arbeitet bei offener Regelklappe entsprechend der verdichterseitigen Anforderungen
quasi lastfrei (nur beim Rootsverdichter ohne innere angepasst werden kann. Dabei steht die Düsenwir-
Verdichtung möglich). Darüber hinaus kann der kung (Beschleunigung der Strömung) gegenüber der
Kompressor abgeschaltet werden, um den Verbrauch Leitwirkung (Richtung der Strömung) im Vorder-
des Motors zu reduzieren. Dies wird bei Kompresso- grund. Die Nachteile wiederum größerer Turbinenrä-

Dr
eh
za
hlg
ren
ze
Verdichterdruckverhältnis [–]

¼ nM ½ nM ¾ nM nM
Nenn-
punkt
Nenn-
leistungs-
ie punkt
lin
ck
hlu
sc
or
ot
M
e
nz
re

nV
pg

¾ nV
m
Pu

½ nV
¼ nV
1 Bild 5.3-7 Motorschluck-
0 50 100
red. norm. Volumenstrom [%] linien in einem Turbover-
dichterkennfeld
5.3 Aufladung 271

Abgaskrümmer

Turbolader

drehbare Leitschaufel
des Düsenrings

Wastegate-Klappe

a) Regelung über Bypass b) Regelung über


verstellbaren Düsenring
Bild 5.3-8 Regelungsarten
einstufiger Turbolader

der können dadurch auch hinsichtlich der Motordy- gerade noch so viel Energie umsetzt, dass der Rotor
namik überkompensiert werden. Der erweiterte Kenn- der Hochdruckstufe nicht zum Stillstand kommt.
feldbereich sowie die genauere Regelbarkeit haben Dieser Aufbau kann den Anforderungen entsprechend
sich insbesondere bei höheren Emissionsanforderun- erweitert werden, z.B. durch Einsatz eines Wastegate-
gen als Vorteil erwiesen. Die Ansteuerung des Ver- Turboladers als Niederdruckstufe und eines zusätz-
stellmechanismus erfolgt mit Hilfe eines Aktuators, lichen Bypasses um den Verdichter der Hochdruck-
der mittels Unterdruck oder elektrisch angetrieben stufe. Die Vorteile dieses Systems liegen neben der
und gesteuert ist. Erhöhung des erreichbaren Ladedrucks in einer Ver-
Die Düsenring-Technologie wird bei modernen Mo- besserung der Motordynamik (da die Hochdruckstufe
toren nicht nur zur Regelung des Ladedrucks, sondern Ladedruck mit den Vorteilen eines kleinen Laders
auch zur Regelung der Abgasrückführmengen, im aufbauen kann) und des Pumpverhaltens (da die ein-
Thermomanagement der Abgasnachbehandlung (Ab- zelnen Verdichter für sich genommen weniger hoch
gastemperaturen nach Turbolader) und zur Unterstüt- belastet sind und eine unkritische Pumpgrenzlage
zung der Motorbremse (Lkw) eingesetzt. aufweisen). Außerdem können verhältnismäßig ein-
Neben Pkw-Dieselmotoren konnte sich diese Rege- fache Turbolader verwendet werden. Nachteilig ist
lung bisher noch nicht in gleichem Maße durchsetzen. das hohe Bauvolumen des Systems. In vielen Anwen-
Bei Lkw-Dieselmotoren stellt die deutlich höhere dungen ist es nicht möglich, den Platz für eine zwei-
Lebenserwartungsanforderung das zentrale Problem stufige Aufladung zu schaffen. Bei der Anordnung
dar. Bei Ottomotoren liegen die Herausforderungen kann es dementsprechend auch zu hohen Strömungs-
an Konstruktion und Werkstoffe in der Höhe der verlusten in den Verbindungselementen (Krümmern)
Abgastemperatur (max. 1.050 °C) begründet. der Lader kommen. Außerdem stellen sich durch
hohe Drücke auf der Turbinen- und Verdichterseite
Zweistufig geregelte Aufladung hohe Anforderungen an die Abdichtung von Gehäuse
aus zwei Abgasturboladern und Rotor.
Bedingt durch die Einschränkungen der Turbolader
Zweistufig geregelte Aufladung
mit verstellbarem Düsenring sowie durch wachsende
aus Abgasturbolader und Kompressor
Wünsche an die Höhe des Ladedrucks entwickelte
sich der Ansatz, mehrere Turbolader in einer Reihen- Eine Alternative zur Aufladung mit zwei in Reihe
anordnung aufzubauen und so ein System zu schaf- geschalteten Turboladern kann die Reihenschaltung
fen, dass eine Ladedruckerhöhung in mehreren Stufen von Kompressor und Abgasturbolader sein (Bild 5.3-
realisiert. Sowohl bei Nutzfahrzeugen als auch bei 9b, Prinzip des VW-TSI-4-Zylinderreihenmotor,
Pkw (z.B. BMW-6-Zylinder-Diesel-Reihenmotor, 1.4 l, 125 kW). Dies ist insbesondere dann sinnvoll,
3.0 l, 210 kW) gibt es Systeme, die aus einer Hoch- wenn der Ladedruck im Nennlastpunkt mit einem
druck- und einer Niederdruckstufe bestehen (Bild Turbolader erreicht werden kann und insbesondere
5.3-9a). Im einfachsten Fall wird das System mit das Fahrverhalten verbessert werden soll. Der Abgas-
Hilfe der Regelklappe geregelt, indem die Hoch- turbolader ist dabei nicht als Hochdruckstufe zu
druckturbine mit einem Bypass umgangen wird und verstehen. Er ermöglicht bei maximaler Motordreh-
272 5 Antriebe

Regelklappe
(Hochdruck-
Turbolader

Wastegate
Turbolader
stufe) mit

mit
V T V T

Regelklappe
Kompressor
(Niederdruck-
Turbolader

mit
stufe)

V
V T

schaltbare
Kupplung
a) Reihenschaltung von b) Reihenschaltung von Abgasturbo- Bild 5.3-9 Zweistufige
zwei Abgasturboladern lader und Kompressor
Aufladung

zahl das Erreichen der Nennleistung bei akzeptablem sich auch noch Vorteile hinsichtlich einer geringeren
Verbrauch. Geregelt wird er mit Hilfe eines Wastega- thermischen Bauteilbelastung, geringerer Stickoxid-
tes. Bei kleinen Motordrehzahlen und hohen Dreh- bildung und Verbesserung des Klopfverhaltens (bei
momenten wird der Kompressor (z.B. Rootsverdich- aufgeladenen Ottomotoren). Technisch umgesetzt
ter) permanent zugeschaltet, wodurch sich die statio- wird diese Kühlung durch Wärmetauscher (Ladeluft-
näre und dynamische Leistung der Motors optimieren kühler in Bild 5.3-3), die entweder luft- oder wasser-
lassen. Der Kompressor wird mit einer Kombination gekühlt sind.
aus Regelklappe (Bypass) und Magnetkupplung
(komplettes Abschalten) geregelt. Der Motor kombi- Abgasrückführung
niert somit die Vorteile der Aufladekonzepte „Turbo- Im Zuge steigender Anforderungen zur Senkung von
lader“ und „Kompressor“. Der turboaufgeladene, Abgasemissionen, ist die Abgasrückführung bei
kleinvolumige Motor sichert einen geringen Kraft- Dieselmotoren nicht mehr wegzudenken. Hierbei
stoffverbrauch („Downsizing“), der Kompressor wird Abgas meist direkt aus dem Abgaskrümmer der
gleicht die entsprechenden Nachteile aus bzw. ver- aufgeladenen Frischluft zugeführt. Das Abgas wirkt
bessert das dynamische Verhalten des Motors. als Inertgas und senkt lokale Temperaturspitzen bei
Nachteilig ist naturgemäß der hohe konstruktive der Verbrennung im Brennraum. Damit wird die
Aufwand dieser Aufladung. Zwar werden verhältnis- Stickoxidbildung reduziert. Die Menge an rückführ-
mäßig einfache Lader eingesetzt, deren Technologie barem Abgas ist begrenzt durch den Druckunter-
in anderen Anwendungsfällen ausreichend erprobt ist, schied zwischen dem Abgasdruck vor der Turbine
auf der anderen Seite existieren zwei vollständige und dem Ladedruck. Für den Turbolader hat dies
Ladersysteme, die neben dem konstruktiven Aufwand verschiedene Auswirkungen. Instationär senkt die
hohe Anforderungen an die Lastregelung im dynami- Abgasrückführung die an der Turbine zum Antrieb
schen Betrieb stellen. des Verdichters anliegende Leistung. Zur Füllung des
Brennraums mit dem Gemisch aus Frischluft und
5.3.6 Motorkomponenten zurückgeführtem Abgas muss der Ladedruck gestei-
im unmittelbaren Zusammenhang gert werden. Solange Abgasrückführung nur im
zur Aufladung Teillastbereich des Motors realisiert wird, stellt dies
kein Problem dar. Die schärfer werdenden Emissi-
Ladeluftkühlung onsgesetze erfordern jedoch zunehmend auch Abgas-
rückführung im Bereich der Volllast, sodass zur
Die Mehrheit der aufgeladenen Motoren in Fahrzeug- Stabilisierung des Kraftstoff-Luft-Verhältnisses ein
anwendungen ist heute mit Ladeluftkühlern ausges- zusätzlicher Ladedruckbedarf auch im volllastnahen
tattet. Diese haben den Zweck, die durch den Ver- Bereich realisiert werden muss, was wiederum ggf.
dichtungsprozess erhöhten Temperatur der Frischluft zu einem zweistufigen System führen kann.
zu senken. Die Lufterwärmung ist nicht zu vermeiden
und findet auch bei adiabat isentropen Zustandsände- Schubumluft
rungen statt. Durch die Erhöhung der Dichte mit der Im Ottomotor wird zur Regelung eine Drosselklappe
Temperaturabsenkung (ideales Gasgesetz) wird eine eingesetzt, die zwischen Turboladerverdichter und
höhere Luftmenge im Brennraum des Motors ermög- Saugrohr positioniert wird. Beim Schließen dieser
licht. Dementsprechend dient die Ladeluftkühlung Klappe im Schubbetrieb wird der Verdichter stark
primär der Leistungssteigerung. Zusätzlich ergeben gedrosselt. Dies kann zur Folge haben, dass der Ver-
5.3 Aufladung 273

dichterbetriebspunkt in den instabilen Bereich des sonders 12-Volt-Technik) sind damit allerdings über-
Pumpens rückt. Zur Vermeidung dieses Effekts wird fordert. Elektrische Zwischenspeicher können eine
ein Schubumluftventil verwendet, das den Verdichter Lösung sein, führen aber zusammen mit dem Lader-
durch einen Bypass zwischen Verdichteraus- und system und der Leistungselektronik zu hohen Kosten.
-eintritt entlastet. Die Querschnitte des Schubumluft- Schließlich ist noch die Temperaturempfindlichkeit
ventils bzw. der Schubumluftleitung sind dabei so zu (besonders beim Elektromotor auf der Turbolader-
dimensionieren, dass der Drehzahlabfall des Verdich- welle) zu nennen. Insgesamt haben Untersuchungen
ters bei Schließen der Drosselklappe möglichst gering an verschiedenen Stellen ergeben, dass die Wirkung
ist, um ein gutes Transientverhalten des Motors bei dieser Zusatzaufladung bei vertretbarem Aufwand
erneuter Lastaufschaltung zu erreichen derzeit nicht ausreichend ist.

5.3.7 Sonstige Regelungssysteme Registeraufladung


Neben den oben ausführlicher beschriebenen Rege- In Analogie zur Elektrotechnik kann die Schaltung
lungssystemen gibt es zahlreiche weitere Entwick- zweier Turbolader statt in Reihenausführung auch in
lungen, die entweder als Nischenlösung verstanden einer Parallelausführung erfolgen (z.B. Peugeot-4-
werden können (dort durchaus berechtigt oder erfolg- Zylinder-Dieselmotor, 2.2 l, 125 kW). Dies wird als
versprechend sein können) oder eine ausreichende Registeraufladung bezeichnet. Optimal realisierbar ist
Produktreife noch nicht erreicht haben. dieses Prinzip bei Motoren, die ohnehin mit zwei
Turboladern ausgerüstet sind (z.B. V-Motoren oder
Turbolader mit Regelung über einen Reihenmotoren mit getrennter Abgasführung). Im
verschiebbare Hülse am Turbineneintritt Nennleistungsbereich versorgen beide Turbolader den
Auf Grund der Anfälligkeit und der hohen Herstell- Motor. Bei der geschalteten Parallelanordnung kön-
kosten verdrehbarer Schaufeln als Regeleinheit am nen die Abgasströme beider Turbolader zusammen-
Turbineneintritt wurde eine Technologie entwickelt, gefasst werden, um einen einzelnen Lader anzutrei-
die häufig als „Schiebehülsen-Turbine“ benannt wird. ben, der dann wiederum den gesamten Motor (bei
Hier wird die Variabilität der Turbine durch eine V-Motoren beide Zylinderbänke) mit Frischluft ver-
reine Querschnittsveränderung am Turbineneintritt sorgt. Der andere Lader wird in diesem Fall quasi
realisiert. Obwohl diese Technologie bzgl. ihres Re- abgeschaltet. Vorteilhaft ist dabei, dass das einzelne
gelbereichs und ihres Wirkungsgrads erfolgverspre- Aufladeaggregat für den Motor als verhältnismäßig
chend war, hat sie sich im Pkw nicht durchsetzen kleiner Lader ein gutes dynamisches Verhalten des
können. Dies ist insbesondere durch eine hohe ther- Motors bewirkt. Im Nennleistungsbereich arbeiten
mische Belastung des Systems (dadurch resultieren beide Lader gemeinsam. Nachteilig ist allerdings das
höhere Kosten als erwartet) und Einschränkungen große Bauvolumen. Außerdem ist das maximale
hinsichtlich der Genauigkeit der Regelung begründet. Ladedruckniveau begrenzt. Schließlich ist anzumer-
Bei Nutzfahrzeugen wiederum hat diese Turbinenreg- ken, dass das volle Potential erst bei großvolumigen
lung auf Grund ihrer Robustheit einen festen Markan- Motoren mit mehr als sechs Zylindern ausgeschöpft
teil eingenommen. werden kann. Diese Motoren werden allerdings häu-
fig mit hydraulischen Wandlern zum Getriebe hin
Elektrisch unterstützte Aufladung betrieben, was wiederum die Dynamikvorteile der
Auf der Suche nach Erweiterungen von Freiheitsgra- Aufladung schwächt.
den beim Betrieb von Turboladern wurde die Zufüh-
rung elektrischer Leistung als eine Option entdeckt. Turbo-Compound-Verfahren
Dabei gab bzw. gibt es verschiedene Ansätze. Entwe- Als Ergänzung zum Turbolader gibt es Systeme, bei
der kann ein Elektromotor auf der Welle des Turbo- denen das Ziel verfolgt wird, die Abgasenergie auch
laders integriert werden, der bei Bedarf zusätzliche nach Austritt aus dem Turbolader weiter zu nutzen.
Energie auf den Verdichter übertragen kann oder es Dafür kann z.B. eine zusätzliche Nutzturbine hinter
wird ein zusätzlicher, elektrisch angetriebener Turbo- dem Turbolader angeordnet werden, die dem Abgas
verdichter in die Luftstrecke des Motors (vor oder Leistung entzieht und mechanisch über ein Getriebe
hinter Turboladerverdichter) eingebaut, der direkt den auf die Motorwelle überträgt. Dies nennt man Turbo-
Ladedruck erhöht. Die Vorteile liegen insbesondere Compound-Verfahren. Die Verbrauchsvorteile sind
in einer Verbesserung des dynamischen Ladedruck- jedoch in einem durchschnittlichen Betrieb verhält-
aufbaus bei angemessener Regelbarkeit. Nachteilig ist nismäßig gering, der konstruktive Aufwand am Mo-
der sehr hohe Bedarf an elektrischer Energie. Um tor jedoch hoch. Eine Renaissance könnte dieses
einen wirksamen Beitrag zur Ladedrucksteigerung zu System dadurch erfahren, dass es ermöglicht, den
bewirken, wird eine elektrische Leistung in ähnlicher Druckunterschied zwischen Abgas und Ladedruck
Größenordnung der aerodynamischen Verdichterleis- ohne zusätzliche Drosselung und dementsprechende
tung (mehrere kW) über eine bestimmte Zeit (mehre- Verbrauchsnachteile zu erhöhen. Damit können höhe-
re Sekunden) benötigt. Die üblichen Bordnetze (be- re Mengen bei der Abgasrückführung erzielt werden.
274 5 Antriebe

5.3.8 Downsizing und Aufladung: allerdings wieder schließen (z.B. durch höhere Ver-
Potenziale, Grenzen, Auswirkungen brennungs- oder Ladungswechselverluste). Motoren
mit hohem Volllast-Anteil (z.B. Lkw) können dem-
Eine unumstritten effektive und wirksame Methode nach den Downsizing-Effekt nur bedingt nutzen.
zur Verbrauchsabsenkung von Verbrennungsmotoren Allerdings ergeben sich durch das Downsizing stei-
stellt das Downsizing dar. Das Prinzip ist dabei, die gende Anforderungen an das Aufladesystem. Bei
Baugröße des Motors zu reduzieren und dabei die heutigen Basis-Motorisierungen sind Turbolader häu-
Motorleistung konstant zu halten. Die Hubvolumen- fig bereits soweit optimiert, dass Belastungsgrenzen
reduzierung lässt sich durch eine Verringerung der ausgereizt sind. Durch nennenswerte Downsizinggra-
Zylinderanzahl bei gleichem Zylinderhubvolumen de (bezogene Hubraumreduzierung bei konstanter
oder durch eine Verringerung des Zylinderhubvolu- Leistung, [2]) in der Größenordnung von ab 30 %
mens bei gleicher Zylinderanzahl reduzieren. Die ergibt sich ein deutlich steigender Bedarf an Lade-
gesteigerte spezifische Leistung wird eine Erhöhung druck (Bild 5.3-11, Motorvolllastlinien eines Basis-
der Ladeluftdichte ermöglicht. Zunächst einmal hat Motors und eine Downsizing-Motors im Verdichter-
die Verkleinerung des Motors einen positiven Ein- kennfeld). Der Motorbetrieb übersteigert die Dreh-
fluss auf die Motorreibung und die Wandwärme- zahlgrenze des Verdichters, außerdem würde der
verluste. Diese Vorteile können aber insbesondere Verdichter zunehmend im instabilen Bereich links
durch Verbrennungsnachteile und zusätzliche La- der Pumpgrenze betrieben werden. Ein weiteres Pro-
dungswechselverluste wieder aufgebraucht werden. blem stellt die Variabilität der Turbinenleistung dar;
Die Einzeleffekte sind auf Grund unterschiedlicher bei spezifischen Leistungen oberhalb von 65 kW/l
Verfahren und Konstruktionen motorspezifisch. Der kommt Regelung mittels variablem Düsenring hin-
Hauptvorteil des Downsizing liegt darin begründet, sichtlich einer ausreichenden Leistungsbereitstellung
dass der Betrieb des Motors hin zu höheren Mittel- für den Verdichter und einer Kompensation der
drücken verlagert wird. Auf einer typischen Fahrwi- resultierenden Anfahrschwäche an ihre Grenzen. Hier
derstandslinie ergeben sich insbesondere bei kleinen sind demnach andere Maßnahmen notwendig, z.B.
bis mittleren Lastzuständen erhebliche Verbrauchs- die Einführung einer zweistufigen Aufladung. Diese
vorteile (Bild 5.3-10), bei Nennleistung kann es zu macht hohe Ladedrücke in einem breiten Kennfeldbe-
einem Verbrauchsnachteil kommen. Begründet ist reich bei gleichzeitig günstiger Fahrdynamik mög-
dieser Effekt dadurch, dass mit zunehmendem Mit- lich, hat aber zusätzliche Ladungswechselverluste zur
teldruck die Verlustanteile von Reibung, Wandwärme Folge.
und Ladungswechsel an der Nutzleistung abnehmen. Die notwendigerweise steigenden Belastungen des
Dieser Effekt ist allerdings begrenzt, die Wirkungs- Turboladers wirken sich auf jedes Bauteil des Turbo-
grad-Muscheln können sich bei hohen Mitteldrücken laders aus (Tabelle 5.3-2).

Basis-Motor (50 kW/l) Downsizing-Motor (75 kW/l)


150 150
norm. eff. Mitteldruck [% bez. auf Basismotor]

norm. eff. Mitteldruck [% bez. auf Basismotor]

255 g/kW

100 100
d
an
rst
de

229 g/kW
wi

200 200
hr

214 g/kW
Fa

50 50
220 220
251 g/kW 240
260 260
285 g/kW
322 g/kW 320 320

0 0
20 40 60 80 100 20 40 60 80 100
norm. Motordrehzahl [%] norm. Motordrehzahl [%]

Bild 5.3-10 Verbrauch im Motorkennfeld, Pkw-Motoren


5.3 Aufladung 275

4,0

Downsizing-Motor (75 kW/l)


Verdichter-Druckverhältnis [–] 3,5

ze

Dr
en

eh
3,0

gr

za
mp

hl
gr
Pu

en
2,5

ze
Basis-Motor [50 kW/l]
2,0

1,5
Motor-Volllastlinie
Verdichtergrenzen
1,0 Bild 5.3-11 Anforderung
0,00 0,02 0,04 0,06 0,08 0,10 0,12 0,14 0,16 0,18 0,20
Normierter reduzierter Volumenstrom [m3/s]
an das Aufladesystem
durch Downsizing

5.3.9 Methoden in der Entwicklung Turbolader in verschiedenen Varianten erprobt wer-


den. Dabei werden meist Turbinen mit verschiedenen
Der Entwicklungsprozess von Turbolader-Systemen
Durchsatz- oder Wirkungsgrad-Charakteristiken, Ver-
ist dem von anderen Motorkomponenten generell
dichter mit Pump- und Drehzahlgrenzen sowie Wir-
ähnlich. Die Turbolader-Entwicklung setzt bereits in
kungsgradvarianten und verschiedene Lagerungs- und
der Frühphase der Motor-Entwicklung ein, da der
Regelungskonzepte erprobt. Hintergrund ist hier, dass
Turbolader einen zentralen Einfluss auf die Leistung,
sich der reale Betrieb am Motor nur bedingt vorher-
die Dynamik, die Emissionen und den Verbrauch des
sagen lässt. Zu den relevanten Einflüssen zählt, dass
Motors hat. Üblicherweise wird der Turbolader in der
die Strömung am Turbolader-Prüfstand (bei der
A-Musterphase thermodynamisch definiert und in
Kennfeldvermessung) stationär und am Motor-Prüf-
den B- und C-Musterphasen mechanisch abgesichert.
stand pulsierend ist, dass die thermischen Randbedin-
Die Auslegung erfolgt auf Basis stationär vermesse-
gungen (z.B. Wärmestrahlung) abweichen oder das
ner Kennfelder für Turbine und Verdichter und Ziel-
Package unterschiedlich ist. Die versuchsseitigen
Motordaten entsprechend Lastenheft. Letztere basie-
Aufwendungen sind demnach in der frühen Entwick-
ren häufig auf Werten, die aus Motoren einer vorhe-
lungsphase hoch.
rigen Generation abgeleitet wurden. Es kommt heute
Die weitere Absicherung bezieht sich auf stärker me-
selten vor, dass ein Motor komplett neu ausgelegt
chanische Themen. Rotordynamische Untersuchun-
wird, dementsprechend ist die Datenbasis für die
gen werden mit Hilfe von Weg- und Schwingungs-
Auslegung meist gut. Als Werkzeuge werden dabei
sensoren schwerpunktmäßig experimentell durchge-
meist unternehmenseigene Programme und Daten-
führt und dienen zur Qualifizierung der Lagerung.
banken verwendet, die mit Motorprozess-Simula-
Die Simulation ist auf Grund der komplexen Vorgän-
tionstools (z.B. GT-Power, Wave, Boost) unterstützt.
ge in der Lagerung möglich aber noch sehr aufwendig
Auf Grund verschiedener Effekte muss der ausgelegte
[3]. Ähnlich ist es bei der Untersuchung vom Durch-
schlagverhalten berstender Räder durch Turbinen-
Tabelle 5.3-2 Anforderung und Auswirkung von
und Verdichtergehäuse (Containment), wo die Simu-
Downsizing
lation zwar vielversprechend ist, der Versuch aber
Anforderung durch betroffenes Turbolader- noch dominiert. Gerade bei lebensdauer-relevanten
Downsizing Bauteil Vorgängen (high cycle fatigue (HCF), low cycle
Kennfeldbreite Verdichter fatigue (LCF), thermo mechanical fatigue (TMF, [4])
sind viele Versuche und Simulationen nötig, um den
Drehzahlgrenze Verdichterrad, Turbinenrad, Turbolader in der Entwicklung abzusichern. Themen
Radiallager zum Verschleiß, zur Verkokung und zur Korrosion
Flexibilität der Turbine, Aktuator bleiben ein mehr oder weniger reines experimentelles
Regelung Untersuchungsgebiet. Die Klärung der akustischen
Hohe Wirkungsgrade Verdichter, Turbine Eigenschaften des Turboladers rundet die Absiche-
Lagerung rung ab, hier ist darauf hinzuweisen, dass auf Grund
des komplexen Übertragungsverhaltens von Schall
Abgastemperatur Turbine, Lagerung eine Prüfung erst im Fahrzeug sinnvoll ist.
Zyklenfestigkeit Verdichterrad, Turbinenrad, Üblicherweise werden Absicherungsmaßnahmen zwi-
(TMF/LCF/HCF) Turbinengehäuse schen Motor- und Turbolader-Hersteller abgestimmt
Blowby Kolbenring-System und z.B. in einem DVP (design validation plan) doku-
mentiert; Tabelle 5.3-3 zeigt typische Absicherungs-
Dynamik Turbine, Gesamtsystem maßnahmen für Turbolader). Bei erfolgreicher Prü-
276 5 Antriebe

Tabelle 5.3-3 Absicherungsmaßnahmen in der Entwicklung (Auszug)

Absicherungsthema Typische Art der Untersuchung S: Simulation


Musterphase HG: Heissgasprüfstand
M: Motorprüfstand
K: Komponentenp.
F: Fahrzeug
Thermodynamik A, B Stat. Kennfelder (Turbine, Verdichter, S (CFD, Prozess), HG, M
Motor), Dynamik
Höhenreserve A, C Berücksichtigung bei Erstauslegung, S (CFD, Prozess), F
Überprüfung im Fahrzeug
Rotordynamik A, B Lagerstabilität und Drehzahlgrenze S (Mehrkörpersimulation),
HG, M
Bersten, Schaufel- A, B Drehzahlgrenze der Laufräder S (FEM), HG
schwingung (HCF)
Lastwechsel(LCF) B, C Anwendungsspezifische Lebens- S (FEM), K, HG, M
dauerbetrachtung
Gehäuserisse (TMF) C Prüfung des Rißverhaltens bei S (FEM), HG, M
thermischen Lastwechseln
Containment C Durchschlagsicherheit der Gehäuse S (FEM), HG
bei Radbersten
Verkokung, Blowby, B, C Langzeitverhalten; in Kombination HG, M
Ölverlust, Korrosion mit anderen Dauerläufen
Haltbarkeit, Verschleiß B, C Diverse Dauerläuf-Typen (Zyklen) K, HG, M, F
Akustik B, C Prüfung der akustischen Bedeutung HG, M, F
des Turboladers

fung aller Maßnahmen erfolgt die Freigabe zur Pro- giespeicher für Antriebssysteme heiß verbrannt wer-
duktion nach branchenvertrauter Vorgehensweise. den, wird die Bedeutung der Aufladung zunehmen.
Der Simulation kommt als Teil der Serien-Absiche- Sowohl Lader- als auch Motorhersteller arbeiten
rung offensichtlich zunehmend eine höhere Bedeu- daher intensiv an neuen Technologien. Obwohl sich
tung zu. Mit der Weiterentwicklung der Rechner- der Turbolader seit seiner Erfindung 1905 im grund-
Leistungen und der Verfeinerung der Software und sätzlichen Aufbau nicht wirklich verändert hat, so gab
Ergänzung der Verfahren hat die Simulation heute es doch gerade in den letzten Jahren viele bedeutende
schon lange keinen rein akademischen Nutzen mehr, Erfindungen rund um die Aufladung. Es ist damit zu
sondern wird als ein gleichwertiger Teil der Absiche- rechnen, dass sich in den kommenden Jahren einige
rung verstanden. In bestimmten Bereichen kann die neue Technologien durchsetzen werden. Hier sind
Simulation den Versuch ergänzen, immer häufiger neue Regelungsarten zu nennen, z.B. auch die Reali-
aber auch ersetzen. Häufig leiden die Verfahren da- sierung von Kennfelderweiterungen durch variable
runter, dass noch nicht alle Werkstoffdaten in aus- Verdichter. In der Zukunft wird sich zudem eine
reichendem Umfang vorliegen. Langfristig ist davon Vielzahl an erweiterten Ladersystemen etablieren.
auszugehen, dass Versuch und Simulation parallel bei Zweistufige Systeme aus zwei Turboladern setzen
der Absicherung Verwendung finden. Es kann nicht sich zunehmend durch. Es kann davon ausgegangen
davon ausgegangen werden, den Versuch durch die werden, dass der Anteil aufgeladener Ottomotoren
Simulation vollständig zu ersetzen. weiter ansteigen wird, nicht zuletzt um durch deutli-
che Verbrauchseinsparungen steigenden Kraftstoff-
5.3.10 Ausblick preisen Rechnung zu tragen. Weiterentwicklungen an
Die Aufladung von Verbrennungsmotoren hat seit Turboladern versprechen neben den Regelungs- und
einigen Jahren eine Schlüsselrolle bei der Verbesse- Leistungsansätzen vor allem auch neue Werkstoffe.
rung von Verbrennungsmotoren eingenommen. Mit Es besteht hier Weiterentwicklungsbedarf z.B. hin-
ihr lassen sich alle relevanten Bereiche eines Motor- sichtlich Verschleiß, Zyklenfestigkeit, Rissbestän-
betriebs beeinflussen. Solange Kraftstoffe als Ener- digkeit, Oxidationsbeständigkeit und Festigkeit bei
5.4 Triebstrang 277

hohen Temperaturen. Als Beispiel kann das Potential phischer Region unterschiedlich stark vertreten. Die
von Titan-Aluminium-Legierungen als neuer Tur- Doppelkupplungsgetriebe und automatisierten Schalt-
binenrad-Werkstoff genannt werden. Die deutlich getriebe haben bisher nur in Westeuropa nennenswer-
geringere Dichte dieses Werkstoffs ermöglicht eine te Stückzahlen erreicht. Die größte Verbreitung stu-
Verbesserung des Ansprechverhaltens des Motors, fenloser Getriebe liegt in Japan vor, mit Abstand ge-
stellt aber neue Anforderungen an die Bearbeitung, folgt von Deutschland. Das Wandlerautomatgetriebe
das Fügen und schließlich die Kosten. ist nach wie vor das weltweit dominierende automati-
sche Getriebesystem (siehe Tabelle 5.4-1).
Literatur Die Grundanforderungen an die Komponenten des
[1] Baines: Fundamentals of Turbocharging, Concepts NREC
Triebstrangs sind einfache Bedienung, geringe Ver-
[2] Golloch: Downsizing bei Verbrennungsmotoren, Springer luste, geringes Bauvolumen und niederes Gewicht,
[3] Schweizer, B.; Sievert, M.: “Nonlinear Oscillations of Automo- hohe Zuverlässigkeit und Lebensdauer sowie geringe
tive Turbocharger Turbines”, Journal of Sound and Vibration, Kosten.
Vol. 321, pp. 955–975, 2009
[4] Schicker, J.; Sievert, R.; Fedelich, B.; Noak, H.-D.; Kazak, F.; 5.4.1.2 Aufgaben des Getriebes
Matzak, K.; Kühn, H.-J.; Klingelhöfer, H; Skrotzki, B. (2010):
TMF Lebensdauerberechnung ATL-Heißteile. Abschlussbericht Weltweit haben sich Otto- und Diesel-Motor als Fahr-
über Vorhaben Nr. R 542, Forschungsvereinigung Verbren- zeugantrieb durchgesetzt. Dies wird auf absehbare Zu-
nungskraftmaschinen, Heft 902-2010, Frankfurt am Main 2010
kunft auch so bleiben. Beide Antriebsmaschinen sind
durch folgende Charakteristika gekennzeichnet:
• Sie arbeiten nur in einem bestimmten Drehzahlbe-
reich, der durch Leerlauf- und Maximaldrehzahl
begrenzt ist. Ein Fahrzeugantrieb aus dem Motor-
Stillstand heraus ist nicht möglich.
• Das Motordrehmoment allein reicht für starke
Beschleunigung oder zur Überwindung größerer
Steigungen nicht aus.
• Die Motoren haben nur eine Laufrichtung. Vor-
5.4 Triebstrang wärts-Rückwärts-Betrieb ist damit nicht möglich.
5.4.1 Überblick Das Getriebe kompensiert diese Schwächen des
Motors und sorgt mit verschiedenen Übersetzungen
5.4.1.1 Einleitung (oder auch stufenlos), zusammen mit einem Anfahr-
Getriebe sind im Antriebsstrang eines Fahrzeugs element dafür, dass Zugkraftbedarf und Drehmoment-
ebenso wichtig wie der Verbrennungsmotor. Erst im angebot zusammenpassen. Das Getriebe bietet pas-
richtigen Zusammenspiel beider und unter Berück- sende Übersetzungen für Beschleunigung, Steigungen
sichtigung der geeigneten Komponenten kann man und kraftstoffsparendes Fahren an, und ermöglicht
Anfahren, Vorwärts- und Rückwärtsfahren sowie un- auch das Rückwärtsfahren.
terschiedlichste Fahrwiderstände überwinden. Dabei Der Fahrzustand eines Fahrzeugs wird durch die so
sind in dem Begriff Triebstrang alle Komponenten im genannte Fahrgleichung beschrieben. Sie stellt das
Antriebstrang eines Fahrzeugs zusammengefasst, die Gleichgewicht her zwischen den zu überwindenden
die Leistung des Motors zu den Rädern leiten. Fahrwiderständen einerseits und dem vom Trieb-
Wenn wir den Pkw betrachten, finden wir Hand- strang gewandelten Antriebsdrehmoment anderer-
schaltgetriebe und Automatgetriebe je nach geogra- seits. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das statische

Tabelle 5.4-1 Getriebeart weltweit 2009 – 2015


Region Pkw-Gesamt- Anteil Hand- Anteil Wand- Anteil stufen- Anteil auto- Anteil Doppel-
produktion schaltgetriebe lerautomat- lose Getriebe matisierte kupplungs-
[Mio] getriebe Getriebe getriebe
2009 2015 2009 2015 2009 2015 2009 2015 2009 2015 2009 2015
Welt 58,2 90,6 57,7% 50,2% 33,0% 36,9% 7,3% 7,7% 0,9% 1,8% 1,1% 3,4%
Nordamerika 8,5 15,3 8,8% 7,5% 82,8% 83,5% 7,5% 7,0% 0% 0% 0,9% 2,0%
Japan 7,8 10,0 18,2% 18,3% 43,8% 43,3% 37,9% 38,1% 0% <1% <1% <1%
Westeuropa 12,9 17,7 76,0% 72,5% 15,0% 17,1% 2,9% <1% 2,2% 2,3% 3,9% 7,6%
Deutschland 5,1 7,2 59,7% 54,5% 24,7% 29,8% 6,5% <1% 2,0% <1% 8,6% 14,8%
278 5 Antriebe

Drehmoment des Motors bei Änderungen der Dreh-


zahl seiner rotierenden Massen vermindert oder f<1
Pmot = const f=1

Motormoment T, Fahrwiderstand FW
Tmot
vergrößert wird. Zwischen Getriebeeingang und Rad
liegt die Getriebewandlung (i/r) und auch der Über- T0 „0“ f>1
tragungswirkungsgrad ηges des gesamten Trieb-
ΔT 2
strangs. Die Fahrgleichung lautet somit: hmot2 ΔT 1
hmot1 ΔT 3
Antriebsmoment Rollwiderstand hmot3 „2“
/ /
.
(Mmot – Jmot ⋅ ωmot) i/r ⋅ ηges = Fw = m ⋅ g ⋅ f ⋅ cos α „1“
„3“
+ cw ⋅ (r /2) ⋅ A ⋅ v2 + FB + m ⋅ g ⋅ sin α + m ⋅ k ⋅ a
/ / / /
Luftwiderstand Bremskraft Steigungs- Beschleunigungs- Fw
widerstand widerstand v0
f = 1: ΔT1, hmot1 Motordrehzahl vmot
Die Wandlung (i/r) ist das Verhältnis der Antriebs-
f > 1: ΔT3 > ΔT1, hmot3 < hmot1
kraft an den Rädern zum Drehmoment am Getriebe-
f < 1: ΔT2 < ΔT1, hmot2 > hmot1
eingang. Falls im Triebstrang kein Schlupf auftritt,
entspricht (i/r) gleichzeitig der Übersetzung zwischen
Winkelgeschwindigkeit am Getriebeeingang und Bild 5.4-1 Motorkennfeld und vom Schnellgangfak-
Fahrgeschwindigkeit. tor abhängige Lage der Fahrwiderstandskurve
Die Wandlung (i/r) setzt sich zusammen aus den
variablen Übersetzungen im Schaltgetriebe und festen Mit den in a) genannten Daten lässt sich die Wand-
Übersetzungen im Antriebsstrang wie zum Beispiel lung (i/r)0 für Höchstgeschwindigkeit aus der Fahr-
im Achsgetriebe. gleichung ermitteln.
Der Beschleunigungswiderstand berücksichtigt nicht Abweichungen von (i/r)0 werden durch den so ge-
nur die Fahrzeugmasse, sondern mit dem Faktor k nannten Schnellgangfaktor ϕ definiert.
auch die rotatorisch beschleunigten Massen des Fahr- (i/r)min = ϕ ⋅ (i/r)0
zeugs zwischen Getriebeeingang und Rädern. Dafür
gilt ϕ kann folgende Werte haben (siehe Bild 5.4-1):
• ϕ = 1 Endgeschwindigkeit = Maximalgeschwin-
1 n
k = 1+ ∑ Jn ⋅ (in / r ) digkeit, mittlere Steigfähigkeits- und Beschleuni-
m gungsreserve, relativ hoher Verbrauch.
• ϕ > 1 Steigfähigkeits- und Beschleunigungsreser-
Für die Auslegung der Getriebe ist es notwendig, die ve wachsen, Kraftstoffverbrauch nimmt zu, Ge-
Grenzen zu ermitteln, innerhalb derer die Wandlung triebewandlungsbereich wird reduziert.
(i/r) variiert. Die größte Wandlung (i/r)max wird für • ϕ < 1 Steigfähigkeits- und Beschleunigungsreser-
das Befahren starker Steigungen, für hohe Beschleu- ve nehmen ab, Kraftstoffverbrauch sinkt, Getrie-
nigung und in der Regel auch zum Anfahren benötigt. bewandlungsbereich wird vergrößert.
(i/r)max kann aus der Fahrgleichung unter Vernachläs-
sigung des Luftwiderstandes und für guten Kraft- Der Wandlungsbereich eines Getriebes ist definiert
schluss zwischen Reifen und Fahrbahn berechnet durch
werden. Für maximale Steigfähigkeit ist Beschleuni- I = (i/r)max/(i/r)min
gung 0 in die Fahrgleichung einzusetzen, für maxima-
le Beschleunigung dagegen Steigung 0. Dieser Wandlungsbereich wird ideal mit einem stu-
Die für beide Kriterien ermittelten Werte von (i/r)max fenlosen Getriebe abgedeckt. Durchgesetzt haben sich
sind unterschiedlich, da bei max. Beschleunigung aber Zahnrad-Stufengetriebe unterschiedlicher Konzep-
die rotierenden Motormassen berücksichtigt werden tion mit den Vorteilen kompakte Bauweise, günstiges
müssen. Ebenso spielt eine Rolle, ob das Fahrzeug Gewicht, hoher Wirkungsgrad und beherrschbare
Front-, Heck- oder Allradantrieb hat. Technologie. Pkw-Handschaltgetriebe sind heute
Fragestellungen für die Auslegung der kleinsten Ge- überwiegend mit 5 oder 6 Gängen ausgeführt. Pkw-
triebewandlung (i/r)min sind: Automatgetriebe findet man heute mit 4 bis 8 Gängen.
Die Gangstufung ist in der Regel progressiv, das heißt,
a) Soll das Fahrzeug damit seine Maximalgeschwin- dass im Bereich der unteren Gänge (hohe Übersetzun-
digkeit in der Ebene erreichen (Einsatz der gen) größere Gangsprünge vorhanden sind. In den obe-
maximalen Motorleistung, Steigfähigkeit 0, Be- ren Gängen, die einen höheren Fahranteil haben, sind
schleunigung 0)? die Gangsprünge dagegen deutlich kleiner. Bild 5.4-2
b) Sind gute Steigfähigkeit und Beschleunigungs- zeigt die Zusammenarbeit von Motor und Fahrzeug in
reserve im obersten Gang wichtig oder soll der Verbindung mit einem progressiv gestuften 6-Gang-
Kraftstoffverbrauch möglichst gering sein? Automatgetriebe.
5.4 Triebstrang 279

Die feste Übersetzung ia des Achsgetriebes berechnet


Zugkraft und Fahrwiderstand F/F0
7
6 Steigung 40 %
sich zu
5 30 %
ia = (i/r)min/(ig)min
4 20 % mit (ig)min als kleinste Übersetzung des Schalt- oder
3 10 % stufenlosen Getriebes.
2 Ebene Praxiswerte für die Übersetzung des Achsgetriebes
1
liegen zwischen ca. 2,6 bis 4,5.
0 5.4.1.5 Differenzialgetriebe
0 0,5 1 1,5
Geschwindigkeit v/v0 Differenzialgetriebe werden eingesetzt, um die bei
Kurvenfahrt auftretenden oder durch unterschiedli-
Bild 5.4-2 Fahrkennfeld mit 6-Gang-Automatgetriebe chen dynamischen Reifenradius (Fertigungstoleran-
zen, unterschiedlicher Reifenluftdruck) bedingten
Bei Getrieben in Gruppenbauweise, welche vorwie- Drehzahldifferenzen der Räder angetriebener Achsen
gend in Nutzfahrzeugen eingesetzt werden, ist bau- auszugleichen. So wird Zwangsschlupf vermieden
artbedingt eine geometrische Stufung mit identischen und gleichzeitig Drehmoment übertragen.
Gangsprüngen vorzufinden. Differenzial und Achsantrieb bilden das Achsgetrie-
5.4.1.3 Aufbau und Elemente des Triebstrangs be. Bild 5.4-3 zeigt ein Hinterachsgetriebe mit Kegel-
radsatz (Ritzel und Tellerrad), Kegelrad-Differenzial,
Zur Übertragung des Drehmoments der Antriebsma- Gehäuse sowie An- und Abtriebsflanschen.
schine zu den Fahrzeugrädern sind folgende Kompo- Achs-Differenziale in Kegelradbauweise haben die
nenten erforderlich: größte Verbreitung gefunden. Die Ausgleichsräder des
− Mechanische Anfahr- und Trennkupplung oder Differenzials wirken wie Waagebalken und bringen
hydrodynamischer Wandler die beiden Antriebsräder ins Drehmomentgleichge-
− Stufen- oder stufenloses Getriebe wicht.
− Achsgetriebe mit fester Übersetzung Eine Alternative zu den Kegelraddifferenzialen stel-
− Differenziale für Antriebsachsen und evtl. Allrad- len neuerdings Differenziale bestehend aus einem
antrieb einfachen Plus-Planetensatz dar.
− Wellen und Gelenke zur Leistungsübertragung im Bei Fahrbahnverhältnissen mit unterschiedlicher Trak-
Antriebsstrang bis hin zu den Rädern tion an den Antriebsrädern bestimmt das Rad mit dem
− Bedienungselemente für Kupplung, Getriebe und niedrigen Reibwert – bedingt durch den Waagebal-
eventuelle Allradaktivierung. ken-Effekt – die übertragbare Vortriebskraft des Fahr-
Tabelle 5.4-2 zeigt die möglichen Anordnungsvarian-
1 Kegelradsatz mit geräusch-
ten des Triebstrangs im Pkw. optimierter Hypoidverzahnung
2 Differenzial
3 Antrieb
5.4.1.4 Achsantrieb 4 Abtrieb
3
Achsgetriebe haben die Aufgabe, das unterschied-
liche Drehzahlniveau von Motor und Rad anzupas-
sen. Die Ausführung des Achsgetriebes hängt von der 1
Motoranordnung ab. Bei quer eingebautem Motor ist
es ein Stirnradsatz, bei Längsanordnung des Motors
ein Kegelradsatz mit Hypoidverzahnung.

Tabelle 5.4-2 Anordnungsvarianten Triebstrang


2
Antrieb Motorlage Angetriebene
Achse 4
4
Standard Front längs hinten
Front Front längs vorn
oder quer
Mittel Mitte hinten
Heck Heck hinten
Allrad Front längs vorn und hinten
oder quer Bild 5.4-3 Pkw-Hinterachsgetriebe (ZF HAG 210)
280 5 Antriebe

zeugs und rutscht bei Antriebsmoment-Überschuss


durch. Dieser Traktionsverlust kann durch Sperrdiffe-
renziale abgebaut werden. Man unterscheidet form-
schlüssige (schaltbare) und kraftschlüssige (selbsttä-
tige) Sperren. Die formschlüssigen Sperren verbinden
beide Achshälften starr miteinander, was zu Zwangs-
schlupf und Verspannung bei Kurvenfahrt führt.
Kraftschlüssige Sperrdifferenziale lassen Differenz-
drehzahl zwischen den Antriebsrädern zu. Ihr Sperr-
moment ist entweder proportional zum Antriebs-
drehmoment (Kraftschluss durch Reiblamellen oder
durch Reibung an kombinierten Schnecken- und
Stirnradverzahnungen) oder abhängig von der auf-
tretenden Differenzdrehzahl (Visco-Sperrdifferen-
zial).
Aktuell ist zu beobachten, dass strategiefähige, elekt-
ronisch geregelte kraftschlüssige Sperrdifferentiale an
Bedeutung gewinnen. Eine Traktionsverbesserung Bild 5.4-4 Gleichlauf-Gelenkwelle für Frontantriebs-
kann auch mittels elektronisch gesteuertem Bremsen- Pkw
eingriff erzielt werden. Durch Aktivieren der Bremse
des durchrutschenden Rades wird ein Drehmoment
aufgebaut, das die Traktion am nichtrutschenden Rad
sicherstellt.
An die Gelenkwellen in Frontantriebsfahrzeugen wer-
5.4.1.6 Allrad-Verteilergetriebe den besonders hohe Anforderungen gestellt. Sie müs-
Der Allradantrieb verbessert Traktion und Fahrsicher- sen nicht nur die Bewegungen von Motor und Rad
heit insbesondere auf nasser oder glatter Fahrbahn. Er ausgleichen, sondern auch die durch den Radein-
ist entweder zuschaltbar oder permanent ausgeführt, schlag bedingten großen Beugewinkel beherrschen.
siehe Kapitel 5.5, Bild 5.5-2. Durchgesetzt haben sich Kugelgelenke, die auf eine
Die beiden Achsen werden über ein zentral angeord- Entwicklung von Hans Rzeppa zurückgehen, als Fest-
netes Verteilerdifferenzial mit hälftig oder auch gelenk und alternativ Tripode- oder Kugelgelenke als
asymmetrisch aufgeteiltem Drehmoment angetrie- Verschiebegelenk, Bild 5.4-4.
ben. Die Gelenkwellen für Fahrzeuge mit Hinterachsan-
Das Verteilerdifferenzial ist häufig als Stirnrad-Pla- trieb sind entweder einteilig oder bei größerer Länge
netensatz ausgeführt und kommt mit formschlüssiger auch mehrteilig mit Zwischenlagern.
Sperre (bei einigen Geländewagen), mit kraftschlüs- Einzelheiten zu Aufgaben und Elementen des Trieb-
siger Sperre (z.B. das Torsen-Differenzial) oder un- strangs siehe Literatur [1 – 4].
gesperrt zum Einsatz. In letzterem Fall auch mit in-
5.4.1.8 Schwingungssystem
telligent gesteuertem Eingriff in die Radbremsen, um
so eine Sperrwirkung sowohl am Achs- als auch am Der Antriebstrang von Fahrzeugen ist ein schwin-
Verteilerdifferenzial zu erzielen. gungsfähiges System. Werden Eigenfrequenzen reso-
In immer mehr Allrad-angetriebenen Pkw verzichtet nanzartig angeregt, so können, je nach vorhandener
man auf ein zentrales Verteilerdifferenzial und setzt Dämpfung, Schwingungsamplituden extreme Werte
stattdessen eine elektronisch geregelte Lamellenkupp- annehmen. Die Folge sind Lebensdauerprobleme und
lung zur gezielten Verteilung der Antriebskraft zwi- störende Geräusche (Karosseriebrummen, Rasseln).
schen Vorder- und Hinterachse ein. Bei der Auslegung ist immer der komplette Antrieb-
strang als System zu betrachten.
5.4.1.7 Gelenkwellen Schwingungen im Antriebsstrang treten auf in Form
Gelenkwellen überbrücken den Zwischenraum bei von Torsionsschwingungen, Biegeschwingungen von
räumlicher Trennung von Getriebe und Achsantrieb Gelenkwellen sowie Biegeschwingungen des Motor-
und auch den zwischen dem Achsdifferenzial und den Getriebe-Verbandes (Gehäuse).
Rädern. Die Wellen müssen durch Gelenke verbun- Massenträgheitsmomente, Massen, Torsions- und
den werden, wenn die Achsen nicht in einer Flucht Biegesteifigkeiten der einzelnen Antriebstrang-Kom-
liegen. Zusätzlich muss ein Längenausgleich vorge- ponenten sind die bestimmenden Größen für die
sehen sein, um Toleranzen, Elastizitäten und kine- Eigenfrequenzen.
matische Einflüsse auszugleichen. Der Ausgleich Die Erregung geschieht typischerweise durch den
der Winkelbewegungen erfolgt durch Kardangelenke, Verbrennungsmotor (Zylinderzahl, Bauart) und die
Gleichlaufgelenke und auch Gelenkscheiben. Gelenkwelle.
5.4 Triebstrang 281

Maßnahmen zur Vermeidung von Schwingungspro- 5.4.2 Anfahrelemente


blemen sind (siehe auch Kap. 3.4):
5.4.2.1 Kupplungen
Torsionsschwingungen Für einen komfortablen Anfahrvorgang und zur
− Dämpfung des Resonanzdurchlaufs sowie Ent- Unterbrechung des Drehmomentflusses sind trocke-
kopplung von Verbrennungsmotor und Trieb- ne, schaltbare Reibungskupplungen, in Öl laufende
strang im überkritischen Bereich durch Torsions- Mehrscheiben-Lamellen- und elektrische Magnetpul-
dämpfer (Mitnehmerscheibe bei konventionel- verkupplungen geeignet. Handschaltgetriebe erfor-
ler Schaltkupplung), Zwei-Massen-Schwungrad, dern für das Schalten eine sehr schnelle und vollstän-
Fliehkraftpendel, hydrodynamischer Wandler dige Unterbrechung des Drehmomentflusses bei mög-
(ggf. Überbrückungskupplung mit Schlupfrege- lichst geringem Massenträgheitsmoment. Das leistet
lung). nur die trockene Reibungskupplung. Bei stufenlosen
− Verstimmung des Systems durch Tilger. Getrieben (CVT) und den modernen Doppelkupp-
− Kleine Beugewinkel bei Verlegung der Gelenkwel- lungsgetrieben sind die anderen Kupplungsvarianten
len anstreben. mögliche Alternativen [8].
Die trockene Reibungskupplung (Bild 5.4-5, im
Biegeschwingungen Folgenden kurz: Kupplung,) besteht aus einer am
Schwungrad befestigten Membranfeder-Druckplatte,
− Kurze Länge der Gelenkwellen (evtl. zwei Wellen
der axial auf der Getriebeeingangswelle verschiebba-
mit Zwischenlager).
ren Kupplungsscheibe und dem Ausrücker, der über
− Hohe Steifigkeit von Motor- und Getriebegehäuse.
ein Kugellager den Ausrückweg von den nicht ro-
Einzelheiten zu Schwingungen im Triebstrang siehe tierenden Betätigungselementen auf die Druckplatte
Literatur [5 – 7]. überträgt [9]. Zweischeibenkupplungen finden An-

2
5
3

6
4

10

11

12

Druckplatte Kupplungsscheibe Betätigung


1 Rückholfeder 5 Reibbelag 11 Ausrücker
2 Anpressplatte 6 Belagfeder 12 Ausrückschwinge
3 Gehäuse 7 Feder für Fahrbetrieb
Bild 5.4-5 Pkw-Kupplung,
4 Membranfeder 8 Feder für Leerlaufbetrieb bestehend aus Membran-
9 Nabe feder-Druckplatte, Kupp-
10 Reibeinrichtung
(Reibring, Tellerfeder, Steuerblech) lungsscheibe mit Torsions-
dämpfer und Ausrücker
282 5 Antriebe

wendung bei Schwerlast- und Baustellenfahrzeugen, reduziert werden. Voraussetzung dafür ist eine vom
sowie neuerdings auch bei hochmotorisierten Pkws. Belagverschleiß unabhängige Membranfederposition,
Zwischen Motor und Getriebe ist ein Torsionsdämp- wofür eine Einrichtung zum automatischen Ver-
fer erforderlich, der entweder in die Kupplungsschei- schleißausgleich geeignet ist [10].
be oder in das Schwungrad des Motors (Zweimassen- Die Kupplungsscheibe muss den Winkel- und Mit-
schwungrad) integriert ist. tenversatz zwischen Kurbelwelle und Getriebeein-
gangswelle und das durch die Kurbelwellenbiegung
Drehmomentübertragung verursachte Schwungradtaumeln ausgleichen können,
weil es sonst zum Verschleiß der Verzahnung Nabe/
Die Kupplung muss das maximale Motormoment Getriebeeingangswelle kommt.
zuzüglich dynamischer Überhöhungen übertragen. Die wichtigsten Eigenschaften der Reibbeläge sind
Das übertragbare Moment ist das Produkt aus An- der Reibungskoeffizient, die Berstdrehzahl, der Ver-
presskraft, Reibungskoeffizient des Reibbelags, mitt- schleiß der Beläge und Gegenreibflächen, der Verzug
lerem Reibradius und Zahl der Reibflächen [2]. bei thermischer Belastung, das Massenträgheitsmo-
Durch Variation der Anpresskraft wird die Kupplung ment, die Dosierbarkeit des Drehmomentaufbaus und
zum Drehzahlwandler. Das Drehmoment wird un- die Neigung zu Rupfen und Reibgeräuschen. Die
verändert durchgeleitet. Die Drehmomentübertragung Koeffizienten für die Gleitreibung (während des
unter Schlupf erwärmt die Kupplung und verur- Schlupfs) und die Haftreibung (voll eingekuppelt)
sacht damit unvermeidbar den Belagverschleiß. Als sind nahezu identisch, sie liegen bei normaler Bean-
Höchstbelastung werden für die ABE fünf Anfahrten spruchung zwischen 0,3 und 0,45 und sinken bei
an 12 % Steigung in fünf Minuten mit zul. Ges.-Gew. Fading auf 0,2. Beläge bestehen aus Garnen (vorwie-
(einschließlich Anhänger) gefordert. Dabei kommt gend Glasfaser- und Aramidbündel mit einem Mes-
es zum Reibwertabfall (Fading) und wegen der sing- oder Kupferdraht), eingebettet in einem Reib-
Temperaturdifferenz zwischen Reibseite und Rück- zement aus Harzen, Kautschuken und Füllstoffen
seite von Anpressplatte und Schwungrad zu deren [11]. Metallische Sinterbeläge sind wegen ihrer Rupf-
konischen Verformung, wodurch sich die wirksame neigung weniger gut geeignet, man findet sie jedoch
Reibfläche und der wirksame Übertragungsradius in vielen Nkw-Anwendungen in den USA.
vermindern. Die Belagfeder kompensiert diese Ver-
formung teilweise. Außerdem, vermindert sie zwangs- Trennen
erregte Rupfschwingungen (fühlbar als Schwingung
z.B. beim Pkw von etwa 10 Hz) und erleichtert das Nach dem Auskuppeln darf das Schleppmoment der
ruckfreie Anfahren. Im Gegensatz zur Bremse ist für Kupplung nur etwa 0,2 bis 0,5 Nm betragen. Die
die Kupplung das Wärmespeichervermögen wichtiger Auslaufzeit bis zum Stillstand der Scheibe hängt von
als die Wärmeabfuhr. Die Bandbreite praktischer ihrem Massenträgheitsmoment und vom Schleppmo-
Auslegungen zeigt Bild 5.4-7. ment des Getriebes ab.
Bei der Standard-Bauweise ergibt sich die Ausrück-
kraft aus der Anpresskraft, geteilt durch das Über- Drehschwingungsdämpfung
setzungsverhältnis der Membranfeder (i = 3 . . . 4). Der Antriebsstrang ist aus Gewichts- und Komfort-
Wahlweise kann mit einer zusätzlichen, gegen die gründen relativ verdrehweich. Im ersten Gang können
Membranfeder arbeitenden Feder die Ausrückkraft bei vollem Motordrehmoment Winkel bis etwa 90°
auftreten. Die zündungsbedingte Drehungleichför-
migkeit des Motors und Lastwechsel infolge schneller
Kupplung Räder
Fahrpedal- oder Kupplungsbetätigungen regen Dreh-
Motor Getriebe Fahrzeug schwingungen an (Bild 5.4-6). So kann es z.B.
zu Getrieberassel- und Karosseriebrummgeräuschen
kommen. Während des Kupplungsschlupfs ist der

600
Drehmoment [Nm]

500
400
300
200
100
0
160 180 190 200 215 228 240 250 265 280
Kupplungsdurchmesser [mm]

Bild 5.4-6 Der Antriebsstrang als System aus vier Bild 5.4-7 Zusammenhang zwischen max. Motor-
schwingenden Massen moment und Kupplungsdurchmesser
5.4 Triebstrang 283

Reibmoment
max. Motormoment im Zug

Drehmoment
Eingangsschwingung

Ausgangsschwingung

0 Nm
Winkel

Leerlauf-
Fahrdämpfer dämpfer Fahrdämpfer

Unter der Lupe:


Bewegungsablauf im Torsionsdämpfer bei
max. Motormoment im Schub gleichmäßiger Fahrt
Bild 5.4-8 Torsionsdämpfer-
kennlinie

Motor schwingungstechnisch vom Rest des Antriebs-


strangs entkoppelt.
Mit dem Torsionsdämpfer in der Kupplungsscheibe
beträgt die durch die Zündfrequenz angeregte Eigen-
frequenz und damit das Rassel- und Brummmaximum
je nach Fahrzeugtyp und eingelegtem Gang 40 –
70 Hz, was zum Beispiel bei 4-Zylindermotoren 1.200
bis 2.100 l/min entspricht. Bild 5.4-8 zeigt eine typi-
sche Torsionsdämpferkennlinie mit Zug- und Schub-
last und Anschlägen, die die Drehmomentspitzen
aufnehmen. Der Fahrdämpfer wird so abgestimmt,
dass bei niedrigst möglicher Federsteifigkeit genau
die Reibungshysterese festgelegt wird, die den besten
Kompromiss zwischen Resonanzdämpfung und Ver-
schlechterung der überkritischen Entkopplung ergibt.
Im Motorleerlauf ohne eingelegten Gang tritt eben-
falls Getrieberasseln auf. Dagegen hilft der Leerlauf-
dämpfer. Die Federsteifigkeit beträgt etwa 1 %
von der des Fahrdämpfers. Der Schwingwinkel von
± 2° bis ± 4° überlagert sich dem statischen Verdreh- Bild 5.4-9 Zweimassenschwungrad (Planetenrad-
winkel, der sich aus dem temperaturabhängigen design, fettgeschmiert)
Schleppmoment des Getriebes ergibt.
Im Zweimassenschwungrad (Bild 5.4-9) ist der fett- laufen. Die höchste Beanspruchung tritt als Folge von
gefüllte Torsionsdämpfer zwischen dem Primär- und Fahrfehlern auf: Längeres untertouriges Fahren im
Sekundärteil des Schwungrads angeordnet. Das Pri- Bereich der Eigenfrequenz oder extrem schnelles Ein-
märschwungrad ist wie bisher mit der Kurbelwelle kuppeln bei niedrigen Drehzahlen.
verschraubt und trägt den Anlasserzahnkranz und
die Zündmarkierungen. Das Sekundärschwungrad, an Kupplungsbetätigung
dem die Druckplatte befestigt ist, ist auf dem Pri-
märschwungrad gelagert und bildet eine der beiden Das Ausrücklager ist meist lebensdauergeschmiert und
Gegenreibflächen der Kupplungsscheibe. Die durch selbstzentrierend. Die Kupplung wird vorwiegend
die Zündfrequenz angeregte Eigenfrequenz des An- hydraulisch oder bei automatisierten Schaltgetrieben
triebsstrangs sinkt auf 8 bis 12 Hz, sodass das System auch elektromechanisch betätigt (Bild 5.4-10). Die
bei Leerlaufdrehzahl bereits überkritisch läuft. Die Hydraulik besteht aus dem Geberzylinder mit selbst-
Entkopplungsgüte ist wegen der großen Sekundär- tätiger Entlüftung, und automatischem Verschleißaus-
masse hervorragend. Beim Anlassen und Abstellen gleich, dem Vorratsbehälter, der Druckleitung und
des Motors wird die Eigenfrequenz kurzzeitig durch- dem Nehmerzylinder mit Vorlastfeder. Nehmerzylin-
284 5 Antriebe

5.4.2.2 Hydrodynamische Drehmomentwandler


Einleitung
Hydrodynamische Drehmomentwandler [1] sind hyd-
rodynamische Getriebe, die sowohl Drehzahl als auch
Drehmoment über einen weiten Betriebsbereich stu-
fenlos wandeln können. Gegenüber Kupplungen bie-
ten sie den Vorteil der Drehmomenterhöhung. Sie
sind jedoch nur in Verbindung mit einer Überbrü-
ckungskupplung auch strategiefähig, da die hydro-
Bild 5.4-10 Kupplung mit hydraulischer Betätigung dynamische Kennlinie im Wandlerbetrieb ansonsten
das Betriebsverhalten über die Abstimmung der
Kreislaufteile vorgibt. Im Pkw-Antriebsstrang werden
der und Ausrücker sind zum Teil zu einem Bauteil, Wandler heute als Anfahrelement für Stufenautomat-
dem konzentrischen Nehmerzylinder (CSC), zusam- getriebe mit bis zu 8 Vorwärtsgängen und bei stufen-
mengefasst. losen Getrieben (CVT) eingesetzt. Die Spreizung
Die Pedalcharakteristik (Bild 5.4-11) leitet sich aus eines CVT-Getriebes lässt sich so deutlich erhöhen.
der Ausrückkraftkennlinie der Druckplatte ab, wobei
die Übersetzungen in Pedal, Betätigungshebel und Aufbau
Hydraulik, ggf. eine Hilfsfeder (Übertotpunktfeder), Drehmomentwandler für den Einsatz in Pkw sind
die Reibungsverluste und die Wegverluste durch nach dem TriLok-Prinzip aufgebaut, d.h. Pumpen-
elastische Verformung zu berücksichtigen sind. Letz- und Turbinenrad stehen sich gegenüber. Zwischen
tere sind auch Voraussetzung für eine gute Dosier- diesen Laufrädern befindet sich das axial durchström-
barkeit der Kupplung. te Leitrad. Das Pumpenrad steht direkt mit der Kur-
Bei der automatischen Kupplungsbetätigung über- belwelle des Verbrennungsmotors in Verbindung,
nimmt ein elektrohydraulischer oder elektromechani- während das Turbinenrad mit der Getriebeeingangs-
scher Aktuator die Arbeit des Fahrerfußes. Er wird welle gekoppelt ist. Eine Stützwelle verbindet das
elektronisch angesteuert, und durch Sensoren bzw. Leitrad mit dem Getriebegehäuse. Zwischen Leitrad
CAN-Bus über die Absichten des Fahrers und den und Stützwelle ist ein Freilauf angeordnet, der die
Bewegungszustand des Fahrzeugs informiert. Der Drehmomentübertragung in nur einer Richtung zu-
Fahrerwunsch wird aus dem Fahrpedalwinkel und der lässt. Zusätzlich sind in das Wandlergehäuse bei
-beschleunigung erkannt. Um die Gänge schnell aktuellen Pkw-Anwendungen immer Überbrückungs-
wechseln zu können, muss zeitlich überlappend aus- kupplungen und häufig Torsionsschwingungsdämpfer
gekuppelt, geschaltet und wieder eingekuppelt wer- integriert (siehe Bild 5.4-12). Der Wandler ist mit
den. dem Druckölkreislauf des Getriebes verbunden und
Die automatische Kupplungsbetätigung wird künftig vollständig mit Öl gefüllt. Um die anfallende Ver-
als Baustein für automatisierte Getriebesysteme grö- lustwärme abzuführen, wird das Öl mit einem überla-
ßere Bedeutung bekommen [39]. gerten Massenstrom ständig ausgetauscht.

160
1: Kupplung hat getrennt
140 2: Beginn der Drehmomentübertragung

120
Pedalkraft [N]

100
1
80

60
2
40

20 Dosierbereich

0
0 20 40 60 80 100 120 140
Pedalweg [mm] Bild 5.4-11 Kennlinie eines
Kupplungspedals
5.4 Triebstrang 285

Torsionsdämpfer Turbine
gangsmoment entspricht, erzeugt. Im Leitradgitter (
nach ) erfährt das Fluid eine weitere Strömungsum-
Pumpe
lenkung mit dem resultierenden Leitradmoment ML.
In diesem Betriebspunkt stützt sich das Leitrad über
3 2
den Freilauf am Getriebegehäuse ab. Die Moment-
bilanz des Wandlers lautet
   
M P + MT + M L = 0
4 1
5 6 Für die Beträge im dargestellten Betriebspunkt ergibt
sich MT = MP + ML und damit die Drehmomentver-
stärkung bzw. Drehmomentwandlung. Diese wird mit
Leitradwelle
MT
μ=
MP

definiert und liegt für den Betriebspunkt in Wandlern


dieser Bauart zwischen 1,8 und 3,0.
Bild 5.4-12 Drehmomentwandler mit Überbrückungs- Nähert sich die Turbinendrehzahl der Pumpendreh-
kupplung und Torsionsdämpfer zahl (Bild 5.4-14), hat das Fahrzeug also seinen
Anfahrvorgang nahezu beendet (ν > 0,9 ), wird das
Leitrad in einem deutlich anderen Strömungswinkel
Funktionsweise
angeströmt. Ohne Freilauf würde sich die Richtung
Hydrodynamischer Betrieb des Leitradmomentes umkehren und gemäß der
Momentenbilanz MT = MP – ML keine Drehmoment-
Beschleunigt ein Fahrzeug aus dem Stand heraus, verstärkung, sondern eine Reduktion stattfinden. Der
rotiert die Pumpe bei noch stehender Turbine. Durch Freilauf verhindert jedoch diese Momentübertragung,
den Fliehkraftunterschied wird ein umlaufender Mas- womit das Leitradmoment zu Null wird und der
senstrom erzeugt, dadurch ein Moment übertragen Wandler in den hydrodynamischen Kupplungsbetrieb
und das Fahrzeug letztendlich angetrieben. übergeht. Es gilt jetzt MT = MP.
Die dabei stattfindenden inneren Strömungsvorgänge Steigt die Turbinendrehzahl weiter an bis zur identi-
sind in Bild 5.4-13 in einer Abwicklung der Schau- schen Drehzahl der Pumpe (ν = 1), fließt aufgrund
felgitter aufgezeigt. Die Ein- und Austrittsbereiche des nun gleichen Druckfeldes kein Ölstrom mehr. Es
der Laufräder sind mit Ziffern von  bis  gekenn- kann kein Moment mehr übertragen werden.
zeichnet und korrelieren mit Bild 5.4-12. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass zur Drehmo-
Man definiert für den Drehzahlunterschied zwischen mentübertragung vom Motor auf das Getriebe stets
Pumpe und Turbine die Drehzahlwandlung Schlupf im Kreislauf vorhanden sein muss. Dieser
ωT führt zu einer Verlustleistung innerhalb des Wandlers
ν= und damit einer Reduktion des Getriebewirkungs-
ωP grads.
In der Praxis hat sich zur Darstellung des Betriebs-
In der Pumpe, die direkt mit dem Motor verbunden
verhaltens eines Wandlers das so genannte Wandler-
ist, wird ein Fliehkraftdruck erzeugt. Das Öl wird
diagramm durchgesetzt (Bild 5.4-15). Es wird das
vom Eintritt  zum Austritt  beschleunigt. Motor-
Moment der Pumpe (Mp2.000) bei einer konstanten
drehmoment MM und Pumpenmoment MP sind gleich.
Drehzahl (i.d.R. n = 2.000 min–1) über der Drehzahl-
Das die Pumpe verlassende Fluid gelangt zum Turbi-
neneintritt  und übt auf die Turbinenschaufel je
nach Schaufelgestaltung einen Impuls aus. Damit Turbine Leitrad Turbine Leitrad
3 4
wird das Turbinenmoment MT, das dem Getriebeein-
3 4
Fahrzeug fährt an 5 6
Pumpe Turbine Leitrad
5 6
3 2
1 2
3 4
5 6
uPumpe v=0 v > 0,9 = 0
4 1 MT = M P + M L MT = M P + M L
cm cm cm cm 5 6
⇒ Hydrodynamische Kupplung
MT = M P + M L

Bild 5.4-13 Prinzipieller Strömungsverlauf Bild 5.4-14 Strömung während des Anfahrvorgangs
286 5 Antriebe

werden rechts und links vom Kolben unterschiedliche


160
Drücke erzeugt, die den Kolben in Richtung „Öffnen“
140 Mp2000 oder „Schließen“ bewegen. Dabei ist es unbedingt
erforderlich, dass der Wandler komplett mit Öl gefüllt
120
ist.
2,0 100 m 100 Neben den Vorteilen der schlupffreien Leistungsüber-
Mp2000 [Nm]

tragung bringt die Wandlerkupplung den Nachteil der


m [–]

80 80

h [%]
starren Kopplung von Motor und Getriebe mit sich.
60 h 60 Die hervorragenden Eigenschaften bzgl. Schwin-
1,0
40 40
gungsdämpfung, wie sie die Hydrodynamik bietet,
stehen jetzt nicht mehr zur Verfügung. Dies führte
20 20 dazu, dass zusätzlich Torsionsschwingungsdämpfer,
0 0 0 wie sie ähnlich auch bei Trockenkupplungen für
0 n 1 Schaltgetriebe bekannt sind, im Drehmomentwand-
lergehäuse integriert wurden. Der Betriebsbereich, in
Bild 5.4-15 Typisches Wandlerdiagramm dem mit aktiver Wandlerkupplung und hohem Kom-
fort gefahren wird, wächst an, so weit in dem vorhan-
wandlung ν aufgetragen. Weiterhin wird die Mo- denen Bauraum ein geeigneter Dämpfer integriert
mentwandlung μ sowie der Wirkungsgrad η betrach- werden kann.
tet. η errechnet sich aus
Geregelt schlupfende Wandlerüberbrückungs-
MT ⋅ ωT
η= = μ ⋅ν kupplung (GWK)
M P ⋅ ωP
Eine Funktionserweiterung der Wandlerkupplung
Charakteristisch für die Momentenaufnahme des stellt ihr Einsatz mit geregeltem Schlupf dar. Die
Wandlers ist der wie bei hydrodynamischen Strö- Wandlerkupplung wird in dieser Betriebsart nicht
mungsmaschinen übliche quadratische Zusammen- vollständig geschlossen. Es verbleibt ein definierter
hang des Moments mit der Geschwindigkeit. Der Schlupf zwischen An- und Abtriebsseite. Der Schlupf
hydraulische Durchmesser des Kreislaufs geht mit der verhindert, dass die vom Motor erzeugten Dreh-
5. Potenz ein: schwingungen vollständig auf das Getriebe und damit
auf den Antriebsstrang übertragen werden. Die deut-
M P = C ⋅ ωP2 ⋅ DP5 liche Effizienzsteigerung dieses Systems ergibt sich
daraus, dass in den Fahrbereichen, die zuvor aus
Die Konstante C wird bestimmt durch die Dichte des Komfortgründen eine geöffnete Wandlerkupplung
Öls sowie durch die Bauteilgeometrie. erforderten, jetzt mit dem erheblich kleineren mecha-
Wird ein derartig gemessenes oder berechnetes nischen Schlupf gefahren werden kann. Die Fahrbe-
Wandlerkennfeld mit einer Motorkennlinie in Zu- reiche, die schon zuvor ein vollständiges Überbrü-
sammenarbeit gebracht, lässt sich theoretisch der cken ermöglichten, bleiben selbstverständlich erhal-
Momentverlauf des Getriebeeingangs sowie die ten. Hieraus ergeben sich Verbrauchsvorteile, beson-
Verlustleistung beim Anfahren ermitteln. ders bei Dieselanwendungen.
Damit ist eine den Wünschen des Kunden gemäße Die in diesem Betriebszustand anfallende Verlustleis-
Auslegung des Wandlers möglich. Parameter sind tung sollte möglichst effizient aus dem Wandler
neben der Wandlerdurchmessergröße die Meridian- abgeleitet werden. Dazu geeignete Wandlerkupplun-
form des Kreislaufs sowie die Schaufelwinkel der gen verfügen zu dem Zeck über Belagnuten und
drei Laufräder. Kolbendüsen. Damit wird eine Überhitzung von
Belag und Öl direkt am Reibkontakt weitgehend
Wandlerüberbrückungskupplung vermieden. Dies ist auch zwingend notwendig, da in
Zur Verbrauchsreduktion ist der Einsatz von Über- modernen Automatgetrieben keine Ölwechsel über
brückungskupplungen, die den Rest-Schlupf des der Lebensdauer mehr vorgesehen sind.
Drehmomentwandlers zwischen Pumpe und Turbine
unterbindet, seit einigen Jahren Standard. Diese Ausblick
Kupplung erzeugt eine kraftschlüssige Verbindung Der Drehmomentwandler beeinflusst wesentlich
zwischen Pumpe und Turbine, der Kreislauf ist kurz- Verbrauch und Fahrleistung des Fahrzeugs. Daher
geschlossen. Dazu befindet sich im Wandlergehäuse obliegt er dem ständigen Zwang, weitere Optimie-
ein Kolben, der mit einem Reibbelag versehen ist. rungen vorzuweisen. Reduziertes Systemgewicht in
Der Kolben ist verdrehfest mit der Turbine verbun- immer kleineren Bauräumen wird in modernen An-
den. triebssträngen vorausgesetzt (vgl. Bild 5.4-16).
Das Öffnen und Schließen der Wandlerkupplung Neben den Verbesserungen der hydrodynamischen
erfolgt mit der Drucksteuerung des Getriebes. Es Eigenschaften ist der Abstimmung des Torsionsdämp-
5.4 Triebstrang 287

2-Flächen-Wandlerkupplung Torsions- B
dämpfer

B
H
H

Zwei-Flächen-Wandlerkupplung
ohne Torsionsdämpfer Wandlerkupplung
B/H = 1 mit Torsionsdämpfer Bild 5.4-16 Ausführungs-
B/H = 0.7 beispiele

fungssystems hohe Aufmerksamkeit zu widmen. legt werden. Das Schließen der Kupplung beendet
Ähnlich wie bei den Trockenkupplungssystemen den Schaltvorgang.
müssen für den jeweiligen Fall die optimalen Steifig- Zur mehrstufigen Übersetzungsbildung sind Zahn-
keits-, Reibungs- und Massenverhältnisse gefunden radpaare unterschiedlicher Zähnezahl in Vorgelege-
werden. Ziel ist es, die Überbrückungskupplung bei wellenbauweise im Dauereingriff. Der Rückwärts-
noch kleineren Drehzahlen geschlossen zu halten. gang wird durch ein zusätzliches Zwischenrad im
Deshalb zeichnet sich bei der Überbrückungskupp- Dauereingriff erzeugt. Die Getriebe haben üblicher-
lung ein Trend weg von der reinen Wandlerüberbrü- weise eine Vorgelegewelle, gelegentlich auch zwei
ckung hin zur Funktionalität einer nassen Anfahr- oder drei.
kupplung ab. Damit kann dem hydrodynamischen Die Handschaltgetriebe gibt es in zwei grundsätzli-
Moment während des Anfahrens ein weiteres von der chen Varianten mit entweder koaxialem An- und
Getriebesteuerung beeinflussbares Moment überla- Abtrieb oder mit Achsversatz, Bild 5.4-17. Die ko-
gert werden. Das mechanische System Drehmoment- axiale Getriebeausführung ermöglicht einen Direkt-
wandler ist somit in das elektronische Antriebs- gang ohne Zahneingriff und ist speziell für Fahrzeuge
strangmanagement integrierbar. mit Standardantrieb geeignet. Getriebe mit Achsver-
Aufgrund der angeführten Optimierungsmöglichkei- satz haben keinen Direktgang. Sie kommen in Fahr-
ten sowie des systemimmanenten Vorteils des ver- zeugen mit Front- und Heckantrieb und Blockbau-
schleißfreien Anfahrens mit Momenterhöhung ist weise von Schalt- und Achsgetriebe zum Einsatz.
auch in den nächsten Jahren mit einer weiten Verbrei- Handschaltgetriebe zeichnen sich durch besonders
tung des Drehmomentwandlers für Pkw-Automat- effiziente Leistungsübertragung aus. Geringe Verlus-
getriebe zu rechnen. te entstehen beim Abwälzen im Zahneingriff, durch
Reibung an Schaltelementen mit Differenzdrehzahl,
5.4.3 Das Handschaltgetriebe-System mitlaufenden Verzahnungen und an dynamischen
Dichtstellen von Wellen und Lagern sowie durch
5.4.3.1 Funktion und Aufbau Planschen. Koaxiale Getriebe erreichen im Direkt-
Die wesentlichen Elemente von Handschaltgetrieben gang einen Wirkungsgrad von annähernd 99 %.
sind:
5.4.3.2 Verzahnung
− Fußbetätigte trockene Anfahr- und Trennkupplung
In Fahrzeuggetrieben werden ausschließlich Evolven-
− Synchronisiertes Zahnradstufengetriebe mit 5 bis
ten-Verzahnungen eingesetzt. Sie sind einfach her-
6 Gängen
stellbar und unempfindlich gegenüber Achsabstands-
− Getriebebetätigung mit Übertragung von Schalt-
Änderungen.
bewegung und Schaltkraft vom Schalthebel zum
Im Pkw-Bereich kommt heute generell (mit Ausnah-
Getriebe.
me des Rückwärtsgangs) Schrägverzahnung zum Ein-
Die einzelnen Gänge werden formschlüssig geschal- satz.
tet. Zum Gangwechsel ist deswegen der Kraftfluss Die Auslegung der Verzahnung erfolgt mittels Be-
Motor-Getriebe durch Betätigung der Kupplung zu lastungskollektiven und muss Sicherheit gegen Zahn-
trennen. Nach Herausnehmen des vorhergehenden bruch, Flankenermüdung und Fressschäden bieten.
Gangs und Drehzahlanpassung auf Gleichlauf am Im Pkw hat die Vermeidung von Zahnradgeräuschen
einzurückenden Schaltelement mittels Synchronisie- besondere Bedeutung, da die akustischen Anfor-
rung kann dann der neue Gang formschlüssig einge- derungen an die Fahrzeuge ständig steigen. Neben der
288 5 Antriebe

Gänge Gänge
5 4 3 2 1 5 4 3 2 1

An An Ab

Ab

1
5 2 3 4 1 2
3
4 Bild 5.4-17 Bauarten von
5
Handschaltgetrieben

Schrägverzahnung sind präzise Fertigung, hohe der Drehzahlgleichheit zu und gewährleisten guten
Profilüberdeckung bis hin zur Hochverzahnung sowie Schaltkomfort, insbesondere was die Gleichförmig-
geeignete Verzahnungskorrekturen (Schrägungswin- keit des Schaltungsablaufs angeht.
kel, Höhen- und Längsballigkeit) wichtige Maßnah- Es gibt verschiedene Arten der Sperrsynchroni-
men zur Reduktion von Verzahnungsgeräuschen. sierung. Am meisten verbreitet ist das System Borg
Moderne Berechnungsverfahren auf der Basis der Fini- Warner und zwar in Einfach-, Doppel- oder auch
ten Elemente erlauben es heute bereits in der Konstruk- Dreifach-Konus-Bauweise, Bild 5.4-18. Synchroni-
tionsphase eines Getriebes, Wellendurchbiegungen und sierungen mit Mehrfach-Konus werden bevorzugt in
Gehäuseverformungen unter Last für Verzahnungskor- den unteren Gängen eingesetzt, da sie thermisch
rekturen zu berücksichtigen, um so Belastbarkeit und höher belastbar sind. Sie reduzieren auch die Schalt-
Geräuschemission positiv zu beeinflussen. kraft und ermöglichen so eine Angleichung des
Schaltkraftniveaus beim Einlegen der verschiedenen
5.4.3.3 Synchronisierung Gänge.
Zwischenkuppeln und Zwischengas waren früher Als Reibpaarungen kommen unter anderem Messing,
auch im Pkw üblich, um die für den Gangwechsel Streusinter, Molybdän und Carbon, jeweils gegen
erforderliche Drehzahlanpassung der miteinander Stahl laufend, zum Einsatz.
formschlüssig zu kuppelnden Teile vorzunehmen. Nachdem die Synchronisierung mehrfach im Getriebe
Heute geschieht dies durch eine Einrichtung zur eingebaut wird, wird bei ihrer Weiterentwicklung
Synchronisierung von Drehzahldifferenzen, die der natürlich besonders auf die Kostenreduktion geachtet.
formschlüssigen Zahnkupplung vorgelagert ist. Modulare Ausführung der Synchronisierung mit
Durchgesetzt haben sich Sperrsynchronisierungen. möglichst vielen Gleichteilen und Einsatz der Blech-
Sie sind als Reibungskupplung zur kraftschlüssigen umform- oder Sintertechnik sind die bevorzugt einge-
Drehzahlangleichung ausgebildet, lassen das form- setzten Fertigungsverfahren.
schlüssige Einrücken des Gangs erst nach Erreichen

Einfachkonus Doppelkonus Dreifachkonus

4 1 2 3 1 4 4 1 2 3 1 4 4 1 2 3 1 4

5 5 5

1 Synchronring 3 Schiebemuffe 5 Synchronkörper

2 Druckstift mit Druckfeder 4 Kupplungskörper Bild 5.4-18 Synchronisie-


rungs-Systeme
5.4 Triebstrang 289

5.4.3.4 Weitere Getriebekomponenten


Leichtbau und geringe Geräuschemission stehen neben
geringen Herstellkosten und hoher Zuverlässigkeit A B
bei modernen Handschaltgetrieben im Vordergrund.
Bevorzugte Gehäusewerkstoffe sind Aluminium und
zunehmend auch Magnesium. Für möglichst hohe
Steifigkeit und geringe Geräuschabstrahlung werden
die Gehäuse mithilfe der Finite-Elemente-Methode Ansicht B
nach Form, Wandstärke und Verrippung optimiert. Ansicht A
Zur weiteren Gewichtsreduktion kommen Hohlwellen
zum Einsatz.
Die Abstützung von Wellen und Zahnrädern erfolgt
nahezu ausschließlich mit Wälzlagern: Nadellager für
die Losräder, Kugel-, Rollen- oder Kegelrollenlager
für die Wellen im Gehäuse. Bild 5.4-19 Äußere Schaltanlage in Seilzugausfüh-
Die dynamische Abdichtung geschieht mittels Radial- rung
wellendichtringen aus Elastomer-Werkstoffen, zum
Teil mit Drallstegen zur Erhöhung der Dichtsicher- oder Schaltschwingen hin zur Schiebemuffe des
heit. Für die statische Abdichtung von Gehäusetrenn- Schaltelements.
flächen und Gehäusedeckeln kommen Feststoff- Bild 5.4-19 zeigt die äußere Schaltanlage in Seilzug-
Flachdichtungen sowie Flüssigdichtungen aus Silikon ausführung für ein 5-Gang-Schaltgetriebe.
oder anaerob aushärtenden Kunststoffen zum Einsatz.
Handschaltgetriebe haben heute Lebensdauerfüllung. 5.4.3.6 Ausführungsbeispiele
Überwiegend wird Automatic Transmission Fluid
(ATF) verwendet. Das Öl muss durch günstiges Vis- Das Mercedes-Benz-5-Gang-Getriebe SG 150, Bild
kositäts-Temperaturverhalten Schwerschaltbarkeit bei 5.4-20, für ein Kompaktfahrzeug mit Frontantrieb
tiefen Temperaturen vermeiden und mit geeigneter und Quermotor ist in 2-Wellen-Bauweise mit Achs-
Additivierung ein möglichst gleichmäßiges Reibver-
halten der Synchronisierung unter allen Betriebsbe-
dingungen sicherstellen. Gleichzeitig sind auch Fress-
und Pittingtragfähigkeit der Verzahnung zu gewähr-
leisten.
Je nach Getriebegröße und Ausführung liegt die Öl-
füllmenge zwischen ca. 1,5 bis 2 Litern. Die Ge-
triebeschmierung erfolgt mittels Spritzöl und speziel-
ler Ölführung mit Ölleitelementen. In Getrieben mit
besonders hoher Beanspruchung (z.B. in Sport- oder
Geländefahrzeuge) findet man auch eine Schmieröl-
pumpe zur Sicherstellung der Ölversorgung.

5.4.3.5 Getriebeschaltung
Die Getriebeschaltung überträgt die Schaltbewegung
des Fahrers bis hin zum jeweiligen Schaltelement im
Getriebe. Zu unterscheiden sind äußere Schaltung
und innere Schaltung.
Die äußere Schaltung geht vom Schalthebel bis hin
zum Getriebe. Sie kann als Gestängeschaltung mit
fester Verbindung ausgebildet sein oder als Seilzug-
schaltung mit flexibler Verbindung. Die Seilzug-
schaltung hat Vorteile hinsichtlich des erforderlichen
Freiraums, der Schwingungsentkoppelung zwischen
Motor-Getriebe-Verbund und Fahrzeuginnenraum,
bei Gewicht und der Montage, insbesondere bei den
besonders beengten Raumverhältnissen in Fahrzeu-
gen mit Frontantrieb und Quermotor [12].
Die innere Schaltung überträgt die eingeleitete Bild 5.4-20 Mercedes-Benz-5-Gang-Schaltgetriebe
Schaltbewegung über Schaltstangen und Schaltgabeln SG 150
290 5 Antriebe

Bild 5.4-21 6-Gang-


Schaltgetriebe S6-37

versatz zwischen An- und Abtrieb konzipiert und hat 5.4.3.7 Automatisierte Schaltgetriebe
180 Nm maximales Antriebsdrehmoment [13]. Der Automatisierte Schaltgetriebe [15] sind in einigen
Wandlungsbereich beträgt 4,7. Erster und zweiter Pkw der unteren Leistungsklasse einerseits und in
Gang werden mit einer Doppelkonus-Synchronisie- sehr sportlichen Fahrzeugen andererseits in Serie
rung geschaltet, die übrigen Gänge einschließlich eingeführt. Basis sind Handschalt-Synchrongetriebe,
RW-Gang mit Einfachkonus. die mit elektrohydraulischen oder elektro-mecha-
Zur Gewichtsreduktion sind die Getriebewellen hohl nischen Aktuatoren für die Kupplungs- und Getriebe-
ausgebildet. Das Getriebe wiegt 32 kg inklusive betätigung kombiniert werden, Bild 5.4-22. Es gibt
1,8 Liter Ölfüllung. auch speziell für die Automatisierung konzipierte
Das 6-Gang ZF-Getriebe S6-37, Bild 5.4-21, ist für Getriebesysteme mit bis zu 7 Gängen, die nicht vom
Fahrzeuge mit Standardantrieb (auch in Allradver- Handschaltgetriebe abgeleitet sind. Während des
sion) konzipiert [14]. Das maximale Antriebsdreh- Schaltvorgangs wird der Verbrennungsmotor durch
moment beträgt 370 Nm. Abhängig vom Antriebs- die Getriebeelektronik geführt und die passenden
drehmoment reicht der Getriebewandlungsbereich bis Anschlussdrehzahlen nach Abschluss des Schaltvor-
6,19 mit direkter Übersetzung im 5. Gang. Das Ge- gangs eingeregelt.
triebe wiegt 41 kg einschließlich 1,6 Liter Lebens- Automatisierte Schaltgetriebe verbinden den guten
dauer-Ölfüllung. Die Vorgelegewelle ist zur Ge- Wirkungsgrad von Handschaltgetrieben mit ökono-
wichtsreduktion hohl ausgeführt. misch orientierten Schaltprogrammen. Nachteilig ist
Das S6-37 hat eine geräuschoptimierte Hochverzah- die deutlich spürbare Zugkraftunterbrechung beim
nung und kann optional mit automatisierter Schaltung Schalten insbesondere bei Beschleunigungsvorgän-
ausgestattet werden. gen unter hoher Last in den unteren Gängen.

Kupplung/ Schaltmotor
Ausrücker Zündschloss
Motor
Getriebe Programm-
wahlhebel
Elektromechanischer Fahrpedal-
Aktuator stellung
Bremse
ASG Funktions-
Steuer- ASG und Warn-
elektronik anzeige
Motor-
führung CHECK Diagnose

1 3 5
Zusatz-
2 4 R
programme Bild 5.4-22 Systemaufbau
Geschwin- Getriebe- Gang- automatisierter Schalt-
digkeit drehzahl erkennung Motormanagement
getriebe
5.4 Triebstrang 291

5.4.4 Stufenautomatgetriebe Stationär-


Schaltphase
Stationär-
phase
phase
5.4.4.1 Funktionsweise Über- Über- Zu-
Füllung schneidung höhung schaltung
Automatische Getriebe unterscheiden sich von Hand-
schaltgetrieben im Wesentlichen durch drei Punkte: M ab

Kupplungsmoment/Abtriebsmoment
M ab
1. Das Anfahren erfolgt ohne Kupplungsbetätigung.
Als Anfahrelement bei automatischen Getrieben wird M k1

Motordrehzahl
M k2
i.d.R. ein hydrodynamischer Drehmomentwandler
eingesetzt (vgl. Abschnitt 5.4.2.2). Die minimale
nM
Übertragungsfähigkeit des Wandlers bei Motorleer- nM
laufdrehzahl ermöglicht durch geringe Bremskräfte,
das Fahrzeug zu Halten oder zum Stehen zu bringen. M k2 M k1
Beim Öffnen der Bremse kriecht das Fahrzeug. Dies t0 t1 t2 t3 t4
erlaubt ein sehr fein dosiertes Rangieren und Parkie-
ren. Außerdem hält das Kriechmoment das Fahrzeug Bild 5.4-24 Momenten- und Drehzahlverlauf bei
gegen die Hangabtriebskraft an leichten Steigungen. einer Zug-Hochschaltung
Die Funktionsweise des Wandlers ermöglicht neben
der Auftrennung des Triebstrangs im Stillstand auch Für eine Zug-Hochschaltung sind in Bild 5.4-24 die
ein sehr komfortables Anfahren und durch die An- Drehmomente an den beiden Kupplungen, das Ab-
fahrwandlung eine Zugkraft-Überhöhung mit einer triebsdrehmoment des Getriebes und der Motordreh-
zur Getriebe-Gesamtübersetzung vergrößerten An- zahlverlauf dargestellt. Die Schaltung ist als Über-
fahrbeschleunigung. schneidungsschaltung ausgeführt. Während der Über-
schneidungsphase wird das übertragbare Drehmo-
2. Die Schaltung erfolgt als Lastschaltung
ment der abschaltenden Kupplung abgesenkt und
ohne Zugkraftunterbrechung.
gleichzeitig das Moment der zuschaltenden Kupplung
Bei Handschaltgetrieben und automatisierten Schalt- erhöht. Am Ende der Überschneidungsphase über-
getrieben wird für einen Gangwechsel die Trennkupp- trägt die zuschaltende Kupplung das Drehmoment des
lung zwischen Motor und Getriebe geöffnet. Dabei neuen Ganges, während noch die Drehzahl des alten
wird die Zugkraft unterbrochen, die Fahrzeugbe- Ganges vorliegt. Durch eine weitere Erhöhung des
schleunigung bricht ein (vgl. Abschnitt 5.4.3.1). Dem- Drehmoments an der Zuschaltkupplung werden die
gegenüber wird der Gangwechsel bei automatischen motorseitigen Drehmassen auf das Drehzahlniveau
Getrieben als Lastschaltung ohne Zugkraftunterbre- des neuen Ganges synchronisiert (Überhöhungspha-
chung ausgeführt. Dies erfordert mehrere Schaltele- se). Aus dem Verlauf des Abtriebsmomentes ist zu
mente (Kupplungen, Bremsen), die so dimensioniert erkennen, dass während der Hochschaltung das Dreh-
sind, dass sie die Motorleistung übertragen und schal- moment nach der Überschneidungsphase auf das
ten können. In Bild 5.4-23 ist das Prinzip eines auto- Niveau des neuen Ganges absinkt. In der Überhö-
matischen Getriebes am Beispiel eines 2-Gang- hungsphase kommt es zu einem Anstieg des Ab-
Lastschaltgetriebes dargestellt. Der erste Gang wird triebsmomentes durch die Einleitung der Energie der
über die Kupplung K1 übertragen, während im zwei- motorseitigen Drehmassen in den Triebstrang.
ten Gang die Kupplung K2 geschlossen ist. Mit dem Erreichen der Synchrondrehzahl ist das Ab-
triebsdrehzahlniveau und das Drehmoment des neuen
Kupplung 1 Ganges erreicht. Der Verlauf des Abtriebsdrehmo-
mentes während der Überhöhungsphase ist durch die
Ansteuerung der zuschaltenden Kupplung und durch
Teilgetriebe 1
Manipulation des Motordrehmoments (Motoreingriff)
beeinflussbar (siehe Abschnitt 5.4.6.4). Die anderen
Schaltungsarten werden in ähnlicher Form gesteuert.
Antrieb Abtrieb
Die Schaltungsabläufe sind in der Literatur ausführ-
lich beschrieben [1].
3. Die Gangwechsel werden automatisch ausgeführt.
Teilgetriebe 2
Bei automatischen Getrieben wird der Gangwechsel
nicht durch einen bewussten Eingriff des Fahrers
vollzogen, sondern erfolgt automatisch. Dies ge-
Kupplung 2 schieht durch ein Schaltprogramm und ist im Wesent-
lichen von den beiden Einflussgrößen Fahrgeschwin-
Bild 5.4-23 Prinzipdarstellung eines 2-Gang-Last- digkeit und Drosselklappenstellung abhängig (vergl.
schaltgetriebes Abschnitte 5.4.4.5 und 5.4.6.4).
292 5 Antriebe

5.4.4.2 Aufbau liche Koppelungen der Zentralteile der Planetenrad-


sätze gebildet.
Planetengetriebe
Bei der Entwicklung eines Planetengetriebe-Systems
Automatische Getriebe werden i.d.R. als Planetenge- für ein automatisches Fahrzeuggetriebe ist es wichtig,
triebe ausgeführt. Gründe dafür sind für den jeweiligen Einsatzbereich eine geeignete
• die Darstellung von mehreren Übersetzungen mit Übersetzungsreihe zu finden. Neben einfachen Plane-
einem Radsatz (vergl. Abschnitt 5.4.4.3). tensätzen kommen auch spezielle Radsätze wie der
• die koaxiale Anordnung der Zentralteile. Ravigneaux-, der Simpson- oder der Wilsonsatz zur
• die kompakte Bauweise. Anwendung [1, 16, 17].
• Die Motorleistung wird durch mehrere Zahnein- 5.4.4.3 Baugruppen
griffe parallel übertragen (Leistungsteilung).
• der hohe Wirkungsgrad. Planetensatz
In Bild 5.4-25 ist der schematische Aufbau des Ein Planetensatz (Bild 5.4-26) besteht aus den drei
8-Gang-Automatgetriebes ZF-8HP70 dargestellt, Zentralteilen Sonnenrad (1), Planetenträger (3) und
einem typischen Vertreter moderner Stufenautomat- Hohlrad (4). Die Planetenräder (2) sind im Planeten-
getriebe für Heckantrieb. Das Getriebeschema zeigt träger gelagert. Mit einem Planetensatz lassen sich
die Anordnung der wichtigsten leistungsführenden folgende drei Übersetzungen darstellen:
Bauelemente: z
i3 = 4 (Standübersetzung)
• Wandler mit schlupfgeregelter Überbrückungs- z1
kupplung (GWK) und Zwei-Dämpfersystem i13 = 1 – i3
• Kupplungen (C, D, E)
• Bremsen (A, B) 1
i 43 = 1 −
• Freilauf im Wandler i3
• Radsätze (4 einfache Planetenradsätze) Durch Vertauschung von An- und Abtrieb lassen sich
• mechanische Verbindungselemente (Wellen, Trä- in den genannten Übersetzungen auch ihre Reziprok-
ger, . . .). werte darstellen. Je nach realisierter Übersetzung
Aus dem Schaltungsdiagramm ist zu entnehmen, undLeistungsanforderung werden Planetensätze mit 3
welche Elemente in welchem Gang geschaltet wer- bis 6 Planeten ausgeführt. Die Sonnen- und Planeten-
den. Zur Leistungsübertragung sind in jedem Gang räder sind aus einsatzgehärtetem Stahl. Die Hohlräder
drei Schaltelemente geschlossen und zwei Schaltele- sind aus Vergütungsstahl, werden geräumt und für
mente geöffnet. Dies führt zu einem sehr guten hohe Belastungen nitriert. Die Planetenträger werden
Radsatzwirkungsgrad und geringen Schleppverlusten. aus Blechteilen zusammengeschweißt oder genietet
Der Gangwechsel erfolgt durch das Zu- und Abschal- oder sind als Aluminium-Druckgussteile ausgeführt
ten jeweils eines Schaltelements. Die Übersetzungen [21]. Der Aufbau von Ravigneaux-, Simpson- und
in den einzelnen Gängen werden durch unterschied- Wilsonsatz ist in der Literatur beschrieben [1, 16, 17].

A B

WK D
E C

VM

RS1 RS2 RS3 RS4

Bremse Kupplung Über- Gang-


Gang setzung sprung
A B C D E
1 4,714
1,50
2 3,143
1,49
3 2,106
1,26
4 1,667
1,30
5 1,285
1,28
6 1,000
1,19
7 0,839
1,26
8 0,667
Total
R –3,317 7,071
Bild 5.4-25 Getriebe-
schema ZF-8HP70
5.4 Triebstrang 293

4 Aufbau eines Planeten-


radsatzes
2 1 Sonnenrad
2 Planetenrad
3 Planetenträger
1 4 Hohlrad

3 2

3 Bild 5.4-26 Planetensatz:


Schema und Bild

Für 6-Gang-Automatgetriebe wird heute bevorzugt das ment MK errechnet sich wie folgt:
Lepelletier-Getriebesystem eingesetzt [22], das aus
M K = ( Fp − Ff ) ⋅ n ⋅ μstat ⋅ rm
einem eingangsseitigen einfachen Planetenradsatz und
einem ausgangsseitig angeordneten Ravigneauxsatz Dabei sind n die Anzahl der Reibflächen (zwei pro
aufgebaut ist. Lamelle), μstat der statische Reibwert, rm der mittlere
Schaltelemente Reibradius der Kupplungslamellen, Ff die Rückdruck-
federkraft und Fp die Druckkraft im Kolben:
Die Lastschaltelemente in automatischen Getrieben
werden als Lamellenkupplungen und Lamellenbrem- ⎡ ρ ⋅ω 2 ⎤
Fp = ⎢ Öl Öl ( ra2 − ri2 ) + pstat ⎥ π ( ra − ri )
2 2
sen ausgeführt. Der Aufbau ist in Bild 5.4-27 für eine ⎢⎣ 4 ⎥⎦
Lamellenkupplung dargestellt. Sie besteht aus einem
Außenlamellenträger, der die Stahllamellen radial mit ρÖl der Dichte des Hydrauliköls, ωÖl der Winkel-
verdrehsicher, aber axial verschiebbar aufnimmt, geschwindigkeit, mit dem das Öl in der Kupplung
einem Innenlamellenträger, in dem die Belaglamellen rotiert, ra dem Außen- und ri dem Innenradius des
gehalten werden, einem Zylinder mit einer Drucköl- Betätigungskolbens und pstat dem eingestellten Kupp-
zuführung und einem Kolben, der mit Öldruck auf die lungsdruck.
Stahllamellen gepresst werden kann sowie einer Die Auslegung des Schaltmoments (maximales
Rückdruckfeder, die bei abgeschaltetem Öldruck den Schaltmoment = Motormoment plus Verzögerungs-
Kolben zurückschiebt, um die Kupplung zu öffnen. moment der antriebsseitigen Massenträgheitsmomen-
Während bei der Kupplung beide Lamellenträger te) erfolgt nach der gleichen Formel, wobei für den
rotierend gelagert sind, hat die Bremse einen gehäu- Kupplungsdruck der variabel angesteuerte Schalt-
sefesten Außenlamellenträger. druck pk und der dynamische Reibwert μdyn einzuset-
Im stationären Zustand sind die Schaltelemente zen sind. Bei Bremsen (ω = 0) entfällt der Druckan-
drucklos geöffnet oder mit Hauptdruck hydraulisch teil aus der Fliehkraft [1].
geschlossen und übertragen das anliegende Drehmo- Als Außenlamellen werden Stahllamellen verwendet.
ment kraftschlüssig. Das übertragbare Kupplungsmo- Die Dimenionsierung der Lamellendicke erfolgt nach
der Wärmemenge, die während einer Schaltung ent-
7 3
steht und die von der Stahllamelle mit einer akzeptab-
len Temperaturerhöhung aufgenommen werden muss.
2 4 Als Innenlamellen werden Belaglamellen eingesetzt,
1 5 die aus einem Trägerblech (ca. 0,8 mm dick) beste-
8 6 hen, auf das beidseitig der Reibbelag aufgeklebt ist.
9 Als Reibbelag werden so genannte „Papierbeläge“
verwendet, die aus einem Stützgerüst aus Zellulose,
Lamellenkupplung
Aramidfasern, Kunststoffbestandteilen, Mineralien
1 Antriebszylinder
2 Betätigungskolben und einer Phenolharztränkung bestehen. Durch die
3 Außenlamelle Zusammensetzung des Belags kann der Reibwert in
4 Belaglamelle
5 Lamellenträger seiner Höhe und dem Verlauf über der Drehzahl be-
6 Rückdruckfeder einflusst werden. Dies hat nicht nur erheblichen
7 Entlüftungssystem
8 Zuleitung/Drucköl Einfluss auf die Übertragungsfähigkeit der Kupplung,
9 Ausgangswelle sondern auch auf den Schaltkomfort des Getriebes. In
den Reibbelag sind Nuten eingebracht, die auch im
Bild 5.4-27 Lamellenkupplung geschlossenen Zustand der Kupplung eine Durchströ-
294 5 Antriebe

mung mit Kühlöl ermöglichen. Dadurch kann nach Flügelzellenpumpe


einer Schaltung die in der Stahllamelle gespeicherte mit Kettenantreib
Wärme wieder abgeführt werden.
Außenlamellenträger, Innenlamellenträger, Zylinder-
raum und Kolben werden als Blechumformteile oder
Aluminium-Druckgussteile ausgeführt. Sie sind meist
mit Wellen, Planetenträgern oder anderen Verbin-
dungsteilen verschweißt oder vernietet oder bilden
mit den angrenzenden Funktionseinheiten ein Bauteil
[21]. Die Kolben sind mit O-Ringen abgedichtet.
Ölversorgung
Die Ölversorgung eines automatischen Getriebes
erfüllt folgende Funktionen: Bild 5.4-28 Doppelhubige Flügelzellenpumpe

1. Kühlung des hydrodynamischen Drehmoment-


100
wandlers. tÖl = 100 °C

Gesamtwirkungsgrad Eta [%]


90
2. Schmierung und Kühlung des mechanischen 80
Getriebeteils (Schaltelemente, Zahnräder, Lager). 70
3. Druckversorgung der hydraulischen Steuerung. 60
4. Druckversorgung der Schaltelement-Betätigung. 50
40
Ein Getriebe hat eine Ölfüllung von etwa 6 bis 30
SHP – ICP 10 bar
8 Litern ATF) (automatic transmission fluid). Heutige 20
SHP – FZP 10 bar
ATF’s bestehen aus einem Grundöl auf Mineralölba- 10
0
sis, dem Additive (chemische Substanzen) beige- 5 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000
mischt sind. Durch die Additivierung erfüllt das ATF Motordrehzahl [U/min]
die vielfältigen Anforderungen in einem automati-
schen Getriebe: Bild 5.4-29 Wirkungsgrad Pumpensysteme
• Temperaturbeständigkeit von – 40 °C bis +150 °C
• thermische Alterungsbeständigkeit Steuereinheit angeordnet. Der Antrieb erfolgt über
• hoher statischer Reibwert und steigender Reib- eine ins Schnelle drehende Rollenzahnkette direkt
wertverlauf über der Schlupfdrehzahl vom Wandlerhals. Druck und Saugkanal sind mit
• möglichst geringe Viskositätsänderung über der Rohren auf kurzem Wege strömungsgünstig direkt
Temperatur mit der hydraulischen Steuerung verbunden, eine
• Verhinderung von Schaumbildung Saugstromaufladung vom Hauptdruckventil verbes-
• Vermeidung von Ablagerungen sert die Füllung der Pumpe und führt zu günstig
• Vermeidung von Korrosion hohen Kavitationsdrehzahlen. Gegenüber der Innen-
• Verträglichkeit mit Dichtungswerkstoffen. zahnradpumpe der 6-Gang-Getriebe weist die Flügel-
Die Ölversorgung übernimmt eine Innenzahnrad- zellenpumpe einen höheren Gesamtwirkungsgrad aus
pumpe, die durch den Hals des Drehmomentwandlers (siehe Bild 5.4-29).
mit Motordrehzahl angetrieben wird. Die Innenzahn- Zur Ölversorgung gehört auch ein Ölfilter, der auf der
radpumpe passt sehr gut in den Bauraum zwischen Saugseite der Ölpumpe angeordnet ist und im Öl-
Wandler und dem mechanischen Getriebeteil, ist sumpf liegt. Er verhindert, dass Restschmutz aus der
einfach im Aufbau und robust in der Funktionsweise. Bauteilfertigung und Abrieb, der während des Be-
Die theoretische Fördermenge liegt je nach Getriebe- triebs entsteht, in die Ölpumpe und die hydraulische
anforderung zwischen 14 und 23 cm3/Umdrehung, Steuerung gelangen.
der Drehzahlbereich reicht von 600 bis 7.000 min–1
Hydraulische Steuerung
und der Druckbereich von ca. 3 bis 24 bar. Da die
Pumpe für die Leerlaufdrehzahl des Motors bei hohen Seit der Einführung der elektronischen Getriebesteue-
Öltemperaturen ausgelegt sein muss, ist der Förder- rung EGS (vgl. Abschnitt 5.4.6) hat die Bedeutung
strom bei hohen Drehzahlen viel zu groß. Dieser der hydraulischen Steuerung abgenommen. Zur
Volumenstromüberschuss muss möglichst verlustarm Umsetzung der EGS-Funktionen in die leistungsfüh-
in den Ölsumpf oder auf die Saugseite der Pumpe renden Bauteile des Triebstrangs ist jedoch nach wie
zurückgeführt werden. Um diesen Nachteil zu ver- vor die Getriebehydraulik erforderlich. Neben der
meiden, wird z.B. im 8-Gang Automatgetriebe Umsetzung von analogen und digitalen Drucksigna-
8HP70 von ZF, eine doppelhubige Flügelzellenpum- len, bei denen der Dynamik des Systemverhaltens
pe verwendet (siehe Bild 5.4-28). Diese Art von eine entscheidende Bedeutung zukommt, verbleiben
Pumpe ist achsparallel in der Nähe der hydraulischen in der Hydraulik nach wie vor Grundfunktionalitäten
5.4 Triebstrang 295

wie z.B. Druckerhöhung oder -reduzierung, Si- Wählschieber, der mechanisch mit dem Wählhebel
cherheits- und Notlauffunktionen. verbunden ist, werden die Vorwärts- (D) und Rück-
Das hydraulische Steuerungssystem besteht aus fol- wärtsfahrstellung (R) vorgegeben und in der Fahrstu-
genden Teilsystemen: fe N (Neutral) mindestens ein Schaltelement drucklos
• Hauptdruckversorgung geschaltet, das den Triebstrang auftrennt. Die Um-
• Schaltdrucksteuerung schaltventile werden von außen durch die EGS über
• Gangwechselsteuerung Magnetventile oder durch interne Drücke gesteuert.
• Wandlerkupplungssteuerung Mit ihnen wird von einem Gang in den anderen
• Schmierdrucksystem geschaltet. Die Regelventile werden ebenfalls von der
• Notlaufsystem. EGS über Druckregler mit einem analogen Drucksig-
Der gesamte Umfang der hydraulischen Steuerungs- nal angesteuert. Mit den Regelventilen wird der
funktionen ist in einem Schaltplan beschrieben und Druckverlauf an der zu- und abschaltenden Kupplung
im hydraulischen Schaltgerät realisiert. Bild 5.4-30 während des Schaltvorgangs gesteuert, der Haupt-
zeigt den Aufbau einer typischen Automatgetriebe- druck proportional zum Motormoment eingestellt und
hydraulik. Sie besteht aus einer Ölverteilerplatte (1) die Wandlerkupplung auf eine vorgegebene Schlupf-
und einem Ventilgehäuse (2) aus Aluminium- drehzahl geregelt.
Druckguss mit Ölkanälen und Öldurchführungen (3) Das hydraulische Schaltgerät ist meist unten an das
zum Getriebegehäuse. Die Kanäle sind durch ein Getriebegehäuse angeschraubt. Über Verbindungs-
Zwischenblech (4) und Flachdichtungen (5) mit kanäle wird das Öl zur Ölpumpe, zum Wandler, zur
Durchtrittsöffnungen abgedeckt. Um Leckagen zu Schmierung und zu den Schaltelementen geleitet.
vermeiden, werden die Gehäuseteile engmaschig Meist trägt das hydraulische Schaltgerät auch noch
miteinander und dem Getriebegehäuse verschraubt Sensoren für Drehzahl und Öltemperatur und die
(6). Im Ventilgehäuse sind Ventilbohrungen, in denen Verkabelung für die Ventile samt dem Getriebeste-
die Ventile (7) Ölströme steuern oder Drücke regeln. cker. Durch geeignete Ausführung der Hydraulik und
Die Ventile werden durch Federn (8) in Grundstel- des Elektriksatzes lassen sich hydraulische und elekt-
lung gehalten und mit Stopfen (9) und Klammern (10) rische Getriebesteuerungskomponenten zu einer elekt-
im Gehäuse arretiert. Teil des hydraulischen Schalt- rohydraulischen Baueinheit zusammenfassen [23].
geräts sind auch die Magnetventile und Druckregler Bei modernen Automatgetrieben ist die elektronische
(11), die in das Ventilgehäuse montiert sind und mit Getriebesteuerung (EGS) ebenfalls Bestandteil die-
einem Halteblech (12) befestigt werden. Über einen ser elektrohydraulischen Baueinheit und enthält als

11 12 6 2 4 5 3 1

8
7

10
9

1 Ölverteilerplatte 4 Zwischenblech 7 Ventil 10 Klammer (Federspange)


2 Ventilgehäuse 5 Dichtung 8 Druckfeder 11 Druckregler
3 Durchflusskanal 6 Schraube 9 Stopfen 12 Halteblech Bild 5.4-30 Hydraulisches
Schaltgerät
296 5 Antriebe

Mechatronikmodul die gesamte Steuerungsfunktiona- tigung. Dies dient in erster Linie dem Bremsbetrieb
lität des Getriebes (vgl. Abschnitt 5.4.8). bei Bergfahrt, kann jedoch auch von leistungsorien-
tierten Fahrern benutzt werden, um den Motor in
5.4.4.4 Betätigung hohen Drehzahlbereichen zu betreiben. Beim Über-
Wählschieberbetätigung gang des Wählhebels in diese Gasse schaltet die EGS
vom Automatmodus in einen Handschaltmodus um.
Automatische Getriebe weisen als äußere Schaltung
Durch eine Wählhebelbewegung nach vorn (+) wird
einen Wählhebel auf, der mit einem Gestänge oder
hoch- und nach hinten (–) zurückgeschaltet. Die
einem Bowdenzug mechanisch mit der Wählwelle
Einführung der Tiptronic verfolgte die Absicht, dem
des Getriebes verbunden ist. Mit dem Wählhebel
Fahrer eines Automat-Fahrzeugs auch die Möglich-
werden im Getriebe die Grundfunktionen P (Parken),
keit zu bieten, bei Bedarf wie mit einem Handschalt-
R (Rückwärtsfahrt), N (Neutral) und D (Vorwärts-
getriebe zu fahren.
fahrt) gesteuert. Dazu wirkt die mechanische Verbin-
dung auf den Wählschieber und die Parksperre. Die 5.4.4.5 Betriebsverhalten
Arretierung der Wählwelle erfolgt über eine Rasten-
scheibe mit einer Feder. Meist ist außen am Getriebe Das kundenrelevante Betriebsverhalten eines Fahr-
auf der Wählwelle ein Positionserkennungsschalter zeugs mit Automatgetriebe zeigt sich in der Schalt-
angebracht. Er dient zur Erkennung der Wählhebel- qualität, also der Art und Weise, wie der Gangwech-
position, die im Kombi-Instrument angezeigt wird sel vollzogen wird und ob, bzw. wie er spürbar ist
und zur Steuerung des Rückfahrlichts und der An- und im Schaltprogramm, also in welchem Gang ge-
lasssperre, die ein Starten des Motors in einer Fahr- fahren wird und wann die Gänge gewechselt werden.
position verhindert. Bei Getrieben mit integrierter Schaltqualität
Getriebeelektronik ist der Positionsschalter Teil des
Mechatronikmoduls. Da die Schaltung bei einem automatischen Getriebe
definitionsgemäß automatisch erfolgt, also vom Fah-
Parksperre rer nicht bewusst eingeleitet wird, muss sie weit-
Fahrzeuge mit Handschaltgetriebe lassen sich gegen gehend unspürbar ablaufen, sonst wird sie als störend
Wegrollen sichern, indem bei abgestelltem Motor ein empfunden. Weiterhin erwartet der Fahrer beim
Gang eingelegt wird. Dies ist bei automatischen Betätigen des Fahrpedals eine direkte Reaktion in
Getrieben nicht möglich. Da bei stehendem Motor Form einer Fahrzeugbeschleunigung, die i.d.R. durch
keine Druckölversorgung vorhanden ist, sind alle eine sofortige Rückschaltung erreicht wird. Das Ziel
Schaltelemente geöffnet, das Getriebe befindet sich in der Schaltablaufsteuerung ist es deshalb, bei Rück-
Neutral. Um ein Wegrollen des Fahrzeugs ohne be- schaltungen spontan auf den Fahrerwunsch zu reagie-
tätigte Handbremse zu verhindern, gibt es bei auto- ren und Schaltungen möglichst ruckfrei ablaufen zu
matischen Getrieben eine Parksperre. Sie verriegelt lassen. Die Grundvoraussetzungen für eine gute
durch ein verzahntes Rad und eine Klinke den Ge- Schaltqualität liegen im Aufbau des mechanischen
triebeabtrieb gegen das Gehäuse. In den Wählhebel- Getriebes und im hydraulischen Steuerungssystem.
positionen R, N, und D wird die Parksperrenklinke Mit kleinen Gangsprüngen ist eine gute Schaltung
mit einer Rückhaltefeder am Einfallen in das Park- leichter zu erreichen als bei großen Stufen. In der
sperrenrad gehindert. Beim Einlegen der Position P hydraulischen Getriebesteuerung ist ein gutes Sys-
wird die Klinke über einen Keil gegen das Parksper- temverhalten maßgebend für eine gute Schaltqualität,
renrad gedrückt. Trifft die Klinke auf eine Lücke, d.h. die gesamte sehr stark nichtlineare Übertragungs-
rastet sie ein und verriegelt den Abtrieb. Trifft sie auf strecke muss geringe Totzeiten aufweisen und in
einen Zahn, wird sie durch einen Federmechanismus allen Betriebszuständen stabil sein. Wenn diese
vorgespannt, sodass bei einer Drehung des Abtriebs Voraussetzungen gegeben sind, können durch ent-
die Klinke mithilfe der Vorspannkraft in die nächste sprechende Steuerungs- und Regelungsalgorithmen in
Lücke des Parksperrenrads einrastet. der EGS die Schaltungsabläufe optimiert werden.
Eine genaue Drehzahlerfassung von Getriebeein-
Wählhebel gangs- und -ausgangsdrehzahl ermöglicht eine Dreh-
Moderne Automatgetriebe-Wählhebel sind monosta- zahlregelung der zu- und abschaltenden Kupplung
bil ausgeführt (siehe Bild 5.4-31), wobei die Haupt- während des Schaltungsablaufs. Diese Regelung führt
fahrpositionen R, N und D per Tippbewegung nach zu kontinuierlichen, immer gleich ablaufenden Schal-
vorne (R) bzw hinten (D) angewählt werden und die tungen, unabhängig von den Betriebsbedingungen. In
Parkposition durch Drücken des Tasters am oberen Schaltungsbereichen, in denen sich die Drehzahl
Ende des Wählhebels eingelegt wird. Die Fahrstufe N nicht ändert, wird durch adaptive Strategien versucht,
befindet sich in der monostabilen Mittenposition des die Drucksteuerung der Kupplungen auf die richtigen
Wählhebels. Durch eine Seitwärtsbewegung nach Größen zu justieren. Mit Adaptionsalgorithmen wird
links (oder rechts, je nach Ausführung) gelangt man gewährleistet, dass auch Änderungen während der
in den manuellen Tippmodus für die Einzelgangbetä- Betriebsdauer, wie z.B. Setzvorgänge oder Verschleiß
5.4 Triebstrang 297

100

Drosselklappenwinkel [%]
80

60

40
Hochschaltung
20 Rückschaltung

0
0 50 100 150 200

Bild 5.4-32 Schaltkennfeld als Funktion der Fahrge-


schwindigkeit (km/h)
Bild 5.4-31 Monostabiler Wählhebel (BMW 7er Serie) solcher Schaltkennfelder große Freiheiten. So können
mehrere solcher Kennfelder in der EGS abgelegt
an den Kupplungen ausgeglichen werden und keinen werden, die eine unterschiedliche Fahrcharakteristik
negativen Einfluss auf das Schaltverhalten und die aufweisen. Üblich sind E-Programme (Economy) für
Schaltqualität des Getriebes haben. ein sehr verbrauchsorientiertes Fahren mit frühen
Hochschaltungen und späten Rückschaltungen und S-
Schaltprogramm Programme (Sport) für fahrleistungsorientierte Fahr-
Automatische Getriebe werden in Abhängigkeit der weise. Die Programme können mit einem Wahlpro-
Fahrgeschwindigkeit und des Drosselklappenwinkels grammschalter, der am Wählhebel angebracht ist,
geschaltet. Ein Getriebeschaltkennfeld enthält abhän- vom Fahrer ausgewählt werden oder sie werden von
gig von diesen Parametern Hoch- und Rückschaltli- der Getriebeelektronik selbst bestimmt. Dies erfordert
nien (Bild 5.4-32) für alle Gangwechsel. Wird z.B. eine Schaltstrategie, die aufgrund verschiedener Ein-
ein Fahrzeug bei konstanter Motorlast beschleunigt flussgrößen, wie z.B. Fahrpedalstellung, Fahrpedal-
und dabei eine Hochschaltlinie überschritten, erfolgt bewegung, Fahrgeschwindigkeit, Längs- und Quer-
eine Schaltung in den nächst höheren Gang. Wird beschleunigung des Fahrzeugs, Bremsbetätigung,
andererseits durch ein Betätigen des Fahrpedals eine usw. eine Klassifizierung der Fahrbedingungen und
Beschleunigung des Fahrzeugs gefordert und dabei des Fahrverhaltens vornimmt und bewertet und da-
eine Rückschaltlinie überschritten, erfolgt eine Rück- raus ein entsprechend der Fahrsituation angemessenes
schaltung über einen oder mehrere Gänge. Die elekt- Fahrprogramm auswählt [24]. Bild 5.4-33 zeigt den
ronische Getriebesteuerung bietet für die Gestaltung Aufbau eines solchen Verfahrens. Eine andere Mög-

Mess- Drosselklappe Motordrehzahl Geschwindigkeit Quer- Längs- Bremssignal TMot


größen 3
4
5 120
160
200
beschleunigung beschleunigung
2 6 80 240
1 7 40 260

Ebene Anpassung Schaltkennlinien (Getriebe und Wandlerkupplung) an Fahrweise und Streckenprofil


Messwert- Modulations- Schaltkennlinien *
summierung faktor WK-Kennlinien KF5 WLKF
KF4
1 Filterung MF1...MF5 KF2
KF3
MFA DK KF1
Mittelung * Warmlauf-
Gewichtung V
kennfeld (WLKF)

Sonder-
funktion
Verhinderung Schub- Rückschaltung Gangfesthaltung Aktivschaltung Hochschaltung beim
2 Hochschaltungen in der Bremsphase in Kurven Sprung in KF5 Bremsschub auf
vor Kurven niedrigem m

Manuelle Tippschaltung P
+ + Hochschaltung Rechnerunterstützung für Einhaltung
R
3 N der zulässigen Drehzahlgrenzen
– – Rückschaltung
M D

Bild 5.4-33 Schaltstrategie zur Auswahl von Schaltprogrammen


298 5 Antriebe

lichkeit zur Anpassung des Fahrprogramms bietet der


Aufbau eines Schaltkennfeldes, bei dem die Schalt-
kennlinien durch verschiedene Einflussgrößen varia-
bel an die Fahrsituation angepasst werden können
[25]. Eine Übersicht über alle gängigen Methoden zur
Ausführung von Schaltprogrammen findet sich in der
Literatur [26].

5.4.4.6 Ausführungsbeispiele
Front-Quer-Antrieb
Für Pkw mit Frontantrieb und querliegender An-
triebseinheit bleibt für das Getriebe relativ wenig
Platz. Es muss daher sehr kurz bauen. Aufgrund der
beengten Einbauverhältnisse, der Achslage von Mo-
tor und Seitenwellen, der Anordnung von anderen
Aggregaten im Vorderwagen und den hohen Anfor-
derungen an die Crashsicherheit werden an den
Getriebeaufbau Anforderungen gestellt, die sehr stark
vom jeweiligen Fahrzeug-Gesamtkonzept abhängen.
Die Front-Quer-Anwendung wurden bis vor kurzem
noch von 4-Gang-Getrieben dominiert. Als erstes 6-
Gang-Automatgetriebe für die Front-Quer-Anwen-
dung wurde vom VW-Konzern für die Golf-Plattform
das Getriebe TF-60SN vom japanischen Hersteller
Aisin AW eingeführt [27]. Das Getriebe basiert auf
dem Lepelletiersystem, die Übersetzungen entspre-
chen nahezu den in Bild 5.4-25 dargestellten Werten,
das Auslegungsdrehmoment liegt bei 250 Nm und die Bild 5.4-34 Schnittbild AW – TF-60SN für Front-
Baulänge beträgt nur 350 mm. Bild 5.4-34 zeigt einen Quer-Antrieb
Schnitt durch das Getriebe. Daraus sind der Aufbau
und die wesentlichen Bauteile ersichtlich. licht einen sehr kompakten Getriebeaufbau. Das 8-
Ein schmaler Wandler mit Wandler-Überbrückungs- Gang-Getriebe ist grössenmässig gleich (Länge,
kupplung und integriertem Torsionsdämpfer und die Durchmesser) und sogar etwas leichter als ein ver-
geschachtelte Bauweise von Radsätzen und Schalt- gleichbares 6-Gang-Automatgetriebe [40].
elementen sowie fertigungstechnische Maßnahmen 2003 wurde von Mercedes-Benz ein Automatgetriebe
zur Toleranzeinengung tragen zu einer kompakten mit 7 Gangstufen eingeführt [29]. Basierend auf dem
Bauweise und der kurzen Getriebelänge bei. Das Mercedes 5-Gang-Automatgetriebe W5A330/580
Getriebe hat einen Freilauf im 1. Gang, der den wurde der einfache eingangsseitige Planetensatz
Innenlamellenträger der Bremse B2 gegen das Ge- durch einen invertierten Ravigneauxsatz ersetzt und
häuse abstützt. Charakteristisch für ein Frontantriebs- eine zusätzliche Lamellenbremse ergänzt, um 7 Vor-
getriebe ist das integrierte Achsgetriebe. Durch unter- wärts- und 2 Rückwärtsgänge darzustellen. Bild 5.4-
schiedliche Stirnradstufen lässt sich die Endüber- 36 zeigt das Getriebe- und Schaltschema dieses
setzung den fahrzeugseitigen Forderungen nach Berg- Getriebes, das eine Spreizung von 6,02 aufweist und
steigfähigkeit und Höchstgeschwindigkeit anpassen. für Motormomente bis 700 Nm ausgelegt ist.
Standardantrieb Front-Längs- und Allradantrieb
Im Standardantrieb haben sich seit 2008 8-Gang- Für Fahrzeuge mit Frontantrieb und längs eingebau-
Automatgetriebe in der Serie etabliert. Bild 5.4-35 ten Motoren lässt sich aus den Standard-Getrieben
zeigt das ZF Getriebe 8HP70, das eine Gesamtüber- eine Variante ableiten, die aus demselben Basis-
setzung von 7,05 aufweist und für Motordrehmomen- Getriebe besteht, der Abtrieb aber über eine Stirnrad-
te bis 700 Nm dimensioniert ist. Das Radsatzsystem kette und einer neben dem Getriebe liegenden Welle
besteht aus 4 einfachen Planetensätzen. Mit nur zu einem Achsgetriebe geführt wird, an das die Sei-
5 Schaltelementen werden 8 Vorwärtsgänge und tenwellen der Vorderachse angeflanscht werden
derRückwärtsgang geschaltet. Das Getriebe hat keine können. Durch die Integration eines Verteilergetrie-
Freiläufe, alle Schaltungen laufen als geregelte Last- bes lässt sich ein sehr kompakt bauender Allradan-
schaltungen ab. Das Getriebesystem sowie eine opti- trieb realisieren, der bei Pkw-Allradanwendungen
male Anordnung und Gestaltung der Bauteile ermög- zum Einsatz kommt. Aus dem Standard-Getriebe
5.4 Triebstrang 299

Automatikgetriebe 8HP70

Bremse Planetenradsatz Kupplung Planetenradsatz


A B 1 2 3 E C D 4

Wandler-
Ausführung:
Turbinen-Torsions-
Dämpfer mit

zwei Dämpfern

einem Dämpfer

Doppelflügelzellenpumpe Ölsieb Mechatronik Abtriebsflansch

Bild 5.4-35 Schnittbild ZF-8HP70 für Standard-Antrieb

B3
B1 Gang K1 K2 K3 B1 B2 B3 BR
BR 1
B2
2
K2
3
4
KÜB K1 5
T P
K3 6
S 7
R1
R2
N
Eingang Ausgang

Bild 5.4-36 Getriebeschema MB 7-Gang-Getriebe W7A700

lässt sich durch Anflanschen eines externen Vertei- Fahrleistung. Zum anderen kann die Übersetzung im
lergetriebes an die Getriebe-Abtriebsseite auch die Teillastbereich, in dem heute der größte Fahranteil
Möglichkeit für einen add-on-Allradantrieb darstel- liegt, so eingestellt werden, dass sich der Motorbe-
len. Dies wird in erster Linie für den Einsatz in Ge- triebspunkt im Bereich des minimalen Kraftstoff-
ländefahrzeugen realisiert. verbrauchs befindet (Bild 5.4-38). Dies trägt zur
Kraftstoffeinsparung bei. Während die Funktion von
Stufengetrieben heute durch Zahnradstufen in Vorge-
5.4.5 Stufenlose Getriebe lege- oder Planetenbauweise ausgeführt ist, kann die
5.4.5.1 Funktionsweise stufenlose Kraftübertragung mit unterschiedlichen
Prinzipien realisiert werden. Eine vertiefte Darstel-
Stufenlose Getriebe bieten gegenüber den Stufenge- lung von mechanischen, hydrodynamischen, hydro-
trieben den Vorteil, dass mit ihnen die starre Kopp- statischen und elektrischen Getrieben sowie die
lung zwischen Fahrgeschwindigkeit und Motordreh- Möglichkeiten der Leistungsverzweigung ist in der
zahl für einzelne Gangstufen aufgehoben werden Literatur zu finden [30].
kann. Daraus resultieren zwei Effekte. Zum einen Während sich die elektrischen Antriebe im Kraftfahr-
kann die Übersetzung genau der Zugkrafthyperbel zeug bisher nur sehr begrenzt durchgesetzt haben, ist
angepasst werden (Bild 5.4-37). Dies bringt einen der stufenlose hydrostatische Antrieb in Arbeitsma-
Gewinn an Zugkraft und damit eine Steigerung der schinen für Baufahrzeuge, Traktoren und landwirt-
300 5 Antriebe

Zugkraft sungen erträgt und die Umfangskräfte übertragen


P = konst. kann. Toroidgetriebe waren bereits in den 30er-Jahren
im Einsatz [31], konnten sich jedoch bisher nicht
3. gegen die Stufenautomatgetriebe durchsetzen.
In der Pkw-Antriebstechnik wird heute das CVT
(Continuously Variable Transmission) als stufenlo-
Fahrwiderstand ses, mechanisches Getriebe in Form eines Umschlin-
4.
Geschwindigkeit
gungsgetriebes eingesetzt. Das Kernelement ist der
Variator, der aus zwei Kegelscheibenpaaren besteht.
Die Kraftübertragung erfolgt durch ein Umschlin-
gungselement. Durch axiale Veränderung des Schei-
3.
benabstandes wird der Laufradius des Umschlin-
Stufengetriebe
gungselements und damit die Übersetzung geändert.
CVT
4. Die Kraftübertragung zwischen Scheibenpaar und
Motordrehzahl Umschlingungselement erfolgt durch Reibung. Die
axiale Anpressung der Scheiben wird über Kolben
Bild 5.4-37 Übersetzungsanpassung an die Zugkraft- durch hydraulischen Druck erzeugt. Die Überset-
hyperbel zungsverstellung wird ebenfalls hydraulisch gesteuert.

5.4.5.2 Aufbau
schaftlichen Maschinen, aber auch in Nutzfahrzeugen
und Bussen für spezielle Einsatzfälle zu finden. Das Der schematische Aufbau eines Getriebes für Front-
hydrodynamische stufenlose Getriebe – der Dreh- Quer-Antrieb ist in Bild 5.4-39 zu sehen [32]. Die für
momentwandler – ist heute praktisch jedem Stufen- ein CVT charakteristischen Baugruppen sind im Bild
automatgetriebe als Anfahrelement vorgeschaltet. Bei bezeichnet. Als Anfahrelement kann neben dem
den mechanischen stufenlosen Getrieben unterschei- hydrodynamischen Drehmomentwandler, der im Fahr
det man im Wesentlichen die Wälzgetriebe und die
Umschlingungsgetriebe. Bei den Wälzgetrieben sind WK R V
die Toroidgetriebe am weitesten entwickelt [38]. Die ƒ „
Kraftübertragung von einer Antriebs- auf eine Ab- ‚
triebsscheibe, die in der Form eines Torus ausgebildet 
sind, erfolgt über schwenkbare Rollen. Durch Ände-
rung des Neigungswinkels der Reibrollen lässt sich
das Übersetzungsverhältnis zwischen An- und Ab-
trieb stufenlos einstellen. Die Kraftübertragung er-
folgt durch Reibkontakt. Dies führt zu sehr hohen
Hertz’schen Pressungen an den Bauteilen und erfor-
dert ein spezielles Traktionsfluid, das die hohen Pres-

Zugkraft
…
4.
Zugkraft

Fahr-
wider-
standslinie
Moment Geschwindigkeit
†

4.
CVT
4. ‡
Stufengetriebe
b = konst.  Wandler … Scheibensatz
‚ Pumpe † Konstantübersetzung
ƒ Schaltelemente ‡ Differenzial
Motordrehzahl „ Wendesatz

Bild 5.4-38 Betrieb im optimalen Verbrauchsgebiet Bild 5.4-39 Getriebeschema ZF-Ecotronic


des Motorkennfelds
5.4 Triebstrang 301

betrieb überbrückt wird, auch eine trocken- oder nass-


laufende Lamellenkupplung oder eine Magnetpulver-
kupplung dienen. Die Umschaltung von Vorwärts- auf
Rückwärtsfahrt ist durch einen Planetenwendesatz mit
nasslaufenden Lamellenkupplungen realisiert. Ebenso
ist eine Vorgelegewendestufe mit Klauenkupplungen
möglich. Zur Druckversorgung steht in der Regel eine
Zahnradpumpe zur Verfügung. Als Umschlingungs-
element dient eine Kette oder ein Schubgliederband.
Der Endabtrieb wird mit schrägverzahnten Stirnrädern
ausgeführt. Als Achsausgleichsgetriebe kommt ein
Kegelraddifferenzial zum Einsatz. Hydraulische und
elektronische Steuerungseinheit entsprechen in ihrem Bild 5.4-41 LuK-Laschenkette
Aufbau den aus den Stufengetrieben bekannten Ge-
triebesteuerungen, wobei für die Anpressdrücke um
bis zum Faktor 5 höhere Werte als bei Stufenautomat- tungen (Motordrehmomente < 65 Nm) kommen auch
getrieben benötigt werden. Bänder aus Gummiwerkstoffen zum Einsatz. Für den
Front-Längs-Antrieb wurde 1999 von Audi ein stu-
5.4.5.3 Baugruppen fenloses Getriebe mit einer Laschenkette von LuK in
den Markt eingeführt [33] (Bild 5.4-41). Die Kraft-
Neben den von den Stufengetrieben bekannten Bau-
übertragung erfolgt von den ballig ausgeführten
teilen und Baugruppen (vgl. Abschnitt 5.4.4.3) ver-
Variatorscheiben durch Reibung auf die zweiteiligen
dienen die CVT-spezifischen Teile, das Umschlin-
Stifte der Kette. Die Stifte sind miteinander durch
gungselement, der Variator und die Steuerung beson-
Laschen verbunden, die die Umfangskräfte durch Zug
dere Beachtung.
weiterleiten.
Umschlingungselement Die übertragbare Leistung der heute eingesetzten
Umschlingungselemente liegt für beide Bauformen
Für den Serieneinsatz im Pkw haben sich bisher als bei etwa 180 kW und einem maximalen Motordreh-
Umschlingungselemente das Schubgliederband von moment von 330 Nm. Bei diesen Anwendungen be-
Van Doorne’s Transmissie (VDT) und die Laschen- trägt die Spreizung des Getriebes mit Schubglieder-
kette von LuK bewährt. Das Schubgliederband band 5,4, die des Kettenvariators 6,25. Der Ketten-
(Bild 5.4-40) besteht aus 2 mehrlagigen Bändern, die variator weist einen etwas besseren Wirkungsgrad
sich aus ca. 0,2 mm dicken Endlosringen aus hochfes-
auf, ist aber hinsichtlich des Geräuschverhaltens
tem Stahl zusammensetzen und die Klemmstücke aus
schwieriger zu beherrschen als das Schubgliederband,
gestanztem Stahlblech zusammenhalten. Die Kraft-
übertragung von der Primär- auf die Sekundärscheibe und erfordert i.d.R. zusätzliche fahrzeugseitige
erfolgt nicht wie bei einer Kette durch Zugkräfte, Dämmmaßnahmen [34].
sondern durch Schub über die Klemmstücke.
Für unterschiedliche Leistungsklassen stehen Schub- Variator
gliederbänder von 24 und 30 mm Breite mit 6, 9, 10 Bild 5.4-42 zeigt ein ZF-Ecotronic-Getriebe im
und 12 Stahlringen zur Verfügung. Für kleine Leis- Schnitt. Daraus ist der Aufbau des konischen Primär-
und Sekundärscheibensatzes ersichtlich. Ein Schei-
bensatz besteht aus einer wellenfesten Scheibe und
einer Losscheibe, die auf der Welle axial beweglich
geführt ist. Die axiale Führung der Losscheibe ist als
Kugelführung ausgebildet, um die Druckkraft aus den
Anpresszylindern mit minimaler Reibung an die
Kontaktstelle zwischen Scheibe und Band zu über-
tragen. Geringe Reibung kommt auch der schnellen
Scheibenverstellung zugute, um eine hohe Verstell-
dynamik des Variators zu gewährleisten. Die Schei-
ben sind aus gehärtetem Stahl mit geschliffenen
Kegeloberflächen. Primär- und sekundärseitige An-
presszylinder sind als Blechumformteile ausgeführt.
Der Sekundärscheibensatz ist über eine Feder mit
einer mechanischen Vorspannkraft beaufschlagt. Der
Zylinderraum wurde mit einer zusätzlichen Blechab-
deckung versehen, um die Fliehkraftwirkung des Öls
Bild 5.4-40 VDT-Schubgliederband zu kompensieren.
302 5 Antriebe

5.4.5.4 Betätigung
Für die äußere Schaltung, den Wählhebel, den Posi-
tionserkennungsschalter, die Anzeige im Kombiin-
strument und die Parksperre gelten für stufenlose
Getriebe die Aussagen, wie sie in Abschnitt 5.4.4.4
für die Stufengetriebe ausgeführt sind.

5.4.5.5 Betriebsverhalten
Ein stufenloses Getriebe bietet in seinem Betriebs-
verhalten einen höheren Freiheitsgrad als Stufen-
getriebe. Die Zwangskopplung zwischen Fahrge-
schwindigkeit, eingelegtem Gang und Motordrehzahl
ist aufgehoben. Damit kann das Fahrverhalten eines
Kraftfahrzeugs wesentlich beeinflusst werden.

Fahrstrategie
Das Betriebsverhalten eines stufenlosen Getriebes
wird von der Verstellstrategie des Variators beein-
flusst. Dabei sind alle Möglichkeiten zwischen den
Strategien „extrem ökonomisch“ und „sehr sportlich“
möglich. In Bild 5.4-44 ist in einem Motordiagramm
das Kennfeld einer Fahrprogrammsteuerung für un-
terschiedliche Strategien aufgezeigt. Dabei ist es mög-
lich, über ein fest vorgegebenes Programm eine Be-
triebskennlinie auszuwählen oder über eine adaptive
Betriebspunktsteuerung den geeignetsten Kennfeld-
punkt in Abhängigkeit von der aktuellen Betriebssitu-
ation einzustellen.
Bild 5.4-42 Schnittbild ZF-Ecotronic CFT23
Kraftstoffverbrauch
Steuerung Ein Grund für den Einsatz von stufenlosen Getrieben
ist die Möglichkeit zur Reduzierung des Kraftstoff-
Bei stufenlosen Getrieben sind keine Gänge zu schal-
verbrauchs. Dies ist durch eine im Vergleich zu 4- und
ten. Als besondere Aufgaben der Getriebesteuerung
5-Gang-Getrieben (ϕ = 4,0 bis 5,0) höhere Getriebe-
sind jedoch die Variatordrucksteuerung für die An-
spreizung von ϕ = 5,4 bis 6,4 gegeben. Gegenüber 6-
pressung und die Variatorverstellungen für die Über-
Gang-Stufenautomaten haben stufenlose Getriebe den
setzungsregelung zu sehen. Die Anpressung des Ban-
weiteren Vorteil, dass der Motor über weite Fahranteile
des oder der Kette sollte proportional zum übertrage-
in seinem verbrauchsgünstigsten Kennfeldbereich be-
nen Drehmoment erfolgen. Zu geringe Anpresskräfte
trieben werden kann. Bei entsprechend ökonomisch
führen zum Durchrutschen und zur Zerstörung des
eingestellter Fahrstrategie können Verbrauchswerte wie
Bandes oder der Kette.
bei einem 5-Gang-Handschaltgetriebe erreicht werden.
Überschüsse in den Anpresskräften bedingen hohe
Gegenüber einem 4-Gang-Automatgetriebe lassen sich
Drücke und daraus resultierend eine hohe Pumpen-
Verbrauchsvorteile von bis zu 10 % erzielen.
leistung. Dies führt zu einem schlechten Getriebe-
wirkungsgrad. Deshalb ist eine möglichst genaue Beschleunigungsverhalten
drehmomentabhängige Anpressdrucksteuerung von
großer Wichtigkeit. Die Übersetzungsregelung erfolgt Durch die Möglichkeit, bei einer Fahrzeugbeschleu-
in der Regel über die Beeinflussung des Sekundär- nigung mit einem CVT direkt der Zugkrafthyperbel
drucks. Sowohl Anpressdruck als auch Übersetzungs- nachzufahren, können gegenüber einem Stufengetrie-
regelung werden in Abhängigkeit von fahrzeug- be die Zugkraftlücken ausgefüllt werden. Daraus
und getriebeseitigen Signalen in der Getriebelektro- ergibt sich ein Fahrleistungsgewinn. Dies führt zu
nik errechnet und mithilfe von elektromagnetischen besseren Beschleunigungswerten von 0 auf 100 km/h.
Druckreglern in hydraulische Drücke umgesetzt, die Messungen haben um bis zu 8 % höhere Beschleuni-
dann die entsprechenden Ventile in der Hydraulik gungswerte als bei 4-Gang-Automatgetrieben erge-
steuern. Eine Systemdarstellung der Getriebesteue- ben. Bei vergleichbaren Verbrauchswerten liegt ein
rung mit Signalflüssen und Funktionsinhalten zeigt CVT in der Beschleunigung um ca. 4 % besser als ein
Bild 5.4-43. 6-Gang-Stufenautomat [34].
5.4 Triebstrang 303

Fahrpedal

Mechatronic Fahrpedal Motor


Motormoment
Abgespeicherte Daten: Motordrehzahl
Störmeldung CAN
Motorkennfeld
Display Anpressdruckkennfeld
Proportionaldruck- Wandler
Diagnose- WK-Schließ-Öffnungs-
Regler für
schnitt- kennlinie
WK-Druck
stelle Kupplungskennlinie
Turbinendrehzahl
Fahrer

Notfahrstrategie
Applika- Primärscheiben
tionssyst. drehzahl
MCS Berechnung von:
Antriebsdrehzahl
Variatorübersetzung CVT
Ölsumpftemperatur
Fahrzeug- Turbinenmoment
systeme Schub-
(ABS, ASR...) Anpressdruck Proportional- glieder-
Sollübersetzung druckregler für band-
Kundenspezifische Übersetzungs- wandler-
Kupplungsdruck getriebe
Fahrstrategie- verstellung
vorgabe Schließen bzw. Öffnen
der WK Anpressdruck
Kontakte Kupplungsdruck
Wählhebel Bild 5.4-43 Blockdia-
mech. Verbindung
gramm einer CVT-Getriebe-
steuerung

250
rüsten. Geschaltet wird mit einem Wählhebel, der
eine separate Schaltkulisse mit 3 Stellungen („+“ für
Motormoment T [Nm]

200 Hochschaltung, Mittelstellung und „–“ für Rückschal-


150
tung) aufweist. Mit dem CVT werden die festen
Gangstufen simuliert, sodass der Fahrer über Tipp-
100 schaltung z.B. wie mit einem 6-Gang-Getriebe fahren
Spezifischer
50 Verbrauch kann.
Motorleistung
0 5.4.5.6 Ausführungsbeispiele
–50 Ein Schnittbild des ZF-Ecotronic-Getriebes CFT23
1000 2000 3000 4000 5000 zeigt Bild 5.4-42. Das CVT ist mit einem Drehmo-
Motordrehzahl n [1/min]
mentwandler ausgestattet, um ein Anfahrverhalten
Bereich E-Programm und den Komfort beim Rangieren und Parkieren wie
Bereich S-Programm bei einem Stufenautomatgetriebe zu erhalten. Eine
Adaptive Strategien Besonderheit stellt die Radialkolbenpumpe dar. Sie
Ideale Betriebskennlinie Bereichseingrenzung ist zwischen Wandler und Wendesatz angeordnet.
Der Volumenstrom wird durch saugseitige Drosse-
Bild 5.4-44 Fahrprogrammsteuerung eines CVT- lung auf max. 22 l pro Minute eingestellt. Damit wird
Getriebes die Leistungsaufnahme der Pumpe begrenzt. Dies
trägt bei Motordrehzahlen ab etwa 2.200 U/min zu
Komfort einem guten Getriebewirkungsgrad bei. Der Variator
Da bei stufenlosen Getrieben per Definition keine wurde bereits in Abschnitt 5.4.5.3 beschrieben, die
Schaltungen auftreten, gibt es keine Schaltrucke. Leistungsübertragung erfolgt mit einem VDT-Schub-
Unter Schaltkomfortgesichtspunkten ist das CVT ein gliederband. Die doppelte Stirnradstufe der Endüber-
ideales Getriebe. Je nach Verstellstrategie ist das setzung ist so aufgebaut, dass durch Einsatz unter-
Motordrehzahlverhalten etwas gewöhnungsbedürftig. schiedlicher Verzahnungsvarianten Anfahrüberset-
Mit elektronisch gesteuerten Getrieben kann das zungen im Bereich von 12,5 bis 17,2 realisiert werden
Fahrverhalten jedoch weitgehend dem der Stufenge- können.
triebe angepasst werden. Das Schnittbild 5.4-45 zeigt eine stufenlose Getrie-
beausführung mit nasslaufenden Lamellenkupplun-
Handschaltmodus gen als Anfahrelement. Die Vorwärtsgangkupplung
Für eingefleischte Selbstschalter lassen sich auch stu- und die Rückwärtsgangbremse des Planetenwende-
fenlose Getriebe mit einem Handschaltmodus aus- satzes sind so ausgebildet, dass sie gleichzeitig zum
304 5 Antriebe

aus. Es wurde u.a. im New Mini von BMW eingesetzt


[35].
Neben dem bevorzugten Einsatzgebiet der Fahrzeuge
mit Front-Quer-Antrieb [32, 34, 35] lassen sich stufen-
lose Getriebe vorteilhaft auch für Fahrzeuge mit Front-
antrieb und längseingebauten Motoren einsetzen.
Ein Ausführungsbeispiel ist in [33] beschrieben.

5.4.6 Doppelkupplungsgetriebe
Das Doppelkupplungsgetriebe ist ein Derivat der
Handschaltgetriebe. Es besteht aus zwei Teilgetrieben
in Vorgelegebauweise, bei denen das eine die gera-
den, das andere die ungeraden Gänge abbildet (siehe
Bild 5.4-46). Die Teilgetriebe sind eingangseitig je-
weils mit einer Kupplung versehen. Die beiden Kupp-
lungen sind entweder axial nebeneinander oder radial
übereinander angeordnet und bilden als Einheit
die sog. Doppelkupplung. Über die Doppelkupplung
können Lastschaltungen zwischen den beiden Teil-
getrieben ausgeführt werden. Ausgangsseitig werden
die Teilgetriebe über die Abtriebswelle zusammenge-
führt. Die Schaltung der Gänge erfolgt im jeweils
nicht leistungsführenden Teilgetriebe durch konven-
Bild 5.4-45 Schnittbild ZF-VT1 tionelle Synchronisierungen [19]. Die Lastschaltung
wird nach den gleichen Prinzipien durchgeführt wie
Anfahren in der entsprechenden Fahrtrichtung ge- in 5.4.4.1 beschrieben. Für die Vorauswahl der Gänge
nutzt werden können. Als Pumpe für die Ölversor- in den beiden synchronisierten Teilgetrieben ist ein
gung dient eine Außenzahnradpumpe, die auf der erheblicher Steuerungs- und Absicherungswand er-
Getrieberückseite angeordnet ist und mit einer innen forderlich. Bild 5.4-47 zeigt als Beispiel für dieses
durch den Primärsatz gehenden Steckwelle angetrie- Getriebeprinzip das bei Porsche eingesetzte Doppel-
ben wird. Das Getriebe zeichnet sich durch seine kupplungsgetriebe (PDK) für heckgetriebene Sport-
kompakte Bauweise und geringes Getriebegewicht wagen.

4. 6. K. 2. R. 1. 3. 7. 5.
K1
S4 S6 S2 SR S1 S3 S7 S5
K2
Antriebswelle 2
w_A w_B w_k2
w_G w_H
w_an w_k1 Antriebswelle 1

w_haupt w_C w_D w_E w_F


Querwelle

Hauptwelle

w_ab
Ritzelwelle

P.

Bild 5.4-46 Doppelkupplungsgetriebe aus 2 Teilgetrieben in Vorgelegebauweise


5.4 Triebstrang 305

des Getriebelayouts werden die beiden Kuppplungen


sowohl zum Anfahren als auch zum Schalten einge-
setzt. Bei den trockenlaufenden Reibungskupplungen
hängt die Baugröße in erster Linie vom zu übertra-
genden Drehmoment, der geforderten Schwingungs-
isolation und dem Gesamt-Fahrzeuggewicht ab (s.
Bild 5.4-49).
Oberstes Auslegungsziel ist die thermische Robust-
heit und die Fähigkeit den nicht zu verhindernden
Kupplungsbelagverschleiß durch eine – vorzugsweise
– kraftgesteuerte Verschleißnachstellung zu kompen-
sieren. Die Art und die Gestaltung der Lagerung der
Bild 5.4-47 Doppelkupplungsgetriebe PDK für Por- trockenen Doppelkupplung zwischen Motor und Ge-
sche Sportwagen triebe ist ein weiterer wichtiger Realisierungsaspekt.
Aufgrund der Betätigungskräfte ist eine direkte An-
5.4.6.1 Funktionen und Bauteile bindung und Lagerung auf der Kurbelwelle nicht
möglich. Als geeignetste Lösung hat sich die Stützla-
Doppelkupplung
gerung der Doppelkupplung auf der Hohlwelle des
Je nach Anforderung und Fahrzeugsegment bestehen Getriebes bewährt. Das Bild 5.4-50 zeigt diese Bau-
die Doppelkupplungen aus trockenen Reibungskupp- weise in der trockenen Doppelkupplung vom VW 7-
lungen oder in Öl laufenden Mehrscheiben-Lamel- Gang-Getriebe. Moderne Verbrennungsmotoren ten-
lenkupplungen (siehe Bild 5.4-48). In Abhängigkeit dieren zu deutlich höheren Schwingungsanregungen

innerer
Lamellen-Träger K1
Kupplung K2
äußerer
Kolben 1 Lamellen-Träger K1 Kolben 2

Öldruckraum K2 innerer
Öldruckraum K1 Kupplung K1 Lamellen-Träger K2

Schraubenfeder

Antriebswelle 1
Antriebswelle 2

Tellerfeder
S308_039 S308_040

Bild 5.4-48 Nasse Doppelkupplung

Sportwagen: 700 Nm; 370 kW


nass
Pick-up Truck: 800 Nm; 220 kW
e

trocken
z

Van: 400 Nm; 180 kW


en
Powerindex

gr
pt
ze
n
Ko
g
un

Mittelklasse: 250 Nm; 130 kW


pl
p
ku
en

Kompaktklasse: 150 Nm; 85 kW


ck
o
Tr

Kapazitätsindex
Bild 5.4-49 Kapazitätsindex
306 5 Antriebe

Den notwendigen Druck und den erforderlichen


Kühlölvolumenstrom liefert eine Pumpe, deren Dreh-
zahl ausgehend von der Drehzahl des Verbrennungs-
motors gleich oder ins Schnelle übersetzt ist.
Lagerung
Um die Biege- und Torsionsschwingungen eines Dop-
pelkupplungsgetriebes möglichst niedrig zu halten,
kommt der Lagerung der Eingangs- und Ausgangs-
wellen besondere Bedeutung zu. Je nach Getriebelay-
out ist meist die innere Eingangswelle in einer Fest-/
Loslagerung geführt, die äussere Eingangswelle ver-
fügt über eine Trag-Stütz-Lagerung. Ziel ist es, eine
kompakte Bauweise mit einem hohen Lagerwirkungs-
grad in Einklang zu bringen, vorgespannte Lagerun-
gen bei den Eingangswellen sind zu vermeiden. Bei
Front-Quer-Anordnungen liegen auch die Zwischen-
wellen in Fest-/Loslagerungen, aus Durchbiegungs-
Bild 5.4-50 Trockenes 7-Gang Doppelkupplungsge- gründen müssen zusätzliche Stützlager eingesetzt
triebe von VW werden. Die Ausgleichsgetriebe sind wegen der hohen
Belastung meist mit Kegelrollenlagern geführt.
in Richtung Getriebe. Durch entsprechend wirksame Getriebeschaltungs- und Kupplungssteuerung
Torsionsdämpfungssysteme bestehend aus einem Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Betätigung
Weitwinkel-Bogenfederdämpfer auf der Eingangssei- der Doppelkupplungsgetriebe. Am weitesten verbrei-
te der Doppelkupplung und zusätzlichen Torsions- tet ist ähnlich wie bei den Stufenautomatgetrieben
dämpfern in einer oder beiden Kupplungsscheiben die elektro-hydraulische Steuerung, welche meist als
lässt sich eine ausreichende Schwingungsisolation Mechatronik-Einheit ausgeführt ist (siehe 5.4.7). Seit
darstellen [41]. 2010 gibt es auch Doppelkupplungsgetriebe auf dem
Die nasslaufende Doppelkupplung besteht prinzipiell Markt, wo zur Automatisierung der trockenen Kupp-
aus zwei getrennt ansteuerbaren Lamellenkupplun- lungen elektromotorisch angetriebene Aktoren einge-
gen, deren Aufbau in Kap. 5.4.4.3 beschrieben ist. setzt werden. In Bild 5.4-51 ist die elektro-mecha-
Die Doppelkupplung im PDK-Getriebe ist durch die nische Aktorik für die Doppelkupplung als Hebel-
radial übereinander angeordneten Lamelleneinheiten aktor der Fa. Luk dargestellt. Der Hebelaktor ist
sehr kompakt und massearm. Dies ist mit Rücksicht hinsichtlich Steuerbarkeit und Dynamik einem hyd-
auf die im Sportwagen zu erzielenden kurzen Schalt- raulischen System ebenbürtig. Der Kupplungsaktor
zeiten von Vorteil. Desweiteren sind die Belastun- kommt vorteilhaft mit einem Minimum an Hilfsener-
gen der Synchronisationseinheiten minimiert. Das gie aus. Durch seine Teilintegration in die Kupp-
Schleppmoment in der jeweils offenen Lamellen- lungsglocke ist der Aktorikanteil am Gesamtgetriebe-
kupplung wird durch geeignete Auswahl des Belag- package gering.
werkstoffes, der Belagnutung (Form, Querschnitt,
Fertigungstechnologie der Nutung etc.), Sinuswellung 5.4.6.2 Radsatzsynthese
der Stahllamelle sowie einer bedarfsgerechten Kühl- Die Radsatzsynthese für Doppelkupplungsgetriebe-
ölzuführung auf niedrigstem Niveau gehalten. Aus- system erfolgt systematisch und rechnergestützt. Die
serdem wird das Lüftspiel der beiden Kupplungen
individuell und durchmesserabhängig eingestellt. trockene nasse
Doppelkupplung Doppelkupplung
Ölversorgung
Ähnlich wie bei den Stufenautomatgetrieben müssen Hebelaktor
bei einem nasslaufenden Doppelkupplungsgetriebe fol-
gende Funktionen bei der Ölversorgung erfüllt werden:
1. Kühlung der Doppelkupplung beim Anfahren und
Schalten
2. Schmierung und Kühlung des mechanischen Ge-
triebeteils (Synchronisierungen, Lager, Zahnräder)
3. Druckversorgung zur Betätigung der Doppelkupp- E-Motor
lung und der Schaltstangen zum Ein- und Ausle-
gen der Gänge Bild 5.4-51 Elektromechanischer Hebelaktor von Luk
5.4 Triebstrang 307

besten Systeme orientieren sich an den geforderten 5.4.7 Hybridantriebe


Eigenschaften, die folgendermaßen zusammengefasst
werden können: Hybridantriebe in leistungsverzweigter Bauweise wie
1. optimale Wandlung des Motorkennfeldes mit z.B. im Toyota Prius (siehe Bild 5.4-52) sind schon
Hilfe einer gut gestuften Übersetzungsreihe und seit etlichen Jahren auf dem Markt und zeichnen sich
ausreichend grosser Gesamtgetriebeübersetzung durch ihre verbrauchs- und umweltschonende Fahr-
(Spreizung) weise aus (bei entsprechender Fahrweise). Im Ver-
2. die im Leistungsfluss liegenden Bauelemente gleich zum CO2-Ausstoß von modernen Dieselmotor-
sollte wenige und gering belastet sein antrieben haben sich die Hybridsystems aber noch
3. das Getriebesystem sollte mit einer einfachen nicht wesentlich absetzen können. Aufgrund der bis-
Schaltlogik bedient werden können. lang eher geringen Stückzahlen weltweit war die Ver-
4. eine Unterbringung hybrider Funktionen in Form breitung dieser Fahrzeuge aus Kostengründen ent-
von einer oder mehrerer E-Maschinen wird zu- sprechend eingeschränkt. Gesetzgebung und ressour-
künftig von größerer Bedeutung sein. censchonenderes Käuferverhalten haben dafür ge-
sorgt, dass inzwischen weitere Hybridanwendungen
Mit Hilfe einer Nutzwertanalyse werden im Regelfall angeboten werden. Kaum ein Fahrzeughersteller kann
die unbrauchbaren System sehr frühzeitig eliminiert. es sich heute leisten, keinen Hybridantrieb im Fahr-
Die Getriebegrundstruktur ergibt sich aus der Anzahl zeugportfolio zu haben.
der Radebenen und der Wellenzüge sowie der An-
ordnung des An- und Abtriebes. Getriebe können da- 5.4.7.1 Hybridsysteme
mit sowohl in Front-Quer als auch in Standardanord-
nung gesucht werden. Die einzelnen Syntheseschritte Aus einer Vielzahl verschiedener Hybridsysteme
ergeben sich wie folgt: (Kap. 4.3.3) weist das Parallelhybridsystem eine hohe
Wirtschaftlichkeit bei größtem Kundennutzen aus.
1. Leistungspfaderzeugung, Erzeugung von Überset- Der Bauraum zwischen Verbrennungsmotor und
zungen und Kopplungsgenerierung Automatgetriebe bietet sich bei gleichzeitigem Entfall
2. Optimierung der Radsatzübersetzungen des Drehmomentwandlers in idealer Weise für die
3. Integration der Festkopplungen und Synchronisie- Unterbringung der zusätzlichen elektrischen Kompo-
rungen nenten (u.a. E-Maschine und Leistungsanschlüsse),
Als Ergebnis erhält man eine Lösungsmenge an des Dämpfungssystems und ggfs. einer Trennkupp-
Funktionalitäten. lung zum Abkoppeln des Verbrennungsmotors an.

Cross sectional view

Generator

Power split device


Motor

Engine
Reduction gear

Drive shaft
Bild 5.4-52 Toyota Prius
Hybridantrieb
308 5 Antriebe

8HP
8HP Basisgetriebe

EM EM
8HP 8HP 8P

K0 IAE
HIS HIS E-pump

Microhybrid Mildhybrid Vollhybrid

Rekuperation Elektrisches Fahren


Start/Stopp Boost Bild 5.4-53 Hybridbau-
kastensystem von ZF

Baukastensysteme (siehe Bild 5.4-53) mit modular


einsetzbaren Hybridmodulen für Start-stopp, Rekupe-
ration, Boosten und elektrischem Fahren tragen dem
Wunsch nach Kostenreduzierung in Verbindung mit
einem vorhandenen Automatgetriebesystem Rech-
nung.
Eine andere Bauform stellen die leistungsverzweigten
Hybridantriebe wie das Toyota Hybrid-System THS,
welches im Toyota Prius oder diversen Modellen von
Lexus eingesetzt wird, oder das Two-Mode-System
von General Motors dar. Hier dienen 2 elektrische
Maschinen als weiterer paralleler Übertragungszweig, Bild 5.4-54 Mildhybridgetriebe 8HP70H von ZF
welcher durch ein Planetengetriebe wieder auf den
An- oder Abtrieb aufsummiert wird. Dadurch entsteht Verbrennungsmotors im elektrischen Fahrmodus ein-
ein stufenloses Getriebe. Der Aufwand im Vergleich gesetzt und fungiert nicht als Anfahrkupplung. Bei
zu einem parallelen Hybridgetriebe ist jedoch in der einer verbrennungsmotorischen Anfahrt wird ein
Regel höher. Schaltelement des Getriebes eingesetzt, welches für
diese zusätzlichen Anforderungen ertüchtigt wird.
5.4.7.2 Mikrohybrid
Als Mikrohybrid bezeichnet man ein Start-Stopp- 5.4.7.4 Verbrauchseinsparung
System, bei dem das Getriebe für eine schnelle Reak- Eine wesentliche Motivation für den Einsatz von
tionsfähigkeit bei einem Verbrennungsmotorwieder- Hybridantrieben ist die Reduzierung des Kraftstoff-
start möglichst schnell den erforderlichen Öldruck im verbrauches in einem konventionellen Triebstrang.
Getriebe herstellen muss. Dies erfolgt z.B. über einen Das Zusammenspiel zwischen Verbrennungsmotor
hydraulischen Impulsspeicher (HIS), bei dem durch und Getriebe kann durch die Hybridisierung weiter
Entspannen einer Feder der Systemdruck schlagartig optimiert werden. Ziel ist es, den Verbrennungsmotor
aufgebaut wird [43]. zu jeder Zeit im optimalen Betriebspunkt zu betrei-
ben.
5.4.7.3 Mildhybrid und Vollhybrid
Entscheidend bei der Simulation von hybriden An-
Beim Mild- und Vollhybridgetriebe wird die elektri- trieben ist die Wahl einer geeigneten Betriebsstrate-
sche Maschine getriebeseitig verbaut, während beim gie. Es ist stets die optimale Lastverteilung zwischen
Mikrohybrid die elektrische Starteinrichtung des Verbrennungsmotor und E-Maschine in Abhängigkeit
Motors mit Hilfe eines verstärkten Starters oder durch vom Batterieladezustand und den Fahranforderungen
einen Riemen-Starter-Generator dargestellt wird. In einzustellen. Trotz der optimal verbrauchsgünstigen
Bild 5.4-54 ist das Mildhybridgetriebe von ZF darge- Fahrstrategie wird dabei die Fahrbarkeit nicht einge-
stellt. Der Vollhybrid hat im Vergleich zum Mildhyb- schränkt. Der Verbrennungsmotor muss mit einer
rid mit Start-Stopp, Rekuperation und Boosten als Mindestdrehzahl betrieben werden und dauerhaft ein
zusätzliche Funktionalität das elektrische Fahren an- Restbeschleunigungsvermögen zur Verfügung stellen.
zubieten. Dies wird ermöglicht durch eine zusätzliche In Bild 5.4-55 ist dieser simulierte Einfluss auf den
Trennkupplung zwischen Verbrennungsmotor und NEFZ-Verbrauchszyklus und die Realfahrer „ams“-
Getriebe. Diese Kupplung wird zum Wiederstart des Runde dargestellt. Es ist zu erkennen, dass beim
5.4 Triebstrang 309

NEFZ AMS
350 350
250 250
300 260 280 300 260 280

260 300 260 300


240 240
250 250
240 240
konventionell

320 240 320 240


200 200
300 300
280 240 240 280 240 240
150 320 150 320
340 340
100 360 100 360
400 400
500 500
50 600 50 600
800 800
700 700
0 0

–50 –50
0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000

350 350
250 250
300 260 280 300 260 280

260 300 260 300


240 240
250 250
240 240
320 240 320 240
200 200
Hybrid

300 300
280 240 240 280 240 240
150 320 150 320
340 340
100 360 100 360
400 400
500 500
50 600 50 600
800 800
700 700
0 0

–50 –50
0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000

Bild 5.4-55 Betriebspunktverschiebung beim Hybrid

Hybrid im Gegensatz zum konventionellen Antriebs- sprechverhalten, speziell bei abgasturbolaufgeladenen


strang die Betriebspunkte sich in Richtung günstige- Motoren, Grenzen gesetzt.
rer spezifischer Verbräuche bewegen. Ein Grund Durch die Integration einer zusätzlichen Energiequel-
dafür ist die Möglichkeit beim Vollhybriden des rein le ist es beim Hybrid möglich, den V-Motor bei sehr
elektrischen Fahrens. Gerade Betriebsbereiche mit niedrigen Drehzahlen zu betreiben ohne an Fahrdy-
sehr geringen Leistungsanforderungen und damit namik einzubüssen, da im Bedarfsfall das zusätzliche
schlechten spezifischen Verbräuchen werden bei Moment der E-Maschine eingesetzt werden kann. Die
aureichendem Ladezustand des Energiespeichers rein Verbrauchseinsparungen im NEFZ bewegen sich
elektrisch gefahren. Die dafür notwendige Energie beim Mildhybriden im Vergleich zu einem modernen
wurde entweder beim Rekuperieren gewonnen oder 8-Gang-Automatgetriebe bei ca. 15 %, bei einem
aber durch eine künstliche Lastpunktanhebung, wo Vollhybridgetriebe lassen sich bis zu 25 % Kraft-
der V-Motor zusätzlich erzeugte Leistung durch stoffersparnis erzielen.
generatorischen Betrieb der E-Maschine in die Batte-
rie speichert. Durch diesen zusätzlichen Freiheitsgrad 5.4.8 Elektronische Getriebesteuerung
beim Hybridantrieb in der Lastpunktverschiebung 1983 wurde das erste elektronisch gesteuerte Pkw-
durch Anheben (bzw. Absenken) der Last bei gleich Getriebe in Europa in den Markt eingeführt, 1990
bleibender Drehzahl wird der Betriebspunkt in berei- betrug der Anteil weltweit bereits 27 %, bereits
che eines günstigen spezifischen Verbrauches ange- 5 Jahre später waren etwa 83 % aller Automatgetriebe
hoben oder durch Absenken der Last bei plötzlicher elektronisch gesteuert [36]. Heute sind automatische
Lastanforderung die Emissionen günstig beeinflusst. Stufen- und Stufenlosgetriebe, Doppelkupplungsge-
Bei konventionellen Antrieben besteht die einzige triebe sowie automatisierte Handschaltgetriebe ganz
Möglichkeit einer Betriebspunktverschiebung hinge- selbstverständlich mit einer elektronischen Getriebe-
gen durch Absenken der Drehzahl und damit Erhö- steuerung ausgerüstet. Dabei wird immer mehr Funk-
hung der Motorlast entlang der Leistungshyperbel, tionalität von der Hydraulik in die Elektronik verla-
dem sog. Down-Rating. Doch dieser Möglichkeit sind gert. Während bei der ersten Generation der elektro-
durch Schwingungsproblemen und verzögertes An- nischen Getriebesteuerungen nur das Schaltprogramm
310 5 Antriebe

von der Elektronik gesteuert wurde, bleibt bei moder- die Raddrehzahlen verarbeitet. Signale vom Wählhe-
nen Getrieben der Hydraulik nur noch die Umsetzung bel über die Wählhebelstellung und das gewünschte
der elektrischen Signale in hydraulische Drücke, Schaltprogramm werden meist mit separaten Kabeln
einige Grundfunktionen sowie Sicherheits- und Not- übertragen. Auch die Sensorinformationen aus dem
lauffunktionen. Die wesentlichen Funktionsumfänge Getriebe (Drehzahlen, Positionserkennung, Getriebe-
werden in der EGS realisiert. temperatur, . . .) werden über einen Kabelstrang an
das Getriebesteuergerät geführt.
5.4.8.1 Gesamtsystem Vom Steuergerät werden die Ventile im Getriebe
Die elektronische Getriebesteuerung (EGS) besteht angesteuert. Druckregler weisen eine Strom-Druck-
aus einem elektronischen Steuergerät, das einerseits Kennlinie auf, so dass über den Strom die Druckhöhe
Sensorsignale aus dem Getriebe und dem Fahrzeug eingestellt werden kann, während für Schaltventile
und Informationen von anderen Steuergeräten emp- und pulsweitenmodulierte Ventile eine Digitalan-
fängt, diese Eingangsinformationen verarbeitet und steuerung ausreichend ist. Die Stromversorgung der
Ausgangssignale bereitstellt, mit denen Aktoren im Sensoren und Masseanbindung der getriebeinternen
Getriebe und im Fahrzeug angesteuert werden. Bild Elektrik erfordert ebenfalls zwei Verbindungskabel.
5.4-56 zeigt die Einbindung der EGS in das Kommu- Als weiterer Ausgang ist die Diagnoseleitung zu nen-
nikationssystem des Fahrzeugs [25]. Der Datenaus- nen, die nicht nur zu Diagnosezwecken, sondern auch
tausch mit anderen Steuergeräten (Motorsteuerung, zur Programmierung des Steuergeräts dient. Wenn
Fahrdynamiksysteme, Kombi-Instrument, Wählhebel, das Kombi-Instrument nicht CAN-fähig ist, wird die
. . .) erfolgt über ein Datenbussystem (CAN). Wich- Ganganzeige im Cockpit ebenfalls mit separaten Ka-
tige Eingangsgrößen aus der Motorsteuerung sind beln vom Getriebesteuergerät aus angesteuert. Spe-
Motormoment, Motordrehzahl, Motortemperatur, zielle Anforderungen können die Steuerung des
Drosselklappenwinkel und Fahrpedalstellung. Aus Rückfahrlichts, von shift lock- und key lock-Funk-
den Fahrdynamiksteuergeräten werden in erster Linie tionen sein.

Getriebe Fahrzeug ASR Motorelektronik


Anlasssperre
Getriebetemperatur

Drehzahl n3
Drehzahl n2

Wählprogramm
Wählhebel 0
Wählhebel 3
Wählhebel 2
Wählhebel 1
Kickdown

Statusinformationen
Raddrehzahl hinten L
Raddrehzahl hinten R

Statusinformationen
Motortemperatur
Drosselklappenistwert
Fahrpedal
Motordrehzahl
Höhenfaktor
Motorsollmoment
Motorschleppmoment
ind. Motormoment
34

35
12

3
25
28
27
26
2

Analog Digital CAN

Elektronische Getriebesteuerung

Digital Analog
39

29

33
13

17
16
15
14
38

37
36
4

7
1
Batterie –

Batterie +

Diagnose

R/P-Sperre

Anlasssperre

Masse
Versorgung

PWM-Ventil
Schaltventil 23
Schaltventil 34
Schaltventil 12
Abschaltung

Regelventil SD
Regelventil MD

Versorgung Diagnose Anlasser-


Wählhebel Sensoren Ventile
relais

Bild 5.4-56 EGS-Gesamtsystem


5.4 Triebstrang 311

5.4.8.2 Steuergerät (1) Elektronische Getriebesteuerung (EGS) in Mik-


Getriebesteuergeräte werden größtenteils als stand rohybridausführung
alone-Geräte in Leiterplattentechnik ausgeführt und (2) Drucksensor
sind im Fahrzeug-Innenraum oder im Motorraum (3) Drehzahlsensor
untergebracht. Die wesentlichen Bauelemente sind (4) Stecker (16-polig)
Mikroprozessor, Arbeitsspeicher (RAM), Parameter- (5) Trägerplatte aus Aluminium
speicher (EPROM und EEPROM), Timer, Watchdog, (6) Leitungsverbindung als Flexfolie
CAN-Baustein, Eingangsstufen zur Signalaufberei- (7) Kunststoffgehäuse mit Stecker
tung und Ausgabeeinheiten mit Leistungsendstufen, (8) Ventilkontaktierung
Kondensatoren, Dioden, Transistoren, Netzteil sowie Neben der stand alone-Ausführung und der Integrati-
mechanische Bauteile wie Kühlkörper, Stecker und on des Steuergerätes ins Getriebe kommen vor allen
Gehäuse. In heutigen Steuergeräten werden 16- oder Dingen in den USA auch Steuergeräte zum Einsatz,
32-bit-Prozessoren eingesetzt. Die Speicherkapazität bei denen Motor- und Getriebesteuerung zu einer
beträgt bis zu 512 k ROM und 64 k RAM. Für eine Baueinheit zusammengefasst sind (Powertrain Cont-
mögliche Datenänderung von Seriengeräten werden roller). Bei japanischen Getrieben finden sich auch
häufig Flash-Speicher eingesetzt, die im eingebauten außen an das Getriebe angebaute Steuergeräte.
Zustand neu beschrieben werden können. Die Takt- Die Programme für elektronische Getriebesteuerungen
zeit für einen Programmzyklus liegt zwischen 10 und werden heute praktisch nur noch in Hochsprache
20 msec. (meist C oder C++) geschrieben. Aufgrund der sehr
In den letzten Jahren haben sich elektronische Getrie- umfangreichen und komplexen Funktionen erfolgt die
besteuerungen etabliert, die in das Getriebe integriert Funktionsentwicklung und Programmierung mithilfe
sind. Dabei werden Elektronik, Drehzahlsensoren, entsprechender Tools, die eine klare Strukturierung
Temperatursensor, ggf. Drucksensoren, getriebeinter- der Programme ermöglichen und in Verbindung mit
ne Leitungsverbindung, Stecker und Positionsschalter Simulationsprogrammen einen sofortigen Funktions-
in einer mechatronischen Baueinheit auf der hydrau- test am Rechner erlauben sowie die Dokumentation
lischen Getriebesteuerung angeordnet [18]. Aus der erleichtern. Programme sind üblicherweise in einen
Umgebung im Getriebeinnenraum resultieren beson- Programmteil und einen Datenteil gegliedert, wobei
ders hohe Anforderungen an die elektronischen Bau- die Daten in fixe Größen, variantenabhängige Daten
teile bezüglich Temperatur- und Schwingungsbelas- und Applikationsparameter aufgeteilt sind. Oft wird
tung und an das Gehäuse bezüglich der Dichtheit. Die noch zwischen steuergeräte-, getriebe- und fahrzeug-
Ausführung hat jedoch Vorteile bezüglich Bauraum, spezifischen Programmteilen und Datensätzen unter-
Gewicht, Zuverlässigkeit, Toleranzen, Getriebeprü- schieden, die in unterschiedlichen Verantwortungsbe-
fung und Systemkosten. Bild 5.4-57 zeigt ein Elekt- reichen entwickelt werden können.
ronikmodul eines stufenlosen Getriebes ohne Abde-
ckung, so dass die Bauteile zu sehen sind:

1 2 3
4

1 Elektronische Steuerung 3 Drehzahlsensoren 7 Stecker für Drehzahl- und


(LTCC „Low Temperature 4 Getriebestecker Positionssensor Bild 5.4-57 Elektronisches
Confired Ceramics“) 5 Aluminium Trägerplatte 8 Kontakte für Druckregler
2 Drucksensor 6 Leitungsverbindung (Flexfolie) Getriebesteuerungsmodul
in Mikrohybridtechnik
312 5 Antriebe

5.4.8.3 Bauteile genden Druck geöffnet und wird mit steigendem


Steuerstrom geschlossen. Je nach Anforderung wer-
Sensoren
den auch Druckregler mit steigender Kennlinie einge-
Zur Drehzahlerfassung werden Induktivgeber oder setzt, die mit Federkraft geschlossen sind. Druckreg-
Hallsensoren eingesetzt. Meist werden die Getriebe- ler werden heute für Drücke von 0,5 bis 7,5 bar und
eingangsdrehzahl und die Abtriebsdrehzahl, abhängig mit Steuerströmen bis ca. 1 A eingesetzt. Ebenfalls in
vom Getriebekonzept auch noch getriebeinterne Bild 5.4-58 ist ein 3/2-Wege-Magnetventil zu sehen,
Drehzahlen gemessen. Auf einen Abtriebsdrehzahl- wie es zur Umschaltung bei einem Gangwechsel
geber kann verzichtet werden, wenn die Raddreh- verwendet wird. Es ist ein Plattenankerventil mit
zahlen in ausreichender Signalgüte und Dynamik vor- Kugelsitz, das stromlos geschlossen ist. Umschalt-
liegen. Hallgeber beinhalten eine aufwändigere ventile werden üblicherweise pulsweitenmoduliert
Technik, ermöglichen jedoch die Erfassung von nie- (PWM) angesteuert. In der Schaltphase wird ein
drigeren Drehzahlen als Induktivgeber. Die Getriebe- hoher Anzugstrom aufgebracht, um das Ventil sicher
öltemperatur wird mit einem Halbleiterelement ge- und schnell umzuschalten. In der Haltephase wird der
messen, das als Temperaturpille direkt an die getrie- Strom zurückgenommen, um den Strombedarf und
beinterne Leitungsverbindung gelötet ist. Die Wähl- die Verlustleistung zu reduzieren. Das Ventil bleibt
position wird in den meisten Fällen mit einem Positi- hydraulisch jedoch in seiner Endlage. Anders ist dies
onsschalter erfasst, der außen am Getriebe auf die bei PWM-Ventilen, bei denen über die modulierte
Wählwelle aufgesteckt ist oder im Falle einer integ- Ansteuerung das Ventil auch hydraulisch moduliert
rierten Getriebesteuerung einen Teil des Steue- wird. Durch eine stetige Auf-Zu-Bewegung des
rungsmoduls darstellt. Je nach Anforderung werden Ventils lässt sich mit diesen Schaltventilen ebenfalls
der EGS neben den Hauptfahrpositionen P, R, N und eine Druckkennlinie realisieren, die jedoch nicht der
D auch die Stellungen 4, 3, 2 und 1 übermittelt, in Genauigkeit einer Druckreglerkennlinie entspricht.
Position R direkt das Rückfahrlicht angesteuert und
die Positionen P und N zur Betätigung von shift- und Verkabelung und Stecker
key lock verwendet. Bei heutigen Getriebekonstruktionen wird versucht,
alle elektrischen Bauteile im Getriebe anzuordnen, sie
Aktoren
mit einem Kabelsatz zu verbinden und alle Leitungen
Als Aktoren zur Umsetzung der Stromsignale aus der über einen Stecker zum Anschluss an das Steuergerät
EGS in hydraulische Drücke dienen Druckregler, nach außen zu führen. Die getriebeinterne Verkabe-
Umschalt- und PWM-Ventile. In Bild 5.4-58 ist ein lung besteht aus einem temperatur- und ölbeständigen
Druckregler im Schnitt mit der dazugehörigen Strom- Kabelstrang. Sensoren und Aktoren sind entweder
Druck-Kennlinie dargestellt. Es handelt sich um direkt verbunden (Kabelschwanz-Ausführung) oder
einen Flachsitzregler mit fallender Kennlinie, d.h. er mit Steckverbindungen angeschlossen. Am Getriebe-
ist im nicht angesteuerten Zustand durch den anlie- stecker werden die Kabelenden gelötet oder ver-

3/2-Magnetventil (MV)

Bauart: Plattenankerventil
Druckbereich: 0 bis 5 bar
Nennspannung: 12 V
Nennweite: 1,6 mm
Anzugstrom: 166 mA

Elektrischer Druckregler (EDR)

5 Toleranzband
für fallende
Steuerdruck [bar]

4 Druckkennlinie

3
Einstellpunkt
2
Hysterese
1 für steigende
Druckkennlinie
0
0 0,2 0,4 0,6 0,8 Bild 5.4-58 Druckregler
Steuerstrom [A]
und Umschaltventil
5.4 Triebstrang 313

krimpt. Die Anzahl der Steckerpins hängt stark von einer Lastschaltung ist in Abschnitt 5.4.4.1 be-
der Konfiguration des Gesamtsystems ab. Für stand schrieben.
alone-Steuergeräte werden zwischen 11 und 21 Pins • Gangeinlegen bei Stillstand und während der
verwendet. Eine kompakte und kostengünstige Alter- Fahrt.
native bietet ein elektrisches Steuerungsmodul, in das • Ansteuerung der Wandlerkupplung. Dabei sind
alle elektrischen Bauteile integriert sind und bei dem neben der offenen und geschlossenen Kupplung
die Leitungsführung mit gestanzten Leiterbahnen auch die Schlupfregelung und die Übergangszu-
erfolgt [23]. Durch die Integration des elektronischen stände zu steuern. Die Vielzahl der Einflusspara-
Steuergeräts in dieses Modul lässt sich der Verkabe- meter bei der Drucksteuerung einer schlupfgere-
lungsaufwand weiter reduzieren. In einem ausgeführ- gelten Wandlerkupplung zeigt Bild 5.4-59 [25].
ten Beispiel einer integrierten Getriebesteuerung Die Drucksteuerung bestimmt die Schaltqualität des
werden nur noch 5 Pins am Getriebestecker benötigt Getriebes und damit in direktem Maß den Fahrkom-
[18]. In dem Ausführungsbeispiel in Bild 5.4-57 fort. Somit kommt der Funktionsentwicklung und der
ist als elektrische Leitungsverbindung eine flexible Applikation der Drucksteuerung eine sehr hohe Be-
Kunststofffolie eingesetzt, in die dünne Leiterbahnen deutung zu.
aus Kupfer eingebettet sind.
Motor-Getriebe-Management
5.4.8.4 Funktionen
Durch die Kommunikation zwischen Motor- und Ge-
Drucksteuerung triebesteuerung wird die Schaltqualität des Getriebes
Bei elektronisch gesteuerten Getrieben werden die durch Beeinflussung des Motormoments während der
Funktionen der Drucksteuerung in der Software der Schaltung verbessert. In Bild 5.4-60 ist dies am Bei-
EGS realisiert. Die Umsetzung der elektrischen Signale spiel einer Zug-Hochschaltung dargestellt. Während
in Kupplungsdrücke erfolgt mit Druckreglern in der der Überhöhungsphase erfolgt die Synchronisierung
hydraulischen Getriebesteuerung. Folgende Funktionen der Motordrehmassen nicht allein durch eine Erhö-
sind notwendig, um die Schaltelemente eines Getriebes hung des Drucks in der Zuschaltkupplung, sondern
mit dem erforderlichen Druck anzusteuern: durch eine gleichzeitige Reduzierung des Motormo-
ments. Da dieser Vorgang sehr dynamisch und in
• Einstellung des Hauptdrucks in Abhängigkeit des genauer Abstimmung mit der getriebeseitigen Druck-
Motormoments und der Drehmomentwandlung steuerung erfolgen muss, wird er durch die Verstel-
auf einen Wert, der das Getriebe-Eingangsdreh- lung des Zündwinkels realisiert [37].
moment übertragen kann. Weitere Funktionen sind die Anfahrdrehzahl- und
• Schaltdrucksteuerung, mit der die Lastschaltvor- Anfahrmomentenbegrenzung. Beim Einlegen des
gänge moduliert werden. Der prinzipielle Ablauf Wählhebels in eine Fahrstellung kann die Motor-

Fahrpedal- Fahrpedal-
Motor-
geschwindig- stellung
drehzahl Bremssignal
Abtriebs- keit
drehzahl

Getriebeöl-
Turbinen- temperatur
drehzahl

Motor- Druckmodulation
der Ventilansteuerung, CAN, Diagnose
moment
Wandlerkupplung

Motor-
Wandler- status-
moment information

aktueller
Batterie-
Gang
Fahr- Fahr- spannung
Art der
Schaltung programm widerstand Bild 5.4-59 Einflussfakto-
ren auf die Drucksteuerung
der Wandlerkupplung
314 5 Antriebe

Vergleich der Schaltqualität • Höhenkompensation: In Höhenlagen wie z.B. bei


Passfahrten verlieren Verbrennungsmotoren an
Hochschaltung Schaltsignal
Leistung. Da Schaltprogramme auf normale geo-
dätische Höhen abgestimmt sind, müssen sie auf
ohne Motoreingriff
diese Betriebssituation angepasst werden.
m/s2 • Schaltungsverhinderung in Kurven: Beim Einfahren
4
in eine Kurve wird durch die Gasrücknahme eine
2 Hochschaltung eingeleitet. Durch die Erfassung von
0 Fahrpedalbewegung und Fahrzeug-Querbeschleu-
min–1 nigung kann dies verhindert werden. Der Gang wird
6000 Motordrehzahl während der Kurvendurchfahrt gehalten.
5000 • Bremsrückschaltungen an Gefällstrecken: Mit der
4000 Steigungserfassung kann beim Bergabfahren die
Betriebsbremse durch Rückschaltungen in niedri-
mit Motoreingriff gere Gänge unterstützt werden.
m/s2
4 Beschleunigung • Dynamische Vollgasrückschaltungen: Die Rück-
2 schaltungen erfolgen nicht an fest definierten
0
Schaltpunkten, sondern in Abhängigkeit des Fahr-
pedalgradienten. Damit werden bei einem ge-
min–1
6000 Motordrehzahl mächlichen Fahrstil Rückschaltungen erst spät
5000 n1 n2 eingeleitet, während bei schnellen Fahrpedalbe-
n3 n4
wegungen spontane Rückschaltungen zur Verfü-
4000
gung stehen.
% • Warmlaufprogramm: Im Kaltzustand wird durch
Motormoment
100 eine Schaltpunktanhebung der Motor in höheren
Drehzahlen betrieben und dadurch der Katalysator
50
schneller auf seine Betriebstemperatur gebracht.
t0 t1 t2 t3 t4
Zeit t
• Traktionsanforderungen: Fahrwerks-Regelsysteme
werden durch spezielle Gangwahl unterstützt.
Bild 5.4-60 Motoreingriff während einer Schaltung • Tempomatanforderungen: Durch die Beeinflus-
sung der Schaltlinien kann die Regelgüte bei
drehzahl begrenzt werden, bis das Getriebe kraft- Tempomatbetrieb verbessert werden.
schlüssig ist. Damit wird verhindert, dass Getriebe
Weitere fahrzeug- und getriebespezifischen Funktio-
und Triebstrang mit erhöhter Stoßbelastung bean-
nen sind in Entwicklung, um das Fahrverhalten eines
sprucht werden. Ebenfalls kann in diesem Betriebszu-
Personenwagens mit automatischen Getrieben zu ver-
stand das Motormoment begrenzt werden, um eine
bessern. Genannt sei die Beeinflussung des Schalt-
unzulässige Wärmebelastung der Reibschaltelemente
programms durch Verkehrsleitsysteme (GPS) und die
zu vermeiden. Beim Anfahren im ersten Gang und im
optische Erfassung der Fahrbahn und des unmittelba-
Rückwärtsgang mit voller Wandlung wird durch
ren Verkehrsgeschehens.
Motoreingriff das Motormoment reduziert, so dass
das Getriebe nicht das volle Wandlermoment übertra-
Sicherheitskonzept und Diagnose
gen muss. Dies ermöglicht eine praxisrelevante Di-
mensionierung von Getriebe und Triebstrang. Das Sicherheitskonzept der elektronischen Getriebe-
Schaltprogramm steuerung ist so aufgebaut, dass bei Ausfall von elekt-
rischen oder elektronischen Signalen die EGS ver-
Mit der Einführung der elektronischen Getriebesteue- sucht, mit Ersatzwerten weiter zu arbeiten. Dies hat
rung ergaben sich für die Gestaltung von Schaltpro- ggf. Auswirkungen auf die Schaltqualität des Getrie-
grammen vielfältige Möglichkeiten [24 – 26]. bes oder schränkt die Funktionen des Schaltpro-
Neben der softwareseitigen Darstellung von unter- gramms ein, die Verfügbarkeit ist jedoch voll und
schiedlichen Schaltprogrammen und der Berücksich- ganz gegeben. Erst bei Ausfall von Basisinformatio-
tigung des Fahrverhaltens über eine Fahrzustands- nen, ohne die ein sicherer Betrieb nicht mehr gewähr-
identifikation (vgl. Ausführungen in Abschnitt 5.4.4.5 leistet ist oder von habhaften Fehlern wie z.B. Kabel-
und Bild 5.4-32) werden folgende weitere wesent- abfall geht die EGS in Notaus und das Getriebe in
liche Funktionen realisiert: einen hydraulischen Notlauf.
• Kompensation von Fahrwiderstandsänderungen: Fehler im Betrieb werden von Diagnosefunktionen
Dabei werden Steigungen, aber auch der Bela- erfasst und in einem Diagnosespeicher festgehalten.
dungszustand einschließlich Hängerbetrieb des Mithilfe eines Diagnoserechners kann der Diagnose-
Fahrzeugs erfasst. speicher über die Diagnoseleitung in der Werkstatt
5.4 Triebstrang 315

ausgelesen werden. Dies ermöglicht im Fehlerfall Den gravierendsten Einfluss auf den Pkw-Anstriebs-
eine schnelle und zielgerichtete Befundung und Repa- strang wird die Brennstoffzelle haben, falls sie in fer-
ratur des ausgefallenen Bauteils. nerer Zukunft tatsächlich zum Serieneinsatz kommt.
Sie wird die mechanische Antriebstechnik weitge-
5.4.9 Ausblick hend durch elektrische Lösungen ersetzen.
Der Triebstrang vom Pkw wurde in der Vergangen- Literatur
heit nahezu ausschließlich durch einerseits Hand-
[1] Förster, H.-J.: Automatische Fahrzeuggetriebe. Berlin Heidel-
schaltgetriebe und andererseits Wandlerautomat- berg New York: Springer-Verlag 1990
getriebe geprägt. Dieses Bild hat sich gründlich ver- [2] Förster, H.-J.: Die Kraftübertragung im Fahrzeug vom Motor bis
ändert. Zusätzlich findet man heute automatisierte zu den Rädern, Handgeschaltete Getriebe. Köln: Verlag TÜV
Rheinland GmbH, 1987
Getriebe, Doppelkupplungsgetriebe und stufenlose [3] Neunheimer, H.; Bertsche, B.; Lechner, G.; Naunheimer, H.:
Getriebe (CVT). Fahrzeuggetriebe-Grundlagen, Auswahl, Auslegung und Kon-
Bei den Getriebesystemen für Pkw mit konventionel- struktion. Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag 2007
lem Antrieb können folgende Zukunftsperspektiven [4] Pierburg, B.; Amborn, P.: Gleichlaufgelenke für Personenkraft-
fahrzeuge. Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie 1998
skizziert werden: [5] Schmidt, G.: Schwingungen in Pkw-Antriebssträngen. VDI-
Das kostengünstige Handschaltgetriebe und das Berichte 1220, Düsseldorf: VDI-Verlag 1995
komfortorientierte Wandlerautomatgetriebe werden [6] Hafner, K. E.; Maass, H.: Die Verbrennungskraftmaschine,
auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, das Band 1 bis 4. Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag
1981/84
Handschaltgetriebe allerdings mit abnehmendem [7] Duditza, F.: Kardangelenkgetriebe und ihre Anwendungen.
Anteil. Unter den aktuellen Wandlerautomatgetrieben Düsseldorf: VDI-Verlag 1973
findet man neben der 6-Gang-Ausführung zuneh- [8] Herbst, G.: Marktchancen von Doppelkupplungstechnologien.
mend Getriebe mit 7 oder 8 Gängen. Die Weiterent- ATZ 106 (2004). S. 106 – 116
[9] Drexl, H.-J.: Kraftfahrzeugkupplungen. Landsberg/Lech: Verlag
wicklung dieser Getriebeart wird speziell unter den Moderne Industrie 1997
Gesichtspunkten Beitrag zur Verbrauchsreduktion [10] Förster, B.; Lindner, J.; Steinel, K.; Stürmer, W.: Kupplungssys-
und Verbesserung der Fahrbarkeit und Fahrdynamik teme für schwere Nutzfahrzeuge. ATZ 106 (2004). S. 878 – 887
erfolgen [40]. [11] Trepte, S.: Verschleißvorausberechnungen und Lebensdauer-
prognose für Reibwerkstoffe, VDI-Berichte 1786, VDI-Verlag
Automatisierte Getriebe in weiterentwickelter Form GmbH, Düsseldorf 2003
wird es auch künftig für kleine, nicht sehr beschleu- [12] Ersoy, M.: Entwicklungstendenzen für Getriebe-Außenschal-
nigungsstarke und sparsame Fahrzeuge sowie für tungen. VDI-Berichte 1393, S. 273 – 286, Düsseldorf: VDI-
Sportwagen und Transporter geben. Verlag 1998
[13] Eberspächer, R.; Göddel, Th.; Wefers, Chr.: Das Schaltgetriebe
Doppelkupplungsgetriebe passen gut zu sportlichen und Schaltungskonzept der Mercedes-Benz A-Klasse. VDI-
Fahrzeugen. Bei bestimmten Antriebskonzepten Berichte 1393, S. 491 – 511, Düsseldorf: VDI-Verlag 1998
(front-quer und front-längs) können sich auch Vortei- [14] Mertinkat, R.; Krieg; W.-E.: Die neuen 6-Gang-Handschalt-
getriebe von ZF. VDI-Berichte 1610, VDI-Verlag GmbH, Düs-
le in Bauraum und Gewicht gegenüber einem Wand- seldorf 2001
lerautomatgetriebe ergeben. Von daher werden sich [15] Ottenbruch, P.; Leimbach, L.: Die zukunftsweisende Automati-
die Doppelkupplungsgetriebe ihren Platz unter den sierung des Konventionellen Antriebsstranges, VDI-Berichte
Getriebesystemen erobern. 1323, VDI-Verlag GmbH, Düsseldorf 1997
[16] Looman, J.: Zahnradgetriebe. Berlin Heidelberg New York:
Auch die stufenlosen Getriebe werden sich weiter Springer-Verlag 2. Auflage 1988
entwickeln, allerdings wohl nicht in der progressiven [17] Dach, H.; Gruhle, W.-D.; Köpf, P.: Pkw-Automatgetriebe.
Form, wie in der Vergangenheit erwartet. Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie 2. Auflage 2001
[18] Göddel, T.; Hillenbrand, H.; Hopff, Chr.; Jud, M.: Das neue
Eine weitere wichtige Entwicklungstendenz ist die Fünfgang-Automatikgetriebe W5A180. Sonderausgabe ATZ und
zunehmende funktionale Vernetzung von strategiefähi- MTZ: Mercedes A-Klasse (1997), S. 96 – 101
gen Komponenten und Aggregaten im Fahrzeug, z.B. [19] Flegl, H.; Wüst, R.; Stelter, N.; Szodfridt, I.: Das Porsche-Dop-
pelkupplungs-(PDK-)Getriebe. ATZ 89 (1987) 9, S. 439 – 452
Automatgetriebe, zu- und abschaltbare Allradverteiler, [20] Schreiber, W.; Rudolph, F.; Becker, V.: Das neue Doppelkupp-
geregeltes Sperrdifferential, Lenkung sowie aktive lungsgetriebe von Volkswagen. ATZ 105 (2003) 11, S. 1022–1039
Fahrwerkskomponenten. Diese funktionale Vernetzung [21] Wagner, G.: Gestaltung und Optimierung von Bauteilen für auto-
matische Fahrzeuggetriebe. Konstruktion 49 (1997) 6, S. 31–35
wird wichtige Beiträge zur weiteren Verbesserung von [22] Wagner, G.; Lepelletier, P.: Das Lepelletier 6-Gang-Planeten-
Fahrdynamik, Fahrsicherheit und Fahrkomfort ergeben. getriebesystem. VDI-Berichte 1704, S. 329 – 348, Düsseldorf:
Alternative Antriebssysteme (Hybridantrieb, Brenn- VDI-Verlag 2002
stoffzelle) werden den Antriebsstrang beeinflussen. [23] Rösch, R.; Wagner, G.: Elektrohydraulische Steuerung und
äußere Schaltung des automatischen Getriebes W5A330/580 von
Erste Fahrzeuge mit Hybridantrieb haben sich auf Mercedes-Benz. ATZ 97 (1995) 10, S. 698 – 706
dem Weltmarkt durchgesetzt und etabliert. Je nach [24] Maier, U.; Petersmann, J.; Seidel, W.; Strohwasser, A.; Wehr,
künftigem Durchdringungsgrad des Hybrid wird es T.: Porsche Tiptronic. ATZ 92 (1990) 6, S. 308 – 319
[25] Rösch, R.; Wagner, G.: Die elektronische Steuerung des automa-
hier unterschiedliche, neuartige und interessante Lö- tischen Getriebes W5A330/580 von Mercedes-Benz. ATZ 97
sungen im Antriebsstrang geben. Start-Stopp-Syste- (1995) 11, S. 736 – 748
me werden in Kürze zum Stand der Technik werden. [26] Tinschert, F.; Wagner, G.; Wüst, R.:Arbeitsweise und Beeinflus-
sungsmöglichkeiten von Schaltprogrammen automatischer Fahr-
Auf jeden Fall kommen zusätzlich elektrische Kom- zeuggetriebe. VDI-Berichte Nr. 1175, S. 185 – 203, Düsseldorf:
ponenten in den Antriebsstrang. VDI-Verlag 1995
316 5 Antriebe

[27] Katou, N.; Taniguchi, T.; Tsukamoto, K.;Hayabuchi, M.; D m (Profil)durchmesser


Nishida; M.; Katou, A.: AISIN AW New Six-Speed Automatic
Transmission for FWD Vehicles. SAE-Paper 2004-01-0651
Da m Außendurchmesser
[28] Wagner, G.; Bucksch, M.; Scherer, H.: Das automatische Di m Innendurchmesser
Getriebe 6 HP 26 von ZF – Getriebesystem, konstruktiver Auf- FB N Bremskraft
bau und mechanische Bauteile. VDI-Berichte Nr. 1610, S. 631 – FW N Fahrwiderstandskraft
654, Düsseldorf: VDI-Verlag 2001
[29] Greiner, J.; Indlekofer, G.; Nauerz, H.; Dorfschmid, J.; Göde- Größen und Einheiten
cke, T.; Dörr, C.: Siebengang-Automatikgetriebe von Mercedes-
Benz. ATZ 105 (2003) 10, S. 920 – 930
I – Wandlungsbereich Getriebe
[30] Förster, H.-J.: Stufenlose Fahrzeuggetriebe. Köln: Verlag TÜV J kg m2 Massenträgheitsmoment
Rheinland 1996 M Nm Drehmoment
[31] Gott, P. G.: Changing Gears, The Development of the Automotive
M. K Nm Kupplungs-Drehmoment
Transmission. Warrendale: SAE historial series 90-21369, 1991
[32] Boos, M.; Krieg, W.-E.: Stufenloses Automatikgetriebe Ecotro- V m3/s Volumenstrom
nic von ZF. ATZ 96 (1994) 6, S. 378 – 384 a ∞ Steigungswinkel
[33] Nowatschin, K.; Fleischmann, H. P.; Gleich, Th.; Franzen, P.; D – Differenz
Hommes, G.; Faust, H.; Friedmann, O.; Wild, H.: Multitronic –
das neue Automatikgetriebe von Audi. ATZ 102 (2000) 7/8, h – Wirkungsgrad
S. 548 – 553 k – Faktor der rotatorisch beschleunig-
[34] Wagner, G.; Remmlinger, U.; Fischer, M.: Das stufenlose ten Massen des Fahrzeugs
Getriebe CFT30 von ZF – Ein CVT mit Kettenvariator für 6-
Zylinder-Motoren für Front-Quer-Antrieb. VDI-Berichte 1827,
l – Leistungszahl
S. 461 – 478, Düsseldorf: VDI-Verlag 2004 m – Drehmomentwandlung
[35] Hall, W.; Pour, R.; Mathiak, D.; Gueter, C.: Das stufenlose mdyn – dynamischer Reibwert
Automatikgetriebe für den neuen Mini. ATZ 104 (2002) 5, mstat – statischer Reibwert
S. 458 – 463
[36] Pieper, D.: Automatic Transmission – An American Perspective. n – Drehzahlwandlung
VDI-Berichte 1175, S. 25 – 39, Düsseldorf: VDI-Verlag 1995 r kg/m3 Dichte
[37] Neuffer, K.: Elektronische Getriebesteuerung von Bosch. ATZ j – Schnellgangfaktor
94 (1992) 9, S. 442 – 449
[38] Fuchs, R. D. et al.: Full Torodial IVT Variator Dynamics SAE
w rad/s Winkelgeschwindigkeit
.
2002-01-0586 w rad/s2 Winkelbeschleunigung
[39] Förster, B.; Steinel, K.: ConAct – Kupplungsbetätigungssystem
für Nutzfahrzeuge mit automatisierten Schaltgetrieben. ATZ Indizes
02/2007 Jahrgang 109
[40] Wagner, G.; Naunheimer, H.; Scherer, H.; Dick, A.: Neue
ges gesamt
Automatgetriebegeneration der ZF. 28. Internationales Wiener max maximal
Motorensymposium, 26./27. April 2007 min minimal
[41] Kimmig, K.; Wagner, U.; Berger, R.; Bührle, P.; Zink, M.: mot Motor
Kupplungssysteme für hocheffiziente Doppelkupplungsgetriebe.
VDI-Berichte 2029, VDI-Verlag GmbH, Düsseldorf 2008 0 auf Maximalleistung bezogen
[42] Resch, R.; Müller, J.; Leesch, M.: Neue strukturoptimierte Ge- L Leitrad
triebesysteme für zukünftige Nutzfahrzeuge. VDI-Berichte 2071, P Pumpe
VDI-Verlag GmbH, Düsseldorf 2009 T Turbine
[43] Gutmann, P.; Gehring, A.: 8HP70H – the Mild-Hybrid Trans-
mission from 2F. VDI-Berichte 2081, VDI-Verlag GmbH, Düs- 1 Sonnenrad
seldorf 2 Planetenrad
3 Planetenträger
Formelzeichen in Abschnitt 5.4 4 Hohlrad

Größen und Einheiten


a m/s2 Fahrzeugbeschleunigung
cu m/s Strömungsgeschwindigkeit,
auf den Umfang bezogen 5.5 Allradantriebe,
cw – Luftwiderstandsbeiwert Brems- und Antriebsregelungen
f – Rollwiderstandsbeiwert
g m/s2 Erdbeschleunigung 5.5.1 Allradantriebs-Konzepte
i – Übersetzung 5.5.1.1 Verwendung von Allradantrieben
ia – Übersetzung Achsgetriebe
ig – Übersetzung Stufengetriebe Der Vierradantrieb hat Tradition im Automobilbau
m kg Fahrzeugmasse und hält auch heute eine wesentliche Position im
n – Anzahl Bereich der Antriebstechnik inne. Technisch gesehen,
p Pa Hauptdruck lassen sich zwei Hauptkategorien für Allradfahrzeuge
r m Radius, dynamischer Reifenradius definieren:
rm m mittlerer Reibradius • einmal das Segment der leicht geländegängigen
v m/s Fahrgeschwindigkeit Fahrzeuge (SUV’s) und Geländewagen, die vier
z – Zähnezahl angetriebene Räder vor allem aus Traktionsgrün-
A m2 Querschnittsfläche den benötigen, und
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 317

• der Bereich der Sportwagen und Limousinen, wo


neben guter Traktion die verbesserte Fahrdynamik D A C B E
ausschlaggebend für den Einsatz von Allradan- 60 5
trieb ist.
Bei reinen Geländewagen im häufigen Offroad-
50
Einsatz bedeutet gutes Traktionsvermögen optimale

Beschleunigung [m/s2]
4
Reibwertausnutzung an allen Rädern. Dies lässt sich
am besten durch eine bei Bedarf starre Koppelung der

Steigung [%]
40
Achsen erzielen. 3
Hochmotorisierten Personenkraft- und Sportwagen
garantiert der Allradantrieb unabhängig von vorherr- 30
0,4
schenden Fahrbahnverhältnissen optimale Beschleu- mr = 2
nigungswerte. Eine gezielte Momentenverteilung im
20
Antriebsstrang erlaubt außerdem eine spezifische mtr =
0,4
Abstimmung des Fahrverhaltens. mr = 0
,2
1
Für diese Kategorie scheidet die starre Koppelung der 10 mtr = 0
,2
Achsen aus fahrdynamischen Gesichtspunkten, Ver-
schleiß und Komfortgründen – starke Verspannungen
– aus. Um diese Verspannung zu unterbinden und 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
eine gewünschte Steuertendenz zu erreichen, sorgen 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
entweder Zentraldifferenziale oder entsprechende Momentanteil der Vorderachse [%]
Kupplungseinheiten für den notwendigen Drehzahl- Momentanteil der Hinterachse [%]
ausgleich. Um gegebenen Kraftschluss an allen
Rädern voll auszunutzen, erweisen sich zusätzliche Bild 5.5-1 Traktionsdiagramm
Differenzialsperren als sehr vorteilhaft. Zu beachten
ist allerdings auch, daß beim Bremsen völlig unab- lung rechts dieser Geraden ergibt eine Betonung der
hängige Räder die beste Lösung darstellen. Jede Vorderachse und damit eine Tendenz zu untersteu-
Koppelung beeinflusst die Bremsstabilität mehr oder erndem Fahrverhalten, im linken Feld demnach ein
weniger und bedarf entsprechender Zusatzmaßnah- entsprechendes übersteuerndes Verhalten.
men. Gleiches gilt auch für einwandfreie Kompatibi- Zentraldifferenziale verteilen die Momente immer im
lität mit Fahrdynamikregelsystemen (ESP). selben Verhältnis (B). Viscotransmissionen (D, E)
bzw. Sperren (C) steuern schlupfabhängig, wobei
5.5.1.2 Kennlinien von Allradantrieben wieder eine Abhängigkeit von Steigung bzw. Be-
Zur Beurteilung diverser Systeme erweist sich das schleunigung besteht.
Traktionsschaubild (Bild 5.5-1) als sehr vorteilhaft. Die zusätzliche Abhängigkeit von der Geschwindig-
In diesem wird die Antriebsmomentenverteilung keit bzw. Drehzahl führt zu Kennfeldern. Besonders
der dynamischen Gewichtsverteilung des Fahrzeuges elektronisch geregelte Kupplungen und Sperren er-
gegenübergestellt und so eine prinzipielle Aussage weitern den Regelbereich noch weiter.
über das Fahrverhalten (Über- oder Untersteuern) Bei Kupplungen z.B. kann zwischen den Grenzen
ermöglicht. Vertikal werden die Beschleunigung bzw. Einachsantrieb einerseits und die starre Koppelung
die Steigung aufgetragen und horizontal die An- andererseits geregelt werden.
triebsmomenten- bzw. Gewichtsverteilung: Kennfelder sind in ihren Extremwerten zu berück-
Die im Bild dargestellten Kennlinien ergeben sich sichtigen und nur die Betrachtung aller Kombinati-
durch verschiedene Parameter, wie Achslastvertei- onszustände gibt eine Aussage zum Fahrzeug. Das
lung, Radstand und Schwerpunktshöhe, wobei Ver- ideal ausgelegte System gibt dem Fahrer in jedem
luste wie die des Antriebs und der Reifen und der Beladungs- und Betriebszustand das selbe Fahrge-
Luftwiderstand nicht berücksichtigt sind. Die Koppe- fühl. Ob über-, untersteuernd oder neutral auszulegen
lung der Achsen des starren Antriebes bewirkt an ist, entscheidet die Philosophie des Fahrzeugherstel-
diesen gleichen Schlupf und somit auch gleiche lers.
Reibwertausnutzung. Gemäß der Reibwertdefinition
ergibt sich 5.5.1.3 Systematik der Antriebe

FV/FH = GV/GH Die Einteilung nach baulichen Merkmalen ergibt sehr


rasch ein unübersichtliches Bild. Wesentlich klarer ist
d.h. die Umfangskräfte und damit auch die Momente eine Systematik nach der möglichen Leistungsver-
verteilen sich beim starren Allradantrieb wie die zweigung, wobei homogene Fahrbahnverhältnisse
dynamischen Achslasten (Gerade A, auf der sich auch und Geradeausfahrt vorausgesetzt werden, Geschwin-
alle Reibwertkurven schneiden). Jede Antriebsvertei- digkeit und Beschleunigung/Steigung werden variiert.
318 5 Antriebe

Systematik der Allradantriebe Allradantrieb

zuschaltbar permanent

manuell automatisch

Systeme mit vorbestimmter


Leistungsverzweigung: starr, Zentral-
z.B. entsprechend den formschlüssige differenzial
starr,
1 dynamischen Achslasten
oder den Zähnezahlen (ZD)
Kupplungen schaltende
Lamellenkupplungen form- oder kraft-
schlüssige Vollsperren

Systeme mit variabler Schlupfende Differenzial- ungeregelte differenz-


systemimmanenter sperren, z.B. Viscosperre; drehzahlfühlende Kupplungen,
2 Leistungsverzweigung drehmomentfühlende
Sperren, z.B. Torsen
z.B. Viscokupplung, Geromatic,
Viscolok, Honda Dual Pump

Systeme mit, zwischen fremdgeregelte geregelte geregelte differenz-


vorgegebenen Grenzen, Lamellenkupplung, Differenzialsperren, drehzahlfühlende Kupplungen,
3 variabler
Leistungsverzweigung
z.B. Nissan ETS,
JTEKT ITCC,BMW X-Drive
z.B. Lamellensperre z.B. Viscomatic, Haldex,
MAGNA Pro-aktive Kupplung

Systeme mit frei wählbarer beide Achsen über Geregelte Systeme in Verbindung mit
variabler steuerbare Lamellen- Zentraldifferenzial, freie Beeinflussung von

4 Leistungsverzweigung kupplungen angetrieben,


variable Übersetzungen im
Antriebsstrang, z.B. Honda
Differenzdrehzahl und Differenzdrehmoment
in Größe und Richtung
Elektrischer Achsantrieb

Bereich der Leistungsverzweigung

Bild 5.5-2 Varianten des Allradantriebes

Nach diesen Kriterien erhält man vier Gruppen oder (Viscomatic), die MAGNA pro-aktive Kupplung und
Generationen, welche aber keinesfalls eine Wertung die Lamellenkupplung der Firma Haldex (VW 4mo-
der Leistungsfähigkeit der einzelnen Systeme darstel- tion). Diese Systeme überlagern die interne Cha-
len (Bild 5.5-2). rakteristik des Basissystems mit einer externen Rege-
Je nach Varianten des Allradantriebes nach Einsatz- lung. Ausschließlich fremdgeregelt sind Lamellen-
fall (Traktion oder Dynamik), Fahrzeugtyp und kupplungen/-sperren, wie sie nachfolgend beschrie-
Package ist das entsprechende System zu wählen. ben werden. Zu dieser Gruppe zählen Kupplungen
Nicht vergessen darf aber werden, dass neben diesen der Hersteller GKN, JTEKT, HALDEX IV. Genera-
technischen Gründen auch die Zielkosten für ein tion, MAGNA und BorgWarner.
Fahrzeug einen entscheidenden Einfluss auf die In einer vierten Gruppe verfügen Allradantriebe über
Systemauswahl haben. eine frei wählbare Leistungsverzweigung zwischen
In die erste Gruppe fallen der zuschaltbare Vierradan- den Achsen, neuerdings auch als „torque vectoring“
trieb und der permanente Antrieb mit Zentraldifferen- bezeichnet und fallweise auch kombiniert mit freier
zial (ohne bzw. mit mechanischer Sperre). Momentenverteilung quer an den Achsen.
Die zweite Gruppe baut häufig auf dieser Differen-
zialverteilung auf, überlagert sie jedoch mit einem 5.5.1.4 Systemkomponenten
systemimmanenten Sperrensystem (z.B. Viscosperre Um den Rahmen dieses Buches nicht zu sprengen,
oder Torsen). Hierhin gehört auch der direkte Antrieb soll in Folge nur auf weitgehend etablierte Systeme
der zweiten Achse über eine differenzdrehzahlfüh- eingegangen werden:
lende Kupplung, die das Zentraldifferenzial ersetzt
und abhängig vom Radschlupf Drehmoment über- Zentraldifferenziale
trägt. Neben der bekannten Viscokupplung sind dies Planetendifferenziale
Lamellenkupplungen, die von differenzdrehzahlfüh-
lenden Pumpen mit Druck beaufschlagt werden (z.B. Neben herkömmlichen Kegelraddifferenzialen eignen
Geromatic, Honda Dual Pump, Viscolok und das sich besonders Planetengetriebe als Mitteldifferenzi-
RBC-System von JTEKT). al, da durch gezielte geometrische Abstimmung der
Typisch für Systeme der dritten Gruppe ist die Ver- Planetengetriebebauteile (Sonnen-, Planeten- und
wendung von Elektronik zur externen Regelung von Hohlrad) und den Modus der Momentenzufuhr und
Kupplungen und Zentraldifferenzialsperren. Vertreter -abnahme eine bestimmte Momentenverteilung im
dieser Gruppe sind die regelbare Viscokupplung Antriebsstrang erreicht werden kann.
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 319

pa Ein Beispiel für eine technische Ausführung nach


pi Anordnung c stellt Bild 5.5-4 (Mercedes-Benz 4ma-
p
tic) dar.

a s a s Doppel-Differenzial-Einheit (Unit) DDU

i
Eine kompakte Lösung für 4WD-Fahrzeuge, welche
aus Frontquerantrieben abgeleitet ist, stellt die Aus-
i
führung DDU dar (Bild 5.5-5). Dabei werden die
Momente an die Wellen entsprechend ihrer Position
a) b) entlang des Kraftflusses verteilt. Der Radsatz verei-
pa nigt die Funktion eines Zentraldifferenzials und die
des VA-Querdifferenziales, wobei die Platzvorgabe
pi
im Bauraum des FWD-Grund-Getriebes ausreicht.
a s
Zugkraftunterschiede an den Vorderrädern werden
durch die Wälzlagerung der Planeten-Räder nicht
i
auffällig. Eine Sperre des Zentraldifferenzials ist
a Außenrad möglich.
p Planetenrad
pa Außenplanetenrad
Die Achsmomentverteilung kann beliebig gewählt
c) pii Innenplanetenrad werden, wobei eine Aufteilung von VA 65 %/HA
st Steg 35 % bis VA 45 %/HA 55 % möglich ist.
i Sonnenrad
Ausgeführt ist die Version im Hyundai Santa Fe
Bild 5.5-3 Planetendifferenziale und ihre Bauformen (SUV) zur Markteinführung des Fahrzeuges. Im Zuge
der weiteren Modelpflege wurde das Allradsystem
auf eine geregelte Kupplung umgestellt.
Für die gebräuchlichste Anordnung (Bild 5.5-3a)
errechnet sich die Momentenverteilung bei Antrieb Sperren
über den Steg über die Durchmesser der Zahnräder: Die systemimmanente und feste Momentenverteilung
MHohlrad/MSonne = dHohlrad/dSonne sogenannter „offener“ Zentraldifferenziale kann aber
immer nur in einem Betriebspunkt auf den Höchst-
Mögliche Momentenverteilungen sind: wert der Traktion abgestimmt sein. Um auch für
Anordnung a: Hohlrad : Sonne = 65 : 35 (+/– 5%) von diesem Bestpunkt abweichende Bedingungen
Anordnung b: Sonne 1 : Sonne 2 = 70 : 30 bis 30 : 70 höchstmögliche Zugkraft übertragen zu können, sind
Anordnung c: Steg : Sonne = 65 : 35 bis 50 : 50 Sperren erforderlich.

Bild 5.5-4 Mercedes-Benz


4matic
320 5 Antriebe

Auf den linken Planeten- Auf den rechten Planetenradsatz


radsatz wirkt das Eingangs- 100% Eingangs wirken, vom Hohlrad angetrieben, die
drehmoment 100%, das zu drehmoment restlichen 70% vom Eingangsdreh-
70% auf das Hohlrad und zu moment, das Hohlradmoment wird zu
30% auf das linke Sonnen- 40% (vom Eingansgsdrehmoment)
rad verteilt wird. auf den Steg zur Hinterachse (HA)
Das linke Sonnenrad treibt 70% Hohlrad und zu 30% auf das rechte Sonnen-
das linke Rad der Vorder- rad verteilt (Abtrieb zum rechten Rad
achse (VA) an. der VA).

40% zur Hinterachse


Verteilung
30% linkes Rad VA 60% / HA 40%
30% rechtes Rad

Bild 5.5-5 Doppel-Differenzial-Einheit (Unit) DDU

Einen Sonderfall der Sperren stellt die aktive Brems- triebe mit nur in Taschen des Steges aufgenommenen
betätigung dar. Diese wird im Kapitel 5.5.2 behan- Planetenrädern. Die sogenannte ‚Twin Diff‘ Bauform
delt. beinhaltet sowohl das Vorderachsdifferenzial (mit
Mögliche Bauformen von Sperren sind: Kegelrädern) als auch das Zentraldifferenzial (Aus-
• automatische Sperren führung Torsen type C). In allen Varianten wird das
– drehzahlfühlend (Viscosperren u.a.) Sperrmoment durch die Zahngeometrie und die Reib-
– drehmomentfühlend (Torsen, GKN Power- flächenpaarungen abgestimmt.
lock®, Kronenrad Differenzial) Der große Vorteil der Torseneinheit ist die geringe
• extern geschaltete/geregelte Sperren Verspannung bei Kurvenfahrt, da vom Fahrzeug ge-
– vom Fahrer manuell betätigt wollte Differenzdrehzahlen zugelassen werden. Dies
– elektronisch gesteuert (Steyr ADM, Lamellen- gilt auch für den Bremsvorgang, sodass die Brems-
sperren u.a.) stabilität damit ähnlich wie beim offenen Differenzial
gegeben ist.
Zum Vergleich der Sperrensysteme wird häufig der Audi stellte im Jahr 2010 am Automobilsalon in Genf
sogenannte Sperrwert verwendet: im Modell RS5 erstmals das Kronenrad-Differenzial
S = (Mhigh – Mlow) × 100 / (Mhigh + Mlow) [%] vor und erweitert damit die Möglichkeiten im Allrad-
antrieb (Bild 5.5-7).
Ebenso gebräuchlich ist das Momentenverhältnis
(torque bias). Aufbau:
Das neue Kronenrad-Mittendifferenzial von Audi
Mlow : Mhigh = 1 : x folgt einem innovativen Prinzip. Sein zylindrisches
Gehäuse wird vom Getriebe angetrieben. In seinem
Torsen-Differenziale, GKN Powrlock®, Inneren drehen sich zwei Kronenräder, die ihre Be-
Kronenrad Differenzial zeichnung ihrer kronenartigen Verzahnungsgeometrie
Dies sind Differenzialeinheiten mit momentenabhän- verdanken. Das hintere Kronenrad treibt die Kardan-
giger Sperrwirkung. Innere Reibung erzeugt ein vom welle zur Hinterachse an, das vordere eine Beveloid-
Antriebsmoment abhängiges Sperrmoment. welle, die zum Differenzial der Vorderachse führt.
Der bekannteste Vertreter ist das Torsen Typ A (Bild Die Kronenräder werden durch vier geradverzahnte
5.5-6) mit gekreuzten Achsen der Ausgleichsräder. Ausgleichsräder angetrieben, die in 90 Grad Winkeln
Mit parallelen Achsen arbeiten der Typ B und GKN. zueinander angeordnet sind. Sie sind auf den gehäu-
Torsen Typ C ist ein schrägverzahntes Planetenge- sefesten Achsen drehbar gelagert. Hierdurch wird ein
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 321

a)

TORSEN® type A TORSEN® type B TORSEN® type C – Twin Diff

b) 2,0

1,8

1,6

1,4
Relative Zugkraft

1,2

1,0
6:1

:1
n3
sen

0,8
rse

en
off
To
Tor

0,6

0,4

0,2

0,0
0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9
Reibwert am μLow-Rad

Bild 5.5-6 a) Torsen Differenzial, Typ A bis C


b) Kennlinie

Kronenrad Vorderachsantrieb
Achse für Ausgleichsrad
Gehäuse (angetrieben)

Kronenrad Hinterachsantrieb

Sicherungsstift
4 Ausgleichsräder
Antriebs-Steckverzahnung
Außenlamelle
Innenlamelle
Gewindering

Bild 5.5-7 Kronenrad-


Differenzial
322 5 Antriebe

Drehzahlausgleich zwischen Vorder- und Hinter- Mit dem Einsatz von Fahrdynamik Regelsystemen
achse, wie er z.B. bei Kurvenfahrt notwendig ist, (ESP) wird eine Entkoppelung des Antriebes zwi-
möglich. schen den Rädern und Achsen notwendig. Da unge-
Bei exakt gleichen Drehzahlen an Vorder- und Hin- regelte, drehzahlsensierende Systeme (z.B. die Visco-
terachse drehen sich die beiden Kronenräder mit kupplung) üblicherweise diese Entkoppelungsfunkti-
gleicher Drehzahl wie das Differenzialgehäuse. Auf- on nicht aufweisen, sind diese Systeme mittlerweile
grund der speziellen Verzahnungsgeometrie weisen mehr oder weniger vom Markt verschwunden.
die Kronenräder unterschiedliche Zähnezahlen und
Eingriffspunkte auf verschieden großen Durchmes- Kupplungen mit externer Regelung
sern auf. In der Grundverteilung strömen 60 Prozent Die Kennlinie einer ungeregelten Kupplung ist immer
des Motormoments zum Differenzial der Hinterachse ein Kompromiss zwischen Traktion, Fahrdynamik,
und 40 Prozent nach vorne. Gesamtwirkungsgrad und Komfort.
Sperrwirkung: Durch eine externe Regelung erreicht man eine weit-
gehend kompromissfreie Erfüllung der Anforderun-
Bei der Einleitung von Antriebsmomenten über die gen.
Verzahnung der Ausgleichsräder entstehen axiale Bei derartigen Systemen können folgende Einflüsse
Kräfte wodurch beide Kronenräder nach außen ge- elektronisch erfasst und zur gezielten Antriebssteue-
drückt werden. Diese Axialkraft wird dazu benutzt, rung eingesetzt werden:
um Lamellenpakete hinter den Kronenrädern zusam- 1. Drehzahl der Räder
men zu drücken. Hierdurch wird ein Sperrmoment 2. Motormoment, Drosselklappenbewegung
erzeugt, es fließen bis zu 85 Prozent des Antriebs- 3. Bremssituation
moments nach hinten oder bis zu 70 Prozent an die 4. Fahrzeug-Sensorik (z.B. ESP-Signale)
Vorderachse. 5. evt. Lenkwinkel, Retourfahrt, Kupplung
Audi koppelt das Kronenrad-Mittendifferenzial mit 6. Sondersituationen (Abschleppen, Übertemperatur,
einer intelligenten Softwarelösung, der radselektiven Rollenprüfstand)
Momentensteuerung. Als Weiterentwicklung des ESP Die gewünschte Eigenlenktendenz wird über die
greift sie auf alle vier Räder zu. Der Bereich neutra- Antriebsmomentenverteilung als Funktion obiger Be-
len Fahrverhaltens wird erweitert, das Untersteuern triebsdaten vorgegeben.
beim Einlenken und Beschleunigen vermindert. Ein- Eine Verknüpfung der Steuergeräte für Motor, Ge-
griffe des ESP können später und weicher erfolgen – triebe und Bremsen erfolgt heute über ein BUS-
falls sie überhaupt noch notwendig sind. System.
Kupplungen mit selbsttätiger Die Anforderungen an geregelte Systeme beziehen
Momentenanpassung sich insbesonders:
Alle selbsttätigen Kupplungen reagieren auf die Diffe- • auf hohe Momentenübertragung bei sehr geringen
renzdrehzahl zwischen Ein- und Ausgang, die durch Differenzdrehzahlen, was optimale Traktion und
die Drehzahlunterschiede der Räder verursacht wird. einen guten Wirkungsgrad bei gleichzeitig niedri-
Diese sind aus unterschiedlichen Gründen immer ger thermischer Belastung bedeutet.
gegeben: Neben dem Antriebsschlupf oder dem • ein nahezu differenzdrehzahlunabhängiges Mini-
„Durchdrehen“ eines Rades ergeben sich Unterschie- malmoment und
de auch durch Kurvenfahrt, Durchmesserunterschiede • die ausreichend hohen Momentenauf- und -ab-
der Reifen, Brems- und ESP Manöver sowie Ab- baugeschwindigkeiten, um den Anforderungen der
schleppen oder Prüfstandsbetrieb. In allen Situationen Fahrdynamik und Bremsstabilität zu genügen
überträgt die Kupplung Drehmoment von der schnel- (Mmax → Mmin ≤ 100 ms).
len zur langsamen Seite. In manchen Fällen wie z.B. • die Möglichkeit das maximale Antriebsmoment
Bremsverhalten (siehe 5.5.1.9) sind die Auswirkun- zur geregelten Achse zu limitieren, wodurch die
gen negativ und im Fahrzeugverhalten zu beachten. Komponenten zur Drehmoment Übertragung klei-
ner und kostengünstiger dimensioniert werden
Viscokupplung können.
Viscokupplungen (Bild 5.5-8) zählen zu den Übertra- Mit Ausnahme der Viscomatic (siehe unten) werden
gungselementen mit systemimmanentem Verhalten, zur eigentlichen Drehmomentübertragung nasse
das sowohl zur selbsttätigen Antriebsmomentenver- Mehrscheibenkupplungen verwendet, die sich in den
teilung als auch zur automatischen, differenzdreh- eingesetzten Aktuatoren und damit auch in ihrem
zahlabhängigen Längs- bzw. Quersperre verwendet Übertragungs- und Regelverhalten unterscheiden.
wird. Die Momentenübertragung erfolgt durch Flüs- Die Viscomatic, die MAGNA Pro-aktive Kupplung
sigkeitsreibung zwischen den Kupplungslamellen als und die Haldex-Kupplung (bis Generation III) benut-
Folge einer aufgezwungenen Drehzahldifferenz zwi- zen die Differenzdrehzahl als Aktuatortreiber und als
schen Außen- und Innenteil. Regelgröße.
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 323

240
Innenlamelle Außenlamelle
220

200
u = 25 °C
180

160

Drehmoment [Nm]
Antriebswelle u = 80 °C
140

120

100

80
Gehäuse
60
Abtrieb v25 = 30 000 mm2/s
40

10 20
350
0
300 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120
8 Drehzahldifferenz Δn [min–1]
250
Visco-Kennlinie
Drehmoment [Nm]

Innendruck [bar]

Δn = 75 min–1
6
200 Drehmoment

150 4

100
Innendruck 2
50

0 0
20 40 60 80 100 120
Temperatur [°C]
Hump-Kennlinie

Bild 5.5-8 Kennlinien/Schnittbild VC-Kupplung

Bei Kupplungen mit reiner Fremdregelung werden Viscomatic©


Hydraulik oder Elektromechanik (Magnete oder Mo- Basis ist eine geregelte Viscobremse, die das Abstütz-
toren) verwendet, als Regelgröße dient demgemäß, moment der Sonne eines Planetengetriebes regelt.
etwas aufwändiger, direkt die Drehmomentverteilung. Der Aufbau (Bild 5.5-9) gliedert sich in die drei
Wesentliche Vertreter dieser Gruppe sind: Hauptgruppen:

Antrieb Abtrieb zur Hinterachse

Bild 5.5-9 Viscomatic


324 5 Antriebe

Lamellenkupplung
Druckspeicher
Steuerventil
Steuergerät

Bild 5.5-10 Haldex IV Kupplung Bild 5.5-11 Pro-aktive Kupplung von MAGNA
MAGNA Pro-aktive Kupplung
1. Planetengetriebe und Viscobremse Hier handelt es sich um ein hydraulisch aktuiertes La-
2. Hydraulik mellenkupplungssystem (Bild 5.5-11). Da die hyd-
3. Elektronik und Regellogik raulische Leistung aus der Differenzdrehzahl gene-
riert wird, kann dieses System den drehzahlfühlenden
Haldex© Systemen zugeordnet werden. Eine entsprechende
Ab-Regellogik für Fahrdynamik Regeleingriffe ist
Haldex Generation I und II: Auf Basis der Kombina- vorgesehen.
tion eines differenzdrehzahl-fühlenden Pumpensys-
tems (Taumelscheiben und Ringkolben) und einer BMW X-Drive
Lamellenkupplung wird die interne Bandbreite der Auch dieses zum Antrieb einer Vorderachse entwi-
Momentenübertragung durch externe Regelung er- ckelte System bedient sich einer Lamellenkupplung
weitert. Über ein fremdgesteuertes Ventil wird das mit Druckmodulation (Bild 5.5-12). Ein Elektromotor
Druckniveau im Hydraulikkreis und damit der aktuel- in Verbindung mit einem Kugelrampensystem setzt
le Betriebspunkt im sehr weiten, verfügbaren Regel- die vom Fahrdynamikregler ermittelte Soll-Dreh-
bereich eingestellt. Die Haldex Kupplung der III. Ge- momentverteilung in entsprechende Anpresskräfte
neration verwendet eine Vorladepumpe um bereits um. Zum Erkennen der Fahrsituation arbeitet das Sys-
bei kleinen Differenzdrehzahlen ein hohes Drehmo- tem mit der dynamischen Stabilitätskontrolle (DSC),
ment zu übertragen. Die neueste Haldex Kupplung dem elektronischen Stabilitätsprogramm (ESP) von
der IV. Generation (Bild 5.5-10) besitzt eine elekt- BMW, zusammen und erhält hierüber ständig die
risch angetriebene Pumpe und einen zusätzlichen notwendigen Informationen. Die Verteilergetriebe wer-
Kolbenspeicher, wodurch die Abhängigkeit des über- den in 2 Ausführungsformen eingesetzt, für SUV’s
tragenen Drehmomentes von der Differenzdrehzahl (X3, X5, X6) wird eine Zahnkette für den Vorder-
nicht mehr gegeben ist. Diese Ausführung bringt eine achsabtrieb verwendet, für Limousinen wird ein
weitere Verbesserung des Ansprechverhaltens. Stirnradabtrieb verwendet.

Bild 5.5-12 Schema und Bild BMW X-Drive


5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 325

GKN, JTEKT, BorgWarner Kupplungen


Diese Kupplungssysteme verwenden für die Aktuie-
rung einen Magneten, dessen elektronisch geregelte Übersetzungsglied:
Kraft auf eine Pilotkupplung wirkt (Bild 5.5-13). Drehzahlerhöhung/
Planetenrad- Drehzahlverringerung
Über ein Kugelrampensystem wird das Drehmoment
differenzial
der Pilotkupplung in eine Achsialkraft umgewandelt, Kupplungs-
diese aktuiert die Hauptkupplung. Das übertragene mechanismus

Drehmoment setzt sich hier aus den Drehmomenten


der Pilot- und Hauptkupplung zusammen.

ITCC

Abtrieb zur
Antrieb Bild 5.5-14 Mitsubishi AYC
Hinterachse

Torque Splitter – Funktionalität:


Als Torque Splitter bezeichnet man Systeme, die ein
Antriebsmoment zwischen den Achsen bzw. den
Rädern verteilen – in diesem Fall liegt jedoch eine
Abhängigkeit vom Antriebsmoment vor. Beispielhaft
Bild 5.5-13 Schema JTEKT – ITCC kann hier ein Achsantrieb mit jeweils einer geregelten
Kupplung zum Antrieb eines Rades genannt werden
Variable Drehmomentverteilung zur aktiven (z.B. Honda Legend). Die Notwendigkeit eines Diffe-
Beeinflussung des Gierverhaltens eines Fahrzeuges renzials entfällt in diesem Fall.
Um für sämtliche Fahrzustände (Hoch- und Niedrig- Mitsubishi Active Yaw Control
reibwert) ein ausgewogenes Fahrverhalten und eine und Active Center Differenzial:
verbesserte Fahrdynamik zu erreichen, bieten moder-
ne Allradsysteme Funktionalitäten für eine optimale Im Jahre 1996 wurde erstmals von Mitsubishi im
Antriebskraftverteilung zwischen den Achsen. Diese Lancer Evolution IV das sogenannte Active Yaw
Systeme werden zusätzlich durch Fahrdynamikregel- Control – System (AYC) vorgestellt und bis heute
systeme (ESP, DSC, . . .) unterstützt, welche die Sta- mittlerweile in der Evolutions Stufe X in Serie produ-
bilität eines Fahrzeugs erhöhen. Um die Gierbewe- ziert (Bild 5.5-14). Dieses stellt das erste Torque
gung eines Fahrzeugs aktiv zu beeinflussen, ist eine Vectoring – System in einem Serienfahrzeug dar. Ab
variable Momentenverteilung zwischen den Achsen der Version Evo VIII zeigt Mitsubishi die Möglich-
nur bedingt brauchbar – diese wirken sich nur bei keit auf, eine geregelte Zentraldifferenzialsperre
schneller Kurvenfahrt beziehungsweise bei hoher (ACD) mit einem Torque Vectoring Hinterachsge-
Ausnutzung des Seitenkraftpotentials zwischen Rei- triebe zu kombinieren.
fen und Fahrbahn aus. Eine variable Drehmomentver-
teilung zu den Rädern einer Achse kann jedoch unter
nahezu allen Fahrzuständen ein Giermoment um die
Fahrzeughochachse erzeugen.
Am Markt existieren bereits unterschiedliche Kon-
zepte, wobei man grundsätzlich von zwei System-
funktionalitäten sprechen kann:
Torque Vectoring – Funktionalität:
Mit Torque Vectoring bezeichnet man Systeme im
Antriebsstrang, die in der Lage sind, Moment zwi-
schen den Achsen und/oder zwischen den Rädern
einer Achse variabel und kontrolliert gesteuert bzw.
geregelt zu verteilen. Diese Verteilung kann unab-
hängig vom Antriebsmoment (z.B. Mitsubishi Lancer
Evo) erfolgen. Bild 5.5-15 Audi Sportdifferenzial
326 5 Antriebe

Audi Sportdifferenzial Honda Super Handling All Wheel Drive System


(SH-AWD) (Bild 5.5-17):
Seit dem Jahr 2010 bietet Audi für fast alle quattro
Modelle ein Sportdifferenzial mit Torque Vectoring (Grazer Allradkongress, Tagungsband 2005)
Funktion an (Bild 5.5-15). Durch das Differenzial Honda brachte im Jahr 2004 unter der Bezeichnung
wird die Antriebskraft zielgerichtet zwischen den Super Handling All Wheel Drive ein neues Antriebs-
beiden Hinterrädern verteilt, wodurch die Kurven- strangkonzept auf den Markt. Dieses kombiniert
dynamik deutlich gesteigert werden kann. einen längsverteilenden Kupplungsallrad mit einer
querverteilenden Momentenübertragungseinheit an
BMW Dynamic Performance Control im X6 und X5 M der Hinterachse – in diesem Fall handelt es sich um
Zwei Einheiten pro Achse erzeugen das geforderte ein Torque Splitter – System.
Vectoring-Drehmoment, welches ein Überlagerungs- Der Antriebsstrang basiert auf einem Frontantrieb,
moment zu den Achsantriebsmomenten darstellt das heißt die Vorderachse ist die primär angetriebene
(Bild 5.5-16). Ein Zahnradsatz überträgt das Vecto- Achse. Das vordere Differenzialgehäuse treibt zusätz-
ring-Drehmoment, welches durch eine elektromecha- lich über ein Umlenkgetriebe und eine Gelenkwelle
nisch aktivierte Kupplung gesteuert wird. die Hinterachse an. Mittels einer Planetengetriebestu-
fe kann über eine Kupplung eine Übersetzung zur
Hinterachse zwischengeschaltet werden.
Damit wird es insbesondere bei Kurvenfahrt, (bedingt
durch die kinematischen Verhältnisse der Raddreh-
zahlen) möglich, dem kurvenäußeren Hinterrad ein
positives Antriebsmoment zuzuführen, obwohl dieses
Rad schneller dreht als die durchschnittliche Drehzahl
der Vorderräder. Ein herkömmliches Hinterachsdiffe-
renzial kann entfallen, da die beiden elektromagne-
tisch betätigten Kupplungen schlupfend betrieben
werden.
Allradantriebe mit elektrischen Antrieben
auf der Sekundärachse:
Durch die Verbreitung von hybriden Antriebssyste-
men sind auch Kombinationen mit Allradsystemen
Bild 5.5-16 BMW Dynamic Performance Control möglich geworden. Eine mittlerweile etablierte Archi-

Beschleunigungskupplung
High/Low Beschleunigungseinheit
Geradeausfahrt:
Planetensatz mit Synchronlauf mit VA
Übersetzungsfehler Kurvenfahrt:
Drehzahlerhöhung der HA
Hydraulikaktuatorik
für Beschleunigungseinheit

Elektromagnetische Kupplung
unabhängige Verteilung von
Drehmoment
Kegelrad links/rechts und vorne/hinten

linke Magnetspule rechte Magnetspule


linker Planetensatz rechter Planetensatz
Bild 5.5-17 Honda SH-
linke Kupplung rechte Kupplung
AWD
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 327

Bild 5.5-18 Elektrischer Achsantrieb

tektur wird in der Form dargestellt, daß die hauptan-


getriebene Achse mechanisch angetrieben wird und
die zweite Achse über einen elektrischen Antrieb
verfügt (Bild 5.5-18). Mit dieser Architektur kann die
Forderung Traktion, Erhöhung der Fahrleistung durch
den elektrischen Kraftfluss (Boost) und die mögliche
Energierückgewinnung im Schubbetrieb (Rekuperati-
on bzw. Bremsenergie – Rückgewinnung) erfüllt
werden. Ein wesentlicher Vertreter dieses Konzeptes
ist der Lexus RX 450 H.
Dieses Allrad Konzept hat die Vorteile einer sehr
guten Regelgüte und den Entfall der Gelenkwelle.
Dem stehen die Nachteile der geringeren Leistungs-
dichte und die höheren Fertigungskosten gegenüber.
Elektrische Achsantriebe für die Hinterachse erfor-
dern üblicherweise aus zwei Gründen eine Abschalt-
möglichkeit des Elektromotors:
Bild 5.5-19 Schnittbild Renault Scenic RX4
• Fahrsicherheit im Fehlerfall des Systems
• Abkoppelung bei hohen Fahrgeschwindigkeiten
für die Verbesserung des Gesamtwirkungsgrades trieb ist hier eine eigene Baueinheit welche an das
Kupplungsgehäuse angeflanscht wird. Der Drehmo-
Um den Vorteil der Rekuperation von Energie zu mentenabgriff erfolgt am Ausgleichsgetriebegehäuse
nutzen, ist der Einsatz eines Energiespeicher notwen- über eine Steckverzahnung. Vorteile: Das Schaltge-
dig, der nach heutigem Stand der Technik mit einer triebe ist nahezu ident mit der Frontantriebsvariante
Batterie dargestellt wird. aufgebaut und damit können mit einem Winkelge-
triebe unterschiedlichste Wechselgetriebe mit gerin-
5.5.1.5 Getriebeabtriebe gen Aufwänden zu einem Allradantrieb adaptiert
Ausführungsbeispiele Front-Quer-Antrieb werden. Ausführungen mit gemeinsamen oder ge-
trenntem Ölhaushalt sind möglich.
Für den Einsatz in Fahrzeugen mit Front-Quer An-
ordnung der Antriebsaggregate eignet sich insbeson- Ausführungsbeispiele für Längsantrieb
dere das System der direkt angetriebenen Vorderach-
se und einer über eine Kupplung angetriebene Hinter- Bei Fahrzeugen mit Längsantrieb ergeben sich 2 Mög-
achse. Die Ausführung des Vorderachsabtriebs wird lichkeiten des Aufbaus.
von den Faktoren der Raumverhältnisse und der Ein, nach dem oder im Hauptgetriebe angeordnetes
Adaptierbarkeit der Basisgetriebe bestimmt. Verteilergetriebe wurde bereits in den im Bild 5.5-12
Im Fall des Renault Scenic RX4/Kangoo ist auf Basis (BMW X-drive) vorgestellt. Außer in den bereits
des Frontgetriebes ein Vorderachsabtrieb mit Stirn- beschriebenen Allradsystemen unterscheiden sich
radstufe und Hypoidtrieb in das Getriebe- und Kupp- diese beiden Verteilergetriebe durch die Art des
lungsgehäuse integriert, indem eine eigene Stirnrad- Seitenversatzes für die Antriebswelle zur Vorderach-
stufe an das Differenzialgehäuse angesetzt wird (Bild se. Die Verwendung eines ein- oder zweistufigen
5.5-19). Vorteil: Es kann der Kardanwellenstrang Zahnradsatzes ist typisch für den Einbau im beengten
optimal im Fahrzeug positioniert werden. Tunnel einer Limousine. Im SUV und Geländewagen
Die zweite dargestellte Ausführung basiert auf dem ist hingegen eine Zahnkette dominant in Verwen-
Schaltgetriebe MQ350 von VW für Fahrzeuge mit dung, die zwar etwas mehr Bauraum benötigt aber
4motion-Antrieb (Bild 5.5-20). Der Vorderachsab- kostenmäßige Vorteile bietet. Auch in den Kriterien
328 5 Antriebe

Bild 5.5-20 Schnittbild


VW MQ350 4motion

Wirkungsgrad und Geräusch ist die Kette zumindest Von der Getriebestruktur her werden dominant Plane-
gleichwertig. tengetriebe mit dem daraus resultierenden, typischen
Neben den eigentlichen Allradkomponenten ist in Übersetzungswert von 2,7 verwendet. In der Vergan-
einem Verteilergetriebe für den vollwertigen Gelän- genheit waren diese Getriebe nahezu ausschließlich
dewagen auch fast immer eine schaltbare Reduktions- unsynchronisiert und handgeschaltet, heute finden
stufe untergebracht (Bild 5.5-21). Mit einem ausge- immer mehr synchronisierte Getriebe mit Aktuatorbe-
führten Übersetzungsbereich zwischen 2 und 3 wer- tätigung (E-Motor) Verwendung.
den die Zugkraft erhöht bzw. die Geschwindigkeit In der Ausführung des AUDI Quattro (Bild 5.5-22)
entsprechend reduziert. sind die Funktionen Verteilerdifferenzial und Vorder-
achsgetriebe im Getriebe integriert.

Lamellensperre
Zentraldifferenzial 38/62
synchronisierte Schaltung

elektrische
Sperren-
betätigung

Gelände-
übersetzung 1:2,72
Bild 5.5-21 Verteiler-
getriebe mit Reduktionsstufe
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 329

Bild 5.5-22 Audi Vor-


derachsantrieb integriert
in Doppelkupplungs-
getriebe

5.5.1.6 Systemauswahl Mehrmasse des zusätzlichen Antriebsstranges sowie


die geänderte Steifigkeit infolge des Antriebsstranges
Wie bereits bei der Systematik der Allradantriebe eine Rolle. Bei quer eingebauten Motoren wird durch
ausgeführt, ist die Einteilung in die vier Gruppen den Antriebsstrang üblicherweise die Steifigkeit im
keine Wertung der Systeme. Frontcrash erhöht und damit die Deformation der
Maßgebend für eine Konzeptentscheidung sind alle in Fahrgastzelle verringert, wenngleich dies auch eine
einem Lastenheft für das Fahrzeug angeführten all- Erhöhung des Crashpulses bewirkt. Speziell defor-
radspezifischen Forderungen. Die wichtigsten Festle- mierbare Gelenkwellen (Crash-Element) werden ein-
gungen sind die Marktpositionierung, das zu erwar- gesetzt, um die Kraftübertragung der Gelenkwelle zu
tende Einsatzprofil in Kundenhand und die daraus limitieren.
sich ergebende Grundkonzeption des Fahrzeuges.
Weltweit gesehen ist die erhöhte Traktion noch im- 5.5.1.8 Geräusch- und Schwingungstechnik
mer die dominierende Kundenerwartung, für Europa Noise-Vibration-Harshness (NVH)
sind aber die fahrdynamischen Eigenschaften mindes-
tens ebenso wichtig. Die größere Anzahl an Bauteilen des Antriebsstran-
Gemeinsam sind die Forderungen nach niedrigsten ges von Allradfahrzeugen im Vergleich zu zweirad-
Kosten, geringem Gewicht und gutem Wirkungsgrad. getriebenen Fahrzeugen, stellt für den Fahrzeugakus-
Ein deutlicher Trend führt auch weg von allradspe- tiker eine besondere Herausforderung auf dem Weg
zifischen Bedienungsorganen, zumindest in Europa, zum geräuscharmen und komfortablen Automobil
und hin zur Forderung der absoluten Verträglich- dar. Hinzu kommt, dass die bei der Derivatentwick-
keit des Allradantriebes mit anderen Regelsystemen lung (d.h. 4 × 2 wird zu 4 × 4) in vielen Fällen not-
(ABS, ESP). wendigen Änderungen an der Fahrzeugstruktur, am
In Vergleichstabellen sind alle für das Fahrzeug rele- Fahrwerk und an der Abgasanlage, meist mit einer
vanten Systeme anzuführen und zu bewerten. Die Verminderung des Akustik- und Schwingkomforts
wichtigsten Kriterien dazu sind: einhergehen.
Aus Sicht der Fahrzeugakustik sind folgende Charak-
• Kosten des Gesamtsystems,
teristika am allradgetriebenen Fahrzeug von Bedeu-
• Traktion,
tung (siehe auch Kapitel 3.4):
• dynamisches Verhalten,
NVH-Verhalten der Einzelbauteile des Antriebsstran-
• aktive/passive Sicherheit,
ges (z.B. Getriebeeinheiten inkl. Sperren, Antriebs-
• Gewicht des Gesamtsystems,
wellen, Lamellenkupplungen): Spezielle NVH-Quel-
• Package,
len sind z.B. Slip-Stick Effekte bei Lamelleneinheiten
• Wirkungsgrad/Verbrauch,
und Torsen-Systemen, aber auch bei verspannten
• Wartung,
Differenzialen. Abhilfe kann durch spezielle Öle bzw.
• Bedienung,
Lamellenausführungen mit spezieller Oberflächen-
• Image.
qualität geschaffen werden.
Die Bedeutung dieser Kriterien ist von Fall zu Fall NVH-Verhalten des Systems Antriebsstrang (Torsi-
unterschiedlich. onsschwingungen, Biegeschwingungen, Schwingungs-
transfer, Geräuschabstrahlung) ist sehr stark beein-
5.5.1.7 Einfluss auf Crashverhalten flusst durch die erhöhte Anzahl an Aggregatlagerstel-
Auch auf das Crashverhalten hat der Allradantrieb len und damit Geräuschübertragungspfaden in den
wesentlichen Einfluss. Grundsätzlich spielen die Fahrzeuginnenraum.
330 5 Antriebe

Sehr kritisch sind die vermehrten Lastwechselschläge das Fahrdynamik-Regelsystem mit der Allradrege-
aufgrund möglicher Bewegungen der Abstützelemen- lung, um eine bestmögliche Synergie für das Fahr-
te. Diesen begegnet man mit sorgfältiger Abstim- verhalten zu bewirken.
mung der Aggregate und Achslagerungen und durch
gezielte Auslegung des Motor-Managements um ab- Literatur
rupte Antriebsmomentenstöße zu glätten. Auch ge- [1] Stockmar J.: Das große Buch der Allradtechnik. Motor-Buch
zielt eingesetzte Dämpfungs- oder Reibelemente brin- Verlag, Stuttgart 2004, ISBN:3613024365
gen Abhilfe. [2] Grazer Allradkongress (Veranstalter Magna Steyr): Tagungs-
bände 2000 bis 2009
Dynamische Steifigkeit der Fahrzeugstruktur in glo- [3] Mohan S.; Sharma A.: Torque Vectoring Axle and Four Wheel
balen (Fahrzeugverwindung) und lokalen (Schwin- Steering: A Simulation Study of Two Yaw Moment Generation
gungseinleitung) Schwingungsformen sind meist zu Mechanisms SAE 2006-01-0819
optimieren. [4] Shibahata Y.; Tomari T.: Direct Yaw Control Torque Vectoring
Auto Technology Volume No. 6, June 2006
Dies ist unter dem Aspekt zu sehen, dass für ein [5] SAE paper No. 2005-26-067: Double Differential Unit with
modernes allradgetriebenes Fahrzeug hinsichtlich des Torque Sensing Locking Device
Akustik- und Schwingungskomforts durchwegs die [6] Sacchettini P.: TORSEN Center Differential Grazer Allradkon-
gleichen Ansprüche gestellt werden, die man von gress, Graz, 2006
zweiradgetriebenen Fahrzeugen entsprechend des
Standes der Technik erwarten kann.

5.5.1.9 Dimensionierung
Für die Dimensionierung von Getrieben im Antriebs-
strang sind hauptsächlich zwei Lastfälle von Bedeu-
tung:
• Dauerbelastung nach Kollektiv, gemessen oder
synthetisch ermittelt.
• Gewaltbruchsicherheit unter Extrembelastungen
wie z.B. schnelles Einkuppeln, Verlust des Kraft-
schlusses einer Achse (oder eines Rades) beim
Beschleunigen oder im Off-Road-Betrieb. Als
Grenzwert gelten je nach Motorisierung entweder
das maximal mögliche Antriebsmoment oder das
Rutschmoment der Räder. 5.5.2 Antriebs- und Bremsregelung
• Um leichtere Antriebsstränge mit kleineren Di- 5.5.2.1 Unfallvorbeugende Sicherheit
mensionen zu erhalten, müssen beide oben ge-
nannten Belastungen reduziert werden. Das Kol- Ein zweckmäßig ausgelegtes Fahrwerk trägt mit
lektiv kann über die gezielte Kennliniengestaltung den Achsen, der Federung, Dämpfung, Lenkung und
der Allradkupplung gesenkt werden, das Maxi- Bremsanlage erheblich zur unfallvorbeugenden
malmoment durch geeignete Begrenzer limitiert Sicherheit bei. Im Zusammenhang mit der Massen-
werden. verteilung werden die Traktion, die Fahrstabilität und
das Eigenlenkverhalten des Fahrzeugs wesentlich
5.5.1.10 Allradantrieb und Regelsysteme beeinflusst.
Die Traktion hängt von der Achslast und dem verfüg-
ABS und Fahrdynamik-Regelsysteme (ESP) gehören baren Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn ab.
heute zur Standardausrüstung im Personenwagen und Die maximale Kraftübertragung ist dann erreicht,
auch im Nutzfahrzeug. wenn die Antriebsräder nicht durchdrehen und sich
Abhängig vom Koppelungsgrad der Achsen/Räder im Bereich des optimalen Antriebsschlupfs befinden.
erfolgt auch hier eine Rückwirkung durch den All- Beim Allradantrieb begrenzt diejenige Antriebsachse,
radantrieb. Beim ABS treten Probleme bei der die als erste den optimalen Schlupf übersteigt, die
Bildung der Referenzgeschwindigkeit auf (Abhilfe maximale Anfahrbeschleunigung oder Steigfähigkeit
Verzögerungssensor), bei ESP führt der Einzelbrems- des Fahrzeugs.
eingriff an einem Rad auch zu Brems/Antriebs- Die zwei Antriebsachsen eines Allradfahrzeugs er-
momenten an den anderen Rädern, die zwar deutlich lauben eine höhere Traktion als bei Einachsantrieb
niedriger sind, aber die Effektivität des Systems (Heckantrieb oder Frontantrieb). Durch besondere
trotzdem schmälern. Für volle ESP-Tauglichkeit er- technische Vorkehrungen (Traktionssysteme) kann
hebt sich die Forderung nach vollständiger Trennung sowohl bei Fahrzeugen mit Einachsantrieb als auch
des Drehmomentflusses zwischen den Antriebsrä- mit Allradantrieb eine nahezu vollständige Kraft-
dern. Moderne Fahrzeugregelsysteme kombinieren schlussausnutzung ermöglicht werden.
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 331

5.5.2.2 Traktionssysteme weiterung des Bremseneingriffs werden Systeme mit


Neben mechanischen Sperren finden sowohl bei Ein- zusätzlichen Motoreingriff eingesetzt, die außer der
achs- wie bei Allradantrieb Aggregate Verwendung, reinen Traktionsregelung auch eine Beeinflussung der
bei denen durch die elektronische Regelung mit Fahrstabilität ermöglichen (Stabilitätssysteme).
Fremdenergie (Hydraulik, Elektrik) eine Sperrfunk- 5.5.2.3 Stabilitätssysteme
tion realisiert wird (geregelte Sperren).
Neben den geregelten Sperren werden auch Allradsys- Systeme, die nicht einseitig die Traktionsoptimierung
teme mit geregelten Kupplungen, die im Bedarfsfall sondern auch die Fzg.-Stabilisierung in den Vorder-
die zweite Antriebsachse zuschalten, verwendet. Die grund stellen, erfordern zusätzliche Eingriffsmög-
Kombination dieser Systeme mit zusätzlichen Längs- lichkeiten in den Motor und ggf. weitere Sensorik, die
und Quersperren ist ebenfalls bekannt [1] (Kap. 5.5.1). eine Abschätzung des jeweiligen Fahrzustands gestat-
Ausführungsformen mit elektromagnetischer Längs- tet. Neben passiven Systemen, die auf Fzg.-Insta-
sperre und elektrohydraulischer Quersperre werden bilitäten mit einer Reduzierung der Kraftschlussbean-
ebenso verwendet [2] wie voll hydraulische Lösungen. spruchung an den Antriebsrädern reagieren, gibt es
Die elektronische Regelung der Sperren erfolgt anhand aktive Systeme, die durch ein gezieltes Aufbringen
der Radgeschwindigkeitssignale des ABS. Aus den von Korrekturmomenten (radindividueller Bremsen-
achs- oder seitenweisen Differenzgeschwindigkeiten eingriff) eine Stabilisierung des Fzgs. herbeiführen.
an Vorder- und Hinterachse kann das Steuergerät auf
erforderliche Eingriffe an den Sperren schließen. 5.5.2.3.1 Passive Systeme ASC, ASR
Aus Gründen der Aufwandsreduzierung kann die Passive Stabilitätssysteme verwenden in der Regel
Funktion der geregelten Sperren durch Bremsenein- ebenso wie ABS nur Eingangssignale der Raddreh-
griffe an den Antriebsrädern emuliert werden (Brems- zahlfühler, nur in Sonderfällen werden weitere Signa-
Sperr-Differenzial BSD) [3]. Dies setzt voraus, dass le verarbeitet. Stabilitätsregelsysteme wie ASC (Au-
eine ausreichende Bremsendimensionierung für eine tomatische Stabilitäts Control) [4] oder ASR (An-
längere Aktivierung des Bremseneingriffs vorliegt. triebs Schlupf Regelung) [5] bauen auf der Basis-
Werden die Regelbedingungen für einen Bremsen- hardware des ABS auf. Zweckmäßige Modifikationen
eingriff erfüllt, steuert die Pumpe des Bremsregelsys- der Aktorik und Elektronik passen das System für den
tems (ABS, ASC (5.5.2.3.1), DSC (5.5.2.3.2) Volu- erweiterten Aufgabenumfang an. Durch einen
men in die Bremse ein. Über die Magnetventile wird Schnittstellenverbund zum Antriebsstrang besteht die
sichergestellt, dass durch eine Pulsstufenregelung des Möglichkeit, Antriebsmomente in kritischen Situatio-
Bremsdruckes das Rad im Bereich optimalen Schlup- nen zweckmäßig zu modifizieren.
fes gehalten wird. Das gegenüberliegende Antriebs- Bild 5.5-23 zeigt den prinzipiellen Hydraulikaufbau
rad kann durch den Bremseneingriff ein entsprechend eines ASC-Systems für Fahrzeuge mit diagonaler
dem eingestellten Bremsmoment höheres Antriebs- Bremskreisaufteilung. Zur Regelung des Antriebs-
moment übertragen [4] . schlupfs an der Antriebsachse werden zusätzliche
Das Prinzip des Bremseneingriffs an der Antriebsach- Ventile zur Trennung des Hauptzylinders von den
se findet bei allen Antriebsarten Verwendung. In Er- Bremskreisen installiert, so dass an der Antriebs-

4 3 3 4

5 5
6
7 M 7

8 8

9 10 9 10 9 10
9 10

Bild 5.5-23 ABS/ASC-


HR VL VR HL
Hydraulikschaltplan
332 5 Antriebe

achse ein individueller BSD-Druckaufbau ermöglicht Ausführungen mit in die Betätigung integrierter
wird. Schlupfregelhydraulik haben sich wegen der damit
Über Schnittstellen zum Motor-Management können verbundenen Variantenvielfalt nicht durchsetzen
sowohl Diesel- als auch Ottomotoren in die Regelung können. Heute überwiegen bei konventionellen Ver-
eingebunden werden. Bei Überschreiten kritischer stärker-Bremsanlagen Systeme, die in Add-On-Tech-
Antriebsschlupfwerte wird über die Momenten- nik in die vorhandene Bremsanlage integriert werden
schnittstelle zur Motorsteuerung eine Reduktion des (Kap. 7.2).
Antriebsmomentes vorgenommen, wobei als Regel-
kreise die kombinerte Zünd-/Einspritzausblendung, 5.5.2.3.2 Aktive Systeme, DSC, ESP
die Zündwinkelverstellung sowie die Drosselklap- Stabilitäts- und Traktionssysteme erleichtern das
penregelung bei Ottomotoren bzw. die Einspritz- Befahren reibwertkritischer Fahrbahnen. Passive Sys-
mengen-Regelung bei Dieselmotoren zum Tragen teme, die im wesentlichen nur den Längsschlupf, der
kommt. aus den Raddrehzahlwerten abgeleitet wird, ausre-
Die Aktuatorik für die Drosselklappensteuerung er- geln, lassen in Abhängigkeit von der Fahrzeugge-
folgt überwiegend über eine elektronische Motorleis- schwindigkeit unterschiedliche Eingriffe an Bremse
tungsregelung (E-Gas). Bei Pkw Dieselmotoren wird und Motor zu. Sie wirken sich entweder in einer
auf die elektronische Regelung der Einspritzpumpe Antriebsmomentenreduktion oder einer Umverteilung
zurückgegriffen. des Antriebsmoments auf die Antriebsräder aus.
Bei Ottomotoren wird vereinzelt auf die Drosselklap- Durch die Verwendung zusätzlicher Fahrdynamik-
pe als Regelkreis verzichtet und stattdessen nur Sensorik (Querbeschleunigung, Gierrate, Lenkwin-
mit den Regelkreisen Zündung und Einspritzung ope- kel) lässt sich sowohl der Fahrzustand als auch die
riert. Fahrervorgabe hinsichtlich des beabsichtigten Fahr-
Um unerwünschte Pendelschaltungen während einer kurses ermitteln. Aus der Zielabweichung können
ASC-Regelung zu unterbinden, wird die ASC-Rege- dann die unterschiedlichen Stellorgane, die über den
lungs-Information an das Automatikgetriebe-Steuer- Schnittstellenverbund mit dem Steuergerät kommuni-
gerät übertragen. zieren, aktiviert werden. Die aktive Stabilisierung des
Die negativen Auswirkungen übermäßigen Brems- Fahrzeugs erfolgt über eine radindividuelle Druckbe-
schlupfs auf die Fahrstabilität an den Antriebsrädern aufschlagung der Radbremsen, um störenden Gier-
beim heftigen Einkuppeln während eines Rückschalt- momenten durch entsprechende Kompensationsmo-
vorgangs werden durch Regelkreise eliminiert, die mente zu begegnen, Bild 5.5-24.
durch einen gezielten Motoreingriff das Schleppmo- Solche Systeme – u.a. Dynamische Stabilitäts Control
ment reduzieren (Motor-Schleppmomenten-Regelung DSC [8], Elektronisches Stabilitäts Programm ESP
MSR). [9] – weisen neben der reinen DSC-Funktion zur
Mechanische Bremskraftregler an der Hinterachse Giermomentenkompensation durch Korrekturmomen-
werden weitgehend durch eine elektronische Rege- te als unterlagerten Regelkreis ebenso wie bei der
lung ersetzt, die sicherstellt, dass bei allen Brems- ASC die Cornering Brake Control CBC auf. CBC
vorgängen unabhängig von der Beladung und der verschleift den Übergang zum DSC-Eingriff und
Fahrsituation der Bremsschlupf der Hinterräder auch erlaubt hierdurch ein unter allen Fahrsituationen
bereits unterhalb der ABS-Eingriffsgrenzen in stabili- komfortables Eingreifen des Regelungssystems. Die
tätsunkritischen Bereichen gehalten wird (Elektroni- prinzipielle Wirkung von CBC und DSC ist in Bild
sche Bremskraft Verteilung EBV) [6]. 5.5-25 dargestellt.
Bei Bremsvorgängen während spezieller Fahrsitu- In mehreren Studien wurde die Unfall vermeidende
ationen – vorzugsweise bei Kurvenfahrt oder Fahr- bzw. Unfallfolgen reduzierende Wirkung dieser
spurwechsel – kann auftretenden Instabilitäten durch Systeme nachgewiesen. Durch den Einsatz von akti-
eine Cornering Brake Control CBC begegnet werden ven Fahrstabilitätssystemen können erhebliche Ein-
[7]. Die CBC bringt durch seitenweise unterschiedliche sparungen der Unfall-Folgekosten mit entsprechend
Bremskräfte Kompensationsmomente auf, die eine positiven Auswirkungen für die Volkswirtschaft
fahrzeug-stabilisierende Wirkung ermöglichen. erzielt werden (Kap. 9). Der elektrohydraulische
Der Zusammenbau von Steuergerät und Hydraulik- Aufbau von DSC/ESP erfordert neben den Magnet-
aggregat (Aktuatorik mit Pumpe und Magnetventilen) ventilen zusätzliche Drucksensorik, hinreichend aus-
führt zu kompakten Baueinheiten mit reduzierter gelegte Rückförderpumpen sowie bei gehobenen
Anzahl externer elektrischer Schnittstellen. Der Komfortansprüchen Sonderbauformen der Pumpe
Aufwand für die Verkabelung wird hierdurch mini- und eine stetige Regelung zumindest der Einlassven-
miert, da die Ansteuerung der Magnetventile und der tile, Bild 5.5-26.
elektrohydraulischen Pumpe durch interne Kontaktie- Durch Einsatz von Mehrkolbenaggregaten kann eine
rung erfolgt. Das Steuergerät mit Spulenträger wird wesentliche Glättung des Volumenstroms herbeige-
über einen „magnetischen Stecker“ mit der Hydrau- führt werden. Gepaart mit ausreichend dimensionier-
likeinheit verbunden. ten elektromotorischen Antrieben lassen sich Stabili-
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 333

chse
g -Längsa z
Fahrzeu Mstab
b
MGier x
v
ay y

a Schräglaufwinkel
b Schwimmwinkel
d Lenkwinkel
v Fahrzeuggeschwindigkeit
ay Fahrzeugquer-
FAh
beschleunigung
FAv FBh FSh FA Antriebskraft
FB Bremskraft
FBv FSv
FS Seitenkraft
MGier Fahrzeuggiermoment
ah
Mstab stabilisierendes Moment
av h hinten
d v vorne
Bild 5.5-24 Funktion DSC

CBC - Bremsmanöver in Kurve DSC bei übersteuerndem DSC bei untersteuerndem Bild 5.5-25 CBC und DSC
Fahrzeug Fahrzeug
bei Kurvenfahrt

sierungsleistungen erzielen, die den Einsatz dieser mit Hilfe von hydraulischen Verstärkern realisiert
Systeme weit in den fahrdynamischen Grenzbereich werden. Die höheren Kosten von Hydraulik-Verstär-
bei immer noch ausreichender Stabilisierung ermög- kerbremsanlagen haben bislang nur zu beschränkter
lichen. Verbreitung geführt.
Die Verwendung des Mehrkolbenaggregates ermög-
licht eine komfortable und akustisch unauffällige 5.5.2.3.3 Elektronisches Bremsen Management
Nutzung der Hydraulikpumpe herunter bis in den EBM
Stillstandsbereich des Fahrzeugs. Bild 5.5-27 zeigt Der aktive radindividuelle Bremseneingriff der Fahr-
eine Ausführungsform mit einer 6-Kolbenpumpe dynamik-Regelsysteme (5.5.2.3.2) ermöglicht die
(3 Kolben/Bremskreis) und einem Anbausteuerge- Realisierung umfangreicher zusätzlicher Funktions-
rät. umfänge, die unter dem Sammelbegriff des Elektro-
Für das Tieftemperaturverhalten der DSC wird durch nischen Bremsen Managements EBM zusammenge-
Sondermaßnahmen im Bereich des Hauptzylinders fasst werden. In Bild 5.5-28 ist ein morphologischer
und der DSC-Pumpe der negative Einfluss der Visko- Stammbaum des EBM exemplarisch dargestellt.
sitätszunahme bei tiefer Temperatur auf die Druck- Das EBM stellt die Verzögerungsschnittstelle zur
bereitstellung der Bremse nahezu eliminiert. Früher ACC (8.5.5) dar und ermöglicht darüber die Ab-
übliche aktive Verstärker oder elektrische Vorlade- standsregelung zu vorausfahrenden Fahrzeugen.
pumpen werden daher nur noch vereinzelt angetrof- Die Notbremsfunktion der Parkbremse (7.2.4.9) lässt
fen. über die Verwendung der hydraulisch/elektronischen
DSC Systeme können entweder in konventioneller Regeleinheit Verzögerungen bis zu 0,6 g durch aktive
Unterdruck-Verstärkertechnik integriert werden oder Druckbeaufschlagung beider Bremskreise zu.
334 5 Antriebe

MC2 MC1

USV2 USV1
HSV2 HSV1
P
U
DS_MC

RFP 2 RFP 1

EVRL EVRR EVFR EVFL


RVR 2 RVR 1
A2 A1

DS_RL AVRL AVRR AVFR AVFL DS_FL


U P
P U

RL RR FR FL

Bild 5.5-26 Hydraulikschaltplan DSC (Quelle: Robert Bosch GmbH)

Der hydraulische Bremsassistent (7.2.4.6) wird über oder als Fremdkraftbremse (5.5.2.4) ausgeführt sein
die Dynamic Brake Control DBC der EBM-Regel- (EHB, EMB).
einheit dargestellt.
Für Bergabfahrten im unteren Geschwindigkeits- 5.5.2.3.4 EBMx für Allradfahrzeuge
bereich besteht über die Hill Descent Control HDC Auf Basis des EBM lässt sich über den Bremsenein-
die Möglichkeit der Geschwindigkeits-Konstantfahrt griff sowohl die Funktion einer Längssperre als auch
z.B. auch auf reibwert-kritischen Fahrbahnen. die der Quersperren an Vorder- und Hinterachse
Fahrzeuggespanne werden mit Hilfe einer Anhänger emulieren. Hierdurch lässt sich ein sehr kostengünsti-
Stabilisierungs Logik ASL aus dem pendelkritischen ges Allradkonzept mit offenen Differenzialen reali-
Geschwindigkeitsbereich automatisch herabgebremst. sieren.
Das EBM kann in Verbindung mit konventioneller Spezielle Detektions-Algorithmen erkennen fehlen-
Betätigungstechnik (Verstärkerbremsanlage, 7.2.4.3) den Bodenkontakt einzelner Räder bei Geländefahrt

Bild 5.5-27 DSC/ESP


Aggregat mit 6-Kolben-
pumpe und Anbau-
Steuergerät
(Quelle: Robert Bosch
GmbH)
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 335

Elektronisches Bremsen Management sultiert in einer wesentlich spontaneren Beschleuni-


gung auf den dargestellten Fahrbahnverhältnissen
Gaspedal EBM Bremspedal
Eis/Asphalt.
Optimale fahrdynamische Verhältnisse liegen erst vor,
ACC DSC/DTC DBC wenn eine gezielte achsweise Querverteilung der
Antriebsmomente vorliegt (Kap. 5.5.1). Aus Auf-
wandsgründen wird man hier primär auf die Achse mit
MSR ASC GMR ASL HDC ABS dem höheren Achslastanteil fokussieren. In Ergänzung
der klassischen Fahrdynamikregelung über Bremse mit
+ radindividueller Eingriffsmöglichkeit, Antrieb und
-
DME AMR BMR CBC Längsmomentverteilung kann das resultierende Gier-
+ - - + moment zusätzlich über seitenweise unterschiedliche
Motor Bremse Antriebskräfte pro-aktiv beeinflusst werden.

Bild 5.5-28 Morphologischer Stammbaum EBM 5.5.2.3.5 Weiterentwicklung


Durch konsequente Systemintegration und Optimie-
und ermöglichen über einen schnellen Regeleingriff rungen in der Steuergeräte- und Hydraulik-Hardware
an den Bremsen der betroffenen Räder eine wesentli- wurde eine erhebliche Gewichts- und Bauraumein-
che Traktionsverbesserung. sparung im Laufe der Entwicklung erreicht.
Weitere Anwendungen des EBMx ergeben sich bei Die Anbausteuergeräte-Technologie hat sich bei der
Off-Road-Fahrzeugen über situativ zweckmäßig absoluten Mehrzahl aller Anwendungen zum Stan-
variierte Eingriffsgrenzen des ABS, die z.B. bei dard entwickelt. Bei wesentlich verbesserter Funktio-
Bremsungen auf Oberflächen mit losem Untergrund nalität wurde die Komponentenanzahl drastisch redu-
bei Geradeausfahrt bewusst ein Blockieren der Vor- ziert, gleichzeitig wurden Bauvolumen und Gewicht
derräder und somit ein „Eingraben“ mit entsprechen- mehr als halbiert.
der Verzögerung ermöglichen. Durch die Fortschritte auf dem Gebiet der Mikro-
Werden aus Gründen erhöhter Traktionsanforderun- elektronik wurden eine höhere Rechenleistung und
gen geregelte Sperren oder Kupplungen verwendet, ein wesentlich erweiterter Funktionsinhalt ermög-
lässt sich deren Ansteuerung ebenfalls über eine licht. Schnellere Prozessoren mit vergrößertem Spei-
zweckmäßig erweiterte Version des EBMx darstellen. cherplatz erlauben die Einbindung weiterer kunden-
Die gesamte Fahrdynamikregelung verfügt dadurch werter logischer Funktionen.
in Ergänzung zur Bremse und dem Motor über einen Die dargelegten Maßnahmen haben wesentlich zu der
dritten Regelkreis, mit dem gezielt die Verteilung der rasanten Verbreitung der Bremsregelsysteme bis in
Antriebsmomente beeinflusst werden kann. Fahrzeugklassen des Kompaktsegments beigetragen.
In Bild 5.5-29 ist der Vergleich des Zeitverhaltens Für Anwendungen mit besonderen Komfort- und
eines Allradsystems mit reiner Sperrenemulation über Funktionsansprüchen werden Optimierungen beste-
einen Bremseingriff zu einem System mit geregelter hender Systeme vorgenommen.
Mittenkupplung (xDrive [22]) dargestellt. Der erheb- Durch die Verwendung der EHB-Ventiltechnik
lich verbesserte Momenttransfer zur Vorderachse re- (5.5.2.4) kann der Schaltkomfort wesentlich verbes-

4x4 Bremseneingriff xDrive


HA

38 % 62 % M VA ca. 1600 Nm

low-μ low-μ
Drehmoment Drehmoment

M VA ca. 600 Nm (38 %)


M VA ca. 1600 Nm

T ca. 0,5 s T ca. 0,5 s

VA
Bild 5.5-29 Zeitverhalten
Zeit Zeit
1 sec 0,1 sec im Vergleich zu konven-
tionellem 4 × 4-Antrieb
336 5 Antriebe

sert werden. Optimierungen an der Rückförderpumpe lichst hoher Anteil der Verzögerungsenergie als
mit dem Ziel einer schnelleren Druckbereitstellung elektrische Energie zurückgewonnen werden soll.
und einer Reduktion der hydraulischen Pulsation füh- Eine Aktivierung der Reibungsbremse soll hier nur
ren zu einer Leistungsfähigkeit, die der der Fremd- bei voll geladenem Energiespeicher oder bei hohen
kraftbremssysteme EHB und EMB (5.5.2.3.2) sehr Verzögerungen erfolgen [34].
nahe kommt. Vorteilhaft ist dabei, dass weiterhin mit In allen anderen Fällen hat die Rekuperation über die
dem herkömmlichen 12 V-Bordnetz operiert werden als Generator arbeitende Elektromaschine zu erfolgen.
kann. Der Verzögerungswunsch des Fahrers führt entspre-
chend der Betriebsstrategie zu unterschiedlichen
5.5.2.4 DSC, ESP mit Fremdkraft-Bremsanlage Aktivierungen der generatorischen Bremsung sowie
Verstärker-Bremsanlagen erzeugen die Bremskraft der Reibungsbremse. Abhängig von der Betriebs-
am Rad über die Bremsbetätigung des Fahrers. Die bremsanlage – Brake-by-Wire oder Verstärkerbremse
Fahrerfußkraft erfährt hinsichtlich ihrer Wirkung auf – können zusätzliche Vorkehrungen erforderlich wer-
den Druckaufbau eine hydraulische oder pneumati- den, um spezielle Anforderungen aus dem Rekupera-
sche Verstärkung. tionsbetrieb erfüllen zu können.
Im Gegensatz zu der Verstärker-Bremsanlage wird Weitere pedalentkoppelte Ausführungsformen der
bei Fremdkraft-Bremsanlagen eine der Fahrerfußkraft Bremsanlage für Hybridfahrzeuge bestehen in Son-
proportionale Aussteuerung des Bremsmoments vor- derbauformen pneumatischer Verstärker, Bild 5.5-30
genommen. Hierzu kommen grundsätzlich elektro- die eine By-Wire-Funktionalität emulieren.
hydraulische (EHB) oder elektro-mechanische (EMB) EH-Systeme können entweder mit Speichertechnik
Systeme in Frage. und entsprechend zugeordneten stetigen Ventilen
Elektro-mechanische Bremssysteme sind ebenso wie kombiniert werden, oder es werden elektro-hydrau-
elektrohydraulische Systeme wegen ihrer elektroni- lische Plunger eingesetzt.
schen Signalübertragung dem Brake-by-Wire zuzu- Sowohl die EM-Lösung als auch die EH-Plunger-
ordnen. Ausführungsformen der EHB werden verein- lösung stellen erhöhte Ansprüche an die elektrische
zelt in Pkw’s verwendet, ein weiteres Einsatzgebiet Energieversorgung.
ergibt sich bei Fahrzeugen mit Hybridantrieb (Kap. Kombinationen von konventioneller Betätigung an
5.5.2.5). der Vorderachse und elektro-mechanischer Zuspan-
Während die bisherigen Ausführungsformen der EHB nung an der Hinterachse (Hybridbremse [23]) werden
über eine hydraulische Rückfallebene verfügen, ist vor dem Hintergrund der Beibehaltung des 12 V
dies bei der EMB nicht vorgesehen. Die EMB erfor- Bordnetzes diskutiert.
dert ein Systemdesign, das sowohl hinsichtlich der
Aktorik als auch im Hinblick auf Bordnetz und Da- 5.5.2.6 Sensorik
tenkommunikation spezielle Vorkehrungen hinsicht-
lich Verfügbarkeit und Hilfsbremswirkung erforder- Die Stabilitätsregelsysteme sind auf Sensorsignale an-
lich macht. gewiesen, die sowohl das Radverhalten als auch den
Die EMB kann als direkt elektro-mechanisch zuspan- Fahrzustand präzise beschreiben. Die wesentlichen
nender Sattel ausgeführt sein. Eine selbst verstärken-
de Variante stellt geringere Anforderungen an die
Höhe der Bordnetzspannung.
Der Übergang von Add-On-Systemen zu integrierten
Anlagen, die sowohl die Betriebsbremsfunktion als
auch die Funktion der Stabilitätsregelung einschlie-
ßen, kann mit Brake-by-Wire-Systemen erfolgen. Die
Brake-by-Wire-Lösungen können entweder als Elekt-
ro-Hydraulische-Bremse (EHB) [10] oder Elektro-
Mechanische-Bremse (EMB) [11] ausgeführt sein. In
beiden Fallen wird der Bremswunsch des Fahrers
sensiert und über ein Steuergerät in entsprechende
Stellbefehle an die Aktuatorik gegeben. Die Rück-
meldung über das eingestellte Bremsmoment erfolgt
entweder über Drucksensoren oder über eine direkte
Messung der Zuspannkraft.

5.5.2.5 Bremssysteme für Fahrzeuge


mit Hybridantrieb
Neue Aspekte der Systemauslegung ergeben sich bei Bild 5.5-30 Bremskraftverstärker für pedal-entkop-
Fahrzeugen mit Hybridantrieb, bei denen ein mög- peltes Bremssystem
5.5 Allradantriebe, Brems- und Antriebsregelungen 337

Bauarten sind die Raddrehzahlfühler und die Fahrdy- [5] Gaus, H.; Schöpf, H.-J.: ASD, ASR und 4MATIC: Drei Systeme
im „Konzept Aktive Sicherheit“ von Daimler-Benz. ATZ 88
namiksensoren.
(1986) 5, 6
[6] Kohl, G.; Müller, R.: Bremsanlage und Schlupfregelsysteme der
5.5.2.6.1 Raddrehzahlfühler neuen 3er-Baureihe von BMW – Teil 1. ATZ 100 (1998) 9
[7] Fischer, G.; Müller, R., Kurz, G.: Bremsanlage und Schlupfre-
Bei der Radgeschwindigkeitssensorik wird zwischen gelsysteme der neuen 5er-Reihe von BMW. ATZ 98 (1996) 4
„passiven“ und „aktiven“ Sensoren unterschieden. [8] Debes, M.; Herb, E.; Müller, R.; Sokoll, G.; Straub, A.: Dynami-
Passive Drehzahlfühler arbeiten nach dem Induk- sche Stabilitäts Control DSC der Baureihe 7 von BMW. ATZ 99
tionsprinzip und liefern ein zur Drehzahl proportiona- (1997) 3, 4
[9] Fennel, H.: ABS plus und ESP – Ein Konzept zur Beherrschung
les Spannungssignal, das über entsprechende Ein- der Fahrdynamik. ATZ 100 (1998) 4
gangsbeschaltungen im Steuergerät verarbeitet wird. [10] Jonner, W.-D.; Winner, H.; Dreilich, L.; Schunck, E.: Electrohy-
Der Drehzahlfühler tastet eine Impulsscheibe ab, die draulic Brake System – The First Approach to Brake-by-Wire
entweder als eigenständiges Bauelement im Achsbe- Technology. SAE Paper 960991
[11] Bill, K.-H.; Semsch, M.: Translationsgetriebe für elektrisch
reich angordnet ist oder im Radlager integriert wird. betätigte Fahrzeugbremsen. ATZ 100 (1998) 1
Da die Bewegung der Impulsscheibe Voraussetzung [12] Rittmannsberger, Norbert: Der Drehratensensor für die Fahr-
für die Spannungserzeugung des Sensors ist, lassen dynamikregelung. ATZ/MTZ Sonderausgabe System Partners
passive Sensoren keine Nullgeschwindigkeits-Mes- 97
[13] Fischer, G.; Heyken, R.; Trächtler, A.: Aktive Gespannstabilisie-
sung zu. rung beim X5. ATZ 4/02, Jahrgang 104
Aktive Systeme basieren auf dem Hall Effekt oder [14] Schopper, M.: Sensotronic Brake Control (SBC) – die elektro-
nutzen das magnetoresistive Prinzip. Diese Sensoren hydraulische Bremse von Mercedes-Benz, Bremsen und Brems-
können bereits aus dem Stillstand heraus ein Ge- regelsysteme, Haus der Technik e.V., 25. – 26. 09. 2002, Essen
[15] Leffler, H.: Electronic Brake Management – A Possible Approach
schwindigkeitssignal abgeben. Durch ihre Span- for Brake and Control System Integration. FISITA 1996, Prag.
nungsversorgung ist bei aktiven Sensoren ein größe- [16] Leffler, H.: Traktions- und Stabilitätsregelung des BMW X5.
rer nutzbar Luftspaltbereich zwischen dem Polrad Haus der Technik e.V., Allradtechnik. 10. – 11. 02. 2000, Graz
und dem Sensor möglich. Eine weitere Steigerung [17] Ayoubi, M.; Leffler, H.: Elektronisches Chassis Management
am Beispiel des neuen 7er BMW. Steuerung und Regelung
möglicher Luftspalte ergibt sich mit Einsatz von von Fahrzeugen und Motoren – Autoreg 2002. 15. – 16. 04. 2002
kodierten (aufmagnetisierten) Impulsscheiben. [18] Ayoubi, M.; Köhn, Ph.; Leffler, H.: Fahrwerksregelung – Sys-
teme und ihre Vernetzung. 4. Braunschweiger Symposium „Au-
5.5.2.6.2 Fahrdynamiksensorik tomatisierungs- und Assistenzsysteme für Transportmittel“.
Braunschweig, 11. 12. 2002
Außer der Radgeschwindigkeitsinformation sind für [19] Beiker, S.: Verbesserungsmöglichkeiten des Fahrverhaltens von
fahrdynamische Regelsysteme mit aktiver Brems- Pkw durch zusammenwirkende Regelsysteme. Fortschritt-Be-
richte VDI. Reihe 12, Verkehrstechnik/Fahrzeugtechnik, Nr.
krafteinsteuerung Sensoren zur Erfassung der Fahr- 418, 2000
dynamik erforderlich. Die Sensorsignale für die Gier- [20] Brösicke, G.: Das Parkbremssystem des neuen 7er BMW.
rate [12], die Querbeschleunigung und den Lenkwin- BremsTech 2002. 12. – 13. 12. 2002, München
kel werden zur Ermittlung des Soll- und des Istkurses [21] Ayoubi, M.; Leffler, H.: Elektronische Fahrwerks-Regelsysteme
am Beispiel des neuen 7er BMW. 6. Tagung der Sächsischen
verwendet. Um Übergangszustände genauer unter- Zulieferindustrie. Chemnitz, 10. 10. 2002
scheiden zu können, wird zusätzlich der Bremsdruck [22] Foag, W.; Leffler, H.: Prospects and Aspects of an Integrated
sensiert. Chassis Management. SAE Automotive Dynamics & Stability
Die Lenkwinkelsensorik zur Ermittlung des Fahrer- Conference. May 15. – 17., 2000
[23] Fischer, G.; Müller, R.: Das elektronische Bremsenmanagement
wunsches bei DSC-Systemen muss neben der ak- des BMW X5. In: ATZ 102 (2000) Nr. 9 S. 764 – 773
tuellen Lenkradstellung auch den Lenkwinkelbereich [24] Ertl, Chr.; Müller, R.; Schenkermayr, G.: Der neue BMW 330d
erfassen können. Neben Sensoren in Potentio- – Fahrdynamik und Stabilitätsregelung. In: ATZ 101 (1999)
meter-Technologie werden auch digitale Sensoren auf Nr. 10 S. 792 – 80
[25] Leffler, H.: BMW Fahrwerksregelsysteme – Status und Aus-
opto-elektronischer oder Hall-Effekt-Basis verwen- blick. 4. Grazer Allradkongress, 13. – 14. 02. 2003
det. [26] Foag, W.; Ayoubi, M.; Zimprich, W.; Leffler, H.: High End
Drucksensorik ist sowohl bei Brake-by-Wire Lösun- Brems-Regelsysteme: Wohin geht die Reise? BremsTech 2004,
gen als auch bei konventionellen DSC-Systemen mit München, 09. – 10. 12. 2004
[27] Leffler, H.: Der fahrdynamische Allrad von BMW. 6. Grazer
Verstärkertechnik erforderlich. Allradkongress. Graz, 03. – 04. 02. 2005
[28] Leffler, H.; Ayoubi, M.; Billig, Ch.: xDrive: die Allradtechnik im
Literatur 3er BMW. 15. Aachener Kolloquium, 2006
[29] Pfau, W.; Rastel, H.; Nistler, G.; Billig, Ch.; Straub, M.: BMW
[1] Schöpf, H.-J.: Mercedes-Benz Fahrdynamik-Konzept, ASR, xDrive in der 3er und 5er Reihe. Der BMW Allradantrieb für
ASD und 4MATIC. Autec 1986. Limousinen. ATZ 10/2005
[2] Sagan, Erich; Stickel, Thomas: Der neue BMW 525iX- [30] Leffler, H.; Schnabel, M.: Automotive Applications of Mecha-
Permanentallradantrieb mit elektronisch geregelten Sperrdiffe- tronic Systems: State of the Art and Future Prospects. IFAC
rentialen. ATZ 94 (1992) 4 Congress on Mechatronic Systems, 12.–14. 09. 2006, Heidelberg
[3] Müller, A.; Heißing, B.: Das Fahrwerk des Audi A4. 5. Aachener [31] Leffler, H.: BMW 3er und 5er mit xDrive+. 7. Grazer Allrad-
Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, Aachen, Oktober kongress, 2006
1995 [32] Kemper, H.; Ruetten, O.; Jentges, M.; Schlosser, A.: Betriebs-
[4] Leffler, H., Entwicklungsstand der ABS-integrierten BMW strategien von Hybridfahrzeugen, Funktionen und Applikatio-
Schlupfregelsysteme ASC und DSC. ATZ 96 (1994) 2 nen. 15. Aachener Kolloquium, 2006
338 5 Antriebe

[33] Meder, K.: Innovative Bremsregelsysteme – Verbindung von Schwingungstilger, etc. werden je nach Fahrzeug-
Sicherheit, Dynamik und Komfort. 57. Internationales Motor
und Motorkonzept in der Abgasanlage zu einem Ge-
Presse Kolloquium 2005, Robert Bosch GmbH, Boxberg
[34] The Regenerative Braking System (Prius) In: Auto Technology samtsystem zusammengefügt.
Feb. 2005. Special: Toyota Prius, S. 60/61 Der Abgaskrümmer ist das erste Bauteil einer Fahr-
[35] Kurz: Das Fahrwerk des neuen 5er BMW, geprägt durch moder- zeugabgasanlage nach dem Motor. Die Hauptaufgabe
ne Kundenanforderungen; Vortrag „chassis.tech“ 2010
des Krümmers ist, die Abgasströme aus den Auslass-
kanälen des Motors zusammenzuführen. Die Krüm-
mergestaltung und die Gestaltung der am Krümmer
oder Abgasturbolader angebundenen Rohre bzw.
Katalysatoren haben einen erheblichen Einfluss auf
das Leistungs- und Drehmomentverhalten des Motors
sowie auf das Emissionskonzept des Fahrzeugs. Beim
5.6 Abgasanlagen 4-Zylindermotor werden daher im Regelfall die
5.6.1 Aufgaben der Abgasanlage Krümmerrohre der Zylinder mit maximalem Zündab-
stand zuerst zusammengeführt (Zylinder 1 und 4,
Abgasanlagen führen das bei der Verbrennung des bzw. 2 und 3), um eine negative Beeinflussung der
Kraftstoff-Luftgemisches im Motor entstehende Ab- Gaspulsationen auf den Ladungswechsel zu minimie-
gas ins Freie. Die Abgasanlage übernimmt die Reini- ren.
gung des Abgases und die notwendige Dämpfung des Die transiente Wärmekapazität des Krümmers spielt
Abgasgeräusches. Dabei müssen gesetzlich vorge- für die Schadstoffemission ebenfalls eine wichtige
schriebene Grenzwerte erreicht werden. In modernen Rolle und sollte möglichst gering sein, um ausrei-
Dieselabgasanlagen findet zusätzlich die Filterung chend Wärme für nachgeschaltete Katalysatoren be-
und Verbrennung von Rußpartikeln statt, sowie die reit zu stellen.
Umwandlung schädlicher NOx-Bestandteile in N2. Ein Turbolader dämpft die Pulsationen des Motors
Durch die Abstimmung der Abgasanlage an den durch seine Turbinenschaufeln. Turbomotoren erfor-
Motor wird dessen Leistungs- und Drehmomentver- dern deshalb weniger aufwendige Abgasanlagen als
mögen positiv beeinflusst. Zusätzliche Anforderun- Saugmotoren.
gen wie fahrzeugtypischer Sound, geringes Gewicht Katalysatoren vermindern bzw. eliminieren die Ver-
(Kraftstoffverbrauch), Dauerhaltbarkeit, Optik (z.B. brennungsschadstoffe im Abgas von Otto- und Die-
Endrohre) vervollständigen das Aufgabenspektrum selmotoren durch Oxidations- oder Reduktions-
einer Abgasanlage. vorgänge. Als Katalysatoren kommen in der Regel
Eine Abgasanlage besteht prinzipiell aus Abgas- wabenartige Strukturen zum Einsatz, die längs durch-
krümmer, Katalysatoren, Partikelfilter (bei Diesel), strömt sind und eine große überströmte Oberfläche
Sensorik, Schalldämpfer, Endrohr, Aufhängungen, für die Katalyse der chemischen Reaktionen bieten.
Rohrleitungen, Verbindungselementen (Bild 5.6-1). Je nach Anforderung werden ein oder mehrere Kata-
Weitere Bauteile, wie z.B. Abgasrückführleitung, lysatoren eingesetzt. Bei der Platzierung unter-
Turbolader, Entkopplungselemente, Abgasklappe, scheidet man motornahe Katalysatoren (direkt nach

Beispiel Abgasanlage a) Diesel b) Otto

1 2.3 3 4 5 7 8 6 9

a)

b)

6 9

2.1 2.2 4 6

1 Abgaskrümmer, 2.1 Vorkatalysator, 2.2 Unterbodenkatalysator, 2.3 Motornaher Katalysator,


3 Entkoppelelement, 4 Sensorik, 5 Dieselpartikelfilter, 6 Mittel-, Nachschalldämpfer, Bild 5.6-1 Beispiele
7 Verbindungselemente, 8 Rohrleitungen, 9 Endrohre
moderner Abgasanlagen
5.6 Abgasanlagen 339

Krümmer bzw. nach Turbolader), Stirnwand-Kataly- Verbindungselemente. Für die Montage, bzw. Demon-
satoren (im Motorraum jedoch mit Abstand zum tage wird eine Abgasanlage in Baugruppen aufgeteilt.
Turbolader bzw. Krümmer) und Unterboden-Kata- Als wieder montierbare Verbindungen werden Flansch-
lysatoren. Ziel ist ein möglichst schnelles Anspringen verbindungen, Rohrschellen, V-Bandschellen, Kugel-
des Katalysators, was durch eine motornahe Positio- schellen und Verbindungshülsen eingesetzt.
nierung erreicht werden kann. Aufhängungen halten die Abgasanlage an dem Fahr-
Dieselpartikelfilter dienen zur Reduktion von Parti- zeug fest. Dabei soll die Übertragung von Schwin-
kelemissionen bei Dieselmotoren, deren Abgase gungen der Abgasanlage an die Karosserie durch
außer den gasförmigen auch feste Schadstoffe in vibrationsdämpfende und schwingungsausgleichende
Form von Rußpartikeln enthalten. Im Gegensatz zu Gummielemente vermindert werden. Die Aufhän-
Katalysatoren wird bei Partikelfiltern das Grundmate- gung der Abgasanlage sollte vorzugsweise in den
rial direkt durchströmt, wodurch die Partikel im Filter Schwingungsknoten des Gesamtsystems erfolgen.
verbleiben. Ruß, der Hauptbestandteil der Partikel
wird durch Oxidation mit im Abgas enthaltenem 5.6.2 Katalysatoren
Sauerstoff (O2) oder Stickstoffdioxid (NO2) entfernt.
Bei diesem als Regeneration bezeichneten Vorgang Die Emissionen von Verbrennungsmotoren enthalten
verbleiben nicht oxidierbare Bestandteile als Asche im Idealfall nur die Produkte vollständiger Verbren-
im Filter. nung, also Wasser (H2O) und Kohlendioxid (CO2).
Sensoren im Abgasstrang für chemische und physika- Von realen Motoren werden jedoch neben den Pro-
lische Größen dienen der Funktionsüberwachung und dukten einer idealen Verbrennung eine Reihe von
der Regelung von Abgasreinigungssystemen. unerwünschten Abgaskomponenten emittiert. Gesetz-
Die für die Regelung beim Otto-Motor notwen- lich limitiert sind die Emissionen von Kohlenwasser-
dige Kenntnis des Sauerstoffgehaltes im Abgas wird stoffen (HC), Kohlenmonoxid (CO), Stickoxiden
durch Lambdasonden direkt gemessen und von der (NOx) sowie Partikeln (PM). Zur Minderung gas-
Motorsteuerung entsprechend verarbeitet. Je nach förmiger unerwünschter Abgaskomponenten werden
Abgasanlagenkonfiguration kommen auch NOx-Sen- Katalysatoren eingesetzt, bei Dieselmotoren auch
soren, Temperatur- und Druckmesssonden zum Ein- Abgasrückführung.
satz. Die Katalysatoren im Automobilbau bestehen aus
Schalldämpfer sind meist eine Kombination ver- feinzelligen wabenförmigen Strukturen aus kerami-
schiedener Dämpfungsmechanismen. Durch gezielte schen oder metallischen Werkstoffen. Man unter-
Auslegung eines Schalldämpfers und durch seine scheidet zwischen beschichteten Systemen, bei denen
Lage im Abgassystem wird sowohl die Dämpfung der der Monolith aus einem Träger, einer inerten Matrix,
Gaspulsationen als auch das gesamte mechanische besteht auf die eine katalytisch aktive Beschichtung
Schwingverhalten stark beeinflusst. In typischen aufgebracht ist und Vollextrudaten, bei denen die
Abgasanlagen finden sich neben den Nachschall- Aktivkomponente in der gesamten Matrix gleichmä-
dämpfern auch Mittel- und Vorschalldämpfer. Bei ßig verteilt ist. Bei beschichteten Systemen wird auf
Dieselmotoren wird auf diese vorderen Schalldämp- den Träger ein Washcoat aufgebracht, der die Aktiv-
fer zunehmend verzichtet, da Partikelfilter und Kata- komponente enthält. Der Washcoat hat dabei zwei
lysatoren bereits ein ausreichendes Dämpfungsverhal- Funktionen: Zum einen ist er für die dauerhafte
ten aufweisen. Im Schnitt wird für die Auslegung der Verbindung von Träger und Beschichtung verant-
Größe einer Schalldämpferanlage beim Ottomotor wortlich, zum anderen vergrößert er aufgrund seiner
das 10 fache des Hubvolumens angesetzt. Dieser Wert mikroskopischen Struktur die aktive Oberfläche. Die
kann allerdings stark variieren, je nachdem ob es sich Zelldichte der Monolithe reicht je nach Einsatz-
um ein betont sportliches oder limousinenhaftes fall von 200 cpsi (Zellen pro Quadratzoll) bis hin
Fahrzeug handelt. Neben der Erfüllung gesetzlicher zu 1.200 cpsi, mit Wandstärken zwischen 12 mil
Geräuschvorschriften gewinnt die Erzeugung eines (≈ 0,3 mm) bei Vollextrudaten und 2 mil zuzüglich
markentypischen und fahrzeugtypischen (z.B. Road- Beschichtung bei Metallträgern.
ster) Klangbilds des Abgasgeräusches zunehmend an Dünnwandige, hochzellige Substrate haben besseres
Wichtigkeit. Umsetzungsvermögen, weil sie hohe aktive Oberflä-
Die Rohrleitungen einer Abgasanlage verbinden die che mit schnellem Anspringverhalten nach dem
einzelnen Abgaskomponenten zu einem abgestimm- Kaltstart verbinden.
ten System. Die Länge und der Querschnitt der Rohre Konventionelle Ottomotoren sind standardmäßig mit
sowie die Art der Zusammenführung beeinflussen die Dreiwegekatalysatoren ausgerüstet. Durch die Rege-
Leistungscharakteristik und das akustische Verhalten. lung des Verhältnisses von Kraftstoff und Verbren-
Isolierte Rohre (z.B. durch Luftspalt) verändern den nungsluft auf das stöchiometrische Verhältnis λ = 1
Wärmehaushalt in einer Abgasanlage und beeinflus- im Abgas, werden die HC- und CO-Emissionen am
sen damit das Anspringverhalten des Katalysators Katalysator zu H2O und CO2 oxidiert und umgekehrt
entscheidend. das NOx zu Stickstoff (N2) reduziert (Kapitel 5.1.5.6).
340 5 Antriebe

Mager betriebene Ottomotoren verbrennen bei Sauer- ren bei denen die Partikel in den Poren durch Tiefen-
stoffüberschuss. Daher werden bei diesen Motortypen filtration abgeschieden werden sind in der Entwick-
die HC- und CO-Emissionen mit reinen Oxidations- lung. In beschränktem Umfang v.a. im Non-Road
katalysatoren umgesetzt. Zur Verminderung der NOx- Bereich kommen auch andere Systeme wie Faserfilter
Emissionen wird bei mager betriebenen Ottomotoren zum Einsatz.
ein NOx-Speicherkatalysator eingesetzt. Dieser Kata- Durch die kontinuierliche Einlagerung von Ruß und
lysator speichert im Betriebszustand λ > 1 das vom Asche im Filter steigt der Abgasgegendruck. Um dem
Motor emittierte NOx in Form von Metallnitrat. entgegenzuwirken muss der Ruß in regelmäßigen
Sobald der Katalysator seine maximale Speicher- Abständen abgebrannt werden („Regeneration“). Bei
kapazität erreicht hat wird im Motorbetriebszustand diskontinuierlicher thermischer Regeneration wird
λ = 1 das gebundene NOx in Form von NO2 wieder durch die Motorsteuerung die Abgastemperatur über
ausgetrieben. die Zündgrenze von Ruß auf ca. 650 bis 700 °C
Eine weitere Technologie zur NOx-Nachbehandlung angehoben. Der Ruß brennt mit O2 ab. Um die Zünd-
ist die SCR-Technologie (Selektive Katalytische temperatur des Rußes herabzusetzen und eine voll-
Reduktion). Hierbei wird im Katalysator mittels der ständige Regeneration des Filters zu gewährleisten
kontinuierlichen Eindüsung einer wässrigen Harn- werden teilweise katalytisch wirksame Kraftstoff-
stofflösung (AdBlue) das NOx zu Wasser und Stick- Additive verwendet Die dabei entstehenden Additiv-
stoff umgewandelt (Kapitel 5.1.5.6). Aschen verringern zusätzlich zu den vorhandenen
Ölaschen jedoch die Lebensdauer des Filters.
5.6.3 Partikelfilter Rein motorische Maßnahmen zur Erhöhung der Ab-
Partikelemissionen sind hauptsächlich ein Problem gastemperatur erlauben eine Filterregeneration nicht
bei Dieselmotoren und im geringen Maße auch von unter allen Betriebsbedingungen. In Ergänzung dazu
direkt einspritzenden Ottomotoren. Das Größenspekt- besteht die Möglichkeit, nachmotorisch Kraftstoff
rum der Partikel hat typischerweise ein Maximum bei beispielsweise durch Verdampfung ins Abgas einzu-
ca. 100 nm. Diese Partikel sind Agglomerate von bringen. Oxidation des Kraftstoffs an vorgeschalteten
Kohlenstoff-Kernen mit angelagerten Kohlenwasser- Katalysatoren oder an selbst katalytisch beschichteten
stoffen. Ein weiterer Bestandteil ist Asche, die sich Filtern erhöht die Abgastemperatur auf das für die
sowohl in den Kondensaten (als Kondensationskeim) Regeneration nötige Niveau (Bild 5.6-2).
als auch in den Agglomeraten findet (Kapitel 5.2.9). Die Reaktion zwischen NO2 und Ruß wird zur konti-
Zur Eliminierung der Partikel aus dem Abgas werden nuierlichen Regeneration ausgenutzt. Diese Reaktion
derzeit hauptsächlich Filter aus keramischen Mono- findet schon bei Temperaturen um 250 bis 300 °C statt.
lithen verwendet. Dabei sind die Kanäle wechselsei- Wesentlichen Einfluss auf die Regeneration eines
tig auf der Ein- bzw. Auslassseite verschlossen. Das Partikelfilters haben die Anströmung und die Vertei-
Abgas passiert die Kanalwand und Partikel werden lung der Rußbeladung über den Filterquerschnitt.
dabei weitestgehend durch Oberflächenfiltration als Eine möglichst homogene Strömungs- und Tempera-
Filterkuchen zurückgehalten. Derzeit am häufigsten turverteilung führen zu einer gleichmäßigen Bela-
eingesetzte Filtermaterialien aus Siliziumkarbid (SIC) dung des Filters. Gleichmäßige Rußverteilung ist
haben Porositäten bis 40 %. In der Entwicklung sind wiederum eine Voraussetzung für eine über das ganze
hochporöse Substrate mit über 60 % Porosität. Filtervolumen vollständige Regeneration bei gleich-
Andere Strukturen wie keramische oder metallische zeitig minimierter thermischer Belastung für das Fil-
Schäume und hochporöse metallische Sinterstruktu- tersubstrat.

900 90
Kraftstoff-Verdampfer
800 80
Gegendruck Temperatur nach FIlter
700 70
600 60
Temperatur [°C]

Druck [mbar]

500 Temperatur 50
vor Filter
400 40
Oxidations-
Katalysator 300 30
200 20
100 10
verdampfte Kraftstoffmenge
Rußfilter 0 0
0 100 200 300 400 500 600 700 800
Regenerationsdauer [sec]

Bild 5.6-2 Außermotorische Regenerationsunterstützung mittels Kraftstoff-Verdampfer


5.6 Abgasanlagen 341

5.6.4 Canning und Monolith-Lagerung Geometrische Toleranzen ergeben sich im Herstel-


lungsprozess der Substrate während dem Extrudieren
Als Canning bezeichnet man die Lagerung von Subs- und Handling des Rohlings und während dem Tem-
traten oder Trägern in einem metallischen Gehäuse, pern im Ofen. Im Canningprozess müssen diese Ein-
das in den Abgasstrom eingesetzt wird. Keramische flüsse dahingehend berücksichtigt werden, dass bei
Substrate sind Monolithe, die durch hohe Druckfes- genügend Haltekraft (im Betrieb) die Prozessparame-
tigkeit in Längsrichtung aber durch geringe mechani- ter beim Schließen des Gehäuses ausreichend toleriert
sche Stabilität quer zur Strömungsrichtung gekenn- sind. Zu hohe Drücke am Monolith erhöhen das
zeichnet sind. Bruchrisiko, zu niedrige Drücke führen zu reduzierter
Für die Lagerung des Monolithen im Blechgehäuse Haltekraft mit der Gefahr von Monolithverschiebung.
wird meist eine Lagerungsmatte eingesetzt (Bild 5.6-3). Bei Lagerungsmatten wird grundsätzlich zwischen
quellenden und nicht quellenden Materialien unter-
Designbeispiel: Katalysator und DPF eines V8 Dieselmotors schieden. Die keramischen Fasern bei Quellmatten
werden mit Vermikulliten (= Glimmerbestandteile)
10 2
vermischt, die zu einer Volumenvergrößerung im
8
Betrieb bei ausreichend Temperatur führen. Die
9 Materialien werden durch einen Binder in eine verar-
3 5
1 beitungsfähige Form als Matte gebracht. Eine typi-
sche Verteilung ist 10 % Binder, 45 % Fasern, 45 %
7
Vermikullit. Nicht quellende Matten bestehen fast
ausschließend aus reinen Fasern (≥ 90 %) und Binder.
5 4 Wichtigste Kenngröße der Matten ist das GBD (engl.:
1 Gaseintritt
2 Katalysator gap bulk density). Es charakterisiert die Verpressung
3 Katalysatorsubstrat einer bestimmten Masse des Mattenmaterials im Spalt
4 Dieselpartikelfilter
5 Lagerungsmatte zwischen Monolith und Rohrmantel.
6 Blechgehäuse 6 Das GBD-Fenster beschreibt den Bereich zwischen
7 Filtersubstrat 12
8 Druckentnahmestelle dem GBD bei maximal möglichem kurzeitigem
11
9 Temperaturfühler Druck, bedingt durch die Substratfestigkeit, und dem
10 λ-Sonde
11 Halterung GBD bei minimal notwendiger Haltekraft (Bild 5.6-5).
12 Gasaustritt Nicht quellende Matten haben ein wesentlich größe-
res GBD-Fenster als Quellmatten. Je größer das
Bild 5.6-3 Detailschnitt eines motornahen Dieselpar- GBD-Fenster, desto mehr Prozessbreite ist möglich.
tikelfilters mit vorgeschaltetem Oxidationskatalysator Im Motorbetrieb sind Quellmatten (QM) wg. abneh-
mendem Druck kritisch im Bereich gemäßigter Tem-
Dadurch werden zum einen die geometrischen Tole- peraturen bei ca. 250 °C, wo die Binderausgasung/
ranzen der Substrate egalisiert, zum anderen muss die Oxidation beginnt, aber noch keine Expansion des
Lagerungsmatte aber auch die im Betrieb unter wech- Vermikullits einsetzt (sog. Binderloch). Nicht quellen-
selnden Temperatur- und Druckverhältnissen auftre- de, reine Fasermatten (NQM) zeigen dagegen eine
tenden Haltekräfte für den Monolith aufnehmen. weitaus geringere Abnahme des Drucks über der
Daneben dient die Matte als thermische Isolation Temperatur (Bild 5.6-5).
nach außen (Reduzierung der Oberflächentemperatur) Neben den physikalischen Anforderungen unterliegen
und nach innen (Wärmespeicher im Substrat). Aus- Lagerungsmatten auch Umweltgesichtspunkten, die
reichend Haltekräfte bedingen einen entsprechenden einerseits durch die Gefahrstoffverordnung und
Druck zwischen Träger und Matte. Zielkonflikt andererseits durch die in der sog. TRGS (Technical
zwischen Haltbarkeit und der Funktion des Trägers: guideline for hazardous substances) 905 (WHO-
Dünnwandige Hochzeller haben weniger Festigkeit, fibre), 619 (material substitutes) und 521 (fibre dust)
sind also bruchempfindlicher, andererseits haben beschrieben sind.
diese höhere Umsetzungsraten. Canningtechnologien: 4 Methoden werden grundsätz-
Unrunde Formen ergeben sich häufig aus der Einbau- lich unterschieden, alle haben das Ziel, ausreichend
situation im Fahrzeug, die Festigkeit nimmt abhängig Haltekraft unter allen Betriebszuständen zu gewähr-
von der Unrundheit ab (Bild 5.6-4). leisten und während dem Canning eine möglichst

Bild 5.6-4 Konturbeispiele


heutiger Katalysatoren oder
Rund Potato Oval Trapezoid Trioval
Partikelfilter
342 5 Antriebe

maximaler
kurzzeitig

Druck
Druck

minimale Haltekraft
QM

Druck
GBD-Fenster
relaxiert

NQM
worst case
NQM
worst case
QM

0 100 200 300 400 500 600 700 800


Temperatur [°C]
GBD [g/cm3]

Bild 5.6-5 Druck-GBD Kennlinie und Druck-Temperatur Kennlinie von Lagerungsmatten

geringe Belastung des Substrats zu realisieren (Bild richtung und im Bereich der Gehäuserippen können
5.6-6). Konstante Prozessparameter am Schließwerk- nur durch eine größere Mattendicke ausgeglichen
zeug sollten stabiles GBD oder besser noch definier- werden.
ten Mattendruck zur Folge haben. Gestopfte und geschrumpfte Katalysatoren sind Rohr-
Wickeln war die am meisten verbreitete Technologie: katalysatoren.
Mit definiertem Druck auf einen vorgeformten Beim Stopfen wird die um das Substrat gewickelte
Blechmantel wird gezielt auf gleichmäßigen Matten- Lagerungsmatte axial in ein Rohr gepresst und dabei
spalt am Umfang verpresst. Wickeln gleicht deshalb die Matte durch einen Konus verdichtet. Die geomet-
geometrische Toleranzen der Substratoberfläche teil- rischen Substrattoleranzen werden dabei über Klassi-
weise aus. Nach dem Schließen des Mantels wird fizierungen einem definierten konstanten Rohrdurch-
dieser durch eine Längsschweißnaht geschlossen. messer zugeordnet. Grenzen: Sind hohe Haltekräfte
Grenzen der Technologie: extrem flache Formen, die notwendig, führen diese wegen der zunehmenden
nach dem Schließen durch den Mattendruck wieder Scherkräfte und Reibungskräfte beim Einschieben des
aufgedrückt werden. Mit Hilfe gezielter Mantelblech- Substrates zur Schädigung der Matte. Die Verwen-
vorformung und segmentiertem Außendruck kann dung vorgeformter Rohrformen prädestiniert das
dieser Effekt reduziert werden. Stopfen als Canning-Verfahren für unrunde Substrate.
Bei der Halbschalenbauweise wird das Substrat mit Beim Schrumpfen wird das Mantelrohr mechanisch
der Lagerungsmatte in die tiefgezogene Blechunter- auf einen definierten Durchmesser radial reduziert.
schale eingelegt und diese nach dem formschlüssigen Eine vorgeschaltete radiale Druckmessung auf Matte
Schließen mit der Oberschale verschweißt. Verrippte und Substrat korreliert den Zielwert für den Durch-
Schalen erhöhen die Steifigkeit des Gehäuses bei messer mit dem individuellen Mattendruck und dem
flachen Formen. Grenzen: Durch das Schließen der Substratdurchmesser. Die gezielte radiale Verdich-
Schalen wird die Streuung der Hochachse des Subs- tung der Matte führt zu extrem geringen lokalen
trats teilweise egalisiert, Spaltstreuungen in Quer- Belastungen auf das Substrat. Damit ist das Schrump-

Wickeln Schrumpfen Stopfen Halbschale


Canning
Trichter

Rolldrücken Schweißen Bild 5.6-6 Canning- und


Trichteranbindungs-Techno-
logien
5.6 Abgasanlagen 343

fen allen anderen Technologien überlegen. Grenzen Optimierungen können durch Variation der Fülldich-
sind gegenwärtig noch unrunde Teile wg. dem un- ten (100 bis 150 g/l), des Absorptionsmaterials (Textu-
gleichen Auffederungsverhalten am Umfang. rierung, Faserstärke) und auch der Geometrie der
Die Auswahl des richtigen Canningverfahrens hängt Absorptionskammer erreicht werden.
auch von der Trichter/Mantelverbindung bzw. der Während Absorptionsschalldämpfer hauptsächlich
Form des Trichters ab (Bild 5.6-6). Konzentrische zur Reduzierung der höheren Frequenzbereiche zum
Rohrkatalysatoren können vorteilhaft mit angerollten Einsatz kommen, können beim Reflexionsprinzip
Konen kombiniert werden. Gewickelte Katalysatoren auch tiefe Frequenzen beeinflusst werden. Eine ge-
haben die größten Freiheiten, was die Monolithform zielte Anordnung von Kammern, die durch Rohrlei-
betrifft und können mit unterschiedlichen Trichter- tungen verbunden sind, bewirkt aufgrund der Quer-
konturen verschweißt werden. Halbschalenbauweise schnittssprünge und Interferenzen hohe Dämpfungen
kann Vorteile haben, wenn die aufwendigen Tiefzieh- bis in den tiefen Frequenzbereich von unter 100 Hz.
teile bereits die Trichter enthalten sowie bei extrem Häufig wird eine Kombination beider Schalldämpfer-
flachen Formen. prinzipien genutzt, um im gesamten Frequenzbereich
die gewünschte Dämpfung zu erreichen.
5.6.5 Schalldämpfer
Bauarten und Wirkungsweise: 5.6.6 Akustische Abstimmung
Je nach dem zur Verfügung stehenden Raum im Das Mündungsgeräusch der Schalldämpferanlage
Unterbodenbereich des Fahrzeuges werden Schall- wird durch den Einsatz von 1-D- und 3-D-Berech-
dämpfer in Wickel- oder Schalenbauweise bzw. nungsmethoden ausgelegt und am Prüfstand opti-
mittels Rolldrücken hergestellt. Beim kostengünsti- miert. Dabei ist der Auslegungskonflikt zwischen
gen Wickelschalldämpfer, in der Regel mit ovalem niedrigem Gegendruck und hoher akustischer Dämp-
oder rundem Querschnitt, wird der Mantel durch fung zu bewältigen. Durch die Hervorhebung oder
Falzen oder Schweißen verbunden. Aufgrund der bei Absenkung von bestimmten Frequenzanteilen der am
modernen Fahrzeugen engen Platzverhältnisse kom- Motorauslass erzeugten Abgaspulsationen in der
men vermehrt Schalenschalldämpfer zum Einsatz, Schalldämpferanlage kann ein spezifischer Klang
deren Gehäuseober- und unterschalen durch Tiefzie- erzeugt werden. Bei diesem als „Sound Engineering“
hen erzeugt werden. Zur Vermeidung von Resonan- bezeichneten Verfahren wird das akustische Verhal-
zen der Schalldämpferoberfläche, die zu störender ten der Abgasanlage gezielt so abgestimmt, dass so-
Schallabstrahlung führen, werden die Schalen ver- wohl ein fahrzeug- als auch markentypischer Klang
sickt, eine Optimierung erfolgt durch den Einsatz entsteht [1, 2]. Ein Roadster wird daher in der Regel
moderner Rechenverfahren (Kapitel 11.3) [9]. Grund- lauter sein und signifikante tieffrequente Geräuschan-
sätzlich kommen in heutigen Schalldämpferanlagen teile aufweisen, während eine Luxuslimousine mög-
zwei Dämpfungsprinzipien zum Einsatz, je nach lichst keinerlei auffälliges Brummen haben darf (Kap.
Anforderung einzeln oder auch in Kombination (Bild 3.4).
5.6-7). Zur Erreichung eines bestimmten Mündungsgeräu-
Beim Absorptionsprinzip wird in Schalldämpferkam- sches gibt es, basierend auf dem Grundprinzip Refle-
mern poröses Material in Form von gesundheitlich xion, folgende häufig eingesetzte Schalldämpferele-
unbedenklichen Endlosglasfasern oder kurzen, biolös- mente [3, 4]:
lichen Fasern eingebracht. Aufgrund der Ausblasge- Die Tiefpass-Kammer dämpft breitbandig oberhalb
fahr der Absorptionsstoffe muss hier die Strömung in ihrer Eigenfrequenz, die so tief abgestimmt sein muß,
perforierten Rohren, welche ggf. noch zusätzlich mit dass unerwünschte Brummigkeit vermieden wird. Für
Stahlgestrickmatten abgedeckt werden, geführt wer- die Resonanzfrequenz gilt:
den. Die Schallenergie wird durch Reibung in Wärme
umgesetzt, die Absorption beginnt ab ca. 200 Hz und C A⋅L
f0 =
besitzt im Kilohertzbereich eine sehr hohe Dämpfung. 2Π V

a) Absorption b) Reflexion
Bild 5.6-7 Schalldämpfungs-
prinzipien
344 5 Antriebe

mit A: Rohrquerschnitt; L: Rohrlänge; V: Kammer- schaltbares


volumen; C: Schallgeschwindigkeit Endrohr
Eingangs-
In erster Näherung kann der Endschalldämpfer einer rohr
Abgasanlage als isolierter Tiefpass betrachtet werden.
Endrohr
Anhand der Gleichung kann man dann ersehen, dass
eine Reduzierung von f0 und damit eine Erhöhung der
Dämpfung für alle Frequenzen größer f0 durch eine
Verlängerung des Ausgangsrohrs, eine Verkleinerung
des Rohrquerschnitts oder eine Erhöhung des Kam-
mervolumens erfolgen kann. In vielen Fällen ist die
Ausgangsrohrverlängerung das Mittel der Wahl, da
eine Querschnittsverkleinerung unweigerlich den Bild 5.6-8 Schalldämpfer mit Klappe; Klappe geöff-
Druckverlust der Abgasanlage erhöht und überdies net
störendes Strömungsrauschen erzeugen kann. Einer
ebenso möglichen Volumenvergrößerung steht sehr schaltbares
häufig der fehlende Baumraum entgegen [4]. Endrohr
Eingangs-
Der Helmholtz-Resonator dämpft im Bereich seiner rohr
Resonanzfrequenz, vergleichbar einem spezifischen
Filter. Die Resonanzfrequenz errechnet sich analog Endrohr
obiger Gleichung [5]. Helmholtzresonatoren werden
eingesetzt um spezifische Störfrequenzen zu eliminie-
ren, wie z.B. tieffrequentes Brummen im Leerlauf.
Perforationen in Böden oder Rohren bewirken haupt-
sächlich durch Reibungseffekte eine breitbandige
Dämpfung. Maximale Dämpfung wird dabei im
mittleren bis höheren Frequenzbereich (größer 2 kHz) Bild 5.6-9 Schalldämpfer mit Klappe; Klappe ge-
erreicht. schlossen
Mittels Übersprechstelle lassen sich in zweiflutigen
Abgasanlagen die Anteile einzelner Motorordnungen lichen Klappenstellungen. Wie sich aus obiger Glei-
beeinflussen. chung ableiten lässt, mindert ein Klappenschalldämp-
Klappen erzeugen je nach Schaltstellung unterschied- fer den Zielkonflikt „hohe Dämpfung vs. geringer
liche Schall- und Strömungswege mit Vorteilen im Druckverlust“, über die drehzahl- und lastabhän-
Dämpfungs- und Abgasgegendruckverhalten. Extern gige Bereitstellung unterschiedlicher Strömungsquer-
gesteuerte Klappen werden drehzahl- und lastabhän- schnitte.
gig über ein pneumatisches Ventil oder einen elektri-
schen Aktuator geschaltet und sind im Allgemeinen 5.6.7 Körperschall
in den Rohrleitungen oder im Endrohr eingebaut.
Autonome Klappen hingegen werden in Reflexions- Neben dem klassischen Mündungsgeräusch wird über
schalldämpfern eingesetzt. Sie öffnen und schließen die Abgasanlagenaufhängungen Körperschall in die
in Abhängigkeit vom Abgasimpuls und einer mecha- Karosserie eingeleitet. Ursache ist die mechanische
nischen Feder selbstständig. Anregung der Abgasanlage durch den Motor, der
Bilder 5.6-8 und 5.6-9 zeigen exemplarisch den Strö- eine feste Einspannstelle der Abgasanlage darstellt
mungsweg in einen Schalldämpfer bei unterschied- (Zwangserregte Schwingung). Die Abgasanlage weist

Bild 5.6-10 Eigenfrequenz


einer Abgasanlage bei 46 Hz;
Darstellung der AGA im
Grundzustand (gelb) und
ausgelenktem Zustand (oran-
ge) bei einer gekoppelten
Biege- und Torsions-
schwingung; die Amplituden
sind zur Visualisierung
deutlich überhöht.
5.7 Bordenergie-Management 345

aufgrund ihrer Größe, der Massenverteilung und ihrer kontinuierlich zu. Die Realisierung zusätzlicher Funk-
Form ein sehr komplexes Schwingverhalten auf. tionalität führt zu einem steigenden Anteil elektroni-
Häufig treten Resonanzen bereits bei niedrigen Fre- scher Steuergeräte und elektrischer Verbraucher und
quenzen auf und führen zu einem hörbaren Geräusch- damit zu einem vermehrten Energiebedarf. Die Er-
eintrag in die Fahrgastzelle. Eine Beurteilung des zeugung von zusätzlich 100 W elektrischer Leistung
Abgasanlagenschwingverhaltens (Betriebsschwin- bedeutet aber einen Mehrverbrauch von etwa 0,1 bis
gungsanalyse) wird daher meist in Verbindung mit 0,15 l/100 km und wirkt damit der Anforderung nach
einer Betrachtung des Innengeräuschs durchgeführt. Reduktion des Kraftstoffverbrauchs entgegen. Um die
Die Betriebsschwingungsanalyse wird zur optimalen beiden konträren Ansprüche gleichzeitig erfüllen zu
Auslegung auch mittels einer Finite Element Betrach- können, sind neue Lösungsansätze gefragt. Eine
tung durchgeführt wie Bild 5.6-10 zeigt. Möglichkeit bietet ein Energiemanagement, welches
Simple Auslegungsregeln für das Schwingverhalten die Energieflüsse im Kraftfahrzeug intelligent steuert
der Abgasanlage existieren aufgrund der räumlich und gleichzeitig die elektrische Energieversorgung
komplizierten Schwingungen nicht. In der Praxis des Kfz sicherstellt. Das Ziel eines Energiemanage-
wird daher die Abgasanlage primär anhand des zur ments ist die Sicherstellung der Startfähigkeit und
Verfügung stehenden Bauraums konzipiert und über damit die weitgehende Vermeidung von Liegenblei-
möglichst früh durchgeführte FEM-Berechungen im bern durch entladene Batterien sowie die Steigerung
Schwingverhalten optimiert. Als Maßnahmen stehen der Energieeffizienz im Fahrzeug, um Kraftstoff-
dafür Änderungen der Massenverteilung (Verschie- verbrauch und Emissionen zu senken. Weitere Auf-
bung/Größenänderung von z.B. Schalldämpfern) und gaben sind die Erhöhung der Zuverlässigkeit der
Steifigkeiten (Rohrdurchmesser, -wandstärken) zur elektrischen Energieversorgung, Sicherstellung der
Verfügung. Zusätzlich werden auch Massentilger Spannungsstabilität, die Optimierung der Verfügbar-
oder motor- bzw. getriebefeste Halter eingesetzt. keit von Komfortsystemen, auch bei Motorstillstand,
und die Erhöhung der Batterielebensdauer. Diese
Literatur Ziele stehen teilweise in Konkurrenz zueinander und
[1] Garcia, P. et al.: Sound Qualität einer Abgasanlage, FVV müssen daher entsprechend priorisiert werden. Bei
Workshop Geräuschgestaltung „Über die Kundenzufriedenheit zukünftigen sicherheitsrelevanten Anwendungen ist
zur Psychoakustik“, April 1996 ein Energiemanagement zur Sicherstellung der Ener-
[2] Zwicker, E.; Fastl, H.: Psychoacoustics: Facts and Models,
Springer 1999 gieversorgung dieser Systeme unabdingbar.
[3] Munjal, M. L.: Acoustics of Ducts and Mufflers – With Applica- Im Folgenden sind beispielhaft einige elektrische
tion to Exhaust and Ventilation System Design, John Wiley & Verbraucher aufgeführt, die aufgrund der beschriebe-
Sons, New York, Chichester, Brisbane, Toronto, Singapore,
nen Anforderungen eingeführt wurden bzw. deren
1987.
[4] Davies, P. O. A. L.: Piston engine and exhaust system design, Einführung angedacht wird:
Journal of Sound and Vibration, 190(4), 1996, pp. 677 – 712 – PTC-Zuheizer
[5] Sealamet, A.; Dickey, N. S.: Theoretical, computational and ex- – Frontscheibenheizung
perimental investigation of Helmholtz resonators with fixed vol-
ume: lumped vs. distributed analysis, Journal of Sound and Vi-
– Elektrische Klimatisierung
bration, 187(2), pp. 358 – 367 – Elektrische Servolenkung
[6] Davies, P. O. A. L.: Practical flow duct acoustics, Journal of – Elektrische Kühlmittelpumpe
Sound and Vibration, 124(1), 1988, pp. 91 – 115
[7] Alfredson, R. J.; Davies, P. O. A. L.: The radiation of sound from
Der Einsatz elektrischer Nebenaggregate, die durch
an engine exhaust, Journal of Sound and Vibration, 13(4), 1970, den Entfall der Kopplung mit dem Verbrennungsmo-
pp. 389 – 408 tor einen bedarfsgerechten Betrieb ermöglichen und
[8] Beranek, L. et al.: Noise and Vibration Control Engineering, damit den Kraftstoffverbrauch senken, erhöht den
John Wiley & Sons, 1992
[9] Kaiser, R. et al.: Optimierung von Abgasanlagen mit gekoppelter
elektrischen Energiebedarf weiter. Hierzu zählen die
1D/3D Simulation, MTZ April 2005, S. 260 – 267 elektrische Wasserpumpe, die elektrische Ölpumpe
[10] Garcia, P.; Wiemeler, D.; Brand J.-F.: Oberflächenschallab- oder Elektrolüfter. Die elektrische Servolenkung kann
strahlung von Abgasanlagen. In: MTZ 11/2006, S. 852 – 859 den Kraftstoffverbrauch senken, erhöht aber gleich-
zeitig den elektrischen Energieverbrauch. Die be-
darfsgerechte Ansteuerung reduziert zudem den
Kraftstoffbedarf bis zu 0,3 l/100 km [1]. Allerdings
stellen elektrische Servolenkungen hohe Anforderun-
gen an das elektrische Bordnetz, sowohl in Bezug auf
5.7 Bordenergie-Management die Verfügbarkeit als auch aufgrund der hohen auftre-
tenden Spitzenlasten bei Lenkmanövern.
5.7.1 Ausgangssituation
Parallel zum steigenden Energiebedarf verschlechtern
Die Anforderungen zur Reduzierung des Kraft- sich die Randbedingungen für die elektrische Leis-
stoffverbrauchs und der Emissionen steigen stetig. tungserzeugung. Die Verkehrsentwicklung mit vielen
Gleichzeitig nimmt die Nachfrage an Sicherheits- und Staus und hohen Leerlaufphasen reduziert das Dreh-
Komfortfunktionen in modernen Kraftfahrzeugen zahlangebot für den Generator und damit dessen
346 5 Antriebe

Leistungsabgabe. Kraftstoff sparende Maßnahmen im B+


Triebstrang wie die Absenkung der Leerlaufdrehzahl
oder ein Stopp-Start-Betrieb erschweren die elektri-
sche Leistungserzeugung weiter und stellen parallel
erhöhte Anforderungen an die Zuverlässigkeit des SM3~
elektrischen Bordnetzes.
Hybrid- und Elektrofahrzeuge stellen darüber hinaus
noch weitere Anforderungen an die elektrische Ener- B–
giebereitstellung und deren Betriebssicherheit, insbe-
sondere auch die Einführung von Spannungen ober-
halb der Berührschutzspannung. Dies hat z.B. auch Bild 5.7-2 B6-Brückenschaltung
Einfluss auf den Werkstattservicebereich.
gebogene Polfinger wie Klauen einer Kupplung inei-
5.7.2 Der Klauenpolgenerator nander greifen. Das Polsystem wird durch eine kon-
im Energiebordnetz zentrisch zwischen den Polplatten liegende Gleich-
stromwicklung erregt. Diese Läuferbauform bietet
Zur elektrischen Versorgung eines Fahrzeugs mit den Vorteil eines mechanisch einfachen und sehr
konventionellem 12 V- oder 24 V-Bordnetze werden robusten Aufbaus. Die Erregerwicklung rotiert meist
in Kraftfahrzeugen Drehstromlichtmaschinen einge- mit dem Läufer mit und erhält ihren Erregerstrom
setzt. Wegen seiner robusten Bauform und der preis- über Schleifringe und Kohlebürsten.
günstigen Herstellung hat sich für diesen Anwen-
dungsbereich allgemein der Klauenpolgenerator (Bild 5.7.2.1 Leistungs- und Wirkungsgradverhalten
5.7-1) durchgesetzt, der ein ähnliches Verhalten wie
ein Schenkelpolsynchrongenerator besitzt. Die Leistung des Generators bei konstanter Aus-
Diese Generatoren besitzen ein geblechtes Ständer- gangsspannung ist abhängig vom Erregerstrom und
paket mit Dreiphasenwicklung. In dieser Wicklung der Generatordrehzahl. Üblich ist die Darstellung des
wird durch das Drehfeld ein Dreiphasen-Wechsel- Abgabestromes (Abgabeleistung) über der Drehzahl.
strom erzeugt. Da die Batterie zum Laden einen Dabei ist die maximale Leistung durch den maxi-
Gleichstrom erfordert, muss der Generator über einen malen Erregerstrom begrenzt. Die Abgabeleistung
Gleichrichter mit dem Bordnetz verbunden werden. nimmt mit wachsender Temperatur ab, da der Wider-
Der erzeugte Drehstrom wird hierzu durch eine stand der Erregerwicklung temperaturabhängig ist.
Diodenbrücke (B6-Brücke) gleichgerichtet. Gleich- Bei konstanter Bordnetzspannung (Erregerspannung
zeitig dient die Diodenbrücke als Rückstrom-Sperre. z.B. 14 V bei Pkw oder 28 V bei Nkw) sinkt der
Ein Stromfluss ist nur vom Generator zur Batterie maximale Erregerstrom durch den steigenden ohm-
möglich, um ein Entladen der Batterie über den schen Erregerwiderstand bei höheren Temperaturen.
Generator zu verhindern (Bild 5.7-2). Bei niedrigen Drehzahlen ist die induzierte Spannung
Die Maschine unterscheidet sich nur im Läuferaufbau des Generators kleiner als die Bordnetzspannung und
gegenüber üblichen Synchrongeneratoren. Der Läufer es kann kein Strom über die Gleichrichterbrücke in
der Maschine besteht aus zwei Polplatten, deren um- das Bordnetz geliefert werden. Erreicht der Generator
bei der Null-Watt-Drehzahl n0 die Batteriespannung,
beginnt er mit der Leistungsabgabe. Bei hohen Dreh-
1 2 3 4 5 zahlen arbeitet der Generator nahe bei seinem Kurz-
schlusspunkt. Der Strom erreicht seinen Maximalwert
und kann nicht weiter ansteigen. Die Abgabeleistung
ist somit auf einen maximalen Wert begrenzt (Bild
5.7-3).
Die mechanischen Verluste (diese setzen sich in
erster Linie aus den Reibungsverlusten und dem
Leistungsbedarf der Lüfter zusammen) und die Ei-
senverluste steigen stark mit der Drehzahl der Ma-
schine an. Dadurch begründet sich die Tatsache, dass
1 - Gehäuse bei hohen Drehzahlen der Generatorwirkungsgrad
2 - Ständer
3 - Läufer
stark abfällt (Bild 5.7-3). Die Kupfer- und Gleich-
4 - Elektronischer Feld- richtverluste sind dagegen nur vom Belastungsstrom
regler mit Bürstenhalter und somit von der abgegebenen Leistung abhängig
5 - Schleifringe
und nicht von der Drehzahl.
6 - Gleichrichter
7 - Lüfter 7 7 6 Um die Leistungserzeugung dauerhaft zu steigern
sind weitere Verbesserungen des Generatorwirkungs-
Bild 5.7-1 Aufbau eines Klauenpol-Generators grads anzustreben.
5.7 Bordenergie-Management 347

5.7.2.2 Überspannungsschutz
Überspannungen im Bordnetz können sowohl die
angeschlossenen Verbraucher als auch die Bauele-
mente des Generators schädigen. Daher ist die maxi-
mal auftretende Spannungshöhe zu begrenzen. Bei
Betrieb des Bordnetzes mit einer Batterie fängt diese
einen Teil der Überspannungen ab, jedoch wird in
den meisten Fällen ein Notbetrieb auch ohne an-
geschlossene Batterie verlangt. Auch kann bei voll
geladener Batterie die Bordnetzspannung unzulässig
ansteigen, da die Batterie nicht mehr aufnahmefähig
ist. Überspannungen können durch verschiedene
Ursachen entstehen. Als wichtige Ursache ist der
Lastabwurf zu betrachten. Wird vom Bordnetz eine
hohe Leistung entnommen und schlagartig ein großer
Bild 5.7-3 Wirkungsgrad-Kennfelder für Generato- Verbraucher abgeschaltet, steigt die Bordnetzspan-
ren Kl und N1 nung an. Der Generator ist noch nicht auf die neue
Belastung eingeregelt. Der Spannungsregler des Ge-
Nachfolgend sind einige Maßnahmen aufgeführt, die nerators kann nur mit der Zeitkonstanten des Erreger-
dies bewirken: kreises reagieren (Größenordnung 100 ms). Die
überschüssige Generatorleistung muss von der Batte-
• Erhöhter Kupfereinsatz zur Reduzierung der Stän-
rie aufgenommen werden und führt zu einem Span-
derkupferverluste
nungsanstieg. Während dieser Zeit ist die Bordnetz-
• Umschaltbare Ständerwicklung, d.h. drehzahlab-
spannung in geeigneter Weise auf einen Maximalwert
hängige Anpassung der Ständerwicklungszahl und
zu begrenzen. Bei Generatoren für 12/14 V Bordnetze
dadurch Reduktion der Kupferverluste
werden hierzu üblicherweise die Brückengleichrichter
• Generatorbetrieb mit freier Spannung und Einstel-
mit Z-Dioden bestückt. Die Zenerspannung der Dio-
lung der Bordnetzspannung über Leistungselekt-
den ist so gewählt, dass die Dioden bei einer Span-
ronik
nung von ca. 28 V in Rückwärtsrichtung leiten. Somit
• Einsatz von Synchrongleichrichtern mit MOS-
wird die maximale Überspannung im Bordnetz wirk-
FETs zur Reduzierung der Diodenverluste.
sam beschränkt. Durch diese Maßnahme kann das
Die derzeit verbaute Generatorleistung für 12 V-Netze komplette Bordnetz wirksam gegen energiereiche
von Pkw liegt bei typischerweise 1,5 bis 2,5 kW. Für Überspannungen geschützt werden.
Pkw mit sehr hohem elektrischem Ausstattungsgrad
werden Generatoren auch bis über 3,0 kW verbaut. 5.7.2.3 Generator mit Schnittstellenregler
Diese Leistungen können noch problemlos mit luft-
gekühlten Generatoren umgesetzt werden, wasserge- Generatoren mit Schnittstellenregler ermöglichen
kühlte Generatoren haben sich auf Grund der höheren eine intelligente Regelung des Generators und damit
Kosten nicht breitflächig durchsetzen können. eine Möglichkeit der Bremsenergierückgewinnung.
Aufgabe der Spannungsregelung ist es, bei stark Hierbei wird die elektrische Leistung bevorzugt dann
wechselnden Generatordrehzahlen und unterschiedli- erzeugt, wenn wenig Kraftstoff hierfür erforderlich
chen Belastungen die Bordnetzspannung auf einem ist. Idealerweise geschieht dies im Schubbetrieb,
konstanten Niveau zu halten. Diese Spannungsrege- wenn aufgrund der Schubabschaltung die Erzeugung
lung kann nur im Teillastbereich des Generators der elektrischen Leistung keinen Kraftstoff benötigt.
arbeiten. Überschreitet die Bordnetzbelastung die Im Gegenzug wird die elektrische Leistungserzeu-
maximal mögliche Abgabeleistung des Generators, gung gedrosselt bzw. eingestellt, wenn sie wegen des
kann die Bordnetzspannung unter den Wert des schlechten Wirkungsgrads von Verbrennungsmotor
Toleranzbandes absinken. Dieser Fall kann insbeson- oder Generator einen hohen Kraftstoffverbrauch er-
dere bei kleinen Generatordrehzahlen auftreten. In fordern würde. Voraussetzung für diese Bremsener-
diesem Bereich fällt die Leistungsabgabe des Genera- gierückgewinnung ist das gezielte Einstellen eines
tors stark ab und die Leistung muss bei großen Lasten teilgeladenen Zustands der Batterie. Diese Änderung
teilweise aus der Batterie entnommen werden. der konventionellen Ladestrategie, deren Ziel eine
Um bei tiefen Temperaturen ein besseres Ladeverhal- möglichst voll geladene Batterie war, ermöglicht,
ten der Batterie zu erhalten, wird bei niedrigen Be- dass die Batterie in der Schubphase Ladung aufneh-
triebstemperaturen die Sollspannung durch den Reg- men kann, die dann in Phasen mit geringem Wir-
ler erhöht. Umgekehrt, um ein Überladen der Batterie kungsgrad wieder abgegeben wird. Das Unterschrei-
zu verhindern, wird bei hohen Temperaturen die ten eines für die Startfähigkeit notwendigen Mindest-
Spannungsvorgabe abgesenkt. ladezustands ist dabei auf jeden Fall zu vermeiden.
348 5 Antriebe

Um diese Funktion im vollen Umfang nutzen zu Bei teilweise oder komplett elektrisch betriebenen
können, ist daher die genaue Kenntnis des aktuellen Fahrzeugen (Elektro- und Hybridfahrzeuge) genügen
Batteriezustands erforderlich. Blei-Säure-Batterien der Anforderung nach Lade-Ent-
Durch diese Art der Bremsenergierückgewinnung ladezyklen und Energieinhalt nicht. Für den Einsatz
sind, abhängig vom Fahrzyklus und der Ausprägung als Traktionsspeicher eignen sich daher insbesondere
der Strategie, zwischen 1 % und 4 % Kraftstoffein- Batterien mit Li-Ionen Zellchemie, da sie bereits über
sparung möglich. eine hohe Energie- und Leistungsdichte verfügen, an
Weiterer Vorteil des Schnittstellen-Reglers ist die deren Weiterentwicklung in der Automobilindustrie
Möglichkeit, das auf den Verbrennungsmotor wir- intensiv gearbeitet wird.
kende Drehmoment des Generators zu ermitteln und Dabei wird die Zellchemie für folgende Einsatzgebie-
zu beeinflussen. Um das generatorische Moment ab- te optimiert:
hängig von der Last des Verbrennungsmotors regeln • High Power Zellen mit hoher Leistungsdichte für
zu können, sind moderne Generatoren durch eine den Einsatz in Hybridfahrzeugen
LIN- oder PWM-Schnittstelle in das Informationsnetz • High Energy Zellen mit hoher Energiedichte für
des Motormanagements eingebunden. den Einsatz in Elektrofahrzeugen zur Maximie-
rung der Fahrzeugreichweite
5.7.3 Elektrische Speicher im Energie-
Aufgrund ihrer geringeren Energiedichte aber hohen
bordnetz Leistungsdichten werden Hochleistungskondensato-
Im Kraftfahrzeug-Bordnetz hat der elektrische Ener- ren (Doppelschichtkondensatoren, DLC) vereinzelt
giespeicher, im Allgemeinen die Batterie, die Aufga- für dynamische Leistungsanforderungen von z.B.
be, die vom Generator erzeugte elektrische Energie Hochstromverbrauchern oder zur Glättung der Span-
zu speichern. Mit der gespeicherten elektrischen nungswelligkeit im Bordnetz verwendet. Dieser Spei-
Energie werden bei Bedarf, z.B. im Motorleerlauf chertyp eignet sich nicht für rein elektrischen Betrieb
oder bei Motorstillstand, die Verbraucher versorgt. des Fahrzeugs.
Insbesondere muss die Batterie in der Lage sein,
5.7.3.1 Blei-Säure Batterien
kurzfristig hohe Ströme für den Start des Verbren-
nungsmotors vor allem auch bei niedrigen Umge- Im konventionellen Bordnetz werden Blei-Säure-
bungstemperaturen zu liefern. Akkumulatoren eingesetzt. Wichtigste Kenngrößen
In konventionellen Fahrzeugen kommt aus Kosten- eines Blei-Akkumulators sind die Nennspannung UN
gründen seit jeher die Blei-Säure-Batterie (PB-Acid) und die Nennkapazität KN. Beim Bleiakkumulator er-
zum Einsatz, welche heute bezüglich Elektrodengeo- gibt sich die Nennspannung als Vielfaches der Ein-
metrie und Zellenchemie als Starterbatterie für aus- zelzellenspannung von 2 V. Tatsächlich schwankt die
reichend hohe Kaltstartströme optimiert ist. Leerlaufspannung einer Zelle im Bereich von ca.
In Fahrzeugen mit elektrifiziertem Antriebsstrang 1,94 V bis 2,14 V zwischen leerem und voll gelade-
kommt die Batterie zusätzlich als Energiespeicher für nem Zustand. Typische Nennspannungen von Bord-
Traktionszwecke zum Einsatz und wird daher auch netzbatterien sind 12 V im Pkw bzw. 24 V im Nkw.
als Traktionsbatterie bezeichnet. Die Nennkapazität ist definiert als die Strommenge,
Die Energie- versus Leistungsdichte verschiedener die innerhalb von 20 Stunden bis zu einer Entlade-
Speicher ist in Bild 5.7-4 dargestellt. Diese Darstel- schlussspannung von 1,75 V/Zelle mit konstantem
lung wird als Ragone Diagramm bezeichnet. Entladestrom entnommen werden kann. Der dabei

100000
DLC

10000 Li-Ion-
Spezifische Leistung [W/kg]

Power-Zelle
Li-Ion-
NiMH Energie-Zelle
1000

100

10
Blei-Säure ZEBRA
(Pb-Acid)
1
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 220
Spezifische Energie [W/kg]
Bild 5.7-4 Ragone
Diagramm
5.7 Bordenergie-Management 349

fließende Strom wird mit I20 bezeichnet. Eine weitere


wichtige Kenngröße ist der Kälteprüfstrom I–18. Nach 1,0
DIN muss die Klemmenspannung bei Entladung mit

Entnehmbare Ladung q / KN
I–18 30 s nach Entladebeginn mindestens l,5 V/Zelle 0,8
und 150 s nach Entladebeginn mindestens l V/Zelle
betragen. Der Kälteprüfstrom beträgt z.B. ca. 150 A 0,6
bei einer 36 Ah-Batterie und ist eine wichtige Größe
für die Auslegung des Starters. 0,4

Entladen von Blei-Säure-Batterien 0,2

Bild 5.7-5 zeigt einen typischen Verlauf der Batterie-


spannung bei Konstantstromentladung. Kurz nach 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Beginn der Entladung fällt die Spannung auf einen Entladestrom I /I 20
Wert, der sich bis zum Erreichen der vollständigen
Entladung, des so genannten Entladeschlusses, kaum Bild 5.7-6 Entnehmbare Ladung über dem Entlade-
ändert. Erst dann bricht die Spannung aufgrund des strom (Peukert-Faktor = l ,3)
Verbrauchs an Säure und/oder aktivem Material der
Elektroden zusammen. ten benötigte Energie und die damit verbundene
Wichtig ist hier auch die Abhängigkeit der entnehm- Energiedichte gering sind.
baren Ladung vom Entladestrom. Mit zunehmendem
Laden von Blei-Säure-Batterien
Entladestrom verringert sich der auf die 20-stündige
Entladung bezogene Wert. Beim Laden von Batterien ist zwischen Laden mit
Dieser Zusammenhang ist in Bild 5.7-6 dargestellt konstantem Strom und dem Laden bei konstanter
und kann näherungsweise durch die so genannte Spannung zu unterscheiden. Im Kfz-Bordnetz wird
Peukert-Gleichung beschrieben werden: die Batterie mit Spannungsbegrenzung geladen, d.h.
n
der Ladestrom geht bei Erreichen einer vom Genera-
I · tE = const., (l) torregler eingestellten Spannungsgrenze, die unter-
mit I = Strom, tE = Entladezeit, Peukert-Faktor n = halb der so genannten Gasungsspannung liegt, auto-
1,2 . . . 1,5. matisch zurück und eine schädliche Überladung, die
Für den Startfall, bei dem Ströme im Bereich von 200 zu verstärkter Wasserzersetzung und Gitterkorrosion
bis 300 A fließen, würde dies erlauben, eine Ladung führen würde, wird so vermieden. Da die Gasungs-
von ca. 45 % der Nennladung zu entnehmen. Dies gilt spannung stark temperaturabhängig ist, wird auch
jedoch nur für einen bis zum Entladeschluss konstant der Wert der Ladespannung von etwa 14,1 V ± 0,3 V
fließenden Starterstrom. Da die Startzeit im Allge- bei 20 °C mit einem Temperaturgradienten von
meinen jedoch im Bereich weniger Sekunden liegt, ist (–7 . . . 10) mV/K nachgeführt. Bei einer Umge-
die damit verbundene Ladungsentnahme, bezogen auf bungstemperatur von 50 °C würde demnach z.B. eine
die Nennkapazität, vernachlässigbar klein. Für den Ladespannung von 13.8 V eingestellt. Zur Überwa-
Startvorgang wird also von der Batterie kurzfristig chung des Batteriezustandes und der Erhöhung der
eine hohe Stromabgabe und damit eine entsprechend Lebensdauer setzen sich in konventionellen Bordnet-
hohe Leistungsdichte gefordert, während die zum Star- zen zunehmend Batteriemanagement Systeme durch,
die aus den charakteristischen Batteriekenngrößen
eine Information über Ladezustand (State of Charge
SoC) Gesundheitszustand (State of Health SoH) und
Funktionszustand (State of Function SoF) der Batterie
13
berechnen.
Batteriespannung / V

12 5.7.3.2 Traktionsspeicher
11 Als Traktionsspeicher werden Nickel-Metallhydrid
Batterien und vor allem Lithium-Ionen Batterien mit
10 Leistungen im Bereich von etwa 15 bis über 100 kW
und Energieinhalten im ein- bis zweistelligen kWh-
9 Bereich für die Versorgung des elektrischen Antriebs
eingesetzt.
8
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 Für diese Batterien sind neben der Energie- und
Entladezeit / min Leistungsdichte wichtige Kenngrößen die kalendari-
sche Lebensdauer, die Zyklenfestigkeit und die Tem-
Bild 5.7-5 Batteriespannungsverlauf bei Konstant- peraturbeständigkeit. Um die Zyklenfestigkeit zu ge-
stromentladung währleisten und den Zustand der Batterie zu überwa-
350 5 Antriebe

chen, wird eine Überwachung von Zellengruppen so-


wie für Li Ionen Systeme Ladungskompensation von
Einzelzellen während des Betriebs durchgeführt und
die Lade-/Entladezyklen gesteuert.
Zellen Module
Aufbau und Auslegung von Traktionsbatterien
Die elektrische Auslegung einer Traktionsbatterie Trennschalter

wird im Wesentlichen beeinflusst durch die Anforde- BMS


rungen an Fahrleistung und Reichweite des Fahrzeugs
und das Spannungsniveau der Antriebsmotoren. Zur
Auslegung der Traktionsbatterie werden typischer-
weise für Hybridfahrzeuge Zellen mit einer Nennka-
pazität von etwa 5 Ah, für rein batterieelektrische Batteriepack
Fahrzeuge Zellen mit Kapazitäten im zweistelligen
Ah-Bereich verwendet. Die Zellen werden in Reihe Bild 5.7-7 Aufbau einer Traktionsbatterie
zu Modulen verschaltet, mehrere Module werden
zusammen zu einem Batteriepack verschaltet. Durch tung im Crash-Fall und Überwachung der Isola-
entsprechende Reihenschaltung der Zellen mit ein- tionsfestigkeit
zeln etwa 3,7 V Nennspannung kann in einem Strang Die Traktionsbatterie stellt über eine Signalleitung,
die erforderliche Pack-Gesamtspannung erreicht wer- typischerweise dem CAN-Bus, Informationen über
den. Durch Parallelverschaltung von Strängen kann ihren Zustand und die aktuellen Energieflüsse an an-
bei Bedarf die Leistung und der Energieinhalt zusätz- dere Steuergeräte, z.B. dem Fahrzeugführungsrech-
lich erhöht werden. Batteriepacks werden mit Luft- ner, bereit. Hierdurch wird ein Gesamtenergiemana-
oder Flüssigkeitskühlung ausgestattet, um die Le- gement im Fahrzeug unter Einbindung des Energie-
bensdauer zu optimieren und thermisch sichere Be- speichers realisiert.
triebsbereiche einzuhalten.
Traktionsbatterien verfügen über ein Batteriemana- 5.7.4 Energiebordnetze für konventionelle
gementsystem (BMS) – im Wesentlichen bestehend Fahrzeuge
aus einem oder mehreren Rechnereinheiten, Strom-,
Spannungs- und Temperatursensorik und I/O-Schnitt- 5.7.4.1 Energiebordnetze für Start/Stopp
stellen zur Ansteuerung von Trennrelais und weiterer Fahrzeuge
Aktorik. Das BMS nimmt im Wesentlichen folgende
Für konventionelle Fahrzeuge mit 12 V-Energienetz
Aufgaben wahr:
schreitet in den letzten Jahren zunehmend die Einfüh-
• Batteriezustandserkennung: rung der automatischen Motor-Start/Stopp-Funktion
Erfassung des aktuellen Ladezustandes und der vorab. Bei der automatischen Stopp-Start-Funktion
Leistungsfähigkeit des Akkus wird der Verbrennungsmotor beim Fahrzeugstillstand
• Lebensdaueroptimierung: abgeschaltet und wieder gestartet sobald der Wunsch
Überwachung und Ausgleich von abweichenden zur Weiterfahrt erkannt wird, z.B. durch Betätigen
Ladezuständen der einzelnen Zellen untereinander von Kupplungs- und Gaspedal. Diese Strategie ver-
und Einhaltung von optimalen Temperaturgrenzen meidet Leerlaufverluste in Standphasen und spart
(Thermomanagement) dadurch Kraftstoff je nach Fahrzyklus und Randbe-
• Betriebssicherheit: dingungen im Bereich von etwa 4 % bis 6 %. Voraus-
Vermeidung von Tiefentladung, Überladung und setzung für die Akzeptanz einer Stopp-Start-Funktion
thermischer Überbeanspruchung sowie Abschal- ist ein zuverlässiger Wiederstart des Verbrennungs-

DC
DC

EBS
GR

G Batterie S
V V V V

G: Generator GR: Generatorregler EBS: Elektronischer Batteriesensor Bild 5.7-8 Energiebordnetz


S: Starter V: elektr. Verbraucher DC/DC: Spannungswandler
für Start/Stopp Fahrzeuge
5.7 Bordenergie-Management 351

motors sowie die Verfügbarkeit von Komfortfunktio- 5.7.4.2 Zwei-Batterie-Bordnetze


nen während der Standphasen.
In Fahrzeugen der Luxusklasse mit sehr hohem elekt-
Auswirkungen und Maßnahmen im Energiebordnetz:
ronischem Ausstattungsgrad oder Fahrzeugen mit
Bei Einführung der Motor-Start/Stopp-Funktion sind
sicherheitsrelevanten Systemen (x-by-wire Systeme)
Maßnahmen am Energiebordnetz erforderlich bzw.
kommen Energiebordnetze mit zwei 12 V-Batterien
sinnvoll. So erlebt z.B. die Batterie einen deutlich
zum Einsatz.
höheren Ladungsmengendurchsatz, wodurch die Bat-
Eine solche Energiebordnetzarchitektur bietet zwei
teriealterung schneller voranschreitet. Der erhöhte
Vorteile: Zum einen kann der Energienetzbetrieb so
Ladungsmengendurchsatz beruht vor allem darauf,
organisiert werden, dass ein Speicher stets nur für die
dass in den Stopphasen der Generator bei abgeschal-
Versorgung der (Komfort-)Verbraucher eingesetzt
tetem Motor das Bordnetz nicht mehr versorgen kann
wird (in Bild 5.7-9 Batterie Nr. 1), während der
und die elektrische Energie in dieser Zeit komplett
andere Speicher (in Bild 5.7-9 Batterie Nr. 2) aus-
durch die Fahrzeugbatterie bereitgestellt werden
schließlich nur als Starterbatterie für den Motorstart
muss.
eingesetzt wird. Eine ungewollte Entladung der
Der bzgl. Lebensdauer kritische kumulierte Energie-
Starterbatterie kann durch entsprechende Koppelele-
durchsatz bei heutigen Starterbatterien (Blei-Säure
mente (Schalter oder DC/DC-Wandler) vermieden
Nassversion) beträgt etwa die 100- bis 150-fache
werden und somit die Startzuverlässigkeit des Fahr-
Nennkapazität, bei so genannten AGM (Absorbent
zeugs deutlich erhöht werden. Zum anderen kann die
Glass Matt) Versionen der Bleisäure-Akkus liegt der
Zusatzbatterie aber auch als Rückfallebene zur exklu-
Wert bei etwa 250- bis 300-facher Nennkapazität.
siven Versorgung eines sicherheitsrelevanten Ver-
Daher werden für Start/Stopp-Anwendung die etwas
brauchers verwendet werden, falls die Hauptbatterie
teureren aber deutlich zyklenfesteren AGM-Batterien
nicht mehr genügend Leistung zur Verfügung stellen
verwendet.
kann. Bei Verwendung von zwei Batterien ist üblich,
Bei zu niedrigem Ladezustand oder ungeeigneten
dass die Versorgungsbatterie speziell für hohe Zyk-
Temperaturen der Batterie wird der Stopp-Betrieb
lenfestigkeit und die Starterbatterie speziell für hohe
verhindert. Die Zustandserkennung der Batterie wird
Kaltstartströme ausgelegt wird, wodurch sich das
durch einen Batteriesensor realisiert. Durch die häu-
Gesamtgewicht der Batterien optimieren lässt.
fige Anzahl an Warmstarts muss die Batterie oft
kurzeitige Spitzenleistungen an den Starter bereitstel- 5.7.4.3 Elektrisches Energiemanagement EEM
len, woraus sich Spannungseinbrüche – je nach Batte- in konventionellen Fahrzeugen
riezustand – im 12 V-Netz auch deutlich unter 12 V
ergeben können. Dies kann dazu führen, dass verein- Der Einsatz eines elektrischen Energiemanagements,
zelte Verbraucher je nach deren elektronischer Aus- das die elektrische Energieverteilung und -erzeugung
führung kurzzeitig eingeschränkte Funktionalität ha- steuert, kann die Pannenzahl durch entladene Batte-
ben. Für den Fahrer wäre dies ggf. am kurzzeitigen rien deutlich senken. Das Energiemanagement führt
Unterbrechung der Unterhaltungselektronik (Radio) damit zu einer erhöhten Verfügbarkeit des elektri-
erkennbar. Um dies zu vermeiden empfiehlt sich je schen Bordnetzes und des Fahrzeugs.
nach Auslegung der E/E-Architektur der Einbau eines Bild 5.7-10 zeigt den prinzipiellen Aufbau eines
Spannungswandlers (DC/DC-Wandler), welcher da- Elektrischen Energiemanagements (EEM).
rauf ausgelegt ist, die Spannung für ausgesuchte Es hat die Aufgabe, während des Fahrbetriebs eine
Verbraucher kurzzeitig während des Startvorganges positive oder zumindest ausgeglichene Ladebilanz
zu stabilisieren. sicherzustellen und bei Motorstillstand den Energie-

DC
DC

GR
Batterie Batterie
G S
1 V V V V 2

G: Generator GR: Generatorregler EBS: Elektronischer Batteriesensor Bild 5.7-9 Zwei-Batterien-


S: Starter V: elektr. Verbraucher DC/DC: Spannungswandler
Bordnetz
352 5 Antriebe

EEM
Fahrzeugbetriebszustand Strategie der Koordination

Energie-Koordinator

Last-/ Generator- Schnittstelle


Batterie- management
Ruhestrom- zu anderen
management intelligente
management Generatorregelung
Sytemen

Signal- z. B.
Leistungs- • Motorelektronik
Verteiler • Bodycomputer
Batterie + Verbraucher Generator • Diagnose Bild 5.7-10 Struktur eines
• Relais elektrischen Energie-
• DC/DC-Konverter
managements (EEM)

bedarf so zu überwachen, dass z.B. die Startfähigkeit eines Generatormodells. Die für das EEM erforder-
erhalten bleibt. Zudem können durch koordiniertes liche Erkennung der Fahrzeugzustände (Ruhemode,
Schalten von elektrischen Verbrauchern Spitzenlasten Startmode, …) ist ebenfalls Teil dieser Schicht.
reduziert werden.
Das EEM umfasst die Module „Batteriemanage- 5.7.4.3.1 Ruhestrommanagement
ment“, „Generatormanagement“, „Lastmanagement“
und bietet auch eine Schnittstelle zu Systemen außer- Ein intelligentes Ruhestrommanagement überwacht
halb der elektrischen Energieerzeugung, -speicherung bei länger geparkten Fahrzeugen die Entladung der
und -verteilung, z.B. dem Motormanagement [2]. Batterie durch dauerhaft aktivierte Steuergeräte, die
Das EEM steuert die Energieflüsse der Energieerzeu- entweder geplant oder verursacht durch einen Defekt
gung, -speicherung und des -verbrauchs durch ein nicht in den Ruhemodus wechseln. Ebenso optimiert
intelligentes Management der beteiligten Systeme. es die Verfügbarkeit von Verbrauchern bei abgeschal-
Bild 5.7-11 zeigt eine mögliche Architektur des tetem Verbrennungsmotor. Hierzu zählen z.B. Stand-
EEM. Dabei gibt es eine kundenspezifische Schicht heizung und Infotainmentkomponenten wie Naviga-
mit den gemäß Kunden-Philosophie definierten tionssystem, Radio und Telefon.
Funktionen, wie das Anzeige- und Diagnosekonzept, Die Batteriezustandserkennung sendet bei drohendem
aber auch die Eingriffe des Energiemanagements in Verlust der Startfähigkeit eine Botschaft an das
der Ruhe- und der Fahrphase [3]. In der kundenunab- Anzeigemodul, um den Nutzer zu informieren. Zu-
hängigen Schicht sind Module zusammengefasst, die dem reduziert das Verbrauchermanagement bei An-
Eingangs- bzw. Hilfsgrößen für die Kundenfunktio- näherung an die Startfähigkeitsgrenze den Energie-
nen liefern. Hierunter fällt die Batteriezustandserken- verbrauch bis hin zum Abschalten einzelner Verbrau-
nung, aber auch die Ermittlung von Generatorgrößen cher, um die Startfähigkeit möglichst lange zu erhal-
wie Generatormoment und Leistungsreserve anhand ten.

EEM-Applikationen (OEM-spezifisch)

Ruhestrom- Dynamisches Diagnose Anzeigen


management Energie- (Fehlerspeicher-
management einträge)

Vorhersage Generator- Historien- Anzeigen-


Startstrom Modell Bildung plausibili-
+ Startfähigkeit (inkl. Notlauf) sierung
(Fahrzeug-
und Batterie-
Batterie- Batterie- Datenerfassung)
Zustands- management
erkennung
Bild 5.7-11 Mögliche
Erkennung Steurgeräte-Zustand/Fahrzeug-Zustand Architektur eines
EEM-Betriebssystem (OEM-unabhängig) elektrischen Energie-
managements (EEM)
5.7 Bordenergie-Management 353

Das Anzeige- und Abschaltkonzept im kritischen Anhebung der Leerlaufdrehzahl. Die Anpassung der
Bordnetzzustand, insbesondere die Höhe der Leis- Schaltstrategie bei Automatikgetrieben ist eine weite-
tungsreduktion und die Priorität der einzelnen elektri- re Alternative zur Anhebung des Drehzahlniveaus.
schen Verbraucher sind Vorgaben des jeweiligen Wegen der negativen Auswirkungen auf Kraftstoff-
Fahrzeugherstellers und damit kundenspezifisch. verbrauch und Emissionen sind diese Eingriffe nur
in Zuständen sinnvoll, in denen eine beschleunigte
5.7.4.3.2 Fahrbetrieb/Dynamisches Energie- Batterieladung erfolgen soll.
management
Bei laufendem Verbrennungsmotor und damit lau- 5.7.4.3.3 Diagnose und Anzeige
fendem Generator steuert das Verbrauchermanage- Im Diagnosemodul laufen die kundenspezifischen
ment das Zu- und Abschalten von Verbrauchern. Überwachungsalgorithmen des EEM. Dies kann so-
Koordiniertes Schalten von Verbrauchern hilft, Leis- wohl die Erkennung von Komponenten mit zu hohem
tungsspitzen zu reduzieren. Zudem kann im Vorfeld Ruhestrom inklusive Fehlereintrag umfassen als auch
von hochdynamischen Schaltvorgängen der Schalt- Fehlereinträge durch defekte oder unplausible Ein-
wunsch an das Generatormanagement kommuniziert gangsgrößen des Energiemanagements.
werden, um die Erregung des Generators frühzeitig Das Konzept der Anzeige kritischer Betriebszustände
einzuleiten und damit die Spannungsstabilität zu und der daraus resultierenden Eingriffe des Energie-
erhöhen. managements wird im Anzeigemodul festgelegt. Mit
Zum dynamischen Energiemanagementmodul gehö- Hilfe des Anzeigekonzepts werden EEM-Eingriffe,
ren auch die Koordination der Generatorregelung für die zum Teil Komforteinbußen zur Folge haben, dem
die Bremsenergierückgewinnung und die Regelung Fahrer verständlich gemacht.
der Hochleistungsheizsysteme wie Frontscheibenhei-
zung und PTC-Zuheizer [4]. 5.7.4.3.4 Zusatzfunktionen
Durch temporäres- und prioritätengesteuertes Ab-
schalten der Verbraucher wird erreicht, dass die Neben den bereits beschriebenen Funktionen unter-
Funktion der Verbraucher möglichst wenig vom stützt das Energiemanagement auch Sonderfunktio-
Sollverhalten abweicht und die Funktionseinbußen nen (Bild 5.7-12), wie:
für die Fahrzeuginsassen kaum wahrnehmbar sind. – Werkstattdiagnose, z.B. geführte Komponentendi-
Bei länger anhaltender oder hoher Überlast ist dies agnose zur Erkennung von fehlerhaften Ruhe-
nicht mehr möglich. Da der daraus resultierende stromverbrauchern
Funktionsverlust vom Nutzer nur in Ausnahmefällen – Diagnose während der Produktion, z.B. durch
akzeptiert wird, muss das Bordnetz so ausgelegt sein, Messen der Stromaufnahme des Fahrzeugs und
dass diese Phasen nur selten auftreten. Erkennen fehlerhafter Steuergeräte. Die Einbin-
Eine Alternative zur Leistungsreduktion von Ver- dung der für das Energiemanagement erforder-
brauchern durch das EEM ist die temporäre Erhöhung lichen Sensorik in den Produktionsablauf bietet
der Leistungserzeugung. Die Leistungsabgabe bei zudem noch Potenzial zur Kostenreduktion durch
Generatoren ist im unteren Drehzahlbereich stark den möglichen Entfall von zusätzlichen Diagno-
reduziert. In diesem Bereich bewirken kleine Dreh- segeräten.
zahlanhebungen bereits eine deutliche Steigerung der – Aktivierung eines Transportmodus, der z.B. bei
Leistungserzeugung. Eine einfache Maßnahme zur der Verschiffung von Fahrzeugen den Ruhestrom-
Verbesserung der Leistungserzeugung ist daher die bedarf minimiert.

Batterie- und Energiemanagement als Prozessmonitor

Produktion Transport Handel/Kunde

Ruhestrommessung in Batterieanalyse Batterieanalyse


der Linie – Ruhespannungshistorie – Innenwiderstand
– Gesamtenergiedurchsatz
– Ruhestrommittelwert – Tiefentladung
Transportmodus
Batterieanalyse (Ruhestromsparmodus) Liegenbleiberanalyse
– Gesamtenergiedurchsatz – Lichterstati Licht brennen
– Gesamtenergiebilanz – Dauer Kl. 15 ein/Bus ein
– Batterieladezustand
Energetische Analyse
Transportmodus Kundenfahrzyklus
(Ruhestromsparmodus) – Energiebilanz und Dauer
z. B. letzte 5 Fahrten/Standzeiten

Geführte Fehlersuche
„Ruhestrom“ Bild 5.7-12 Zusatzfunk-
tionen des EEM
354 5 Antriebe

Spannungsversorgung
Karosserie KL30
Sense (+)

T ASIC Spannungs-
regler Master-
S U LIN-Bus Steuergerät
h LIN (z. B. Body
u I 16 Bit A/D-Wandler
Transceiver Computer)
n
t μC ROM/RAM Reset

Oszillator Watchdog Wake-up

Elektronischer Batterie-Sensor CAN


Batterie
Bild 5.7-13 Blockschaltbild
eines EBS (Quelle: Bosch)

EEM Vorhersage der entnehm-


baren Restladung bei
EEM-Koordinator
vorgebbaren Lastprofilen.
SOC (State of Cahrge)
Batterie-
management BZE-Funktionen
Restladung
U, I, T

Vorhersage der
SOx

Spannungsprädiktor Batteriespannung bei


Kapazitätsverringerung vorgebbaren Lastprofilen
BZE (Start).
SOF (State of Function)
U, I, T

EBS Batterieeigenschaften
Bestimmung der
State of Charge Kapazitäts- und
State of Function Leistungsverringerung
State of Health
durch Alterung. Bild 5.7-14 Schnittstelle
SOH (State of Health)
zwischen Batteriesensor
und EEM

Das Energiemanagement bietet damit die Möglichkeit liefert Informationen, die die Strategie des Energie-
einer umfassenden Bordnetzdiagnose und kann eine managements beeinflussen [6].
fahrzeugübergreifende Systemdiagnose unterstützen [5].
5.7.4.3.6 Batteriesensor EBS
5.7.4.3.5 Batteriezustandserkennung/Batterie- Eingangsgrößen der Batteriezustandserkennung (Bild
management 5.7-13) sind üblicherweise der Batteriestrom, die
Klemmenspannung und die Batterietemperatur. Diese
Eingriffe des elektrischen Energiemanagements ge-
Größen müssen präzise, dynamisch und zeitsynchron
hen gegenüber dem Normalbetrieb mit Komfortein-
erfasst werden, was eine hohe Anforderung an die
bußen und/oder erhöhtem Kraftstoffverbrauch einher.
Sensorik bedeutet. Aus Kosten- und Einbauraumgrün-
Sie sind nur notwendig bei kritischem Batteriezustand
den ist ein direkt am Batteriepol platzierter und
und z.B. drohendem Verlust der Startfähigkeit.
mit der Polklemme kombinierter Sensor vorteilhaft
Voraussetzung für ein gutes Energiemanagement ist
(Bild 5.7-15).
daher eine zuverlässige Batteriezustandserkennung,
welche die benötigten Batterie-Informationen aus
den messbaren Batteriegrößen Strom, Spannung und
Temperatur zur Verfügung stellt. Die Messung dieser
Größen erfolgt z.B. über einen Elektronischen Batte-
rie Sensor EBS.
Eingangsgrößen für das EEM sind der Ladezustand
(State of Charge, SOC), die Leistungsfähigkeit (State
of Function, SOF) und der Alterungszustand (State of
Health, SOH) der Batterie, d.h. die Vorhersage des
Batterieverhaltens für unterschiedliche Szenarien. Die
Schnittstelle ist in Bild 5.7-14 dargestellt.
Die Vorhersage der entnehmbaren Batterieladung bei
vorgegebenem Stromprofil bis zum Erreichen der
Startfähigkeitsgrenze oder die Vorhersage des Span-
nungseinbruchs bei einem vorgegebenen Laststrom, Bild 5.7-15 Elektronischer Batteriesensor EBS
5.7 Bordenergie-Management 355

LG
HV DC NV
DC

INV BMS

R
HV- NV-
EM
V Batterie V V V Batterie
R

Bild 5.7-16 Energiebord-


EM: Elektr. Maschine INV: Inverter BMS: Batterie-Management-System netz für Fzg. mit elektrifi-
LG: On-board Ladegerät V: elektr. Verbraucher DC/DC: Spannungswandler
ziertem Antriebsstrang

Da die Polnische nach DIN 72311 genormt ist, ist Eine höhere Spannung hat den Vorteil, dass Elektro-
keine Applikation an unterschiedliche Batterien er- nik, Kabelbaum und Verbindungstechnik für kleinere
forderlich. Ströme ausgelegt werden muss, jedoch sind die für
Bild 5.7-13 zeigt das Blockschaltbild eines elektroni- die Leistungen resultierenden Ströme bei 400 V gut
schen Batteriesensor EBS mit hochintegrierter Elekt- beherrschbar, so dass eher nur in Einzelfällen auf
ronik. Der Strom wird mit Hilfe eines Shunts gemes- höhere Spannungen gegangen wird.
sen, wobei sowohl Ruheströme im mA-Bereich als Die Masse des Hochvoltnetzes wird in der Regel
auch Startströme bis 1.500 A genau gemessen werden „mittig“ and die Karosseriemasse (Niedervoltnetz-
können. Basis des EBS ist ein ASIC, das u.a. einen masse) angebunden. Dies erfolgt über hochohmige
leistungsstarken Mikrorechner zur Messwerterfas- Widerstände als Spannungsteiler in Bild 5.7-16 ge-
sung und -verarbeitung enthält. Zudem laufen auf strichelt eingezeichnet. Die mittige Anbindung erfolgt
dem Mikroprozessor Algorithmen der Batteriezu- aus sicherheitsrelevanten Überlegungen, so dass im
standserkennung, deren Ausgangsgrößen über eine Berührfall zwischen Hoch- und Niedervoltseite eine
Kommunikationsschnittstelle (z.B. LIN-Bus) an über- Potentialdifferenz von nur maximal der halben Nenn-
geordnete Steuergeräte zur Weiterverarbeitung im spannung des Hochvoltnetzes anliegt.
Energiemanagement übertragen werden [7]. Das Energiemanagement in derartigen Fahrzeugen
läuft in der Regel in einem Fahrzeugführungsrechner
5.7.5 Energiebordnetze für Fahrzeuge und nimmt folgende Aufgaben wahr:
mit elektrifiziertem Antriebsstrang • Regeneration von kinetischer Fzg.-Energie (Rück-
speisung von Energie aus der E-Maschine in die
Bild 5.7-16 zeigt eine typische Energiebordnetzarchi- Traktionsbatterie bei Verzögerungsvorgängen)
tektur für ein Fahrzeug mit elektrifiziertem Antriebs- • Koordination der Energieflüsse im Fahrzeug unter
strang. Berücksichtigung der Leistungsanforderungen der
Unterschieden wird die Hoch- und Niedervoltseite Komponenten und der elektrisch bedingten
der beiden Teilbordnetze. verbleibenden Fahrzeugreichweite
Der Generator, welcher im konventionellen Fahrzeug • Fahrzeugthermomanagement unter Berücksichti-
die Versorgung des Niedervolt-Netzes übernimmt gung des Kühl- und Heizbedarfs des Fahrgastrau-
wird in diesem Fall durch einen Spannungswandler mes, der Antriebe und der Traktionsbatterie.
(DC/DC) ersetzt, der das Niedervoltnetz aus dem
Hochvoltnetz versorgt. Die Leistungsauslegung des Literatur
Wandlers orientiert sich an den Verbrauchern des [1] Pötzl, Kornhaas, Karch, Huart: Anforderungen an zukünftige
konventionellen 12 V-Netz und ggf. zusätzlichen Lenksysteme bis zur Fahrzeugoberklasse, VDI Berichte Nr.
Verbrauchern wie z.B. elektrifizierte Kühlmittel- und 1907, 2005
[2] Knapp: Elektrisches Energiemanagement – Funktionen im Ener-
Ölpumpen, Unterdruckaggregate oder Zusatzlüfter. giebordnetz, Euroforum, Elektronik-Systeme im Automobil, 2004
Auf Hochvoltseite mit Gleichspannung bis 400 V [3] Frey, Aumayer, Buchholz, Fink, Knapp: Die Zukunft des 14 V
sind der Inverter der E-Maschine, die Traktionsbatte- Bordnetzes, VDI-Berichte Nr. 1789, 2003
rie, ein Einbau-Ladegerät und ggf. leistungsstarke [4] Zuber, Sterner: Funktionsentwicklung für moderne Energiema-
nagement-Systeme, 2. Aachener Elektronik Symposium 2004,
Verbraucher wie z.B. ein elektrisches Klimaaggregat 23. – 24. 9. 04
angeschlossen. [5] Mäckel: Trends in der Batterieüberwachung, „Energiemanage-
Auf Hochvoltseite hat sich aus Gründen des Aufwan- ment und Bordnetze“, Haus der Technik e.V., Essen, 12. –
des für Isolationsschutz und der Verfügbarkeit von 13. 10. 2004
[6] Iske: Erfahrungen und Entwicklungslinien von Batteriemanage-
automotive-geeigneten elektronischen Bauteilen bis- ment und -diagnostiksystemen, „Energiespeicher für Bordnetze
her eine Nennspannung von typischerweise bis zu und Antriebssysteme“, Haus der Technik e.V., Essen, 1. 3. –
max. 400 V etabliert. 2. 3. 2006
356 5 Antriebe

[7] Frey, Häffner, Merkle, Schiller: Batteriesensorik und Batteriezu- in erster Linie Schlitze in der Zylinderbohrung einge-
standserkennung, „Energiemanagement und Bordnetze“, Haus
setzt, durch die das im Kurbelgehäuse vorverdichtete
der Technik e.V., Essen, 12. – 13. 10. 2004
[8] Battery System development at SB LiMotive 16. 06. 2009/Erster Gemisch (im Fall der direkteinspritzenden Verfahren:
Deutscher Elektro-Mobil Kongress, Bonn Dr.-Ing. A. Bosch, Luft) in den Brennraum gelangt. Dort verdrängt die
Dr.-Ing. S. Butzmann, Dr.-Ing. J. Fetzer, Dr.-Ing. H. Fink Frischladung die Abgase der zuvor stattgefundenen
[9] Zukunft Energiebordnetz. 14. Internationaler VDI-Kongress
Elektronik im Kraftfahrzeug Baden-Baden 2009; Ottmar Sirch,
Verbrennung durch die gleichzeitig offenen Auslass-
Dr. Georg Immel schlitze. Zur last- und drehzahlgerechten Optimierung
[10] Entwicklungstrends und zukünftige Lösungen für Start/Stopp des Ladungswechselvorgangs wird im Auslassbereich
Systeme VDI-Tagung Elektronik im Kraftfahrzeug 2009 ein Walzen- oder Drehschieber verwendet. Seltener
Dr. J. Groß, Dr.-Ing. S. Hartmann, Dr.-Ing. M. Merkle
[11] Auslegung des 12 V-Energiebordnetzes in batterieelektrischen werden auf der Auslassseite Ventile zur Verringerung
Fahrzeugen. HdT-Tagung „Elektrik/Elektronik in Hybrid- und der Überströmverluste angeordnet.
Elektrofahrzeugen, TU München, 23. 03. 2010. Dipl.-Ing., MBA Daher wurde das Konzept: Querspülung mit Vorver-
Robert Weber
dichtung und Auslassverstellung als erfolgverspre-
chendste Variante weiter betrachtet. Die potentiellen
Vorteile und die bekannten Problembereiche der
folgenden Tabelle bildeten die Schwerpunkte der
Zweitaktentwicklung.
Vorteile:
5.8 Chancen und Risiken des Zweitakt- • Günstigeres Package
• Geringeres Gewicht
motors • Günstigerer Teillastverbrauch
Anfang der neunziger Jahre wurde der Zweitaktmotor • Höhere spezifische Leistung
als Pkw-Antrieb aufgrund günstiger Rahmenbedin- • Verbesserter Komfort
gungen wieder verstärkt in den Entwicklungsabtei- • Niedrigere Servicekosten
lungen untersucht. Ein Großteil der Automobilher- Problembereiche:
steller betrachtete dieses Motorenkonzept als ver- • Erhöhter Ölverbrauch
brauchs-, gewichts,- und kostengünstige Alternative • Hoher Kraftstoffverbrauch, Abgasemissionen
zu den existierenden Viertakt-Ottomotoren. Mittler- • Schlechte Leerlaufqualität
weile sind allerdings die Viertaktmotoren durch • Unausgewogene Motorcharakteristik
Direkteinspritzung, Aufladung und variable Ventil- • Geringe Motorbremswirkung
triebe weiterentwickelt, so dass die Arbeiten am • Unzureichende Lebensdauer
Zweitaktmotor als Pkw-Antrieb eingestellt wurden. • Ungünstiges Geräuschverhalten
• Problematische Fertigung
5.8.1 Das Zweitaktverfahren
Das Prinzip des Zweitaktverfahrens ist in Bild 5.8-1 5.8.2 Das verwendete Konzept
im Ablauf dem Viertakt-Arbeitsverfahren gegenüber- Als Versuchsträger wurde ein moderner kurbelgehäu-
gestellt. Der grundlegende Unterschied besteht darin, segespülter Zweitaktmotor mit elektronisch gesteuer-
dass die Prozesse: Ansaugen – Verdichten – Expan- ter, luftunterstützter Direkteinspritzung, elektronisch
dieren – Ausschieben nicht über 720° Kurbelwinkel, gesteuerter Öldosierung sowie elektronisch gesteuer-
sondern über 360° stattfinden. ten, variablen Auslasssteuerzeiten (Walzendrehschie-
Im Gegensatz zum ladungswechselsteuernden Ventil- ber) verwendet. Der Motor mit seinen Details ist in
trieb des Viertaktmotors werden im Zweitaktbereich Bild 5.8-2 dargestellt.

2-Takt-Motor 4-Takt-Motor

p
pz
p
pz

UT UT OT UT OT
UT OT UT OT UT a a
pu pu
0 180 540 720 KW 360

Auslass Einlass Einlassventil Auslassventil Bild 5.8-1 Zylinderdruckver-


geöffnet geöffnet geöffnet geöffnet
lauf 2- und 4-Takt-Motor
5.8 Chancen und Risiken des Zweitaktmotors 357

Aluminium Kraftstoff- und


Zylinderkopf Luftverteilerleiste

Gemischeinblasedüse
Aluminium
Zylinderblock Querspülung

Nikasilbeschichtete
Nadellager Laufflächen

Geschmiedetes
Stahlpleuel Walzendrehschieber
Auslasssteuergehäuse
Membranventil
2-Ring-Kolben
Bypass-
Luftventil Überströmkanäle

Kugellager
Öldüsen
Rollenlager
Aluminium
Kurbelgehäuse- Einteilige Kurbelwelle
deckel
Kolbenkompressor

Elektronische Gesprengter
Öldosierung Lageraußenring

Bild 5.8-2 Moderner kurbelgehäusegespülter 2-Takt-Motor

Weitere wichtige Details des Motors sind: durch die luftunterstützte Direkteinspritzung. Zusätz-
• Spülkonzept: lich erschwert wird die Abgasnachbehandlung durch
– Querspülung mit Vorverdichtung im Kurbelge- das nicht stoichiometrisch eingestellte Gemisch und
häuse unter Verwendung von Reed-Ventilen zur die Verlustschmierung mit der daraus resultierenden
Vermeidung des Rückströmens der Frischluft in Kontamination des Katalysators mit Verbrennungs-
das Ansaugsystem rückständen des Öls.
• Kompressionsverhältnis: Durch das mager eingestellte Gemisch sollen die NOX-
– geometrisch 10,5 : 1 Emissionen schon motorseitig so niedrig liegen, dass
– aufgrund der variablen Auslasssteuerzeiten er- die Abgasgrenzwerte ohne Abgasnachbehandlung
gibt sich: eingehalten werden. Hieraus ergibt sich ein Zielkon-
– Auslassschieber offen 6,4 : 1 flikt zwischen einer verbrauchsgünstigen Verlagerung
– Auslassschieber geschlossen 9,3 : 1 der Betriebspunkte zu niedrigen Drehzahlen und hohen
Lasten und der damit verbundenen hohen Stickoxid-
Dieses Konzept erschien attraktiv, da es die einfache
emissionen. Weiterhin wird durch die inhomogene
Bauweise eines Zweitaktmotors ohne Ventiltrieb mit
Gemischbildung (Restgasschichtung, Spülprozessfüh-
einem hohen Ausmaß an Einflussmöglichkeit auf den
rung) die Abmagerungsfähigkeit eingeschränkt.
Ladungswechsel verbindet. Durch die Wahl des
Die Nachbehandlung der Kohlenwasserstoffemissio-
Einspritzverfahrens in den Brennraum wird ein mög-
nen ist aufgrund der niedrigen Abgastemperaturen
liches Überschieben von Frischgemisch in den Ab-
des mager laufenden Motors problematisch. Ebenso
gastrakt auf das Überschieben von Luft reduziert.
liegen die HC-Rohemissionen aufgrund der unvoll-
Dies ist unabdingbar um eine realistische Chance zur
ständigen Verbrennung des geschichteten Gemischs
Einhaltung der Abgasgrenzwerte zu haben.
höher (hohe Restgasgehalte und inhomogene Schich-
5.8.3 Die Entwicklungsschwerpunkte tung bei kleinen Lasten/Drehzahlen, unvollständiges
Zusammenhalten der Gemischwolke).
Aus den erwarteten Vorteilen und bekannten Schwä- Langzeitversuche zeigten, dass die NOX-Emissionen
chen des Zweitaktmotors ergaben sich die Ent- über eine Laufzeit von 80 000 km nahezu konstant auf
wicklungsschwerpunkte: Abgas-, Geräuschverhalten, einem Niveau liegen, die HC-Emissionen jedoch mit
Kraftstoffverbrauch, mechanische Standfestigkeit, der Laufleistung ansteigen. Die Bedingungen der
Package und Gewicht sowie Kosten. Stufe IV Grenzwerte machen eine Abgasnachbehand-
lung durch einen DeNOx- bzw. NOx-Speicherkata-
5.8.3.1 Abgasverhalten
lysator unerlässlich. Des weiteren muss ein Öl entwi-
Das Abgasverhalten des betrachteten Zweitaktmotors ckelt werden das eine Kontamination des Katalysa-
wird geprägt durch die spezifischen Bedingungen tors und damit eine laufzeitbedingte Verschlechte-
seines Ladungswechsels und der Gemischbildung rung der Abgasnachbehandlung vermeidet.
358 5 Antriebe

5.8.3.2 Geräuschverhalten 14

Mitteldruck bez. auf 720 °KW [bar]


2-Takt-Motor (3-Zylinder)
Eine Analyse des Ist-Zustandes ergab, dass der Ver- 12
suchsträger am oberen Ende des Streubandes ver- 10
4-Takt-Motor (4-Zylinder 4-Ventiler)
gleichbarer 8-Ventil und 16-Ventil Vierzylinder-
8
Viertakt-Ottomotoren lag. Weiter war festzustellen,
dass bei niedrigen Drehzahlen die Geräusche des 6
4-Takt-Motor
Einspritzsystems, im mittleren Drehzahlbereich das 4 günstiger 2-Takt-Motor
günstiger
direkte und indirekte Verbrennungsgeräusch und bei
2
hohen Drehzahlen das mechanische Geräusch do-
minieren. Maßnahmen dieses Geräuschverhalten po- 0
1000 2000 3000 4000 5000
sitiv zu beeinflussen sind: Entkopplung des Einspritz- Motordrehzahl (l/min)
und Ansaugsystems, Monoblockbauweise und Verstei-
fung des Auslasssteuergehäuses, Gleitlagerung der Bild 5.8-3 Unterschiede im spezifischen Kraftstoff-
Kurbelwelle und Einbau der Kurbelwelle in ein Tun- verbrauch
nelgehäuse sowie eine Kapselung der Ölwanne.
Weitere Maßnahmen sind der Einsatz graphitierter rung durch Betriebspunktverlagerung. Im gesamten
Kolben, die Erhöhung der Schwungmasse sowie die Drehzahlbereich erwies sich der Viertaktmotor im
Reduktion des Druckanstiegs dp/da durch eine Zu- oberen Lastbereich als günstiger. Damit ergaben sich
rücknahme des Zündwinkels. Letztere Maßnahme im außerstädtischen Bereich des neuen europäischen
muss aber mit dem einhergehenden Abfall des Dreh- Fahrzyklus sogar Verbrauchsnachteile für den Zwei-
moments abgeglichen werden. Bei niedrigen Dreh- taktmotor.
zahlen und Lasten zeigt sich das, obwohl der Dreh- Eine Analyse der Reibung und der Thermodynamik
kraftverlauf aufgrund der doppelten Zündfrequenz sollte Aufschluss über diesen Sachverhalt geben. Da
gegenüber einem Viertaktmotor ausgeglichener ist, die Gesamtreibungsverluste von Zwei- und Viertakt-
die zyklischen Schwankungen aufgrund der hohen motor auf gleichem Niveau lagen wurde eine detail-
und undefinierten Restgasgehalte größer sind. lierte Analyse durchgeführt.
Es muss aber auch klar gesehen werden, dass ein Bild 5.8-4 zeigt im Vergleich die Anteile von Kur-
akustisch optimierter Zweitaktmotor nicht mehr das belwelle, Kolbengruppe und Nebenantrieben (Was-
einfache und kostengünstige Motorkonzept darstellt. serpumpe, Lichtmaschine) von Zwei- und Viertakt-
motor sowie des Kompressors für die Lufteinblasung
5.8.3.3 Kraftstoffverbrauch des Zweitaktmotors und Ventiltrieb und Ölpumpe für
Einer der Hauptgründe für die Wiederaufnahme der den Viertaktmotor an der Gesamtreibung in Abhän-
Entwicklung der Zweitaktmotoren war die erwartete gigkeit von der Drehzahl. Man erkennt, dass der
Verbrauchsminimierung aufgrund der geringeren Dros- entfallene Ventiltrieb durch den Kompressor (ca.
selverluste und Reibung sowie der Verbrennung eines 20 % der Gesamtreibung) kompensiert wird. Beson-
mageren Gemischs. Ein Vergleich der Verbrauchs- ders auffallend ist der hohe Anteil der Kolbengruppe
kennfelder von Zwei- und Viertaktmotoren ergab je- an der Reibung des Zweitaktmotors. Dies obwohl ein
doch die in Bild 5.8-3 dargestellten Unterschiede. Zweitaktmotor ohne Ölabstreifringe mit einem Vier-
Bezogen auf ein Viertaktarbeitsspiel erreicht der taktmotor verglichen wird. Die Ursache hierfür sind
Zweitaktmotor höhere Vollastmitteldrücke. Dieses die Mischreibungsgebiete im Bereich der Kanäle, ein
führt bei einer auf gleiche Fahrleistungen ausgelegten starker Verzug der Bohrung sowie Ölablagerungen in
Getriebeübersetzung zu einer Verbrauchsverbesse- den Ringnuten. Versuche mit Motoren in Monoblock-

2-Takt-Motor 4-Takt-Motor
100 % 100 %
Wasserpumpe, Lichtmaschine Wasserpumpe, Lichtmaschine

80 80 Ölpumpe
Kompressor
60 60 Ventiltrieb

40 Kolbengruppe 40 Kolbengruppe

20 20
Kurbelwelle Kurbelwelle
0 0
1500 2000 2500 3000 3500 4000 4500 5000 5500 1500 2000 2500 3000 3500 4000 4500 5000 5500 Bild 5.8-4 Aufteilung der
Motordrehzahl (1/min) Motordrehzahl (1/min)
mechanischen Reibung
5.8 Chancen und Risiken des Zweitaktmotors 359

bauweise und alternativen Ölformulierungen zeigen Dosierpumpe dem Luftstrom im Bereich der Lamel-
Ansätze, diese Probleme zu beherrschen. lenventile zugemischt. Überschüssiges Öl sammelt
Eine thermodynamische Analyse zeigt Nachteile des sich im Kurbelgehäuse und wird von dort in den
Zweitaktmotors nicht nur aufgrund des niedrigen Sammelbehälter abgepumpt. Eine gezielte Schmie-
effektiven Verdichtungsverhältnisses. Ebenso steigen rung kritischer Stellen ist somit nicht möglich. Eben-
die Wärmeverluste aufgrund des insgesamt höheren so bedürfen die Ölqualitäten einer weiteren Optimie-
Temperaturniveaus bedingt durch die doppelte Zünd- rung.
frequenz an. Die Funktionsfähigkeit der Lamellenventile und der
Im Vergleich zu einem modernen stoichiometrisch Kurbelwellenlager kann durch lose Kohlenstoffparti-
betriebenem Viertaktmotor lassen sich Verbrauchs- kel die mit der Abgasrückführung ins Ansaugsystem
vorteile von 5 – 10 % erzielen. Dies wird allerdings und damit ins Kurbelgehäuse gelangen beeinträchtigt
von direkteinspritzenden Viertaktmotoren im Schicht- werden.
betrieb oder mit variabler Ventilsteuerung mittlerwei- Geeignete Maßnahmen gegen die genannten Proble-
le übertroffen. me wären eine Fertigung des Motors in Monoblock-
bauweise um die Verzüge zu minimieren sowie die
5.8.3.4 Mechanische Standfestigkeit Abdichtung der Lager und die Verwendung einer
An den Zweitaktmotor werden die gleichen Anforde- Druckölschmierung. Diese Maßnahmen stehen je-
rungen bezüglich der Dauerhaltbarkeit gestellt wie an doch dem Wunsch nach einem einfachen und kosten-
jeden Viertakt Otto- oder Dieselmotor. Bisher gefer- günstigen Zweitaktmotor entgegen.
tigte Zweitaktmotoren können in der Regel diese
5.8.3.5 Package/Gewicht
hohen Laufleistungen nicht erreichen. Fehlerursachen
liegen meist im Bereich Kolben, Ringe und Zylinder- Die Bilder 5.8-6 und 5.8-7 zeigen die Unterschiede in
rohr die konstruktiv bedingt andere Verhältnisse den äußeren Abmessungen der Motorenkonzepte
haben als im Viertaktmotor. Die hohe spezifische Zwei- und Viertaktmotor.
Leistung, die doppelte Zündfrequenz und die großen Die Breite des Motors wird in beiden Fällen durch
Kolbenoberflächen bei Kurzhubern bewirken einen den Ansaug- und Abgaskrümmer sowie die Anord-
hohen Wärmeeintrag in den Kolben. Der thermischen nung der Nebenaggregate bestimmt. Die Gesamtbau-
Probleme des Kolbens muss sorgfältig Rechnung höhe des Zweitaktmotors ist geringer als die des
getragen werden um ein frühzeitiges Versagen zu Viertaktmotors. Dieser Vorteil ist jedoch zum größten
vermeiden. Die Wärmeabfuhr ist durch die von Spül- Teil im Bereich unterhalb der Kurbelwelle zu finden
schlitzen unterbrochenen Zylinderwände unzurei- und damit nur bedingt verwendbar da über das Ge-
chend. Diese Situation wird noch verschlechtert triebe in Verbindung mit den Antriebswellen die
durch die starken Bohrungsverzüge aufgrund der Position der Kurbelwelle vorgegeben ist wenn Vier-
mangelhaften Abstützung der Zylinderrohrwände und Zweitaktmotoren im gleichen Fahrzeug verbaut
durch die Spülschlitze. Bild 5.8-5 zeigt diesen Zu- werden. Nur ein spezifisch auf den Zweitaktmotor
sammenhang. zugeschnittenes Getriebekonzept könnte diesen
Im Betrieb wird der Verzug durch die ungleiche Bauraumvorteil nutzen. In der Länge hat der betrach-
thermische Belastung der Ein- und Auslassschlitze tete Zweitaktmotor den Vorteil der Dreizylinderbau-
größer. Durch die hohen erforderlichen Kolbenspiele weise gegenüber einem Vierzylinder-Viertaktmotor.
kommt es Verkokungen in der Ringnut und Abdamp- Wird der Viertaktmotor als Dreizylinder ausgeführt
fen von Schmieröl im Ringbereich. relativiert sich dieser Vorteil ebenfalls. Eine Optimie-
Ein weiterer Schwachpunkt stellt das Schmiersystem rung des Zweitaktmotorkonzepts aus akustischen und
selbst dar. Das Öl wird über eine kennfeldgesteuerte Dauerhaltbarkeitsgesichtspunkten (Kapselung, Gleit-

2-Takt-Motor 4-Takt-Motor
Unverspannt Verspannt Verspannt
mit Zylinderkopf mit Zylinderkopf

Bild 5.8-5 Statische Boh-


rungsverzüge von 2- und
4-Takt-Motor
360 5 Antriebe

2-Takt-Motor 4-Takt-Motor

361

392

596
459

204
98

521

602 536

Bild 5.8-6 Package-Vergleich: Breite und Höhe

lagerung der Kurbelwelle, Druckölversorgung) lässt 5.8.3.6 Kosten


keinen Spielraum die möglichen Bauraumvorteile des
Zweitaktkonzepts zu behalten. Durch den einfachen Aufbau des Zweitaktmotors
Die gleichen Gründe, die einen Bauraumvorteil des wurde eine erhebliche Kosteneinsparung erwartet.
Zweitaktmotors unwahrscheinlich erscheinen lassen, Betrachtet man diese Problematik genauer zeigt sich
lassen sich auch in der Betrachtung des Gewichts eine Einsparung vor allen Dingen durch den Wegfall
anführen und zeigen, dass es schwierig sein dürfte die des Ventiltriebs und des aufwendigen Zylinderkopfs.
mittlerweile erreichten Gewichte eines modernen Vier- Im Gegenzug wird die Bearbeitung des Zylinder-
taktmotors zu erreichen. blocks der jetzt die Ladungswechselorgane beinhaltet,

2-Takt-Motor 4-Takt-Motor

382 481

Bild 5.8-7 Package-Vergleich: Länge


5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 361

sowie die Luft für das nächste Arbeitsspiel vorver- [4] Elements of two-stroke engine development. SAE-SP-988,
Collected Paper, 1993
dichtet, umfangreicher. Ebenso gestaltet sich die
[5] Two-stroke engines theoretical and experimental investigations.
Fertigung und Montage der Kurbelwelle und der SAE-SP-1019, Collected Paper, 1994
geteilten Wälzlager der Kurbelwellenhaupt- und [6] Two-stroke engine design and emissions. SAE-SP-1049,
Pleuellager aufwendiger. Zweitaktmotorspezifische Collected Paper, 1994
[7] Progress in two-stroke engines and emission control. SAE-SP-
Bauteile sind die Membraneinlassventile, die die 1131, Collected Paper, 1995
Vorverdichtung der Luft im Kurbelkasten ermögli- [8] Design, modelling and emission control for small two-stroke
chen und der Walzendrehschieber zur Steuerung der engines. SAE-SP-1195, Collected Paper, 1996
Restgasmenge. Ebenfalls muss das Gemischeinblase- [9] Design and application of two-stroke engines. SAE-SP-1254,
Collected Paper, 1997
system in eine Kostenbetrachtung einbezogen wer- [10] Meinig, U.: Standortbestimmung des Zweitaktmotors als Pkw-
den. Insgesamt fällt der Kostenvorteil des Zweitakt- Antrieb. In: MTZ Motortechnische Zeitschrift 62 (2001) Hefte
motors unter gleichen Randbedingungen gering aus. 7/8, 9, 10, 11

5.8.4 Zusammenfassung und Bewertung


Die wesentlichen Punkte lassen sich aus heutiger
Sicht wie folgt zusammenfassen:
• Emissionsgrenzwerte sind nur durch aufwendige
Abgasnachbehandlung erfüllbar (DeNOx-Kataly-
sator, NOx-Speicher) analog der Viertakt Mager- 5.9 Konventionelle und alternative
motoren, bzw. Benzindirekteinspritzmotoren Kraftstoffe und Energieträger
• Aufwendige konstruktive Maßnahmen zur Erzie-
lung eines befriedigenden NVH-Verhaltens erfor- Ein wesentlicher Pfeiler einer modernen Gesellschaft
derlich ist die Mobilität, der Transport von Gütern und Per-
• 5 – 10 % potentieller Verbrauchsvorteil gegenüber sonen. Die für diese Mobilität benötigte Energie wird
einem stoichiometrisch betriebenem Viertaktmo- zurzeit zu ca. 90 % in Deutschland [1] und zu ca.
tor (der aber auch ebenfalls homogen mager oder 95 % weltweit [2] aus Rohöl erzeugt. Dieses Mono-
als direkteinspritzender Motor mit Ladungsschich- pol der Energieversorgung verbunden mit der fossilen
tung betrieben werden kann) und endlichen Art der Energiequelle offenbart unter
• Aufwendige Maßnahmen zur Erzielung ausrei- anderen drei große gesellschaftliche Herausforderun-
chender mechanischer Standfestigkeit gen:
• Bauraumvorteil nur in der Länge aufgrund einer • Lokale Emissionen (Kohlenmonoxid, Kohlenwas-
geringeren Zylinderzahl bei gleicher spezifischer serstoffe, Partikel, Stickoxide)
Leistung • Global wirkende Treibhausgasemissionen (Koh-
• Geringer Gewichtsvorteil lendioxid)
• keine bis nur geringe Kostenvorteile • Rohölabhängigkeit und Risiken in der Energiever-
Der Zweitaktmotor konnte in der kurzen Entwick- sorgungssicherheit.
lungsphase Anfang der neunziger Jahre nicht so Regional abhängig werden verschiedene politische
überzeugend weiterentwickelt werden um eine breite Strategien verfolgt, diesen Herausforderungen zu be-
Anwendung als Fahrzeugantrieb zu finden. Er bleibt gegnen. In Europa steht die Klimaerwärmung im
aber aufgrund seiner spezifischen Vorteile ein attrak- Vordergrund. Die politischen Strategien sollen in
tives Motorkonzept für andere Anwendungen. Dies erster Linie die CO2-Emissionen reduzieren helfen. In
gilt insbesondere wenn die Anforderungen bezüglich den USA dagegen befindet sich der Schwerpunkt bei
kleiner Bauweise und eingeschränktem Betriebsbe- der Energieversorgungssicherheit. In den Schwellen-
reich nur gering durch andere Anforderungen einge- ländern, in denen das schnell anwachsende Mobi-
schränkt werden. Anwendungsgebiete sind damit Mo- litätsbedürfnis zwingend für die wirtschaftliche und
toren mit kleinem Hubvolumen im Zweiradbereich gesellschaftliche Entwicklung benötigt wird, stehen
und das breite Feld der in erster Linie stationär be- die Beherrschung der lokalen Emissionsbelastung
triebenen Motoren bei Generatoren, Bootsmotoren, und die Energieversorgungssicherheit im Vorder-
Arbeitsgeräten (Kettensägen, etc.). grund.

Literatur Europa:
[1] Blair, G. P.: The Basic Design of Two-Stroke Engines, Queen´s Das politische Ziel ist ein Anteil von 10 % erneuerba-
University of Belfast rer Energien im Transportsektor bis 2020, wobei
[2] Krickelberg, Th.: Zukünftige Chancen des 2-Takt-Motors als Biokraftstoffe die Hauptlast bis 2020 wegen der
Pkw-Antrieb. TU Wien/TU Graz, Nov. 1995, unveröffentlichter
Verfügbarkeit tragen werden [2]. Verbunden mit dem
Vortrag
[3] Königs, M.: Der Zweitakt-Motor. Ford Technologie Präsentation. CO2-Reduktionspotenzial der Biokraftstoffe (siehe
Köln, 1991 Bild 5.9-1), werden sich die CO2-Emissionen durch
362 5 Antriebe

Politische Rahmenbedingungen in Europa


Erneuerbare Energien-Richtlinie: Well-To-Wheel CO2-Reduktion

Nahrungsmittel Reststoffe, Zellulose

1. Generation 2. Generation
100
Stand der Technik CO2-Grenzwerte:
CO2-optimiert
CO2-Reduktionspotenzial [%]

80 Ab 2017

neue Anlagen 60%


60
bestehende Anlagen 50%

40 heutige Anlagen 35%

20

0
Ethanol Biodiesel Hydriertes Biogas Ethanol BtL
Pflanzenöl 2.Gen.
durch EU-Parlament am 17.12.2008 verabschiedet

Bild 5.9-1 Darstellung der in der Erneuerbare Energien Richtlinie [3] definierten CO2-Reduktionspotenziale
einiger Biokraftstoffe. Prozessoptimierungen können das CO2-Reduktionspotenzial heutiger Biokraftstoffe
deutlich anheben. Für die Anerkennung der Biokraftstoffe zum Ziel der Nutzung erneuerbarer Energien müssen
neben den dort definierten Nachhaltigkeitskriterien auch mindest-CO2-Reduktionswerte in Abhängigkeit des
Inbetriebnahmezeitpunktes der Biokraftstoffanlage erreicht werden. Bei einer Inbetriebnahme ab 2017 muss der
Biokraftstoff eine CO2-Reduktion im gesamten Lebenszyklus von mindestens 60 % nachweisen. Die Berech-
nung der CO2-Reduktion ist in der Erneuerbare Energien Richtlinie verankert.

Biokraftstoffe alleine um ca. 5 % reduzieren lassen. USA:


Bei den Biokraftstoffen dominiert in Europa gegen- Substitution von erdölstämmigen Kraftstoffen stehen
wärtig Biodiesel aus Rapsöl. Weiterentwicklungen im Vordergrund, wenn auch zunehmend die Treib-
des Biodiesels zu hydrierten Pflanzenölen (Hydro- hausgasreduktion stärker in den Fokus rückt [4]. So
treated Vegetable Oils: HVO) und synthetischem ist eine 10%-ige Kohlendioxidreduktion Ziel des
Diesel (Biomass-to-Liquid: BtL) werden intensiv „Low Carbon Fuel Standards“ des Staates Kalifor-
vorangetrieben. Eine Ablösung der Dominanz von nien. Als wichtigster Erdölersatz für den Mobilitäts-
Biodiesel durch HVO oder BtL wird erst nach 2020 bereich wird Ethanol gesehen. Dabei werden drei
erwartet. Großes Potenzial wird bei Ethanol aus unterschiedliche Rohstoffquellen für Ethanol betrach-
Zuckerrübe und Getreide gesehen. tet, aus heimischem Mais, aus Zellulose (Stroh, Gras)
Die Erneuerbare Energien Richtlinie [3] sieht vor, und importiertes Ethanol. Intensive Aktivitäten sind
dass Biokraftstoffe die dort definierten Nachhaltig- in den USA auf dem Gebiet von Zellulose-Ethanol zu
keitsanforderungen erfüllen müssen. Diese Nachhal- erkennen. Das politische Rahmenwerk zum Einsatz
tigkeitsanforderungen werden ab 2010 alle 2 Jahre von Biokraftstoffen ist in den USA für die Biokraft-
einer erneuten Überprüfung unterzogen. Es besteht stoffproduzenten deutlich klarer formuliert, wodurch
somit für die Biokraftstoffanlagenbetreiber das Risi- die Investitionsbereitschaft in vorhandene, aber auch
ko, dass früher anerkannte Biokraftstoffe bei einer in neue Biokraftstoffprozesse begünstigt wird. Der
erneuten Überprüfung der Nachhaltigkeitsanforde- Renewable Fuels Standard II der U.S. Environmental
rungen ihre Anerkennung verlieren. Die damit ver- Protection Agency, EPA [4] gibt absolute Mengen
bundene ungewisse Planungssicherheit erschwert in von zum Teil klar definierten Biokraftstoffen bis
Europa momentan Investitionen in neue Biokraft- 2022 vor (siehe Bild 5.9-2). Ein wesentlicher Vorteil
stoffanlagen. für Biokraftstoffhersteller, der klare Investitionsrah-
Neben den Biokraftstoffen wird, insbesondere jen- men gibt, unabhängig der Gesamtkraftstoffbedarfs-
seits 2020, ein großes Potenzial in der Elektromobili- entwicklung. Für die Fahrzeughersteller impliziert
tät und in Wasserstoff, beides regenerativ erzeugt, dies jedoch einen Nachteil, da der die Motortechnik
gesehen. bestimmende Beimischungsgrad an Biokraftstoff vom
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 363

Politische Rahmenbedingungen in den USA


Renewal Fuels Standard II

Benzinbedarf USA
2007: 385 Mt/a = 517 Mio. m3 (Quelle: DoE*) 1 Ethanol aus Mais
30,0
2023: 382 Mt/a = 503 Mio. m3 (EIA**) 2 Ethanol aus Stroh
140 3 Advanced biofuel
25,0 4 Biodiesel / HVO
120 Gesamt

% Vol. von 517 Mio. m3


100 20,0
[Mio. m3]

80 15,0 Bild 5.9-2 Renewable Fuels


Standard II. Die im Geset-
60
10,0 zestext geforderten absolu-
40 ten Mengen der vier ver-
Definition: schiedenen Kraftstoff-
5,0
20 1 min. 20 % CO2-Reduktion kategorien sind in Volumen-
2 min. 60 % CO2-Reduktion
3 Alles außer Mais-Ethanol prozenten umgerechnet. Der
0 0,0 min. 50 % CO2-Reduktion Dieselbedarf der USA in
2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 4 min. 50 % CO2-Reduktion
Jahr 2007 entspricht ca. der
* DoE: Department of Energy Hälfte des Benzinbedarfs
** EIA: Annual Energy Outlook 2009 der Energy Information Administration
[4, 5].

Gesamtkraftstoffbedarf an Benzin und Diesel abhän- nol als Biokraftstoff weltweit dominiert. Erdgas
gig ist. Insgesamt spielen neben Ethanol andere Bio- könnte insbesondere in den aufstrebenden Ländern
kraftstoffe insbesondere für Dieselmotoren eine klar eine große Rolle spielen.
untergeordnete Rolle. Der Wunsch nach mehr Energieversorgungsunabhän-
Neben den sehr konkret definierten Biokraftstoffen gigkeit aktiviert die Nutzung nationaler Ressourcen.
Ethanol aus Mais und Zellulose, eröffnet die Kate- Damit werden auch das Kraftstoffangebot und die
gorie „advanced biofuels“ eine technologieneutrale Kraftstoffqualitäten lokal zunehmend stärker variie-
Forderung, die den noch heute unbekannte Innovatio- ren. Steigender Kostendruck und weltweit steigende
nen in den Biokraftstoffherstellprozessen eine Markt- Anforderungen an die Emissionen der Fahrzeuge
einführung ermöglicht. sollten durch eine harmonisierte und an die Emissi-
Einen Überblick auch über andere Regionen geben onsanforderungen angeglichene und zeitlich synchro-
die Bilder 5.9-3 und 5.9-4. Es zeigt sich, dass Etha- nisierte flächendeckende Kraftstoffqualität gekoppelt

Übersicht heutiger Alternativer Kraftstoffe und Trends: Diesel


Weltweite Übersicht

Europa:
USA:
Diesel: Biodiesel B7
Diesel: Biodiesel
Ziel: CO2-Reduktion: 10% energetisch in 2020
Ziel: Energieversorgung
Trend: B10, HVO / BtL
Trend: HVO

Indien: China:
Brasilien:
Diesel: Biodiesel Diesel: CtL
Diesel: Biodiesel B4 Ziel: Energieversorgung
Ziel: Energieversorgung Ziel: Energieversorgung
Trend: Biodiesel
Trend: Biodiesel (Lkw) Trend: CtL, DME

Argentinien: Japan:
Diesel: – Diesel: Biodiesel (B5)
Ziel: Energieversorgung Ziel: Energieversorgung
Trend: Biodiesel (B5) Trend: –

• Biodiesel in Europa dominierend


• Wenig verfügbare Alternativen für Diesel weltweit

Bild 5.9-3 Übersicht dieselmotorischer Kraftstoffalternativen (Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)


364 5 Antriebe

Übersicht heutiger Alternativer Kraftstoffe und Trends: Otto


Weltweite Übersicht

Europa:
USA:
Otto: Ethanol E10, Erdgas, Autogas
Otto: Ethanol
Ziel: CO2-Reduktion: 10% energetisch in 2020
Ziel: Energieversorgung
Trend: E20/E85, Biogas(10%), Butanol
2022: ca. 25% vom Benzin als Ethanol
Trend: E25, Benzin aus Ölen, Zellulose-Ethanol
Russland:
Otto: –
Ziel: keines bekannt
Indien: Trend: Autogas
Brasilien: Otto: Ethanol, Erdgas
Otto: Ethanol, Erdgas Ziel: Energieversorgung China:
Ziel: Energieversorgung Trend: –
Trend: Zellulose-Ethanol Otto: Methanol
Ziel: Energieversorgung
Iran: Trend: Elektro
Argentinien: Otto: Erdgas
Otto: Erdgas Ziel: Erdöl exportieren
Trend: – Japan:
Ziel: Energieversorgung
Otto: Hybrid, Ethanol (E3)
Trend: –
Ziel: Energieversorgung
Trend: Elektro, H2

• Ethanol dominiert weltweit


• Erdgas und Autogas gewinnen an Bedeutung

Bild 5.9-4 Übersicht ottomotorischer Kraftstoffalternativen (Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)

sein. Diesen Zielkonflikt gilt es nicht nur durch geblieben ist und wahrscheinlich auch bleiben wird.
technische Maßnahmen zu begegnen. Mit dem Rohölpreis sind viele andere Rohstoffpreise
gekoppelt, so auch die für die Biokraftstoffe. Bei
5.9.1 Marktwirtschaftliche Aspekte Rohstoffen wie Pflanzenöl, bei denen die Nachfrage
Einen Überblick zu den Herstellkosten einiger bioge- groß und das Angebot überschaubar ist, kann eine
ner Kraftstoffalternativen gibt Bild 5.9-5. Der Abbil- 1 : 1 Kopplung festgestellt werden. Bei Rohstoffen,
dung liegen Biomasserohstoffpreise in Abhängigkeit die noch keiner großen Verwendung unterzogen sind,
des Rohölpreises der Vergangenheit zu Grunde. Es bzw. das Angebot deutlich größer, als die momentane
zeigt sich, dass trotz steigendem Rohölpreis Biokraft- Nachfrage ist, kann eine abgeschwächte Kopplung
stoff im Wesentlichen teurer als Benzin und Diesel festgestellt werden. Ein Beispiel hierfür ist Holz. Es

Bewertung Herstellkosten
Eigene Abschätzung der Abhängigkeit von Rohstoffkosten

1,80
75 $/b
1,60
150 $/b
1,40
Kraftstoffkosten [ /lOE]

1,20
1,00

0,80
0,60
0,40
0,20

0,00
Biodiesel

Weizen
Benzin
Diesel

Rapsöl

Paraffin

Tropsch

Zuckerrübe
hydriertes

Fischer-

Zuckerrohr

Bild 5.9-5 Preisentwick-


BtL Ethanol lung einiger Biokraftstoffe
in Abhängigkeit des
lOE: Liter Oil Equivalent
Rohölpreises [6]
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 365

ist anzunehmen, dass selbst Reststoffe bei zukünftiger Hohe Kraftstoffsteuern reduzieren dagegen den re-
Nutzung eine Preiskopplung zum Erdöl aufzeigen lativen Einfluss der Rohölpreisverdopplung. Sie ver-
werden. Eine Ausnahme stellt scheinbar Zuckerrohr ringern aber auch den marktwirtschaftlichen Ansporn,
dar. Dies ist aber nur der Fall, da zurzeit deutlich Alternativen zu entwickeln und umzusetzen, obwohl
mehr Zuckerrohr zu Zucker als zu Ethanol verarbeitet der absolute Preisanstieg in allen Regionen nahezu
wird, und daher der Zuckerpreis den Zuckerrohrpreis identisch ist.
dominiert. Bei einer deutlichen Zunahme der Etha- Eine besondere Situation stellt sich bei regenerativ
nolproduktion wird sich dieses Gefüge ändern. erzeugter elektrischer Energie dar. Bild 5.9-7 zeigt
Daher werden trotz steigendem Rohölpreis Biokraft- die Herstellkosten von Strom im Jahre 2007 und eine
stoffe zumindest bis ca. 2020 teurer als erdölbasierte Abschätzung für das Jahr 2020 [7]. Die zu erwarten-
Kraftstoffe sein. Sie werden politisch und nicht den steigenden Rohstoffkosten für Kohle und Gas
marktwirtschaftlich getrieben sein. Wobei die politi- stehen der Lernkurve bei der Produktionstechnik für
sche Unterstützung sich zunehmend vom Fördern hin erneuerbaren Strom gegenüber. In 2020 wird nach
zum Fordern wandelt, wie es die Erneuerbare Ener- dem Joint Research Centre der Europäischen Kom-
gien Richtlinie [3] und der Renewable Fuels Standard mission erwartet, dass Strom aus Windenergie kon-
II [4] zeigen. kurrenzfähig sein wird. In Bild 5.9-7 ist nur die
Die Rohstoffpreise der fossilen Alternativen Gas und Umsetzung von Sonnenenergie in Strom über Photo-
Kohle sind zwar auch an den Rohölpreis gekoppelt, voltaik dargestellt. Eine insbesondere von dem
dennoch könnte sich ein anderer Zusammenhang für DESERTEC-Projekt verfolgte Stromerzeugung über
diese fossilen Alternativen ergeben. In Regionen, die Solarthermie ist jedoch auch möglich und verspricht
über preiswerte Kohle- oder Erdgasvorkommen ver- die kostengünstigere Lösung zu sein [8]. Die im
fügen, und zudem noch große Investitionen in die Vorfeld erwähnte Kopplung vom Biomassepreis zum
Energieversorgung und -verteilung vornehmen müs- Rohölpreis ist bei Wind, Sonne und Wasser auf-
sen, werden diese Alternativen zunehmend wirt- gebrochen. Der Einfluss der Energiepreisentwicklung
schaftlich interessant und bieten einen wirkungsvol- auf die Investitionskosten der Anlagen sowie auf die
len Beitrag zur Verbesserung der Energieversor- Betriebskosten ist gering. Hinzu kommt, dass bei
gungssicherheit. diesen regenerativen Energiequellen das Angebot
Ein anderer interessanter Einfluss auf den marktwirt- deutlich größer ist, als die Nachfrage sein wird. Das
schaftlichen Anreiz für Alternativen ist die Kraft- Angebot allein an Sonnenenergie ist zum Beispiel
stoffbesteuerung. Den Einfluss einer Rohölpreisver- 2.850-mal größer, als der derzeitige weltweite Ener-
dopplung von 100 $/bbl auf 200 $/bbl auf den Kraft- giebedarf [9]. Der preisbildende Faktor wird weniger
stoffpreis an der Tankstelle zeigt Bild 5.9-6. Die die Erzeugung, sondern vielmehr das zeitliche und
Wirtschaft der Schwellenländer, in denen in der Re- örtliche Management zwischen Angebot und Nach-
gel niedrigere Kraftstoffsteuern erhoben werden, wird frage werden.
eine Rohölpreisanhebung stärker treffen, wodurch die
Etablierung von alternativen Kraftstoffen besonders 5.9.2 Energieversorgungssicherheit
in diesen Regionen nicht nur politisch sondern auch Zunehmend setzt sich als Treiber für alternative
marktwirtschaftlich vorangetrieben wird. Kraftstoffe die Energieversorgungssicherheit welt-

Tankstellenpreise Benzin
Tankstellenpreise in Abhängigkeit von Rohölpreisen bei 100 US$/bbl und 200 US$/bbl

220 Rohölpreis Prozesskosten Steuern


+44%
200
180
Tankstellenpreis [US$ Ct/l]

+63%
160
+81% +77% +66%
140
120
100
80
60
40 Bild 5.9-6 Tankstellen-
20 preiszusammensetzung
0 in Abhängigkeit des
Deutschland USA Russland China Indien
Rohölpreises
100 200 100 200 100 200 100 200 100 200
Rohölpreis [US $/bbl]
(Quelle: Volkswagen
Aktiengesellschaft, 2009)
366 5 Antriebe

Kosten erneuerbarer Stromproduktion


Herstellkostenvergleich fossiler und regenerativer Stromgestehung: 2007 und 2020

fossil erneuerbar

50
Quelle: JRC der EU Kommission 2008
State of the art 2007 max
45
State of the art 2007 min
40 Projektion 2020 max
Projektion 2020 min
35
Kosten [ cent/kWh]

30

25

20

15

10

0
Erdgas Kohle Atomkraft Biomasse Wind Wind Wasser Photovoltaik Bild 5.9-7 Kostenver-
onshore offshore
gleich erneuerbarer Strom-
• Windstrom wird Wirtschaftlichkeit erreichen produktion mit fossiler und
• Kostenzunahme bei fossilen und Kostenabnahme bei regenerativen Stromprozessen
• Photovoltaik auch unter optimistischen Annahmen teuerste Option
nuklearer Stromproduktion
für 2007 und 2020 [7]

weit durch. Daher soll diese hier vertieft betrachtet in Milliarden Barrel Öläquivalent dargestellt. Zusätz-
werden. lich sind diese Mengen in Jahreseinheiten basierend
Die Energieversorgungssicherheit wird durch drei auf dem heutigen Rohölbedarf von 29 Mrd. bbl/a und
wesentliche Faktoren, bestimmt: die Verfügbarkeit auf dem heutigen Erdgasbedarf von 20 Mrd. bbl/a
der Energiequelle oder des Rohstoffs, die Verfügbar- Öläquivalent normiert dargestellt.
keit des Umwandlungsprozesses vom Rohstoff in den Es zeigt sich, dass weniger Erdgas als Erdöl ver-
Kraftstoff und die Verfügbarkeit der Fahrzeuge sowie braucht wurde und dass bei Erdgas deutlich größere
der Verteilungsinfrastruktur. Erst wenn alle drei Mengen bei den Ressourcen erwartet werden. Ent-
Verfügbarkeiten gegeben sind, kann der alternative scheidend ist das Verhältnis zwischen Ressourcen
Kraftstoff nennenswert zu einer Substitution von und Reserven, das auch als Maß für die zukünftige
rohölstämmigen Kraftstoffen beitragen. Verfügbarkeit dienen kann. Dieses Verhältnis ist für
Erdgas deutlich günstiger. Erdgas hat damit auch ein
5.9.3 Fossile Energiequellen größeres Potenzial, steigender Nachfrage gerecht zu
werden, da noch mehr ungenutztes Potenzial im
Erdöl besitzt zurzeit ein Monopol der Energieversor- Boden verfügbar gemacht werden kann. Die Einbe-
gung der Mobilität. Dieses Monopol führte schon in ziehung der unkonventionellen Ressourcen verstärkt
der Vergangenheit zu politischen Abhängigkeiten, die diese Aussage, da diese Erdgas-Ressourcen die von
unter anderem in den Ölkrisen gipfelten. Zunehmend Erdöl um mehr als den Faktor 3 übertreffen. Der
erhärtet sich der Verdacht, dass der weltweit stetig zunehmende Ausbau des Erdgastransportes mithilfe
wachsende Rohölbedarf an Grenzen auf Seiten der verflüssigten Erdgases via Schiff, reduziert die Logis-
Rohölversorgung stoßen wird. Nicht nur die Endlich- tiknachteile und ermöglicht unabhängigere Handels-
keit des Rohöls wird zum Energieversorgungspro- beziehungen als durch den alleinigen Pipelinetrans-
blem, sondern möglicherweise früher schon eine port.
schneller als die Erdölförderung anwachsende Erdöl- Eine weitere fossile Alternative ist Flüssiggas (Liquid
nachfrage [10]. Statt die Peak-Oil Diskussion hier Petroleum Gas: LPG). Es wird zusammen mit Erdöl
weiter zu vertiefen, soll stattdessen die Situation der und Erdgas in einem durchschnittlichen Anteil von
statischen Reichweiten der Reserven und Ressourcen ca. 6 % gefördert [11]. Das Substitutionspotenzial
von Erdöl im Vergleich zum Erdgas betrachtet wer- von LPG ist daher auf 6 % der Erdöl- bzw. Erdgas-
den (Bild 5.9-8). förderung beschränkt. Hinzu kommt, dass LPG ein
In der Darstellung sind die geförderten Mengen sowie wichtiger chemischer Rohstoff ist und der zentrale
sowohl die konventionellen als auch unkonventionel- Energieträger zum Kochen für Bevölkerungsteile, die
len Reserven und Ressourcen von Erdöl und Erdgas weder zu Gas oder Strom Zugang haben. Daher ist
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 367

Verfügbarkeit von Erdöl und Erdgas


Statische Reichweite der konventionellen und unkonventionellen Reserven und Ressourcen

konventionell: fließfähiges Erdöl Zahlenwerte:


in der Lagerstätte 38 41 21
Vielfaches der Jahresproduktion (2008)

Erdöl Reserven (bekannte Lager,


technisch und wirtschaftlich
unkonventionell: Ölsand 13 81 förderbar
Schweröl und Ölschiefer
Ressourcen (bekannte und
vermutete Lager, derzeit nicht
wirtschaftlich förderbar
konventionell: freies Erdgas und
Erdölbegleitgas 29 57 75
bereits gefördert

Erdgas
unkonventionell: Erdgas in
dichten Speichern, Flözgasen 290
und Gashydrate

–155000 –55000 45000 145000 245000 345000 445000 545000 645000 745000
Millionen Tonne Öläquivalente
Quelle: Eigene Abbildung basierend auf Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) 2009

Bild 5.9-8 Konventionelle und unkonventionelle Ressourcen und Reserven


Die Förderung von konventionellem Erdöl ist bereits weit fortgeschritten und daher voraussichtlich nahe am
Fördermaximum (Peak-Oil). Bei konventionellem Erdgas ist die Lage deutlich entspannter: Bei ungefähr glei-
chen Reserven ist die Jahresproduktion deutlich kleiner. Zudem werden die Ressourcen wesentlich höher einge-
schätzt als bei Erdöl. Die Einbeziehung von nicht-konventionellen Quellen verstärkt dieses Bild nochmals.
Abbildung basierend auf [11].

das Potenzial von LPG zur Energieversorgungssi- Zusammenfassend ist kurz- und mittelfristig Erdgas
cherheit für die Mobilität beschränkt. aus Energieverfügbarkeitsaspekten eine ernstzuneh-
Unbestritten besitzt Kohle bei den fossilen Energie- mende wenn nicht sogar die potenteste Alternative
quellen das noch größte Potenzial. Technologien zur zum Erdöl. Erdgas kann nicht nur zur Energieversor-
Umwandlung von Kohle in Kraftstoffe, wie die gungssicherheit beitragen sondern auch zur Reduzie-
Fischer-Tropsch-Synthese sind zwar in Südafrika so- rung der lokalen und globalen Emissionen [13].
wie China großtechnisch vorhanden, jedoch nicht an- Langfristig werden die weiter unten diskutierten rege-
nähernd ausreichende Herstellkapazitäten. Außer- nerativen Alternativen an Bedeutung gewinnen und
dem steht die positive Rohstoffsituation der Kohle im schließlich die Energieversorgung auch für den Mobi-
Gegensatz zu den Anstrengungen, die Energieversor- litätsbereich dominieren.
gung CO2-neutraler zu gestalten.
Die Kohlendioxid Sequestrierung (Carbon Capture 5.9.4 Regenerative Energiequellen
and Storage, CCS) könnte zu einer wichtigen Techno- Der entscheidende Vorteil der regenerativen Energien
logie werden, die den Zielkonflikt zwischen der ist die per Definition nach menschlichen Maßstäben
Energieversorgung und der Treibhausgasreduktion unendliche Reichweite der Reserven und Ressourcen.
überwinden könnte. Sie hat aber viele zu klärende Die Herausforderung liegt nicht in der Energiequelle,
technische und gesellschaftliche Herausforderungen sondern in der Nutzbarmachung dieser Energiequellen.
zu meistern. So benötigt CCS unterirdische Lagerstät- Neben der Gewinnung nimmt das Energiemanagement,
ten, die im Wettbewerb zu Energiespeichern wie dem örtlichen und zeitlichen Abgleich von Angebot
Druckluft- und Erdgaslagerstätten stehen. Gleichzei- und Nachfrage, eine zunehmende Herausforderung ein,
tig erzwingt die zukünftige Energieversorgung wegen insbesondere wenn regenerativ erzeugter Strom in
des schwankenden Energieangebots (Wind, Sonne) größerem Stile (>10 %) genutzt werden soll [14].
eine deutliche Zunahme von Speichersystemen. Hier
besteht ein technischer Zielkonflikt. Biokraftstoffe:
Eine Nutzung von CO2 ist die Herstellung von Koh- Eine der bekanntesten und vom Energiemanagement
lenwasserstoffen, im einfachsten Fall Methan (CH4) recht einfachen Art Sonnenenergie für die Mobilität
über eine Synthese mit Wasserstoff (CO2 + 4H2 → nutzbar zu machen, sind Biokraftstoffe. Sie nutzen
CH4 + 2H2O). Der Wasserstoff könnte aus überschüs- die Fähigkeit der Pflanzen, Sonnenenergie in Bio-
siger regenerativer Energie gewonnen werden. Solche masse zu wandeln und zu speichern. Dieser Vorteil
Konzepte erscheinen insbesondere zur Glättung des der Biokraftstoffe ist zugleich auch ihr größter Nach-
schwankenden Energieangebots hilfreich zu sein [12]. teil. Pflanzen wandeln nur zu ca. 1 % die Energie des
368 5 Antriebe

Sonnenlichts in Biomasse um [15]. Dieser geringe sich bis 2017 um 45 % steigern [17] und bis 2030
Wirkungsgrad könnte bei der kostenfrei scheinenden verdoppeln [18]. Bei einem heutigen europäischen
Sonne nebensächlich sein, mündet aber in einen Dieselbedarf von 200 Mt/a [19] würde alleine Europa
großen Flächenbedarf und somit in eine Konkurrenz bei einer flächendeckenden 10 %igen Substitution des
zur Nahrungsmittelversorgung (siehe Bild 5.9-9). Dieselbedarfs durch Biodiesel ca. 20 % der weltwei-
Damit ist das Substitutionspotenzial von nachhaltigen ten Pflanzenölproduktion benötigen. Eine andere
Biokraftstoffen beschränkt. Aus Sicht der Volkswa- Darstellung dieses Zusammenhangs der unterschied-
gen Aktiengesellschaft ist das Substitutionspotenzial lichen Biomassepotenziale gibt Bild 5.9-9, die auch
weltweit aus Nachhaltigkeitsgründen auf max 20 % verdeutlicht, dass zwar heute keine nennenswerte
basierend auf dem in 2020 erwarteten weltweiten Nahrungsmittelkonkurrenz besteht. Diese könnte sich
Kraftstoffbedarf beschränkt. Diese theoretische jedoch durchaus zukünftig insbesondere durch Pflan-
Betrachtung wird ergänzt durch eine Abschätzung der zenölnutzung ergeben.
realen Umsetzbarkeit des politischen Ziels der EU, Die Erkenntnis, dass Biokraftstoffe nicht die alleinige
10 % erneuerbare Energien im Verkehr zu erreichen, Lösung der Energieversorgung der zukünftigen
die das JEC-Konsortium erarbeitet hat [28]. Dieses Mobilität sicherstellen können, auch bei Anwendung
Ziel stellt bereits eine Herausforderung dar, die nur neuester Technologien, darf nicht darüber hinwegtäu-
durch ein Zusammenwirken verschiedener Stakehol- schen, dass sie zu einer sehr sinnvollen und auch
der (Straße, Schiene, Wasser) erreicht werden kann. nachhaltigen Substitution von rohölstämmigen Kraft-
Eine optimistischere Sichtweise vertritt das Biofuels stoffen beitragen können. Ihr größter Vorteil ist die
Research Advisory Council – BIOFRAC, das ein relativ einfache Umsetzung auf Seiten der Herstel-
Biokraftstoffpotenzial für 2030 in Europa von bis zu lung, und Anwendung. Das einfache Zumischen zu
25 % sieht [16]. Alle Einschätzungen setzen dabei vorhandenen Kraftstoffen innerhalb der gültigen
schon neue Technologien, wie Zellulose-Ethanol und Kraftstoffnormen, bis hin zu neuen Herstellprozessen
BtL voraus, die die Nutzung von Zellulose und Rest- mit deutlich verbesserten Biokraftstoffqualitäten und
stoffen ermöglichen. Des Weiteren ist auch Biogas erhöhten Beimischpotenzialen, ermöglicht eine Kom-
berücksichtigt, das auf Erdgasqualität aufgereinigt patibilität mit der heutigen Mobilität und der heutigen
wird. Der Biogasherstellungsprozess ist im Vergleich Verteilungsinfrastruktur sowie einer Unterstützung
zu BtL und Zellulose-Ethanol deutlich einfacherer der örtlichen Wirtschaft. Das Substitutionspotenzial
und ermöglicht dennoch die Nutzung insbesondere von maximal 20 % zeigt aber auch, dass weitere
auch von feuchter Biomasse und Reststoffen. Die Alternativen notwendig werden.
Nutzbarmachung von Zellulose und Reststoffen für
die Biokraftstoffherstellung ist wegen des großen Elektrizität:
Biomassepotenzials bedeutend [16, 28]. Das gerings- Ganz anders verhält es sich bei regenerativ erzeugtem
te Biomassepotenzial unter den gängigen Biomasse- Strom. Ein sehr großes Erzeugungspotenzial steht
formen von Zellulose, Stärke, Zucker und Pflanzenöl, einem momentan kleinen Nutzungspotenzial gegen-
besitzt das Pflanzenöl. Die heutige weltweite Produk- über. Theoretisch lässt sich der Energiebedarf der
tion von Pflanzenölen beträgt ca. 100 Mt/a und soll Mobilität durch regenerativ erzeugten Strom aus

Nahrungsmittelkonkurrenz durch Biokraftstoffe


Rohstoffverbrauch für Biokraftstoffe durch USA und EU

5% E15
11%
Ethanol: 95% 89%
Rohstoffanteil an
weltweiter Weizen-, Mais-, 2008 2018
Zuckerproduktion
Nahrungsmittel Nahrungsmittel
Futtermittel Futtermittel

9%
24% B10
Biodiesel: 91% 76%

Rohstoffanteil an
weltweiter Pflanzenöl- 2008 2018
produktion
Bild 5.9-9 Situation der
Nahrungsmittel Nahrungsmittel
Futtermittel Futtermittel Nahungsmittelkonkurrenz
bei Weizen, Mais und
EU + USA 2020: Zucker sowie bei Pflan-
480 Mtoe/a Benzin zenölen durch Ethanol und
Quelle: F.O. Licht 2009, FAO 2009 327 Mtoe/a Diesel
Biodiesel [18, 20]
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 369

Sonne tanken
Wirkungsgrad-Pfade
Pflanze – Biokraftstoff – Verbrennungsmotor

Wirkungsgradpfad: 1% × 50 % × 25 % = 0,1 %
Photovoltaik – Wasserstoff – Brennstoffzelle – Elektro
H2

Wirkungsgradpfad: 15 % × 70 % × 90 % 50 % 80 % =4%

Photovoltaik – Batterie – Elektro-Auto

Bild 5.9-10 Wirkungsgrade


Li-Ion
der Sonnenenergienutzung
Wirkungsgradpfad: 15% × 95 % 90 % 80 % = 10 % (Quelle: Volkswagen
Aktiengesellschaft)

Wind, Wasser und Sonne sowie Erdwärme und Ge- wird. Hinzu kommt, dass diese Photovoltaikanlage
zeitenenergie decken. Als ein Beispiel hierzu, soll das nicht auf dem Acker stehen muss und somit nicht
Potenzial der Photovoltaik beleuchtet werden. Selbst beim Flächenbedarf mit der Nahrungsmittelversor-
in mittleren Breiten von 50° Nord besitzt die Photo- gung konkurriert. Eine Übersicht der Flächenbedarfe
voltaik handelsüblicher Solarmodule einen Wir- von Biomasse, Strom aus Wind und Sonne gibt Bild
kungsgrad von 15 % [9] und somit eine Energieaus- 5.9-11.
beute, die um den Faktor 15 größer ist, als die der Erkauft wird dieses Energiesubstitutionspotenzial
Biomasse. Wird in den Vergleich auch die Umwand- durch die Notwendigkeit einer neuen Fahrzeugtech-
lungs- und Nutzungskette einbezogen, so erreicht der nologie und Infrastruktur und durch eine Einschrän-
Energiepfad der Photovoltaik bis hin zum Batterie- kung des Mobilitätsangebotes. Noch sind keine
fahrzeugen einen 100fach größeres flächenbezogenes Batterietechnologien greifbar, die weder heute vor-
Substitutionspotenzial als Biomasse und Verbren- ausgesetzte Reichweiten von mindestens 400 km
nungsmotorfahrzeuge (siehe Bild 5.9-10). noch akzeptable Ladezeiten kleiner 5 Minuten garan-
Für ein Batteriefahrzeug würden ca. 20 m2 Photovol- tieren. Dennoch könnte die mit heutiger Batterietech-
taikfläche (50° Nord) für die Energieversorgung aus- nologie mögliche Reichweite von 100 – 150 km rein
reichen, wenn ein Strombedarf von 20 kWh/100 km statistisch 90 % der Tagesfahrleistungen darstellen
und eine Laufleistung von 10.000 km/a angenommen (siehe Bild 5.9-12).

Substitutionspotenziale regenerativer Energien für Deutschland


Vergleich der Potenziale von Biomasse und grünem Strom Annahmen

Biomasse Wind Strom Sonne Strom (PV) * Energiebedarf für einen Golf
Potenzial TDI: 54 kWh/100km = 5,4l/100km
SunFuel 2020 2030 2020 2030
EV: 20 kWh/100km
Flächen- 18.000
3,5 km2 7 km2 70 km2 700 km2
potenzial km2
** Kraftstoffbedarf Deutschland
Energie- 2007 Straße (MWV):
Ernte 60 801) 1352) 101) 1052)
Diesel: 26,4 Mt/a
[TWh/a]
Otto: 21,3 Mt/a
Kraftstoff-
Summe: 47,7 Mt/a
äquivalent 5 18 30 2 24
[Mtoe/a]*
Flächenbedarf
Pkw
10 % 38 % 63 % 4% 50 % Windanlage: 0,5 m2/1000 lDieseleq.
Anteil**
Photovoltaik: 67 m2/1000 lDieseleq.
Quelle: 1)Nach BMU/dena-Prognose bis 2020; 2)Nach BMU-Szneario > 2020 Biomasse: 3030 m2/1000 lDieseleq.

• Keine Flächennutzungskonkurrenz bei Strom aus Wind und Sonne


• Substitutionspotenzial für grünen Strom ist ein Vielfaches zu Biokraftstoffen aus Biomasse

Bild 5.9-11 Vergleich des Flächenbedarfs und des Substitutionspotenzials von regenerativen Energien
(Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)
370 5 Antriebe

Pkw-Tagesfahrleistung in Deutschland
50 km Reichweite ~ 80% der täglichen Fahrten ~ 35 % der Gesamtfahrleistung
80 km Reichweite ~ 90% der täglichen Fahrten ~ 50 % der Gesamtfahrleistung
18 100
Tagesfahrleistung 90
16

Tagesleistung, kumuliert [%]


14 80
70
Tagesleistung [%]

12
60
10
50
8
40
6
30
4 20
2 10
0 0
2,6 5,2 7,8 13 20,8 26 39 52 78 130 260 >260
Pkw-Tagesfahrleistungen in km/d
Bild 5.9-12 Pkw-Tages-
Datenquellen: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW), 2002
fahrleistung in Deutsch-
land [21]

Neben all den technischen Herausforderungen die Diese Betrachtungen verdeutlicht, dass die meisten
noch bei der Elektrifizierung des Antriebs zu über- Aufladevorgänge der Elektrofahrzeuge langsame, vor-
winden sind, wird auch eine Herausforderung unsere zugsweise in der Nacht stattfindend, sein werden.
Erwartung an die Mobilität sein. So beispielsweise Dann wird nicht nur der Energie- sondern auch der
die Bereitschaft für neue Mobilitätsmodi und sei es Leistungsbedarf der Elektrofahrzeuge bis 2020 ver-
nur, dass ein Fahrzeug in der Zukunft nicht mehr nachlässigbar und darüber hinaus beherrschbar sein.
zwingend ein Alleskönner sein muss. Die in Deutschland für 2020 angedachten 1 Mio.
Der Traum eines schnell aufladbaren Batteriefahr- Elektrofahrzeuge würden einen Energiebedarf von
zeuges stößt nicht nur bei der Batterie, sondern auch 2 TWh pro Jahr und damit 0,3 % des deutschen
bei der Stromversorgung an physikalische Grenzen. Strombedarfs (599 TWh in 2008 [23]) benötigen
Flächendeckende Schnellladestationen für Elektro- sowie einen Leistungsbedarf von 3 GW, wenn alle
fahrzeuge wären nicht nur mit hohen Investitionen Fahrzeuge über Nacht gleichzeitig mit 3 kW aufgela-
verbunden, sondern würden auch an die Grenzen den werden. Dagegen würde die Schnellladung dieser
der vorhandenen Leistung der Kraftwerke und der Fahrzeuge eine Leistung von 60 GW benötigen, wenn
Stromverteilung stoßen. Ohne Verlustleistungen zu angenommen wird, dass nur 10 % der einen Million
berücksichtigen, wäre eine Ladeleistung von 600 kW Elektrofahrzeuge mit 600 kW gleichzeitig geladen
notwendig, wenn der angenommene Energiebedarf würden. Dies entspricht fast der Hälfte der Kraft-
von 20 kWh für 100 km Reichweite innerhalb von werksleistung Deutschlands von ca. 130 GW [24].
2 Minuten aufgeladen werden müsste. Zum Vergleich Die Elektromobilität stellt eine zukunftsweisende
sei hier angemerkt, dass ein heutiger Tankvorgang Option dar, wenn nicht der Anspruch einer vollstän-
von 50 Litern Diesel innerhalb von 2 Minuten einer digen Substitution erhoben wird. Eine Tagesfahrleis-
Tankleistung von 15 MW entspricht. Batteriewech- tung von ca. 100 km bis 150 km, ist schon heute für
selstationen könnten diese Begrenzungen aufheben, einige Mobilitätsansprüche ausreichend, und das Auf-
würden aber großes totes Kapital verursachen. Sie laden der Batterien über Nacht erfordert keine we-
erzwingen statt einer Batterie pro Fahrzeug ein mehr- sentlichen neuen Investitionen bei der Infrastruktur.
faches Vorhalten von Batterien für ein Fahrzeug. Einfach und provokant gesprochen: Steckdosen mit
Mehrfach deshalb, da wegen der begrenzten Reich- einer Leistungsabgabe von 3 kW sind in jedem Haus-
weite von Batteriefahrzeugen das Schnellwechselsta- halt vorhanden.
tionennetz eng geknüpft sein müsste und wegen der
beschriebenen Begrenzung in der Ladeleistung, die Wasserstoff:
zur Überwindung von Spitzenzeiten beim Wechselbe- Eine Option trotz elektrisch angetriebenem Fahrzeug,
trieb nur durch eine zusätzliche Anzahl vorgehaltener die Limitierungen der Mobilitätsperformance von
Batterien begegnet werden kann [22]. Batteriefahrzeugen zu überwinden, und das Substitu-
Zurzeit ist die Batterie eines der teuersten Module des tionspotenzial des regenerativen Stroms zu nutzen,
Fahrzeuges. Alles mündet in ein nicht nur großen stellt die Brennstoffzellentechnik dar. Auf Kosten
Investitionsbedarf sondern auch in der Demobilisie- zusätzlicher Umwandlungsschritte bei der Energiebe-
rung von Kapital. reitstellung und Nutzung im Fahrzeug, gewinnt man
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 371

Strombedarf für E-Fahrzeuge


Deutschland EU 27 Welt

2008 2008 2008


Strombedarf: 615 TWh Strombedarf: 3.381 TWh Strombedarf: 19.800 TWh
davon Windenergie: 40 TWh davon Windenergie: 142 TWh davon Windenergie: 260 TWh

2020 2020 2020


Strombedarf: 615 TWh Strombedarf: 3.587 TWh Strombedarf: 27.200 TWh
davon Windenergie: 150 TWh davon Windenergie: 477 TWh davon Windenergie: 1.640 TWh

Strombedarf 1 Mio EV**: 2 TWh Strombedarf 2,7 Mio EV**:5,4 TWh Strombedarf 7 Mio EV**: 14 TWh

= 0,3 % (vom Strombedarf) = 0,15 % (vom Strombedarf) = 0,05% (vom Strombedarf)


= 1,3 % (vom Windstrom) = 1,1 % (vom Windstrom) = 1,4 % (vom Windstrom)
* Quellen: Bundesverband Windenergie, Bundes- * Quellen: European Eind Energy Association, * Quellen: World Wind Energy Association ,
ministerium f ür Umwelt, Deutsche Energie Agentur International Energy Agency International Energy Agency
** Bundesregierung, 10.000 km, 20kWh/100 km ** EUCAR, 10.000 km, 20kWh/100 km ** IEA, 10.000 km, 20kWh/100 km

Bild 5.9-13 Strombedarf für Elektrofahrzeuge für die Märkte Deutschland, Europa und Welt. Annahme der
Menge der Elektrofahrzeuge basierend auf politischen Zielen (Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)

durch die bessere Speicherbarkeit von Wasserstoff Diese Gedanken zeigen, dass zwar das Substitutions-
gegenüber Strom ein Elektrofahrzeug mit akzeptabler potenzials von regenerativ erzeugtem Strom eine
Reichweite und gewohnt schnellem Auftanken auf weitreichende Energieversorgungssicherheit für die
dem Niveau heutiger Erdgasfahrzeuge. Mobilität darstellen kann, jedoch entweder beim
Neben den Energieumwandlungsschritten, die zwar Mobilitätsangebot Abstriche hinzunehmen sind, oder
den Wirkungsgrad der gesamte Kette schmälert (siehe gänzliche neue Fahrzeuggenerationen in Verbindung
Bild 5.9-10), ist vielmehr die parallele Einführung mit einer neue Wasserstoffinfrastruktur notwendig
einer neuen und investitionsintensiven Infrastruktur werden.
und einer neuen Fahrzeugtechnik und Fahrzeuggene-
ration als Herausforderung zu nennen. Dieses Henne- Strom zu Kraftstoff:
Ei-Problem kann schwerer zu überwinden sein, als Eine zusätzliche zurzeit noch visionär erscheinende
die zurzeit ca. 50-mal teureren Investitionskosten Option, die unerschöpflichen regenerativen Energie-
von Wasserstofftankstellen, gegenüber Zapfsäulen für quellen für die Mobilität zu nutzen, ist die Umwand-
flüssige Kraftstoffe wie Diesel oder Benzin, in Höhe lung von regenerativ erzeugtem Strom in Kraftstoffe.
von ca. 0,5 Mio. € [26]. Dabei kann Wasserstoff Als Zwischenschritt dient die Wasserstofferzeugung
grundsätzlich sowohl in einem ottomotorischen Ver- per Elektrolyse. In einem weiteren Schritt reagiert
brennungsmotor umgesetzt werden, als auch mit Wasserstoff mit einem Kohlenstoffträger, Kohlenmo-
hoher Effizienz in einer Brennstoffzelle. Aufgrund noxid oder Kohlendioxid, weiter zu Kohlenwasser-
des höheren Wirkungsgrads bei der Umsetzung in der stoffen, flüssigen oder gasförmigen Kraftstoffen. Als
Brennstoffzelle [13] erscheint die Nutzung von Was- ein Beispiel sei die Anwendung in einer Biogasanlage
serstoff in der Brennstoffzelle zielführend zu sein. genannt. Das Rohbiogas, das zu ca. 50 % Methan und
Bezogen auf den H2-Verbrennnungsmotor, sind Ni- 50 % Kohlendioxid besteht, wird zusammen mit
schenanwendungen an Orten interessant, an denen Wasserstoff zu annähernd 100 % Methan aufgerei-
bereits heute Wasserstoff in größerer Menge – z.B. nigt. Das CO2 reagiert nach dem Sabatier-Prozess mit
als Prozessnebenprodukt – verfügbar ist, da die dem H2 zu CH4 und Wasser [12]. Eine andere Mög-
Verbrennungsmotoren den evtl. „verunreinigten“ lichkeit stellt der Fischer-Tropsch-Prozess bei der
Wasserstoff verwerten, der für Brennstoffzellen un- Herstellung von BtL dar. Extern zugeführter Wasser-
geeignet ist [25]. stoff kann hier helfen, das notwendige H2/CO-
Wasserstoff stellt einen in der technischen und wirt- Verhältnis, ohne die Shift-Reaktion (H2O + CO =
schaftlichen Umsetzung aufwendigen, aber auch in H2 + CO2) zu nutzen, einzustellen. Damit wird die Aus-
der Energieversorgungssicherheit und im Mobilitäts- beute von BtL pro Biomasseeinsatz verdoppelt [27].
angebot sehr weitreichenden Energieträger für die Die Nutzungsoptionen des regenerativen Wasser-
Mobilität dar. Die technischen und wirtschaftlichen stoffs für die Kraftstoffherstellung, stellt wegen
Hürden zeigen, dass Wasserstoff und die Brennstoff- seiner zusätzlichen Umwandlungsschritte einen ver-
zellentechnologie erst als Option verstärkt genutzt ringerten Wirkungsgrad dar, als Strom oder Wasser-
werden wird, bzw. sollte, nachdem die vorher ge- stoff direkt zu verwenden. Aber er ermöglicht die
nannten Optionen angegangen und umgesetzt wurden. Beibehaltung der vorhandenen Mobilität und Infra-
372 5 Antriebe

struktur mit der vertrauten und geschätzten Mobili- diesel in Europa dominieren. Neue Biokraftstoffe wie
tätsperformance und eröffnet dennoch die Erschlie- Zellulose-Ethanol oder BtL werden voraussichtlich
ßung der regenerativen Elektrizität. Diese Option nach 2020 verstärkt in den Markt kommen. Eine
steht in der zeitlichen Umsetzung eher nach den Ablösung der Dominanz der etablierten Biokraftstof-
anderen genannten Optionen. Erst ein Überschuss an fe wird erst in der zweiten Hälfte der 20iger Jahre
regenerativem Strom rechtfertigt politisch und markt- möglich sein. Lernkurven bei der Entwicklung neuer
wirtschaftlich die Umwandlung in Kohlenwasserstof- Technologien sowie deren breiten Markteinführung
fe. Die technologischen Hürden sind im Vergleich zu zeigen, dass die ersten 10 Jahre für einen Marktanteil
den wirtschaftlichen eher gering. Der wirtschaftliche von ca. 1 % erforderlich sind, weitere 10 Jahre führen
Reiz dieser Technologie wird in der Möglichkeit zu einem Marktanteil von ca. 10 %. Nicht nur die
liegen, zeitliche und örtliche Überangebote an rege- Technik sondern auch die Finanzierung sowie das
nerativem Strom, nicht nur in speicherbare, sondern Gewinnen der Kundenakzeptanz führen zu solch
vielmehr direkt handelbare Produkte umzusetzen. Am langen Zeithorizonten. Daher werden sicherlich selbst
Beispiel der Biogasanlage würde der sonst ungenutzte in 2030 rohölbasierte Kraftstoffe zu mehr als 50 %
Strom in Methan umgewandelt und in das Erdgasnetz die Mobilität bedienen.
eingespeist werden. Er könnte somit die Erdgasim- Kein alternativer Kraftstoff kann die Herausforderun-
porte reduzieren helfen. Eine teure Speicherung von gen der Mobilität hinsichtlich Energieversorgungssi-
Wasserstoff oder anderen Energieträgern wird, zu- cherheit und Klimagasneutralität mittelfristig alleine
mindest bei ausreichendem Substitutionspotenzial lösen. Es wird ein bunteres Nebeneinander von Kraft-
von fossilem Erdgas, umgangen. stoffen geben, die langfristig jedoch mit Sicherheit
dominierend regenerativ erzeugt werden. Deshalb ist
5.9.5 Zusammenfassung es wichtig alle weiteren neuen Kraftstoffe im Rahmen
Erdöl und die daraus gewonnenen Kraftstoffe werden von international akzeptierten Normen und Standards
zumindest bis 2020 nicht ihre Dominanz, jedoch sehr für Blendkraftstoffe einzuführen. Nur damit kann die
wohl ihre Monopolstellung verlieren. Erdgas stellt bei Nutzung in der bestehenden Flotte mit einem gleiten-
den Alternativen zum Erdöl wegen seiner Verfügbar- den Übergang zu neuen Fahrzeuggenerationen ge-
keit und einfachen technischen sowie logistischen währleistet werden.
Nutzung sowie wegen seines Beitrages bei allen drei Es ist anzunehmen, dass die Zwänge zum Wandel
großen Herausforderungen der Mobilität, die wich- wegen der Erdölreichweite oder -förderkapazität so-
tigste, kurz- und mittelfristige Alternative zum Erdöl wie wegen der Klimaerwärmung nach 2020 sehr
dar. wahrscheinlich deutlich zunehmen werden. Es gilt
Langfristig werden die regenerativen Energien und daher, in den kommenden 10 Jahren eine möglichst
insbesondere die regenerative Elektrizität in den drei breite technologische Basis von Alternativen, mit
vorgestellten Nutzungsformen – Batterie, Brennstoff- dem langfristigen Ziel der gänzlichen regenerativen
zelle, Strom zu Kraftstoff – dominieren. Eine direkte Energienutzung, zu etablieren, um den Zwängen
Nutzung von Strom in Batteriefahrzeugen wird in den effektiv und flexibel begegnen zu können.
nächsten 5 bis 10 Jahren etabliert werden, aber nicht Die häufig geführten Diskussionen, welcher Kraft-
nur wegen der Beschränkung in der Mobilitätsper- stoff der beste sei, werden kaum zum Ziel führen
formance kaum einen Marktanteil von über 5 % in können. Das Denken im „entweder oder“ muss einem
2020 erreichen. Ab 2020 könnte zunehmend Wasser- Denken im „sowohl als auch“ weichen. Die Elektro-
stoff und Brennstoffzellenfahrzeuge das Straßenbild mobilität zeigt aber auch, dass möglicherweise die
beleben. Eine breite Einführung von größer 5 % größte Herausforderung bei uns selbst liegen wird. In
Marktanteil ist aber voraussichtlich nicht vor 2030 zu der Bereitschaft die Mobilität neu zu definieren.
erwarten. Die Umwandlung von Strom in syntheti-
sche Kraftstoffe wird erst nach 2020 an Bedeutung 5.9.6 Kraftstoffsteckbriefe
gewinnen. Diese Option wird insbesondere für die
Mobilitätsmodi von großem Wert sein, die auf Kraft- Für einen schnellen Überblick werden im Folgenden
stoffe mit hoher Energiedichte angewiesen sind. für die wichtigsten Alternativen Kraftstoffeigenschaf-
Kurz- und mittelfristig werden Biokraftstoffe, trotz ten für Diesel- und Benzinkraftstoffe tabellarisch
ihres begrenzten Substitutionspotenzials, wegen ihrer dargestellt. Darüber hinaus listen Steckbriefe ihre
einfachen Herstellung und Nutzung die wichtigsten Potenziale hinsichtlich der Verfügbarkeit geordnet
regenerativen Energieträger der Mobilität sein. Bis nach der motorischen Nutzung auf (basierend auf
2020 werden insbesondere Ethanol weltweit und Bio- folgenden Quellen: [3, 5, 13, 18, 20]).
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 373

Diesel EU4 XtL, Class A XtL, Class B Biodiesel (RME) HVO DME
Energiegehalt Dichte (15°C) kg/l 0,83 0,78 0,79 0,88 0,78 0,67
Heizwert MJ/kg 43,10 43,57 43,96 37,59 44,00 28,80
Energiedichte MJ/l 35,86 33,98 34,86 33,19 34,32 19,30
Einspritzsystem Viskosität (40°C) mPas 3,00 2,59 2,85 4,42 2,60 0,15
HFRR (60°C) μm 300 402 591 205 592 -
Siedeschwerpunkt °C 275 275 251 351 293 -24
Zündung Cetanzahl CFR 55 >70 55 54 >65 55-60
Cloud Point °C -23 -17 -60 -6 -14 -
Verbrennung H/C molar 1,70 2,19 2,17 1,87 2,10 3,00
O/C molar 0,00 0,00 0,00 0,10 0,00 0,50
gCO2/MJ 74,39 71,06 70,52 75,25 70,78 66,41
Lambda stöch. - 14,36 15,05 15,02 12,58 14,93 9,00
Tanksystem Druck bar 1 1 1 1 1 10…20
Flammpunkt °C 93 77 95 151 > 55 <0

Bild 5.9-14 Eigenschaften von Dieselkraftstoffen (Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)

Super 95 Methanol Ethanol Iso-Butanol Erdgas/Biogas LPG ETBE


Energiegehalt Dichte (15°C) kg/l 0,75 0,79 0,79 0,81 0,01 0,54 0,75
Heizwert MJ/kg 42,30 19,90 28,40 32,50 45,10 46,00 36,30
Energiedichte MJ/l 31,51 15,78 22,55 26,33 0,37 24,84 27,23
Zündung RON 95 114 111 101 120-130 94-111 118
MON 85 95 94 86 120-130 90-96 105
Verbrennung H/C molar 1,86 3,97 2,97 2,50 4,00 0,00 2,33
O/C molar 0,02 1,00 0,50 0,25 0,00 0,00 0,17
gCO2/MJ 73,28 69,05 67,35 73,17 60,83 65,63 71,19
Lambda stöch. - 14,19 6,45 8,97 11,19 17,24 11,52 12,18
Tanksystem Druck bar 1 1 1 1 250 10…20 1

Bild 5.9-15 Eigenschaften von Ottokraftstoffen (Quelle: Volkswagen Aktiengesellschaft)

Diesel-Alternative: Biodiesel (RME)


Technische Beschreibung Verfügbarkeit

RME: Rapsölmethylester Rohstoff:


• Pflanzenölverfügbarkeit stark begrenzt:
• Anwendung: Diesel-Beimischung bis 7% Vol. flächendeckend Zumischung nur in Europa von
• Rohstoff: Pflanzenöl: Raps, Soja, Sonnenbl. 10% Vol. Biodiesels, würde 22%* des geeigneten
• Prozess: Umesterung mit Methanol weltweiten Pflanzenöls in 2018 benötigen !
• Eigenschaften: schwer siedend (~360°C)
begrenzt lagerbeständig Herstellung:
• CO2-Reduktion: 38% - 58%* • Einfacher und in Europa etablierter Prozess
• Herstellkosten primär von Pflanzenölkosten
• Vorteile: Ausgereifte Herstelltechnologie abhängig
im Markt etabliert
• Nachteile: schlechte Lagerbeständigkeit Anwendung:
Kompatibilität mit Motor bis B7 • Bis 7% Vol. mit allen Dieselmotoren kompatribel.
limitierte Pflanzenölverfügbarkeit
*Quelle: EU-Kommission *Quelle: FAO 2009
374 5 Antriebe

Diesel-Alternative: Hydrierte Pflanzenöle (HVO)


Technische Beschreibung Verfügbarkeit
HVO: Hydrogenated Vegetable Oil Rohstoff:
• Pflanzenölverfügbarkeit limitiert aber besser als bei
• Anwendung: Diesel-Beimischung bis 30% Vol. Biodiesel: flächendeckend 10% Vol. HVO in Europa
• Rohstoff: alle Pflanzenöle und Tierfette würde 15%* des weltweiten Pflanzenöls in 2018
• Prozess: Hydrierung mit Wasserstoff benötigen .
• Eigenschaften: ähnlich dem fossilen Diesel
hohe Cetanzahl: ca. 80 Herstellprozess:
• CO2-Reduktion: 26% - 68%* • Bekannte aber nicht etablierte Technologie
• Herstellkosten ca. 0,02 €/l teurer als Biodiesel
• Vorteile: sehr hohe Kraftstoffqualität
Kompatibilität zu allen Diesel Anwendung:
• Nachteile: Investbedarf für neue Anlagen • kompatibel bis 30% Vol. mit allen Dieselmotoren
limitierte Pflanzenölverfügbarkeit
*Quelle: EU-Kommission
*Quelle: FAO 2009

Diesel-Alternative: Synthetischer Diesel aus Holz/Stroh (BtL)


Technische Beschreibung Verfügbarkeit

BtL: Biomass-to-Liquid Rohstoff:


• große Rohstoffbasis incl. Reststoffe
• Anwendung: Diesel-Beimischung bis 100% Vol.
• Rohstoff: alle Hölzer; trockene Reststoffe Herstellprozess:
• Prozess: Fischer-Tropsch-Synthese • Aufwendiger noch zu demonstrierender Prozess
• Eigenschaften: ähnlich dem fossilen Diesel • Herstellkosten ca. doppelt zum Biodiesel (1,25 €/l)
hohe Cetanzahl: ca. 80 • Verfügbarkeit >1% im Markt erst ab 2020.
• CO2-Reduktion: 93% - 95%*
Anwendung:
• Vorteile: sehr hohe Kraftstoffqualität • Volle Kompatibilität zu allen Dieselmotoren
voll kompatibel zu allen Diesel • Sehr hohe Kraftstoffqualität
• Nachteile: sehr hoher Investbedarf
Prozess noch nicht demonstriert
*Quelle: EU-Kommission

Diesel-Alternative: DiMethylEther (DME)


Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Diesel Rohstoff:


Keine Beimischung möglich • große Rohstoffbasis
• Rohstoff: alle Hölzer; trockene Reststoffe
• Prozess: Synthese aus Erdgas, Biomasse Herstellprozess:
Methanol Zwischenprodukt • Herstellkosten ähnlich bis etwas günstiger als BtL
• Eigenschaften: gasförmig, bei ca. 8 bar flüssig (ca. 1 €/l)
hohe Cetanzahl ca. 80 • Verfügbarkeit von Herstellkapazitäten > 1% des
• Vol. Heizwert: 45% vom Diesel Dieselmarktes erst nach 2020 zu erwarten
• CO2-Reduktion: 92% - 95%*
Anwendung:
• Vorteile: rußfreie Verbrennung • neue Infrastruktur und Fahrzeugtechnik notwendig
Veredelung von Methanol /Erdgas
für Dieselmotoren
• Nachteile: neue Infrastruktur ähnlich zu
Autogas notwendig
*Quelle: EU-Kommission
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 375

Benzin-Alternative: Ethanol
Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Otto Rohstoff:


Beimischung möglich: =10%Vol. • große Rohstoffbasis
• Rohstoff: Zucker, Stärke, (Stroh) • E15 in USA und EU benötigt 11%* der weltweiten
• Prozess: Fermentation Weizen-,Mais- und Zuckerproduktion in 2018
• Eigenschaften: flüssig,
ROZ/MOZ: 129/103 Herstellprozess:
• Vol. Heizwert: 66% vom Benzin • Ethanol weist unter den Biokraftstoffen die
• CO2-Reduktion: 16% - 71% (70% - 85%)* günstigsten Herstellkosten auf
• Konkurrenzfähigkeit zu fossilem Benzin bei
• Vorteile: etablierter Prozess Ethanol aus Brasilien möglich
Potenzial hoher CO2-Reduktion • weltweit dominierender Biokraftstoff
geringste Biokraftstoffherstellkosten
• Nachteile: Konkurrenz zu Nahrungsmitteln Anwendung:
Ethanol aus Stroh ist zu • Beimischung bis 10% Vol. (E10) weitestgehend für
demonstrieren alle Ottomotoren möglich
*Quelle: EU-Kommission • E85 erfordert neue Fahrzeugtechnik *Quelle: FAO 2009

Benzin-Alternative: Methanol
Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Otto Rohstoff:


Beimischung möglich: 3%Vol. (EU) • Kohle, Erdgas oder Biomasse
• Rohstoff: China: Kohle (Biomasse möglich)
• Prozess: Synthese Herstellprozess:
• Eigenschaften: flüssig, • Herstellkosten aus Kohle: ca. 50% zum Benzin auf
ROZ/MOZ: 106/- Heizwertbasis (China), aus Holz etwas günstiger
• Vol. Heizwert: 50% vom Benzin zum BtL
• CO2-Reduktion: aus Holz: (91% - 94%)*
Anwendung:
• Vorteile: etablierter chemischer Prozess • Kompatibilität in Europa bis 3% Vol. Beimischung,
günstige Herstellkosten in China 15% Vol. Beimischung am Markt
• Nachteile: Giftig: Kontaktgift, Inhalation • Verfügbarkeit
aus Kohle CO2-Nachteile
geringe Energiedichte

*Quelle: EU-Kommission

Benzin-Alternative: Butanol
Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Otto Rohstoff:


Beimischung möglich: 15%Vol. (EU) • Gleiche gute Rohstoffsituation wie bei Ethanol
• Rohstoff: Zucker, Stärke
• Prozess: Fermentation: Herstellprozess:
bekannter Prozess ist zu teuer • Herstellkosten vom neuen Prozess noch
BP/DuPont entw. neuen Prozess unbekannt und vom etablierten Prozess zu hoch
• Eigenschaften: flüssig, (Trennverfahren)
ROZ/MOZ: 94/80 • Verfügbarkeit
• Vol. Heizwert: 85% vom Benzin >1% bis 2020 in Europa unwahrscheinlich
• CO2-Reduktion: Prozess noch unbekannt
Anwendung:
• Vorteile: hohe Energiedichte • Kompatibilität in Europa bis 15% Vol. Beimischung
gute Kompatibilität zum Benzin
• Nachteile: neuer Prozess ist zu demonstrieren

*Quelle: EU-Kommission
376 5 Antriebe

Benzin-Alternative: Erdgas
Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Otto Rohstoff:


• Rohstoff: Rohstoff = Kraftstoff • Verfügbarkeit
• Prozess: Komprimierung auf 200 bar sehr gute Rohstoffverfügbarkeit
• Eigenschaften: gasförmig (auch bei 200bar) primäre kurz- mittelfristige Alternative zum Rohöl
ROZ/MOZ: 120-130/89-97 • Verflüssigtes Erdgas (LNG) bietet bessere logistik
• Vol. Heizwert: 20% vom Benzin (@200bar) und zusätzliche Option zur Versorgungssicherheit
• CO2-Reduktion: 10% - 25% je nach Herkunft*
Herstellung:
• Vorteile: hohe Rohstoffverfügbarkeit • Herstellkosten
anrechenbare CO2-Reduktion günstige Herstellkosten ca. 20€cent/lBenzin
• Nachteile: neue Infrastruktur notwendig
aufwendiges Tanksystem Anwendung:
• Neue Fahrzeugtechnik und Infrastruktur notwendig
• Fahrzeugtechnologie verfügbar
• Infrastruktur teilweise verfügbar (Erdgasnetz)
*Quelle: EUCAR-CONCA WE-JRC WtW-Studie

Benzin-Alternative: Bio-Erdgas
Technische Beschreibung Verfügbarkeit
• Anwendung: Kraftstoff für Otto Rohstoff:
beliebige Beimischung zum Erdgas • gute und breite Rohstoffverfügbarkeit
• Rohstoff: feuchte Biomasse, Reststoffe
• Prozess: Fermentation, Gasaufreinigung, Herstellprozess:
bekannter Prozess, kostengünstig • Etablierter und einfacher biologischer Prozess
• Eigenschaften: gasförmig • günstige Herstellkosten von ca. 60 €cent/lBenzin
ROZ/MOZ: 130/97 • Erdgasnetz erleichtert dezentrale Produktion
• Vol. Heizwert: 20% vom Benzin (@200bar)
• CO2-Reduktion: 79% - 86%* Anwendung:
• Bio-Erdgas ist 100% zum Erdgas kompatibel.
• Vorteile: gute Rohstoffverfügbarkeit • Gleiche Fahrzeugtechnik wie bei Erdgas
hohe CO2-Reduktion notwendig
Reststoffe nutzbar
• Nachteile: wie Erdgas (Infrastruktur, Tank)

*Quelle: EU-Kommission und eigene Berechnungen

Benzin-Alternative: Autogas (LPG)


Technische Beschreibung Verfügbarkeit
LPG: Liquefied Petroleum Gas Rohstoff:
• Anwendung: Kraftstoff für Otto • Verfügbarkeit auf 6% vom Erdöl und Erdgas
Beimischung nicht möglich beschränkt
• Rohstoff: Erdgas- und Erdölbestandteil (Ø6%) • keine Biokomponente bekannt
• Prozess: Abtrennung: physikalisch
• Eigenschaften: gasförmig, flüssig bei 5 bar Herstellprozess:
Gemisch aus Propan und Butan • Herstellkosten vergleichbar zu Benzin
ROZ/MOZ: 103-111/ 89-97
• Energiegehalt: 78% vom Benzin (@ 8 bar) Anwendung:
• CO2-Reduktion: 10% - 13%* • erfordert günstigere neue
Fahrzeugtechnik/Infrastruktur als bei Erdgas
• Vorteile: bessere Tankstelleninfrastruktur
als bei Erdgas
• Nachteile: begrenzte Rohstoffverfügbarkeit
kein biogener Pfad bekannt
*Quelle: EUCAR-CONCA WE-JRC WtW-Studie
5.9 Konventionelle und alternative Kraftstoffe und Energieträger 377

Elektro-Alternative: regenerativer Strom


Technische Beschreibung Verfügbarkeit
• Anwendung: Energieträger für Batterieauto Rohstoff:
Umwandlung in Wasserstoff möglich • Keine Rohstofflimitierung
• Rohstoff: Wind, Sonne, Wasserkraft
• Prozess: Mechanik, Photoelektrik Herstellprozess:
• Energiegehalt: 1 kWh = 0,1l Diesel • Herstelltechnologien vorhanden
• CO2-Reduktion: >90%* • Herstellkosten bei Wind konkurrenzfähig (2020)*

• Vorteile: sehr gute Rohstoffverfügbarkeit Anwendung:


sehr großes Substitutionspotenzial • neue Fahrzeugtechnik notwendig
sehr hohe CO2-Reduktion • Unzureichende und teure Speichertechnologie
günstige Herstellkosten (Wind) • Mobilitätsperformanceeinschränkung (Reichweite,
• Nachteile: Speicherung Aufladezeit)
• Auf Kurzstreckenmobilität beschränkt
*Quelle: EU-Kommission *Quelle: EU-Kommission

Elektro-Alternative: Wasserstoff
Technische Beschreibung Verfügbarkeit

• Anwendung: Kraftstoff für Brennstoffzelle und Otto Rohstoff:


• Rohstoff: Strom, Erdgas, Kohle, Biomasse • Keine Rohstofflimitierung
• Prozess: Elektrolyse oder Reformierung
• Eigenschaften: gasförmig, flüssig unterhalb -253°C Herstellprozess:
leicht entzündlich • Herstellkosten aus Erdgas: ca. 2,2 €/100km*
• Vol. Heizwert: 15% vom Benzin (@ 700 bar) aus Wind: ca. 4 €/100km
• CO2-Reduktion: >90% aus regenerativem Strom
Anwendung:
• Vorteile: Potenzial hoher CO2-Reduktion • Gleichzeitig neue Fahrzeugtechnik und
Tankzeit und Reichweite im Infrastruktur notwendig
Vergleich zur Batterie • Hohe Kosten für Fahrzeug und Infrastruktur
große Rohstoffverfügbarkeit (Strom)
• Nachteile: Infrastruktur/Fahrzeugtechnik
*Verbrauch von 1 kg/100km angenommen

Literatur [12] SolarFuel. http://www.solar-fuel.net/. [Online] 2010


[13] CONCAWE, EUCAR and JRC. Well-to-wheels analysis of
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378 5 Antriebe

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Berlin. Investitionsstrategien in eine künftige Wasserstoffinfra- jrc.ec.europa.eu/about-jec 2010
struktur, DGES-Fachtagung, 2005
6 Aufbau

6.1 Karosseriebauweisen Tabelle 6.1-1 Anforderungen an die Karosserieent-


wicklung
6.1.1 Selbsttragende Karosserie
Kundenrelevante Produktionsrelevante
In der Anfangszeit des Automobils wurde die Karos- Kriterien Kriterien
serie – dem Beispiel des Kutschenbaus folgend – auf
einem Rahmengestell befestigt. Diese Bauweise findet gelungenes Design einfache Zusammenbau-
man heute nur noch bei Lastkraftwagen und großen folge
Off-Road-Fahrzeugen. Im Bereich der Personenwa-
gen hat sich die selbsttragende Karosserie durchge- maximale Sicherheit Nutzung vorhandener
setzt. Sie wurde 1935 von Opel erstmalig mit dem Fertigungseinrichtungen
Modell Olympia in der Großserie eingeführt. Die geringer Kraftstoff- geringe Teilevielfalt
Innovation bestand darin, dass die Karosserie für verbrauch
sich komplett vorgefertigt wurde. Anschließend wur-
den die restlichen Komponenten wie Motor, Kupp- hoher Komfort einfache Fügetechniken
lung, Getriebe, Vorder- und Hinterachse sowie der hohe Funktionalität leichte Herstellbarkeit
Auspuffanlage direkt an der Karosserie befestigt und
zum Fahrzeug komplettiert. Damit ist die selbstra- hohe Qualität und gute Schweißzugänglich-
gende Karosserie der wichtigste Aggregateträger, die Lebensdauer keit
zudem noch vielen Anforderungen gerecht werden
muss [1]. attraktiver Preis hohe Prozessgüte
Sie reichen von konsequentem Leichtbau über wirk- niedrige Reparatur- Gleichteile- und Plattform-
samen Insassen- und Fußgängerschutz bis hinzu kosten lösungen
attraktivem Aussehen.
niedriger optimierter
6.1.1.1 Entwicklungsanforderungen Geräuschpegel Werkstoffeinsatz
Der Anforderungskatalog ist umfangreich: So stellen alltagstaugliche niedrige Fertigungskosten
Form- und Farbgebung (Design), Platzverhältnisse Abmessungen
sowie Insassenschutz und Versicherungseinstufung ... ...
für den Kunden kaufentscheidende Kriterien dar.
Hinzu kommen die firmeninternen Entwicklungsan-
forderungen, die sich die Automobilhersteller selbst vorgaben aus dem Package und den notwendigen
auferlegen, Tabelle 6.1-1, siehe auch Kap. 4.2. Abmessungen um gesetzliche Anforderungen wie den
Aufgrund der Komplexität – in der Praxis enthält das Fußgängerschutz zu erfüllen. Dazu kommen das
Lastenheft für eine Karosserie viele Hundert Anfor- Design und die Aerodynamik. Das Design ist, wie
derungen und Parameter – wird vorwiegend rechner- Marktuntersuchungen immer wieder zeigen, das kauf-
gestützt entwickelt. Dabei besteht die Aufgabe zu- entscheidende Merkmal schlechthin.
nächst darin, jeder Anforderung ein realistisches Ziel
zuzuordnen und diese Teilziele dann dem gewünsch- 6.1.1.2.1 Design
ten Gesamtziel unterzuordnen.
Diese Ziele sind angesichts immer kürzer werdender Das Design (Kap. 4.1) und die Karosserieentwicklung
Entwicklungszeiten nur durch einen eng verzahnten erfolgen simultan in einem vernetzten Prozess, da
Entwicklungsprozess zu erreichen. Hierbei werden Designvorgaben sich in aller Regel auf Abmessungen
fast ausschließlich virtuelle Fahrzeugmodelle aufge- und Charakteristika der Karosserie auswirken. In
baut, berechnet und analysiert. Testaktivitäten haben diesem Prozess haben die Designer die überaus
heutzutage vor allem die Funktion, die mit analyti- wichtige Rolle von Koordinatoren, die bereits in der
schen Methoden gewonnenen Ergebnisse zu validie- Entwurfsphase die physikalischen Eigenschaften der
ren beziehungsweise die Rechenmethode zu verfei- verwendeten Materialien, Konstruktionsanforderun-
nern und abzustimmen. gen und Produktionsgesichtspunkte zu berücksichti-
gen. Deshalb müssen sie sich von Anfang an die
6.1.1.2 Außenhaut Fachkompetenz der Konstruktionsingenieure und
Fertigungsplaner sichern.
Die Außenkontur eines Fahrzeuges wird durch vier Kurz: Das Design beeinflusst die Gestaltung einer
Hauptfaktoren bestimmt: Das sind zunächst die Grund- Rohkarosserie erheblich. So werden heute bereits

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_6,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
380 6 Aufbau

Gewölbte Front-
und Heckscheibe

Einteilige Ablösungsfreie
A-Säulen-Dachleiste Dachüberströmung
Integrierte
Spoiler-Kontur
Heckklappe Spiegelabdichtung

Optimierte
Motorhaube mit integrierter
Heckabströmung
Spoiler-Kontur
Ablösekante
integriert in
Heckleuchte und Ablösungsfreie
Heckstoßfänger Frontumströmung

Karosserieab- Flexible
dichtung Frontspoiler-Kontur
Scheibenabdichtung
Motorspezifische
Flache Türgriffe Kühlluftöffnung

Tropfenförmiger Grundriss Spaltabdichtung


Spiegelform optimiert Scheinwerfer
hinsichtlich Aerodynamik, Sekundäre Gerundete A-Säule
Aeroakustik und Verschmutzung Türabdichtung
Schwellerverkleidungen

Bild 6.1-1 Maßnahmen zur Aerodynamikoptimierung der Außenhaut

zum Beginn der Fahrzeugentwicklung alle gewünsch- Die aerodynamische Optimierung umfasst eine Viel-
ten Varianten berücksichtigt. Limousine und Coupé zahl von Einzelmaßnahmen, Bild 6.1-1 (siehe auch
derselben Baureihe sind dafür ein gutes Beispiel: bei Kap. 3.2). Folgende konstruktive Maßnahmen haben
Planung der Limousine muss bereits berücksichtigt sich bei üblichen Grundkörpern als vorteilhaft he-
werden, wenn ein geplantes Coupé keine B-Säule rausgestellt [2], um einem möglichst geringen Luft-
besitzen soll. Bei der Dimensionierung von Säulen widerstandsbeiwert zu erzielen:
und Streben ist zu berücksichtigen, inwieweit diese Die Umströmung des vorderen Fahrzeugbereiches
im späteren Fahrzeug sichtbar sind. Der Einbau von sollte möglichst ablösefrei erfolgen. Dazu ist es not-
Innenraumteilen ist möglichst flexibel zu halten, wendig, die Übergänge abzurunden. Vorteilhaft ist
um verschiedene Austattungslinien zu ermöglichen. weiterhin eine starke Neigung der Windschutzscheibe
Sichtbare Verbindungen und Fugen, zum Beispiel – bei Berücksichtigung der Sichtverhältnisse – in
zwischen Seitenwand, Türen und Heckklappe, müs- Verbindung mit einer Rundung der A-Säulen. Die
sen sehr präzise ausgeführt werden, um den steigen- Strömung wird am günstigsten über ein gewölbtes
den Anforderungen an die optische Fahrzeugqualität Dach geführt, wobei die Wölbung konstant verlaufen
zu entsprechen. sollte. Am Fahrzeugheck ist aerodynamisch eine
definierte Ablösung der Strömung erforderlich. Ein
6.1.1.2.2 Aerodynamik und Aeroakustik Heckeinzug („Boat-Tailing“) hilft, das sogenannte
Eine erste aerodynamische Voroptimierung erfolgt Totwassergebiet möglichst klein zu halten, was sich
bereits mit einem Simulationsmodell im Computer. auch auf die Verschmutzungsneigung positiv aus-
Diese Berechnung wird mit ersten Plastilin-Modellen wirkt. Ein solcher Einzug kann bei Stufenhecklimou-
im Maßstab 1 : 5 im Windkanal validiert und verbes- sinen durch das Herunterziehen des Daches gestaltet
sert. Im weiteren Entwicklungsablauf müssen bei werden. Durch eine geeignete Neigung der Heck-
allen Änderungen die Belange von Design und Pack- schräge kann vor allem bei Stufenheckfahrzeugen der
age immer wieder berücksichtigt werden. Die ab- durch Luftwirbel induzierte Luftwiderstand minimiert
schließende Gestaltung und Optimierung erfolgt mit werden.
einem Kunststoffmodell im Maßstab 1 : 1. Insbeson- Deutlichen Einfluss auf den Luftwiderstand eines
dere die Bereiche der vorderen und hinteren Stoßfän- Fahrzeuges, aber auch auf die zu minimierenden Auf-
ger, Außenspiegel, A-Säulen, Dachleisten, Schwel- triebskräfte, hat die Gestaltung des Unterbodens. Ziel
lerverkleidung und Unterbau werden dabei detailliert ist eine möglichst glatte Fahrzeugunterseite, wofür
untersucht. heute oft spezielle Unterbauabdeckungen aus Kunst-
6.1 Karosseriebauweisen 381

stoff eingesetzt werden. Natürlich müssen dabei stellung sind die Sicht über die Instrumententafel, der
Kompromisse eingegangen werden, um zum Beispiel Kopfraum H75, die Erreichbarkeit der Pedale, Ein-
die Kühlung von Bremsen und Katalysator sicherzu- und Ausstieg sowie alle Sichtwinkel zu berücksichti-
stellen. Einen großen Anteil am Gesamtluftwider- gen.
stand haben auch die Räder (bis zu cW = 0,06). Versu- Anschließend wird ein Referenzpunkt in der Sitzver-
che, diesen Anteil durch konstruktive Maßnahmen stellung definiert, der Hüftpunkt (H-Punkt). Er ent-
deutlich abzusenken, zum Beispiel mit zur Außenhaut spricht der Sitzeinstellung des 95-%-Mannes (nur
bündigen Hinterrädern, brachten bislang nicht den 5 % der Bevölkerung auf den Zielmärkten sind grö-
gewünschten Erfolg. ßer). Dessen Sitzposition wird durch die Sitzhöhe und
In weiteren Entwicklungsschritten werden die durch den Hackenpunkt bestimmt. Die Fußsohle muss das
die Umströmung der Karosserie entstehenden Wind- Fahrpedal berühren (siehe auch Kap. 6.4.1).
geräusche und die Verschmutzung von Seiten- und Der H-Punkt lässt sich rechnerisch oder messtechnisch
Heckscheiben bei Regenfahrt reduziert. Scharfen bestimmen. Ausgehend vom ihm werden die übrigen
Kanten und Türfugen ist dabei besondere Aufmerk- Innenraummaße wie Bein- und Kopfraum ermittelt.
samkeit zu widmen, weil sie die Windgeräusche mit Die Knie- und Beinfreiheit der Fondpassagiere werden
zunehmender Geschwindigkeit progressiv erhöhen wesentlich durch den Abstand zwischen H-Punkt
(siehe auch Kap. 3.2 und 3.4). Fahrer und H-Punkt Fondpassagier bestimmt.
Des weiteren wird durch das Package auch die An-
6.1.1.3 Package ordnung von Motor- und Getriebeeinheit samt aller
weiteren Aggregate unter der Motorhaube festgelegt.
Die Festlegung der Karosserieformen und -abmes- Die Hauptauslegungskriterien hierbei sind die Frei-
sungen definiert auch den Bauraum für alle einzubau- gängigkeit beim Einbau und Betrieb der Aggregate,
enden Fahrzeugsysteme und -komponenten. Das der freie Verformungsweg zur Erfüllung einer guten
Ergebnis dieses Festschreibungsprozesses, der sich Versicherungseinstufung (AZT-Typschaden) und ge-
parallel zur Design- und Aerodynamikentwicklung nügend Freiraum von der Motorhaube zu „harten
vollzieht, wird als Package bezeichnet (Kap. 4.2). Teilen“ um den Fussgängerschutz zu erfüllen.
In der Regel stehen vor Beginn einer Fahrzeugent-
wicklung die wichtigen Schlüsselabmessungen als Tabelle 6.1-2 Schlüsselabmessungen für das
Sollwerte bereits fest, Tabelle 6.1-2 und Bild 6.1-2. Package
Dazu gehören nicht nur Länge und Breite über alles,
sondern eine ganze Reihe weiterer markanter Fahr- Außenmaße Innenmaße
zeugkoordinaten, die die Karosserie beschreiben:
beispielsweise der Übergang der Motorhaube zur Länge über alles Beinraum vorne/hinten
Windschutzscheibe sowie zur Kühlerverkleidung, (L34/L51)
Böschungswinkel, Bodenfreiheit, Lage und Kontur
der Stoßfänger, die Lage der Hüftpunkte vorne und Breite über alles Knieraum Passagier hinten
hinten, Abstand des Lenkrades zum Fahrer oder das (L48)
Kofferraumvolumen. Höhe (H100) Abstand Hüftpunkt vorne zu
Das Package eines Fahrzeuges bestimmt das Raum- Hüftpunkt hinten (L50)
gefühl der Insassen wesentlich. Positiv wirken sich
vor allem folgende Eigenschaften aus: Radstand Kopfraum vorne/hinten/
seitlich (H75, Kopfschwung-
– hohes Dach
linie, W27)
– Übergang Motorhaube/Windschutzscheibe weit
vorgezogen Spur vorne/hinten relative Höhe der Sitze vorn
– langer Radstand und hinten zu den Fersen-
– breite Spur. punkten (H30)
Natürlich können diese Punkte nur soweit umgesetzt Kofferraumvolumen Sichtwinkel nach vorne und
werden, wie dies Design, Aerodynamik und die von (V210) hinten, jeweils nach oben
der festgelegten Fahrzeugklasse abhängigen Haupt- und nach unten
abmessungen zulassen.
Basis der Innenraumauslegung ist die Sitzposition des Tankvolumen Schulterraum vorne/ hinten
Fahrers. Zunächst gilt es, den Verstellbereich für die sowie Breite zwischen den
Sitzlängen und -höhenverstellung festzulegen. Die Armauflagen der Türverklei-
Längenverstellung muss so gestaltet sein, dass der dung
Fahrer ausreichend Platz hat: Er muss Lenkrad und
Abstand Mitte Fahrersitz
Pedalerie bequem erreichen können und darf die
zur Fahrzeugmitte (W20)
Fondpassagiere nicht einengen. Bei der Sitzhöhenver-
382 6 Aufbau

Sichtwinkel unten
Sichtwinkel oben
H75 W27

MHK KSL W20


Sichtwinkel
unten L48 Schulterraum vorne/hinten
V210
H100

L51
L34 H30

L50
Überhang vorn Radstand Überhang hinten Tankinhalt Spur vorne

Länge über alles Breite über alles

L = Länge KSL = Kopfschwinglinie


H = Höhe MHK = Motorhauben-Hinterkante
W = Weite
V = Volumen

Bild 6.1-2 Wichtige Fahrzeugabmessungen

6.1.1.4 Karosseriestruktur
4 5 6
Die Karosseriestruktur hat folgende Aufgaben:
3
– Aufnahme aller Kräfte und Momente,
– gestaltfester Innenraum,
– periphere Energieumsetzungszonen, 2
– Aufnahme aller Antriebsaggregate und der Achs-
module.
Im Folgenden wird die Konstruktion einer Rohkaros-
serie exemplarisch beschrieben (Bild 6.1-4). Es
handelt sich dabei um ein 2009 in Serie gebrachtes, 1
7
fünftüriges Fahrzeug der Kompaktklasse [3]. Wenn 9
8
auch abhängig von der Philosophie des Automobil-
herstellers, der Fahrzeugklasse und der Modellgene- Bild 6.1-3a Vorderwagen
ration einzelne Konstruktionsumfänge von Hersteller 1 Stoßfänger; 2 Crashbox; 3 Vorderrahmen; 4 Feder-
zu Hersteller differieren, deckt die Schilderung doch beindom; 5 Stirnwand; 6 Querträger Scheibenauflage;
viele Anwendungen ab. Die Reihenfolge der einzel- 7 Radkasten; 8 Strebe Radeinbau; 9 Querträger Front
nen Abschnitte entspricht dabei der Produktions- oben
sequenz im Karosserierohbau.
6.1.1.4.1 Unterbau
Der Unterbau Bild 6.1-5 – auch Plattform oder Archi-
5
tektur genannt – besteht aus drei Unterzusammenbau-
ten: 6
4
7
– Vorderwagen (Bild 6.1-3a) 3
– Unterboden vorn (Bild 6.1-3b)
– Unterboden hinten (Bild 6.1-3c)
Basis des Unterbodens sind die Längs- und die Quer-
träger. Sie werden vorn und hinten von Bodenblechen 2
abgeschlossen. In die beiden vorderen Längsträger,
die sich aus dem Vorderrahmen und dessen Verlänge- 1
rung zusammensetzen, sind an der Stirnseite die
Crashboxen mit dem Stoßfänger eingesteckt und Bild 6.1-3b Unterboden vorn
verschraubt. Auf der rechten Seite sorgt eine einge- 1 Verlängerung Vorderrahmen; 2 Bodenblech vorn;
schweißte und mit einer Gewindeplatte versehene 3 Boden seitlich; 4 Sitzauflage; 5 Querträger Vorder-
Verstärkung für die Aufnahme der anschraubbaren sitz; 6 Tunnel; 7 Tunnelrandprofil
6.1 Karosseriebauweisen 383

5 schließt sich der vordere Radkasten an – auch „Rad-


einbau“ genannt. Er kann ein- oder zweiteilig ausge-
6
führt werden. Auf dem Radeinbau ist die Aufnahme
7
für das Federbein positioniert, die wegen ihrer Form
„Federbeindom“ heißt. Letzterer nimmt alle Reak-
4 tionskräfte des Federbeins auf. Um ausreichende
Steifigkeit zu erzielen, muss der Radeinbau über ein
möglichst gerades, als Zugstrebe wirkendes Element
3
mit dem Vorderrahmen verbunden werden. Über dem
8 Radeinbau befindet sich eine Strebe, die beim Fron-
talaufprall gezielt Kräfte in die A-Säule und in den
2 Türschacht einleitet, bevor sie selbst durch kontrol-
9 lierte Verformung Energie absorbiert. Der Radeinbau
1 schließt hinten mit dem Seitenteil-Stirnwand ab. Quer
dazu verläuft die Stirnwand selbst, die zusammen mit
Bild 6.1-3c Unterboden hinten der Schließplatte und der Verlängerung des Vorderbo-
1 Querträger Boden hinten; 2 Bodenblech hinten; dens der den Motor- vom Fahrgastraum trennt. Stirn-
3 Hinterrahmen; 4 Radgehäuse innen; 5 Knotenblech wand und Schließplatte dienen als Aggregateträger.
Radgehäuse; 6 Rückwand innen; 7 Ersatzradmulde; Die Schließplatte schirmt die Fahrgastzelle zum einen
8 Federteller; 9 Querträger Hinterachse vor Geräuschen und Verschmutzung ab, zum anderen
verhindert sie bei einem Aufprall das Eindringen des
Motors oder anderer Aggregate. Die Stirnwandein-
dringung nach einem Frontalaufprall gilt daher als
Maß für die Strukturgüte einer Karosserie und wird oft
zum Vergleich herangezogen. Über der Stirnwand
befindet sich noch eine verstärkte Abdeckung, die den
unteren Teil der Frontscheibenöffnung bildet.
Der Vorderrahmen, der nicht nur Motor und Vorder-
achse aufnehmen muss, sondern bei einem Frontal-
aufprall eine zentrale Rolle als energieaufnehmende
Komponente spielt, wird gezielt an den Stellen mit
den höchsten Lastbeaufschlagungen versteift.
Bild 6.1-4 Rohkarosserie Im gezeigten Beispiel mündet der Vorderrahmen in
die Verlängerung Vorderrahmen im Unterboden vorn.
Diese verläuft unter dem gesamten vorderen Boden-
blech bis zum Fersenblech. Bei anderen Unterbau-
konzepten kann sie aber auch am Sitzquerträger
enden. Die Verlängerung dient vor allem dazu, im
Fahrbetrieb und beim Aufprall das Durchbiegen des
Bodens zu verhindern. Dafür wird zusätzlich noch
eine hochfeste Verstärkung im Bereich der Verlänge-
rung Vorderahmen auf dem Bodenblech aufgebracht.
Der Sitzquerträger gewährleistet zusammen mit den
auf dem Boden angebrachten Sitzauflagen eine steife
Anbindung der Vordersitze. An der Sitzauflage wird
auf der Oberseite auch das Schloss des Sicherheits-
Bild 6.1-5 Unterbau gurtes befestigt. Beim Frontalaufprall werden in das
Schloss sehr hohe Kräfte eingeleitet, die dieser Träger
Abschleppöse. Im weiteren Verlauf der Längsträger gut aufnehmen kann.
sind an deren Unterseite die Aufnahmen für den Das Gerippe für den hinteren Unterboden wird aus
Chassisträger angeschweißt. Außerdem sind auf dem den beiden Hinterrahmen-Längsträgern, deren Ver-
Längsträger auch die Motorlager angebracht. An den längerungen und den drei Querträgern für den Boden
Zusammenbau des Vorderrahmen werden zunächst hinten, für die Hinterachse und für die Rückwand
die Frontteile befestigt, Das obere Frontteil muss gebildet (Bild 6.1-3c).
Schloss und Verriegelung für die Motorhaube auf- Um einen besseren Kraftfluss zu erhalten, wird der
nehmen. Des Weiteren sind an dieser Komponente Hinterrahmen mit einem Knotenblech direkt mit dem
Puffer zum Einstellen der Spaltmaße für die Motor- Schweller und dem Fersenblech verbunden. Diese
haube sowie die Kühlerhalterungen befestigt. Es Anbindung ist bei einem Heckaufprall von Vorteil
384 6 Aufbau

und erhöht die Steifigkeit der gesamten Karosserie. In 6.1.1.4.2 Aufbau


diesem Bereich befindet sich auch die am Hinterrah-
Der Aufbau Bild 6.1-6 besteht aus den Zusammen-
men angebrachte Halterung für die Hinterachse. Die
bauten der Seitenwand, Bild 6.1-6a, des Dachs, sowie
Rahmenmitte wirkt als Gegenlager für die Federung
der Rückwand und der angeschraubten Kotflügel.
der Hinterachse. Hinten links wird die Abschleppöse
Zum Schluss wird die Frontscheibe eingeklebt.
befestigt; rechts die Halterung für das Endrohr der
Abgasanlage. Der Einsatz eines Rollprofils aus einem 7
hochfesten Dual-Phasen Stahl ermöglichte es, im 6
8
5
hinteren Bereich des Unterbodens – im Gegensatz 4

zum Vorderrahmen – auf Verstärkungen zu verzich-


ten. Bei anderen Fahrzeugen erzielt man den gleichen
3
Vorteil durch den Einsatz von Tailored Blanks.
Der Querträger am hinteren Boden sorgt während des
Fahrbetriebes dafür, dass sich der Boden im Bereich 9

der hinteren Sitze nicht zu stark durchbiegt. Entspre-


chend wirkt er bei einem Heckaufprall Deformatio-
2
nen des Unterbodens entgegen. In diesen Träger sind 1

auch die Aufnahmepunkte für die vorderen Tank-


spannbänder integriert. Bild 6.1-6 Aufbau
Der Querträger der Hinterachse ist sowohl für den 1 Kotflügel; 2 Seitenwand innen; 3 Dachrahmen
Heckaufprall als auch für die Torsionssteifigkeit ent- vorn; 4 Dachspriegel vorn; 5 Dachspriegel mitte;
scheidend. 6 Dachspriegel hinten; 7 Dachrahmen hinten; 8 Dach;
So stabilisiert er bei einem Heckaufprall den Hinter- 9 Seitenwand außen
rahmen und verhindert unkontrolliertes Ausknicken.
Als Biegeträger wirkt er starken Verwindungen des 2

Hinterrahmens entgegen, die durch gegenläufige Ver-


formung der Hinterrahmenprofile entstehen können.
Um dieses Verhalten des Hinterachsquerträgers opti- 3

mal zu nutzen, ist die Anbindung an den Hinterrah-


men entsprechend zu gestalten. Dazu ist es erforder- 1
lich, den Querträger sowohl in voller Profilhöhe 4

seitlich mit dem Hinterrahmen zu verbinden als auch


eine zusätzliche Lasche mit der Rahmenunterseite zu Bild 6.1-6a Zusammenbau Seitenwand
verschweißen. Die Breite des Anschlusses ist so zu 1 Seitenwand innen; 2 Verstärkung D-Säule; 3 Ein-
wählen, dass die beiden Flanken des Querträgers den satzecke Heckleuchte ; 4 Seitenwand außen
Hinterrahmen genau dort abstützen, wo er infolge
eines Heckaufpralls ausbrechen oder verdrehen wür- 5
3 2
de. Außerdem ist dieser Querträger ein wichtiges Be-
festigungselement: er nimmt die Schrauben des hin- 1
teren Tankspannbandes auf und an ihm werden die
Rücksitzbank und der mittlere Sicherheitsgurt hinten 4

befestigt. 9 6
Der Rückwand-Querträger soll Durchbiegen des Bo-
dens im Bereich der Reserveradmulde verhindern.
Das Gerippe des hinteren Unterbaus wird mit dem 10
Boden geschlossen. In dem gezeigten Beispiel ist die
Reserveradmulde direkt in das hintere Bodenblech
integriert. Gängig sind aber auch Konstruktionen, bei 7
denen die Mulde in das Bodenblech eingeschweißt
wird. 8
Das Radgehäuse wird innen an den vertikalen
Flansch des Hinterrahmens angeschweißt. Über ein Bild 6.1-6b Schnitt A-Säule
Knotenblech wird das Radgehäuse mit der Verstär- 1 Frontscheibe, 2 Frontscheibeneinfassung, 3 A-Säule
kung der Rückwand verbunden. Diese Knotenbleche außen, 4 Dichtung Seitenscheibe, 5 Verstärkung
sind wichtig für die Torsionssteifigkeit der Gesamtka- A-Säule, 6 Kleber Frontscheibe, 7 A-Säule innen,
rosserie und die lokale Steifigkeit der Hecköffnung. 8 Verkleidung A-Säule (zweiteilig), 9 Kleber Seiten-
Für den Heckaufprall wird außerdem ein zusätzlicher scheibe, 10 Seitenscheibe
Lastpfad geschaffen.
6.1 Karosseriebauweisen 385

6.1.1.4.3 Zusammenbau Seitenwand bindung der Radgehäuse mit der Verstärkung Rück-
wand ist diese Maßnahme wichtig, um die Torsions-
Der Zusammenbau Seitenwand besteht im Wesentli- und Heckdiagonalsteifigkeit zu erhöhen.
chen aus einem inneren und einem äußeren Teil. Im
Türöffnungsbereich bilden diese Schalen zusammen 6.1.1.4.4 Dach
mit der A-Säule innen auch die Säulenquerschnitte.
Zur Gewährleistung einer guten Rundumsicht soll der Der letzte Zusammenbau in der Produktionssequenz
A-Säulenquerschnitt Bild 6.1-6b, so schlank wie der gezeigten Rohkarosserie ist das Dach. Es besteht
möglich ausgeführt werden. Dafür muss die Verstär- aus der Dachhaut, die durch eingeklebte Dachspriegel
kung dann entsprechend aufgedickt werden oder wie stabilisiert wird, sowie dem vorderen und hinte-
bei Cabriolets auch teilweise aus hochfesten Rohr- ren Dachrahmen. Während der vordere und hintere
querschnitten bestehen. Während auf dem inneren Dachspriegel auf die Gesamttorsionssteifigkeit und
Flansch der A-Säule die Windschutzscheibe befestigt das Crashverhalten der Karosserie keinen Einfluss
ist, trägt der äußere Flansch die Türdichtung. haben, spielt der Mittelspriegel eine entscheidende
Der B-Säulenquerschnitt, Bild 6.1-6c, ist beidseitig Rolle für den Seitencrash und den Pfahlaufprall. Die
mit Türdichtungen ausgestattet. Zusätzlich sind an Ausführung des vorderen und hinteren Dachrahmens
der B-Säule die Scharniere für die Hintertür ange- beeinflusst sehr stark die Gesamttorsionssteifigkeit.
bracht. Das Beispiel zeigt geschraubte Scharniere. In Neben dem klassischen Stahldach – mit und ohne
vielen Fahrzeugen sind diese Komponenten auch Schiebedach – gibt es heute eine Vielzahl von
angeschweißt. Die Auswahl ist herstellerspezifisch. verschiedenen Dachmodulen (Bild 6.1-6d). Neben
Im Bereich der Scharnieranbindungen für die Türen Doppelschiebedächern vorn und hinten, sowie Spoi-
sind zusätzliche lokale Versteifungen angebracht. Die ler-Glasdächern, die fast die gesamte Dachfläche
Versteifungen sind zwischen innerem und äußerem öffnen, gibt es feststehende Glasdächer, über die
Seitenwandteil angebracht. Die Verstärkung der B- halbe oder die komplette Dachfläche. Andere Modul-
Säule ist für den Seitenaufprall sehr wichtig, weil sie varianten zum Beispiel bei Vans und Minivans die-
Intrusionen in den Innenraum verringert. Sie besteht nen eher dazu zusätzlichen Stauraum und Ablagefä-
bei den meisten Fahrzeugen aus hoch- und höchstfes- cher zu schaffen. Eine weitere Möglichkeit für eine
ten Stählen mit Streckgrenzen bis zu 1.500 MPa. Die verbesserte Sicht nach draußen bieten sogenannte
Verstärkungen dienen aber auch der akustisch rele- Panoramascheiben. Hierbei wird die Frontscheibe
vanten Reduzierung der Diagonalverformung in den weit ins Dach gezogen, teilweise sogar bis zur B-
Türöffnungen während des Fahrbetriebes. Im Heck- Säule.
bereich wird an der Seitenwand noch eine Verlänge-
rung angebracht. Ein Ansatzstück umschließt die
2
Öffnung für die Heckleuchten. Wie schon die Ver-

1 3
13 9
4
8

11
10 5

12
7

Bild 6.1-6d Dachmodulbild


1 Dach (PU-Schaum mit Folie beschichtet),
2 Glasschiebedach, 3 Schiebedachmotor,
1 6 3 2
4 Antennenmodul
Bild 6.1-6c Schnitt B-Säule
6.1.1.4.5 Anbauteile
1 Türaußenhaut Vordertür, 2 Türaußenhaut Hintertür,
3 Türscharnier Hintertür, 4 Gerippe Vordertür, 5 Ge- Unter Anbauteilen versteht man alle zur Karosserie
rippe Hintertür, 6 Verschraubung Scharnier Hintertür, gehörigen Teile, die nicht mit der Rohkarosserie
7 Sekundärdichtung, 8 Primärdichtung, 9 Verklei- verschweißt werden, also unter anderem Türen,
dung B-Säule innen, 10 Seitenwand außen, 11 Ver- Klappen, Kotflügel und Stoßfänger. Die Entwick-
stärkung B-Säule, 12 Versteifung B-Säule, 13 Sei- lung der Anbauteile ist von zwei Trends gekenn-
tenwand innen zeichnet:
386 6 Aufbau

Laserschweißen Bild 6.1-6e Laser- und


Punktschweißen beim
Punktschweißen + Kleben
VW Passat [6]

Modularisierung Weit verbreitet ist mittlerweile auch das Cold-Metal-


Durch die Vergabe von Entwicklung und Produktion Transfer (CMT) Schweißverfahren. Die Technologie
an externe Unternehmen werden Anbauteile zuneh- ermöglicht das Fügen von Dünnstblechen ab 0,3 Mil-
mend als Komplettmodule an das Band des Automo- limetern, von verzinkten Blechen und von Mischver-
bilherstellers zugeliefert. Ein Beispiel hierfür stellt bindungen aus Aluminium und Stahl. Das Lichtbo-
das Frontend-Modul dar, das neben vorderem Stoß- gen-Bolzenschweißen ermöglicht eine tragfähige
fänger und Scheinwerfern auch den Kühler umfassen Verbindung in Bereichen, die, zum Teil bedingt
kann (Kap. 6.1.5). Türmodule bestehen mittlerweile durch fertigungstechnische Abläufe, nur einseitig
nicht nur aus der Außenhaut, dem Fenster und der zugänglich sind. An einer Rohbaukarosserie werden
Innenverkleidung, sondern auch aus der gesamten durchschnittlich 150 stiftförmige Bolzen ange-
Mechanik und Elektronik für die Verriegelung, schweißt. Den größten Anteil hat dabei der Boden-
Scheibenbetätigung, Spiegel und Lautsprecher. bereich. In den letzten Jahren hat das Laserstrahl-
schweißen sich zunehmend Großserienanwendungen
Einsatz von Leichtbau-Werkstoffen erobert [6]. Neben der hohen Bearbeitungsgeschwin-
Der Einsatz neuer Karosseriewerkstoffe mit einem digkeit erweist sich vor allem die bessere Oberflä-
geringeren spezifischen Gewicht als Stahl (Kap. 6.2) chenqualität als vorteilhaft. Das Bild 6.1-6e zeigt
hat in großen Stückzahlen vor allem bei den Anbau- die Verteilung des Laserschweißens und des Punkt-
teilen begonnen [4]. So bestehen Stoßfänger über- schweißens mit Kleben. So kann eine an der Oberflä-
wiegend und Kotflügel zunehmend aus Kunststoffen. che liegende Laserschweißnaht vor dem Lackieren
Motorhaube und Heckklappe werden zunehmend aus mit wesentlich geringerem Zeitaufwand entfernt wer-
Aluminium gefertigt. Für extrem sparsame Fahrzeuge den. Das heute schon erfolgreich eingesetzte Laser-
(zum Beispiel das Drei-Liter-Auto) werden auch löten liefert im Außenhautbereich Nahtoberflächen
großflächige Klappen aus Magnesium eingesetzt. die eine Nacharbeit überflüssig machen. Hohe Repa-
raturfreundlichkeit und damit eine einhergehende
6.1.1.4.6 Verbindungstechnik niedrige Typschadenklasse (AZT-Typschaden) er-
Die Auswahl des für die jeweilige Anwendung opti- fordern eine zerstörungsfreie Demontage und Monta-
malen Fügeverfahrens ist entscheidend für die Güte ge der beschädigten Teile. Erreicht wird dies durch
einer Karosserie, da sie zum Beispiel auf Torsions- geschraubte Stoßfängersysteme und Frontmodule wie
steifigkeit und Korrosionsbeständigkeit Auswirkun- im Bild 6.1-6f gezeigt ist, was mittlerweile Stand der
gen zeigt [5]. Für die hier betrachtete Ganzstahlkaros- Technik bei allen Fahrzeugherstellern ist. In Zukunft
serie ist das Punktschweißen mit Abstand das bedeu- werden mechanische Fügeverfahren wie Durchsetz-
tendste Fügeverfahren. Je nach Fahrzeugtyp wird die fügen und Stanznieten sowie die Kombination dieser
Karosserie mit 3.000 bis 5.000 Schweißpunkten ge- Techniken mit Kleben an Bedeutung gewinnen [5].
fügt, die heute fast ausschließlich automatisiert von Speziell die Klebeanwendungen werden zukünftig
Industrierobotern oder in Vielpunktschweißanlagen zunehmen, da sie eine ideale Möglichkeit darstellen,
gesetzt werden. Die Festlegung der Schweißpunkt- Werkstoffkombinationen von Stahl, Aluminium und
lage mit Hilfe moderner CAE-Werkzeuge (Kap. 11.3) Kunststoffen problemlos zu verbinden.
ist integraler Bestandteil der Karosserieentwicklung.
6.1.1.4.7 Materialauswahl und Leichtbau
Von den Schutzgas-Schweißverfahren wird im Ka-
rosseriebau das Metall-Aktivgas-Verfahren (MAG) Die ständig steigenden Sicherheits- und Komfort-
eingesetzt. Es kommt für hochbeanspruchte Teile wie anforderungen schlagen sich in immer höheren Roh-
Gewindeplatten zur Aufnahme der Achsen sowie karosseriegewichten nieder. Die Automobilindustrie
an Stellen, deren eingeschränkte Zugänglichkeit das setzt sich diesem Trend mit intelligenten Leichtbau-
Punktschweißen nicht erlauben, zur Anwendung. konzepten entgegen. Eine Karosserie bestand in den
6.1 Karosseriebauweisen 387

Bild 6.1-6f Schraubteile


für kostengünstige Instand-
setzung

70 % Strukturanforderungen aus Aluminium oder Kunst-


60 %
66 % stoff hergestellt. Bei komplexer und schwieriger Geo-
50 % 55 % metrie der Teile bietet sich zudem das Aluminium-
bzw. Magnesium-Duckguss-Verfahren an. Komplette
40 % 42 % Karosserien aus Leichtmetall wie beim Audi A8 oder
30 % Jaguar werden zukünftig noch die Ausnahme darstel-
20 % 21 % len.
10 % Kunststoffe hingegen können heute durch ihre chemi-
0% 5% sche Zusammensetzung und der Zugabe von Glas-
Astra A Astra B Astra C Astra D Astra E oder Kohlefasern exakt auf die Anforderungen des
1991 1995 1998 2002 2012
Bauteils zugeschnitten werden. Diese Kunststoffbau-
Bild 6.1-6g Leichtbauaktivitäten – Hochfeste Stähle teile bieten die Möglichkeit viele Funktionen zu
und alternative Materialien in der Rohkarosserie integrieren und damit verschiedene Stahlbauteile zu
ersetzen. Der Einsatz dieser multifunktionalen Kunst-
achtziger Jahren fast ausschließlich aus Qualitätsstahl stoffbauteile wird deshalb in Zukunft steigen. Der
ST14. Dieser hat in den heutigen modernen Karosse- größte Teil des ST14 wird aber wieder durch Stahl,
rien, wie im Bild 6.1-6g gezeigt nur noch einen jedoch mit teilweise deutlich höheren Streckgrenzen,
Anteilvon weniger als fünfzig Prozent [10]. ersetzt. Diese hochfesten Stähle nehmen beim Um-
Im Zuge der knapper und teurer werdenden Kraftstof- formen z.B. im Crash, wesentlich mehr Energie auf
fe, sowie der von Gesetzgebern festgelegten CO2 als ein ST14 mit gleicher Blechdicke. Im Bild 6.1-6h
Grenzwerte nimmt der Einsatz von Aluminium, Mag- ist die Verstärkung B-Säule eines Mittelklassefahr-
nesium und Kunststoffen in der Rohkarosserie zu. In zeugs dargestellt. Sie wurde aus einem ultra-hoch-
der Großserie werden speziell Bauteile mit niedrigen festen Stahl im Warmumformprozess hergestellt

100 %
Verbesserung
Eindring-
geschwindigkeit +22 % Dachrahmen Mitte

Struktur-
+55 %
deformation

Gewichts-
reduzierung ≈ 7 kg/Fzg.

Verbesserter
B-Säulen-Knoten

Bild 6.1-6h Verstärkung


B-Säule
388 6 Aufbau

Tensile strength [MPa]


2000
1600
1200
800
400
0
0 200 400 600 800 1000 1200 1400
Yield strength [MPa]

DP PHS AL Mild Steel


17 % 4% 2% 34 %

BH & HSS
43 %

Bild 6.1-7 Leichtbauaktivitäten

(Press Hardend Steel) und erreicht dadurch eine 6.1.1.4.8 Sicken und Verprägungen
Streckgrenze von bis zu 1.500 Mpa. Gegenüber einer
Große Blechflächen, die nicht zur Karosserieaußen-
konventionellen, ca. sieben Kilogramm schwereren
haut gehören, werden mit Sicken und Verprägungen
Verstärkung aus St14, verringert sie die Eindring-
stabilisiert und ausgesteift. Die optimale Anordnung
geschwindigkeit beim Seitencrash um mehr als
wird heute mittels Finite-Element Analysen ermittelt,
20 Prozent und die Strukturdeformation sogar um
um die maximalen Steifigkeits- und Frequenzerhö-
über 50 Prozent.
hungen zu erreichen (Kap. 11.3). Zusätzliche Verprä-
In welchen Anteilen die einzelnen höherfesten Stahl-
gungen werden auch dort eingebracht, wo Blechflä-
sorten in einer Karosserie eines typischen Mittelklas-
chen direkt aufeinander liegen oder ineinander ge-
sefahrzeugs vorkommen, ist in Bild 6.1-7 dargestellt
schachtelt sind um eine optimale Benetzung der
[10].
Karosserie im KTL-Bad zu gewährleisten und Spalt-
Die Gewichtseinsparung die durch die Stahlsubsti-
korrosion zu vermeiden (Kap. 6.3.2.2).
tution erzielt werden kann liegt zwischen 10 und
20 Prozent. Für Großserienfahrzeuge ist dies eine 6.1.1.5 Karosserieeigenschaften
kostengünstigste Variante, um Gewicht zu sparen.
Bei Karosserien von Nischen-fahrzeugen und Klein- 6.1.1.5.1 Zusammenbautoleranzen
serien ist die Mischbauweise aus den unterschied- Allgemeines Ziel vieler Automobilhersteller ist es,
lichsten Materialien schon sehr weit fortgeschritten. Fugen (Spaltmaße), vor allem im sichtbaren Bereich,
Teilweise werden sogar schon komplette Karosserien so klein wie möglich zu halten. Gleichzeitig müssen
ausschließlich aus Leichtmetallen und Kunststoff die Fugen weitestgehend parallel verlaufen. Ein ent-
hergestellt (Kap. 6.1.2 und Kap. 6.2). Neben der wicklungsbegleitendes Toleranzmanagement legt den
Materialsubstitution werden aber die Bauteile auch Grundstein für einen qualitativ hochwertigen Rohbau.
durch anforderungsgerechte Blechdickenverläufe Um eine konstante Reproduzierbarkeit im Karosse-
optimiert. Das Verfahren der „Tailored Blank“ Her- riebau sicherzustellen, werden bereits zu Entwick-
stellung mittels Zusammensetzen von Platinen unter- lungsbeginn von einer neuen Karosserie Zusammen-
schiedlicher Dicke und Güte, ist schon lange bekannt baustudien erstellt. Diese legen alle Mess-, Spann-
und wird erfolgreich eingesetzt. Dieses Verfahren und Aufnahmestellen für die Fertigungseinrichtun-
wird nun durch das „Tailored Rolled Blank“ Ver- gen, nicht nur für die Gesamtkarosserie, sondern auch
fahren ergänzt. Dabei wird der Walzspalt während für alle Einzelkomponenten fest. Dabei werden vor
des Kaltwalzprozesses ständig verändert um Bauteile den möglichen Bauteiltoleranzen zunächst die Tole-
mit einem optimalen Dickenverlauf zu erzeugen. ranzen für die Fugen festgelegt. Hierbei ist besonders
Hierbei werden Gewichteinsparungen bis zu 25 % darauf zu achten, dass sich die Spannstellen immer
erreicht. an denselben Positionen befinden, damit der Produk-
6.1 Karosseriebauweisen 389

tion gezielte Angaben zur Einarbeitung und später – optimierte Anordnung der Schweißpunkte und
zur Qualitätssicherung gegeben werden können. Die Klebenähte
Konstruktion der Werkzeuge und der Kontrolleinrich- – Einsatz von Tailored Blanks und Tailored Rolled
tungen erfolgt ausschließlich anhand der Zusammen- Blanks
baustudien und der Produktzeichnungen. Fügestatio- – zusätzliche Querträger und Knotenbleche
nen erlauben die hohen Qualitätsanforderungen unter Folgende Torsionssteifigkeiten werden von modernen
Produktionsbedingungen. Diese Station erlaubt es, Karosserien erreicht:
die Unterbodengruppe mit den Seitenwänden und
dem Dach mit gleich bleibender Präzision zu ver- – Limousinen: 15 bis 30 kNm/deg (und mehr)
schweißen. Dies ist möglich durch den Spannrahmen – Schrägheck: 15 bis 20 kNm/deg (und mehr)
der Station, der ein in sich geschlossenes, von äuße- – Kombi: 15 bis 20 kNm/deg (und mehr)
ren Einflüssen unabhängiges System bildet und ge- – Vans: 15 bis 25 kNm/deg (und mehr).
währleistet, dass die Karosseriekomponenten immer Die Crashanforderungen von Fahrzeugen sind in den
nach den Vorgaben der Zusammenbaustudie gespannt letzten Jahren stark angestiegen. Notwendige Ver-
werden. stärkungen wurden auch zur Erhöhung der Steifigkei-
ten genutzt Das hat zu Zuwächsen von ca. 40 bis
6.1.1.5.2 Karosseriesteifigkeiten 50 % geführt. Allerdings darf nie allein die Gesamt-
Entwicklungsziel ist stets eine steife Karosserie mit steifigkeit betrachtet werden. Der Konstrukteur sollte
einer homogenen Struktur, die die Grundlage für ein für jedes Bauteil die lokale Steifigkeit optimieren.
Fahrzeug mit gutem dynamischen Geräuschverhalten Der absolute Wert für die Torsionssteifigkeit cT ist
und guten Fahreigenschaften bildet. Die Steifigkeits- ebenso von nur relativer Aussagekraft. Er muss in
auslegung erfolgt weitgehend mit Hilfe rechnerischer Verbindung mit der Masse m und der Aufstandsflä-
Methoden (Kap. 11.3). che A eines Fahrzeuges gesetzt werden, da zwischen
Unter Torsionssteifigkeit versteht man die Verwin- Leichtbau und Steifigkeit ein Zielkonflikt besteht. Ein
dung der Karosserie um eine Achse bei Beaufschla- typischer Wert für die Leichtbaugüte, Bild 6.1-8,
gung mit einem Moment. Im Fahrbetrieb kommt es, kann dann folgendermaßen definiert werden:
zum Beispiel durch Fahrbahnunebenheiten, häufig
cT A
zur Einleitung solcher Momente und dabei zu Rela- L=
tivbewegungen zwischen der Karosserie und deren m
Anbauteilen. Diese Verformungen können zu uner- Hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen ist insbeson-
wünschten Schwingungen und Geräuschen führen, dere bedingt durch noch höhere Crashanforderungen
weshalb man sich um möglichst hohe Torsionsstei- (Beispiel: Euro-NCAP) mit dem verstärkten Einsatz
figkeit bemüht (siehe auch Kap. 3.4). von zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, wie etwa
Maßnahmen hierzu sind unter anderem: Versteifungen, zu rechnen [3]. Die daraus resultie-
– optimierte Profilübergänge und -verbindungen renden Gewichtserhöhungen kompensieren die posi-
(Strukturknoten) tive Entwicklung der Leichtbaugüte zum Teil.
– Profilaufbau von Quer- und Längsträgern Die Biegesteifigkeit gibt an, welche Kraft (kN) man
– Vermeidung von Gelenken und Profileinschnü- aufbringen muss, um die Karosserie zwischen den
rungen beiden Achsen um einen bestimmten Betrag, zum
– multifunktionale Verstärkungen Beispiel 1 mm abzusenken. Diese Belastungen treten

0,45

0,40
Tendenz
0,35

0,30
Leichtbaugüte 1

0,25

0,20

0,15 cT · A Nm/Grad · m2
L=
mRK kg · 103
0,10
mRK = Masse der Rohkarosserie
cT = Torsionssteifigkeit
0,05 A = Aufstandsfläche
0,00
1992 1996 2000 2004 2008 2012
Bild 6.1-8 Leichtbaugüte
Zeit
von Rohkarosserien
390 6 Aufbau

im Fahrbetrieb insbesondere beim Durchfahren von sium und Kunststoff wird in Zukunft deutlich zuneh-
Bodenwellen auf. Hohe Steifigkeit erreicht man, men.
wenn die Längsträger, Vorder- und Hinterrahmen
sowie der Schweller in ihrer Profilhöhe aufgebaut Literatur
werden oder eine Verstärkung eingebracht wird.
[1] www.unsere-autos.de
Für die Anschraubpunkte von Fahrwerksteilen wie [2] Hucho, W.-H.: Aerodynamik des Automobils. 5. Aufl. Wiesba-
Achsen, Dämpfer und Federn benötigt man steife den: Vieweg Verlag, 2005
Anlenkpunkte an der Karosserie, sogenannte Koppel- [3] “The all new Astra” Automotive Circle International Okt 2009,
punkte. Diese Forderung ergibt sich, da man bei der EuroCarBody 2009
[4] Automotive Circle International Nov 2010. Dosis and Closures
Fahrwerkabstimmung die Nachgiebigkeit der Karos- in Car Body Engineering 2010
serie so weit wie möglich ausschalten möchte. Um [5] Leuschen, B.; Hopf, B.: Fügen von Stahl, Aluminium und deren
diese hohen Steifigkeiten zu erreichen, muss man an Kombination. In: VDI-Bericht 1264, 1996
soliden Rahmenteilen anschließen und teilweise zu- [6] ATZ/MTZ-Extra, April 2005, Der neue Passat
[7] Hahn, O.; Gieske, D.: Ermittlung fertigungstechnischer und
sätzlich mit lokalen Verstärkungen arbeiten. konstruktiver Einflüsse auf die ertragbaren Schnittkräfte an
Die Torsionseigenfrequenz eines Gesamtfahrzeuges Durchsetzfügeelementen. FAT-Bericht 116, 1995
sollte zwischen 24 und 27 Hz liegen (siehe auch [8] Braess, H.-H.: Negative Gewichtsspirale. In: ATZ 101 (1999), Nr. 1
Kap. 3.4). Um diese zu erreichen, beträgt der Zielwert [9] Weitere Informationen insbesondere in den VDI-Berichten 665
(1988), 818 (1990), 968 (1992), 1134 (1994) und 1398 (1998)
für die Rohkarosserie 38 bis 40 Hz bezogen sowohl sowie in der ATZ
für die erste symmetrische Eigenfrequenz (Biegung) [10] Teske, L.; Strehl, R.; Hallik, M.: Das Karosseriekonzept des
und die erste asymmetrische Eigenform. Je höher der neuen OPEL Vectra C. In: VDI-Bericht 1674 (2002) S. 85 – 98
Wert ausfallen soll, desto steifer und entsprechend [11] GZVB, Faszination Karosserie, 2. Braunschweiger Symposium
2005, ISBN 3-937655-00-4
leicht muss die Karosserie sein. Wichtig ist aber auch [12] ATZ/MTZ -Extra-Ausgaben über Neuentwicklungen
eine sich über die gesamte Karosserie erstreckende
ausgewogene Steifigkeit, um die auftretenden Schwin-
gungsamplituden niedrig zu halten.

6.1.1.5.3 Aufprallverhalten
Wesentliches Karosserie-Entwicklungsziel ist selbst-
verständlich ein optimales Verhalten bei allen Auf-
prallarten. Dabei gilt es in erster Linie, die Fahrgast- 6.1.2 Space-Frame
zelle stets intakt zu halten. Intrusionen von Karosse- 6.1.2.1 Einleitung
rieteilen oder Aggregaten sind unbedingt zu vermei-
den. Der Energieabbau, der nötig ist, um die Insas- Weltweit ist seit Jahrzehnten eine deutliche Zunahme
senbeschleunigungen durch den Aufprallimpuls zu der Fahrzeuggewichte in der Automobilindustrie zu
begrenzen, sollte vor allem beim Frontalaufprall in verzeichnen. So betrug seit den achtziger Jahren die
der Vorderwagenstruktur und den Längsträgern er- Gewichtszunahme in der Mittelklasse und unteren
folgen. Einzelne Maßnahmen sind im Kapitel 6.1.1.4 Oberklasse im Schnitt etwa 15 kg pro Jahr. Im einzel-
zur Karosseriestruktur bereits ausgeführt, weitere nen ist die stetige Gewichtszunahme auf höhere Si-
Einzelheiten (auch zum Fußgängerschutz) finden sich cherheitsanforderungen, verschärfte Gesetzgebungen,
in Kapitel 9. gestiegene Komfortansprüche, zunehmend umfangrei-
cher werdende Zusatzausstattungen und die Universali-
6.1.1.6 Ausblick tät der Fahrzeuge zurückzuführen (Bild 6.1-9).
Diese Gewichtszunahme bedingt bei gleichen Fahr-
Der Karosseriebau der Zukunft ist vor allem durch leistungen eine Anpassung des Motoren-/Getriebe-
den Zwang zu weiteren Gewichtseinsparungen ge- aggregates und damit verbunden stärkere Fahrwerke
kennzeichnet, um den Kraftstoffverbrauch und CO2- und Bremsanlagen sowie ein größeres Tankvolumen.
Ausstoß zu reduzieren. Die oben genannten Gewichtszunahmen bilden eine
Nach [8] kann man bei der Verringerung des Karos- Gewichtsspirale, die zu einer Steigerung des Energie-
seriegewichtes um 100 kg mit sekundären Gewichts- verbrauchs und der Umweltbelastung führt. So wer-
einsparungen an anderen Aggregaten wie Motor, den üblicherweise für 100 kg Mehrgewicht je nach
Getriebe und Bremsen in Höhe von 16 kg rechnen. Fahrzeugtyp und Motorbauart etwa 0,3 l bis 0,5 l
Die Ganzstahl-Karosserie wird aufgrund ihrer erwie- Kraftstoffmehrverbrauch pro 100 km in Ansatz ge-
senen Prozessfähigkeit und der günstigen Material- bracht (Bild 6.1-10).
kosten auch weiterhin einen hohen Marktanteil hal- Der Energieverbrauch eines Fahrzeuges wird wäh-
ten. Während sich allerdings der Anteil des Qualitäts- rend der Laufzeit vom Gesamtfahrwiderstand und
stahles deutlich verringert, steigen die Anteile von dem Energieverbrauch an Bord bestimmt. Danach ist
höher- und höchstfesten Stahlsorten weiter an. Auch die Masse eine wesentliche, den Fahrwiderstand
die Substitution von Stahl durch Aluminium, Magne- beeinflussende Größe.
6.1 Karosseriebauweisen 391

Gründe für den


Qualität Gesetz
geb Gewichtsanstieg
t e
for u
m

ng
Ko
Int ca. +10 kg/a
er
130 ieur h eit
Sicher

120
Gewicht [%]

ca. +20 kg/a


110

100
1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004
Bild 6.1-9 Gewichtsent-
Baujahr
wicklung im Automobilbau

Ausgangsbasis: B-Segment im Leistungsspektrum 4 Zylinder Ottomotoren

Mehrgewicht von 10%

13,5% Mehrgewicht Basisfahrzeug


+ Getriebeanpassung Verbrauch: 100% 10% Mehrgewicht
+ 10% Mehrleistung Verbrauch: 102%
Verbrauch: 109,1%

0,5% Mehrgewicht durch Mehrgewicht von +3%


Akustikmaßnahmen zur durch Sekundäreffekte
Kompensation der Mehrleistung (Anpassung Federn, Lager,
Bremsen, Crash, etc.)

13% Mehrgewicht
+ Getriebeanpassung
13% Mehrgewicht
+ 10% Mehrleistung
Verbrauch: 102,5%
Verbrauch: 109%

Leistungserhöhung über 12% kürzeres Getriebe


Drehzahl für gleiche 13% Mehrgewicht zum Erreichen gleicher
Beschleunigung 0-100 km/h + Getriebeanpassung Elastizitäten wie
wie Basismodell Verbrauch: 108% Basismodell Bild 6.1-10 Kompensation
über Leistungssteigerung

Nicht nur aus ökologischen Gründen werden von Räder, Bremsen und aus einer verkleinerten Tankanla-
modernen Kraftfahrzeugen niedrigerer Kraftstoffver- ge und einer angepassten Abgasanlage (Bild 6.1-11).
brauch, geringere Emissionen und Recyclefähigkeit Die Analyse möglicher Leichtbauwerkstoffe bezüg-
gefordert. Aus Kundensicht sind auch eine kontinu- lich spezifischem Gewicht, Festigkeit, Steifigkeit,
ierliche Verbesserung der Fahreigenschaften wie Fahr- Crashverhalten, Verfügbarkeit und Energiebedarf
zeugdynamik oder Fahrzeugagilität gewünscht, wie zeigt im Kfz-Karosseriebau deutliche Vorteile für den
sie bei gleichbleibender Motorisierung durch eine Werkstoff Aluminium.
Reduzierung des Fahrzeuggewichts erzielt werden Die reine Substitution einer Stahlkarosserie, führt zu
können. einer maximalen theoretischen Gewichtseinsparung
von 66 %. Eine funktionsgleiche Auslegung bezüg-
6.1.2.2 AUDI-Space-Frame lich Crashmanagement, statische und dynamische
Das größte Gewichtsmodul im Fahrzeug bildet die Steifigkeiten und maximale Einzellasten, führt zu
Karosserie. Ein Karosserieleichtbau als primärer Schritt einer realistischen Gewichtseinsparung von 45 %. Die
z.B. in Form einer Vollaluminiumkarosserie ermög- Nutzung der unterschiedlichen Halbzeugarten des
licht, zusammen mit der konsequenten Nutzung von Aluminiums in funktionsgerechter Gestaltung macht
Leichtbauwerkstoffen im ganzen Fahrzeug, zusätzliche den leichten Werkstoff zusätzlich sehr attraktiv.
sekundäre Gewichtsreduzierungen. So sind dann ohne Neben dem eingesetzten Blech stehen mit Aluminium-
Abstriche bei den Fahrleistungen kleinere Motoren Strangpressprofilen und Aluminium-Gussteilen kos-
einsetzbar. Weitere Gewichtserleichterungen resultie- tengünstige Halbzeuge zur Verfügung, die sich zu einer
ren aus geringeren Belastungen für Fahrwerk, Getriebe, aluminiumgerechten Konstruktion vereinigen lassen.
392 6 Aufbau

Gewichtsanteil der Anteil der Fahrzeugmodule an der


Fahrzeugmodule Gewichtszunahme

Karosserie 21
25 35
Ausstattung
Elektrik
2
Flüssigkeiten 3
Motor
11 57
17 Fahrwerk Bild 6.1-11 Gewichtsanteil
6 der einzelnen Module im
14 Fahrzeug und deren
5 5
Gewichtszunahme
Die Verwendung dieser Halbzeugarten führte im Ein besonderes Merkmal des ASF ist der verwende-
Karosseriebau zu einem neuen Konstruktionskonzept, te Aluminiumhalbzeugmix aus Guss, Profilen und
®
dem Audi-Space-Frame (ASF ). Blech. Sie bilden eine selbsttragende Rahmenstruk-
Das Ergebnis der werkstoffgerechten Konzeptausle- tur, in die jedes Flächenteil mittragend integriert ist.
gung im Audi A8 führte zu einer außergewöhnlichen Der ASF verwirklicht mit wenig Masse eine maxima-
Produktqualität und der besten Leichtbaugüte. Die le Stabilität. Er wurde für höchste Steifigkeits-, Kom-
Leichtbaugüte ist wie folgt definiert: fort- und Sicherheitsanforderungen dimensioniert.
Konstruktive Merkmale sind multifunktionale Groß-
mGer ⎛ kg ⎞
Leichtbaugüte L = ⎜ ⎟ ⋅ 10
3 gussteile, lange durchgehende Profile und ein hoher
c1 ⋅ A ⎝ Nm/Grad ⋅ m 2 ⎠ Anteil von geraden Strangpressprofilen.
mGer = Gerippegewicht (ohne Türen und Klappen) Es werden nur an den Stellen gebogene Profile einge-
c1 = Torsionssteifigkeit setzt, wo die Außenhautform dies notwendig macht
A = Aufstandsfläche (Spur · Radstand) (Bild 6.1-12).
Über die genannten konstruktiven Maßnahmen wird
Sie ist ein Maßstab dafür, mit wie wenig Masse bei eine deutliche Reduzierung der Teilezahl erreicht.
gegebener Radaufstandsfläche welche Steifigkeit er- Dies verbessert einerseits den Komfort (weniger
reicht wurde. Mit 231 kg Karosseriegewicht ohne Verbindungsstellen zwischen den Bauteilen), ande-
Türen und Klappen und einer Torsionssteifigkeit von rerseits wirkt es sich günstig auf die Kosten und die
37.600 Nm/Grad erreicht die A8 ASF-Karosserie der Fertigungsprozesse aus. Die bekannten Verbindungs-
dritten Generation eine Leichtbaugüte von 1,2 und ist techniken wie MIG-Schweißen, Nieten und Laser-
damit eindeutig Klassenprimus. Die erreichte Ge- schweißtechnik werden stetig weiter optimiert. Das
wichtseinsparung liegt gegenüber einer vergleichba- Laserhybridschweißen vereint die Vorteile beider
ren heutigen Stahlkarosserie in Blechschalenbauweise thermischen Fügetechnologien (MIG- und Laser-
bei etwa 45 %. schweißen), wobei die Verbindungsarten des MIG-
®
Über diese Vorteile des ASF -Konzeptes bezüglich der Schweißens (Überlappnaht, Kehlnaht) und die Fes-
Gewichtsreduzierungspotentiale und den damit ver- tigkeit der Fügezone mit der geringeren Wärmezufuhr
bundenen ökologischen und fahrdynamischen Konse- des Laserschweißens bei gleichzeitig höheren Pro-
quenzen zeichnet sich die Aluminiumstruktur mit zessgeschwindigkeiten kombiniert werden.
ausgezeichnetem Energieabsorptionsvermögen, idealen Aluminiumlegierungen, die durch eine Wärmebehand-
Recyclingvoraussetzungen und sehr günstiger energeti- lung auf ihre Sollfestigkeit getrimmt werden, haben
scher Bilanzierung aus. Derivate können mit erheblich
reduziertem Aufwand gegenüber einer konventionellen
Karosseriebauweise realisiert werden.
®
6.1.2.3 Das Karosseriekonzept des ASF
Der Audi Space Frame wurde mit dem AUDI A8 im
Jahr 1994 erstmals für ein Serienfahrzeug eingeführt.
Dieses Karosseriekonzept wurde dann im A2, wel-
cher 1999 auf den Markt kam, für einen Großserien-
einsatz weiterentwickelt. Das Produktportfolio der
Fahrzeuge mit einer ASF-Karosserie wurde bis Ende Gussteil
2010 bei Audi um folgende Modelle ergänzt: Lam- Strangpressprofil
borghini Gallardo Coupé, Lamborghini Gallardo Blech
Spider, Audi TT Coupé, Audi TT Roadster, Audi R8,
Audi R8 Spider und im A8 in der zweiten und dritten Bild 6.1-12 Spaceframe Audi A8 (D3). Das Mate-
Generation. rialkonzept
6.1 Karosseriebauweisen 393

bei thermischen Verbindungstechnologien grundsätz-


lich eine Wärmeeinflusszone mit reduzierter Streck-
grenze.
Im modernen Karosserieleichtbau mit dem Werkstoff
Aluminium geht der Trend zu kalten Verbindungs-
techniken. In der Großserie bei Audi haben sich als
robuste und voll automatisierbare Verbindungstech-
niken folgende Technologien etabliert: das Stanznie-
ten mit Halbhohlniet, das Vollstanznieten, das auto-
matisierte Direktverschrauben auch FDS (Flow Drill
Screws) genannt. Der FDS Prozess benötigt keine
beidseitige Zugänglichkeit und ist somit ideal für An-
bindungen an geschlossene Querschnitte.
6.1.2.4 Der Aufbau der ASF Karosserie A8 (D3)
Der Aufbau beginnt mit dem Vorder- und Hinterwa-
gen. Diese beiden Baugruppen werden zusammen mit Bild 6.1-14 Das Portal der Luftfederung hinten
dem Unterboden zu einem Spaceframe zusammenge-
baut. Zuletzt werden dann die einteilige Seite und das beim Vorgänger geschraubt ausgeführt, um eine ein-
Dach mit der Struktur verbunden, die dann mit Kot- fache Reparatur möglich zu machen.
flügel, Türen und Klappen vervollständigt wird, be- Im Hinterwagen dominieren zwei zentrale Großguss-
vor sie nach dem Finish in den Lackierungsprozess teile, das Verbindungsteil Schweller/Längsträger und
eingesteuert wird. das Verbindungsteil Säule C/D. Das Verbindungsteil
Der Vorderwagen enthält als zentrales Bauteil das Schweller/Längsträger ist das größte Gussteil. Es
Großgussteil Wasserkasten. Dieses Bauteil hält die nimmt den kompletten hinteren Hilfsrahmen auf und
Klimaanlage, den Pedalbock, den Scheibenquerträger verbindet den Längsträger hinten mit dem Schweller.
und es verbindet die beiden Säulen A rechts und Seine hohe Steifigkeit schützt beim Heckcrash den
links. Die Säule A wird ebenfalls aus zwei Großguss- dazwischenliegenden Tank. Das Verbindungsteil Säule
halbschalen gebildet. Sie umschließen unten den C/D nimmt die Luftfederung oben auf und an seiner
Schweller und oben den durchgehenden Dachrahmen Vorderseite den Gurtroller. Es bildet das Portal für die
seitlich. Federbeinaufnahme der Luftfederung (Bild 6.1-14).
Diese beiden Strangpressprofile sind neben der Tun- Der Vorderwagen und der Hinterwagen werden mit
nelstruktur die zentralen Bauteile für die Biegestei- dem Dachrahmen seitlich, dem Schweller, den Sitz-
figkeit der Karosserie (Bild 6.1-13). querträgern, dem Pfosten B und den Bodenblechen zu
Die Längsträger sind in einen vorderen und hinteren einem geschlossenen Space Frame zusammengeführt.
unterteilt und werden durch ein Gussteil verbunden. Der Dachrahmen seitlich ist ein IHU (Innen-Hoch-
Das Gussteil ermöglicht durch seine hohe Gestal- druck-Umformung) geformtes Strangpressprofil (Bild
tungsfreiheit die Vereinigung verschiedener Funk- 6.1-15).
tionen, wie die Aufnahmen des Hilfsrahmens, der Es bildet an den unterschiedlichen Stellen, je nach
Motortraverse, der Kotflügelbankabstützung und der Notwendigkeit, verschiedene Querschnitte aus. Der
Federbeinabstützung. Der vordere Längsträger ist wie Pfosten B ist ein multifunktionales Großgussteil, dass
neben den Scharnieranbindungen für die hintere Türe
und der Schließbügelanbindung für die vordere Tür
auch die hohen Anforderungen aus den Seitencrash-

B
B-B
B C C-C

C
Gesamtlänge
Dachrahmen: 3000 mm
Wandstärke: 4,5 mm

A A-A
A

Bild 6.1-15 Hydrogeformter Dachrahmen seitlich,


Bild 6.1-13 A-Säule 3D gebogen
394 6 Aufbau

disziplinen erfüllen muss. Weiterhin ist der Pfosten B der Hinterachse. Statt zusätzliche Massen im Heck zu
ein zentrales Bauteil für den Komfort. Zum Ab- positionieren konnte Audi mit dem know how zu
schluss werden die einteilige Seite und das Dach Materialhybridkonzepten einen harmonischen Kraft-
zugeführt. Der A8 hat eine einteilige Seite, die ebenso fluss und das gewünschte Achslastverhältnis mit
wie das Dach über Laserschweißen mit der Struktur einem Stahlblechhinterwagen in der ASF-Karosserie-
zusammengefügt wird. struktur erreichen.
Das Potenzial, mit der Materialhybridbauweise Mate-
6.1.2.4.1 Fortschritte in der ASF Architektur
rialien unterschiedlicher Dichte zur jeweils besten
nach sechzehn Jahren Produktions-
Achslastverteilung am richtigen Ort zu platzieren
erfahrung
kann in allen Karosseriebereichen realisiert werden.
Audi hat das ASF Konzept zu einer Reife entwickelt, In der ASF-Karosserie des Audi A8, Modelljahr
die es ermöglicht, durch Definition des spezifischen 2010, wird das Hybridkonzept aus funktionalen
Halbzeugmixes das jeweils produktspezifische Opti- Gründen zum Einsatz gebracht. Der B-Pfosten benö-
mum in Funktion und Wirtschaftlichkeit zu bauen. tigt zur Erfüllung der Beanspruchungen der Seiten-
Aus den zehn im Markt befindlichen Audi Modellen crashanforderungen ein höchstfestes Material das für
mit dem ASF Karosseriekonzept soll diese Aussage ein optimales Crashmanagement über die Bauteil-
an drei Beispielen erklärt werden. Im Vergleich höhe unterschiedliche Dehnwerte oder Duktilitäten
stehen die Karosserien des Audi R8, des Audi A8 und bedarf. Die Entscheidung fiel auf 22 MN 55, ein
des Audi TT. Die ASF Struktur des Audi R8 hat Warmumformstahl der durch partielle thermische Be-
das ideale Konzept einer investitionsarmen Karosse- handlung das Anforderungsprofil erbringt.
rie für eine Manufakturfertigung. Hier sind 70 % des In den ASF Konzepten der Zukunft sind Integratio-
Strukturgewichtes in Strangpressprofilen hergestellt. nen aller Materialtechnologien zu erwarten. Magne-
Strangpressprofile sind die Halbzeuge mit dem güns- sium und CFK haben den feasibilityproof bereits
tigsten Investitionsniveau. Das Steifigkeitsniveau erledigt.
konnte durch die große Flexibilität in den Verrip- Wirtschaftlicher Leichtbau bedeutet: „Den richtigen
pungsstrukturen der Profile optimal erreicht werden. Werkstoff in funktionsoptimiert kleinster Menge werk-
Die ASF Struktur der Audi A8 Karosserie bildet mit stoffgerecht am richtigen Platz.“
den Großen multifunktionalen Druckgussknoten die
ideale Basis für Fahrzeuge des höchsten Komfort- 6.1.2.5 Werkstoffe und Fertigungstechnologien
und Sicherheitsanspruchs. Die ASF Struktur des Audi 6.1.2.5.1 Blechteile und Verfahren
TT stellt bereits einen nächsten Trendsetter dar. Hier Warmaushärtbare Legierungen werden wegen der
wurde erstmals ein ASF-Materialhybrid Konzept fließfigurenfreien Oberfläche hauptsächlich für die
realisiert. Mit dem integrierten Hinterwagen in Stahl- Außenhaut verwendet. Entsprechende Legierungen
blech wird für dieses Sportfahrzeug die ideale Achs- werden jetzt auch im Strukturbereich eingesetzt und
lastverteilung definiert. Das TT Packagekonzept mit bieten dort höhere Festigkeiten und ein höheres Ener-
dem relativ kurzem Radstand und dem Frontmotor- gieaufnahmepotenzial als die naturharten Legierun-
konzept bedarf für sportliches Handling Gewicht auf gen.

Audi 8 (D2)
Entfettung +
Walzwerk Presswerk Konversion Karosseriebau Vorbehandlung + KTL Lackiererei

1 Trocken- Herstellung Space- separate Finish Entfettung KTL Trocknung


schmie- der frame + Wärmebe- 20 Min. bei
rung Pressteile Anbauteile handlung 180 °C

Audi 8 (D3)
Walzwerk Presswerk Karosseriebau Vorbehandlung + KTL Lackiererei

1 Konversion Herstellung Space- Finish Entfettung KTL Trocknung


2 Trocken- der frame + 20 Min. bei
schmierung Pressteile Anbauteile >185 °C

Bild 6.1-16 Fertigungsprozess Audi A8 – D3


6.1 Karosseriebauweisen 395

Tabelle 6.1-3 Wärmebehandlung in der Lackiererei


Halbzeug Legierung/Zustand Zugfestigkeit Rm Dehngrenze Rp0.2 Bruchdehnung
in MPa in MPa A80 in %
Blech AA6016/T4 ≤ 235 ≤ 130 A80 mm ≥ 24
AA6016/T6 ≥ 240 ≥ 200 A80 mm ≥ 12
AA6016 schnellhärtend/T4 ≤ 235 ≤ 130 A80 mm ≥ 24
AA6016 schnellhärtend/T6* ≥ 240 ≥ 200 A80 mm ≥ 12
AA6181 A/T4 ≤ 240 ≤ 140 A80 mm ≥ 23
AA6181 A/T6 ≥ 280 ≥ 210 A80 mm ≥ 10
T6*: Wärmebehandlung mit 2 % Vordehnung bei > 185 °C/20 min

Mit Umsetzung einer neuen Prozesskette, ohne ge- 6.1.2.5.2 Strangpressprofile und Verfahren
sonderte Warmauslagerung der Karosserie kommen, Die hohe Gestaltungsfreiheit bezüglich der Profil-
erstmalig neuentwickelte, schnellaushärtende Legierun- querschnittsgeometrie erschließt dem Konstrukteur
gen im Außenhautbereich zum Einsatz (Bild 6.1-16). eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die weit über die
Diese Legierungen auf Basis der AA 6016 A errei- konventionelle Blechbauweise hinausgehen. Strang-
chen bei geringeren Temperaturen und Zeiten ein pressprofile sind ideale Tailored Tubes.
vergleichbares Festigkeitsniveau wie die herkömm- Durch die Möglichkeiten von Wanddickenvariationen
lichen AA 6016 A-Legierungen. Im Innenbereich im Querschnitt, Flanschanpressungen zur Verbindung
werden Legierungen nach AA 6181 A eingesetzt. Die anschließender Bauteile, oder der Profilverrippung
Warmbehandlung erfolgt jetzt im Zuge der KTL- durch Stege lassen sich die Halbzeuge hinsichtlich
Trocknung in der Lackiererei (Tabelle 6.1-3). Form, Funktion und Gewicht hervorragend optimie-
Weiterhin wird mit teilweisem Verzicht von Entfet- ren. Die Gestaltungsfreiheit der Profilrinnen-Verrip-
tungs- und Passivierumfängen der Aufwand zur Her- pung bietet, ähnlich wie bei den Gußknoten, eine
stellung der Karosserie weiter optimiert. Alle Blech- ideale Nutzung der topologischen Optimierung.
legierungen werden im Zustand T4 als Platine oder Schließlich ergibt sich aus den geschlossenen Strang-
Coil angeliefert. Nach Umformung und Warmbe- pressprofilen durch die Erhöhung der Funktionsinteg-
handlung wird die Streckgrenze auf über 200 MPa ration aufgrund der variablen Querschnitte eine
erhöht, was gegenüber einer nichtausgelagerten deutliche Reduzierung der Anzahl der Einzelteile
Außenhaut zusätzliche Gewichtspotenziale erschließt. einer Karosserie. Dies wirkt sich auch positiv bei der
Gleichzeitig werden bleibende Beulen durch Hagel- Reduzierung der Fügelängen aus.
schlag oder lokale Eindruckstellen beim Zudrücken Beachtet werden muss aber, dass das Fügen von
von Klappen oder dem Polieren vermieden. Hohlprofilen typischerweise Fügeverfahren mit ein-
Aluminiumbleche sind gegenüber den im Stahlbereich seitiger Zugänglichkeit benötigt, es sei denn, die
gebräuchlichen Tiefziehblechen in ihrer Umformbar- Verbindung wird über einen angepressten Flansch
keit eingeschränkt. Die Erfahrungen aus vorangegan- vorgenommen. Das Audi-Spaceframe-Konzept ASF
genen Audi-Aluminium-Karosserien erlaubte es aber, bedingt ein anderes Aufbau- und Fügekonzept als
sehr komplexe Bauteilgeometrien, wie die der eintei- eine Blechschalenlösung. Voraussetzung für eine
ligen Seitenwand zu realisieren (Bild 6.1-17). seriensichere, vollautomatisierte Aluminium-Verbin-
dungstechnologie ist ein maximaler Spalt von etwa
einem Drittel der minimalen Wanddicke der Profile
zwischen den Fügestellen zweier Bauteile. Im Mittel
weisen die ASF-Halbzeuge des A8 eine Wanddicke
von 2,0 mm auf. Berücksichtigt man die Vorrich-
tungs- und Robotertoleranzen sowie den Schweißver-
zug aufgrund der Wärmeeinbringung, liegen die To-
leranzanforderungen des Karosserieentwicklers hin-
sichtlich Formlinie und Profilquerschnitt im Bereich
von ±0,3 mm.
Die Profile besitzen im Gegensatz zu den Blech-
halbschalen des konventionellen Stahlkarosseriebaus
bereits als Einzelteile eine sehr hohe Bauteilsteifig-
keit und bieten damit keine Möglichkeit, in Spann-
vorrichtungen die notwendige Spaltgeometrie im
Verbindungsbereich sicherzustellen. Die erhöhten
Anforderungen einer vollmechanisierten Fügetechnik
Bild 6.1-17 Seitenwand Audi A8 – D3 im Karosseriebau bedingen Toleranzen, wie sie von
396 6 Aufbau

den Strangpressprofilherstellern im Großserienmaß- bei einer deutlich reduzierten Teilezahl. Die im A8


stab nur bedingt erzielt werden können. Daher müs- (D3) eingesetzten multifunktionalen Großgussteile
sen die Strukturbauteile des Audi Space Frames ASF stellen eine konsequente Weiterentwicklung der Guss-
teilweise durch einen nachgeschalteten Kalibrierpro- teile dar. Es wurde großes Augenmerk auf die Funk-
zess „in Form“ gebracht werden. tionsintegration und der Verringerung der Teileanzahl
Als Bauteilwerkstoffe kommen ausschließlich Legie- gelegt. Vorteile der Teilereduktion liegen insbesonde-
rungen aus dem Legierungssystem AlMgSi, ähnlich re bei dem reduzierten Logistikumfang. Weitere
der EN-AW 6106, zum Einsatz. Abgeschreckt mit Kostenersparnisse werden durch den verkleinerten
den Medien Luft, Wasser oder einem nebligem Ge- Fügeumfang erzielt. Durch die Rückführung einer
misch aus der Warmumformungstemperatur, kaltaus- Schweißgruppe auf ein Bauteil werden Fügetoleran-
gelagert und stabilisierungsgeglüht auf einen weitge- zen vermieden und die Baugruppengesamttoleranz
hend stabilen Zustand, erreichen Legierungen dieser wesentlich verbessert.
Spezifikation Zugfestigkeiten um 200 MPa, Streck-
grenzen von zirka 100 MPa und Dehnungen (A5) um Vakuum-Druckguss
25 %. Dünnwandige Formgussteile für den Automobilbau,
hergestellt in einem Vakuum-Druckgussverfahren,
Kalibrierung und Innenhochdruckumformung
werden bei Audi seit 1993 in Karosseriestrukturen
Die Toleranzanforderungen von ±0,3 mm an den Pro- verbaut. Die Vorteile liegen auf der Hand. Durch das
filquerschnitt, aber auch an die Formlinie, bedingen beanspruchungsgerechte, dreidimensional mögliche
einen an das Strangpressen anschließenden Kalibrier- Anpassen der Wanddicken an die Betriebslastanfor-
prozess. Das Innenhochdruckumformen gehört zu den derungen und durch die lokale Versteifung durch an-
wirkmedienunterstützten Verfahren. Die Extrusions- gegossene Rippen ist es möglich, eine optimale
teile werden in einem in Ober- und Unterteil geteilten Kombination von Gewicht und Funktionalität zu
Werkzeug, welches der Endkontur des Bauteils erzielen. Das Verfahren zur Bauteilherstellung ist
entspricht, mit einem Innendruck bis zu 1.500 bar Vakuum-Druckguss, mit dem gasarme, gut schweiß-
beaufschlagt. 4-Säulen Pressen mit Zuhaltekräften bis bare und wärmebehandelbare Teile mit guten mecha-
zu 5.500 t übernehmen die Zuhaltung der Werkzeuge. nischen Eigenschaften und hoher Maßhaltigkeit er-
zielbar sind.
Neue Verfahren: Runden im Strangpressen
Das Verfahren verbindet zudem eine hohe Produk-
Als neues Verfahren wird im A8 erstmals ein Strang- tivität mit der Fähigkeit zur Herstellung von „near-
pressprofil eingesetzt, welches direkt im Extrusi- netshape“-Teilen. Eine Übersicht über die verwende-
onsprozess gerundet wurde und einen separaten ten Gusswerkstoffe gibt folgende Tabelle 6.1-4.
Streckbiegevorgang überflüssig macht. Beim Runden
im Extrusionsprozess wird der auslaufende, rund 6.1.2.6 Fügeverfahren
550 °C heiße Strang durch Führungsrollen auf die Das Fügen der Einzelteile zur Karosseriestruktur
gewünschte Biegekontur gebogen. gehört zum Kerngeschäft eines Automobilherstellers.
Dieses Verfahren hat neben den einfachen, kosten- Da das Audi Space Frame-Konzept sich grundsätzlich
günstigen Formgebungswerkzeugen den Vorteil, dass von einem (Stahl-)Blechkonzept unterscheidet, ist
durch den Rundungsvorgang kein Umformvermögen naturgemäß sowohl die Aufbaufolge als auch die
verzerrt wird und keine Einfallungen durch das Bie- Fügetechnik unterschiedlich. Gegenüber den im alten
gen auftreten. Der Verzicht auf den nachfolgenden A8 (D2) eingesetzten Fügeverfahren wurden im
Streckbiegevorgang reduziert zusätzlich die Ferti- neuen A8 (D3) weiterentwickelte Technologien, wie
gungskosten. das MIG-Schweißen, Stanznieten und Rollfalzkleben,
aber auch neue Fügetechnologien, wie das Laser-
6.1.2.5.3 Gussteile und Verfahren
strahl- und das Laserstrahl-MIG-Hybridschweißen,
Der prozentuale Gewichtsanteil der Gussteile in der eingesetzt. Die beim ASF angewandten Verfahren
A8-Struktur stieg im Gegensatz zum Vorgängermo- sollen hier mit ihren spezifischen Eigenschaften näher
dell von zirka 27 % auf etwa 34 % an. Dies gelang erläutert werden.

Tabelle 6.1-4 Guss-Werkstoffe im A8-Spaceframe

Halbzeug Legierung/Zustand Zugfestigkeit Rm Dehngrenze Rp0,.2 Bruchdehnung


in MPa in MPa A5 in %
Guss GD-AlSi10Mg ≥ 180 120 – 155 ≥ 15
GD-AlMg3Mn ≥ 180 120 – 155 ≥ 15
AlSi7Mg Sandguss ≥ 200 ≥ 160 ≥7
6.1 Karosseriebauweisen 397

6.1.2.6.1 MIG-Schweißen mit Impulslichtbogen


Beim MIG-Schweißen wurde ein Automatisierungs-
grad von >80 % erreicht. Mit der neuen Stromquel-
lengeneration wird die Reproduzierbarkeit der Güte
von Schweißverbindungen deutlich erhöht. Die Im-
pulstechnik erlaubt auch bei Dünnblechen (t = 0,9–
1,5 mm) die Verwendung von verhältnismäßig dicken
Drahtelektroden (∅ 1,2 mm), wodurch die Drahtför-
derung verbessert und somit prozesssicherer wird.
Durch den Einsatz von Großspulgeräten zur Förde-
rung des Zusatzwerkstoffes wird die Rüstzeit zum
Wechseln der Drahtrollen verringert. Gleichzeitig
wird mit konstanten Eigenschaften der großen Gebin-
de die Stabilität des Schweißprozesses positiv beein-
flusst. Ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung der Pro-
zesssicherheit liegt in der Anwendung von Systemen Bild 6.1-18 Stanznieten mit Halbhohlniet
zur automatischen Brennervermessung und Korrektur
des Roboterprogramms. Mit diesen Systemen werden Um die hohen Qualitätsstandards im Serienprozess
eventuelle maßliche Veränderungen des Schweiß- einhalten zu können, wurde die Stanzniettechnologie
brenners während des Fertigungsablaufes online er- über die Jahre kontinuierlich weiterentwickelt. Durch
fasst und in der Ablaufsteuerung des Roboters be- Optimierungen des Stanznietequipments und gezielter
rücksichtigt. Das MIG-Schweißen wird vorwiegend Online-Prozessüberwachung kann heute eine nahezu
zum Fügen von Strangpressprofilen, Druckgussbau- hundertprozentige Prozesssicherheit gewährleistet
teilen und zum Verbinden von Strangpressprofilen werden. Die Störhäufigkeit bei der Nietzuführung
mit Gussbauteilen eingesetzt. Die Fügegeschwindig- liegt dabei unter 0,25‰. Im Karosseriebau des neuen
keit kann je nach Wanddicken bis auf zirka 1 m/min Audi A8 wurde gezielt daraufhin gearbeitet die Auto-
erhöht werden. Dies und die Verringerung der ins matisierung und die Fertigungsflexibilität die Stanz-
Bauteil eingebrachten Energie wirkten sich positiv niettechnik weiter zu erhöhen. Weiterhin werden bei
auf die Maßhaltigkeit der Baugruppen aus. automatisierten Anwendungen erstmalig auch klapp-
bare C-Rahmen zum Einsatz gebracht, um das Ein-
6.1.2.6.2 Stanznieten mit Halbhohlniet
schwenken der Fügezangen in komplexe Bauteil-
Das Stanznieten hat sich als punktförmige Verbin- strukturen zu erleichtern und Störkonturen in der
dungstechnik bereits 1993 bei der A8 Al-Space-Frame- Anlage zu verringern.
Karosserie gegenüber Widerstandspunkschweißen und
Clinchen durchgesetzt. Als kraft- und formschlüssige 6.1.2.6.3 Vollstanznieten
Verbindung bietet das Stanznieten gegenüber anderen Wirtschaftlicher Leichtbau sollte berücksichtigen,
punktförmigen Fügeverfahren deutlich höhere statische dass zusätzliche Abdeckungen über Verbindungsnäh-
und dynamische Verbindungsfestigkeiten mit sehr te vermieden werden können. Mit diesem Ziel wurde
hohem Arbeitsaufnahmevermögen. Weitere Vorteile die Verbindungstechnik der Vollstanznieten entwi-
sind das Herstellen von wärmearmen Verbindungen ckelt. Dieser Niettyp kann an der Sichtseite völlig
ohne thermische Bauteilverzüge, die zudem gas- und bündig zur zu verbindenden Bauteiloberfläche ausge-
wasserdicht ausgeführt sind. Mit 2.400 Stanznieten führt werden. Im Falle einer gezielten Anwendung
kommen in der neuen A8 Al-Space-Frame Karosserie konnten die großen Kunststoffabdeckungen der Was-
nun mehr als doppelt so viele Verbindungen als in der serrinnen eines Sportback Fahrzeugs entfallen. Der
ersten ASF-Karosserie zum Einsatz. Die Technologie Nietprozess verlangt eine beidseitige Zugänglichkeit.
wird großflächig sowohl in der Karosseriestruktur als Die Nieten werden aktuell spanend gefertigt und
auch bei der Fertigung von Türen, Front- und Heck- haben demzufolge hohe Stückkosten.
klappe zum Einsatz gebracht.
Dabei müssen Bleche, Strangpressprofile und Druck- 6.1.2.6.4 Automatisiertes Direktverschrauben
gussteile in Kombination der unterschiedlichen Le- (FDS – Flow Drill Screws)
gierungen in einer Gesamtmaterialstärke von 2,0– Ein besonderes Funktionsmerkmal der ASF- Bauwei-
6,0 mm verbunden werden. Für die rund 100 ver- se ist die Bildung einer stabilen Rahmenstruktur aus
schiedenen Werkstoff- und Materialstärkenkombina- steifen leichten Aluminium-Druckgussteilen und im
tionen mit unterschiedlichen Oberflächen kommen Wesentlichen geschlossenen Strangprofilen. Die
lediglich drei unterschiedliche Nietgeometrien mit freien Flächen werden mittragend durch Schubfelder
gleicher Härte zum Einsatz. Bei einigen Anwendun- geschlossen. In dieser Bauweise ist die beste Leicht-
gen werden die Verbindungen dreilagig ausgeführt baugüte erzielbar. Sie birgt dabei viele Verbindungen
(Bild 6.1-18). gegen geschlossene Querschnitte und verlangt Ver-
398 6 Aufbau

bindungstechniken mit einseitiger Zugänglichkeit.


Anfang 2003 setzte Audi erstmals eine neue für diese
Prämissen hervorragend geeignete Verbindungstech-
nologie ein, die Flow Drill Screw Technologie.
Basis ist eine hochfeste Zink Nickel beschichtete
Stahlschraube deren Spitze nach einem Patent der
Firma EJOT als Bohrspitze ausgebildet ist. Das
klemmseitige Bauteil ist vorgebohrt bzw. gelocht, das
untere Teil ist jeweils Aluminium.
Mit einer Schrauberdrehzahl von etwa 3.000 Upm und
einem Anpressdruck von größer 1.000 N schmilzt die Bild 6.1-19 Laserstrahl-Schweißen
Schraubspitze das Aluminium auf und das Gewinde
furcht sich sein Gegengewinde direkt in das Alumini- 6.1.2.6.6 Laserstrahl-MIG-Hybridschweißen
um.
Die Vorteile dieser Verbindungstechnologie sind : Über die Kombination der beiden Fügeverfahren
MIG- und Laserstrahlschweißen lassen sich diverse
• Automatisierbarer Prozess
synergetische Effekte erzielen, welche im Anwen-
• Verbindung für einseitige Zugänglichkeit
dungsfall die fertigungstechnischen Grenzen heutiger
• Das klemmseitige Bauteil ist frei in der Material-
thermischer Fügeverfahren hinsichtlich Nahtqualität,
wahl ( Alu., Stahl, CFK, etc.)
Produktivität und Wirtschaftlichkeit erweitern. Im
• Flexibles Materialspektrum
Vergleich zum Laserstrahlschweißen mit Zusatz-
• Vermeidung von Wärmeeinbringung in die Bau-
werkstoff wird die Prozesssicherheit und die Spalt-
teile
überbrückbarkeit gesteigert, woraus sich hohe Naht-
• Vermeidung von Bauteilverzügen
qualitätsgüten ergeben. Der Zusatzwerkstoff wird
Die belastenden Kriterien sind das Zusatzgewicht der prozesstechnisch trivial über die abschmelzende
Verbindungselemente, die derzeit noch notwendigen Drahtelektrode des MIG-Prozesses dem Schmelzgut
Vorlöcher in den klemmseitigen Bauteilen und die zugeführt.
hohen Steifigkeitsanforderungen sowohl am Basis- Im Vergleich zum konventionellen MIG-Schweißen
bauteil als auch in der Roboteranlage. wird die Schweißgeschwindigkeit und die Ein-
schweißtiefe signifikant gesteigert und der Lichtbo-
6.1.2.6.5 Laserstrahl-Schweißen genprozess stabilisiert. Im Anwendungsfall wird die
Im Audi A8 werden Nd:YAG-Festkörperlaser mit Anbindung von diversen Blechteilen auf das Strang-
4 kW Ausgangsleistung eingesetzt. Neben dem güns- pressprofil Dachrahmen mittels Hybridschweißen
tigen Absorptionsverhalten des Laserstrahls gegen- umgesetzt (Bild 6.1-20).
über Aluminiumoberflächen bei einer Wellenlänge Insgesamt werden zirka 5 m Nahtlänge je Fahrzeug
von λ = 1064 nm ist diese spezifische Wellenlänge realisiert. Bei der notwendigen hohen Materialdi-
zur Strahlführung mittels flexibler Glasfaserkabel ckenpaarung von 2 auf 4 mm kann selbst gegenüber
vom Strahlerzeuger zum Bauteil geeignet. Damit ist dem Laserstrahlschweißen der Energieeintrag in das
dieses Lasersystem sehr gut mit Industrierobotern Bauteil über die Steigerung der Schweißgeschwin-
kombinierbar. Die hauptsächlichen Vorteile des La- digkeit reduziert werden, woraus minimierte thermi-
serstrahlschweißens gegenüber mechanischen Füge- sche Verzüge der Baugruppe resultieren.
verfahren sind linienförmige anstelle punktförmiger 6.1.2.6.7 Rollfalzen + Kleben
Verbindungen, geringere Flanschbreite bei Überlapp-
verbindungen und einseitige Zugänglichkeit beim Die Verbindung von Innen- und Außenblech bei
Fügen. Verglichen mit anderen Schweißverfahren ist Türen und Klappen wird im A8 (D3) durch Rollfal-
der Laser-Prozess aufgrund der bei den gegebenen zen und Kleben mittels robotergeführter Werkzeuge
Blechdicken höheren, erreichbaren Schweißgeschwin- realisiert. Vorteile des Verfahrens sind die kurze
digkeiten (3,3 – 5,5 m/min), der geringeren Wärme- Einarbeitungszeit, die hohe Flexibilität und eine
einbringung und damit geringerem Bauteilverzug und bessere Qualität und Anmutung des Falzes. Erstmalig
den geringeren Anforderungen an einen definierten wird eine Vorhärtung des Klebers durch ein integrier-
Oberflächenwiderstand vorteilhaft. Insgesamt werden tes induktives Gelieren vorgenommen.
rund 20 m Laser-Verbindungslänge im A8-Space-
frame realisiert. Beispiele hierfür sind die Anbindung 6.1.2.7 Reparaturkonzept
der Bodenbleche an die MIG-geschweißte Strang- Für die bisher entwickelten Aluminiumfahrzeuge der
pressprofil-Rahmenstruktur, die Anbindung der ein- Audi AG wurden die Belange des Kundendienstes
teiligen Seitenwand an Dachrahmen und Schweller von Anfang an berücksichtigt. Damit war es möglich,
und die Anbindung des Daches an die Dachrahmen konsequent ein auf schnellen und kostengünstigen
(Bild 6.1-19). Service ausgerichtetes Gesamtkonzept zu realisieren.
6.1 Karosseriebauweisen 399

Bild 6.1-20 Laserstrahl-


MIG-Hybridschweißen

Steifigkeitsstaffelungen in den unfallgefährdetsten schweißt und die Beule mit dem Bolzen herausgezo-
Karosseriebereichen sollen die Schadenseindringtiefe gen. Anschließend wird der Bolzen durch Abschlei-
möglichst gering halten. Die Deformationskraft des fen entfernt.
geschraubten vorderen Längsträgers liegt unter der Stärker verformte Bleche lassen sich entweder kom-
Deformationskraft des anschließenden hinteren Längs- plett oder auch abschnittsweise austauschen. Als
trägers und diese wiederum unter der Deformations- Verbindungstechniken werden Nieten in Verbindung
kraft der Fahrgastzelle (Bild 6.1-21). mit Kleben (kaltaushärtende Zweikomponentenkle-
Im Bereich der Fahrzeugseite wurde die Karosserie- ber) eingesetzt. Das Spachteln und Lackieren ent-
struktur unter anderem durch das Großgussteil Säule spricht der Vorgehensweise bei Stahlblechfahrzeu-
B so steif ausgelegt, dass die Verformungstiefe bei gen. Blechreparaturen können von jedem dafür aus-
einem Seitenaufprall gering bleibt. gerüsteten und ausgebildeten AUDI-Händlerbetrieb
Die Auslegung der Karosseriestruktur mit vorpro- durchgeführt werden.
grammierten, definierten Verformungszonen mini- Beschädigte Gussteile müssen generell erneuert
miert nach einem Unfall Richtvorgänge am Fahrzeug werden. Aus Festigkeitsgründen ist eine Rückverfor-
und gibt die Reparaturabschnitte konstruktiv vor. mung nicht zugelassen, da aufgrund der hohen Stei-
Hierdurch werden die Reparaturzeiten verringert und figkeit die Gefahr einer Rissbildung besteht. Als
die Instandsetzungskosten liegen trotz neuer Karosse- Fügeverfahren kommen Schutzgasschweißen (MIG),
rietechnik günstiger oder im gleichen Rahmen wie Nieten und Kleben zum Einsatz.
bei üblichen Stahlkarosserien. Strangpressprofile müssen bei Beschädigung ausge-
Für die Instandsetzung der Space-Frame-Karosserie tauscht werden, da eine Rückverformung hier unkon-
des A2 kommen in Abhängigkeit der unterschied- trolliert abläuft. Der Austausch findet je nach Art der
lichen Halbzeugarten Blech-, Guss- und Strangpress- Beschädigung abschnittsweise unter Verwendung von
teile unterschiedliche Konzepte zum Einsatz: Blech- Muffen im Trennungsbereich oder aber komplett
teile mit geringen Verformungen können rückver- statt. Die ausgetauschten Profilabschnitte bzw. kom-
formt werden. Die Rückverformung geschieht unter plette Profile werden wiederum durch Schutzgas-
gezielter Wärmezufuhr. Beulen lassen sich mit einem schweißen (MIG) gefügt.
neu entwickelten Werkzeug durch ein dem Bolzen- Laserstrahl-Schweißnähte werden im Reparaturfall
schweißen ähnliches Verfahren problemlos beseiti- durch MIG-Schweißen oder durch Blindnieten mit
gen. Hierzu wird ein Bolzen im Beulbereich aufge- zusätzlichem Kleben ersetzt. Zum Entfernen der
Lasernaht wird diese ausgeschliffen und die so von-
einander getrennten Teile gelöst.

6.1.2.8 Energiebilanz
Die Verbesserung der Umweltverträglichkeit steht
heute, insbesondere bei Kraftfahrzeugen, im Mittel-
punkt des Interesses. Hierzu ist es erforderlich, den
gesamten Produktlebenszyklus zu betrachten und zu
optimieren. Dabei gilt es durch effiziente Nutzung
nicht erneuerbarer Ressourcen und niedrige Schad-
stoffemissionen die Umweltauswirkungen zu mini-
mieren. Dies betrifft den gesamten Produktzyklus, von
der Werkstoffgewinnung und Produkterzeugung über
Bild 6.1-21 Reparaturlösung – geschraubter Längs- die Produktnutzung bis zum Recycling für den nächs-
träger ten Zyklus bzw. zur umweltschonenden Entsorgung.
400 6 Aufbau

Studien zeigen, dass der überwiegende Energiever- [11] Niemeyer, M.: Lasergestützte Fügeverfahren im Aluminium-
Karosseriebau, Strahltechnik, Hrsg. G. Sepold, T. Seefeld, ISBN
brauch eines Fahrzeuges durch den Fahrbetrieb be- 2-933762-09-X
stimmt wird. [12] Christlein, J.; Schüler, L.: Audi A2: Realisierung eines zu-
Das CO2 Äquivalent von einem kg Stahlblech zu kunftsweisenden Leichtbaukonzepts mit Hilfe der Simulation,
einem kg Primär-Aluminiumblech ist 1 : 6. Unter VDI-Tagung „Entwicklungen im Karosseriebau“, 11./12. 5. 2002
[13] Christlein, J.: Process chain simulation in aluminium car bodies,
Berücksichtigung der Leichtbaunutzung des Alumi- CRASHMAT 2002 „2nd Workshop for material and structural
niums von mehr als 40 % pro Karosserie, dem Pro- behaviour at crash processes“, 15./16.4.2002
duktionsschrott im Walzwerk und dem Produktions- [14] Schäper, S.: Zum Zielkonflikt Recyclingquoten versus Leicht-
schrott im Presswerk, ist das CO2 Äquivalent für die bau/About the Design Conflict between Recycling Quotas and
Light Weight Construction; Vortrag zur Gemeinschaftstagung
Herstellung einer Pkw-Karosserie aus Primäralumini- Fachhochschule Hamburg/VDI Gesellschaft Fahrzeugtechnik,
um etwa doppelt so hoch wie das einer vergleichba- 7./8. Mai 2002; VDI Berichte 1674, pp. 213 – 229; ISBN 3-18-
ren Stahlblechkarosserie. Durch den Fahrzeugmin- 091674-5
derverbrauch von 0,3 bis 0,5 Liter/100 km – je nach [15] Timm, H.; Koglin, K.; Audi AG: Die neue Audi TT-Karosse.
Konferenz „Automotive Circle International“, EuroCarBody
Antriebsart und Größe – liegt die Amortisations- 2006, Bad Nauheim/Frankfurt, 26 Oktober 2006
strecke je nach Szenario zwischen vierzigtausend und [16] Scheurich, H.; Kappler, A.; Audi AG: The new Audi A8 body.
neunzigtausend Kilometern. Am Fahrzeuglebensende Conference „Automotive Circle International“, Bad Nauheim/
liegt bei diesem Szenario bereits eine sehr positive Frankfurt, 13./14. März 2007
[17] Elend, L.-E.; Hoffmann, A.; Scheurich, H.; Audi AG: Alumi-
Energiebilanz vor. Der Energiebedarf zur Wiederauf- nium-Strangpreßprofile im Karosseriebau. DGM-Symposium
bereitung des Aluminiums für eine zweite bis n-te Strangpressen, Weimar, 26./27. Oktober 2006
Nutzung beträgt nur bis zu 15 % der Ersterzeugung [18] Koch, H.; Audi AG: Duktiler Druckguss – Anwendungen und
und liegt damit günstiger als die Stahlwiederaufberei- Tendenzen. Seminar „Eigenspannungen und Verzug beim
Giessen von Leichtmetallen“, Kassel, 06. September 2005
tung. [19] Heinrich, T.; Audi AG: Zukunftswerkstoffe im Automobil;
Damit ist in jeder Zweitnutzung des Werkstoffs die Augsburg, 11. Juli 2008
Energiebilanz schon zum Gebrauchsbeginn besser als [20] Müller, S.; Audi AG: Fügetechnologien im Karosseriebau –
die konventionelle Bauweise und die Verbrauchs- Status und Trends; Bad Nauheim, 29. 04. 2009
[21] Heinrich, T.; Audi AG: Materialhybride für den Karosseriebau
reduzierung über die Lebenszeit bleibt konstant. der Zukunft; Stuttgart, 25. Juni 2009
Der Materialleichtbau sollte ab einer lohnenswerten [22] Reimold, A.; Audi AG: Leichtbaukompetenz in der Fahrzeugpro-
Größe als Initiator einer sekundären Gewichtsredu- duktion; Neckarsulm, 07. September 2009
zierung genutzt werden. Mit diesem Ansatz einge- [23] Hollerweger, H.; Audi AG: Leichtbau Gesamtfahrzeug; Neckar-
sulm, 07. September 2009
sparte Kilogramm müssen erst gar nicht erzeugt [24] Heinrich, T.; Audi AG: Funktionsintegrativer Karosserieleicht-
werden und sind einer ganzheitlichen Energiebilanz bau; Braunschweig, 30. 09. 2009
hinzuzurechnen. [25] Heinrich, T.; Audi AG: Faszination Audi Karosserieleichtbau –
Ökologisch ist der Karosserieleichtbau mit Alumini- Historie trifft Zukunft; Zwickau, 12. 11. 2009
[26] Heinrich, T.; Audi AG: An insight into 15 years of the ASF car
um ausschließlich sehr positiv im Vergleich zum body and it’s future ; Düsseldorf, 23. November, 2009
konventionellen Karosseriebau mit Stahlblech. [27] Müller, St.; Audi AG: Laserstrahlschweißen an Aluminium
Karosserien; Stuttgart, 28. 01. 2010
Literatur [28] Heinrich, T.; Audi AG: Audi Leichtbaukompetenz, Zeitgeist
erfassen, Trends analysieren, Zukunft entwickeln; Dresden,
[1] Rink, C.: Aluminium als Karosseriewerkstoff, Recycling und 17. Juni 2010
energetische Betrachtungen. Dissertation, Hannover, 1996 [29] Dick, M.; Audi AG: Leichtbau mit CFK – Herausforderungen für
[2] Haldenwanger, H. G.: Zum Einsatz alternativer Werkstoffe und die Mobilität der Zukunft; Neckarsulm, 24. Juni 2010
Verfahren im konzeptionellen Leichtbau von Pkw-Rohkarosse- [30] Heinrich, T.; Audi AG: Wo liegt der Bedarf für CFK im Auto-
rien. Dissertation, TU Dresden, 1997 mobilbau; Neckarsulm 24. Juni 2010
[3] Stümke, A.; Bayerlein, H.; Eckl, F.: Laseranwendungen bei
AUDI. In: Lasermaterialbearbeitung im Transportwesen, Bre-
men, BIAS Verlag, 1997
[4] Müller, S.: Robotereinsatz beim Fügen von Aluminium-
Leichtbaustrukturen. In: Fügeverfahren zur Realisierung von in- 6.1.3 Karosserie Stahlleichtbau-Studien
novativen Leichtbaukonzepten, Erding, April 1999
[5] Rottländer, H. P.: Laserverbindungstechnik im Automobilkaros-
6.1.3.1 Einleitung
seriebau. In: Aachener Kolloquium Lasertechnik, Aachen, 1998
Stahl ist noch immer mit über 50 %-Anteil der do-
[6] Ullrich, W.: Das Kundendienstkonzept zur Aluminium-Karos-
serie. In: Auditorium, Aluminium-Technologie im Karosserie- minierende Werkstoff im Karosseriebereich. Um
bau, Oktober 1993 den Anforderungen des 21. Jahrhunderts hinsichtlich
[7] Mayer, H.; Venier, F.; Koglin, K.: Die ASF-Karosserie des Audi Sicherheit, Umweltverträglichkeit und Kosten gerecht
A8. In: Der neue Audi A8. ATZ/MTZ Sonderheft, August 2002
zu werden, wurden im Rahmen der ULSAB-Studien
[8] Ruch, W.; Eritt, U.; Wanka, R.: New technologies in the Audi
A2, Aluminium World, Issue No. 2 – October 2001 drei eng verzahnte Einzelentwicklungsprojekte über
[9] Hoffmann, A.; Birkert, A..: Gestaltungsrichtlinien für die Aus- den Zeitraum von 1994 bis 2001 durchgeführt.
legung von innenhochdruckumgeformten Strukturbauteilen aus ULSAB (Ultralight Steel Auto Body) ist das erste
Aluminium. DGM 6./7. 11. 2001 Internationale Konferenz
Projekt, das 1994 von einem Konsortium aus
„Hydroumformung“ in Fellbach.
[10] Hoffmann, A.: Innenhochdruckumformen von Aluminiumprofi- 35 Stahlfirmen in Auftrag gegeben wurde. Auf dem
len. Aluminium-Kurier, Nr. 3, 2002 Package einer viertürigen, fünfsitzigen Mittelklasse-
6.1 Karosseriebauweisen 401

Bild 6.1-22 ULSAB-Karosserie

Limousine (Bild 6.1-22) wurden die Möglichkeiten


des Einsatzes von modernen Stahlwerkstoffen für den
Karosserierohbau zur Erreichung maximaler Ge-
wichtserleichterung untersucht. Zur Definition der
funktionalen Ziele und zur Ermittlung von Ver- Bild 6.1-23 Gleichteilkonzept ULSAB-AVC
gleichswerten wurde ein Benchmark von insgesamt (C-Class oben, PNGV-Class unten)
32 Fahrzeugen bezüglich Gewicht, Steifigkeit, Pack-
age und Konzept durchgeführt. setcrash mit 55 km/h gegen die starre Barriere, Sei-
1997 startete das Projekt ULSAC (Ultralight Steel tencrash 50 km/h nach ECE-R 95, Heckcrash mit
Auto Closures) [10] mit gleicher Aufgabenstellung 35 mph nach FMVSS 301 und statischen Dachein-
für Fahrzeugtüren und -deckel. Die Entscheidung drücktest nach FMVSS-Standard 216. Der Nachweis
bzgl. des Türkonzepts fiel bei diesem Projekt zuguns- der angestrebten statischen Torsions- und Biegestei-
ten einer rahmenlosen Tür und eines modularen figkeiten (größer oder gleich dem Durchschnitt der
Montagekonzepts. Vergleichsfahrzeuge) erfolgt zusätzlich durch Versu-
Zwei Jahre später begann die dritte Studie – ULSAB- che an der Demonstrations-Hardware.
AVC (Ultralight Steel Auto Body – Advanced Vehic- Für die Türen, Front- und Heckdeckel des ULSAC-
le Concepts) [7], die die Erfahrungen und Konzeptun- Projekts sind 10 % Gewichtseinsparung gegenüber
tersuchungen der vorangegangenen Projekte um die dem leichtesten Vergleichsbauteil nachzuweisen. Da-
verbleibenden Komponenten einer Gesamtfahrzeug- bei soll beim quasistatischen Türeindrückversuch
entwicklung einschließlich Antrieb und Fahrwerk er- (vergleichbar dem Türeindrücktest nach FMVSS 214)
weiterte. Dabei wurden die Rahmenbedingungen ent- an Realbauteilen das gleiche Kraftniveau wie beim
sprechend neuer und zusätzlicher Ziele angepasst und Durchschnitt der Vergleichstüren erreicht werden.
Abgasgesetze sowie erweiterte Sicherheitsanfor- Das Projekt ULSAB-AVC ergänzt den Kastenrohbau
derungen berücksichtigt. Die Projekte ULSAB und mit Türen und Deckeln um die verbleibenden In-
ULSAC fokussierten neben der Entwicklung, Pla- terieur-, Exterieur- und Antriebsumfänge. Dabei ist
nung und Wirtschaftlichkeitsbetrachtung die Herstel- die Karosserie an ein neues Styling angepasst und auf
lung von Prototypen zu Versuchs- und Demonstrati- die Erfüllung erweiterter Sicherheitsanforderungen
onszwecken und zur Validierung der Simulations- (EURO-NCAP, Pfahl-Seitencrash) ausgelegt. Über
ergebnisse. ein Gleichteil- und Plattformkonzept werden die
Marktanforderungen nach kostengünstiger Modell-
6.1.3.2 Zielsetzung vielfalt berücksichtigt. Auf einer Plattform können
Durch Einsatz moderner Stahlwerkstoffe, der zugehö- mit geringen Modifikationen zwei unterschiedliche
rigen Formgebungs- und Fügeverfahren, gewichtsori- Karosserien, eine Fließheckvariante der europäischen
entierte Packageauslegung und nicht zuletzt durch Kompaktwagenklasse (C-Class) und eine amerikani-
werkstoffgerechte Konstruktion soll beim ULSAB sche Mittelklassen-Stufenhecklimousine der PNGV-
der Nachweis erbracht werden, dass eine Gewichtser- Klasse (Partnership for a New Generation of Vehic-
leichterung um 25 % gegenüber dem Durchschnitt der les), realisiert werden (Bild 6.1-23).
Benchmark-Karosserien realisierbar ist.
6.1.3.3 Umsetzung
Das Projekt umfasst die Konstruktion und rechneri-
sche Simulation des Steifigkeits-, Festigkeits- und Durch konsequenten Werkstoff-, Form- und Ferti-
Crashverhaltens. Zu berücksichtigen sind die gesetz- gungsleichtbau und begleitende rechnerische Simula-
lichen Grenzwerte beim 0°-Front-Crash nach US- tion werden Lösungen für die anspruchsvollen Pro-
NCAP (New Car Assessment Program), 50 %-Off- jektziele erarbeitet.
402 6 Aufbau

60
Bruchdehnung/Fracture strain A5 [%]

50 DP-W RA-W „TRIP“


Stähle Stähle
steels steels
40

30 CP-W MS-W 1200 S


Stähle MS-W Stähle
steels Stähle steels
20 steels

Konv.
10 FB-W 600
Stähle
conv. Stähle
steels steels Bild 6.1-24 Verteilung
0 hoch- und höchstfester
300 400 500 600 700 800 900 1000 1100 1200 1300 1400 1500 1600
Zugfestigkeit/Tensile strength Rm [MPa]
Stähle (Bruchdehnung über
Zugfestigkeit)

6.1.3.3.1 Werkstoffleichtbau stärkung wird aus Dualphasenstahl DP 800 herge-


stellt. Für die Türaußenhaut wird wie bei den UL-
Hoch- und höherfeste Stahlgüten
SAB-Außenteilen Bake hardening-Stahl mit einer
Die bevorzugte Verwendung von Stahlwerkstoffen Streckgrenze von 260 MPa verwendet.
(Bild 6.1-24) mit Streckgrenzen Rp0,2 im Bereich von Die weitergehende Leichtbaustudie ULSAB-AVC
210 bis 800 MPa ermöglicht es beim ULSAB, Poten- verwendet für den Kastenrohbau über 95 % hoch-
ziale zur Steigerung der Crashsicherheit, Steifigkeit und höherfeste Bleche, davon allein 75 % Dualpha-
und Gewichtsreduktion konsequent zu nutzen. senstähle mit einer Streckgrenze bis 700 MPa. Zum
Zum Einsatz kommen Bake hardening-Stähle für die Schutz des Insassenraums bei Seitencrash werden
Karosserieaußenhaut zur Erhöhung der Beulfestigkeit borlegierte Stähle als B-Säulen- und Tunnelverstär-
und mikrolegierte Feinkornstähle für die Aufbau- und kung eingesetzt.
Plattformstruktur.
Um die Intrusionen in die Fahrgastzelle beim Front- Stahl-Sandwichbleche
und Seitenaufprall zu minimieren, werden Stirnwand- Für die Reserveradmulde und die Stirnwand des UL-
und Sitzquerträger aus borlegiertem Sondertiefzieh- SAB kommen 0,93 mm dicke Stahlsandwichbleche
stahl hergestellt. Das Material wird warm in das zum Einsatz (Bild 6.1-26). Gegenüber konventionellen
Umformwerkzeug eingelegt, tiefgezogen und an- Akustikblechen ist die Deckschichtdicke auf 0,14 mm
schließend abgeschreckt, dabei erhält das Bauteil reduziert und die Mittelschicht aus Polypropylen auf
seine endgültige Festigkeit (Rp0,2 > 800 MPa). Insge- 0,65 mm erhöht. Dieser Wandaufbau ermöglicht eine
samt sind 90 % des ULSAB-Rohbaus in hoch- und Halbierung des Gewichts gegenüber den bisher hierfür
höchstfesten Stahlgüten gefertigt (Bild 6.1-25). verwendeten Stahlblechen von 0,8 mm Dicke.
Die ULSAC-Tür besitzt eine Rahmenstruktur aus Für die Stirnwand werden darüber hinaus Sekundär-
Schloss- und Scharnierrohr mit 1,0 bzw. 1,2 mm gewichtserleichterungen erzielt, weil sich die Schall-
Blechstärke und einer Streckgrenze von 280 MPa.
Die obere prismatische bzw. untere rohrförmige Ver-

13,5 %–280 MPa 45,1 %–350 MPa


0,14 mm 240 MPa
27,1 %–210 MPa 0,65 mm PPE
0,14 mm 240 MPa

7,6 %–140 MPa 2,7 %–420 MPa


1,5 %– 2,5 % > 550 MPa
Steel Sandwich

Bild 6.1-25 Gewichtsanteile der Blechgüten im


ULSAB nach Festigkeitsklassen Bild 6.1-26 Reserveradmulde aus Stahlsandwich
6.1 Karosseriebauweisen 403

abstrahlung vom Motor- in den Fahrgastraum ver- chen Bauraums auf das Gewicht bezogen eine größe-
ringert. Die isolierende Kunststofflage erlaubt kein re Crashenergie aufnehmen.
Punktschweißen der Sandwichbleche. Sie werden Die dreidimensional gebogenen IHU-Bauteile der
deshalb mit den angrenzenden Rohbauteilen verklebt. Tür, die seitlichen Dachrahmen und vorderen Längs-
träger werden in vier Schritten gefertigt:
6.1.3.4 Fertigungsleichtbau 1. Herstellung des Rohres durch diskontinuierliches
6.1.3.4.1 Innenhochdruckumformung (IHU) Laser- oder Hochfrequenzschweißen
2. Vorbiegen des Rohres auf einer Dornbiegema-
Innenhochdruckumformung ist ein Verfahren, wel- schine
ches für Bauteile der Rohkarosserie noch selten 3. Vorformen zur korrekten Startgeometrie für das
genutzt wird. Im Projekt ULSAB ist mit dem seit- anschließende Werkzeug zur Innenhochdruckum-
lichen Dachrahmen eine besonders anspruchsvolle formung
Anwendung realisiert worden (Bild 6.1-27). 4. Beaufschlagung des in ein geschlossenes Werk-
Dieses Bauteil integriert A-Säule, Dachrahmen und C- zeug eingelegten, vorgeformten Rohres mit hohem
Säule und verläuft ohne Trennung von der vorderen Druck (beim Schlossrohr 1.500 bar) bis zur end-
Scharniersäule bis an das hintere Radhaus. Die Quer- gültigen Formgebung. Dabei wird das Ausgangs-
schnittsform ist entsprechend den Anforderungen bauteil an die Innenkontur des Werkzeugs ange-
bezüglich Festigkeit, Steifigkeit und Package (z.B. formt. Die an den Rohrenden wirkende Axialkraft
Sichtwinkel an der A-Säule) gewählt. Als Halbzeug führt Material während des Verformungsprozesses
dient ein lasergeschweißtes, hochfestes Rohr mit in das Werkzeug nach und verringert den Dünn-
96 mm Durchmesser und 1,0 mm Wandstärke aus zug bei der Umformung [4].
mikrolegiertem Stahl mit einer Streckgrenze von
280 MPa. 6.1.3.4.2 Laserschweißen
An der ULSAC-Tür kommen ebenfalls innenhoch- Die besonderen Merkmale des Laserschweißens –
druckumgeformte Teile zum Einsatz. Zusätzlich zum geringer Wärmeverzug trotz linienförmiger Schweiß-
Steifigkeitsvorteil werden bei der Herstellung der naht, bei Automatisierung hohe Wiederholgenauig-
innenhochdruckumgeformten Schloss- und Scharnier- keit und Schweißgeschwindigkeit – werden für alle
rohre Funktionsteile wie Türschlossbefestigungen Leichtbauprojekte konsequent berücksichtigt und bei
und Scharnierbuchsenaufnahmen zur Durchführung jedem Projekt sukzessive ausgebaut.
der Scharnierschrauben angeformt. Der Türrohbau Innenhochdruckgeformte Bauteile erfordern, auf-
wird durch die geschlossenen, im Querschnitt an die grund der entfallenen Schweißflansche, Fügeverfah-
Belastung angepassten Profile bezüglich Durchhang, ren mit einseitiger Zugänglichkeit der Fügestelle. Bei
Verdrehsteifigkeit und Eindrückwiderstand gewichts- Baugruppen in Schalenbauweise erhöhen die durch-
optimal verstärkt. gängigen Lasernähte die statische und dynamische
Bei der Folgestudie ULSAB-AVC wird neben dem Steifigkeit [5]. Beim ULSAB werden daher u.a. die
aus dem ULSAB bekannten Dachrahmen, der hier Tür- und Scheibenausschnitte lasergeschweißt, und
aus höchstfestem Dualphasenstahl gefertigt wird, die die Crashträger vorne und hinten erhalten zur Erhö-
Innenhochdruckumformung für die vorderen Längs- hung der Energieaufnahme gegenüber konventionell
träger verwendet. Die Träger können aufgrund der punktgeschweißten Strukturen durchgehende Laser-
flanschlosen Ausführung bei Ausnutzung des glei- nähte. Bei quasistatischen Drückversuchen von Crash-

Bild 6.1-27 Dachrahmen


seitlich ULSAB-AVC
404 6 Aufbau

anforderungen bezüglich Gewicht optimiert wer-den.


Darüber hinaus können Schweißbaugruppen ersetzt
und somit Fertigungszeit und Maßhaltigkeit verbes-
sert werden.
Die umfangreichste Einzelanwendung von Tailored
blanks stellt die Platine der Seitenwand des ULSAB-
Rohbaus dar (Bild 6.1-29). Sie besteht aus fünf ein-
zelnen Zuschnitten mit fünf unterschiedlichen Blech-
dicken und drei Stahlgüten.
Der vordere Türkörperabschluss der ULSAC-Tür ist
ebenfalls aus einer Tailored blank-Platine gefertigt, um
die lokale Elastizität bei minimalem Werkstoffeinsatz
so zu gestalten, dass der Türdurchhang unterhalb der
geforderten Grenzwerte bleibt. Die Blechdicke der
unteren Scharnieranbindung ist örtlich auf 1,2 mm
gegenüber 1,0 mm im oberen Bereich erhöht.
31 % der Tiefziehteile der ULSAB-AVC-Karosserie
sind Tailored blanks. Darüber hinaus werden Tailored
tubes an exponierten Bauteilen eingesetzt; so sind die
vorderen, innenhochdruckumgeformten Längsträger
aus einem Halbzeugrohr mit zwei unterschiedlichen
Blechdicken gefertigt. Der vordere, im Deformati-
onsbereich liegende Teil wird in 1,5 mm Blechdicke
Bild 6.1-28 ULSAC-Türrahmen und Kompletttür und der verbleibende hintere Teil des Trägers in
1,3 mm Blechdicke ausgeführt.
trägern wurde nachgewiesen, dass durchgehend laser-
6.1.3.4.4 Formleichtbau
geschweißte Deformationsträger mit gleicher Geo-
metrie und aus dem gleichen Material eine bis zu Unter Formleichtbau versteht man die werkstoffge-
40 % höhere massenspezifische Energieaufnahme als rechte Konstruktion, die die Bauteilgeometrie ent-
die punktgeschweißte Variante besitzen. sprechend der auf das Bauteil wirkenden Belastung
Die Einzelanwendungen addieren sich in der UL- und des verwendeten Werkstoffs berücksichtigt [6].
SAB-Karosserie zu insgesamt 18 m Lasernaht. Mit Im Karosseriebau mit strukturmechanisch biegewei-
diesen Verfahren werden bei der ULSAC-Tür (Bild chen Dünnblechen bedeutet dies, die Bauteile so aus-
6.1-28) die Türabschlussteile und das Spiegeldreieck zuführen, dass Biegekräfte über Zug- und Druckkräf-
auf den vorher im MIG-Fügeverfahren aus den IHU- te abgefangen werden. Der hintere Längsträger des
Teilen und Verstärkungsrohren hergestellten Türrah- ULSAB ist ein Beispiel für Form- und Fertigungs-
men geschweißt. Bei der ULSAB-AVC-Studie wird leichtbau. Er besteht aus lasergefügten Halbschalen,
der Einsatz von Laserschweißungen weiter intensi- die aus dreiteiligen Tailored blanks gefertigt werden.
viert, so dass dem Karosserierohbau 723 Schweiß- Den verschiedenen Zonen des Trägers kommen ver-
punkte bei gleichzeitig 114 m Lasernaht genügen. schiedene Aufgaben zu.
Der Übergang vom Längsträger zum Bodenträger ist
6.1.3.4.3 Tailored blanks/Tailored tubes harmonisch gestaltet, um ohne zusätzliche Knoten-
Durch maßgeschneiderte Platinen und Rohre kann der versteifungen die Stabilität des Trägers beim Heck-
Materialeinsatz im Rahmen der definierten Funktions- aufprall zu gewährleisten (Bild 6.1-30). Der Quer-

1,5 mm 0,7 mm
1,3 mm 210 MPa
350 MPa
280 MPa

1,7 mm
350 MPa
Bild 6.1-29 Seitenwand
0,9 mm
280 MPa ULSAB – Tailored blank
Platine und Fertigteil
6.1 Karosseriebauweisen 405

Bild 6.1-30 Hinterer Längs-


träger: (Zone 1: Aufnahme
der Fahrwerkskräfte, Zone 2:
Aufnahme der Kofferraum-
1 2 3 last, Zone 3: Energieauf-
nahme beim Heckcrash)

schnitt im Deformationsbereich ist hexagonal gestal- tionsvolumen von 225.000 Einheiten pro Jahr. Die
tet, um einerseits ein Maximum an längenspezifischer Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und das Ziel der
Energieaufnahme beim Crash zu erreichen, und um Kostenreduzierung werden durch optimalen Material-
andererseits hinreichend Widerstand gegen Biege- einsatz, Umstellung auf verschleißarme Fügeverfah-
kollaps aufzuweisen. ren (von Widerstandspunkt- auf Laserschweißen) und
Crashboxen vor dem Fußraum des ULSAB-AVC durch Teilereduktion aufgrund von Fertigungsverfah-
sind weitere Ansätze im Formleichtbaukonzept (Bild ren, wie der Innenhochdruckumformung, und der
6.1-31). Anstelle von Trägern mit hoher Materialstär- Verwendung von Tailored blanks realisiert.
ke werden hier speziell Zonen mit definiertem Ener- Für die Kalkulation der Kosten von Bauteilen, Bau-
gieabsorptionsvermögen integriert. Die Fahrzeugver- gruppen, Fertigungsschritten und Fügeoperationen
zögerung und die Kompaktierung des Vorderwagens wurde von den Projektteams in Zusammenarbeit mit
können hierdurch noch spezifischer auf die Anforde- dem MIT (Massachusetts Institute of Technology,
rungen an die Insassenbelastungen abgestimmt wer- Cambridge, USA) ein Kostenmodell erstellt. Dieses
den. berücksichtigt alle in der Produktion anfallenden
Kostenarten und relevanten Parameter. In die detail-
lierten Kosten fließen unter anderem produktionssei-
tige Faktoren wie Jahresarbeitstage, Investitionskos-
ten, Platzbedarf der Einrichtungen, Wartungsaufwand,
Anschlussleistungen und Zykluszeiten der Maschi-
nen, Materialpreise, Löhne und das Verhältnis von
indirekten zu direkten Arbeitskräften ein. Betriebs-
wirtschaftlich werden bspw. Kosten aus kalkulatori-
schen Abschreibungen von Maschinen und Gebäu-
den, kalkulatorische Zinsen, Umlaufkapitaldauer und
Produktzyklus berechnet.
6.1.3.6 Ergebnis
Während der Entwicklung von ULSAB, ULSAC und
Bild 6.1-31 Seitliche Crashboxen ULSAB-AVC wurde besonders auf einen durchgän-
gigen Simultaneous Engineering-Prozess geachtet.
6.1.3.5 Wirtschaftlichkeit Zur Erreichung der Projektziele wurde das Experten-
Die Auswahl der Karosserie- und Teilekonzepte wissen aus Konstruktion, Fahrzeugsicherheit, FEM-
einschließlich der Füge- und Fertigungsmethoden be- Berechnung, Werkstofftechnologie, Einzelteil- und
rücksichtigt für alle Projekte ein Großserienproduk- Zusammenbauplanung frühzeitig eingebracht.

Sicherheit
Potential für
5-Sterne-Einstufung

Verarbeitung Kraftstoffverbrauch
Großserienfähigkeit 3,2 l/100 km
4,4 l/100 km

Herstellungskosten Advanced CO2-Emissionen


9.899 US$ Vehicle Concepts 86 g/km
9.190 US$ 106 g/km

Fahrleistung Fahrzeuggewicht
Beschleunigung (0–100 kim/h) 966,3 kg Bild 6.1-32 ULSAB-AVC-
13,4 s 933,0 kg
13,5 s Ergebnisse für das Kompakt-
klassen-Modell
406 6 Aufbau

Die ULSAC-Tür erreicht mit 10,47 kg (flächennor- Weiterführende Literatur


malisiert 13,27 kg/m2) gegenüber dem Mittelwert der [11] Hilfrich, E.: Closures-Konzepte aus Stahl, mobiles 29, Fachzeit-
Vergleichstüren ein um 33 % geringeres Gewicht. schrift für Konstukteure, Ausgabe 2003/2004, Hamburg, S. 83 ff.
Die ULSAB-Karosserie wiegt 203 kg und ist damit [12] Adam, H.; Osburg, B.; Ramm, St.: Die Zukunft der Stahlkarosse-
25 % leichter als der Durchschnittswert der Bench- rie – Evolution und Revolution, mobiles 28, Fachzeitschrift für
Konstrukteure, Ausgabe 2002/2003, Hamburg, S. 16 ff.
mark-Karosserien. Crashberechnungen zeigen, dass [13] Groche, P.; Henkelmann, M.: Herstellung von Profilen aus
die Struktur das geforderte Deformationsverhalten höher- und höchstfesten Stählen durch Walzprofilieren, Institut
aufweist. Die statische Torsionssteifigkeit beträgt im für Produktionstechnik und Umformmaschinen, TU Darmstadt,
Versuch 20.800 Nm/° und übertrifft den Durchschnitt http://www.ptu.tu-darmstadt.de/content/personal/henkelmann/
henkelmann.html
der Benchmark-Karosserien um 80 %. Für das Ge- [14] div. Publikationen (Zwischen-, Abschlussberichte) unter
samtfahrzeugkonzept ULSAB-AVC wurde ein Ka- http://www.autosteel.org/
rosseriegewicht von 202 kg für die Kompaktwagen- [15] Kröff, A.; Freytag, P.: Neue Karosseriekonzepte mit Hydrofor-
klasse und 218 kg für die Stufenhecklimousine der ming am Beispiel des ScaLight Projektes. 37. Fachtagung, Pro-
zesskette Karosserie, Konferenzbeitrag (11.–13. 03. 2008)
PNGV-Klasse errechnet. [16] N.N. ATZextra: Das InCar-Projekt von ThyssenKrupp, Sonder-
Damit wurde das aus der ULSAB-Studie abgeleitete heft 2009
Gewichtsziel, trotz gleichzeitig gestiegenen Sicher-
heitsanforderungen, unterschritten. FEM-Simula-
tionsergebnisse des EURO-NCAP-Crashs (64 km/h
mit 40 % Überdeckung und deformierbarer Barriere) 6.1.4 Cabriolet
bestätigen die konzeptionelle Auslegung der Karosse-
rie, da einerseits das gewünschte Deformationsverhal- 6.1.4.1 Einführung
ten, andererseits die notwendige Stabilität der Zelle
‚Cabriolet‘ (aus dem Franz. cabrioler = Luftsprünge
unter Crash-Belastungen erreicht wurde. Verglichen
machen) nannte man schon vor dem Zeitalter des
mit aktuellen EURO-NCAP Untersuchungsergebnis-
Automobils leichte, offene Pferdewagen, die zumeist
sen hat demzufolge ULSAB-AVC das Potenzial zu
für Vergnügungsausfahrten genutzt wurden. Heute
einer bestmöglichen 5-Sterne-Bewertung.
bezeichnet man als Cabriolet – kurz: Cabrio – Fahr-
Mit den ULSAB-, ULSAC- und ULSAB-AVC-Stu-
zeuge, deren Konstruktion es ermöglicht, das Dach
dien wurde gezeigt, dass bei konsequenter Anwen-
wegzuklappen oder abzunehmen.
dung heute bekannter Leichtbaumaßnahmen und dem
Traditionell steht der Begriff Cabriolet für Fahrzeu-
Einsatz modernster Stahlwerkstoffe und Fertigungs-
ge mit einem Stoffdach, das zurückgeklappt werden
technologien deutliche Gewichtsreduzierungen ge-
kann. In den 90er Jahren entstanden die ersten Fahr-
genüber heutigen Großserienkarosserien ohne Ein-
zeuge mit versenkbarem, mehrteiligen Stahl-Klapp-
bußen bei Funktion, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
dach, so genannte ‚Retractable Hardtops‘, kurz RHT
möglich sind (Bild 6.1-32).
(1996: Mercedes SLK), die auch als Coupé-Cabrios
Literatur bezeichnet werden. Offene Fahrzeuge werden je nach
Karosseriebauart unterschieden in:
[1] ULSAB Phase 2 Endgame Presentation Package, The ULSAB
Consortium 1998 • Cabrio-Limousine: zwei- oder viersitzig; B- und
[2] ULSAC Overview Report, Stahl-Informations-Zentrum 2000 C-Säule bleiben beim Öffnen stehen,
[3] ULSAB-AVC Overview Report, The ULSAB-AVC Consortium • Cabriolet: meist viersitzig mit zwei Türen, mit
2002
[4] Leitloff, F. U.: Innenhochdruckumformung – Grundlagen, An-
Stoff- oder Metalldach, oft basierend auf Coupé-
wendungen, Perspektiven, Vortragsreihe VDI, Stuttgart 1998 Variante,
[5] Hornig, J.: Laser-strahlende Zukunftsaussichten beim Schwei- • Roadster: zweisitzige Sportwagen mit Stoffdach
ßen im Karosseriebau, VDI Berichte Nr. 1264, S. 149 ff., VDI- oder RHT und
Verlag GmbH Düsseldorf 1996
[6] Lüdke, B.: Funktionaler Karosserie-Leichtbau; Von den Anforde-
• Spider, Spyder oder Speedster: Fahrzeug ohne
rungen an die Rohkarosserie zu den Anforderungen an die Roh- Dach.
karosseriewerkstoffe, VDI Berichte Nr. 1543, S. 115 ff., Düssel-
dorf 2000
[7] ULSAB-AVC Engineering Summary, Automotive (R)Evolution
in Steel, http://www.stahl-info.de/stahl_im_automobil/ultra-
leicht_stahlkonzepte/ulsab_avc/ulsab_avc.pdf
[8] Warmband – Qualität in großer Bandbreite, ThyssenKrupp Stahl,
Duisburg, April 2002, http://www.thyssen-krupp-stahl.com
[9] ULSAB – Materials and Processes, The ULSAB-AVC Con-
sortium, http://www.autosteel.org/ulsab/
[10] Ultraleichte Automobil-Anbauteile aus Stahl, Übersetzung des
ULSAC Overview Report 1. Auflage, ISSN 0175-2006, Stahl-
Informations-Zentrum, Düsseldorf 2000, http://www.auto-
steel.org/ulsac/
Bild 6.1-33 Ansicht eines BMW 3er Cabrios
(Quelle: BMW Group)
6.1 Karosseriebauweisen 407

1,7 Millionen offene Fahrzeuge waren 2009 in sätzlichen Maßnahmen zur Sicherung der Karosserie-
Deutschland zugelassen, rund vier Prozent des Ge- steifigkeit werden kann, zeigt das BMW 3er Cabrio,
samt-Pkw-Bestandes in Deutschland. 2010 offerieren dessen Gesamtgewicht 320 Kilogramm über dem der
auf dem deutschen Markt rund 30 Hersteller mehr als Limousine liegt [2]. Durchschnittlich liegt der Ge-
50 verschiedene Cabriomodelle. Tendenz steigend: wichtszuwachs durch Versteifungsmaßnahmen bei
30 neue Cabriomodelle sollen bis 2015 neu auf den einer Cabrio-Karosserie gegenüber der modellglei-
Markt kommen [1]. chen Limousine bei 120 Kilogramm.
Die Karosseriesteifigkeit von Cabriolet-Karosserien
6.1.4.2 Rohbau wird heute mit folgenden Maßnahmen optimiert:
Da Cabriolets als Nischenfahrzeuge meist nur in klei- • Vergrößerte Längsträger-Querschnitte zum Bei-
nen Stückzahlen gefertigt werden, entstehen sie aus spiel im Bereich des Türschwellers
Kostengründen in der Regel konstruktiv auf der Platt- • Zusätzliche oder stärkere Querwände
form bzw. als Karosserievariante eines Großserien- • Steifere Auslegung der Übergänge vom Längsträ-
modells. Bei Cabriolets entfällt das Dach als tragende ger auf A- und B-Säule
Komponente der Gesamtkarosserie. Deshalb ist es • Einbringen von Diagonalstreben vorne und hinten
erforderlich, die Cabriolet-Karosserie vor allem im • Einbinden von Anbauteilen in den Torsions-Kraft-
Bereich des Unterbodens und des Frontscheibenrah- fluss, z.B. vorderer Hilfsrahmen, Motorunterfahr-
mens entsprechend zu verstärken, um die fehlende schutz.
Versteifung durch Dach und eingeklebte Heckscheibe Die Karosseriesteifigkeit beeinflusst Sicherheit, Kom-
zu kompensieren. In Bild 6.1-34 ist der Rohbau eines fort und Haltbarkeit eines Automobils. Je weniger
Cabriolets dargestellt. Die cabriospezifischen Ände- sich ein Fahrzeug auf unebenen Fahrbahnen oder in
rungen im Karosseriebau sind markiert. schnell gefahrenen Kurven „verwindet“, desto siche-
rer ist das Fahrverhalten. Daneben bildet eine hohe
Karosseriesteifigkeit auch die Grundlage für die Crash-
sicherheit und die Reduzierung von Innenraumgeräu-
schen [3].
Ziel der Konstrukteure ist es, die Eigenfrequenzen der
Karosserie von denen der schwingungsfähigen Kom-
ponenten, wie Motor, Achsen, Abgasanlage, Lenk-
säule, aber auch Dachsystem, zu entkoppeln.

Statische Steifigkeit
Die statische Steifigkeit gewährleistet, dass Türen,
Klappen wie auch das Cabriodach sich auch dann
Bild 6.1-34 Rohbau eines Cabriolets mit spezifischen problemlos öffnen und schließen lassen, wenn das
Versteifungen Fahrzeug auf unebenen Grund steht.

Bei Solitärkonstruktionen, die nicht auf einem Groß- Dynamische Steifigkeit


serienmodell bzw. einer Coupé-Variante basieren Die dynamische Steifigkeit nimmt Einfluss auf das
(z.B. BMW Z8), werden häufig selbsttragende Kon- Schwingungsverhalten eines Fahrzeugs. Torsions-
struktionen, auch in Space-Frame-Technologie, ein- schwingungen bestimmen den Komfort eines Fahr-
gesetzt. Letztere stellt eine Rahmenkonstruktion dar, zeuges. Rückspiegel- und Lenkradzittern können
in die gezielt zur Erhöhung der Steifigkeit der offenen durch Torsionsschwingungen der Karosserie verur-
Variante zusätzliche Strukturen (z.B. Profile) einge- sacht sein (Bild 6.1-35). Im Sitz spürbare Schwin-
bracht werden können. gungen gehen in der Regel auf Biegeschwingungen
In der Auslegung der Cabrio-Karosserie muss die der Karosserie zurück.
Unterbringung des Dachs berücksichtigt werden. Dies Die Schwingungs-Problematik ist bei Cabriolets be-
erfolgt bei den meisten Modellen in einer in die sonders relevant, da die Struktur eines offenen Autos
Karosseriestruktur integrierten Verdeckwanne oder generell nicht die Steifigkeit einer geschlossenen Ka-
im Kofferraum, der dafür über den Kofferraumdeckel rosserie erlangen kann [3]. Limousinen erreichen in
oder einen separaten Verdeckdeckel im Heck zugäng- der Torsionsanalyse Eigenfrequenzen von bis 50 Hz,
lich gemacht werden muss (Kap. 6.1.4.5). viersitzige Cabriolets dagegen nur ca. 15 – 25 Hz
(Bild 6.1-36). In diesem Frequenzbereich bewegen
6.1.4.2.1 Karosseriesteifigkeit sich auch die Achs- und Motorresonanzen, so dass
Der Entfall des Daches führt bei einer selbsttragenden den Fahrkomfort störende Torsionsschwingungen an-
Limousinenkarosserie zu einem Steifigkeitsverlust geregt werden. Versuche zeigen, dass beim Vergleich
von bis zu 85 Prozent. Wie hoch der Bedarf an zu- der Querschwingungen in der Coupé- und der Cabrio-
408 6 Aufbau

1,5 gungstilger jedoch nur auf eine Frequenz abgestimmt


Beschleunigung [m/s2] sein kann. Generell gilt hierzu: Je höher die Dämp-
fung ausgelegt wird, desto breiter die Wirkungsweise
1,0 des Schwingungstilgers.

6.1.4.2.3 Betriebsfeste Auslegung


0,5 von Cabrioletkarosserien
Generell gilt: Die Maßnahmen zur Erhöhung der
0 Steifigkeit von Cabriolet-Karosserien (Kap. 6.1.4.2.1)
5 10 15 20 25 30
Frequenz [Hz]
und die Sicherstellung der geforderten Crash-Eigen-
schaften (Kap. 6.1.4.3) stehen in der Cabrio-Ent-
Bild 6.1-35 Querbeschleunigung des Rückspiegels wicklung der Forderung nach Leichtbau gegenüber.
auf Hydropulsprüfstand ––: Cabriolet; -----: Coupé Die wesentlichen Punkte bei der Betrachtung der
Betriebsfestigkeit von Cabriolet-Karosserien sind:
• Lokale Steifigkeitssprünge aufgrund der zusätz-
Rohbau-Eigenfrequenz in Hz

30 28,6
26,1 27,0
24,4 lichen Versteifungen; diese können zur Überhö-
25 22,3
20 hung von Materialspannungen führen;
15
• Geringere Steifigkeit der Cabriolet-Karosserien
resultiert in größerer Verformung und damit auch
10
in höherer Bauteilbeanspruchung; ggf. Verschie-
1999

2000

2001

2003

2006

5
bung der lokalen Beanspruchung in die Fügezone
0 von Übernahmeteilen.
Typ A Typ B Typ C Typ D Typ E
• Die häufigsten Ermüdungsschäden treten bei
Bild 6.1-36 Erste Torsionseigenfrequenz Rohbau von Cabriolets an den Fügestellen (Schweißnähte,
viersitzigen Cabriolets Schweißpunkte etc.) auf.
Als grundsätzliche Konstruktionsprinzipien zur Opti-
let-Version eines Modells die Querschwingungen am
mierung der Betriebsfestigkeit bei Cabriolets sollten
Rückspiegel des Cabriolets um den Faktor zehn
daher gelten: Vermeidung von großen Steifigkeits-
höhere Schwingungsamplituden erreichen.
sprüngen sowie die Platzierung von Fügestellen mög-
6.1.4.2.2 Karosserietilger lichst außerhalb hoch beanspruchter Bereiche.

Die im vorangegangenen Kapitel erläuterten Reso- 6.1.4.3 Sicherheitsrelevante Auslegung


nanzschwingungen der Karosserie, verursacht durch von Cabriolets
Koppelschwingungen zwischen Karosserie, Fahrwerk
und Motor, erzeugen Geräusche und Vibrationen, die Für Cabriolets gelten grundsätzlich die gleichen
zu subjektiv wahrnehmbaren Einbußen an Geräusch- Sicherheitsanforderungen wie für alle anderen Perso-
und Fahrkomfort führen. Um Vibrationen und Geräu- nenfahrzeuge im öffentlichen Verkehr. Aktive wie
sche zu dämpfen, werden passive Karosserietilger in passive Sicherheitssysteme aus der Großserie haben
Form von gezielt platzierten Feder-Masse-Systemen längst Einzug in die Cabriolet-Varianten gehalten und
eingesetzt. Sozusagen als „Nebenwirkung“ dämpfen zählen bei vielen Modellen zur Standardausstattung.
die Tilger auch schlichte Fahrbahnstöße. Einen neue- Einige aktive Sicherheitssysteme werden speziell auf
ren Ansatz stellt die aktive Schwingungstilgung dar: die Bedingungen im Cabriolet angepasst: Die Funk-
Mit hydraulischen Aktoren werden Gegenschwin- tion von Kopf-Airbags, die bei Limousinen im Dach
gungen erzeugt, die die Karosserievibrationen mini- untergebracht sind, übernehmen in Cabriolets z.B.
mieren und so ohne Zusatzgewicht höheren Komfort größere Kopf-Thorax-Airbags, die in den Türverklei-
vermitteln. dungen platziert sind. Sicherheitsrelevante, cabriolet-
Als Tilger können z.B. auch die Batterie (BMW 3er spezifische Modifikationen finden sich ferner beim
Cabrio) oder – bei Cabriolets – die Hydraulikpumpe Überschlagschutz (verstärkte A-Säule, Überrollbügel-
der automatischen Verdecke dienen. Bei einigen systeme) und in den Türen.
Cabrio-Modellen (z.B. New Beetle Cabriolet, Porsche
Boxster) nutzten die Konstrukteure den Motor – auf Frontcrash
einem hydraulischen Dämpfer gelagert – als Schwin- Beim Frontcrash erfolgt der Abbau der Crashenergie
gungstilger. vorrangig über den Fahrzeugboden, bei Cabriolets
Die Tilgermasse beträgt in vielen Cabrios zehn Kilo- zusätzlich über den Kraftpfad Tür (Kap. 6.1.4.4).
gramm und mehr. Bei Cabriolets ist insbesondere zu Verstärkungen im Schwellerbereich, z.B. über dop-
beachten, dass die dynamische Steifigkeit bei offe- pelte Blechstärken, Tailored Blanks oder Verstei-
nem und geschlossenem Dach variiert, der Schwin- fungsrohre, sind daher bei Cabriolets üblich.
6.1 Karosseriebauweisen 409

Seitencrash Vermeidung von Verwirbelungen, die Umströmungs-


Um bei Seitencrashs die Sicherheit der Insassen zu geräusche erzeugen. Zudem muss das Augenmerk auf
erhöhen, wird der cabrioletspezifische Entfall der B- Schwingungsanregungen von Bauteilen gelegt wer-
Säule auf Fensterhöhe durch die Versteifung des den, die ebenfalls ursächlich für störende Geräusche
Bodens, des unteren Bereichs der B-Säule im Über- sein können.
gang zum Schweller sowie der Seitenwand kompen- Umströmungsgeräusche, verursacht vor allem durch
siert. In der Regel kommen bei diesen Maßnahmen Wirbelablösungen, entstehen zum Beispiel an Dich-
Rohrverstärkungen zum Einsatz. Durch die versteif- tungsübergängen, an den Fugen zwischen Verdeck
ten A- und B-Säulen werden bei einem Seitencrash und Fahrzeug oder zwischen Verdeck und Seiten-
zudem das Türschloss und die Scharniere stärker scheibe. Auch Undichtigkeiten aufgrund von Bauteil-
beansprucht als das bei einem geschlossenen Fahr- toleranzen lassen den Schall in den Fahrzeuginnen-
zeug der Fall wäre. raum gelangen. Auf diese Weise können unangeneh-
me Pfeifgeräusche entstehen. Weitere kritische Stel-
Heckcrash len sind die Stoffnähte bei Softtops und bei den RHTs
Im Fall eines Seitencrashs im hinteren Fahrzeugbe- die Übergänge an den Dachschalen.
reich, aber insbesondere bei einem Heckcrash muss Die Intensität der Übertragung des Außengeräuschs
sichergestellt sein, dass weder bei geschlossenem ins Fahrzeuginnere wird maßgeblich durch das Mate-
noch bei geöffnetem Dach Teile des Verdecks, der rial des Verdeckbezugs sowie der Dämmung be-
Verdeck-Kinematik oder der Antriebssysteme in den stimmt. Um die Geräuschübertragung möglich weit-
Fahrgastraum eindringen können. gehend zu reduzieren, kommen Dämmmatten aus
Polyestervlies oder Polyurethan zum Einsatz. Bild
Überschlag 6.1-37 zeigt die Messungen zweier unterschiedlicher
Generell gilt: Bei Fahrzeugen ohne schützendes, mas- Dämmmaterialien über den Frequenzverlauf.
sives Dach, wie Cabriolets und offene Sportwagen, Störende Geräusche wie Wummern der Heckscheibe,
muss im Fall eines Überschlages ausreichend Über- Schwirren von Kleinteilen oder Flattern des Innen-
lebensraum für alle Insassen zur Verfügung stehen. himmels bei geöffnetem Seitenfenster sind häufig auf
Die Hauptlast im Fall eines Überschlags tragen in der Schwingungsanregungen von Bauteilen zurückzufüh-
Regel bei einem Cabriolet die A-Säulen und der ren. Als Maßnahmen eignen sich zusätzliches Fixie-
Frontscheibenrahmen, unterstützt – falls vorhanden – ren der Bauteile oder die gezielte Beeinflussung der
von Überrollbügelsystemen. Anströmung von Bauteilen.
Die konstruktiven Lösungen zur Versteifung der A- Um im offenen Fahrzeug Windgeräusche und Ver-
Säulen konzentrieren sich auf integrierte Rohre aus wirbelungen zu minimieren, kommen Windschotts
hoch- und höchstfesten Stählen; zudem können die und Windabweiser zum Einsatz. Sie sorgen für zusätz-
Windläufe mittels stärkerer Bleche und/oder größerer lichen Komfort der Passagiere vor allem bei höheren
Querschnitte verstärkt werden. Geschwindigkeiten. Bei viersitzigen Fahrzeugen ist
Bei den Überrollbügelsystemen herrschen heute zwei das Windschott in der Regel im Bereich der Rücksitze
Grundprinzipien vor: starre und aktive Überrollbügel- platziert. Bei zweisitzigen Fahrzeugen kommen auch
systeme. Zu den ‚starren‘ Systemen zählen a) fest netzartige Einsätze oder transparente Scheiben zum
installierte Überrollbügel, die die gesamte Fahrzeug- Einsatz, die zwischen den Überrollbügeln montiert
breite überspannen und b) fest installierte, höhen- werden. Jüngste Entwicklungen gehen dahin, zusätzli-
unveränderliche Überrollbügel, die den einzelnen che Windabweiser am Windscheibenrahmen einzuset-
Fahrzeugsitzen zugeordnet sind. Bei beiden ‚starren‘ zen, ähnlich wie bei Schiebedächern üblich.
Lösungen werden erhöhter Luftwiderstand und die 6.1.4.5 Türen
dadurch erzeugten Fahrgeräusche häufig als nachtei-
Der Kraftpfad Tür, der neben dem Fahrzeugboden
lig empfunden. Auch optische bzw. designrelevante
ganz wesentlich zur Absorption der Crashenergie bei
Gründe sprechen vielfach gegen diese Systeme.
Frontcrashs beiträgt, wird über eine steifere Ausfüh-
Bei den ‚aktiven‘ Systemen ist der Überrollbügel in
rung der im Cabriolet rahmenlosen Türen im Brüs-
einem Kassettengehäuse oder einer Rückwand-Bau-
tungsbereich sowie an der Türanbindung verstärkt.
einheit abgelegt. Nur bei drohendem Überschlag wird
Die Scheiben der rahmenlosen Cabriolet-Türen neh-
das Bügelsystem sensorgesteuert und typischerweise
men Druck-, Torsions- und Biegekräfte auf, die bei
mittels eines pyrotechnischen Energiespeichers in
geschlossenen Fahrzeugen vom Türrahmen aufge-
Sekundenbruchteilen in eine schützende Position auf-
nommen werden. Um diesen Anforderungen zu ge-
gestellt und verriegelt.
nügen, stehen folgende konstruktive Lösungen im
6.1.4.4 Aeroakustik Vordergrund:
Einen wichtigen Stellenwert bei der Cabrioletent- a) Erhöhung der Materialstärke der Türscheibe ein-
wicklung hat die Aeroakustik. Im Fokus stehen dabei schließlich Anpassung des Fensterhebersystems
die Minimierung von Windgeräuschen sowie die b) Verstärkung des Türschachts.
410 6 Aufbau

75
72,5
70
67,5
65
62,5
60
57,5
55
52,5
50
47,5
L [dB(A)] [SPL]

45
42,5
40
37,5
35
32,5
30
27,5
25 Dämmung Variante 1
22,5 Dämmung Variante 2
20
17,5
15
12,5
20 24 30 40 50 60 80 100 120 160 200 240 300 400 500 f [Hz] 800 1200 1600 3000 4000 6000 8000 10k 12k 20k

Bild 6.1-37 Verlauf des Schalldruckpegels zweier unterschiedlicher Dämmmaterialien über dem Frequenzband

6.1.4.6 Dachsystem

Bis vor 30 Jahren basierten die Dachsysteme für


Cabrios meist auf einem einfachen Gestänge, das mit
einem PVC-Bezug mit integrierter flexibler Kunst-
stoffheckscheibe bezogen wurde. Die Verdecke waren
im Heckbereich an der Karosse angebunden. Per Hand
konnte eine Persenning aufgeknöpft werden. Cabrios
dieser Zeit waren z.B. Ford Mustang, VW Golf oder Bild 6.1-38 Dach des VW Eos
Opel Astra. In den 90er Jahren setzten sich mehr und (Quelle: Volkswagen AG)
mehr Verdecksysteme durch, die unter einem Ver-
deckkastendeckel im Heck verstaut werden können. Volvo C70. Konnten die Metalldächer für zweisitzige
Typische Vertreter dieser Cabriolet-Gattung sind Cabrios noch aus zwei Dachteilen aufgebaut werden,
BMW 3er Cabrio, Audi 80 oder Mercedes-Benz CLK. so war es bei viersitzigen Fahrzeugen meist notwen-
Bei Softtop-Dachsystemen ohne Verdeckkastende- dig, das Dach in mindestens drei Segmente zu teilen.
ckel führte die Weiterentwicklung zu den so genann- Nur so konnte der Fahrgastraum groß genug gestaltet
ten „Z-Faltungs-Verdecken“. Bei dieser Verdeckvari- werden, um auch den hinteren Passagieren genügend
ante wird der vordere Dachbereich, auch Frontsprie- Platz zu geben.
gel oder Dachspitze genannt, als Ablagedeckel ge- Darüber hinaus finden sich im Markt Targadächer mit
nutzt. BMW Z4, Audi A3 oder Audi TT zeigen diese großen Glaselementen und dementsprechend großen
Verdeckvariante. Dachöffnungen (z.B. Porsche 911 Targa) sowie Falt-
Parallel zu den Softtops etablierten sich im Markt dächer aus Textil. Letztere werden vor allem bei
Metalldächer, so genannte „Retractable Hardtops“ Kleinwagen (z.B. Fiat 500) eingesetzt. Beide Varian-
(RHT). Deren Wegbereiter waren Mercedes-Benz ten werden hier jedoch nicht näher betrachtet, da sie
SLK und Peugeot 206. Anfänglich wurden die RHTs nicht zu den klassischen Cabrioletverdecken zählen.
nur bei zweisitzigen Cabrios eingesetzt. Ab 2005 Mischbauweisen aus den verschiedenen Verdeck-
statteten mehrere Fahrzeughersteller auch viersitzige und Dachvarianten sind in Zukunft denkbar bzw.
Cabrios mit den aufwändigeren RHTs aus, darunter wurden auch schon in Designstudien und Kleinserien
Astra TwinTop, VW Eos (Bild 6.1-38), BMW 3er, realisiert.
6.1 Karosseriebauweisen 411

6.1.4.6.1 Faltbares Festdach


(Retractable Hardtop)
Mit den Retractable Hardtops entstand eine neue
Art von Cabrios. Faltbare Festdächer vermitteln den
Kunden vor allem Vandalismusschutz sowie bessere
Geräusch- und Temperaturisolation. Wobei gerade
die beiden letztgenannten Punkte auch bei den Soft-
tops durch neue Entwicklungen aufgegriffen werden.
Wurden anfangs hauptsächlich zweiteilige RHTs ein-
gesetzt, so sind in den letzten Jahren vor allem Cabrios
mit drei- bis fünfteiligen Hardtops auf dem Markt
erschienen. Die Mehrteiligkeit wird durch die Länge
der Fahrgastzelle bei Viersitzern und den aus Design-
gründen relativ kurzen Überhang, definiert. Nur wenn
die Dachfläche in drei Teile unterteilt wird, lässt sich
bei vollständiger Viersitzigkeit ein kurzer Überhang
und die Zugänglichkeit zum Gepäckraum realisieren.
Außerdem kann dank hoher Packdichte ein niedriges Bild 6.1-39 Darstellung der Komponenten eines
Heck dargestellt werden. Bei zweisitzigen Fahrzeugen Softtops
werden auch weiterhin zweiteilige RHTs favorisiert.
Die RHTs bestehen zumeist aus einer Dach- und Spriegel, auch Dachspitze genannt, an einem oder
einer Heck- bzw. Verdeckkastendeckel-Kinematik. zwei manuellen Verschlüssen entriegelt und anschlie-
Auf dieses Gestänge werden Dachschale bzw. Deckel ßend das Verdeck per Hand im Verdeckkasten ver-
montiert. Dachschalen und Deckel werden je nach staut. Bei halbautomatischen Verdecken wird nur der
Stückzahlen und Gewichtsanforderungen in Stahl- Frontverschluss manuell entriegelt. Das Ablegen des
oder Aluminiumblechbauweise gefertigt, auch faser- Daches übernimmt der elektrische oder elektrohyd-
verstärkte Kunststoffbauweisen kommen bereits zum raulische Antrieb (Bild 6.1-40). Diese Antriebseinheit
Einsatz. bewegt auch die Klappen im C- oder B-Säulen-
bereich, die eventuell vorhandene Hutablage sowie
6.1.4.5.2 Stoffverdeck (Softtop) den Verdeckkastendeckel.
Softtops werden mittlerweile in verschiedensten Bau-
formen dargestellt, wobei der Unterschied meist in
der Art der Faltung und der dafür notwendigen Ki-
nematik liegt: z.B. Spannbügelverdeck, Z-Faltung,
aufliegendes Verdeck mit konventioneller Faltung,
Finnenverdeck [4]. Bei Stoffverdecken lässt sich – im
Vergleich zu RHTs – der Bauraum für das abgelegte
Verdeck variabler gestalten. Somit kommen Softtops
(Bild 6.1-39) vorrangig bei folgenden Fahrzeugtypen
zum Einsatz: Mittelmotor-Cabrios, viersitzige Cabri-
os mit besonders kurzem Überhang sowie bei Cabri-
os, die bei abgelegtem Dach einen besonders großen
Kofferraum und gute Zugängigkeit bieten sollen.
Moderne Softtops müssen zudem hohe Ansprüche an
Ganzjahrestauglichkeit, Geräusch- und Temperatur-
isolation erfüllen – und dies über die gesamte Fahr-
zeuglebensdauer. Bild 6.1-40 Verdeckgestänge für ein Softtop mit
Spannbügel und elektrohydraulischem Antrieb
Verdeckkinematik
Die Verdecksysteme, bestehend aus mehreren hun- Bei Z-Faltungs- und aufliegenden Verdecken reicht
dert Einzelteilen, zählen zu den aufwändigsten kine- meist eine Kinematik aus, um das Dach zu bewegen.
matischen Baugruppen an einem Cabrio. Nach wie Soll das Dach unter einem Verdeckkastendeckel
vor werden im Markt manuell betätigte Verdecke verstaut werden, so muss bei Softtops – und teilweise
angeboten, jedoch wächst der Anteil der halb- oder auch bei RHTs – der hintere Teil des Dachs zunächst
vollautomatischen Verdecksysteme. über eine zusätzliche Kinematik angehoben werden,
Rein manuelle Verdecksysteme werden ausschließlich um den Verdeckkastendeckel öffnen und das Dach
bei Softtops eingesetzt. Zum Öffnen wird der vordere ablegen zu können.
412 6 Aufbau

Der Verdeckbezug besteht zumeist aus einem drei-


lagigen Aufbau, häufig ein Polyestergewebe. Nur
noch in seltenen Fällen kommt eine genarbte PVC-
Folie zum Einsatz. Die innere Lage ist ebenfalls ein
Polyestergewebe in unterschiedlichen Webarten. Eine
Gummierung als Zwischenlage stellt die Wasser-
dichtheit des Verdecks sicher.
Die Materialien für Verdeckbezüge werden in unter-
schiedlichen Qualitäten und Dicken ausgeführt, je
nachdem welches Packmaß zur Verfügung steht und
welche Isolationseigenschaften gewünscht sind.
Um die Isolationseigenschaften von Softtops weiter
zu verbessern, aber auch um dem Verdeck den vom
Styling gewünschten Strak zu geben, kommen zusätz-
Bild 6.1-41 Frontverschluss mit Grundplatten lich Dämmmatten (Vliesmaterial, Polyurethanmatten)
zum Einsatz. Wichtig neben Optik und Isolationswir-
Zusätzliche Verschlüsse sind notwendig, um den kung ist hier auch das Rückstellverhalten des Materi-
Stoff bei einem Softtop zu spannen bzw. bei Softtops als, um bei geschlossenem Verdeck möglichst wenig
und RHTs den nötigen Dichtungsdruck und die Falten zu haben. Die Stoffqualität hat wesentlichen
komplette Schließung zu erreichen. Einfluss auf die Faltenreversibilität.
Um die Sortenreinheit bei einer späteren Verschrot-
Verschlüsse tung zu gewährleisten, werden die Textilumfänge
Verdecke, die im hinteren Bereich mit der Karosserie meist nur noch über mechanische Verbindungen wie
fest verbunden sind, werden nur mit Verschlüssen in Clipse, Schrauben oder Nieten mit dem Verdeckge-
der Dachspitze am Windlauf verriegelt. Am Windlauf stänge verbunden. Das frühere Verkleben wird, wo
sind so genannte „Grundplatten“ (Bild 6.1-41) ange- möglich, vermieden.
bracht, die das Widerlager zur manuellen oder ange- Kamen früher noch klare Kunststofffolien als Heck-
triebenen Verschlusseinheit in der Dachspitze darstel- scheiben zum Einsatz, so werden heute, bis auf weni-
len. ge Ausnahmen, z.B. im Offroadbereich, nur noch
Das Aufspannen von Softtops mit beweglichem Mineralglasscheiben mit Heckscheibenheizung ein-
Spannbügel erfolgt je nach verwendeter Dachkinema- gesetzt. In vielen Fällen sind die Glasscheiben mit
tik entweder über einen Verschluss in der Dachspitze dem Verdeckbezug verklebt. Alternativ kann die
oder im Heckbereich. Die Verriegelung in der Dach- Glasscheibe über Metallrahmen mit zusätzlichen
spitze setzt sich zunehmend durch. Dichtungen oder einem Kunststoffrahmen mit dem
Bei RHTs ergibt sich durch die aerodynamischen Bezugsmaterial verbunden werden.
Kräfte sowie um Knarz- und Klappergeräusche zu Die Spanngurte links und rechts werden seitlich an
vermeiden die Notwendigkeit, auch die einzelnen den Querverbindungen des Verdeckgestänges, den so
Dachschalen untereinander zu verriegeln. Die Verrie- genannten „Spriegeln“, befestigt. Diese thermostabi-
gelungseinheiten zwischen den Dachschalen werden lisierten Gurte übernehmen die Führung der Spriegel
dazu über den Frontverschluss angetrieben. Für und stützen zugleich den Verdeckbezug.
Klappen im C-Säulenbereich sowie den Verdeckkas- Dichtungen
tendeckel kommen weitere Verschlüsse zum Einsatz. Das Verdeck als eigenständiges System muss – ähn-
Diese werden entweder über Elektromotoren oder lich einer Tür – an den Schnittstellen zum Fahrzeug
über die Dachhydraulik angetrieben. Die Verriege- abgedichtet werden. Die Schnittstellen sind: Windlauf,
lung kann auch an die Bewegung eines Scharniers Seitenscheiben, Fensterschachtdichtung, Verdeckkas-
gekoppelt werden. tendeckel und Karosserieflächen im Heckbereich. Für
Cabrios gelten heute die gleichen Dichtheitsanforde-
Textilumfang
rungen wie für alle anderen Fahrzeugtypen. Um die
Der Textilumfang eines Softtops besteht aus dem Toleranzen an der Schnittstelle zwischen Fahrzeug
äußeren Verdeckbezug, einem Innenhimmel, einer und Verdeck aufnehmen zu können, kommen großvo-
eventuell vorhandenen Dämmung zwischen Bezug lumige Profile mit ein oder zwei Kammern und zu-
und Himmel sowie den Spanngurten. sätzlichen Dichtlippen zum Einsatz (Bild 6.1-42). An
Der Innenhimmel erfüllt vor allem eine optische den Eckbereichen gehen die Profile in Formteile über.
Funktion: Er deckt die Kinematikbauteile im Innen- Die Dichtungen werden über so genannte „Fassungs-
raum ab. In einem geringen Maß dient er je nach schienen“ mit dem Verdeckgestänge verschraubt oder
Aufbau des Textils auch der Geräuschisolation. Für vernietet. Als Fassungsschiene wird ein C-Profil ver-
den Himmel werden sowohl einlagige Materialien als baut, das gegebenenfalls schon in das Gummiprofil
auch mehrlagige Textilien eingesetzt. der Dichtung eingebracht ist.
6.1 Karosseriebauweisen 413

[6] Papenheim, T.; Lüdorff, J.: Sicherheitsrelevante Auslegung von


Cabriolets, VDI Tagung Innovativer KFZ – Insassen- und Part-
nerschutz, Berlin, September 2001
[7] Schulte-Frankenfeld, N.: Fahrzeugstrukturen für hohen Insassen-
schutz bei Cabriolets, European Automotive Safety, Bad Nau-
heim (2004)
[8] Franke, S.; Oehmke, B.: Das innovative Dach- und Karosserie-
Konzept des neuen Volkswagen EOS, Karosseriebautage Ham-
burg, 2006

6.1.5 Frontendmodule
Bild 6.1-42 Seitliches Dichtprofil eines Softtops
Frontendmodule sind aus der modernen Pkw-Ent-
Ein zusätzliches, automatisches Absenken der Seiten- wicklung nicht mehr wegzudenken, z.T. wie beim
scheiben beim Öffnen und Schließen der Türen, auch VW-Golf, werden sie bereits in der vierten Fahrzeug-
Kurzhubabsenkung genannt, stellt sicher, dass die generation eingesetzt (Bild 6.1-43). Verbunden mit
Seitenscheiben beim automatischen Wiederhochfahren dem Konzept des offenen Vorderwagens, in den der
komplett von den Dichtungen umfasst werden. So ist Motor von vorn eingesetzt wird, sind Frontendmodu-
neben der Dichtheit auch eine Minimierung der Wind- le die Baugruppen mit denen das Fahrzeug an der
geräusche und eine Schallisolation gewährleistet. Front verbunden und geschlossen wird. Das Welt-
markvolumen für Frontendmodule liegt derzeit bei
Antriebe 15 Mio. Einheiten und wird bis zum Jahr 2015 auf
18 Mio. Einheiten davon über 8 Mio. Einheiten im
Elektrohydraulik ist heute die häufigste Antriebstech-
europäischen Markt steigen. Unterschieden werden
nologie für Softtops und RHTs, deren Verschlüsse
kann zwischen Projekten, bei denen der Fahrzeugher-
sowie der zusätzlichen Klappen. Nur noch vereinzelt
steller die Module selbst entwickelt und fertigt (In-
kommen auch Elektromotoren zum Einsatz. Ein Hyd-
house: Etwa 26 % des Weltmarktes), Projekten bei
raulikantrieb besteht aus einer Pumpeneinheit mit
denen die reine Montage an Zulieferer vergeben wird
E-Motor, Ölreservoir und Pumpenblock, einer
(Assembly: Etwa 15 % des Weltmarktes) und Projek-
Schlaucheinheit sowie den Hydraulikzylindern, die
ten, bei denen sowohl Entwicklung als auch Montage
mit den zu bewegenden Baugruppen verbunden sind.
vom Zulieferer durchgeführt wird [1].
Die heute in Cabrios eingesetzten Hydraulikeinheiten
wurden speziell für die Belange von Verdecksyste-
men entwickelt und werden so den Anforderungen an
geringes Packmaß und hohe Kräfte gerecht. Dafür
werden Drücke von ca. 120 bis 170 bar eingesetzt.
Bei rein elektromotorischen Antrieben besteht meist
der Nachteil, dass die Kräfte über aufwändige Me-
chaniken auf die anzutreibenden Baugruppen verteilt
werden müssen. Oder es müssen mehrere Elektromo-
toren eingesetzt werden. Für einfachere Verdecksys-
teme stellen sie dennoch eine Alternative dar.
Bild 6.1-43 Frontendmodul VW Golf
Literatur
6.1.5.1 Bestandteile von Frontendmodulen
[1] Hamprecht, H.: Mehr als 30 Cabrio-Neuheiten in fünf Jahren!
In: auto motor sport online, URL: http://www.auto-motor-und- Der Begriff Frontend ist nicht genormt, so dass her-
sport.de/ news/ cabrio-zukunft-bis-2015-mehr-als-30-cabrio-neu- steller- und projektspezifisch unterschiedliche Um-
heiten-in-fuenf-jahren-387593.html (Stand 10. 09. 2010)
[2] Santer B.: Bitte frei machen. In: Focus online, URL: http://www.
fänge gemeint sein können. Je größer der Umfang bei
focus.de/auto/neuheiten/tid-17871/cabrios-2010-bitte-frei-ma- der Konzeption eines Frontendmoduls, desto höher
chen_aid_497852.html (Stand 10.09.2010) das Kosteneinsparpotenzial. Typische Hauptbestand-
[3] Rund um VW: Innovation & Technik, Technik-Lexikon (2010), teile sind:
URL: http://www.volkswagen.at/rund_um_vw/innovation_tech-
nik/technik_lexikon/karosseriesteifigkeit.html (Stand 10. 09. • Strukturträger
2010) • Kühlkomponenten
[4]
[5]
Webasto: Vortrag im Rahmen der Fachtagung Cabrio (2005)
Kalinke, P.; Gnauert, U.: Potenzialanalyse von aktiven Schwin-
• Stoßfängerquerträger und Crashboxen
gungsreduktionssystemen zur Verbesserung des Schwingungs- • Scheinwerfer und weitere Front- und Signalleuchten
komforts bei Cabriolets, mobiles 28 (Ausgabe 2002/2003) • Ggf. der Stoßfängerüberzug
414 6 Aufbau

Der Strukturträger ist die Integrationsplattform aller 6.1.5.3 Innovationen für Frontendmodule
Einzelkomponenten für das Frontendmodul. Außer- Durch den zunehmenden Einsatz von Kunststoffüber-
dem integriert er das Haubenschloss, den Bowden- zügen, z.B. auch für die Seitenwand, ergeben sich
zug, die Fanghaken und die Anschlagpuffer. Techno- völlig neue Lösungsansätze, welche die Vision von
logisch gibt es heute unterschiedlichste Lösungen für der fugenlosen Fahrzeugfront in realisierbare Nähe
den Strukturträger. Er kann aus Plastik, Aluminium rücken. Bild 6.1-44 zeigt ein Frontendmodulkonzept,
oder Stahl bestehen, wird immer häufiger aber auch bei dem die Funktion der Schweinwerferabschluss-
als Hybridbauteil (PP- oder PA-Plastik/Stahl) im In- scheibe so erweitert wurde, dass sie partiell auch als
Mold oder Post-Mold Verfahren hergestellt. Besonde- Stoßfängerüberzug dient. Die großflächige Scheibe
re Vorteile der Hybridträger liegen in der Möglich- aus Polycarbonat ist nur dort transparent, wo dies für
keit, hohe Funktionsintegration und geringe Toleran- die dahinter liegende Licht- und Elektronikfunktionen
zen bei gleichzeitig hoher Steifigkeit und hoher notwendig ist. Der Rest der Scheibe ist in Wagen-
Wärmebeständigkeit zu realisieren. farbe lackiert. Die beiden außenliegenden Scheiben
Idealerweise sollte der Strukturträger in der Lage bilden zusammen mit einem Mittelteil, welches durch
sein, die je nach Motorisierung unterschiedlichen „Sliding Tabs“ fugenlos mit ihnen verbunden wird,
Kühlergrößen und Ausstattungen möglichst effizient den Stoßfängerüberzug [2].
zu integrieren.
Der Querträger mit den Crashboxen stellt im Nor-
malbetrieb ein „Verschlusselement“ des offenen Vor-
derwagens dar und versteift die Karosserie. Im Crash-
fall (bis 16 km/h gegen eine feste Barriere) soll die
Crashenergie gezielt durch die Deformation des
Querträgers und der betreffenden Crashbox abgebaut
werden. Die Integration der Scheinwerfer und des
Stoßfängerüberzugs sind stark durch Designanforde-
rungen geprägt. Hier geht es darum, die sich ergeben-
den Spalten und Fugen klein und gleichmäßig zu
halten. Das Ziel aller Überlegungen ist es, dass sich
das gewünschte Bild am Montageband beim Fügen
des Frontends ohne Nachstellarbeiten ergibt [1]. Bild 6.1-44 Hochintegriertes Frontendmodul
6.1.5.2 Entwicklungs- und Fertigungskompetenz (Quelle: HBPO)
für Frontendmodule
Die Integration komplexerer Lichttechnik, ausge-
Für reine Montageprojekte liegt der Schlüssel zur er- reifterer Kühlerregelungen sowie von Sensoren für
wünschten Kostenreduzierung beim Einsatz von Fahrerassistenz und Crash-Management erhöht den
Frontendmodulen in sehr effizienter Just-In-Time, Elektronikanteil im Frontendmodul erheblich und
Just-In-Sequence Fertigung und einem effizienten führt zu der Herausforderung, hier innovative Integra-
Projektmanagement. Aufgrund der extrem hohen tionskonzepte zu entwickeln.
Variantenzahl (Wagenfarbe, Motorisierung/Kühlung, Mit den gesetzlichen Regelungen zum Fußgänger-
Beleuchtungsausstattung) kann jedes Modul erst auf schutz (EU Verordnung 2003/102/EC) in der festge-
Abruf gefertigt werden und muss dann genau in der legt ist, dass Pkw und leichte Nutzfahrzeuge ab
Reihenfolge der Fahrzeugproduktion am Montage- Oktober 2005 Tests für den Unterschenkel- und
band angeliefert werden, um aufwendige Zwischen- Kinderkopfaufprall bestehen müssen und ab Septem-
lagerungen zu vermeiden. Die entscheidenden Ferti- ber 2010 erhöhte Anforderungen auch für Oberschen-
gungsschritte in der Modulfabrik sind Montagen der kel- und Erwachsenenkopf gelten, gehen erhebliche
beigestellten Komponenten häufig durch Klipsen neue Anforderungen an Frontendmodule einher. Fla-
oder Schrauben. chere Kühlerkonzepte sind notwendig, um mehr
Werden auch die Entwicklungsumfänge modulbezo- Freiraum zwischen Außenhaut und den darunter lie-
gen vergeben, so stehen neben der Hauptaufgabe des genden Komponenten für Crashmaßnahmen im Hin-
Frontends, den Vorderwagen abzuschließen und zu- blick auf Oberschenkel- und Kinderkopfaufprall zu
sammenzuhalten, folgende Anforderungen im Fokus: bekommen. Optimierter Fußgängerschutz wird aber
• Umsetzung der Designaspekte des Automobilher- auch realisiert durch verstärkte Stoßfängerüberzüge
stellers oder den gezielten Einsatz von Fußgängerschutzquer-
• Integration von Lichttechnik und Kühlfunktion trägern unterhalb des Stoßfängers, die dem Körper
• Außenumströmung bei einer Frontalkollision eine Drehbewegung auf-
• Gewährleistung des Fußgängerschutzes zwingen, so dass er über die Motorhaube abrollt [1].
• Effizientes Crashmanagement Zu beobachten sind auch Entwicklungen das Frontend-
• Kostengünstige Montage oder Teile davon als Sensor auszulegen, z.B. indem
6.2 Materialien der Karosserie 415

Bild 6.2-1 Werkstoffeinsatz


BMW DIXI

optische Fasern eingearbeitet werden, um dann bei Form von Kutschen realisiert. Die entsprechenden
Störung der Transmission durch Druck auf das Modul Karosserien bestanden überwiegend aus Stahl und
aktive Fußgängerschutz- oder Crashmaßnahmen ein- Holz und wurden häufig auf Fahrgestelle montiert. Es
leiten zu können. dominierte die Einzelanfertigung auf Kundenwunsch;
erst später wurden im Zuge der zunehmenden Indust-
Literatur rialisierung kostengünstigere Herstell- und Bearbei-
[1] Div. Firmenschriften, HBPO GmbH, Lippstadt, hbpogroup.com tungsverfahren entwickelt. Im heutigen automobil-
[2] Opperbeck, Hassdenteufel, Krasenbrink, Cheron: Hochintegrier- technischen Großserienbau dominieren maßgeschnei-
tes Frontendmodul. ATZ 108, 2006 derte werkstofftechnische Systemlösungen, wobei im
Karosseriebau eine breite Materialvielfalt verwendet
wird, bestehend aus hochfesten und vergüteten Stäh-
6.2 Materialien der Karosserie len, Leichtmetallen, wie z.B. Aluminium und Magne-
sium, sowie thermoplastischen und duroplastischen
6.2.1 Historischer Rückblick
Kunststoffen [1] (Bilder 6.2-1 und 6.2-2).
In den Anfängen des Automobilbaus wurden Karos-
serieformen und -strukturen weitgehend nach der

Stahl, Eisen Gesamtgewicht


878 1899 kg

Leichtmetalle
366 Betriebs-
stoffe
106

Sonstige 10
Elektronik 6
Lack, Kleber 15
Sonstige Metalle
70 Verbunde,
Textilien
Thermoplastische Duroplastische Thermoplast. 39
Kunststoffe Kunststoffe Elastomere
Gewichtsangaben in kg 236 46 6
Elastomere Glas, Keramik
69 52

Bild 6.2-2 Werkstoffeinsatz im Pkw-Bau (Beispiel 7er BMW)


416 6 Aufbau

Kosten/Fahrzeuge
break even
point Aluminium space frame

Stahl Rohkarosserie

Kleinserien Großserien Fahrzeuge

Bild 6.2-5 Wirtschaftliche Betrachtung von Alumi-


nium Space Frame vs. Stahlkarosserie
Bild 6.2-3 Instrumententafel des Maybach Zeppelin
DS 7 (1930 bis 1937, Quelle: DaimlerChrysler) Im heutigen Großserienautomobilbau dominiert die
Blechschalenbauweise mit Stahlwerkstoffen; es wer-
Damit wird heute eine bestmögliche Zielerreichung den sowohl die Karosseriestruktur als auch die An-
in einer komplexen Anforderungsmatrix, bestehend bauteile gezielt auf die jeweilige Anforderung aus-
u.a. aus Leichtbau, Sicherheit, Steifigkeit, Zuverläs- gelegt. Diese Bauweise ist für hohe Stückzahlen
sigkeit, Umweltverträglichkeit und Kosten sicherge- wirtschaftlich; hohem Anlageninvest stehen günstige
stellt. Werkstoffkosten gegenüber.
Der Innenraum von Karosserien und hier speziell das Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Rohka-
Cockpit ist eine wichtige Schnittstelle zwischen Fah- rosserie komplett aus Aluminium zu fertigen. Dafür
rer und Technik. Die verwendeten Werkstoffe unter- eignet sich u.a. die Aluminium Space Frame Bau-
liegen einem ständigen Wandel, getrieben von stei- weise [3], welche aus einer Gitterrahmenstruktur aus
genden Anforderungen u.a. an Komfort, Design und Strangpressprofilen besteht (Kapitel 6.1.2). Diese
Ergonomie. Während in den frühen Jahren des Auto- Bauweise ist vor allem für Kleinserien besonders
mobilbaus für das Cockpit überwiegend Metalle, ökonomisch; die im Vergleich zu Stahl höheren
Holz und Leder zum Einsatz kamen (Bild 6.2-3), Werkstoffkosten des Aluminiums werden durch die
wird heute für derartige Anwendungen ein breites geringeren Investkosten für derartige Anlagen kom-
Spektrum an Kunststoffen und Textilmaterialien ver- pensiert (Bild 6.2-5). Bei neueren Fahrzeugmodellen
wendet [2] (Bild 6.2-4). findet man aus Leichtbaugründen auch Mischbauwei-
sen für die Karosseriestruktur aus Stahl und Alumini-
6.2.2 Konzepte und Bauweisen um; hierbei kann z.B. ein Aluminium-Vorderbau mit
Wird ein Auto in einem bestimmten Marktsegment der Stahlkarosse verbunden werden.
positioniert, so werden Stückzahlen und Verkaufspreis Ein Ansatz für zukünftige Karosseriekonzepte besteht
geplant. Dies hat große Einflüsse bzw. Konsequenzen in der Bauteil- und Funktionsintegration im Bereich
sowohl für die Funktion der Karosserie als auch auf der tragenden Strukturelemente im Verbund mit einer
deren Werkstoffauswahl. Die optimale Auswahl der optimierten Krafteinleitung und entsprechend ge-
Werkstoffe hängt von vielen Faktoren ab, da derselbe wählten Fertigungsverfahren [4].
Werkstoff sich nicht in jedem Projekt wirtschaftlich Eine Übersicht von Zielkonflikten bei der Entwick-
rechnet. lung von Karosserien gibt Tabelle 6.2-1. Der opti-
male Einsatz eines geeigneten Materials spielt nicht
nur in wirtschaftlicher sondern auch in technischer
Hinsicht eine große Rolle. Die ersten Überlegungen
müssen den grundlegenden Kriterien wie Kos-
ten, Verfügbarkeit, Verformbarkeit, Fügen usw. gel-
ten.
Der Zielkonflikt Steifigkeit – Festigkeit – Leichtbau
lässt sich anschaulich bei der Konzeption einer Ka-
rosserie verdeutlichen.
Das Leichtbau-Werkstoffkriterium für die Beulfestig-
keit der Trägerstruktur ist Rp 0 ,2 /r [6]. Somit kann
sie über die Werkstofffestigkeit erhöht werden. Um
eine Reduzierung der Blechdicke bei gleicher Beul-
festigkeit zu erreichen, muss die Festigkeit aber
überproportional angehoben werden, da die Festigkeit
Bild 6.2-4 Modulares Cockpitkonzept linear, die Blechdicke aber quadratisch bis kubisch in
(Quelle: Siemens VDO) die Beulfestigkeit einfließt. Das Potenzial höherfester
6.2 Materialien der Karosserie 417

Tabelle 6.2-1 Zielkonflikte im Karosseriebau


Konstrukteurziele Zielkonflikte
Einsatz des „idealen“ Werkstoffes Kosten, Korrosion, Fügen, Repara-
tur, Recycling, Vorschriften, . . .
Gleichzeitig hohe Festigkeit Bauraum steht in Konkurrenz
und Steifigkeit steifigkeitserhöhender Struktur-
maßnahmen wie Querschnitts-
erhöhung
Multifunktionalität des Bauteiles Werkstoffeigenschaften und
Herstellbarkeit
Leichtbau Akustische Auswirkungen
Design in Abhängigkeit der Stückzahl Richtige Werkstoffauswahl und
eventuelle Limitierung durch
Herstellprozess
Kreislauffähigkeit des Materials Kosten

Stähle in der Außenhaut ist deshalb geringer als bei Tabelle 6.2-2 Grundlegende Anforderungen an Roh-
Strukturteilen. karosseriewerkstoffe
Die Beulsteifigkeit der Schalenstruktur wiederum
berechnet sich nach dem Leichtbau-Werkstoffkri- Karosserie
terium 3 E /ρ und ist stark vom E-Modul abhängig Festigkeit
[6]. Da der E-Modul aber bei den Stählen ungefähr
gleich ist, ist keine Verbesserung bei der Verwendung Steifigkeit
von höherfesten Stählen zu erwarten. Grosses Poten- Leichtbau
zial ist bei der Substituierung des Stahles durch
Aluminium vorhanden, wenn man bei gleichem Wirtschaftlichkeit
Gewicht die Blechdicke erhöht, da die Dicke, je nach
Korrosionsbeständigkeit
Geometrie, zur 2ten oder 3ten Potenz eingeht.
Die Verwendung einer Aluminium-Lithium Legie- Fügbarkeit
rung führt zu einem besseren Verhältnis von mecha-
nischer Eigenschaft zu Masse, da der E-Modul erhöht Sicherheit
und die Dichte reduziert wird. Reparaturfreundlichkeit
Verringert man aus Gewichtsgründen die Stirnwand-
dicke, hat dies einen Einfluss auf die Akustikeigen- Optik
schaften des Innenraumes. Akustikmaßnahmen, wie Verfügbarkeit
Dämmmatten, welche hier Abhilfe schaffen würden,
sind meist teurer als eine Blechdickenerhöhung der Recyclingfähigkeit
Stirnwand.
Die verwendeten Werkstoffe sollen geeignet für Tabelle 6.2-3 Grundlegende Anforderungen an In-
Reparaturverfahren wie Ausbeulen, Schweißen, usw. nenraumwerkstoffe
sein. Die Konstruktion muss wirtschaftliche Repara-
turabschnitte berücksichtigen. Interieur
Haptik
6.2.3 Anforderungen
und Auslegungskriterien Optik
an die Werkstoffe der Karosserie Steifigkeit
Die Anforderungen an die Werkstoffe der Karosserie
Festigkeit
ergeben sich zuerst aus den funktionalen Eigenschaf-
ten des Fahrzeugs und einer gesamthaften Betrach- Wirtschaftlichkeit
tung der Prozesskette Presswerk – Karosseriebau –
Oberfläche. Energieaufnahme
Anforderungsprofile der Karosserie- und der Inte- Verfügbarkeit
rieurwerkstoffe sind in den Tabellen 6.2-2 und 6.2-3
zusammengefasst. Recyclingfähigkeit
418 6 Aufbau

Spannungsamplitude sa (log)

k
Bemessungswöhlerlinie (Pü ≥ 90 %)

sak

Betriebsbeanspruchungen k*
(Bemessungskollektiv, PE) k ′ = 2k – 1 oder 2k – 2
für die Berechnung der
Schadensakkumulation
102 103 104 105 Nk 107 108 109 L 1010
Bild 6.2-6 Betriebsfeste
Schwingspielzahl N (log)
Bemessung

Mit den ausgewählten Rohkarosserie-Werkstoffen Nach Festlegung der Werkstoffe bzw. Fügeverfahren
werden Schwingfestigkeitsuntersuchungen bis hin und Durchführung von Simulationen werden erste
zum Ausfall unterzogen und in Wöhlerdiagrammen Karossen mittels Betriebsfestigkeitsprüfungen zykli-
(Nennspannungsamplitude über der Schwingspielzahl) schen Belastungen unterzogen (Bild 6.2-7). Die
aufgetragen. Oft werden Dauerfestigkeitskennwerte Belastungsamplituden sind unterschiedlich in deren
(N > 106) angenommen, die es in der Realität in Häufigkeit, wobei auch Missbrauchsfälle abgedeckt
strenger Form nicht gibt. Die Schwingfestigkeit fällt werden müssen. Sicherheitskritische Bauteile sind so
nach dem Knick bei Nk der Wöhlerlinie weiterhin auszulegen, dass sie im Falle eines Missbrauches eine
leicht ab (Bild 6.2-6). Dadurch können Schäden im definiert plastische Verformung hinnehmen, bevor sie
6
Bereich von hohen Schwingspielzahlen (N > 10 ) komplett versagen.
unter konstanten Belastungsamplituden auftreten. Im Presswerk werden Themen wie Umformverhalten,
Vorhandene Erfahrungen erlauben aber eine Ab- notwendige Umformkräfte und das Schneidverhalten
schätzung des Wöhlerlinienverlaufes bis in den Be- des Werkstoffes berücksichtigt. Für das Fügen der
reich von Gigazyklen mit folgenden Neigungen nach Bauteile im Karosseriebau ist die Eignung der Werk-
dem Abknickpunkt: k* = 45 (5% Schwingfestigkeits- stoffe für die verschiedenen kalten und warmen Füge-
abfall pro Dekade) für Eisenbasiswerkstoffe und verfahren zu bewerten, wobei insbesondere das
Magnesiumlegierungen, k* = 22 (10 % Abfall) für Fügen unterschiedlicher Werkstoffe betrachtet wer-
Aluminiumlegierungen und Schweißverbindungen den muss. Beispiele sind Stahl-Aluminium Verbin-
mit hohen Zugeigenspannungen. Auf Grund des dungen.
beobachteten Abfalls der Schwingfestigkeit oberhalb Trotz aller gewichtssenkenden Maßnahmen steigt das
7
von 10 Schwingspielen wird die vorhandene IIW- Fahrzeuggewicht bei fast allen Automobilherstellern
Richtlinie (International Institute of Welding) zur an. Ein Grund hierfür ist, wie in Tabelle 6.2-4 ge-
schwingfesten Bemessung von geschweißten Kon- zeigt, in der zunehmenden Ausstattung der Fahr-
struktionen entsprechend überarbeitet [7]. zeuge zu suchen. Vergleicht man Karosserien mit

FE-Analyse mit Standardlastfällen


Absicherung der statischen Festigkeit
FE-Modell Lebensdauerberechnung

Prototyp
Serieneinführung

Mehrkörper-
simulation

Belastungen Experimentelle Absicherung

Vorgängermessung + evtl. Bestätigungsmessung


Messung an Versuchsträger
Bild 6.2-7 Lebensdauer-
Konzeptphase Bestätigungsphase Reifephase absicherung mit Hilfe von
Produktentstehungsprozess CAE (für die Standard-
lastfälle)
6.2 Materialien der Karosserie 419

Tabelle 6.2-4 Vergleich Oberklasselimousine BJ. 1975 vs. Mittelklasselimousine 2001

BMW 3,0 Si Bj. 1975 Δ Gewicht BMW 330i Bj. 2001


Fahrzeuglänge 4,70 m – 10 kg 4,47 m
Innenraumlänge ≈ 1.810 mm 1.883 mm
2
Aufstandsfläche 3,99 m + 5 kg 4,05 m2
Gewicht 1.440 kg 1.430 kg
Gerippegewicht 250 kg 260 kg
Beschl. 0 – 100 8,5 sec 6,5 sec
Steifigkeit ≈ 9.000 Nm/° + 35 kg ≈ 17.500 Nm/°
Δ Ausstattung Blech + 11 kg Türverstärkung, verstärkte Schlös-
ser und Sitzgestelle, . . .
Σ + 41 kg
Δ Ausstattung + 71 kg Klima/Heizung (25), 6 Airbags (6)
Kopfstützen, Gurtsysteme (6),
ABS, ASR (5), 5 Ganggetriebe (5),
Reversible Stoßfänger (10),
Fensterheber (4), 2. Spiegel (2),
Abgasreinigung (8)

ähnlicher Aufstandsfläche und Fahrzeuglänge • Crashrelevante Auslegung: (Kapitel 9): Ein stän-
(z.B. BMW 3,0Si und BMW 330i) müsste die Roh- diger Entwicklungsschwerpunkt ist die Verbesse-
karosserie des BMW 330i um 41 kg schwerer sein. rung des Insassenschutzes. Wie auch in der stati-
Tatsächlich sind es aber nur 10 kg bei einer Verdop- schen Auslegung (Steifigkeit) nimmt hierbei die
pelung der Steifigkeit. Dies entspricht einer Ge- Simulation einen besonderen Schwerpunkt ein, da
wichtseinsparung von 31 kg oder 12 %, die über sich mit ihr schon in der Konzeptphase wirksame
konstruktive Maßnahmen, verbesserte Fügeverfahren Maßnahmen in die Karosseriekonstruktion integ-
und Reduzierung der Blechdicke durch z.B. Ver- rieren und absichern lassen. Die zuvor beschrie-
wendung von höherfesten Stählen erreicht worden benen guten statischen und dynamischen Eigen-
sind [8]. schaften bilden eine hervorragende Basis zur
Leichtbau und Gewichtsreduzierung im Automobil- Crashoptimierung.
bau sind nicht nur in Kilogramm zu messen, sondern • Gewichtsoptimierte Auslegung: Zusätzlich zu den
auch in Relation zu den erreichten Funktionen und drei vorher genannten Auslegungskriterien spielen
der Größe zu betrachten. Die Auslegung der Rohka- der Kraftstoffverbrauch und die Fahrdynamik eine
rosseriestruktur erfolgt hauptsächlich nach struktur- bedeutende Rolle. Aus Sicht der Karosserie wird
dynamischen, statischen, crashrelevanten und ge- der Verbrauch neben der Aerodynamik vom Fahr-
wichtsoptimierten Gesichtspunkten. zeuggewicht geprägt. Durch die selbstragende, op-
• Strukturdynamische Auslegung: (Kapitel 3.4): Ziel timierte Bauweise der Karosserie ging der Anteil
ist das Erreichen der schwingungstechnischen und der Rohkarosserie am Leergewicht trotz der Funk-
akustischen Ziele. Diese Anforderungen sind in tionssteigerungen deutlich zurück [9].
den letzten Jahren weiter gestiegen. Sie erweisen Es wurde, ausgehend von den wichtigsten Karosserie-
sich in zunehmendem Maße als die treibende funktionen und den dazu definierten Zielen, die
Kraft bei der Dimensionierung von guten Karosse- spezifische Leichtbauquote oder der Leichtbaugüte-
riestrukturen. Als ein Maßstab für die dynamische wert L definiert, welcher der Quotient aus dem benö-
Güte einer Karosserie kann das Schwingungsver- tigten Gerippegewicht mGer (ohne Scheiben) pro
halten im Leerlauf betrachtet werden. Torsionssteifigkeit Ct (mit Scheiben) und der zugehö-
• Statische Auslegung: Bei der statischen Auslegung rigen Aufstandfläche A (Spur × Radstand) ist (Bild
geht es primär um die steifigkeits- und festigkeits- 6.2-8).
relevante Optimierung der Karosseriekonstruktion Dieser Leichtbaugütewert L, also Gewicht pro Funk-
für das quasistatische Fahrverhalten wie z.B. Ver- tion und Größe, zeigt, welche gravierende spezifische
windung der Karosserie bei Kurvenfahrten. Gewichtsreduktion die Stahlkarosse in den letzten
420 6 Aufbau

1982
1981 7,88
Mit Durchlade-
7,73
möglichkeit
1990
1977 6,15
6,25
1998 W1010-2
4,93
1988
1986 4,12
1995 2005
4,12
3,67 3,63 A
2003
2,99 L101
1994
2,17 2010
2001 2,20 W1010-1
2,01
Ohne Durch- 2008 3’er
lademöglichkeit 1,90 L Leichtbaukoeffizient
5’er mGer Karosseriegerippegewicht
(ohne Türen und Klappen)
7’er Ct stat. Torsionssteifigkeit
mGer kg
L= · 103 (mit Scheiben und Streben usw.)
Ct · A Nm/° · m2 A Aufstandsfläche

Bild 6.2-8 Entwicklung des funktions- und größenbezogenen Gerippegewichtes

Jahren erfahren hat. Erreicht wurde die Verbesse- 6.2.4 Typische Karosseriewerkstoffe
rung von L durch bessere Konstruktionen, bes-
sere Fügeverfahren (Laserschweißen, Kleben, . . .) 6.2.4.1 Stahlwerkstoffe
und durch neu entwickelte Werkstoffe. Die Funktio- Bild 6.2-9 zeigt, dass die über das Rohkarosseriege-
nen wie statische, dynamische Steifigkeiten und wicht gemittelte Mindestdehngrenze der eingesetzten
passive Sicherheit haben bei annähernd gleichem Stähle in den letzten Jahren stark zugenommen hat.
Flächengewicht einen hohen Stand erreicht. Daher Zur Reduzierung des Karosseriegewichts und wegen
gilt es zukünftig unter Beibehaltung dieser Funktio- des Wettbewerbs mit Leichtbauwerkstoffen wie Alu-
nen, alle Anstrengungen, sich auf die Reduzierung minium, Magnesium und Kunststoff wurden in den
des Flächengewichtes zu konzentrieren und somit letzten Jahren neue Stahlsorten entwickelt. 50 % der
eine weitere Verbesserung der Leichtbaugüte zu heute verfügbaren Sorten wurden in den letzten
erzielen. 10 Jahren entwickelt oder zumindest optimiert [8].

500
n

450
ΣR · m
i=1
p0,2i i
Rp0,2 =
Mittlere Mindestdehngrenze Rp0,2 [MPa]

400
Σm i=1
i
7 er
5 er
n Anzahl Bauteile
350 m Gewicht der Bauteile
5 Gran Turismo
Rp0,2 Mindestdehngrenze

X5 X6 5 er Touring
300 3 er Lim
3 er Touring 3 er Coupé
1 er
250 7 er 5 Serie 6 er Cabrio
3 er Touring 6 er Coupé
Z4 Coupé
5 er 5 er Touring
3 er Lim Z4
200
X5 3 er Compact
7 er 5 er Touring 3 er Coupé 3 er Cabrio
150

1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012
Serienstart

Bild 6.2-9 Entwicklung der Mindestdehngrenzen von typischen Karosseriestahlwerkstoffen


6.2 Materialien der Karosserie 421

Bei den bisher üblichen kaltgewalzten Stählen reicht ist, so dass er bei der Türaußenhaut voll zum Tragen
das Festigkeitsspektrum von speziellen Tiefziehsorten kommt.
wie DX56 oder DC06 mit einer Mindestfestigkeit von Die Kaltverfestigung von IF-Stählen (Y-Stählen) und
120 MPa bis zu mikrolegierten Sorten mit 420 MPa. isotropen Stählen ist größer als die von bake harde-
Warmgewalzte Stähle erreichen heute schon Zugfes- ning Stählen. Bei stärker umgeformten Bauteilen
tigkeiten von über 1.200 MPa, kaltgewalzte Stähle kann die Kaltverfestigung dieser Stähle alleine größer
gleicher Festigkeit sind in Entwicklung. In den meis- sein, als die Kaltverfestigung plus Festigkeitssteige-
ten Festigkeitsklassen stehen unterschiedliche Stahl- rung durch Wärmebehandlung bei bake hardening
sorten mit unterschiedlichen Eigenschaften zur Ver- Stählen. In diesen Fällen bieten sich isotrope Stähle
fügung. für Bauteile mit Streckziehbeanspruchung und IF-
In Tabelle 6.2-5 ist eine Struktur und Klassifizierung Stähle für Bauteile mit Tiefziehbeanspruchung an.
der Stahlwerkstoffe abgebildet. Oft werden Stähle Die überwiegend durch Streckziehen hergestellte
wie DP600 nach der maximalen Festigkeit, der Zug- Frontklappe ist ein Beispiel für die Verwendung
festigkeit, bezeichnet. Um bei der Bauteilauslegung isotropen Stahls.
auf der sicheren Seite zu sein, muss aber der worst Darüber hinaus ist zu beachten, dass bei Strukturtei-
case, also die minimale Dehngrenze herangezogen len im Fahrzeuginneren, insbesondere in Bereichen
werden. von Blechdopplungen und Knotenpunkten die für
Werkstoffe und Blechdicken in der Außenhaut sind entsprechende bake hardening Effekte erforderlichen
u.a. nach der Beulfestigkeit (z.B. bei Hageleinwir- Temperatur-Zeitverläufe in den Trocknerprozessen
kung) und Beulsteifigkeit (Einbeulen der Heckklappe nicht immer erreicht werden. Die Festigkeitssteige-
beim Anschieben des Fahrzeuges) auszulegen. rung durch bake hardening ist in diesen Bereichen
Bake Hardening Stähle haben sich in vielen Berei- deshalb häufig gegenüber der Kaltverfestigung bei
chen der Außenhaut durchgesetzt, da sie im weichen der Umformung gering.
Zustand gut umformbar sind und durch die Erwär- Dualphasenstähle (DP-Stähle) sind ab Festigkeiten
mung im Lackierprozess eine zusätzliche Festigkeits- von 270 MPa verfügbar. Für die Außenhaut können
steigerung erfahren. Bake hardening Stähle zeichnen Bleche dieser Festigkeit nur eingesetzt werden, wenn
sich dadurch aus, dass der bake hardening Effekt das Design begrenzte Anforderungen an die Umform-
gerade in gering umgeformten Bereichen relativ groß technik stellt. Um das Potenzial der DP-Stähle voll

Tabelle 6.2-5 Klassifizierung der Stahlsorten nach Festigkeit und weiteren Eigenschaften
(H = Höherfester Stahl; B = Bake hardening Stahl; Y = IF (interstitial free) Stahl; I = Isotroper Stahl; X = Dual-
phasen Stahl; T = TRIP Stahl)
Rp0.2 Referenz für Zusätzliche Hohe Kaltver- Streck- Verbesserte Um- Deutlich bessere
[MPa] Tiefziehen Festigkeit durch festigung und ziehen formbarkeit bei Umformbarkeit
Bake Hardening bake hardening höheren Material- bei deutlich höhe-
bei geringer Um- bei großer Um- kosten ren Kosten
formung formung
120 DC06, DX56 DC07, DX57
140 DC04, DX54
160 H160Y H160B
180 H180Y H180B
220 H220Y H220B H220I
260 H260Y H260B H270X H260I
300 H300B H300X H300I Austenit
340 H340LA H340X Austenit
380 H380LA Austenit
420 H420LA H400T H400T Austenit
500 H500X
700 CP-W 800
1.000 MS-W 1200 Warmumform-
bare Borstähle
422 6 Aufbau

auszuschöpfen, muss die Umformung aber so groß • Anlieferungszustand des Platinen


wie möglich sein. DP-Stähle weisen einen bake • Zunahme der Festigkeit bei der Umformung
hardening Effekt auf. Im Gegensatz zu den bisherigen • Zeit-Temperaturverlauf der nachfolgenden Wär-
bake hardening Stählen ist die Verfestigung bei mebehandlungen (Bild 6.2-10)
geringer Bauteildehnung aber gering und nimmt erst Im Gegensatz zu 5xxx Legierungen haben die 6xxx
mit zunehmender Dehnung zu. Bei geringer Um- den Vorteil, dass bei einer Umformung keine
formung kann deshalb ein bake hardening Stahl Oberflächenunebenheiten in Form von großen flam-
gleicher Ausgangsfestigkeit zu höherer Beulfestigkeit menförmigen Mustern (Fließfiguren Typ A) oder in
führen. Form von feinen Streifen (Typ B) auftreten. In Euro-
pa setzen sich die Legierungen AA6016 oder die
6.2.4.2 Aluminiumlegierungen AA6181A für Außenhautanwendungen durch, woge-
Die Bedeutung von Aluminium als Karosseriewerk- gen in Japan großteils AlMg(Cu) Legierungen und in
stoff hat aufgrund seiner geringen Dichte, der hohen Nordamerika höherfeste AA6111 und AA6022 ver-
spezifischen Festigkeit und Steifigkeit, seiner Korro- wendet werden. Neue Entwicklungen gehen speziell
sionsbeständigkeit und seiner passablen Umformbar- das Problem der Entstehung der Fließfiguren bei
keit in den letzten Jahren stark zugenommen. 5xxx Legierungen an und die AA5182ffa (fließfigu-
Aluminiumlegierungen werden abhängig vom Her- renarm) kann als Alternative angesehen werden. Die
stellungsverfahren in zwei Hauptgruppen eingeteilt: bessere Umformbarkeit ermöglicht eine komplexere
Plastisch verformbare Knetlegierungen und Gussle- Bauteilgestaltung, wobei auch die geringeren Herstel-
gierungen. Innerhalb dieser beiden Hauptgruppen lungskosten als Vorteile zählen (Tabelle 6.2-6).
kann man zwischen aushärtbaren und nicht aushärtba- Schmelz- und pulvermetallurgisch hergestellte Alu-
ren (naturharten) Legierungen unterscheiden. miniumschäume haben den Vorteil niedriger Dichte
Für die Karosserie stehen hauptsächlich die Produkt- (0.2 g/cm3) bei einer Porosität von knapp 90 Prozent.
formen Blech, Profil und Gussteile zur Verfügung. Die Potentiale sind einerseits in der Verwendung als
Bei den Blechlegierungen sind im Karosseriebereich
vorrangig die 5xxx (Al-Mg Basis, nicht aushärtbar)
200
und die 6xxx (Al-Mg-Si Basis, aushärtbar) Legierun-
gen im Einsatz.
190
Die Legierungen der 5xxxer Gruppe sind naturhart,
d.h. sie erfahren lediglich während der Umformung 180
eine Kaltverfestigung, die nicht weiter gesteigert
werden kann. Wenn eine Umformung notwendig ist,
Dehngrenze [MPa]

170
müssen diese Legierungen nach dem Walzen voll-
ständig weichgeglüht werden. Während der Umfor- +20 MPa
160
mung im Presswerk erfahren sie eine Kaltverfesti-
gung, welche während des KTL-Prozesses (Kathodi- 150 +5 MPa
sche Tauch Lackierung) wieder teilweise zurückge-
hen kann. Neue Entwicklungen auf dem Gebiet sind 140
Aluminiumlegierungen mit einem gut umformbaren
und gleichzeitig festen Kern aus AlMg5,7Mn und 130
einer beidseitigen Decklage aus AlMg1. Die Legie-
120 Anlieferzustand Umformen Aushärtung Lack
rungen der 6xxxer Gruppe verhalten sich hier anders,
denn sie können bei einer Warmauslagerung nach der Anlieferzustand Umformen Aushärtung Lack Potential
Umformung mit einem entsprechenden Temperatur-/
Zeitkollektiv noch eine Festigkeitssteigerung erfah- Bild 6.2-10 Steigerung der Dehngrenze nach den
ren. einzelnen Verfahrensschritten zur Erreichung der
Die Festigkeit des fertigen Bauteiles wird somit ent- endgültigen Festigkeit am Motorträger aus AlSi0,
schieden beeinflusst von 6Mg0,5

Tabelle 6.2-6 Einsatzbeispiele von Aluminium

Außenhaut Frontklappe AA6016 bördeloptimiert


Seitenwände AA6016 bördeloptimiert
Innenblech Frontklappe AA5182
Seitenwände vorne AA5182
Strukturteile Vorderbau AlMg3,5Mn(0,5)
6.2 Materialien der Karosserie 423

60

50
Dehnung A80 [%]

40
Duktilität

30

20

10

0
0 20 40 60 80 100 120 140
Spezifische Dehngrenze Bild 6.2-11 Duktilität über
Rp0,2/r [MPa/g/cm3]
spezifischer Dehngrenze

Energieabsorber (A-Säule) oder aber als Schallisolie- schaftliche Herstellung von geometrisch komplexen
rung zu finden. Bauteilen bei geringen Wandstärken erlaubt. Auch die
längeren Werkzeugstandzeiten im Druckguss sind ein
6.2.4.3 Magnesiumlegierungen Vorteil.
Magnesium hat eine geringere Dichte (1,74 g/cm3) als
Aluminium und ist daher um etwa ein Drittel leichter 6.2.4.4 Kunststoffe
als Aluminium. 2,7 Gewichtsprozent der Erde sowie Kunststoffe werden seit Mitte der 70er Jahre mit
0,13 % der Weltmeere bestehen aus diesem Leicht- Erfolg im Karosseriebereich eingesetzt. Generelle
metall, was dessen Verfügbarkeit auf mehrere Jahr- Anforderungen an Karosserieaußenhautbauteile aus
hunderte sichert. Die Kennwerte wie spezifische Kunststoff sind: Ausreichendes mechanisches/thermi-
Festigkeit (E/r) und die auf Dichte normierte Steifig- sches Eigenschaftsprofil, Class-A Oberfläche, geeig-
keit sind ebenfalls besser als von einigen Stahlsorten netes Bruchverhalten, Lackierfähigkeit und niedrige
(Bild 6.2-11 und Tabelle 6.2-7). Magnesium kann Wärmeausdehnung.
als Strangpressprofil, als Gussmaterial und – eher Beleuchtet man die Hintergründe und Entscheidungs-
noch selten – als Blech konstruktiv eingesetzt wer- kriterien bei der Auswahl eines Kunststoffsystems für
den. Dennoch ist die Verbreitung im Karosseriebe- eine Anwendung, so stellt man fest, dass ein System
reich aufgrund der hohen Korrosionsneigung, den dann ausgewählt wird, wenn es im Vergleich zu
Materialkosten und der aufwendigen Verarbeitung anderen Werkstoffsystemen unter Berücksichtigung
derzeit noch gering. Der Korrosion versucht man mit der Kriterien
der Verwendung von HP (high purity)-Legierungen
entgegenzuwirken, welche sich durch geringe Eisen-, • Design
Kupfer- und Nickelgehalte auszeichnen. • Maßhaltigkeit
Magnesium lässt sich im kalten Zustand aufgrund • Integration
seiner hexagonalen Gitterstruktur sehr schlecht um- • Korrosion
formen. Daher werden Magnesium-Knetlegierungen • Oberfläche
hauptsächlich durch Strangpressen, Warmpressen • Bruchverhalten
oder Walzen umgeformt. • Kosten
Magnesium-Gusslegierungen können im Vakuum • Gewicht
Druckguss hergestellt werden, welches eine wirt- zu deutlichen Vorteilen kommt (Tabelle 6.2-8).

Tabelle 6.2-7 Materialeigenschaften


E-Modul [Mpa] Dichte [g/cm³] Rp02 [Mpa] E/ρ √E/ρ ³√ E/ρ Rp0,2/ρ √Rp0,2/ρ
DC 04 210000 7,85 185 26752 58,4 7,6 23,6 1,7
H 300 B 210000 7,85 340 26752 58,4 7,6 43,3 2,3
Borstahl 210000 7,85 1100 26752 58,4 7,6 140,1 4,2
AlMg5Mn 70000 2,70 185 25926 98,0 15,3 68,5 5,0
AlSi1,2Mg0,4 70000 2,70 260 25926 98,0 15,3 96,3 6,0
AZ 91 T6 (Mg-Guss) 45000 1,75 200 25714 121,2 20,3 114,3 8,1
TiAl 6 V 4 F89 (Titan-Blech) 110000 4,50 820 24444 73,7 10,6 182,2 6,4
GFK (║, 55%) 40000 1,95 950 20513 102,6 17,5 487,2 15,8
GFK (┴, 55%) 12000 1,95 475 6154 56,2 11,7 243,6 11,2
AFK (║, 55%) TM-Typ 70000 1,35 1500 51852 196,0 30,5 1111,1 28,7
AFK (┴, 55%) TM-Typ 6000 1,35 750 4444 57,4 13,5 555,6 20,3
CFK (║, 55%) 110000 1,40 1100 78571 236,9 34,2 785,7 23,7
CFK (┴, 55%) 8000 1,40 700 5714 63,9 14,3 500,0 18,9
GF-PA-12 (║, 54%) 35400 1,70 600 20824 110,7 19,3 352,9 14,4
GF-PA-12 (┴, 54%) 4400 1,70 65 2588 39,0 9,6 38,2 4,7
Glas (massiv) spröde 70000 2,50 1000 28000 105,8 16,5 400,0 12,6
424 6 Aufbau

Tabelle 6.2-8 Vergleich der Werkstoffe (Beispiel Seitenwand 6er BMW)


Werkstoffe Stahl Aluminium Thermoplast SMC RRIM
Gewicht pro
Bauteil [kg] 4,5 2,5 2,5 2,9 3,2
Wandstärke
[mm] 0,8 1,2 3 2,1 3,5
Lackierszenario online online inline online inline
Herstellkosten
[%] 100 170 100 120 150

Bauteile, die bereits im Rohbau an die Karosserie Bruchverhaltens bieten. Die Vorteile von Thermo-
montiert werden und den gesamten Lackierprozess plasten sind Gewicht, Designfreiheit und die gute
(On-line-Lackierung) des Fahrzeuges durchlaufen, Oberflächenstruktur.
sind Temperaturen bis 200 °C im KTL-Trockner
ausgesetzt. Wird das Bauteil nach dem KTL-Trock- 6.2.4.4.1 Thermoplaste
ner-Durchlauf an die Karosserie gebaut (In-line), Es sind seit längerem Thermoplaste auf dem Markt
erreichen die maximal auftretenden Temperaturen erhältlich, welche die Anforderungen, die an eine
etwa 160 °C. Der Einfluss der Temperaturbelastung Kunststoffaußenhaut gestellt werden, im wesentli-
auf die Eigenschaften des Klebstoffes muss bei der chen erfüllen. Im Bereich der konventionell lackier-
Bauteilauslegung bereits im Vorfeld berücksichtigt ten Thermoplast-Spritzgießbauteile kann prinzipiell
werden. Aufgrund der Forderung nach Online- bzw. zwischen zwei Werkstoffgruppen unterschieden wer-
In-line-Lackierung sowie mangelnder Wirtschaftlich- den, welche aufgrund der unterschiedlichen Wärme-
keit und geringem Gewichtspotenzial werden PUR- formbeständigkeit als Offline bzw. Inline/Online-
(R)RIM (Reinforced Reaction injection moulding) Kunststoffe eingesetzt werden und in der Tabelle
Werkstoffe überwiegend nur noch für Stoßfängerver- 6.2-9 verglichen werden.
kleidungen eingesetzt.
Bild 6.2-12 zeigt, dass Sheet Mould Compounds Offline-Kunststoffe
(SMC) Vorteile bezüglich des niedrigen Längen- Diese Kunststoffe weisen ein relativ gutes mechani-
ausdehnungskoeffizienten, der Steifigkeit und des sches Eigenschaftsprofil auf und sind in dieser Hin-

Werkstoffvergleich SMC – Thermoplast


SMC
Längenausdehnung
2
Thermoplast

Temperaturbeständigkeit Mech. Kennwerte


1

Emission Bauteilgewicht
–1

–2

Bruchverhalten Maßhaltigkeit

Designfreiheit Oberfläche
Bild 6.2-12 Werkstoff-
vergleich SMC – Thermo-
Langzeitverhalten
plast

Tabelle 6.2-9 Eigenschaftsprofil von Online- bzw. Inline lackierten Kunststoffen (k.B. = kein Bruch)
Eigenschaft Einheit Prüfnorm Off-line On-line
Biege-E-Modul N/mm2 DIN 53457 3.300 1.800
Schlagzähigkeit KJ/m2 DIN 53453 k.B. k.B.
Kerbschlagzähigkeit KJ/m2 DIN 53453 18 45
Zugfestigkeit N/mm2 DIN 53455 55 45
Reißdehnung % DIN 53455 23 50
Längenausdehnungskoeff. 10-6/K DIN 53752 45 90
Vicat B/50 Erweichungs-Temperatur °C DIN 53460 130 175
6.2 Materialien der Karosserie 425

sicht den Inline/Online-Kunststoffen deutlich über- sowie Polyurethane. Während bei den Thermoplast-
legen. Die Wärmeformbeständigkeit ist jedoch we- werkstoffen verschiedene Eigenschaftsprofile durch
sentlich niedriger einzustufen. Die Hauptnachteile deren Vielfalt abgedeckt werden, geschieht hier die
dieser Werkstoffe sind in der Farbgebung, dem soge- Einstellung der Eigenschaften größtenteils über die
nannten Farbmatching, zu sehen, da diese Bauteile Rezeptur, Art und Richtung der Verstärkungsfasern
separat lackiert werden und mit der Karosserie hin- und über den Faseranteil.
sichtlich der Farbeigenschaften (Farbton, Glanz, Das Recycling von Duroplasten ist durch den Mahl-
Brillanz) übereinstimmen müssen. Hinzu kommt, und Sichtprozess sehr aufwändig und führt zu einer
dass der separate Lackierprozess sehr kostenintensiv Verteuerung der Produkte (Füll- und Verstärkungs-
ist und einen entsprechenden logistischen Aufwand in stoffe).
der Montage erfordert.
6.2.5 Sortenreine Beispiele
Inline/Online-Kunststoffe
6.2.5.1 Stahl Seitenrahmen
Diese Kunststoffe weisen deutlich niedrigere mecha-
Dieses Bauteil ist ein schwieriges Karosserieteil, da
nische Eigenschaften als die Offline-Kunststoffe auf,
sowohl hohe Ziehtiefen (Türausschnitte) als auch
mit Ausnahme der deutlich höheren Wärmeformbe-
hochwertige Außenhautqualität erreicht werden muss.
ständigkeit. Dadurch ist eine Lackierung mit der
Bisher konnten dafür nur weiche Tiefziehsorten
Karosserie möglich, so dass keine Farbmatching-
DC04 oder DX54 verwendet werden, in einigen
Probleme bei der Herstellung entstehen. Für die
Fällen waren sogar Sondertiefziehsorten DC06,
Funktion sind jedoch deutliche Nachteile gegenüber
DX56, DC07 oder DX57 erforderlich.
den Offline-Thermoplasten vorhanden.
Bild 6.2-13 zeigt, welcher Teil des Seitenrahmens bei
6.2.4.4.2 Duroplaste Frontal-, Seiten- und Heckcrash beansprucht wird.
Durch höhere Festigkeit lässt sich die Blechdicke bei
Zahlreiche Kriterien, wie die große Formfreiheit, gleicher Crashperformance reduzieren und Gewicht
Funktionsintegration und die Wirtschaftlichkeit bei sparen.
niedrigen Stückzahlen sprechen für Duroplaste (Ta- Bei einer aktuellen Oberklasselimousine wird mit
belle 6.2-10), deren Einführung in der Außenhaut einem H180Y ein höherfester Stahl für einen Seiten-
bereits viele Jahre zurückliegt. Von diesen Werkstof- rahmen eingesetzt. Die Blechdicke kann bei vergleich-
fen werden bei vergleichbarem Gewicht gleiche barer Crashperformance gegenüber einem weichen
Funktionalitäten wie bei einer Metallkonstruktion Stahl um 0,1 mm reduziert werden was einer Ge-
vorausgesetzt. Durch neueste Entwicklungen werden wichtseinsparung von 4 kg pro Fahrzeug entspricht.
porenfreie Bauteile mit einer entsprechenden Class- Die Einsparung weiterer 4 kg durch Einsatz eines
A-Oberfläche erreicht. Diese Bauteile können im Roh- H220Y ist nicht möglich, da mit diesem Werkstoff,
bau montiert werden und durchlaufen den gesamten wie Bild 6.2-14 zeigt, die Grenzen der Umformbar-
Lackierprozess. Optimierte Emissionswerte und gute keit überschritten sind. Auch der Einsatz eines
Recyclingkonzepte haben die Situation für diese H180B ist nicht möglich. Dieser führt in weniger
Werkstoffgruppe in den letzten Jahren deutlich ver- stark umgeformten Bereichen, insbesondere im Au-
bessert. ßenhautbereich, zwar zu einer zusätzlichen Festig-
Die für Anwendungen in der Außenhaut bedeutungs- keitssteigerung durch den Bake Hardening Effekt, die
vollsten Verfahren sind SMC und RRIM. Die Harz- Tiefziehbeanspruchung in diesem Bauteil ist aber so
systeme erstrecken sich über das Spektrum der un- hoch, dass für eine prozesssichere Fertigung der für
gesättigten Polyester-, Vinylester- und Epoxyharze Tiefziehen optimierte IF-Stahl H180Y erforderlich
ist.
Tabelle 6.2-10 Duroplaste (BMC = Bulk moulding
compound; UP = ungesättigter Polyester) Heckcrash
Frontcrash
Kunststoffe
und Kunststoff Verfahren Oberfläche
Technologie
Online
SMC UP - GF Pressen
Lackierung
Inline-
BMC UP - GF Spritzgiessen
lackierfähig
Offline-
RIM PUR Schäumen Seitencrash
Lackierung
Inline- Bild 6.2-13 Im Crash beanspruchte Bereiche des Sei-
R RIM PUR -GF Schäumen
lackierfähig tenrahmens außen
426 6 Aufbau

Weicher Tiefziehstahl Höherfester Stahl bau entsteht durch Fügen mit speziellen Nieten und
DC05 H220Y Kleben. Durch diese Bauweise kann das Gewicht um
10 kg pro Fahrzeug im Vergleich zu einer gleich
Risse dimensionierten Stahltür reduziert werden.
6.2.5.3 Magnesium Instrumententafelträger
Die Einsatzgebiete von Magnesium erstrecken sich
eher auf den Innenbereich wie z.B. Instrumenten-
tafelträger. Mit einer Integration mehrerer Kompo-
nenten kann hier bei einem mittels Druckgussver-
Oberflächen- fahren hergestellten I-Tafelträger (Bild 6.2-16) ein
unruhen
Gewichtsvorteil von ca. 3 kg im Gegensatz zu einer
Stahlvariante erreicht werden. Ein geschweißter Trä-
ger würde aus 25 Teilen bestehen. Zur Beherrschung
der Korrosion muss gewährleistet werden, dass sich
kein Elektrolyt an den Berührungsflächen zur Stahl-
karosserie sammeln kann.
Bild 6.2-14 Ziehkritische Bereiche in Seitenrahmen
außen 6.2.5.4 Hardtop als Sandwichkonstruktion
Die Vorteile des verwendeten Werkstoffs, PUR-
6.2.5.2 Aluminium Seitentür GF/PUR Schaum Sandwich mit PUR Gießelastomer-
Die in Schalenbauweise hergestellte Seitentür muss coating gegenüber Aluminium sind u.a. durch De-
die gleichen Sicherheits- und Steifigkeitsziele wie signfreiheit und Fertigungsprozess gegeben. Voraus-
eine Stahltüre aufweisen (Bild 6.2-15). Erreicht wird setzung hierbei ist die werkstoffgerechte Konstruk-
dies durch eine Alu-Schalenbauweise mit zwei V- tion. Werkzeugsystem und Oberflächenveredelung
förmig angeordneten Versteifungsstreben (Strang- müssen für diese Anwendung angepasst werden. Bei
pressprofile) und einer Türverhakung. In hohen Stückzahlen von ca. 5.000 über die Laufzeit verteilt
dauerbelasteten Bereichen werden Verstärkungen aus ergeben sich Kostenvorteile gegenüber einem Alumi-
hochfestem Aluminium eingesetzt. Der Zusammen- nium-Hardtop.

6.2.6 Mischbauweisen
6.2.6.1 Mischbau in der Karosserie
Für Agilität und Dynamik eines Fahrzeugs spielt nicht
nur das Gesamtgewicht, sondern auch die Gewichts-
verteilung eine entscheidende Rolle. Strebt man eine
gleichmäßige Achslastverteilung von je 50 % auf die
Vorder- bzw. Hinterachse an, kann der Vorderbau,
aufgrund des schweren Motors, aus Leichtmetall be-
stehen und an die Stahlkarosserie angebunden werden.
Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass der Alumini-
umvorderwagen im Falle eines Crashs die Verfor-
mungsenergie, bei kontrollierter Verformung, sehr gut
absorbiert, hingegen die Fahrgastzelle sich nicht ver-
formt. Bei diesem Konstruktionsprinzip müssen unter-
schiedliche Wärmeausdehnungen von Stahl und Alu-
Bild 6.2-15 Tür in Schalenbauweise (rot = Stahl, minium, mögliche Kontaktkorrosion sowie kosten-
andere = Aluminium) günstige Reparaturkonzepte berücksichtigt werden.

Bild 6.2-16 Mg I-Tafelträger


aus AM60
6.2 Materialien der Karosserie 427

Stähle/Festigkeitsklassen
Sonst. Stähle
DC 03/04/06
DX 54
DX 56
180 MPa
220 MPa
260 MPa
300 MPa
340 MPa
380 MPa
400 MPa
420 MPa
500 MPa
680 MPa
950 MPa

Aluminium
AlMg3,5Mn
AlMg3,5Mn0,5
AlMg4,5M0,4
AlMg4,5Mn0,4H24
AlMg0,4Si1,2
AC-300 HF
AlMgSi
AlMgSi1
>320 MPa
Guss
Kunststoffe
Allgemein
Thermoplast
Duroplast

Sonstiges (Bolzen, usw.)

Bild 6.2-17 Stahlkarosserie mit Aluminiumvorderbau

Durch den Einsatz von Aluminium im Vorderbau


einer oberen Mittelklasselimousine wurde eine Ge-
wichtsreduzierung in Höhe von ca. 20 kg erreicht
(Bild 6.2-17).
Die Design-Anforderungen hinsichtlich Flächenver-
lauf und charakterbildenden Sicken am Fahrzeug
wachsen stetig. Gestalterische Einschränkungen, in-
dem z.B. nur gewisse Radien oder Verprägungen
zulässig oder Flächenbombierungen im Wechsel
zwischen konkav und konvex untersagt sind, ermög- Bild 6.2-18 BMW 3er Coupé
licht der Einsatz von Thermoplasten eine Umsetzung
gerade dieser charakteristischen Formen. In diesem
Fall lässt sich mit einer Seitenwand vorne aus einem
Thermoplasten gegenüber der Stahlvariante ca. 3 kg
Gewicht pro Fahrzeug einsparen. Aus diesen Grün-
den bestehen die vorderen Seitenwände beim BMW
3er Coupé (Bild 6.2-18) aus einem mineralverstärk-
ten Thermoplasten, der noch dazu eine kostengünsti-
ge Online-Lackierung erlaubt.
Die Realisierung hängt entscheidend davon ab, die
hohe Wärmedehnung konstruktiv in den Griff zu be-
kommen (Bild 6.2-19). Einerseits muss das Fugenbild
passen, anderseits dürfen bei einer zu großen Behin-
derung der Wärmedehnung keine optisch sichtbaren
Oberflächenunebenheiten entstehen. Gelöst wurde Bild 6.2-19 Detailansicht Thermoplast Seitenwand
428 6 Aufbau

chengestaltung und dem Akustikverhalten des Cock-


pits ein wachsendes Augenmerk. Diese Dekorations-
verfahren reichen vom Softlackieren über das Hinter-
spritzen oder Hinterprägen von Kunstleder oder
Softtouchfolien bis hin zum Einsatz von Gießhäuten.
Die individuellen Vor- und Nachteile der einzelnen
Verfahren sind in Tabelle 6.2-11 zusammengefasst.
Speziell für Fahrzeuge der Kompaktklasse, die unter
einem besonderen Kostendruck gefertigt werden, for-
dern die Automobilhersteller immer häufiger Mate-
rialien, die
• eine hohe Zähigkeit, Chemikalien- und Wärme-
formbeständigkeit,
• sehr gute Oberflächenqualität,
• angenehme Haptik,
• günstiges akustisches Dämpfungsverhalten und
Bild 6.2-20 Ansicht der Verschraubung in der Wasser- • eine problemlose Verarbeitbarkeit
rinne und dem Verbindungselement in sich vereinigen. Vor allem Blends auf Basis von
PA und ABS haben sich in diesem Zusammenhang
diese Aufgabe mit Hilfe einer äußerst innovativen bewährt.
Anbindungstechnik, in der sich die Seitenwand über Neben der Gewichtseinsparung bieten die Polymer-
den Stützträger und Scheinwerfer definiert nach werkstoffe zahlreiche weitere Vorteile. Diese reichen
vorne bewegen kann. Die Seitenwand wird im Be- von einer größeren Designfreiheit über die Möglich-
reich der A-Säule und Türeindrehung fest verschraubt. keit, zusätzliche Funktionen in die Bauteile zu integ-
Diese Technik gewährleistet die notwendige Monta- rieren, bis hin zu einem exakt definierten Crashver-
getoleranz bei der Verschraubung und lässt auch eine halten.
genau definierte Wärmedehnung zu. Die Freigängig- Zu den jüngsten Trends bei der Gestaltung von Cock-
keiten für Toleranzausgleich und temperaturbedingte pits zählt die Integration von metallisch wirkenden
Längenänderung sind voneinander entkoppelt (Bild Oberflächen. Dabei werden jedoch nur selten Stahl
6.2-20). Durch den Einsatz von dafür eigens kon- oder Aluminium eingesetzt. Für die Oberflächenme-
struierten Abdeckkappen, die die restliche auftretende tallisierung von Kunststoffteilen stehen zahlreiche
Wärmedehnung in eine gleichmäßige Bombierung Technologien im Wettbewerb, deren Vor- und Nach-
übergehen lässt, erkennt der Kunde optisch nicht die teile in Tabelle 6.2-12 zusammengestellt sind.
am Bauteil auftretende geometrische Veränderung. Aufgrund zahlreicher Vorteile gilt die Zusammenfas-
So kann selbst bei extremer Sonneneinstrahlung die sung von Stoßfängersystem samt Montageträger und
Türfuge gehalten werden. Ein weiterer Aspekt ist die Crashboxen, Scheinwerfern mit Verkabelung, Teilen
Möglichkeit der Integration von verschiedenen Auf- der Crashsensorik, Kühler, Haubenschloss und Dich-
nahmen für weitere Exterieur-Elemente wie Zierele- tungen zu einem montagefertigen Frontendmodul als
mente, seitliche Blinker usw. Stand der Technik. Die Vorteile von Frontendmodu-
Die Frontklappe und die Türen aus Aluminium sind len sind in Tabelle 6.2-13 zusammengefasst; siehe
zwei weitere Beiträge zur Gewichtsreduktion. Da- auch Kap. 6.1.5. Wegen der vielfältigen Aufgaben
rüber hinaus verringert die 2 Komponenten-Verkle- sowie einer hohen Integrationsdichte bestehen die
bung der Frontklappe das Gewicht auf der Vorder- Frontends regelmäßig aus einer Vielzahl unterschied-
achse um ein weiteres Kilogramm. Um die markanten licher Werkstoffe. Neben Kunststoffen für Verklei-
Konturen im Heckbereich des Fahrzeugs darzustellen,
fiel bei der Heckklappe die Wahl auf den Werkstoff Innenansicht ohne Verkleidung
SMC. Zudem ermöglicht er die Umsetzung der De-
signanforderungen mit einteiliger Außenhaut und die
Integration von Abrisskante und Antennen in den
Heck- und Verdeckverbund des Fahrzeugs (Bild
6.2-21). SMC ist korrosionsfrei und erlaubt kosten-
günstige Online-Lackierung.

Serienausstattung: Sonderausstattung:
6.2.6.2 Mischbau im Innenraum Antennensystem integriert TV, Tel, GPS, SDARS,
(Cockpit) und Frontendmodule in die Heckklappe, Erweiterung digitale Tunerdienste
AM, FM-Diversity integriert in die Heckklappe
Da der Erfolg neuer Fahrzeugmodelle zunehmend von
der Innenraumgestaltung abhängt gilt der Oberflä- Bild 6.2-21 Heckklappe in SMC
6.2 Materialien der Karosserie 429

Tabelle 6.2-11 Vor- und Nachteile von Dekorationsverfahren [17]

Tabelle 6.2-12 Entscheidungsmatrix zur Fertigung metallisch wirkender Oberflächen (Quelle: Fa. Karmann)
Bewertungen: + + sehr gut bis – – sehr schlecht
430 6 Aufbau

Tabelle 6.2-13 Vorteile von Frontendmodulen (Quelle: Fa. Decoma)

dungsteile, Spoilerlippen, Kühlergrill, Schutzleisten zum Fußgängerschutz (Kapitel 9). Zu den ersten
oder Kennzeichenträger kommen auch Stahl und Alu- Lösungen, den Beinaufprall abzumildern, zählen der
minium für die Stoßfängerquerträger, Buntmetalle für Einsatz zusätzlicher Energieabsorber in Höhe des
den Kühler sowie Glas oder transparente Kunststoffe Stoßfängerquerträgers sowie die Integration eines
für die Streuscheiben der Scheinwerfer zum Einsatz. zusätzlichen Querträgerprofils unter dem Stoßfänger-
Für die Frontmodulträger befinden sich fünf verschie- querträger als Überfahrschutz.
dene Werkstofftypen mit unterschiedlichen Eigen-
schaften und Anforderungen an die Fertigungstechnik
6.2.7 Materialspezifische Aspekte
im Wettbewerb (Tabelle 6.2-14). Hybride Strukturen
erleichtern die Funktionsintegration, da die Metall-
der Fertigungstechnik
struktur das notwendige Crashverhalten und die
6.2.7.1 Tailored products
Steifigkeit gewährleistet, während die Kunststoffteile
die Integrationspunkte bilden [19]. Zur konsequenten Kosten- und Gewichtsreduzierung,
Zu den aktuellen Herausforderungen bei der Entwick- kann man je nach Belastung und Bedürfnissen unter-
lung von Frontendmodulen zählen die Regelungen schiedliche Blechplatinen zusammenschweißen (La-

Tabelle 6.2-14 Materialalternativen für Frontmodulträger (Quelle: Fa.Decoma)


6.2 Materialien der Karosserie 431

Fersenträger Korrektur Profil-


1,2 mm – 0,7 mm – 1,2 mm bewertung
ZStE 420 TRB Z100
Querträger Sitz hinten li/re
Walzspalt-
2,0 mm – 1,4 mm – 2,0 mm
regelung
ZStE 250/300 TRB Z100

Querträger Sitz vorne li/re Längsträger SGS


2,0 mm – 1,4 mm – 2,0 mm 1,8 mm – 2,8 mm – 1,8 mm
ZStE 250/300 TRB Z100 ZStE 250/300 TRB Z100

Bild 6.2-22 Tailored rolled blanks gefertigte Bauteile


in Coupé und Cabrio (BMW 6er)
Bild 6.2-23 Walzprozess der Tailored rolled blanks-
Platine (Quelle: MUBEA)
serschweißen). Sie können hinsichtlich der Werk-
stoffgüte aber auch in der Blechdicke der zu verbin-
formung erfolgt für Aluminium bei ca. 500 °C,
denden Teile differieren.
der Luftdruck beträgt 10 – 20 bar. Das Material wird
Einen anderen Weg der Gewichtseinsparung bietet
durch Druck- und Wärmeeinbringung in den plasti-
die Verwendung von Tailored rolled Blanks (TRB –
schen Zustand gebracht. Zunächst formt es sich frei
Bild 6.2-22). Hier wird der Walzspalt während des
in der Matrize aus und legt sich im weiteren Verlauf
Walzvorganges verändert (Bild 6.2-23). So kann die
der Umformung vollständig an die Matrize an (Bild
Dicke des Blechs in Längsrichtung überall den jewei-
6.2-24).
ligen Belastungen des Bauteils entsprechend ange-
passt werden. Unterschiedliche mechanische Kenn-
6.2.7.3 Innenhochdruckumformen (IHU)
werte stellen sich je nach Umformung ein. Dieses
kostengünstige Verfahren hat zudem den Vorteil, Unter der Innenhochdruckumformung (IHU) ist das
dass es keine Schweißnaht gibt. Die homogene Um- Aufweiten metallischer Rohre durch Wasserdruck
formung verhindert eine Kerbwirkung, und der Fa- von innen in einem geschlossenen Werkzeug zu
serverlauf wird nicht beeinträchtigt. Zudem verkürzt verstehen. Die Verfahren des Innenhochdruckumfor-
dieses flexible Walzen den Herstellungsprozess sol- mens von Hohlprofilen lassen sich nach den Span-
cher Bleche und ermöglicht ihre Umformung durch nungen in der Umformzone klassifizieren [22]. Mit
weitere Verarbeitungsschritte wie z.B. durch Tiefzie- der Innenhochdruckumformung lassen sich komplex
hen oder Hydroforming. geformte rohrförmige Hohlkörper aus einem Stück
fertigen, die mit anderen Fertigungsverfahren nicht
6.2.7.2 Superplastisches Umformen (SPF)
oder nur mehrteilig herstellbar sind.
Das superplastische Umformen ist ein Verfahren zur Das Werkzeug wird dabei im Allgemeinen durch eine
Herstellung komplexer Bauteilgeometrien mit hohen hydraulische Presse geöffnet, geschlossen und zu-
Umformgraden und eignet sich besonders für geringe gehalten. Der Umformvorgang erfolgt auf hydrauli-
Stückzahlen (bis ca. 1.000 Einheiten pro Jahr). schen Pressen mit einer Öl- oder Wasserhydraulik.
Das Werkzeug besteht aus einer formgebenden Mat- Der Umformvorgang in vier Schritten wird anhand
rize und einer Lufteinlassplatte. Das Blech wird warm eines T-Stückes näher beschrieben (Bild 6.2-25).
umgeformt, die Umformkraft wird durch Luftdruck IHU Werkstoffe sollten tiefziehbar sein, ein fein-
aufgebracht. Hierfür wird das Blech auf die beheizte körniges Gefüge aufweisen und weichgeglüht sein.
Matrize gelegt, die Presse wird geschlossen und durch Beim Innenhochdruckumformen werden Rohteile aus
die Luftzufuhr von oben Druck aufgebracht. Die Um- Halbzeugen, wie gezogenen oder geschweißten Roh-

Lufteinlassplatte
Blech
Beheizte Matrize
Bild 6.2-24 Verfahrens-
prinzip Superplastisches
Aufheizen Einformen Ausformen/Kalibrieren
Umformen
432 6 Aufbau

Druckmedium
einfüllen Dichtstempel

1 Vorrohr 2

Horizontalzylinder anfahren, T-Stück


3 Wasserdruck regeln, 4 Bild 6.2-25 Prozessschritte
Gegenhalter führen IHU (Quelle: Schuler AG)

ren, Doppelwandrohren, Strangpressprofilen oder ge- ten je nach Anwendung und verwendetem Kunststoff-
schweißten oder vorgeformten Platinen eingesetzt: typ umfassende Problemlösungen (Tabelle 6.2-15).
Vorteile dieses Verfahrens sind: Allen Anwendungen und Kunststofftypen gemein ist
• Hohe Form- und Maßgenauigkeit das Problem, dass die kontinuierliche Verlagerung
• Herstellung komplexer Geometrien in wenigen der Lackierung von Karosserieaußenteilen aus Kunst-
Fertigungsstufen stoff auf Zulieferer die Farbtonharmonisierung (Co-
• Verbindungsschweißnähte entfallen lour matching) erschwert. Als alternative Problem-
• Integration zusätzlicher Fertigungsoperationen in lösungen gelten Folienkonzepte, bei denen beschich-
das Umformwerkzeug, Teilereduzierung tete oder eingefärbte Kunststofffolien nicht nur
• Gute mechanische Eigenschaften am Bauteil eine identische Farbe zwischen den unterschiedlichen
Karosseriemodulen sicherstellen, sondern auch die
herkömmliche Nasslackierung substituieren [20].
6.2.7.4 Folientechnik als Alternative
Der Einsatz hochglänzender Folien zum Hintersprit-
zur Nasslackierung
zen mit Thermoplasten auf Basis von PP, ABS oder
Die zunehmende Verwendung von Polymerwerk- PC wurde zunächst für Anwendungen im Fahrzeug-
stoffen im Karosseriebau erfordert von den Beteilig- innenraum entwickelt. Seit Mitte der 90er Jahre wird

Tabelle 6.2-15 Anwendungen und Probleme heutiger Kunststoff-Karosseriewerkstoffe (Quelle: BASF)


6.2 Materialien der Karosserie 433

die Technik zunehmend auch im Exterieurbereich teileigenschaften maßgeschneidert werden (Tabelle


angewendet. Zu den Beispielen zählten zunächst 6.2-16). Zu den Schlüsselfaktoren zählen die Oberflä-
Zierleisten, Außenspiegel, Dachleisten, Radkappen, chenqualität und Temperierung des Formwerkzeugs,
Schweller und Kühlergrills [21]. die Sauberkeit der Umgebung von Folie und Werk-
Zwar gibt es bislang keine Folie, die für alle Karosse- zeug sowie die Qualität der eingesetzten Rohstoffe.
riebereiche mit ihren unterschiedlichen Anforderun-
gen geeignet ist oder eingesetzt wird, dennoch ließen
Deckschicht
sich für einzelne Serienanwendungen bereits Class A- (PMMA)
Oberflächen erzielen. Das PFM-System (Paintless
Film Moulding) von BASF zum Beispiel wird für das Deckschicht
(PMMA, eingefärbt)
Dachmodul des Smart Fortwo eingesetzt und erzielt
dort eine Class A-Oberfläche.
Für PFM-Bauteile wird zunächst eine zwei- oder Folienträgerschicht
Luran® S (ASA)
dreischichtige Folie coextrudiert. Sie besteht aus
einer eingefärbten ASA- oder ASA/PC-Trägerschicht
und einer klaren PMMA-Deckschicht, die für Glanz,
Härte, Kratzfestigkeit und Witterungsbeständigkeit
verantwortlich ist. Eine optionale zweite PMMA-
Schicht zwischen Trägermaterial und Oberflächenfo-
lie kann dazu beitragen, die Farbanmutung zu erhö-
hen. In einem zweiten Prozessschritt wird der Folien-
verbund mit verstärkten oder unverstärkten Thermo- Hinterspritzmaterial
plasten auf Basis von Styrolcopolymeren und deren Elastoflex® E (LFI-PUR)

Blends hinterspritzt, hinterschäumt oder hinterpresst


(Bild 6.2-26). Je nach Hinterformmaterial und Verar- Bild 6.2-26 Oberflächenaufbau eines Paintless Film
beitungstechnik können dabei unterschiedliche Bau- Moulding (PFM)-Bauteils (Quelle: BASF)

Tabelle 6.2-16 Einfluss der Verarbeitungsverfahren auf die Materialeigenschaften


Hinterformmaterial (ABS) Terluran® Terluran® Terluran® Terluran®
GP-22 GP-35 GP-35 GP-35
Folienträgermaterial ASA ASA ASA ASA
Glasfasergehalt [%] 15 15 30 30
Spritzguß (SG), SG LFT SG LFT
Pressen (LFT)
Glasfaserlänge [mm] 1–5 >10 1–5 >10
E-Modul [N/mm2] 2930 – 3490 3365 – 3734 3250 – 4710 4135 – 4642
Streckgrenze [N/mm2] 47 – 58 42 – 47 49 – 73 44 – 46
Schlagzähigkeit ISO179/ 18 – 21 30 – 36 13 – 17 53 – 69
1fU bei 23 °C [kJ/m2]

Federbeindom
Hydroumgeformtes
Rohr

Versteifung

Motorträger

599 Nieten 2,94 m 48 15,2 m 1,74 m Laser-


Al-MIG Al-Bolzen Verklebung Schweißnaht Bild 6.2-27 Fügeverfahren
Schweißnaht
an einem Mischvorderwagen
434 6 Aufbau

6.2.7.5 Fügevefahren [16] Schwager, H.; Meyr, W.; Derks, M.: „Innovative Polyurethan-
technologie im Premiumfahrzeugbau“, FAPU, KP Verlag, 2001
Im Rahmen der Entwicklung von Bauteilen aus [17] Mitzler, J. et. al.: „Hochwertige Innenraum-Oberflächen herge-
stellt im SkinForm-Verfahren“ VDI-Tagung Kunststoffe im Au-
Kunststoffen für die Fahrzeugaußenhaut wird das
tomobilbau, Mannheim 2005, Seite 115
Thema Verbindungstechnik und im speziellen das [18] N. N.: „Oberflächen aus einem Guss“ AUTOMOBIL PRO-
Kleben immer wichtiger. Außenhautbauteile aus DUKTION, Sonderausgabe Innenraum 2004, Seite 40
Kunststoff sind in der Regel in zweischaliger Bau- [19] Ludwig, H.-J.: „Frontendmodule“ VDI-K-Tagung Kunststoffe
im Automobilbau, Mannheim 2001, Seite 165
weise konzipiert. Dabei wird die Außenschale in
[20] Grevenstein, A. u.a.: „Kunststofffolien – Neue Konzepte für die
Class-A-Oberflächenqualität mit einem verstärkenden Karosserie-Außenhaut“ ATZ, 12/2002, S. 1120
Innenteil verklebt. Bei der Innenschale kann es sich [21] Grevenstein, A.: „Neue Technologien für Karosserieaußenteile“
sowohl um ein verstärktes Kunststoffteil als auch um VDI-K-Tagung Kunststoffe im Automobilbau, Mannheim 2003,
Seite 116
ein Metall handeln. Werden Bauteile unterschiedli-
cher Werkstoffe gefügt, muss das Ausdehnungsver-
halten der einzelnen Fügepartner bei Temperaturän-
derung berücksichtigt werden. Gegebenenfalls müs-
sen die Unterschiede der Längenausdehnung von 6.3 Oberflächenschutz
Innen- und Außenschale, sofern sie aus unterschiedli-
Der Schutz sämtlicher Oberflächen in einem Automo-
chen Werkstoffen gefertigt sind, durch den Klebstoff
bil ist von entscheidender Bedeutung. Gelegentliches
ausgeglichen werden.
Auftreten aggressiver Medien in der Umwelt (saurer
Beispiele für Fügeverfahren, welche im Metall-
Regen, Streugranulate) sowie die insbesondere von
Mischbau angewendet werden, sind in Bild 6.2-27
der europäischen Automobilindustrie angebotenen
abgebildet.
langfristigen Garantien gegen „Durchrostung“ ha-
ben zur Entwicklung aufwendiger Lack- und Korrosi-
Literatur onsschutzsysteme geführt. Mit dem gestiegenen Um-
weltbewusstsein bei Herstellern und Kunden fanden
[1] Stauber, R.: „Metalle im Automobilbau – Innovationen und
Trends“, 9. Handelsblatt Jahrestagung Automobiltechnologien- ab etwa 1990 verstärkt Lackierverfahren mit redu-
Vision Automobil, München, 04/2005 zierten Emissionen, zum Beispiel auf Basis von Was-
[2] Bachsteffel, J.; Rau, H.; Laux, J. J.: „IMC Slush Technologie im serlacken, in der Serienproduktion Eingang.
Interieur – Eine neue Werkstoffgeneration für hochwertige Ober- Das folgende Kapitel führt in die gängigen Verfahren
flächen, VDI-K Tagung Kunststoffe im Automobilbau, Mann-
heim, 04/2005 zur Erzielung eines guten, das heißt langzeitstabilen
[3] Timm, H.: “Concept- and technology trends for a cost-attractive Oberflächenschutzes ein. Alle Ausführungen beziehen
body lightweight construction”, Aluminium 2004, Essen, 09/2004 sich, sofern nicht explizit anders vermerkt, auf die
[4] Franke, H.-J.: „Faszination Karosserie“, 2. Braunschweiger
selbsttragende Ganzstahlkarosserie. Der zunehmende
Symposium, Braunschweig, 01/2005
[5] Pfestorf, M.; Hooputra, H.; Bassi C.: „Anforderungen an Alu- Einsatz alternativer Karosseriewerkstoffe wie Alumi-
miniumblechwerkstoffe im Spannungsfeld von Funktion und nium oder Kunststoff erfordert neue bzw. adaptierte
Fertigung“, Proceedings of the 6th European Automotive Confe- Prozesse in der Oberflächentechnik.
rence „The Process Chain Aluminium Automobile“, Technik +
Kommunikations-Verlags GmbH, Bad Nauheim, 06/2004
[6] Lüdke, B.: „Funktionaler Rohkarosserie-Leichtbau, von den An- 6.3.1 Nutzen des Oberflächenschutzes
forderungen an die Rohkarosserie zu den Anforderungen an die
Rohkarosseriewerkstoffe“, VDI Bericht Nr. 1543, 2000 Die bei einem Kraftfahrzeug durchgeführten Oberflä-
[7] Sonsino, C. M.: „Dauerfestigkeit – eine Fiktion“, Fraunhofer Ins- chenschutzmaßnahmen lassen sich in drei Funktions-
titut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit (LBF),
Darmstadt, 2005
gruppen unterteilen:
[8] Staeves, J.; Pfestorf, M.: „Einsatz höherfester Stähle im Auto- • Schutz des Karosseriewerkstoffes Stahl vor Kor-
mobilbau“, 8. Umformtechnisches Kolloquium Darmstadt,
Darmstadt, 04/2003
rosion,
[9] Lüdke, B.: „Funktionaler Rohkarosserie-Leichtbau am Beispiel • Schutz der Lackierung, die als Designelement
der neuen BMW Generation“, Stahl und Eisen 119 Nr. 5, 1999 einen hohen Wert für den Kunden darstellt,
[10] Grünn, R.: „Die Karosserie des neuen 6er Cabrios von BMW- • temporäre Maßnahmen zum Schutz des Fahrzeugs
Ableitungskonzept, Leichtbaustrategie und Fertigungsprozess“,
VDI Bericht Nr. 1833, 2004
während des Transports vom Automobilhersteller
[11] Hicken, S.: „Aluminiumeinsatz in der Karosseriestruktur. Praxis- zum Kunden.
beispiele von Rolls-Royce bis BMW 7er“ BMW intern
[12] Poweleit, A.; Rebholz, C.; Kettner, G.: „Die neue BMW 7er 6.3.1.1 Korrosionsschutz
Karosserie“, Euro Car Body, Bad Nauheim, 2001
[13] Korzonnek, J.: „Die Kunststoffkarosserie-Außenhautspezifische Ein wirkungsvoller Korrosionsschutz hat mehrere
Risiken“, SKZ-Fachtagung Würzburg, Würzburg, 11/2000 positive Effekte:
[14] Mehn, R.; Peis, R.; Zhang, S.: „Einsatz flächenhafter Sandwich-
bauteile im Automobil“, 12. Aachener Kolloquium: Fahrzeug- • konstante Strukturfestigkeit über die Lebensdauer
und Motorentechnik, Aachen, 2003
des Fahrzeuges,
[15] Lüdke, B.: „Von den Anforderungen an die Rohkarosserie zu den
Anforderungen an den Werkstoff und die Prozesskette Press- • langfristige Werterhaltung und damit verbunden
werk-Rohbau-Lack“, DVM-Tag, Berlin, 04/2005 erhöhte Wirtschaftlichkeit,
6.3 Oberflächenschutz 435

• Ressourcenschonung durch längere Betriebsdauer, Kathode


• Vermeidung von Funktionsausfällen, FeO(OH)
• optische Anmutung. Fe(OH)2

Warum tritt Korrosion an der Karosserie auf? Die Fe2+ Fe Anode


meisten Metalle kommen in der Natur als Oxide,
2e–
Sulfide oder Karbonate vor – als Erze also, weil diese
chemischen Verbindungen die energetisch stabilste 2 OH– Kathode
Form darstellen. Erst durch Energiezufuhr entsteht im ½ O2 + H2O
Verhüttungsprozess aus dem Eisenerz das Metall
Eisen. Wird der daraus erzeugte Stahl Umweltein- Fe Fe2+ + 2e–
flüssen oder aggressiven Medien ausgesetzt, geht das ½ O2 + H2O + 2e– 2 OH–
Material wieder in den energetisch günstigeren Zu-
stand über: das Oxid. Dann spricht man bei Metallen Fe + ½ O2 + H2O Fe(OH)2
von Korrosion. 2 Fe(OH)2 + ½ O2 2 FeO(OH) + H2O
DIN 50900 definiert den Begriff Korrosion wie folgt:
„Korrosion ist die Reaktion eines metallischen Werk- Bild 6.3-1 Elektrochemische Abläufe während des
stoffes mit seiner Umgebung, die eine messbare Korrosionsvorgangs
Veränderung des Werkstoffes bewirkt und zu einer
Beeinträchtigung der Funktion eines metallischen Kontaktkorrosion. Findet der beschriebene Vorgang
Bauteiles oder eines ganzen Systems führen kann. In auf einer freiliegenden Metalloberfläche statt, so
den meisten Fällen handelt es sich um eine elektro- spricht man von Oberflächenkorrosion.
chemische Reaktion. In einigen Fällen kann sie je- Spaltkorrosion kann an der Karosserie zum Beispiel
doch auch chemischer oder metallphysikalischer in Flanschen oder Bördelungen und unter Dichtungen
Natur sein.“ auftreten. Sie ist vor allem darauf zurückzuführen,
Soll sich also eine Konstruktion aus metallischen dass Feuchtigkeit aus Spalten schlecht entweichen
Bauteilen über längere Zeit stabil verhalten, muss kann. Gleichzeitig wirken eingebrachte Salzrückstän-
dieses werkstoffbedingte Verhalten bereits bei der de hygroskopisch, das heißt, sie halten den Spalt
Konstruktion und in der Produktionsplanung berück- ebenfalls feucht. Da sich die Oberflächen in den be-
sichtigt werden. schriebenen Bereichen durch mangelnde Zugänglich-
Korrosion besteht darin, dass in einer anodischen keit nicht immer entsprechend beschichten und damit
Reaktion (Metallauflösung, Oxidation) frei werdende schützen lassen, müssen konstruktiv unvermeidbare
Elektronen über einen elektrischen Leiter (das Metall Spalte entweder an eine trockene Stelle verlegt oder
selbst) zu einer kathodischen Reaktion (Reduktion) abgedichtet werden.
transportiert werden. Ein ionischer Leiter (Elektrolyt) Haben zwei verschiedene Metalle elektrischen Kon-
schließt dabei den Stromkreis. Die bei Korrosions- takt, kann es in Anwesenheit eines Elektrolyten zu
schäden an Karossen wichtigste elektronenverbrau- Kontaktkorrosion kommen. Je höher die Potenzialdif-
chende Reaktion ist die Reduktion von Luftsauer- ferenz (Tabelle 6.3-1) zwischen den Werkstoffen ist
stoff, Bild 6.3-1. Die Stärke des Korrosionsangriffes und je kleiner die Anode im Verhältnis zur Kathode
hängt außer vom Material wesentlich von der Zu- ausfällt, desto größer sind Korrosionsgeschwindigkeit
sammensetzung des Elektrolyten (zum Beispiel des- und -schädigung. Um Kontaktkorrosion zu vermei-
sen pH-Wert) und der Umgebungstemperatur ab. den, muss man entweder auf den Einsatz von Materi-
An der Fahrzeugkarosserie können in der Regel drei alien mit unterschiedlichem Potenzial verzichten oder
Korrosionsarten auftreten: Oberflächen-, Spalt- und die Bauteile galvanisch voneinander trennen.

Tabelle 6.3-1 Potenzialwerte ausgewählter Werkstoffe


Werkstoff Normalpotenzial (V) Spez. Widerstand
(μΩ × m)
Eisen –0,440 0,097
Aluminium –1,66 0,027
Magnesium –2,37 0,045
Zink –0,76 0,059
Edelstahl +0,80 0,71
CFK (Karbonfaser) +1,30 13,75
436 6 Aufbau

6.3.1.2 Oberflächenschutz rischen Potenzials gegenüber dem Eisen als galvani-


sches Element. Bei Anwesenheit eines Elektrolyten
Die Automobillackierung schützt nicht nur den Werk- korrodiert so zunächst allein die Zinkschicht.
stoff vor Umwelteinflüssen, sondern ist zugleich ein Karosseriebleche verzinkt in der Regel der Stahlher-
wesentliches Designelement. Deshalb muss speziell steller. Hierbei gibt es verschiedene Arten der Vorbe-
das Decklacksystem, das in der Regel aus zwei schichtung. Verzinktes Stahlblech kann durch eine
Schichten – farbigem Basislack und Klarlack – be- elektrolytische Abscheidung (elektrolytische Verzin-
steht, folgenden Einflüssen standhalten: kung) oder im Schmelztauchverfahren (Feuerverzin-
• Chemikalien (Kraftstoffe, Vogelkot usw.) kung) hergestellt werden. Neben Reinzink-Schichten
• UV-Strahlen sind auch Zinklegierungen, wie Zink-Nickel, Zink-
• Mechanische Einwirkungen (Steinschlag, Wasch- Eisen (Galvanneal) oder Zink-Magnesium darstell-
anlagen). bar. Bei Duplex-Beschichtungen wird ein verzinktes
Blech zusätzlich mit einem organischen Stoff be-
6.3.2 Entwicklung und Produktion schichtet.
des Oberflächenschutzes
Die Lastenheftanforderungen an den Oberflächen- 6.3.2.2 Maßnahmen in der Karosseriekonstruktion
schutz für die Karosserie und ihre Komponenten sind Bereits in der Konstruktionsphase können Oberflä-
in der Regel in firmeninternen Vorschriften festge- chen- und Korrosionsschutz wesentlich positiv be-
legt. Ergänzend dazu gibt es ein umfangreiches DIN/ einflusst werden. Dies beginnt bereits bei der Werk-
ISO-Normenwerk zum Korrosionsschutz. Die Verifi- stoffauswahl. Hinzu kommt, dass durch geeignete
kation einzelner Fahrzeugkomponenten erfolgt im Materialpaarungen oder Vermeidung entsprechender
Versuch anhand ebenfalls weitestgehend standardi- Berührungsstellen sich zum Beispiel Kontaktkorro-
sierter Tests. Dazu gehören unter anderem Stein- sion von vorne herein ausschließen lässt. Weiterhin
schlag-, Haftungs-, Feuchtklima-, UV-, Salznebel- können zum Beispiel Hohlräume, die Feuchtigkeit
und Abriebsfestigkeitsprüfungen. Diese werden so- ausgesetzt sind, gezielt so gestaltet werden, dass sich
wohl im Labor als auch auf Freibewitterungsgeländen eine gute Belüftung ergibt. Solche Hohlräume finden
durchgeführt. Darüber hinaus wird das neuentwickel- sich in Türen, Holmen und Trägern. Die Belüftungs-
te Gesamtfahrzeug auf unterschiedlichen Strecken er- öffnungen sorgen gleichzeitig für einen guten Lack-
probt und Korrosionstests ausgesetzt. eintritt bei der Elektrotauchlackierung.
Der Aufbau des Oberflächenschutzes an der Karosse- Konstruktiv sollten außerdem alle Komponenten so
rie erfolgt in der Regel dem in Tabelle 6.3-2 gezeig- gestaltet werden, dass Wasser gut auslaufen kann. Bei
ten Schema. der Verbindung zweier Blechteile sind scharfe Kan-
ten oder scharfkantige Übergänge zu vermeiden, Bild
6.3.2.1 Blechvorbeschichtung 6.3-2. Zusätzlich muss der Konstrukteur prüfen, ob
Heute kommen in erheblichem Maße verzinkte oder Hohlräume beispielsweise durch Wachs zu schützen
mit Zinklegierungen beschichtete Stahlbleche im oder Verbindungsstellen mit Dicht- und Klebstoffen
Karosseriebau zum Einsatz. Die Zinkschicht bietet abzudichten sind.
einen sehr wirksamen kathodischen Korrosionsschutz Maxime ist in jedem Fall die prozessgerechte Kon-
für das Stahlblech. Ihre Wirksamkeit entfaltet sie vor struktion des Fahrzeugs. Dabei sind insbesondere Vor-
allem, wenn die Lackschicht bereits verletzt ist. Dann gaben zu beachten, die zum Beispiel die Handhabung
nämlich wirkt Zink aufgrund seines niedrigeren elekt- der Rohkarosserie im Produktionsprozess betreffen

Tabelle 6.3-2 Aufbau des Karosserie-Oberflächenschutzes

Schicht Funktion Dicke in μm


Stahlblech Mechanische Festigkeit/Steifigkeit
Zink (elektrolytisch + Schmelzverfahren) Korrosionsschutz 5–8
Zinklegierungen (elektrolytisch)
Phosphatierung Korrosionsschutz und Lackhaftung 1,5
Kathodische Tauchlackierung (KTL) Korrosionsschutz, besonders in 18 – 35 (außen)
Hohlräumen Minimum 10 innen
Grundlack (Füller) Schaffung einer glatten Oberfläche, 20 – 35
UV-Schutz für KTL-Lack
Decklack Farbton 40 – 70
6.3 Oberflächenschutz 437

Bild 6.3-2 Lage von Entlüf-


tungsöffnungen und Gestal-
tungsmöglichkeiten für
korrosionsoptimierte Füge-
stellen

(Aufnahmelöcher für die Fördertechnik). Abhängig Für die Simulation werden die CAD-Daten der Fahr-
vom gewählten Fertigungsverfahren sind Öffnungen zeugkonstruktion verwendet und entsprechend den
in der Karosserie vorzusehen, die das Ein- und Aus- jeweiligen Anwendungsprogrammen konvertiert.
laufen von Prozessmaterialien erlauben, Bild 6.3-3.
Flansche, Bördel und Überlappungen sind so zu ge- 6.3.2.3 Maßnahmen in der Produktion
stalten, dass das Auftragen von Klebstoff und Ab-
dichtmaterialien leicht und prozesssicher möglich ist. Bild 6.3-4 zeigt die typischen Stationen einer Auto-
Zur korrosionsschutzgerechten Konstruktion von mobilfertigung. Von Hersteller zu Hersteller können
Fahrzeugen werden in der frühen Phase der Produkt- sich bedingt durch die unterschiedlichen Produktpro-
entwicklung verstärkt Simulationstechnologien ent- gramme und mit der Zeit gewachsene Fertigungspro-
wickelt und eingesetzt. Auf dem Markt sind inzwi- zesse Abweichungen ergeben.
schen zahlreiche Programme verfügbar, z.B. zur
6.3.2.3.1 Kleben und Dichten
• Überprüfung der erzielbaren KTL-Schichtdicke in
kritischen Hohlräumen, Das Fertigungsverfahren Kleben gewinnt in der Auto-
• Vermeidung von Lufteinschlüssen bei den Vorbe- mobilindustrie zunehmend Bedeutung. Es hat den
handlungs- und Elektrotauchlackierprozessen, Vorteil, dass mit dem Fügen auch eine Abdichtung
• Reduzierung von Verschleppungen von Chemika- der Verbindungsstelle gegeben ist. Klebeverbindun-
lien von einem Prozessschritt zum Nächsten, gen können bei prozessgerechter Konstruktion die
• Auslegung von Trocknern zur Vermeidung von Festigkeit von Schweißpunkten nicht nur erreichen,
Überbrennungen oder unzureichender Reaktions- sondern sogar übertreffen. Durch die flexible An-
temperatur/-zeit für Bauteile bzw. Chemikalien. wendbarkeit in Kombination mit anderen thermischen

Einzelheit A

∅ 35

Bild 6.3-3 Lage und Gestal-


8° tung von Ablauföffnungen
am Fahrzeugunterboden
438 6 Aufbau

Boden Stirnwand Unterbau


Vorderrahmen Radgehäuse Rückwand
Gerippe Radeinbau Frontträger
J. I. T. Front
Just in time

Karosserie- und Gerippebau


Anlieferung Unterbau Aufbaustufe 1, einlegen, heften
Türen, Hecktüre, Seitenwand
Kotflügel, Haube Dachspriegel
Strebe Radeinbau
Abdichtkleber
Dach

Finish, waschen, inspizieren, Rohmontage, Aufbaustufe 2, einlegen, heften, schweißen


Oberfläche bearbeiten löten, verputzen, einbauen

Stapelturm Reinigen Spülen Phosphatieren Passivieren Spülen

KTL-Tauchlackieren

Nähte Nahtversiegelung Unterboden- Schleifen Trocknen Spülen


verstreichen automatisch schutz automatisch Tauchspülen

Lackiererei
Dämmpappen Nahtversiegelung Reinigen Grundlack Trocknen Schleifen Reinigen
einlegen manuell (Füller)

Montage ‘Ramm- Inspektion Trocknen Klarlack ESTA Zwischen- Spritzautomat Basislack ESTA
schutzleisten trocknung

Cockpitmontage

Fertig- und Endmontage

Stapelturm Hohlraum- Türen entfernen Fertigmontage Scheibenmontage Cockpiteinbau Innen-


versiegelung ausstattung
Türen komplettieren

Türeinbau Rädermontage Betriebsmittel Sitzeinbau Hochzeit Endmontage Innen-


einfüllen ausstattung
Motorenendaufrüstung

Achs- und Abgastest ECOS Schlussinspektion


Scheinwerferkontrolle

Bild 6.3-4 Prozessablauf in der Automobilfertigung


6.3 Oberflächenschutz 439

oder mechanischen Fügeverfahren ist das Kleben im


modernen Automobilbau heute unverzichtbar.
Bisher waren Unterfütterungskleben, Bördelrandkle-
ben und Versiegelungen die eingesetzten Klebever-
fahren im Karosseriebau. Das Strukturkleben grenzt
sich mit direktem Einfluss auf die Festigkeit der
Karosserie gegen diese Prozesse ab. Im Fall der
Fahrzeugkarosserie sorgt das so genannte Struktur-
kleben für eine dauerbeständige und kraftübertragen-
de Verbindung von hochfesten und steifen Fügetei-
len, die auch in crashbeanspruchten Fahrzeugberei-
chen einsetzbar sind. Hauptziele des Strukturklebens
sind eine höhere Karosseriesteifigkeit, eine verbesser-
te Crashstabilität durch erhöhtes Energieaufnahme-
vermögen sowie eine verbesserte Dauerfestigkeit.
Hinsichtlich der immer größeren Materialvielfalt und
insbesondere Zunahme der Werkstoffkombinationen,
lassen sich somit unterschiedliche Werkstoffe durch
die Fügetechnik Kleben kombinieren.
Im Vergleich zu anderen Fügeverfahren stellt das
Kleben zusätzliche Anforderungen an die Fertigung, Flansch-
Flansch- abdichtung
da nach dem Fügen der Bauteile noch keine Anfangs-
verklebung
festigkeit vorhanden ist. Erst nach dem Durchlaufen
des KTL-Ofens in der Lackiererei wird der Klebstoff
ausgehärtet und erhält somit seine endgültigen Mate- Bild 6.3-5 Lage von Verklebungen und Abdichtungen
rialeigenschaften.
Klebungen haben u.a. akustisch dämpfende Wirkun- Aushärtung zusammen mit dem Grundlack erfolgen
gen und auch eine abdichtende Funktion. Schweiß- kann, ist kein zusätzlicher Trockenprozess erforder-
und Bördelflansche werden durch den Auftrag von lich.
Dichtstoff vor dem Eindringen von Feuchtigkeit, In Tabelle 6.3-3 sind die Dichtmaterialien dargestellt.
korrosiven Medien sowie Luftsauerstoff geschützt, Die Entscheidung über den Einsatz eines bestimmten
Bild 6.3-5. Werkstoffes sollte immer im Zusammenhang mit der
Die notwendigen Dichtoperationen sind entweder im gewünschten Festigkeit beziehungsweise Elastizität
Rohbau oder in der Lackiererei durchzuführen. Im getroffen werden.
Rohbau müssen all jene Karosseriestellen abgedichtet
werden, die nach dem Zusammenbau nicht mehr
6.3.2.3.2 Vorbehandlung
zugänglich sind, wie zum Beispiel verdeckte Bör-
delflansche oder Stützgerippe, die zur Unterfütterung Die Karosserieoberflächen werden vor dem eigent-
der äußeren Bleche erforderlich sind. Bei dieser lichen Lackierprozess einer Vorbehandlung unter-
Prozessabfolge sind bei der Definition der Taktzeiten zogen, die zum einen dem Korrosionsschutz, zum
im Rohbau die für Klebeverbindungen notwendigen anderen einer besseren Lackhaftung dient. Auf Ganz-
Vor- und Nachbehandlungszeiten zu berücksichtigen. stahl-Karosserien ist der Standardprozess in die Stu-
Wird die Dichtoperation in der Lackiererei durch- fen Reinigen/Entfetten, Spülen, Aktivieren, Phospha-
geführt, erfolgt der Materialauftrag normalerweise tieren, Spülen, Passivieren und abermaliges Spülen
auf eine fettfreie, KTL-lackierte Oberfläche. Da die mit vollentsalztem Wasser untergliedert.

Tabelle 6.3-3 Dichtmaterialien und Klebstoffe im Karosseriebau


Material Haupteinsatzgebiet Festigkeit Elastizität
Epoxidharze Strukturelle Verklebungen im Rohbau, Kleben von ++++ +
Bördelfalzen
Produkte auf Kaut- Unterfütterungs-Klebstoff +++ ++
schukbasis; Heiß-
butyle
PVC-Plastisole Abdichtungen in der Lackiererei ++ +++
Acrylat-Plastisole Rohbauabdichtungen + ++++
440 6 Aufbau

Der vom Rohbau gelieferten Karosserie haften noch Eisen-II-Phosphat wird durch das Oxidationsmittel in
Reste von Korrosionsschutzölen, Schmierstoffen, schwer lösliches Eisen-III-Phosphat überführt und als
Schleifstäube sowie andere Verschmutzungen an, die Schlamm abgeschieden. Auf der Karosserie verblie-
entfernt werden müssen, um die Qualität des Lackier- bene Schlammpartikel werden in einem weiteren
prozesses zu sichern. Reinigen und Entfetten der Spülgang entfernt.
Karosserie erfolgen mit wässrigen alkalischen und In der Phosphatschicht möglicherweise verbliebene
tensidhaltigen Lösungen. Beim anschließenden Spü- Poren werden durch eine Passivierung mit wässriger
len wird die noch anhaftende Reinigungslösung Hexafluorzirkonsäurelösung oder organische Nach-
entfernt. Eine Aktivierung der Oberfläche mit Titan- spüllösung geschlossen. Reste wasserlöslicher Salze
phosphat vor der eigentlichen Phosphatierung soll die sind abschließend mit vollentsalztem Wasser abzu-
Phosphatiergeschwindigkeit erhöhen, das Schichtge- spülen.
wicht verringern und so für besonders feinkristalline Die Vorbehandlungs-Prozessschritte erfolgen entwe-
Schichten sorgen. der im Spritz- oder im Tauchverfahren, meist in einer
Die Phosphatierung erfolgt mit einer Lösung, die als Kombination aus beidem.
Hauptbestandteile Zink, Nickel- und Mangan-Ionen Für Karosserien mit Multi-Metall Substraten, insbe-
sowie Phosphorsäure und einen Beschleuniger (Oxi- sondere bei hohem Anteil an Aluminium, wurde ein
dationsmittel wie Natriumnitrit oder Wasserstoffper- 2-Stufen-Prozess entwickelt (Tabelle 6.3-4).
oxid) enthält. Zur Behandlung einer Stahl-Alumi- Durch angepassten Chemikalieneinsatz bei den Pro-
nium-Karosserie wird zusätzlich freies Fluorid benö- zessstufen „Phosphatierung“ und „Passivierung“ wird
tigt, um gelöstes Aluminium aus dem Behandlungs- erreicht, dass Stahl und verzinkter Stahl weiterhin
bad zu entfernen. Die saure Phosphatlösung wirkt als „klassisch“ phosphatiert werden, Aluminium jedoch
Beizmittel. Durch die Beizreaktion werden Eisen-II- erst im Passivierungsschritt eine Konversionsbehand-
und Zinkionen sowie atomarer Wasserstoff gebildet. lung erhält (Schichtgewicht 0,2 g/m2 bei Aluminium
Der Beschleuniger depolarisiert den Wasserstoff, be- gegenüber 1,5 bis 4 g/m2 bei Stahl bzw. verzinktem
freit also die Metalloberfläche von Wasserstoffblasen, Stahl) (Bild 6.3-6).
die die Phosphatierreaktion stören können. Aufgrund Verschiedene Chemikalienlieferanten arbeiten an der
der Beizreaktion nimmt die Säurekonzentration an Optimierung der „Dünnschicht“ Prozesse (≈ 100 ×
der Metalloberfläche stark ab, dafür bildet sich dort dünner als aktuelle Phosphatschichten), wobei der
eine Schicht von schwer löslichem Zink- oder Zink- Fokus auf den ökologischen Potenzialen dieser alter-
Eisen-Phosphat. Das Schichtgewicht liegt üblicher- nativen Vorbehandlungsprozessen liegt:
weise zwischen 1,5 und 4 g/m2. Das entstehende
• Verzicht auf Einsatz von Schwermetallen, insbe-
Tabelle 6.3-4 Schlammentwicklung im Phosphatier- sondere Nickel
prozess • Reduzierung von Wasser, Abwasser und
Schlamm, dadurch geringere Prozesskosten
Substrat-Werkstoff Schlammentwicklung (g/m3) • Energieeinsparung (Schichtprozess bei ≈ 20 °C
und in ca. 30 s gegenüber 50 – 60 °C und ca.
Stahl 3,0 – 5,0
3 min)
Verzinkter Stahl 0,1 – 0,8 • Reduzierung von Prozessschritten, damit weniger
Flächenbedarf und Investment-Kosten
Aluminium 10 – 16

Phosphatierung von Multi-Metall-Substraten


Prozessführung „2-Stufen-Prozess“

Klassischer Prozess: geschlossene Phosphatschicht auf Aluminium

Phospha- Passi-
Spüle Spüle
tierung vierung

Freies Fluorid z. B.: 0,25 %


150–250 mg/l Deoxylyte 54 NC

2-Stufen-Prozess: keine Phosphatschicht auf Aluminium

Phospha- Passi-
Spüle Spüle
tierung vierung
Bild 6.3-6 Phosphatierung
Freies Fluorid z. B.: 0,4 %
40–70 mg/l Deoxylyte 54 NC
von Multi-Metall Substraten
(Quelle: Henkel)
6.3 Oberflächenschutz 441

Dünnschicht Vorbehandlungsprozesse werden in meh-


reren Automobilwerken insbesondere in USA bereits A B A
eingesetzt.

6.3.2.3.3 Elektrotauchlackierung
Durch hohe Wirtschaftlichkeit und eine sehr gleich- A = Anode
B = Kathode
mäßige Schichtdickenbildung hat sich die Elektro- C = Lackbad
tauchlackierung als Verfahren zum Korrosionsschutz
in der Automobilindustrie etabliert. Bei diesem Ver-
fahren wird der zu lackierende Körper in ein Lack- C
Wasser-Bad mit einem Anteil von 15 bis 25 %
dispergierter Lackteilchen getaucht. Durch Anlegen
einer Gleichspannung zwischen Werkstück und Kathodische Elektrotauchlackierung
Tauchbad wandern die Lackteilchen an die Werk-
1. Überführung von wasserunlöslichen,
stückoberfläche und werden dort abgeschieden. Man stickstoffbasischen Bindemitteln mit orga-
unterscheidet zwischen der anodischen Elektrotauch- nischen Säuren in die wasserlösliche Form:
lackierung (ATL) und der kathodischen Elektrotauch- R3–N + CH3COOH R3[NH]+ [CH3COO]–
lackierung (KTL). Aufgrund des besseren Korrosi-
onsschutzes hat sich die KTL, bei der die Karosserie 2. Elektrolyse des Wassers
als Kathode wirkt, Bild 6.3-7, weitgehend durchge- (Kathodenreaktion):

setzt. 2 H2O + 2e– H2↑ + 2 OH–


Die elektrochemische Abscheidung erfolgt üblicher-
weise innerhalb von 2,5 bis 4 Minuten. Bei größe- 3. Koagulation (Abscheidung) des Binde-
mittelkation in der basischen Diffusions-
ren Stückzahlen werden die Tauchbecken meist als grenzschicht an der Kathode:
Durchlaufanlage gestaltet, die zwischen zwei und sie-
R3[NH]+ + OH– R3–N + H2O
ben Gleichrichterfelder mit unterschiedlichen Span-
nungen besitzt. Je nach Lackart und Verfahren werden
Schichtdicken an außen liegenden Teilen von 18 bis Bild 6.3-7 Kathodische Elektrotauchlackierung:
35 μm erzielt, wobei in Hohlräumen Schichtdicken Schema und Reaktionsgleichungen
von mindestens 10 μm erreicht werden müssen.
Ein Kaskadenspülprozess befreit die Karosserie nach
grund für den Decklack zu gewährleisten. Außerdem
dem KTL-Tauchbad von elektrochemisch nicht
bildet er die haftvermittelnde Schicht für den Deck-
gebundenen Lackpartikeln. Zur Reduzierung des
lack. Neben einfarbigen, meist grauen Grundlacken
Wasserverbrauchs und zur Lackrückgewinnung wird
werden auch farbige oder sogar decklackfarbtonspe-
als Spülmittel Ultrafiltrat eingesetzt, ein Medium, das
zische Primer eingesetzt. Farbige Grundlacke haben
man aus KTL-Lack in einer Ultrafiltrationsanlage
den Vorteil, dass die Decklackschicht dünner ausge-
erzeugt. Der Kaskadenspülvorgang der Karosserie
führt werden kann (Kostenvorteil) und leichtere
verläuft entgegen der Prozessrichtung. Spülmittel und
mechanische Beschädigungen im Kundenbetrieb
Lackreste werden danach wiederum dem Tauchbe-
weniger auffallen.
cken zugeführt. Nach einem letzten Spülgang mit
Als Decklack kommen in der Regel Zweischichtsys-
vollentsalztem Wasser wird der an der Karosserie
teme zum Einsatz, die aus einem Basislack zur Farb-
haftende Lack bei Temperaturen von 160 bis 180 °C
gebung und einem Klarlack bestehen. Bei den Basis-
etwa 20 min eingebrannt. Gleichzeitig kann dieser
lacken wird zwischen Uni- und Effektfarbtönen
Trocknungsvorgang dazu genutzt werden für Bake-
(Metallic, Mica) unterschieden. Effektfarbtöne ent-
Hardening-Stähle oder Aluminiumbleche, die ihre
halten neben Farbpigmenten, zum Beispiel Alumini-
endgültige Festigkeit erst nach einer Wärmebehand-
um- oder Glimmerpartikel, die abhängig von der
lung erreichen, sowie um Klebe- und Dichtmateria-
Lichteinstrahlung verschiedene Farb- oder Glitzeref-
lien nach- beziehungsweise auszuhärten.
fekte erzeugen. Bei der Farbtonentwicklung ist insbe-
sondere darauf zu achten, dass die eingesetzten Pig-
6.3.2.3.4 Grund- und Decklackierung
mente lichtstabil und vollständig in das Bindemittel
Der äußere Oberflächenschutz und die Farbgebung eingebettet sind. Ansonsten können, zum Beispiel
erfolgen durch aufgesprühte Nasslacke, in Einzelfäl- durch dauerhafte Sonneneinstrahlung, Farbtonver-
len auch durch Pulverlacke. Der Grundlack, auch schiebungen entstehen oder sich Pigmente an der
Füllgrund oder Primer genannt, hat dabei die Aufga- Grenzschicht ansammeln und dort zu Haftungspro-
be, eventuell vorhandene, aus den vorhergehenden blemen führen.
Prozessschritten stammende raue Stellen oder Un- Der Klarlack wird als Schutz zur Glättung und zur
ebenheiten auszugleichen und einen glatten Unter- Erzielung eines Glanzeffektes eingesetzt. Er muss
442 6 Aufbau

chemisch so beschaffen sein, dass er auch unter Acryl-, Polyurethan- und Melaminharz zum Einsatz
extremer UV-Einstrahlung nicht vergilbt. Des weite- kommen. In das Bindemittel eingelagert werden
ren muss er vor Verkratzung schützen, wie sie zum Farbpigmente sowie verschiedene Hilfsstoffe, unter
Beispiel bei der Autowäsche vorkommen kann, und anderem Benetzungs-, Verlaufs-, Mattierungs- und
er muss organischen und anorganischen Stoffen wie Antiabsetzmittel sowie Weichmacher, Filmbildner
Kraftstoff, Vogelkot, Baumharzen und saurem Regen und Füllstoffe.
gewachsen sein. Der Auftrag des Lackes erfolgt in Spritzkabinen.
Beim Klarlack kommen sowohl 1-Komponenten als Diese sind nach Möglichkeit in einem separaten
auch 2-Komponenten (Stammlack und Härter) Mate- Bereich des Gebäudes (Reinraum-Bereich) angeord-
rialien zum Einsatz. 1-K Systeme sind kostengünsti- net. Damit wird der Prozessempfindlichkeit der
ger (Material, Applikationstechnik) und weisen meist Lackmaterialien in Bezug auf Schmutz oder sonstige
eine höhere Kratzbeständigkeit auf als Standard 2-K Störungen (etwa durch Silikon) Rechnung getra-
Systeme. Die Beständigkeit gegenüber chemischen gen. Bei der Verarbeitung sind entsprechend enge
und biologischen Stoffen ist dagegen bei 2-K Syste- Grenzen bei Lufttemperatur und Feuchte einzuhal-
men höher, außerdem erscheint ein 2-K Klarlack ten, um Farbtonschwankungen zu vermeiden. Für
optisch höherwertig. wasserbasierte Lacke sind dies zum Beispiel 23 °C
Zur weiteren kundenrelevanten Optimierung der Pro- Lufttemperatur (± 3 K) und 65 % relative Feuchte
duktqualität der Klarlackoberfläche wird an der Ent- (± 5 %).
wicklung deutlich kratzfesterer Materialien gearbei- Während die Innenlackierung in der Regel durch
tet: Roboter oder Handlackierer erfolgt, kommen bei der
• Produkte mit hoher Vernetzungsdichte, Außenlackierung neben Robotern auch Spritzautoma-
• Produkte mit glasähnlicher Silikat Matrix, Einbin- ten zum Einsatz. Für die Lackapplikation werden
dung von Nano-Partikeln (Ø 10 – 20 nm), hauptsächlich luftzerstäubende Spritzpistolen und
• UV reaktive Systeme (UV Strahlungstrocknung). elektrostatische Hochrotationsglocken (ESTA) ver-
wendet. Bei Ersatz- bzw. Neuinvestitionen werden
Zahlreiche Verbesserungen sind im Test bzw. auch
weitgehend nur noch Lackierroboter installiert, die
bereits im Serieneinsatz. Eine Klarlackoberfläche,
gemeinsam mit neuen elektrostatischen Rotationszer-
die allen mechanischen Beanspruchungen widersteht,
stäubern eine hohe Flexibilität und deutlich verbes-
wird jedoch noch lange auf sich warten lassen. Bei
serte Auftragswirkungsgrade garantieren.
der Materialentwicklung müssen auch Lösungen
Getrocknet wird die Karosserie in Durchlauftrock-
gefunden werden für z.B.
nern durch Strahlung, Umluft oder durch die Kombi-
• Verarbeitbarkeit der Materialien in der Lackiere- nation von beidem. Die Trockenzeit beträgt in der
rei, Regel 30 Minuten bei Temperaturen von etwa 165 °C
• Reparaturfähigkeit der Lackierung an der Lack- bei Grundlacken und 140 °C bei Decklacken. Das
linie im Werk, aber auch in Werkstätten im Feld Lacksystem härtet während des Trockenprozesses
(Schleifen, Polieren, Haftung der Reparaturlackie- aus, das heißt, die Molekülketten des Bindemittels
rung, …), reagieren und vernetzen durch den Temperaturein-
• Lackierfähigkeit von Kunststoff-Anbauteilen (fle- fluss an zuvor blockierten Stellen. Die hierbei entste-
xibler als Metalluntergrund). henden Makromoleküle bilden dann einen entspre-
Das komplette System aus Grund-, Deck- und Klar- chend stabilen Verband. Die eingangs erwähnten
lack muss weiterhin die darunter liegenden Schichten Pigmente und Hilfsstoffe sind in dem entstandenen
vor dem Eindringen von Feuchtigkeit und UV- Molekülnetz eingeschlossen und beeinflussen dessen
Strahlen schützen. Speziell die KTL-Schicht enthält Eigenschaften zum Beispiel in Bezug auf Härte,
Epoxidharze, die durch UV-Licht zersetzt werden Schleifbarkeit, Verlauf und Glanz.
könnten. Die Folge davon wären Haftungsverlust des Neben den gängigen Nasslacken kommen auch Pul-
Grundlackes und anschließendes Abblättern des verlacke und Powder Slurry zum Einsatz. Sie haben
Gesamtaufbaus. Eine weitere Anforderung stellt die aber gegenwärtig in der Automobilindustrie einen
Widerstandsfähigkeit gegen mechanische Beaufschla- sehr kleinen Marktanteil. Bei Pulverlacken entfällt
gung, zum Beispiel durch Steinschlag, dar, die durch der Lösemittelanteil; die nicht an das Werkstück
einen guten Haftungsverbund der Schichten sowie angelagerten Lackteilchen (Overspray) können direkt
eine entsprechende Flexibilität erreicht wird. wieder dem Prozess zugeführt werden. Häufige Farb-
Nasslacke bestehen aus flüchtigen und nichtflüchti- wechsel und niedrige Stückzahlen belasten allerdings
gen Bestandteilen. Die flüchtigen Bestandteile, orga- die Wirtschaftlichkeit. Eine Nachbesserung ist in der
nische oder wässrig-organische Lösemittel, dienen Regel zudem nur mit Nasslacken möglich, was die
der Verarbeitbarkeit des Lackes. Die nichtflüchtigen Bereitstellung zusätzlicher Anlagen bedingt. Aus die-
Bestandteile bilden nach der Aushärtung den eigent- sem Grund werden Pulverlacke heute in erster Linie
lichen Lackfilm. Für die Schichtbildung sorgt das als einfarbige Grundierung oder als Klarlack einge-
enthaltene Bindemittel, für das hauptsächlich Alkyd-, setzt. Eine Kombination aus beiden Verfahren stellen
6.3 Oberflächenschutz 443

„Powder-Slurry“-Lacke dar. Hier wird vom Lackher- Abstand werden bei Raumtemperatur waagerecht
steller ein Pulverlack in ein wässriges Lösungsmittel aufeinander gelegt und mit einem definierten Gewicht
eingearbeitet. Der Lack kann dann in bestehenden, beaufschlagt. Anschließend ist eine Kante mit einem
modifizierten Nasslack-Anlagen eingesetzt werden. Überschuss an Wachs zu verschließen. Nach Ablauf
Auch diese Technologie kommt – genauso wie das der Testzeit und Auseinanderklappen der Platten lässt
Pulverlackverfahren – praktisch ohne organische sich die Wachseindringstrecke messen.
Lösemittel aus. Bereits bei der Fahrzeugkonstruktion muss die Art
des Wachs-Applikationsverfahrens berücksichtigt
6.3.2.4 Hohlraumkonservierung werden. Die Hohlraumkonservierung kann entweder
und Unterbodenschutz im Heißflut- oder im Spritzverfahren erfolgen. Beim
Wirksamer Korrosionsschutz von Hohlräumen und Heißfluten wird die Karosserie im Beschichtungsbe-
Unterboden erfordert aufgrund der dort gegebenen reich auf 60 bis 70 °C erwärmt und die Hohlräume
hohen Beanspruchungen nicht nur besondere Abdicht- mit etwa 120 °C heißem Wachs völlig ausgefüllt. Ein
operationen, sondern weitergehende Maßnahmen wie Teil des Wachses erstarrt und haftet an dem kühleren
die Hohlraumkonservierung durch Wachse. Sie erfolgt Karosserieblech, während der Rest des Materials
in der Regel direkt nach dem Lackieren. Der Unterbo- wieder abläuft. Die Hohlräume müssen für dieses
denschutz wird zum Teil in der Lackiererei und zum Verfahren in jedem Fall so gestaltet werden, dass ein
Teil am Ende des Produktionsprozesses aufgebracht. sicheres und definiertes Auslaufen gewährleistet ist.
Lufteinschlüsse im oberen Bereich der Profile sind zu
6.3.2.4.1 Hohlraumkonservierung vermeiden.
Die Hohlraumkonservierung mit Wachs dient der Das Spritzverfahren erfolgt im Gegensatz zum Heiß-
Versiegelung von Spalten und Flanschen und somit flutverfahren bei Raumtemperatur, wobei Objekt- und
der Vermeidung von Spaltkorrosion. Tabelle 6.3-5 Materialtemperatur nicht mehr als 10 K auseinander
nennt die zum Einsatz kommenden Wachse. liegen sollten. Das Wachs wird mit oder ohne Vermi-
Für die Wirksamkeit der Abdichtung von engen Spal- schung mit Luft unter hohem Druck (zwischen 2.000
ten ist das Penetrationsverhalten der Wachse entschei- und 12.000 kPa) in die Karosseriehohlräume einge-
dend. Zwei rechteckige Prüfplatten mit definiertem sprüht. Konstruktiv sind deshalb unbedingt genügend
Öffnungen zur Materialapplikation vorzusehen.
Tabelle 6.3-5 Wachse zur Hohlraumkonservierung 6.3.2.4.2 Unterbodenschutz
Material Festkörperanteil Der Fahrzeugunterboden ist durch Steinschlag star-
in % ken mechanischen Belastungen ausgesetzt. Zudem ist
Heißflutwachs 100 die Korrosionsanfälligkeit des Unterbodens durch
Feuchtigkeit und Streusalz erheblich. Als Schutz da-
Heißspritzwachs 100 vor haben sich Materialien auf Bitumen-, PVC- und
Polyurethanbasis bewährt. Bereiche, die nicht durch
Lösemittelfreies Spritzwachs >99
diese Materialien zu schützen sind, werden mit
Spritzwachs auf Lösemittelbasis >70 Wachsen versiegelt, Bild 6.3-8. Diese Behandlung
schützt gleichzeitig die in diesem Bereich liegenden
Wasserbasiertes Spritzwachs >40 Fahrwerkskomponenten.

Unterbodenschutz

Schutzwachs

Bild 6.3-8 Beispiel für den


Einsatz von Unterboden-
schutzmaterial und Schutz-
wachs
444 6 Aufbau

Mit Ausnahme des Heißwachses können die gleichen Weitere Beispiele für Schritte zu umweltverträgliche-
Materialien eingesetzt werden wie bei der Hohlraum- ren Verfahren sind die Umstellung auf bleifreie Elek-
konservierung. Die verwendeten Wachse müssen sich trotauchlackierung sowie chromfreie Nachspüllösun-
im Unterbodenbereich weniger durch hohes Penetra- gen. Um den Wasserverbrauch zu verringern, wird
tionsvermögen als durch hohe Beständigkeit gegen bei den Lackierprozessen zunehmend in geschlosse-
Auswaschen auszeichnen. nen Kreisläufen gearbeitet.
Für die Applikation werden alle gängigen Spritztech- Etwa 50 % des Energiebedarfs eines Karosseriewer-
niken angewendet. Automatisierte Anlagen müssen kes wird für den Lackierprozess benötigt. Deshalb
modellspezifisch gesteuert werden, da nicht alle gibt es viele Initiativen, diese Kosten zu reduzieren.
Bereiche des Unterbodens beschichtet werden dürfen. Ein Beispiel aktueller Lösungsansätze ist die Einfüh-
So sind die Zonen unter der Abgasanlage einschließ- rung kompakter Beschichtungsprozesse, die das Ziel
lich des Katalysators frei zu halten. haben den Trockner für den Grundlack (Füller oder
Primer) zu eliminieren:
6.3.2.5 Transportschutz
• Füllerloser Prozess (statt Standardfüller werden
Der Kunde verlangt bei der Übergabe ein qualitativ „nass-in-nass“ zwei Basislackschichten mit ent-
und optisch einwandfreies Fahrzeug. Deshalb wird sprechendem Eigenschaftsbild aufgetragen, da-
häufig vor der Auslieferung, meist am Ende der durch auch Entfall der Grundlack-Spritzkabine)
Fertigung, ein zusätzlicher Transportschutz aufge- • Füller und Basislack werden „nass-in-nass“ appli-
bracht und vor Übergabe des Fahrzeuges an den ziert (geeignet für festkörperreiche Lösemittel-
Kunden wieder entfernt. Er schützt den frischen Lack und auch Wasserlacke)
über einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten vor Neu entwickelte Technologien zur Lacknebelab-
mechanischen Einwirkungen und aggressiven Um- scheidung aus Lackierkabinen sind ein weiteres Bei-
welteinflüssen. Von allen anderen Maßnahmen des spiel für Energieeinsparungsmaßnahmen. Mit diesen
Oberflächenschutzes unterscheidet sich der Trans- Methoden ist es möglich einen großen Teil (ca. 90 %)
portschutz vor allem durch seine zeitlich begrenzte der erforderlichen Spritzkabinenzuluft im Kreislauf
Einsatzdauer. Tabelle 6.3-6 zeigt die zur Verfügung zu fahren und damit die Kosten für die erforderliche
stehenden Transportschutzarten und -materialien. Zuluftkonditionierung deutlich zu reduzieren.
Durch den Zwang zum Karosserie-Leichtbau werden
Tabelle 6.3-6 Transportschutz in der Zukunft verstärkt Metall-Mischbauweisen in
System Einsatz der Automobilproduktion Eingang finden und insbe-
sondere Anbauteile aus Aluminium oder Kunststoff
Wachse (org. Lösungs- Serie zum Einsatz kommen. Die Anpassung der Ober-
mittel- oder Wasserbasis) flächenbehandlungsprozesse an die Anforderungen
Acrylsysteme Serie der unterschiedlichen in einem Fahrzeug verbauten
Substrate stellt eine große Herausforderung dar für
Folie Serie die nächsten Jahre. Der Anspruch nach schnelleren
Spritzbare Folien im Versuchsstadium und energieeffizienteren Prozessen beeinflusst zusätz-
lich den Lackiervorgang der Zukunft.
Transportschutzhauben Serie Die wichtigsten Aktivitäten der Zulieferindustrie auf
die Forderungen der Automobilindustrie sind in
Tabelle 6.3-7 zusammengefasst.
6.3.3 Ausblick
Der Oberflächenschutz der Karosserie hat technisch
einen sehr hohen Stand erreicht, der auch durch die
200
immer umfangreicheren von der Industrie gegebenen
Garantien gegen Durchrostung dokumentiert wird.
Karosserieoberfläche [g/m2]
Organische Lösungsmittel/

150
Bei der Weiterentwicklung der Verfahren setzen Auto-
mobil-, Anlagen- und Lackhersteller immer mehr den 100
Fokus auf umweltverträglichere Produkte und Ver-
fahren. Die gemeinsamen Anstrengungen haben be- 50
reits erhebliche Wirkungen gezeigt. Vor allem durch
den verstärkten Einsatz von Lacken auf Wasserbasis 0
konnten die oberflächenbezogenen Lösemittelemis- Klarlack
Basislack
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
sionen erheblich gesenkt werden, Bild 6.3-9. Sollten Grundlack
Tauchlackierung
Lösemittellack
Lösemittellack
Lösemittellack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
Wasserlack
sich Pulverlacke in ihrem Anwendungsspektrum ver-
bessern, sind weitere Emissionsverringerungen mög- Bild 6.3-9 Rückgang der Emissionen von organi-
lich. schen Lösemitteln
6.4 Fahrzeuginnenraum 445

Tabelle 6.3-7 Aktivitäten für eine zukunftsträchtige Oberflächentechnik


Ziele Beispiele
Erhöhung der Qualität/ • Appearance (Glanz, Struktur (Orange Peel), Fülle, …)
Funktionalität • Farbeffekte (Perleffekt, Mica, …)
• Neue Funktionen (Easy-to-Clean, keine Vereisung, …)
• Kratzfestigkeit
• Beständigkeit gegen chemische und biologische Stoffe
Reduzierung der Prozesskosten • Integrierte Prozesse (nass-in-nass, füllerlos, …)
• Reduzierung der erforderlichen Einbrenntemperaturen
• Applikation mit Robotern und Glocken
• Erhöhung der First-Run-Rate (Clean-Room, No-touch, …)
• Kreislaufführung der Spritzkabinenluft
Produktdifferenzierung • Größere Farbtonvielfalt
• Individualisierung (Mehr-Farben-Lackierung, Folien, …)
• Neue Farbmischkonzepte (on-line)
Umweltschutz/Nachhaltigkeit • Erfüllung nationaler und internationaler Richtlinien
• Einsatz nachwachsender Rohstoffe
• Reduzierung von Emissionen, Energieverbrauch, Abfall, …
• Kreislaufführung von Prozessmedien

Literatur Fachtagungen (Schwerpunkt Automobillackierung):


Karosserielackierung 2010 (jährlich, Bad Nauheim) – 28. Arbeitsta-
Ondratschek, D. u.a.: Besser Lackieren, Jahrbuch 2010 (erscheint gung des 1. Deutschen Automobilkreises, Vincentz-Network,
jährlich), Vincentz-Network, Hannover Hannover
Brock, T. u.a.: Lehrbuch der Lacktechnologie, Vincentz-Network, Karosserielackierung intensiv 2010 (jährlich), Vincentz-Network,
Hannover, 2009 Hannover
Kühn, W.: Formulierung von Kleb- und Dichtstoffen, Vincentz- Strategien der Karosserielackierung 2010 (alle 2 Jahre, Berlin), Vin-
Network, Hannover, 2009 centz-Network, Hannover
Streitberger, H.-J. u.a.: Automotive Paints and Coatings, Wiley- European Automotive Coating – 17. DFO Automobiltagung (jährlich),
VCH-Verlag, Weinheim, 2008 Deutsche Forschungsgesellschaft für Oberflächenbehandlung
Pfaff, G.: Special Effect Pigments, Vincentz-Network, Hannover, (DFO), Neuss
2008
Gscheidle, R.: Fachkunde Karosserie- und Lackiertechnik, Europa
Lehrmittel Verlag, 2008
Kittel, H. u.a.: Lehrbuch der Lacke und Beschichtungen, Hinzel-
Verlag, Stuttgart, 2008
Sapeur, S.: Nanotechnologie, Vincentz-Network, Hannover, 2008
Poth, U.: Automotive Coatings Formulation, Vincentz-Network, Han-
nover, 2007
Goldschmidt, A. u.a.: BASF Handbook on Basics of Coating Tech-
nologies, Vincentz-Network, 2007
Braess, H.-H./Seiffert, U. (Hrsg.).: Automobildesign und Technik.
Wiesbaden: Vieweg Verlag, 2007 6.4 Fahrzeuginnenraum
Kühn, W.: Digitale Fabrik – Fabriksimulation für Produktionsplaner,
Carl Hanser Verlag, München, 2006 6.4.1 Ergonomie und Komfort
DIN-Taschenbücher aus dem Bereich der Normenausschüsse An-
strichstoffe und ähnliche Beschichtungsstoffe, Pigmente und
Die Ergonomie als Begriff hat sich in den letzten
Bindemittel, Beuth-Verlag, Berlin Jahrzehnten von einer nur wenigen Experten bekann-
VDMA-Einheitsblätter „Oberflächentechnik“, Beuth-Verlag, Berlin ten Fachdisziplin in das Bewusstsein einer breiten
VDI-Richtlinien und -Handbücher, Beuth-Verlag, Berlin Öffentlichkeit als Ausdruck für optimale menschen-
Fachzeitschriften: gerechte Gestaltung entwickelt.
JOT – Journal für Oberflächentechnik, Vieweg-Teubner Verlag, Grundsätzlich kann formuliert werden: die Ergono-
Wiesbaden (erscheint monatlich) mie ist die Lehre vom Menschen und seiner Arbeit.
Besser Lackieren, Vincentz-Network, Hannover (erscheint 2× im
Monat)
Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeit und die Arbeits-
MO – Metalloberfläche, I.G.T. Informationsgesellschaft Technik, umgebung optimal an den Menschen anzupassen.
München (erscheint monatlich) Man unterscheidet heute zwischen Macroergonomics,
European Coatings Journal, Vincentz-Network, Hannover (erscheint die Regeln der Gestaltung der Arbeitsorganisation,
monatlich)
Farbe und Lack, Vincentz-Network, Hannover (erscheint monatlich);
des Betriebs und der Arbeitsgruppen umfasst und
Adhäsion KLEBEN & DICHTEN, Vieweg+Teubner Verlag, Wiesba- Microergonomics, die Regeln für die Gestaltung von
den (erscheint 10× pro Jahr) Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln enthält.
446 6 Aufbau

Die Fahrzeug-Ergonomie bearbeitet vor allem zwei Felder

Beleuchtung Akustik
Mechanische
Klima
Schwingungen

Umwelt/Umfeld

Aufgabenstellung Mensch Maschine Aufgabenerfüllung

Mensch-Maschine-System

Belastung
und Bean- Mensch-
spruchung Maschine-
Raum- Schnittstelle/
Geometrie Interaktion
Bild 6.4-1 Einsatzgebiete
ergonomischer Methoden
und Anforderungen

Im Bereich der Microergonomics lässt sich eine Im Automobilbau liegen die Schwerpunkte zunächst
Unterscheidung zwischen der Auslegung von Ar- einmal in der Raumgeometrie und der Mensch-Ma-
beitsplätzen und der Gestaltung von Produkten tref- schine-Schnittstelle.
fen. Ziel der Raumgeometrie ist es, die objektiven und
Dieser Beitrag befasst sich mit der Produktergonomie subjektiven Erwartungen der Kunden zu erfüllen.
im Kraftfahrzeugbau. Auslegungsziel der Mensch-Maschine-Interaktion ist
die optimale Belastung des Fahrers (keine Über-,
6.4.1.1 Ergonomische Anforderungen aber auch keine Unterforderung).
an das „Gesamtfahrzeug“ Hierbei schließt sich der Kreis der optimalen Anpas-
In der Fahrzeugindustrie gibt es heute vielfältige sung (Bild 6.4-2).
Einsatzgebiete für die zugrundeliegenden ergonomi- Um ein „richtiges“ Raumgefühl für Fahrer und In-
schen Methoden und Anforderungen (Bild 6.4-1). sassen festzulegen, ist in der Automobilentwicklung

Mensch-
Raum-
Maschine-
geometrie
Schnittstelle

Ziel: Ziel:
...die Erwartungen der Optimale Entlastung des
Kunden erfüllen handelnden Menschen/
Fahrers

Anthropometrie Handlungsbögen
Haltungen Regeln
Freiräume Musterlösungen

Gefühl Selbst-
Erklärbarkeit
Optimale
Anpassung

Bild 6.4-2 Arbeitsweise der


Ergonomie
6.4 Fahrzeuginnenraum 447

die Packagephase ein entscheidender Entwicklungs-


schritt. Im Package (Kap. 4.2) werden alle relevanten
Fahrzeugkomponenten „zusammengefügt“ und so in
einen Plan eingezeichnet, dass sie in die Außen-
abmessungen hineinpassen. Eine wesentliche Kom-
ponente stellen dabei natürlich die Insassen dar.
Grundsätzlich ist zunächst festzulegen, wie viele und 5p Frau
welche Personen in das neue Fahrzeug „hinein- SRP
passen“ sollen. Dabei ist es klar, dass eine fünfsitzige
95p Mann
Limousine fünf Personen einschl. Gepäck aufnehmen
können muss. Bei einem Sportcoupe ist jedoch zu
entscheiden, ob vollwertige Plätze im Fond vorhanden
sein müssen oder ob es sich um ein 2 + 2 Konzept
(Auslegung Fond nur für kleine Personen oder Kinder) Bild 6.4-4 Verstellfeld eines Sitzes (SRP = Seat
handelt. Reference Point)
Für die Ergonomie ist dabei von ganz wesentlicher
Bedeutung, dass in dieser Phase der „Maßketten-
festlegung“ fast der gesamte Lebenszyklus eines ßer Bedeutung. Die Sitzeinstellung wird in der Regel
Autos in Betracht gezogen werden muss. Inklusive individuell vom Fahrer vorgenommen, jedoch be-
der Entwicklungszeit dauert ein Autoleben etwa 15 stimmen oft räumliche Anordnungen von Anzeigen
bis fast 25 Jahre. und Stellteilen eine andere Positionierung des Sitzes,
Die durchschnittliche Zunahme der mittleren Kör- die zu einer unangenehmen Zwangshaltung und damit
perlänge der Menschen in Mitteleuropa beträgt, zumin- zu einer muskulären Verspannung des Körpers führen
dest bisher, in zehn Jahren etwa 1,5 cm. Das bedeutet, können. Das muss so weit wie möglich verhindert
dass die Ergonomen ihr Raumkonzept für die Insassen, werden.
die in 15 Jahren wahrscheinlich größer sein werden, Der Fahrer soll in einer komfortablen Grundhaltung
bereits heute auslegen müssen. sitzen können und dabei genügend Bewegungsfrei-
Wesentlich beeinflusst vom Gesamtfahrzeugkonzept räume durch Verstellung des Sitzes für eine optimale
wird die Sicht nach außen. Eine entscheidende Kenn- – orthopädische – Körperhaltung erreichen.
größe dafür ist die Sichtverdeckung in der Rundum- Das im Package von Fahrzeugtechnikern festgelegte
sicht, also die Summe aller Segmente des Umfeldes Sitzverstellfeld zeigt die Verstellmöglichkeiten des
des Fahrzeugs, welche durch die Säulen des Green- Sitzes in Länge und Höhe. Eine kleine Frau, genannt
house nicht einsehbar sind. Typische Sichtverde- 5-Perzentil, würde im Feld links oben und ein großer
ckungswerte liegen zwischen 65° und 90°, abhängig Mann (95-Perzentil) rechts unten mit seinem Becken
von Anzahl, Breite und Lage der Säulen (Bild 6.4-3). bzw. H-Punkt = Hüftpunkt sitzen. Ein ausgewählter
H-Punkt im Sitzverstellfeld ist der Sitzreferenzpunkt
Fahrerarbeitsplatz (SRP), der für vergleichende Messungen verwendet
wird (Bild 6.4-4).
Eine wichtige Schnittstelle zwischen Fahrer und Wichtig ist dabei, dass jede Einstellung im Sitzver-
Fahrzeug ist der Sitz, gemeinsam mit den informati- stellfeld eine optimale Sicht auf Anzeigen und Er-
onstechnischen Komponenten (Anzeigen) und den reichbarkeit der Stellteile, aber auch von Ablagen er-
Stellteilen für die Fahrfunktionen. möglicht. In vielen Fahrzeugen ist deshalb heute eine
Der Sitz ist vor allem als Stütz-, Halte- und Positio- zusätzliche Lenkradverstellung in Neigung und Länge
nierungsfunktion des Fahrers im Automobil von gro- zur optimalen Positionierung des Fahrers vorgesehen.
Aber auch der Sitz selbst ist mit einer Vielzahl von
Verstellfunktionen versehen (Bild 6.4-5); selbst diese
vielen Möglichkeiten einer Komfortverbesserung wer-
den ständig erweitert, so gibt es bereits heute „Klima-
“ oder „Massagesitze“. Damit wird den Ansprüchen
der Nutzer an den Fahrzeugkomfort gemäß der Be-
dürfnispyramide entsprochen.
Bei der Gestaltung des Sitzes ist es unerlässlich
ergonomische Aspekte zu berücksichtigen, bezüg-
lich:
− der Fixierung des Körpers,
− der Freiräume für Betätigungen,
− der Erleichterung des Ein- und Ausstiegs,
Bild 6.4-3 Sichtverdeckung der Rundumsicht − und der generellen Einstellbarkeit.
448 6 Aufbau

KNV KHV
30°
135 mm
(80)

LKV
25°

14°

LTV +30 mm
25mm 41
X = 1565 °
Y = -390 LHV
Z = 167
–30 mm
STV
180 58 LNV
–30 mm +30 mm

27,5
+4°
X = 1293,9 26,5
Z = 14,1
SNV
X = 1286,01 +29,5 mm
Z = -1,29

–4° SHV
69,8

–26,5 mm
15,4

60 340 X = 1680
X = 1289,4 Z = -30,25
Z = -24,9 106,5
309
80
P4 P3
X = 1265,5 X = 1634,9
Z = -55,75 SLV X = 1628,9
Z = -19,7 Z = -24,2
–180 mm +55 mm
(Kernmaß Bobl.)

Bild 6.4-5 Einrichtungsmaße und Verstellfunktionen eines Sitzes

SLV Sitzlängsverstellung dern es werden auch frühe und hohe Aussagefähig-


SHV Sitzhöhenverstellung keiten ermöglicht.
SNV Sitzneigungsverstellung Die zunehmende Komplexität im Fahrzeug-Entwick-
STV Sitztiefenverstellung lungsprozess führt dazu, dass im Auslegungsablauf
SBV Sitzbreitenverstellung immer früher, immer schneller und immer mehr Ziele
LNV Lehnenneigungsverstellung gleichzeitig erfüllt werden müssen.
LTV Lordosentiefenverstellung Das wird unterstützt durch den Einsatz von digitalen
LHV Lordosenhöhenverstellung Menschmodellen in CAD Systemen. Es existiert hier-
LKV Lehnenkopfverstellung zu eine Vielzahl von Angeboten für spezielle, zusätz-
KHV Kopfstützenhöhenverstellung liche Untersuchungsthemen wie der Crashsimulation
KNV Kopfstützenneigungsverstellung (z.B. Madymo) oder des Klimaempfindens.
Daneben wurde jedoch eine noch größere Zahl von
allgemeinen Menschmodellen entwickelt, die für die
6.4.1.2 Ergonomische Grundauslegungen
Auslegung von Arbeitsplätzen geeignet sind. Alle
In frühen Definitionsphasen wird die Packageaus- diese Rechnermodelle versuchen, den Menschen in
legung mit der Einführung der CAD-Technik in den bestimmten Anwendungsfällen mehr oder weniger
Automobilentwicklungsprozess und damit der 3-di- genau nachzubilden; sie liefern ein dreidimensionales
mensionalen Darstellung nicht nur beschleunigt, son- Abbild.
6.4 Fahrzeuginnenraum 449

Bild 6.4-6 Cockpitauslegung


mit RAMSIS

In der Automobilindustrie hat sich das von den deut- prüfung der statischen Kopffreiheit ist z.B. die Kopf-
schen Fahrzeugherstellern entwickelte Menschmodell bewegungskontur ein gut einsetzbares Hilfsmittel, das
RAMSIS als Standard durchgesetzt. Der heutige dem Verhalten realer Personen entspricht.
Stand des RAMSIS-Modelles erlaubt es, statische Hal- Das entscheidende Kriterium für den Einsatz des
tungen sowie Bewegungen des Hand-Arm-Systems RAMSIS ist jedoch die richtige Wahl der geomet-
und der Beine in Fahrzeugkonzepten zu untersuchen. rischen Restriktionen. Hier müssen Erfahrungswerte
Daneben können Aussagen über die Sicht und die vorhanden sein, die u.U. von Hersteller zu Hersteller
Erreichbarkeit von Bedienelementen gemacht wer- verschieden sind.
den. RAMSIS kann sogar „aus den Augen schauen“ Bei einem modernen Entwicklungsablauf werden mit
und Verdeckungen, bedingt durch Lenkrad oder Hilfe des RAMSIS im Package die Positionen der für
Hutzen, erkennen. die Auslegung relevanten Personen gefunden und ihre
Dabei ist die Übereinstimmung der gefundenen Hal- Reichweiten, Sichtfelder und Anlageflächen fest-
tung mit der eines realen Menschen durch Versuche im gelegt. Diese Flächen werden dann in das Styling-
Fahrsimulator und durch spezielle Versuchsfahrten in Programm ALIAS übertragen. Ein CAS-Designer
einem realen Fahrzeug belegt (Bilder 6.4-6 und 6.4-7). entwirft das Interieur unter Berücksichtigung dieser
Von Vorteil ist dabei die Möglichkeit, über das Vorgaben, wobei er zusammen mit dem Ergonomen
Komfortmodell zumindest Tendenzen der Komfort- Bauteile, wie z.B. Heizungs- und Radiobedienung
verbesserung feststellen zu können. Für die Über- positioniert (siehe auch Kap. 4.1).

Bild 6.4-7 Erkennbare


Überdeckungen aus Sicht der
„RAMSIS-Augen“
450 6 Aufbau

Das fertige ALIAS-Modell wird dann in Schaum


gefräst und in ein Ergonomiemodell eingebaut, wo es Laser
von Versuchspersonen und Entscheidungsträgern be-
Kamera
urteilt werden kann. Mit dieser Vorgehensweise
können in der Regel eine Vielzahl von Konzepten
a
durchgespielt werden, bevor man das zielführende
Konzept in den sehr kosten- und zeitaufwendigen
W
Aufbau von Prototypen einarbeitet.
Der Aufbau der traditionellen Konzeptmodelle glie-
dert sich in der Regel in die Bereiche Geometrie- Objekthöhe 1
Aufbauten sowie Anzeige- und Bedien-Sitzkisten.
b
Während es sich bei letzteren hauptsächlich um einen
Funktionsmusterbau handelt, der dem User-Interface- W = Triangulationswinkel b = Höhendifferenz
Team zur Umsetzung der Bedienkonzepte in Hard-
Bild 6.4-8 Laserschnittverfahren
ware und die damit verbundenen ergonomischen
Aussagen über Anzeige- und Bedienlogik, Haptik, auf. Da die Position der Laserlichtquelle und der
Material, Bedienakustik etc. dient, werden die Geo- Kameras bekannt ist, lässt sich die Position eines
metrie-Aufbauten für anthropometrische und Wahr- Profilschnitts in X- und Y-Richtung berechnen. Die
nehmungs-Untersuchungen eingesetzt. Position in Z-Richtung erhält man durch die Bewe-
Zielsetzung der Modellaufbauten ist immer die Ab- gung der gesamten Anordnung von oben nach unten
sicherung von Package- und Designvorschlägen. (Bild 6.4-8).
Viele dieser Untersuchungen können in frühen Pha- Auf diese Weise entsteht eine der Körperoberfläche
sen virtuell bearbeitet werden. entsprechende dreidimensionale Punktewolke. Ein
Triangulationsprogramm berechnet aus den einzelnen
Anthropometrische Vermessung
Punkten eine geschlossene Oberfläche.
Mit Hilfe der oben beschriebenen Konzeptaufbau- Die Vermessung kann nun an dem dreidimensionalen
ten werden Reihenuntersuchungen durchgeführt, bei Abbild der Versuchsperson erfolgen. Dabei werden
denen ausgewählte Versuchspersonen die geomet- Strecken und Umfänge entweder direkt gemessen oder
rischen Verhältnisse beurteilen. Dabei ist es erforder- über die Anpassung eines Menschmodelles erfasst.
lich, die Körpermaße der Beurteiler genau zu kennen, Immer entscheidender wird heutzutage die Beurtei-
um gesicherte Aussagen in Hinblick auf das ange- lung des Raumeindrucks, also des Fahrzeugcharak-
strebte Kundenkollektiv zu erhalten. Heute haben ters: Ab welcher Höhe vermittelt zum Beispiel eine
sich berührungslose Messverfahren durchgesetzt. Da- Brüstungshöhe ein Gefühl der Sicherheit/Geborgen-
bei kann die Versuchsperson durch Kameras in ver- heit und, ab welcher Höhe wird die Sicht nach außen
schiedenen Ansichten aufgenommen oder die Kör- beeinträchtigt?
peroberfläche in einem Laserscanner erfasst werden. Um eine vergleichende Darstellung verschiedener
Bei der Aufnahme mit Kameras aus verschiedenen Geometrievarianten zu ermöglichen, werden variable
Richtungen wird ein Menschmodell entweder manu- Modellaufbauten erstellt. Diese erlauben dem Insas-
ell oder automatisch den Bildern überlagert und so sen, unterschiedliche Raumgeometrien elektromoto-
lange verändert, bis es dem Bild der zu vermessenden risch einzustellen und im direkten Vergleich zu er-
Person entspricht. leben. Hierbei können die Aufgabenstellungen weit
Bei der Vermessung mit Hilfe eines Laserscanners gespannt sein, beispielsweise der Abgleich alter und
werden Laserlinien auf den Körper projiziert. Meh- neuer Generationen oder mit Vergleichsfahrzeugen,
rere Kameras, die rund um den Körper angeordnet alternative Sitzanordnungen oder das Erleben ver-
sind, nehmen die Laserlinie unter definierten Winkeln schiedener Exterieurvarianten als Insasse (Bild 6.4-9

Bild 6.4-9 Lange Version


einer verstellbaren Sitzkiste
6.4 Fahrzeuginnenraum 451

Bild 6.4-10 Kurze Version


einer verstellbaren Sitzkiste

sächlich nach CA-Daten gefräste Schaumteile Ver-


wendung (Bild 6.4-12).
Die kundengerechte und sichere User-Interface-Ge-
staltung in Kraftfahrzeugen stellt vor dem Hinter-
grund ständig steigender Funktionsvielfalt für Desig-
ner, Ergonomen und Bauteilkonstrukteure eine be-
sondere Herausforderung dar. Aus der Konsumere-
lektronik bekannte Bedienkonzepte sind im Fahrzeug
nur bedingt einsetzbar, da die besonderen Randbe-
dingungen der Bedienung bei gleichzeitiger Erfüllung
der Fahraufgabe zu berücksichtigen sind.
Die Zahl verfügbarer Bedienfunktionen in Kraftfahr-
zeugen hat sich in den letzten Jahren dramatisch
Bild 6.4-11 Ermittlung der seitlichen Kopffreiheit erhöht. Während in den sechziger Jahren zwischen 20
und 30 Funktionen neben den reinen Fahrfunktionen
und Bild 6.4-10). Von großem Vorteil ist hier die zur Verfügung standen, verfügt ein gut ausgestattetes
Kombination von In- und Exterieur, der eingestellte Fahrzeug der Luxus-Klasse heute über ca. 1.500
Innenraum lässt sich so sehr leicht in seinen Außen- dieser Funktionen. Die Grafik zeigt die zahlenmäßige
proportionen nachvollziehen und umgekehrt (Bild Entwicklung von Bedienelementen und Anzeigen bei
6.4-11). Komplexere Variationen lassen sich mit Kraftfahrzeugen (Bild 6.4-16).
speicherprogrammierbaren Steuerungen sehr komfor- Ende der achtziger Jahre wurde vorübergehend
tabel und präzise realisieren. eine Trendumkehr bei der Anzahl der Anzeigen er-
Wurden Modellaufbauten bisher in Schnitten aufge- reicht.
baut – dabei ist eine Fläche durch eine Anzahl von Dies wurde durch den Einsatz einer multifunktionalen
Spanten dargestellt, deren Oberflächen teilweise Anzeige erzielt, in diesem Fall ein Display zur Aus-
miteinander verbunden werden – finden heute haupt- gabe von Text. Dadurch wurden viele Warnlampen
für Fahrzeugzustandsmeldungen (z.B. Waschwasser-
stand) überflüssig.
Eine weitere Trendumkehr zeigte sich Anfang der
neunziger Jahre. Erstmals sank auch die Zahl der
Bedienelemente. Dies wurde wiederum durch Multi-
funktionalität erreicht, in vorliegendem Fall durch
frei belegbare und beschriftbare Tasten.
Durch Einsatz eines Bildschirms ergeben sich neue
Möglichkeiten der Darstellung und Gestaltung von
Funktionen sowie der Kartendarstellung von Naviga-
tionssystemen (Kap. 6.4.2).
Durch die Vernetzung von Informationen und durch
die Tatsache, dass fast überall und zu jeder Zeit
Informationen abrufbar sind, ist ein steiler Anstieg
der sogenannten Sekundärfunktionen, also der Funk-
tionen, die nicht unmittelbar zum Fahren gehören, zu
Bild 6.4-12 CA-gefräste Schaumteile zur frühen Be- verzeichnen.
wertung des Raumgefühls
452 6 Aufbau

human modelling in car development

MADYMO

RobCAD/man

RAMSIS

Vorentwicklungsthemen

Ziel- Konzept- Konzept- Serien- Produktions- Prozess-


Vorserien
definition definition entwicklung entwicklung vorbereitung sicherheit
strategischer Zielkatalog

Zielkatalog

Abschluss Freigaben
Planungsauftrag

Design-Freeze

Serienanlauf
Teilebestätigung für Vorserie
Bild 6.4-13 Einbindung der
Ergonomie in den Produkt-
entstehungsprozess

6.4.1.3 Entwicklungsmethoden, Einbindung immer weiter eingeengt werden. Zusätzlich steuern


der Ergonomie in den Produkt- praktisch alle am Prozess beteiligten Fachstellen in
entstehungsprozess der Vorentwicklungsphase ihre Anforderungen ein.
Dies hat für ein Simulationstool zwei Haupt-Anfor-
Menschmodellierung
derungen zur Folge:
im Fahrzeugentwicklungsprozess
– Schnelligkeit: Um der steigenden Anzahl von
Durch Computersimulation in der Definitions- und Konzeptideen und Produktvarianten gerecht zu
Konstruktionsphase eines neuen Produktes können werden, muss die ergonomische Einzeluntersu-
langwierige und kostspielige Tests (wie bereits be- chung in immer kürzerer Zeit mit immer höherem
schrieben) reduziert werden. Aussagegehalt abgearbeitet werden.
Seit den sechziger Jahren wurden weltweit ca. 150 – Transparenz: Um allen Projektpartnern eine effi-
verschiedene Menschmodelle mit unterschiedlichen ziente Entscheidungshilfe zur Verfügung zu stel-
Zielsetzungen entwickelt (Auslegung/ergonomische len, müssen die Untersuchungsergebnisse darstelle-
Bewertung von Sitzarbeitsplätzen oder manuellen risch, inhaltlich und graphisch leicht, schnell und
Arbeitsplätzen, Klimadummies, Crashdummies, Ani- dennoch präzise umsetzbar sein.
mationstools). Die meisten davon sind sog. „In-house-
Entwicklungen“, die, von Industrieunternehmen ent- Die hier vorgestellten Menschmodelle sind zur Zeit
wickelt, ganz spezielle Aufgabenschwerpunkte haben. für eine Anwendung in der Automobilentwicklung
Einige der Werkzeuge zur Simulation menschlichen prädestiniert. Ihre Zielsetzungen weichen allerdings
Verhaltens sollen am Beispiel Automobil (und Mo- jeweils mehr oder weniger stark voneinander ab. Für
torrad) exemplarisch im Kontext des Produktentste- die geometrische Auslegung des Fahrzeuges ist das
hungsprozesses erläutert werden. Der Fokus liegt Simulationsprogramm RAMSIS am bedeutendsten.
hierbei auf einer prozessorientierten Betrachtung. – RAMSIS:
Bewertet man den gesamten Prozess (Bild 6.4-13), (Rechnergestütztes anthropometrisch-mathemati-
so wird deutlich, dass spätere Änderungen am Pro- sches System zur Insassen-Simulation) ist ein drei-
dukt höhere Kosten auslösen, da der Detaillierungs- dimensionales Menschmodell zur Auslegung und
grad des Produktes und die dazugehörigen Kosten- Analyse von Fahrerarbeitsplätzen (Bild 6.4-14).
auswirkungen etwa exponentiell mit der Entwick- Hervorstechendstes Merkmal von RAMSIS sind
lungszeit zunehmen. die Haltungsmodelle. In Versuchen mit per Video-
Simulationstools greifen also am effizientesten zu grammetrie oder mit Markersystemen vermesse-
Beginn einer Entwicklung (Kap. 11.3). Folge ist, dass nen Probanden in verschiedenen Szenarien (Auto-
in der Zieldefinitionsphase („Produktvision“) und in mobil, Lkw, Motorrad . . .) gewonnene Daten lie-
der Konzeptphase, deren Abschluss der Zielkatalog fern nach Auswertung mit RAMSIS selbst statisti-
ist, alle konzeptionellen Produktparameter festgelegt sche Modelle für Gelenkwinkelverteilungsfunktio-
werden müssen. Daher wird in diesen Phasen mit nen. RAMSIS ist dann in der Lage, unter Defini-
einer hohen Zahl infrage kommender Alternativen tion der Aufgabe mittels Restriktionen wahrschein-
gearbeitet, die mit fortschreitendem Projektstatus lichste Haltungen zu simulieren.
6.4 Fahrzeuginnenraum 453

Bild 6.4-14 Platzierung der


Mensch-Modelle im Fahr-
zeug

Neben den klassischen Überprüfungsmöglichkeiten che Weiterentwicklungen finden auch für die meis-
wie Sichtsimulation und Greifräume bietet RAMSIS ten anderen Menschmodelle (z.B. Transom/Jack
zahlreiche Analysetools wie z.B. Spiegelsicht, Kom- oder DELMIA/SAFEWORK) statt.
fortbewertung der Haltungen und Gurtanalysen. Im Ein weiteres sehr wichtiges Problem ist die Anbin-
Produktentstehungsprozess kommt RAMSIS in der dung des RAMSIS an das Fahrzeug über den Sitz.
Definitions- und Konzeptphase zum Einsatz. Dies geschieht bis heute durch einen Translations-
Seit der Einführung des Programms wird in der vektor, der den nach SAE definierten H-Punkt
Industrie, bei Zulieferern und an Universitäten mit dem Hüftgelenk des Menschmodells verbindet.
kontinuierlich an der Weiterentwicklung der Soft- Dadurch wird das Modell im Sitzverstellfeld plat-
ware gearbeitet. Ein wichtiges Teilprojekt ist dabei ziert. Dieser Offset-Vektor ist für jeden Menschen
„RAMSIS-Dynamisch“ (Bild 6.4-15). Hier wird unterschiedlich und der statistische Zusammenhang
das Menschmodell schrittweise in die Lage versetzt zwischen Geschlecht, Körpergröße und Korpulenz
Bewegungen, von Arm- und Beinbewegungen bis und Offset muss für jeden Sitz neu bestimmt wer-
zu Ganzkörperbewegungen, zu simulieren. Ähnli- den. Mit Hilfe von Mehrkörpersystemen und der
Beschreibung der Sitzeigenschaften im Rechner
wird derzeit versucht das realistische Einsitzverhal-
ten von Menschen zu simulieren.
Es könnte letztendlich vollständig auf die heute
noch notwendigen und bereits beschriebenen Ver-
suchsaufbauten (Sitzkiste) verzichtet werden. Tat-
sächlich wird den Entscheidungsträgern aber auch
in näherer Zukunft das bestätigte Konzept in einem
Gesamtmodell vorgestellt werden.
Ein wichtiges Simulationsinstrument für die Ausle-
gung und ergonomische Überprüfung von Industrie-
arbeitsplätzen ist neben Transom/Jack das Programm
eM-Human.
– eM-Human (früher RobCAD/man):
ist eine Applikation, die es erlaubt, Werkersimu-
lationen innerhalb einer Untersuchungszelle des
Montageplanungssystems eM-Power (Tecnomatix)
durchzuführen. Hierbei können alle relevanten
Werkertätigkeiten hinsichtlich ergonomischer und
zeitlicher Gesichtspunkte virtuell abgesichert wer-
den. Im Einzelnen werden Zugänglichkeit (Greif-
und Freiräume), Einsehbarkeit, Erreichbarkeit,
Taktzeiten, etc. betrachtet.
Hingewiesen werden soll noch auf weitere Ent-
Bild 6.4-15 Weiterentwicklung des RAMSIS für den wicklungsmethoden, wie Klima- oder Akustik-
dynamischen Ein- und Ausstieg dummies.
454 6 Aufbau

Nach einer zeitweisen Konzentration der Menschmo- Monitor


delllandschaft werden in letzter Zeit wieder neue
Simulationsprogramme entwickelt mit erweiterten
Einsatzspektren und Darstellungsmöglichkeiten. Die
Hersteller moderner Menschmodelle kooperieren Audio Basis Einst. Klima Basis Einst.
dabei zunehmend bei der Entwicklung neuer Funk- Eingabeelement
tionalitäten.
Eine große Herausforderung für zukünftige Simula-
tionstools besteht in der Aufgabe, menschliche Eigen- Bild 6.4-17 Typische Konstellation einer Cockpit-
schaften auch bis hin zu kognitiven Fähigkeiten Gestaltung in einem modernen Pkw
realistisch und gesamthaft darzustellen.
6.4.1.4 Neue Entwicklungen zur Mensch- keine Blickzuwendung erfordern. Das bedeutet, dass
Maschine-Interaktion die Anzahl der Schalter bzw. Eingabemöglichkeiten
entsprechend reduziert werden muss (Bild 6.4-17).
Bei einer ständig steigenden Anzahl von Sekundär-, Da der Bildschirm ein zentrales Element der neuen
also nicht direkt der Fahraufgabe dienenden Funktio- Bedienkonzepte ist, muss dessen Bedienung konse-
nen, besteht gleichzeitig der Wunsch nach einer quent auf Fahrtauglichkeit optimiert werden. Das Ziel
Vereinfachung der Bedienung. heißt: Bedienung mit minimaler Blickzuwendung.
Eine Analyse der Anzahl der Schalter und Anzeigen Weltweit geht die Entwicklung in zwei grundsätz-
in den Cockpits von Fahrzeugen der letzten 50 Jahre liche Richtungen: Systeme mit Touchscreen und
zeigt eine starke Zunahme ab Mitte der 70er Jahre Systeme mit mechanischen Eingabeelementen.
(Bild 6.4-16). Touchscreens werden vor allem von japanischen
Zu dieser Zeit wurde durch die Mikroelektronik eine Herstellern eingesetzt. Sie bieten den Vorteil eines
neue Ära der Fahrzeugfunktionalität eingeläutet. Da kompakten, als Einheit einbaubaren Systems. Die
ein Ende dieses Funktionszuwachses nicht in Sicht Einstiegsschwelle für ungeübte Nutzer ist niedrig, da
ist, wurden neue Formen der Mensch-Maschine-Inter- Hand und Auge eng zusammenspielen. Nachteilig ist
aktion im Fahrzeug entwickelt. Die Zunahme der die fehlende haptische Rückmeldung, sowohl beim
Infotainmentfunktionen sowie der Fahrerassistenzsys- Auffinden als auch beim Auslösen einer Funktion.
teme führen weg vom Einzelgerätekonzept hin zu Außerdem muss der Bildschirm im Greifbereich
multifunktionaler Anzeige und Bedienung mit Dis- positioniert werden. Das führt zu einem relativ gerin-
plays. gen Abstand zum Auge und zu verlängerten Akko-
Der Bildschirm kann im primären Sichtbereich posi- modationszeiten.
tioniert werden. Wenn der Bildschirm also sehr weit Systeme mit mechanischen Eingabeelementen kön-
oben, möglichst nahe am Fahrgeschehen, und auch nen gute haptische Rückmeldung bieten. Die Dreh-
relativ weit weg vom Auge des Fahrers liegt, um die knöpfe, die von vielen europäischen Herstellern
Akkomodationszeit gering zu halten, dann ist eine eingesetzt werden, zeigen über Raststellungen das
Lage erreicht, bei der die Ablenkung vom Verkehrs- Weiterwandern eines Cursors an.
geschehen minimal ist. Für die Steuerung des Bildschirms werden unter-
Die Bedienung des Bildschirms kann im optimalen schiedliche Konzepte bei den Eingabeelementen
Greifbereich, also z.B. in einer Armauflage, angeord- verfolgt (z.B. VW Phaeton, Audi A8). Als zentrales
net werden. Voraussetzung dafür sind Bedienteile, die Element wird zwar immer ein Dreh-Druck-Knopf
verwendet, doch wird eine unterschiedliche Anzahl
von zusätzlichen Tasten für Menüwechsel hinzuge-
70 fügt. Durch die teils fest teils variabel belegten Tasten
60 wird die Einstiegsschwelle für unerfahrene Nutzer
niedrig gehalten. Allerdings wird umso mehr Blick-
50
zuwendung notwendig, je größer die Anzahl der
40 Tasten ist, wie man aus der Arbeitswissenschaft weiß.
30 Eine andere Lösung besteht darin, nur ein einziges
Element zur Steuerung des Bildschirms zu verwen-
20
den und keinerlei weitere Tasten hinzuzufügen. Zum
10 Dreh-Druck-Knopf wird noch der Freiheitsgrad
0 „Schieben“ hinzugefügt. Dies erlaubt Menüwechsel
502 2000 E21 E24 E23 E32 E38 E65 F01
1952 1962 1975 1976 1977 1986 1994 2001 2008 ganz ohne Blickzuwendung, da die Menüs ähnlich
Anzeige Bedienelemente wie bei einer Gangschaltung aufgerufen werden.
Zudem bieten neue Techniken wie variables Force-
Bild 6.4-16 Zunahme von Anzeigen und Bedienele- Feed-Back und Spracheingabe hervorragende Mög-
menten in Fahrzeugcockpits (Beispiel BMW) lichkeiten, eine Fahrzeugbedienung hinsichtlich redu-
6.4 Fahrzeuginnenraum 455

zierter Blickzuwendung und geringer Ablenkung vom Trotz neuer Interaktionsformen und trotz Fahrerassis-
Verkehrsgeschehen weiter zu verbessern. Ebenso las- tenzfunktionen, die den Fahrer in seiner Fahraufgabe
sen sich die seit längerem von den Autoradios be- entlasten, scheint mittlerweile eine Grenze bei der
kannten Stationstasten zu sogenannten Favoriten- Anzahl der einzusetzenden Funktionen erreicht. Diese
tasten weiterentwickeln. Sie können zusätzlich zu Grenze wird durch zwei Faktoren bestimmt:
Audiofunktionen z.B. mit Telefonnummern und
1. Die mentale Kapazität des Fahrers, die für die Be-
Navigationszielen belegt werden und ersparen da- dienung von Sekundärfunktionen notwendig ist
durch komplexe Eingabevorgänge. und die je nach Fahrsituation unterschiedlich groß
Gerade das Thema Spracheingabe wird, obwohl seit ist.
Jahren für Teilumfänge eingeführt, noch an Bedeu- 2. Die Akzeptanz einer immer komplexeren Bedie-
tung gewinnen. Hier geht der Weg über Erweiterung nung durch den Kunden. Insbesondere ältere Au-
des erkannten Wortschatzes, Erkennung von unbe- tofahrer akzeptieren neue und komplexe Systeme
kannten, nur als ASCII-Zeichen vorhandenen Wor- nur dann, wenn sich daraus für sie ein echter
ten, wie z.B. Namen in einem Telefonregister, Word- Nutzwert ergibt.
spotting, also dem Erkennen von Schlüsselworten in
einem flüssig gesprochenen Text hin zu natürlich- Mittlerweile hat man auch auf Seiten der Gesetzgeber
sprachlichem Dialog. Dabei müssen nicht nur die in der Bedienung des Fahrzeugs potentielle Grenzen
reine Spracherkennertechnik weiterentwickelt wer- erkannt und arbeitet nun an Maßnahmen, um lenkend
den, sondern auch die Dialogstrukturen. Die Akzep- einzugreifen. Die weltweite „driver distraction“ –
tanz von Spracheingabesystemen hängt zu einem sehr Diskussion (USA, Japan, Europa) zeigt dies sehr
großen Teil von der Erkennerleistung ab, aber auch deutlich. Diese Empfehlungen betreffen nicht die Art
von den Dialogen an sich. der Mensch-Maschine-Interaktion, da man die Ent-
In den nächsten Jahren wird Spracherkennung zu- wicklung bei den Fahrzeugherstellern nicht blockie-
mindest für wichtige Funktionen weiterhin redundant ren will, wohl aber Prüfverfahren, denen sich die
ausgelegt sein, d.h. die Funktionen, die über Sprache fertige Mensch-Maschine-Schnittstelle unterziehen
bedient werden, können auch über ein anderes Me- sollte. Als Beispiel sei hier der sogenannte Okklusi-
dium bedient werden. Der Grund liegt darin, dass onstest genannt.
Situationen, in denen Spracheingabe nicht vollständig
funktioniert, nicht ausgeschlossen werden können. Literatur
Man denke in diesem Zusammenhang nur an Lärm [1] Bandow, F.; Helbig, K.; Vogt, N.: Bestimmung der Fahrersitz-
von aussen, Kinder im Fahrzeug, Erkältungen, die position im Fahrbetrieb, ATZ 10/2004 Jahrgang 106, Friedr.
sich auf die Stimme schlagen etc. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH Wiesbaden
[2] Bengler, K.; Herrler, M.; Künzner, H.: Usability Engineering bei
Eine Herausforderung für die Gestaltung der Mensch- der Entwicklung von iDrive, In „it+ti“ Informationstechnik und
Maschine-Interaktion stellen die Fahrerassistenzsys- Technische Informatik 3/2002, Oldenbourg Verlag
teme dar [s. Kap. 8.5.5]. Das sind Systeme, die den [3] Bubb, H.: Ergonomie in Mensch-Maschine-Systemen. Tagung
Fahrer in seiner unmittelbaren Fahraufgabe unterstüt- Komfort und Ergonomie in Kraftfahrzeugen, Haus der Technik,
Essen, 1997
zen, also in der Regelung der Längs- und Querdyna- [4] Bubb, H.: Ergonomie und Sitzgestaltung, Berichte aus der
mik. Wie zeigt man beispielsweise einem Fahrer an, Ergonomie, Shaker Verlag, Aachen 2004
dass er im Begriff ist, die Straße zu verlassen? Wie [5] Bullinger, H.-J. et al.: Anthropometrische und kognitve Evaluie-
zeigt man an, dass der Regelbereich des Längsdyna- rung der Fahrer-/Fahrzeug-Schnittstelle im PKW, ATZ 98
(1996) 7/8
miksystems nicht ausreicht, und der Fahrer selbst [6] Chaffin, D.: Digital Human Modeling for Vehicle and Work-
bremsen muss? Wie warnt man den Fahrer, dass die place Design, SAE, 2001
Gefahr des „Sekundenschlafes“ besteht? Das Spekt- [7] Cherednichenko, A.; Assmann, E.; Bubb, H.: Computational
Approach for Entry Simulation, Digital Human Modeling for
rum der möglichen Anzeigearten reicht von Anzeigen
Design and Engineering, SAE Conference Lyon, 2006
mit Displays über Akustik/Vibrationen bis hin zu [8] Distler A. et al: Das Anzeige- und Bedienkonzept (BMW 7er),
Eingriffen am Stellteil selbst. So könnte das Fahrzeug ATZ extra 11/2008, S.62ff.
z.B. das Erreichen des Fahrbahnrandes durch ein [9] Färber, B.: „Mehr Instrumente, mehr Sicherheit?“ VDI-Bericht
819, 1990, S. 1 – 18
Lenkmoment signalisieren und den Fahrer intuitiv
[10] Fastenmeier, W.: Welche Informationen brauchen Fahrer wirk-
veranlassen, seine Spur zu korrigieren. Wenn Lenken lich? VDI Bericht Nr. 948, VDI-Verlag, Düsseldorf, 1992
und Verzögern nicht mehr über mechanische Verbin- [11] FAT-Bericht 123: „RAMSIS – Ein System zur Erhebung und
dungen der Bedienelemente zu den Aktuatoren son- Vermessung dreidimensionaler Körperhaltungen von Menschen
zur ergonomischen Auslegung von Bedien- und Sitzplätzen im
dern „by wire“, also durch eine elektronische Steue-
Auto“, FAT-Bericht 135: „Mathematische Nachbildung des
rung, erfolgen, ergeben sich neue Möglichkeiten der Menschen – RAMSIS 3 D Softdummy“, 1997
Mensch-Maschine-Interaktion. Hier wird eine der [12] Hafner, E.: Ergonomische Aspekte bei der Gestaltung zukünfti-
größten Herausforderungen darin bestehen, Systeme, ger Cockpits, In Ergonomie und Verkehrssicherheit (Bubb,
Hrsg.) Konferenzbeiträge zur Herbstkonferenz 2000, GfA, Her-
die sich in vielen Jahren Automobilgeschichte durch-
bert Utz Verlag, München, 2000
gesetzt haben, zu ersetzen und etwas spürbar Besseres [13] Handbuch für Ergonomie, Hrsg. Bundesamt für Wehrtechnik
zu entwickeln. und Beschaffung, Koblenz, 1989
456 6 Aufbau

[14] Jeitner, M.; Küchler, W.; Schaare, R.: „Weniger Schalter im aber in einem Gerät zusammengefasst. Zusätzlich
Fahrzeuginterieur“, ATZ 09/2005, 107. Jahrgang S. 746
befindet sich die mobile Nutzung von Internet-
[15] Keck, E.: Grundlagen zur Entwicklung und Gestaltung von
Kraftfahrzeuginstrumenten, Dissertation, Berlin, 1987 diensten sehr stark im Wachstum, wird aber im We-
[16] Krems, J. F.; Keinath, A.; Baumann M.; Bengler K.; Gelau, C.: sentlichen durch portable Geräte (Smartphone) abge-
Evaluating Visual Display Designs in Vehicles: Advantages and deckt.
Disadvantages of the Occlusion Technique, Chemnitz Technical
University, Chemnitz, 2000
Die am häufigsten genutzten Standards und Systeme
[17] Küchler, W.; Schaare, R.: Neues Konzept für Mittelkonsolen – sind der UKW-Rundfunk, GSM (Global System for
Innovationen für mehr Bedienkomfort, ATZ 11/2008, S. 1008ff. Mobile Communication), GPRS (General Packet
[18] Künzner, H.: Entwicklung einer Bedienoberfläche für einen Radio System), UMTS (Universal Mobile Telecom-
Fahrzeugmonitor, VDI Bericht Nr. 948, VDI-Verlag, Düsseldorf,
1992
minications System) und GPS (Global Positioning
[19] Landau, K. (Hrsg.): „Mensch-Maschine-Schnittstellen“ Herbst- System). Charakteristisch für die Mehrzahl der Stan-
konferenz der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft Okt. 1998, dards ist, dass sie nicht primär für die Nutzung im
Verlag Institut für Arbeitsorganisation, Stuttgart, 1998 Auto entwickelt wurden und dass ihre Adaption an
[20] Luczak, H.: Arbeitswissenschaft, Springer Verlag, Berlin, 1998
[21] Maier, Th., Schmid, M. Petrov, A.: HMI with Adaptive Control
dieses Umfeld hohen Aufwand erfordert.
Elements, ATZautotechnology 07/2008, S. 50ff. Im Folgenden soll auf die Basisgeräte und einige
[22] Matschi, H.: Trends am Fahrerarbeitsplatz – Konnektivität, Verknüpfungen genauer eingegangen werden.
Mensch-Maschine-Schnittstelle und Systemintegration, ATZ-
elektronik 1/2008, S.42ff. 6.4.2.2 Rundfunkempfang
[23] Preh GmbH: Artikel „Einfacher Fahren“, Automobil Elektronik
Sonderausgabe „Preh GmbH“ S. 10, Sept 2006 Rundfunkempfang ist ein vielgenutzter Dienst im
[24] Seidl, A.: RAMSIS das führende Ergonomiewerkzeug für Design Kfz. Er erfolgt entweder über ein klassisches Autora-
und Entwicklung von Kraftfahrzeugen. Tagung Fahrzeugkomfort dio, ein Radionavigationsgerät oder als Internetradio
Haus der Technik Essen, 1999
[25] SAE J: 1100 Motor Vehicle Dimensions Society of Automotive über ein Mobiltelefon.
Engineers Inc. Warren Dale, Jun 1993 Das Autoradio [1] steht als Oberbegriff für Rund-
[26] Schmidtke, H.: Ergonomie, Carl Hanser Verlag München Wien, funkempfänger, Kassettenlaufwerk, CD-Laufwerk
1993 oder -Wechsler und ähnliche primär der Unterhaltung
[27] Sonderheft ATZ MTZ: „VW Phaeton“, Friedr. Vieweg & Sohn
Verlagsgesellschaft mbH Wiesbaden, Juli 2002 dienende Anlagen. Ein Standardgerät hat heute typi-
[28] Sonderheft ATZ MTZ: „AUDI A8“, Friedr. Vieweg & Sohn scherweise UKW, RDS, eine 4 × 20 W-Endstufe und
Verlagsgesellschaft mbH Wiesbaden, 2002 ein CD-Laufwerk. Geräte mit der Möglichkeit, digital
[29] Timpe, T.-P.; Kolreb, H. (Hrsg.): Mensch-Maschine-System- komprimierte Musikstücke (z.B. MP3) abzuspielen,
technik, Symposion Publishing Düsseldorf, 2002
[30] Vollmer A.: Der Flachbildschirm fürs Auto, Automobilelektronik liegen im Trend. Anschlussmöglichkeiten tragbarer
April 2010, S.34ff. Geräte oder Halbleiterspeicher (USB-Stick, SD-Card)
[31] Zeller, A.; Wagner, A.; Spreng, M.: IDrive – Zentrale Bedienung sind gefragt und im Begriff das CD Laufwerk abzulö-
im neuen 7er von BMW, In VDI-Ber. Nr. 1646, VDI-Verlag
sen. Verstärkt wird auch eine Bluetooth Anbindung
Düsseldorf, 2001
integriert, um ein Mobiltelefon anzubinden; insbe-
sondere für eine Freisprechfunktion.
In Europa wird überwiegend UKW-Rundfunk gehört.
In einigen Ländern (UK, Schweiz, Dänemark, Nor-
wegen) ist Stand 2010 auch das Digital Radio System
DAB nach dem Standard (EN300401) eingeführt
6.4.2 Kommunikationssysteme worden. Weitere Länder befinden sich in der Vorbe-
und Navigation reitung zur Einführung des Digital Radios.
6.4.2.1 Ziele und Lösungen 6.4.2.2.1 Analoger Rundfunkempfänger
Kommunikationssysteme und Navigation im Auto Die in einem UKW-Empfänger eingesetzten Schal-
decken im Wesentlichen drei Themenkreise ab: Sie tungsblöcke zeigt Bild 6.4-18.
dienen dazu, die Fahrtroute zu optimieren, indem sie In einer geregelten Vorstufe wird durch abgestimmte
etwa unnötige Suchfahrten oder Wartezeiten in Staus Bandpassfilter eine erste, grobe Selektion des ge-
zu vermeiden helfen. Sie bieten während der Fahrt wünschten Senders erreicht. Im Mischer wird das
Unterhaltung, sei es in Form von Musik aus dem Signal mit Hilfe eines PLL-kontrollierten Oszillators
Radio oder durch Beschreibungen von Sehens- auf die Zwischenfrequenz von 10,7 MHz umgesetzt.
würdigkeiten an der Strecke, und sie erhöhen Sicher- Hier findet die eigentliche Selektion des Senders statt.
heit und Komfort z.B. indem sie im Pannenfall die Das ZF-Signal wird zum Multiplexsignal (MPX-S)
Weitergabe von Informationen aus dem Auto heraus demoduliert. Bild 6.4-19 zeigt dessen Spektrum. Es
ermöglichen oder erlauben, das passende Hotel zu enthält das Audiosignal in Form eines Mono- und
finden und zu buchen. eines Stereosignals und die Zusatzsignale des RDS.
Die Realisierung dieser Funktionen fußen auf drei Störungen, die durch die Motorzündung hervor-
Basisgeräten: Autoradio, Mobiltelefon und Navigati- gerufen werden, können im MPX-Signal erkannt und
onsanlagen. Mehr und mehr werden diese Funktionen ausgeblendet werden.
6.4 Fahrzeuginnenraum 457

10,7 MHz
87–108 MHz 120 kHz Bandbreite 50 μsec
1 μV –1 V 5 μV–50 mV 90 dB Verst. Deemphase

Selektion
geregelte Lautstärke
Begrenzer-
selektive Zündstörungs- Stereo-- Klang- Audio -
Mischer verstärker
abgestimmte unterdrückung Decoder Balance- Endstufe
Vorstufe Steller
Demodulator

abgestimmter RDS
PLL
Oszillator Empfänger

Tasten
μC CD-Laufwerk
Anzeige

AM-
Empfänger

Bild 6.4-18 Blockschaltbild eines einfachen Autoradios

tige Anforderungen zu erfüllen, haben hochwertige


Mono
Autoradios häufig mehrere Empfänger:
Stereo 1. Es lässt sich durch die geeignete Verknüpfung der
Pilot RDS ZF-Signale zweier Empfänger, die über zwei im
Fahrzeug installierte Antennen das Signal eines
gleichen Senders empfangen, die Empfangsquali-
tät für diesen Sender verbessern. Dazu sind zwei
Regelsysteme im Einsatz, einmal eine schnelle
19 57 kHz
Umschaltung zwischen den beiden Signalen auf
Bild 6.4-19 Spektrale Aufteilung der Audio- und Zu- das jeweils momentan bessere Signal, zum ande-
satzsignale im MPX-Signal ren eine adaptiv gewichtete Addition der beiden
Signale mit dem Ziel eines möglichst störungs-
armen Summensignals. Die Wirkung lässt sich
Nach der Stereodecodierung und dem Ausgleich der als Richtungsselektion beschreiben, die störenden
senderseitigen Höhenanhebung (Deemphase) liegen Mehrwegeempfang ausblendet.
die ursprünglichen Audiosignale wieder vor. 2. Im Hintergrund stimmt sich ein Empfänger stän-
In gängigen Empfängern erfolgt Verstärkung, Selek- dig auf unterschiedliche Sender mit dem einge-
tion, Demodulation und Stereodekodierung bis hin stellten Programm ab und bewertet die Qualität im
zur Audioverarbeitung in digitaler Form in einem Vergleich zum gehörten Sender. Falls der Emp-
Prozessor. Dadurch sind sehr viel aufwändigere fang auf einer anderen Frequenz besser ist, schal-
Regelmechanismen als bei herkömmlichen analogen tet das Radio automatisch auf diesen um.
Lösungen möglich. Ein verbesserter Empfang wird 3. Zusatzsignale werden nicht von allen Sendern
z.B. durch eine variable Bandbreite des ZF-Filters abgestrahlt. Ein Hintergrundempfänger ermöglicht
möglich. es, diese Signale von einem anderem als dem ge-
Das Audiosignal lässt sich durch die digitale Verar- hörten Sender zu empfangen.
beitung optimal auf die akustischen Eigenschaften Dabei werden die einzelnen Empfänger häufig situa-
des Fahrzeuginnenraumes anpassen, etwa durch einen tionsabhängig für unterschiedliche Aufgaben genutzt.
adaptiven Equalizer oder durch eine Verarbeitung, Durch die Miniaturisierungsfortschritte der Halblei-
bei der Fahrgeräusch und Audiosignal analysiert tertechnik lässt sich heute die digitale Signalverarbei-
werden und das Audiosignal so modifiziert wird, dass tung für mehrere Empfänger in einem Chip zusam-
das Fahrgeräusch verdeckt wird. Um weitere vielfäl- menfassen.
458 6 Aufbau

Tabelle 6.4-1 Einige Informationsinhalte des RDS-Telegramms

PS Name der Rundfunkanstalt (max. 8 ASCII-Zeichen)


PTY Kennzeichnung des Programminhalts z.B. Nachrichten, Sport, Musik, . . .
TP Kennzeichnung eines Senders mit Verkehrsfunkmeldungen
AF Frequenzliste von Sendern mit gleichem Programm
EON Informationen über max. 8 andere Programmketten (PTY, TP, TA, AF etc.)
TA Kennzeichnung einer Verkehrsfunkmeldung
TDC transparenter Datenkanal
CT Datum- und Zeitangabe

6.4.2.2.2 RDS (Radio Data System) 6.4.2.3 Digitaler Rundfunkempfang


Über RDS [2] werden unhörbar im Rundfunksignal In den letzten Jahren sind digitale Übertragungs-
verschiedene Steuer- und Informationsdaten übertra- verfahren für den Rundfunk entwickelt worden. Für
gen, Tabelle 6.4-1. die terrestrische Verbreitung steht das System DAB
Die für Autofahrer wichtigsten mit RDS übertragenen nach der Norm [EN 300401] für die Frequenzen
Informationen sind Kennungen für Verkehrsfunk- 170 – 240 MHz (Band III) und 1.450 – 1.490 MHz (L-
sendungen und -Durchsagen. Band) zur Verfügung. Für die Lang-, Mittel- und
Sehr hilfreich sind auch die Angaben über die Fre- Kurzwelle steht das DRM System zur Verfügung.
quenzen von Sendern mit dem gleichen Programm Eine Erweiterung (DRM+) eignet sich für das UKW
(AF). Da die Region, in der ein Rundfunkprogramm Band (87 – 108 MHz).
empfangen werden kann, meist größer als die Reich- Für die Ausstrahlung über Satellit sind in den USA
weite eines Senders ist, muss bei Überlandfahrten zwei Systeme eingeführt worden.
öfter die Frequenz gewechselt werden, wobei die Em-
6.4.2.3.1 DAB
pfangsqualität im Abstand weniger Meter schwankt.
Die AF-Information ermöglicht es, dieses Umschal- DAB steht für Digital Audio Broadcast und ist ein
ten im Autoradio zu automatisieren. digitales Übertragungssystem, mit dem Rundfunk-
empfang in der Qualität vergleichbar wird mit dem
Eigenschaften von RDS: Hören digitaler Speichermedien. Bei der Übertragung
Übertragungsverfahren: Amplitudenmodulation mit wird nicht mehr unterschieden zwischen Audio-,
unterdrücktem Träger bei 57 kHz ± 2,4 kHz, phasen- Video- oder Daten sonstiger Anwendungen. Die Da-
starr zum Pilotton, Datenrate 1,2 kbit/sec. tenströme können freizügig aus unterschiedlichen
Teildatenströmen zu einem Multiplex-Signal zusam-
6.4.2.2.3 TMC mengesetzt werden. Es ist geplant, dass DAB lang-
Eine Anwendung des TDC in RDS ist TMC (Traffic fristig den UKW-Rundfunk ersetzt.
Message Channel). Über diesen Kanal werden Ver- Das Übertragungsverfahren ist für mobilen Empfang
kehrsmeldungen codiert übertragen. Für die Codie- konzipiert, toleriert Mehrwegeempfang und hat um-
rung werden standardisierte, länderspezifische Ka- fangreiche Fehlerkorrekturmöglichkeiten.
taloge von Verkehrsknotenpunkten und Strecken- Die hohe Datenrate macht DAB besonders geeignet
abschnitten im Fernstraßennetz, Regionen und ein für Zusatzdienste mit bildlichen Darstellungen.
Katalog von standardisierter Verkehrsstörungsursa- Erweiterte Verkehrsinformationsdienste im Rahmen
chen verwendet. Hierdurch wird eine äußerst kom- des TPEG Formates befinden sich in der Entwicklung.
pakte und sprachunabhängige Codierung erreicht. Für Eine Variante der DAB Technologie, das so genannte
die Übertragung von TMC-Meldungen sind dadurch DMB System ermöglicht die TV Übertragung an
nur ca. 100 bit/sec erforderlich. portable Empfänger. Erste kommerzielle Ausstrah-
Die TMC-Meldungen können im Empfänger deco- lungen auf Basis dieser Technik existieren in Korea
diert werden und entweder mittels synthetischer und Deutschland. Weitere digitale Übertragungsver-
Sprache als Audiosignal ausgegeben, als Textmel- fahren sind in Kapitel 8.5.4, „Infotainment/Multi-
dung auf einem Display angezeigt oder für dyna- media“ zu finden.
mische Routenberechnung in einem Navigationssys- Die Ausstrahlung von DAB Programmen erfolgt im
tem verwendet werden. Da die Codierung sprach- VHF Band für landesweite bzw. nationale Verbrei-
unabhängig erfolgt, können die Meldungen bei der tung. Lokale Angebote insbesondere im städtischen
Decodierung in verschiedene Sprachen übersetzt wer- Bereich erfolgen im L-Band. Durch den Gleichwel-
den, was es ermöglicht, Meldungen auch im fremd- lenbetrieb erfolgt die Ausstrahlung für das gesamte
sprachigen Ausland in seiner eigenen Landessprache Versorgungsgebiet auf der gleichen Frequenz. Dies
zu hören oder als Textmeldung zu lesen. stellt eine einheitliche Versorgung für alle Program-
6.4 Fahrzeuginnenraum 459

me sicher, nutzt die vorhandenen Frequenzen gut aus werden über Satelliten auf geostationären oder hoch-
und erspart dem Hörer das Umschalten der Frequen- gradig elliptischen Umlaufbahnen im Frequenzband
zen. 2.310 – 2.360 MHz mehr als hundert Rundfunkpro-
Nach der internationalen Frequenzplanungskonferenz gramme landesweit ausgestrahlt. Der Empfang ist
RRC06 stehen ab 2007 ausreichend Frequenzen für auch im Auto möglich. Zur Ausleuchtung von Prob-
die Hörfunkverbreitung zur Verfügung und es beste- lemgebieten wie Innenstädten werden Umsetzer be-
hen auf diesen Frequenzen keine Leistungsbeschrän- nutzt.
kungen.
In 2007 wurde die Überarbeitung DAB+ eingeführt. 6.4.2.4 Mobilfunk im Kfz
Diese nutzt ein verbessertes Verfahren zur Audio- Das Mobiltelefon bietet die Möglichkeit individuell
kompression. (HE-AAC) und einen verbesserten Feh- und bidirektional Informationen auszutauschen. Tech-
lerschutz. Damit können mehr Audio Programme in nische Lösungen gibt es schon seit langem, der
einem DAB Ensemble untergebracht werden. Durchbruch kam jedoch erst nach der Einführung des
GSM-Standards (Global System of Mobile Commu-
6.4.2.3.2 DRM (Digital Radio Mondiale)
nication) [5 – 7]. Er ist in Deutschland mit dem D-
Digital Radio Mondial, kurz DRM, ist ein digitaler und dem E-Netz eingeführt und in vielen anderen
Rundfunkstandard [ES 201980] für die Lang-, Mittel- Ländern weltweit.
und Kurzwelle [3, 4]. Durch ähnliche Verfahren wie Das Mobiltelefonnetz hat sicherzustellen, dass der
bei DAB wird die Übertragung von Signalen auch für Benutzer jederzeit und an jedem Ort anrufen oder
diese Bänder weitgehend störungsfrei gestaltet und angerufen werden kann. Um dieses zu ermöglichen,
durch den Einsatz neuester Audiokompressionsver- besteht das Netz aus umfangreichen hierarchischen
fahren eine gute Qualität für Musik und Sprachpro- Strukturen. Bild 6.4-20 skizziert den Aufbau eines
gramme sichergestellt. Hierdurch wird es möglich die GSM-Netzes.
Vorteile der großen Reichweite zu nutzen und gleich- Die mobilen Endgeräte (MS) kommunizieren über die
zeitig Hörer durch gute Qualität zu gewinnen. Basisstationen (BTS) und Basiskontrollrechner (BSC)
In 2009 wurde die Erweiterung DRM+ ergänzt, die mit den Mobil-Vermittlungsstellen (MSC). In diesem
für Übertragungen u.a. im UKW Band (87–108 MHz) Verbund werden physikalische Eigenschaften der
geeignet ist. Sie bietet auch eine höhere Datenrate. Kommunikation wie Frequenzkanal, Feldstärke, Zeit-
schlitz u.ä. für die Kommunikation mit dem Endgerät
6.4.2.3.3 Satellitenradio festgelegt. Aufgrund von Feldstärken, Fehlerraten
In den USA ist seit 2001 der gebührenpflichtige Satel- etc., die das Endgerät meldet, wird die aktuell zuge-
lite Audio Radio Service (SDARS) in Betrieb. Dabei hörige Basisstation bestimmt oder ein Wechsel der

MS

Register
BTS
Register

Register

MS
BSC
Fest- BTS
netz
MSC

MS

BSC BTS
MS
MSC
BTS

Bild 6.4-20 Das Autotelefon als Teil eines großen Kommunikationsnetzwerkes


460 6 Aufbau

Basisstation vorgegeben. Außerdem wird die Berech- und Sprachcodierung und ein Steuerteil, welches das
tigung bei einem Einbuchungsvorgang überprüft und Zusammenspiel mit dem restlichen Netz koordiniert.
der Aufenthaltsort jedes eingebuchten Benutzers in Dazu kommen Mikrofon, Lautsprecher, Antenne, Tas-
anonymisierter Form verfolgt. Die mobil empfange- tatur, Anzeige, Akku und SIM-Kartenleser. Externe
nen Daten werden für das Festnetz aufbereitet oder Schnittstellen wie IrDA und Bluetooth sowie eine
umgekehrt die aus dem Festnetz stammenden für den Kamera sind weit verbreitete Zusatzausstattungen.
Mobilfunk. Um den Einsatz von Handys im Auto zu verbessern
Bestimmten MSC sind verschiedene Register zuge- und zu vereinfachen, gibt es Einbausätze, die zu-
ordnet, in denen Daten über Benutzer, Geräte u.ä. nächst eine Halterung für das Gerät bieten. Darüber
abgespeichert sind. erfolgt üblicherweise eine Stromversorgung aus dem
Eine Besonderheit von GSM ist die SIM (Subscriber Bordnetz und ein Anschluss an eine externe Antenne.
Identity Modul)-Karte. Diese ins Endgerät einzu- Diese ist wichtig, da mit ihm die Sendeleistung des
steckende Berechtigungskarte trägt u.a. benutzer- Gerätes nicht in der als Faradaykäfig wirkenden Fahr-
spezifische Daten, mit denen sich der Benutzer ge- gastzelle erfolgt, sondern außerhalb abgestrahlt wird.
genüber dem Netz identifiziert. Telefonieren des Fahrers während der Fahrt ist aus
Nutzdaten bei GSM können Sprache, allgemeine Sicherheitsgründen in vielen Ländern, darunter auch
Daten oder Faxdaten sein. Parallel zu einem Telefon- Deutschland, verboten. Einbausätze enthalten deshalb
gespräch können kurze Mitteilungen (Short Message auch häufig eine Freisprecheinrichtung, bei denen die
Service, SMS) übertragen werden. Sprache der Insassen über ein z.B. im Bereich des
Zur Erhöhung der Datenübertragungsrate von Innenspiegels angebrachtes Mikrofon aufgenommen
9,6 kByte/s (bzw. 14,4 kBit/s im Compressed Mode und das Telefon-Audiosignal über einen eingebauten
mit verringerter Fehlerkorrektur) wurden die Dienste Lautsprecher wiedergegeben wird.
(HSCSD (High Speed Circuit Switched Data) und Freisprecheinrichtungen müssen Rückkopplungen
GPRS in GSM eingeführt, bei denen mehrere Daten- unterdrücken, die durch die Aufnahme des aus dem
kanäle gebündelt werden. Bei HSCSD können durch Lautsprecher kommenden Audiosignals im Mikrofon
feste Zuteilung von bis zu acht Kanälen Übertra- entstehen können. Digitale Signalprozessoren ermög-
gungsraten von bis zu 115,2 kBit/s erzielt werden. lichen auch echokompensierende Lösungen, das
Bei GPRS erfolgt wie im Internet keine feste Zuord- gleichzeitige Sprechen und Hören sowie eine Fahrge-
nung von Kanälen zum Nutzer, die Daten werden räuschunterdrückung im Mikrofonsignal.
paketorientiert vermittelt. Mit Hilfe von WAP (Wire- Die Verbindung zwischen dem Mobiltelefon und der
less Application Protocoll) lassen sich eingeschränkt Freisprecheinrichtung wird häufig über Bluetooth
Internet-Seiten im Telefon-Display darstellen. hergestellt.
6.4.2.4.1 UMTS 6.4.2.4.3 Internet Dienste im Fahrzeug
UMTS ist ein Mobilfunk-Standard der dritten Gene- Mit der starken Verbreitung von Smartphones, ange-
ration mit deutlich höherer Datenübertragungsrate [8]. führt durch das Apple I-Phone, wird die Nutzung von
So werden der schnelle Zugang zum Internet und mobilen Internetdiensten immer populärer. Allerdings
mobile multimediale Video- und Daten-Anwendun- bleibt die Bedienung während der Fahrt weiterhin
gen wie etwa mobile Bildtelefonie oder Datenbank- schwierig.
abfragen möglich. Seit Mitte 2004 sind die Netze von
vier Betreibern in Deutschland in Betrieb. Sie decken 6.4.2.5 Bakenkommunikation
zunächst im Wesentlichen die Großstädte ab. Baken [9, 10] dienen der Kommunikation mit einer
Die Datenübertragungsrate bei UMTS nimmt mit meist hinter der Windschutzscheibe im Fahrzeug
dem Abstand von der Basisstation und mit der Ge- installierten Einheit (OBU „on board unit“) über
schwindigkeit der Mobilstation ab. Sie fällt von Entfernungen von einigen Metern. Baken sind i.d.R.
2 MBit/s bei nahezu ruhender Mobilstation in der auf Brücken direkt über der Fahrbahn oder am Rand
Nähe der Basisstation auf 344 kBit/s bei Geschwin- der Straße aufgestellt. Schwerpunkt ihrer Anwendung
digkeiten bis etwa 120 km/h und 144 kBit/s bei höhe- sind die Gebührenerfassung bei fließendem Verkehr
ren Geschwindigkeiten. Die tatsächlichen Übertra- z.B. an Mautstellen oder Zugangsberechtigungsanla-
gungsraten können je nach Netzauslastung noch da- gen. In Deutschland wird diese Technologie für die
runter liegen. Erfassung der LKW Maut eingesetzt.
Als Übertragungsmedium hat sich die Mikrowelle
6.4.2.4.2 Handys im Fahrzeug bewährt. Um die OBU möglichst kostengünstig zu
Die Mehrzahl der Mobiltelefone sind Handys, die machen, werden Up- und Downlink unterschiedlich
nicht primär für den Einsatz im Auto entwickelt wur- realisiert. Für das Uplink vom Fahrzeug zur Bake
den. Die wesentlichen Komponenten eines GSM- wird das Transponderprinzip genutzt, ein von der
Handys sind ein 2-Watt Sende- und Empfangsteil, Bake ausgestrahlter 5,8 GHz-Träger wird in der OBU
eine digitale Signalverarbeitungseinheit für die Kanal- mit einem phasenmodulierten Unterträger von 1,5
6.4 Fahrzeuginnenraum 461

oder 2 MHz moduliert und zurückgeschickt. Dabei Für den Massenmarkt des Automobils bedeutete die
werden Datenraten von 250 kbit/s erreicht. Im Down- Einführung der Navigation, sie so zu gestalten, dass
link moduliert die Bake den 5,8 GHz-Träger in der sie ohne navigatorische Vorkenntnisse zu benutzen
Amplitude. Dabei ist die Datenrate 500 kbit/s. ist, keine Bedienung während der Fahrt benötigt und
Aus Gründen des Datenschutzes enthält die OBU möglichst wenig vom Verkehrsgeschehen ablenkt.
häufig eine anonyme Chipkarte mit einem Guthaben, Diese Ziele wurden durch Systeme erreicht, die dem
von dem die Gebühren abgebucht werden. Fahrer bei notwendigen Abbiegevorgängen rechtzei-
tig gesprochene Hinweise gegeben werden.
6.4.2.6 Fahrzeug-Fahrzeug und Fahrzeug Den Durchbruch im Massenmarkt erreichten Naviga-
Infrastruktur Kommunikation tionssysteme mit so genannten PNDs (Personal Navi-
Im Forschungsstadium befindet sich die sogenann- gation Device), die jeder selbst im Fahrzeug montie-
te Fahrzeug-Fahrzeug Kommunikation (Abgekürzt: ren kann und auch von Fahrzeug zu Fahrzeug mit-
C2C oder V2V). Ebenfalls im Frequenzbereich von nehmen kann. Diese Geräte sind damit allerdings
5,8 bis 5,9 GHz sollen Funkverbindungen zwischen auch nicht in Bedienkonzepte von Fahrzeugen einge-
Fahrzeugen realisiert werden. Dabei senden Fahr- bunden. Die Bedienung über die meistens verwende-
zeuge automatisch Status und Gefahrensignale, die ten Touchscreens ist im Bereich der Windschutz-
von umliegenden Fahrzeugen aufgefangen und aus- scheibe meist nicht problemlos. Die Ablesbarkeit ist
gewertet werden und bei Bedarf weitergeleitet wer- bei starker Sonneneinstrahlung nicht so gegeben wie
den. Hierdurch kann der Fahrer über die aktuelle bei Displays, die in Armaturentafel oder sogar im
Straßensituation und Verkehrslage in seiner Umge- Kombiinstrument verbaut sind.
bung informiert werden, vor kritischen Situationen Mit einer Vielzahl von Zusatzfunktionen gehen heu-
gewarnt werden oder im Notfall kann das Fahrzeug tige Systeme weit über die grundlegenden Navigati-
Notbremsfunktionen automatisch auslösen. Für die onsfunktionen hinaus und sind häufig in Fahrerinfor-
Funkübertragung ist eine Variante „p“ des WLAN mationssysteme integriert. Die wesentlichste Zusatz-
Standards IEEE 802.11p entwickelt worden. funktion ist die Darstellung von Kartenausschnitten in
Zur Ergänzung kann eine Kommunikation zu soge- einem weiten Bereich wählbarer Maßstäbe.
nannten Road-Site Units aufgebaut werden. Hierüber Die Positionsbestimmung erfolgt weitgehend über
fließen dann Informationen über lokale und großräu- das amerikanische Satellitensystem GPS (Global Po-
mige Verkehrslagen (Abkürzung C2I). sitioning System), wird aber zukünftig auch über das
im Aufbau befindliche europäische System GALI-
6.4.2.7 Navigation LEO erfolgen. Weitere Sensoren, wie Wegsignale
Navigationssysteme [11] helfen dem Fahrer, sich in vom Tacho oder Drehratensensoren unterstützen die
fremden Straßennetzen schneller und sicherer zu Ortung in Situationen schlechten Empfangs der
orientieren. Satellitensignale. Die als Geo-Koordinaten mit einer
Navigation basiert auf dem ständigen Vergleich der Genauigkeit von ca. ± 5 m bestimmte Position ist
aktuellen Position mit einem geplanten Weg zu einem allein für den Fahrer nicht nützlich, da er sie zumeist
Ziel. Daraus ergeben sich unmittelbar die unbedingt nicht zu interpretieren wüsste und er daraus auch
notwendigen funktionalen Komponenten, ein Ortungs- keine Schlüsse für seinen Weg ziehen kann. Erst der
system zur ständigen Bestimmung der jeweiligen Vergleich von Positionen mit einem digital gespei-
Fahrzeugposition, eine Eingabemöglichkeit für das cherten Straßenplan ermöglicht eine nützliche Positi-
Fahrziel, eine Routenberechnungseinheit, die Naviga- onsangabe (z.B. durch den Straßennamen) und einen
tionseinheit zur Bestimmung notwendiger Fahrmanö- Vergleich mit einer geplanten Fahrtroute.
ver sowie eine Ausgabeeinheit für Richtungshinweise Zur Planung einer Route muss der Fahrer sein Fahr-
(siehe Bild 6.4-21). ziel eingeben können. Auch dieser Schritt erfolgt in
der Regel nicht unter Verwendung von Geo-Koordi-
Anzeige-
naten, sondern z.B. durch Angabe einer Adresse
Ziel-
eingabe Bedienteil (Stadt, Straße, Hausnummer). Hierzu ist wieder die
Digitale digitale Karte erforderlich.
Karte Tasten
Satelliten- Routen- Die Routenberechnung erfolgt dann von der jeweils
empfänger berechnung aktuellen Position zum eingegebenen Fahrziel in
Positions- Sprach-
bestimmung erkennung einem üblicherweise als gerichteter Graph gespei-
Sensoren Navigation
(Weg, Drehrate)
Zielführung Sprach- chertem Straßennetz der digitalen Karte. Der Nutzer
ausgabe kann zumeist wählen, ob die Route nach dem Krite-
Karten- Display
rium der Fahrzeit, Fahrstrecke oder dem erwarteten
anzeige Kraftstoffverbrauch optimiert werden soll und ob
optional Mautstrecken, Fähren, Autobahnen, Tunnel
Bild 6.4-21 Funktionale Basiskomponenten einer etc. gemieden werden sollen. Auch die Kombination
Fahrzeugnavigation solcher Kriterien und Optionen ist möglich.
462 6 Aufbau

Die Zielführung erfolgt aus dem Vergleich des aktu- reitgestellt. Eine Fusion dieser Daten mit denen der
ell befahrenen Straßenabschnittes mit der Folge der übrigen Sensorik von Fahrerassistenzsystemen dient
Straßenabschnitte, die als optimale Route berechnet außerdem der Absicherung der Signalinterpretation.
wurde. Mit dem wachsenden Datenumfang der digitalen Karte
Liegt der aktuelle befahrene Straßenabschnitt auf der wurde die anfangs eingesetzte CD-ROM als Spei-
Route, wird ermittelt welche Aktion der Fahrer chermedium zu klein. Die DVD hat sie bereits fast
durchzuführen hat, um den nächsten Straßenabschnitt vollständig ersetzt. Aktuelle Systeme werden entwe-
der Route zu erreichen. Diese Aktion kann in einen der mit automotive-tauglichen Festplatten ausgerüstet
Satz für eine synthetische Sprachausgabe oder in eine oder enthalten bei geringeren Anforderungen an den
Grafik übersetzt werden. Muss der Fahrer nur einfach Datenumfang Halbleiterspeicher wie SD-Cards.
dem Straßenverlauf weiter folgen, wird zumeist
nichts gesprochen und nur ein einfaches Symbol mit 6.4.2.8.1 Dynamische Navigation
einer Entfernung zum nächsten Aktionspunkt ausge- Dynamische Navigation unterstützt selbst Fahrer, die
geben. ihre Route kennen, dadurch, dass sie Meldungen über
Der Fahrer erwartet ein Ergebnis der Routenberech- Verkehrsstörungen dazu benutzt, nach Alternativrou-
nung schon wenige Sekunden nachdem er sein Ziel ten zu suchen [12]. Die codierten Verkehrsnach-
eingegeben hat. Bei der Größe heutiger digitaler richten des RDS-TMC werden hierzu verwendet.
Karten im Fahrzeug (z.B. Westeuropa, USA/Kanada) Aus den codiert übertragenen Verkehrsknotenpunkten
stellt dieses hohe Anforderungen an die verwendete vor und hinter einer Störung werden mittels einer
Algorithmik sowie an die Datenstrukturen der Karte. Zuordnungstabelle in der digitalen Karte diejenigen
Auch nach irrtümlichem oder absichtlichem Abwei- Straßenabschnitte bestimmt, die von der Störung be-
chen von der berechneten Route besteht die Erwar- troffen sind. Liegen solche Abschnitte auf der be-
tung, bereits an der nächsten Abzweigung wieder rechneten Route, so wird entweder automatisch eine
einen Hinweis zu erhalten, wie die Fahrt fortgesetzt neue Route berechnet oder es wird dem Fahrer ein
werden soll. Hinweis auf die Störung gegeben und abgefragt, ob er
die Berechnung einer Alternativroute wünscht.
6.4.2.8 Digitale Karte Die standardisierten Störungsursachen des TMC wer-
Die digitale Karte hat in den letzten Jahren an Inhalt den als Verringerung des Verkehrsflusses interpre-
erheblich zugenommen, um dem Fahrer mehr Orien- tiert, so dass gestörte Abschnitte mit einem erhöhten
tierung und Information zu bieten. Fahrzeitbedarf bewertet werden. Nicht bei allen Stö-
Die Darstellung einer Karte auf einem Farbdisplay, rungen mit Ausnahme von Vollsperrungen ergibt sich
die einer gedruckten Karte immer ähnlicher wird, eine sinnvolle Alternative. In solchen Fällen bleibt es
erfordert außer dem Straßennetz Hintergrundinforma- bei der ursprünglichen Route, jedoch mit einem
tionen, wie Gewässer, bebaute Flächen, Eisenbahnen erhöhten geschätzten Fahrzeitbedarf und dem Hin-
und vieles mehr. Sie wird von einigen Systemen auch weis, dass die Route Verkehrsstörungen enthält.
in perspektivischer Pseudo-3D-Darstellung gezeigt. Bei der Berechnung einer Alternativrouten werden
Digitale Geländemodelle sowie Gebäude in Groß- alle gemeldeten Verkehrsstörungen berücksichtigt, so
städten machen die Karte mehr und mehr zu einer dass die Alternative nicht über eine andere gemeldete
fotorealistischen Darstellung. Störung führen kann.
POIs (Points-of-Interest) ermöglichen es dem Nutzer, Auch bei Wegfall von Störungen erfolgt eine Neube-
sein Ziel nicht mittels einer Adresse auszuwählen, rechnung der Route, so dass keine unnützen Umwege
sondern anhand einer Kategorie und im näheren gefahren werden müssen.
Umkreis seiner Position oder eines Fahrzieles. Hier- Nachteile der dynamischen Navigation mittels TMC
mit wird es möglich z.B. die nächste Tankstelle oder liegen darin, dass die Codierung der Verkehrsknoten
Werkstatt zu finden oder ein Hotel oder Restaurant in numerisch begrenzt ist und deshalb nur auf das Fern-
der Nähe seines eigentlichen Fahrzieles zu suchen. straßennetz (in Deutschland Autobahnen und Bun-
Mit der Karte gelieferte digitale Reiseführer bieten desstraßen) angewendet wird. Codierte Meldungen
darüber hinaus Zusatzinformation über Öffnungszei- über andere Straßen erfolgen nicht. Es besteht daher
ten, Hotelzimmer, Menüangebote und alles weitere die Gefahr, dass Alternativrouten über ebenfalls über-
aus entsprechenden Printmedien bekannte. lastete Sekundärstraßen geführt werden.
Weitere Inhalte werden z.Z. in zunehmendem Um- Ein unter der Bezeichnung AGORA-C entwickeltes
fang in die digitale Karte aufgenommen. Sie dienen Verfahren [14] soll zukünftig die Codierung von Ver-
in erster Linie dazu, Fahrerassistenzsystemen detail- kehrsmeldungen auf allen Straßen und ohne Refe-
lierte Informationen über Eigenschaften der voraus renztabellen in der digitalen Karte möglich machen.
liegenden Straßenabschnitte zu liefern. In einem kon- Auf diese Weise codierte Nachrichten können wegen
figurierbaren Vorausschaubereich, dem so genannten der benötigten Bandbreite allerdings nicht mehr über
Elektronischen Horizont [13] werden Daten über z.B. RDS übertragen werden, jedoch bietet DAB eine
Kurvenradien, Steigungen, Straßenbreiten u.v.m. be- entsprechende Möglichkeit.
6.4 Fahrzeuginnenraum 463

Meier
Adam Zentraler
Eva Anzeige- und
Mustermann Bedienteil

INFO NAVIGAT
NAVIGATION
ION CD TP

RADIO FM AM RDS

zum Antriebsstrang Bus zum Innenraum

Unterhaltung Telekommunikation Komfort Kontrolle


Rundfunk, Telefon, Fax, Navigation, Bordcomputer,
Fernsehen, E-Mail, Notruf, RDS-TMC, Rückfahrhilfe,
Laufwerke: Service-Provider, Verkehrstelematik, Alarmanlage,
- Audio Internet Klimaanlage Wegfahrsperre,
- Video Diagnose
Bild 6.4-22 Struktur eines
Fahrerinformationssystems

Durch die TPEG (Transport Protocol Experts Group) Bedienelemente sind häufig als Softkeys rund um das
wurden Verkehrsmeldungen in weiterem Umfang Display angeordnet oder als Tasten in Multifunk-
standardisiert. Sie ermöglichen es außer den bisher tionslenkrädern zu finden. Eine menügeführte Bedie-
bekannten Meldungsinhalten auch Verkehrsprogno- nung über einen zentralen Knopf, der gedreht, ge-
sen und Verkehrsleitstrategien zu übertragen. Inner- drückt und gekippt werden kann, liegt ebenso im
halb des TPEG-Standards können sowohl die TMC Trend wie eine zunehmende Bedienbarkeit durch
Location Codes als auch AGORA-C codierte Stre- Spracherkennungssysteme. Eine besondere Heraus-
ckenabschnitte verwendet werden. Prognosemel- forderung stellt hierbei derzeit noch die Zieleingabe
dungen ermöglichen es Navigationssystemen, Umge- von Navigationssystemen durch gesprochene Städte-
hungen von staugefährdeten Abschnitten zu suchen, und Straßennamen wegen ihrer hohen Vielzahl dar.
bevor die Störung entstanden ist. Meldungen mit Die akustischen und grafischen Ausgaben der Sys-
Leitstrategien können von Verkehrsleitzentralen ein- teme können priorisiert werden, so dass eine Informa-
gesetzt werden, um Verkehrsströme aufzuteilen. tionsüberflutung des Fahrers vermieden werden kann.
Dabei werden Alternativrouten für unterschiedliche
Zielgebiete übertragen. Diese können außerdem für
Literatur
Fahrzeugtypen (Pkw/Lkw) unterschiedlich sein. Über-
lastungen des Sekundärnetzes durch Ausweichver- [1] Elektronik im Kraftfahrzeugwesen, expert Verlag Band 437,
kehr kann damit vermieden werden. TPEG-Meldun- ISBN 3-8169-1024-6, 1994
gen sind zur Übertragung über digitale Kanäle vorge- [2] RDS-Standard: CENELEC EN 50067
[3] Riegler: DRM – Digital Radio Mondial, Siebel-Verlag, Baden-
sehen. Sie könnten z.B. über UMTS-Web-Services Baden 2006, ISBN 3-88180-650-4
abgerufen werden. [4] Hofmann, F.; Hansen, C.; Schäfer, W.: Digital Radio Mondiale
In Japan wird dynamische Navigation über das Ve- (DRM) – Digital sound broadcasting in the AM bands. IEEE
hicle Information and Communication System Trans. On Broadcasting, Bd. 49 (2003), Nr. 3
[5] GSM recommendations, Special Mobile Group (Technical
(VICS) angeboten. Es arbeitet ähnlich TMC auf Basis Comittee SMG), ETSI, European Telecommunications Stan-
codierter vordefinierten Punkte im Straßennetz, be- dards Institute, F-06921 Sophia Antipolis Cedex
nutzt aber andere Kommunikationsverfahren. [6] Mouly, M.; Pautet, M.: 4, rue Elisee Reclus, F-91120 Palaiseau,
The GSM System for Mobile Communications, Autorenveröf-
6.4.2.8.2 Fahrerinformationssysteme fentlichung, ISBN: 2-9507190-0-7
[7] Redl, S.; Weber, M.: D-Netz-Technik und Messpraxis, München:
Navigation ist bereits in vielen Fahrzeugen ein Be- Franzis, 1993 (Funkschau: Technik) ISBN 3-7723-4851-3
standteil von Fahrerinformationssystemen geworden. [8] Walke, B.; Althoff, M. P.; Seidenberg, P.: UMTS – Ein Kurs, J.
Schlembach Fachverlag, 2001, ISBN 3-9353-4015-X
Diese erleichtern dem Fahrer die Benutzung der [9] CEN, ENV 12253, CEN, ENV 278/9/#64 und 65 Road Trans-
vielfältigen Funktionen verschiedener Systeme nach port and Traffic Telematics
einheitlichen Prinzipien und geben ihre Informatio- [10] Detlefsen, W.; Grabow, W.: Interoperable 5.8 GHz DSRC Sys-
nen zumeist auf einem zentralen, gemeinsamen Dis- tems as basis for Europeanwide ETC Implementation, 27th Euro-
pean Microwave Conference EMC, Jerusalem, Sep. 1997
play aus. [11] Elektrik und Elektronik für Kraftfahrzeuge, Sicherheits- und
Die funktionalen Komponenten eines Fahrerinforma- Komfortsysteme, Ausgabe 98/99, Herausgeber Robert Bosch
tionssystems zeigt Bild 6.4-22. Sie sind zumeist über GmbH, Stuttgart, Bestell Nr. 1 987 722 037
ein Bussystem miteinander verbunden und können [12] Neukirchner, E.: Einfluss von Verkehrsmeldungen auf die Rou-
tenempfehlungen fahrzeugautonomer Zielführungssysteme, ITG-
dezentral an verschiedenen Stellen im Fahrzeug ver- Fachbericht „Informatik im Verkehr“, Vorträge anlässlich VDE-
baut sein und sind zum Teil oder alle in gemeinsamen Kongress ’96, Okt. ’96 in Braunschweig, Copyright: VDE-Ver-
Gehäusen untergebracht. lag GmbH Berlin und Offenbach, ISBN 3-8007-2205-4
464 6 Aufbau

[13] Vogt, V.; Garrelts, M.: Navigation-based Driver Assistance Beurteilungsindex des globalen Raumklimas) ein so-
Systems, IST European Congress, Hannover, Germany – TS 37
wie die davon abhängige Größe PPD (Predicted Per-
“Map Enabled ADAS” 3 June 2005
[14] Ertico, Avenue Louise 326, B-1050 Brussels Belgium: Location centage of Dissatisfied) als den erwarteten Prozent-
referencing change request for ISO, Version 1.0, 10. 02. 2003 satz der Unzufriedenen (siehe auch [3]). Aus den
http://www.ertico.com/en/activities/activities/agora_website.htm empirischen Daten leitete er erstmals eine komplexe
[15] CAR 2 CAR Communication Consortium Manifesto: http://
www.car-to-car.org
Berechnungsformel für den PMV mit folgenden Para-
[16] Baldessari, R.; Festag, A.; Abeille, J.: NEMO meets VANET: A metern ab:
Deployability Analysis of Network Mobility in Vehicular Com-
munication
– Umwelt (Lufttemperatur, -geschwindigkeit, -feuchte,
Published: In Proceedings of 7th International Conference on Strahlung)
ITS Telecommunications (ITST 2007), pages 375 – 380, Sophia – Aktivität
Antipolis, France, June 2007 – Kleidung
[17] Hoeg/Lauterbach: “Digital Audio Broadcasting”, Wiley, ISBN
978-0-470-51037-7 Damit ist eine rechnerische Abschätzung des zu er-
wartenden thermischen Komforts möglich. Im Kraft-
fahrzeug herrschen jedoch inhomogenere und dyna-
mischere Bedingungen als in Gebäuden. Die Schei-
ben in der oberen Kabinenhälfte führen zu völlig
unterschiedlichen Strahlungs- und Isolationswerten,
die wiederum unterschiedliche Luftgeschwindigkei-
ten und -temperaturen erfordern, um thermischen
Komfort zu erreichen.
Auf Basis der Fanger’schen Behaglichkeitsuntersu-
chungen wurden für das Fahrzeug spezifische Bewer-
6.4.3 Innenraumbehaglichkeit/ tungsmethoden entwickelt, die anstelle des globalen
Thermischer Komfort Komforts den lokalen Komfort an einzelnen Körper-
Die sehr hohe Ausstattungsrate mit Klimaanlagen teilen mit dem LMV (Local Mean Vote) bewerten [4,
selbst bei Kleinfahrzeugen unterstreicht die außeror- 5, 6] (Bild 6.4-24). Dabei dient der bereits im frühen
dentlich wichtige Rolle des thermischen Komforts Stadium einer Fahrzeugentwicklung mit CFD-Be-
und so wird eine Klimaanlage inzwischen von Fahr- rechnungen (Computational Fluid Dynamics) simu-
zeugkäufern häufig als Grundausstattung erwartet. lierte LMV zu einer ersten Voraussage des thermi-
Behaglichkeit bedeutet entspanntes Fahren, Entlas- schen Komforts, der dann in realen Fahrzeugen über
tung und Konzentration auf die primären Fahraufga- subjektive Komfortbewertungen oder Messungen mit
ben. thermischen Dummies bestimmt wird.
Nach der Theorie sollte es eigentlich kein regional
6.4.3.1 Komfortbedürfnisse der Fahrzeuginsassen unterschiedliches Komfortempfinden geben; in der
Bubb [1] beschreibt in einer Komfortpyramide (Bild Praxis zeigen sich jedoch tatsächlich regionale Vor-
6.4-23) die verschiedenen Bedürfnisfaktoren, die für lieben – während in Europa und Asien eher eine
das individuelle Komfortempfinden erfüllt sein soll- indirekte und zugfreie Klimatisierung gewünscht
ten. Nach dieser Hierarchie werden Komfortmängel wird, sollte für den US-amerikanischen Markt eine
erst bewusst, wenn die darunter liegenden Bedürfnis- direktere Klimatisierung dargestellt werden. Dies
se erfüllt sind. kann durch spezielle Ländervarianten der Klimarege-
Fanger [2] führte eine Vielzahl von Probandenstudien lung, durch die Auswahl individueller Klimastile oder
zum thermischen Komfort in Gebäuden durch. Er neuerdings auch durch spezielle Komfortausströmer
führte den PMV (Predicted Mean Vote, gemittelter erreicht werden (Bild 6.4-25). Damit kann jeder
Insasse die Ausströmcharakteristik der Auslaßdüse
entsprechend seiner individuellen Komfortbedürfnis-
Ästhetik Ambiente, Luxus se zwischen diffus (zugfrei), konventionell oder spot
Anthropro Haltungs- und
(direkter Luftstrom) einstellen [7].
metrie Bedienungskomfort Klimatisierung reduziert den thermischen Stress und
Klima
wirkt damit positiv auf Reaktion, Vigilanz, Wahr-
nehmung/Entscheidung und Emotionen und trägt
Lärm somit auch zur Sicherheit im Straßenverkehr bei [8].
Umweltkomfort
Umfangreiche Tests zeigten die Abnahme von Reak-
Schwingungen, Licht tionsgeschwindigkeit, Sinneswahrnehmung und Kom-
binationsgabe um 20 % bei Anstieg der Innenraum-
Geruch
temperatur von 25 auf 35 °C [9, 11]. Über den ther-
mischen Komfort hinaus werden auch zunehmend
Bild 6.4-23 Komfortpyramide nach Bubb Technologien gefordert, die den Aufenthalt im Fahr-
6.4 Fahrzeuginnenraum 465

Stirn

Schulter
min, LMV
Brust
max. LMV
Oberarm opt. LMV

Ellbogen

Hand

Bauch

Hüfte

Oberschenkel

Knie

Knöchel

Fuß
–1,5 –1 –0,5 0 0,5 1 1,5 2
etwas neutral etwas warm Bild 6.4-24 Komfort-
kühl warm
LMV
bewertung an Körperteilen
mit LMV

Das Modul Klimagerät besteht im Wesentlichen aus


den Hauptkomponenten (siehe auch Bild 6.4-26):
– Frischluft-/Umluftgehäuse
– Gebläse
– Filter
– Verdampfer zur Temperatursenkung und Luftent-
feuchtung (siehe 3.3.2)
– Heizkörper zur Temperaturerhöhung (siehe 3.3.2)
– optional elektrischer Zuheizer (PTC) (siehe 3.3.2)
– Regeleinrichtung zur Temperatureinstellung
– Luftverteilung (Klappen an Auslässen)
Die Grundfunktionen eines Klimagerätes können wie
folgt charakterisiert werden:
Bild 6.4-25 Komfortausströmer mit einstellbarer – Luft fördern
Ausströmcharakteristik (Werkbild Behr) – Luft reinigen
– Luft temperieren und entfeuchten
zeug angenehmen machen und eine Wellness-Atmos- – Luft verteilen
phäre schaffen. Im Umfeld der Klimatisierung zählen
hierzu Beduftung und Luftionisation [10], die sich
zunehmend im Markt etablieren. Luftleitelement

6.4.3.2 Funktionen und Aufbau


von Klimageräten
Das vollständige Klimatisierungssystem besteht aus
dem Heizkreislauf, dem Kältekreislauf, der Luftan- Lüfterrad
saugung mit Wasserabscheidung, dem Klimagerät, Heizkörper
den Luftführungen und Luftaustritten zum Innen-
raum, der Kabinen-Entlüftung sowie der zugehörigen
Bedienung, Regelung und Steuerung mit Sensorik
und Aktuatorik.
Der Heiz- und Kältekreislauf ist bereits in Kap. 3.3.2
beschrieben, so dass hier der Schwerpunkt auf das
Verdampfer
Klimagerät, die Luftführung und die Regelung gelegt
wird. Bild 6.4-26 Hauptkomponenten eines Klimagerätes
466 6 Aufbau

Wasserab- Verteil- Kanäle/ Fahrzeug-


Gebläse Luftfilter
scheidung gehäuse Auslässe entlüftung

Δp

Strömungsrichtung
Bild 6.4-27 Druckverlauf bei
der Kabinendurchströmung

6.4.3.2.1 Funktionen des Klimagerätes – unangenehmen Geruchsereignissen, automatisch auf


Luft fördern Umluft umzuschalten.
Im Zuge der Effizienzsteigerung der Klimatisierung
Im Frischluftbetrieb wird die Luft vom Gebläse über wird versucht, den Umluftanteil zu vergrößern. Die
Öffnungen in oder an der Motorhaube über eine bereits temperierte Umluft ist mit weniger Energie-
Wasserabscheidung in das Klimagerät angesaugt. einsatz auf Wunschtemperatur zu halten verglichen
Durch die Luftverteilklappen wird die inzwischen zur fortlaufenden Temperierung der Außenluft. Der
temperierte Luft über Kanäle und Luftauslässe in die sinnvolle Umluftanteil wird nach oben begrenzt durch
Kabine gefördert. Nach der Durchströmung der den benötigten Frischluftanteil zur Aufrechterhaltung
Kabine gelangt die Luft über Öffnungen im Heckbe- des Sauerstoffgehaltes der Innenluft und durch den
reich, die Entlüftung, wieder ins Freie. Bedingt durch sich bei Umluft einstellenden Feuchtegehalt, der zu
den Druckabfall in der Entlüftung baut sich im ge- Scheibenbeschlag führen kann.
schlossenen Fahrzeug ein leichter Überdruck von ca. Das Gebläse, ausgeführt als Radialgebläse, (Bild 6.4-
20 Pa auf, der ein Einströmen von nicht temperierter 28) besteht aus einem Lüfterrad, dem Spiralgehäuse
und ungereinigter Luft durch Undichtigkeiten verhin- und einem Motor. Der Gebläsemotor kann als Perma-
dert. In Bereichen in denen aufgrund der aerodynami- nentmagnetmotor oder als bürstenloser BLDC-Motor
schen Gegebenheiten bei Fahrt ein hoher Staudruck ausgeführt sein.
entsteht, wie z.B. im Stirnwandbereich, wird die Zur Luftmengenvariation erfolgt die Ansteuerung des
Kabine besonders sorgfältig abgedichtet. Vor allem Motors über Vorwiderstandsgruppen mit entspre-
bei kalten Außentemperaturen führt direkt eindrin- chender Stufigkeit oder zunehmend stufenlos über
gende Außenluft zu sehr unangenehmen Zugerschei- elektronische Regler.
nungen. Je nach Kabinengröße werden die Gebläse für das
Bild 6.4-27 zeigt einen typischen Druckverlauf von Abkühlen oder Aufheizen auf eine maximale Luft-
der Ansaugung bis zur Entlüftung. menge von 7 bis 11 kg/min ausgelegt. Im stationären
In der Wasserabscheidung wird die angesaugte Fall werden deutlich geringere Luftmengen benötigt.
Frischluft vor dem Eintritt in die Kabine und ins Zur Auswahl des passenden Gebläses wird die für ein
Klimagerät von mitgerissenen Wassertropfen und Fahrzeug erforderliche Luftmenge mit den Druckab-
Schnee getrennt. Dies erfolgt durch Umlenkungen
oder durch Reduzierung der Luftgeschwindigkeit. Die
Luft soll dem Klimagerät möglichst tröpfchenfrei zu- Laufrad
Luft-
geführt werden. austritt
Die Wasserabscheidung ist im Allgemeinen vor der
Kabine im Motor- oder Aggregateraum angeordnet.
Der Ansaugbereich der Außenluft befindet sich meist
unmittelbar am unteren Ende der Frontscheibe.
Der nachfolgende Gebläsetrakt beinhaltet das Geblä-
se, sowie das Frischluft-Umluftgehäuse, in welchem
Klappen zur Umschaltung von Frisch- auf Umluft
vorgesehen sind. Die Umluft wird im Cockpitbereich
aus dem Kabineninneren angesaugt. Umluft wird vor Luft-
eintritt
allem zur schnelleren Kabinenabkühlung sowie zur
Abschottung gegen schlechte Außenluftqualität ein- Spiralgehäuse
gestellt. Ein Luftgütesensor für die Außenluft wird
heute häufig genutzt um, z.B. zur Vermeidung von Bild 6.4-28 Gebläse mit Spiralgehäuse
6.4 Fahrzeuginnenraum 467

100

Fraktionsabscheidegrade
1400
Gebläse 1

eines Filters [%]


1200 Gebläse 2 95
Verbraucher-
Druckdifferenz in Pa

1000 kennlinie
Betriebspunkte 90
800
85
600

400 80

200
Pollen

0 Straßenstaub
0 2 4 6 8 10 12 14
Massenstrom in kg/min
Bakterien

Bild 6.4-29 Gebläse und Verbraucherkennlinie Ruß

Nebel
fällen des Gesamtsystems in einer sogenannten Ver-
0,1 1 10 100
braucherkennlinie (Bild 6.4-29) aufgetragen und mit Partikelgröße [μm]
den Leistungswerten des Gebläses, den Gebläsekenn-
linien, abgeglichen, so dass ein Gebläse ausgewählt Bild 6.4-30 Partikelgrößen und Abscheidegrade
werden kann, welches den vorgegebenen Betriebs-
punkt erreicht. Das Filtermaterial besteht aus ein- oder mehrlagigen
Da das Gebläse durch seine Stromaufnahme und als synthetischen Mikrofaservliesen, die nach Fraktions-
Hauptakustikquelle im Zentrum der Bemühungen um abscheidegrad, Staubkapazität und Strömungswider-
Energieeffizienz und geräuscharme Klimatisierung stand spezifiziert werden. Bild 6.4-30 zeigt die Frak-
steht, werden erhebliche Forschungs- und Entwick- tionsabscheidegrade eines Filters sowie das Größen-
lungsaufwände zur Weiterentwicklung getrieben. spektrum verschiedener Partikel.
Gasförmige Luftverunreinigungen und Gerüche las-
6.4.3.2.2 Funktionen des Klimagerätes –
sen sich durch Hybridfilter reduzieren, die zusätzlich
Luft reinigen
zum Partikelfiltermaterial Aktivkohle enthalten (Bild
Zum Komfort- und Gesundheitsbedürfnis des Auto- 6.4-31). Die Funktion der Aktivkohle beruht auf der
fahrers gehört auch eine entsprechende Luftgüte – enormen wirksamen Oberfläche von etwa 1.000 m2/g.
Luftverunreinigungen und unangenehme Gerüche Die Auslegung der Gesamtschicht erfolgt nach der
sollen nicht in die Kabine gelangen. Adsorptionskapazität bzw. der Adsorptionseffizienz
Die Partikelbelastung der angesaugten Luft ist nur und dem zulässigen luftseitigen Druckabfall des
zum Teil dem Straßenverkehr zuzuordnen; uner- Filters.
wünschte Pollen müssen von den sogenannten Parti- Generell ist wichtig, dass sowohl die Frischluft als
kelfiltern ebenso abgeschieden werden wie normaler auch die Umluft gefiltert wird. Aufgrund der nicht zu
Straßenstaub. vernachlässigenden Belastung der Umluft hat sich ge-

Anströmseite

Mikrofasern

Aktivkohle-
schicht
Abströmseite
Vlies

Mehrlagiges
Mikrofaservlies
(PES, PP oder PC)

Aktivkohle

Bild 6.4-31 Partikel- und


Trägerschicht
Hybridfilter
468 6 Aufbau

gezeigt, dass eine reine Frischluftfiltration aus Kom- Umluft


Defrost
fort- und Gesundheitsgründen als nicht ausreichend Frischluft
bewertet werden können. Luftverunreinigungen kön- Belüftung
nen auch zu Korrosionsangriffen am Verdampfer
führen oder diese zumindest begünstigen. Die Forde-
rung nach einer Frisch- und Umluftfiltration führt
dazu, dass Filter nach den Frischluft-/Umluftklappen,
entweder saugseitig direkt vor, oder druckseitig nach Fuß
dem Gebläse anzuordnen sind.
Die Nutzungsdauer von Filtern beträgt ca. 30.000 bis
50.000 km Fahrleistung, sollte allerdings 2 Jahre
nicht überschreiten.
Austritt
Verdampfer-
6.4.3.2.3 Funktionen des Klimagerätes – anschluss Heizwasser
Luft temperieren und entfeuchten
Eintritt
Die gereinigte Luft strömt anschließend durch den Kondenswasserablauf
Verdampfer und wird dort bei Bedarf abgekühlt. Da
kühlere Luft deutlich weniger Luftfeuchtigkeit auf- Bild 6.4-32 Schnitt Klimagerät wasserseitige Steue-
nehmen kann als wärmere, wird ein Teil der Kälte- rung
leistung nur dazu verwendet, die Luft zu entfeuchten.
trittsebenen – Fußraum, Belüftungsdüsen im Cockpit
Das abgeschiedene Kondenswasser fließt durch Öff-
und zu den Scheiben – die Luft mit verschiedenen
nungen an der Unterseite des Klimagerätes aus dem
Temperaturen in die Kabine strömt. Dies ermöglicht
Innenraum ins Freie ab. Die minimale Lufttemperatur
eine als angenehm empfundene Temperaturschich-
nach Verdampfer sollte ca. 2 °C nicht unterschreiten.
tung in der Kabine ‚kühler Kopf und warme Füße‘.
Bei niedrigeren Temperaturen würde das Kondens-
Diese luftseitige Regelung besitzt eine besonders
wasser im Verdampfer gefrieren und den Luftstrom
schnelle Ansprechcharakteristik, eine gute Regelbar-
durch diesen blockieren. Es ist speziell darauf zu
keit und eine Unempfindlichkeit gegenüber Dreh-
achten, dass die Lufttemperatur nach dem Verdamp-
zahlsprüngen des Fahrzeugmotors (Änderungen im
fer besonders homogen ist, um maximale Kälteleis-
Kühlmittelvolumenstrom). Allerdings benötigt diese
tung ohne Vereisungserscheinungen zu erzielen.
Bauart etwas mehr Bauraum und Abstimmungsauf-
Nach dem Verdampfer wird der Luftstrom ganz oder
wand für den Mischraum.
zum Teil dem nachfolgenden Heizkörper zur Erwär-
Ein Nachteil dieser Ausführung ist eine im maxima-
mung zugeführt, um die gewünschten Auslasstempe-
len Kühlbetrieb nicht gewünschte Luftaufwärmung
raturen einzustellen. Hierbei sind zwei Varianten in
der kalten Luft nach dem Verdampfer um ca. 1 bis
Anwendung:
3 °K durch den dauerhaft heißen Wasserwärmetau-
– Bei der wasserseitigen Regelung (siehe Bild 6.4- scher.
32) wird der Volumenstrom des heißen Motor- Heute wird überwiegend die luftseitige Variante
kühlmittels in den Heizkörper über kontinuierlich, eingesetzt.
manuell oder elektrisch, angesteuerte Ventile oder
über quasikontinuierliche Taktventile eingestellt. Umluft Mischraum
Die Wärmemenge wird somit über den Volumen- Frischluft
strom des Kühlmittels gesteuert. Die gesamte
Luftauslass-
Luftmenge strömt über den Heizkörper. klappe
– Bei der luftseitigen Regelung (siehe Bild 6.4-33)
wird der Heizkörper kontinuierlich mit dem vol-
len Kühlmittel-Volumenstrom des Heizkreislaufes
durchströmt. Der Luftstrom wird nach dem Ver- Temperatur-
dampfer in zwei Teilluftströme geteilt, von denen mischklappe

einer durch den Heizkörper, der andere am Heiz-


Gebläse
körper vorbeigeführt wird. Mittels der Tempera-
turmischklappen können die Teilluftströme stufen-
los eingestellt werden. Nach dem Heizkörper wird
die im Heizkörper erwärmte Luft mit dem zweiten
Filter
kälteren Teilluftstrom im sogenannten Mischraum
vereinigt.
Verdampfer Wasserheizkörper PTC als Option
Im Mischbetrieb werden warme und kalte Luft so in
den Mischraum gelenkt, dass aus den drei Hauptaus- Bild 6.4-33 Schnitt Klimagerät luftseitige Steuerung
6.4 Fahrzeuginnenraum 469

Defrost
Indirekte Belüftung
Luftfilter
Frischluft

Seitendüse
Umluft

Mitteldüse

Fußraum
Belüftung Fond
Gebläse Bild 6.4-34 Luftauslässe am
Fuß Fond
Klimagerät

Kann der Klimakompressor und somit der Kältekreis- Defrost


lauf nur aus- und eingeschaltet werden, wird die Luft
im Verdampfer entweder gar nicht oder aber maxi-
mal, also auf ca. 2 °C, abgekühlt. Soll die Luft im
Klimagerät nur geringfügig gekühlt werden, z.B. von Mitteldüse
25 °C auf eine Austrittstemperatur von 15 °C, wird
die Luft im Verdampfer zunächst auf ca. 2 °C ge- Seitendüse Fond-
kühlt, um anschließend im Heizkörper auf 15 °C Zusatz-Gebläse
erwärmt zu werden.
Fußraumauslass
Geregelte Klimakompressoren erlauben es heute, die
Verdampfer-Austrittstemperatur auch wärmer einzu- B-Säulenbelüftung
stellen, bis zu Temperaturen über 10 °C. Damit kann Belüftung
Fond
bedarfsgerechter und somit energetisch günstiger ge- Fußraumauslass
kühlt werden. Weiterhin kann so auch der Grad der Fond
Luftentfeuchtung direkt beeinflusst werden.
Gezieltes Entfeuchten, z.B. zur Verhinderung von Bild 6.4-35 Luftführung vom Klimagerät zu den
Scheibenbeschlag, wird als Reheat-Betrieb bezeich- Auslässen
net. Feuchte Luft wird abgekühlt, somit entfeuchtet
und anschließend im Heizkörper erwärmt. Trockene Durch kinematische Abhängigkeiten zwischen den
warme Luft wird in die Kabine gefördert. Klappen oder durch Einzelaktuatoren werden viele
weitere Konstellationen genutzt.
6.4.3.2.4 Funktionen des Klimagerätes – Vor allem beim Kühlen kann die Luftströmung aus
Luft verteilen der Mittel- und Seitendüse aufgrund von Zugerschei-
nungen als unangenehm empfunden werden. Um
Der Luftstrom aus dem Klimagerät wird, gesteuert Fahrer und Beifahrer nicht direkt anzublasen wird in
von den Luftauslassklappen, über Kanäle und Düsen manchen Fahrzeugen eine zusätzliche indirekte Be-
den drei Hautaustrittsebenen zugeführt : lüftung auf der Oberseite des Cockpits vorgesehen.
– Fußraum Weiterhin sind sogenannte Komfortdüsen in Verwen-
– Belüftungsebene (Mittel- und Seitendüsen) dung, welche anstelle der konventionellen Düsen
– Defrost (Front- und Seitenscheiben) verbaut werden und einen zusätzlichen zugfreien
Modus bereitstellen [7].
Bei aufwändigeren Anlagen kommen entsprechende
Abgänge für die Fondbelüftung mittig und/oder in den 6.4.3.2.5 Bauformen von Klimageräten
B-Säulen sowie der Fondfußraum dazu (Bild 6.4-34
und Bild 6.4-35). Bis auf wenige Ausnahmen sind Klimageräte für die
Für verschiedene Betriebszustände haben sich ver- Insassen nicht sichtbar im Cockpit verbaut. Dort
schiedenen Luftverteilungen bewährt. belegen sie einen beträchtlichen Anteil des Baurau-
Zum Kühlen und Lüften wird hauptsächlich die mes.
Belüftungsebene genutzt. Im Heizungsfall wird die Bedingt durch unterschiedliche Fahrzeug-Konzepte
Luft zu den Fußraum- und anteilig zu den Defrost- und den für andere Einbauten, wie Airbags, Hand-
ausströmern geführt. schuhkasten und Infotainment, benötigten Einbau-
470 6 Aufbau

raum werden zwei wesentliche Bauformen für das


Klimagerät genutzt:
– Bei der symmetrischen Bauform sind Gebläse,
Verdampfer und Heizkörper hintereinander in
Fahrzeuglängsrichtung symmetrisch zur Fahr-
zeugmitte angeordnet. Diese Anordnung führt zu
günstigen Strömungsverhältnissen, hat Vorteile
beim Druckabfall, benötigt aber entsprechenden
Bauraum in Fahrzeuglängsrichtung. Aufgrund der
Symmetrie werden keine Varianten für Links- und
Rechtslenkerfahrzeuge benötigt.
– Weniger Bauraum in Fahrzeuglängsrichtung je-
doch mehr in der Breite erfordert die asymmetri-
sche Bauform. Hier sind Verdampfer und Heiz-
körper weiterhin mittig, das Gebläse jedoch seit-
lich angeordnet (bei Linkslenkerfahrzeugen i.d.R.
rechts). Für Links- und Rechtslenker wird jeweils
eine eigene Variante benötigt.
6.4.3.2.6 Mehrzonigkeit und Zusatzgeräte
Die in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Funk-
tionalitäten lassen sich auf mehrere Zonen des Fahr-
zeuges erweitern – bereits in der unteren Mittelklasse
ist eine links/rechts getrennte Temperatursteuerung
für den Frontbereich oft schon Standard. Dazu wird
im Klimagerät durch Duplizierung der Temperatur-
steuerungsmechaniken der Luftstrom in 2 Zonen
aufgeteilt. Diese Möglichkeit ist auch für die Luftver- Bild 6.4-36 Zusatz-Gebläse und Mini-PTC
teilung gegeben. Ausgehend von der einfachen 1-zo- (Werkbild Behr)
nigen Basis-Anlage über 2-zonige (links/rechts), drei-
zonige Anlagen (links/rechts/Fond) bis hin zur Anla- Zustandes von Kabine, Umgebung und Klimasystem,
ge mit 4 getrennten Temperatur- und Luftverteilzonen sowie die Stellglieder wie Aktuatoren, Gebläsemotor,
für den Front- und Fondbereich sind heute Klimage- Klimakompressor und PTC.
räte verfügbar. Durch einen modularen Aufbau des
Klimagerätes lassen sich Konzepte für komplette 6.4.3.3.1 Regelung und Automatisierungsgrade
Fahrzeugplattformen verwirklichen.
Klimaanlagen lassen sich in 3 Klassen einteilen:
Neu ist die individuelle Anpassung der Fußraumtem-
peratur, die sog. „variable Schichtung“. Damit kann – manuelle
beispielsweise für Personen mit kälteempfindlichen – halbautomatische
Füßen die Fußraumaustrittstemperatur bei unverän- – vollautomatische
derter Grundeinstellung angehoben werden. Manuelle Klimaanlagen werden heute meist noch
Um auch große Fahrzeugkabinen gleichmäßig zu in Kleinfahrzeugen angeboten. Dabei werden über
klimatisieren werden zusätzliche Geräte im Innen- mechanische Stellelemente im Bediengerät die Tem-
raum plaziert. Diese Zusatzgeräte reichen vom klei- peratur und die Luftverteilung, z.B. mittels Bowden-
nen Zusatzgebläse, welches die Luftverteilung des zügen oder Flexwellen, eingestellt. Zur Luftmengen-
Frontgerätes nach hinten unterstützt, bis hin zu kom- einstellung wird, meist über Drehsteller am Bedien-
pakten eigenständigen Klimageräten mit Gebläse, gerät, eine Vorwiderstandsgruppe am Gebläse ange-
Verdampfer, Heizkörper und Luftverteilung. steuert. Häufig ist zusätzlich für den Vereisungs-
Zur Heizungsunterstützung werden auch kleine PTC- schutz des Verdampfers eine einfache Regelung
Zuheizer, teilweise kombiniert mit extrem flachen vorgesehen.
Gebläsen, in den Luftverteilkanälen eingesetzt (siehe Die Passagiere müssen das Klimagerät entsprechend
auch Kapitel 3.3.2., Bild 6.4-36). ihrer Klimatisierungswünsche selbst manuell am Be-
dienteil einstellen.
6.4.3.3 Steuerung und Regelung Bei der halbautomatischen Klimaanlage wird zumin-
von Klimaanlagen dest die Innenraum-Temperatur auf einen voreinge-
In der Klimaregelung sind zusammengefasst die stellten Wert eingeregelt. Die Klima-Elektronik er-
Bedienelemente zur Sollwertvorgabe, die Sensoren rechnet dann, z.B. aus der vorgegebenen Solltempera-
und Temperaturfühler zur Erfassung des aktuellen tur und der aktuellen Innenraumtemperatur, die be-
6.4 Fahrzeuginnenraum 471

21.0 °C links
Sollwert links
Luftverteilungs-Automatik
Regler links Temperatur-Regelung

Fahrzeug-Innenraum
Gebläse-Automatik

Außentemp. Innentemp.

Luftverteilungs-Automatik
Regler rechts Temperatur-Regelung
Gebläse-Automatik
21.0 °C Bild 6.4-37 Regelung
rechts
Sollwert rechts einer vollautomatischen
Klimaanlage

nötigte Ausblastemperatur. Diese wird daraufhin Kabinenluft oder zur Abschottung gegen schlechte
durch das Mischungsverhältnis von warmer und kal- Luftqualität von außen über einen Luftgütesensor
ter Luft (bei luftseitiger Regelung) oder über den – Kompressorlaststeuerung bei Beschleunigungs-
Kühlmittelvolumenstrom (bei wasserseitiger Rege- vorgängen
lung) eingestellt. – Steuerung von Zuheizeinrichtungen
Vollautomatische Klimaanlagen regeln zusätzlich zur
6.4.3.3.2 Bedienung
Temperatur die Gebläseleistung und somit die Luft-
menge und in der Maximalausführung auch die Unabhängig vom Automatisierungsgrad müssen dem
Luftverteilung. Das Gebläse wird hierbei stufenlos System Sollwerte vorgegeben werden. Im einfachsten
über einen elektronischen Regler eingestellt. Die Fall, einer manuellen Klimaanlage, entspricht die
Klappen für die Luftverteilung werden über Stellan- Bedienung den Grundfunktionen des Klimagerätes.
triebe ebenfalls stufenlos in Position gebracht. D.h. folgende Bedienfunktionen sind erforderlich:
Der Regelkreis ist so aufgebaut (siehe Bild 6.4-37), Ein- und Ausschalten der Klimaanlage, die Luftmen-
dass die Automatikfunktion möglichst schnell einen ge erhöhen oder vermindern, die Temperatureinstel-
hohen thermischen Komfort für die Insassen einstellt lung ändern, die Luftverteilung ändern und auf Frisch-
und jeweils den sich verändernden Rahmenbedingun- luft oder Umluft stellen.
gen anpasst [13]. Darüber hinaus gewinnt die ener- Mit steigendem Automatisierungs- bzw. Ausstat-
gieeffiziente Klimaregelung ohne Komforteinbußen tungsgrad kommen weitere Funktionen hinzu, z.B.
zunehmend an Bedeutung, da damit der Kraftstoff- links/rechts Trennung, Restwärmeausnutzung (Nut-
verbrauch im realen Fahrbetrieb reduziert werden zung der im Kühlmittel gespeicherten Energie bei
kann [14]. kurzen Parkphasen), Luftgüteautomatik usw. (Bild
Entsprechende Sensoren für die Klimatisierung (siehe 6.4-38).
Kap. 6.4.3.2.3) sowie zusätzliche Daten (z.B. Außen- Zur Temperatureinstellung ist eine Symbolik mit „rot“
temperatur, Fahrgeschwindigkeit, Motordrehzahl, und „blau“ entsprechend der Zuordnung „warm“ und
Kühlmittel-Temperatur, länderspezifische Einstellun- „kalt“ allgemein verständlich, mit automatischer
gen, etc.), die heute im Fahrzeugnetzwerk zur Verfü- Temperaturregelung werden auch die entsprechenden
gung stehen, werden im Regelkreis zur Störgrößen- „°C“-Sollwerte angezeigt. Die Luftverteilungssymbo-
aufschaltung berücksichtigt. lik erfolgt mit Piktogrammen, auf denen die entspre-
Der eigentlichen Komfortregelung für Lufttempera- chende Ausströmebene ersichtlich ist. Die Gebläse-
tur, -menge und -verteilung sind weitere Steuerungs- leistung wird oft mittels eines stilisierten Laufrades
und Regelungsfunktionen überlagert: dargestellt, je höher die Luftmenge, umso mehr ge-
füllt dargestellte Gebläseschaufeln.
– Beschlagfreihaltung der Scheiben:
Luftmenge an die Frontscheibe, Luftentfeuch-
tungsfunktion über den Verdampfer durch variab-
le Leistungssteuerung des Kompressors (bei tro-
ckener Zuluft ist keine Entfeuchtung erforderlich
→ kraftstoffsparender Betrieb möglich)
– Defrostfunktion zum schnellen Abtauen der
Scheiben
– Frischluft-Umluftautomatik zur schnelleren Ab-
kühlung durch Rezirkulation der bereits kühleren Bild 6.4-38 Bedienelemente
472 6 Aufbau

Es gibt grundsätzlich keine Standardbedienelemente matischen Abschottung über die Umluftklappe


für die Klimatisierung, hier ist die Einbindung in das [18].
Gesamtbedien- und Designkonzept (siehe Kapitel
6.4.1) des Fahrzeugs mit durchgängigen Bedienele- Literatur
menten, Anzeigen und Beleuchtungen erforderlich. [1] Bubb, H.: Ergonomie in Mensch-Maschine-Systemen, Lehr-
gangsunterlagen „Komfort und Ergonomie im Kraftfahrzeug“,
Haus der Technik, Essen, 1995
6.4.3.3.3 Aktuatorik, Sensorik
[2] Fanger, P.O.: Thermal Comfort. Analysis and Application in
Environmental Engineering. Danish Technical Press, Copenha-
Die stufenlos verstellbaren Klappen im Klimagerät
gen, 1970
werden mit kompakten elektrischen Gleichstrom- [3] DIN EN ISO 7730: Analytische Bestimmung und Interpretation
oder Schrittmotoren angetrieben, wobei Drehmo- der thermischen Behaglichkeit durch Berechnung des PMV- und
mente zwischen etwa 10 (einfache mittig gelagerte des PPD-Indexes und der lokalen thermischen Behaglichkeit.
Normentwurf Stand 10/2003
Klappe) und 40 Ncm (Umluftklappe mit Staudruck-
[4] Bureau, C. et al.: MARCO, Method to Assess Thermal Comfort.
belastung) erforderlich sind. Zur genauen Erkennung VTMS6, Paper C599/051/2003,Brighton 2003
der Klappenposition wird bei Gleichstrommotoren [5] Frühauf, F.: Thermische Behaglichkeit im Fahrzeug von
häufig ein integriertes Potentiometer verwendet oder morgen. IIR-Fachkonferenz „Innovative Konzepte für Thermo-
management im Kfz“. Stuttgart 2002
die Stromvariationen der Kommutatorrotation werden [6] Kühnel, W. et al.: CFD. Cabin Flow Analysis as Part of the
im Bediengerät elektronisch ausgewertet (pulse/ripple Product Development Process. VTMS6, Paper C599/053/2003,
count). Bei den Schrittmotoren werden die Verstell- Brighton 2003
schritte gezählt. Bei sogenannten direct-steppern be- [7] Fritsche, U., Feith, T.: Komfortdüsen für mehr Klimakomfort in
der Fahrzeugkabine. ATZ 9/2007 Behr Special
finden sich diese Zähler sowie Ansteuerung und [8] Temming, J.: Fahrzeugklimatisierung und Verkehrssicherheit.
Stromtreiber der Motorspulen im Bedien-/Steuer- Auswirkungen sommerlichen Klimas in Kfz auf die Leistungsfä-
gerät, bei Schrittmotoren mit Bussystem sind diese higkeit der Fahrer. Schriftenreihe 177, Forschungsvereinigung
Funktionen auf einem ASIC im Aktuator integriert. In Automobiltechnik e.V.. Frankfurt 2003
[9] Arminger, G. et al.: Einfluss der Witterung auf das Unfallge-
komplexen Anlagen mit vielen Klappen setzt sich schehen im Straßenverkehr. ATZ 9/99
zunehmend die LIN-Bus-Ansteuerung (LIN: Local [10] Taxis-Reischl, B.: Wärmebelastung und Fahrverhalten. ATZ 9/99
Interconnecting Network) durch, um die Verkabe- [11] Kroner, P. et al.: Modulares Luftgütesystem für den Innenraum-
lung und den Aufwand im Steuergerät gering zu komfort. ATZ 1/2010
[12] Schmiederer, K.: Flexible HVAC-Systems for Global Cross-Car
halten. and Cross-Brand Application. Auto-Technology 4/2004
Der Klimaanlage werden primär folgende Sensoren [13] Kampf, H.: Die physiologisch geregelte Klimaanlage. ATZ
zugeordnet (die Sensorik des Kältekreises ist in Kap. 9/2001
3.2 beschrieben): [14] Trapp, R. et al.: Potenziale zur Energieeinsparung bei intellige-
tem Betrieb von Klimaanlagen. VDI-Berichte Band 2033, 2008
– Verdampferfühler: misst die Lufttemperatur direkt [15] Knittel, O.; Ruf, Ch.: Von der Erfassung der Luftfeuchtigkeit
nach Verdampfer zum Schutz gegen Vereisung, zum komfortoptimierten Klimabetrieb. VDI-Berichte 1415
[16] Knittel, O.; Ruf, C.: Feuchtesensor für Klimaautomaten. ATZ
auch benötigt zur gleitenden Kälteleistungsrege- 1/2000
lung. Besteht aus einer einfachen NTC-Pille [17] Käfer, O.: Pkw-Klimatisierung – Umluftautomatik mit Feuchte-
(NTC: Negative Temperature Coefficient) mit Ge- regelung im Fahrzeuginnenraum. ATZ 6/1998
häuse und Schutz gegen Feuchtigkeit [18] N.N.: Luftgütesensor AQS. Firmenschrift der Fa. Paragon AG,
Delbrück, 2005
– Ausblasfühler: misst die Temperatur der Luft nach
Heizkörper (bei wasserseitigen Anlagen) oder die
der in den Innenraum eingeblasenen Luft.
– Innenraumtemperaturfühler: angeordnet im Be-
diengerät, Cockpit, oder im Bereich der Dachbe- 6.4.4 Fahrzeuginnenausstattung
dieneinheit; oft belüftet durch ein Miniaturgeblä-
se. Zunehmend auch unbelüftete Sensoren, die mit 6.4.4.1 Zur Geschichte des Innenraums
Softwarealgorithmen kompensiert werden. Seitdem die Menschen Hilfsmittel zur Fortbewegung
– Solarsensor: erfasst die Sonneneinstrahlungsinten- nutzen, haben Sie den Wunsch, den Innenraum dieser
sität und meist auch den Einfallswinkel. Der be- Vehikel so bequem wie möglich zu gestalten. Lange
sonnte Bereich wird automatisch etwas stärker Zeit war komfortables oder gar luxuriöses Reisen nur
und mit kühlerer Luft angeblasen. Bei mehrzoni- auf Schiffen möglich. Landfahrzeuge wurden meist
gen Klimageräten werden auch mehrzonige Solar- für den Transport von Waren verwendet. Mit der
sensoren eingesetzt. Erfindung der Federung im 16. Jh. wurde aus dem
– Feuchtesensor: dient zur Sicherstellung der Be- Warentransporter ein Reisemobil, das gegenüber
schlagsfreiheit durch bedarfsgerechte Entfeuchtung Fußgänger und Reiter einen Vorteil hatte: Man war
mittels gleitender Kälteleistungsregelung (siehe vor Wind und Wetter geschützt. Linierer, Schreiner,
auch [13 – 15]) Kürschner – quasi die ersten Zulieferer – bemühten
– Luftgütesensor: erfasst schädliche Abgase (über sich den Reisekomfort stetig zu verbessern. Die
Leitgase, meist CO und NOx) und dient zur auto- Kutsche wurde zum Statussymbol.
6.4 Fahrzeuginnenraum 473

Auch die ersten Automobile waren nichts anderes als 6.4.4.2.1 Optik
motorisierte Kutschen [1]. Stetig steigende Fahrge- Unter Optik ist der visuelle Gesamteindruck, auch
schwindigkeiten verlangten eine erste Ergänzung im Charakter des Innenraums, zu verstehen, der sich z.B.
Innenraum, nämlich Anzeigeinstrumente. zwischen den Attributen sportlich – nüchtern – luxu-
Ab 1930 entdeckte man den „Luftwiderstand“ auch riös bewegt (vgl. Design Kap. 4.1). Der Kunde kann
für die Serienentwicklung. Autos bekamen ge- heute aus einer Fülle von Material- und Farbkombi-
schwungene Linien, die sich auf den Innenraum nationen wählen. Aktuell geht ein Trend zur Mehr-
übertrugen. Bleche lösten den Hauptwerkstoff Holz farbigkeit und dem Einsatz natürlicher Stoffe [7, 10].
ab. Das nackte Blech wurde an Türen und Seiten mit Für den Konstrukteur bedeutet das:
Stoff überspannter Pappe verschönert, das Dach mit
– Beherrschen verschiedener Verfahren (Lackieren,
einem in Drahtspriegeln verspannten Stoff verkleidet.
Tiefziehen/Kaschieren Folien, Färben im Werk-
Die Sitze waren durchgehende Bänke.
zeug)
Erst etwa 1950 gab es Einzelsitze für vorne, die auch
– Ergänzung von Oberflächen durch natürliches
längs verstellbar waren und beim Fahrer eine ver-
Material (textile I-Tafel, Stein-Dekorleisten, Leder
stellbare Lehne haben mussten. Heizungen gab es
hinterschäumt, Kleinteilbelederung)
meist nur gegen Aufpreis. Klobige Röhrenradios
brachten die Welt der Musik in den Innenraum. Für die optischen Anforderungen an Geometrie/Ver-
Anfang der 70er Jahre fanden vermehrt moderne arbeitung bedeutet dass:
Kunststoffe Einzug in den Innenraum. Bleche wurden – Markenidentität/Wiedererkennungsfaktor muss bei
zunehmend mit Kunststoffteilen verblendet. 1979 gab Neukonstruktion berücksichtigt werden
es in Europa den ersten elektrisch verstellbaren Sitz. – Spaltmaß b. Premium 0 bis 1 mm (u.U. bis 3 mm)
Die damals hohe Zahl von Verkehrstoten zwang die – optische Passgenauigkeit (Übergänge Türbrüs-
Hersteller zu mehr Sicherheitsmaßnahmen: Automa- tung/Cockpit; Säulenverkleidung/Himmel)
tikgurte und Polsterungen wurden eingeführt. Anfang – Strichrichtung von Textilien
der 80er Jahre kam die Airbag-Technologie in Serie. Abgerundet wird die Optik durch die Beleuchtung
Die Innenräume differenzierten sich mehr und mehr [6]. Durch die Ausleuchtung bestimmter Bereiche
durch anspruchsvolle Farbeffekte bei Verkleidungen wird der Innenraum spezifischer, erscheint größer
und Textilien. und strukturierter (höhere Wertigkeit/Sicherheitsge-
Die 90er Jahre waren geprägt von der Zunahme von fühl). Konstruktiv herausfordernd sind die Integration
E/E Systemen und der Variabilität der Innenraumkon- von Beleuchtungsmitteln in die Verkleidungsteile und
zepte. Beide Trends werden heute ergänzt durch den die Entwicklung von individuellen bzw. markenspezi-
Wunsch des Kunden nach Individualität. Der Innen- fischen Beleuchtungskonzepten, auch als ambiente
raum spielt mehr denn je bei der Kaufentscheidung Beleuchtung bezeichnet, was die Anmutung des
eine wichtige Rolle [7, 10, 14]: Das Innenraumdesign Innenraums erhöht. Diese Konzepte erfahren einen
soll Emotionen wecken, Komfort, Sicherheit und größeren Zuwachs. Zusätzlich zu der Hinterleuchtung
Funktionalität dürfen dabei nicht leiden – alles muss von Anzeigen und Funktionstasten wird indirekte
verschmelzen und die Markenidentität ausstrahlen [7]. Beleuchtung eingesetzt, um den Insassen ein behagli-
cheres Raum-/Lichtgefühl im Tag-/Nachtdesign zu
6.4.4.2 Anforderungen vermitteln [31,32].
an Innenraum und Komponenten
6.4.4.2.2 Olfaktorik
Diese Wohlfühlatmosphäre [8, 14] wird von subjek- Der Geruch ist eine subjektive Empfindung, die sich
tiven und objektiven Faktoren (Tabelle 6.4-2) durchaus als positiv oder negativ bewerten lässt. Ein
bestimmt. Für die daraus folgenden möglichst mess- Olfaktorikteam untersucht während der Entwick-
baren Anforderungen muss der Konstrukteur die lungsphase Materialproben, Bauteile (bis zu 500 pro
Synthese aus konstruktiver Machbarkeit und Kosten-
Fahrzeug) und den gesamten Innenraum [3]. Die
verträglichkeit finden. Hinzu kommen Restriktionen Materialien werden zwei Stunden unter Vakuum-
für den zur Verfügung stehenden Bauraum und ein atmosphäre einer Temperatur von 80° ausgesetzt.
Zielgewicht der Innenraumkomponenten. Anschließend wird der Einzelgeruch, wie auch die
Wechselwirkung von Werkstoffen überprüft. Die
Tabelle 6.4-2 Zur Bestimmung des Wohlfühlfaktors Geruchsproben bekommen Schulnoten von 1 (ge-
ruchslos) bis 6 (unerträglich). Für die Entwicklung
subjektiv objektiv des Innenraums bedeutet dies konkret, dass bestimm-
te Materialien, Werkstoffe oder Kleber nicht mehr
Optik (visueller Eindruck) Ergonomie
oder nur bedingt zur Verfügung stehen. Ziel ist es,
Olfaktorik (Geruch) Thermischer Komfort
einen möglichst neutralen Duft zu erreichen. Vielfach
Haptik (Anfassqualität) Sicherheit
werden die Innenräume auch unter dem Aspekt der
Akustik (Klangfarbe) Akustik (Lautstärke)
Tauglichkeit für Allergiker ganz speziell entwickelt.
474 6 Aufbau

6.4.4.2.3 Ergonomie
Die konstruktive Umsetzung der in 6.4.1 gezeigten
Anforderungen betrifft fast alle Baugruppen:
– Cockpit: Das Infodisplay wandert von der Mittel-
konsole in die I-Tafel – erfordert Umstellung d.
Geometrie (Doppelhutzen, Aussparungen für
klappbare/versenkbare Schirme/HUD, neue Abla-
gefächer)
– Verkleidungsteile: Integration von mehr Bedien-
elementen in Tür-, Sitz-, Dachverkleidungen
(durch mehr E/E-Applikationen); Integration von
Kinematiklösungen, Ablagefächer
– Sitze: Mechanismen für Sitzverstellung (bis zu 18- Bild 6.4-39 Papillartaster (künstliche „Fingerbeere“)
Wege Verstellung → Integration zusätzlicher Ak- zur Messung von Anfassqualität (Bild aus [12])
toren [8, 18]); Entwicklung leicht justierbarer
Sitzkonzepte mit Einhandbedienung (kein Ausbau einer Messgenauigkeit von bis zu 60 Nanometern
von Einzelsitzen, ebener Laderaum) [13]. So kann gefühlte Qualität in Zahlen ausgedrückt
– Gepäckraum: variable Ladekonzepte für SUV werden.
Grundsätzlich gilt, dass die Ergonomie auch in Zu- Der Ingenieur muss dann den Materialmix finden, der
sammenhang mit der Haptik zu sehen ist. Auch die die Synthese aus angenehmer Haptik und vertretbaren
Auswirkung von Innenraumbeleuchtungen auf die Kosten bildet (siehe Kapitel 6.4.4.3). Die erforderli-
subjektive Befindlichkeit von Fahrer und Passagieren che Kratzfestigkeit steht dabei teilweise im Gegensatz
ist hier zu berücksichtigen [23, 24]. Durch die gestie- zu den haptischen Anforderungen.
gene Anzahl der visuell übertragenen Informationen
6.4.4.2.5 Akustik
im Bereich des Cockpit, Center-Stack und Dachkon-
sole muss die Ablesbarkeit unter unterschiedlichen Wie beim Geruch ist ein geräuschloses Auto für die
Bedingungen (Tag, Nacht, Sonne) sichergestellt wer- Insassen nicht angenehm (Kap. 3.4). Der Innenraum-
den [33, 34]. akustiker muss daher einen Kompromiss zwischen
Schallisolierung und Sounddesign finden. Als grober
6.4.4.2.4 Haptik Richtwert finden sich bei Autotests Messwerte für
Die Haptik beinhaltet Bereiche der Physik, der Phy- den Geräuschpegel im Innenraum, die zwischen
siologie und der Psychologie [5]. Im Fahrzeuginnen- 60 Dezibel (bei 100 km/h) und 80 Dezibel (180 km/h)
raum ist zwischen der Anfassqualität der Bedienele- liegen. Dies sagt wenig über die subjektive Qualität
mente und der Oberflächen zu unterscheiden. In aus. Bei einem Sportwagen kann ein hoher lastabhän-
beiden Fällen ergibt sich das Problem der Messbar- giger Geräuschpegel durchaus gewünscht sein. Um
keit von Qualität (= subjektivem Empfinden) [4, 6, ein ausgewogenes Verhältnis der einzelnen Frequen-
7]. Seit einigen Jahren wird versucht, mit physikali- zen zu bekommen, müssen bis zu 120 Bauteile im
schen Methoden die haptischen Eigenschaften der Innenraum berücksichtigt werden.
Materialien zu messen. Eine Messrobotic ermittelt die Dazu werden u.a. Schallabsorptions- und Schall-
Drück-, Schiebe-, Zieh-, Dreh-Rückstellkräfte [4], die dämmmessungen (Petite-Cabine), Verlustfaktormes-
mit einer Bewertung durch Testpersonen verglichen sungen (Vibrometer-Methode für Schäume) sowie
werden. Die Bilanz aus beiden Methoden bildet die Untersuchungen mit dem Laser-Scanning-Vibrometer
Grundlage für ein Lastenheft der Betätigungshaptik. durchgeführt. Eine gute Schallisolierung schlägt sich
Es beinhaltet u.a. die Punkte Leichtgängigkeit, mittle- allerdings auf Gewicht (Körperschalldämpfungs-
re Betätigungswege, definierte Endanschläge, exakte schicht) oder Kosten (Alu-Polyolefin-Sandwich) nie-
Führungen, Geräuscharmut und die eindeutige Rück- der. Eine kosten- und gewichtsparende Alternative
meldung am Schaltpunkt [11]. bilden PUR-Schäume [17]. Mit Akustik wird gleich-
Ähnlich wird auch bei der Bewertung von Oberflä- zeitig ein Wertigkeitsgefühl vermittelt. Z.B. gibt es
chen vorgegangen [4, 12]. Zuerst werden die subjek- ein Akustik-Design für Schalter oder „satt“ schlie-
tiven Eindrücke von Testpersonen bezüglich be- ßende Handschuhkästen ohne klapperigen Schließ-
stimmter Materialproben festgehalten. Dabei wird mechanismus. Dabei spielen nicht nur die Material-
„technische Narbung“ höherwertig eingestuft als eine auswahl sondern auch Konstruktionsprinzipien eine
unregelmäßige N. Gleiches gilt für weiches Leder Rolle.
gegenüber hartem Leder [12]. Dann werden die den
6.4.4.2.6 Sicherheit
haptischen Eindruck beeinflussenden Materialpara-
meter (Bild 6.4-39) wie statische Verformung, Rauig- Insassen nehmen Sicherheitssysteme meist indirekt,
keit, Dämpfung oder Reibwert ermittelt, teilweise mit d.h. über die Ausstattungsbeschreibung wahr (zu
6.4 Fahrzeuginnenraum 475

Grundlagen, Bestimmungen und Technik siehe – kapazitive Elemente übernehmen elektromechani-


Kap. 9). Sichtbare Airbagdeckel gelten heute als sche Funktionen. Für diese Funktionalitäten müs-
Zeichen für mindere Qualität. Daher ist man bestrebt, sen entsprechende Bedien- bzw. Anzeigeelemente
Airbags unsichtbar zu machen, dabei muss aber die mit den dazugehörigen Bauräumen vorgesehen
problemlose Entfaltung sichergestellt sein. Außerdem werden [35 – 39].
gilt es, Bauraum für neue Sicherheitssysteme zu
schaffen (Dachhimmel; Spurhalteassistent, Airbags Das Cockpit ist ein überaus komplexes Bauteil des
dritte Sitzreihe, Laderaumsicherheit). Weitere kon- Innenraums (Bild 6.4-40). Es besteht aus den Haupt-
struktive Herausforderungen ergeben sich durch die elementen Instrumententafel, Querrohrträger, Kabel-
gesetzlichen Vorschriften für bestimmte Bereiche, die baum mit Schaltern sowie dem Heizklimagerät mit
nicht durch einen Airbag gesichert werden können Luftführungen zu den Defrosterdüsen für die Schei-
(Kopfstütze, Kniezone, Steifigkeit von Bodengruppen ben bzw. zu den „Mannausströmern“. Die Instrumen-
und Lehnen (siehe auch 6.4.4.3). tentafel kann als einteilig oder mehrteilig (mehr
Designfreiheit) ausgeführt sein. An Bedeutung ge-
6.4.4.2.7 Thermischer Komfort winnen außerdem Gleichteilkonzepte die sich für
Einfache Klimaanlagen sind im Kleinwagensegment Rechts- wie Linkslenkervarianten sowie für Platt-
fast Standard, in der Oberklasse geht nichts mehr form-derivate einsetzen lassen, ohne dass diese
ohne Mehrzonenklimaautomatik (Kap. 6.4.3). Die Gleichteile von den Insassen identifiziert werden
konstruktive Herausforderung liegt hier in der Integ- können (Markenidentität).
ration des HVAC-Moduls im Cockpitmodul (inkl. Der Querrohrträger wird in Stahl, Aluminium oder
Schnittstellenmanagement), in der Konstruktion der Magnesium teilweise auch in Kunststoff ausgeführt.
Luftkanäle (bspw. bis zur 3. Sitzreihe) und der Aus- Aus Gewichtsgründen kommen zunehmend Hybrid-
strömer (Vermeiden von Zugluft usw.). Eine Heraus- konstruktionen zum Einsatz. Typische Querrohrträger
forderung im Premiumsegment ist die elektrische wiegen bis zu 10 kg, ein Aluminium-Magnesium-
Ansteuerung des Ausströmers bei indirekter Belüf- Hybrid nur 6 kg bei vergleichbarer Steifigkeit. Eine
tung [14, 18, 30]. Auslegung der Strukturen erfolgt aufgrund der unter-
schiedlichen Anforderungen und Lastkollektive mit
6.4.4.3 Baugruppen des Innenraums computergestützten Optimierungsverfahren, so dass
als Ergebnis gewichtsoptimierte Bauteile mit verbes-
Der Innenraum eines Fahrzeuges lässt sich durch serter Steifigkeit bzw. Festigkeit vorliegen. Bei den
sechs Baugruppen bzw. Module definieren, die je- Oberflächen stehen Leder oder Kunststoff zur Aus-
doch konstruktiv stets in ihrer Gesamtheit zu betrach- wahl: Die Palette der Verfahren reicht von Spritzguss
ten sind. – lackiert, Oberfläche in kaschierter Ausführung oder
tiefgezogene Folien hinterschäumt mit den unter-
6.4.4.3.1 Cockpit/Tunnelkonsole
schiedlichen Kunststoffträgern (früher Blechträger)
Hier sind die primären (Hutze/Lenksäule) und sekun- bis hin zu formgesinterten Häuten in den Materialien
dären (Mittel-/Tunnelkonsole) Bedien- und Anzei- PVC, PU (aromatisch als auch aliphatisch) bzw. TPU
genelemente (Instrumente, Lichtschalter, Radio, oder auch IMC-TPU (in-mould coated thermoplasti-
Navibildschirm) untergebracht, ebenso die Airbag- sches Polyurethan [16]). Der Innenraumcharakter
systeme für Fahrer und Beifahrer. Zusätzlich zum wird durch Zierblenden aus Kunststoff, Aluminium
klassischen Handschuhfach befinden sich heute wei- oder auch Echtholz definiert. Tendenz zu Kunststof-
tere Staufächer in der Mittelkonsole sowie im oberen fen als Metallimitat (Gewicht) und z.T. offenporigen
Bereich der Instrumententafel. Die Tunnelkonsole natürlichen Werkstoffen.
verfügt mittlerweile über deutlich mehr Funktionen Für die Unfallfolgen mildernde Sicherheit müssen
als nur Schaltkasten und Handbremsenabdeckung, alle Materialien im Cockpitbereich die Kriterien des
Telekomunikation- und Navigationssteuerung werden Kopfaufpralls erfüllen sowie nicht Splittern bzw.
bevorzugt hier untergebracht, des Weiteren aufwen- keine scharfen Kanten aufweisen. Auch dürfen sich
dige Cupholder-Lösungen und Armauflagen. keine Teile im Falle eines Unfalls lösen bzw. heraus-
Eine stärker werdende Bedeutung nimmt die Consu- fallen. Für den Beifahrerairbag wird die Schalttafel
mer Elektronik im Fahrzeug ein: gezielt geschwächt. Diese Schwächungsverfahren
– Grafikdesigner fokussieren sich auch auf neue Be- sind je nach Aufbau unterschiedlich und erstrecken
dien- und Anzeigekonzepte; sich von mit Laser angebrachter Feinstlochung
– die Positionierung und Ausführung des Monitors (Lochdurchmesser ca. 0,2 mm bei harten Oberflächen
für Navigation und Bordcomputer wird neu be- in Spritzguss) bis hin zur Laserung durch den gesam-
wertet; ten Aufbau – durch Träger, Schaum und Haut. Air-
– die Schnittstellen von Mobiltelefonen, externen bagrisslinen können auch gefräst oder mittels Ultra-
Navigationsgeräten, Powerbooks werden mit der schallmessern geschnitten werden. Neu sind Gieß-
Fahrzeugelektronik gekoppelt und Spritzverfahren, bei denen die Schwächung
476 6 Aufbau

Instrumente Außenhaut

Ausströmer
Cross Car Beam

Kabelbaum
Lenkrad

Body
Befestigungsadapter

Lenksäule Spritzwand

Bremszylinder +
Pedalbox Bild 6.4-40 Aufbau des
HVAC Handschuhkasten + Deckel
Cockpits mit Darstellung der
wichtigsten Bauteile

während des Prozesses eingebracht wird. Die Haut Sitze bestehen im Wesentlichen aus Sitzstruktur,
hat lediglich eine Restwandstärke von rund 0,4 mm. Sitzpolsterung, Sitzbezug, Komfortmechanik/Elektrik
und Sicherheitssystemen.
6.4.4.3.2 Sitze Die Sitzstruktur besteht heute weitestgehend aus
Laut ADAC verbringt ein Autofahrer etwa 300 Stun- Stahl, z.B. Formbleche oder Rohrrahmen, seltener aus
den im Jahr auf einem Autositz, 25% der Körperober- anderen Materialien wie Aluminium, Magnesium
fläche sind dabei im Kontakt mit der Sitzfläche. oder Kunststoff. Dual- und Triple-Phasen Stähle
Primäre Funktion des Sitzes (Sitzposition s. Kap. 4.2) ermöglichen immer dünnere Wandstärken (Reduzie-
ist daher das Wohlbefinden sicherzustellen: einerseits rung von 800 – 1.000 Gramm an der Grundstruktur
durch optimale Einstellmöglichkeiten gemäß der des Sitzes) [21]. Ein Nachteil höherfesten Stahls ist
Körperergonomie (bis zu 18 Wege, Seitenführung, die geringere Duktilität [21]. Die Anwendung von
Sitzpolsterlänge) andererseits durch die Integration Magnesium in Druckgussbauteilen kann Sitzstruktu-
von Komfortfunktionen wie Memory Funktion, Easy ren um bis zu 30 % leichter machen, aber geringe
Entry-Einstiegs- und Ausstiegsposition, Multikon- Schlagzähigkeit steht dem gegenüber. Mit zunehmen-
turmatten mit Massage und Lordosenunterstützung, der Anforderung zur Gewichtreduzierung sind Leicht-
Sitzheizung und Kühlfunktion zu steigern (Bild 6.4- bauwerkstoffe zu bevorzugen (ein vollausgestatteter
41) [8, 18]. Die Sitzbelegungserkennung (z.T. mit Fahrersitz der Luxusklasse wiegt heute bis zu 52 kg
Gewichtsdetektierung) mit Rückkoppelung auf die [9]). Die Schaumkissen sind meistens aus offenpori-
Systeme der passiven Sicherheit und auf Warnsyste- gem Polyurethan-Schaum gefertigt. Teilweise werden
me werden immer mehr zum Standard. Ein Großteil diese Schaumkissen direkt auf die in die Sitzaußen-
dieser Funktionen ist bei fast allen Segmenten für form gezogenen Textildekore bzw. Folien hinter-
Fahrer- und Beifahrersitz erhältlich. Für Fondsitze schäumt. Für höherwertige Fahrzeugsegmente sind
gibt es dies erst ab der Oberklasse. Neben den klassi- sowohl Sitzkissen als auch Sitzlehnen Schaumkissen
schen 5-Sitz-Konfigurationen gibt es für Minivans aus mehreren Lagen mit unterschiedlicher Dichte
und Großraumlimousinen besondere Sitzanlagen für angefertigt, um den höchsten Komfort zu erreichen.
den Fond, die eine größere Variabilität der Raumun- Sitzoberflächen sind genähte bzw. zum Teil geformte
terteilung ermöglichen. Wichtigste Funktion: Die Bezüge (Pressformen, Vakuum tiefgezogen), sie
Sitzbänke können teilweise oder ganz in den Boden können aus den unterschiedlichen Textilien, Kunst-
versenkt werden, um eine größere Nutzungsbreite zu stofffolien und aus Leder gefertigt werden. Diese
ermöglichen. Leicht ausbaubare Sitze sind meist in werden im Montagevorgang über die Sitzkissen bzw.
Fahrzeugen niedrigeren Preisniveaus zu finden. Sitzgestelle drapiert und mit Kunststoff- oder Metall-
6.4 Fahrzeuginnenraum 477

elektr./elektron.
Lehnenkopfverstellung: Kopfstütze mit
Die Lehne kann auf 2/3-Höhe AKS;
um 15° abgewinkelt werden, Höhenverstellung
um den Schulteranlagekomfort 70 mm
zu verbessern.

Lendenwirbelunterstützung mit
Massagekomfort: durch
rhythmische Bewegungen wird
der Rücken in der Länge
von 60 mm entspannt.

Thorax-Pelvis
Seitenairbag

Klimabelüftung:
über zwei Lüfter
wird Luft durch
Schaumkanäle
geleitet, die sich
in einem Abstands-
gewirke verteilt
und durch den
perforierten
Lederbezug
austritt;
Elektrische Sitztiefenverstellung:
die Sitzheizung
Über die nach vorne fahrende
erwärmt die Luft
Struktur wird der Schaum
auf Körper- Bild 6.4-41 Vollausgestatte-
mitgezogen und verlängert
die Sitzfläche um 50 mm.
temperatur ter Fahrersitz einer Premium-
limousine (Bild aus [18])

clipsen am Gestell befestigt. Sitzstoffe müssen immer Türverkleidungen werden in unterschiedlichen Auf-
geringe Dehnwerte aufweisen, um jahrelang falten- bauarten gefertigt. (Bestandteile der Türverkleidung
frei und gespannt als Sitzoberfläche zu dienen, zu- s. Bild 6.4-42).
dem hinaus atmungsaktiv, schweißabsorbierend und Die Armauflagen sind je nach Komfortausstattung
mit niedrigen Abriebwerten behaftet. Die Verklei- des Fahrzeuges in den seitlichen Verkleidungen
dungsumfänge bestehen weitestgehend aus Kunststof- angeformt bzw. bei hochwertigen Fahrzeugen zu-
fen. sammen mit dem Türzuziehgriff separat an der Tür-
Seitenairbags sind bereits Standard bei Einzelsitzen verkleidung bzw. an dem dahinter liegenden Rohbau
und werden zunehmend auf allen Sitzplätzen einge- angeschraubt. Ablagefächer mit Deckeln (oft auch
setzt, häufig auch als kombinierte Kopf-Thorax- mit Kinematik) werden als Modul angesteckt, einfa-
Airbags ausgeführt. Aktive Kopfstützen nutzen Mas- che Kartentaschen werden teilweise mitgeformt.
senträgheit des Insassen zur Aktivierung und federn Moderne Türverkleidungen werden üblicherweise in
so den Kopf bei einem Aufprall ab. Dadurch redu- einem One-Step LPE/LPS-Prozess hergestellt, bei
ziert sich der Neck-Injury Criteria Wert unter 60 % dem der Träger (z.B. ABS, PP etc.) und das Dekor
des Vergleichwerts von nichtaktiven Stützen (vgl. (Folien und Stoffe) im gleichen Arbeitsschritt vereint
Kap. 9). Eine Alternative sind in die Lehne integrierte werden. Die Zierleisten können aus Kunststoffen (mit
Kopfstützen (kein Spalt zwischen Lehne und Stütze). unterschiedlicher Oberflächenbeschaffenheit wie Me-
Die Sitze müssen alle die Kriterien des Whiplash- tall, Carbon, Grafit, Alu usw.) oder unterschiedlichen
Test erfüllen. Ziel ist dabei eine Reduzierung der Holzarten hergestellt werden. Armauflagen sind meist
Dummybelastungswerte bei einer Rückverlagerung weich gepolstert, da die Oberflächen in PVC-
nach einem Anprall in den Sitz. Schaumfolie (oder Leder, Stoff etc. ausgeführt) ge-
fertigt werden. Bei der Türbrüstung muss darauf
6.4.4.3.3 Tür-, Seitenverkleidungen geachtet werden, dass der Übergang zum Cockpit
Tür- und Seitenverkleidung sollen die Atmosphäre fließend gestaltet wird (oft durch Slushbrüstung). Bei
eines insgesamt stimmigen Innenraums unterstreichen den Tür- und Seitenverkleidungen ist der Seitenairbag
(Bleche und „Mechanik“ verdecken) und als zusätzli- mit Hilfe von Stoffspiegeln abgedeckt. Diese sind
che Schallisolierung dienen. Zudem sind sie Bestand- derart befestigt, dass sie im Auslösungsfall des Airbags
teil des Komfort- und Bedienkonzepts (Fensterheber, zur Seite gedrückt werden. Zusätzliche Sicherheits-
Spiegelsteuerung, Lautsprecher, Sitzverstellung, Tür- merkmale sind energieabsorbierende Elemente, um
öffner). Die Türverkleidung bildet mit Fensterheber/ durch gezielte Energieaufnahme den Energieabbau bei
Schließmechanik und ggf. Außenhaut oft ein Modul. einem Seitenaufprall zu unterstützen.
478 6 Aufbau

Anschlussblende I-Tafel
Defrosterblende
Türöffner
Blende Verriegelungsknopf
Blende Mitteltöner

Kartentasche

Türspiegel

Grundträger Zuziehgriff
Bild 6.4-42 Aufbau Türver-
Softpad
kleidung

6.4.4.3.4 Dachhimmel, Säulenverkleidung C-Säule sind meist einteilig, während die B-Säule
immer aus zwei Teilen besteht. Je nach Ausführung
Die Primärfunktion des Himmels ist neben der Ver-
(Kombi/Minivan) gehören auch D-Säulenverkleidung
kleidung und akustischer Dämmung des Daches die
bzw. Dachabschluss dazu. Außerdem sind die meis-
Unterbringung von Sonnenblenden und Beleuchtun-
ten Leuchten im Innenraum im Himmel angebracht.
gen sowie die Einfassung von Schiebedächern und
Der Dachhimmel ist meist in Sandwichbauweise
der dazugehörigen Schalter oder Mechaniken. Auch
ausgeführt. Das Dekor besteht aus Stoff (Vlies bzw.
Luftführung, Leitungen und Kopfairbags werden in
Alcantara stehen je am Ende des Spektrums). Der
den Himmel integriert. Seit kurzem dient der Dach-
Aufbau darunter variiert je nach Hersteller (z.B. PU-
himmel zusätzlich als Halterung für Unterhaltungs-
Schaumschicht zwischen Stoffschichten).
elektronik (LCD-Bildschirme/DVD-Player) für die
Die Säulenverkleidungen bei preiswerteren Fahrzeu-
zweite und dritte Sitzreihe bzw. als Möglichkeit um
gen sind reiner Spritzguss typischerweise aus Poly-
weitere Ablagemodule zu integrieren.
Propylen, eine gängige Größenordnung ist ca. 35 mm
Zum Dachhimmelmodul gehören die Säulenver-
Deformationsweg. Höherwertige Fahrzeuge haben
kleidungen. Sie sorgen für den harmonischen Über-
stoffkaschierte Säulenverkleidungen (Dekor ABS-PC,
gang von der Seitenverkleidung zum Himmel und
PP jeweils mit PES-Gewirke) die heute im Hinter-
dienen als Abdeckung von Luftkanälen und Gurten
spritzverfahren (LPS) hergestellt. Dadurch entfällt der
(Bild 6.4-43).
Produktionsschritt „Kaschieren“ bzw. das dafür erfor-
Das Dachhimmelmodul besteht aus dem eigentlichen
derliche Auftragen von Klebern.
Himmel, mit integrierter Luftführung und Elektrik
Zu beachten ist hier der „Umbug“ des Dekors im
und den anschließenden Verkleidungsteilen. A- und
Sichtbereich, der Übergang zwischen Säulenverklei-
dung und Seitenteilen und die Strichrichtung der
9
Textilien.
1 Die Kopfairbag-Variante kommt immer mehr zum
Einsatz. Sie ist in den seitlichen Himmel-Bereichen
angebracht. Kritisch im Auslösungsfall ist das Abtau-
chen der Himmelverkleidung bzw. ein entsprechen-
des Wegdrücken von Säulenverkleidungen um ein
einwandfreies Öffnen des Kopfairbags der über die
8 gesamte Fahrzeugseite wie ein Vorhang (man spricht
auch vom Curtain-Airbag) geöffnet wird, zu ermög-
lichen. Weitere Möglichkeiten die Sicherheit zu er-
6
höhen betreffen die Integration von intelligenten
2
Energieabsorptionselementen, die den Insassenschutz
3
gemäß FMVSS 201 übererfüllen.
5
4 7
6.4.4.3.5 Gepäckraum/Laderaum
Bild 6.4-43 Aufbau Dachhimmel Angespornt durch den Erfolg von SUVs und Cross-
(1) Dachhimmel mit Aussparung, (2) Befestigung overmodellen hat sich der Laderaum zum Lifestyle-
Sonnenblende, (3) Sonnenblende, (4) A-Säule, (5) produkt entwickelt. Selbsttätige mit separat öffnen-
Gurtumlenker, (6) B-Säule, (7) B-Säule Abschluss, dem Heckfenster versehene Heckklappen sind keine
(8) C-Säule, (9) D-Säule/Dachabschluss Seltenheit. In der Oberklasse sind auch elektrisch aus-
6.4 Fahrzeuginnenraum 479

Belag Velouren mit Anteilen von Seide in den oberen Fahr-


Fahrerboden li. zeugsegmenten. Bei höherwertigen Fahrzeugen geht
der Trend zur integrierten Isolation mit Hilfe von
Belag direkt auf den Teppich geschäumten Schaum. Diese
Fahrerboden re.
Ausführungen sind zwar als Teppichausführung
Seiten- teurer, aber in der Gesamtbilanz (Gewichtsbilanz,
verkleidung li.
Ladeboden Montagefreundlichkeit etc.) als Kompakt-System
bestehend aus einem Feder-Masse-Aufbau durchaus
wettbewerbsfähig [17].
Batteriedeckel
6.4.4.4 Entwicklungsablauf Innenraum
Bedingt durch die immer kürzeren Entwicklungszei-
Belag
Fondboden
ten („Virtuelle Entwicklung“) konzentrieren sich die
Automobilhersteller zunehmend auf ihre Kernkompe-
tenzen und haben große Teile der Wertschöpfung auf
Reserveradmulde Seiten- Zulieferer verlagert. Diese übernehmen Verantwor-
verkleidung re.
tung für die Entwicklung und Fertigung von Modu-
len, Systemen und teilweise sogar kompletten Fahr-
Bild 6.4-44 Gepäckraum/Bodenverkleidung
zeugen. So wird die Eigenleistung der Automobilher-
steller pro „Durchschnittsauto“ im Jahr 2015 wahr-
fahrbare Ladeböden möglich. Ein hochwertiger La-
scheinlich nur noch ca. 23 % betragen [19]. Neben
deraum verfügt meist über ein variables Verzurrsys-
den klassischen Modulen wie Sitzen und Cockpit,
tem mit Ösen und Schienen.
werden heute bereits Dach- und Türmodule von den
Der Laderaum ist aufgebaut aus Seitenteilverkleidung,
Lieferanten entwickelt und gefertigt [28]. Die Ent-
Bodenverkleidung mit Bodenplatte, Laderaumabde-
wicklung ist gleichzeitig ein Spagat zwischen Innova-
ckung bzw. Heckklappenverkleidung (Bild 6.4-44).
tionsdruck und Kostenersparnis. Der Kunde erwartet
Im unteren Segment bestehen die Seitenteile aus
ein neues Auto mit einem neuen Innenraum. Anderer-
nacktem PP; bei höherwertigen Fahrzeugen ist der
seits versucht man natürlich möglichst viele carry
Träger mit Dekorstoff überzogen (z.B. Softscher-
over-Teile zu verwenden (Bild 6.4-45 zeigt den
dilour). Der Teppich für die Bodenverkleidung be-
gesamten Entwicklungsablauf).
steht meist aus Strickvelour oder Perlvelour. Die
Bodenplatte, die den Zugang zu Reserverad oder 6.4.4.4.1 Lastenheft
weiteren Ablageflächen abdeckt wird meist in Spann-
holz ausgeführt, wegen des Gewichts aber zuneh- Das Lastenheft wird bestimmt vom Finanzrahmen,
mend auch in Sandwichbauweise aus Pappwappen. der Machbarkeit, mit den eventuell vorgegebenen
Im Gepäckraum geht es um die Sicherung der Ladung Produktionseinrichtungen und natürlich positioniert
durch Verzurrösen, Netzsicherungen und Schienen- gegen den zukünftigen Wettbewerb und die Ver-
systeme. Durch die Einführung von klappbaren Zu- triebsmärkte. Wichtig ist die richtige Abschätzung
satzsitzen im Laderaum wird verstärkt über zusätz- der späteren Verkaufsstückzahlen. Sie bestimmt Aus-
liche Sicherungssysteme für Personen nachzudenken führung und Anforderungen an Anzahl der Werkzeu-
sein. ge und Produktionseinrichtungen.
Zum Beispiel wird hier festgelegt, welche Verfah-
6.4.4.3.6 Bodenverkleidung, Akustik renstechnik bspw. für die Instrumententafel verwen-
Die Teppichverkleidung dient in erster Linie zur det werden soll und welche Anforderungen diese
Auskleidung des gesamten Innenraumbodens und der erfüllen muss (Tabelle 6.4-3).
darunter liegenden Metallstrukturen und Kabelkanäle, Selbst bei optimaler Großserienfertigung (etwa
sowie der Schalldämmung und Isolierung von Fahr- 200.000 Fahrzeuge/Jahr) bestehen die Herstellungs-
und Betriebsgeräuschen und ist damit wesentlicher kosten etwa zur Hälfte aus umgelegten Entwick-
Bestandteil der Gesamtfahrzeugakustik. lungskosten und Investitionen.
Die Bodenverkleidung setzt sich zusammen aus
6.4.4.4.2 Berechnung/Digital Mockup
Fahrerboden, Fondboden und Kofferraumverkleidung
(Bild 6.4-44). Je nach Fahrzeuggröße kann die Aus- Passend zum Lastenheft und abgestimmt auf parallel
kleidung des Fahrgastraums einteilig oder mehrteilig zum Design zu erarbeitenden „Mockups“ werden eine
sein (zum Aufbau der Dämmung und Isolierung vgl. mehrfache Anzahl von Modellen zeichnerisch ent-
Kap 3.4 ). worfen und die favorisierten Entwürfe in so genann-
Die Materialien von den Teppichauskleidungen ten „Sitzkisten“ realisiert. Ist das Plastilinmodell als
spannen sich vom preiswertesten Nadelvlies in den montierbar und herstellbar und optisch akzeptiert ab-
unteren Fahrzeugklassen bis zu den hochwertigsten genommen, wird es für eine endgültige Beurteilung
480 6 Aufbau

Entwicklungsablauf Instrumententafel und Mittelkonsole


Abnahme designrelevanter
Oberflächen
Design

Abnahme
1. Design-Präs. Designmodell P-Freigabe B-Freigabe SOP
Alu-
Konzept Werkzeuge
Basis ENT GK+OT Opt. 1
Konstr. Unterlag. B-Fr. Opt. 2
Opt. 3
2 Tages-Produktion
Erprobg.
Daten RPT 1. Prototyp RPT
Freigaben
Airbag

P-Freigabe = Planungsbeginn
O-S = Nullserie (erste Serienteile) Serien-Werkzeuge Narbung
B-Fr. = Beschaffungsfreigabe
GK+OT Optimierung
ENT = Entwurf
GK = Grundkörper Instr.tafel
1. Teil
OT = Oberteil Instr.tafel
SOP = Start of Production PVS Note 1 SOP
RPT = Rapid-Prototyping Teil
PVS = Produktionsvorserie O-S

Bild 6.4-45 Entwicklungsablauf

Tabelle 6.4-3 Anforderungen Oberfläche [16] ware können wichtige Eckdaten für die Füllbarkeit
(Lufteinschlüsse, Faserorientierung, Verzug, Binde-
Oberflächeneigenschaften Substrateigenschaften nähte, Druckverlust, Schließkraft) und Kostenkalku-
lation des Teils ermittelt werden.
Berührhaptik Druckhaptik
Narbwiedergabe Designfreiheit 6.4.4.4.3 Teilekonstruktion
Oberflächenbeständigkeit physik. Eigenschaften
Farbflexibilität Anwendungsflexibilität Diese von den Stylingmodellen abgenommenen
Mehrfarbigkeit Oberflächen dienen den Konstrukteuren als Basis zur
Alterungsbeständigkeit Geometriebeschreibung der Einzelteile. Der geglätte-
te Datensatz bildet die „Schokoladenseite“ des Bau-
teiles (A-Flächen). Die Struktur und die Befestigun-
mit Lack, Folie und Stoffen auf möglichst realisti- gen werden ankonstruiert. Bei allem ist darauf zu
sches Aussehen getrimmt (Kap. 4.1 bzw. 6.4.1). achten, dass die Teile mit möglichst wenig Hinter-
Im Mockup wird parallel zum Styling in täglicher schnitten hergestellt werden können. Das werkzeug-
Abstimmung das Package (vgl. Kap. 4.2) dargestellt. und fertigungsgerechte Design vereinfacht die Werk-
Für den Innenraum werden alle Modelle dann noch zeuge und hilft die Kosten zu optimieren. Gleichzei-
einmal in Einzelteilen in Gießharz gefertigt, um das tig arbeiten Konstrukteure der Rohkarosse an der
Zusammenspiel nebeneinander liegender Bauteile in Blechstruktur unter der ebenfalls stilistisch abge-
der Sitzkiste abzustimmen. Nach Abnahme des Sty- nommenen Fahrzeugaußenhaut. Zwischen Rohbau
lingmodells werden die Oberflächen nach einem und Innenausstattung ergibt sich hier eine großflächi-
Rastergitter punktförmig abgenommen und „digitali- ge, alles umfassende Schnittstelle.
siert“. Experten glätten diese „Punkte“ zu „Flächen“.
6.4.4.4.4 Datenkontrollmodelle
Eine Betrachtung des digitalisierten Innenraums als
virtuelles Modell am Bildschirm oder in 3-D Anima- Da gerade im Innenraum die Bauteile oft weich und
tionen, z.B. in einer sogenannten Cave, wird häufig flexibel sind, werden sogenannte Datenkontrollmo-
zur Entscheidungsfindung herangezogen. Dabei las- delle, meistens aus temperaturstabilen Kunststoffen,
sen sich Fugenbilder aber auch Montagevorgänge hergestellt. Es handelt sich hier immer um Teile und
nachbilden. anliegende Teile, die mit entsprechender „Verstif-
Bei der Berechnung der Werkzeugauslegung im Be- tung“ als Baugruppen exakt passen müssen. Diese
reich Kunststoffe hat sich die Spritzgieß-Simulation Datenkontrollmodelle beziehen sich auf die erarbeite-
zur Werkzeugauslegung (Moldflow, CADmould etc.) ten Datensätze der Teilekonstruktion. Die Grundlage
weitgehend als Standard etabliert. Mithilfe der Soft- ist ein ausgearbeitetes Funktionsmaßkonzept mit dem
6.4 Fahrzeuginnenraum 481

Ziel, die Bauteile kollisionsfrei im Datensatz vorlie- kostet – je nach Ausführung – zwischen 500.000 und
gen zu haben. 900.000 Euro, bei einer Ausbringung von rund 1.000
Aus den Datenkontrollmodellen entstehen dann „Leh- Teilen täglich. Daher kann für Nischenfahrzeuge und
ren“ für die Bauteile und Werkzeuge. Für die Werk- Kleinserien zukünftig Rapid-Manufacturing zuneh-
zeuge muss bei den Datensätzen ein werkstoffgerech- mend interessant werden [20, 27]. Weiter wird zu-
ter „Schrumpffaktor“ eingearbeitet werden. künftig die ökologische Bilanz von Produktionspro-
Alle Teilehersteller haben die anschließenden Teile zessen im Hinblick auf die Klimadiskussion und die
ihres eigentlichen Teiles als Referenzmodelle, nach existierende Altautoverordnung eine stärkere Rolle
denen die Qualitätsabnahme erfolgt. Es hat sich ge- bei der Fertigung von Innenraumkomponenten spie-
zeigt, dass angrenzende Teile in Baugruppen von len. Alternative Trägermaterialien, z.B. aus nach-
einem einheitlichen „Referenzsystem“ konstruiert wachsenden Rohstoffen, werden relevanter werden
und auch so maßlich bestimmt werden. Hierdurch [26].
wird dann bei Werkzeugen, Lehren und bei den
Bauteilen selbst vermieden, dass sich Toleranzen 6.4.4.4.7 Variantenmanagement
addieren. Dies ist derzeit immer noch eine der größten Heraus-
forderungen für die Automobilindustrie. Sie ist der
6.4.4.4.5 Prototypen/Testing Preis, der für die seit Jahren ungebrochene Auswei-
Sobald die Teilekonstruktion abgeschlossen ist, wer- tung der Modellpaletten und das Individualisierungs-
den Hilfswerkzeuge für die Ausrüstung der Prototy- angebot für Endverbraucher zu bezahlen ist. Alleine
pen erstellt. Prototypen werden benötigt, um die bei dem Modell einer Oberklassenlimousine hat sich
Crashsicherheit zu beweisen, die Dauerhaltbarkeit zu die Zahl der Varianten bei Handschuhkästen von
ermitteln, Geräusche zu optimieren und die Funktion 20 auf 152 und bei Türverkleidungen von 608 auf
als Ganzes beurteilen zu können. Bis zu 70 techni- 18.819 im Vergleich zum Vorgänger erhöht [15].
sche Prüfungen müssen Verkleidungsteile bestehen, Allein bei den Rücksitzen einer Luxuslimousine
bevor sie zur Produktion freigegeben werden. Die ergeben sich fast 5.000 Varianten [18]. Die Folgen
Teile dürfen sich über die gesamte Fahrzeuglebens- schlagen sich in Logistikplanung und Produktions-
dauer nicht verformen oder verfärben (Prüfung durch steuerung, erhöhtem Platzbedarf und Handlingsauf-
extreme Freibewitterungszyklen). Auch muss der wand nieder. Eine Lösungsmöglichkeit bildet ein
durch Alterung entstehende Schrumpf konstruktiv ganzheitliches Variantenmanagement [15].
berücksichtigt werden, besonders bei Kunststoff-
Materialien, da sonst „Verwerfungen“ möglich sind. 6.4.4.5 Ausblick
Qualität und Herstellungskosten hängen wesentlich Für die Zukunft lassen sich einige Tendenzen erken-
von Produktionsprozessen ab. Die Tendenz zur virtu- nen [2]. Die Wohlfühlatmosphäre durch verbesserte
ellen Abwicklung dieser Aspekte ist auch im Innen- Optik und Haptik wird auch für die Bereiche von
raum weiter fortschreitend [29, 30]. Lkw und Kleinlastern zu beachten sein [25]. Die
Integration von E/E-Komponenten wird in allen
6.4.4.4.6 Serienproduktion/Montage Baugruppenbereichen weiter fortschreiten. Dabei
Die meisten Baugruppen des Innenraums werden spielen die Themen der Ankopplung mobiler Geräte,
heute in Just-in-Time oder sogar Just-in-Sequenz wie z.B. Mobiltelefone und multimedialer Einheiten
gefertigt. Viele Zulieferer ziehen deshalb in die Zu- eine immer größere Rolle. Nicht nur die Datenver-
liefererparks der OEM. Die Globalisierung zwingt bindung sondern auch die Energieversorgung dieser
Hersteller und Zulieferer zudem auch weltweit Pro- mobilen Geräte spielt eine wichtige Rolle. Durch
duktionsstandorte zu betreiben. Dies bringt vor allem elektrische Betätigung von Getriebe, Handbremse
für den kritischen Punkt des Serienanlaufs große und eventuell auch Lenkung wird weiter Bauraum
Herausforderungen mit sich: Die Werkzeuge sind eingespart. Leichtbau und neue Materialien werden
neu, eventuell auch die Prozesse, was die Anfälligkeit Gewichtseinsparungen bringen. Die wichtigste, weil
für Fehler erhöht, die schnell zu Produktionsausfällen immer größer werdende Zielgruppe der Zukunft wird
oder sogar Rückrufaktionen führen können. Vor die Seniorengeneration sein. Einfache, intuitive Be-
allem die Individualisierung wird sich stärker auf die dienung, verbesserter Komfort bei Einstieg und
Serienproduktion auswirken. Gerade bei einem gro- Beladen werden hier verlangt werden. Parallel dazu
ßen Grad der Individualisierung des Innenraums wird die Individualisierung weiter fortschreiten. Es ist
(viele Varianten) ist eine sequenzielle Belieferung mit zu erwarten, dass ähnlich wie bei Handys, es in
Modulen sinnvoll. So betragen die Produktionsinves- Zukunft ein voll personalisiertes Auto geben wird.
titionen (ohne produktspezifische Werkzeugkosten) Beispielsweise können ab Werk persönliche Motive
für eine Instrumententafelfertigung der gehobenen durch verschiedene Verfahren auf die Dekorelemente
Mittelklasse rund 20 Millionen Euro und die Kosten des Innenraums projiziert werden. Die Innenraumbe-
für die produktspezifischen Werkzeuge sogar noch leuchtung kann dem Geschmack des Fahrers ange-
mehr: Alleine das Werkzeug des Trägers der I-Tafel passt werden und die Sitzbezüge können „nach Gus-
482 6 Aufbau

to“ wöchentlich gewechselt werden. Für die Entwick- nenraum; Vortrag beim 5. Fachkongress Fortschritte im Auto-
mobilinnenraum 14. – 15. November 2006, Ludwigsburg
lung wird sich auch in Zukunft alles um die techni-
[27] Miller, M.: (R)evolution von Oberflächendesign, Prototyping
sche und unternehmensübergreifende Integration und Produktionstechnik; Vortrag beim 5. Fachkongress Fort-
drehen. schritte im Automobilinnenraum 14. – 15. November 2006,
Ludwigsburg
[28] Rottig, H.-J.: Der Schritt von der Innenverkleidung zum Türmo-
Literatur dul; Kunststoffe 10/2006, S. 113 – 116
[29] Audi AG: Aspekte der virtuellen Entwicklung beim Innenraum
[1] Möser, K.: Geschichte des Autos, Frankfurt (Main), 2002 des Q7, Presseinformation Audi Q7, Februar 2006
[2] Wildemann, H.: Entwicklungstrends in der Automobil- und [30] Schneider, Th. et al.: Modernes Thermomanagement am Beispiel
Zulieferindustrie, München, 2004 der Innenraumklimatisierung; ATZ 02, 2007
[3] Lüßmann-Geiger, H.: Geruchs- und Emissionsmessung in der [31] Dr. Wambsganß, H.: Lichtdesign – ein ganzheitlicher Ansatz in
Automobilindustrie, Vortrag Fraunhofer WKI Workshop „Sen- der frühen Konzeptphase; Vortrag beim 9. Fachkongress Innen-
sorische Prüfung von Produkten für den Innenraum, Braun- raum 16./17. 11. 2010, Stuttgart
schweig, 20./21. 2. 2003 [32] Enz, E.: Innenraum-Lichtgestaltung mit Textil-, Leder- und
[4] Grundler, E.: Lässt sich gefühlte Qualität objektiv beurteilen?, Holzflächen; Vortrag beim 9. Fachkongress Innenraum 16./
Technische Rundschau 22, 2004 S. 36 – 38 17. 11. 2010, Stuttgart
[5] Grunwald M.; Beyer, L. (Hrsg.): Der bewegte Sinn. Grundlagen [33] Dr. Heers, R.: HMI Experience for Future Cockpit Electronic
und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung, Basel, 2001 Systems; Vortrag bei der 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10.
[6] Pietzonka, S.; Bluhm, M.; Zwick, H.: Technik und Design, Neue 2010, München
Möglichkeiten für automobile Innenlichtkonzepte, ATZ, 3, 2004, [34] El-Khoury, H.: Automotive Touchscreens: Innovation, Solutions
JG 106, S. 211 – 217 and the new role for a semiconductor company; Vortrag bei der
[7] Schlott, S.: Fachtagung Innenraum – Emotion und Technik 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10. 2010, München
vereint, Automobil Produktion, Dezember 2004 S. 70 – 74 [35] Dr. Steiner, P.: Infotainment im neuen Audi A8; Vortrag bei der
[8] Jung, C. et. al.: „Das Interieur des Maybach“, Maybach Sonder- 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10. 2010, München
ausgabe ATZ, September 2002, S. 92 – 118 [36] Seydel, D.: Ort- und zeitunabhängige Multimedianutzung –
[9] Friedrichs, B.; Baumeister, A.: Mobile Innenarchitektur – unterwegs, zu Hause und im Fahrzeug; Vortrag bei der 1. Fach-
Harmonie und Ästhetik, BMW 6er Sonderausgabe ATZ, Mai, tagung Infotainment 12./13. 10. 10, München
2004, S. 21 – 24 [37] Lamberti, R.: Smartphone Apps und Automobil – eine Symbio-
[10] Schlott, S.: Innenraumtrends – Sehnsucht nach Einzigartigkeit, se?; Vortrag bei der 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10.
Sonderausgabe Innenraum Automobilproduktion, März 2004, 2010, München
S. 6 – 12 [38] Dr. Lindlbauer, M.: Das Internet kommt ins Fahrzeug: offenere
[11] Mauter, G.: Haptische Anforderungen an Bedienelemente, 3. Use Cases mit Security absichern und früher realisieren; Vortrag
Fachtagung Fortschritte im Automobil Innenraum, Ludwigsburg bei der 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10. 10, München
2004 [39] Carmody, Th.: Trends in Connectivity and Location 2012 and
[12] N. N.: Ein Gespür für Qualität; DaimlerChrysler HighTech beyond; Vortrag bei der 1. Fachtagung Infotainment 12./13. 10.
Report, 2/2004, S. 60 – 63 2010, München
[13] Weinhold, W.: Innovative Oberflächen-Messtechnik für Mikro-
mechanik und Haptik; Vortrag Material Innovativ Würzburg,
03/2004
[14] Feichter, E. et al.: Interieur – intelligentes Wohlfühlen mit
Niveau, VW Passat Sonderausgabe ATZ/MTZ, April 2005,
S. 26 – 40
[15] Alders, K.: Komplexitätsmanagment bei der Audi AG, Vortrag
Automobilforum Graz, Oktober 2004
[16] Bachsteffel J.; Laux, J.: IMC Slush-Technologie im Interieur –
Eine neue Werkstoffgeneration für hochwertige Oberflächen;
Tagungsband VDI-Kongress Kunststoffe im Automobilbau,
März 2005
[17] Stricker, K: Ganzheitliche Akustikentwicklung vom Radlauf bis
zur Windschutzscheibe, ATZ 3/2005 S. 184 – 193
[18] Fromm P.; Cerhak A.; Hamberger W.: Innenraum erleben, ATZ
Sonderausgabe Audi A8, S. 24 – 39. 6.5 Wischer- und Wascheranlagen
[19] N. N.: Future Automotive Industry Structure (FAST) 2015,
Mercer Management Consulting & Frauenhofer Gesellschaft, Die aktive Sicherheit erfordert, dass das Sichtfeld des
München 2003 Fahrers (Vorschriften hierzu siehe 2.2) zu bestimmten
[20] Büchling, J.: Rapid Manufacturing – Auf direktem Weg zur
Serie, Automobil Industrie, 1 – 2, 2005, S. 38 – 41
Prozentsätzen auch bei Regen und verschmutzter
[21] Schlott, S.: AGR-Sitze – Komfort für alle Klassen, Sonderausga- Scheibe gereinigt wird.
be Innenraum Automobilproduktion, 3/2004, S. 32 – 34 Die Wischeranlage besteht im Regelfall aus den
[22] Laux, J.: Neue Werkstoffgeneration für hochwertige Oberflä- Einzelkomponenten
chen; ATZ, Dezember 2006, S. 1014 – 1019
[23] Ehling, K.: „Gefühl Licht“: Lichtwahrnehmung durch den • Antriebsmotor,
Fahrer; Vortrag CTI Automotive Interior Lighting Conference, • Gelenkstangen,
9. – 10. October 2006 • Wischerlager,
[24] Wambsganß, H.: Licht im Fahrzeuginnenraum; Vortrag beim
Festsymposium zum 50jährigen Bestehen des Fachgebietes • Wischerarme,
Lichttechnik an der TU Darmstadt, 24. November 2006 • Wischerblätter.
[25] Sonderausgabe ATZ: „Der Neue Sprinter von Mercedes Benz“,
Juni 2006
Häufig sind gleichlaufende Wischerarme, seltener
[26] Roscher, M.: Serieneinsatz, Weiterentwicklung und Neuerungen werden Gegenlauf- oder Schmetterlings-Anlagen so-
von naturfaserverstärkten Trägerwerkstoffen im automobilen In- wie Einarm- und Einarm-Hubwischer eingesetzt.
6.5 Wischer- und Wascheranlagen 483

Für die Wischqualität sind insbesondere das Anpress- Bei Kompakt- und Kombifahrzeugen sind zusätzlich
kraftverhalten, der Anstellwinkel der Wischerblätter Heckwischeranlagen üblich.
sowie der Wischgummi (Werkstoff, Formgebung)
verantwortlich. Vor allem Front-Wischeranlagen Literatur
müssen sowohl bei Hitze als auch bei Kälte funkti- [1] Schmid, E.: „Wischer- und Wascheranlagen für Fahrzeuge“,
onsfähig sein. Bei höheren Geschwindigkeiten beein- verlag moderne Industrie, 1993
flussen zudem die aerodynamischen Strömungsver- [2] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Bosch Kraftfahrtechnisches
Taschenbuch 27. Aufl. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag,
hältnisse das Wischverhalten. Als weitere Kriterien 2011, S. 920 – 927
zur Bewertung sind das Geräuschverhalten des Sys-
tems und der Fußgängerschutz zu nennen.
484 7 Fahrwerk

7 Fahrwerk

7.1 Einführung Fahrwerks, sowie Fahrerassistenzsysteme, die zur


Entlastung des Fahrers einen Teil seiner Führungs-
Automobile sind Fahrzeuge, deren Bewegung auf einer aufgaben übernehmen. Dazu gehören ebenfalls
vorgegebenen Oberfläche, in der Regel einer Fahrbahn, aktive Sicherheitssysteme, die bei Unfallgefahr ent-
vom Fahrer in Längs- und Querrichtung sowie um die weder fahrdynamische Regelsysteme praekonditio-
Hochachse (Gierachse) in bestimmten, vom Straßen- nieren oder unmittelbar Aktionen zur Vermeidung
verlauf oder physikalisch vorgegebenen Grenzen, frei eines Unfalls bzw. zur Reduzierung der Unfall-
bestimmt werden kann. Hierbei sind die Quer- und schwere einleiten.
Gierbewegung eng miteinander gekoppelt. Im vorliegenden Kapitel wird ein Überblick über die
In senkrechter Richtung zur Fahrbahn muss das Funktionen der Radführung, Lenkung und Federung
Automobil hingegen dem Straßenverlauf ohne akti- sowie der fahrdynamischen Regelsysteme gegeben.
ven Eingriff des Fahrers folgen (Berg- und Talfahrt). Die Brems- und Antriebsschlupfregelsysteme werden
Kurzwellige Fahrbahnunebenheiten sollten jedoch in Kapitel 5.5.2 eingehend behandelt, Fahrerassis-
nur soweit auf das Fahrzeug übertragen werden, wie tenzsysteme in Kapitel 8.5.5.
es die Fahrsicherheit, der Fahrerwunsch nach Fahr-
bahnkontakt und das subjektive Fahrkomfortempfin- 7.1.2 Aufgaben des Fahrwerks
den erfordern. Mit seiner Rolle als Verbindungsglied zwischen
Das quer-, längs- und vertikaldynamische Verhalten Straße und Fahrzeug liefert das Fahrwerk einen
eines Automobils wird durch eine Vielzahl von Para- wesentlichen Beitrag zu Fahrdynamik und Fahrkom-
metern bestimmt. In vielen Bereichen liegen nicht- fort. Darüber hinaus beeinflusst das Fahrwerk Raum-
lineare Zusammenhänge und komplexe Kopplungen nutzung, Gewicht, Aerodynamik und Kosten.
der Zustandgrößen vor. Daher stellt das Fahrwerk und Der hohe Stellenwert des Fahrwerks im Gesamtsys-
in erweitertem Sinne die Fahrdynamik auch heute tem Automobil lässt sich aus Folgendem ableiten:
noch ein hoch interessantes Themengebiet dar, insbe-
1. Ein fahrdynamisch gut abgestimmtes Automobil
sondere wenn der Fahrer als Zustandserkenner, Reg-
ist für den Fahrer mit geringem Aufwand zu fah-
ler und subjektiver Beurteiler berücksichtigt wird.
ren. Es setzt die vom Fahrer eingegebenen Stell-
größen unmittelbar vorhersehbar und präzise um
7.1.1 Definition des Begriffs Fahrwerk
und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit bis hin
Mit Ausnahme der Schwerkraft und der aerodynami- zur Befriedigung. Dieser erlebbare Eindruck eben-
schen Kräfte und Momente werden alle äußeren so wie die fahrdynamische Bewertung in der
Kräfte und Momente dem Fahrzeug über die Kon- Fachpresse, stellt bei vielen Kunden ein wichtiges
taktzone der Reifen mit der Straße aufgeprägt. Die Entscheidungskriterium beim Kauf dar.
aerodynamischen Kräfte und Momente werden in der 2. Die Fahrdynamik eines Automobils bestimmt
Regel als Störgrößen betrachtet. Hierbei wird an ganz wesentlich die Möglichkeiten des Fahrers,
Luftwiderstand, Auftrieb und Seitenwind gedacht. kritische Situationen zu vermeiden oder zu beherr-
Aerodynamische Kräfte und Momente sind jedoch schen. In Deutschland sind etwa ein Drittel der im
auch bei nicht für den Rennsport konzipierten Fahr- Verkehr Getöteten durch Abkommen von der
zeugen einsetzbar zur Optimierung des Fahrverhal- Fahrbahn und etwa ein Fünftel bei Zusammenstö-
tens. Wegen der starken Interaktion zwischen dem ßen mit entgegenkommenden Fahrzeugen zu be-
Fahrwerk und der Aerodynamik bei hohen Ge- klagen (Bild 7.1-1). Wegen der Häufigkeit von
schwindigkeiten sind beide gemeinsam zu betrachten. Unfällen als Folge des Kippens von Fahrzeugen
Das Fahrwerk im engeren Sinn kann als Verbund der mit hohem Schwerpunkt wurde von der nordame-
Systeme des Kraftfahrzeugs verstanden werden, die rikanischen Behörde NHTSA (National Highway
sowohl zur Erzeugung und Beeinflussung der Kräfte Traffic Safety Administration) der „fish hook“-
in den Kontaktzonen Fahrbahn/Reifen als auch zu Test zur Bewertung der Kippsicherheit eingeführt
deren Übertragung auf das Fahrzeug dienen: Rad/ [1]. Ohne Einzelanalyse der Unfallabläufe (Kapi-
Reifen, Radbremsen, Radträger/Radführung/Lenksys- tel 9) ist eine quantitative Aussage über das Po-
teme, Federung/Dämpfung. tenzial einer Steigerung der Sicherheit durch eine
Im erweiterten Sinn werden zusätzlich alle Systeme weitere Optimierung des Fahrverhaltens und des
mit einbezogen, die für das Führen eines Kraftfahr- Einsatzes fahrdynamischer Regelsysteme nicht
zeugs erforderlich sind: Brems-, Kupplungs- und möglich. Selbst wenn dem Fahrer ein großer Ein-
Gasbetätigung, Lenkrad, Lenksäule, fahrdynamische fluss zugeschrieben wird, erscheint eine deutliche
Regelsysteme zur Unterstützung der Funktionen des Verringerung der Zahl der Unfallopfer durch Ab-

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_7,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
7.1 Einführung 485

Unfallart:
Fahrzeug / Fahrzeug:
-entgegenkommend 9,4 % 23 %

-einbiegend, kreuzend 28,1 % 13,3 %

-vorausfahrend, wartend 15,9 % 4,4 %

Fahrzeug kommt von


13,2 % 36,2 %
der Fahrbahn ab

Zusammenstoß mit Fußgänger 10,4 % 13,5 % Bild 7.1-1 Aufteilung der


Verletzten und Toten in
Andere Unfallart 33 % 9,6 % Abhängigkeit des Unfallge-
schehens (Angaben: Statist.
Unfälle mit 0% Getötete
Personenschaden Bundesamt Deutschland
2002)
kommen von der Fahrbahn und Zusammenstoß Das Fahrwerk ist nicht allein maßgebend für Fahrdy-
mit entgegenkommenden Fahrzeugen realistisch. namik und Fahrkomfort, von gleichrangiger Bedeu-
In Zukunft wird vorausgesetzt, dass die Fahrwerk- tung sind Gesamtfahrzeuggrößen wie Schwerpunkt-
regelsysteme in Verbindung mit den Fahrerassis- höhe, Achslastverteilung, Trägheitsradien, Radstand
tenzsystemen es ermöglichen werden, nicht nur und Spurweite sowie im höheren Geschwindigkeitsbe-
die Beherrschbarkeit des Fahrzeugs durch den reich die aerodynamischen Eigenschaften. Wegen der
Fahrer zu erhöhen sondern auch die Unfallfolgen erforderlichen Reduzierung der zur globalen Erwär-
zu reduzieren (crash mitigation). So kann z.B. bei mung beitragenden Emissionen und der Verknappung
Unvermeidbarkeit eines Zusammenstoßes automa- und Verteuerung der Kraftstoffe, ergeben sich aufwän-
tisch eine Vollbremsung eingeleitet werden. Hierzu digere Antriebsysteme mit höherem Bauraumbedarf.
ist jedoch eine sehr gute Erkennung und Interpre- Desgleichen steigt dieser für Rekuperationsspeicher
tation des Umfeldes erforderlich sowie eine siche- und für alternative Energieträger mit geringerer volu-
re Prognose für den möglichen Bewegungsablauf metrischer Energiedichte. Da von den technischen
sowohl des eigenen Fahrzeugs als auch der ande- Systemen das Fahrwerk nach dem Antrieb den höchs-
ren beteiligten Verkehrsteilnehmer. ten Bauraumbedarf im Fahrzeug hat, sollte zukünftig
3. Das Fahrwerk setzt mit den Fahrwerkregelsyste- mit geringem Bauvolumen die gewünschten Funktio-
men die Voraussetzungen für die Einführung von nen erreicht und gegebenenfalls neue Gesamtfahrzeug-
Fahrerassistenzsystemen, die den Fahrer bei seiner architekturen berücksichtigt werden.
Fahrzeugführungsaufgabe unterstützen. Ebenfalls Es sei noch angemerkt, dass eine Zusammenstellung
werden hiermit die Voraussetzungen geschaffen für der häufig vorkommenden Formelzeichen und Be-
eine Automatisierung von Teilfunktionen des Fah- griffe den Rahmen dieses einführenden Kapitels
rens. So verfügt man heute bereits über eine auto- sprengen würde. Es wird daher auf die Literatur
matische Abstandsregelung beim Fahren, die auch hingewiesen, z.B. [3].
das Stoppen und Anfahren im Stau übernehmen
kann. Ferner kommt für begrenzte Anwendungen 7.1.3 Fahrdynamik und Fahrwerkskräfte
auch vollautomatisches Fahren in Betracht.
4. Hoher Fahrkomfort wird nicht nur subjektiv als Geht man von der bereits skizzierten Vorstellung aus,
angenehm empfunden und stellt somit ein Wett- dass das Fahren eines Automobils die Bewegung
bewerbskriterium dar, sondern der Fahrkomfort eines Körpers in einer Gasatmosphäre und einem
hat auch einen nachgewiesenen Einfluss auf das Schwerkraftfeld ist, wobei die vertikalen Kräfte, die
physische und psychische Leistungsvermögen des Antriebs- und Bremskräfte sowie die seitlichen Füh-
Fahrers und somit auf die Sicherheit [2]. Es ist je- rungskräfte über die Kontaktflächen der Reifen mit
doch zu berücksichtigen, dass hoher Fahrkomfort der Fahrbahn übertragen werden, erscheint es nahe-
im Widerspruch zu hoher Fahrdynamik und Si- liegend und sinnvoll, die Dynamik des Fahrens aus-
cherheit steht. Dieser Zielkonflikt kann durch den gehend von diesen Kräften zu analysieren.
Einsatz adaptiver Systeme gelöst werden. Es ist Dieser Ansatz geht konform mit der oft vorgenomme-
jedoch zu berücksichtigen, dass die Bewertung nen Unterteilung der Fahrdynamik in Längs-, Quer-und
des Fahrkomforts durch den Fahrer subjektiv er- Vertikaldynamik. Die 6 Freiheitsgrade des Fahrzeugs,
folgt und daher sowohl von seiner fahrzeugbezo- das hier vereinfachend als ein Einmassensystem be-
genen Erwartungshaltung als auch von seiner Mo- trachtet wird, sind wie in Tabelle 7.1-1 dargestellt an
tivation abhängt. Längs-, Quer- und Vertikaldynamik beteiligt.
486 7 Fahrwerk

Tabelle 7.1-1 Beteiligung der Fahrzeugfreiheitsgrade an Längs-, Quer- und Vertikaldynamik


Bezeichnung Primäre Freiheitsgrade Sekundäre Freiheitsgrade
Längsdynamik Längsbewegung Hubbewegung
Nickbewegung
Querdynamik Querbewegung Nickbewegung
Gierbewegung Hubbewegung
Wankbewegung
Vertikaldynamik Hubbewegung Querbewegung
Nickbewegung
Wankbewegung

Die Längs-, Quer- und Vertikaldynamik sind weder einteilen: als Folge vom Lenken der Räder, als Folge
bei den primär betroffenen Freiheitsgraden noch bei von Querverschiebungen der Räder relativ zum
den sekundären Freiheitsgraden voneinander unab- Fahrzeug und als Reaktion auf die, dem Fahrzeug von
hängig. Darüber hinaus bestehen gegenseitige, kom- Außen aufgeprägten Kräften.
plexe Abhängigkeiten der Reifenkraftkomponenten
(Kapitel 7.3). 7.1.3.1.1 Lenken der Räder

7.1.3.1 Querdynamik: Fahrwerkskräfte Durch Aufprägen eines Lenkwinkels an den Rädern


in Querrichtung der Vorderachse erzeugt der Fahrer unmittelbar eine
Änderung der Schräglaufwinkel der Räder dieser
In Fahrzeugquerrichtung werden hauptsächlich die Achse. Die resultierende Seitenkraft oder Seitenkraft-
Reifenseitenkräfte von der Fahrbahn auf den Fahr- änderung stellt die erste Phase des Reifenseitenkraft-
zeugaufbau übertragen. Bei gelenkten Rädern erge- aufbaus dar. Sie erzeugt eine Änderung der Quer-
ben sich in Fahrzeugquerrichtung auch Komponenten beschleunigung und, da sie exzentrisch zum Fahr-
aus den Reifenumfangskräften, die bei größeren zeugschwerpunkt angreift, ebenfalls eine Drehbe-
Lenkwinkeln nicht vernachlässigt werden können. schleunigung. Letztere enthält eine Komponente um
Definitionsgemäß besteht die primäre Aufgabe der die Gierachse und eine Komponente um die Wank-
Radführungskräfte darin, die Querdynamik des Fahr- achse [5]. Da die Quer-, die Gier- und die Wankbe-
zeugs bezüglich Einhaltung der vom Fahrer ge- schleunigung im ersten Augenblick ausschließlich
wünschten Bahn sowie der Drehbewegung um die von der Seitenkraft der gelenkten Räder verursacht
Hochachse zu kontrollieren. Durch die Höhe des werden, sind sie zueinander proportional. Hieraus
Schwerpunktes zur auf den Aufbau einwirkenden kann abgeleitet werden, dass die Anfangsbewegung
Seitenkraftkomponente ergibt sich die Wankbewe- des Fahrzeugs um eine fahrzeugfeste Momentanachse
gung des Fahrzeugs. Sie entkoppelt die Querbewe- erfolgt. Diese Momentane Drehachse ist das räumli-
gung des Fahrzeugschwerpunktes von der Querbewe- che Analogon zum Stoßmittelpunkt bei einer ebenen
gung der Radaufstandsflächen. Das Fahrzeug und das Bewegung. Als Folge der Änderung des Bewegungs-
Umfeld stellen die Regelstrecke dar, der Fahrer den zustandes des Fahrzeugs bilden sich sowohl an der
Regler. Die in der Regelungstechnik üblichen Begrif- Vorder- als auch an der Hinterachse in den Radauf-
fe und Verfahren finden daher auch in der Fahrdyna- standspunkten Geschwindigkeitskomponenten quer
mik Verwendung, z.B. [4]. zum Reifen aus, die den ursprünglichen Schräglauf-
Die Reifenseitenkräfte sind im Wesentlichen eine winkel der Vorderachse reduzieren bzw. den weiteren
Funktion des Schräglaufwinkels der Räder mit der Aufbau verzögern, während an der Hinterachse durch
Radlast und der Umfangskraft als wichtigste Parame- die sich dort aufbauende Quergeschwindigkeit der
ter (Kapitel 7.3). Reifenseitenkraftkomponenten, die Seitenkraftaufbau erst beginnt. Die anfängliche Rich-
aus dem Radsturz oder einer Asymmetrie des Reifens tung der Seitenkraft an der Hinterachse hängt von der
resultieren, sind bei Reifen für Automobile im Ge- Lage des Schwerpunktes, den Trägheitsradien für
gensatz zum Motorad – oder für spezielle Anwen- Gieren und Wanken, dem Radstand und der Höhe der
dungen entwickelte Reifen von geringerer Bedeutung Rollzentren an Vorder- und Hinterachse ab (Bild
und werden hier nicht berücksichtigt. Sie sind jedoch 7.1-2).
für die Feinabstimmung des Fahrverhaltens, den Die anfängliche Richtung prägt wesentlich das An-
Reifenverschleiß und die erzielbare maximale Seiten- lenkverhalten des Fahrzeugs. Erst danach entstehen
kraft von Wichtigkeit. als Folge des sich aufbauenden Schwimmwinkels und
Die Schräglaufwinkel und mit ihnen die Reifensei- der Giergeschwindigkeit die Schräglaufwinkel und
tenkräfte lassen sich entsprechend ihres Entste- Reifenseitenkräfte wie sie bei stationärer Kurvenfahrt
hungsmechanismus in unterschiedliche Kategorien leicht herleitbar sind.
7.1 Einführung 487

y, j
Iv · Ih/iψ2 – hv · hh/iϕ2 = Q
M
om
en l ψ = i ψ2/l v Bild 7.1-2 Einfluss der Fahr-
ta h ϕ = i ϕ2/h v
hϕ na zeugarchitektur auf die erste
ch
se Fahrzeugreaktion bei schnellen
x, f SP (m, iψ2, iϕ2)
Lenkwinkeländerungen. Lage

hv hSP hh der Momentanachse relativ zum
RZh Rollzentrum der Hinterachse:
RZv
vor: Q>1
Iv Ih d auf: Q=1
hinter: Q < 1

Lenkbewegungen der Räder werden außer durch den setzt um mittels rechnergeregeltem Lenken der Hin-
Fahrer auch durch konstruktive Maßnahmen, den terräder den Seitenkraftaufbau zu beeinflussen. In
Vorspuränderungen, verursacht. Diese entstehen: Serie sind ebenfalls Systeme (z.B. Aktivlenkung von
• durch die vertikalen Federbewegungen teils als BMW [6]), die an der Vorderachse eine intelligente
Folge der Kinematik der Radführung, teils als Interpretation der Eingabe des Fahrers ermöglichen
Folge der Änderung der Kräfte in der Radführung und das Verhalten des Regelsystems Fahrer/Fahr-
durch die Feder- und Dämpferkräfte und der zeug/Straße optimieren.
hiermit einhergehenden elastischen Verformungen Bei rechnerbeeinflusstem Lenken an Vorder- und
• durch Reifenlängs- und -querkräfte sowie Reifen- Hinterachse ist die Analogie mit „fly by wire“ beim
rückstellmomente als Folge der elastokinemati- Flugzeug erkennbar. Es wird daher häufig der Begriff
schen Eigenschaften der Radführung „steer by wire“ verwendet falls die eindeutige me-
• durch elastische Verformungen im Lenkungs- chanische Verbindung zwischen dem Betätigungsor-
strang gan und den Rädern mittels Regelsystemen aufgebro-
• durch aktive Lenksysteme (Kapitel 7.4.6.1). chen wird.
Die beschriebenen Möglichkeiten zur Lenkwinkelän- 7.1.3.1.2 Querverschiebung
derung werden gezielt eingesetzt um den erforderli- des Radaufstandspunktes
chen Grad an Fahrstabilität einzustellen, die Phasen-
lage zwischen Lenkwinkel, Giergeschwindigkeit und Verschiebungen des Radaufstandspunktes (Definition
Querbeschleunigung bei instationären Fahrmanövern siehe Kapitel 7.4.1) quer zur Rollrichtung eines Ra-
zu verbessern und die Kurshaltung beim Lastwechsel des erzeugen ebenfalls Schräglaufwinkel, da die sich
und Bremsen in der Kurve zu optimieren. aus Längs- und Quergeschwindigkeit ergebenden
Konventionelle passive Fahrwerke können mit einer Geschwindigkeitsvektoren nicht mit der Rollrichtung
Art einfachen „mechanischen Regelung“ versehen des Rades zusammenfallen. Die resultierenden Sei-
werden, die situativ automatisch korrigierende Lenk- tenkräfte widersetzen sich der Querverschiebung und
bewegungen an Vorder- und Hinterrädern durchführt. dienen in der Regel der Spurführung des Fahrzeugs.
Zur Verbesserung von Anlenkverhalten und Stabili- Die Querbewegung an den Radaufstandspunkten
tät gehört es zur Auslegung vieler Hinterachsen, dass kann zwei Ursachen haben:
sich bei Kurvenfahrt ein Lenkwinkel aufbaut, der den • Die gesamte Achse wird als Folge von Quer-,
Gradienten der Achsseitenkraft über dem Schräg- Gier- und Wankbewegung des Fahrzeugs quer zur
laufwinkel der Achse erhöht, während an der Vorder- eigentlichen Rollrichtung der Räder bewegt. Dies
achse die entgegengesetzte Wirkung vorgesehen kann eine Folge von z. B. Lenkbewegungen, Kur-
wird. venfahrt, Seitenwind oder Straßenquerneigung
Der Nachteil dieser mechanischen passiven Regelung sein. Die Zusammenhänge hierzu sind in den Ka-
besteht in den sehr einfachen Abhängigkeiten der piteln 7.1.3.1.1 und 7.1.3.1.3 näher beschrieben.
induzierten Lenkwinkelkomponente vom Einfeder- • Die Radführungen erzeugen in der Regel eine
zustand und den einwirkenden Kräften. Außerdem Querbewegung des Radaufstandspunktes beim
stellen diese Größen nicht die optimalen Zustands- Ein- und Ausfedern. Das Verhältnis der Querbe-
größen für die Beschreibung des momentanen fahr- wegung zur Vertikalbewegung wird durch die
dynamischen Zustandes des Fahrzeugs dar. Es kann Höhe des Rollzentrums bestimmt. Hierbei ist das
beispielsweise nicht unterschieden werden, ob die am Verhalten von Einzelradaufhängungen, Verbund-
Reifen wirkende Seitenkraft vom Fahrer herbeige- lenkerachsen und Starrachsen unterschiedlich. Die
führt wurde um eine Richtungsänderung zu bewirken, Höhe des Rollzentrums dient sowohl dazu die
oder ob es sich um eine Störkraft handelt. Deshalb Wankmomentenabstützung unabhängig von Fede-
werden von einigen japanischen Fahrzeugherstellern rung und Dämpfung bei Kurvenfahrt zu erhöhen
vereinzelt aktive Systeme an der Hinterachse einge- als auch das Anlenkverhalten zu verbessern.
488 7 Fahrwerk

Nachteilig wirkt sich die kinematisch bedingte nenten aus den Reifenseitenkräften, die bei größeren
Querverschiebung des Radaufstandspunktes aus, Lenkwinkeln nicht vernachlässigt werden können.
wenn sie durch Fahrbahnunebenheiten hervorge- Die primäre Aufgabe der Antriebs- und Bremskräfte
rufen wird, da störende Reifenkräfte in Querrich- besteht darin, die Längsdynamik des Fahrzeugs bezüg-
tung entstehen, die sich ungünstig auf Geradeaus- lich Beschleunigung und Geschwindigkeit zu kontrol-
lauf und Kurshaltung auswirken. lieren. Durch Längsbeschleunigungen in Verbindung
mit der Höhe des Fahrzeugschwerpunktes entstehen
7.1.3.1.3 Stabilisieren des Fahrzeugs dynamische Achslaständerungen wodurch Nick- und
auf einer vorgegebenen Bahn Hubbewegung angeregt werden. Bei Kurvenfahrt wird
Die Schräglaufwinkel und damit die Reifenseitenkräfte wegen des unterschiedlichen Einfederzustandes links
entstehen in diesem Fall durch Abweichen von der und rechts in der Regel auch der Wankwinkel beein-
ungestörten Fahrzeugbahn infolge äußerer Einwirkun- flusst und die Wankmomentenabstützung zwischen
gen zum Beispiel Seitenwind, Straßenseitenneigung Vorder- und Hinterachse verändert.
und -unebenheiten, aber auch durch Störung des Sei- Die Kopplung der Längs- und der Vertikaldynamik
tenkraftverhältnisses an Vorder- und Hinterachse durch hängt von der Schwerpunktlage, dem Radstand und
z.B. eine vom Fahrer ausgelöste Längsbeschleunigung. der Radführungskinematik (Antriebs- und Brems-
Geht man vereinfachend von einem stabilen, einge- kraftabstützwinkel, Kapitel 7.4.1) ab. Nick- und
schwungenen Zustand aus, so erfolgt durch die Störung Hubsteifigkeit sowie Dämpfung sind die stabilisie-
eine Quer-, Wank- und Gierbewegungskomponente renden Größen. Bei angetriebenen Starrachsen ist
des Fahrzeugs, wodurch sich die Schräglaufwinkel an zusätzlich das auf den Aufbau als Wankmoment
den Räder des Fahrzeugs verändern. Bei einer korrek- wirkende Kardanwellenmoment zu beachten.
ten fahrdynamischen Auslegung des Fahrwerks resul- Folgende physikalische Zusammenhänge bewirken
tieren Kraftänderungen an den Rädern, die zu einem eine Beeinflussung der Querdynamik durch die
neuen eingeschwungenen Fahrzustand führen mit nur Längsdynamik:
einer geringen Abweichung von der ursprünglichen Die dynamische Achslastveränderung infolge Be-
Bahn. Die Größe der Abweichung von der ursprüngli- schleunigen oder Verzögern des Fahrzeugs ergibt eine
chen Bahn ist ein Maß für die querdynamische Stör- gegensinnige Veränderung der momentanen Normal-
empfindlichkeit eines Fahrzeugs. kraft an Vorder- und Hinterachse. Wegen der in einem
Die Störempfindlichkeit nimmt mit zunehmender weiten Bereich annähernd linearen Abhängigkeit der
Geschwindigkeit zu. Gründe hierfür sind: Reifenseitenkraft von der Normalkraft verändert sich
• die Abhängigkeit der Reifenseitenkraft vom die Seitenkraftverteilung zwischen Vorder- und Hin-
Schräglaufwinkel. Hieraus folgt, dass doppelte terachse merklich, woraus beim Verzögern ein in die
Fahrgeschwindigkeit doppelte resultierende Quer- Kurve hineindrehendes übersteuerndes Moment, beim
geschwindigkeit bedeutet bei Annahme einer glei- Beschleunigen ein aus der Kurve hinausdrehendes
chen seitlichen Störkraft untersteuerndes Moment entsteht.
• die näherungsweise umgekehrt proportionale Ab- Vorspuränderungen, unmittelbar hervorgerufen durch
hängigkeit der Gierdämpfung von der Fahrge- die Änderung der Umfangskräfte (elastokinematische
schwindigkeit Vorspuränderung), mittelbar durch die Änderung des
• die proportionale Zunahme der aerodynamischen Einfederzustands der Räder (kinematische Vorspur-
Seitenkräfte und Giermomente bei gleicher Sei- änderung) erzeugen Seitenkraftkomponenten, die das
tenwindgeschwindigkeit mit der Geschwindigkeit Fahrverhalten beeinflussen (Kapitel 7.4.1 und 7.4.2).
• die quadratische Abhängigkeit des Auftriebs von Die besprochenen Vorspuränderungen ermöglichen
der Geschwindigkeit. das Abstimmen des Fahrverhaltens beim Lastwechsel
Aktive Lenksysteme bieten ein hohes Potential, Ab- oder beim Bremsen in der Kurve.
weichungen vom Sollwert ausregeln bzw. verringern Umfangskraftdifferenzen zwischen dem linken und
zu können. Voraussetzung ist jedoch ein ausreichend dem rechten Rad können durch die Bremsen oder den
schnelles Erkennen der Abweichung und Reagieren Antrieb verursacht werden. Sie erzeugen unmittelbar
der Regelsysteme um eine Interferenz mit der Fahrer- ein Moment um die Fahrzeughochachse. In der Regel
reaktion zu vermeiden. Die derzeit zur Verfügung wird versucht den Unterschied gering zu halten, bei
stehende Sensorik und Fahrzustandserkennung kann den Bremsen durch das Konzept, bei angetriebenen
dies oft noch nicht ausreichend gewährleisten. Achsen durch die Verwendung eines Differenzial-
getriebes. Bei den Brems- und Antriebsschlupfregel-
7.1.3.2 Längsdynamik: Fahrwerkskräfte systemen ist teilweise ein Kompromiss zwischen der
in Fahrzeuglängsrichtung Höhe der resultierenden Längskraft und dem infolge
In Fahrzeuglängsrichtung werden im Wesentlichen die Asymmetrie erzeugten Giermoment erforderlich.
Antriebs- und Bremskräfte von der Fahrbahn auf den Das durch ungleiche Umfangskräfte erzeugte Gier-
Fahrzeugaufbau übertragen. Bei gelenkten Rädern moment wird jedoch auch positiv eingesetzt. Bei
wirken in Fahrzeuglängsrichtung ebenfalls Kompo- Sperrdifferenzialen erzeugt die Sperrwirkung je nach
7.1 Einführung 489

Fahrzustand verschiedene Wirkungen. Bei geringer griff gezielt eingesetzt, um das Fahrzeug im Grenzbe-
Querbeschleunigung in Verbindung mit einem klei- reich zu stabilisieren [9]. Auch außerhalb des Grenz-
nen Kurvenradius ergibt sich ein in die Gerade- bereiches werden die Möglichkeiten einer asymmetri-
ausfahrt rückdrehendes Giermoment das sich der schen Bremskraftverteilung genutzt um das Fahrver-
Zunahme der Untersteuerneigung durch die Achslast- halten beim Bremsen in der Kurve zu verbessern
verlagerung überlagert. Um in diesem Fahrzustand (Kapitel 7.2).
ein ausgeprägtes Untersteuern zu vermeiden, wird die Bei Bremssystemen mit der Möglichkeit zur radindi-
Sperrwirkung des Differenzials begrenzt bzw. gere- viduellen Bremskraftverteilung kann die beim Brem-
gelt. Beim Verzögern mit dem Motorbremsmoment sen auftretende Kursabweichungen a priori durch
hingegen hilft das Sperrmoment, das durch die dyna- ein Giermoment, herbeigeführt durch eine gezielte
mische Achslastverlagerung bewirkte übersteuernde Bremskraftasymmetrie, korrigiert werden.
Moment zu kompensieren. Die Abhängigkeit der Reifenseitenkraft von der Um-
Bei höherer Geschwindigkeit und hoher Querbe- fangskraft ermöglicht es beim Bremsen über die
schleunigung ändert sich jedoch der Wirkmechanis- Bremskraftverteilung zwischen Hinter- und Vorder-
mus der Quersperrung. Sowohl beim Beschleunigen achse das Seitenführungsvermögen einer Achse
als auch beim Verzögern mit dem Motor stellt sich gegenüber der anderen zu schwächen und auf diese
nun als Folge der unterschiedlichen Radlasten kurven- Weise mittelbar ein Moment um die Hochachse zu
außen und -innen eine höhere Umfangskraft am kur- erzeugen. Beim Antreiben und Verzögern mit dem
venäußeren Rad ein. Durch das Beschleunigen wird Motorantriebs- bzw. -schleppmoment kann analog
das Fahrzeug nun, im Gegensatz zu vorher, übersteu- das Seitenführungsvermögen reduziert werden. Bei
ernder, beim Gaswegnehmen bleibt die Untersteuer- Allradantrieb beeinflusst daher die Antriebskraftver-
tendenz jedoch auch hier erhalten. Um letzteren Ef- teilung auf Vorder- und Hinterachse das Fahrverhal-
fekt, der sich positiv auf das Lastwechselverhalten ten. Der Einfluss ist jedoch im üblichen Bereich des
auswirkt, verstärkt zu nutzen, wird bei einigen Fahr- Brems- und Antriebsschlupfes gering und wird vom
zeugen die Sperrwirkung des Differenzials im Schie- Einfluss der Achslaständerung überdeckt. Jedoch im
bebetrieb höher gewählt als beim Antreiben. Bereich der maximal übertragbaren Kräfte an einer
Bei Differenzialen mit regelbarem Sperrmoment Achse, ist eine gezielte Verteilung der Bremskräfte
können die geschilderten Wirkprinzipien genutzt wer- und bei Allradantrieb der Antriebskräfte von wesent-
den um zusätzlich zur Radschlupfregelung eine Sta- lichem Einfluss [7, 8]. Hierbei sind die momentanen
bilitätsregelung des Fahrzeugs zu realisieren. Während Radlasten und der zur Verfügung stehende Reibbei-
bei einem geregelten Sperrdifferential bei höherer wert wichtige Einflussgrößen bei der Optimierung der
Geschwindigkeit eine fahrdynamische Wirkung nur Querdynamik (Bild 7.1-3).
beim Antreiben oder Verzögern erzielt wird, können
mittels spezieller Achsgetriebe auch ohne Antriebs- 7.1.3.3 Vertikaldynamik: Fahrwerkskräfte
oder Schleppmomente hinein- und hinausdrehende in Fahrzeughochrichtung
Giermomente erzeugt werden bzw. Gierdämpfung Die vertikalen Kräfte, die zwischen Fahrwerk und
durch gegensinnige Umfangskräfte an einer Achse Aufbau wirken, ergeben sich aus Feder- und Dämp-
[7, 8]. Hierbei wird die Motorleistung über das spe- ferkräften sowie aus den vertikalen Reaktionskräften
zielle Achsgetriebe wahlweise vom linken Rad auf das der Reifenquer- und -längskräfte. Die Reifennormal
rechte, oder vom rechten auf das linke, übertragen. kräfte differieren von den resultierenden Feder-,
Bei Bremsregelsystemen wird ein geregelter asym- Stabilisator- und Dämpferkräften um die Trägheits-
metrischer, vom Fahrer unabhängiger Bremsenein- kräfte der ungefederten Massen. Die Aufgabe der

50 Hohe Last, Reifenschlupf > 20 %


Vorderachsmomentenanteil (%)

Konstantfahrt
40
glatt

30

trocken & nass


20

Volllast
10

Bild 7.1-3 Antriebskraftver-


teilung in Abhängigkeit von
50 100 150 200 250 der Geschwindigkeit beim
Fahrgeschwindigkeit (km/h)
Porsche Carrera 4 [10]
490 7 Fahrwerk

Vertikaldynamik ist es, die Aufbaumasse auf den misch adäquater Radlastverteilung und guter, als
Rädern abzustützen und Hub-, Wank- und Nickbewe- angenehm empfundene Ankopplung des Fahrzeuges
gungen des Fahrzeugs relativ zur Fahrbahn in engen an die Fahrbahn bei instationären Fahrmanövern und
Grenzen zu halten, bzw. bei aktiven Systemen wenigs- langwelliger Anregung durch die Fahrbahn sind mit
tens die Wankbewegung zu eliminieren. Das Wanken konventionellen voll passiven Federungssystemen nur
stellt einen wichtigen aber unerwünschten Freiheits- bedingt lösbar. Erschwerend ist, dass das Fahrzeug-
grad dar der die Querdynamik wesentlich negativ gewicht und die Achslastverteilung wegen der oft
beeinfusst. Der Aufbau soll, soweit es der Federweg nicht unerheblichen Zuladung schwanken [4]. Ni-
zulässt, gegenüber den Fahrbahnunebenheiten isoliert veauregelung, semi-aktive Fahrwerke mit situativer
werden. Um die Übertragung der Längs- und Seiten- Anpassung von Systemparametern und vor allem
kräfte möglichst wenig zu beeinträchtigen ist eine aktive geregelte Federungs- und Dämpfungssysteme
weitere Aufgabe der vertikaldynamischen Systeme die bieten hohes Potential diese Zielkonflikte zu verrin-
dynamischen Radlastschwankungen ausreichend klein gern (Kapitel 7.4.4).
zu halten. Die Maxima der Radlastschwankungen Bei der Vertikaldynamik wirken als äußere Kräfte
treten im Bereich der Eigenfrequenz der ungefederten und Momente neben Gewicht und Reifennormalkräf-
Massen und der Aufbaueigenmode auf. Während die ten auch die aerodynamische Auftriebskraft und das
Radlastschwankungen im Eigenfrequenzbereich der aerodynamisches Nick- und Wankmoment. Auf-
ungefederten Massen das Umfangskraft- und Seiten- triebskraft und Nickmoment werden oft mittels des
kraftpotenzial reduzieren, können die niederfrequen- Auftriebs an Vorder- und Hinterachse beschrieben
ten Radlastschwankungen zum Anregen einer Gier-/ (Kapitel 3.2). Größe und Verteilung der aerodynami-
Querschwingung des Fahrzeugs führen. Aktive Fede- schen Auftriebskräfte haben insbesondere bei höhe-
rungssysteme bieten die Möglichkeit die Aufbaubewe- ren Geschwindigkeiten einen bedeutenden Einfluss
gungen und zumindest die niederfrequenten Radlast- auf das querdynamische Verhalten, da sie die Reifen-
schwankungen zu reduzieren. Der Einfluss auf Ver- normalkraft und die Achsparameter Vorspur, Seiten-
brauch und Emissionen ist jedoch nicht unerheblich. und Längskraftabstützwinkel sowie Federkraftverlauf
Wegen der degressiven Abhängigkeit der Reifensei- verändern. Bei Kurvenfahrt bewirkt der Fahrzeug-
tenkraft von der Radlast lässt sich ab mittleren Quer- schwimmwinkel ein Schräganströmen des Fahrzeugs
beschleunigungen der Grad der Untersteuerneigung so dass eine aerodynamische Seitenkraft und ein
mittels der Wanksteifigkeitsverteilung zwischen aerodynamisches übersteuerndes Moment entstehen.
Hinter- und Vorderachse beeinflussen. Dabei hängt Zur Kompensation dieses hineindrehenden Momentes
das von der Achse erbrachte Wankmoment nicht nur wird in der Regel hinten ein niedrigerer Auftriebs-
vom Wankwinkel, sondern auch von der Hubbewe- beiwert als vorne gewählt.
gung und dem Nickwinkel des Fahrzeugs ab, so dass
hier ein wirkungsvolles Werkzeug zur Abstimmung 7.1.4 Basis-Zielkonflikte
des Kurvenverhaltens auch beim Lastwechsel und
Bremsen besteht. Bei der Optimierung des Fahrverhaltens treten mehre-
Wie bereits erwähnt wirken neben den Feder- und re Zielkonflikte auf, deren Größe sowohl ein Indika-
Dämpferkräften über die Radführung auch vertikale tor für die Qualität des gewählten Fahrwerks als auch
Reaktionskräfte aus den Reifenseiten- und -umfangs- des Gesamtfahrzeugkonzeptes darstellt:
kräften auf den Aufbau sowie auf die ungefederten • Zur Erzielung eines guten Anlenk- und Kurven-
Massen. Diese Kräfte resultieren aus den Brems-, verhaltens sind in Abhängigkeit vom Massenpa-
Antriebs- und Seitenkraftabstützwinkeln als Folge der ckage des Fahrzeugs Mikrolenkbewegungen als
kinematischen Kopplung der Längs- und Querbewe- Funktion von Radeinfederung, Reifenseitenkraft
gung der Radaufstandspunkte mit der Vertikalbewe- und -rückstellmoment erforderlich. Das Fahrwerk
gung. Diese Effekte werden genutzt um Wank- und sollte jedoch auf unebener Fahrbahn möglichst
Nickwinkel zu reduzieren. Bei rasch eingeleiteten keine, den Geradeauslauf störenden Reifenkräfte
Manövern wirkt sich hierbei besonders günstig im und -momente erzeugen. Bei der Auswahl des
Vergleich zur Stabilisierung über die Federrate aus, Fahrzeugkonzeptes und des Package sollte daher
dass die Wank- und Nickbeschleunigungen und die Rückwirkung auf das Fahrwerk und das fahr-
-geschwindigkeiten geringer sind. Auf diese Weise dynamische Potential berücksichtigt werden.
werden das Anlenken und das Wanküberschwingen • Die unmittelbare Abhängigkeit des elastokinema-
günstig beeinflusst. Die Achskinematik ist dabei tischen Eigenlenkverhaltens von der Quersteifig-
jedoch so auszulegen, dass unerwünschte Effekte wie keit der Radträgeranbindung erfordert bei einigen
Aufstützen bei Kurvenfahrt, Stempeln beim Bremsen Achstypen eine hohe Querlenkerlagersteifigkeit.
und Antreiben sowie zu starke Beeinträchtigung des Zur Isolierung der höherfrequenten Transversal-
Geradeauslaufs vermieden werden. schwingungen des Rad/Reifensystems ist jedoch
Die Zielkonflikte zwischen den Anforderungen an eine ausreichende Elastizität der Radführung in
Komfort, Bodenhaftung der Räder, sowie fahrdyna- Querrichtung wünschenswert. Es sind daher die
7.1 Einführung 491

Achskonzepte zu bevorzugen, die neben hoher eingeleiteten Fahrmanövern abhängt. Um den


Längsfederung auch eine ausreichende Querelasti- Zielkonflikt bei der Federdämpferabstimmung zu
zität bei gutem elastokinematischem Eigenlenk- entschärfen, sollte deshalb bei der Festlegung des
verhalten zulassen. Gesamtfahrzeugkonzeptes die Interaktion mit
• Die Antriebs- und Bremskräfte sollten möglichst Schwerpunkthöhe, Nick- und Wankträgheitsradien
direkt, d.h. ohne Schwingungen anregende Pha- sowie Radstand und Spurweite Berücksichtigung
senverschiebungen und Koppeleffekte auf den finden. Semi-aktive und aktive Systeme haben
Fahrzeugaufbau übertragen werden. Diese Anfor- hier großes Potenzial, das in Zukunft verstärkt
derung steht jedoch in Konflikt mit der Zielset- ausgeschöpft werden wird.
zung, von der Fahrbahn herrührende Stöße durch Anhand der hier beispielsweise aufgeführten Ziel-
eine gezielte Längsfederung und -dämpfung zu konflikten ist zu ersehen, dass das Fahrwerk eine
mildern. Der Zielkonflikt lässt sich fahrwerkseitig komplexe Aufgabe zu erfüllen hat, insbesondere auch
entschärfen bei Auswahl von Achskonzepten mit da in die Bewertung das subjektive Empfinden des
hoher Drehsteifigkeit um die Querachse bei gleich- Menschen eingeht. Die genannte Aufgabenvielfalt
zeitiger hoher Längselastizität des Radträgers zur sollte das Fahrwerk mit geringem Aufwand an Ge-
Karosserie. Die Längsfederung und -dämpfung hat wicht, Bauraum und Kosten erfüllen und dies mög-
bei gelenkten Rädern auch einen wesentlichen lichst unbeeinflusst von Umweltbedingungen und bei
Einfluss auf die Anregung von Lenkraddreh- gleichbleibender Funktionsqualität über die gesamte
schwingungen. Hierbei ist die Lage der Eigenfre- Lebensdauer des Fahrzeugs.
quenzen der Längs- und Lenkschwingungsformen Bei dieser komplexen Aufgabenstellung können die
der ungefederten Massen sowie die Höhe der Möglichkeiten geregelter fahrdynamischer Systeme
Kopplung dieser Schwingungsformen von Bedeu- (Bild 7.1-4) einen wichtigen Beitrag leisten sowohl zur
tung. Entschärfung der genannten funktionellen Zielkonflikte
• Bei der Auslegung des Federdämpfersystems be- als auch zur Erzielung einer neuen Qualität der Fahr-
steht eine wesentliche Aufgabe darin, einen guten, dynamik. Hierbei ist die Aufgabenverteilung zwischen
dem Charakter des Fahrzeugs gerecht werdenden der passiven mechanischen Radführung und den
Kompromiss zwischen Fahrverhalten und Fahr- Eigenschaften der Regelsysteme einer Optimierung
komfort zu finden. Dies wird dadurch erschwert, zuzuführen. Wegen der sich verschärfenden globalen
dass die jeweils günstigste Abstimmung sowohl Emissions- und Energiesituation sind aktive Systeme
von der Fahrbahnoberfläche, der momentanen jedoch nur industrialisierbar, wenn sie einen relevanten
Fahrgeschwindigkeit als auch von den vom Fahrer Vorteil gegenüber passiven Lösungen bieten.

Ziele Regelsysteme Reifenkräfte Fahrzeug Bewegungen

Fahrverhalten
aktive Vorderradlenkung
Reifenseiten- Querdynamik
aktive Hinterradlenkung kraft
Seitenbewegungen
Ergonomie
aktive Federung Gierbewegung

Rollbewegung
Bedienkomfort Umfangskraft- Reifenvertikal-
Transfer VA/HA kraft Vertikaldynamik
Umfangskraft-
Vertikalbewegung
Federungskomfort Transfer li /re
Nickbewegung
DSC, ESP

Sicherheit,,
Sicherheit Längsbewegung
Bremskraftverteilg Reifenumfangs-
Stabilität
Stabilität,
Agilität
kraft Längsdynamik
ABS / ASC

Zustandsrückmeldung
Regelsysteme

Fahrer Zustandsrückmeldung Fahrer

Bild 7.1-4 Wirkzusammenhänge fahrdynamischer Regelsysteme [11]


492 7 Fahrwerk

7.1.5 Ausblick systemübergreifende Aufgabe bei der Entwicklung


fahrdynamischer Systeme dar. Da eine Standardisie-
Im Bereich der Fahrwerkentwicklung erfolgt eine rung der Schnittstellen sowie eine offene Systemar-
weitere deutliche Funktionssteigerung durch die Ein- chitektur zu den Voraussetzungen zählen, hängt die
führung von Fahrwerkregelsystemen, die unmittelbar zukünftige Verbreitung fahrdynamischer Regelsys-
oder mittelbar das Fahrverhalten verbessern [11]. Die teme auch von der Zusammenarbeit der Fahrzeugher-
zunehmende Zahl an fahrdynamischen Regelsystemen steller und den Zulieferern ab. Hier sind gemeinsame
macht es erforderlich das Zusammenspiel der einzelnen Anstrengungen im Rahmen von AUTOSAR erkenn-
Regelsysteme in einem Fahrzeug so zu gestalten, dass bar (Kapitel 8.1).
zumindest keine negativen Interferenzen auftreten,
möglichst jedoch funktionale Synergien entstehen. Literatur
Hierzu ist eine funktionale Integration der Regelsyste-
me zu einem „Integrated Chassis Management ICM“ [1] National Highway Traffic Safety Administration: A Demonstra-
tion of the Dynamic Test Developed NHTSA’s NCAP Rollover
erforderlich [12]. Das ICM muss eine Schnittstelle zum
Rating System; DOT HS 809 705 August 2004
Antriebsstrang-Management und zu den Fahrerassis- [2] Wierwille, W. W.; Gutmann, J. C.; Hicks, T. G.; Muto W. H.:
tenzsystemen aufweisen um deren Anforderungen, Secondary task measurement of work load as a function of simu-
ähnlich wie die des Fahrers, umsetzen zu können. Die lated vehicle dynamics and driving conditions; Human Factors,
1977, S. 557 – 575
Koppelung der Fahrdynamik-Regelsysteme mit den [3] Mitschke, M.; Wallentowitz, H.: Dynamik der Kraftfahrzeuge,
Fahrerassistenzsystemen wird zu einer deutlichen Band C, Fahrverhalten, Springer Verlag 2004
Funktionserweiterung der Fahrdynamik-Regelsysteme [4] Zomotor, A.: Fahrwerktechnik: Fahrverhalten, Vogel Fachbuch,
führen, da Informationen über die Bahn des Fahrzeugs, 1987
[5] Pauly, A.: Dynamique transitoire, contribution à l’étude du
den Straßenverlauf und über weitere Verkehrsteilneh- comportement de guidage non stationnaire, Vortrag S.I.A., Ecole
mer zur Verfügung stehen werden um die Aktion der Centrale de Lyon, 1979
Regelsysteme weiter zu optimieren. [6] Fleck, R.: „Aktivlenkung“ – ein wichtiger erster Schritt zum
Die Notwendigkeit einer funktionalen Integration Steer-by-Wire, HdT-Tagung Pkw-Lenksysteme – Vorbereitung
auf die Technik von morgen, Essen, April 2003
kann zu einer Lösung mit weitgehender Zusammen- [7] Furukawa, Y.; Abe, M.: Advanced Chassis Control Systems for
fassung der fahrdynamischen Regelung in einem Vehicle Handling and Active Safety, Vehicle Systems Dyna-
Steuergerät führen oder zu einer Verteilung der mics, 28 (1997), pp. 59 – 86
fahrdynamischen Regelfunktionen auf mehrere Steuer- [8] Greger, M.: Auswirkung einer variablen Momentenverteilung
auf die Fahrdynamik, Dissertation TU München, 2006
geräte bei gleichzeitiger Vernetzung. Zwischen die- [9] van Zanten, A. Th.; Erhardt, R.; Pfaff, G.: Die Fahrdynamikrege-
sen beiden extremen Lösungsansätzen sind auch lung von Bosch, at-Automatisierungstechnik 44 (1996) 7
Kombinationen denkbar. [10] Birch, S.: New Stability from the Porsche Stable, Automotive
Zwischen der Architektur der Hard Ware und der Engineering International, Februar 1999, S. 16
[11] Pauly, A.: Active Front Steering – ein wichtiger Baustein von
Funktionsstruktur der Soft Ware besteht eine gegen- Drive by Wire, VDI Arbeitskreis Fahrzeug- und Verkehrstech-
seitige Abhängigkeit. Für ein Szenario integrierter nik, UniBw Hamburg, 06. 12. 2001
Regelfunktionen gehen zwingend Ansätze zur Be- [12] Leffler, H.; Ayoubi, M.: ECM – Elektronisches Chassis Mana-
herrschung der Komplexität, Variantenvielfalt und gement; Steuerung und Regelung von Fahrzeugen und Motoren
– AUTOREG 2002, Mannheim, April 2002; VDI-Bericht 1672
Sicherheit einher. Dies umfaßt im einzelnen: [13] Ammon, D.: CO2-mindernde Fahrwerk- und Fahrdynamiksyste-
• einen optimalen, auf funktionale Integration me, ATZ 10/2010, S. 770–775
ausgerichteten Regelsystem-Baukasten für eine
schnelle und bestmögliche Konfigurierbarkeit
produktspezifischer Funktionsinhalte.
• ein Sicherheitskonzept, das wo erforderlich, funk-
tionale Redundanz und „fail silent“-Verhalten ver-
bunden mit „gracefull degradation“ und Rekonfi-
guration des restlichen Systems beinhaltet.
• ein Funktions- und Konfigurationsmanagement für 7.2 Bremssysteme
einen skalierbaren Funktionsumfang abhängig von
Anzahl, Art und Verfügbarkeitszustand der fahr-
7.2.1 Einführung
zeugindividuell verbauten Fahrdynamik-, Fahr- Das Bremssystem gehört zu den sicherheitsrelevanten
zeugführungs-, Aktuatorik- und Sensorsysteme. Systemen. Von seiner Funktionstüchtigkeit in allen
• eine offene Architektur mit standardisierten Schnitt- Fahrsituationen hängt die Sicherheit der Fahrzeugin-
stellen, die obige Anforderungen unterstützt. sassen und anderer Verkehrsteilnehmer ab. Die ur-
• und schließlich neue Geschäftsmodelle mit Zulie- sprüngliche Funktion, ein Fahrzeug entsprechend
ferern bei eindeutig definierten Schnittstellen in dem Fahrerwunsch aus jeder Fahrgeschwindigkeit
Technik und Verantwortung. abzubremsen, wurde in den letzten Jahren um um-
Die Beherrschung der funktionalen Integration und fangreiche elektronisch geregelte Funktionen erwei-
der Hard Ware Architektur stellt eine wesentliche, tert. Die zunehmenden Komfortansprüche an moder-
7.2 Bremssysteme 493

ne Fahrzeuge, die damit verbundene Zunahme des 7.2.2 Auslegung von Bremssystemen
Fahrzeuggewichts und die heute erreichbaren Ge-
schwindigkeitsbereiche, führen zu erweiterten Leis- Die physikalische Grundauslegung einer konventio-
tungsanforderungen an moderne Bremssysteme. nellen Bremsanlage wird im Wesentlichen durch
Wichtige Schritte zu heutigen Bremssystemen waren: folgende Größen bestimmt:
• bis 1925 mechanisch betätigte Trommelbremsen, • Leistungsanforderungen (performance) an Fahr-
• 1925 hydraulisch betätigte Trommelbremsen, zeug und Bremsanlage
• 1950 Einführung unterdruckunterstützter Brems- • Leer- und zulässiges Gesamtgewicht des Fahr-
kraftverstärker (Hilfskraftbremse), zeugs
• ca. 1957 hydraulische Teilbelagsscheibenbremse • Lastverteilung auf Vorder- und Hinterachse leer
ausgeführt als Festsattel, und beladen
• 1965 erste Vorläufer des ABS (Einkanal-ABS), • Maximalgeschwindigkeit und Beschleunigungs-
• 1972 Schwimmrahmensattel für Fahrzeuge mit vermögen
negativem Lenkrollradius, • Radstand
• 1978 Faustsattel löst Schwimmrahmensattel ab, • Schwerpunktpositionen von Fahrzeug und Bela-
• 1978 elektronisch geregeltes ABS-System, dung
• 1987 Antriebs-Schlupf-Regelsysteme (ASR), • Verfügbare Rad-/Felgen-Größe
• 1994 elektronische Bremskraftverteilung (EBV), • Reifentyp
• 1995 elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP), • (Hilfs-) Energieversorgung für Bremssystem (z.B.
• 1996 Bremsassistent (BAS), Vakuum aus dem Verbrennungsmotor für Brems-
• 2001 Elektrohydraulische Bremse (EHB), kraftverstärker)
• 2002 Fahrzeuge mit Bremsenergierückgewinnung.
Die in diesem Buch beschriebenen Bremssysteme 7.2.2.1 Physikalische Grundlagen
beschränken sich zunächst auf hydraulisch betätigte Bewegungsänderungen von Fahrzeugen (Lenken,
Reibungsbremsen, wie sie heute überwiegend in Beschleunigen, Bremsen) werden von Kräften be-
Pkws und Leicht-Lkws verwendet und wohl auch in wirkt. Alle Kräfte zur Änderung der Fahrzeug-
zukünftigen Fahrzeugen Anwendung finden werden. bewegung, die der Fahrer eines Fahrzeuges direkt
Die in den letzten Jahren auf den Markt gekommenen beeinflussen kann, werden ausschließlich durch die
Hybrid-Fahrzeuge (Kombination aus Verbrennungs- Reibung zwischen Reifen und Fahrbahn übertragen
und Elektromotor) oder reiner Elektroantrieb stellen (siehe Bild 7.2-1). Die maximale Höhe dieser Reib-
neue und teilweise erweiterte Anforderungen an kräfte hängt u.a. von den Normalkräften an den
Bremssysteme. Als weiterführende Literatur wird das Rädern, den Radlasten ab. Sie werden durch die
Vieweg Bremsenhandbuch [1] empfohlen. Fahrzeuggewichtskraft bestimmt und zusätzlich durch

7
2

5 4
8
3 1
2
1 Aufstandskraft (Normalkraft)
2 Bremskraft
3 Antriebskraft
4
4 Seitenführungskraft
5 Trägheitsmoment des Rades
3 6 Giermoment um die Hochachse
1 7 Nickmoment um die Querachse
8 Rollmoment um die Längsachse

Bild 7.2-1 Kräfte und Momente am Fahrzeug (1 Radlast, 2 Bremskraft, 3 Antriebskraft, 4 Seitenführungskraft,
5 Brems-/Antriebsmoment, 6 Giermoment, 7 Nickmoment um die Querachse, 8 Rollmoment um die Längsachse)
494 7 Fahrwerk

aerodynamischen Auf-/Abtrieb beeinflusst. Zu die- Dieser Druck wirkt auf die Radbremszylinder, welche
sem statischen Anteil kommen im instationären die Reibflächen der Bremsen mit Spannkräften beauf-
Fahrbetrieb noch dynamische Anteile hinzu. Achs- schlagen. Dadurch wird ein Bremsmoment am Rad
lastverlagerungen (z.B. beim Beschleunigen/Brem- erzeugt, welches über die Reifen als Bremskraft auf
sen, Kurvenfahrt), bedingt durch die Schwerpunktla- die Fahrbahn übertragen wird. Diese Bremskraft FB
ge des Fahrzeugs oder durch Fahrbahnunebenheiten, am Rad errechnet sich aus hydraulischem Druck p,
erzeugen dynamische Radlasten, die sich den stati- Radbremszylinderfläche ARBZ, Wirkungsgrad η, in-
schen Anteilen überlagern. Mit diesen Radlast- nerer Übersetzung C*, wirksamem Reibradius r und
schwankungen variieren im Fahrbetrieb auch die auf dynamischem Reifenrollradius R:
die Fahrbahn übertragbaren Kräfte. r
Bremsanlagen werden in heutigen Fahrzeugen so FB = pARBZηRBZ C * wirk
Rroll
ausgelegt, dass sie eine wesentlich höhere Abbrem-
sung leisten können, als durch die gesetzlichen Vor- Die innere Übersetzung C* wird auch als Bremsen-
schriften gefordert wird. Der Bremskraftübertragung kennwert bezeichnet. Sie beschreibt das Verhältnis
wird letztendlich durch die begrenzte Reibung zwi- von Umfangs-/Reibkraft an den Bremsbelägen zur
schen Reifen und Fahrbahn eine physikalische Gren- Spannkraft am Radbremszylinder:
ze gesetzt. Unter Berücksichtigung von Reifen-Fahr- FUmfang
bahnreibwert μ, Erdbeschleunigung g, Fahrzeugmasse C* =
FSpann
m, aerodynamischem Auf-/Abtrieb Faero und der Ei-
genverzögerungskraft FEV (Luftwiderstand, Reibung) Als äußere Übersetzung iä wird das Verhältnis zwi-
lässt sich die maximal mögliche Fahrzeugverzöge- schen Spannkraft am Radbremszylinder und Betäti-
rung abschätzen: gungskraft am Bremspedal bezeichnet. Sie kann auch
μ Faero FEV unter Berücksichtigung des Wirkungsgrades als
xmax = μ g +
 + Verhältnis von Pedalweg zu den Spannwegen (inkl.
m m
Verlustwege) an n Bremsen dargestellt werden:
Damit kann über die dynamische Achslastverlage-
FSpann SPedal
rung näherungsweise die maximal übertragbare iä = = ηBetätigung
Vorderachsbremskraft ermittelt werden: FBetätigung n ⋅ SSpann
⎛ l h ⎞ Kombiniert man obige Gleichungen erhält man (in
Fmax,V = μ ⎜ G H + Faero ,V + mxmax S ⎟
⎝ l l ⎠ stark vereinfachter Form und mit begrenztem Gültig-
Die Radbremse ist nun so auszulegen, dass dieser keitsbereich) die Radbremskraft als Funktion der
Wert immer erreicht wird. Die Bremskraft am Rad Fahrerfußkraft, welche von den Eigenschaften der
wird von der Betätigungskraft (Fußkraft auf das drei Subsysteme „Mechanik Betätigung“, „Hydrau-
Bremspedal) zuzüglich einer Hilfskraft aus dem lik“ und „Mechanik Radbremse“ abhängt (siehe auch
Bremskraftverstärker erzeugt (Bild 7.2-2). Im (Tan- Bild 7.2-2):
dem-)Hauptzylinder wird die Betätigungskraft in A r
FB = iPedal ⋅ V ⋅ηBetätigung ⋅ RBZ ⋅ηRBZ ⋅ C * ⋅ wirk ⋅ FFahrer
hydraulischen Druck gewandelt. Überschlägig lassen    AHZ Rroll
sich nachfolgende Gleichungen aufstellen. Der hyd- Mechanik    
Betätigung Hydraulik Mechanik
raulische Bremsdruck p errechnet sich aus Fahrerfuß- Radbremse
kraft FFahrer, Pedalübersetzung i, Bremskraftverstär- Als rotierende Massen besitzen die Räder Trägheits-
kung V, Hauptzylinderfläche AHZ und Wirkungsgrad momente. Deren Beharrungsvermögen gegenüber
η: Drehzahlveränderungen muss insbesondere beim
F F i V Bremsen mit Schlupfregelung ebenfalls berücksich-
p = = Fahrer Pedal η Betätigung
A AHZ tigt werden.

Betätigung Übertragung (EBS) Radbremse

Motorvakuum externe Signale

Signal-
Bremspedal

ECU management
Vakuum elektronisch hydraulische
Fußkraft Bremskraft- THz Energie- Radbremsen
verstärker HCU management 4x
hydraulisch
Quelle:
Motor/Pumpe
Bild 7.2-2 Hydraulisches
hydraulische Vakuum- Signale ECU Elektronische Regeleinheit Bremssystem mit elektroni-
Energie energie HCU Hydraulische Regeleinheit
scher Regelung
7.2 Bremssysteme 495

Neben diesen längsdynamischen Betrachtungen spie-


len auch querdynamische Effekte eine Rolle bei
Brems- und Fahrstabilitätssystemen (siehe Bild
7.2-1). Ein Drehmoment um die Fahrzeug-Vertikal- hs
achse wird als Giermoment bezeichnet. Es wird ent-
weder durch den Fahrer (z.B. Lenken) oder durch
lV
äußere Einflüsse (z.B. Seitenwind, reibwertbedingt
l
unterschiedliche Antriebs-/Bremskräfte auf beiden
GV GH
Fahrzeugseiten) erzeugt. Die sogenannten Seitenfüh-
rungskräfte wirken der Zentrifugalkraft bei Kurven- l G
j= V = H G = GV + GH
l G
fahrt entgegen und halten das Fahrzeug in der Spur. G
h GH
Bei Überbeanspruchung der Reibpaarung Reifen – c= s lV = ·l
l G
Fahrbahn können Zentrifugalkräfte bzw. Giermoment
nicht mehr ausreichend über die Seitenführungskräfte Bild 7.2-3 Prinzipskizze Schwerpunktlage
an den Rädern kompensiert werden, d.h. das stabile
Kräftegleichgewicht geht verloren und das Fahrzeug sowie χ als Verhältnis von Schwerpunktlage in verti-
kommt ins Schleudern. Im Rahmen der physikali- kaler Richtung hs zum Radstand l verwendet (siehe
schen Grenzen können Fahrstabilitätssysteme den Bild 7.2-3). Damit lassen sich die idealen Bremskräf-
Fahrer durch gezielten radselektiven Bremseneingriff te für Vorder- und Hinterachse (FBV und FBH) bezogen
in solchen Situationen unterstützen (siehe Kapitel auf die Fahrzeuggewichtskraft G darstellen:
7.2.5.5). FBV
= [1 − ψ + zX ] z
G
7.2.2.2 Bremskraftverteilung
FBH
Ziel der Bremskraftverteilung ist ein neutrales bzw. = [ψ − zX ] z
G
stabiles Fahrverhalten auf homogener Fahrbahn im
gebremsten Zustand. Dies ist idealerweise bei jeder Unter Zuhilfenahme dieser Gleichungen lässt sich die
Verzögerung an allen Rädern durch gleiche Ausnut- ideale Bremskraftverteilung (ideale Hinterachsbrems-
zung des zur Verfügung stehenden Kraftschlusses kraft als Funktion der Vorderachsbremskraft) herlei-
zwischen Reifen und Fahrbahn anzustreben. ten. Die ideale Bremskraftverteilung (Bild 7.2-4) ist
Die auf die Fahrbahn übertragbaren Bremskräfte sind eine nichtlineare Funktion (Wurzelfunktion zuzüglich
abhängig von den in der jeweiligen Fahrsituation eines linearen Anteils):
vorhandenen Radaufstandskräften und Reifeneigen- FBH (1 −ψ )2 1 FBV 1 −ψ FBV
schaften. Die Abbremsung des Fahrzeuges verursacht = 2
+ − −
G 4X X G 2X G
eine Veränderung der Radaufstandskräfte in Abhän-
gigkeit von der Verzögerung. Die Belastung der Die ideale Bremskraftverteilung errechnet sich wie
Vorderachse nimmt zu, die der Hinterachse ab (dy- erwähnt aus den Fahrzeugdaten (Achslasten, Schwer-
namische Achslastverlagerung). punkthöhe, etc.). Gemeinsam mit den fahrsituations-
Für ein Fahrzeug lässt sich damit für jeden Bela- spezifischen Reifen-Fahrbahn-Kraftschlusskennlinien
dungszustand und jede Verzögerung eine optimale begrenzt sie den fahrdynamisch stabilen Bremsbe-
achsenspezifische Bremskraft ermitteln, die so ge- reich des Fahrzeugs (im Beispiel instabiler Bereich
nannte „ideale Bremskraftverteilung“. Sie wird aus- dargestellt in grau). Dagegen ergibt sich die tatsäch-
schließlich durch geometrische Fahrzeugdaten und lich installierte Bremskraftverteilung über die an
Achslastverteilung bestimmt. Das Bremskraftvertei- Vorder- und Hinterachse installierten hydraulischen
lungsdiagramm verdeutlicht Abhängigkeiten zwi- Radbremskomponenten. Mit dieser installierten
schen Fahrbahnreibwert, dynamischer Achslast und Bremskraftverteilung ist es jedoch nicht bei allen
Fahrzeugverzögerung. Indem es die ideale Brems- Fahrzeug-Beladungszuständen möglich, beide Ach-
kraftverteilung der installierten Bremskraftverteilung sen im gesamten Reibwert- und Verzögerungsbereich
gegenüberstellt, bildet dieses Diagramm die Grund- gleichzeitig bis zur Blockiergrenze abzubremsen.
lage für die Auslegung von Bremsanlagen. Daher sorgt z.B. ein ABS mit EBV bei Bedarf durch
Üblicherweise werden in der Bremssystemauslegung Regeleingriffe (= Anpassen der installierten BKV)
einige Größen dimensionslos dargestellt. Dazu gehört dafür, dass das Fahrzeug stets im stabilen Betriebsbe-
die Abbremsung z als Verhältnis der Fahrzeugverzö- reich bleibt, und dies sowohl bei Geradeaus- als auch
gerung b zur Erdbeschleunigung g: bei Kurvenbremsungen.
b 7.2.2.3 Bremspedalcharakteristik
z=
g
Die Bremspedalcharakteristik ist primär durch Maß-
Außerdem werden die Größen ψ als Verhältnis von nahmen an Betätigung, Radbremse und Pedalbox
Schwerpunktlage in Längsrichtung lv zum Radstand l, beeinflussbar. Fahrzeughersteller nutzen die Pedal-
496 7 Fahrwerk

Bremskraftverteilung (BKV)
0,4

0,35

0,3
z. B. fahr-/bremsdynamisch
0,25 instabiler Bereich für den
Fall mHA,beladen = 0,2
FHA/G [–]

Ideale BKV (Fzg. beladen)


0,2 Ideale BKV (Fzg. leer)
Installierte hydraulische BKV
0,15

0,1 Reifen-m = const.


(z. B. für mVA,beladen = 0,8)

0,05 Verzögerung = const. Bild 7.2-4 Ideale und instal-


(z. B. für 0,4 g)
lierte Bremskraftverteilung
0
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1
(dimensionslose Darstellung:
FVA/G [–] Bremskraft dividiert durch
Gewichtskraft)

charakteristik zur marken- und modellspezifischen stellervorgaben hinsichtlich des „optimalen Pedalge-
Ausprägung ihrer Fahrzeuge, wobei das „subjektive fühls“ [3].
Pedalgefühl“ anhand der quasistatischen und dynami- Konstruktive Maßnahmen zur Verbesserung der
schen Zusammenhänge zwischen Pedalweg, Pedal- Pedalgefühlbeurteilung stehen oft in Widerspruch zu
kraft und Fahrzeugverzögerung bewertet wird. We- anderen Bremssystemanforderungen. Exemplarisch
sentliche Beurteilungsparameter hierbei sind: sei der Wunsch nach möglichst direktem Ansprechen
der Bremse erwähnt, was u.a. ein geringes Bremssat-
• Ansprech-/Löse-Verhalten bzw. Ansprechkräfte
tellüftspiel erfordert, aber damit in Widerspruch zur
und Leerwege
Forderung nach möglichst geringem Sattelrestbrems-
• Springer (= definierter Startpunkt, ab dem die
moment (Kraftstoffverbrauchsoptimierung) steht. So-
Bremskraftverstärkung einsetzt bzw. die Fahr-
mit stellen Pedalcharakteristiken konventioneller
zeugverzögerung spürbar ansteigt)
hydraulischer Bremsanlagen oft einen Kompromiss
• Intensität der Bremskraftverstärkung (Verstär-
dar zwischen technischen und haptischen Anforde-
kungsfaktor)
rungen.
• Kraft/Weg-Charakteristik am Pedal und resultie-
Bei der Auslegung einer Bremsanlage werden schon
rende Fahrzeugverzögerung
in der Frühphase der Systementwicklung mittels
• Modulationspräzision und Hystereseverhalten
Simulation Prognosen zur Pedalkraft-/Wegcharak-
(inkl. Fahrzeugverzögerungsrückmeldung)
teristik durchgeführt, um die Einhaltung von Fahr-
• Erreichen des Aussteuerpunkts (= maximales
zeugherstellervorgaben zu gewährleisten. Damit
Arbeitsvermögens des Bremskraftverstärkers bei
lassen sich z.B. bereits in der Projektangebotsphase
gegebener Hilfskraft z.B. Unterdruck)
gezielt Anforderungen an die Einzelkomponenten zur
• Pedalrückwirkungen aufgrund von (ABS-)Rege-
Systemoptimierung ableiten. Auf diese Weise kann
lungseingriffen
schon sehr früh im Entwicklungsprozess die Basis für
• Pedalwegverlängerung und Pedalkrafterhöhung
eine spätere gute Subjektivbeurteilung des Pedalge-
bei Fading
fühls geschaffen werden. Bild 7.2-5 zeigt eine statis-
Bei der Beurteilung der Pedalcharakteristik sollte tische Pedalcharakteristik-Darstellung, die mittels
zwischen verschiedenen Verzögerungsintensitäten MonteCarlo-Simulation ermittelt wurde. Diese Me-
unterschieden werden, da z.B. beim Rangieren auf thodik ermöglicht die Berücksichtigung von Bauteil-
einem Parkplatz andere Beurteilungsparameter im toleranzverteilungen und Betriebsparameterstreuun-
Vordergrund stehen, als bei einer Notbremsung. gen und lässt auf diese Weise Prognosen zur Streuung
Zudem regelt ein menschlicher Fahrer die gewünsch- wesentlicher System-Funktionen in den späteren
te Fahrzeugverzögerung aufgrund der nichtlinearen Serienproduktionsfahrzeuge zu.
Pedalkraft-/Wegcharakteristik bei niedrigen Verzöge-
7.2.2.3 Thermische Dimensionierung
rungen eher mit Hilfe des Pedalwegs, bei hohen
Verzögerungen eher über die Pedalkraft. Dies ist bei Beim Bremsen wird die kinetische Energie des Fahr-
Subjektivbeurteilungen ebenso zu berücksichtigen, zeugs via Reibung in thermische Energie umgewan-
wie die teilweise sehr unterschiedlichen Fahrzeugher- delt, welche primär in den Bremsscheiben/-trommeln
7.2 Bremssysteme 497

100 0,2 100 0,2

90 0,18 90 0,18

80 0,16 80 0,16
Verzögerung [0,1 · m/s2]

Verzögerung [0,1 · m/s2]


70 0,14 70 0,14

60 0,12 60 0,12

50 0 50 0

40 0,08 40 0,08

30 0,06 30 0,06

20 0,04 20 0,04

10 0,02 10 0,02

0 0 0 0
0 50 100 150 200 0 10 20 30 40 50 60 70
Pedalkraft [N] Pedalweg [N]

Bild 7.2-5 Exemplarische Pkw Verzögerung über Pedalkraft bzw. Pedalweg inkl. Streuung (die Farbskala quan-
tifiziert die relative Häufigkeit), ermittelt mittels statistischer MonteCarlo-Simulation.

zwischengespeichert wird, bevor sie von dort aus Um auch bei wiederholtem Bremsen ein kontinuier-
über Wärmestrahlung und Konvektion letztendlich an liches Aufschaukeln der Scheibentemperaturen zu
die Umgebung abgegeben wird. Dabei spielt die minimieren (siehe Bild 7.2-6), muss außerdem mittels
Aerodynamik im Radhaus bzw. die Umströmungsbe- geeigneter Radhaus- und Felgengestaltung für hohe
dingungen an Bremsscheiben und -belägen eine Kühlluftzufuhr und gute Bremsscheibenumströmung
signifikante Rolle. (Maximierung des Wärmeübergangskoeffizienten)
Von „Fading“ spricht man, wenn die Bremsleistung gesorgt werden. Zudem ist die Wärmeabgabe der
aufgrund zu hoher thermischer Belastung nachlässt. Bremsscheiben via Wärmestrahlung möglichst wenig
Ursache ist ein (belagspezifisches) Absinken der zu behindern. Hochwertige Reibbeläge sorgen zudem
Reibwerte zwischen Bremsscheibe und -belag bei auch unter thermisch schwierigen Bedingungen für
hohen Temperaturen. Als Folge muss zum Erreichen stabiles Reibverhalten. In der Praxis stehen den be-
der Wunschverzögerung zunächst die für eine be- schriebenen Fading-Gegenmaßnahmen sehr oft an-
stimmte Verzögerung erforderlichen Spannkräfte im dere Anforderungen entgegen (z.B. Bauteilkosten,
Bremssattel und somit das hydraulische Druckniveau Packaginganforderungen, Bauraumbegrenzungen, aero-
ansteigen. Zudem können sich aufgrund der Tempe- dynamische Optimierung der Fahrwiderstände).
raturerhöhung zusätzlich die Steifigkeiten bzw. Kom-
pressibilitäten von im Kraftfluss stehenden Bauteilen 700
negativ verändern. All dies kann zu erhöhter hydrau-
lischer Volumenaufnahme führen. Letztendlich sind 600
Bremsscheiben Temperatur [°C]

Pedalkraftanstieg und Pedalwegverlängerung unaus-


500
weichlich. Im schlimmsten Fall kann der Pedalkraft-
anstieg derart hoch ausfallen, dass er von einem 400
Normalfahrer kaum mehr zu bewältigen ist, oder die
(hydraulische) Elastizität nimmt derart zu, dass sich 300
der Bremsflüssigkeitsvorrat im Hauptbremszylinder Vorderachse
200
erschöpft. Als Folge sinkt die noch erreichbare Fahr- Hinterachse
zeugverzögerung dramatisch. Daher werden während 100
einer Bremssystementwicklung zahlreiche Bremssze-
narien (z.B. Vollbremsungen aus Fahrzeugmaximal- 0
0 50 100 150 200 250
geschwindigkeit, wiederholtes Beschleunigen und Zeit [s]
Abbremsen des Fahrzeugs, Passabfahrten im Gebirge
ohne Ausnutzen der Motorbremswirkung, etc.) so- Bild 7.2-6 Aufschaukeln der Bremsscheibentempera-
wohl am Prüfstand als auch am Gesamtfahrzeug tur bei wiederholtem starken Bremsen und Beschleu-
getestet. nigen. Der Krümmungsgrad der Kurve bzw. die Höhe
Um Fadingeffekten auslegungsseitig vorzubeugen ist der Sättigungstemperatur (= Gleichgewicht zwischen
die „thermische Speichermasse“ (Bremsscheiben/ Reibenergiezufuhr und Abkühlung) wird maßgeblich
-trommeln) für die umgewandelte kinetische Energie durch die fahrzeugmodellspezifische Aerodynamik
des Fahrzeugs ausreichend groß zu dimensionieren. im Radhaus bestimmt.
498 7 Fahrwerk

Trommelbremsen sind gegenüber Scheibenbremsen 7.2.2.4 Auslegungsaspekte bei regenerativen


thermisch weniger belastbar, da mit der geschlosse- Bremssystemen
nen Bauweise Kühlungsnachteile einhergehen und
thermisch bedingte Bauteildeformationen oft deutli- Bei konventionellen Bremsanlagen sind die Rad-
che Reibwert- bzw. C*-Schwankungen ergeben. bremsen über Hydraulik und Bremsgerät direkt mit
Hinsichtlich der Hydraulik ist mit Blick auf alle dem Bremspedal in einer Wirkkette verbunden. Bei
Komponenten eine sorgfältige Volumenaufnahmebi- regenerativen Bremssystemen in Hybrid- und Elekt-
lanzierung durchzuführen und der Hauptbremszylin- rofahrzeugen ergibt sich hingegen die Aufgabe, diese
der ausreichend groß zu dimensionieren, so dass im mechanisch/hydraulische Wirkkette definiert zu
Fadingfall genügend Ausstoßvolumenreserve zur unterbrechen, um (zeitweise) das Reibungsbrems-
Verfügung steht, um höhere Bremsdrücke und/oder moment durch das Generatorbremsmoment einer
erhöhte Volumenaufnahme abzudecken. elektrischen Maschine zu ersetzen. So soll wenigstens
Zudem ist durch geeignete Werkstoffauswahl und ein Teil der kinetischen Energie des Fahrzeugs zu-
Konstruktionsart sicherzustellen, dass die thermi- rückgewonnen werden, um diese später als Antriebs-
schen und mechanischen Belastungen keine Bauteil- energie nutzen zu können. Ein simples Hinzu-
schäden verursachen und die dauerhafte Funktion der Addieren des nicht-konstanten Generatorbremsmo-
Bremsanlage gewährleistet bleibt. ments zum konventionellen Reibungsbremsmoment
Bei der Auswahl der Bremsflüssigkeit muss berück- wäre aus Gründen der Rekuperationsgradoptimierung
sichtigt werden, dass deren Siedepunkt deutlich und der Vorhersehbarkeit von Pedalcharakteristik und
oberhalb von im Fahrbetrieb potenziell auftretenden Fahrzeugverzögerungsverhalten nicht akzeptabel.
Flüssigkeitstemperaturen liegt: Die aus Siedevor- Die häufigsten Bremsvorgänge finden (statistisch
gängen resultierenden Dampfblasen würden einen gesehen) bei niedrigen Fahrgeschwindigkeiten und
Hydraulikdruckaufbau unterbinden und ein plötzli- niedrigen Verzögerungen statt (siehe Bild 7.2-7).
ches Versagen der Bremsanlage wäre die Folge. Auch genormte Kraftstoffverbrauchszyklen (z.B.
Bremsflüssigkeit absorbiert aufgrund ihrer hygrosko- New European Driving Cycle NEDC) orientieren sich
pischen Eigenschaft im Laufe der Zeit Wasser aus meist an derartigen Kollektiven. Daher ist es das Ziel,
der Umgebungsluft. Der so eingebrachte Wasser- diesen Bereich möglichst allein durch den Generator
anteil reduziert allmählich den Siedepunkt der (d.h. ohne konventionelle Reibbremseingriffe) abzu-
Bremsflüssigkeit (= Nasssiedepunkt), weshalb regel- decken.
mäßige Austauschintervalle heute schon vorgesehen Das maximale Bremsmoment eines Generators
sind. nimmt mit zunehmender Drehzahl stark ab (siehe

Nr of Stops Vs. Vehicle Average Deceleration and Initial Speed

6000
Number

4000

2000

0
–30
0
30

60

Sp 90
ee
d
[km 120 Bild 7.2-7 Gemessene
/h
] 150 Bremshäufigkeitsverteilung
180 eines Normalfahrers als
0
210 –2,5 Funktion von Fahrgeschwin-
240
–5,0 2] digkeit und jeweils gemittel-
–7,5 [m/s ter Verzögerung
g. acc
–10 Lon
(Quelle: Continental)
7.2 Bremssysteme 499

0,5
[g] 70 kW
Power-hybrid [>50 kW]
0,4
50 kW Full-hybrid [>15 kW]

0,3 Mild-hybrid [<15 kW]


25 kW
Micro-hybrid [<3 kW]
0,2
80 % aller Bremsungen finden
15 kW
in diesem Bereich statt! Bild 7.2-8 Exemplarisches
0,1 Fahrzeugverzögerungspoten-
www.hybrid-autos.info
zial einer elektrischen
3 kW Maschine als Funktion von
0 Fahrgeschwindigkeit und
0 50 100 150 200
v [km/h]
installierter Generator-
leistung

Bild 7.2-8). Je nach gewünschter Rekuperations- 7.2.3.2 Bremskraftverstärker


leistung bzw. Generatorbremsmoment sind E-Ma-
Bremskraftverstärker verstärken die am Pedal aufge-
schinen sehr unterschiedlicher Leistungsklassen ver-
brachte Fußkraft durch eine sogenannte „Hilfskraft“.
fügbar. Trotzdem reicht die Bremsleistung Pkw-
Sie erhöhen damit den Bedienkomfort und die Fahr-
tauglicher Generatoren derzeit nicht aus, den kom-
sicherheit. Es werden heute hauptsächlich zwei Bau-
pletten Verzögerungsbereich eines modernen Fahr-
arten verwendet:
zeugs abzudecken. Die konventionelle Reibungs-
bremse ist daher auch in Hybrid- und Elektrofahrzeu- • Vakuum-Bremskraftverstärker
gen unverzichtbar. Für das situationsabhängige und • Hydraulik-Bremskraftverstärker
möglichst harmonische Kombinieren von Genera- Vakuum-Bremskraftverstärker
tor- und Reibungsbremsmoment (Torque-Blending)
existieren unterschiedliche mechatronische Ansätze Der Vakuum-Bremskraftverstärker – auch Vakuum-
am Markt (siehe Kapitel 7.2.6.2 Regeneratives Brem- Booster genannt – hat sich bisher trotz seiner deutlich
sen). Bei deren Entwicklung ist ein durchdachtes fail- größeren Abmessungen gegenüber dem Hydraulik-
safe-Konzept aufgrund der beschriebenen Pedalent- Bremskraftverstärker behaupten können. Wesentliche
kopplung unverzichtbar. Außerdem muss die Rekupe- Gründe hierfür sind seine kostengünstige Bauart und
rationsstrategie insbesondere bei Fahrzeugen, bei die kostenlose Verfügbarkeit der Vakuumenergie der
denen das Generatorbremsmoment ausschließlich auf meisten Saugmotoren.
die Hinterachse wirkt, auch im Hinblick auf Fahrsta- Die Vakuumkammer des Bremskraftverstärkers ist
bilität abgestimmt werden. über eine Unterdruckleitung mit dem Ansaugrohr des
Motors oder einer separaten Vakuumpumpe (z.B. bei
7.2.3 Bremssystemkomponenten Dieselmotoren und direkteinspritzende Otto-Motoren
mit sehr geringem Unterdruckniveau im Ansaugrohr)
Für Bremssystemkomponenten bestehen hohe Anfor- verbunden. Tiefer gehende Details zur Funktions-
derungen hinsichtlich Robustheit, Funktionssicherheit weise sind z.B. in [1] erläutert.
bei unterschiedlichsten Umweltbedingungen, Um-
weltverträglichkeit, Akustik (NVH = noise, vibration, Aktiver Bremskraftverstärker
harshness) und Ausfallsicherheit. Zur Darstellung von Zusatzfunktionen werden „ak-
tive Bremskraftverstärker“ eingesetzt, die zusätzlich
7.2.3.1 Bremspedal
elektrisch ansteuerbar sind (siehe Bild 7.2-9). Genutzt
Das Bremspedal ist die wesentliche Schnittstelle werden können diese für die Funktionen ESP-
zwischen Fahrer und Bremssystem. Über die Pedal- Vorladung (Kapitel 7.2.4.5), elektronischer Brems-
charakteristik (funktionaler Zusammenhang zwischen assistent (Kapitel 7.2.4.6) und ACC (Kapitel
Pedal-Kraft, Weg und Verzögerung) erfolgt eine 7.2.4.8).
Rückmeldung über die Bremsung und den Zustand Aktive Bremskraftverstärker weisen einen im Steuer-
der Bremsanlage. gehäuse integrierten Magnetantrieb auf. Mittels einer
Typischerweise ist ein Bremslichtschalter in dem Schiebehülse ist es möglich, mit dem elektrisch
Pedalmodul integriert. Bei Hybridfahzeugen wird zur betätigten Magnetantrieb das Tellerventil zu betäti-
Fahrerwunscherkennung zusätzlich ein Pedalweg/ gen. Dabei wird zunächst die Verbindung zwischen
Pedalkraftsensor eingesetzt. Vakuumkammer und Arbeitskammer geschlossen;
500 7 Fahrwerk

Ausgleichbehälter Kabeldurchführung

Elektromagnet

THz Schiebehülse

Löseschalter

Drucksensoren Bild 7.2-9 Aktiver Brems-


kraftverstärker in Tandem-
Wegsensor
Bauweise

mit einer weiteren Strombeaufschlagung wird die auf Energiedichte (und damit einen deutlich höheren
Verbindung der Arbeitskammer zur Außenluft geöff- Aussteuerpunkt), und Einbauraum. Dem stehen
net und der Bremskraftverstärker betätigt. nachteilig die höheren Kosten und das bei bisherigen
Zur sicheren Erkennung des Fahrerwunsches wird ein Hydraulikverstärkern auftretende „stumpfe Pedal-
„Löseschalter“ in das Steuergehäuse integriert. gefühl“ (kein Springer) gegenüber. Hydraulische
Mechanischer Bremsassistent Verstärker werden insbesondere in schweren Pkw
(z.B. gepanzerten Sonderschutz-Fahrzeugen) einge-
Zur generellen Beschreibung der Bremsassistent- setzt. Hier ist die hohe Verstärkungskraft vorrangig
Funktion siehe Kapitel 7.2.5.6. vor der Pedalcharakteristik.
Bei diesem Konzept wird die Trägheit des Brems-
kraftverstärkers ausgenutzt, die bei schneller Betäti-
gung (Notbremsung) dazu führt, dass das Tellerventil 7.2.3.3 Vakuumpumpe
einen definierten Öffnungshub überschreitet. Damit
erfolgt eine Arretierung des Tellerventils, das dann Die bei Fahrzeugen mit Otto-Motor im Ansaugtrakt
geöffnet bleibt, selbst wenn die Fußkraft wieder verfügbare Vakuumenergie stellt eine kostengünstige
geringfügig reduziert wird (Bild 7.2-10). Energiequelle für den Bremskraftverstärker dar.
Durch fehlendes bzw. vermindertes Vakuum z.B. bei
Hydraulik-Bremskraftverstärker Einspritzmotoren (Diesel-Motor und Benzin-Direkt-
Hydraulische Verstärker haben im Vergleich zu einspritzmotoren) werden Vakuumpumpen erforder-
Vakuumbremskraftverstärkern Vorteile im Hinblick lich. Bei Einspritzmotoren (Diesel-Motor und Ben-

Kugel Kugelkäfig Lösestellung


Sperrhülse

Ventilkolben
Kugelhülse
Feder

Rastweg Bremsassistent-
stellung

Kugelkäfig und
Kugelhülse verrastet

Bild 7.2-10 Mechanischer Bremsassistent


7.2 Bremssysteme 501

noch in Sonderfällen (z.B. Rennfahrzeugen) einge-


setzt.
Der heute generell eingesetzte Tandem-Hauptzylinder
(THz) entspricht einer Kombination zweier hinterei-
nander geschalteter Hauptzylinder in einem Gehäuse.
Er ermöglicht den Druckauf- und -abbau in der
Bremsanlage. Bei Volumenänderungen im Bremssys-
tem, z.B. bei Temperaturänderungen oder Verschleiß
der Bremsbeläge, wird über die Ausgleichbohrung
und den Ausgleichbehälter der Volumenausgleich
sichergestellt.
Die Kolben begrenzen zwei Kammern, die des Pri-
märkreises (auch Druckstangenkreis genannt) und des
Sekundärkreises (auch Schwimmkreis genannt). Fällt
ein Kreis aus (z.B. Leckage), wird dies über einen
verlängerten Pedalweg spürbar, da der jeweilige Kol-
ben bis zum Anschlag vorgeschoben werden muss,
bevor sich im anderen, intakten Bremskreis Druck
Bild 7.2-11 Elektrische Vakuumpumpe aufbauen kann. Je nach Bauart werden unterschieden:
• Schnüffelloch-Tandem-Hauptzylinder
zin-Direkteinspritzmotoren) werden Vakuumpumpen • Zentralventil-Tandem-Hauptzylinder
erforderlich. Diese Pumpen sind zumeist Flügel- • Plunger-Tandem-Hauptzylinder
Zellen-Pumpen und können mechanisch über eine
Motorwelle oder bedarfsgerecht elektrisch angetrie- Tiefer gehende Details zur Funktionsweisen der ver-
ben werden. schiedenen Bauarten sind z.B. in [1] erläutert.

Elektrische Vakuumpumpe 7.2.3.5 Ausgleichbehälter


Die elektrische Vakuumpumpe (EVP) ist in der Lage, Der Ausgleichbehälter
den gesamten Vakuumbedarf des Fahrzeugs abzude-
cken. • beinhaltet das Reservevolumen für die zusätzliche
Daraus ergeben sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten Volumenaufnahme durch Belagverschleiß
in • gewährleistet den Volumenausgleich innerhalb der
• Hybrid- und Elektrofahrzeugen Bremsanlage unter verschiedenen Umgebungsbe-
• Dieselfahrzeugen und dingungen
• Saugverlustoptimierten Verbrennungsmotoren • verhindert bei unterschiedlichen Fahrsituationen
das Ansaugen von Luft in das Bremssystem
Eigenschaften und Vorteile am Beispiel einer aktuel- • reduziert das Aufschäumen der Bremsflüssigkeit
len EVP mit Membranpumpen Konzept (siehe Bild • trennt bei absinkendem Flüssigkeitsspiegel das
7.2-11): Reservevolumen der Hauptzylinderkreise
• Hocheffiziente Vakuumquelle, „Vakuum on Er wird mittels sogenannter „Behälterstopfen“ von
demand“ oben in den Tandem-Hauptzylinder eingeknöpft. Üb-
• Hohe Verfügbarkeit durch robustes Systemdesign licherweise ermöglicht eine weitere Befestigung mit
mit 2 redundanten Zylinderkammern dem Tandem-Hauptzylinder eine Erst-Befüllung des
• Reibungsarme Vakuumerzeugung Bremssystems mit Bremsflüssigkeit auch mit höheren
• Geringe Wärmeentwicklung auf Grund eines Drücken. Außerdem ist so gewährleistet, dass bei
hohen mechanischen Wirkungsgrads einem Unfall die brennbare Bremsflüssigkeit nicht
• Hohe Lebensdauer austreten kann. Darüber hinaus
• Niedriges Geräusch- und Schwingungsniveau
durch Boxeranordnung der Zylinder • kann er als Volumenspeicher für eine hydraulisch
• Ansteuerung durch das Bremsen-Steuergerät oder betätigte Kupplung oder auch für eine ESP-
durch ein autonomes Vakuumpumpen-Steuergerät Vorladepumpe dienen und
• bevorratet gegebenenfalls die Bremsflüssigkeit,
7.2.3.4 (Tandem)-Hauptzylinder die zum Laden eines Hydrospeichers benötigt
Der (Tandem)-Hauptzylinder hat die Aufgabe die wird (z. B. Hydraulikverstärker)
Ausgangskraft des Bremskraftverstärkers in hydr. Um sicherzustellen, dass die Bremsanlage in Löse-
Druck umzuwandeln. stellung drucklos ist, ist der Behälterinnenraum über
Auf Grund der gesetzlich geforderten Zweikreisigkeit die Behälterverschraubung mit der Atmosphäre ver-
der Bremsanlage werden (Einfach)-Hauptzylinder nur bunden.
502 7 Fahrwerk

Der Bremsflüssigkeitsstand ist von außen sichtbar, reine Sammlung, Reinigung und chemische Aufarbei-
da der Behälter aus durchscheinendem Material ge- tung.
fertigt ist. So ist Bremsflüssigkeitsverlust am Unter-
schreiten der „Min“-Marke erkennbar. Zusätzlich er- 7.2.3.7 Bremsleitungen und -schläuche
folgt über die Behälterwarneinrichtung eine Anzeige Zur Verbindung der hydraulischen Komponenten
durch die Bremsenwarnleuchte im Armaturenbrett. eines Bremssystems werden hochdruckfeste Brems-
rohr-, Bremsschlauch- und armierte Schlauchleitun-
7.2.3.6 Bremsflüssigkeit gen (Flexleitungen) verwendet. Wesentliche An-
Im hydraulischen Teil der Bremsanlage ist Brems- forderungen sind Druckfestigkeit, mechanische
flüssigkeit das Medium für die Energieübertragung Belastbarkeit, geringe Volumenaufnahme, chemische
zwischen Tandem-Hauptzylinder, gegebenenfalls hy- Beständigkeit zum Beispiel gegen Öl, Kraftstoffe und
draulischer Regeleinheit und den Radbremsen. Zu- Salzwasser sowie thermische Unempfindlichkeit.
sätzlich hat sie die Aufgabe, bewegte Teile wie z.B. Bremsrohrleitungen stellen die hydraulische Ver-
Dichtungen, Kolben und Ventile zu schmieren und bindung zwischen unbeweglichen Anschlusspunkten
vor Korrosion zu schützen. dar. Sie bestehen aus doppelt gewickelten, hartgelöte-
Bremsflüssigkeit muss auch bei Tieftemperaturen (bis ten Stahlrohren. Zum Schutz gegen Umgebungsein-
zu – 40 °C) gute Fließeigenschaften besitzen (Visko- flüsse wird die Rohroberfläche verzinkt und mit
sität), um sowohl ein gutes Ansprech- und Lösever- einem Kunststoffüberzug versehen.
halten der Bremsen als auch eine gute Funktion der Bremsschlauchleitungen finden sich an den Über-
elektronischen Regelsysteme zu ermöglichen. Da- gängen zu beweglichen, dynamisch stark bean-
rüber hinaus muss die Bremsflüssigkeit eine hohe spruchten Teilen wie Achsschenkel oder Bremssattel.
Siedetemperatur aufweisen, damit es selbst bei stärks- Sie stellen die einwandfreie Weiterleitung des Flüs-
ter thermischer Belastung der Bremsanlage nicht zur sigkeitsdrucks zu den Bremsen auch unter extremen
Dampfblasenbildung kommt. Die Kompressibilität Bedingungen sicher. Bremsschlauchleitungen beste-
von Dampfblasen würde dazu führen, dass wegen des hen aus einem Innenschlauch, einem zweilagigen
begrenzten Ausstoßvolumens des Tandem-Haupt- Geflecht als Druckträger und einer äußeren Gummi-
zylinders kein ausreichender Druck mehr aufgebaut schicht zum Schutz des Druckträgers vor äußeren
werden kann. Bei Bremsflüssigkeiten wird unter- Einflüssen.
schieden zwischen Glykol-basierten und Silikon- Armierte Schlauchleitungen (Flexleitungen) wer-
bremsflüssigkeiten. den ähnlich wie Bremsschlauchleitungen an den
Glykol-Bremsflüssigkeiten, die auf Polyglykolen Übergängen zu dynamisch beanspruchten Teilen
und Polyglykol-Ether basieren, sind hygroskopisch. verbaut. Sie bestehen aus Poly-Tetrafluor-Ethylen
Sie nehmen Wasser auf und binden es. So wird ver- (PTFE)-Leitungen mit Edelstahlgeflecht als Druck-
mieden, dass eingedrungenes Wasser ungelöst bleibt träger und gegebenenfalls einem anderen thermoplas-
und beim Sieden Dampfblasen bilden kann. Zahl- tischen Elastomer als äußere Schutzschicht. Dadurch
reiche internationale Normen, z.B. DOT3, DOT4, ergibt sich eine gewisse Flexibilität, so dass Flexlei-
DOT5.1, fordern für die nach einem bestimmten tungen nur für Verbindungen mit geringer Bewegung
Verfahren mit Wasser angereicherte Bremsflüssigkeit genutzt werden, wie sie zum Beispiel durch Belag-
eine möglichst hohe sogenannte „Nasssiedetempera- verschleiß an den Bremssätteln auftreten. Flexleitun-
tur“. Um im Betrieb einen ausreichend geringen gen dämpfen die Körperschallübertragung und wer-
Wassergehalt sicherzustellen, ist ein regelmäßiger den deshalb auch zur Verbesserung des akustischen
Wechsel der Bremsflüssigkeit erforderlich. Komforts, zum Beispiel zwischen THz und Hydrau-
Silikonbremsflüssigkeiten nach DOT5 basieren auf likeinheit eingebaut.
hydrophobem Silikonöl, das nur Spuren von Wasser
aufnehmen kann. Eventuell vorhandenes ungelöstes 7.2.3.8 Bremskraftverteiler
Wasser kann u.U. sieden (Dampfblasenbildung, s.o.) Beim Bremsvorgang bewirkt die dynamische Achs-
oder zu Korrosion von Bauteilen führen. Die Kom- lastverteilung eine Entlastung der Hinterräder. Diese
pressibilität und die Menge an gelöster, u.U. aus- können dadurch nur einen geringer werdenden An-
gasender Luft ist bei Silikonbremsflüssigkeiten höher teil der Bremskraft übertragen. Im gleichen Maße
als bei Glykol-Bremsflüssigkeiten. Wegen ihres be- nimmt die dynamische Vorderachslast und demzu-
sonderen Eigenschaftsbildes dürfen diese Brems- folge auch die übertragbare vordere Bremskraft zu.
flüssigkeiten nur nach ausdrücklicher Zustimmung Zur Realisierung kurzer Bremswege ist es daher
des Fahrzeugherstellers eingesetzt werden. Haupt- wichtig, den Bremskraftanteil der Hinterräder mög-
sächlich ist das der Fall bei Fahrzeugen, die über lichst gut auszunutzen, ohne dass diese früher blo-
mehrere Jahre eingelagert werden (z.B. militärischen ckieren als die Vorderräder. Dieser gesetzlichen
KFZ). Forderung wurde zunächst durch kleiner dimensio-
Bremsflüssigkeit ist heute im Allgemeinen recyc- nierte Hinterradbremsen Rechnung getragen. Ausrei-
lingfähig. Grundvoraussetzung hierfür ist sorten- chend ist diese Maßnahme wegen der nichtlinearen
7.2 Bremssysteme 503

1
Bild 7.2-12 Lastabhängiger
Druckminderer: 1 Vakuum-
Bremskraftverstärker,
4 5 2 Tandem-Haupt-zylinder
3 mit Ausgleichsbehälter, 3
Bremskraftregler, 4 Rad-
bremse Vorderachse, 5
Radbremse Hinterachse

idealen Bremskraftverteilungs-Kennlinien in der ermittelt, wobei der beim Einfedern verringerte


Regel nicht, so dass „Bremskraftverteiler“ (siehe Bild Abstand zwischen Karosserie und Hinterachse zu
7.2-13) eingesetzt wurden, die seit Mitte der neunzi- einer Erhöhung der Federkraft und damit zu einer
ger Jahre weitgehend von der elektronischen Brems- Erhöhung des Umschaltpunktes führt.
kraftverteilung EBV abgelöst wurden (siehe Kapitel
7.2.5.2). 7.2.3.9 Hydraulisch/Elektronische Regeleinheit
Man unterscheidet drei Bauformen: (HECU)
Bremsdruckbegrenzer limitieren den ausgangsseiti-
gen Druck zu den Radbremsen auf einen konstruktiv Die hydraulisch/elektronische Regeleinheit heutiger
festgelegten Abschaltdruck. ABS/ASR/ESP-Anlagen (z.B. Continental MK 60,
Druckabhängige (festeingestellte) Druckminderer Bild 7.2-14) besteht aus einem zentralen Hydrau-
werden in Fahrzeugen eingesetzt, bei denen nur likblock mit Magnetventilen, einer integrierten Pum-
geringe Achslaständerungen zu erwarten sind. Die pe mit einem angeflanschten Elektromotor (HCU =
auch Bremskraftregler genannten Minderer haben hydraulic control unit) und einem Spulenträger ein-
einen fest eingestellten Umschaltpunkt, ab dem der schließlich der darin enthaltenen Elektronik (ECU =
Hinterachsdruck in einem festen Verhältnis zum electronic control unit). Der Spulenträger wird mittels
Vorderachsdruck abgeregelt wird. eines „magnetischen Steckers“ aufgesetzt.
Lastabhängige Druckminderer (Bild 7.2-12) wer- Die hydraulisch/elektronische Regeleinheit ist durch
den vor allem in Fahrzeugen verbaut, bei denen die zwei Hydraulikleitungen mit den Bremskreisen des
Achslasten durch hohe Zuladung stark variieren THz verbunden, von der HCU führen Bremsleitungen
können. Auch bei Kleinwagen mit hohem Schwer- zu den Radbremsen (Bild 7.2-15).
punkt und kurzem Radstand und damit stark verzöge-
Ventile
rungsabhängiger Achslastverteilung sind lastabhän-
gige Druckminderer sinnvoll. Die Zuladung wird Die elektromagnetischen Ein- und Auslassventile
hierbei indirekt über die Einfederung des Fahrzeugs sind im Hydraulikblock zusammengefasst. Sie er-

0,5
Ideale leer
Ideale beladen
Installierte Bremskraftverteilung
0,4 Bremsdruckbegrenzer
Festeingestellter Druckminderer
Lastabhängiger Druckminderer

0,3
FBH/G

0,2

0,1

0,0
0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 Bild 7.2-13 Kennlinien von
FBV/G
Bremkraftverteilern
504 7 Fahrwerk

nische Regler (ECU) in einer komplexen Regellogik


1 die Steuerung der Stellglieder für den Bremsen- und
Motoreingriff. Ziel dieser Eingriffe ist, dass sich die
Räder mit dem für den jeweiligen Fahrzustand opti-
malen Schlupf drehen. Weitere wichtige Aufgaben
2 des elektronischen Reglers sind die Pegelanpassung
und Wandlung der Ein- und Ausgangssignale, die
Sicherheitsüberwachung des elektronischen Regel-
systems und die Fehlerdiagnose. Der Regler ist als
3 Mikroprozessorsystem ausgeführt. Eingangsgrößen
sind zum Beispiel:
• Sensorsignale (Raddrehzahl, ABS-Pumpenmotor-
Bild 7.2-14 ABS-Anlage mit angeflanschtem Motor 1, drehzahl, Lenkradwinkel, Gierrate, etc.)
Hydraulikblock 2 und Spulenträger mit Elektronik 3 • Schaltsignale (zum Beispiel Bremslichtschalter)
• Informationen vom Verbrennungsmotor für die in
möglichen die Modulation der Radbremsdrücke. das Motormanagement eingreifenden Regelsys-
Jedem geregelten Bremskreis sind ein Einlassventil teme
mit parallel geschaltetem Rückschlagventil sowie ein • Betriebsspannung
Auslassventil zugeordnet. Wie in Bild 7.2-16 gezeigt, Ausgangsgrößen sind zum Beispiel:
ist das Einlassventil im ungeschalteten Zustand offen
(stromlos offen SO), das Auslassventil geschlossen • Schaltsignale (Magnetventile, ABS-Pumpenmotor
(stromlos geschlossen SG). der HCU, Warn- und Funktionsleuchten, etc.)
• Signale zur Anpassung des Schlepp- oder des
Pumpe Antriebsmoments des Verbrennungsmotors
• Signale zur Überwachung sicherheitsrelevanter
Während der ABS Regelung wird das aus den Rad- Baugruppen
bremsen entnommene Volumen in die Niederdruck- • Informationen über Fehlerzustände
speicher zwischengespeichert. Die in die HCU integ-
rierte zweikreisige Kolbenpumpe fördert dieses Die in der Regellogik realisierte Struktur lässt sich als
Bremsflüssigkeitsvolumen aus dem Niederdruckspei- Regler mit adaptivem Verhalten bezeichnen. Das
cher zurück in die jeweiligen Bremskreise des THz. heißt: Der Arbeitspunkt wird durch Suchverfahren
Während aktiver Regelvorgänge der ASR oder des kontinuierlich an das jeweilige Optimum der Regel-
ESP, die ohne Pedalbetätigung ablaufen, stellt die strecke angepasst. Die Regellogik beinhaltet:
Pumpeneinheit das in der Druckaufbauphase benötig- • vom jeweiligen Fahrzeug unabhängige grundle-
te Flüssigkeitsvolumen zur Verfügung. gende Algorithmen
• Algorithmen, die durch geeignete Einstellung von
Elektronische Regeleinheit
Parametern auf verschiedene Fahrzeugmodelle
für (Brems-)Regelsysteme
angepasst werden
Auf Basis von Sensorinformationen (Raddrehzahlen, • Maßnahmen, die speziell für einen Fahrzeugher-
Gierrate, Lenkradwinkel, etc.) berechnet der elektro- steller oder ein Modell entwickelt wurden

SV1 SV2

ASR 1 ASR 2

Bild 7.2-15 ABS-Hydraulik-


schaltbild (schwarz) mit
Zusatzkomponenten für
ASR (grau).
Pkw mit Frontantrieb und
VL HR HL VR diagonaler Bremskreisauftei-
lung
7.2 Bremssysteme 505

P 1 2 R
C*
1
9 1

7
2
6 2
5

4
Rv 3
3
3
2
4
1

Bild 7.2-16 ABS Ventilkonfiguration: 1 Einlassven- 0


0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
til (SO), 2 Auslassventil (SG), P Anschluss zur Betä- m 4
Bremsentyp
tigung, R Rücklauf, Rv Rückschlagventil C*-Werte/Reibwert

Die Algorithmen werden in der Programmierhoch- Bild 7.2-17 C*-Kennwerte von Bremsen: 1 Duo-
sprache „C“ erstellt und sind in zahlreiche Module Servo Trommelbremse, 2 Duplex-Trommelbremse,
aufgeteilt. Das erlaubt eine schnelle Anpassung der 3 Simplex-Trommelbremse, 4 Scheibenbremse
Software, die Wartbarkeit der Software bei vertretba-
rer Komplexität und die Kombinierbarkeit verschie- Weitere Merkmale sind:
dener Module wie z.B. ABS, ASR und Giermomen-
tenregelung (GMR). • Hohe thermische Belastbarkeit
• Geringere Empfindlichkeit gegenüber Reibwert-
7.2.3.10 Scheibenbremsen schwankungen des Belags (s.o.)
• Gleichmäßiges Ansprechen (Reproduzierbarkeit)
Die Scheibenbremsen erzeugen Bremskräfte am Rad.
• Gleichmäßiger Belagverschleiß
Nahezu alle Pkw-Vorderradbremsen sind Scheiben-
• Einfache (selbsttätige) Nachstellung
bremsen. Bei heutigen Fahrzeugen sind auch die
• Einfacher Belagwechsel
Hinterachsbetriebsbremsen als Scheibenbremsen aus-
geführt. Die Abdichtung der Kolben im Sattel erfolgt durch
Scheibenbremsen sind Axialbremsen. Die Zuspann- Kolbendichtringe mit quadratischem Querschnitt in
kräfte des Bremssattels werden über hydraulische einer profilierten Gehäusenut. Sie erzeugen nach dem
Zylinder in axialer Richtung auf die Bremsbeläge Bremsvorgang ein Zurückziehen des Kolbens (roll-
aufgebracht, die beidseitig auf die Planreibflächen der back) und sorgen dadurch für ein sogenanntes „Lüft-
Bremsscheibe (auch „Rotor“ genannt) wirken. Die spiel“ (geringes Rest-Bremsmoment). Bei starker
Kolben und Beläge sind in einem sattelartig über den axialer Verformung und Verschiebung der Brems-
Außendurchmesser der Scheibe greifenden Gehäuse scheibe (z.B. Radlagerspiel) wird mit der Dichtungs-
untergebracht. Die Beläge stützen sich in Drehrich- geometrie das Wiedervorziehen des Kolbens erreicht
tung der Scheibe an einem am Achsschenkel befestig- (knockback).
ten Bauteil ab. Eine Schutzkappe sichert den Bereich zwischen
Die Bremsbelagflächen bedecken jeweils einen Teil Kolben und Gehäusebohrung gegen das Eindringen
einer ebenen Ringfläche (Teilscheibenbremse). Im von Feuchtigkeit und Schmutz. Sie ist als Faltenbalg
Allgemeinen ist unter dem Begriff „Scheibenbremse“ geformt, da sie sich dem veränderlichen Hub anpas-
immer eine Teilscheibenbremse zu verstehen. Voll- sen muss, der durch Verschleiß der Beläge und der
scheibenbremsen, bei denen die gesamte Scheibe mit Scheibenreibflächen sowie axiale Toleranzen ent-
einem ringförmigen Belag in Berührung gebracht steht.
wird, sind im Pkw-Bau nicht gebräuchlich. Bei An der höchstgelegenen Stelle des Zylinders ist zum
Scheibenbremsen werden Fest-, Rahmen- und Faust- Entlüften der Bremsanlage (z.B. durch Werkstätten)
sättel unterschieden: Festsättel beinhalten Kolben eine Entlüfterschraube angebracht, um eventuell
zu beiden Seiten der Bremsscheibe (Bild 7.2-19); eingedrungene Luft aus der Bremshydraulik zu ent-
Schwimmrahmen- und Faustsättel nur auf einer fernen.
Seite, sie sind verschiebbar gelagert (Bilder 7.2-20 u.
7.2-21). Sattel-Werkstoffe
Der Bremsenkennwert C* einer Scheibenbremse ist Die Gehäuse der Faustsättel werden im Allgemeinen
linear abhängig vom Belagreibwert (Bild 7.2-17). aus Kugelgraphitguss in den Qualitäten GGG50 … 60
506 7 Fahrwerk

gegossen. Bei Anforderungen an geringes Gewicht Versuch mit genau definierten Parametern, da
setzt man verschraubte Gehäuse ein, wobei die Zylin- Gestalteinflüsse noch nicht einwandfrei mit elekt-
derseite aus hochfestem Aluminiumguss und die ronischen Rechenprogrammen erfasst werden kön-
Gehäusepratze, die über die Scheibe auf den Belag nen.
der Felgenseite führt, aus hochwertigem Kugelgra- Die Spannungsverteilung im Bauteil wird heute mit
phitguss ist. Bei besonderen Anforderungen an gerin- modernen FEM-Werkzeugen ermittelt und darge-
ges Gewicht wird das gesamte Gehäuse als ein Teil in stellt, Bild 7.2-18.
Aluminium ausgeführt (siehe Bild 7.2-22 Faustrah-
mensättel). Festsattel
Bremskolben werden aus a) Grauguss, b) Stahl, c) An der Vorderachse schwerer Pkw mit Heckan-
Aluminium-Legierungen und d) spritzbaren Kunst- trieb sind Festsättel weit verbreitet, da diese Fahr-
stoffen hergestellt. Bei Stahlkolben ist Tiefziehen und zeuge ausreichend Einbauraum an der Vorderachse
Fließpressen üblich. Um die erforderliche Oberflä- bieten.
chengüte und vor allem die Durchmessertoleranz Festsättel sind durch beidseitig der Scheibenreib-
sicherzustellen, ist ein Schleifen des Außendurchmes- flächen angeordnete Bremszylinder und durch ein
sers notwendig. feststehendes Gehäuse gekennzeichnet (siehe Bild
Sattelauslegung 7.2-19). Das Gehäuse besteht aus zwei Hälften, die
axial miteinander verschraubt sind. Die auf beiden
Hier verwendet man (siehe auch Kap. 7.2.3.13 Scheibenseiten befindlichen Kolben sind durch Ka-
Trommelbremse) einen C*-Wert, der sich aus dem nalbohrungen in den Gehäusehälften hydraulisch
Verhältnis von Reibkraft und Zuspannkraft des Kol- miteinander verbunden. Die Kanalbohrungen sind an
bens ergibt. Bei Scheibenbremsen gilt: der Kontaktfläche mit Dichtungen nach außen abge-
C* = 2μ dichtet. Der Übergang dieser Bohrungen über den
Die Zuspannkraft wird in der Kolbenmitte angreifend Scheibenaußendurchmesser ist thermisch sensibel.
angenommen. Übliche Reibwerte für Scheibenbrem- Besondere Maßnahmen zur Kühlluftführung und
sen liegen zwischen μ = 0,35 bis 0,50 (d.h. C* = ausreichend gute Bemessung der Scheibe verhindern
0,7 . . . 1,0), wobei μ als mittlerer Betriebsreibwert eine Dampfblasenbildung, die zum Bremsenausfall
der Belagsorte definiert ist. Er kann in Abhängigkeit durch zu hohe Bremsflüssigkeitsaufnahme (= Pedal am
von Scheibentemperatur, Fahrzeuggeschwindigkeit, Boden) führen könnten. Die Beläge stützen sich tan-
Flächenpressung, etc. schwanken. gential an Anschlagführungen seitlich der Kolben ab.
Die Steifigkeit eines Bremssattels wird indirekt über Vorteil dieser Sattelkonstruktion ist die durch hohe
seine Fluidaufnahme über dem hydraulischen Druck Steifigkeit bedingte geringe Volumenaufnahme.
im Zylinder definiert, die „Volumenaufnahme“. Man
Rahmensattel
berechnet die Volumenaufnahme mittels 3D-Mo-
dellen und überprüft dies durch Messungen im Ver- Dadurch dass beim Rahmensattel sich nur auf einer
such. Seite Kolben befinden, lässt sich die Bremsscheibe
Der auf das Fahrzeugleben bezogene Festigkeits- axial tiefer in die Felgenschüssel (d.h. zur Felgenau-
nachweis eines Faustsattelgehäuses erfolgt durch ßenseite) verlagern. Dies erleichtert im Allgemeinen
hydraulische Druckbeaufschlagung mit pulsierender die Realisierung eines negativen Lenkrollradius (s.
Belastung. Diese Erprobung erfolgt im praktischen Kap. 7.4.5) [2].

Anrissstelle smax

Bild 7.2-18 Spannungs-


verteilung in der Simulation
7.2 Bremssysteme 507

Bild 7.2-19 Festsattel

Die Reaktionskraft des Kolbens wird mit einem • Geringes Gewicht


Rahmen über die Scheibe auf den felgenseitigen • Kleine Baugröße
Belag übertragen. Das Zylindergehäuse ist im Rah- Das meist einteilige Gehäuse gleitet auf zwei Armen
men befestigt. Beide Beläge stützen ihre jeweiligen eines festgeschraubten Halters oder des Achsschen-
tangentialen Bremsumfangskräfte unmittelbar auf kels selbst. Die beiden Halterarme können auf der
zwei Arme des mit der Radnabe bzw. Achsschenkels Felgenseite mit einer angegossenen Brücke verbun-
festverschraubten Halters ab. Der Vorteil von Rah- den sein oder, wie beim Teves FN-Prinzip, Bild
mensätteln ist die niedrige Bremsflüssigkeitstempera- 7.2-21, über hakenförmige Enden der Belagträger-
tur im Zylinder, da zum einen die Bremsflüssigkeit platte. Auf diese Weise ist es möglich, die Beläge
nicht über die Bremsscheibe geführt wird, zum ande- beim Bremsvorgang zumindest teilweise als gezo-
ren der große, offene Belagschacht der Kühlluft guten gene Beläge auszuführen (pull-push Prinzip). Die
Zutritt zu den Belägen erlaubt. axialen Reibungskräfte in den Halterführungen lie-
Faustsattel gen auf der Scheibeneinlaufseite. Mit dieser Bau-
weise werden zwei wesentliche Funktionsvorteile
Faustsättel bieten die gleichen Einbauvorteile wie erreicht: zum einen „schmiegen“ sich die Beläge
Rahmensättel. Weitere wesentliche Vorteile von gleichmäßig an die Scheibenreibfläche an, was zum
Faustsätteln sind: parallelen Belagverschleiß (gewünscht) wesentlich
• Großflächige Beläge beiträgt; zum anderen werden Geräusche redu-
• Optimale Belagform ziert.

Bild 7.2-20 Schwimm-


rahmensattel
508 7 Fahrwerk

Bild 7.2-21 Faustsattel


Bauart Teves FN

Faustsattel FN Betätigungswelle (Bild 7.2-23) verdreht. Da der


Durch eine spezielle Faustsattelkonstruktion (FN- C*-Wert nur dem einer Scheibenbremse mit C* = 2μ
Ausführung) wird eine nahezu gleiche Scheibengrö- entspricht, muss für die Feststellbremsung eine
ße wie bei einer innenumgriffenen Scheibe erreicht erhöhte Kraft auf den Kolben erzeugt werden.
mit dem Vorteil eines größeren Reibradius und damit Die Betätigung erfolgt über einen Handhebel (Bild
höheren Bremsmomentes bei gleichem Bremsdruck. 7.2-29).
Dabei kann die Gehäusebrücke an der engsten Kontu- Gegenüber der Verschleißnachstellung der Be-
renstelle im Rad sehr lang und deshalb dünn gehalten triebs(scheiben)bremse – Kolben rutscht unter dem
werden, ohne dass die Sattelsteifigkeit (Volumenauf- Dichtring vor – ist die Nachstelleinrichtung für die
nahme) sich verschlechtert. Feststellbremse aufwändiger.
Tritt während einer Bremsung zusätzlich zu Belag-
Faustsattel FNR kompression und Verformungen des Gehäuses noch
Eine weitere Vergrößerung des Scheibenaußen- Verschleiß auf, kann dieser Verschleiß-Weg durch
durchmessers ist bei Einsatz eines Faust-Rahmen- Gehäuseentlastung, bzw. durch die Rückstellfähigkeit
Sattels (FNR) möglich, Bild 7.2-22. Hierbei wird die des Dichtrings, nicht vollständig kompensiert werden,
Gehäusebrücke, wie beim Faustsattel beschrieben, es erfolgt eine Verschleißnachstellung.
ebenfalls nach außen um die beiden Haltearme he- Die Spindel (2) wird dann durch die Kraft der Rück-
rumgeführt und felgenseitig mit der mittleren Ge- stellfeder (4) wieder zur Anlage am Druckstück (5)
häusepratze zu einem einzigen Gussstück fest ver- gebracht. Da die Rückstellfederkraft etwa der dreifa-
bunden. chen Antriebsfederkraft entspricht, wird die Nach-
stellmutter (1) von der Spindel (2) mitgenommen,
Kombinierter Faustsattel und der Reibkonus öffnet sich. Die Nachstellmutter
wird nun durch die Wirkung der Antriebsfeder zur
Beim Kombi-Faustsattel (FNc) werden die Funktio-
Drehung veranlasst und schließt den Reibkonus
nen von Betriebs- und Feststellbremse in einem
wieder. Damit ist ein axialer Längenausgleich (Nach-
Scheibenbremssattel zusammengefasst, wobei die-
stellung) erfolgt.
selben Reibpartner für beide Aufgaben genutzt wer-
den.
7.2.3.11 Bremsscheiben
Die Betriebsbremse ist analog dem des Faustsattels,
die Feststellbremse wird über einen Bowdenzug Ca. 90 % der beim Bremsen umgesetzten Energie
aktiviert, welcher über einen Hebelmechanismus die geht zunächst in die Scheibe und wird von dort an die

Bild 7.2-22 Faustrahmen-


sättelvarianten: FNR-AL:
Aluminium, FNRG: Compo-
site, d.h. Halter Aluminium,
Brücke und Sattel aus Grau-
FNR-AL FNRG FNR guss, FNR: Grauguss
7.2 Bremssysteme 509

Antriebsfeder (3)
Reibkonus Rückstellfeder (4)
F2

Kolben (8) Druckstück (5)

F1

Dichtzylinder (7)

Betätigungswelle (6)
Nachstellmutter (1)
Spindel (2)
Bild 7.2-23 Nachstellung

Umgebungsluft weitergegeben. Im Reibring werden, Schirmung


z.B. bei Bergabfahrten, Temperaturen bis zu 700 °C
Aufgrund der Einbaubedingungen der Bremsscheibe
(Rotglut) erreicht. Um eine höhere Wärmeaufnahme-
innerhalb der Felgenkontur hat die Scheibe einen ein-
kapazität zu erreichen, gibt es außerdem Entwick-
seitigen Befestigungsflansch (Scheibentopf). Der Reib-
lungskonzepte für Systeme mit Doppelbremsscheiben.
ring tendiert daher bei Erwärmung dazu, zu schirmen,
Massive/belüftete Bremsscheibe d.h. die Reibflächen gehen von Planflächen in Kegel-
flächen über. Das kann zu ungleichem Belag- und
Um eine bessere Kühlwirkung zu erreichen, werden Scheibenverschleiß durch punktuelle Anlage der Be-
neben den massiven Bremsscheiben zunehmend in- lagreibfläche auf dem Reibring führen [18]. Geräusch-
nenbelüftete Scheiben eingesetzt, Bild 7.2-24. entwicklung und Rubbeln können die Folge sein. Als
Eine weitere Maßnahme zur Verbesserung der Küh- Rubbeln wird eine Kombination von Lenkradschwin-
lung und darüber hinaus zum Ansprechverhalten bei gung, Pedalpulsation und niederfrequenter Geräusch-
Nässe (Wasserempfindlichkeit) bildet der Einsatz von bildung bezeichnet. Durch konstruktive Maßnahmen
gelochten oder genuteten Bremsscheiben. Allerdings kann die Schirmung in Grenzen gehalten werden (Bild
ist dies mit höheren Kosten u.U. einer stärkeren 7.2-25). Zum Erreichen einer guten Bremsenqualität
Geräuschbildung verbunden. werden hohe Anforderungen an die Fertigungsgenau-
Um derartige Nachteile zu vermeiden, wurde die igkeit von Bremsscheiben gestellt. Darüber hinaus ist
„ATE Power Disc“ entwickelt, in deren Ringflächen im Fahrzeug entsprechende Laufgenauigkeit der
eine Endlosnut eingearbeitet ist. Weitere Vorteile Scheibenanflanschfläche und optimiertes Lagerspiel
dieser Multifunktionsnut sind: sicherzustellen.
• Optische Erkennung der Verschleißgrenze
• Verbessertes Bremsen bei Nässe Schwimmend gelagerte Bremsscheiben
• Verringertes Fading Schwimmend gelagerte Bremsscheiben bestehen aus
• Riefenfreies Verschleißbild von Belag und Scheibe zwei Einheiten: ein völlig planer äußerer Reibring ist in
axialer Richtung verschiebbar auf einem inneren, na-
benfesten Scheibenträger angebracht. Vorteile sind z.B.:
• Keine Schirmung
• Minimierte Wärmeleitung in die Radlagerung
• Reduziertes Lüftspiel, da die beweglich gelagerte
Scheibe nicht die Beläge (und damit die Kolben)
zurückdrückt
Schwimmend gelagerte Bremsscheiben werden in
Kombination mit Festsätteln eingesetzt, sie finden
vorwiegend bei Motorrädern Verwendung.

Scheiben-Werkstoffe
Der übliche Scheibenwerkstoff ist perlitischer Grau-
guss in den Qualitäten GG15 . . . 25. Geringe Zusätze
von Chrom, Molybdän geben dem Werkstoff eine
höhere Verschleißfestigkeit sowie ein günstigeres
Bild 7.2-24 Massive Bremsscheibe (links) und in- Wärmerissverhalten. Ein hoher Kohlenstoff-Gehalt
nenbelüftete ATE Power Disc (rechts) erhöht die Wärmeaufnahmegeschwindigkeit.
510 7 Fahrwerk

ursprüngliche Verstärkte Scheibe mit


Scheibenform Variante veränderter
Anbindung

Bild 7.2-25 FE-Analyse zur


Reduzierung der Scheiben-
schirmung

7.2.3.12 Bremsbeläge
Der wesentliche Faktor für die Wirksamkeit einer
Bremse ist der Bremsbelag. Seine physikalischen und
chemischen Eigenschaften bestimmen die Qualität
einer Bremsanlage entscheidend [4, 5]. Anforderun-
gen an einen Bremsbelag sind u.a.:
• Reibwerthöhe μ
• Reibwertkonstanz (z.B. bei unterschiedlicher
Temperatur, Nässe, Salz oder Schmutz)
• geringer Belagverschleiß sowie geringer Ver-
schleiß des Reibpartners (Trommel oder Scheibe)
• minimale Geräuschbildung bzw. hohe Geräusch-
dämpfung, z.B. gegen (hochfrequentes) Quiet-
schen und (niederfrequentes) Rubbeln
• geringe Kompressibilität
7.2.3.13 Trommelbremsen
Bild 7.2-26 C/SIC-Bremsscheibe Trommelbremsen sind Radialbremsen. Sie haben
zwei Bremsbacken, die durch hydraulische Radzylin-
Eine Neuentwicklung ist die C/SIC-Bremsscheibe derbetätigung beim Bremsen nach außen gegen die
(Bild 7.2.26). Bei ihr kommt mit Kohlefaser (C) Reibfläche der Trommel gedrückt werden. Bei Been-
verstärkte Keramik mit SIC-haltiger Matrix zum digung der Bremsung ziehen Federn die Bremsba-
Einsatz. Die Vorteile einer C/SIC Bremsscheibe cken wieder nach innen, so dass zwischen Trommel-
gegenüber einer Grauguss-Bremsscheibe sind: reibfläche und Bremsbelägen ein „Lüftspiel“ entsteht.

• Höhere Verschleißfestigkeit mit einer Lebensdau- Simplex-Trommelbremse


er bis ca. 300.000 km
Bei Personenwagen kann diese Bauart an der Hinter-
• Verringerung ungefederter Massen durch 2/3 Ge- achse aus Kostengründen (Integration der Feststell-
wichtsersparnis
bremsfunktion) eingesetzt werden. Das erzeugte
• Hohe Temperaturbeständigkeit Bremsmoment ist nur wenig von Reibwertschwan-
• Korrosionsbeständigkeit (Dadurch entfallen nega- kungen abhängig (C* = 2,0 bis 2,3, Bild 7.2-17), so
tive Begleiterscheinungen der Grauguss-Brems-
dass eine gleichmäße Bremswirkung (links/rechts)
scheibe, wie z.B. Kontakthaftung oder festrosten-
erreicht wird und damit das Fahrverhalten während
de Bremsbeläge)
der Bremsung ausreichend stabil ist.
Durch den hohen Fertigungsaufwand ist die C/SIC- Die in Fahrtrichtung vorn liegende Bremsbacke, die
Bremsscheibe jedoch wesentlich teurer. Sie wurde Primärbacke, erzeugt rund 65 % des Bremsmomen-
speziell für Hochleistungs-Sportwagen entwickelt tes, die hinten liegende Sekundärbacke nur etwa
und kommt darüber hinaus in besonderen Fahrzeugen 35 %. Der Primärbelag wird daher zum Verschleiß-
der Oberklasse zum Einsatz. ausgleich dicker ausgeführt, oder der Umfangswinkel
7.2 Bremssysteme 511

a) b) c)

d) e)
Nahezu gleichgroße
Bremswirkung
bei Vorwärts- und Bild 7.2-27 a) Simplex-
Rückwärtsfahrt Trommelbremse, b) Duplex-
Unterschiedlich große
Trommelbremse, c) Duo-
Bremswirkung Duplex-Trommelbremse,
bei Vorwärts- und d) Servo-Trommelbremse,
Rückwärtsfahrt
e) Duo-Servo-Trommel-
bremse

beider Backen wird unterschiedlich groß gewählt. verbaut. In der Regel ist ein automatischer Ver-
Der Umfangswinkel ist der Winkel in Umfangsrich- schleißausgleich eingebaut, bei dem über einen Seil-
tung, über den der Belag Kontakt mit der Trommel zug ein Nachstellhebel betätigt wird, der durch das
hat (Bild 7.2-27a). Verdrehen einer Ritzelmutter indirekt eine nicht
verdrehbare Spindelschraube herausbewegt.
Duplex-Trommelbremse Durch Befestigung eines Hebels an der Sekundärba-
Bei der Duplex-Trommelbremse sind beide Backen cke und einer Druckstange zur Übertragung einer
gleich ausgeführt. Jede Backe stützt sich an einem Reaktionskraft auf die Primärbacke lässt sich eine
eigenen Festpunkt am Bremsträger ab und wird über Feststelleinrichtung leicht integrieren. Sehr zweck-
einen einfach wirkenden Sackloch-Radzylinder gegen mäßig ist der Einsatz der Duo-Servo-Trommelbremse
die Trommel gedrückt. Hierbei sind beide Bremsba- in Kombination mit einer Scheibenbremse („drum-in-
cken Primärbacken mit hoher Selbstverstärkung. Der hat“). Die nur mechanisch betätigte Trommelbremse
C*-Wert liegt bei etwa 2,5 bis 3,5 und erschwert die übernimmt hierbei die Funktion der Feststellbremse
Dosierung. Die Integration einer Feststellbremsein- und die Scheibenbremse den Betriebsbremsanteil der
richtung ist überdies aufwändig, so dass diese Bauart Hinterachse. Ein Vorteil dieser Kombination ist, dass
nur geringe Bedeutung hat (Bild 7.2-27b). die Beläge für Feststell- und Betriebsbremse unab-
hängig voneinander optimal ausgelegt werden können
Duo-Servo-Trommelbremse (Bild 7.2-28).
Diese Bremse (Bild 7.2-27e) erzeugt ein sehr hohes Bremstrommel-Werkstoffe
Bremsmoment, da das Nacheinanderschalten der bei-
den Bremsbacken eine besonders wirksame Selbst- Aufgrund der kostengünstigen Herstellung sind
verstärkung erzeugt (C* = 3,5 bis 6,5). Duo-Servo- Bremstrommeln aus Grauguss heute allgemein ver-
Trommelbremsen werden daher häufig in Fahrzeugen breitet. Für besondere Anwendungen gibt es ge-
mit hoher Nutzlast, etwa kleinen bis mittleren Lkw, wichtsoptimierte Lösungen. Beispiele hierzu sind:

Bild 7.2-28 Kombination


aus Scheiben- und Duo-
Servo-Trommelbremse
(Topf-Breme)
512 7 Fahrwerk

7.2.4 Sensoren
7.2.4.1 Betätigungswegsensor
Der Wegsensor wird für den Bremsassistent genutzt.
R
Dort stellt er ein elektrisches Signal zur Verfügung,
aus dem die Position des Bremspedals und die Betäti-
gungsgeschwindigkeit abgeleitet werden. Der Weg-
sensor ist ein Schleifpotentiometer mit linearer Ken-
nung. In Abhängigkeit von der Schleiferposition wird
der Elektronik des Bremsassistenten eine definierte
Spannung zur Auswertung geliefert, Bild 7.2-30.

Bild 7.2-29 Betätigungsmechanismus Feststellbrem- 7.2.4.2 Raddrehzahlsensor


se (hier „Handbremse“) Der Raddrehzahlsensor (auch Drehzahlfühler ge-
nannt) erfasst die aktuelle Drehzahl eines Rades. Ein
am Achsschenkel befestigter Sensor und das sich mit
• Zweiteilig in Verbundguss hergestellt. Der äußere dem Rad drehende Impulsrad bilden eine Sensorein-
Bereich besteht aus einer Aluminiumlegierung, heit (Bild 7.2-31).
innen ist wegen der geeigneteren Reibpaarung ein
Graugussring eingesetzt
• Matrix aus Keramik bzw. Aluminiumoxid einge-
gossen in Aluminiumtrommel 3
1
Bremstrommeln aus Aluminium sind anspruchsvoll
in der Herstellung und haben wegen der niedrigen
Temperaturbeständigkeit einen eingeschränkten
Leistungsbereich. Am besten eignen sie sich daher für
Hinterachsbremsen besonders leichter Fahrzeuge.
Nachstellung
Reibbelagverschleiß bei Trommelbremsen kann 2
durch manuelle Nachstellung mit einfachen Werk-
zeugen ausgeglichen werden. Da die Wartungsinter- Bild 7.2-31 Radial angeordneter Raddrehzahlsensor.
valle moderner Fahrzeuge aber immer länger werden 1 Sensor, 2 Impulsrad, 3 Bremsscheibe
und sich dadurch bis zur Nachstellung unerwünschter
Bremspedalhub einstellen würde, werden automati- Bei Fahrzeugen mit Hinterachsantrieb lassen sich die
sche Nachstelleinrichtungen verbaut. Raddrehzahlen der Hinterachse auch mit nur einem
Mechanische Feststellbremsen Sensor erfassen. Er sitzt antriebsseitig im Differen-
zial. Das Sensorsignal entspricht in diesem Fall dem
Mit einer Trommelbremse ist die Feststellbremsfunk- arithmetischen Mittel beider Hinterraddrehzahlen.
tion leicht zu realisieren. Die Betätigungskraft wird Je nach Einbauverhältnissen und Ausführung des
über Seilzüge (Bowdenzüge) von der Betätigungsein- Impulsrades wird der Sensor axial oder radial ange-
richtung auf die Hebel der Trommelbremse übertra- ordnet. Es werden zwei Sensor-Bauarten (passiv oder
gen. Heute sind fast ausschließlich Systeme mit rein aktiv) unterschieden:
mechanischer Betätigung über Hand- oder Fußhebel
in Gebrauch (Bild 7.2-29). Sie werden zunehmend Induktive (passive) Raddrehzahlsensoren
von einer elektromotorischen Betätigung, der „elekt- Passive Raddrehzahlsensoren arbeiten nach dem In-
rischen Parkbremse“ (EPB) ersetzt. duktionsprinzip. Im Sensorkopf befinden sich – was-

Wegsensoreinbau
im Bremsgerät:

Bild 7.2-30 Betätigungs-


wegsensor
7.2 Bremssysteme 513

3 sobald sich ein parallel durch diese Schichten verlau-


fendes Magnetfeld ändert.
Es gibt zwei Varianten aktiver Raddrehzahlsensoren.
Bei der ersten wird dem Elementarsensor zur Erzeu-
gung des Magnetfeldes ein Permanentmagnet hinter-
legt. Die Änderung der Feldstärke im Substrat ergibt
sich durch ein ferromagnetisches Impulsrad, das zum
Beispiel als Zahnrad ausgeführt sein kann. Bei der
2 zweiten Variante rotiert ein magnetischer Encoder
vor dem Sensor, der das Sensorelement und einen
kleinen Stützmagneten enthält. Das erzeugte Stützfeld
verhindert einen Frequenzverdoppelungseffekt im
1 Sensorelement bei kleinen Luftspalten. Eine Folge
gleichartiger, einander abwechselnder Nord- und
Südpol-Areale bildet die Encoderspur des magneti-
Bild 7.2-32 Induktiver Raddrehzahlsensor: 1 Perma- schen Encoders. Zwei aufeinander folgende Nord-/
nentmagnet, 2 Spule, 3 Kabelverbindung Südpole bilden ein Inkrement und entsprechen einem
Zahn bei einem ferromagnetischen Impulsrad. Der
elektronische Regler versorgt die Sensoren im Betrieb
3
1 2 mit elektrischer Energie. Die Sensoren erzeugen
N S einen rechteckförmigen Signalstrom, dessen Fre-
4
S N 5
quenz proportional der Drehgeschwindigkeit der
Räder ist. Die Vorteile von magnetoresistiven Rad-
drehzahlsensoren gegenüber induktiven sind unter
anderem:
U
• Sensierung bis zum Stillstand (v = 0 km/h)
• Verbesserung der Signalqualität (digitales Signal
t mit hoher Auflösung ermöglicht großen Luft-
spalt)
• Weitgehende Unempfindlichkeit des Signals ge-
Bild 7.2-33 Funktionsweise des induktiven Raddreh- genüber Temperaturschwankungen und Vibratio-
zahlsensors (t Zeit, U Spannung, N Nordpol, S Süd- nen
pol, 1 + 2 Permanentmagnete, 3 Weicheisenkern, • Reduzierung von Gewicht und Bauraum
4 Spule, 5 Impulsrad )

serdicht in Kunststoff eingespritzt – ein Dauermagnet,


3
eine Spule und eine Kabelverbindung (Bild 7.2-32).
Durch die vorbeilaufenden Zähne des Impulsrades
aus ferromagnetischem Material verändert sich der
magnetische Fluss. Durch die magnetische Induk-
tion entsteht eine Wechselspannung (s. Bild 7.2-33), 2
1
deren Frequenz proportional der Drehzahl des Rades
ist. Sie kann vom elektronischen Regler nur ausge- 1
wertet werden, wenn die Amplitude innerhalb eines Fingerabgriff Stirnabgriff
vorgegebenen Spannungsbereichs liegt. Um diesen gerades Sensorelement gebogenes Sensorelement
Spannungsbereich sicherzustellen, ist ein festgelegter
Abstand (Luftspalt) zwischen Sensor und Impulsrad Bild 7.2-34 Magnetoresistiver Raddrehzahlsensor im
einzuhalten. Schnitt. 1 Sensorelement, 2 Stützmagnet, 3 Kabelver-
bindung
Magnetoresistive (aktive) Raddrehzahlsensoren
7.2.4.3 Beschleunigungssensor (längs und quer)
Die Sensorbaugruppe (s. Bild 7.2-34) besteht aus
der Kombination einer Brückenanordnung dünner Dieser Sensor (siehe Bild 7.2-35) erzeugt ein, zur
magnetoresistiver Metallschichten (Elementarsenso- Beschleunigung des Fahrzeugs proportionales Signal.
ren) mit einer elektronischen Folgeschaltung zur Gemeinsam mit dem Gierratensensor liefert er die für
Signalaufbereitung. Das Wirkprinzip des Elementar- die Giermomentenregelung des ESP benötigten
sensors beruht darauf, dass sich der elektrische Wi- Informationen über den querdynamischen Zustand
derstand der magnetoresistiven Schichten ändert, des Fahrzeugs. Der Beschleunigungssensor besteht
514 7 Fahrwerk

5V
Signalverarbeitung und Sicherheitselemente zur Er-
1 2
kennung interner Sensorfehler.
3
Beschleu- Ausgangs- Der Gierratensensor befindet sich idealerweise im
nigung spannung
4 Fahrzeugschwerpunkt. Die Kombination des Gierra-
Sensorelement Signalaufbereitung tensensors mit dem Querbeschleunigungssensor in
einem gemeinsamen Gehäuse mit einem Stecker wird
Bild 7.2-35 (Quer-)Beschleunigungssensor. 1 Au- als „Cluster“ bezeichnet, Bild 7.2-36. Analog der
ßenelektrode, 2 Biegebalken (seismische Masse), Erfassung der Gierrate wird das gleiche Sensorprinzip
3 Isolator und Verbindungselement für die Elektro- auch für die Erfassung der Rollrate genutzt (siehe
den, 4 Mittelelektrode Kapitel 7.2.5.8).

7.2.4.5 Lenkradwinkelsensor
aus einem mikromechanischen Biegebalken, der unter Der Lenkradwinkelsensor übermittelt dem ESP-
dem Einfluss der Beschleunigung seine Lage ändert Steuergerät Informationen über den aktuellen Lenk-
und damit zu einer Kapazitätsänderung einer Kon- winkel und damit über die gewünschte Fahrtrichtung.
densatoranordnung führt. Die Kapazitätsänderung Der Lenkradwinkel wird durch eine geeignete An-
wird elektronisch ausgewertet, das Signal wird – z.B. ordnung mehrerer Fotozellen und Lichtschranken
über CAN-Bus – an den elektronischen Regler wei- optisch gemessen und in Datenworte übersetzt. Aus
tergeleitet. Sicherheitsgründen erfolgt die Übersetzung in zwei
Mikroprozessoren. Über z.B. einen CAN-Datenbus
7.2.4.4 Gierratensensor
gelangen die Datenworte an den elektronischen Reg-
Der Gierratensensor erfasst die Drehwinkelgeschwin- ler. Vom Lenkradwinkelsensor (Bild 7.2-37) werden
digkeit eines Fahrzeugs um seine Hochachse, die neben hoher Winkelauflösung, Sicherheit und Zuver-
Gierrate. Dazu erzeugt er ein der Gierrate proportio- lässigkeit auch möglichst geringe Abmessungen
nales Signal und liefert damit – gemeinsam mit dem gefordert, da im Lenksäulenbereich nur wenig Ein-
Querbeschleunigungssensor – die für die Giermo- bauraum zur Verfügung steht.
mentenregelung des ESP benötigten Informationen
über den Fahrzustand.
Zwei miteinander verbundene, parallel zur Fahrzeug-
hochachse angeordnete Quarz-Stimmgabeln bilden
das Sensorelement. Eine elektronische Schaltung regt
die obere Stimmgabel zu sinusförmigen Schwingun-
gen an. Beim Gieren des Fahrzeugs wirkt auf die
Zinken der Stimmgabel eine von der Drehrate abhän-
gige Corioliskraft. Diese wird auf die untere Stimm-
gabel übertragen, wo sie eine sinusförmige Schwin-
gung erzeugt, die über eine Verstärkerschaltung in ein
der Drehrate proportionales Signal umgewandelt
wird. Das Schaltungskonzept beinhaltet außer der
Schwingungserzeugung für die obere Stimmgabel die

Bild 7.2-37 Lenkradwinkelsensor

7.2.4.6 Drucksensor
Der Drucksensor misst den über das Bremspedal
eingesteuerten Bremsdruck. Dieser wird z.B. bei der
ESP-Funktion zur Erfassung des Fahrerwunsches
genutzt. Er besteht aus einer Keramikanordnung und
verändert seine Kapazität bei Druckbeaufschlagung.
Bild 7.2-36 Sensorcluster – Zusammenfassung von Das keramische Messelement ist zusammen mit einer
Beschleunigungs- und Gierratenssensor in einem elektronischen Auswerteschaltung in einem Metall-
Gehäuse gehäuse untergebracht.
7.2 Bremssysteme 515

7.2.4.7 Abstandssensoren
Abstandsmessung mit Radar-
oder Infrarot-Technologie
Der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug kann,
abhängig von der zu messenden Entfernung, mit
einem 77-GHZ-Radar (Bild 7.2-38) nach dem Puls-
Doppler-Prinzip oder mit einer Infrarot-Sensorik,
(Closing Velocity Sensor CV, siehe Bild 7.2-39)
gemessen werden. Die leistungsfähige aber aufwän-
dige Radar-Variante ist für große Entfernungen von
ca. 150 m und höhere Fahrzeuggeschwindigkeiten
einsetzbar. Damit findet sie z.Zt. hauptsächlich An-
wendung in gehobenen Fahrzeugklassen.
Die kostengünstigere Infrarot-Technologie (CV-
Sensor, Abstandsmessung bis ca. 10 Meter) ermög-
licht jedoch die Nutzung für entsprechend einge- Bild 7.2-39 Nahbereichs-Infrarotsensor (für den Not-
bremsassistenten im Stadtverkehr)

schränkte Funktionen auch in der Mittel- und Kom-


paktwagen-Klasse.

7.2.5 Bremsenfunktionen
und Assistenzsysteme
Das heute im Automobilbau erreichte Maß an Kom-
fort und aktiver Sicherheit wäre ohne elektronische
Regelsysteme nicht möglich, Bild 7.2-40. Sie werden
auch künftig eine vielfältige Erweiterung der individu-
ellen Mobilität ermöglichen. Um Sicherheit und Zu-
verlässigkeit der Bremsanlage trotz zunehmender
Komplexität zu gewährleisten, beinhalten elektro-
nische Regelsysteme aufwändige Sicherheitsschaltun-
Bild 7.2-38 ACC Radarsensor gen und modular aufgebaute Sicherheitsalgorithmen.
Wi

Kr

V
Reifen

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EM
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Feder
Masse

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Lenkwinkel-
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Druck-
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sensor
t
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sensoren
Spurstange
ng

Raddrehzahl-
Booster- sensoren
Löse- Radbremse
Mo schalter Bre
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icht
Analog- HECU
Gierraten- Ge
Kabelba Booster sensor om
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Pedalweg- rie
Da

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Querbeschleu-
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Schnittstelle zum Umfeld


rat
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se

Schnittstelle zum Fahrzeug


g
aße

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Elektrische Schnittstelle
ub

Signalfluss Schnittstelle
Hydraulische Schnittstelle

Bild 7.2-40 Einflussfaktoren und Regelsystem-Schnittstellen


516 7 Fahrwerk

Zum Beispiel werden bei Ausfall eines Teilsystems


1,2
die noch verbleibenden Restfunktionen der jeweils
niedrigeren Ebene bis hinunter zur mechanisch/
1,0
hydraulischen aufrecht erhalten. Die Bremsbetätigung
1
bleibt auch dann gesichert, wenn die Funktion des 0,8
Regelsystems vollständig ausfällt, zum Beispiel durch
eine gestörte Spannungsversorgung. mB 0,6 2

7.2.5.1 Antiblockiersystem (ABS) 0,4


3
Die Aufgabe der Schlupfregelsysteme, Brems- und
0,2
Vortriebskräfte durch geeignete Eingriffe in Brems-
anlage und Motormanagement so zu modulieren, dass 4
0 lB [%]
das bestmögliche fahrdynamische Verhalten unter 0 20 40 80 60 100
den gegebenen Umständen erreicht wird, lässt sich
auf unterschiedliche Weise lösen. Die Methoden und Bild 7.2-41 Exemplarische Bremskraftbeiwertver-
Algorithmen sind von den Grundzügen her bei allen läufe: λB Bremsschlupf, μB Bremskraftbeiwert,
Systemherstellern ähnlich, da auch die verwendeten 1 trockener Asphalt, 2 nasser Asphalt, 3 Neuschnee,
Eingangsgrößen sowie die Steuergrößen gleich sind. 4 Eis
Was die regelungstechnische Ausführung angeht,
unterscheiden sich aber die Programme erheblich. Ein
wichtiger Aspekt dabei ist die jeweilige Anpassung FB
der Elektronik (sowohl Hardware als auch Software) μB =
FA
an die einzelnen Sensoren (mit z.T. unterschiedlichen
Wirkprinzipien), an die Stellglieder des Systems, an μB = Bremskraftbeiwert
die spezifischen Eigenschaften aller beteiligten Kom- FB = Bremskraft
ponenten und insbesondere an das Fahrzeug [6]. FA = Radaufstandskraft
Kraftschluss in Längsrichtung – Für jede Kombination von Reifen und Fahrbahn exis-
Bremsschlupf/Antriebsschlupf tiert ein bestimmter funktionaler Zusammenhang zwi-
schen Bremskraftbeiwert und Schlupf (Bild 7.2-41).
Die Gesetzmäßigkeiten, die für den Kraftschluss
Der Bremskraftbeiwert zeigt in Abhängigkeit vom
zwischen Reifen und Fahrbahn gelten, sind komple-
Schlupf unter fast allen Bedingungen einen ähnlichen,
xer als die der Coulomb’schen Reibung. Der Grund
charakteristischen Verlauf. Ein Bremskraftbeiwert und
dafür liegt in den Eigenschaften des Gummireifens
ein Schlupf von Null kennzeichnen das frei rollende
(siehe Kapitel 7.3 Reifen).
Rad. Bei einem Bremsschlupf von in der Regel zwi-
Ein Reifen kann nur dann Kräfte auf die Fahrbahn
schen 8 und 30 Prozent erreicht der Bremskraftbeiwert
übertragen, wenn Gleitschlupf vorliegt. Die Umfangs-
seinen Maximalwert. Er fällt mit weiter steigenden
geschwindigkeit des gebremsten Rades ist folglich
Schlupfwerten mehr oder weniger stark ab. Bei einem
kleiner als die Geschwindigkeit des Fahrzeuges.
Bremsschlupf von 100 Prozent ist das Rad blockiert.
Zur Vereinfachung dieser Zusammenhänge werden
Der ansteigende Bereich der μ-Schlupf-Kurve (Brems-
spezielle Verhältniszahlen eingeführt, der Brems-
kraftbeiwert-Kurve) wird als stabiler Bereich bezeich-
schlupf λB und der prozentuale Antriebsschlupf λT:
net. Das Fahrzeug bleibt weitestgehend lenkbar und
(ν F − ν U ) stabil. Jenseits des kritischen Schlupfes beginnt der
λB = ⋅ 100 %
νF instabile Bereich. Wird der Bremsdruck in diesem
Schlupfbereich nicht schnell genug reduziert, kommt es
λB = Bremsschlupf in % innerhalb kurzer Zeit zum Blockieren des Rades.
vF = Fahrgeschwindigkeit (Geschwindigkeit des Rad- Wesentliche Bedeutung für den Kraftschlussbeiwert
mittelpunktes) hat die Fahrbahnoberfläche. Weiterhin ergibt sich
vU = Umfangsgeschwindigkeit des Rades abhängig vom Reifen eine andere Bremskraftbeiwert-
(ν U − ν F ) kurve. Wichtige Einflussgrößen sind Art und Profil
λT = ⋅ 100 % des Reifens (z.B. Gummimischung, Profilform und
νU
Abnutzungsgrad), Dimension, Fülldruck, Temperatur
λT = Antriebsschlupf in % und Radaufstandskraft.
Eine Besonderheit zeigt die Bremskraftbeiwertkurve
Bremskraftbeiwert und andere Einflussgrößen für losen Neuschnee und Schotter. Ihr Maximum liegt
Die charakteristische Größe für das Bremsvermögen bei einem Schlupf von 100 Prozent. Diese Besonder-
eines Fahrzeugs ist der Kraftschlussbeiwert oder auch heit wird von einem Keil aus Schnee oder Schotter
Bremskraftbeiwert μB. bewirkt, der sich mit zunehmendem Schlupf vor den
7.2 Bremssysteme 517

blockierten Rädern aufbaut. Auch hier existiert je- 1


doch ein kritischer Schlupfwert. Wird er erreicht, 2
nimmt zwar nicht das Bremsvermögen ab, doch das
Fahrzeug verliert an Lenkbarkeit und Stabilität.
3 4

Kraftschluss in Querrichtung
Ähnliche Zusammenhänge zwischen Reifenverfor-
mung und Kraftübertragung, wie sie beim Bremsen
und beim Antreiben die Längsdynamik des Fahrzeugs
bestimmen, zeigen sich auch bei der Querdynamik.
Eine Seitenführungskraft, um z.B. das Fahrzeug in FS
der gewünschten Spur zu halten, kann der Reifen nur
dann aufbauen, wenn er seitlich verformt wird und FB
„Seitenschlupf“ aufgebaut wird. FMAX

Dazu müssen die Bewegungsrichtung des Radmittel-


punktes und die Längsrichtung des Reifens vonei- Bild 7.2-43 Kamm’scher Reibungskreis FN Normal-
nander abweichen. Der Winkel zwischen diesen bei- kraft, Fmax maximal übertragbare Gesamtkraft, FRad
den Richtungen wird Schräglaufwinkel α genannt. Gesamtkraft am Rad, μ Kraftschlussbeiwert Rei-
Für das Seitenführungsvermögen wird der „Seiten- fen/Fahrbahn, FB Bremskraft, FS Seitenführungskraft,
kraftbeiwert“ μS definiert: α Schräglaufwinkel, 1 Bewegungsrichtung des Rad-
mittelpunktes, 2 Längsrichtung des Rades, 3 Quer-
FS
μS = richtung des Rades, 4 Kamm’scher Reibungskreis
FA (mit Radius Fmax)
μS = Seitenkraftbeiwert
FS = Seitenführungskraft kreis (siehe Bild 7.2-43) graphisch dargestellt wer-
FA = Radaufstandskraft den.
Der funktionale Zusammenhang zwischen Seiten- Die geometrische (vektorielle) Summe beider Kraft-
kraftbeiwert und Schräglaufwinkel α ist beispielhaft komponenten kann nicht größer werden als die vom
in Bild 7.2-42 dargestellt. Reifen maximal übertragbare Gesamtkraft. Hieraus
wird deutlich:
mS
• Nur bei Geradeausfahrt ist die maximale Brems-
1,0 _ kraft erreichbar
• Bei extremer Kurvenfahrt ist die übertragbare
Bremskraft erheblich kleiner als bei Geradeaus-
0,8
fahrt
• Bei einer starken Verzögerung ist die Lenkbarkeit
0,6 gegenüber dem ungebremsten Zustand einge-
schränkt
0,4
Eine Vollbremsung mit blockierten Rädern führt zum
vollständigen Verlust der Seitenführungskräfte und
0,2 damit zum Verlust der Lenkbarkeit und der Stabilität.
Anhand von Bild 7.2-44 wird deutlich, wie mit zu-
0 nehmendem Schlupf aufgrund der Beanspruchung
0 4 8 12 16 20 a [grad]
des Bremskraftbeiwertes in Längsrichtung der Seiten-
führungskraftbeiwert abnimmt.
Bild 7.2-42 Seitenkraftbeiwert μS in Abhängigkeit
vom Schräglaufwinkel α ABS-Funktionalität
Zu starkes Bremsen ohne ABS verursacht je nach
Kombination des Kraftschlusses
Fahrbahnzustand oder Fahrsituation ungünstig große
in Längs- und Querrichtung
Radschlupfwerte oder gar Blockieren der Räder.
Unter den vorgegebenen Bedingungen von Reifen, Ausbrechen des Fahrzeugs aus der Spur und eine
Fahrbahn und Radaufstandskraft (Normalkraft) kann Beeinträchtigung der Lenkbarkeit sind mögliche
ein Rad nur eine begrenzte Gesamtkraft übertragen. Folgen. Abgesehen von wenigen Ausnahmefällen
Die Aufteilung der Gesamtkraft in die beiden Kom- verlängert sich auch der Bremsweg. ABS erlaubt
ponenten Bremskraft und Seitenführungskraft kann Vollbremsungen ohne blockierende Räder und ohne
näherungsweise durch den Kamm’schen Reibungs- die daraus resultierenden Gefahren. Mit Hilfe des
518 7 Fahrwerk

Außerdem verhindert ABS das Entstehen von Flach-


1,0
mB stellen auf der Lauffläche der Reifen (Bremsplatten).
mS
1 Grenzen des ABS
0,8 2
Sonderfälle wie Neuschnee oder Kies, der bei blo-
ckierenden Rädern einen bremsenden Keil vor den
0,6
Rädern bildet, sind im Alltag kaum relevant. Hier ist
die Verbesserung von Lenkbarkeit und Fahrstabilität
0,4 durch ABS wichtiger als der kürzest mögliche
Bremsweg bei blockierten Rädern. ABS kann die
0,2 physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht außer Kraft
3 setzen. Auf glatter Fahrbahn ist der Bremsweg trotz
4 ABS-Regelung länger als auf trockener, griffiger
0
0 20 40 60 80 100 lB [%] Straße, denn die höchstmögliche Bremskraft be-
stimmt stets der Reibwert zwischen Reifen und Fahr-
Bild 7.2-44 Brems- und Seitenkraftbeiwerte als bahn. Und Bremsen – auch mit ABS – kann bei zu
Funktion des Bremsschlupfes bei zwei verschiedenen hohen Kurvengeschwindigkeiten die Seitenführungs-
Schräglaufwinkeln auf trockener Betonfahrbahn kraft nicht vergrößern. Das Fahrzeug kann daher trotz
λB Bremsschlupf, μB Bremskraftbeiwert, μS Seiten- ABS aus der Kurve getragen werden.
kraftbeiwert, 1 Bremskraftbeiwert bei Schräglauf-
Arbeitsbereich des ABS
winkel α = 2°, 4 Seitenkraftbeiwert bei Schräglauf-
winkel α = 2°, 2 Bremskraftbeiwert bei Schräglauf- Der optimale Schlupf und damit die beste Bremswir-
winkel α = 5°, 3 Seitenkraftbeiwert bei Schräglauf- kung wird nicht durch maximalen, sondern durch
winkel α = 5° genau dosierten Bremsdruck erreicht (Bild 7.2-45).
Ziel der ABS-Regelung ist es den kritischen Schlupf
Bremspedals ist die erforderliche individuelle Dosie- nicht zu überschreiten der von den jeweiligen Bedin-
rung der optimalen Bremskraft an jedem Rad nicht gungen zwischen Reifen und Fahrbahn bestimmt wird.
möglich. Besonders deutlich wird dies auf unter- Der Arbeitsbereich der ABS-Regelung wird stets so
schiedlich griffigem Untergrund (z.B. rechts/links), gewählt, dass zugleich bestmögliche Fahrstabilität
weil der optimale Bremsdruck an den einzelnen und Lenkbarkeit gegeben sind. Wird ein Rad so
Rädern dann unterschiedlich groß ist. ABS verbes- abgebremst, dass es den Bereich optimalen Schlupfes
sert: überschreitet, beginnt die ABS-Regelung.
• die Fahrstabilität, indem es das Blockieren der Bild 7.2-46 zeigt einen Bremsvorgang ohne ABS-
Räder verhindert, wenn bei einer Vollbremsung Regelung. Bereich I entspricht der ungebremsten
der Bremsdruck bis zur Blockiergrenze und da- Fahrt. Die Radumfangsgeschwindigkeit gleicht der
rüber hinaus steigt. Eine Drehung des Fahrzeugs (konstanten) Fahrzeuggeschwindigkeit, es liegt kein
um die Fahrzeughochachse (Schleudern) bei Ver- Schlupf vor. Im Bereich II ist die Bremse leicht
lust der Seitenführungskräfte an der Hinterachse betätigt, es liegt ein geringer Bremsdruck an. Daher
wird zum Beispiel verhindert ist die Radumfangsgeschwindigkeit um einen be-
• die Lenkbarkeit bei Vollbremsungen auch bei den
mB
unterschiedlichsten Fahrbahnzuständen. Trotz voll mS
A
betätigter Bremse kann das Fahrzeug durch eine 1,0
Kurve gelenkt werden oder einem Hindernis aus-
weichen 1
• den Bremsweg, da es den jeweils verfügbaren 0,8

Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn bestmög-


lich ausnutzt. Insbesondere reagiert es adaptiv auf 0,6
Veränderungen der Fahrbahngriffigkeit, etwa von
trockenem auf nassen Asphalt. Der Bremsweg mit 0,4
ABS ist kürzer als bei einer Bremsung ohne ABS
Die Erkennung und Plausibilisierung eines notwendi- 0,2
gen ABS-Eingriffs findet üblicherweise in wenigen
1 2
/100 s statt, die Radstabilisierung benötigt aufgrund
1 0
von Rad- und Hydraulikträgheit wenige /10 s. Der 0 20 40 60 80 100 lB [%]
Fahrer kann sich auf die Bewältigung der Verkehrssi-
tuation konzentrieren, ohne sich um die optimale Bild 7.2-45 Regelbereich (A) des ABS mit λB Brems-
Dosierung der Bremsleistung Gedanken zu machen schlupf, μB Bremskraftbeiwert (Verlauf 1), μS Seiten-
(z.B. gebremstes Umfahren eines Hindernisses). kraftbeiwert (Verlauf 2)
7.2 Bremssysteme 519

v Die sehr rasche Drehzahlabnahme eines Rades ist


charakteristisch für eine Blockierneigung, da die
Radverzögerung größer ist als die maximale mögliche
I II III
Fahrzeugverzögerung. Erkennt der elektronische
vF Regler über den Raddrehzahlsensor den Abfall der
Raddrehzahl, gibt er entsprechende Befehle zur
Bremsdruckmodulation an die Magnetventile. Jeweils
zwei Ventile pro Regelkreis – das in stromlosem
vR Zustand offene Einlassventile und das stromlos ge-
schlossene Auslassventile führen diese Modulation
durch.
t
p Regelungsphasen
pB
Der ABS-Regelungszyklus läuft prinzipiell in drei
Phasen ab (Bild 7.2-47).
t
Druckhalten (Phase 1)
Bild 7.2-46 Bremsung ohne ABS (ein Rad). t Zeit, Bei Pedalbetätigung steigt der Radbremsdruck an und
v Geschwindigkeit, p Druck, I ungebremste Fahrt, II die Radumfangsgeschwindigkeit verringert sich pro-
Teilbremsung, III Vollbremsung ohne ABS, vF Fahr- gressiv. Zeigt die Radumfangsgeschwindigkeit eine
zeuggeschwindigkeit, vR Radumfangsgeschwindig- Blockierneigung, wird das Einlassventil geschlossen.
keit, PB Betätigungsdruck Selbst bei Erhöhung des Betätigungsdrucks kann der
Radbremsdruck nicht weiter ansteigen.
stimmten Anteil geringer als die Fahrzeuggeschwin-
digkeit, die stetig abnimmt. Der Schlupf liegt im Druckabbau (Phase 2)
stabilen Bereich. Bereich III entspricht einer Voll- Nimmt die Radumfangsgeschwindigkeit trotz kons-
bremsung, bei der der Radbremsdruck über die Blo- tanten Bremsdrucks weiter ab, so dass der Radschlupf
ckiergrenze steigt. Die Radumfangsgeschwindigkeit zunimmt, reduziert der elektronische Regler den
verringert sich zunehmend bis zum Stillstand des Bremsdruck an diesem Rad. Dazu hält er das Einlass-
Rades. Die Fahrzeuggeschwindigkeit wird ebenfalls ventil geschlossen und öffnet das Auslassventil.
geringer, wobei der Blockierreibwert die Verzöge- Daraus folgt ein vermindertes Bremsmoment an der
rung bestimmt. Radbremse. Mit Hilfe der Radverzögerung lässt sich

I II III

vF

vR

t
p pB
pR

1 1 1 t
2 3 2 3 2 3
Ph

A
B
C

Bild 7.2-47 Ablauf einer ABS-Regelung (ein Rad). t Zeit, p Druck, v Geschwindigkeit, Ph Phase, I unge-
bremste Fahrt, II Teilbremsung, III ABS-Bremsung, vF Fahrzeuggeschwindigkeit, PB Betätigungsdruck,
vR Radumfangsgeschwindigkeit, PR Radbremsdruck, A Druckaufbau, B Druckhalten, C Druckabbau
520 7 Fahrwerk

abschätzen, wie lange dieser Druckabbaupuls sein weiterer Überbremsung kann durch Öffnen des Hin-
muss, damit das Rad in einer gewissen Zeit wieder terrad-Auslassventils Druck abgebaut werden. Zur
beschleunigt („prädiktive Regelung“). Verhält sich bestmöglichen Ausschöpfung des Kraftschlusspoten-
das Rad nach Ablauf dieser Zeit nicht wie erwartet, zials führt EBV den Druck der hinteren Radbremsen
kann der Regler einen weiteren Bremsdruckabbau bei Unterbremsung wieder pulsweise an das Druck-
einsteuern. In extremen Fällen wie etwa einem Reib- niveau im Hauptzylinder heran. Die EBV-Funktion
wertsprung von Asphalt auf Eis dauert dieser Abbau benötigt keine zusätzlichen Bauteile, sie nutzt die
so lange, bis das Rad die gewünschte Wiederbe- beim ABS vorhandenen Komponenten. Die Integra-
schleunigung aufweist. tion in das ABS-Sicherheitskonzept sorgt im Gegen-
satz zum hydraulischen Regler für die Überwachung
Druckaufbau (Phase 3) der Wirksamkeit der Bremskraftverteilung.
Erhöht sich die Radumfangsgeschwindigkeit so weit,
dass sie den Bereich des optimalen Schlupfes unter- 7.2.5.3 Erweitertes Stabilitäts-Bremssystem
schreitet, baut der elektronische Regler wieder stu- (ABS-plus)
fenweise Bremsdruck auf. Hierzu bleibt das Auslass- ABSplus sorgt durch gezielt unterschiedliches Einstel-
ventil geschlossen, während das Einlassventil mehr- len von Bremskräften an beiden Fahrzeugseiten für ein
fach kurz geöffnet wird. korrigierendes Giermoment, so dass das Fahrzeug
Dieser Drei-Phasen-Regelzyklus mit den Phasen stabilisiert und die Lenkbarkeit verbessert wird. Diese
Druck halten, Druck abbauen und Druck aufbauen Erweiterung des ABS-Regelalgorithmus ist als
wiederholt sich mehrmals pro Sekunde. Die Reihen- ABSplus oder CBC (Cornering Brake Control) be-
folge der drei Phasen ist variabel. kannt. Allein aus den Verläufen der Raddrehzahlen
erkennt dieses System die Fahrsituation – insbesondere
Spezielle Regelalgorithmen Kurvenfahrt – ohne Gierraten- oder Querbeschleuni-
gungssensor. ABSplus optimiert den (Brems-)Schlupf
Durch die kontinuierliche Auswertung der Raddreh-
und damit die Bremskraftverteilung, zugleich bewirkt
zahlsensorsignale kann der elektronische Regler stets
es eine Gierratenkompensation. Besonders wirkungs-
mit einer der Situation angepassten Regelstrategie
voll ist ABSplus bei dynamischen Fahrmanövern wie
reagieren. Die Regelung der Vorderachse erfolgt
Kurvenfahrten im Grenzbereich und Spurwechseln.
radindividuell. An den Hinterrädern kommt das
Dies gilt bei Vollbremsungen (aktive ABS-Regelung)
„Select low“-Prinzip zum Einsatz, das heißt: Das
und insbesondere bei Teilbremsungen [8].
Hinterrad mit der stärkeren Blockiertendenz bestimmt
das Druckniveau für beide Hinterräder. So wird die 7.2.5.4 Antriebsschlupfregelung (ASR)
Bremskraftausnutzung an der Hinterachse vermindert
zugunsten höherer Seitenkraft und damit zu erhöhter ASR verhindert unnötiges Durchdrehen der Antriebs-
Fahrstabilität. Besonderen Fahrbahn- und Fahrzu- räder durch einen gezielten Bremseneingriff (BASR)
stands-Bedingungen wird der ABS-Regler durch und/oder durch einen Eingriff in das Motormanage-
speziell hierfür entwickelte Algorithmen gerecht. Zu ment (MASR).
nennen sind hier etwa Eis-Fahrbahnen, seitenweise Die Antriebsschlupfregelung basiert sowohl hard-
unterschiedlich griffige Fahrbahnen („μ-Split“), Kur- wareseitig (Hydraulik, Sensorik) als auch software-
venfahrt, Schleudervorgänge, Einsatz von Noträdern seitig auf ABS. Zum aktiven Druckaufbau ist eine
und vieles mehr. Erweiterung der HCU um Trenn- und Saugventile
erforderlich (Bild 7.2-16, Bild 7.2-48).
7.2.5.2 Elektronische Bremskraftverteilung (EBV)
ASR-Funktionalität
Die elektronische Bremskraftverteilung ersetzt den
Die Antriebsschlupfregelung
hydraulischen Bremskraftverteiler (Kapitel 7.2.3.8)
durch einen zusätzlichen Softwarealgorithmus in der • sichert die Fahrstabilität heckgetriebener bzw. die
ABS-Software. Dieser Algorithmus ermöglicht im Lenkbarkeit frontgetriebener Fahrzeuge
Teilbremsbereich eine optimierte Bremskraftvertei- • wirkt als Sperrdifferenzial
lung zwischen Vorder- und Hinterachse. Damit wird • passt die Vortriebskräfte den Fahrbahnbedingun-
die Kraftschlussausnutzung an der Hinterachse opti- gen an
miert bei gleichzeitigem Erhalt der Fahrstabilität [7]. • warnt durch eine Informationsleuchte vor Errei-
Hierzu nutzt der EBV-Algorithmus die jeweilige chen der physikalischen Stabilitätsgrenze (etwa
Fahrzeugverzögerung und die Querbeschleunigung. bei Glätte) und
Beide Größen werden aus den vier gemessenen • verringert den Reifenverschleiß
Radgeschwindigkeiten errechnet. Erkennt der elekt-
Bremsenregelung der ASR (BASR)
ronische Regler eine Überbremsung der Hinterachse,
schließt er das entsprechende Hinterrad-Einlassventil Auf unterschiedlich griffiger Fahrbahn (μ-split) kann
und verhindert so einen weiteren Druckaufbau. Bei die auf der griffigen Fahrbahnseite mögliche Vor-
7.2 Bremssysteme 521

Bremsenantriebs- Motorantriebs-
schlupfregelung (BASR) schlupfregelung (MASR)
Bremseneingriff Motoreingriff

Unterer Geschw.- Gesamter Geschw.-


Bereich Bereich

TRAKTION LENKBARKEIT STABILITÄT

Antriebsschlupf-
Unterer Geschw.- Oberer Geschw.-
regelung (ASR)
Bereich Bereich
Motor- und
Bremseneingriff
Bild 7.2-48 Konzepte der
Antriebsschlupfregelung

triebskraft nicht ausgenutzt werden. Die Ursache lem Fahrverhalten kommen. Die MSR reduziert
hierfür liegt im Differenzialgetriebe zwischen den durch dosiertes, aktives „Gasgeben“ den durch das
Rädern der angetriebenen Achse, bei dem die Seite mit Motorschleppmoment generierten Schlupf. Der
dem geringeren Kraftschlusspotenzial das Moment auf Eingriff ins Motormanagement erfolgt in aller Regel
der gegenüber liegenden Seite begrenzt. Mit Hilfe der über CAN-Bus.
Raddrehzahlsensoren erkennt BASR das Überschreiten
der Kraftschlussgrenze an einem Rad und verringert 7.2.5.5 Elektronisches Stabilitätsprogramm
dieses Durchdrehen mittels eines entsprechenden, (ESP/DSC/VSC)
aktiven Bremseneingriffs. Das dadurch aufgebrachte Das elektronische Stabilitätsprogramm (Bild 7.2-49)
Bremsmoment wirkt als zusätzliche Abstützung auf das kombiniert die Funktionen der Radschlupfregelungen
Differenzial und steht somit am gegenüber liegenden (ABS, EBV, ASR) mit der Giermomentenregelung
Rad als Antriebsmoment zur Verfügung. (GMR). Die Giermomentenregelung ist eine elektro-
Bremsen-ASR regelt im wesentlichen den Anfahrbe- nische Regelung zur Verbesserung des querdynami-
reich. Um eine thermische Überlastung der Bremse schen Fahrverhaltens. Unabhängig von einer Pedalbe-
zu vermeiden, wird durch den elektronischen Regler tätigung stabilisiert sie das quer- und längsdynami-
über ein Temperaturmodell die Bremseneingriffs- sche Fahrverhalten durch Bremsen- und Motorein-
dauer begrenzt. griff [7, 9].
Motorregelung der ASR (MASR) Mit Hilfe von Echtzeitsimulationsmodellen errechnet
das elektronische Stabilitätsprogramm aus Raddreh-
Zur Entlastung der Bremsen reduziert ASR bei nied- zahlen, Lenkradwinkel und Hauptzylinderdruck das
rigen Geschwindigkeiten zusätzlich zur Bremsenrege- gewünschte Fahrverhalten. Das tatsächliche Fahrver-
lung das Motordrehmoment so weit, dass auch ohne halten erfasst das elektronische Stabilitätsprogramm
beidseitigen Bremseneingriff an den Antriebsrädern mit Hilfe der Gierrate und der Querbeschleunigung.
die bestmögliche Haftwertausnutzung für den Vor- Vor allem bei sehr schnellen Lenkbewegungen kann
trieb erreicht wird. Im oberen Geschwindigkeitsbe- ein Fahrzeug den Lenkradeinschlag nicht mehr in die
reich, ab etwa 40 km/h, kommt es kaum noch zu erwartete Richtungsänderung umsetzen. Es kommt
Bremseneingriffen, da die Motorregelung frühzeitig entweder zum Untersteuern oder zum Übersteuern,
das Antriebsmoment reduziert, um die Fahrstabilität im Extremfall bis zum „Schleudern“. Die Abwei-
zu erhöhen. chung zwischen Fahrer-Wunsch (Richtung, Ge-
schwindigkeit) und Fahrzeug-Verhalten (Gierrate,
Motor-Schleppmomenten-Regelung (MSR)
Querbeschleunigung) wird ermittelt und durch die
Hohes Motorschleppmoment, zum Beispiel bei Gas- Giermomentenregelung mittels Bremseneingriff (an
wegnahme oder Herunterschalten, erzeugt Brems- bis zu drei Rädern gleichzeitig) ausgeregelt.
momente an den angetriebenen Rädern, ohne dass die Untersteuern korrigiert GMR primär durch Einbrem-
Bremse betätigt wird. Insbesondere bei niedrigen sen des kurveninneren Hinterrades, Übersteuern
Reibwerten wird dadurch deutlicher Schlupf an den durch Einbremsen des kurvenäußeren Vorderrades.
Antriebsrädern hervorgerufen. Vor allem bei heckan- Dieses selektive, aktive Bremsen baut einseitig wir-
getriebenen Fahrzeugen kann es dadurch zu instabi- kende Längskräfte und dadurch das gewünschte
522 7 Fahrwerk

MAX

MIN

BLS SV1/SV2: Saugventile


P P
U U ASR1/ASR2: Trennventile

BLS Bremslichtschalter

Vakuumquelle P
U Drucksensor
HCU

SV1 ASR1 SV2 ASR2 Pumpen-


M motor Externe ESP-Sensoren
d
U Lenkradwinkelsensor

j Gierwinkelgeschwindig-
U
keitssensor

aq Querbeschleunigungs-
U
sensor

ECU

Bild 7.2-49 Elektronisches Stabilitätsprogramm, Systemschaltbild: SV1/SV2 Saugventile, ASR1/ASR2 Trenn-


ventile

Giermoment auf. Eine unterstützende Wirkung ent- greift automatisch in den Bremsablauf ein, sobald er
steht durch die gezielte Reduzierung von Seitenfüh- eine Notbremssituation erkennt, auf die der Fahrer
rungskräften infolge der über Bremsmomente aufge- nicht ausreichend reagiert. Diese Situation wird
bauten Längskräfte. Zu hohes Antriebsmoment redu- erkannt, indem die Betätigungs-Charakteristik des
ziert das elektronisches Stabilitätsprogramm – wenn Bremspedals – bei elektronischen Systemen in Kom-
erforderlich – durch Eingriff ins Motormanagement. bination mit der Fahrzeuggeschwindigkeit – bewertet
Die erweiterte ABS/ASR-Hydraulik mit dem integ- wird. Der Einsatz des Bremsassistent-Systems ver-
rierten elektronischen Regler ist Kernstück des elekt- kürzt in einem derartigen Fall den Bremsweg, indem
ronischen Stabilitätsprogramms. Diese Hydraulik schnellstmöglich die volle Bremskraft aufgebaut wird
ermöglicht den radindividuellen, aktiven Aufbau von (siehe durchgezogene Verzögerungslinie in Bild
Bremsdruck unabhängig von einer Betätigung des 7.2-50).
Bremspedals. Die Bremsassistent-Funktion wird derzeit durch die
Bei extremer Kälte ist wegen veränderter Bremsflüs- nachfolgend beschriebenen Systeme realisiert [10].
sigkeitsviskosität das Ansaugverhalten der ABS-
Pumpe allein nicht ausreichend. Über verschiedene
Vorladeeinrichtungen kann in solchen Situationen die Mechanischer Bremsassistent
notwendige Fördermenge der Pumpe erreicht werden. Für den mechanischen Bremsassistenten MBA (Ka-
Ein extern ansteuerbarer Bremskraftverstärker (akti- pitel 7.2.3.2 und Bild 7.2-10) findet als Voll-
ver Booster) kann die bei extremer Kälte benötigte bremshilfe in Notsituationen ein besonderer Brems-
Vorladung für die Hydraulikpumpe sicherstellen. kraftverstärker Verwendung. Bei diesem wird die
Eine weitere Lösungsmöglichkeit ist eine elektrische Massenträgheit von Komponenten des Bremskraft-
Vorladepumpe, die Bremsflüssigkeit aus dem Aus- verstärkers ausgenutzt, die bei schneller Betätigung
gleichs-Behälter ansaugt und am THz-Ausgang ein- dazu führt, dass das Tellerventil einen bestimmten
speist. Durch eine Blende bildet sich ein Staudruck, Öffnungshub überschreitet. Mit Überschreiten die-
der als Vorladedruck vor der ESP-Hydraulikpumpe ses Öffnungshubs erfolgt eine Arretierung dieses
anliegt und somit die erforderliche Fördermenge Ventils. Im Unterschied zum elektrischen BA (s.u.)
sicherstellt. kann der Bremsdruck auch während der BA-Funk-
tion über die Pedalstellung moduliert werden. Der
7.2.5.6 Bremsassistent (MBA, EBA, HBA) Mechanismus ist vollständig integriert, die Charak-
Der Bremsassistent ist ein System zur Fahrerunter- teristika des Vakuum-Bremskraftverstärkers bleiben
stützung bei Gefahr- resp. Notbremsungen. Der BA erhalten.
7.2 Bremssysteme 523

120 12
Verzögerung [m/s2]

100 10
mit BA
ohne BA
Geschwindigkeit [km/h]

80 8

Verzögerung [m/s2]
Geschwindigkeit (km/h)
Weg [m]

60 6

40 4

20 2
Weg [m]

0 0 Bild 7.2-50 Geschwindigkeit


0,0 0,4 0,8 1,2 1,6 2,0 2,4 2,8 3,2 3,6
und Bremsweg über der Zeit
Zeit [s]
mit und ohne Bremsassistent

Elektronischer Bremsassistent überschritten, schließt der elektronischer Regler die


ASR-Trennventile (Bild 7.2-49), öffnet die elektri-
Die Notsituation wird mit Hilfe eines Wegsensors
schen Ansaugventile und aktiviert die Pumpe. Die
über die Betätigungsgeschwindigkeit erkannt. Die
Pumpe steigert den über das Pedal eingebrachten
Verstärkung der Fahrerfußkraft wird über einen
Druck nun auf Rad-Blockierdruckniveau. Im Gegen-
Magnetantrieb im Bremskraftverstärker (siehe Kap.
satz zum mechanischen Bremsassistent wird der
7.2.2) ausgelöst. Für viele Funktionserweiterungen
Radbremsdruck vom elektronischen Regler analog
moderner Bremssysteme werden elektrisch ansteuer-
zum THz-Druck (Fahrerwunsch) moduliert. Beim
bare, so genannte „aktive Booster“ eingesetzt (Bild
Unterschreiten eines Mindestdrucks schaltet sich die
7.2-9):
HBA-Funktion wieder ab.
• in ESP-Systemen (Kapitel 7.2.5.5) als Vorladung
der Pumpe zur Gewährleistung einer hohen 7.2.5.7 Bremskraftverstärkerunterstützung
Druckaufbaudynamik, insbesondere bei tiefen
Temperaturen Die Hilfskraftunterstützung ist durch das zur Verfü-
• als Vollbremshilfe in Notsituationen gung stehende Vakuum, sowie durch die bauliche
• beim Adaptive Cruise Control (ACC) (s. Kap. Ausführung des Bremskraftverstärkers begrenzt.
7.2.5.9) zum Einregeln einer von einer Bremspe- Diese Grenze wird als Aussteuerpunkt bezeichnet,
dalbetätigung unabhängigen und komfortablen welcher mit zusätzlicher Sensorik erkannt werden
Teilbremsung kann. Diese Erkennung wird für nachfolgend be-
schriebene Funktionen genutzt.
Aktive Bremskraftverstärker weisen einen im Steuer-
Die Bremskraftverstärkerunterstützungsfunktion be-
gehäuse integrierten Magnetantrieb auf. Mittels einer
steht darin, dass der hydraulische Druck in den Rad-
Schiebehülse ist es möglich, mit dem elektrisch
bremsen über den Druck im THz hinaus erhöht wer-
betätigten Magnetantrieb das Tellerventil zu betäti-
den kann. Hierzu wird die Verbindung zwischen THz
gen. Dies geschieht so, dass zunächst die Verbindung
und Hydraulikeinheit über Magnetventile getrennt,
zwischen Vakuumkammer und Arbeitskammer ge-
die Pumpe angesteuert und der Druck in den Rad-
schlossen wird; mit einer weiteren Strombeaufschla-
bremskreisen moduliert. Hiermit können Unterstüt-
gung wird die Verbindung der Arbeitskammer zur
zungsfunktionen für folgende Betriebszustände dar-
Außenluft geöffnet und der Bremskraftverstärker
gestellt werden (Bild 7.2-51):
betätigt.
• Bremsenfading: Durch die hydraulische Unter-
Hydraulischer Bremsassistent
stützung wird die Verstärkung über den Aussteu-
Die Fähigkeit der ESP-Hydraulik, unabhängig von erpunkt des Vakuum Bremskraftverstärkers hinaus
der Brems-Pedalbetätigung Druck in den Radbremsen aufrecht erhalten
aufzubauen, wird für eine weitere Zusatzfunktion • Hydraulischer Bremsassistent
genutzt, den „hydraulischen Bremsassistent“ (HBA). • Reduziertes Vakuum in der Kaltstartphase des
Der HBA nutzt auch die vorhandene Sensorik. Verbrennungsmotors
Drucksensorsignale dienen dem elektronischen Reg- • Verstärkerausfall: Durch Druckaufbau mit Hilfe
ler zur Erkennung einer Vollbremsung in Notsituatio- der ABS/ESP-Einheit wird der Ausfall des
nen. Wird ein eingestellter kritischer Druckgradient Bremskraftverstärkers kompensiert
524 7 Fahrwerk

Bremsenfading Hydraulischer Bremsassistent Verstärkerausfall


p p p

0 F 0 F 0 F
Bild 7.2-51 Funktionalitäten
der Bremskraftverstärkerun-
mit Hilfskraft ohne Hilfskraft HECU-unterstützer Betriebsbereich
terstützung (F = Fußkraft)

7.2.5.8 Active Rollover Protection (ARP) rausfahrenden Fahrzeug auch bei Geschwindigkeiten
Fahrzeuge mit kritischem Wankverhalten (z.B. hoher außerhalb des Stadtbereichs. Dies wird erreicht durch
Schwerpunkt, „weiches“ Fahrwerk) neigen unter selbsttätige Änderung des Motormoments oder durch
Extrembedingungen zum Umkippen. ARP als Soft- Bremsen. Als Komfortsystem nutzt das ACC im Ver-
wareerweiterung des ESP-Systems wirkt der Kipp- gleich zum Notbrems-Assistenten nicht das volle Po-
tendenz bei hoher Querbeschleunigung durch aktiven tenzial beim Bremsen. Auch beim Beschleunigen steht
Bremseneingriff entgegen [11]. der Komfort im Vordergrund. (Bild 7.2-38) (siehe
Mithilfe einer fahrzeugspezifischen Modellbildung Kapitel 7.2.4.7 und Kapitel 8.5.5).
sowie zusätzlicher Erkennungsmöglichkeiten (z.B.
7.2.5.10 Elektrische Feststellbremse (Parkbremse)
Wank-Sensorik) und geeigneter Algorithmen wird bei
EPB
Kippgefahr das kurvenäußere Vorderrad überbremst,
das Fahrzeug untersteuert. Durch die Reduzierung der Um den Anforderungen an Sicherheit, Vernetzung im
Querkraft wird die Kippneigung reduziert. Fahrzeug und Komfort für den Fahrer gerecht zu
werden, verdrängt die elektromechanische Parkbrem-
7.2.5.9 Abstandsregelsysteme se vermehrt die mechanische Feststellbremse.
Notbrems-Assistent für den Stadtbereich Die Hauptgründe für den Einsatz einer EPB sind
Die Notbrems-Assistenz-Funktion für den Stadtver- verbesserte Absicherung des Fahrzeugs unter Zuhil-
kehr basierend auf einem CV-Sensor (Closing Velo- fenahme von Sensoren und automatische Betätigun-
city) soll Auffahrunfälle bei geringen Geschwindig- gen der Parkbremse ohne mechanischen Eingriff des
keiten bis zu ca. 30 km/h verhindern, Bild 7.2-39. Bei Fahrers. Im Zusammenspiel mit anderen Fahrerassis-
höheren Stadtgeschwindigkeiten können Auswirkun- tenzsystemen wird das sogenannte „Stillstandsmana-
gen von Auffahrunfällen auf die Fahrzeuginsassen gement“ realisiert, welches den Fahrer durch Auto-
zumindest gemindert werden. matikfunktionen weiter entlastet. Neue Gestaltungs-
Dieses System überwacht den Raum vor dem Fahr- möglichkeiten des Fahrzeuginnenraumes ergeben
zeug bis zu einer Entfernung von etwa 10 Meter zum sich durch den Wegfall des Hand- oder Fußbremshe-
vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug und ist im bels. Das notwendige elektrische Bedienelement lässt
Bereich des Innenspiegels hinter der Windschutz- sich ergonomisch günstig integrieren. Die von der
scheibe angebracht. Es errechnet den Abstand zum EPB aufgebrachte Kraft zum Halten des Fahrzeuges
vorausfahrenden Fahrzeug und die Annäherungsge- ist somit unabhängig von der individuellen Betäti-
schwindigkeit. In begrenztem Maß werden auch gungskraft des Fahrers.
seitlich Objekte erfasst.
Systemarchitektur und Komponenten
Zur Vermeidung einer Kollision wird das Bremssys-
Drei Ansätze zur Systemarchitektur sind im Markt
tem aktiviert und autonom bis zum Fahrzeugstillstand
heute verbreitet:
vor dem Hindernis eingebremst. Voraussetzung dafür
ist ein fremdansteuerbares Fahrzeug-Bremssystem • EPB mit direkt betätigten Kombisätteln
wie z.B. ESP. • EPB Seilzugsystem mit Zentralaktuator
Im Stadtgeschwindigkeitsbereich über 30 km/h wird • EPB mit direkt betätigten DuoServo-Feststell-
der Fahrer vom System unterstützt, wenn er das bremsen
Bremspedal betätigt. Das System steuert unabhängig Zukünftig wird die Ansteuerung der Aktuatoren in
den vom Fahrer eingesteuerten Bremsdruck, die das Steuergerät des elektronischen Bremssystems
Fahrzeugverzögerung ein, die zur Vermeidung einer (ESP) integriert.
Kollision erforderlich ist [20]. Die notwendigen Komponenten einer EPB in allen
Abstandsregelsystem (Adaptive Cruise Control) Varianten sind:
Das radarbasierte Abstandsregelsystem Adaptive • Elektronisches Steuergerät
Cruise Control ACC (auch „intelligenter Tempomat“ • Bedienelement
genannt) passt die Geschwindigkeit des eigenen • Motor-/Getriebeeinheit
Fahrzeuges automatisch an den Verkehrsfluss an und • Mechanische Schnittstelle zur konventionellen
hält einen zeitlich vorgegebenen Abstand zum vo- Bremse
7.2 Bremssysteme 525

EPB mit direkt betätigten Kombisätteln Spindel Prinzip und ist selbsthemmend ausgeführt, so
Die EPB-Aktuatorik ist direkt mit dem Kombisattel dass die Feststellbremsen ohne weitere Zufuhr von
verbunden, der sowohl die hydraulische Betriebs- (elektrischer) Energie in Betriebs- oder Lösestellung
brems- als auch die elektromechanische Parkbrems- gehalten werden. Als Zwei-Seil-Aktuator arbeitet
funktion realisiert. Die Ansteuerung erfolgt üblicher- diese EPB nach dem Reaktionsprinzip; auf beide
weise über ein zentrales Steuergerät. Mit einem Bremsseile wirken gleiche Kräfte und die Aktuator-
derartigen System ist die EPB Funktionalität kosten- Gehäusebefestigung bleibt weitgehend kraftfrei. Die
günstig darstellbar. Begrenzt wird die Verwendbar- Zuspannkraft im Betriebs- sowie das Belaglüftspiel
keit durch die prinzipbedingt limitierte Zuspann- der Bremse im Lösefall werden durch eine Kraft/
bzw. Bremskraft, die mit dem Kombisattel aufge- Weg-Sensorik überwacht. Optional ist eine manuelle
bracht werden kann. Notlöseeinrichtung vorhanden mit deren Hilfe die
Die EPB Aktuatoren bestehen bei diesem System im Parkbremse bei Ausfall der Spannungsversorgung
Wesentlichen aus je einem Elektromotor, einem von gelöst werden kann.
diesem angetriebenen hochübersetzendem Getriebe
und einer Mutter-Spindeleinheit. Diese wandelt die EPB mit direkt betätigten DuoServo-
Abtriebsdrehbewegung des Getriebes in eine Zu- Feststellbremsen
spannbewegung des Bremskolbens um. Das die Das Feststellbrems-System „EPB DuoServo-integ-
elektromechanischen Komponenten des Aktuators riert“ ist ein teilintegriertes Bremssystem an der
aufnehmende Gehäuse ist fest mit dem Bremssattel Hinterachse. Bei diesem System ist die hydraulische
verbunden. Optional ist auch bei diesem System eine Betriebsbremse baulich von der Feststellbremse
mechanische Löseeinrichtung integriert. getrennt. Die DuoServo-Feststellbremsen werden
direkt – ohne Bremsseil – von jeweils einem entspre-
EPB Seilzugsystem mit Zentralaktuator chenden elektromechanischen Aktuator betätigt.
Eine zentral angeordnete Einheit bestehend aus Steu- Diese sind am Radträger verbaut und werden durch
ergerät und Elektromechanik betätigt über Bowden- ein zentral angeordnetes elektronisches Steuergerät
züge die konventionellen Feststellbremsen an der angesteuert.
Hinterachse, Kombisattel oder DuoServo Bremse Bedingt durch die große Selbstverstärkung der Duo-
(Bild 7.2-52). Servo Bremse wird eine große Feststellbremskraft mit
Diese Systemarchitektur weist einen hohen Grad an vergleichsweise kleinen Aktuatoren erzeugt. Damit
Flexibilität bei der Fahrzeugintegration auf. Der eignet sich dieses System insbesondere für den Ein-
Einsatz konventioneller Feststellbremsen macht den satz in schweren Fahrzeugen oder Fahrzeugen (insbe-
optionalen Verbau einer EPB einfach möglich. Die sondere Sportwagen), die Festsättel an der Hinterach-
Platzanforderungen für den Einbau von Ansteuerung se aufweisen.
(EPB-Taster), zentralem Aktuator und Verlegung der Die Aktuatoren der integrierten DuoServo-Bremse
Bremsseile müssen entsprechend berücksicht wer- betätigen die Bremsbacken der Trommelbremse an
den. der Hinterachse direkt. Die Gehäuse der Aktuatoren
Die Betätigungskraft auf die Bremsseile wird beim nehmen die Umfangskräfte der Bremsbacken der
Zentralaktuator durch einen Elektromotor aufge- Trommelbremse im Betriebsfall auf und leiten diese
bracht, der über ein Untersetzungsgetriebe auf eine an den Radträger weiter (siehe Bild 7.2-53). Ein
Keilwelle wirkt. Diese arbeitet nach dem Mutter/ Aktuator dieses Systems besteht aus einem Elektro-

Funktions- Fehler-
EPB-Taster lampe lampe

Kombisattel

optional:
Bremsseil
Kupplungssignal

Zentral-
EPB ECU Aktuator
CAN/
FlexRay Bremsseil
EPB ECU 12 V

Kombisattel Bild 7.2-52 Systemlayout


EPB Seilzugsystem mit
Zentralaktuator
526 7 Fahrwerk

Funktions- Fehler-
EPB-Taster lampe lampe

DuoServo
Aktuator

optional:
Kupplungssignal

ESC ECU

CAN/
FlexRay
EPB ECU 12 V
DuoServo
Aktuator

Bild 7.2-53 Systemlayout


EPB DuoServo-integriert

motor, der über ein Untersetzungs- und ein Schne- sung als auch in der Radschlupfregelung ein von der
ckengetriebe eine Gewindespindel betätigt, das in Betätigung (Bremspedal) entkoppeltes und dadurch
Wirkverbindung mit den Bremsbacken steht. Die rückwirkungsfreies Bremssystem. Es besteht aus den
Gewindespindel ist selbsthemmend und verbleibt Baugruppen (Bild 7.2-54):
ohne weitere Energiezufuhr in Betriebs- bzw. Löse- • Bremspedalgefühl-Simulator (elektronisches
stellung. Zur Überwachung des Lüftspiels der Brem- Bremspedal mit applizierbarem Bremsgefühlge-
se, sowie zur Regelung der Zuspannkraft weist der ber)
Aktuator einen Drehgeber am Motor auf, mit dem • hydraulisch/elektronische Regeleinheit (HECU =
indirekt der Betätigungsweg der Spindel erfasst wird. hydraulic electronic control unit)
Optional ist eine mechanische Notlöseeinrichtung • vier hydraulischen Radbremsen
vorhanden, mit deren Hilfe bei Ausfall der Span-
nungsversorgung die Bremse in Lösestellung ge- Aus dem gemessenen Pedalwegsignal und dem im
bracht werden kann. Simulator aufgebauten Druck wird die gewünschte
Verzögerung abgeleitet. Der mit Magnetventil ab-
sperrbare Simulator nimmt einen Teil des Haupt-
7.2.6 Neue und zukünftige zylindervolumens auf, um gemeinsam mit einem
Systemarchitekturen Federpaket die Bremspedalcharakteristik darzustellen
(Bild 7.2-55). Weg- und Drucksignale werden über
7.2.6.1 Elektrohydraulisches Bremssystem (EHB)
Kabel („by-wire“) an den elektronischen Regler
Die elektrohydraulische Bremse ist ein Fremdkraft- geleitet und mit weiteren, den Fahrzustand und
bremssystem [12]. Die wesentlichen Merkmale sind: Fremdbremseingriffe beschreibenden Sensorsignalen
geringe Baugröße, zeitoptimiertes Ansprechverhalten (z.B.: Raddrehzahlen, Lenkwinkel, Gierrate, Querbe-
des Bremssystems und modellierbare Bremspedal- schleunigung) verarbeitet. Der elektronische Regler
Charakteristik. Die EHB ist sowohl bei Normalbrem- errechnet daraus die Vorgaben für – hinsichtlich

Betätigung Übertragung (EHB) Radbremsen


redundant externe Signale

Signal-
Sensoren ECU management VA
Brems- elektronisch hydraulische
Fußkraft pedal Energie- Radbremsen
Simulator
HCU management 4x
hydraulisch
hydraulisch
Quelle:
Rückfallhydraulik Motor/Pumpe/Speicher

hydraulische ECU Elektronische Regeleinheit Bild 7.2-54 Elektrohydrau-


Signale
Energie HCU Hydraulische Regeleinheit
lisches Bremssystem
7.2 Bremssysteme 527

THz mit Simulator


HCU
M

ECU
CAN

VL VR HR HL Bild 7.2-55 Schaltbild EHB


mit schematischer Darstellung
der Systemkomponenten

Bremsverhalten und Fahrstabilität optimale – radin- Zweite Ebene: Bei einer Störung der „brake-by-wire
dividuelle Bremsdrücke. Funktion (z.B. wegen eines Ausfalls der elektrischen
Versorgt aus einem Druckspeicher wird mit Hilfe der Energieversorgung) bleiben die hydraulischen Verbin-
hydraulischen Regeleinheit die Bremsenergie ent- dungen des Hauptzylinders zu den beiden Radbrems-
sprechend dieser Vorgabe erzeugt. Die Vorladung des kreisen erhalten und es wird ohne Verstärkung propor-
Druckspeichers erfolgt durch eine integrierte Motor- tional zur aufgebrachten Fußkraft in alle vier Radbrem-
Pumpen-Einheit. sen eingebremst. Die Simulatorfunktion ist dabei
Beim Bremsen wird die hydraulische Verbindung abgeschaltet.
zwischen THz und hydraulischer Regeleinheit unter- Die gesetzlich geforderte hydraulische Zweikreisigkeit
brochen. Der Bremsdruck im Rad wird aus der vorge- des Bremssystems bleibt trotz Teilausfall erhalten.
ladenen Speichereinheit über Regelventile eingestellt.
Neben den bereits genannten Vorteilen ist das System 7.2.6.2 Regeneratives Bremsen
geräuscharm, zeigt ein besseres Crashverhalten und
ermöglicht eine verbesserte Pedalergonomie. Die Bremsenergierückgewinnung (Rekuperation) bietet
Vorteile für den Fahrzeughersteller sind: noch Potenzial im Hinblick auf verbrauchsoptimiertes
Fahren (siehe Einsatz in Hybridfahrzeugen, Kap.
• Höhere Bremsdynamik (Druckspeichersystem) 4.3.3). Ziel der Rekuperation ist es, die Bewegungs-
• Verbessertes Packaging und vereinfachte Montage energie des Fahrzeuges nicht ausschließlich – wie beim
durch Wegfall des Vakuumbremskraftverstärkers hydraulischen Bremssystem – in thermische Energie
im Spritzwandbereich umzusetzen und an die Umgebung abzugeben. Viel-
• Verwendung einheitlicher Baugruppen für unter- mehr soll eine Energieform erzeugt werden, die sich
schiedliche Fahrzeugvarianten speichern lässt und direkt oder indirekt wieder als
• Einfache Realisierung von Fremdbremseingriffen Antriebsenergie nutzbar wird. Im Antriebsstrang integ-
über externe Signale riert bietet ein Kurbelwellen- oder Getriebe-Starter-
• Vakuumunabhängig, daher optimale Eignung für Generator (siehe auch Kap. 5.7) die Möglichkeit zur
saugverlustoptimierte Verbrennungsmotoren Unterstützung der Bremsfunktion, Bild 7.2-57.
• Einfache Vernetzbarkeit mit zukünftigen Ver- Zur Rückgewinnung der Bremsenergie ist ein speziel-
kehrsleitsystemen les Bremssystem notwendig (Bild 7.2-56). Dieses
Der Aufbau der Regeleinheit ermöglicht die Integra- regelt bei jeder Bremsbetätigung den Grad der Ener-
tion aller heutigen Bremseingriffs- und Radschlupf- gierückgewinnung und die Notwendigkeit zur Nut-
Regelfunktionen (z.B. ABS, EBV, ASR, ESP, BA, zung der konventionellen Reibungsbremse in Abhän-
ACC, . . .) ohne weiteren Hardware-Aufwand (ABS: gigkeit vom Fahrerwunsch. Erforderlich ist daher der
Anti Blockier System, EBV: Elektronische Brems- Einsatz einer entsprechenden Betätigungseinheit zur
kraftverteilung, ASR: Antriebs-Schlupf-Regelung, Erfassung und Umsetzung des Fahrerbremswunsches.
ESP: Elektronisches-Stabilitäts-Programm, BA: Außerdem ist für die Synthese (blending) von klassi-
Bremsassistent, ACC: Abstands-Regel-Tempomat). schem Reibungsbremsmoment und Generatorbrems-
Bei Störungen des Systems stehen zwei Rückfall- moment eine entsprechend komplexe Regelung
ebenen zur Verfügung: notwendig, siehe dazu auch Kapitel 7.2.2.4. Sollen
Erste Ebene: Bei einem Ausfall des Hochdruck- die Grundkomponenten und Baugruppen der konven-
Speichers bleibt die „brake-by-wire“ Funktion wei- tionellen Bremse weitgehend beibehalten werden, ist
terhin erhalten, die Bremsen werden jedoch aus- die Verwendung eines „SBA-Systems“ (Simulator
schließlich von der Pumpe versorgt. Brake Actuation) sinnvoll. Dieses Bremsbetätigungs-
528 7 Fahrwerk

Pedalwinkelsensor Betätigungs-Regeleinheit

Relais
Perdalsimulator
Simulator
mit Abschalteinheit

Pedal und Halter ESP-Einheit


Vakuumpumpe

Bild 7.2-56 Regeneratives Bremssystem inklusive Betätigungseinheit, Simulatoreinheit, ESP-Modulator und


Vakuumpumpe

system basiert auf bewährten Komponenten der gewünschte und über das Bremspedal eingesteuerte
hydraulischen Bremse und ermöglicht viele Zusatz- Abbremsung zu erreichen, wird der fehlende Anteil
funktionen der Brake-by-Wire-Technologie. über die hydraulische Reibungsbremse ergänzt. Je
größer das bereitgestellte Bremsmoment des Genera-
Das Prinzip: tors ist, desto geringer ist der Anteil der Reibungs-
Zunächst übernimmt die Generatorfunktion des bremse. Für die situationsgerechte Verteilung der
Hybridantriebs das Bremsen. Dabei wird die Brems- Bremsenergie auf Generator und Reibungsbremse
energie in Strom umgewandelt, der die Batterie lädt. sorgt eine Elektronik. Beim Beschleunigen ist das
Erst wenn diese Bremswirkung nicht ausreicht, wird ISAD-System darüber hinaus in der Lage über einen
über das regenerative Bremssystem die konventionel- von der Batterie-Ladung begrenzten Zeitraum die
le Bremse aktiviert. Der Bremsbetätigungs-Simulator Antriebsleistung des Verbrennungsmotors mit einem
SBA vermittelt dem Fahrer jederzeit ein optimales zusätzlichen Antriebsmoment zu unterstützen.
Pedalgefühl durch einen Pedalgefühlsimulator. Der Damit bietet ein regeneratives Bremssystem wertvol-
Bremsbefehl wird vom Pedalwinkelsensor erkannt, les Potenzial zur Erfüllung der Verordnung der euro-
die Hydraulikeinheit baut dann „by-wire“ den zur päischen Automobilindustrie zur Senkung der CO2-
Verzögerung erforderlichen Bremsdruck auf. Emmissionen.
Das System ist in allen Hybrid-Fahrzeugen sowie für
Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge einsetzbar. 7.2.6.3 Elektrisch-Hydraulische Combi Bremse
(EHCB)
Kurbelwellen-Starter-Generator Systeme
Das System (z.B. Integrated Starter Alternator Dam- Als EHCB wird ein System bezeichnet, bei dem die
per, ISAD) kombiniert in einer leistungsfähigen Zugspannkräfte für die Reibungsbremse an der Vor-
elektrischen Maschine die Generator- und Anlasser- derachse hydraulisch und an der Hinterachse elekt-
funktion. Abhängig vom Batterie-Ladezustand wird romechanisch erzeugt werden [13], Bild 7.2-58/59.
das im Generatorbetrieb erzeugte Bremsmoment als Dabei ermöglicht die elektromechanische Hinter-
elektrische Energie der Batterie zugeführt. Reicht das achsbremse die Betriebs-Brems- und die Feststell-
Generatormoment nicht aus, um die vom Fahrer Brems-Funktion in einem kompakten Bauteil. Eine
integrierte Arretiervorrichtung sichert die Feststell-
Brems-Funktion auch bei ausgeschalteter Zündung.
Je nach Bremskreisaufteilung (Kapitel 7.2.1.2) wird
die Vorderachse über einen Hauptzylinder oder
Tandem-Hauptzylinder mit Bremsdruck versorgt. Die
Bremskraft der Hinterräder wird abhängig von Brems-
Pedal-Weg und/oder -Kraft elektronisch geregelt. Das
System bietet folgende Vorteile:
• Kleiner dimensionierte Betätigung (Bremskraft-
verstärker + Tandemhauptzylinder)
• Größen- und Komponenten-reduzierte elektro-
Betriebsbremssystem
Regeneratives Bremssystem
nisch/hydraulische Regeleinheit
• Reduzierter Erstmontage- und Wartungsaufwand
Bild 7.2-57 Regeneratives Bremssystem im Fahrzeug • Kein Hinterachs-Restbremsmoment
7.2 Bremssysteme 529

Betätigung Übertragung (EBS) Radbremsen

Motorvakuum redundant externe Signale


HA
intelligente
Sensoren Signal- Radbremsen

Bremspedal
ECU management 2x
Vakuum elektronisch
Fußkraft Energie-
Bremskraft- THz VA
verstärker HCU management hydraulische
hydraulisch Radbremsen
Quelle: 2x
Quelle:
Motor/Pumpe Batterie

ECU Elektronische Regeleinheit


hydraulische elektrische Vakuum Signale HCU Hydraulische Regeleinheit Bild 7.2-58 Elektrisch-
Energie Energie Energie
Hydraulische Combi Bremse

• Minimierte ABS-Pedalrückmeldung aus dem Bremsstabilitätssystem ESP initiierten Motor-


• Niedriges Geräuschniveau eingriff während der Traktions- bzw. Gierratenrege-
• Nutzung von vorhandener, nicht-redundanter lung.
12 V-Bordnetzstruktur Mit der Evolution der Einzelsysteme in Richtung
computergesteuerter Fremdkraftsysteme ergeben sich
Assistenz-Funktionen wie elektronische Bremskraft-
neue Ansätze bei der Chassissystementwicklung.
verteilung, Berg-Anfahr-Hilfe (Hill Holder) und
Dies gilt einerseits vor dem Hintergrund zusätzliche,
elektrische Parkbremse sind durch Software-Er-
über die Einzelsystemfunktionen hinausgehende
weiterung realisierbar.
Gesamtsystemfunktionen zu erschließen, anderseits
aber auch vor dem Hintergrund ungewollte gegensei-
7.2.6.4 Vernetztes Chassis
tige Beeinflussung der auf die gleichen Fahrzustands-
In heutigen Fahrzeugen wirkt der Fahrer mit seinen größen wirkenden Regelkreise auszuschließen [17].
Bedienelementen Lenkrad, Gaspedal und Bremspedal Als Beispiel sei hier das Gierverhalten genannt, das
direkt auf die jeweiligen Systeme Lenkung, Antrieb von allen drei Chassissystemen, Lenkung, Bremse
und Bremse [14], Bild 7.2-60. Eine bedarfsgerechte, und Fahrwerk sowie darüber hinaus auch vom An-
den Fahrerwunsch interpretierende Kombinationsrege- trieb (speziell bei regelbaren Zwischengetrieben)
lung existiert bisher nur in Ansätzen, wie z.B. bei dem beeinflusst werden kann. Die weitere Optimierung

Hydr.-Elektronische Betätigung Lenkwinkel-


Regeleinheit mit integr. sensor
Drucksensoren

EPB Schalter

Hydr. Vorderachs- Raddrehzahl- Sensor cluster


Bremssattel (2×) sensoren (4×) Gierrate, Quer- und
Längsbeschleunigung

Bild 7.2-59 Elektrisch-


Hydraulische Combi Bremse,
Komponenten im Fahrzeug
530 7 Fahrwerk

Global Chassis Control (GCC) zielt bei gegebener Konfiguration den das Fahrzeug ungebremst während der Zeit
von elektronischen regelbaren Chassis-Teilsystemen zurücklegt, die der Fahrer zum Reagieren benötigt,
(ESP, CDC, EAS, EPAS, ESAS, 4WS, AWS, ...) unter den jeweils
gegebenen Fahrbedingungen auf dem Schwellweg, der in der Übergangsphase vom
die globale Optimierung von Zeitpunkt der Pedalberührung bis zur vollen Ausbil-
→ Aktiver Sicherheit dung der Bremsung zurückgelegt wird und dem sich
→ Fahrkomfort
→ Fahrfreude
daran anschließenden Bremsweg bis zum Stillstand,
Bild 7.2-61.
Signifikante Anhaltewegverkürzungen kann man nur
erreichen, wenn die beteiligten Komponenten und
Prozesse in einem ganzheitlichen Ansatz gemeinsam
optimiert werden. Durch den sinnvollen Zusammen-
schluss der technischen Möglichkeiten und des
Know-Hows auf der Reifen- (siehe Kap. 7.3),
ESP Elektronisches Stabilitätsprogramm Bremsen- und Fahrwerkseite (Kap. 7.4) konnte so-
ARP Active Rollover Protection
CDC Continuous Damping Control wohl der Reaktions- als auch der Bremsweg in einer
EAS Electronic Air Suspension Notbremssituation in der Größenordnung von 10 –
EPAS Electronic Power Assisted Steering
ESAS Electronic Steer Assisted Steering 15 % gegenüber dem heutigen Stand reduziert wer-
4WS 4-Rad Lenkung
AWS Aktive Wankstabilisierung den [16].
Bild 7.2-60 Beispiel für ein vernetztes Chassis Sys- Erweitertes Elektronisches Stabilitätsprogramm
tem: Global Chassis Control GCC von Continental ESP II
des Chassis mit fremdeingriffsfähigen Systemen Aufbauend auf das heutige Fahrdynamikregelsystem
bedingt folglich eine gesamtheitliche Betrachtung der ESP lässt sich am Beispiel einer Notbremsung auf
Wirkkette. Fahrbahnen mit unterschiedlichen Reibwerten (μ-
Bei der Entwicklung von Global Chassis Control ist zu Split) der Vorteil der Vernetzung von Bremssystem
beachten, dass eine hohe Abhängigkeit zwischen und Lenkung eindrucksvoll darstellen.
Funktionalität, Softwarearchitektur und E/E-Archi- Steht im vernetzten System zusätzlich die aktive
tektur besteht [15]. Dabei steht insbesondere eine klare Lenkung zur Verfügung (Bild 7.2-62), kann das von
Funktions- und Gerätehierarchie mit definierten, ein- den unterschiedlichen Bremskräften herrührende
heitlichen Schnittstellen im Vordergrund. Global Giermoment durch ein computergesteuertes Gegen-
Chassis Control erreicht ohne entsprechende Struktur lenken kompensiert werden. Der Fahrer kann das
sonst schnell einen Komplexitätsgrad, der einen nicht Lenkrad weitgehend gerade halten (Geradeausbrem-
vertretbaren Entwicklungs- und Applikationsaufwand sung). Die Lenkradstellung entspricht also dem
nach sich zieht. Folgende Szenarien zeigen exemp- gewünschten Fahrzeugkurs. Die schnelle Giermo-
larisch die Vorteile eines solchen Vernetzungsansatzes. mentenkompensation durch die Lenkung lässt gleich-
zeitig einen nahezu unverzögerten Bremsdruckaufbau
Gesamtbetrachtung Anhalteweg an den Rädern und eine modifizierte Hinterachs-
Der Anhalteweg eines Fahrzeugs bei einer Notbrem- Bremsdruckregelung zu. Der Bremsweg auf μ-Split
sung setzt sich zusammen aus dem Reaktionsweg, reduziert sich dadurch erheblich.

Ausgangsgeschwindigkeit Pedalkontakt Volle Bremswirkung Stillstand

Reaktionsweg Schwellweg Bremsweg

Gefahr Der Reaktionweg beginnt mit Mit dem Berühren des Beim Erreichen der vollen Bremswirkung
dem Auftreten der Gefahr. Bremspedals beginnt der beginnt der Bremsweg.
Schwellweg.
Nach der Wahrnehmung Das Antiblockiersystem regelt der Schlupf
erfolgt die Entscheidung, eine Der Bremsdruck wird der Räder.
Vollbremsung durchzuführen. aufgebaut,
die Verzögerung beginnt. Der Bremsweg wird bis zum Stillstand
Der Fuß wird auf das gemessen.
Bremspedal gesetzt. Der Schwellweg dauert
bis zur vollen Ausbildung
der Bremswirkung an.

Bild 7.2-61 Phasen des Anhalteweges


7.2 Bremssysteme 531

Hydr.-Elektronische Betätigung Lenkwinkelsensor


Regeleinheit mit integr.
Drucksensoren

GMK

Antriebsstrang-
management
Schnittstelle

V
EB

Verstell-
dämpfer
(4×)

sonstige Fahrwerk-
Aktuatoren
Überlagerungslenkung ESAS
(Electric Steer Assisted Steering)
Raddrehzahl- Sensor Cluster
sensoren (4×)
Bild 7.2-62 ESP II – ESP
kombiniert mit aktivem
Lenk- und optionalem
Fahrwerkseingriff

Betätigung Übertragung (EHB) Radbremsen

redundant externe Signale


Signal-
Bremspedal

Sensoren management intelligente


elektronisch Radbremsen
Fußkraft ECU Energie-
Simulator 4x
management
mechanisch hydraulisch
Quelle:
Batterie 1 + 2

elektrische
Signale ECU Elektronische Regeleinheit
Bild 7.2-63 Elektro-
Energie mechanisches Bremssystem

7.2.6.5 Elektromechanisches Bremssystem (EMB) Die Betätigung besteht aus einem elektronischen
Bremspedal, welches als Bestandteil eines verstellba-
Die elektromechanische Bremse auch „trockenes ren Pedalmoduls ausgeführt werden kann, das neben
brake-by-wire“ genannt arbeitet ohne Bremsflüssig- dem Brems- auch das Gaspedal und die zentrale
keit. Elektronik enthält. Das elektronische Bremspedal setzt
Das System besteht aus einer Bremsbetätigung mit sich zusammen aus dem Pedalgefühlsimulator und
integrierter Steuerelektronik und vier elektromechani- Sensoren zur Fahrerwunscherfassung. Die Pedalweg-
schen Radbremsmodulen. Die Übertragung von bzw. Pedalkraft-Signale werden von der zentralen
Bremssignalen und Bremsenergie erfolgt rein elekt- Elektronik mit weiteren, den Fahrzustand und Fremd-
risch/elektronisch, Bild 7.2-63. Wie bei der EHB bremseingriffe beschreibenden externen Signalen
(Elektro-Hydraulische Bremse) ist die Betätigung (z.B.: Raddrehzahlen, Gierrate, Querbeschleunigung)
rückwirkungsfrei durch die Entkopplung des Pedals verarbeitet und in hinsichtlich Bremsverhalten und
(Sollwertvorgabe) von den Bremsen. Zur Sicherstel- Fahrstabilität optimale radindividuelle Bremsenzu-
lung der Zweikreisigkeit wird ein redundantes Signal- spannkräfte umgerechnet. Die entsprechenden elektri-
und Energienetz benötigt. Wegen der für die Vorder- schen Informationen werden über ein redundantes
achsbremsung benötigten höheren Leistung, ist eine Bussystem (by wire) an die Radbremsmodule übertra-
12 V-Architektur nicht mehr ausreichend. Die oben gen. Jedes der elektromechanischen Radbremsmodule
genannten Anforderungen bedingen neue E/E-Archi- besteht aus einer Radbremsen-ECU und einem elekt-
tekturen (Kapitel 8.1) [19]. romechanischen Aktuator (Motor-Getriebeeinheit).
532 7 Fahrwerk

Wie bei der EHCB wird die Brems-Funktion durch Hilfsenergie „Motorvakuum“ immer weniger zur
eine integrierte Arretiervorrichtung sichergestellt. Die Verfügung steht. D.h. für die Unterstützung des
Ansteuerung erfolgt über einen Taster und eine rein Fahrers druch Bremskraftversträrkung ist entweder
elektrische Signalankopplung. das fehlende Vakuum durch entsprechende mecha-
Bei Radschlupf-Regelungsvorgängen (z.B. durch nisch oder elektrisch angetriebene Pumpen zu erzeu-
ABS, ASR, ESP) ist die Bremsmomenten-Modu- gen, oder eine alternative Hilfsenergiequelle bereitzu-
lation dem vom Fahrer eingesteuerten Bremsen- stellen. Beispiele hierzu wären Hydrauliksysteme mit
wunsch übergeordnet. Druckspeicher oder elektromechanische Verstärker-
Das System hat gegenüber hydraulischen Bremssys- lösungen. Zudem besteht die Notwendigkeit die heute
temen folgende Vorteile: ausschließlich hydraulischen Bremssysteme durch
• Höhere Bremsdynamik Systeme zu ersetzen, die an die Besonderheiten von
• Optimales Brems- und Stabilitätsverhalten Hybrid- bzw. Elektrofahrzeugen angepasst sind.
• Einstellbare Bremspedalcharakteristik Außerdem muss das Zusammenwirken von klassi-
• Keine Betriebsgeräusche scher Reibungsbremse und rekuperativer Generator-
• Verbesserte Ergonomie durch verstellbares Pe- bremse mit innovativen mechatronischen Ansätzen
dalmodul (By-Wire-Systeme) realisiert werden, um die kineti-
• Verbesserte Umweltverträglichkeit und Verringe- sche Energie des Fahrzeugs zurückzugewinnen und
rung der Brandgefahr bei Unfällen durch Entfall diese später als Antriebsenergie nutzen zu können
der brennbaren Bremsflüssigkeit (siehe Kapitel 7.2.2.4). Dabei sollen heute übliche
• Keine Restbremsmomente Bremspedalcharakteristiken (Pedalgefühl) erhalten
• Besseres Crashverhalten bleiben. Auf dem Weg zur rein elektromechanischen
Betriebsbremse mit den damit einhergehenden hohen
EPB: Betätigungsmagnet elektrischen Leistungsanforderungen ist eine Kombi-
mit Durchgriff für nation aus hydraulischem Bremssystem an der Vor-
Notentriegelung
derachse und elektromechanischen Bremsen an der
Rot/Rot-Modul: Hinterachse inklusive Feststellbremsfunktion denk-
Planetengetriebe bar.
Durch die steigenden Anforderungen hinsichtlich
Rot/Trans-Modul: Verkehrssicherheit werden aktive und passive Fahr-
Kugelgewindetrieb
zeugsicherheitssystemen zunehmend miteinander ver-
netzt. Dabei spielt das effiziente Zusammenwirken
Rad-ECU von Sensoren und Algorithmen zur Umfelderkennung
Motor-Modul und Bremsdynamik eine größer werdende Rolle.
Reibungsbremse
ähnlich FNc-Al
Literatur
Bild 7.2-64 Schnittbild der EMB (hier Hinterachs- [1] Breuer, B.; Bill, K.: Bremsenhandbuch. Wiesbaden: Vieweg
bremse) Verlag, 3. Auflage 2006
[2] Strien, H.: Auslegung und Berechnung von Pkw-Bremsanlagen.
Vorteile für den Fahrzeughersteller sind: Selbstverlag Alfred Teves GmbH, Frankfurt/Main
• Geringster Packaging- und Montageaufwand [3] Trutschel, R.: Analytische und experimentelle Untersuchung der
Mensch-Maschine-Schnittstellen von Pkw Bremsanlagen, Uni-
(„plug & play“ anstelle „fill and bleed“) versitätsverlag Ilmenau 2007
• Geringe Anzahl an Komponenten [4] Oehl, K.-H.; Paul, H.-G.: Bremsbeläge für Straßenfahrzeuge.
• Vakuumunabhängig, daher optimale Eignung für Bibliothek der Technik Band 49. Verlag Moderne Industrie,
Landsberg/Lech 1990
saugverlustoptimierte Verbrennungsmotoren
[5] Brecht, J.: Materialeigenschaften von Reibwerkstoffen. 23. In-
• Darstellbarkeit der Schnittstelle zu Assistenzsys- ternationales μ-Symposium, 24./25. 10. 2003 Bad Neuenahr
temen (z.B. ACC stop & go, Einparkhilfe usw.) [6] Fennel, H.; Gies, P.; Sticher, T.: Strategien zur Software-Ent-
mit geringem Aufwand wicklung für Kfz-Regelsysteme, ATZ Automobiltechnische
• Einfache Vernetzbarkeit mit zukünftigen Ver- Zeitschrift, Heft 1, Januar 2002
[7] Rieth, P.: Elektronisches Stabilitätsprogramm, Die Bremse, die
kehrsleitsystemen lenkt. Bibliothek der Technik Band 223, Verlag Moderne Indust-
Nachteilig bei der EMB ist, dass aus Sicherheits- rie, Landsberg/Lech 2001
[8] Fennel, H.: ABS plus und ESP – Ein Konzept zur Beherrschung
gründen ein redundantes Signal- und Energienetz
der Fahrdynamik, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, Heft 4,
(z.B. zwei Batterien) vorgesehen werden muss, da 1998
keine hydraulische, mit Muskelkraft betätigbare [9] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Kraftfahrzeugtechnisches Ta-
Rückfallebene existiert, schenbuch. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
[10] Weisse, J.: Gibt es Verbesserungspotenzial für den Bremsassis-
7.2.6.6 Ausblick tenten? 23. Internationales μ-Symposium, 24./25. 10. 2003 Bad
Neuenahr
Die Bestrebungen nach Verbrauchsoptimierungen der [11] Fennel, H.: Technology Solutions to Vehicle Rollovers. An
Antriebsaggregate führen dazu, dass die bisherige Integrated Strategy for Active and Passive Rollover Protection,
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 533

Vortrag, SAE Government/Industry Meeting, Washington, 13.– Gleitschutz oder den Einsatz für Schienenfahrzeuge,
15. Mai 2002
geriet in Vergessenheit.
[12] v. Albrichsfeld, C.; Eckert, A.: EHB als technologischer Motor
für die Weiterentwicklung der hydraulischen Bremse. Fachta- Im Jahre 1888 wird der Luftreifen durch John Boyd
gung Hydraulik im Kraftfahrzeug, Haus der Technik, Essen, Dunlop zum zweiten Mal erfunden, da „vorbekannt“,
2003 erhält er nur in England ein Patent. Inzwischen mach-
[13] Schmittner, B.; Rieth, P.: Das Hybrid-Bremssystem – Die Markt-
einführung der elektromechanischen Bremse EMB. brems.tech
te das Fahrrad eine stürmische Entwicklung durch;
2004, 9./10. 12. 2004 München ausgehend vom eisenbereiften „Knochenschüttler“
[14] Rieth, P.; Remfrey, J.: APIA – the way to the accident and injury Draisine war die Einführung des Luftreifens nach
preventing vehicle, crash.tech 2005, 10 May 2005 Nuremberg dem zwischenzeitlichen Verwendung von Vollgum-
[15] Semmler, S.; Rieth, P.: 13. Aachener Kolloquium „Fahrzeug-
und Motorentechnik“, Global Chassis Control – Das vernetzte
mi- bzw. Hohlraumreifen ein entscheidender Schritt
Fahrwerk, 04. Oktober 2004 – 06. Oktober 2004 zu erhöhtem Komfort bei reduziertem Rollwider-
[16] Huinink, H.; Rieth, P.; Becker, A.: Maßnahmen zur Verkürzung stand. Aufbauend auf die Erfahrungen mit den
des Anhaltewegs in Notbremssituationen – Das „30 m Auto”, „Pneumatics“ für das Fahrrad nahmen die Reifenher-
VDA Technischer Kongress 2001, 26. – 27. März 2001 Bad
Homburg
steller die Weiterentwicklung für die deutlichen
[17] Kelling, E.; Remfrey, J.; Rieth, P.; Semmler, S.: Integrations- höheren Ansprüche an Automobilen auf. Die Reifen-
trends in der Fahrzeugelektronik am Beispiel Global Chassis hersteller mussten die skeptischen Autopioniere von
Control, 7. Symposium zum Thema AAET, 23. Februar 2006 den Vorteilen des Luftreifens durch eigene Versuche
Braunschweig
[18] Schumann, M.: Analysenmethode zur Beurteilung des ungleich-
überzeugen.
förmigen Bremsscheibenverschleißes an Pkw-Scheibenbremsen. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, dass sowohl
Fortschr.-Ber. VDI Reihe 12 Nr. 635. Düsseldorf: VDI Verlag Dunlop als auch Thomson bei ihren Erfindungen von
[19] Dausend, U.: Potenzial der Selbstverstärkung und einer nicht einer Entdeckung profitierten, die der amerikanische
konstanten Getriebekennung zur Verminderung der Leistungs- und
Energieaufnahme einer elektromechanischen Radbremse. Fort-
Chemiker Charles Goodyear 1839 gemacht hatte: die
schr.-Ber. VDI Reihe 12 Nr. 621. Düsseldorf: VDI Verlag 2006 Vulkanisation des Kautschuks mit Hilfe des Schwe-
[20] Rieth, P.; Remfrey, J.: Skalierbar und kostenattraktiv – Anforde- fels.
rungen eines durchgängigen Sicherheitskonzepts, VDA Techni- Die Entwicklung des Luftreifens verlief durchaus
scher Kongress 2009, 25. – 26. März 2009, Wolfsburg
nicht geradlinig hin zu unseren heutigen Fahrzeug-
reifen, vielmehr erfolgte sie auf mehreren, teils pa-
rallel verlaufenden, teils sich beeinflussenden Ent-
wicklungsrichtungen der Vulkanisate, Festigkeits-
träger, Reifenstrukturen, Querschnittsverhältnisse
(Bild 7.3-1) usw.
Der entscheidende Schritt auf dem Wege zum Reifen
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten von heute war die Einführung des Radialreifens mit
Vorteilen in der Lebenserwartung, im Rollwider-
stand, Kraftschluss und im Fahrverhalten. Der Radial-
7.3.1 Einführung
reifen ist bei PKW-Reifen weitgehend Standard,
Im Jahre 1845 erhielt der Schotte Robert William bei Nutzfahrzeugreifen schreitet die Radialisierung
Thomson das britische Patent 10990 auf einen elasti- schnell voran. In den Industrienationen werden kaum
schen luftgefüllten Reifen aus gummiertem Gewebe noch Diagonalreifen gefahren. Deshalb wird hier
und Leder. Thomson war seiner Zeit weit voraus, sein auf den Diagonalreifen kein Bezug mehr genom-
Patent, es enthielt bereits Ansätze wie Profilnuten als men.

Jahr
1909 1928 1932 1937 1949 1955 1964 1968 1978 1987 1998 2009

Querschnitts-Verhältnis in %

113 104 102 100 94 87 82 70 60 45 30 25

Bild 7.3-1 Entwicklung der Querschnittsverhältnisse in den Jahren 1909 bis 2009
534 7 Fahrwerk

7.3.2 Reifenaufbau Beim Radialreifen haben die Kordfäden einen Winkel


von etwa 90° zur Laufrichtung. Die für die Funktion
Der Reifen ist ein komplexer Verbundkörper aus dieses Reifens notwendige Steifigkeit wird durch die
Materialien unterschiedlichster physikalischer Eigen- zusätzliche auf der Karkasse liegende Gürtelkon-
schaften (Bild 7.3-2). struktion erreicht.
Der Laufstreifen umgibt die Karkasse an ihrem äuße-
1 ren Umfang und muss die zwischen Kraftfahrzeug
2
3 und Fahrbahn auftretenden Kräfte übertragen. Die
4 Gummimischung und die Profilierung des Laufstrei-
5 fens werden nach den geforderten Eigenschaften
6 ausgelegt. Die abriebfeste Seitenwand schützt die
7 Gewebelagen vor äußeren Einflüssen.
Das Profil der Lauffläche kann sehr unterschiedlich
8 gestaltet werden und hängt stark vom vorgesehenen
9
Einsatz ab. Für Winterreifen zum Beispiel hat sich in
den letzten Jahrzehnten eine deutliche Wandlung vom
grobstolligen Klotzprofil hin zum weichen Hochla-
mellenprofil vollzogen (Bild 7.3-3).

Bild 7.3-2 Reifenaufbau für einen typischen Pkw- 7.3.3 Anforderungen an Reifen
Reifen mit den Bauteilen: (1) Laufstreifen, (2) Unter-
platte, (3) Bandage, (4) Stahlkord Gürtellagen, (5) Im System Fahrzeug – Straße nimmt der Reifen eine
Karkasse, (6) Innenschicht, (7) Seitenwand, (8) hervorragende Rolle ein: Als Bindeglied zwischen
Kernprofil, (9) Kern Fahrbahn und Fahrzeug überträgt er alle Kräfte und
Momente, sein Übertragungsverhalten geht deutlich
Der Radialreifen besteht aus den Hauptbauelementen in Fahrverhalten, Komfort und Sicherheit des Ge-
samtfahrzeugs ein (Kap. 7.1).
• Reifenwulst Die dynamischen Eigenschaften eines Fahrzeuges
• Karkasse werden damit maßgeblich durch das Reifenverhalten
• Gürtel beeinflusst. Radlast, Federung, Dämpfung, Achski-
• Laufstreifen. nematik und Fahrwerkselastizitäten, Motorleistung
Der Reifenwulst gewährleistet den festen Sitz des und Geschwindigkeit sowie die Einsatzart haben
Reifens auf der Felge. Um diese Aufgabe erfüllen zu einen großen Einfluss auf die Auslegung von Reifen.
können, sind in den Reifenwulst ein oder mehrere (Bild 7.3-4).
zugfeste Drahtkerne eingebettet. Beim schlauchlosen Beim pneumatischen Reifen ist das unter Überdruck
Reifen übernimmt der Reifenwulst außerdem die Ab- eingeschlossene Gas oder Gasgemisch das tragende
dichtung des eingeschlossenen Luftvolumens gegen- Element; die Hülle bestimmt nach Form, konstruk-
über der Umgebung. tiver Auslegung und Materialeinsatz weitgehend die
Der eigentliche Festigkeitsträger eines Reifens ist der Gebrauchseigenschaften des Reifens. An die Ge-
Gewebeunterbau oder die Karkasse. Die Karkasse brauchseigenschaften werden von der Kraftfahrzeug-
besteht aus einer oder mehreren Gewebelagen, die am industrie, dem Endverbraucher und in zunehmendem
Kern verankert sind. Maße vom Gesetzgeber Anforderungen gestellt, die

1953 1965 1970 1975 1982


MS14 TS 726 TS 729 TS 730 TS 740

1989 1993 1999 2004 2009


TS 750 TS 770 TS 780 TS 810 TS 830

Bild 7.3-3 Entwicklung der


Profile von Winterreifen;
vom groben Klotz- zum
Hochlamellenprofil
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 535

Komfort
Fahrverhalten
Fahrsicherheit
Wirtschaftlichkeit
Umwelt
mechanisch akustisch Lenk- Fahrstabilität Aquaplaning Kraftschluss Laufleistung Kraftstoff- Vorbeifahr-
präzision (Reifen) verbrauch geräusch
bei Nässe Winter

+
Schnee
+
&
Wasser
Eis

Fahrbahn Reifen Fahrzeug

Bild 7.3-4 Einfluss von Fahrbahn, Reifen und Fahrzeug auf Gebrauchseigenschaften

nicht immer miteinander in idealer Weise vereinbar Tabelle 7.3-1 Einfluss der Reifenparameter auf die
sind. Widerstreitende Anforderungen führen unab- Gebrauchseigenschaften
dingbar zu Zielkonflikten, die die Reifenindustrie
ständig zu lösen hat. Eigenschaft Nassgriff Geräusch Lauf- Roll- Aqua- Qualität
leistung widerstand planing
Reifen werden im harten Wettbewerb nach den
Einfluss
Pflichtenheften der Fahrzeugindustrie und eigenen
ehrgeizigen Vorgaben stetig weiterentwickelt. So Form,Kontur
stellen die heutigen im Markt befindlichen Serienrei-
Profil
fen einen weitgehend ausgewogenen Kompromiss
dar, der allen Belangen der Fahrsicherheit, des Fahr- Material
komforts, des Lenkverhaltens, der Fahrstabilität und
Konstruktion
der Wirtschaftlichkeit, aber auch den verstärkten
Herstellungs-
Forderungen des Umweltschutzes in einer für den prozess
Verbraucher vernünftigen Weise Rechnung trägt.
7.3.3.1 Gebrauchseigenschaften
bestimmter Gebrauchseigenschaften einem zeitlichen
Die Entwicklung von Pkw- und Lkw-Reifen wird Wandel.
entscheidend durch die sich ständig ändernden und Die Entwicklung im Automobilbau in den letzten
darüber hinaus wachsenden Anforderungen der Pkw- Jahrzehnten hat in Verbindung mit dem Ausbau des
und Lkw-Hersteller an die Kraftfahrzeuge beeinflusst. Straßennetzes dazu geführt, dass die Anforderungen
Die Tabelle 7.3-1 zeigt die typischen Abhängigkeiten an Pkw- und Lkw-Reifen gestiegen sind. Dieser An-
von Einflussgrößen der Reifenauslegung auf die stieg wird auch deutlich an der Zahl der Gebrauchs-
Gebrauchseigenschaften: eigenschaften, die heute im Rahmen technischer Rei-
Die Gebrauchseigenschaften beschreiben für den fenfreigaben geprüft werden müssen.
Verbraucher die einzelnen Eigenschaften der Reifen 1960 gab es für Pkw-Reifen im Wesentlichen 10 Kri-
und sind immer in Verbindung mit Fahrzeug, Straße terien, die am Fahrzeug oder auf dem Prüfstand
und Fahrer zu sehen. Zur Ermittlung der Gebrauchs- untersucht und bewertet wurden. Es waren z.T. sehr
eigenschaften werden Versuche durchgeführt, die spezielle Einzelmerkmale, wie z.B. Schienenführig-
sowohl nach subjektiven als auch nach objektiven keit (die Fähigkeit des Reifens, das Fahrzeug ohne
Kriterien bewertet werden. plötzlichen Seitenversatz aus den Straßenbahnschie-
Gebrauchseigenschaften dienen zur Bewertung in nen hinauszuleiten, ein bei den damals gebräuch-
Hinblick auf die jeweilige Kundenerwartung. Da sich lichen Diagonalreifen wichtiges Kriterium), z.T.
die Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit ändern, aber auch sehr pauschale Merkmale wie Kurven-
unterliegen auch die Anforderungen an die Erfüllung fahrt.
536 7 Fahrwerk

Fahrkomfort Lenkverhalten Fahrstabilität Der Vorteil der objektiven Bewertung ist die größere
Federungskomfort ... im 0°-Bereich Geradeausstabilität
Reproduzierbarkeit und die bessere Erklärbarkeit der
Ergebnisse durch eine physikalische Beschreibung
Geräuschkomfort ... im Kurvenstabilität der Phänomene. Kennt man die Physik hinter einer
Proportionalbereich
Reifeneigenschaft, kann eine gezielte Optimierung
Laufruhe ... im Grenzbereich Bremsen in Kurven
bezüglich der gewünschten Eigenschaft erfolgen.
Lenkpräzision Für den Bereich Fahrkomfort wurde durch Messung
der Vertikalbeschleunigung an der Hinterachse eines
Kraftschluss Haltbarkeit Wirtschaftlich- Pkw bei der Überfahrt einer Schlagleiste ein Zusam-
keit/Umwelt menhang zwischen der subjektiven Beurteilung und
Traktion Strukturelle Lebenserwartung den Spitzenwerten der Beschleunigung im Frequenz-
Dauerhaltbarkeit
Bremsweg Hochgeschwindig- Rollwiderstand bereich bis 100 Hz gefunden (Bild 7.3-6).
keitstüchtigkeit Der Winterreifen regt bei der vertikalen Beschleuni-
Rundenzeiten Platzdruck Runderneuerungs- gung die Achse mit seiner Vertikalmode (ca. 75 Hz)
fähigkeit
Aquaplaning Durchschlags- Vorbeifahrgeräusch
wesentlich stärker an als der Sommerreifen, dessen
festigkeit Frequenz um ca. 10 Hz höher liegt. Diese fahrzeug-
spezifische Anregung kann im Fahrzeug als Dröhnen
Bild 7.3-5 Übersicht über Bewertungskriterien von wahrgenommen werden. Beim Sommerreifen ergibt
Pkw-Reifen
sich eine stärkere Anregung der zweiten Vorwärts-/
Rückwärtsmode bei ca. 55 Hz.
In den Jahren danach erwies sich eine feinere Auftei- Durch Kenntnis der Eigenmoden der Reifen und der
lung des Beurteilungsgitters als sinnvoll, um von gemessenen Beschleunigungsfrequenzspektren am
Seiten der Reifenhersteller eine gezielte Optimierung Fahrzeug lassen sich die vorhandenen Frequenzspit-
der Reifen, auch im Hinblick auf besondere fahrzeug- zen erklären und die notwendigen konstruktiven
spezifische Probleme, durchführen zu können. Paral- Änderungen.
lel dazu führte der Übergang vom Diagonal- zum Auch beim Reifenfahrbahngeräusch ist die Wechsel-
Radialreifen zum Wegfall einiger Beurteilungskrite- wirkung mit der Fahrbahn entscheidend. Bild 7.3-7
rien, die für Radialreifen nicht relevant waren. zeigt, dass die Bandbreite der Geräuschentwicklung
Heute hat sich ein Beurteilungskatalog als sinnvoll infolge unterschiedlicher Fahrbahnoberflächen größer
herausgestellt, der mehr als 40 einzelne Beurtei- ist als die Bandbreite durch Reifengrößen und Pro-
lungskriterien enthält, die zu einer Reihe grundsätzli- filausführungen.
cher Zielkonflikten führen. Eine Übersicht liefert Zur Beurteilung des Fahrverhaltens im Proportional-
Bild 7.3-5. Die nachfolgend aufgeführten z.T. allge- bereich, d.h. bei Querbeschleunigungen bis zu 0.4 g,
mein bekannten, fahrdynamischen Beurteilungskrite- lassen sich zusätzlich zur subjektiven Beurteilung die
rien (Kap. 7.5) werden dabei unter rein reifenspezifi- Übertragungsfunktionen eines Fahrzeugs heranzie-
schen Gesichtspunkten betrachtet, d.h. es wird nur der hen, wobei die Übertragungsfunktionen durch unter-
Einfluss des Reifens auf das Verhalten des Gesamt- schiedliche Fahrmanöver ermittelt werden können
fahrzeugs untersucht. (Bild 7.3-8). Günstig ist im Allgemeinen für eine gute
Die subjektive Bewertung eines Kraftfahrzeugs stellt subjektive Beurteilung:
auch heute immer noch den Maßstab dar, ob ein • ein großer Frequenzbereich der Querbeschleuni-
Reifen für ein bestimmtes Kraftfahrzeug geeignet ist. gung
Trotzdem werden große Anstrengungen unternom- • eine große Gierdämpfung und
men, die Bewertung mehr objektiv vorzunehmen. • eine kleine Phasenverschiebung

Vertikalbeschleunigung der Hinterachse Vorwärts-Rückwärts-Beschleunigung der Hinterachse

Winter- Sommer-
reifen reifen

Sommer- Winter-
reifen reifen

Bild 7.3-6 Vergleich Kom-


2
fort von Winter- und Som-
1 Vertikalmoden 2 2 1 Vor-/Rückmoden 3 3
0 0 merreifen bei Überfahrt
0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100
Frequenz [Hz] Frequenz [Hz]
einer Schlagleiste (Zahlen
im Bild = Eigenfrequenzen)
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 537

Wechselwirkungen von Reifen und Fahrbahnoberfläche


(Messaufbau entspr. ISO 362)
76
Reifengrößen:

74 155 R 13
175 R 14
175 R 14 M+S
72 185/70 R 14
195/65 R 14
195/65 R 14 M+S
205/60 R 15
Schallpegel [dBA]

70
225/60 R 15

68

66

64

62
Bandbreite aller Reifen

60
Drainasphalt Asphalt- Splitt- Asphalt- Gussasphalt Oberflächen- Zement-
0/5 0/8 beton (ISO) mastix beton 0/11 0/11 behandelt 5/8 beton
Fahrbahnoberfläche

Bild 7.3-7 Schallpegel auf unterschiedlichen Fahrbahnoberflächen

Giergeschwindigkeit Querbeschleunigung druck anhand von Kriterien wie Wulstanscheuerun-


Lenkradwinkel Lenkradwinkel gen und Innenseelenverfärbungen.
0.5 0.02
Die Wirtschaftlichkeit von Reifen betrifft weniger die
Verstärkung

Herstellung oder die Verwertung als vielmehr den


Betrieb am Fahrzeug. Durch den Rollwiderstand der
Reifen muss ständig vom Motor Arbeit zur Überwin-
0 0 dung aufgebracht werden. Je weniger Rollwiderstand
0 1 2 3 0 1 2 3 die Reifen besitzen, desto geringer ist der Kraftstoff-
0 0
verbrauch.
In Bild 7.3-9 ist dieser Zusammenhang mit der Aus-
Phase

wirkung auf die Volkswirtschaft der Bundesrepublik


Deutschland für 1997 dargestellt, die aber weitgehend
–180 –180
heute immer noch Bestand hat. Durch eine Reduzie-
0 1 2 3 0 1 2 3 rung des Reifenrollwiderstandes um 30 % lässt sich
Frequenz [Hz] Frequenz [Hz] der Kraftstoffverbrauch um ca. 4,8 % senken, was
einer Einsparung von ca. 60 l pro Reifen während des
Bild 7.3-8 Übertragungsfunktionen nach Verstär- Reifenlebens entspricht. Volkswirtschaftlich gerech-
kung und Phase für einen typischen Pkw mit einem net ließe sich durch eine Rollwiderstandsreduzierung
subjektiv sehr guten (gestrichelte Linie) und mäßig in dieser Größenordnung eine Kraftstoffmenge von
guten (durchgezogene Linie) Reifensatz über 2,5 Mrd. Liter Kraftstoff einsparen.
Runderneuerte Reifen haben gegenüber Neureifen
meist einen Nachteil im Rollwiderstand bis zu 10 %.
Auf dem heutigen Entwicklungsstand haben Quali- Demzufolge ist die Runderneuerung aus Energiebi-
tätsreifen hohe Haltbarkeitsreserven und damit auch lanzgründen fraglich, da meist eine größere Menge an
eine zunehmende Missbrauchsresistenz. Trotzdem Kraftstoff im Betrieb verbraucht wird als durch die
sind Ausfälle durch Verletzungen und Betriebsfehler Wiederverwendung der Karkasse eingespart wird.
nicht ganz auszuschließen.
Eine eindeutige Analyse der „Schadensgeschichte“ 7.3.3.2 Gesetzliche Anforderungen
von zerstörten Reifen ist problematisch. Reifen haben Die gesetzlichen Anforderungen an Reifen beziehen
ein integrierendes Gedächtnis für die Folgen von sich auf die Reifenbeschriftung mit den entsprechen-
Fehlbehandlungen. Dem Reifenfachmann gelingt ein den Kennzeichnungen sowie dem Genehmigungszei-
Nachweis für einen längeren Einsatz mit Minderluft- chen und der Genehmigungsnummer nach ECE-
538 7 Fahrwerk

Rohmaterial &
Produktion Betrieb Verwertung
Reifengewicht 8 kg Kraftstoffverbrauch zur
bezogen auf 20 l Überwindung des Rollwiderstands
Lebensdauer: 50000 km

–3
0%
200 l

Depolymerisation
Ro

Runderneuerung
llw

Pulverisierung
ide

Energetische
Verwertung
rst
an
140 l d
Energiebilanz
für einen Reifen

–3
0%
Ge
wic
20 l 15 l ht alle
9l 1l ? Energieangaben
in Liter
6l Öläquivalent

Ressourcenschonung Kraftstoffverbrauch: –4.8 % weitere Einsparung


Nutzen

Ressourcenschonung fossiler Brenn-


höherer Einsatzmöglich- stoffe
ca . 300 000 t weniger = –2.78 Mrd. Liter pro Jahr
Roll- keiten im Reifen z.Z. 210 000 t
Materialeinsatz = 6.25 Mio t weniger CO2 widerstand stark eingeschränkt Steinkohle
möglich

Bild 7.3-9 Energiebilanz von der Produktion über Betrieb bis zur Verwertung von Reifen (BR Deutschland,
1997)

Regelung 30. Die Reifen tragen in einem Kreis ein E TWI Kennzeichnung des Profil-
und die Nummer des Genehmigungslandes sowie abnutzungsanzeigers
nachgestellt eine mehrstellige Genehmigungsnum- (TWI = Tread Wear Indicator)
mer, z.B.: Über den Umfang gleichmäßig verteil-
te Querstege in den Längsprofilrillen,
E12 028355 die bei 1,6 mm Restprofil auftauchen.
Reinforced bei verstärkten Reifen mit erhöhter
7.3.3.3 Reifen und Räder, Normung Tragfähigkeit
M+S bei Winterreifen
Die Normung von Reifen und Rädern ist in der
ETRTO und der DIN festgeschrieben. Als Beispiel 7.3.3.4 Reifenkennzeichnung, EU-Label
die Bezeichnung der Reifengröße für einen Reifen
der Größe 195/65 R 15 91 T: Ab November 2012 ist der Verkauf von Reifen mit
einem Label in der EU mit der Verordnung Nr.
195 Reifennennbreite (mm) 1222/2009 vorgeschrieben (Bild 7.3-10). Das Label
65 Nenn-Querschnittsverhältnis (%) dient zur Steigerung der Sicherheit sowie der wirt-
R Symbol für Radialreifen (Gürtelreifen) schaftlichen und ökologischen Effizienz im Straßen-
15 Felgendurchmesser (Zoll-Code) verkehr. Klassifiziert werden die Reifeneigenschaften
91 Tragfähigkeitskennzahl oder „Load Index“ Rollwiderstand, Nassgriff und Geräusch.
(„91“ bedeutet, dass der Reifen mit maximal Für die ersten beiden Eigenschaften gibt es zur Be-
615 kg belastet werden darf) wertung die Klassen A – G, für das Geräusch 1 – 3
T Geschwindigkeitssymbol für zulässige Höchst- gefüllte Schallwellensymbole. Die Messungen der
geschwindigkeit (T = 190 km/h) Reifeneigenschaften sind gemäß Regelung Nr. 117
Weitere Kennzeichnungen auf der Seitenwand: der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen
(UN/ECE) durchzuführen.
TUBELESS schlauchlos Für normale Pkw-Reifen (Reifenklasse C1) werden
TUBE TYPE Reifen dürfen nur mit die Bewertungen wie folgt festgelegt:
Schlauch montiert werden
DOT Department of Transportation Rollwiderstand:
(USA-Verkehrsministerium) Die Energieeffizienz eines Reifens wird gemessen
0302 verschlüsseltes Produktionsdatum über den Rollwiderstand und wird klassifiziert durch
(03 = 3. Woche, 02 = Jahr 2002) den Rollwiderstandsbeiwert (Cr). Er ist definiert als
(bis zum 31.12.1999 stand nach der Rollwiderstandskraft dividiert durch die Radlast in
dritten Ziffer ein Dreieck) kg/t.
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 539

Geräusch:
Die Geräuschangabe auf dem Label bezieht sich auf
das Vorbeifahrgeräusch bei 80 km/h. Das Geräusch-
symbol mit 1 bis 3 gefüllten Schallwellensymbolen
bezieht sich auf die Geräuschgrenzwerte (LV = Limit
Value ab Nov. 2010).
Geräuschsymbol Geräuschwert N
mit in dB(A)
1 gefüllte Schallwelle N ≤ LV-3
2 gefüllte Schallwellen LV-3 < N < LV
3 gefüllte Schallwellen N > LV

Bis Nov. 2016 dürfen weiterhin Reifen verkauft


werden, die nur die Grenzwerte vor Nov. 2010 ein-
halten. Diese werden mit 3 gefüllten Schallwellen
gekennzeichnet.
Der Geräuschgrenzwert (LV) ist abhängig von der
Nennbreite des Reifens. Für normale Pkw-Reifen der
Klasse C1 sind die Grenzwerte wie folgt festgelegt:
Nennbreite Grenzwert (LV)
in mm in dB(A)
≤ 185 70
>185 ≤ 215 71
>215 ≤ 245 71
>245 ≤ 275 72
Bild 7.3-10 EU Label für Reifen
>275 74
Energieeffizienzklasse Cr
Für M+S Reifen, Extra-Load (XL)-Reifen oder ver-
für Reifenklasse C1 in kg/t
stärkte Reifen, oder einer Kombination dieser Reifen-
A Cr ≤ 6,5 eigenschaften, erhöhen sich die genannten Grenzwer-
B 6,6 ≤ Cr ≤ 7,7 te um 1 dB(A).
C 7,8 ≤ Cr ≤ 9,0
7.3.4 Kraftübertragung Reifen Fahrbahn
D leer
E 9,1 ≤ Cr ≤ 10,5 Der Reifen muss nicht nur bei den unterschiedlichs-
ten Fahrbahnbelägen (Asphalt, Beton, Pflaster),
F 10,6 ≤ Cr ≤ 12,0
sondern auch bei allen Witterungsbedingungen und
G Cr ≥ 12,1 Geschwindigkeiten des Fahrzeugs die Kraftübertra-
gung zur Straße sicherstellen.
Nassgriff: Damit bedeutet das Kraftschlussverhalten einen
Die Nasshaftung wird durch den Vergleich mit einem Schwerpunkt für den Reifenentwickler. Als Einfluss-
vorgegebenen Referenzreifen auf nasser Straße ermit- größen auf das Kraftschlussverhalten werden vor
telt. Gemessen wird der Nasshaftungskennwert G, der allem Reifenart und Reifenzustand, Fahrbahnart und
die Nasshaftung relativ zum Referenzreifen beschreibt. Fahrbahnzustand, Betriebsbedingungen und Betriebs-
Nasshaftungsklasse G fehler berücksichtigt
für Reifenklasse C1 Relativwert
zum Referenzreifen 7.3.4.1 Tragverhalten
A 1,55 ≤ G Das Tragverhalten (Fz) einer idealen Membran ist
beschrieben durch Innendruck (pi) ⋅ Kontaktfläche (A)
B 1,40 ≤ G ≤ 1,54
(Bild 7.3-11). Beim Reifen kommt durch die steife
C 1,25 ≤ G ≤ 1,39 Schalenstruktur des Reifens noch ein zusätzlicher
D leer Strukturtraganteil (k) von ca. 10 – 15 % hinzu. Bei
E 1,10 ≤ G ≤ 1,24 Reifen mit Notlaufeigenschaften ist k deutlich größer
(siehe Kap. 7.3.5.6).
F G ≤ 1,09
Für die Fahrwerksauslegung ist die vertikale oder
G leer radiale Reifensteifigkeit ein wichtiger Parameter.
540 7 Fahrwerk

2.3
2,1 Kraftschlussbeiwert m
1,9
Z 1,7
1,5
1,3
1,1
0,9
0,7
0,5
X
0.01 0.05 0.1 1.8
pi 0.5 1.0 3.5
2.0 3.5 4.5 kt-
Gleitgeschwind nta r]
igkeit [m/s] Ko k [ba
A c
dru

Fz = p i · A + k Bild 7.3-13 Labormessung des Kraftschlussbeiwerts


μ abhängig vom Kontaktdruck und der Gleitge-
Bild 7.3-11 Tragverhalten eines Luftreifens schwindigkeit auf Korund-180 für eine typische
Laufflächenmischung
Abhängig von Reifenbreite und Querschnittsverhält-
nis nimmt die Steifigkeit mit zunehmender Reifen-
breite und abnehmendem Querschnittsverhältnis in von 5 bis 40 °C ausgelegt. In diesen Temperaturbe-
der Regel zu (Bild 7.3-12). reichen haben sie den höchsten Kraftschluss.
Die Adhäsion bestimmt die übertragbaren Kräfte im
7.3.4.2 Kraftschlussverhalten, Aufbau Bereich kleiner Gleitgeschwindigkeiten (z.B. vorde-
von Horizontalkräften rer Bereich der Reifenaufstandsfläche beim ABS-
Das Kraftschlussverhalten von Reifen wird im We- Bremsen), die Hysterese im Bereich hoher Gleitge-
sentlichen von den Reibpartnern Gummi – Fahrbahn- schwindigkeiten (z.B. Blockierbremsen).
oberfläche bestimmt. Der (Gummi-)Mischungsentwickler hat durchaus
Der Kraftschlussbeiwert ist nicht konstant sondern Möglichkeiten, seine Schwerpunkte auf den Kraft-
hängt von der Reibpaarung Laufflächenmischung und schluss im „Haft-“ oder „Gleitbereich“ zu legen, d.h.
Straßenoberfläche, dem Kontaktdruck, der Gleitge- der beste „ABS-Reifen“ ist nicht notwendigerweise
schwindigkeit sowie der Temperatur ab (Bild 7.3-13). der beste „Blockierreifen“.
Im Allgemeinen gilt: Je niedriger der Kontaktdruck Das dynamische Verhalten des viskoelastischen
gehalten werden kann und je homogener die Druck- Werkstoffs Gummi beschreibt ein komplexer Modul,
verteilung innerhalb der Bodenaufstandsfläche ist, der aus Speichermodul und Verlustmodul besteht
desto höher sind die übertragbaren Seiten- und Um- (E* = E′ + iE″). Der Verlustbeiwert tan δ als Verhält-
fangskräfte. Bei höheren Schlupf- oder Gleitgeschwin- nis Verlustmodul zu Speichermodul ist ein Maß für
digkeiten nehmen die Kraftschlussbeiwerte ab. die Energieverluste bei der Deformation des visko-
Je nach Einsatzgebiet entwickeln Gummimischungen elastischen Gummis. Als stark verkürzte Erklärung
in unterschiedlichen Temperaturbereichen ihre höchs- mag hier genügen, dass der Entwickler verschie-
ten Kraftschlusswerte. Bei einem Betrieb außerhalb denen Temperaturbereichen der tan δ Kurve auf
dieses Temperaturbereichs sind die Werte deutlich Basis eines Temperatur-Frequenz-Äquivalentprinzips
kleiner. So werden häufig Winterreifen für einen (WLF-Transformation) bestimmte typische Reifen-
Temperaturbereich von –20 bis 10 °C, Sommerreifen eigenschaften zuordnen kann.

450

400
radiale Steifigkeit [N/mm]

350

Querschnitts-
300 verhältnis
≥ 80 %
75–70 %
Bild 7.3-12 Radiale Reifen-
250
65–60 % steifigkeit bei vorgeschrie-
55–50 % benem Fahrzeugluftdruck
200 45–40 % gemessen mit unterschied-
35–30 %
≤ 25 % lichen Reifenausführungen
150 in Abhängigkeit von Reifen-
150 200 250 300 350 breite und Querschnittsver-
Reifenbreite [mm]
hältnis
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 541

ABS-Kraftschluss, nass
ABS- Rollwiderstand
Blockieren

Gummi v Gummi v

Straße Straße
Bild 7.3-14 Typischer Ver-
5 7
lauf des Verlustbeiwerts
10 –10 Hz
1
tan δ über der Temperatur
0.9 103 –10 5 Hz
mit den relevanten Berei-
Verlustbeiwert tan d

0.8
0.7
1 10–102 Hz chen für Kraftschluss auf
0.6 nasser Straße und Roll-
0.5 2 widerstand für zwei Reifen-
0.4
3 mischungen (Ruß- und
0.3
0.2
Silikamischung Silikamischung) und Um-
0.1 Rußmischung rechnung nach der WLF-
0 Transformation (Proben aus
–70 –60 –50 –40 –30 –20 –10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110
Temperatur [°C] bei 10 Hz
Reifen, Messung bei 10 Hz
mit konstanter Kraft)

Physikalisch unterscheiden sich die in Bild 7.3-14 Kraftschlussbeiwert m [–]


gekennzeichneten Bereiche der tan δ-Kurve: Bereiche 1.2
1 und 2 sind relevant für das Bremsen auf nasser trocken
Fahrbahn, Bereich 1 vor allem für den quasi Haftbe- 1 v = 100km/h, Fz = 4kN
reich mit sehr kleinen Gleitgeschwindigkeiten im trocken
vorderen Bereich der Bodenaufstandsfläche (verglei- 0.8 v = 50km/h, Fz = 4kN
che auch Bild 7.3-16), Bereich 2 für die höheren trocken
Gleitgeschwindigkeiten im hinteren Teil der Auf- 0.6 v = 50km/h, Fz = 2kN

standsfläche oder beim Blockierbremsen. Bereich 3 nass


0.4 v = 50km/h, Fz = 4kN
ist relevant für den Rollwiderstand mit der zyklischen
Gummideformation beim Rollen. Eis (–0.5°C)
0.2 v = 50km/h, Fz = 4kN
Dem Bereich 1 kann physikalisch eine adhäsions-
unterstützte nanoskalige Hysteresereibung, Bereich 2 0
eine mesoskalige Hysteresereibung und Bereich 3 0 20 40 60 80 100
Schlupf [%]
eine impulsförmige Gummideformation zugeordnet
werden. Anschaulich: Je kleiner die Rauigkeitsskala
im Kontakt Reifen – Straße wird, desto höher ist die Bild 7.3-15 Kraftschlussbeiwert μ bei unterschiedli-
zugeordnete Frequenz. chen Fahrbahnzuständen und Einsatzbedingungen
Die Kompromisslage niedriger Kraftstoffverbrauch
durch niedrigen Rollwiderstand (tan δ klein im Be- mit Rdyn = dynamischer Reifenradius, ω = Raddreh-
reich 3 bei 60 °C) bei kurzen Bremswegen (tan δ groß zahl und v = Fahrzeuggeschwindigkeit. Der dynami-
in den Bereichen 2 und 3, d.h. kleiner ca. 20 °C) soll sche Reifenradius ist der wirksame Abrollradius des
auf ein möglichst hohes Niveau gebracht werden. Rades. Er kann nur indirekt aus der zurückgelegten
Wie aus Bild 7.3-14 zu entnehmen, ist dies bei Sili- Strecke und der Anzahl der Radumdrehungen be-
kamischungen gelungen. stimmt werden.
7.3.4.3 Antreiben und Bremsen; Umfangskräfte Um beim Antreiben bei durchdrehendem Rad nicht
auf Werte über 1 bzw. 100 % zu kommen, wird der
Im Bild 7.3-15 wird beispielhaft ein Bremsvorgang Schlupf häufig auch statt auf die Fahrzeuggeschwin-
ohne ABS dargestellt. Hier soll nicht auf Bremssys- digkeit auf die Radgeschwindigkeit Rdyn ⋅ ω bezogen.
teme, sondern auf den Beitrag der Reifen eingegan- Bild 7.3-15 macht deutlich, dass Reifen über den
gen werden. Dargestellt ist der Kraftschlussbeiwert μ, ganzen Bereich bis zum Schlupf 100 % gefordert
definiert als Quotient aus Umfangskraft und Normal- werden können. Bemerkenswert ist, dass die Reifen
kraft aufgetragen gegenüber dem Radschlupf beim beim Bremsen mit blockierten Rädern die gesamte
Bremsen. kinetische Energie verzehren müssen, beim ABS-
Allgemein wird der Schlupf λ bei seitenkraftfreirol- Bremsen wird der größte Anteil von der Bremsanlage
lendem Rad definiert als „übernommen“.
Rdyn ⋅ ω − v Mit Erhöhen des Bremsschlupfes bilden sich zu-
l=
v nehmende Gleitbereiche in der Aufstandsfläche aus
542 7 Fahrwerk

1.2 Verschiedene Kombinationen von Reifenprofilen und


Laufflächenmischungen können sehr unterschiedliche
1
Kraftschlussbeiwert m

Traktion auf Schnee erzeugen (Bild 7.3-17). Die Kom-


0.8 bination zeigt, dass für die Wintereigenschaften vor
Messung
0.6 allem die Laufflächenmischung mit Wintereigenschaf-
ten entscheidend ist, die bei tiefen Temperaturen elasti-
0.4
scher bleibt gegenüber typischen Sommermischungen.
0.2
Schlupf [%] 7.3.4.4 Schräglauf; Kräfte und Momente
0
0 5 10 15 20
Für die Fahrdynamik von Kraftfahrzeugen sind die
Größe und Charakteristik der zu übertragenden Kräfte
von entscheidender Wichtigkeit für ein angenehmes
und sicheres Fahren. Mit zunehmendem Schräglauf-
Einlauf Auslauf Einlauf Auslauf Einlauf Auslauf winkel des Reifens wird die Seitenkraft radlastabhän-
Haftbereiche Gleitbereiche gig bis zu einem Maximalwert im Bereich zwischen 5°
und 15° Schräglaufwinkel aufgebaut (Bild 7.3-18).
Bild 7.3-16 Haft- und Gleitzonen in der Bodenauf- Durch die Latschverformung und die beginnenden
standsfläche eines Reifens beim Bremsen bei unter- Gleitvorgänge in der Kontaktzone zwischen Reifen
schiedlichem Radschlupf aus FEM Berechnungen und Fahrbahn entsteht ein Rückstellmoment. Das
(links: Einlauf, rechts: Auslauf) Rückstellmoment versucht, das Rad und damit auch
das Lenkrad wieder in die Ausgangsstellung zurück-
(Bild 7.3-16). Vom Auslauf, jeweils auf der rechten zudrehen. Es erreicht ein Maximum, wenn die
Seite vergrößert sich die Gleitzone Richtung Einlauf. Schräglaufkennlinie beginnt, den linearen Anstieg
Kurz vor dem Erreichen des Schlupfmaximums deutlich zu verlassen und kann bei weiter zunehmen-
befindet sich fast die gesamte Kontaktzone im Gleit- dem Schräglaufwinkel negativ werden.
zustand. Der im vorderen Teil der Bodenaufstands- Zusätzlich dargestellt ist der Sturzeinfluss des Rades.
fläche als Haftbereich gekennzeichnete Teil charakte- So erhöht ein negativer Sturz die Seitenkraft bei
risiert einen Bereich, in dem nur sehr kleine Gleitge- Kurvenfahrt, vermindert aber gleichzeitig das Rück-
schwindigkeiten auftreten also makroskopisch quasi stellmoment. Ein positiver Sturz wirkt umgekehrt.
Haften vorliegt. Eine kompakte Darstellung der Reifenkräfte ermög-
Neben der Abhängigkeit von der Fahrzeugauslegung licht das sog. Gough-Diagramm (Bild 7.3-19) für die
und der Fahrgeschwindigkeit haben Reifenart und Parameter Seitenkraft, Rückstellmoment, Reifennach-
Fahrbahnrauigkeit einen bestimmenden Einfluss. lauf, Radlast und Schräglaufwinkel. Der Nachlauf
Die Darstellungen in den Bildern 7.3-15 bis 7.3-17 ist definiert als der Abstand des Angriffspunkts der
stellen den erreichbaren Kraftschluss abhängig von resultierenden Seitenkraft im Latsch zur Reifenmitte.
den Einflussfaktoren Fahrbahn, Reifen und Betriebs- Das Gough-Diagramm ermöglicht die quasi-statische
bedingungen dar und damit Kenngrößen für erreich- Bestimmung der Seitenkräfte und Rückstellmomente
bare Antriebsbeschleunigungen und Bremswege. an beiden Rädern einer Achse bei Kurvenfahrt.

300

250
Traktionskraft [daN]

200

150

100

50

Schlupf [%]
0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
Bild 7.3-17 Beeinflussung
Winterreifen, Wintermischung Sommerreifen (S/T), Sommermischung des Kraftschlusspotenzials
Winterreifen, Sommermischung Sommerreifen (H/V), Wintermischung durch Reifen und Laufflä-
Sommerreifen (S/T), Wintermischung Sommerreifen (H/V), Sommermischung chenmischungen bei Trak-
tion auf Schnee
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 543

6000 1000 Fy0

5000
Fz = 6 kN
750

Seitenkraft Fy [N]
Seitenkraft [N]

4000
Fy0 = (1 – 1/e)
Fz = 4 kN
3000 500

2000
Fz = 2 kN 250 p = 2,5 bar
1000 p = 2,0 bar
l1 l2 l3
p = 1,5 bar
0 0
150 ohne Sturz 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1
Sturz – 4°
Sturz + 4° Abrolllänge [m]
Rückstellmoment [Nm] · (–1)

125 Fz = 6 kN

100 Bild 7.3-20 Aufbau der Seitenkraft mit zugehörigen


75 Einlauflängen lx in Abhängigkeit vom Luftdruck p bei
Fz = 4 kN
50 einer Schräglaufwinkeländerung von 0° auf 1°
25
Fz = 2 kN
tung. Der Reifen baut die Reaktionskräfte über eine
0
5 10 15 20
bestimmte Abrollstrecke auf, deren Länge im We-
–25 0
Schräglaufwinkel [°] sentlichen von den Reifenparametern Masse, Dämp-
Kontaktfläche unter Schräglauf aus FEM-Berechnungen fung, Reibung im Latsch und den Betriebszuständen
abhängt.
2° 4° 8°
Die entsprechende Kenngröße ist die Relaxations-
oder Einlauflänge; sie ist definiert als die Wegstrecke,
bei der die Seitenkraft Fy = Fy0 ⋅ (1 – 1/e) erreicht
Einlauf Auslauf Einlauf Auslauf Einlauf Auslauf
(Bild 7.3-20). Für Pkw-Reifen liegen typische Ein-
Haftbereiche Gleitbereiche lauflängen zwischen 0,2 und 0,7 Meter.
Die Einlauflänge l kann auch über
Bild 7.3-18 Seitenkraft und Rückstellmoment über l = Cα /Cy
Schräglaufwinkel für einen typischen Pkw-Reifen bei
unterschiedlichen Radlasten mit zugehörigen Kon- mit der Schräglaufsteife Cα und der Quersteifigkeit Cy
taktbereichen bei 2°, 4° und 8° Schräglaufwinkel abgeschätzt werden.
Wird z.B. an einem freirollenden Rad der Schräg-
Alle bisher betrachteten Kräfte und Momente gelten laufwinkel schnell genug verstellt, folgen Seitenkraft
für den stationär rollenden Reifen. Bei einer Ände- und Rückstellmoment wegverzögert. Die eindeutige
rung der Betriebsbedingung des Reifens wie Schräg- Zuordnung von Schräglaufwinkel, Seitenkraft und
laufwinkel, Last, Sturz und Felgenquerverschiebung Rückstellmoment geht mit wachsender Lenkfrequenz
relativ zum Latsch dauert es eine gewisse Zeit, bis verloren. Zusätzliche Radlastschwankungen im nie-
sich der neue stationäre Zustand eingestellt hat. Dies derfrequenten Bereich führen zu weiteren dynami-
soll an zwei Beispielen für die Seiten- und Umfangs- schen Einlaufvorgängen. So können bei Kurvenfahrt
kraft verdeutlicht werden: durch langwellige Straßenunebenheiten über den
Die Änderung der Seitenkräfte wird über das Ein- Reifen Kräfte und Momente in die Lenkung eingelei-
laufverhalten des Reifens beschrieben und ist beson- tet werden, die vom Fahrer kompensiert werden
ders für die Querdynamik des Fahrzeugs von Bedeu- müssen.
Die ganze Komplexität des Reifenverhaltens kann
dann nicht mehr mit einfachen Gleichungen sondern
Reifennachlauf [mm]
5 10 15
nur noch mit dynamischen Reifenmodellen beschrie-
6000 20
ben werden.
10°
5000 Radlast = 6 kN 8°
6° 25
Grundsätzlich gibt es Einlauflängen für alle Kraft-
richtungen. Bei periodischen Änderungen der Be-
Seitenkraft [N]

4000 4° 30
4 triebsbedingungen ergibt sich ein Phasengang. Dazu
3° 35
3000 40 kommt die dynamische Antwort des schwingungsfä-
2000 2 2° higen Systems im Zeitbereich.
Schräglaufwinkel = 1°
In Bild 7.3-21 ist die Umfangskraft-Bremsschlupf-
1000
v = 80 km/h
kennlinie für zwei Geschwindigkeiten dargestellt.
0 Beim Aufbringen eines Bremsimpulses nimmt zu-
0 20 40 60 80 100 120
Rückstellmoment [Nm] nächst der Schlupf zu, bevor die Kraft aufgebaut
wird. Es bildet sich eine Reihe von Konvergenzpunk-
Bild 7.3-19 Gough-Diagramm für einen typischen ten, die den stationären Kurvenverlauf kennzeichnet.
Pkw-Reifen In diesem Falle wird das Antwortverhalten des Rei-
544 7 Fahrwerk

5000
FU = FR·cos b FR
4000 k
Umfangskraft [N]

3000 v = 25 km/h
v = 100 km/h
2000
FR(k),b
FR·cosb
1000

0
0 2 4 6 8 10 12 sin a
l sin a1
Bremsschlupf [%]

FR
Bild 7.3-21 Dynamische Reifenantwort auf eine stu- FS = FR·sin b
k
fenweise Erhöhung der Bremskraft

fens auf die Änderung des Bremsmoments bestimmt


von der Reifendynamik und der Einlauflänge in
FR(k),b
Umfangsrichtung.
FR·sinb
7.3.4.5 Reifen unter Quer- und Längsschlupf
Hier ist neben der Frage des Kraftschlusses insbeson- l1 sin a
l
dere auch die Reifencharakteristik für die Beherrsch-
barkeit eines Fahrzeuges im Grenzbereich interessant.
Sportlich geübte Fahrer nutzen einen höheren, schma- Bild 7.3-23 „Reibungskuchen“ nach Prof. Weber
len Grenzbereich für höhere Kurvengeschwindigkei- als eine allgemeine Darstellung für die resultie-
ten, für den Normalfahrer ist ein breiter Grenzbereich renden Führungskräfte am Reifen (FU = Umfangs-
– in den er ungeübt nur selten in Grenzsituationen kraft, FS = Seitenkraft, FR = Reibkraft, χ = resultie-
kommt – eine Chance. render Schlupf, α = Schräglaufwinkel, α1 = beliebiger
Zunächst soll Bild 7.3-22 die Geschwindigkeits- und Schräglaufwinkel ≠ 0, λ = Längsschlupf, λ1 = beliebi-
Schlupfverhältnisse am rollenden Rad unter Schräg- ger Längsschlupf ≠ 0, β = Winkel der Richtung der
lauf verdeutlichen. Reibkraft im Kamm’schen Kreis)

225 / 60 R 15, Fz = 2800 N


v · sina
Umfangsschlupf 4000
Schräglaufwinkel
v Rdyn · v – v · cosa
v · cosa l=
v
a 8°
Querschlupf
v · sina = sina 4°
lS =
v
Seitenkraft [N]


Bremsen Antreiben
resultierender Schlupf 0
Rdyn · v
k = l2 + lS2
–2°
–4°
Bild 7.3-22 Geschwindigkeits- und Schlupfverhält-
–8°
nisse am rollenden Rad unter Schräglauf (Rdyn =
dynamischer Reifenradius, ω = Raddrehzahl, α =
Schräglaufwinkel und v = Fahrzeuggeschwindigkeit)
–4000
–4000 0 4000
Umfangskraft [N]
Der Reifen kann sein maximales Kraftschluss-
potenzial jeweils nur in einer Richtung anbieten (Bild Bild 7.3-24 Kraftschlusspotenzial bei kombinierter
7.3-23). Reibkraft durch Seiten- und Umfangskraft
Da die Kraftschlussmaxima in Umfangsrichtung und
Querrichtung bis zu einem bestimmten Grade unter- 7.3.4.6 Reifengleichförmigkeit
schiedlich sind, wird der verallgemeinernd angesetzte
(Kamm’sche) Kraftschlusskreis zu einer Ellipse. Strukturseitenkraft und Konizität
Für verschiedene Schräglaufwinkel ist das Verhältnis Reifen laufen ohne Führung durch die Radaufhän-
zwischen Seiten- und Umfangskraft in Bild 7.3-24 gung aufgrund ihres Schichtaufbaus der Festigkeits-
dargestellt. träger nicht geradeaus. Jeder Reifen besitzt konstante
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 545

FSS FSS besseren Verhalten des Fahrzeugs führen. In enger


Entwicklungspartnerschaft gibt es in zunehmendem
Reifen rechts montiert FK FK Maße gemeinsame Projekte zwischen Reifen- und
Seitenkraft Fahrzeugindustrie, in denen im Vorfeld Reifen- und
Fahrzeugkonzepte abgestimmt werden.

7.3.5.1 Reifenmechanik, Materialeigenschaften


Konizität
Die mathematische Beschreibung des Verhaltens von
Konizität Strukturseitenkraft Gummi ist wegen des stark nichtlinearen und über der
Schräglaufwinkel
Zeit veränderlichen Verhaltens anspruchsvoll. Bild
7.3-26 zeigt einen Zugversuch bei dem in 5 Stufen
die Dehnung um jeweils 10 % erhöht wurde. In den
jeweiligen Stufen wurde die Dehnung 10-mal hoch-
und heruntergefahren. Der erste Zyklus einer Last-
Reifen links montiert stufe zeigt immer die höchsten Kraftwerte, die dann
während der nächsten Zyklen immer weiter abneh-
Bild 7.3-25 Einfluss der Drehrichtung auf die resul- men, bis ein stationärer Zustand erreicht ist.
tierenden Kräfte von Strukturseitenkraft FSS und
Konizität FK
700

Seitenkräfte, die ein Abweichen von der idealen 600


Gerade bewirken. Diese Kräfte setzen sich zusam-
500
men aus der drehrichtungsabhängigen Strukturseiten-
kraft FSS und der drehrichtungsunabhängigen Konizi-
Kraft [N]

400
tät FK.
300
Die Strukturseitenkraft ergibt sich aus der inneren
Struktur des Reifens, die Konizitätskraft aus der 200
Reifengeometrie.
100
Durch Wenden eines oder mehrerer Reifen auf der
Felge lassen sich in der Praxis Reklamationen we- 0
gen „einseitigen Ziehens“ vielfach beseitigen (Bild 10 20 30 40 50
–100 Dehnung [%]
7.3-25).
–200
Reifenrundlauf
Eine Reifenungleichförmigkeit beschreibt die Abwei- Bild 7.3-26 Experimentelle Untersuchung des Deh-
chung des Reifens von einem idealen Rotationskör- nungsverhaltens einer rußgefüllten Gummiprobe bei
per. Die geometrischen Abweichungen werden durch zyklischer Belastung über 5 Laststufen
Höhen- und Seitenschläge dargestellt. Wichtiger sind
die Kraftschwankungen des eingefedert rollenden
Rades in radialer, lateraler und tangentialer Richtung. Dieses Materialverhalten modellmäßig abzubilden
Sie stellen die Summenwirkung aus der Variation von erfordert einen hohen Aufwand für die Simulation.
Geometrie und Steifigkeit über dem Umfang dar. Im Die Nachbildung kann z.B. durch eine Anordnung
Allgemeinen werden für diese Größen Grenzwerte von Federn, Dämpfern und Reibelementen erfolgen,
festgelegt, die nicht überschritten werden dürfen, die für verschiedene Dehngeschwindigkeiten das
damit im Fahrzeug diese Störungen nicht spürbar elastische, viskose und plastische Gummiverhalten
werden. beschreiben (Bild 7.3-27).

7.3.5 Reifen als integraler Baustein


des Gesamtsystems Fahrzeug
Die Reifenentwicklung wird zunehmend innerhalb
des Gesamtsystems Fahrzeug bzw. von Subsystemen
unter Einsatz von Simulationswerkzeugen durchge-
... ...
führt. Ziel ist es, den virtuellen Reifen am virtuellen
Fahrzeug im Entwicklungsstadium so zu optimieren, elastisch viskos plastisch
dass nur noch Versuchsmuster mit hoher Erfolgs-
wahrscheinlichkeit auf schnellerem Wege zu einem Bild 7.3-27 Ersatzmodell für Gummiverhalten
546 7 Fahrwerk

Speicher- (E ′) und Verlustmodul (E ′′) Zug/Druck Test


2 600
Messung
1.8 Materialmodell Messung
1.6 400 Materialmodell
1.4 E′
logE [MPa]

1.2
1 200
0.8
0.6 E ′′

Kraft [N]
0.4 0
0.2
0
0 1 2 3 4 5 6 –200
log v [s–1]

–400
Bild 7.3-28 Anpassung des Materialgesetzes an die
Messwerte über einen Frequenzbereich von 5 Deka-
den –600
–20 –10 0 10 20 30 40
Dehnung [%]
Die einzelnen Anteile können physikalisch erklärt
werden: Bild 7.3-29 Anpassung der Materialgesetze an die
Das elastische Verhalten beschreibt allgemein das Materialhysterese im stationären Zustand bei unter-
Gummiverhalten. Es wird durch eine meist nichtline- schiedlichen Dehnamplituden
are Feder beschrieben, die sowohl die Nichtlinearität
der Spannungs-Dehnungs-Kurve als auch die In- Dabei müssen den Reibverhältnissen in dem Kon-
kompressibilität berücksichtigt. taktbereich Reifen-Fahrbahn besondere Aufmerk-
Der viskose Anteil kommt aus der geschwindigkeits- samkeit geschenkt werden. Die Kraftübertragung ist
d.h. damit auch frequenzabhängigen Steifigkeit des im Wesentlichen abhängig von dem lokalen Anpress-
Gummimaterials und beschreibt über das Tempera- druck, der Gleitgeschwindigkeit der Profilklötze und
tur-Frequenz-Äquivalent auch das Temperaturverhal- der Temperatur in der Kontaktzone.
ten. Je höher die Frequenz oder je tiefer die Tempera- Diese Werte müssen durch separate Tests von Mate-
tur desto härter reagiert Gummi auf eine äußere rialproben mit der Fahrbahnoberfläche ermittelt
Belastung. werden. Das kann im Labor oder mit mobilen Prüf-
Die Anpassung des Speicher-(E′) und Verlustmoduls einrichtungen auf der Teststrecke durchgeführt wer-
(E″) über einen Frequenzbereich von ca. 5 Dekaden den. Die in Bild 7.3-13 gezeigte Abhängigkeit des
(Bild 7.3-28) ist mit 10 Maxwell-Elementen beste- Reibkoeffizienten μ vom Kontaktdruck und der
hend aus je einer Feder und einem Dämpfer mög- Schlupfgeschwindigkeit muss für eine erfolgreiche
lich. Berechnung berücksichtigt werden.
Mit dem plastischen Anteil kann der inneren Materi- Um einen hohen Kraftschluss zu erhalten, sollte bei
alstruktur Rechnung getragen werden. Eine Hypothe- Optimierungsrechnungen angestrebt werden, den
se besagt, dass unter Deformation die Polymerketten Kontaktdruck möglichst niedrig und die Druckvertei-
auf den Füllstoffoberflächen gleiten, wodurch eine lung in der Bodenaufstandsfläche möglichst homogen
Reibungshysterese hervorgerufen wird. Sichtbar wird d.h. ohne Kontaktspitzen zu halten.
dieses Verhalten in Bild 7.3-29 dadurch, dass die
Kraft auch bei niedrigen Dehngeschwindigkeiten bei
Dehnungszunahme (Belastung) größer ist als bei
Dehnungsabnahme (Entlastung).
Die Anpassung erfolgt über die Prandtl-Elemente Seitenkraft
(Feder und Reibelemente), die den plastischen Mate-
rialanteil beschreiben (Bild 7.3-27). Sowohl die
Kurvenform als auch die typische Gummihysterese
für gefüllte Netzwerke werden richtig wiedergegeben.
Das Einbringen der komplexen Gummibeschreibung
in Form von Materialgesetzen in die Reifenberech- z
x
nung ermöglicht eine Vielfalt an Vorhersagen von
Reifeneigenschaften. Ein Beispiel ist die Reifenver- y
formung unter Schräglauf im stationär rollenden
Zustand mit Informationen über die Kraft- und Reib- Bild 7.3-30 Reifenberechnung mit der Finiten Ele-
verhältnisse in der Bodenaufstandsfläche zur Opti- mente Methode (FEM) für einen stationär rollenden
mierung von Kraftschluss unter Seitenkraft bei An- Reifen unter Schräglauf/Seitenkraft mit berechnetem
treiben und Bremsen (Bild 7.3-30). Kontaktdruck
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 547

6000 Die zur Berechnung notwendigen Reifenparameter


Seitenkraft [N]
4000 Fz = 6000 N können über spezielle Messungen oder Berechnungen
Fz = 4000 N aus komplexeren Reifenmodellen (z.B. FEM) be-
2000 stimmt werden. Das Modell ist damit in der Lage,
Fz = 2000 N
0 eine unebene Straße zu überfahren und die entstehen-
–8 –6 –4 –2 0 2 4 6 8 den Kräfte an die Achse und damit ein angekoppeltes
–2000
Fahrzeugmodell weiterzugeben. Der Bodenkontakt
–4000 wird über sog. Bürsten (nicht dargestellt) abgetastet
FEM-Berechnung Prüfstand und die entstehenden Kontaktkräfte berechnet.
–6000
Schräglaufwinkel [°]
7.3.5.3 Gesamtmodelle
Bild 7.3-31 Vergleich von Prüfstandswerten mit Ein Austausch der Modelle zwischen Reifen-Fahr-
FEM berechneten Seitenkraft-Schräglaufkennlinien zeugindustrie am Beispiel Continental verbreitert die
für einen Standard-Pkw-Reifen bei drei Radlasten Fahrzeugkompetenz durch Ausweiten der automoti-
ven Produktpalette.
Unter Berücksichtigung dieser Kontaktphänomene Zur Simulation des komplexen Zusammenspiels von
lassen sich mit FEM-Analysen stationäre Kennlinien Fahrzeugkomponenten und Reifen kommen bevor-
für Seitenkraft, Rückstellmoment und Umfangskraft zugt Mehrkörpersysteme zum Einsatz (Bild 7.3-33).
schon recht genau berechnen. Einen Vergleich von
gemessenen zu berechneten Seitenkraft-Schräglauf-
kennlinien zeigt Bild 7.3-31.
Weitere Anwendung findet die FEM bei der Vorher-
sage von Haltbarkeit, Rollwiderstand, Temperaturver-
teilung, Abrieb, Aquaplaning, usw.
7.3.5.2 Reifenmodelle
Reifenmodelle dienen dazu, Reifeneigenschaften qua-
litativ oder quantitativ darzustellen und vorherzusa- Bild 7.3-33 Komplexes Fahrzeugmodell für die
gen. Sie können je nach Anforderung unterschiedli- Fahrdynamiksimulation
che Komplexität besitzen, beginnend bei einfachen
mathematischen bis hin zu detaillierten dynamischen Reifenmodelle für die Horizontaldynamik, die mit
FEM-Modellen. den Fahrzeugmodellen gekoppelt werden, geben in
Als Beispiel für ein einfaches MKS-Reifenmodell der Simulation auf ebenen Fahrbahnen und konstan-
(MKS = Mehrkörpersystem), bestehend aus Federn, ten Reibwert das Reifenverhalten mit hoher Genauig-
Massen und Dämpfern, kann das Modell aus Bild keit wieder. Um Aussagen auch zur Längs- und
7.3-32 angesehen werden. Sichtbar sind die Felge und Vertikaldynamik machen zu können, werden zukünf-
das deformierte Gürtelband sowie die Kräfte an der tig auch komplexe Reifenmodelle zum Einsatz kom-
Achse und in der Reifenaufstandsfläche. men, die die Reifenkräfte und -momente auch auf
unebenen Fahrbahnen mit wechselnden μ-Werten
liefern.

Cb 7.3.5.4 Beschreibung des Fahrverhaltens


Fz Cr
m Die „letzte Instanz“ bei der Beurteilung von Komfort
Ct und Fahrverhalten ist der Fahrer. Das Verstehen der
Fx Physik, die das subjektive Fahrerurteil begründet, ist
Voraussetzung für eine gezielte Entwicklung vor
allem auf der Basis von Simulationsrechnungen. Der
Reifenentwickler wird in die Lage versetzt, die Wir-
kung konstruktiver und materialtechnischer Maß-
nahmen auf das Verhalten des Systems Fahrzeug
C r = radiale Federsteifigkeit
C t = tangentiale Federsteifigkeit
objektiv zu bewerten.
C b = Biegesteifigkeit
m = Massepunkte 7.3.5.5 Synergien zwischen Reifen
Bild 7.3-32 Einfaches MKS-Reifenmodell (FTire) und anderen Systemkomponenten
zur Fahrt über eine raue Straßenoberfläche; Darstel- Die Kenntnis der Wechselwirkung zwischen Reifen
lung der Achs- und Kontaktkräfte nach Größe und und anderen Komponenten führt zu Synergien für
Richtung Eigenschaften und Kosten sowohl im Hinblick auf
548 7 Fahrwerk

das System als auch für die Komponenten wie den


Reifen.
Als Beispiel kann die Abstimmung von Reifen auf
das ABS/ESP-Bremssystem und umgekehrt zur
Erreichung möglichst kurzer Bremswege angeführt
werden. Sind am Fahrzeug zusätzlich noch geregelte
Dämpfer vorhanden, so lassen sich diese ebenfalls
mit in eine Abstimmung einbeziehen.
7.3.5.6 Reifensysteme mit Notlaufeigenschaften
Die Forderung nach Reifen mit Notlaufeigenschaften
werden in zunehmendem Maße von der Automobil-
industrie gefordert. Diese leitet sich ab aus dem Bild 7.3-35 Prinzipwirkung eines selbstdichtenden
Anspruch der Verbraucher nach mehr Sicherheit und Materials gegen Luftverlust bei eingedrungenem
Komfort sowie dem Wunsch der Fahrzeughersteller, Fremdkörper durch die Lauffläche
auf das Reserverad zukünftig zu verzichten. Es gibt
mehrere unterschiedliche Systemansätze. Reifen auf dem Stützelement ab. Dieses verhindert
Zu heutigen Rad-Reifensystemen kompatible Syste- auch das Abrutschen der Reifenwülste ins Tiefbett.
me sind die selbsttragende Karkasse sowie im Rad Eine Ausführungsform zeigt Bild 7.3-36: Das Trag-
integrierte Stützringe. element besteht aus einem profilierten Metallring mit
Gummifüßen. Im Pannenfall erfolgt eine Schmierung
mit Luft ohne Luft der Kontaktfläche zum Reifen, da hier große Relativ-
bewegungen auftreten.

mit Luft ohne Luft

Verstärkung

Bild 7.3-34 Reifen mit selbsttragender Karkasse

Bei der selbsttragenden Karkasse (Bild 7.3-34) wer-


den die Reifenflanken so verstärkt, dass im Falle
eines Luftverlustes die Reifenstruktur die Trageigen- Bild 7.3-36 Metallring mit Gummilagerung im
schaften übernehmen kann. Die Reifenkonstruktion Standardreifen als Stützelement beim Pannenlauf
erfordert dafür spezielle Gummimischungen und
Verstärkungen, die trotz der hohen Deformation in Neueste Entwicklungsansätze gehen in Richtung
der Seitenwand nicht überhitzen und damit unnötig Reifen ohne Innendruck, bei denen die ganze Traglast
hohen Rollwiderstand erzeugen sowie noch akzeptab- von der Reifenstruktur getragen wird.
len Abrollkomfort liefern. Der im Falle eines Luftverlustes meist noch gute
Bei moderaten Fahrgeschwindigkeiten lassen sich im Fahrkomfort und für den Normalfahrer auch häufig
Pannenlauf durchaus Distanzen bis zu 100 km und nicht wahrgenommene Verlust an Handling, machen
mehr zurücklegen. Dem Fahrer wird damit der Rei- die Kopplung mit einem Warnsystem notwendig. Im
fenwechsel in einer gefahrlosen Umgebung oder einer Falle eines Druckverlustes sollte der Fahrer optisch
Werkstatt ermöglicht. oder akustisch gewarnt werden.
Zur Abdichtung von Leckagen durch eingedrungene
Fremdkörper im Laufflächenbereich werden Reifen
7.3.6 Zukünftige Reifentechnologien
auch in Europa mittlerweile mit einer gelartigen, hoch Der etwa 100 Jahre alte Reifen – jünger als das Au-
klebrigen und zähen Beschichtung auf der Innenseite tomobil – hat erhebliches Potenzial für die Zukunft.
angeboten. Diese Gelschicht kann kleinere Fremd- Der unter 7.3.5. beschriebene Weg wird zu neuen
körper wie Nägel umschließen und das Leck abdich- Technologieansätzen führen.
ten (Bild 7.3-35). Es entstehen dabei meist nur gerin- Bei den klassischen Gebrauchseigenschaften werden
ge Luftverluste. Solche Reifen sollten regelmäßig auf besonders der Rollwiderstand, die Fahrsicherheit und
eingedrungene Fremdkörper kontrolliert werden. der Fahrkomfort im Vordergrund stehen. Für das
Im Rad integrierte Stützelemente können auf her- neue Fahrzeugsegment der Elektrofahrzeuge wird es
kömmlichen Felgen zusammen mit herkömmlichen neue Reifen und Reifengrößen geben, die einen
Reifen montiert werden. Im Pannenfall r ollt der besonders niedrigen Rollwiderstand aufweisen und
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 549

damit die Reichweite dieser Fahrzeuge erhöhen. Es 7.3.6.3 Auf Reifen abgestimmte Komponenten
deutet sich eine Entwicklungsrichtung zu größeren im Fahrwerk
Außen- und Felgendurchmessern an. Für eine Abstimmung zwischen Reifen und Fahr-
Zunehmend gefordert wird eine ausreichende Pan- werkskomponenten bietet sich z.B. das Federbein-
nenlauffähigkeit bei Luftverlust. kopflager an, so dass die reifenspezifischen Anregun-
gen im Geräusch- und Vibrationsbereich von der
7.3.6.1 Reifenbezogene Zusatzprodukte Einleitung in das Chassis abgekoppelt werden. Glei-
Reifenbezogene Zusatzprodukte können z.B. zur ches gilt auch für andere Fahrwerkslager.
Geräuschdämpfung durch Absorber und Resonatoren Es zeichnet sich ab, dass zukünftig auch adaptive
im Reifen und im Radhaus Eingang finden. Die Fahrwerklager zum Einsatz kommen, die situative
Auslegung der Reifen erfolgt so, dass die Schallab- Verstellmöglichkeiten bieten und speziell auf die
strahlung in die Richtung dämpfender Radhausaus- Reifenbedürfnisse angepasst sind.
kleidungen gelenkt wird. Als weiterer Trend wird die Optimierung von Reifen
und Fahrwerk auf bestimmte Betriebszustände wie
7.3.6.2 Reifendruckkontrolle zum Beispiel Kurvenfahrt oder Bremsen an Bedeu-
tung zunehmen. Für den Reifen kann das bedeu-
Ein weiteres Zusatzprodukt ist die Luftdrucküberwa- ten, dass die Vergleichmäßigung der Kontaktkraft in
chung während der Fahrt. Die Luftdruckkontrolle von der Reifenaufstandsfläche unter unterschiedlichen
Reifen ist in den USA für Neufahrzeuge bereits Einsatzbedingungen eine bessere Ausnutzung des
gesetzlich vorgeschrieben. Anlass waren viele Un- Kraftschlusspotenzials zur Folge hat. Erste Veröffent-
fälle, die aufgrund von Minderluftdruck aufgetreten lichungen haben das bestehende Optimierungspoten-
sind. zial bereits aufgezeigt.
Auf dem Markt verfügbar sind zwei unterschiedliche
Messprinzipien: Die direkt messenden und die indi- 7.3.6.4 Materialentwicklung
rekt messenden Systeme. Die Anhebung der Kompromisslage zwischen Kraft-
Bei den direkt messenden Geräten wird über ein im schlusserhöhung und Rollwiderstandsreduzierung
Innenraum des Reifens an der Felge oder am Reifen steht seit jeher im besonderen Blickpunkt der Materi-
selber angebrachtes Sensormodul der Luftdruck und alentwicklung. Mit der Einführung der Silikatechno-
die Reifeninnenraumtemperatur gemessen. Per Funk logie ist bereits ein bedeutender Schritt zur Überwin-
werden die Informationen von allen Rädern an einen dung der Kompromisslage gelungen (Bild 7.3-37).
Empfänger im Fahrzeug übermittelt. Die heutigen Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass der Gummi
Geräte benötigen eine Batterie; in der Entwicklung selbst noch ein Entwicklungspotenzial in Richtung
sind aber bereits Geräte, die die Energie von außen eines adaptiven Werkstoffes besitzt. Als Beispiel
über elektromagnetische Felder einspeisen oder die dafür sind sogenannte „partiell thermoreversible
die Energie aus der Rollbewegung des Reifens gene- Kautschuknetzwerke“ zu nennen. Zusätzliche, che-
rieren. misch maßgeschneiderte, thermoreversible Vernet-
Die indirekt messenden Systeme nutzen die Tatsache zungsdomänen auf Basis supramolekularer Strukturen
aus, dass Reifen bei unterschiedlichen Luftdrücken werden in das konventionelle Polymernetzwerk so
einen unterschiedlichen Abrollumfang haben. Die integriert, dass sich die viskoelastischen Eigenschaf-
Raddrehzahl kann leicht über die ABS-Sensoren
bestimmt werden. Diese Systeme benötigen keine
zusätzlichen Sensoren und können zusammen mit
Nassgriff

einem ABS-System relativ preiswert realisiert wer-


den. In der Weiterentwicklung wird mit der Auswer- Neue Polymersysteme
+ neue Füllstoffsysteme
tung luftdruckabhängiger Schwingungen im ABS
Signal eine erhöhte Genauigkeit erzielt. 105
Die Genauigkeit der aufwändigeren, direkt mes-
senden Systeme wird von den indirekt messenden 100

Systemen nicht erreicht. Beide Systeme geben dem Neue


Fahrer eine Warnung bei Luftverlust und sind be- Polymer-
reits mit stark zunehmender Durchdringung im systeme
„besser“
Markt. Mit der Überwachung des Reifendruckes im
Fahrzeug wird die Anzahl von Pannenfällen durch 100 105 115 Rollwiderstand
Früherkennung entscheidend reduziert und damit
ein wesentlicher Schritt zu mehr Sicherheit voll- Bild 7.3-37 Potenzial neuer Mischungskonzepte zur
zogen. Minderung der Kompromisslage Nassgriff zu Roll-
Bei Fahrzeugen mit Reifendruckregelung wird die widerstand (Rollwiderstand >100 % bedeutet gerin-
Kontrolle vom Regelsystem übernommen. gere Energiedissipation, daher „besser“)
550 7 Fahrwerk

ten einer Reifenlauffläche den Einsatzbedingungen hinaus werden Ansätze verfolgt, das aktuelle maxi-
hinsichtlich Temperatur, Frequenz und Verformung male Kraftschlusspotenzial zwischen Reifen und
anpassen können. Fahrbahn abzuschätzen.
Die Entwicklung des Verständnisses bruchmechani- Ein Wunsch für die Zukunft ist, dass der Reifen nicht
scher Vorgänge auf molekularem Niveau und die nur seinen oder den Zustand der Umgebung detek-
Erarbeitung darauf aufbauender Konzepte zur Vor- tiert, sondern sich aktiv an die jeweilige Fahrsituation
hersage der Lebensdauer von Gummiwerkstoffen anpasst.
sind eine weitere Herausforderung an die Materialfor- Das kann z.B. heißen: wenn in einer Fahrsituation
schung am Reifen. keine besonderen Anforderungen gestellt werden,
rollt der Reifen leise, komfortabel und mit wenig
7.3.6.5 Reifen mit erweiterten Funktionen Rollwiderstand. Wenn Seiten- oder Bremskraft ge-
In seiner Funktion zuverlässig Kräfte und Momente fordert sind, wird der Kraftschluss mit der Straße
im Kontakt zur Fahrbahn zu übertragen und somit erhöht und das Profil versteift sich, um ein Kippen
Fahrstabilität sowie Fahrkomfort zu gewährleisten, ist der Profilklötze zu verhindern. Bei Aquaplaning
der Reifen die Systemkomponente, die alles „erfährt“, vergrößern sich die Profilrillen, um mehr Wasser
was sich zwischen Fahrzeug und Straße – sozusagen abführen zu können.
direkt vor Ort – abspielt. Es gibt die Vision, durch Ein- und Ausschalten von
Unter der Überschrift „intelligenter Reifen“ werden elektromagnetischen Feldern chemische „Schalter“ in
verschiedene Ansätze verfolgt, die Funktionen von den Reifenmischungen zu aktivieren oder über
Reifen, insbesondere auch mit geeigneter Sensorik, magneto- oder elektrorheologische Effekte die Ver-
zu erweitern. Entwicklungsziel ist ein Reifen, der als bindungsstellen im Gummi nach Bedarf knüpfen und
integrale Komponente des Fahrwerks möglichst viele lösen zu können, um so die Steifigkeit und den Roll-
Informationen an Fahrer und Fahrzeug liefert. widerstand gezielt zu verändern.
Der Reifen wird über seine derzeitige Funktion hin- Auf diesem Gebiet ist noch viel Grundlagenarbeit zu
aus zum Datenträger und Datengeber zur Erfassung leisten. Daher wird der Reifen als Aktuator wohl
und Bereitstellung von Informationen über noch einige Zeit auf sich warten lassen.

• seine Identität und seine Eigenschaften (z.B. Her- Literatur


stellungsdatum, Sommer- oder Winterreifen),
• seinen Zustand (z.B. Reifendruck, Reifentempe- Amtsblatt der Europäischen Union, VERORDNUNG (EG) Nr.
661/2009 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES
ratur), RATES über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraft-
• den Fahrbahnzustand (eisig, verschneit, nass, fahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbststän-
trocken) und digen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ih-
• den Fahrzustand (aktuell wirkende Kräfte und rer allgemeinen Sicherheit vom 13. Juli 2009
Amtsblatt der Europäischen Union, VERORDNUNG Nr. 1222/2009
Momente). DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES
Diese Daten dienen zur direkten Information des über die Kennzeichnung von Reifen in Bezug auf die Kraftstoff-
effizienz und andere wesentliche Parameter vom 25. November
Fahrers und als Eingangsgrößen für elektronische 2009
Sicherheits- und Komfortsysteme. Andre, F.: OPC Michelin Fahrwerksystem, 11. Aachener Kolloquium
Von Seiten der Automobilindustrie wird heute schon Fahrzeug- und Motorentechnik 2002
die Einbringung von Elektronik in den Reifen zur ATZ, Drucklose Reifen-Felgen-Kombination, ATZ, März 2005, Seite
182
eindeutigen Identifizierung von Reifen und zur auto- ATZ, Weniger Rollwiderstand durch Einsatz von Organosilanen,
matischen Dokumentation der Zuordnung zum Fahr- ATZ, Juni 2008, Seite 532
zeug gefordert. Bachmann, Th.: Literaturrecherche zum Reibwert zwischen Reifen
Dies soll über RFID-Transponder (RF = Radio Fre- und Fahrbahn, Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12: Verkehrstech-
nik/Fahrzeugtechnik Nr. 286, VDI Verlag
quency) geschehen, die zum Lesen und Schreiben mit Becherer, Th.; Oehler, R.; Raste, Th.: Der Seitenwandtorsions-Sensor
einer externen Antenne angefunkt werden. Jeder SWT, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 11/2000
Transponder besitzt eine Identifikationsnummer und Becker, A.; Seifert, B.: Simulation von Abrieb und von Reifenkenn-
werten für Handling mit einem stationär rollenden FE-Reifen-
kann mit zusätzlichem Speicherplatz für eine Speiche-
modell, 6. Fachtagung Reifen Fahrwerk Fahrbahn 1997, VDI
rung von Daten ausgestattet sein. Die vom Reifenher- Berichte 1350
steller abgelegten Daten wie DOT-Nummer, Reifen- Becker, A.; Dorsch, V.; Kaliske M.; Rothert, H.: A material model for
größe, Seriennummer, Profilvariante, Lastindex aber simulating the hysteretic behavior of filled rubber for rolling
tires, Tire Science and Technology, Vol. 26, No. 3, 1998
auch Messdaten können bei Bedarf ausgelesen und um nd
Böhm, F.; Willumeit, H.-P.: Proceedings of the 2 International
weitere Informationen ergänzt werden. Colloquium on Tyre Models for Vehicle Dynamic Analysis,
Reifen werden zukünftig mit geeigneten Sensorsys- University of Berlin, Swets & Zeitlinger Publishers, 1997
temen Luftdruck, Temperatur, Kräfte, Geschwindig- Bungart, Th.; Huinink, H.: Alles über Reifen, ReifenMagazin 2/03,
3/03, 4/03, 5/03, 1/04
keit und Beschleunigungen detektieren, die, ins
Clark, S. K.: Mechanics of Pneumatic Tires, U.S. Department of
Fahrzeug übertragen, als Kontrollsignale für Fahrdy- Transportation National Traffic Safety, Administation Washing-
namik-Regelsysteme zur Verfügung stehen. Darüber ton, D.C. DOT HS 805 952, August 1981
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 551

Eichhorn, U.: Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahn – Einfluss und Kendziorra, N.; Härtel, V.: Einsichten in die Dynamik des Reifen/
Erkennung, Dissertation TH Darmstadt, Fachgebiet Fahrzeug- Fahrbahn-Kontaktes und deren Bedeutung für geregelte Brems-
technik Fortschritt-Berichte VDI Reihe 12 Nr. 222, Düsseldorf vorgänge, VDI-Tagung „Reifen, Fahrwerk, Fahrbahn“, Hanno-
VDI-Verlag, 1994 ver, 2003
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lona, 1995 dauerte es, bis mit der industriellen Revolution wei-
552 7 Fahrwerk

Maulweite • Gesenkschmieden (Pressen)


Außenhorn Innenhorn – Aluminium – und Magnesiumrad
Tiefbett • Blechumformung/Stanzen/Walzen
– Stahlrad, Aluminium-Bandrad
7.3.7.4 Serieneinsatz
Einpresstiefe
(Marktanteile heute und in Zukunft)
Weltweit wurden 2005 für Pkw- und Leicht-Lkw
Radanlage Neufahrzeuge weit mehr als 300 Mio. Räder benötigt.
In Deutschland und USA ist dabei der Aluminium-
Nabenbohrung

Raddurchmesser
Rad-Anteil bereits über 50 % mit weiter steigender
Lochkreis

Tendenz. Sonderkonstruktionen, wie mehrteilige


Räder und Räder aus exotischen Werkstoffen (Mag-
nesium, Kunststoffe, Verbundwerkstoffe), spielen
hierbei eine vernachlässigbare Rolle.
Befestigungsbohrung
7.3.7.5 Entwicklungs-Methodik
Radmittellinie

7.3.7.5.1 CAD Konstruktion


3D Geometrie (Bild 7.3-39), 2D Zeichnungsablei-
tung, Surface, Solids. Diese Daten werden für die
n
Au

ne Festigkeitsanalyse, Gieß-/Umformsimulation, Her-


ß

Hump In
en

Reifensitz Reifensitz stellung der Kokille, Schmiedeform, Spannmittel,


(Felgenschulter) (Felgenschulter) Prüfpläne und zur Programmierung der Bearbei-
tungsmaschinen benötigt.
Bild 7.3-38 Rad Terminologie
7.3.7.5.2 Finite Elemente Analyse
tere Bauweisen aufkamen, die teilweise bis heute
Bestand haben (Stahlspeichenrad, 1888 Luftreifen, Mit Hilfe der Finite Elemente Analyse können viel-
Vollscheibenstahlrad). fältige, mehrachsige Lastfälle im Rad simuliert wer-
Es folgte 1926 das erste Aluminium Gussrad auf den. Die FE – Lastmodelle der üblichen Prüfstände
einem Bugatti. Heute werden Räder hauptsächlich (Umlaufbiegung – Bild 7.3-40 und Abrollen –
aus Stahl oder Aluminium gefertigt. Welche Bauwei- Bild 7.3-41) ermöglichen relativ genaue Vorhersagen
sen letztendlich zum Einsatz kommen, wird vom zur Versagenswahrscheinlichkeit, vorausgesetzt der
Belastungsprofil, den fahrdynamischen Anforderun- Hersteller verfügt über eine umfangreiche Ergebnis-
gen, der Ästhetik und den Kosten bestimmt. Der datenbank und daraus abgeleitete Bauteilermüdungs-
Zwang zum Energiesparen und damit auch zur Redu- kurven zum jeweils verwendeten Material und Her-
zierung der Luftverschmutzung erfordert konsequen- stellverfahren. Daraus lassen sich die maximal zuläs-
ten Leichtbau. sigen Vergleichs-Spannungen ermitteln. Die Zwarp-
Prüfung (zweiaxiale Abrollprüfung) und auch die
7.3.7.2 Normung/Terminologie Impact-Prüfungen werden noch mit empirischen
Räder sind durch die Europäische ETRTO – Norm in Methoden mit Hilfe von statischen Ersatzmodellen
Bezug auf Größen und Felgenprofile festgelegt. Je simuliert, da nicht-lineare Berechnungsmethoden
nach verwendeten Reifen kommen unterschiedliche bisher wegen des hohen Aufwands nicht gerechtfer-
Profile zur Anwendung. tigt waren.
7.3.7.5.3 Prüfstandserprobung
Die Schnittstelle zum Fahrzeug (Bremsenfreigängig-
keit, Einpresstiefe, Lochkreis, Nabenbohrung) ist sehr Die Prüflasten und Anforderungen ergeben sich aus:
individuell und wird vom Fahrzeughersteller vorge- • Fahrzeuggewicht
geben. Alle anderen Bereiche (Radschüssel, Felgen- • Reifen (dynamischer Abrolldurchmesser, laterale
außenseite, teilweise auch Felgenkontur) folgen Haftreibungszahl μ )
stilistischen Vorgaben und den Belastungsanforde- • Prüfkriterien (Fahrzeughersteller, TÜV)
rungen (Bild 7.3-38). • Oberflächenanforderung
7.3.7.3 Wesentliche Herstellverfahren • Thermische Belastung
• Gießen Daraus ergeben sich für die FE Analyse die entspre-
– Aluminium- und Magnesium-Rad chenden Randbedingungen wie:
 Niederdruck Kokillenguss • Radlast
 Schwerkraft Kokillenguss • Seitenkraft
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 553

Entwicklungsziele Einfluss auf


Geringes Gewicht, Fahrdynamik, Kraftstoff-
geringes Massenträg- verbrauch
heitsmoment
Stabilität, Steifigkeit Fahrdynamik, Lebens-
dauer, Deformationen
Dauerfestigkeit, Sicherheit, Lebensdauer
Duktilität
Korrosionsschutz Werterhalt, Optik,
Sicherheit
Ästhetik Marketing, Verkaufs-
argument
Gute Bremsenkühlung Sicherheit

Bild 7.3-39 3D Modell

• Stoßfaktoren → Bodenwellen, Schlaglöcher,


Schwellen, Bordsteine
Von Mises-
• Antriebs- und Bremsmomente
Spannungen • Materialeigenschaften
(Knotenwerte) .1
100 Verschiedene, standardisierte Prüfungen helfen die
90
80 Dauerfestigkeit und Crashsicherheit nachzuweisen.
70
60
50
• Umlaufbiegeprüfung
40 Bei Kurvenfahrt wird das kurvenäußere Rad durch
30
20
Seitenkraft und erhöhte Radiallast belastet. Diese
10 Kräfte erzeugen im Rad zwei Biegemomente de-
0
Auf der ren Werte durch den dynamischen Halbmesser
Begrenzung (rdyn) und die Einpresstiefe (e od. ET) als Hebel-
arme bestimmt werden. Für die Umlaufbiegeprü-
fung wird als Prüflast die zweifache max. Radlast
angesetzt (Abheben kurveninneres Rad, Bild 7.3-
Bild 7.3-40 FE-Analyse (Umlaufbiegemodell) 42). Das so ermittelte Biegemoment wird dann
zum Nachweis der Dauerfestigkeit bei der Um-
laufbiegeprüfung (Bild 7.3-43) erzeugt, wobei un-
terschiedliche Anforderungen über die prozentuale
Von Mises-
Höhe geregelt werden.
Spannungen • Radiallastprüfung
(Knotenwerte) .1
100
Diese dynamische Prüfung dient ebenfalls, wie die
90 Umlaufbiegeprüfung, zum Absichern der Ermü-
80
70
dungsfestigkeit, normalerweise unter konstanter
60 Radiallast (bei Pkw 2.5-fache maximale Radlast).
50 Einige Automobilhersteller fordern jedoch eine zu-
40
30 sätzliche Seitenkraftkomponente, die durch Schräg-
20 stellung (Lenkwinkel) erzeugt wird (Bild 7.4-44).
10
0 • Zweiaxiale Räderprüfung (ZWARP)
Auf der Umlaufbiege- und Abrollprüfung können die Reali-
Begrenzung
tät nicht in allen Bereichen des Bauteils genau abbil-
den. 100 %ige Sicherheit ist deshalb nicht gewähr-
leistet, wie Räder mit Anrissen nach längerem Fahr-
betrieb in der Vergangenheit immer wieder zeigten.
Aus diesem Grund wurde vom Fraunhofer-Institut
Bild 7.3-41 FE-Analyse (Steifigkeitsmodell, Hoch- (LBF in Darmstadt) vor einigen Jahren die
und Seitenkraft) ZWARP Prüfung entwickelt. Das bereifte Rad
554 7 Fahrwerk

G e
Z
Mbmax

rdyn
2m FR
2m FR

2 FR 2 FR Bild 7.3-42 Kräfte am Rad


Mbmax = 2 FR (m · rdyn + e) [Nm]
(TÜV Vereinfachung)

• Impact Test (SAE J175)


Mit dieser Prüfung wird ein seitlicher Aufprall auf
einen Bordstein simuliert. Dabei wird das bereifte
Rad (Felgenhorn außen und die Radschüssel) ei-
ner hohen dynamischen Belastung ausgesetzt,
welche durch ein Fallgewicht erzeugt wird. Der
L Impact darf nicht zum schlagartigen Luftverlust
Lastarm mit DMS
oder Bruch führen.
Unwuchtschwinger

Fdf
• Cass Test 240 h/Salzsprühtest 1.000 h SS DIN
Antrieb 50021
flex. Kupplung
Die Prüfungen dienen zum Nachweis der Korro-
sionsbeständigkeit. Die Lackoberfläche wird vor
Testbeginn teilweise bis auf das Grundmaterial
vorgeschädigt (Ritzspur, Steinschlag) und danach
mit einer Salzlösung besprüht.
• Radialschlagtest
Hierbei fällt ein Gewicht mit einer Schlagfinne
Bild 7.3-43 Umlaufbiegeprüfung (schematisch) auf das stehende bereifte Rad. Diese Prüfung si-
muliert das Überfahren eines Hindernisses. Die
Aufprallgeschwindigkeit beträgt bis zu 5,2 m/s.
wird dabei einer ständig wechselnden dynami- Die Fallenergie wird abhängig von der Radlast in
schen Belastung in radialer und lateraler Richtung bis zu 3 Laststufen eingestellt.
ausgesetzt. Die Steuerungssoftware ermöglicht
dabei das Nachfahren verschiedener, realitätsna- • Wechseltorsionsprüfung
her Lastkollektive wie Hockenheimring, Nürburg- Hierbei wird das Rad einem wechselnden Tor-
ring und den sog. Europazyklus. sionsmoment zur Simulation der Brems- und An-

angetriebene
Trommel

FPr

Bild 7.3-44 Radial-


beweglicher Schlitten
lastprüfstand (schematisch)
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 555

Bild 7.3-45 Zweiaxiale


Räderprüfung (ZWARP)

triebskräfte ausgesetzt. Dieser Test ist für Kraft- und bei Nkw fast ausschließlich verwendet, hat
rad – Räder zwingend vorgeschrieben, bei Pkw- Kostenvorteile. Allerdings gilt dies nur für die Groß-
Rädern nur, falls hinsichtlich der Anzahl und serie, wegen der hohen Anfangsinvestition in An-
Querschnitte der Speichen Bedenken bestehen. lagen und Werkzeuge. Es wird aktuell aus höherfes-
ten Stählen gefertigt und besteht aus zwei ver-
• Werkstoffprüfung schweißten Teilen, der Felge und der Radschüssel.
Diese wird zur Absicherung an den geprüften Rä- Neuere Entwicklungen ermöglichen durch eine bean-
dern – um bei späteren Ausfällen im Fahrbetrieb spruchungsgerechte, variable Materialverteilung in
Werkstofffehler ausschließen zu können – und der Felge Gewicht zusätzlich einzusparen. Dabei
während der Serie durchgeführt. Mindestwerte für werden die weniger belasteten Bereiche der Felgen-
Zugfestigkeit, Streckgrenze und Bruchdehnung schultern ausgedünnt. Dieses wird in heutigen Se-
sind vorgegeben (Fahrzeughersteller, TÜV). rienproduktionen mittels Drückwalzen des gerunde-
7.3.7.5.4 Fahrerprobung im Rahmen ten zylindrischen Felgenbandes oder in einer Kombi-
der Fahrzeugentwicklung (Dauerläufer) nation Drückwalzen und Felgenprofilierung ausge-
führt.
Im Rahmen der Fahrerprobung bei neuen Fahrzeug-
modellen wird das Serienrad beim Automobil-
hersteller „freigefahren“, das heißt alle Aspekte
hinsichtlich Fahrdynamik, Struktur- und Korrosions-
festigkeit werden geprüft.
Es gibt zahlreiche weitere Prüfungen, die jedoch meist
Fahrzeughersteller-spezifisch angewandt werden.
7.3.7.5.5 Entwicklungstendenzen zur Methodik
• automatisierte Strukturoptimierung, Bionik für
Radspeichen, Evolutionsstrategien
• Lastwechselvorhersagen zur ZWARP-Prüfung
(Software, welche die Ergebnisse dieser Prüfung
prognostiziert)
• Gießsimulation
• Umformsimulation
7.3.7.6 Fertigungsverfahren – Weiterentwicklung
7.3.7.6.1 Stahlrad
Das Stahlscheibenrad (Bild 7.3-46), immer noch
Basisausstattung bei vielen Pkw im unteren Median Bild 7.3-46 Stahlscheibenrad
556 7 Fahrwerk

Felgenherstellung: Coil → Zuschneiden → Rund- spezifische Tragfähigkeiten deutlich über dem Stahl-
walzen, → Verschweißen → rad, dem Aluminium – Gussrad und Schmiederad.
Entgraten → Rund drücken → Wie beim Stahlrad ist die stilistische Freiheit einge-
Voraufweiten → Profilieren schränkt und es sind hohe Investitionen in Werkzeuge
(3 Operationen) → Kalibrieren erforderlich. Aus diesem Grund wird es nur als Ba-
→ Ventilloch Stanzen und Ent- sisausstattung für höherwertige Pkw verbaut mit dem
graten Ziel, Gewicht einzusparen.
Radschüssel: Coil → Zuschneiden → Tiefzie- Das Aluminium-Gussrad (Bild 7.3-48) wird für
hen/Formpressen (3 – 5 Opera- Groß- und Kleinserie hauptsächlich im Kokillenguss
tionen) → Stanzen Lüftungs- hergestellt. Die Gestaltungsfreiheit ist hier am höchs-
und Bolzenlöcher → Entgraten ten. Als Lifestyle-Produkt tritt häufig die Funktionali-
Lüftungslöcher tät eher in den Hintergrund. Obwohl aus Leichtmetall
Komplettrad: Verschweißen → Oberflächen- gefertigt sind die Radgewichte nicht zwingend opti-
behandlung (Reinigen, Entfetten, mal niedrig. Als Legierungen kommen die veredelte
Tauchlackieren) untereutektische AlSi7Mg bzw. naheutektische Al-
Mit Full/Semi-Full-Face Scheibenrädern, bei denen Si11Mg zum Einsatz (teilweise ohne T6 Warmbe-
die Anbindung der Felge an die Radschüssel am handlung).
Felgenhorn oder unter dem äußeren Reifensitz statt Standardherstellung: Schmelzen  Gießen 
im Tiefbett erfolgt, wird das Aussehen wegen der (Warmbehandlung)  me-
größeren Schüssel verbessert. Ebenfalls zur Aufwer- chanische Bearbeitung
tung der Optik aber auch zur Verbesserung der Brem- (Vorbohren oder Stanzen,
senkühlung, wurde neuerdings die klassische Spei- Drehen, Bohren, Entgraten,
chenradoptik (5 oder mehr Speichen) umgesetzt. Die Schleifen)  Oberflächen-
Herstellung der Radschüssel dieses so genannten behandlung (Entfetten, Pas-
Stahlstrukturrades (Bild 7.3-47) ist aufwändiger sivieren, Pulvergrundieren,
durch notwendige größere Materialdicken, komple- Lackieren)
xere Formgebung und erheblich größere Lüftungslö- Zur Verbesserung der Festigkeit als Gewichts-
cher. Nach wie vor verwendete Kunststoff-Rad- optimierungs-Maßnahme wird bei höherwertigen
abdeckungen können mit höherem gestalterischem Rädern zusätzlich ein Flow-Forming (Drückwalzen
Freiheitsgrad dargestellt werden. unter erhöhter Temperatur) des Felgenbetts durchge-
führt.
Mit aufwändigen Technologien kann bei großen
Durchmessern dem damit verbundenen Gewichtszu-
wachs entgegen gewirkt werden (Bild 7.3-49):
• Speichen hohl gegossen
• umlaufende Hohlräume in der Felgenschulter
außen (Stylingfreiheit ohne höheres Gewicht)

Bild 7.3-47 Stahlstrukturrad

7.3.7.6.2 Leichtmetallrad
Alu-„Bandrad“, Alu-Gussrad, Alu-Schmiederad, Mg-
Gussrad, Mg-Schmiederad
Das Aluminium-Bandrad aus einer Knetlegierung,
wird ähnlich einem Stahlrad gefertigt und erreicht Bild 7.3-48 Aluminium-Rad
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 557

Die deutlich höheren Kosten sind durch den Mate-


rialpreis, größeren Aufwand beim Schmieden- und
Drückwalzen sowie höheren Aufwand beim Korro-
sionsschutz bedingt. Gussräder sind vom Markt
nahezu verschwunden. Schmiederäder finden im
Rennsport und teilweise im high-end Segment Ver-
wendung. Dort wird die hohe spezifische Festigkeit
einiger Magnesiumlegierungen genutzt um sehr
leichte Räder zu bauen.
7.3.7.6.3 Kunststoff-Rad (Composite-Rad)
Seit den 70ger Jahren und sporadisch bis heute wird
versucht Räder aus faserverstärkten Kunststoffen
herzustellen. Diese bestanden aus Glasfaser eingebet-
tet in eine Duromer-Matrix. Aspekte, wie das Prob-
lem der thermischen Belastung, das spröde Bruchver-
halten und die Verwendung zufällig orientierter
Glasfasern, die eine geringe oder überhaupt keine
Gewichtsersparnis ergab, wurden vernachlässigt.
Konstruktionen, die z.B. endlose, ausgerichtete Koh-
lestofffasern verwenden, sind extrem teuer. Außer-
Bild 7.3-49 Aluminium Hohlkammer-Gussrad dem ist bei tatsächlich sehr viel leichterem Rad ein
hohes Sicherheitsrisiko vorhanden, da jeder Stoß die
innere Struktur schädigen kann (Delamination). Die
• umlaufender Hohlraum in der Felgenschulter geringe Bruchzähigkeit der verwendeten duromeren
innen (hohe Steifigkeit um Stöße besser abzufan- Harze ist dafür verantwortlich. Solch ein Rad bedarf
gen) also einer ständigen Überwachung, es sei denn man
Das Aluminium-Schmiederad ist nochmals teurer geht den Weg einer extremen Überdimensionierung.
als alle vorgenannten Bauarten, hat aber eine höhere Dann aber ist der Gewichtsvorteil nicht mehr gege-
spezifische Tragfähigkeit als das Alu-Gussrad bei ben. Bis heute finden Composite Räder fast nur im
etwas reduzierter Gestaltungsfreiheit. Dieses Rad Rennsport Verwendung, wo ständige Überprüfung
wird, ausgehend von einem Stutzen (meist AlMgSi1), geleistet werden kann.
durch mehrstufiges Pressen (Radspeiche, Felgenan- 7.3.7.7 Gewichtsrelationen
satz) und Drückwalzen hergestellt. Presskräfte bis zu
8000 to sind dazu erforderlich. Eine preisgünstige Ungefederte Massen, Massenträgheitsmoment und
Variante stellt das Leichtschmiederad mit vereinfach- Steifigkeit beeinflussen maßgeblich das fahrdynami-
tem Styling und weniger Pressstufen dar (Kostenvor- sche Verhalten des Fahrzeugs in Bezug auf Lenk-
teil). kräfte, Lenkpräzision, Radlastschwankungen sowie
Herstellung: Rundstange (gegossen oder extrudiert) Beschleunigungs- und Bremsdynamik. Da das Rad
 Stutzen  mehrstufiges Pressen  sowohl translatorisch als auch rotatorisch beschleu-
Drückwalzen Felge  Warmbehand- nigt bzw. verzögert werden muss und außerdem zu
lung  danach wie Alu-Gussrad 100 % den ungefederten Massen zuzurechnen ist,
wirkt sich Gewichtsreduzierung durch Leichtbau im
Das Magnesium-Guss- und Magnesium-Schmiede- Vergleich zu anderen Bauteilen am Fahrzeug mehr-
rad wird wie das entsprechende Alu-Rad hergestellt. fach aus (Tabelle 7.3-2).

Tabelle 7.3-2 Rädergewichte


Ausführung Gewicht [%] Pkw Rad 8 × 18″ Radlast 700 kg
Stahlrad (Standard-/Strukturrad) 100 12.500 – 13.500 g
Alu gegossen 80 – 110 10.500 g*) – 14.000 g
Alu geschmiedet ≈ 73 9.500 g*)
Mg gegossen ≈ 73 9.600 g*)
Mg geschmiedet ≈ 63 7.900 g*)
Composite (mit duromerem Harz) < 45 bis > 75 6.000 g – 10.000 g**)
*) Gewichtsoptimiert bzw. leichtes Styling
**) je nach Sicherheit
558 7 Fahrwerk

Bei der Gewichtsreduzierung hat das Stahlrad durch 7.3.7.10 Energiebetrachtung bei Herstellung/
höherwertige Stähle in den letzten Jahren große Recycling
Fortschritte gemacht. Der weitaus größte Teil der Räder wird aus Stahl und
7.3.7.8 Größenrelationen Aluminium gefertigt. Eine Energiebetrachtung für
diese Materialien ist von Bedeutung, zumal gerade
Die Entwicklung von ursprünglich sehr großen und beim Aluminium von weiter steigendem Bedarf
schmalen Rädern zu breiteren, kleineren Rädern war auszugehen ist und bereits heute der Anteil am welt-
bestimmt durch verbesserte Straßenoberflächen und weiten Stromverbrauch zur Herstellung von Primär-
immer höheren Kurvengeschwindigkeiten. Seit den aluminium bei mehr als 2,5 % liegt.
70er Jahren setzt allerdings beim Pkw wieder ein Zur Herstellung von einer Tonne Primäraluminium
Trend zu größeren Rädern ein, der verschiedene werden 4 to Bauxit benötigt und es sind dazu heute
Ursachen hat (Ästhetik, Fahrdynamik, größere Brem- ca. 13 bis 18 MWh Strom über die gesamte Prozess-
sen). Räder mit 13″ Durchmesser sind in einigen kette (Bauxit → Tonerde Al2O3 → Elektrolyse) erfor-
Anwendungsfällen solchen mit 18″ und mehr gewi- derlich. Diese Energie ist im Werkstoff gespeichert
chen. und könnte zum großen Teil wieder zurück gewonnen
7.3.7.9 Rad/Reifen – Besondere Aspekte werden, was allerdings auf Grund der hervorragenden
Recyclingfähigkeit von Aluminium und ständig
• Verdrehen des Reifens auf der Felge steigendem Bedarf eine rein hypothetische Betrach-
Probleme können bei der Übertragung der Brems-/ tung ist. Beim Recyclingprozess (Sekundäralumini-
Antriebsmomente auftreten, insbesondere bei um-Gewinnung) werden nämlich lediglich ca. 5 %
sportlichen und leistungsstarken Fahrzeugen und der ursprünglichen Energie (auf Grund des niedrigen
Reifen mit höheren μ-Werten (heutige Sportreifen Schmelzpunkt von 660 °C) benötigt und es gibt keine
bringen es auf bis zu 1,2, üblich ist 0,9), kann es Qualitätseinbuße. Diese Recyclingfähigkeit kann, über
zum Verdrehen des Reifens auf der Felge kom- mehrere Bauteilzyklen gesehen, die Energiebilanz
men. Durch Anpassen der Oberflächenbeschaf- deutlich verbessern, wenn nicht sogar positiv werden
fenheit im Reifensitz, zum Beispiel durch speziel- lassen, da die Energieeinsparung (siehe 7.3.7.11) durch
le Anti-Rutsch-Lacke, wird versucht dem entge- Leichtbau und die Schonung von Ressourcen durch
gen zuwirken. Langlebigkeit nicht vernachlässigt werden darf.
Für die Stahlerzeugung wird in etwa 6 – 8 MWh
• Horndeformationen/Beschädigung durch Bord- Strom pro Tonne verbraucht. Stahl erfordert jedoch
steine einen höheren Energieaufwand beim Recycling und
Niedrige Reifenquerschnitte führen zu hoher Be- zwar nicht nur beim Einschmelzen (ca. 1.500 °C)
lastung der Felge beim Überfahren von Schlaglö- sondern bereits im Vorfeld beim Einsammeln, Trans-
chern, Bodenwellen, Schwellen und Bordsteinen port, Sortierung, da höhere Gewichte bewegt werden
und dadurch zu Horndeformationen und Beschä- müssen. Wenn man den zusätzlichen Kraftstoff-
digungen. Anfahrschutz aus Edelstahl oder Com- verbrauch einrechnet, den schwerere Bauteile verur-
posite-Material kann helfen Folgekosten bei Be- sachen aber auch den höheren Energieverbrauch im
schädigung des Außenhorns zu reduzieren. Laufe von Recyclingzyklen, wird die Energiebilanz
im Vergleich zum Aluminium immer irgendwann
• Hochfrequente Schwingungen negativ. Bauteile aus Aluminium sind damit auch
Fahrbahn- und Reifen- initiierte Schwingungen im eine Investition in die Zukunft.
hochfrequenten Bereich führen zu erhöhtem Ver-
schleiß der Felgenhörner im Bereich der Kontakt- 7.3.7.11 Umweltschonung
flächen. Auch hier kann ein Anti-Rutsch-Lack Gewichtsoptimierte Leichtbau-Räder helfen Kraft-
verschleißhemmend wirken. stoffverbrauch und Emissionen zu reduzieren. Wie
oben erwähnt, wirkt sich Gewichtsreduzierung am
• Unwucht Rad im Vergleich zu anderen Bauteilen am Fahrzeug
Sensitive Radaufhängungen erfordern geringe To- mehrfach positiv aus.
leranzen für Rundlauf- und Planlauf am Rad. Un-
wuchten, verursacht durch ungleiche Massenver- Literatur
teilung in radialer Richtung (statische Unwucht)
Arbeitskreis Räder (Audi, BMW, Mercedes Benz, Porsche, VW): AK-
und in axialer Richtung (dynamische Unwucht), Lastenheft-LH08 4.42
werden bei Aluminium-Rädern meist durch Bönning M., Michelin: Konzepte zur Optimierung von Pkw Rädern,
Spannfehler beim Bearbeiten, Verzug der Rohlin- Rad.Tech 2002
ge, Dichteschwankungen (beim Gussrad) hervor- Deutscher Automobil Veteranen Club e.V.: Kulturhistorische Remi-
niscenzen – Am Anfang war das Rad. . ..
gerufen. Mit zunehmendem Raddurchmesser und ETRTO Standard Manual 2006
Radgewicht sind diese Unwuchten schwerer zu Quinkertz R.: Dissertation – Optimierung der Energienutzung bei der
beherrschen. Aluminiumherstellung, Mai 2002
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 559

Reimpell, J.: Fahrwerktechnik Reifen und Räder. München: Vogel 7.3.8.3.1 Laufnetzformen
Verlag, 1986
TÜV: Richtlinie für die Prüfung von Sonderrädern an Kraftfahrzeu- Gemäß der Anordnung von Kettenteilen auf der
gen, Krafträdern und Anhängern v. 14. 12. 1995 Lauffläche unterscheidet man gemäß Bild 7.3-50
WVM – WirtschaftVereinigung Metalle: Artikel Aluminium – Leicht-
gewicht unter den Metallen, 2006
Leiter-, Spur- und Netzketten. Wichtig für die Ab-
stimmung zwischen Reifen und Kette ist, dass stets
ein Wechsel zwischen freien Reifenflächen und
Kettenteilen stattfindet. Gleitschutzketten sollen aus
dem Reifen kein „Eisenrad“ machen. Die Scherflä-
chen zwischen den Kettenteilen sind wesentlich für
7.3.8 Gleitschutzketten die Kraftübertragung auf weichem Untergrund. Durch
die quer gerichteten Kettenstränge wird Vortriebs-
7.3.8.1 Einleitung kraft erzielt, durch die längs gerichteten Kettenstücke
Gleitschutzketten sind Vorrichtungen zur Erhöhung Seitenführungskraft. Netzketten sind für breite Reifen
der Kraftübertragung zwischen Reifen von Kraftfahr- geeignet, wie sie insbesondere bei Fahrzeugen für die
zeugen bzw. deren Anhängern, und schneebedeckten, Schneeräumung eingesetzt werden.
vereisten Fahrbahnen oder schmierigem, schlammi- Das Laufnetz der Gleitschutzkette muss annähernd
gem Gelände. Gemäß ihrem häufigsten Einsatzgebiet gleichmäßig über den Reifenumfang verteilt sein, so
werden sie auch als Schneeketten bezeichnet. dass sich in jeder Radstellung Kettenteile in der
Schneeketten müssen den Bedingungen des Ver- Aufstandsfläche des Reifens befinden. Die gleichmä-
kehrszeichens „Schneeketten vorgeschrieben“ ent- ßige Aufteilung des Laufnetzes, wie beispielsweise
sprechen [1]. Gemäß StVO ist die Höchstgeschwin- bei der Netzkette, führt zu einem ruhigen Lauf.
digkeit bei Verwendung von Schneeketten auf
50 km/h begrenzt [2].

7.3.8.2 Wirkungsprinzip von Gleitschutzketten


Gleitschutzketten sollen auf dem Reifen locker mon-
tiert werden, um durch eine Relativbewegung zwi-
schen Reifen und Kette – als „Wandern“ bezeichnet –
sich selbst und das Reifenprofil zu reinigen und so
stets neue Greifkanten in die Aufstandsfläche einzu-
bringen. Bei zu stramm montierten Gleitschutzketten Leiterkette Spurkette Netzkette
kann dieser Effekt nicht eintreten. Darüber hinaus
können bei längerer Fahrt auf trockener Fahrbahn Bild 7.3-50 Laufnetzformen
lokal erhöhte Temperaturen auftreten mit negativer
Einwirkung auf die Reifen. 7.3.8.3.2 Greifelemente
Durch das Aufschlagen der Kette auf die Fahrbahn Das Laufnetz der Gleitschutzkette kann aus unter-
und den erhöhten örtlichen Druck der Kettenglieder schiedlichen Greifelementen bestehen, die die Grif-
in der Aufstandsfläche des Reifens drücken sich figkeit wesentlich beeinflussen. Die älteste Ausfüh-
Kettenteile in die Fahrbahn ein und führen zu einem rungsform ist die gedrehte Kette. Ketten mit zusätz-
Verzahnungseffekt. Da sich auf Eis oder Schnee im lich aufgeschweißten Elementen, wie Stachel zur
Bereich zwischen 0 °C und – 8 °C – insbesondere Erhöhung der Griffigkeit und Verschleißfestigkeit,
unter Druck – ein Wasserfilm oder Kompressions- sind in Mitteleuropa nicht zulässig, da sie zu einer
eis bildet, ist die Wirksamkeit von Gleitschutzketten Beschädigung der Straße führen können. Im Forstein-
in diesem Temperaturbereich besonders groß. Bei satz sind diese Ketten jedoch gängig. Moderne Gleit-
tiefen Temperaturen ändern sich die Eigenschaften schutzketten bestehen aus kurzen Kettengliedern, die
von Schnee und werden tendenziell denen von Sand bruchunempfindlicher sind als lange Kettenglieder.
ähnlich, wodurch die Reifeneigenschaften dominie- Um die Griffigkeit zu erhöhen können die Ketten-
ren. glieder durch Zusatzelemente, wie Greifstege, ergänzt
werden (Bild 7.3-51). Diese Greifelemente wirken
7.3.8.3 Aufbau von Gleitschutzketten wie Spaten auf Schnee oder weichem Untergrund und
Gleitschutzketten bestehen aus einem Laufnetzteil, führen zu einer hohen Punktbelastung, so dass sich
das sind diejenigen Kettenteile, die unmittelbar mit diese Elemente besonders gut in den Untergrund
der Lauffläche des Reifens und der Fahrbahn in eindrücken können und somit maximale Vortriebs-
Kontakt stehen, sowie seitlich angeordneten Befesti- kraft ergeben. Dies ist besonders beim Schneeräum-
gungseinrichtungen. Durch geeignete Konstruktions- einsatz wichtig.
merkmale sind Gleitschutzketten der Form und der Moderne Winterreifen haben Profilstollen mit einer
Dimension des Reifens anzupassen [3 – 6]. Vielzahl von Lamellen, die alle als Greifkanten wir-
560 7 Fahrwerk

chenhärte und einen zähen Materialkern aufweisen.


Dies wird durch die Verwendung von einsatzgehärte-
ten Stählen erreicht. Gleitschutzketten für Pkw beste-
hen üblicherweise aus Kettengliedern mit einem
Materialdurchmesser von 3 – 4 mm, die für Lkw
liegen im Bereich von 7 – 9 mm.
Gleitschutzketten benötigen einen zusätzlichen Frei-
raum zwischen Reifen und Fahrzeugteilen. Gemäß
Ö-Norm V 5117 darf bei Pkw-Reifen der Überstand
der montierten Kette auf der Reifeninnenseite höchs-
tens 20 mm und auf der Reifenaußenseite 25 mm
betragen. Im Betrieb heben sich die Laufnetzteile der
Gleitschutzkette von der Lauffläche ab. Die auftra-
gende Höhe ist vom Reifenquerschnittsverhältnis, der
Geschwindigkeit und der Kettenspannung abhängig
[7]. Die sich vom Reifen abhebenden Kettenteile
schlagen auf die Fahrbahn auf. Dies führt einerseits
auf glatter Fahrbahn zur Erhöhung der Griffigkeit
durch das Eindringen der Stahlteile in die Fahrbahn-
oberfläche, andererseits aber auch zum Verschleiß
der Kette. Der Verschleiß wird durch die Schlagener-
Bild 7.3-51 Beweglicher Greifsteg gie verursacht, welche mit dem Quadrat der Ge-
schwindigkeit ansteigt. Auf eisiger Fahrbahn, z.B.
Blitzeis, sind Ketten aus groben Gliedern ungeeignet.
ken. Ansätze, einen ähnlichen Effekt mit textilen Hier wirken kleine kurzgliedrige Ketten aus kantigen
Materialien zu erreichen, sind sehr alt. In den letzten Profilen.
Jahren wurden Textilien auf Grund ihrer angenehmen
Haptik bei kaltem Wetter erneut aufgegriffen. Diese 7.3.8.4 Kraftübertragung Kette – Fahrbahn
Produkte werden über den Reifen gestülpt und durch
Die Hauptaufgabe der Gleitschutzkette ist, das Kraft-
seitliche Gummihalterungen fixiert. Ihre Wirkung ist
schlussverhalten zu verbessern, das entscheidend vom
jedoch begrenzt, abgesehen von einer sehr geringen
Reifen, dem Fahrbahnzustand und den Betriebsbe-
Haltbarkeit auf schneefreien Straßen. Gummi- oder
dingungen abhängt [8, 9].
Kunststoff-Gleitschutzmittel können die Traktion
Der Kraftschlussbeiwert, aufgetragen über dem
moderner Winterreifen kaum steigern [10].
Schlupf für eine Schneefahrbahn (Bild 7.3-52) zeigt
7.3.8.3.3 Dimensionierung beispielhaft, dass sich zunächst der Kraftschluss mit
steigendem Schlupf erhöht, ähnlich wie beim Reifen.
Die Dimensionierung von Gleitschutzketten wird im Im Unterschied zum Reifen wird jedoch der Höchst-
Wesentlichen durch das Fahrzeuggewicht, die An- wert des Kraftschlusses mit Ketten bei höherem
triebsleistung und die Reifendimension bestimmt. Schlupf erreicht, d.h. dass unter bestimmten Schnee-
Gleitschutzkettenglieder müssen eine hohe Oberflä- bedingungen auch bei 100 % Schlupf noch ein guter

0,45

0,40

0,35
Kraftschlussbeiwert

0,30

0,25

0,20

0,15

0,10
Schneekette
Reifen
0,05

0 Bild 7.3-52 Kraftschluss-


0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Schlupf-Diagramm auf
Schlupf [%]
Schnee (–1 °C).
7.3 Reifen, Räder, Gleitschutzketten 561

Kraftschluss gegeben ist. Im Unterschied dazu ver-


liert der Reifen unter diesen Bedingungen deutlich an
Kraftschluss. In der Praxis zeigt sich, dass beim
Anfahren am Berg stets etwas unterschiedliche Be-
dingungen zwischen dem rechten und linken Rad
eines Fahrzeuges herrschen. Dies führt, zumindest bei
Fahrzeugen ohne weitere Regelsysteme dazu, dass
ein Rad durchdreht (100 % Schlupf) und kein Anfah-
ren möglich ist. Im Unterschied dazu ist beim beket-
teten Reifen Kraftschluss gegeben. Dieser Effekt ist
besonders deutlich erkennbar bei Temperaturen im
0 °C-Bereich, da die Schnee- oder Eisoberfläche mit
einem dünnen Wasserfilm überzogen ist. Unter dem
Druck des Reifens in der Aufstandsfläche wird der
Wasserfilm verstärkt. Viele Autofirmen haben dieser
Erkentnis Rechnung getragen, indem das ESP-System
bei Schneekettenbetrieb ausgeschaltet werden kann.
Fahrzeuge mit Gleitschutzketten erreichen auf
schneebedeckter Fahrbahn den kürzesten Bremsweg
bei blockierten Rädern. Das Fahrzeug ist in diesem
Zustand jedoch nicht mehr lenkbar. Deshalb ist es
wichtig, dass Gleitschutzketten im normalen Regelbe-
reich des ABS, d.h. bei Schlupfwerten unter ca. 30 %,
den Kraftschluss erhöhen. Hierzu sind feingliedrige Bild 7.3-53 RUD Centrax
Netzketten mit kantigen Gliedern oder zusätzlichen
Greifelementen geeignet.
7.3.8.5 Montagesysteme
Eine Gleitschutzkette wird bestimmungsgemäß unter
schlechten Witterungsbedingungen benötigt. Deshalb
ist eine einfache Montage, insbesondere auch unter
widrigen Umgebungsbedingungen, ein entscheiden-
des Kriterium für den Einsatz einer Kette. Die ver-
schiedenen Montagesysteme lassen sich wie folgt
gliedern:
• Geteilte Ketten stellen das älteste Kettensystem dar.
Es wird heute nur noch bei einfachsten Ketten und
im Lkw-Bereich verwendet. Die Kette wird bei die- Bild 7.3-54 Rotogrip-System
sem System vor oder hinter dem Reifen ausgebrei-
tet und bandartig auf den Reifen aufgezogen.
• Bei Seilketten besteht die innere Seitenkette aus • Gleitschutzketten, die im Wesentlichen aus einem
einem Drahtseilring, der im offenen Zustand hin- Kettengürtel bestehen, können auf eine innere
ter dem Reifen durchgeführt werden muss, um ihn Halterung verzichten, um engsten Durchgangs-
dann im oberen Reifenbereich zu schließen, so verhältnissen zwischen Reifen und Fahrzeugteilen
dass ein Seilring auf der Innenseite des Reifens Rechnung zu tragen, sofern sie auf der Radaußen-
entsteht. Auf der Außenseite gibt es verschiedene seite durch Haltearme am Rad fixiert sind. Diese
Verschlussmechanismen, die teilweise ein auto- Kettentypen sind mit Abstand am leichtesten zu
matisches Nachspannen ermöglichen. montieren, da keine Handgriffe auf der dem Fahr-
• Bei Bügelketten besteht die innere Seitenkette aus zeug zugewandten, nicht einsehbaren hinteren
einem Federstahlbügel, an dem die Laufnetzteile Radflanke nötig sind (Bild 7.3-53).
befestigt sind. Mit Hilfe des Bügels kann die • Rotationsketten wurden für Nutzfahrzeuge entwi-
Kette problemlos über den Reifen geschoben ckelt, da mit größer werdendem Reifendurchmes-
werden, was insbesondere bei engen Radkästen, ser die Gleitschutzketten schwerer werden, was
wie beispielsweise Heckfahrzeugen oder winter- natürlich die Montage behindert. Bei diesem Sys-
lich vereisten Radkästen besonders wichtig ist. tem wird über einen angetriebenen Schwenkarm
Die Schließung erfolgt nach einer kurzen Radbe- ein Reibrad gegen die Innenseite des Reifens ge-
wegung durch eine von außen zu betätigende drückt, an welchem Kettenstränge befestigt sind,
Spannkette. die gleichsam wie Streusplitt vor den Reifen ge-
562 7 Fahrwerk

worfen werden und nach Überfahren durch den Fahrzeugmitte, und das Rad möchte wie ein umgeleg-
Reifen wieder eingesammelt werden (Bild 7.3- ter Kegel auf einer Kreisbahn abrollen. Wird es von
54). Die Funktion dieses Systems erreicht jedoch der Radaufhängung daran gehindert, entsteht eine
noch nicht den Stand einer vollwertigen Gleit- Seitenkraft nach fahrzeuginnen. Außerdem wird
schutzkette. Es ist daher für den Kurzstreckenver- durch negativen Sturz die innere Reifenschulter höher
kehr oder als Anfahrhilfe geeignet. Rotationsket- belastet und damit die Verformung des Latsches
ten können auf Knopfdruck vom Fahrzeug aus durch Seitenkraft von außen, die zur Entlastung des
eingeschaltet werden. inneren Latschbereichs führt, zum Teil kompensiert.
Daher ist das Seitenkraftübertragungspotenzial von
Literatur Reifen unter negativem Sturz (innerhalb des verfüg-
[1] StVZO § 37, Gebotsschild Nr. 268
baren Kraftschlusses) höher als bei positiven Werten.
[2] StVO § 3, Abs. 4, Höchstgeschwindigkeit 50 km/h Für extreme Niederquerschnittsreifen ist zur Straße
[3] Ö-Norm V 5117, 12/2004 „Schneeketten für Fahrzeuge der Sturz 0° anzustreben, um Kantenlauf zu vermeiden
Klassen M1, N1, 01, 02 – Anforderungen, Prüfung, Normkenn- [3]. Bei Einzelradaufhängungen sollte also die Sturz-
zeichnung“ und Ö-Norm V 5119, 12/2004 „Schneeketten für
Fahrzeuge der Klassen N2, N3, M2, M3, O3, O4 – Anforderun-
änderung beim Einfedern den Wankwinkel des Fahr-
gen, Prüfung, Normkennzeichnung“ zeugs bei Kurvenfahrt zumindest teilweise kompensie-
[4] CUNA/NC 178-01, 07/2001 „Road vehicles“ ren, um positiven Sturz am kurvenäußeren Rad zu
[5] NFR 12-780, 1989 vermeiden. Starrachsen bieten hier den Vorteil, dass
[6] SAE Classification J 1232, 1985
[7] Zeiser, P.; Maute, D.: „Prüfstand und Messverfahren zur
der Sturz zur Fahrbahn bei Kurvenfahrt konstant bleibt.
Ermittlung der Hüllkurven von Gleitschutzketten mit bewegter, Der Vorspurwinkel ist positiv, wenn die Räder in der
ebener Fahrbahn“, ATZ, 11/1992 Draufsicht nach vorne innen zeigen, andernfalls
[8] „Schneeketten“, lastauto-omnibus, 10/1972 spricht man von Nachspur. Durch einen kleinen
[9] „Haftungsfrage“, MAN-Magazin, 1/1988
[10] Stiftung Warentest 11/2003
stationären Vorspurwinkel im Minutenbereich wer-
den im Reifenlatsch bei Geradeausfahrt geringe
seitliche Schubspannungen erzeugt. Daraus resultie-
ren links und rechts gegengleiche Seitenkräfte, die die
Elastizitäten in der Radaufhängung vorspannen und
an Vorderachsen das eventuell vorhandene Spiel in
Spurstangengelenken und Lenkgetriebe eliminieren.
Das Fahrzeug kann dadurch schneller auf Lenk-
winkeleingaben reagieren und läuft stabiler ge-
7.4 Fahrwerkauslegung radeaus, da durch die Vorspannung ein Nulldurch-
7.4.1 Kinematik der Radaufhängung gang der Gelenkkräfte im Lenkungsstrang vermieden
wird.
Die Kinematik der Radaufhängung bestimmt die Bei Federungsbewegungen kann sich der Vorspur-
räumliche Bewegung des Rades bei Federungs- und winkel mit dem Radhub ändern und das Eigenlenk-
Lenkbewegungen. Wegen der entscheidenden Be- verhalten des Fahrzeugs beeinflussen; man spricht
deutung der Stellung des Rades und damit des Rei- dann von Rollsteuern oder Wanklenken. Der für das
fens zur Straße spielt die kinematische Analyse der Fahrverhalten maßgebliche Einfluss ist hier die Vor-
Radaufhängung eine wichtige Rolle. Sie steht am spuränderung beim Einfedern, also am kurvenäußeren
Anfang des Entwicklungsprozesses, wenn das Achs- Rad mit der höheren Radlast. Da die Hinterachse i.a.
konzept festgelegt wird und findet später im CAD- nicht direkt vom Fahrer beeinflusst werden kann, sind
System zur Freigangsuntersuchung der Bauteile ihre die Lenkwinkel, die sich über dem Federweg oder
Fortsetzung. Im fortgeschrittenen Entwicklungsstadi- unter äußeren Kräften (s. Kap. 7.4.2 Elastokinematik)
um wird der Einfluss der Achskinematik auf das einstellen, für das Fahrverhalten des Gesamtfahrzeugs
Fahrverhalten in Simulationsrechnungen mit Voll- entscheidend, obwohl sie klein sind. So kann bei-
fahrzeugmodellen beurteilt und im realen Fahrver- spielsweise mit einer Vorspurtendenz beim Einfedern
such optimiert. an der Hinterachse ein untersteuernder Effekt erzeugt
Einige kinematische Kenngrößen sind genormt (ISO werden. Große Vorspuränderungen über dem Feder-
8855/DIN 70000); vollständige Beschreibungen weg führen auf unebener Fahrbahn aber zu nieder-
finden sich in [1, 2]. frequenten Lenkmomentschwankungen, die die
Fahrspurhaltung beeinträchtigen, und sollten deshalb
7.4.1.1 Radhubkinematik vermieden werden.
Der Sturzwinkel γ, der auf ebener Fahrbahn die Die räumliche Bewegung der Radaufhängung, insbe-
Neigung des Rades zur Vertikalen beschreibt, beein- sondere des Radaufstandspunkts und des Radmittel-
flusst die Übertragbarkeit von Seitenkräften zwischen punkts, kann projiziert werden in die Radmittellängs-
Reifen und Straße. Beim üblicherweise negativen ebene (Seitenansicht) und in die Radquerebene (An-
Sturz zeigt die Oberseite des Rades in Richtung sicht von hinten).
7.4 Fahrwerkauslegung 563

t schreibt die Neigung des Polstrahls vom Längspol


zum Radaufstandspunkt. Da das Bremsmoment sich
nt
vM üblicherweise an der Radaufhängung abstützt, kann
Nachlaufachse e man sich Rad und Radträger fest verblockt vorstellen.
Die ganze Einheit und so auch der Radaufstandspunkt
vF
drehen sich damit um den Längspol der Radaufhän-
gung, für den Bremsstützwinkel ist also die Bewe-
gung des Radaufstandspunkts als Angriffspunkt der
Längspol Bremskraft maßgeblich.
vA eB Der Polstrahl vom Längspol zum Radmittelpunkt legt
dessen momentane Geschwindigkeit fest; wenn diese
n eine Komponente nach hinten hat, spricht man von
positivem Schrägfederungswinkel. Im Gegensatz zur
Bild 7.4-1 Schematische Seitenansicht (Vorderachse) Längsfederung aus den Gummilagern der Radauf-
hängung hat der Schrägfederungswinkel für den
s Fahrkomfort keine große Bedeutung mehr; er stellt
rs aber den Antriebs-Stützwinkel ε für den Antrieb über
g(<0) Gelenkwellen dar. In diesem Fall bleibt nämlich die
Lenkachse
Radaufhängung momentenfrei, die Antriebskraft
Schwerpunkt
greift für die Radaufhängung in Radmitte an. Das
Versatzmoment von Radmitte zum Radaufstands-
Querpol
punkt ist das Antriebsmoment und wird am Achsge-
triebe abgestützt. Damit bleibt das Rad gegenüber der
Rollzentrum
Aufstandspunkt Radaufhängung drehbar und der Radaufstandspunkt
vA Rollzentrums-
höhe dreht sich nicht mehr um den Längspol der Aufhän-
gung, sondern bewegt sich parallel zum Radmittel-
rs
punkt. Für den Antriebsstützwinkel ist also die Be-
wegung der Radmitte als Angriffspunkt der Antriebs-
Bild 7.4-2 Schematische Heckansicht (Vorderachse) kraft maßgeblich. Ein Anfahrnickausgleich ergibt
sich bei negativen Schrägfederungswinkeln an Vor-
Der Punkt in der jeweiligen Ebene, der das momenta- derachsen und bei positiven an Hinterachsen. Bei
ne Zentrum der Drehbewegung darstellt, ist der Starrachsen dagegen stützt sich das Antriebsmoment
Momentanpol. Die beiden Pole, Längs- und Querpol, am Achskörper ab; man kann sich Rad und Aufhän-
Bild 7.4-1 und Bild 7.4-2, können ersatzweise als gung fest verblockt vorstellen und der Antriebsstütz-
Verbindungsstellen der Radaufhängung zum Aufbau winkel ist gleich dem Bremsstützwinkel. Radträger-
betrachtet werden. Von ihnen gehen die Polstrahlen feste Vorgelege-Untersetzungsgetriebe mit Drehrich-
aus, die senkrecht auf den Geschwindigkeiten der tungsumkehr erhöhen den Antriebs-Stützwinkel;
betrachteten Punkte der Radaufhängung stehen. Stellt gleichsinnig drehende reduzieren ihn.
man sich als Ersatz für die Radaufhängung eine Der Querpol beschreibt die Bewegung des Radauf-
Geradführung des Radaufstandspunkt senkrecht zum standspunktes relativ zum Aufbau in der Radquer-
Polstrahl vor, so hat eine Kraft senkrecht auf die ebene. Aus Symmetriegründen schneiden sich die
Geradführung keine Bewegung des Radaufstands- Polstrahlen der beiden Achshälften in Fahrzeugmitte
punkts zur Folge. Diejenigen Komponenten von und legen das Rollzentrum fest. Die Verbindung der
Längs- und Seitenkräften, die durch die Pole gehen, Rollzentren von Vorder- und Hinterachse heißt Roll-
werden also direkt von den Lenkern der Radaufhän- achse, um sie beginnt das Fahrzeug bei Kurvenfahrt
gung aufgenommen, der Rest erzeugt Federungs- und im Moment des Anlenkens zu wanken. Der Abstand
damit Aufbaubewegungen. Der Winkel der Polstrah- der Rollachse zum Schwerpunkt ist der Hebelarm der
len zur Horizontalen bestimmt den Anteil der Kräfte, Trägheitskraft und bestimmt das Wankmoment, das
der in den Lenkern abgestützt wird, und heißt deshalb über die Federung abgestützt wird. Ein Rollzentrum
Stützwinkel. auf der Fahrbahn führt zu großen Federbewegungen
Beim Bremsen entsteht am Radaufstandspunkt eine und hohen Wankwinkeln. Liegen die Rollzentren in
Resultierende aus Bremskraft und dynamischer Achs- Schwerpunktshöhe, so nimmt die Federung keine
lastverlagerung. Zeigt diese Resultierende durch den Kraftkomponenten mehr auf und damit entsteht auch
Längspol, spricht man von 100 % Bremsnickaus- kein Wankwinkel. Hohe Rollzentren sind bei Einzel-
gleich, da keine Federungsbewegung auftritt. Der radaufhängungen aber mit deutlichen Spurweitenän-
Bremsnickausgleich hängt von Radstand, Schwer- derungen beim Durchfedern und damit mit Quer-
punktshöhe und Bremskraftverteilung ab; der Brems- schlupf am Radaufstandspunkt verbunden. Mit Rück-
stützwinkel εB ist dagegen achsspezifisch und be- sicht auf Traktion und Seitenführung sind deshalb
564 7 Fahrwerk

Rollzentrumshöhen über 150 mm heute selten. (Starr- zustand und Fahrbahnbeschaffenheit an den Fahrer
achsen mit ihrer konstanten Spurweite können höhere geben. Diese Eigenschaften lassen sich im Wesentli-
Rollzentren aufweisen.) Durch die Neigung der chen mit einer gezielten Auslegung der Lenkdrehach-
Rollachse lässt sich die Verteilung der Wankfederrate se erreichen, um die das Rad bei Lenkbewegungen
auf Vorder- und Hinterachse beeinflussen. Ein z.B. schwenkt.
an der Hinterachse höherliegendes Rollzentrum Dabei sind in Bild 7.4-2 der Spreizungswinkel σ als
entspricht einer höheren Wankabstützung hinten, die Neigung der Lenkdrehachse zur Vertikalen gezeigt
zu größeren Radlastdifferenzen hinten führt, das und der Lenkrollhalbmesser oder -radius rS als hori-
Seitenführungspotenzial hinten reduziert und damit zontaler Abstand des Radaufstandspunktes vom
einen übersteuernden Einfluss darstellt. Die Summe Durchstoßpunkt der Lenkdrehachse durch die Rad-
der Radlastdifferenzen hängt nur von Schwerpunkts- aufstandsebene. In der Seitenansicht, Bild 7.4-1,
höhe und Spurweite ab und ist für alle Rollzentrums- ergibt sich der Nachlaufwinkel τ ebenfalls als Nei-
höhen konstant, nur die Verteilung vorn zu hinten ist gung der Lenkdrehachse zur Vertikalen und die
mit der Lage der Rollachse beeinflussbar. Nachlaufstrecke n als horizontaler Abstand des Rad-
Wenn sich die Rollzentren über dem Einfederweg aufstandspunkts vom Durchstoßpunkt. Nachlaufwin-
ändern, verschiebt sich auch die Lage der Rollachse kel und -strecke können unabhängig voneinander
bei Beladung. Damit das Fahrverhalten bei voller gewählt werden, wenn man einen Nachlaufversatz nτ
Zuladung nicht unerwünscht beeinträchtigt wird, einführt, der den horizontalen Abstand der Lenkdreh-
muss also die Rollzentrums-Höhenänderung von achse von der Radmitte in der Seitenansicht be-
Vorder- und Hinterachse aufeinander mit dem Ziel schreibt.
abgestimmt werden, die Neigung der Rollachse und Der Nachlaufwinkel erzeugt am kurvenäußeren
damit die Wankratenverteilung vorn zu hinten mit eingeschlagenen Rad negativen Sturz, der sich güns-
zunehmender Beladung nicht zu stark zu ändern. tig auf das Seitenkraftübertragungspotenzial der
Die Rollzentren und damit die Rollachse sind für den Reifen auswirkt. Kurveninnen ergibt sich positiver
symmetrischen Federungszustand in der Fahrzeug- Sturz, der den Platzbedarf des voll eingeschlagenen
Symmetrieebene definiert. Beim einseitigen Federn Rades im Radhaus reduziert. Zusammen mit Nach-
lässt sich zwar zeichnerisch ein Schnittpunkt der laufstrecke und Lenkrollradius ergibt sich ein Hebel-
beiden Polstrahlen vom Querpol zum Radaufstands- arm der Radlast um die Lenkdrehachse, der Radlast-
punkt bestimmen, der dann i.a. nicht mehr in der hebelarm. Die entstehenden Momente bewirken eine
Mittellängsebene liegt, sondern seitlich versetzt; Rückstellung der Lenkung, wenn sich die Größen
physikalisch deuten aber kann man die entstehende kurveninnen und kurvenaußen unsymmetrisch än-
seitlich verlagerte Rollachse anschaulich nicht mehr. dern, was wegen der Ackermannbedingung i.a. der
Entscheidend für die Aufbaubewegung unter Querbe- Fall ist (s. Kapitel 7.4.5, Gewichtsrückstellung). Bei
schleunigung sind die Ein- und Ausfederwege. schnellerer Kurvenfahrt überwiegt der Einfluss der
Bei Kurvenfahrt und ausgeprägtem Wankwinkel Seitenkraft, die um die Nachlaufstrecke (und den
ergibt sich durch die antimetrische Federungsbewe- Reifennachlauf) versetzt an der Lenkdrehachse an-
gung eine links und rechts unterschiedliche Kraftein- greift und ebenfalls rückstellend wirkt [4].
leitung in die Radaufhängung. Welchen Anteil der Beim Durchfedern dreht sich der Radträger in der
Resultierenden dabei die Lenker und welchen die Seitenansicht um seinen Längspol, und Nachlaufwin-
Federung aufnimmt, hängt von der Höhe des Quer- kel und -strecke ändern sich. Um diese Änderung zu
pols ab, bzw. von dessen Höhenänderung über dem begrenzen, und damit das Rückstellverhalten nicht zu
Federweg. Ist diese Höhenänderung klein oder Null sehr zu beeinflussen, muss der Längspol genügend
(z.B. bei Längslenkerachsen), sind die in die Fede- weit entfernt sein, was die Größe der Stützwinkel
rung eingeleiteten Kraftkomponenten kurvenaußen einschränkt. Der Lenkrollradius stellt den Hebelarm
kleiner als kurveninnen, das Fahrzeug federt also der Bremskraft dar; bei negativen Werten (Radauf-
außen weniger ein als es innen ausfedert. Daraus standspunkt innerhalb des Durchstoßpunkts) ergibt
resultiert eine Schwerpunktsanhebung, die das abzu- sich ein Lenkwinkel, der dem bei unsymmetrischen
stützende Wankmoment vergrößert. Diesen uner- Bremskräften entstehenden Giermoment entgegenge-
wünschten Effekt nennt man Aufstützen. Er lässt sich setzt ist. Allerdings ist auch die Rückmeldung am
durch ausreichende Rollzentrumshöhenänderung Lenkrad entgegengesetzt zur Störung.
(abhängig von der Rollzentrumshöhe) verringern oder Der Spreizungsversatz rσ als horizontaler Abstand
ganz vermeiden, weil dadurch die Asymmetrie der des Radmittelpunkts vom Schnittpunkt Lenkdreh-
Federkraftänderung kurvenaußen und -innen reduziert achse/Radachse in der Ansicht von hinten ist der
wird. Hebelarm einer Stoßkraft, die auf das ungebremste
Rad einwirkt. Der Spreizungsversatz wird deshalb
7.4.1.2 Lenkkinematik auch Störkrafthebelarm genannt. Das Versatzmoment
Die Lenkung soll sowohl die Führung des Fahrzeugs zwischen Radaufstandspunkt und Radmittelpunkt
ermöglichen als auch eine Rückmeldung über Fahr- geht dabei als Beschleunigungsmoment in die Rad-
7.4 Fahrwerkauslegung 565

drehzahl ein; die Radaufhängung bleibt momen- Radaufhängung zu berücksichtigen sind. Als Simula-
tenfrei. tionsmodelle werden heute meist MKS-Modelle, wo
Beim Antrieb über Gelenkwellen muss der Beuge- erforderlich (z.B. Verbundlenkerachsen) auch nicht-
winkel zwischen radseitigem und getriebeseitigem lineare FEM-Modelle verwendet (Kapitel 11.3).
Wellenteil berücksichtigt werden. Der Hebelarm der
Antriebskraft oder Triebkrafthebelarm [1] ist bei 7.4.2.1 Wirkung von Bauteilelastizitäten
Beugewinkel 0° gleich dem Störkrafthebel. Für nach Unter Bauteilelastizitäten werden die unvermeidli-
innen oben geknickte Abtriebswellen wird der Trieb- chen Elastizitäten der benötigten Metallbauteile
krafthebel größer, für nach innen unten geknickte verstanden. Die Verformungen der Achsbauteile und
kleiner als der Störkrafthebel. der Gummilager wirken sich prinzipiell gleicherma-
ßen auf das Fahrverhalten aus und können deshalb
Literatur beide gezielt genutzt werden [1]. Zu beachten ist
[1] Matschinsky, W.: Radführungen der Straßenfahrzeuge, 3. Auflage
jedoch, dass sich Gummi während der Fahrzeugle-
2007, Springer Verlag bensdauer setzt und verhärtet, während Metalle ihre
[2] Reimpell, J.: Fahrwerktechnik: Grundlagen, 3. Auflage 1995, Elastizitäten beibehalten. Für die Schwingungsisola-
Vogel Buchverlag tion ist es günstig, die Elastizitäten in Gummilagern
[3] Haken, K.-L.; et al.: Besondere Eigenschaften von Niederquer-
schnittsreifen bei trockener und nasser Fahrbahn und ihre Aus-
zu realisieren, vgl. Kapitel 7.4.2.2, weil die Material-
wirkung auf die Fahrdynamik, Stuttgarter Symposium Kraftfahr- dämpfung von Gummi erheblich größer ist als jene
wesen und Verbrennungsmotoren, K8.1, 1995 von Stahl oder Aluminium.
[4] Zomotor, A., Hrsg.; Reimpell, J.: Fahrwerktechnik: Fahrverhalten, Zu beachten ist, dass die Verschiebungen an den
2. Auflage 1991, Vogel Buchverlag Würzburg
Kinematikpunkten der Achsträger bei hohen Lasten
bis zu einigen Millimetern betragen können und
deshalb gegenüber den Gummilager-Verformungen
nicht zu vernachlässigen sind.
Dreieckslenker tragen in Doppelquerlenker- und
Federbeinachsen erheblich zur Gesamtelastizität bei.
So kann der Querlenker einer Federbeinachse durch-
7.4.2 Elastokinematik aus eine zusätzliche Längsfederung von mehreren
Millimetern bewirken. Der Beitrag des Radträgers zur
Die Elastokinematik beschreibt die Bewegung der Elastokinematik hängt stark vom Achsprinzip ab. In
Räder gegenüber der Karosserie unter Berücksichti- Federbeinachsen wirkt der Dämpfer als radführendes
gung der aus den Radkräften resultierenden elasti- Element und ist folglich auf Biegung belastet. Die
schen Verformungen der Achskomponenten (ISO Durchbiegung des Dämpfers bewirkt nicht nur Ver-
8855). kantungswinkel am Kolben und an der Stangenfüh-
Mit Hilfe von Elastomerlagern (meist als Gummilager rung, sondern liefert auch unter Seitenkraft einen
ausgeführt) werden Elastizitäten der Radaufhängung Beitrag zum Sturz, ggf. auch zum Lenkwinkel. Die
gezielt in Achsen eingebaut. Um den heute bei einem Elastizität der Karosserie kann zu Klapper- und
PKW geforderten Abrollkomfort realisieren zu kön- Knarzgeräuschen sowie zu Zitterbewegungen führen,
nen, muss die Radaufhängung eine Längsfederung siehe auch Kapitel 3.4. Durch ihre globale Torsion
zulassen, die üblicherweise durch Gummilager reali- und Biegung beeinflusst die Karosserie zwar nicht die
siert wird. Auch um Geräusche von den Insassen fern Elastokinematik der Radaufhängung, wohl aber das
zu halten, sind Gummilager zwischen den Metallbau- Fahrverhalten. Den größeren Einfluss haben jedoch
teilen unverzichtbar. Zusätzlich sind Elastizitäten lokale Elastizitäten. Sie dürfen meist nicht einzeln
unvermeidbar, denn neben den Gummilagern weisen betrachtet werden, weil sich eine Belastung an einem
auch die Stahl- und Aluminiumbauteile nennenswerte Karosserielager auch an anderen Lagern als Verfor-
Elastizitäten auf. Diese bewirken unter Lasten Ände- mung auswirkt [2, 3]. Entscheidend ist, ob durch die
rungen von Vorspur und Sturz. Achsgeometrie und Gesamtverformung ein Lenkwinkel hervorgerufen
-elastizitäten müssen so aufeinander abgestimmt wird. Während gerade Stablenker in der Regel als
werden, dass das durch elastische Verformungen starr betrachtet werden können, muss die Elastizität
bedingte Lenkverhalten die Fahreigenschaften opti- der wegen der Freigängigkeit gekröpften Lenker
miert. Da die Lenkwinkel aus den Elastizitäten ver- berücksichtigt werden. Auch Kugelgelenke weisen
hältnismäßig klein sind, kann durch sie vor allem das meist eine relevante Elastizität auf, die sich zusätzlich
Fahrverhalten bei kleinen Schräglaufwinkeln und bei über der Laufzeit eines Fahrzeuges erhöhen kann.
höherer Geschwindigkeit verbessert werden. Da Fahrzeuge auch kosten- und gewichtsmäßig zu
Nachstehend werden einige prinzipielle Zusammen- optimieren sind, kann nicht gefordert werden, dass
hänge dazu erläutert. Eine genaue Achsauslegung ist alle Bauteile beliebig steif sein sollen. Vielmehr
nur durch Simulation möglich, weil viele Einzelein- müssen durch geschickte Konstruktion die Bauteile
flüsse und die räumliche Anordnung der gesamten und die gesamte Radaufhängung so ausgelegt wer-
566 7 Fahrwerk

den, dass die Elastizitäten keine schädliche Wirkung • als Gestaltungselement der elastokinematischen
haben oder besser sogar nützlich sind [4]. Fahrwerksauslegung das Vorspurverhalten der
In der Fahrzeugentwicklung wird zunächst durch Räder in Abhängigkeit von äußeren Längs-, Quer-
Simulation untersucht, welche Elastizitäten zulässig und Hochkräften gezielt beeinflussen.
sind. Diese werden auf Gummilager, Kugelgelenke Diese funktionalen Anforderungen stehen häufig im
und Achsbauteile aufgeteilt. Dann werden die Bautei- Widerspruch zueinander.
le konstruiert. Mit der Methode der Finiten Elemente Gelenkfunktion: Im Vergleich zum Kugelgelenk
(FEM) wird die Festigkeit überprüft und die erreichte stellt ein entsprechend ausgelegtes Elastomerlager die
Steifigkeit ermittelt. In der Achs- und Gesamtfahr- Gelenkfunktion kostengünstiger dar. Gleichzeitig
zeugsimulation wird das Verhalten unter Berücksich- wird bei der Übertragung der Kräfte eine oft er-
tigung aller relevanten Elastizitäten beurteilt. Wenn wünschte Elastizität und Dämpfung erreicht. Ein
die Bauteile gefertigt sind, werden auf Prüfständen weiterer Vorteil von elastischen Gelenken ist das
die Steifigkeiten der Achsbauteile und Gummilager Fehlen von Losbrechmomenten, insbesondere unter
überprüft, aber auch das elastische Verhalten einer Vorlast (z.B. Radlast). Dieser Vorteil kann bei großen
Achse oder des Gesamtfahrzeuges nachgemessen. Bei Auslenkungen und gleichzeitig erforderlicher hoher
dem in Bild 7.4-3 gezeigten MTS System-Prüfstand radialer Steifigkeit des Lagers jedoch zum Nachteil
wird die Karosserie gefesselt. Während über Platt- werden. Das resultierende elastische Rückstellmo-
formen die vier Räder weg- oder kraftgesteuert be- ment kann dann z.B. die gewünschte Gelenkfunktion
lastet werden, nehmen Sensoren die Winkel- und beeinträchtigen oder die hohe Torsionsbelastung
Positionsänderungen an den Rädern auf. Die Mess- einen Kompromiss bei der radialen Steifigkeitsausle-
ergebnisse werden mit den vorher durchgeführten gung erfordern.
Berechnungen verglichen, um ggf. genauere Erkennt- Schwingungsisolation und -dämpfung: Bei stoß-
nisse über die eingesetzten Simulationsverfahren zu förmiger Störungseinleitung ermöglicht eine elasti-
gewinnen. Im Fahrversuch zeigt sich schließlich, ob sche Lagerung sowohl einen allmählichen Anstieg
das Zusammenwirken aller Einflüsse, d.h. insbeson- der weitergeleiteten Kraft als auch eine kurzzeitige
dere der Kinematik und Elastokinematik, unter allen Speicherung der eingeleiteten Stoßenergie mit an-
denkbaren Fahrzuständen tatsächlich das gewünschte schließender teilweiser Absorption durch die Dämp-
Fahrverhalten ergibt. fung des Elastomers. Hieraus ist erkennbar, dass
neben den elastischen Eigenschaften des Elastomer-
lagers auch die Dämpfung eine wesentliche Rolle
spielt.
Die dynamische Federsteifigkeit hat auf das Schwin-
gungsisolationsverhalten einer elastischen Lagerung
einen großen Einfluss und ist damit eine wichtige
Beurteilungs- und Auslegungsgröße.

dyn. Steifigkeit cdyn


Verlustwinkel fV

cdyn (fE)

fV(fE)

cdyn (zE)

Bild 7.4-3 Prüfstand zur Messung der Kinematik und fV(zE)


Elastokinematik

Erregerfrequenz fE
7.4.2.2 Elastomerlager Erregeramplitude zE

Elastomerlager haben eine Reihe von Aufgaben im


Bild 7.4-4 Frequenz- und Amplitudenabhängigkeit
Fahrwerk zu erfüllen. So sollen sie
von Elastomerlagereigenschaften
• Winkelbewegungen z.B. als Alternative zu Ku-
gelgelenken ermöglichen, Federsteifigkeit und Dämpfung bei dynamischer
• Federwege in den Fahrwerkanbindungspunkten Beanspruchung sind durch die viskoelastische Natur
zur Verfügung stellen sowie über Bedämpfung der Elastomere im Wesentlichen von der Frequenz,
und Isolierung von Schwingungen des Rad-/Rei- der Erregeramplitude und der Temperatur abhängig,
fensystems und der Aggregate den Komfort für Bild 7.4-4. Mit steigender Frequenz vergrößern sich
die Insassen verbessern, u.a. dynamische Federsteifigkeit, Verlustwinkel und
7.4 Fahrwerkauslegung 567

Dämpfung. Mit abnehmender Erregeramplitude ist Anregung übertragene Schwingung


ebenfalls eine Erhöhung der Steifigkeit verbunden,
bei gleichzeitiger Ausbildung eines Maximums des
Verlustwinkels. Schließlich beeinflusst auch die
Temperatur des Elastomer-Federkörpers sowohl Fe-
derrate als auch Dämpfung des Lagers und wirkt sich
auf die Lebensdauer aus.
Voraussetzung für gute Isolationswirkung ist ein Reflexion
genügend großes Verhältnis von Erregerfrequenz zu Werkstoff 1 mit Impedanz Z1 Werkstoff 2 mit Impedanz Z2

Systemeigenfrequenz [5]. Liegt die Erregerfrequenz Bild 7.4-6 Schallisolierung durch Reflexion am
unterhalb des Wurzel 2-fachen der Systemeigenfre- Werkstoffübergang
quenz, ist keine Isolation mehr möglich, Bild 7.4-5.
In der Praxis hat sich ein Verhältnis zwischen Lager- Elastomerwerkstoffe besitzen einen niedrigen Elasti-
steifigkeit und lokaler Karosseriesteifigkeit von zitätsmodul und geringe Dichte, daraus resultieren die
mindestens 1 : 10 bewährt. sehr wirkungsvollen körperschalldämmenden Eigen-
schaften. Da es sich oft nicht vermeiden lässt, im
Amplitudenverhältnis Ausgang/Eingang Betrieb Resonanzstellen des Systems zu durchfahren,
3
ist es von hoher Wichtigkeit, die elastische Lagerung
D=0
mit ausreichender Dämpfung zu versehen, um dem
schwingenden System kinetische Energie durch
2 Umwandlung in Wärme zu entziehen. Dadurch wer-
0,25
den Schwingungsausschläge beim Durchfahren einer
Resonanzstelle in Grenzen gehalten. Verlustwinkel
0,5
und Dämpfungsmaß beschreiben den Parameter
1 1
Dämpfung in einem schwingungsfähigen System. Der
D=1
0,50
Verlustwinkel sagt aus, um wieviel Grad die aus
0,25 elastischem und dämpfendem Anteil zusammenge-
0
Isolationsgebiet setzte Kraft der elastischen Verformung vorauseilt;
0
0 1 2 2 das Dämpfungsmaß ist das dimensionslose Verhältnis
Frequenzverhältnis
(Anregungsfrequenz fa / Systemeigenfrequenz fe )
der gegebenen Dämpfung zur kritischen Dämpfung
[6].
Bild 7.4-5 Einfluss von Dämpfung und Frequenzver- Die Dämpfung entsteht durch die innere Reibung der
hältnis beim Ein-Massen-Schwinger mit Fußpunkt- Elastomere. Damit verbunden ist aber auch eine
erregung dynamische Verhärtung, die mit zunehmender Fre-
quenz ansteigt, sodass die Isolierwirkung bei höheren
Isolierung von schwingenden Bauteilen: Die Isolie- Frequenzen abnimmt. Es überlagert sich die schon
rung von Erregungen aus Rad-/Reifensystem, Mo- erwähnte Zunahme der Steifigkeit mit abnehmender
tor/Getriebe, Hinterachsgetriebe, Achsträger usw. von Amplitude, sodass hier auch die Grenzen der reinen
der Karosserie bzw. den Insassen stellt einen der Elastomerlager deutlich werden. Mit zunehmender
wichtigsten Beiträge der Elastomerlager dar. Hierbei Shore-Härte nimmt die Werkstoffdämpfung im All-
wird versucht, durch weiche Lagerung des schwin- gemeinen zu. Steifigkeit, Dämpfung und Festigkeit
genden Körpers die im Lagerelement als Funktion der werden wesentlich von den dem Grundpolymer
Auslenkung entstehende Kraft niedrig zu halten bzw. beigefügten Füllstoffen beeinflusst, wobei (klar
nur stark gemindert in die Karosserie einzuleiten. spezifizierte) technische Ruße eine besondere Rolle
Unter diesem Abbau von Erregerkräften versteht man spielen [7].
im schwingungstechnischen Sinne Isolation bzw. Bauarten (Bild 7.4-7): Grundsätzlich kann Gummi
Dämmung oder Entstörung. Bei dieser Funktion der in Elastomerlagern auf Schub (Scherung) oder
Elastomerlager ist Dämpfung nicht erwünscht, da sie Druck/Zug beansprucht werden. Aufgrund der Volu-
zu einer Erhöhung der übertragenen Kraft führt. Da menkonstanz des Werkstoffs lässt sich bei der
sich Körperschall in festen und flüssigen Medien Druck/Zug-Beanspruchung eine größere Steifigkeit
wellenförmig ausbreitet, wird die Schallisolierung in realisieren als bei Schubbeanspruchung. Mit diesen
elastischen Lagerungen mittels Reflexion bewirkt, zwei Beanspruchungsarten können konstruktiv rich-
Bild 7.4-6. Stößt die Welle dabei auf eine Übertra- tungsabhängige Lager ausgelegt werden. Eine positi-
gungsstelle zweier unterschiedlicher Werkstoffe mit ve Beeinflussung hinsichtlich Funktion (z.B. Vergrö-
den Schwingwiderständen (Impedanzen) Z1 und Z2, so ßerung der möglichen Torsionswinkel bei Lenker-
wird sie teilweise reflektiert, d.h. in ihrer Ausbreitung buchsen) und Lebensdauer kann durch Einbringung
gehindert. Dabei ist die Reflexion umso größer, je von Druckvorspannungen in den Elastomerkörper
größer der Impedanzsprung p als Verhältnis Z1/Z2 ist. erzielt werden. U.a. werden hierdurch die Schrumpf-
568 7 Fahrwerk

Konventionelles Querlenkerlager Getriebelager


(Buchsenlager/Fa. Boge) (Kerblager/Fa. Trelleborg)

Hydraulisches Zugstrebenlager Federbein-Stützlager Bild 7.4-7 Beispiele für


(Buchsenlager/Fa. Boge)
Lagerausführungen

spannungen kompensiert, die durch das Abkühlen Vielzahl weiterer Bauformen eingesetzt, um entspre-
nach dem Vulkanisieren entstehen [8]. chend Aggregatanordnung, Lagerungskonzept und
Konventionelle Gummilager: Für viele Anwen- verfügbarem Bauraum bestmögliche Lagereigen-
dungsfälle wie z.B. die Anbindung von Lenkern, schaften zu erzielen. Häufig verwendete Ausfüh-
Streben oder Stoßdämpfern gehören rotationssym- rungsformen sind z.B. Keillager, Dachlager und sog.
metrische Buchsenlager nach wie vor zu den kosten- Kerblager [5, 7].
günstigsten Lösungen. In Abhängigkeit von den Hydrolager: Über die reine Elastomerdämpfung
auftretenden Belastungen ist hierbei der Gummi am hinaus kann durch Kombination des Gummilagers
Innen- und Außenteil anvulkanisiert, eingepresst oder mit einer entsprechenden Hydraulikvorrichtung das
auch eingeknöpft. Zur Erzielung richtungsabhängiger Dämpfungsangebot erheblich erhöht und innerhalb
und funktionsoptimierter Kraft-/Weg-Kennlinien gewisser Grenzen in Abhängigkeit von Schwing-
werden Buchsenlager häufig mit Nieren versehen. frequenz und -amplitude bedarfsgerecht angepasst
Darüber hinaus kann durch entsprechend angeordnete werden. Hierbei stehen zwei grundsätzliche Effekte
Stege und Anschlagpuffer sowie das Einvulkanisieren zur Verfügung: 1. Dämpfung durch viskose Reibung,
von Zwischenblechen die Variabilität der Kennlinien 2. Schwingungstilgung durch Beschleunigung von
weiter erhöht werden. Insbesondere für die Motor-/ Fluidmasse. Bild 7.4-8 zeigt exemplarisch die Aus-
Getriebelagerung wird neben den Buchsenlagern eine führung eines hydraulischen Motorlagers: Die Ar-

Obere Befestigung

Elastomerfeder
mit Innenring
Arbeitskammer („Blähfeder“)
Oberes Gitter

Kanalöffnung
Tilgerkanal
Membrane mit Spiel
Kanalöffnung

Unteres Gitter
Ausgleichsraum

Rollbalg
Untere Befestigung
Bild 7.4-8 Einkammer-
Hydrolager mit Entkopplung
7.4 Fahrwerkauslegung 569

Elastomertragkörper

Hydraulische Arbeitskammer

Entkopplungsvorrichtung
(Membran + Käfig)
Tilgerkanal
(wirkt gegen Stuckern)

Bypass-Kanal (in Leerlauf-


stellung geöffnet)

Durch Rollbalg begrenzter


hydr. Ausgleichsraum

Schaltfeder (hält Bypass-Kanal


im Fahrbetrieb geschlossen)
Bild 7.4-9 Dämpfungs-
Unterdruck (bei Leerlauf) steuerbares Hydrolager
(Vibracoustic)

beitskammer wird durch die äußere Schwingungsan- reich verschoben. Zusätzlich kann der vor diesem
regung in ihrem Volumen verändert und dadurch Anstieg auftretende Abfall der dynamischen Steifig-
Über- oder Unterdruck erzeugt. Die Flüssigkeitsmas- keit dazu genutzt werden, in einer dominanten Anre-
se im Kanal und die Blähwandsteifigkeit der Elasto- gungsfrequenz die Isolation lokal zu erhöhen.
merfeder bilden ein schwingfähiges System, das Nachteil der bisher beschriebenen „dämpfungssteuer-
durch die Anregung in einem abgestimmten Fre- baren Hydrolager“ ist einerseits, dass die Hydraulik
quenzbereich in Resonanz gerät und durch die Träg- und damit die Verstellung der dynamischen Steifig-
heit sowie Dissipation der Strömung ein hohes keit nur in einer Richtung wirkt und andererseits, dass
Dämpfungsmaß erzeugt. Die beiden Gitter mit zwi- nur die dynamische, nicht aber die statische Federrate
schenliegender, oftmals spielbehafteter Membran verändert werden kann. Dieser Nachteil wird durch
sorgen dafür, dass für kleine Anregungen die hydrau- „steifigkeitssteuerbare Hydrolager“ behoben, Bild
lische Dämpfung abgeschaltet wird; dies verbessert 7.4-10. Hierzu sind 2 konzeptionelle Ansätze be-
die Akustik. Im Automobilbau hat sich die Anwen- kannt, die beide auf der Parallelschaltung eines auf
dung hydraulisch gedämpfter Lager für die Längs- den Leerlauf abgestimmten Basisgummilagers mit
schwingbewegung der Räder und bei der Aggregate- einem zuschaltbaren, für den Fahrbetrieb optimierten
lagerung bewährt [9]. Als gewisser Trend bei den Hydrolager beruhen. Während bei der von der Fa.
hydraulischen Motorlagern ist die Integration der Trelleborg entwickelten Ausführung die An- bzw.
Anschlagfunktion zur Begrenzung der Aggregatebe- Abkopplung der beiden Lagerelemente durch einen
wegung (insbesondere im Fahrbetrieb und bei Unfall- elektrisch angetriebenen, kardanischen Klemmme-
situationen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich) in chanismus erfolgt (Bild 7.4-11), dient bei dem Kon-
das Lager erkennbar [20, 21]. zept von der Fa. ContiTech ein wahlweise aufzubau-
Schaltbare Lager: Nicht nur zur Lagerung von endes Luftpolster als Entkopplungselement.
Dieselmotoren werden heute vielfach Hydrolager Aktive Lager: Unter diesen Begriff fällt eine ganze
eingesetzt, bei denen die Hydraulik entweder je nach Reihe neuer, größtenteils noch nicht abgeschlossener
Betriebszustand zu- bzw. abgeschaltet, oder aber Entwicklungen. Im erweiterten Sinn werden darunter
bedarfsgerecht verändert werden kann. Ziel ist hierbei Lager verstanden, bei denen die Eigenschaften durch
meistens, im hinsichtlich Akustik und Vibrationen Änderung der Parameter Dämpfung, Steifigkeit oder
kritischen Leerlauf ein Maximum an Isolation zu Masse dem jeweiligen Betriebszustand optimal und
erhalten und dagegen im Fahrbetrieb durch Zuschal- deutlich schneller als bei den vorgenannten Schaltla-
ten oder entsprechendes Verstellen der Hydraulik die gern angepasst werden können. Ansätze zur techni-
raderregte Aggregatbewegung (Stuckern) unter In- schen Umsetzung bieten hierbei u.a. elektro- sowie
kaufnahme eines reduzierten Isolationsgrades in magnetorheologische Flüssigkeiten, deren Viskosität
gewünschtem Maße zu bedämpfen. Die Verstellung durch Anlegen eines elektrischen bzw. magnetischen
kann hierbei elektrisch [10] oder mittels Unterdruck Feldes erhöht werden kann. Die Ansteuerung sol-
erfolgen. Bild 7.4-9 zeigt ein Schaltlager, bei dem cher Lager kann dabei als einfache „Open-Loop“-
durch Anlegen von Unterdruck ein Bypasskanal Steuerung in Abhängigkeit eines oder mehrerer
geöffnet wird, der dann den auf die Stuckerfrequenz Betriebsparameter wie z.B. der Motordrehzahl oder
abgestimmten Ringkanal überbrückt. Hierdurch wird aber auch als komplexes, selbst optimierendes Rege-
der hydraulisch bedingte Dämpfungsanstieg in einen lungssystem ausgeführt sein [11]. Selbstverständlich
höheren, im Leerlauf nicht relevanten Frequenzbe- fallen aber auch diejenigen Lagerausführungen unter
570 7 Fahrwerk

Hydrolager
600 (Dämpfungs/Steifigkeitssteuerbares
-
Hydrolager in Stellung „Fahrbetrieb“)
Steifigkeit [N/mm]

400

Dämpfungssteuerbares Hydrolager (Leerlauf)


200

Bild 7.4-10 Vergleich der


Steifigkeitssteuerbares Hydrolager (Leerlauf)
dynamischen Steifigkeits-
0 20 40 60 80
kennlinien schaltbarer
Frequenz (Hz)
Hydrolager

diese Rubrik, die selbst Aktionskräfte erzeugen und von Elastomerlagern ist, dass sie sich zur Erzielung
dem System zur Schwingungskompensation ge- einer kompakten, gewichtsoptimierten Bauweise leicht
genphasig zur störenden Anregung aufprägen. Dies zusammen mit anderen Komponenten in komplexere
kann direkt, z.B. durch Unterdruck oder über einen Bauteile integrieren lassen. Beispiele hierfür sind das in
Elektromagneten geschehen, oder aber auch in Form Bild 7.4-7 dargestellte Federbeinstützlager oder die
einer schwingenden, sogenannten seismischen Masse. elastische Anbindung eines Kugelgelenkes mittels
Zur Krafterzeugung sind neben den klassischen anvulkanisierter Gummihülse an einen Querlenker zur
hydraulischen, pneumatischen und elektromagneti- Erzielung positiver elastokinematischer Effekte [13].
schen Lösungen auch piezoelektrische und magne- Um den durch die Elastomereigenschaften begrenzten
tostriktive Aktoren interessante Alternativen [12]. Bis Spielraum (z.B. hinsichtlich der Dämpfungsuntergren-
auf wenige spezielle Einzelanwendungen im Bereich ze oder des Verhältnisses Axial- zu Radialsteifigkeit)
der Aggregatlagerung konnten sich aktive Lager zu vergrößern, können die Elastomerfedern auch mit
bisher nicht als technische Serienlösungen durchset- anderen Federelementen wie z.B. Schraubenfedern aus
zen. Hauptgrund hierfür ist wohl der im Verhältnis Stahl kombiniert werden [14].
zum erzielbaren Nutzen heute noch beträchtliche Tilger: Einen Sonderfall für den Einsatz von Elasto-
Kostenaufwand. merlagern stellen Schwingungstilger dar, bei denen
Kombination von Elastomerlagern mit anderen eine elastisch aufgehängte Masse zur Tilgung stören-
Bauelementen: Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der Vibrationen verwendet wird. Die Tilgerwirkung

Dreh-
zahl

Innengeräusch

Transferpfad
Aktuator

Mikrofon

Controller
& Verstärker

Störgrößenaufschaltung
Bild 7.4-11 Beispiel für ein
aktives Lagerungssystem
mit elektromagnetischem
Aktuator (Fa. Trelleborg)
7.4 Fahrwerkauslegung 571

beschränkt sich hierbei allerdings auf eine bestimmte ständigkeit. Während für NR-Mischungen von den
Frequenz. Durch Erhöhung der Dämpfung, ggf. auch Lagerherstellern im Allgemeinen eine maximale
mittels Hydraulik, kann die „Breitbandigkeit“ erhöht Dauertemperatur von ca. 80 °C genannt wird, liegen
werden. Auch hier besteht die Möglichkeit, durch den die kurzzeitig im Fahrzeug von den Bauteilen zu
Einsatz von Aktuatorik den wirksamen Frequenz- ertragenden Temperaturen oft deutlich höher. Da sich
bereich bedarfsgerecht auszuweiten. So kann eine aber bei höheren Temperaturen die Lebensdauer
aktive Lagerung auch als Kombination eines konven- reduziert, ist in solchen Fällen neben den Betriebslas-
tionellen Lagerelements mit einem aktiven Tilger ten die genaue Kenntnis des im Fahrzeugleben auf-
dargestellt werden. tretenden „Temperaturkollektivs“ wichtig. Häufig
Lagerauslegung: In Anbetracht der sehr speziellen müssen in der Lagerumgebung temperatursenkende
und komplexen Eigenschaften der einsetzbaren Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören Wärme-
Werkstoffe ist es bei der Entwicklung von Elastomer- schutzbleche, aber auch die gezielte Zuführung von
lagern besonders wichtig, von Anfang an sämtliche Kühlluft. Grundsätzlich stehen zwar mit syntheti-
Anforderungen sowie Rahmenbedingungen zu ken- schen Kautschuksorten wie z.B. EPDM (Ethylen-
nen und zu berücksichtigen. Gegebenenfalls muss Propylen-Dien-Kautschuk), FKM (Fluor-Kautschuk),
nach Vorliegen einer ersten Lagerauslegung auch oder VMQ (Silikon-Kautschuk) auch Elastomer-
noch einmal der umliegende Bauraum verändert werkstoffe für Temperaturen bis über 150 °C zur
werden. Die konstruktive Auslegung der Lager er- Verfügung, doch weisen diese deutliche Nachteile
folgt heute standardmäßig mit Hilfe entsprechender hinsichtlich der mechanischen Eigenschaften auf [3,
Simulations- und FEM-Programme [3, 9, 15]. In 5]. Erste Anwendungen von Motorlagern mit Silikon-
diese Untersuchungen müssen auch verstärkt Tole- tragfeder zeigen jedoch für die Zukunft ein Potenzial
ranz- bzw. Grenzmusterbetrachtungen mit einfließen, auf.
um später in der Serienfertigung eine gleich bleiben-
de Qualität der Fahrzeuge bezüglich Fahrverhalten 7.4.2.3 Wirkung äußerer Kräfte
und Komfort sicherzustellen [22]. Die am Rad angreifenden Vertikal-, Längs- und
Neben den positiven funktionalen Eigenschaften Querkräfte verändern die durch Vorspur und Sturz
weisen Elastomere noch eine Reihe einschränkender beschriebene Radstellung. Welche Änderungen unter
Merkmale auf, die bei der konstruktiven Auslegung verschiedenen Fahrsituationen günstig sind, wird im
der Lager sowie deren Umfeld berücksichtigt werden Folgenden kurz erläutert. Eine ausführliche Darstel-
müssen. So verändern Elastomerwerkstoffe in Ab- lung findet sich z.B. in [17]. Wie die Radstellungs-
hängigkeit von den einwirkenden Lasten, Temperatu- änderung konstruktiv beeinflusst wird, hängt vom
ren und Medien ihre Eigenschaften wie Steifigkeit, Achsprinzip, der Anordnung der Lenker und den
Dämpfung und Festigkeit über der Zeit [16]. Hinzu Elastizitäten ab und wird exemplarisch veranschau-
kommt ein mit höherer Temperatur stärker werdendes licht. Zur Vertiefung empfiehlt sich [18].
Fließverhalten, das bei statisch vorbelasteten Lagern Die Änderung von Vorspur und Sturz über dem
zu vermehrten Setzungserscheinungen führen kann. Radhub ist zunächst eine Eigenschaft der Kinematik.
Diese treten hauptsächlich während der ersten Kilo- Die Bedeutung für das Fahrverhalten wurde in Kapi-
meter eines Fahrzeugs auf und müssen unter Umstän- tel 7.4.1.1 beschrieben. Durch die Elastizitäten in der
den konstruktiv vorgehalten werden. Bei der Ausle- Radaufhängung werden beide Kenngrößen verändert.
gung hinsichtlich der statischen und dynamischen Bei der kinematischen Auslegung einer Achse ist
Lagereigenschaften muss angesichts der unterschied- deshalb die elastische Änderung vorzuhalten.
lichen Einsatzbedingungen oft ein Kompromiss Bild 7.4-12 zeigt den Querlenkerverband einer Dop-
gefunden werden, der alle Extrembedingungen ab- pelgelenk-Federbeinachse, die konstruktive Ausfüh-
deckt und auch die zeitlichen Veränderungen des rung der gesamten Achse ist in Bild 7.4-21 zu sehen.
Elastomers mit berücksichtigt. Neben hohen und sehr Die Führung des Radträgers in Längs- und Querrich-
niedrigen Temperaturen wirken sich UV-Licht und tung erfolgt durch den Querlenker Q und die Zugstre-
Ozon negativ auf Lebensdauer und Bruchlast aus. be Z; gelenkt wird mit der Spurstange S. Da das
Insbesondere im Hinblick auf das Haftsystem ist auch Federbein nach innen geneigt sein muss, bewirkt die
auf mögliche korrosive Medien wie Salzwasser ein Radaufstandskraft eine Zugbelastung im Querlenker
besonderes Augenmerk zu richten. Bezüglich der Q und verschiebt wegen der Elastizität cQ den radträ-
Temperaturbelastung ist nicht nur die auftretende gerseitigen Querlenkerpunkt nach außen. Das Stütz-
Umgebungstemperatur, sondern auch die infolge lager wandert nach innen. Dadurch nimmt der negati-
Dämpfungsarbeit im Lager selbst entstehende Wärme ve Sturz zu. Wie sich die Vorspur ändert, hängt
zu berücksichtigen. davon ab, ob die Lenkung vor oder hinter Radmitte
Wegen seiner insgesamt ausgeglichensten Eigen- angeordnet ist.
schaften ist Naturkautschuk (NR) der am häufigsten Liegt sie wie im Bild vorne, geht die Achse durch die
für Lager eingesetzte Elastomerwerkstoff. Sein größ- oben beschriebene Verlagerung des Querlenker-
ter Nachteil ist seine eingeschränkte Temperaturbe- Anlenkpunktes unter Radaufstandskraft in Vorspur.
572 7 Fahrwerk

Anfahren kann die Längskraft-Elastokinematik nur an


FB der angetriebenen Achse genutzt werden.
cZ
Die Ausführungen zeigen auch, dass es eine einzige
Z
optimale elastokinematische Abstimmung nicht
S
geben kann. Vielmehr ist eine Abstimmung immer
eine achsbezogene Synthese aus den Anforderungen
FS verschiedenster Fahrzustände. Die Abstimmung muss
P ferner die Ziele der Gesamtfahrzeugauslegung be-
Q
cQ rücksichtigen und ist immer im Zusammenhang mit
anderen Parametern wie Reifenverhalten, Federung,
Stabilisatoren etc. zu sehen. In der Realität sind die
Fahrzeuge meist so ausgelegt, dass die Vorderachse
Bild 7.4-12 Schematische Draufsicht des Querlen- unter Bremskraft leicht in Nachspur geht und die
kerverbandes einer Doppelgelenk-Federbeinachse Hinterachse leicht in Vorspur. Wenn es das Achskon-
zept zulässt, werden angetriebene Hinterachsen
Bezüglich der Längskraft-Elastokinematik gibt es zusätzlich so ausgelegt, dass sie auch bei Vortriebs-
verschiedene Anforderungen. Sowohl beim Bremsen kraft in Vorspur gehen.
als auch beim Beschleunigen geradeaus ist es er- Bei der in Bild 7.4-12 gezeigten Doppelgelenk-
fahrungsgemäß für die Fahrstabilität günstig, wenn Federbeinachse wird die Längsfederung durch das
beide Achsen leicht in Vorspur gehen. Die übertrag- Zugstrebenlager mit der Steifigkeit cZ realisiert. Für
baren Kräfte beim Beschleunigen sind jedoch größer, das freirollende Rad ist cZ klein. Beim Auftreten einer
wenn der Schräglaufwinkel der Reifen möglichst Bremskraft FB dreht sich der Radträger zunächst um
klein ist. den Pol P, d.h. die Achse geht bei der dargestellten
Beim Bremsen auf unterschiedlichen Reibwerten (μ- Anordnung leicht in Nachspur. Bei großer Bremskraft
split) bewirken links und rechts ungleiche Bremskräf- geht das Zugstrebenlager auf Anschlag (cZ wird
te ein Giermoment, welches das Fahrzeug zur Hoch- groß). Dann kommt auch das Querlenkerlager mit
reibwertseite drehen möchte. Wenn nun die Vorder- seiner erheblich höheren Steifigkeit c0 zur Wirkung.
achse durch die Bremskraft in Vorspur geht, entsteht Da der Querlenker beim Bremsen auf Druck belastet
durch die Lenkwinkeländerung ein entgegengerichte- ist und die Spurstangenkraft verhältnismäßig klein
tes Giermoment, welches das Fahrzeug stabilisiert. bleibt, stellt sich die vorliegenden Achse weiter in
Entsprechendes gilt, wenn die Hinterachse auf Nach- Nachspur, Bild 7.4-13.
spur geht.
Anders sind die Verhältnisse, wenn bei Kurvenfahrt
das Gas weggenommen wird (Lastwechsel) oder Längskraft (N)
3000
beim Anbremsen in der Kurve. Bei beiden Manövern Vortrieb
ändern sich zunächst die Radlasten: die Vorderachse 2000
wird mehr, die Hinterachse weniger belastet. Bei
höherer Radlast und zunächst gleichem Schräglauf- 1000
winkel bauen die Reifen vorne eine größere Seiten-
kraft, hinten wegen der Entlastung eine kleinere –30 –20 –10 10 20 30
Seitenkraft auf, sodass in der Summe ein Giermoment Vorspur (min)
entsteht, welches das Fahrzeug nach kurveninnen –1000

lenken möchte. Dieses Giermoment wird reduziert,


–2000
wenn die Vorderachse so ausgelegt ist, dass sie durch
Bremsen
eine Bremskraft in Nachspur geht, und die Hinterach- –3000
se so, dass sie in Vorspur geht. Zwar ändern die
Räder links und rechts ihren Lenkwinkel gleicherma- Bild 7.4-13 Typischer Verlauf der Vorspur einer
ßen, da aber die Radlast der Kurvenaußenräder höher Federbeinachse unter Brems- und Vortriebskraft
ist, kommt die Lenkwinkeländerung dieser Räder
stärker zum Tragen und bewirkt ein nach kurvenau-
ßen gerichtetes Giermoment. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Elastokinematik ist
Generell ist für das Fahrverhalten die Elastokinematik die Änderung von kinematischen Kenngrößen durch
beider Achsen wichtig. Beim Bremsen ist die elasto- elastische Verformungen. Bild 7.4-14 zeigt schema-
kinematische Lenkwinkeländerung an der Vorderach- tisch eine Doppelquerlenkerachse in Seitenansicht.
se größer als an der Hinterachse, weil die Bremskraft Die Spreizachse S ergibt sich als Verbindungslinie
vorne im Allgemeinen deutlich größer ist als hinten. der beiden radträgerseitigen Querlenkerpunkte für
Ferner wirkt sich die Lenkwinkeländerung vorne Längskraft 0 (gestrichelte Lenkerlage), die zugehöri-
stärker aus, weil dort die Radlast zunimmt. Beim ge Nachlaufstrecke n ist eingetragen.
7.4 Fahrwerkauslegung 573

„Aufziehen“ obere Querlenker in die Radschüssel gelegt werden,


so kann die für den Komfort wichtige Längsfederung
S′ S mittels eines elastisch gelagerten Achsträgers reali-
siert werden, die Querlenker können dann härter
ausgeführt sein. Günstig ist es auch, wenn das
Bremsmoment mittels eines Integrallenkers über den
unteren Querlenker aufgenommen wird, weil sich
dann im oberen Querlenkerverband keine Längskräfte
ergeben. Dies ist bei der Integrallenker-Hinterachse
FB realisiert, Bild 7.4-24.
Auch die Seitenkraft verändert durch die in einer
n′ < 0 Achse vorhandenen Elastizitäten Vorspur und Sturz.
n Wie in Kapitel 7.4.1.1 gezeigt, entsteht bei Einzelrad-
aufhängungen aus dem Wankwinkel am Kurvenau-
Bild 7.4-14 Prinzipbild einer Doppelquerlenkerachse ßenrad ein Sturzverlust, der nur teilweise durch die
unter Bremskraft in Seitenansicht Kinematik ausgeglichen werden kann. Eine nach
innen weisende Kraft kann bei allen gängigen Achsen
Die Radlängsfederung sei durch die karosserieseiti- den Sturzverlust nur vergrößern. Unter diesem As-
gen Gummilager realisiert. Da ein Bremsmoment als pekt ist bei der Achse in Bild 7.4-12 ein steifes Quer-
Kräftepaar von den Querlenkern aufgenommen lenkerlager erforderlich.
werden muss, bewegt sich der untere nach hinten und Durch die Lenkwinkeländerung aus der Seitenkraft
der obere nach vorne. Dadurch „zieht sich der Rad- wird das Lenkverhalten des Fahrzeugs beeinflusst. In
träger auf“, d.h. er verdreht sich um die Fahrzeug- der Regel soll auch durch die Seitenkraft-Elasto-
querachse. Die Spreizachse S dreht damit nach S′, aus kinematik ein leicht untersteuerndes Verhalten (siehe
der Nachlaufstrecke n wird die negative Nach- Kapitel 7.1) erreicht werden. Dazu ist es erforderlich,
laufstrecke n′ (auch Vorlauf genannt). dass bei einer nach fahrzeuginnen wirkenden Seiten-
Ein weiterer Effekt beim Aufziehen des Radträgers kraft die Vorderachse in Nachspur geht und die
ist, dass sich die Neigung der Spurstange ändert, Hinterachse in Vorspur. So wird mit den aus der
welche den Verlauf der Vorspur über dem Radhub Querbeschleunigung resultierenden Radkräften ein
steuert. Das bedeutet, dass der Verlauf der Vorspur Lenkwinkel erzeugt, der die Querbeschleunigung
über dem Radhub unter Bremskraft gegenüber dem abbaut. Durch den Lenkwinkel an der Hinterachse
Verlauf ohne Bremskraft geneigt wird, Bild 7.4-15. wird zugleich der Schwimmwinkel reduziert.
Andere Anforderungen ergeben sich aus Bedingun-
gen wie Seitenwind und Fahrbahnquerneigung, denn
Radhub (mm) diesen äußeren Kräften soll das Fahrzeug nicht uner-
100
wünscht nachgeben. Vor allem für die Unempfind-
80 lichkeit gegen Seitenwind ist es aus elastokinemati-
60 scher Sicht günstig, wenn eine nach fahrzeuginnen
40
weisende Kraft an der Vorderachse Vorspur bewirkt.
In der Regel werden – sofern möglich – beide Achsen
20 so ausgelegt, dass sie auch durch die Seitenkraft
Vorspur (min)
untersteuern. Entscheidend für das Fahrverhalten ist
–40 –30 –20 –10 10 20 30 40
–20
das Zusammenspiel beider Achsen. Die konkrete
Abstimmung ergibt sich aus den Fahreigenschaftszie-
–40
len und ist im Zusammenhang mit vielen anderen
–60 Abstimmparametern wie der Federung, Stabilisie-
–80 rung, Aerodynamik u.s.w., aber auch mit kinemati-
schen und elastokinematischen Einflüssen aus Rad-
–100
hub und Längskraft zu sehen.
Bei der in Bild 7.4-12 dargestellten Achse geht der
Bild 7.4-15 Typischer Verlauf der Vorspur einer Querlenker Q unter einer nach innen weisenden
Doppelquerlenkerachse über dem Radhub Seitenkraft FS auf Druck. Liegt nun die Lenkung
vorne, so geht die Achse wegen der Elastizität cQ in
Um das Aufziehen des Radträgers zu begrenzen, ist Nachspur, Bild 7.4-16. Ist die Lenkung hinten ange-
es wichtig, eine große Abstützbasis zwischen den ordnet, so geht sie in Vorspur. In diesem Fall ist eine
Lenkern zu realisieren. Es ist deshalb günstig, bei sehr hohe Querlenkersteifigkeit erforderlich.
einer Doppelquerlenkerachse den oberen Querlenker Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn bei einer
über dem Rad anzuordnen, Bild 7.4-14. Muss der Federbeinachse die Lenkung hinten und deutlich
574 7 Fahrwerk

Seitenkraft (N) licher Kräfte berücksichtigt werden, was immer zu


3000
Kompromissen bei der Synthese zwingt. Wenn es
nach innen
gelingt, durch Regelungssysteme ein Fahrzeug zu-
2000
sätzlich vorteilhaft zu beeinflussen, kann sich die
1000 Gewichtung bei der Abstimmung der Elastokinematik
Vorspur (min) verschieben.
–30 –20 –10 10 20 30
Literatur
–1000 [1] Sagan, E.: Auslegung von Achskinematik und Elastokinematik –
immer ein Kompromiss?, Haus der Technik, Tagung Fahrwerk-
–2000 technik, Osnabrück 2001
nach außen
[2] Drecoll, N.: Der Einfluss der Karosseriedeformation auf die
Fahrwerkskinematik. Logos Verlag Berlin, 2001
–3000
[3] Hempel, J. (Hrsg.): Schwingungstechnik für Automobile, 2002,
Vibracoustic GmbH & Co. KG, Weinheim, ISBN 3-00-010-274-
Bild 7.4-16 Typischer Vorspurverlauf einer Feder- 4
bein-Vorderachse mit vornliegender Lenkung unter [4] Matschinsky, W.: Radführungen der Straßenfahrzeuge, 3. Auf-
Seitenkraft bei festgehaltenem Radhub lage 2007, Springer Verlag
[5] Hofmann, M.: Antivibrationssysteme (Die Bibliothek der Tech-
nik, Bd. 225), 2001, Verlag Moderne Industrie
[6] Mitschke, M.: Dynamik der Kraftfahrzeuge, Band B: Schwin-
oberhalb des Querlenkers angeordnet ist. Durch die gungen, 3. Auflage 1997, Springer Verlag
nach innen weisende Seitenkraft entsteht im Dämpfer [7] Hinsch, P.: Einige Untersuchungen zum Messen dynamischer
ein Biegemoment. Die Durchbiegung des Dämpfers Moduln von Elastomeren, Kautschuk + Gummi Kunststoffe
42/89, Nr. 9, S. 752 – 756
vergrößert den (positiven) Sturz des Kurvenaußenra- [8] Naploszek, H.: Vorgespannte Elastomerlager zur Reduktion von
des, was zur Folge hat, dass der Radträger oberhalb Nebenfederraten, ATZ 101/1999, Nr. 2, S. 94 – 96
des Querlenkers nach außen gedrückt wird. Da er am [9] Müller, M.; Heidrich, M.; Bernhard, U.: Die Auslegung von
Spurstangengelenk festgehalten wird, ergibt sich ein Motorlagerungssystemen, ATZ 99/1997, Nr. 2, S. 92 – 99
[10] van Basshuysen, R.; Kuipers, G.; Hollerweger, H.: Akustik des
Einfluss in Richtung Nachspur. Audi 100 mit direkteinspritzendem Turbo-Dieselmotor, ATZ
Ein weiterer wichtiger Aspekt für das Seitenkraft- 92/1990, Nr. 1, S. 14 – 21
Lenkverhalten ist die Torsionselastizität der Lenksäu- [11] Melcher, J.; Krajenski, V; Hanselka, H: Adaptronik im Automo-
bilbau, ATZ 100/1998, Nr. 4, S. 256 – 265
le als Teil der Gesamt-Lenkelastizität. Bei den für die
[12] Haldenwanger, H.-G.; Klose, P.: Schwingungsisolation und
elastokinematische Auslegung relevanten Fahrzu- -kompensation durch piezokeramisch aktivierte Motorlagerun-
ständen (kleine bis mittlere Lenkwinkel und Schräg- gen, ATZ 95/1993, Nr. 4, S. 174 – 179
laufwinkel) ist die Summe aus geometrischem Nach- [13] Hartig, F.; Reichel, M.: Das Fahrwerk des neuen 3er (Der neue
3er), Sonderausgabe ATZ und MTZ 1998
lauf und Reifennachlauf stets positiv. So ergibt sich
[14] Denker, D.: Schnittstellenprobleme zwischen Aggregat und
das für das Lenkgefühl wichtige rückstellende Mo- Karosserie und ihre Lösung bei Leichtbaukonzepten, System
ment am Lenkrad. Das Moment bewirkt eine Verdre- Partners 97 (ATZ/MTZ Sonderausgabe), 1997, S. 116 – 117
hung der Lenksäule, welche ihrerseits bei festgehal- [15] Becker, K. et al.: Entwicklung von Akustik und Schwingungs-
komfort am neuen Audi A6, ATZ/MTZ Sonderausgabe: Der
tenem Lenkrad einen untersteuernden Lenkwinkel an
neue Audi A6, März 2004, S. 53 – 55
den Rädern verursacht. [16] Hutter, W.; Wölfl, A.: Elastomerlager im PKW, KGK Kautschuk
An der Hinterachse ist es günstig, wenn die Räder Gummi Kunststoffe, 51. Jahrgang, Heft 7 – 8/1998, S. 506 – 511
unter einer nach fahrzeuginnen weisenden Seitenkraft [17] Mitschke, M.; Wallentowitz, H.: Dynamik der Kraftfahrzeuge,
Band C: Fahrverhalten, 3. Auflage, Springer Verlag 2003
in Vorspur gehen. Bei den gewichts- und kostengüns-
[18] Merker, Th.; et al.: Das SL-Fahrwerk – Dynamik und Komfort
tigen Längslenker-, Schräglenker- und Verbundlen- vereint. ATZ Sonderausgabe: Der neue Mercedes SL, Oktober
kerachsen wirken die Elastizitäten der Achsbauteile 2001
dieser Forderung entgegen. Durch schräggestellte [19] Riedl, H.: Kölbel, S.: Das Fahrwerk des neuen 7er. ATZ Sonder-
ausgabe: Der neue BMW 7er, November 2001
Gummilager zwischen der Karosserie und dem Hin- [20] Riedl, H. et al.: Das Fahrwerk des neuen 5er, ATZ/MTZ Sonder-
terachsträger bzw. dem Verbundlenker kann das ausgabe: der neue BMW 5er, August 2003, S. 81
Lenkverhalten der Bauteile teilweise kompensiert [21] Bauer, M. et al.: Das Fahrwerk des Porsche Cayenne, ATZ/MTZ
werden. Bei den aufwändigeren Doppelquerlenker-, Sonderausgabe: Porsche Cayenne, Juli 2003, S. 100/101
[22] Daubenschmid, W. et al.: Auf Achse, S-Klasse – Abstimmung
Raumlenker- und Integrallenker-Achsen dagegen und Erprobung, ATZ/MTZ Sonderausgabe: Die neue SLK-
lässt sich das Seitenkraftsteuerverhalten beliebig ein- Klasse, April 2004, S. 61/62
stellen, siehe Kapitel 7.4.3 sowie [4, 18, 19].
Die Betrachtungen in diesem Kapitel zeigen, wie
mittels Elastizitäten das Fahrverhalten beeinflusst
werden kann. Dabei werden stets durch Radkräfte
Lenkwinkel und Sturzänderungen bewirkt. Die Kräfte
selbst sind unvermeidbar, sie resultieren aus dem
Betrieb des Fahrzeugs. Für konventionelle Fahrwerke
muss bei der Auslegung das gesamte Spektrum mög-
7.4 Fahrwerkauslegung 575

7.4.3 Radaufhängungen gen festlegen. Die virtuelle Spreizachse kann sich


über dem Federweg und dem Lenkeinschlag auch
Die Radaufhängung übernimmt mit den Bauteilen gezielt ändern, was weitere Freiheitsgrade der Ausle-
Radträger, Radlager, Lenker (mit Gelenken und gung eröffnet.
Gummilagern), Feder und Dämpfer die Führung des Bauraumüberlegungen spielen auch bei der Festle-
Rades und die Abstützung äußerer Kräfte. Dabei gung von Reifen- und Felgendimension eine Rolle.
unterscheidet man je nach Freiheitsgrad der Aufhän- Im Hinblick auf Leichtbau sowie niedrige ungefeder-
gung Starrachsen, Einzelradaufhängungen und Ver- te und rotierende Massen wären möglichst leichte,
bundachsen [4, 5]. Starrachsen können einseitig oder also kleine und schmale Rad-/Reifenkombinationen
parallel einfedern, weisen also zwei Freiheitsgrade wünschenswert, zur Reduzierung des Kraftstoff-
auf. Bei Einzelradaufhängungen ist der symmetrische verbrauchs durch niedrigen Rollwiderstand schmale
und antimetrische Federungsvorgang identisch und Reifen mit großem Durchmesser. Aus optischen und
entspricht nur einem Freiheitsgrad. Verbundachsen fahrdynamischen Gründen werden allerdings gerne
können je nach Ausführung unterschiedliche Grade große Felgen mit breiter Bereifung gewählt, die u.a.
der Kopplung von linkem und rechtem Rad aufwei- auch Einbauraum für großdimensionierte Brems-
sen und liegen in den Eigenschaften daher zwischen scheiben und -sättel bieten. Diesem Vorteil stehen der
Starrachsen und Einzelradaufhängungen. Bei gelenk- erhöhte Platzbedarf im Radhaus mit Auswirkung auf
ten Achsen kommt jeweils ein Freiheitsgrad dazu, das Gesamtfahrzeugpackage (Lenkeinschlag, Wende-
nämlich die Drehbarkeit des Rades um die in der kreis, Kofferraumvolumen, . . .) und das in der Regel
Nähe der Hochachse liegende Spreizachse. höhere Gewicht gegenüber. Der Gewichtsproblematik
Die Auswahl des Achskonzepts wird von vielen begegnet man mit dem Einsatz innovativer Materia-
Randbedingungen beeinflusst, z.B. Einsatzspektrum lien und Verfahren, z.B. Aluminium-Bandräder als
(Geschwindigkeitsbereich, Achslast . . .), Bauraum, Substitution des Stahlrades, Leichtbauschmiederäder
Antriebsart, Kosten, Gewicht usw., Tabelle 7.4-1. zunehmend auch als Serienausstattung, Leichtmetall-
Allgemein gilt, dass die Möglichkeit, die kinemati- gussräder mit Aluschaumkernen, Magnesium, faser-
schen Auslegungsparameter zu optimieren, mit der verstärkte Kunststoffe.
Zahl der Lenker und Gelenke zunimmt. So kann Im Missbrauchs- oder Crashfall muss die Radaufhän-
beispielsweise die Lenkdrehachse von Vorderachsen gung spezielle Anforderungen erfüllen: im Falle der
durch die radseitigen Kugelgelenke von zwei Drei- Überlastung eines Bauteils soll sich vor dem endgül-
eckslenkern festgelegt werden. Die Lage der Gelenke tigen Versagen eine deutliche Verformung einstellen.
ist allerdings durch den notwendigen Bauraum für die Zum einen, um (vor dem Bruch) auf die Schädigung
Bremse und den erforderlichen Freigang zur Felge durch die Überlastung erkennbar hinzuweisen und
beim Lenken nicht frei wählbar. So müssen Kom- eine Weiterfahrt auszuschließen, zum anderen aus
promisse z.B. hinsichtlich Spreizungswinkel, Sprei- Produkthaftungsgründen: die Verformung beweist,
zungsversatz und Lenkrollradius eingegangen wer- dass dem Bruch des Bauteils eine missbräuchliche
den. Werden die beiden realen Gelenke durch die Überlastung vorhergegangen ist, die in einer unfallar-
virtuellen Pole von je zwei Stablenkern ersetzt, lässt tigen Situation entstand. Damit ist die Kausalität von
sich die Spreizachse unabhängig von Bauraumzwän- Unfall und Bauteilversagen festgelegt: erst Crash,

Tabelle 7.4-1 Einige Auswahlkriterien für Achskonzepte

Starr- Einzelradaufhängungen Verbund-


achsen achsen
eben sphärisch räumlich
Kinematisches – 0 + ++ 0
Auslegungspotential
Längsfederung – 0 + ++ –
Kosten + 0 – –– +
Bauraum –– 0 0 + –
Gewicht – 0 + + 0
Unempfindlichkeit ++ 0 – – 0
(Achslast, Geländetauglichkeit,
Toleranzen, . . .)
576 7 Fahrwerk

dann Bruch und nicht umgekehrt. Die verwendeten Querversatz. Schließlich ist die übertragbare Leistung
Materialien für radführende Bauteile müssen deshalb bei gegebener Achslast begrenzt, da die Abstützung
Bruchdehnungen von mindestens 6 % aufweisen. des Antriebsmoments bei längsliegender Gelenkwelle
zu Radlastunterschieden führt, die am entlasteten Rad
7.4.3.1 Starrachsen erhöhten Schlupf verursachen. Dieser Effekt lässt sich
Wegen ihrer robusten Bauart sind Starrachsen als durch ein Sperrdifferenzial vermeiden. Bei angetrie-
Vorder- und Hinterachsen von Gelände- und Nutz- benen Starrachsen mit separat an der Karosserie auf-
kraftfahrzeugen häufig zu finden, Bild 7.4-17. Die gehängtem Achsgetriebe (DeDion-Achsen) bleibt der
Achsbrücke verbindet linkes und rechtes Rad starr Achskörper selbst frei von Antriebsmomenten und es
und enthält bei angetriebenen Achsen das Achsge- treten beim Anfahren keine Radlastunterschiede auf.
triebe. Antriebs- wie Bremsmomente stützen sich also
7.4.3.2 Einzelradaufhängungen
am Achskörper ab, damit sind Brems- und Anfahr-
stützwinkel (ohne Vorgelege-Getriebe) identisch. Die Die Einzelradaufhängungen lassen sich nach der
Führung erfolgt im einfachsten Fall über Blattfedern, Bewegungsgeometrie klassifizieren: Rad und Radträ-
sonst über Längs- oder Dreieckslenker. Die Seiten- ger können um eine feste Drehachse schwenken und
führung übernimmt meist ein sogenannter Panhard- führen damit eine Bewegung in einer Ebene aus, die
Stab, der möglichst lang ausgeführt wird, um Quer- senkrecht auf der Drehachse steht (ebene Radaufhän-
schütteln zu minimieren. gung). Schwenkt die Momentanachse beim Federn
Vorteilhaft bei Starrachsen ist vor allem die Spur- um einen festen Punkt, bewegen sich die Radträger-
und Sturzkonstanz beim Wank- und Parallelfedern, punkte auf Kugelschalen um diesen Zentralpunkt.
was die Reifentragfähigkeit günstig beeinflusst. Man spricht deshalb von sphärischen Radaufhän-
Außerdem sind guter Anfahr- und Bremsnickaus- gungen. Im allgemeinen Fall der räumlichen Bewe-
gleich sowie ein hochliegendes Rollzentrum ohne gung ist der Drehung um die Momentanachse eine
Spurweitenänderung möglich, wodurch Wank- und Vorschubbewegung in Achsrichtung überlagert, die
Nickbewegungen des Aufbaus reduziert werden Momentanachse wird damit zur Momentanschraub-
können. Angetriebene Starrachsen kommen ohne achse. Das kinematische Potential der Aufhängung
Gleichlaufgelenke für die Abtriebswellen aus; nicht steigt hierbei mit der Zahl der unabhängig voneinan-
angetriebene Achsen sind relativ kostengünstig aus- der wählbaren Parameter. Eine Gerade im Raum ist
zuführen. Ein für Geländefahrzeuge wichtiger Plus- durch 4 Parameter festgelegt (Punkt und Richtung),
punkt ist die gleich bleibende Bodenfreiheit des damit können die 5 Auslegungsparameter (Vorspur-
Achskörpers beim Einfedern. und Sturzänderung, Anfahr- und Bremsnickausgleich
sowie Rollzentrumshöhe) nicht alle frei gewählt
werden. Bei einer räumlichen Radaufhängung mit
Momentanschraubachse kommt als unabhängiger 5.
Parameter die Schraubensteigung hinzu. (Für nicht
angetriebene Achsen ist der Antriebsstützwinkel
natürlich ohne Bedeutung, damit reichen 4 frei wähl-
bare Parameter aus.)
Die Sturzänderung über dem Federweg soll den
Sturzverlust zur Straße bei Kurvenfahrt mit Karosse-
rie-Wankwinkel kompensieren. Wegen der beidseiti-
gen Einfederung über der Zuladung ist das mit Rück-
sicht auf die Reifentragfähigkeit bei hohen Sturzwer-
ten nur teilweise möglich. Diesen Zielkonflikt versu-
chen Sturzverstellsysteme zu lösen (aktiv: Mercedes
F400; passiv: Michelin OCP-System), allerdings noch
Bild 7.4-17 Angetriebene, lenkbare Starrachse (Mer- nicht in Serie.
cedes G-Modell)
Ebene Einzelradaufhängungen
Nachteilig sind die hohen ungefederten Massen der Hierzu gehören alle Aufhängungen mit fester Dreh-
Starrachse und der große Raumbedarf der Achsbrü- achse wie Längslenker-, Schräglenker- oder Doppel-
cke beim Durchfedern. Wegen störender elastokine- querlenkerachsen mit parallelen Lenker-Drehachsen.
matischer Lenkwinkel bei einseitiger Längskraft ist Als Beispiel sei eine Schräglenker-Hinterachse näher
nur geringe Längsfederung in den Lenker-Gummi- beschrieben, Bild 7.4-18.
lagern möglich. Durch die Beeinflussung des anderen Die Sturzänderung über dem Federweg lässt sich so
Rades beim einseitigen Einfedern entstehen dort wählen, dass der Sturzverlust zur Straße durch den
Radlast- und Sturzänderungen; außerdem ergibt sich Wankwinkel bei Kurvenfahrt zumindest teilweise
wegen der endlichen Länge des Panhard-Stabes ein kompensiert wird. Durch den hochliegenden Längspol
7.4 Fahrwerkauslegung 577

ist der Bremsnickausgleich gut. Angetriebene Schräg-


lenkerachsen besitzen üblicherweise einen Hinterachs-
träger, der das Achsgetriebe mit aufnimmt. Mit großvo-
lumigen Gummilagern ist dann gute Längsfederung
und akustische Entkopplung erreichbar.

Bild 7.4-19 Zentrallenker-Hinterachse (BMW Z4)

Bild 7.4-18 Schräglenkerachse (Hinterachse BMW


Z3)

Wegen der eingeschränkten Auslegungsfreiheit ist


eine Vorspuränderung beim Durchfedern ebenso
wenig vermeidbar wie die geringe Rollzentrumshö-
henänderung, die einen Aufstützeffekt bei Kurven-
fahrt hervorruft. Bei Seiten- und Längskraft stellen
sich durch die Lenkerlager- und Bauteilelastizitäten
unerwünschte übersteuernde Lenkwinkel ein, die nur
durch erhöhten Aufwand bei der Hinterachsträgerla-
Bild 7.4-20 Hinterachse VW Golf V
gerung kompensiert werden können. Dabei werden
Lager mit unterschiedlichen Federraten längs und
quer verbaut und so angestellt, dass sie einen Feder- sieren. Sphärische Aufhängungen sind aber auch
schwerpunkt hinter dem Seitenkraftangriff bilden, Achsen mit Trapezlenker und Sturzlenker, wenn die
sodass die ganze Achse um den Federschwerpunkt radträgerseitige und karosserieseitige Drehachse des
schwenkt und das kurvenäußere Rad in Richtung Trapezlenkers einen gemeinsamen Schnittpunkt
Vorspur mitnimmt. haben (Audi [3], Jaguar [2], Porsche Weissach-Achse
[1]).
Sphärische Einzelradaufhängungen Bei der Zentrallenkerachse kann der Sturzverlauf
Der Zentralpunkt, um den die Momentanachse und ähnlich wie beim Schräglenker gewählt werden,
alle Radträgerpunkte schwenken, ist oft als karosse- durch die zusätzliche Auslegungsfreiheit bei beweg-
rieseitiger Längslenker-Lagerpunkt ausgeführt. Sind ter Momentanachse lässt sich über dem Einfederweg
Radträger und Längslenker ein integrales Bauteil, so auch noch Vorspurkonstanz erreichen. Anfahr- und
sind zur kinematischen Bestimmtheit noch 2 Quer- Bremsnickausgleich sind gut; das großvolumige
lenker notwendig (aus Gründen der Vorspurkonstanz Längslenkerlager ermöglicht ausreichende Längsfe-
relativ lang, Zentrallenkerachse BMW Z4, Bild derung. Durch sorgfältige Abstimmung der axialen
7.4-19) oder 3 kürzere Lenker mit einer Querbeweg- und radialen Federraten und die Anstellung des
lichkeit des Längslenkers. Diese 4-Lenker-Achsen Lagers in der Draufsicht können stabilisierende Vor-
werden zunehmend als hochwertige Hinterachsen von spuränderungen bei Längs- und Seitenkräften einge-
Frontantriebsfahrzeugen eingesetzt (Schwertlen- stellt werden.
kerachse Ford Focus, Mehrlenker-Hinterachsen VW Nicht frei wählbar ist dagegen die Rollzentrums-
Golf V, Bild 7.4-20, Mazda 6). Ihre Vorteile liegen höhenänderung, die einen ähnlichen Aufstützeffekt
im hohen fahrdynamischen Potential und in der erzeugt wie die Schräglenkerachse. Die zwei langen
Möglichkeit, durch kompakte und tiefliegende An- Querlenker benötigen außerdem relativ viel Bauraum;
ordnung von Federn und Dämpfern ein großes Kof- bei der Ausführung mit drei kurzen Lenkern steigt der
ferraumvolumen mit guter Durchladebreite zu reali- Aufwand an Bauteilen.
578 7 Fahrwerk

gemeine Form der räumlichen Radführung. Die


Spreizachse ist jetzt durch zwei Pole festgelegt und
zur virtuellen Spreizachse geworden. Dieser Aufwand
wird aber zur Zeit nur bei angetriebenen Achsen
betrieben.
Eine bauraumneutrale Alternative zur konventionel-
len Federbein-Achse ist die Revo-Knuckle-Vorder-
achse (Bild 7.4-22), die im Ford Focus RS 500 für
eine Antriebsleistung von 257 kW/350 PS ausgelegt
ist. Durch einen geteilten Radträger wird die Lenk-
drehachse so nahe an die Radmittelebene verschoben,
dass die Antriebseinflüsse auf die Lenkung trotz der
hohen Leistung gering bleiben [7].
Bild 7.4-21 Doppelgelenk-Federbein-Vorderachse Angetriebene räumliche Hinterachsen sind in unter-
(BMW 3er-Reihe) schiedlichen Ausführungen auf dem Markt: 5 einzel-
ne Stablenker (Raumlenkerachse Daimler, Bild 7.4-
Räumliche Einzelradaufhängungen 23), 3 Stablenker und 1 Dreieckslenker (Porsche
Vorderachsen sind wegen der Lenkbarkeit im Allge- 911), Trapezlenker mit 2 Querlenkern und Pendel-
meinen räumliche Mechanismen. Sehr verbreitet ist stütze (Audi, Integralachse BMW 5er-/7er-Reihe [6],
die Federbeinachse, Bild 7.4-21, bei der der Dämpfer Bild 7.4-24).
fest mit dem Radträger verbunden ist und radführen- Durch die unabhängig wählbaren Parameter ist bei
de Aufgaben übernimmt. Feder und Dämpfer sind im räumlichen Achsen ein Optimum an kinematischen
Prinzip konzentrisch angeordnet und bilden als Fe- Eigenschaften erreichbar: günstiger Vorspur- und
derbein eine Einheit. Mittels einer Schräganordnung Sturzverlauf, gute Anfahr- und Bremsabstützung,
der Feder zur Dämpfermittelachse kann die durch Vermeidung des Aufstützeffekts durch geeignete
Querkräfte erhöhte Dämpferreibung reduziert wer- Rollzentrumshöhenänderung. Die elastokinematische
den; man spricht vom Querkraftausgleich. Auslegung bietet durch die vielen Gummilager die
Wegen ihres günstigen Bauraumbedarfs und der Möglichkeit, unter allen äußeren Lasten stabilisieren-
geringen Zahl an Bauteilen hat die Federbein- (auch de Lenkwinkel zu erzeugen und gleichzeitig gute
McPherson-)Achse sich als häufigste Frontantriebs- Längsfederung zur Verfügung zu stellen. Da der
Vorderachse etabliert. Kinematisch entspricht das Hinterachsträger, an dem die Lenker angebunden
Federbein einer Geradführung, die man sich ersetzt sind, üblicherweise gummigelagert mit der Karosserie
denken kann durch einen unendlich langen Dreiecks- verbunden ist, können auch die Hinterachsgetriebege-
lenker senkrecht zum Federbein durch das Stützlager. räusche vom Innenraum fern gehalten werden. Je
Quer- und Längspol lassen sich dann wie bei Doppel- nach Auslegung kann die gesamte Längsfederung der
querlenkerachsen konstruieren. Wenn der untere Achse entweder nur durch die Hinterachsträgerlager
Dreieckslenker (oder Sichellenker) aufgelöst wird in realisiert werden oder auch teilweise in den Lenker-
zwei Stablenker, ergibt sich ein Pol, der die Spreiz- lagern. Den funktionellen Vorteilen steht der hohe
achse festlegt. Damit können Bauraumzwänge (z.B. Bauaufwand gegenüber, den die vielen Lenker, Ge-
wegen der Bremsscheibe) umgangen werden. lenke (mit störenden Losbrechmomenten), Gummila-
Wird auch der obere Dreickslenker in zwei Einzel- ger und der komplizierte Hinterachsträger mit sich
lenker aufgelöst, entsteht eine 5-Lenker-Achse als all- bringen.

Domlager

Störkrafthebelarm
(SKHA)
Lenkachse
Reifenmitte

unteres Kugelgelenk
Bild 7.4-22 Vorderachse
Ford Focus, links Revo-
Knuckle (Ford Focus RS
500), rechts Standard-Feder-
bein [7]
7.4 Fahrwerkauslegung 579

Längsarme verbindet. Je nach Positionierung des


Querprofils (näher an den Längsarmlagern oder näher
an den Radmitten) entsprechen die kinematischen
Eigenschaften eher denen einer Längslenkerachse
oder einer Starrachse. Für den Fall, dass das Profil
etwa in der Mitte der Längsarme liegt, ergibt sich
beim einseitigen Einfedern eine Momentanachse
durch das Längsarmlager und den Schubmittelpunkt
des Querprofils, der aus Symmetriegründen in Ruhe
bleibt. Diese Momentanachse liegt im Raum ähnlich
wie eine Schräglenker-Drehachse und erzeugt Vor-
spurzunahme und mehr negativen Sturz am einfe-
dernden Rade. Beim gleichsinnigen Einfedern dage-
gen wird das Querprofil nicht tordiert, Vorspur und
Sturz bleiben an beiden Rädern annähernd konstant.
Diese Vorspur- und Sturzkonstanz ist neben der
Bild 7.4-23 Raumlenker-Hinterachse (Maybach) kostengünstigen Bauart mit nur zwei Lagerstellen der
Hauptvorteil der Verbundlenkerachse. Nachteilig sind
der Bauraumbedarf des Querprofils beim Durchfe-
7.4.3.3 Verbundachsen dern sowie die elastokinematische Übersteuerneigung
Allgemein zeigen Achsen dann Verbundwirkung, bei Längs- und Seitenkräften. Durch angestellte
wenn beim einseitigen Federn das andere Rad nicht Gummilager mit axial und radial unterschiedlichen
unbeeinflusst bleibt bzw. wenn sich der parallele und Federraten können allerdings korrigierende Vorspur-
der wechselseitige Federungszustand unterscheiden. winkel erzeugt werden. Wie bei Starrachsen ist die
Das ist z.B. auch bei den heute nicht mehr gebräuch- Längsfederung wegen der Lenkeffekte bei einseitiger
lichen Eingelenk-Pendelachsen der Fall. Die Ver- Längskraft begrenzt. Einer Verwendung als angetrie-
bundlenkerachse im engeren Sinne, die heute noch bene Achse steht die Kollision des Querprofils mit
die übliche Hinterachse für Frontantriebs-Pkw dar- der Gelenkwelle im Weg.
stellt, Bild 7.4-25, besteht meistens aus zwei biege- Eine Weiterentwicklung der klassischen Verbundlen-
und torsionssteifen Längsarmen, die die Räder tragen, kerachse in Verbindung mit einem Watt-Gestänge
und einem torsionsweichen Querprofil, das die beiden findet sich im Opel Astra [8]. Durch die optimierte

Bild 7.4-24 Integral-Hinter-


achse (BMW 7er-Reihe)
580 7 Fahrwerk

Bild 7.4-25 Verbundlenker-


Hinterachse (Audi A1)

Seitenkraftabstützung ergibt sich die Möglichkeit • den Fahrzeugaufbau und damit vor allem auch die
einer weicheren Abstimmung der Gummilager, was Insassen vor unangenehmen Hub-, Nick- und
sich auf den Abrollkomfort günstig auswirkt. Wankschwingungen sowie vor Stößen schützen
und damit zum mechanischen Schwingungskom-
Literatur fort beitragen.
• für eine möglichst gleichmäßige Bodenhaftung
[1] Bantle, M.; Braess, H.-H.: Fahrwerksauslegung und Fahrverhalten
der Räder sorgen, als Voraussetzung für die zur
des Porsche 928, ATZ 79 (1977), Nr. 9, S. 369 – 378
[2] Cartwright, A. J.: The development of a high comfort, high Kurshaltung, zum Antreiben und Bremsen erfor-
stability rear suspension, IMechE 1986, Proc Instn Mech Engrs derliche Kraftübertragung zwischen Reifen und
Vol. 200 No. D5, S. S53 – S60 Fahrbahn. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der
[3] Leitermann, W. et al.: Der neue Audi 200 quattro, ATZ 86 (1984)
10, S. 417 – 421
Fahrsicherheit.
[4] Matschinsky, W.: Radführungen der Straßenfahrzeuge, 3. Auflage • durch eine ausgewogene Kräfte- und Momenten-
2007, Springer Verlag verteilung zwischen den Rädern einer Achse ei-
[5] Reimpell, J.: Fahrwerktechnik: Grundlagen, 4. Auflage 2000, nerseits und den beiden Achsen andererseits das
Vogel Buchverlag
[6] Kurz, G.: Das Fahrwerk des neuen 5er BMW, geprägt durch
Fahrverhalten positiv mitgestalten. Dies tangiert
moderne Kundenanforderungen. Chassis.tech plus 2010 sowohl Aspekte des Fahrkomforts als auch der
[7] Simon, M.; Gerhards, T.; Frantzen, M.; David, W.: Das Fahrwerk Fahrsicherheit.
des Ford Focus RS 500. ATZ 10/2010, S. 764 – 768
[8] Winterhagen, J.: Der neue Opel Astra, ATZ 12/2009 Für die Auslegung der einzelnen Komponente ist die
[9] Heißing, B.; Ersoy, M.; Gies, S. (Hrsg.): Fahrwerkhandbuch. Aufgabe nicht schwer; die eigentliche Kunst liegt in
Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011 der ausgewogenen und auf die Fahrverhaltens- und
Komfortziele abgestellten Abstimmung aller Funkti-
onen zueinander. Der Prozess wird im Folgenden am
Beispiel eines komfortorientierten Fahrzeugs näher
erläutert. Hinweise für abweichende Vorgehenswei-
sen beim Sportfahrzeug finden sich am Ende.
Die verwendeten Formelzeichen leiten sich aus dem
Modell nach Bild 7.4-26 ab. Mit der Reifenwahl
(Kapitel 7.3) ist c1 festgelegt. Nachdem inzwischen
7.4.4 Federung, Dämpfung, Stabilisatoren
auch ein Achskonzept vorliegt, ist m1 bekannt und der
Die Federung als Oberbegriff für das Zusammenwir- verfügbare Bauraum für die Federung beschrieben.
ken von Tragfedern, Stabilisatoren und Schwin- Die Koppelmasse mK kann erfahrungsgemäß für die
gungsdämpfern hat eine Reihe für das Gesamtverhal- meisten Pkw näherungsweise zu 0 gesetzt werden,
ten des Fahrwerks höchst bedeutsame Aufgaben zu gleichbedeutend mit einer Entkoppelung von Hub-
erfüllen. So soll sie und Nickschwingungen.
7.4 Fahrwerkauslegung 581

z2

O2,J2y m2v,m2h anteilige Aufbaumassen


mK Koppelmasse (≈ 0)
z2v z2h m1v,m1h ungefederte Massen
m2h c2v,c2h Aufbaufederkonstanten
x m2v
mk d2v,d2h Aufbaudämpferkonstanten
c1v,c1h Reifenfederkonstanten
c2v d2v y c2h d2h lv,lh Schwerpunktabstände VA, HA
l Radstand
z1h vF Fahrgeschwindigkeit
z1v
m1v m1h

c1v c1h
vF

lv lh

m2z2 +(d2v + d2h)z2 + (c2v + c2h)z2 – (d2vlv – d2hlh)O2 – (c2v lv – c2hlh)O2 – d2vz1v – d2hz1h – c2vz1v – c2hz1h = 0 (1)

J 2yO 2 + (d 2vl v2 + d 2hl h2)O 2 + (c 2vl v2+ c 2hl h2)O2 – (d 2vl v – d 2hl h )z 2 – (c2vlv – c 2hl h )z 2 + d 2vl vz 1v – d 2hl hz 1h + c 2vl vz 1v – c 2hl hz 1h = 0 (2)

Bild 7.4-26 Halbfahrzeugmodell für Hub- und Nickschwingungen sowie zugehörige Schwingungsgleichungen
(nach [6])

7.4.4.1 Tragfeder eigenfrequenz (um 1 Hz) maßgeblich beeinflusst wer-


Wie der Name nahe legt, haben die Federn c2 vorran- den. Die Überhöhungen nehmen mit weicher wer-
gig eine Tragfunktion, nämlich das Tragen der antei- dender Feder deutlich ab und verlagern sich entspre-
ligen Aufbaumasse m2. Da ein Fahrzeug gegenüber chend der abnehmenden Eigenfrequenz.
der Konstruktionslage auch be- und entladen wird, Dies gilt im unteren Frequenzbereich auch für die
ändert sich m2 von m2, leer bis zur vollen Zuladung Radlastschwankungen; bei höheren Anregungsfre-
m2,voll im Einzelfall erheblich. quenzen werden Letztere durch die weiche Feder
Für alle Beladungen wird ein möglichst gleich blei- allerdings vergrößert.
bender Schwingungskomfort gewünscht, was zu- Für ein Rad aus dem Halbfahrzeugmodell nach Bild
nächst einmal die Forderung nach stets ausreichen- 7.4-26, lassen sich einige vereinfachte Zusammen-
dem Federweg bedeutet; mit Rücksicht auf die hänge ableiten:
Schwingungsempfindung des Menschen aber auch Die Aufbaueigenfrequenz in Hz
niedrige (0,7 ÷ 2 Hz) und möglichst konstante Eigen- c2
1
frequenz der Freiheitsgrade m2v und m2h [3, 6, 8]. f2 = (3)
Bild 7.4-27 zeigt, dass die Aufbaubeschleunigungen 2π m2
von der Feder c2 nur in der Umgebung der Aufbau-

Aufbaubeschleunigungen Radlastschwankungen
F(z2) F(Fz)
m2 c2 = 12000 N/m [N 2s]
s3
c2 = 22000 N/m

c2 = 36000 N/m
zunehmendes c2

0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Frequenz (Hz) Frequenz (Hz)

Bild 7.4-27 Einfluss der Federsteifigkeit c2 auf die Leistungsspektren von Aufbaubeschleunigung und Radlast-
schwankungen
582 7 Fahrwerk

bzw. die bei Konstrukteuren beliebtere Schwingzahl schwindigkeit auftreten können, werden deshalb Zu-
–1
in min satzfedern (meist PU-Schaum-Teile) verbaut, so dass
n2 = 60 f2 (4) durch Kennlinienüberlagerung ohnehin eine Pro-
gressivität der Gesamtfederkennlinie entsteht, Bild
die statische Einfederung unter m2 in m 7.4-28. Zur Reduktion des Bauraumbedarfs, insbe-
m g sondere bei Unterflur-Hinterachsen werden Schrau-
z21,0 = z2 ,0 − z1,0 = 2 (5)
c2 benfedern mit inkonstantem Draht- und Wickel-
und über Vergleich mit Gl. (3) Durchmesser verwendet (Miniblockfeder). Durch das
g Aufliegen, sprich „Abschalten“ von Windungen wird
z21,0 = (6) hierbei eine progressive Kennlinie erzielt. Ferner sind
4 π2 f22 bei der Auslegung der annähernd lineare Federanteil
Gl. (6) quantifiziert den unmittelbaren Zusammen- aus den Gummilagern der Achslenker und die Gasfe-
hang von Eigenfrequenz und statischer Einfederung. derrate des Gasdruck-Stoßdämpfers als „Nebenfeder-
So lässt sich leicht nachrechnen, dass für den oben raten“ einzubeziehen. Weiteres Feintuning der Kenn-
angegebenen Bereich günstigen Schwingungsemp- linie ist durch geeignete hubabhängige Federüberset-
findens statische Federwege bis 500 mm benötigt zungen oder z.B. den Einsatz „gewundener“ Schrau-
würden. Da üblicherweise im Pkw aber aus Packa- benfedern möglich [1]. Die Progression hilft im
gegründen nur ca. 200 mm Gesamtfederweg verfüg- Übrigen auch bei wechselseitigen Federungsvorgän-
bar sind, muss für Werte f2 < 1 Hz schon an den gen, weil sie die Wankwinkelzunahme über der Last
zusätzlichen Einbau einer Niveauregulierung (Ab- degressiv gestaltet; gleichzeitig erzeugt sie aber einen
schnitt 7.4.4.4) zur Kompensation der statischen Aufstützeffekt.
Einfederung gedacht werden. Als weitere Synthese- Damit ist eine erste Federvariante für die im vorlie-
Randbedingung verdeutlicht Gl. (3), dass für eine genden Fall stärker zuladungsabhängige Hinterachse
angestrebte Konstanz der Eigenfrequenz über der festgelegt.
Zuladung progressive Federn benötigt werden. Wäh- Bei der Auslegung der Vorderachse muss nun das
rend die Gasfeder, siehe Abschnitt 7.4.4.4 und [2], erwünschte Zusammenwirken von Vorder- und
diesem geforderten Verhalten prinzipbedingt nahe- Hinterachse umgesetzt werden. Für den Komfortein-
kommt, sind Stahlfedern in der verbreitetsten Form druck der Insassen, der meist durch die Effektivwerte
als gerade zylindrische Schraubenfedern erst einmal von Aufbaubeschleunigungen – besser unter Einbe-
linear. Um Stöße abzumildern, wie sie beim Durch- ziehung des menschlichen Empfindens mit dem K-
fahren von Bodenwellen mit entsprechender Fahrge- Wert [8] auf dem Sitz – beschrieben wird, zeigt [6]

Federkraft

Zusatzfedern Gesamtfederrate c2 = f(z21)


Tragfeder
Σ Lenkerlager

m2,vollg
m2,KOg
m2,leerg

z21,dyn ≈ 3sz21

z21,dyn ≈ 3sz21

z21,stat,leer z21,stat,KO z21,stat,voll Federweg Bild 7.4-28 Zusammen-


Zuganschlag
Konstruktionslage
Druckanschlag
setzung der Gesamtfeder-
ausfedern einfedern
kennlinie für die Trag-
federung
7.4 Fahrwerkauslegung 583

sehr anschaulich, dass es unter Einbeziehung von Für eine hohe Federarbeit bei wenig Materialein-
Nickschwingungen auf die Lage der Sitze ankommt, satz ist also eine möglichst hohe zulässige Schub-
wie die Abstimmrelation vorn/hinten zu wählen ist spannung anzustreben. Aus diesem Grund kommen
(hier werden nur Nickschwingungen aus Fahrbahnu- als Federwerkstoffe höchstfeste hochlegierte Stähle
nebenheiten behandelt; Anfahr- und Bremsnicken s. wie z.B. 54SiCr6 zum Einsatz, die nach dem Umfor-
Abschnitt 7.4.1). men zur weiteren Festigkeitssteigerung noch kugel-
Da zum Zeitpunkt der Federungsauslegung die Lage gestrahlt werden. Damit lassen sich bei Zugfestigkei-
der Sitze i.a. festgelegt ist, muss sich der Konstruk- ten von 2.000 MPa zulässige Torsionsspannungen bis
teur am Auslegungsziel orientieren: vom Komfort her zu 1.300 MPa erreichen.
fahrerorientiert oder bevorzugt für Mitreisende auf Um Geräusche und ein Beschädigen/Verschleißen der
den hinteren Sitzen ausgelegt. Während im ersten Fall Feder zu vermeiden, werden zwischen Feder und
die Federung vorn weicher als hinten auszulegen Federteller Federunterlagen aus Gummi eingesetzt,
wäre, lässt sich mit dem umgekehrten Auslegungsan- die auch der Federpositionierung dienen.
satz hinten ein deutlich höherer Komfort darstellen.
7.4.4.2 Stabilisierung
Dass im Fall der Fondorientierung hinten generell
bessere K-Werte erreichbar sind, ist durch die Pha- Nachdem beide Achsen bezüglich der Tragfedern
senlage der Aufbaubeschleunigungen vorn/hinten bei definiert sind, richtet sich das Augenmerk auf das
Vorwärtsfahrt begründet. Weil die Phasenlagen aber Wankverhalten. Da, wie z.B. in [6] gezeigt, Wank-
wiederum fahrgeschwindigkeitsabhängig sind, hängt schwingungen und Hub-/Nickschwingungen als ent-
natürlich auch dieser Zugewinn davon ab. Weil bei koppelt betrachtet werden können, sieht das Schwin-
Fahrzeugen mit Front- bzw. Standardantrieb aber die gungsmodell nach Bild 7.4-29 für eine Achse dem
Hinterachse nahezu die ganze Zuladung erfährt, ist Bild 7.4-26 sehr ähnlich, nur dass jetzt beide Achsen
der Fondkomfort-Ansatz praktisch nur in Verbindung betrachtet werden, die durch eine ausreichend tor-
mit Niveauregelung umsetzbar, oder die Vorderachse sionssteife Aufbaumasse m2 miteinander verbunden
müsste unnötig hart gefedert werden, was dem Hub- sind und zusätzlich Stabilisatorfedern cS, v und cS, h
komfort wieder schaden würde. In jedem Fall ist es enthalten.
sinnvoll, nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf das Ver- Bei Kurvenfahrt mit der Querbeschleunigung ay greift
halten beim Überfahren von Einzelhindernissen, die im Schwerpunkt S eine Beschleunigungskraft (Flieh-
Eigenfrequenzen von Vorder- und Hinterachse ausei- kraft) F an, die mit dem Hebelarm hRZ zum Kippmo-
nander zulegen, weil dadurch Nickschwingungen in ment des Aufbaus
jedem Fall schneller beruhigt werden. Daher wird in MK = m2 · ay · hRZ (9)
der Praxis meist f2, v/f2, h = 0,8 ÷ 0,95 angewendet. führt, welches sich nach Einstellen eines Wankwin-
Als konventionelle Tragfedern kommen Schrauben- kels ϕ noch um die Komponente m2 · g · hRZ · ϕ ver-
Druckfedern, Drehstabfedern oder Blattfedern zum größert. hRZ ist der Wankhebelarm und ergibt sich
Einsatz. Die früher sehr verbreiteten geschichteten aus dem Abstand Schwerpunkt – Rollachse, Ab-
Blattfedern mit Führungsfunktion an Starrachsen sind schnitt 7.4.1. Das etwas vereinfacht dargestellte
heute fast nur noch im Nutzfahrzeugbereich zu finden Kippmoment MK muss mit dem Wankfederungsmo-
[28]. Auch Drehstabfedern werden aus Kosten- und ment MW im Gleichgewicht stehen:
Bauraumgründen eher selten verwendet. Durchsetzen
konnte sich die aus Draht gewickelte Schraubenfeder, MK = m2 hRZ ( ay + gϕ ) = ( cϕ v + cϕ h ) ϕ = M W , (10)
vor allem in der zylindrischen Ausführungsform. wobei cϕv, cϕh die resultierenden Achs-Wankraten
Für die zylindrische Druckfeder gilt: sind, in deren Verhältnis sich auch das Moment MW
πd ³ auf die Achsen verteilt (torsionssteifer Aufbau vo-
stat. Federkraft F= τt rausgesetzt). Eine detailliertere Betrachtung findet
8D sich in [5].
8D ³ n Die Wankneigung lässt sich nun leider nicht einfach
Federweg s= F durch Anheben der Rollzentrumshöhen auf Höhe des
Gd 4
Schwerpunktes (hRZ = 0) abstellen. Das würde (außer
Gd 4
Federrate c= bei Starrachsen) zu sehr ungünstigen Raderhebungs-
8 D3 n kurven mit großen Spurweitenänderungen führen und
π ² d ² Dn 2 damit zu Traktionsproblemen und hohem Reifenver-
Federarbeit W= τt schleiß. Eine völlige Eliminierung des Wankwinkels
16 G ist zumindest im fahrdynamischen Grenzbereich aus
mit d: Drahtdurchmesser Gründen der Fahrerinformation auch gar nicht ge-
D: Windungsdurchmesser wünscht.
n: Windungszahl Bei normalen Wankhebelarmen um 500 mm und
τt: Torsions-Schubspannung einer aus Komfortgründen weichen Tragfederung
G: Schubmodul muss daher, um den Wankwinkel gering zu halten,
584 7 Fahrwerk

m2 Aufbaumasse gesamt
hRZ,h J2x Wankträgheitsmoment
S hRZ,v,h Wankhebelarme vorn, hinten
sv,sh Spurweiten
MSt,v,h Stabilisatormoment VA, HA
F y
RZv,h Rollzentrum VA, HA
m2, J2x

x
hRZ,v
RZh

sh
MSt,v
lh

RZv
lv l

sv

Rollachse

Vereinfachungen: gleiche Spurweiten sv = sh = s


gleiche Reifenfedern c1v = c1h = c1 und damit F1v = F1h = F...
2J2x
F2 + (d2c + d2h)(F2 – F1) + ( c2v + c2h)(F2 – F1) = 0 (7)
s2
(m1v + m1h)F1 – (d2v + d2h)(F2 – F1) – (c2v + c2h)(F2 – F1) +2c1F1 = 4c1Δh (8)

Bild 7.4-29 Fahrzeugmodell für Wankschwingungen und die wichtigsten Schwingungsgleichungen nach [6]
Weitere Bezeichnungen siehe Bild 7.4-26

ein zusätzlicher Stabilisator verbaut werden, der eine erndes Fahrverhalten. Ist der Untersteuergrad aller-
parallel geschaltete, aber nur bei wechselseitigen dings zu hoch, kann es erforderlich sein, die Hin-
Radhüben wirksame Feder darstellt. Die Wankfeder- terachse stärker zur Abstützung des Wankmoments
rate ergibt sich dann, bei Vernachlässigung der Ne- heranzuziehen. Wenn aus Komfortgründen dort nicht
benfederraten, aus der Addition der beiden Federn die Aufbaufeder steifer ausgelegt werden kann, wird
unter Einführung der Spurweite sv,h an den Achsen zu auch an dieser Achse ein Stabilisator vorzusehen sein.
Zur Lagerung des Stabilisators werden Elastomerla-
sv2,h
cϕ v ,h = ( c2 v , h + cSv ,h ) . (11) ger verbaut, die als zusätzliche Federelemente wirk-
2 sam sind und dem Toleranzausgleich zur Verbau-
Wenn an der, in der Regel vertikal weicher ausgeleg- barkeit dienen. Bei ungebundenen Stabilisatorlagern
ten Vorderachse die Stabilisatorrate so ausgelegt ist, kann es durch Umwelteinwirkungen (Nässe,
dass der angestrebte Maximal-Wankwinkel nicht Schmutz) zu Relativbewegungen zwischen Stabilisa-
überschritten wird, müssen Aufstütz- und Eigenlenk- tor und Gummilager kommen. Die Folge können
verhalten überprüft werden. Solange die Vorderachse Geräusche und Verschleiß sein. Dies wird durch auf
allein stabilisiert ist (aus Kostengründen häufig bei den Stabilisator gehaftete Gummilager vermieden.
Fahrzeugen der unteren Klasse der Fall), übernimmt Aktuell sind zwei wesentliche Verfahren auf dem
sie wegen der deutlich höheren Wanksteifigkeit auch Markt verbreitet, das Postvulkanisationsverfahren [7]
einen entsprechend größeren Teil der Wankmoment- und das Klebeverfahren [9].
abstützung. Stabilisatorlager aus Elastomerwerkstoffen weisen
Die radbezogenen Stabilisatorkräfte führen zu einer die bekannten Harshness-Effekte über Amplitude und
stärkeren Radlastverlagerung zwischen kurveninne- Frequenz auf, die zu einer, bei hohen Frequenzen und
rem und -äußerem Rad und ab Querbeschleunigungen Amplituden, abnehmenden Isolationswirkung führen.
von ca. 0,4 g wegen der Nichtlinearität der Reifen- Bei den Rolls Royce Modellen z.B. wird der Stabili-
Seitenkraftkennlinien (Kap. 7.3) zu einem progressiv sator zur Maximierung des Fahrkomforts in Wälzla-
höheren Schräglaufwinkelbedarf der Achse. Weil der gern aufgenommen.
Fahrer jetzt nachlenken muss, um den Kurvenradius
7.4.4.3 Schwingungsdämpfung
beizubehalten, spricht man von Untersteuern. Dieser
Effekt ist aus Fahrstabilitätsgründen in bestimmtem Wenn über die Trag- und Stabilisatorfederung gute
Maß erwünscht, da Untersteuern für Normalfahrer Voraussetzungen für den gewünschten Hub-/Nick-
wesentlich einfacher zu beherrschen ist als Übersteu- und Wank-Komfort geschaffen sind, müssen noch
7.4 Fahrwerkauslegung 585

Aufbaubeschleunigungen Radlastschwankungen
F(z2) F(Fz)
m2 d2 = 1300 Ns/m [N 2s]
s3
d2 = 2000 Ns/m
d2 = 3150 Ns/m zunehmendes d2

0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Frequenz (Hz) Frequenz (Hz)

Bild 7.4-30 Einfluss der Dämpfer d2 auf die Leistungsspektren von Aufbaubeschleunigung und Radlastschwan-
kungen

Maßnahmen zur Beruhigung der durch äußere Kräfte derten Massen klein sind. Bilder 7.4-30 und 7.4-31
eingeleiteten Schwingungen ergriffen werden. Diese zeigen für stochastische Fahrbahnanregung sehr an-
Aufgabe kommt den Schwingungsdämpfern zu. Die schaulich, dass entlang der Linie für eine gegebene
Dämpfung wirkt dabei nicht nur auf die Aufbau- Aufbaufederkonstante c2 durch die Wahl der Dämp-
masse, sondern trägt auch ganz maßgeblich zur Fahr- ferkonstanten d2 eine wesentliche Entscheidung für
sicherheit bei, Bild 7.4-30, während die Tragfederra- die Synthesequalität Komfort – Fahrsicherheit getrof-
ten einen geringeren Einfluss auf die Radlastschwan- fen wird. Wegen der stets kombinierten Hub- und
kungen hatten, Bild 7.4-27. So gilt für die Dämp- Nickschwingungen sowie der Abhängigkeit des ge-
fungsmaße an Aufbau D2v, h und Rad D1v, h: samten Diagramms von Fahrgeschwindigkeit, Zula-
d2 v , h dung und vor allem auch dem Unebenheitstyp der
D2 v ,h = (12) angesetzten spektralen Fahrbahnunebenheiten emp-
2 ( c2 v ,h m2 v ,h ) fiehlt sich eine parallele Optimierung der Dämpfer-
d2 v , h d2 v , h konstanten d2v, h an Vorder- und Hinterachse unter
D1 v ,h = ≈ (13) Variation der wesentlichen Einflussparameter in der
2 ( c1 v ,h + c2 v ,h ) m1 v ,h 2 c1 v ,h m1 v ,h Simulation.
In der Praxis liegen Werte für D2v, h bei 0.2 – 0.25 und Wie in Bild 7.4-30 ersichtlich, verändern unterschied-
für D1v, h etwas darüber, zumindest, wenn die ungefe- liche Dämpfungswerte die im Fahrbetrieb wirksamen

Effektivwert der Aufbaubeschleunigung s(z2)

Grenzkurve GK (konventionelles System)


GF
Federweg-
GK grenze GF
t.
cons z21,max = 3sz21
d2 =
Komfort

Komfort

c2
c2
c2 = P d2
d2 = const.

con P
st. d2 PR PK
m2 z2 PR
c2 = const.
c2 d2 PK
z1
m1
c1

Fahrsicherheit

1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 0,2 0,25 0,3 0,35


Aufbaudämpfungsmaß D2 Effektivwert der bez. Radlastschwankung s(Fz,dyn/Fz,stat)

PR= Auslegung auf minimale Radlastschwankung


PK = Auslegung auf maximalen Komfort
P = Auslegungspunkt (Beispiel mit notwendiger Federweg-Reserve für Einzelhindernisse)

Bild 7.4-31 Auslegungsgrenzen im Konfliktschaubild Komfort – Fahrsicherheit als Funktion von Federung und
Dämpfung sowie zugehörige Dämpfungsmaße
586 7 Fahrwerk

Dämpferkraft Dämpferkraft

Dämpfergeschw. Dämpferweg

Bild 7.4-32 Beispiele für


degressiv, Zug/Druck = 2:1 Kennlinien von Dämpfer-
linear, Zug/Druck = 1:1
progressiv, Zug/Druck = 1:1
kräften über Dämpferge-
schwindigkeit und Auswir-
kung auf Arbeitsdiagramme

gedämpften Eigenfrequenzen und Resonanzüberhö- dem Unkomfort zu einer Überdämpfung der Räder
hungen von Aufbau und Rädern. Um weiterführend und damit auch zu größeren Radlastschwankungen
zur Auslegung der ungedämpften Eigenfrequenzen führen.
der Achsen, wie in Kapitel 7.4.4.1 beschrieben, ein Deshalb wird ab υD ≈ 0,15 m/s die Kennung etwas
optimales Zusammenspiel der gedämpften Eigenfre- unter d2 lin abgesenkt. Die Kurven im Arbeitsdia-
quenzen von Vorderachse und Hinterachse zu errei- gramm werden fülliger, die Dämpferarbeit ist damit
chen, müssen in einer simulativen Grundauslegung bei niedrigen υD größer geworden.
auch die Eigenschaften der Dämpfer aufeinander Verbreitet werden auch geknickte Dämpferkennun-
abgestimmt werden. Im Allgemeinen ist die Hinter- gen mit unterschiedlichen Dämpferkonstanten für
achse dabei stärker bedämpft als die Vorderachse. Einfedern (Druckstufe d2D) und Ausfedern (Zug-
Die erarbeitete Auslegung stellt hierbei immer einen stufe d2Z) verwendet, wobei die Druckstufe vor
Kompromiss zwischen Fahrkomforteigenschaften allem an Vorderachsen bis auf Verhältnisse von
(z.B. Parallelität, Aufbauschwingverhalten) und Fahr- d2D : d2Z = 1 : 3 abgesenkt wird. Damit soll beim Auf-
stabilität (z.B. dynamische Verteilung des Wankmo- fahren auf rampenförmige Einzelhindernisse das
mentes aus Feder- und Dämpfungselementen bei „Anfedergefühl“ verbessert werden. Dies kann in
hochdynamischen Fahrmanövern) dar. Grenzen auch erreicht werden; weil aber mit zuneh-
Als ausgeführte Schwingungsdämpfer werden heute mender Unsymmetrie der Dämpferkennlinie der
fast ausschließlich zwei Bauarten – hydraulische statistische Komfort ab- und die Radlastschwankung
Teleskopdämpfer in Einrohr- und Zweirohrausfüh- zunimmt, sollte das Druck-/Zug-Verhältnis nicht
rung – eingesetzt, welche in vielen Konstruktionsva- unnötig abgesenkt und die positive Wirkung einer
rianten und Ventilsystemen angeboten werden. ausreichenden Längsfederung der Achsen ausge-
Bisher konnte durchaus mit linearer Dämpferken- schöpft werden.
nung, Bild 7.4-32, gerechnet werden. Wird nun aber, In den vorausgehenden Abschnitten wurde gezeigt,
wie schon oben bei der Federauslegung, wegen des dass die Erarbeitung einer bezüglich der Fahrzeugzie-
signifikanten Komforteinflusses [4] auch das Verhal- le erfolgreichen Gesamtabstimmung einen komplexen
ten bei Einzelhindernissen (z.B. Bodenwellen, Kanal- Syntheseprozess darstellt, der vom Konstrukteur ent-
deckel) oder Fahreraktionen (z.B. Anlenken) in die weder empirisch mit viel Erfahrung, besser unter
Betrachtung einbezogen, dann muss der konkrete Nutzung moderner Simulationstools umgesetzt wer-
Verlauf der Dämpferkraft Fd über der Dämpferkol- den muss.
bengeschwindigkeit υD weiter angepasst werden: die Dies reicht von stark vereinfachten Implementationen
Dämpferkennlinie wird nichtlinear. analytischer Gleichungen in der Konzeptionsphase
Eine gebräuchliche Form der Nichtlinearität ist die über Mehrkörpersimulationsumgebungen bis hin zum
Degression im Zugstufenast der Dämpferkennung. Einsatz von Simulatoren, in welchen virtuelle Fahr-
Sie resultiert aus dem Bestreben, für kräftige Aus- zeuge von den Entwicklern bereits vor dem Vorliegen
weichmanöver einen zeitlich harmonischen Wank- echter Komponenten erlebt und erfahren werden
winkelaufbau zu erreichen, der für das subjektive können.
Sicherheitsgefühl in einer solchen, in der Regel Wird die Simulation derart eingesetzt, können u.a.
eher ungewohnten Fahrsituation sehr wesentlich ist. auch bessere, dafür aufwendigere Komfortbewer-
Dafür sind schon bei niedrigem υD hohe Dämpf- tungskriterien eingesetzt werden. War eingangs nur
kräfte an den kurveninneren Rädern erforderlich. der K-Wert für die Vertikalbeschleunigung erwähnt
Dies bedeutet ein stärkeres Anstellen der Zugken- worden, lässt sich [15] durch vektorielle Addition
nung als aus der linearen Rechnung bestimmt aller an der jeweiligen Betrachtung beteiligten Teil-
(d2Z > d2 lin) und würde bei hohen υD neben zunehmen- schwingungen der aussagefähigere Gesamtwert der
7.4 Fahrwerkauslegung 587

bewerteten Schwingstärke Kges berechnen: und eine geeignete Regelstrategie und Sicherheitslo-
n gik. Die Vertikaldynamiksysteme prägen den Nor-
K ges = K12 + K 22 + ... + K n2 = ∑ Ki2 . (14) malfahrbereich und sind somit im Gegensatz zu den
i =1 Sicherheits- bzw. Schlupfregelsystemen nicht nur im
Auf den Komfort kann nicht so viel Rücksicht ge- Grenzbereich, sondern permanent erfahrbar und
nommen werden, wenn das Fahrwerk für ein Sport- „erlebbar“.
fahrzeug ausgelegt werden soll. In diesem Fall wird Nachstehend folgt eine Kurzbeschreibung in drei
neben besonders guter Bodenhaftung (Kurvengrenz- Kategorien:
geschwindigkeit) Wert auf kleine Wankwinkel und • Niveauregulierung (heute vorzugsweise mit Luft-
geringe Radlastschwankungen gelegt, was zu deutlich federung),
härteren Federn, geringerem Federweg und entspre- • Verstelldämpfersysteme und
chend strafferer Schwingungsdämpfung sowie höhe- • Aktiv-Federn/Aktiv-Stabilisatoren.
ren Stabilisatorraten führt. Die Niveauregulierung führt bei Beladungsänderun-
Durch einen diagonalen Dämpfungsverbund (Audi gen ein Betriebsmedium den Federbeinen zu oder ab,
RS6, Audi RS4 zeitweise), also eine ungeregelte sodass der Fahrzeughöhenstand konstant bleibt und
Verbindung der Dämpfer vorn links mit hinten rechts damit immer eine optimale Federwegreserve zur
und umgekehrt, lässt sich die Bedämpfung der reinen Verfügung steht. Diese Kennlinie lässt sich ohne
Hub-Bewegung von der Wank- oder Nickbewegung Rücksicht auf Niveauänderungen durch Beladung
entkoppeln. Dabei wird das gegensinnige Federn der auslegen. Beide Punkte führen zu einem verbesserten
diagonal gegenüberliegenden Räder beim Wanken Schwingkomfort, der nicht nur bei Zuladung erfahr-
oder Nicken durch Drosselverluste in der Verbin- bar ist. Aufgrund von Gewichts- und Kostenvorteilen
dungsleitung stärker bedämpft als das Parallelfedern. setzt sich die Luftfederung als Niveauregulierung
Die hochmotorisierten Modelle des Peugeot 3008 zunehmend durch und löst die hydropneumatische
weisen zur Kompensation des hohen Schwerpunkts Federung ab. Zudem besitzt die Luftfederung den
eine Querverbindung der Hinterachs-Stoßdämpfer mit Vorteil einer weitgehend konstanten Aufbaueigenfre-
einer zusätzlichen Dämpfungsventil- und Gasvor- quenz über der Beladung, Bild 7.4-33. Bei Fahrzeu-
spanneinheit auf. Die Dämpfung der Wankbewegung gen mit hohem Komfortanspruch im oberen Markt-
wird hiermit gezielt beeinflusst und als Nebenfunk- segment ist inzwischen eine starke Durchdringung
tion eine zusätzlicher, wenn auch nicht vollständiger, von 2 Achs-Luftfedern [11] feststellbar.
Beladungsausgleich geschaffen.
Aufbaueigenfrequenz
7.4.4.4 Vertikaldynamiksysteme
Ein großes Verbesserungspotential im Vergleich zu
den passiven Komponenten bieten Vertikaldynamik-
Systeme, also Regelsysteme, welche die Vertikalkräf- Hydropneumatik
te zeitlich bedarfsgerecht optimieren. Bei der Ab- volltragend

stimmung von passiven Federn, Schwingungsdämp-


fern und Stabilisatoren lässt sich immer nur ein Kom-
Luftfeder
promiss zwischen Fahrverhalten (Handling, Agilität) teil-/volltragend
und Fahrkomfort realisieren, d.h. die Fahrwerke Hydropneumatik
lassen sich sportlich oder komfortabel, aber nicht im teiltragend
zeitlichen Sinne zugleich beliebig sportlich und Stahlfeder
komfortabel abstimmen. Aufbaubewegungen ergeben
leer Konstruktionslage beladen
sich bei passiven Fahrwerken immer als Reaktion auf Achslast
äußere Einflüsse, bei geregelten Systemen können
Kräfte semiaktiv (nur Stellenergie zur Beeinflussung Bild 7.4-33 Beladungseinfluss auf die Aufbaueigen-
von Kennlinien erforderlich) oder aktiv (unabhängig frequenz bei verschiedenen Niveauregelsystemen
von der aktuellen Bewegungsrichtung, aktive Ener-
gieeinbringung erforderlich) beeinflusst werden. Bei den Luftfedern der Fahrzeug-Niveauregulierung
Vertikaldynamiksysteme stellen bedarfsgerechte, handelt es sich um Niederdruckgasfedern mit kon-
fahrzustandsabhängige Vertikalkräfte zwischen Rad stantem Gasvolumen. Die Energie zur Regulierung
und Karosserie ein, um den Zielkonflikt zwischen des statischen Fahrzeughöhenstandes bei Beladungs-
Fahrverhalten und Fahrkomfort in weiten Bereichen änderung oder eines anderen vorgegebenen Sollhö-
aufzulösen, Abschnitt 7.4.4.3. Bezogen auf Bild 7.4- henstandes wird im Allgemeinen von einer Kompres-
31 bedeutet dies ein Durchbrechen der Grenzkurve soreinheit bereitgestellt. Von den zwei Luftfederarten
GK in Richtung mehr Komfort und Fahrsicherheit. Faltenbalg- und Rollbalgfeder hat sich für die An-
Hierfür benötigen diese Systeme Sensoren, ein Steu- wendung im Pkw nur die Rollbalgfeder durchgesetzt.
ergerät, Aktuatoren sowie eine Energieversorgung Wesentliche Bestandteile des Luftfederelementes sind
588 7 Fahrwerk

federsteifigkeit zu Null und die Gasfederrate allein


Deckel durch die Volumensteifigkeit bestimmt.
Je nach Geschwindigkeit der thermodynamischen
Zustandsänderung der Luft beim Federn wird zwi-
schen dynamischen (adiabaten) Federvorgängen
Rollbalg
(n = 1,38) und quasi-statischen (isothermen) Feder-
vorgängen (n = 1,0) unterschieden, z.B. [12].
Neben den rein thermodynamischen Federungseigen-
Kolben
schaften machen sich bei sehr kleinen Anregungen
Dämpfer
zusätzlich die Eigenschaften der Rollbalgwand als
Steifigkeitsanteil cRB bemerkbar [13]. Dies äußert sich
in einer mit abnehmendem Federhub exponentiell
Luftfeder Federbein zunehmenden Verhärtung der Feder, die je nach
Balgaufbau die Größe der Gasfederrate leicht über-
Bild 7.4-34 Bauform einer Luftfeder und Beispiel für schreiten kann und deshalb zwingend in die Gesamt-
eine Federbein-Realisierung federrate cLF, ges einbezogen werden muss:
Deckel, Abrollkolben und Rollbalg mit Spannele- cLF ,ges = cG + cRB (18)
menten, Bild 7.4-34. Der Rollbalg ist ein Elastomer- Da kleinamplitudige Federwege auch auf guten
schlauch mit einvulkanisiertem Festigkeitsträger. Straßen bis zu hohen Geschwindigkeiten vorkommen,
Letzterer besteht aus zwei oder mehreren gekreuzten wird der Komfortverlust (Harshness) aus der Roll-
Fadenlagen, kann aber für Sonderausführungen auch balgverhärtung besonders deutlich und unangenehm
aus nur einer axial verlaufenden Fadenlage bestehen. empfunden. Durch den Einsatz eines Einlagen-Axial-
Dann ist zwingend eine Außenführung des Rollbalges balgs oder eines axialnahen Kreuzlagenbalgs mit
als Stützelement erforderlich. Die Luftfeder kann Außenführung und sehr dünner Balgwandstärke kann
sowohl als einzelstehende Feder, als auch als Feder- dieser negative Effekt deutlich verringert werden.
bein ausgeführt werden. Die elektronischen Verstelldämpfersysteme verän-
Die (federwegabhängige) Gasfederrate einer Luftfe- dern die Vertikalkräfte über den Dämpfkräften ab-
der setzt sich im allgemeinen Fall aus zwei Anteilen hängig vom sensierten Fahrzustand. Einen guten
zusammen: Einblick in das Verbesserungspotential des Schwing-
cG = cV + cA (15) komforts durch Verstelldämpfersysteme sowie deren
grundsätzliche Funktion gibt nochmals Bild 7.4-30.
mit der Volumensteifigkeit Das Bild zeigt links die Leistungsspektren der verti-
Aw ⋅ Ag kalen Aufbaubeschleunigung des Fahrzeugs für
cV = ( Pa + pü ) ⋅ n ⋅ (16) unterschiedliche Dämpferkennlinien, die jeweils fest
V0
beim Befahren einer mittleren Landstraße eingestellt
und der Flächenfedersteifigkeit waren. Das Leistungsspektrum der Aufbaubeschleu-
∂AW nigung des Fahrzeugs ist, wie oben schon erwähnt,
cA = pü ⋅ (17) ein gebräuchliches, wenn auch vereinfachtes objekti-
∂z21 ves Bewertungsmaß für den Schwingkomfort. Je
Hierin sind: kleiner die Amplituden des Spektrums sind, umso
weniger störende Schwingungen erfahren die Insas-
AW wirksame Querschnittsfläche als von der
sen beim Befahren der Straße, d.h. kleine Flächen-
Berührlinie der Tangentialebene an die
inhalte der Spektren bedeuten statistisch mehr
Rollbalgfalte eingeschlossene Fläche, B
Schwingkomfort. Es ist erkennbar, dass im Frequenz-
links
bereich von ca. 2 bis 30 Hz die weiche Kennlinie des
Ag geometrische Querschnittsfläche (theoreti-
Dämpfers einen besseren Komfort liefert; von 0,3 bis
sche Größe)
ca. 1,5 Hz reduziert die harte Kennlinie die Beschleu-
∂AW/∂z21 Änderung der wirksamen Fläche über dem
nigungsamplituden und verbessert so den Schwing-
Federhub
komfort.
n Isotropenexponent (abhängig von der Fe-
Da neben dem Komfort weiterhin die Fahrdynamik
derungsgeschwindigkeit 1,00 bis 1,38)
und die dynamischen Radlastschwankungen zu be-
pü Überdruck in der Luftfeder
rücksichtigen sind, Bild 7.4-30 rechts, ergibt sich
pa Umgebungsdruck
folgende prinzipielle Systemfunktion für Verstell-
V0 Innenvolumen in Konstruktionslage
dämpfersysteme: Bei primär aufbaufrequenten Verti-
Ist der Verlauf der wirksamen Federfläche über dem kalschwingungen – um 1,2 Hz – sowie dominanten
Federhub konstant, z.B. bei zylindrischem Rollbalg längs- und querdynamischen Fahrzeugbewegungen
auf zylindrischem Abrollkolben, so wird die Flächen- werden härtere Dämpfkräfte über vier Verstelldämp-
7.4 Fahrwerkauslegung 589

fer gestellt, die die Aufbaubewegung beruhigen bzw. Stabilisatoren sind erstmals 1999 im Land Rover
reduzieren. Bei primär radfrequenten Vertikal- Discovery II in Serienproduktion gegangen, 2001 als
schwingungen – ca. 12 Hz – sind eher mittlere Schwenkmotorlösung in Mehrlenkerachsen im BMW
Dämpfkräfte vorteilhaft, die noch eine befriedigende Dynamic Drive.
Radbedämpfung liefern. Bei Anregungen zwischen Aktive Federn können nahezu beliebige Vertikalkräf-
diesen beiden Fahrzeugeigenfrequenzen sind sehr te im Bereich der Aufbau-Eigenfrequenz stellen und
weiche Dämpfkräfte für einen guten Fahrkomfort aktive Stabilisatoren entsprechende Vertikalmomente.
einzustellen. Für die Erkennung des Fahrzustandes Die kundenwertigen Funktionsvorteile sind je nach
verwenden die Verstelldämpfersysteme als Informa- Systemausprägung unterschiedlich. Generell stehen
tionsquelle z.B. Sensoren für die Aufbau- und Radbe- die hohen technischen Aufwendungen dieser Systeme
schleunigungen, das Lenkwinkelsensorsignal sowie einer breiten Marktdurchdringung entgegen.
die Vorderradsignale des ABS-Systems. Die Ver- Die Lösungen der japanischen Produzenten zur Akti-
stelldämpfersysteme verwenden als Regelstrategie ven Federung basieren auf einer hydropneumatischen
das sogenannte „Sky-Hook-Prinzip“ [15], welches Aktivfeder (ersetzt konventionelle Feder und Dämp-
Funktionsvorteile bei aufbaufrequenten Straßenanre- fer), einer Hydraulikversorgung, einem Steuergerät
gungen bietet. und mehreren Sensoren. Die Versorgung beinhaltet
1987 wurde erstmalig ein Verstelldämpfersystem eine Axial- oder Radialkolbenpumpe, Versorgungs-
unter dem Namen EDC (Electronic Damping Con- und Pulsationsspeicher, einen Ölbehälter, einen
trol) eingeführt (BMW 7er 2. Generation E32 [14]). Kühler, einen Hochdruckfilter sowie Verbindungslei-
Basis dieser ersten EDC-Generation waren Verstell- tungen. Die Versorgung realisiert ein Konstantdruck-
dämpfer mit 3 automatisch geschalteten Dämpfer- netz, d.h. der Versorgungsdruck wird möglichst
kennlinien. Seit 2001 werden kontinuierlich verstell- konstant auf dem Maximaldruck von z.B. 160 bar
bare Dämpfersysteme [15] in Großserienfertigung gehalten.
eingesetzt (u.a. BMW 7er 4. Generation E65 [15] und Derartige Konstantdrucknetze machen erhebliche
X5, RR Phantom, VW Pheaton [26] und Touareg, technische Aufwendungen erforderlich, um einen
Audi A8 [27] und Q7, Porsche Panamera und Ca- geringen akustischen Geräuschpegel zu realisieren.
yenne, Bentley). Es wird hierbei zwischen Dämpfern Die hydropneumatische Aktivfeder basiert auf der
mit einem innenliegenden und einem extern ange- hydropneumatischen Federung, die aus einem Diffe-
brachten Verstellventil unterschieden. Diese Verstell- rentialzylinder, einem Gasdruckspeicher (Wirkung
dämpfer spreizen ein zug-/druckabhängiges Dämp- als Federelement) und einer Drossel (Wirkung als
ferkennfeld auf und bieten damit ein Zugewinn an Dämpferelement) besteht sowie einem Regelventil,
Fahrkomfort (Aufbauruhe, Isolation) und Fahrdyna- welches in den Differentialzylinder Hochdrucköl zu-
mik. Die internen Systeme setzen den Schwerpunkt bzw. abführen kann. Der aktive Eingriff erfolgt über
der Fahrwerksabstimmung im Bereich Fahrkomfort, das Regelventil und ist als Zusatzmaßnahme reali-
die externen Systeme mehr auf die Fahrdynamik. siert. Im Gegensatz zur vollaktiven Feder [20] federt
Seit 2008 wird ein neues Verstelldämpfersystem mit die aktive hydropneumatische Feder auch ohne Zu-
einer erstmals getrennten kontinuierlichen Zug-/ und Abfuhr von Drucköl. Dies führt zu Vorteilen im
Druckstufenverstellung angeboten (BMW 7er 5. Ge- Schwingkomfort und in der Energiebilanz, wenn man
neration F01 [10]). Mit diesen jeweils zwei außenlie- die vollaktive Feder als Vergleichspartner betrachtet.
genden, kontinuierlich verstellbaren Ventilen kann Der notwendige Sensoraufwand ist erheblich. Nis-
eine weitere Verbesserung des Aufbauschwing- so- san verwendet für die Erfassung des Fahrzustands
wie Abrollkomforts erzielt werden. Zusätzlich ermög- 2 Quer-, 1 Längs- und drei Vertikalbeschleunigungs-
lichen diese Verstelldämpfer durch eine große Sprei- sensoren sowie 4 Höhenstandssensoren. Toyota ver-
zung zwischen Hart und Weich eine Verbesserung baut zusätzlich 5 Drucksensoren. Das Steuergerät
der Agilität und Zielgenauigkeit. wertet diese Informationen aus und steuert die 4 hyd-
Während oben genannte Verstelldämpfersysteme den ropneumatischen Aktivfedern bedarfsgerecht. Der
Strömungswiderstand des Dämpferöls beeinflussen, reale Kundennutzen ist im Vergleich zum Aufwand
gibt es auch Anwendungen von magnetorheologi- und insbesondere zum Energiemehrverbrauch kritisch
schen Flüssigkeiten (u.a. Cadillac Seville, Chevrolet zu betrachten. So haben die aufwendigen Aktivfedern
Corvette, Audi TT und R8 [30]), die die physikali- auf dem japanischen Markt auch keine wirkliche
schen Eigenschaften des Dämpferöls ändern. Bei Verbreitung gefunden.
diesem System wird durch Variation eines Magnet- Eine alternative Form der aktiven Feder, die vom
feldes die Viskosität der Dämpferflüssigkeit derart technischen Aufwand durchaus vergleichbar ist zu
verändert, dass je nach Bedarf weiche bzw. harte den Systemen der japanischen Anbieter, wird von
Dämpfkräfte erzeugt werden können. Mercedes-Benz unter dem Namen ABC – Active
Aktive Federn werden seit 1990 auf dem japanischen Body Control angeboten [21]. Der grundsätzliche
Markt [16, 17] angeboten, aktive Pendelstützen bzw. Unterschied zu den zuvor behandelten aktiven Federn
Stabilisatorstangen in Europa seit 1995 [18]. Aktive ist der Aufbau der vier Federbeine. In Bild 7.4-35 ist
590 7 Fahrwerk

Als Lösung zur Reduktion der Wankbewegungen bei


einem Geländefahrzeug mit hoher Schwerpunktslage
wurde im Land Rover Discovery II mit ACE (Active
Cornering Enhancement) ein Wankstabilisierungssys-
tem angeboten, das bei Kurvenfahrt durch aktive
Stabilisatoren Vertikalmomente aufbaute, die dem
Wankmoment des Fahrzeugaufbaus entgegenwirken
[19]. Am aktiven Stabilisator war ein hydraulischer
Differentialzylinder mit Hebelarm anstelle eines
Stabilisatorschenkels verbaut. Als einkanaliges Sys-
tem, wurden beide Aktuatoren an Vorder- und Hin-
terachse mit dem gleichen Druck angesteuert, so dass
lediglich eine Wankstabilisierung mit konstanter
Wankmomentverteilung möglich war.
BMW Dynamic Drive realisiert eine aktive Wanksta-
bilisierung und als zweikanaliges System gleichzeitig
ein optimales Eigenlenkverhalten durch eine fahrzu-
standsabhängige Verteilung der Stabilisierungsmo-
mente zwischen Vorder- und Hinterachse [25]. Das
Handling und die Agilität werden hierdurch deutlich
verbessert, verbunden mit einem Gewinn an Fahr-
sicherheit und Aufbauschwingkomfort, letzteres in
besonderem Maße bei Geradeausfahrt bzw. sehr
geringen Querbeschleunigungen.
Bild 7.4-35 Active Body Control-Federbein der Dynamic Drive besteht aus zwei aktiven Stabilisato-
Daimler AG ren, einem Ventilblock mit integrierten Sensoren,
Hydraulikversorgung, sowie einem Steuergerät. An
Vorder- und Hinterachse sind in den mechanischen
ein Schnittbild des oberen Teils eines ABC-Feder- Stabilisatoren drehende hydraulische Aktuatoren
beins dargestellt. Die Hülse eines Plungerzylinders integriert (siehe Bild 7.4-36). Die aktiven Stabilisato-
stützt sich auf der Schraubenfeder ab, die den Fahr- ren wandeln Druck in ein Torsions- sowie über die
zeugaufbau trägt. Durch Zu- und Abfuhr von Drucköl Anbindung in ein Stabilisierungsmoment um, so dass
über ein Regelventil führt die Hülse des Plungerzy- die Wankbewegung des Fahrzeugaufbaus bei Kur-
linders Bewegungen aus, spannt so die Schraubenfe- venfahrt minimiert bzw. gänzlich beseitigt wird.
der entsprechend dem Hülsenweg vor und erzeugt Durch die entsprechende Verteilung der Momente
damit die gewünschten Zusatzkräfte. Letztere sollen zwischen Vorder- und Hinterachse wird eine hohe
ebenso wie bei den zuvor dargestellten aktiven Fe- Agilität und Zielgenauigkeit über dem gesamten
dern die Bewegungen der Karosserie in den Frei- Geschwindigkeitsbereich und ein optimales Eigen-
heitsgraden Nicken, Wanken und Huben im Aufbau- lenk- sowie ein gutmütiges Lastwechselverhalten
frequenzbereich weitgehend reduzieren sowie eine erzeugt. Andererseits sind die Aktuatoren bei Gera-
Niveauregulierung ermöglichen. Neben der Schrau- deausfahrt bzw. sehr geringen Querbeschleunigungen
benfeder ist ein passiver Gasdruck-Schwingungs- drucklos, so dass die Drehfederrate des Stabilisators
dämpfer im Federbein integriert, der eine weiche die Grundfederung nicht verhärtet und die Kopierbe-
Kennlinie hat, welche die Radbewegung noch aus- wegung des Fahrzeugaufbaus reduziert wird.
reichend bedämpft. Ebenso wie bei den hydropneu- Eine neue Anwendung des Dynamic Drive in enger
matischen Aktivfedern ist ein Konstantdrucknetz Systemvernetzung mit einem modernen Verstell-
realisiert, es sind eine Vielzahl von Regelventilen dämpfersystem wird seit 2006 im BMW X5 unter der
notwendig und es werden ähnliche Sensoren wie in Systembezeichnung Adaptive Drive eingesetzt [29].
[16] verwendet. Dazu kommen noch die Lagesenso- Porsche brachte im Cayenne und Panamera ebenfalls
ren zur Reglung der Plungerzylinder. Gegenüber den die vernetzte Kombination aus Aktiver Wankstabili-
hydropneumatischen Aktivfedern besitzt die ABC- sierung und Verstelldämpfung zur Marktreife [34].
Lösung also prinzipielle Vorteile: geringere Rei- Zur Reduktion des Systemaufwands und Optimierung
bungskräfte, die im Kraftfluss Rad zur Karosserie des Energiebedarfs und damit der CO2 Emission ist
wirken sowie mehr Freiheitsgrade in der Gestaltung ein Trend weg von hydromechanischen hin zu elekt-
der Federkennlinie. Da der Aufwand der ABC- romechanischen Lösungen bei den aktiven Fede-
Technologie erheblich ist, wird der Markt wohl auch rungselementen erkennbar. Bei hybridem und rein
bei diesem System auf ein sehr kleines Fahrzeugseg- elektrischem Fahrzeugantrieb steht der klassische
ment beschränkt bleiben. Nebenaggregate-Antrieb über Riemenantrieb vom
7.4 Fahrwerkauslegung 591

Schnittbild Schwenkmotor
Torsions-
moment SM-Kammer
SM-Welle
SM-Gehäuse

Aktive Stabilisator-
Hinterachse

Wankstabilisie- Bild 7.4-36 Aktive Stabili-


rungsmoment sator-Hinterachse des Dyna-
mic Drive im BMW 7er

Verbrennungsmotor nicht mehr zur Verfügung, d.h. men kaum jemand in der Lage zu sagen, ob ein neu
entweder muss die Hydroversorgung über Pumpen- entwickeltes, hervorragendes Fahrwerk das wirkliche,
aggregate dargestellt werden oder auf rein elektrome- unter den gegebenen Randbedingungen erreichbare
chanische Aktuatorik gewechselt werden. Maximum darstellt, oder eben „nur“ die aktuelle
Elektromechanische Federfußpunktverstellungen als Bestleistung des beteiligten Entwicklerteams. Des-
Alternative zum hydraulischen Mercedes Benz ABC halb sollte die Chance genutzt werden, im Zuge
System sind aus der Literatur und Patentveröffentli- fortschreitender Virtualisierung des Entwicklungs-
chungen bekannt [31]. prozesses den heute vorliegenden, systemübergrei-
Toyota hat als erster Hersteller ein Wankstabilisie- fender gewordenen Kenntnisstand über kausale
rungssystem mit einem elektromechanischen Aktua- Zusammenhänge, zusammen mit leistungsfähigen
tor im Lexus RX450h sowie in den US Versionen des Rechnern und Programmen sowie der intensiveren
LS 600h und GS460 in Serie realisiert [33]. Einbeziehung anderer Wissenschaftszweige als wich-
tige Hilfen auf der Suche nach dem jeweils mögli-
7.4.4.5 Ausblick chen globalen Optimum einer neuen Fahrwerksyn-
Durch kontinuierliche Weiterentwicklung der Fahr- these zu nutzen. Erste Ansätze und Fortschritte gibt
werkselemente, durch immer besseres und tieferes es dazu bereits. Der gezielte Einsatz von Berech-
Verständnis der Fahrzeug- und Zulieferindustrie für nungstools ermöglicht es, eine große Bandbreite und
das komplexe Zusammenwirken sowie durch immer vom Umbauaufwand im Versuch her sehr aufwendige
leistungsfähigere Entwicklungsinstrumente, Materia- Fahrzeugkonfigurationen zu erstellen und zu untersu-
lien und Herstellverfahren konnten gerade in den chen. Mit Hilfe von Simulatoren können diese inner-
letzten 2 Jahrzehnten wieder erstaunliche Fortschritte halb von Sekunden erlebt und verglichen werden.
in der Qualität von Fahrwerken erzielt werden. Ob- Dies trägt zu einem immer tiefer greifenden Ver-
wohl aus Kostengründen auch heute noch die meisten ständnis der im Fahrwerk existierenden Wirkzusam-
Fahrwerke konventioneller Natur, d.h. aus passiven menhänge bei und ermöglicht so eine viel größere
Komponenten aufgebaut sind, darf also zu Recht von und umfassendere Variation der Fahrwerksparameter
einem hohen erreichten Niveau „mechanischer Intel- auf der Suche nach dem globalen Maximum, als dies
ligenz“ gesprochen werden. im realen Fahrversuch jemals wirtschaftlich möglich
Zukünftige Herausforderung auf dem Gebiet der wäre. Die Folge ist ein besserer Ausgangspunkt für
konventionellen Fahrwerkstechnologie werden ein die Endabstimmung der Fahrzeuge im Fahrversuch,
noch intensiverer Leichtbau zur CO2 Reduktion bzw. eine Reduktion der notwendigen Iterationsschleifen
Reichweitensteigerung bei Elektromobilität sein. Die und damit ein deutliches Kostensenkungspotential in
Spreizung der Eigenschaften der Bauteile zur Dar- der Entwicklung des Fahrwerkes
stellung unterschiedlicher Charaktere der breiter Die nächsten technischen Evolutionen auf dem Sektor
werdenden Derivatlandschaft wirft neue Zielkonflikte der geregelten Fahrwerksysteme werden einerseits
auf. leistungsfähige, intensiver vernetzte Fahrwerkregel-
Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten, was systeme mit zukunftsorientierter Systemkonfigurati-
noch erwartet werden kann, hilft zunächst mögli- on, bis hin zu „Previewing“ (zeitliche und räumliche
cherweise ein wenig Selbstkritik: Bis heute ist auf- Vorausschau für Fahrspurführung und Fahrbahnune-
grund der Komplexität der Aufgabe streng genom- benheiten) sein.
592 7 Fahrwerk

Previewing Systeme wurden seit Jahrzehnten in der [25] Jurr, R.; Behnsen, S.; Bruns, H.; Held, G.; Hochgrebe, M.;
Straßberger, M.; Zieglmeier, F.: Das aktive Wankstabilisie-
Theorie aufbereitet, z.B. [22 – 24], und teilweise auch
rungssystem Dynamic Drive, ATZ/MTZ Sonderausgabe BMW
prototypenhaft erprobt. Mercedes-Benz kündigte als 7er, 2001
erster Hersteller diese Technologie, basierend auf [26] Eichler, M. et al.: Das Fahrwerk des VW Phaeton, ATZ/MTZ
dem Active Body Control unter der Systembezeich- Sonderausgabe VW Phaeton, 2002
[27] van Meel, F. et al.: Audi adaptive air suspension – die neue
nung Magic Body Control an [32, 35]. Andererseits Luftfederung des Audi A8, ATZ/MTZ Sonderausgabe Audi A8,
werden Komfortsysteme wie Verstelldämpfung und 2002
Fahrerassistenz eine größere Marktdurchdringung [28] Wauro, F.: Querkräfte von zylindrischen Schraubendruckfedern.
erhalten. Federn – Unverzichtbare Bauteile der Technik, Düsseldorf VDI-
Verlag 2006
[29] Nienhuys, M., Fröhlich, M.: Das Verstelldämpfersystem des
Literatur BMW X5 – Entwicklung des Sensor- und Beobachterkonzepts,
ATZ (109), Nr. 3, 2007
[1] von Estorff, H.-E.: Technische Daten Fahrzeugfedern, Teil 1: [30] Glaser, H.; Kainz, P.: Das Fahrwerk des Audi R8, TÜV Süd, TU
Drehfedern, Stahlwerke Brüninghaus Werdohl, 1973 München, chassis.tech März 2007
[2] Gold, H.: Eigenschaften einer ausschließlich mit Gas (Luft) [31] Gilsdorf H. J.; Hoffmann J.: Elektromechanische aktive Aufbau-
arbeitenden Feder-Dämpfer-Einheit, VDI-Berichte 546, VDI- kontrolle, ATZ (111), Nr. 09, 2009
Verlag 1984 [32] Streiter, R.: ABC Pre-Scan im F700. Das vorausschauende
[3] Griffin, M. J.: Handbook of Human Vibration, Academic Press aktive Fahrwerk von Mercedes-Benz, ATZ (110), Nr. 05, 2008
London 1990 [33] Winterhagen, J.: Lexus bringt CO2-Emission bei Luxus-Ge-
[4] Hennecke, D.: Zur Bewertung des Schwingungskomforts von ländewagen auf unter 150 Gramm, http://www.atzonline.de/
PKW bei instationären Anregungen, Fortschr.-Ber. VDI- Aktuell/Nachrichten/1/9819/Lexus-bringt-CO2-Emission-bei-
Reihe 12 Nr. 237, Düsseldorf VDI Verlag 1995 Luxus-Gelaendewagen-auf-unter-150-Gramm.html, 29.11.2010
[5] Matschinsky, W.: Radführungen der Straßenfahrzeuge: Kinema- [34] Danisch, R.: Der Porsche Panamera, ATZ (111), Nr. 10, 2009
tik, Elasto-Kinematik und Konstruktion, 3. Auflage, Springer- [35] Deleker, J.: Neues Komfortsystem von Mercedes,
Verlag Berlin Heidelberg, 2007 http://www.auto-motor-und-sport.de/testbericht/aktive-
[6] Mitschke, M.; Wallentowitz, H.: Dynamik der Kraftfahrzeuge, fahrwerke-neues-komfortsystem-von-mercedes-
4. Auflage, Springer Verlag Berlin Heidelberg, 2004 2747425.html#article_detail, 13.12.2010
[7] Wolf, F. J.; Schleinitz, U.; Koczar, P.: Drehstabschulterlager,
Woco AVS GmbH, Schutzrecht EP 1048861, 10.03.2005
[8] VDI 2057 : 2002: Einwirkung mechanischer Schwingungen auf
den Menschen, Blatt 1 – 3, VDI Verein Deutscher Ingenieure,
2002
[9] Krause, J.: Gummi-Lager, Vorwerk Autotec GmbH & Co.KG,
DE 102 31 311, 2004 7.4.5 Lenkung
[10] Jautze, M. et al.: Das Verstelldämpfersystem – Dynamische
Dämpfer Control, ATZ/MTZ Sonderausgabe Der neue BMW Die Fahrzeugführung erfolgt bei Straßenfahrzeugen
7er, 2008 durch den Fahrer (fast ausschließlich) über das Len-
[11] Scheerer, H.; Römer, M.: Luftfederung mit adaptivem Dämp- kungssystem. Für die Verkehrssicherheit ist es von
fungssystem im Fahrwerk der neuen S-Klasse, 7. Aachener Kol-
loquium Fahrzeugtechnik, 1998
erheblicher Bedeutung, mit welcher Genauigkeit
[12] Schützner, E.-Chr.: Thermodynamische Analysen von Luftfeder- einerseits der Fahrzeugführer einen persönlich ge-
systemen, VDI-Berichte 1153, 1994 wünschten oder von Straßenverlauf und Verkehrs-
[13] Dreyer, W.; Oehlerking, C.: Untersuchungen von Luftfeder- geschehen vorgegeben Kurs einhalten kann, und
Rollbälgen für Personenkraftwagen, ATZ (88), Nr. 10, 1986
[14] Hennecke, D. et al.: Anpassung der Dämpferkennung an den
andererseits das Fahrzeug eine solche Vorgabe selbst-
Fahrzustand eines PKW; VDI-Bericht 650: Reifen, Fahrwerk, ständig beibehält. Der Fahrer muss stets das sichere
Fahrbahn; Hannover, 1987 Gefühl haben, dass das Fahrzeug zuverlässig auf
[15] Konik, D. et al.: Electronic Damping Control with Continuously seinen Wunsch reagiert. Die Genauigkeit der Kurs-
working damping valves (EDCC); AVEC ’96, Aachen, 1996
[16] Fukushima, N.; Fukuyama, K.: Nissan Hydraulic Active Suspen-
haltung ist umso besser, je schneller der Fahrer ge-
sion, Fortschritt der Fahrwerkstechnik 10, Aktive Fahrwerks- wollte und auch ungewollte Kursänderungen er-
technik, Braunschweig, 1991 kennen kann und je rascher und je genauer den
[17] Tanaka, H. et al.: Development of a vehicle integrated control Erwartungen entsprechend das Fahrzeug auf Lenk-
system, FISITA ’92, London, 1992
[18] Goroncy, J.: Citroen Xantia Activa mit neuem Fahrwerk, ATZ
einschläge des Fahrers reagiert.
7/8 97, 1995 Für den Lenksystementwickler ergeben sich daraus
[19] Parsons, K. G. R. et al.: The Development of ACE for Discovery eine Anzahl von Anforderungen und Hinweisen zur
II, SAE 2000 World Congress, Detroit, 2000 kundennahen Auslegung:
[20] Williams, D. A.; Wright, P. G.: Fahrzeugaufhängungsanordnung,
Group Lotus PLC, Schutzrecht EP 0142947, 26.05.1988 • Kleiner Wendekreis, niedrige Parkierkräfte, kleine
[21] Merker, T. et al.: Das SL-Fahrwerk, Dynamik und Komfort Lenkwinkel am Lenkrad
vereint, ATZ/MTZ Sonderausgabe Mercedes SL, 2001
[22] Gipser, M.: Verbesserungsmöglichkeiten durch aktive Fede-
• Leichtgängigkeit, Feinfühligkeit, Zielgenauigkeit,
rungselemente aus theoretischer Sicht, VDI-Berichte Nr. 546, guter Geradeauslauf, ausreichende Direktheit,
1984 spontanes Ansprechen
[23] Acker, B.; Darenberg, W.; Gall, H.: Aktive Federung für • Ausgeprägter Straßenkontakt, Rückmeldung des
Personenwagen, Ölhydraulik und Pneumatik 33, Heft 11, 1989
[24] Wallentowitz, H.; Konik, D.: Actively influenced suspension
Kraftschlusses Reifen/Fahrbahn
systems – Survey of actual patent literature, EAEC Conference, • Selbstständiges Rückstellen in Mittellage, stabili-
1991 sierendes Verhalten bei allen Fahrmanövern
7.4 Fahrwerkauslegung 593

• Störgrößenunterdrückung aus Fahrbahnunebenhei- Lenkrollradius – Bremskraft


ten, Seitenwind, Antrieb, Bremsen, Reifenbauar-
Der Begriff Lenkrollradius lässt vermuten, dass der
ten . . ., keine ausgeprägte Neigung zu Eigen-
Radaufstandspunkt des gelenkten Rades auf einer
schwingungen
Bahn mit diesem Krümmungsradius abrollt. Dies gilt
• Erfüllung der Crashvorschriften zum Insassen-
aber nur für den Sonderfall einer völlig senkrechten
schutz
Spreizachse. Bei vorhandenem Spreizungs- und
• Verschleiß- und Wartungsarmut sowie kein nega-
Nachlaufwinkel vergrößert sich der Krümmungsradi-
tiver Einfluss auf das Verschleißverhalten der Be-
us, die Bahnkurve wird spiralförmig [1]. Der Lenk-
reifung.
rollradius bezeichnet daher keinen Halbmesser einer
7.4.5.1 Lenkungskinematik Kreisbahn, sondern kann nur als wirksamer Hebelarm
von Längskräften um die Spreizachse gesehen wer-
Kenngrößen zur Lenkkinematik den, die in der Fahrbahnebene wirken und am Rad-
Die grundlegenden Eigenschaften einer Lenkungsan- aufstandspunkt angreifen, wenn sich Antriebs- oder
lage sind durch vier geometrische Größen zur Be- Bremsmomente auf dem Radträger abstützen und so
schreibung von Lage und Ausrichtung der Lenkdreh- Rad und Radträger als momentan fest verbunden
achse des Rades (Spreizachse) im Fahrzeug be- gedacht werden können. Dies gilt z.B. für heute
stimmt: übliche außen, d.h. in der Radschüssel liegende
Radbremssysteme, und entsprechend für in der Rad-
• Lenkrollradius und Nachlaufstrecke schüssel liegende Antriebsmotoren (z.B. Elektrofahr-
• Spreizungswinkel und Nachlaufwinkel zeug mit Radnabenmotor).
Darüberhinaus gibt es auf Radmitte bezogene Kenn- Überlegungen zur optimalen Größe des Lenkrollradi-
werte wie Spreizungs- und Nachlaufversatz. Letztere us wurden früher wegen fehlender Servounterstüt-
sind redundant und ergeben sich nach Festlegung der zung bezüglich des Lenkmoments im Stand angestellt
Spreizachse zwangsweise. Alle Größen sind bereits in und führten deshalb zu relativ großen Lenkrollradien.
Kapitel 7.4.1 erläutert (Bilder 7.4-1, 7.4-2). Dies hatte bei unsymmetrischen Bremsmomenten
Die Größen Lenkrollradius, Nachlaufstrecke, Sprei- (Bremsenverzug, besonders bei Trommelbremsen)
zungsversatz etc. stellen wirksame Hebelarme für oder Fahrbahnreibwerten Probleme bei der Kurshal-
äußere Kräfte auf die Lenkung dar. Für die seitens der tung zur Folge und führte zum negativen Lenkrollra-
Normung sehr einfache, für die Berechnung aber dius, z.B. [2, 5]. Vor allem in Abhängigkeit vom
nicht ausreichend exakte Definition dieser Kennwerte Antriebskonzept propagieren die verschiedenen
wird auf [1] verwiesen. Die Bedeutung dieser Kenn- Fahrzeughersteller bis heute unterschiedliche Kon-
größen zur Lenkungskinematik bei der Fahrwerkaus- zepte bezüglich Betrag und Vorzeichen des Lenkroll-
legung und bevorzugte Größenordnungen bei moder- radius, Tabelle 7.4-2.
nen Straßenfahrzeugen werden nachstehend anhand Der negative Lenkrollradius wurde durch seine stabi-
der wichtigsten Betriebszustände und der dort auftre- lisierende Wirkung beim Bremsen auf unterschiedli-
tenden äußeren Kräfte diskutiert. chen Reibwerten (μ-split) bekannt. Für den stationä-

Tabelle 7.4-2 Kinematische Kennwerte aktueller Fahrzeuge in Konstruktionslage (Daten aus [14 – 27])
Frontantrieb Allrad Heckantrieb
Porsche Cayenne
MB GLK-Klasse

Porsche Boxster
MB A-Klasse

Ford Mondeo

MB E-Klasse

Mb S-Klasse
VW Phaeton
VW Polo V

VW Golf V

Mybach 57
BMW 3er

BMW 5er

BMW 7er
Audi A1

Audi A4

MB SL

Achsprinzip* – FB ML FB FB FB FB DFB ML ML DFB DFB ML DFB ML ML FB ML

Lekrollradius mm –9,5 –7,8 –20,7 –17 – –16 –24,6 3,5 –0,5 6,1 2 –0,6 0 2,11 12,5 –7 4,5

Nachlaufstrecke mm 33,2 21,9 13,8 32 40 – 31,8 47,7 26,1 19,7 27,9 31,7 26 32,7 39,2 41 36

Spreizungsversatz mm 57,7 11,2 44,1 49 – – 51,9 67 22,2 77,8 78,8 26,4 88,1 27,2 72,3 83 31

Nachlaufwinkel ° 5,2 3,1 2,8 5,27 7,5 2,5 9,6 8,5 3,7 7,1 7,9 9,2 8,11 9,1 10,6 8 11,8

Spreizungswinkel ° – 4,1 14,1 – 14,8 14,7 13,9 – 5,2 14,1 14,5 6 15,4 5,2 14,7 – 6,1

* FB: Eingelenk-Federbeinachse
DFB: Doppelgelenk-Federbeinachse
ML: Mehlenkerachse
594 7 Fahrwerk

Lenkmoment Lenkmoment bahnebene angreifenden Seitenkraft senkrecht zur


linkes Rad rechtes Rad Projektionsebene des eingeschlagenen Rades. Dabei
Fahrtrichtung ist zu beachten, dass die Reifenseitenkraft um den
Bremskraft Bremskraft Betrag des Reifennachlaufs (Kap. 7.3) versetzt wirkt
hoher niedriger
Reibwert Reibwert und sich deshalb der wirksame Hebelarm aus Nach-
Giermoment Fahrzeug
laufstrecke und Reifennachlauf zusammensetzt. Sei-
Lenkmoment tenkräfte führen bei wirksamen Hebelarmen >0 zu
Vorderachse
Negativer einem rückdrehenden Moment und tragen somit zu
Lenkroll- einem stabilen Geradeauslauf bei.
radius
Spreizungsversatz (Störkrafthebel) –
Rollwiderstandskräfte, Antriebskräfte
hoher Reibwert niedriger Reibwert Alle äußeren Kräfte und Kraftkomponenten können
beim frei rollenden Rad nur über die Radlagerung
Bild 7.4-37 Kräfte und Momente an der Vorderachse und den Radträger auf die Lenkachse übertragen
bei negativem Lenkrollradius und μ-Split-Brems- werden. Dies sind bei nicht angetriebenem Rad Roll-
vorgang widerstandskräfte, Stoßkräfte und mit dem Rad/
Reifen umlaufende Unwuchtkräfte. Diese Kräfte
ren Fall erzeugt ein Bremsvorgang bei (μ-split durch wirken über den Spreizungsversatz (Störkrafthebel-
die höheren Bremskräfte auf der Hochreibwertseite arm) als Störkräfte auf die Achsaufhängung. Im
ein Giermoment hin zu dieser Fahrzeugseite mit Allgemeinen gilt der Spreizungsversatz auch als
Folge einer entsprechender Kursänderung. Bei einer wirksamer Hebelarm einer über Antriebswellen
Fahrwerksauslegung mit negativem Lenkrollradius erzeugten Antriebs-, Schlepp- oder Bremskraft. Diese
wird auf der Hochreibwertseite ein zum niedrigen Aussage gilt aber nur für den Sonderfall Beugewinkel
Reibwert hindrehendes Lenkmoment erzeugt, wel- Null in den Antriebsgelenken.
ches dem Giermoment aus den Bremskräften entge-
genwirkt, Bild 7.4-37. Für den hier beschriebenen Nachlaufversatz
Fall lässt sich für einen stationären Arbeitspunkt eine Der Nachlaufversatz ist der waagrechte Abstand der
Abstimmung finden, welche ohne Eingriff des Fah- Radmitte zur Spreizachse in der Seitenansicht eines
rers am Lenkrad zu einem Gleichgewicht im Len- Fahrzeuges. Da an der Radmitte keine Seitenkräfte
kungssystem und somit zur weitgehend ungestörten angreifen, hat dieser Kennwert als Krafthebelarm
Geradeausfahrt führt. keine Bedeutung. Bezüglich der Kräfte ist es somit
Für Fahrzeugkonzepte mit Frontantrieb (auch Allrad- für den Entwickler unbedeutend, ob durch die Wahl
antrieb) und Federbeinachsen ist der negative Lenk- von Nachlaufstrecke und Nachlaufwinkel ein Nach-
rollradius eine willkommene Möglicheit, den Sprei- lauf- oder ein Vorlaufversatz entsteht. Dies gilt aber
zungsversatz und somit den für die Antriebseinflüsse nicht für die räumliche Bewegung des Rades und der
wichtigen Störkrafthebelarm zu reduzieren. damit verbundenen Bauteile. Ein Nachlaufversatz
Zu beachten ist, dass beim negativen Lenkrollradius führt z.B. bei angetriebenen Achsen zu einer erhöhten
das Lenkrad zur Fahrzeugseite mit dem niedrigen Längenänderung der Antriebswelle während des
Reibwert (d.h. üblicherweise zur Fahrbahnaußenseite) Lenkvorgangs. Deshalb sind dem Versatz von Rad-
zieht und dadurch den Fahrzeugführer zur Gegenre- mitte und Lenkdrehachse bei Frontantrieb Grenzen
aktion veranlasst. Diese Reaktion verstärkt aber die gesetzt. Positiv für den Raumbedarf des gelenkten
beginnende Gierbewegung des Fahrzeugs. Bei der Rades ist ein Vorlaufversatz: Die hinter der Radmitte
Argumentation für den positiven Lenkrollradius wird liegende Schwenkachse (Spreizachse) lässt den
dieses „Fehlverhalten“ des Fahrers als Teilnehmer im Reifen beim kurveninneren Lenkeinschlag im kriti-
Regelkreis Lenkung und die damit verbundenen schen Bereich der Stirnwand weniger weit zur Fahr-
(unbewussten) Lenkkorrekturen einbezogen. zeuginnenseite schwenken. Selbstverständlich wird
Der Lenkrollradius sollte also so wenig von Null der Raumbedarf für kurvenäußere Radeinschlagwin-
abweichen, dass der Einfluss instationärer Bremskräf- kel dafür größer. Da aber der kurveninnere Radlenk-
te unterdrückt wird und die Information des Fahr- winkel größer als der kurvenäußere ist, wird mit
zeugführers über den Betriebszustand des Fahrzeuges dieser Maßnahme eine Ausmittelung des seitlichen
eindeutig ist. Raumbedarfs und somit mehr Raum für Motor und
Karosseriestruktur erreicht.
Nachlaufstrecke – Seitenkraft – Reifennachlauf
Die nun folgenden Kennwerte haben keinen direkt
Nachlauf liegt vor, wenn der Radaufstandspunkt sichtbaren Konstruktionsparameter zur Folge, sind
hinter dem Durchstoßpunkt der Lenkachse durch die aber für die Beurteilung verschiedener Konzepte sehr
Fahrbahnebene liegt, Bild 7.4-1. Die Nachlaufstrecke hilfreich bzw. für die optimale Funktion einer Fahr-
ist Teil des wirksamen Hebelarms einer in der Fahr- zeuglenkung von entscheidender Bedeutung.
7.4 Fahrwerkauslegung 595

Radlasthebelarm – Hochkraft –
Gewichtsrückstellung 4

Sind Spreizungswinkel und Nachlaufwinkel gleich 3

Radlasthebelarm p in mm
Null, d.h. die Spreizachse steht senkrecht, so erfährt 2
1
das Rad bzw. der Aufbau bei Lenkbewegung keine 1
Höhenstandsänderung, der Radlasthebelarm, Bild 0
7.4-38, ist gleich Null. Ist die Spreizachse geneigt, –1 2
hebt oder senkt sich das Rad gegenüber dem Fahr-
–2
zeugaufbau bei Lenkeinschlag; die Radlast stützt sich 3 Nr. s t rs n0
–3 1 5° 3° 50 16
offensichtlich auf einem Hebelarm größer Null ab. 4
2 12° 3° 0 16
–4 3 12° 9° 15 5
Durch diese Hubbewegung wird Energie dem Aufbau 4 12° 9° 0 5
(und der Federung) zugeführt oder freigesetzt. Diese –40 –30 –20 –10 0 10 20 30 40
Energie wirkt sich über das Lenkgestänge am Lenk- Lenkwinkel d in Grad
rad aus.
Mathematisch ausgedrückt, ist der Radlasthebelarm Bild 7.4-39 Radlasthebelarm p über Lenkwinkel δ,
die Ableitung der Hubbewegung des Rades nach dem für verschiedene Lenkgeometrien (nach [1])
Lenkwinkel: (Spreizungswinkel σ, Nachlaufwinkel τ, Lenkrollra-
p = −dz /dδ (19) dius rS, Nachlaufstrecke n0 bei δ = 0)
Der Radlasthebelarm, Bild 7.4-39, sollte in der Gera-
deausstellung der Lenkung nahe Null sein, um Lenk-
momente aus Vertikalkraftschwankungen (einseitigen Pendel gedacht werden, dessen Pendelmasse das
Straßenanregungen) zu vermeiden. Ferner sollte er Gewicht des Vorderwagens hat und das bei Auslen-
bei Lenkeinschlag am kurvenäußeren Rade kleiner kung um den Radlenkwinkel ein entsprechendes
werden, um eine „Gewichtsrückstellung“ der Len- Rückstellmoment ergibt.
kung zu bewirken. Beim (größeren) kurveninneren
dp /dδ = rσ tan σ − n ⋅ tan r (feste Spreizachse) (20)
Radeinschlag ergibt sich nämlich bei positivem
Radlasthebelarm eine Anhebung des Aufbaus, beim
Die Gewichtsrückstellung ist bei Geradeausfahrt die
kurvenäußeren eine Absenkung und nur durch links
einzige Größe (bei Vorspur- und Sturzwinkel gleich
und rechts unterschiedliche Hub- bzw. Senkbewe-
gung kann in der Summe eine Anhebung des Null), welche die Lenkung in der Mittelstellung
Schwerpunkts erzeugt werden, die rückstellend wirkt. zentriert!
Die Ableitung des Radlasthebelarms nach dem Bei Radaufhängungen mit virtueller Spreizachse kann
Lenkwinkel, das bedeutet die zweite Ableitung des die Gewichtsrückstellung durch die Schwenkbewe-
Radhubs nach dem Lenkwinkel in der Geradeausstel- gung der Spreizachse über dem Lenkwinkel [6] oder
lung, Gl. (20), ist der „Hebelarm der Gewichtsrück- durch Erzeugen einer Schraubbewegung entlang der
stellung“ [1, 6]. Ersatzweise kann dieser Hebel als Spreizachse zusätzlich verstärkt bzw. auch verringert
werden. Unabhängig von der Lenkungskinematik
lassen sich die Rückstellmomente in der Lenkung
durch die Anlenkung von Federelementen (Stabilisa-
Schrägansicht
tor, Federung, Kurvenscheiben usw.) direkt am Rad-
träger beeinflussen. Zu beachten ist, dass sich damit
l bei unsymmetrischen Radlaständerungen Rückwir-
a
kungen in die Lenkung ergeben.
l

Triebkrafthebelarm – Antriebsmoment,
A Schleppmoment
l P·sinl
Bei Radaufhängungen mit fester Spreizachse (z.B.
P
M = e·P·sinl übliche Doppelquerlenkerachsen) ist der Spreizungs-
= p·P versatz oder Störkrafthebelarm unveränderlich über
A M
p = e·sinl Lenkeinschlag und Radhub und demnach am kurven-
(Radlasthebelarm)
a e
äußeren und kurveninneren Rad immer gleich groß.
l Bei gleichem Antriebsmoment an beiden Rädern
sollte sich somit unter Vernachlässigung der Wirkung
Draufsicht von Lenkdifferenzwinkeln auch bei Störkrafthebeln
größer Null ein Momentengleichgewicht der vortrei-
Bild 7.4-38 Zeichnerische Darstellung des Radlast- benden Kräfte ergeben und die Lenkung unbeein-
hebelarms (nach [10]) flusst bleiben. Trotzdem kann man bei Frontantriebs-
596 7 Fahrwerk

Störkrafthebel Eigenfrequenzen vermindert bzw. so weit unterdrückt


werden, dass der Fahrer sie nicht mehr wahrnimmt.
Weitere wichtige Parameter sind die Steifigkeiten der
Spreizachse
Radführungselemente und die Lage der elastokinema-
tischen Lenkdrehachse zum Schwerpunkt der ungefe-
derten Massen. Auch richtungsabhängige Wirkungs-
grade von Lenkgetrieben können hier helfen, indem
ein hoher Wirkungsgrad von oben nach unten die
Feinfühligkeit der Lenkung unterstützt, während ein
niedriger Wirkungsgrad von unten nach oben bei der
a/2
a/2 Unterdrückung von Störgrößen hilft. Zahlreiche
Beiträge wie z.B. [9] zeigen, dass die vom Fahrer als
Lenkunruhe reklamierten Erscheinungen ein häufiges
und ernst zu nehmendes Problem darstellen.
Lenkrollradius
Bestimmung der idealen Lenkeinschlagwinkel
Triebkrafthebel am Rad
Bild 7.4-40 Triebkrafthebelarm einer angetriebenen Bisher wurde die Lenkungskinematik diskutiert, ohne
Achse bei fester Spreizachse zu behandeln, wie beide Räder idealerweise gelenkt
werden müssen, um die primäre Aufgabe der Len-
kung zu erfüllen, das Fahrzeug auf einen vom Fahrer
fahrzeugen den Antriebseinfluss in der Lenkung bestimmten Kurs sicher zu führen. Kinematisch
beobachten. In [4] führten diese Beobachtungen zur einwandfrei gelenkt ist ein Fahrzeug dann, wenn sich
Definition eines Hebelarms der Triebkräfte. Analog die Normalen auf die Geschwindigkeitsvektoren aller
dem Lenkrollradius muss dieser Hebelarm als dieje- Räder in einem Punkt treffen. Für eine Kurvenfahrt
nige Größe betrachtet werden, welche bezüglich der bei geringer Querbeschleunigung und kleinen Seiten-
Lenkachse wirksam wird, wenn bei blockiertem kräften und somit sehr kleinen Schräglaufwinkeln
Antrieb Längskräfte im Radaufstandspunkt auf das (siehe Kap. 7.3) können vereinfachend die Verlänge-
Rad wirken. Dieser Triebkrafthebelarm ist an einem rungen der Radmittelachsen zur Bestimmung des für
sehr einfachen Beispiel mit fester Spreizachse und jeden Kurvenradius optimalen Lenkeinschlagwinkels
ebener Kinematik ohne Herleitung in Bild 7.4-40 verwendet werden, Bild 7.4-41. Ein derartiges Gesetz
dargestellt. Eine Parallele zur Winkelhalbierenden wurde erstmalig von Lankensperger und Ackermann
zwischen Radachse und Antriebswelle im Schnitt- beschrieben. Für Zweispurfahrzeuge mit zwei Achsen
punkt von Radachse und Spreizachse durchstößt die (Vorderachse gelenkt), ergibt sich nach Ackermann
Fahrbahnebene im Abstand des Triebkrafthebelarmes folgende Vorschrift für die Lenkwinkelbeziehung der
vom Radaufstandspunkt. Aus dem Bild lässt sich beiden gelenkten Räder:
leicht ableiten, dass nur bei Gelenkwellenbeugewin-
b
kel Null der Spreizungsversatz dem Triebkrafthebel- cot δ a = cot δ i + (21)
arm entspricht und weiter, dass sich der Triebkrafthe- l
belarm am eingefederten Rad verringert und am
ausgefederten Rad vergrößert. Bei ungleich langen l

Antriebswellen führt dies nicht nur bei Kurvenfahrt,


sondern auch beim parallelen Ein-/Ausfedern zu da
Differenzen zwischen linkem und rechtem Rad und
b
somit zu Antriebseinflüssen in der Lenkung.
Wirkung von Störgrößen
di
Störanregungen, hervorgerufen durch Unwucht Sp
des Rades, Radialkraftschwankungen des Reifens We urk
nd rei
ekr sra
(elastische Ungleichförmigkeit) oder Bremsmoment- eisr diu
adiu sR
sR
schwankungen führen an der Radaufhängung und W S
da
somit im Lenksystem zu drehfrequenz- und da-
mit fahrgeschwindigkeitsabhängigen Schwingungser- di

scheinungen in verschiedenen Richtungsebenen:


Lenkradvertikalschwingung, Lenkraddrehschwingung
usw. Über die richtige Wahl der oben beschriebenen Bild 7.4-41 Ackermannbedingung für Lenkein-
kinematisch wirksamen Hebelarme können die Wir- schlagwinkel kurvenaußen/kurveninnen sowie Defi-
kungen der immer vorhandenen Störanregungen/ nition Spur- und Wendekreis
7.4 Fahrwerkauslegung 597

Das Lenkgestänge sollte nun nach Ackermann derart Einfluss der Lenkgetriebebauart
gestaltet sein, dass jede beliebige Krümmung bis auf das Lenkgestänge
zum konstruktiv festgelegten minimalen Wendekreis-
Die Übertragung der vom Fahrer eingeleiteten Lenk-
durchmesser mit zwangsfrei abrollenden Rädern be-
bewegung erfolgt über Lenkgetriebe und Lenkge-
fahren werden kann. Lenkfehler, d.h. Abweichungen
stänge auf die Räder. In der Regel muss das Lenkge-
von der idealen Lenkwinkelbeziehung (Ackermann-
stänge zusätzlich die Radhubbewegung nachvollzie-
funktion) nach Gl. (21) führen dagegen zum zwangs-
hen. Dies führt bei Einzelradaufhängungen zu geteil-
weisen Schräglauf der Reifen. Ist der Lenkfehler z.B.
ten Spurstangen, deren Position und Länge so zu
derart gestaltet, dass der kurveninnere Lenkein-
wählen sind, dass bei der Federbewegung das ge-
schlagwinkel kleiner ist als der Solllenkwinkel,
wünschte Eigenlenkverhalten und bei der Lenkbewe-
spricht man von einer Abweichung hin zum Parallel-
gung die angestrebte Lenkfunktion erreicht wird.
einschlag. Von Bedeutung ist dieser Lenkwinkelfeh-
Bei einer Zahnstangenlenkung wird die Drehbewe-
ler für den Lenkungsrücklauf bei großen Lenkein-
gung des Lenkrades direkt auf die Zahnstange über-
schlagwinkeln und langsamer Kurvenfahrt: hier fehlt
tragen und dabei in eine lineare Bewegung übersetzt.
das rückstellende Moment aus der Seitenkraft. Der
Die Spurstange fungiert als Koppelglied zwischen
erzwungene Schräglaufwinkel wirkt wie eine viel zu
dem aufbaufesten Lenkgetriebe und dem mit dem
große Vorspur und hat an beiden Rädern eine nach
Radträger fest verbundenen Spurhebel. Die lineare
innen weisende Seitenkraft zur Folge, Bild 7.4-42.
Bewegung der Spurstange wird in der Lenkdrehachse
Die Seitenkraft des kurveninneren Rades greift bei
wieder in eine Schwenkbewegung (Lenkeinschlag)
Radaufhängungen mit großen Spreizungs- und Nach-
des Rades umgesetzt.
laufwinkeln (Federbeinachsen) aufgrund des Lenk-
Da die Spurstangen aufgrund der Aufgabenstellung
einschlagwinkels an einer vergrößerten Nachlaufstre-
im Wesentlichen quer zur Fahrzeuglängsachse ver-
cke, die kurvenäußere Seitenkraft an einer verkleiner-
laufen sollen, sind bei Zahnstangenlenkungen grund-
ten Nachlaufstrecke an und kann somit das eindre-
sätzlich zwei Positionen für den radseitigen Spurhe-
hende Lenkmoment nicht kompensieren. Ist das
bel wählbar: eine nach hinten oder eine nach vorne
kurvenäußere Rad schon in Vorlauf, wird das eindre-
weisende Position, Bild 7.4-43. An dieser Stelle sei
hende Moment des kurveninneren Rades durch das
auch erwähnt, dass zur Einleitung einer korrekten
kurvenäußere sogar verstärkt; die Lenkung dreht ein.
Drehbewegung das Ritzel der Zahnstangenlenkung
Die realisierte Lenkfunktion darf also bei Federbein-
bei vorneliegendem Spurhebel hinter der Zahnstange
achsen nur geringfügig von der Sollfunktion nach
und bei hintenliegendem Spurhebel vor bzw. auf der
Ackermann abweichen (<3°). Dies ist bei vorne liegen-
Zahnstange liegen muss.
der Zahnstangenlenkung leichter zu erreichen als bei
Bei einer Hebellenkung wird die Drehbewegung des
Lenkungslage hinter Radmitte. Für den leicht paralle-
Lenkrades mittels eines Getriebes auf einen Hebel
len Lenkungseinschlag spricht der kleinere Lenkwinkel
untersetzt (Lenkstockhebel) und über die Spurstange
des kurveninnen eingeschlagenen Rades und der damit
verbundene geringere Raumbedarf im Radhaus. Bei
gleicher mittlerer Lenkungsübersetzung (siehe unten)
führt eine Auslegung in Richtung Parallellenkung zu
einem schnelleren Ansprechen, da das verstärkt fahr- a
zeugführende kurvenäußere Rad durch den überlager-
ten Vorspurwinkel schneller Seitenkraft aufbaut. b

Durchstoßpunkt
Spreizachse Durchstoßpunkt c
g
ai aa Spreizachse
Va
Vi
d h
n
n nR
nR
FSa e i

FSi
f j

M
Bild 7.4-43 Lenkgestängebauarten
a – b Zahnstangenlenkung, c – f Hebellenkung, Spur-
Bild 7.4-42 Wirksame Kräfte und Hebel bei einge- stangen am Lenkstockhebel, g – j Hebellenkung,
schlagenen Rädern und falschem Spurdifferenzwinkel Spurstangen an mittlerer Spurstange
598 7 Fahrwerk

und den radseitigen Spurhebel auf das Rad übertra- diese Anordnung im Pkw kaum realisierbar, da das
gen. Aus dieser Tatsache ergeben sich in Kombina- weit vorne liegende Lenkgetriebe und die Lenkstock-
tion mit den bereits oben diskutierten Spurhebellagen hebel erhebliche Bauraumprobleme verursachen.
zwei weitere Möglichkeiten, ein Lenkgestänge aufzu-
bauen: Lenkstockhebel (der Hebel am Lenkgetriebe) Einfluss des Gesamtfahrzeug- und Achskonzepts
nach vorne und nach hinten weisend, Bild 7.4-43c – f. auf die Lenkung
Zur Verbindung der gegenüberliegenden Fahrzeug- Ungewollte Lenkeinschläge durch Federbewegungen
seite dient eine quer angeordnete mittlere Spurstange. der Räder während der Fahrt müssen vermieden
Diese überträgt den Lenkbefehl auf einen symmet- werden, bzw. nach Betrag und Richtung derart erfol-
risch zum Lenkstockhebel und zur Fahrzeuglängsach- gen, dass die Fahrzeugführung und Fahrzeugstabili-
se gelagerten Schlepphebel, den Lenkführungshebel. sierung unter allen Umständen gewährleistet ist.
Eine weitere Verdoppelung der konstruktiven Mög- Diese Funktion übernimmt das Lenkgestänge. An-
lichkeiten ergibt sich bei Hebellenkungen aus der Art hand des bei modernen Straßenfahrzeugen weit
der Anlenkung der inneren Spurstangengelenke: di- verbreiteten Achstyps Federbeinachse sollen hier die
rekt am Lenkstockhebel oder an der mittleren Spur- Ausprägungen von Lenkgestängen in Verbindung mit
stange, Bild 7.4-43g – j. Zu beachten ist, dass bei der Lenkgetriebebauarten gezeigt werden. Der Trend geht
Anlenkung der äußeren Spurstangen an der mittleren aufgrund der optimalen Synthese von Funktion,
Spurstange alle vier Gelenke auf einer Wirkungslinie Kosten und Gewicht in allen Fahrzeugklassen zur
liegen, andernfalls muss die mittlere Spurstange ver- Zahnstangenlenkung, weshalb diese Bauart nachste-
drehsteif und achsparallel zum Lenkstockhebel gela- hend angesprochen werden soll.
gert sein. Alle bisher diskutierten Lenkgestängekonfigurationen
Entscheidend für die Wahl einer dieser Varianten wurden nur bezüglich ihrer Lage in der Ebene disku-
sind die räumlichen Möglichkeiten im Fahrzeug und tiert. Für eine optimale Entkoppelung der Lenkung
die angestrebte Funktion. Bild 7.4-44 zeigt die cha- von der Federbewegung ist darüber hinaus die richti-
rakteristischen Lenkfunktionen für die im Pkw üb- ge Spurstangenlänge zur jeweiligen Höhenposition zu
liche Lenkgestängeanordnungen bei fester Spreiz- finden. Für Fahrzeuge mit Frontantrieb, quer einge-
achse. bautem Antriebsaggregat, Federbeinachse und Zahn-
Die besten Ergebnisse sind erfahrungsgemäß mit stangenlenkgetriebe gibt es z.B. nur zwei realisierbare
vorne liegenden radseitigen Spurhebeln erreichbar. In Positionen: unter der Karosseriestruktur auf Höhe der
Kombination mit einem gegenläufigen Lenkstockhe- Radmittelachse oder über Karosseriestruktur und
bel lässt sich darüber hinaus die beste Annäherung an Reifen; jeweils hinter der Vorderachse. Da bei der
die ideale Lenkfunktion darstellen. Leider ist gerade Federbeinachse der obere Querlenker durch die
Schubführung des Dämpfers ersetzt ist, liegt der
Krümmungsmittelpunkt des Ersatzlenkers auf einer
Radeinschlagwinkel di in Grad Normalen zur Federbeinachse durch den Stützlager-
punkt und im Unendlichen. In Bild 7.4-45 ist die
Bestimmung der Spurstangenlänge für diesen Fall
40 nach einem vereinfachten (ebenen) Verfahren von
d≈A Bobillier dargestellt. Wird eine Spurstangenlage in
b
Höhe des unteren Querlenkers gewählt, nähert sich
a≈c≈f e
auch die Spurstangenlänge LU der des unteren Quer-
30 lenkers. Je höher die Spurstange angeordnet wird,
A
umso länger muss diese für eine optimale Spurwin-
P
kelführung des Rades ausgeführt werden (LO). Aus
diesem Grund können bei Federbeinachsen außen am
20
Zahnstangenlenkgetriebe angelenkte Spurstangen nur
bei Tieflage realisiert werden. Hoch liegende Spur-
stangen erfordern mittig angelenkte Lenkgetriebebau-
10
arten, siehe Bild 7.4-51 unten.
A Ackermannfunktion Grenzen des Lenkeinschlagwinkels
P Paralleleinschlag
a–f siehe Bild 7.4-43 Schon bei der Bestimmung der optimalen Lenkfunk-
0 tion und des daraus resultierenden Gelenkvierecks
0 10 20 30 bzw. -dreiecks ist es vorteilhaft, die Begrenzung des
Radeinschlagwinkel da in Grad Lenkeinschlagwinkels durch die Übertragungsglieder
zu ermitteln. Für die Funktionssicherheit eines Lenk-
Bild 7.4-44 Lenkfunktionen der Lenkgestängebauar- gestänges ist der Übertragungswinkel der Spurstange
ten aus Bild 7.4-43 (nach [1]) an der Lenkgetriebeseite und an der Radseite wichtig.
7.4 Fahrwerkauslegung 599

Spurstange oben
Fzg.-Mitte

LO b a

Spurstange unten P1

LU
a
b

P2

P3O

Bild 7.4-45 Bestimmung


der Spurstangenlänge bei
Federbeinachsen und unten
P3U
bzw. oben liegender Spur-
stange

Wird er zu klein, bedeutet dies, dass das Gestänge Spreizachse


unter Einwirkung äußerer Kräfte in Strecklage gera-
ten und somit die exakte Führung des Rades nicht Spurhebel

mehr erfüllen, im Extremfall sogar überdrückt wer-


den kann. Zur Beurteilung des Übertragungswinkels Wirksamer
Ebene
müssen bei räumlichen Achsen die wirksamen Hebel- normal zur Spurhebel
arme senkrecht zur Drehachse in allen möglichen Spreizachse

Radstellungen herangezogen werden. Ohne mechani-


sche Lenkeinschlagbegrenzung sollte beim Pkw der
Übertragungswinkel nicht kleiner als 25° sein. Projektion
Spurhebel
Bei Fahrzeugen mit Frontantrieb ist zusätzlich die Spurstange
Begrenzung des Lenkeinschlags durch die Antriebs-
wellen zu untersuchen. Die Fortschritte der Gelenk-
wellenindustrie ermöglichen heute Antriebswellen-
beugewinkel in Extremlagen von nahezu 50°. Bei Übertragungswinkel
Projektion
Spurstange
optimierten Frontantriebskonzepten ergeben sich da-
mit gegenüber dem Standardantrieb keine nennens-
werten Nachteile. Bild 7.4-46 Übertragungswinkel zwischen Spurhebel
und Spurstange
Lenkgesamtübersetzung
Die Lenkgesamtübersetzung als Verhältnis von dabei der Mittelwert aus kurvenäußerem und kurven-
Lenkraddrehwinkel zu Radwinkel wird nach unten innerem Lenkeinschlagwinkel berücksichtigt werden.
begrenzt von der Direktheit des Lenkungsanspre- Bei bekannten wirksamen Spurhebeln, Bild 7.4-46,
chens bei hohen Fahrgeschwindigkeiten; hier sind lässt sie sich aus dem Verhältnis Spurhebel zu Lenk-
Werte unterhalb von 14 selten. Die obere Grenze stockhebel bestimmen.
folgt aus der Höhe des zumutbaren Lenkaufwands im
Lenkspindel
Parkierbereich, dies hängt somit unmittelbar mit dem
Vorhandensein einer Servounterstützung zusammen Nur in den wenigsten Anwendungsfällen ist die Ver-
und überschreitet eine Übersetzung von 20 kaum. Die bindung zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe durch
Festlegung eines konkreten Wertes wird durch die eine einfache und gerade Verbindungswelle (Lenk-
gewünschte Positionierung des Zielfahrzeugs (sport- spindel) zu realisieren. Üblich sind Lenksäulen mit
lich agil oder komfortbetont) mitbestimmt [10]. einem oder zwei Winkelgelenken. Bei geringen
Konstruktiv entspricht die Lenkgesamtübersetzung Beugewinkeln (bis ca. 5°) lassen sich die Kreuzge-
dem Produkt aus Lenkgestänge- und Lenkgetriebe- lenke durch Gelenkscheiben ersetzen. Lenksäulen mit
übersetzung. Für die Lenkgestängeübersetzung muss einem Kreuzgelenk erzeugen bei Beugewinkeln >15°
600 7 Fahrwerk

einen für den Fahrer spürbaren Ungleichfömigkeits- Ebene B von


grad U: Welle 2 und 3
3
gebildet
ω − ω2 min
b2
U = 2 max = tan β ⋅ sin β (22) Ebene A von
ω1 Welle 1 und 2 2
gebildet
In derartigen Fällen ist eine Zwischenwelle und ein
zweites Kreuzgelenk einzuführen, Bild 7.4-47.

b1
1

Bild 7.4-48 Beispiel einer „windschief“ angeordne-


ten Lenkspindel mit zwei Kreuzgelenken in Z-An-
ordnung und vollständigem Ausgleich
a
a

M1
Mz
M2
a) Stellung Kreuzgelenk 0° b
M2 = M1 cos b
Mz = M1 sin b
Bild 7.4-47 Beispiel einer „ebenen“ Lenksäule mit
zwei Kreuzgelenken in W-Anordnung und ausgegli-
chenen Beugewinkeln M1

Mz
Die Drehungleichförmigkeit nach dem ersten Kreuz- M2
b
b) Stellung Kreuzgelenk 90°
gelenk kann durch das zweite Gelenk wieder aufge- 1
hoben werden. Dabei müssen folgende Bedingungen M2 = M1
cos b
erfüllt sein: Mz = M1 tan b

• die Beugewinkel der Gelenke müssen gleich sein Bild 7.4-49 Spezielle Kreuzgelenkstellungen 0° (a)
und und 90° (b)
• die Gabeln der mittleren Welle müssen gleichzei-
tig in ihren aus An- und Abtriebswellen gebildeten Literatur
Ebenen A und B liegen, Bild 7.4-48, [7, 8].
[1] Matschinsky, W.: Radführungen der Straßenfahrzeuge, Kinema-
Bei einem in der Ebene liegenden Lenkstrang bedeu- tik, Elastokinematik und Konstruktion, 2. Auflage 1998, Sprin-
ger-Verlag
tet dies, dass die Gabeln der mittleren Welle in einer
[2] Braess, H.-H.: Ideeller negativer Lenkrollhalbmesser, ATZ 77
Ebene liegen. Bei „windschief“ zueinander stehenden (1975) S. 203 – 207
Lenkspindeln müssen die Gabeln um den Winkel ϕ [3] Reimpell, J.: Fahrwerktechnik Grundlagen, 3. überarbeitete
der Beugungsebenen beider Gelenke zueinander Auflage 1995, Vogel Buchverlag
[4] Matschinsky, W.: Bestimmung mechanischer Kenngrößen von
verdreht sein. Die beiden Kreuzgelenke können dabei Radaufhängungen, Dissertation TU Braunschweig, 1992
gleichsinnig (W-Anordnung) oder gegensinnig (Z- [5] Braess, H.-H.: Beitrag zur Fahrtrichtungserhaltung des Kraftwa-
Anordnung) gebeugt sein. gens bei Geradeausfahrt unter besonderer Berücksichtigung des
Die Umlenkung des Lenkmoments im Gelenk be- Lenkrollhalbmessers. ATZ 67 (1965), S. 218 – 221
[6] Matschinsky, W.; Dietrich, C.; Winkler, E.: Die Doppelgelenk –
wirkt an der Gabel ein Zusatzmoment MZ, Bild Federbeinachse der neuen BMW-Sechszylinderwagen der Bau-
7.4-49. Dieses Zusatzmoment bewirkt Kräfte auf die reihe 7, ATZ 79 (1977), S. 357 – 365
Lager, welche die Wellen biegend beanspruchen. In [7] Reinecke, W.: Konstruktions-Richtlinien für die Auslegung
der praktischen Anwendung bedeutet dies, dass von Gelenkwellenantrieben. MTZ Jahrgang 19, Nr. 10 (1958),
S. 349 – 352
Gelenkbeugewinkel über 30° generell vermieden [8] Eugen Klein KG Gelenkwellen: Firmenschrift
werden sollten, da die hieraus resultierenden hohen [9] Dödlbacher; Gaffke: Untersuchung zur Reduzierung der Len-
Querkräfte in Verbindung mit der vorhandenen La- kungsunruhe. ATZ 80 (1978) S. 317 – 322
gerreibung und der endlichen Lagersteifigkeit auch [10] Weir, D. H.; di Marco, R. J.: Correlation and Evaluation of
Driver/Vehicle Directional Handling Data, SAE-Paper 780010,
bei bezüglich der Beugewinkel ausgeglichenen Lenk- 1978
spindelanordnungen zu spürbaren Lenkmoment- [11] Riedl; Kölbel: Das Fahrwerk des neuen 7er, ATZ und MTZ
schwankungen führen. Sonderausgabe, November 2001, S. 58 – 75
7.4 Fahrwerkauslegung 601

[12] Merker u.a.: Da E-Klasse-Fahrwerk, ATZ und MTZ Sonderaus-


gabe, Mai 2002, S. 94 – 106
[13] Eichler u.a.: Das Fahrwerk des VW Phaeton, ATZ und MTZ
Sonderausgabe, Juli 2002, S. 68 – 89
[14] Glaser, Rossié; Rüger; . . .: Das Fahrwerk des Audi A1. ATZ
und MTZ Sonderausgabe Juni 2010, Seite 32 ff.
[15] Heißing; Block: Audi A4: Fahrwerk und Antriebsstrang, ATZ
und MTZ Sonderausgabe November 2000, Seite 84 ff.
[16] Mödinger; Bublitz; Grebe;. . .: Das Fahrwerk der neuen A-
Klasse von Daimler-Benz, ATZ und MTZ Sonderausgabe 1997,
Seite 102 ff.
[17] Kreutz; Bartusch; Ullrich; . . .: Der VW Polo V: Das Fahrwerk,
ATZ und MTZ Sonderausgabe Mai 2009, Seite 28 ff.
[18] Rischbieter; Maus; Manz; . . .: Das Fahrwerk des neuen VW
Golf. ATZ und MTZ Sonderausgabe Oktober 2003, Seite 74 ff.
[19] Bortz; Niemöller; Thrimer; . . .: Die neue GLK-Klasse von Mer-
cedes Benz. Souveränes Fahrverhalten unter allen Bedingungen,
ATZ und MTZ Sonderausgabe, September 2008, Seite 20 ff.
[20] Eichler; Rischbieter; Gier;. . .: Das Fahrwerk des VW Phaeton.
ATZ und MTZ Sonderausgabe, Juli 2002, Seite 68 ff.
[21] Aden; Bastian; Bauer; . . .: Das Fahrerlebnis Porsche Cayenne.
ATZ und MTZ Sonderausgabe, Juli 2003, Seite 114 ff.
[22] Hartig; Reichel: Das Fahrwerk des neuen 3er. ATZ und MTZ
Sonderausgabe 1998, Seite 72 ff. Bild 7.4-50 Kugelmutter-Hydrolenkgetriebe mit
[23] Schmitz; Lippok: Ford Mondeo: Fahrwerk und Fahrdynamik. Drehkolbenventil (Quelle: ZF)
ATZ und MTZ Sonderausgabe Oktober 2000, Seite 78 ff.
[24] Riedl; Kölbel; Nixel; Schwarz: Das Fahrwerk des neuen 5er.
ATZ und MTZ Sonderausgabe August 2003, Seite 80 ff. endlose Kugelkette den Lenkgetriebekolben axial hin-
[25] Merker; Jeglitzka; Koepp;. . .: Das E-Klasse-Fahrwerk. ATZ und und herbewegt. Bei der Hydraulikausführung wird je
MTZ Sonderausgabe Mai 2002, Seite 94 ff. nach Drehrichtung eine Seite des Kolbens mit Drucköl
[26] Riedl; Kölbel: Das Fahrwerk des neuen 7er. ATZ und MTZ
Sonderausgabe November 2001, Seite 58 ff.
beaufschlagt und so die mechanisch eingeleitete Axial-
[27] Jeglitzka; Riedel; Wolfsried; Zech: Das Fahrwerk der Mercedes- bewegung des Kolbens hydraulisch unterstützt.
Benz S-Klasse, Leicht und agil. ATZ und MTZ Sonderausgabe Die rechtwinklig dazu angeordnete Segmentwelle wird
1998, Seite 142 ff. über den Zahneingriff des Kolbens in Drehung ver-
[28] Merker; Kübler; Tattermusch; . . .: Das Fahrwerk des Maybach.
ATZ und MTZ Sonderausgabe September 2002, Seite 130 ff.
setzt.
[29] Hentschel; Wahl: Das Fahrwerk des Porsche Boxster. ATZ und An der Segmentwelle ist der Lenkstockhebel mon-
MTZ Sonderausgabe 1996, Seite 34 ff. tiert, der über ein Kugelgelenk ein Lenkgestänge be-
[30] Merker; Wirtz; Hill; Jeglitzka: Das SL Fahrwerk. ATZ und MTZ wegt, das aus einer mittleren Spurstange und – daran
Sonderausgabe Oktober 2001, Seite 84 ff.
[31] Pfeffer, P.; Harrer, M. (Hrsg.): Lenkungshandbuch. Wiesbaden:
rechts und links ebenfalls über Kugelgelenke fixierten
Vieweg+Teubner Verlag, 2011 – seitlichen Spurstangen besteht. Spiegelbildlich zum
Lenkstockhebel befindet sich auf der rechten Fahr-
zeugseite zur Führung des Lenkgestänges ein Lenkfüh-
7.4.5.2 Lenkgetriebe und -gestänge rungshebel. Die seitlichen Spurstangen sind außen an
den radseitigen Achsschenkeln befestigt. Zur Vorspur-
Lenkgetriebe und -gestänge haben die Aufgabe, den winkel-Einstellung der Vorderräder können die seitli-
vom Fahrer vorgegebenen Lenkraddrehwinkel in chen Spurstangen über ein Verstellgewinde in ihrer
einen definierten Radeinschlagwinkel am kurveninne- Länge verändert werden. Über eine Höhenverstellung
ren und kurvenäußeren Rad (bei Pkw’s: Vorderrad) des Lenkstockhebels am Lenkgetriebe lassen sich ggf.
umzusetzen. Nachstehend werden die gebräuchlichs- vorhandene Toleranzen der Höhenlage der inneren
ten Lenkgetriebe-Bauarten beschrieben. Spurstangengelenke ausgleichen. Dadurch können für
das linke und rechte Vorderrad identische Vorspurkur-
Kugelmutterumlauf-Lenkgetriebe ven über dem Federweg erreicht werden, was für einen
Über Jahrzehnte war vor allem im oberen Pkw- stabilen Geradeauslauf beim beidseitigen Einfedern des
Segment und bei leichten Nutzfahrzeugen das Ku- Fahrzeugs erforderlich ist. Auslegungskriterien für das
gelmutterumlauf-Lenkgetriebe – vorzugsweise mit Lenkgestänge sind im Wesentlichen die gewünschte
hydraulischer Unterstützung – weit verbreitet (Bild Achskinematik, Freigängigkeitserfordernisse und die
7.4-50). Aufgrund deutlicher Gewichts- und Kosten- zu übertragenden Kräfte (Knicksteifigkeit).
nachteile gegenüber der Zahnstangenlenkung ist diese Die Vorteile einer Kugelmutterlenkung liegen in
Lösung allerdings bei den Personenkraftfahrzeugen einem hohen Lenkkomfort mit geringer Stoßempfind-
inzwischen so gut wie verschwunden. lichkeit aufgrund der höheren Gesamtelastizität des
Die am Lenkrad ausgeführte Drehbewegung wird über Systems. Außerdem bietet die variable Auslegungs-
die Lenksäule der Eingangswelle des Lenkgetriebes möglichkeit des Lenkvierecks dem Konstrukteur
zugeführt. Diese Welle ist an ihrem unteren Ende als große Freiheiten zur Realisierung von günstigen Vor-
Schnecke ausgebildet, deren Drehbewegung über eine spurkurven und Gesamtlenkübersetzungen mit nied-
602 7 Fahrwerk

Bild 7.4-51 Zahnstangen-


Hydrolenkgetriebe
(Quelle: ZF)

rigen Belastungen der Spurstangen und des Lenkge- scher Unterstützung mit einem Lenkradmoment von
triebes. Die größere Elastizität kann sich jedoch auch 80 Nm keine bleibenden Verformungen an der
nachteilig bezüglich Lenkungsansprechen und Lenk- Zahnstange auftreten. Die Zahnstangenlänge ergibt
gefühl um die Mittellage auswirken. sich bei einer Hydrolenkung mit seitlich angebrachten
Entscheidend für den zunehmenden Rückgang der Spurstangen zu min. 6 mal dem einfachen Zahnstan-
Kugelmutterlenkung im Pkw-Sektor in jüngster Zeit genhub (2 × Hub Verzahnung + 2 × Hub Hydraulik-
dürften jedoch die deutlichen Gewichts- und Kosten- kolben + 1 × Hub Verzahnungsende bis innere Dich-
nachteile gegenüber der Zahnstangenlenkung sein. tung + 1 × Hub Axialgelenk bis äußere Stangendich-
tung). Dazu kommen noch die axialen Bauräume für
Zahnstangenlenkgetriebe die Dichtungen und die Verzahnungsausläufe. Ist
In heutigen Pkw’s am meisten verbreitet ist die Zahn- diese erforderliche Zahnstangenlänge nicht im Fahr-
stangenlenkung immer häufiger auch bei kleineren zeug unterzubringen, so sind Nachteile im Wende-
Fahrzeugen mit hydraulischer oder elektrischer Un- kreis (kürzerer Hub) oder im Fahrverhalten (kürzere
terstützung. Auch in Fahrzeugen der Oberklasse Spurstangen, dadurch geänderte Vorspurkurve beim
verdrängt sie zunehmend die Kugelmutterlenkung, Ein-/Ausfedern der Räder) zu erwarten.
Bild 7.4-51. Bessere Voraussetzungen für genügend lange Spur-
Bei der Zahnstangenlenkung werden die Drehbewe- stangen bietet der erwähnte Mittenabgriff. Eine
gungen des Lenkrades über ein meist schrägverzahntes andere Möglichkeit ist, den Hydraulikarbeitszylinder
Ritzel in eine Verschiebebewegung der Zahnstange außen liegend parallel zur Zahnstange anzubringen.
umgesetzt. Gegenüber der Verzahnung ist ein federbe- Die Vorteile einer Zahnstangenlenkung gegenüber
lastetes Druckstück so angeordnet, dass ein möglichst der Kugelmutterlenkung liegen auf der Hand:
spielfreies Ineinandergreifen von Ritzel und Zahnstan-
– geringere Kosten, geringeres Gewicht durch einfa-
ge über dem gesamten Hub gewährleistet ist.
cheren Aufbau und Entfall von Lenkzwischenhe-
An der Zahnstange sind die seitlichen Spurstangen über
beln und -stangen,
Kugelgelenke befestigt und mit Faltenbälgen aus
– geringerer Raumbedarf; allerdings ist bei tieflie-
Gummi oder Kunststoff gegen Verschmutzung und
gender Lenkung u.U. weiterer Bauraum unter der
Wassereindringen geschützt. Für verschiedene Anwen-
Motorölwanne erforderlich,
dungsfälle können die Spurstangen beidseitig, mittig
– geringere Lenkelastizität und damit direkteres
oder beide an einem Ende der Zahnstange angebracht
Ansprechen der Lenkung.
sein. Die Spurstangen sind außen wiederum über
Kugelgelenke mit den radseitigen Achsschenkeln ver- Bauartbedingt ist der Wirkungsgrad einer Zahnstan-
bunden und können über ein Gewinde zur Vorspur- genlenkung in beiden Richtungen (Ein- und Rückdre-
winkel-Einstellung in ihrer Länge verändert werden. hen) bei höheren Lenkmomenten zunächst gleich und
Zur mechanischen Auslegung eines Zahnstangen- liegt in der Größenordnung von 90 %, Bild 7.4-52.
lenkgetriebes sind neben Festigkeits- und Bauraum- Das bedeutet zusammen mit der hohen Steifigkeit
überlegungen besonders zwei Dinge wichtig: der gute Lenkpräzision, aber auch Empfindlichkeit auf
Zahnstangendurchmesser und die Zahnstangenlänge. Störungen (Stößigkeit, Lenkunruhe). Durch Maß-
Der Zahnstangendurchmesser wird maßgebend durch nahmen wie Vergrößerung des Winkels zwischen
die Belastung beim sog. Bordsteinabdrücktest be- Ritzel und Gehäuse kann der Wirkungsgrad und
stimmt. Hierbei dürfen bei blockiertem Vorderrad mit damit die Störungsempfindlichkeit um bis zu 10 %
zulässiger Vorderachslast und bei voller hydrauli- reduziert werden, allerdings zum Preis erhöhter
7.4 Fahrwerkauslegung 603

90 Hydraulische Lenkunterstützung
80
70 Vor allem bei Pkw’s mit höheren Vorderachslasten
Wirkungsgrad [%]
60
50
und damit höherem Lenkleistungsbedarf ist die hyd-
40 h Eindrehen
raulische Lenkunterstützung immer noch weit ver-
30 h Rückdrehen breitet. Am Beispiel einer Zahnstangenhydrolenkung
20 mit Drehschieberventil, Bild 7.4-53, soll das Funkti-
10 onsprinzip erklärt werden.
0
0 500 1000 1500 2000 2500 Eine vom Fahrzeugmotor üblicherweise über einen
Zahnstangenkraft [N] Keilriemen angetriebene Hydraulikpumpe E (bei
Pkw heute vorwiegend Flügelzellenpumpen) liefert
Bild 7.4-52 Wirkungsgradverläufe einer Zahnstan-
das für die Lenkunterstützung erforderliche Drucköl
genlenkung
über einen Hochdruck-Dehnschlauch H zum Lenk-
Reibung auch in Eindrehrichtung. Eine Erhöhung der ventil im Lenkgetriebe. In Geradeausstellung des
Dämpfung z.B. durch Rückschlagventile im Zulauf, Lenkrades fließt ein konstanter Ölstrom durch das in
Dämpfungsventile am Zylinder oder eine elastische Neutralstellung stehende Lenkventil (offene Mitte)
Lenkgetriebelagerung steigert den Lenkkomfort eben- und durch die Rücklaufleitung zurück in den Öl-
falls. behälter. Der Druck in den beiden Kammern des
Bei der Kugelmutterlenkung dagegen ist Eindreh- und Arbeitszylinders ist gleich groß und entspricht dem
Rückdrehwirkungsgrad unterschiedlich (Eindrehen 75– wegen innerer Strömungswiderstände im Lenksystem
80 %, Rückdrehen 65 – 70 %), was sich auf die Isolie- aufgebauten Umlaufdruck von ca. 2 – 5 bar. Es erfolgt
rung von Störungen günstig auswirkt. Dämpfung und in dieser Stellung keine Lenkunterstützung.
Elastizität liegen höher als bei der Zahnstangenlenkung Beim Drehen des Lenkrads im Uhrzeigersinn wird
und sorgen für guten Lenkkomfort, verbunden aller- die Zahnstange und somit auch der Kolben des Ar-
dings mit etwas geringerer Lenkpräzision. beitszylinders nach rechts verschoben. Da die Bewe-
In der Summe sind die Unterschiede zwischen beiden gung des Kolbens durch Drucköl unterstützt werden
Lenkungsbauarten im Fahrzeug oft kaum noch fühl- soll, muss dieses in den linken Zylinderraum geleitet
bar, weshalb sich die kostengünstigere Zahnstangen- werden. Die drei Steuernuten des Drehschiebers
lenkung durchgesetzt hat. werden im Uhrzeigersinn verschoben und die Ein-
lassschlitze (P) für den Druckölzulauf weiter geöff-
7.4.5.3 Lenkunterstützung net. Die Einlassschlitze (O) jedoch schließen und
Auch im Kleinwagensegment gehört inzwischen die sperren den Druckölzulauf zu den Axialnuten (Q) der
Servolenkung weitestgehend zur Basisausstattung. Steuerbüchse. In der Arbeitsstellung des Ventils fließt
Hierbei werden die vom Fahrer aufzubringenden das Drucköl durch die Einlassschlitze (P) in die
Lenkkräfte durch einen hydraulisch oder elektrisch untere Radialnut (L) der Steuerbüchse und gelangt
betriebenen Aktuator verringert. von dort in den linken Zylinderraum, sodass für die
Prinzipiell bietet auch das manuelle Lenkgetriebe die hydraulische Unterstützung der Kolbenbewegung ge-
Möglichkeit einer gewissen Lenkunterstützung in sorgt ist. Die geschlossenen Steuerschlitze (W) ver-
Form der Lenkgetriebe- und Lenkgestängeüberset- hindern, dass das Öl zum Behälter abfließt. Das Öl aus
zung. Bei größerer Lenkgetriebeübersetzung werden dem rechten Zylinderraum wird verdrängt. Es fließt
die Lenkkräfte am Lenkrad dementsprechend gerin- über die obere Radialnut (K) in der Steuerbüchse zu
ger, allerdings unter Inkaufnahme größerer Lenkrad- den Rücklaufnuten (S) des Drehschiebers. Die Stege
drehwinkel. So ausgelegte Fahrzeuge wirken leicht (V) des Drehschiebers unterbinden den direkten Über-
unhandlich, Agilität und Lenkgefühl gehen zuneh- tritt des Öls zu den stets zum Ölbehälter geöffneten
mend verloren. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich Rücklaufnuten (T) der Steuerbüchse. Wird das Lenk-
dieser Nachteil bei manuellen Zahnstangen-Lenk- rad gegen den Uhrzeigersinn gedreht, setzt die hydrau-
getrieben durch eine variable Lenkübersetzung ver- lische Unterstützung im rechten Zylinderraum ein.
ringern. Dabei wird die Verzahnung über dem Hub Die erforderliche Größe der hydraulischen Unterstüt-
mit unterschiedlichem Modul und Eingriffswinkel in zung hängt ab von der maximal aufzubringenden
einem speziellen Taumelfließpressverfahren gefertigt, Spurstangenkraft, die beim Einschlagen der Räder in
das Ritzel ist normalverzahnt. Die Übersetzung wird den Endstellungen mit maximaler Vorderachslast,
so ausgelegt, dass sie im Mittenbereich ausreichend Größtwert der Reibung bei ungünstigster Reifenwahl
direkt ist und zu den Endanschlägen hin zur Reduzie- und zusätzlicher Betätigung der Fußbremse auftritt.
rung der Parkierkräfte immer indirekter wird. Die Zusätzliche Einflussgrößen sind wie bereits erwähnt
Wirkung einer Hilfskraftlenkung ist damit allerdings die Gesamtlenkübersetzung (Lenkgetriebe- und
nicht zu erreichen. Eine derartige variable Überset- Lenkgestängeübersetzung) und das maximal zulässi-
zung zwischen Kolben und Segmentwelle ist auch bei ge Handlenkmoment. Ausgehend von der erforderli-
einer Kugelumlauflenkung möglich. chen Unterstützungskraft kann mit dem maximal von
604 7 Fahrwerk

Drehschieberventil
in Neutralstellung

P D
O W
Drehschieberventil in F
Q
Arbeitsstellung T
Lenkrad im Uhrzeigersinn J
S L K
gedreht R G
V I
N
U M
H E

C B A

A Zahnstange H Druckleitung P Einlassschlitz


B Antriebsritzel I Untere Lenkspindel Q Axialnut
C Arbeitszylinder J Drehstab R Axialnut
D Ölbehälter K Radialnut S Rücklaufschlitz
E ZF-Flügelpumpe L Radialnut T Rücklaufnut
F Rücklaufleitung M Drehschieber U Rücklaufschlitz
G Druck- und N Steuerbüchse V Steg
Strombegrenzungsventil O Einlassschlitz W Steuerschlitz

Bild 7.4-53 Zahnstangen-Hydrolenkung mit Drehschieberventil und Seitenantrieb (Quelle: ZF)

der Pumpe aufgebrachten Druck die erforderliche Die Abhängigkeit des Handlenkmoments vom vor-
Kolbenfläche und mit dem aus Festigkeitsgründen handenen Öldruck wird mit der sog. Ventilkennlinie
meist vorgegebenen Zahnstangendurchmesser auch dargestellt und ist ein direktes Maß für die vorhande-
der erforderliche Arbeitskolbendurchmesser und ne Lenkunterstützung.
damit der Lenkgetriebedurchmesser im Zylinderbe- Meist wird bei Zahnstangenhydrolenkgetrieben der
reich berechnet werden. Differenzdruck in den beiden Arbeitskammern gemes-
Ein weiterer wichtiger Auslegungswert für das Lenk- sen. Bei Kugelmutterlenkgetrieben ist die Differenz-
system ist der von der Pumpe zu liefernde Ölvolu- druckmessung schwierig, deshalb wird hier der Öl-
menstrom. Er ist bestimmend für die erreichbare druck am Lenkgetriebeeingang gemessen. Es ergibt sich
Lenkwinkelgeschwindigkeit, d.h. mit welcher Ge- prinzipiell die gleiche Ventilkennlinie, jedoch verscho-
schwindigkeit der Fahrer das Lenkrad drehen kann, ben um den im System herrschenden Umlaufdruck.
ohne dass eine hydraulische Verhärtung eintritt. Die Ventilkennlinie kann durch Modifikationen an
Wie bereits erwähnt, ist es die Aufgabe des Lenkven- den Ventilsteuerkanten und durch Änderung der
tils, je nach Drehrichtung des Lenkrads Drucköl in Steifigkeit des Ventildrehstabs den jeweiligen Er-
die dazugehörige Arbeitskammer zu leiten und so die fordernissen der Lenkungsabstimmung (Lenkkräfte,
Kraft auf den Arbeitskolben auf der entsprechenden Lenkgefühl) angepasst werden. Eine Möglichkeit, die
Seite zu verstärken, mit dem Ziel, das am Lenkrad Kennlinienvariation während des Fahrbetriebs zu
aufzubringende Lenkmoment zu reduzieren. realisieren, wird mit der geschwindigkeitsabhängigen
7.4 Fahrwerkauslegung 605

Druck p (bar) Abschließend sei noch erwähnt, dass die bei manuel-
100 len Lenkgetrieben angesprochene variable Lenkge-

0 km/h

m/h

/h
triebeübersetzung natürlich auch bei Servolenkungen

km
10 k
80 wendung findet, jedoch hier mit umgekehrter Zielrich-

20

/h
tung. Während bei manuellen Lenkgetrieben die Über-

km
30
60 /h setzung zu den Endanschlägen hin indirekter wird, um
km die Parkierkräfte zu reduzieren, wird bei Servolenkun-
50 h
40 m/ gen die Lenkungsgesamtübersetzung bei größeren
80k
h
Lenkeinschlägen direkter, weil hier wegen der Ser-
20 km/ vounterstützung nicht auf niedrige Parkierkräfte geach-
120
m/h tet werden muss. Dadurch lassen sich sehr kleine Werte
5 200 k
für die Anzahl Lenkradumdrehungen von Anschlag zu
6 4 2 0 2 4 6 8
Anschlag erreichen (ca. 3 Umdrehungen), welche ein
Betätigungsmoment (Nm)
optimales Fahrzeughandling beim Parkieren und bei
Bild 7.4-54 Servotronic-Ventilkennlinien-Diagramm Wendemanövern ermöglichen.
(Quelle: ZF) Über Jahrzehnte hat sich die beschriebene Hydrolen-
kung mit „offener Mitte“ (Open-Center) zur bewähr-
Servolenkung geboten. Fa. ZF entwickelte dafür die ten und funktional perfekt ausgereiften Standard-
elektronisch gesteuerte „Servotronic“. lösung für Kraftfahrzeuge entwickelt. Infolge der
Sie arbeitet rein geschwindigkeitsabhängig, d.h., nur mechanischen Kopplung der Hydraulikversorgung an
die vom elektronischen Tachometer angezeigte Fahr- den Antriebsmotor ergeben sich jedoch Nachteile,
geschwindigkeit steuert die Leichtgängigkeit der insbesondere hinsichtlich des Leistungsbedarfs. Diese
Lenkung, unabhängig von der jeweiligen Motordreh- konnten bis heute nicht vollständig behoben werden,
zahl. Ein Mikroprozessor wertet die Geschwindig- auch wenn inzwischen durch Einsatz von bedarfsori-
keitssignale aus und bestimmt die Größe der hydrau- entiert ansteuerbaren bzw. geregelten Energiespar-
lischen Rückwirkung und damit die Betätigungskraft pumpen die Verlustleistung des Hydrauliksystems
am Lenkrad. Diese Größe wird in Form elektrischer deutlich reduziert werden kann [11].
Impulse über einen elektro-hydraulischen Wandler Eine bezüglich Wirkungsgrad optimale Lösung wäre
auf das Drehschieberventil der Lenkung übertragen, durch den konzeptionellen Umstieg vom hydrauli-
wobei sich die hydraulische Rückwirkung im Ver- schen Open-Center- auf ein Closed-Center-Prinzip
hältnis zur Fahrgeschwindigkeit ändert. Die spezielle möglich, bei dem im Ruhezustand kein Volumen-
Auslegung der Lenkungscharakteristik, Bild 7.4-54, strom und damit auch keine Verlustleistung erzeugt
bewirkt, dass im Parkierbereich und beim Lenken im wird [12]. Einem Serieneinsatz in absehbarer Zukunft
Stand nur minimale Kräfte am Lenkrad aufzubringen stehen aber die hohe Komplexität eines solchen
sind, während sich mit zunehmender Geschwindig- Systems und noch viele ungeklärte Fragestellungen
keit fast das Gefühl einer mechanischen Lenkung entgegen.
einstellt. Somit wird bei hohen Geschwindigkeiten
exaktes, zielgenaues Lenken ermöglicht. Dabei ist Elektrohydraulische Lenkunterstützung
jedoch zu bemerken, dass Öldruck und Volumenstrom Eine spezielle Ausführung der hydraulischen Lenkun-
zu keinem Zeitpunkt reduziert werden und deshalb in terstützung ist die elektrohydraulische Unterstützung.
Notsituationen, z.B. bei schnellen Lenkkorrekturen Hier wird die Ölpumpe (Flügelzellen-, Rollenzellen-
Lenkraddrehgeschwindigkeiten bis 800°/s ohne Ein- oder Zahnradpumpe) nicht vom Fahrzeugmotor ange-
bruch in der Servofunktion sicherstellen. Durch diese trieben, sondern von einem Elektromotor. Die Einzel-
Eigenschaften wird eine außerordentlich hohe Lenk- komponenten E-Motor, Ölpumpe, Ölbehälter und
präzision und Sicherheit bei gleichzeitig bestem Lenk- Elektronikeinheit können zu einer kompakten Einheit,
komfort erreicht und damit der Zielkonflikt zwischen dem sog. Powerpack, zusammengefasst werden,
niederen Parkierkräften und Lenkpräzision bei hohen Bild 7.4-55. Das Servolenkgetriebe bleibt weitgehend
Geschwindigkeiten weitgehend gelöst. unverändert (bis auf Ventilkennlinienanpassung).

Bild 7.4-55 Zahnstangen-


Lenkgetriebe mit elektrohyd-
raulischer Unterstützungs-
einheit: „Powerpack“
(Quelle: TRW)
606 7 Fahrwerk

a)

c)
b)
Bild 7.4-56 ZF-Servolectric,
Ausführungsmöglichkeiten
(Quelle: ZF)

Die Vorteile eines solchen Powerpacks liegen einer- 2. Zusatzfunktionen: Im Gegensatz zur Hydrolen-
seits in der Kompaktheit des Aggregats, das ggf. eine kung, bei der die Lenkmomentencharakteristik nur
Vormontage des Lenksystems ermöglicht. Anderer- durch körperliche Modifikationen bzw. Ergänzung
seits bietet die elektrohydraulische Lenkung natürlich von Komponenten (Lenkventil, Servotronic-Stel-
die Möglichkeit, bei abgeschaltetem (z.B. im Schub- ler) beeinflusst werden kann, geschieht dies bei
betrieb, vor Ampeln oder Bahnübergängen) oder auch der EPS über die Software. So kann z.B. die Un-
ausgefallenem Fahrzeugmotor weiterhin eine Len- terstützungskraft geschwindigkeits- oder auch
kungsunterstützung zur Verfügung zu haben. lenkwinkelabhängig geregelt werden. Damit kann
Der E-Motor lässt sich bedarfsgerecht ansteuern, so- auch dem Fahrer die Möglichkeit gegeben wer-
dass die Pumpe nur beim Lenken betrieben werden den, per Knopfdruck zwischen unterschiedlichen
muss. Dadurch ist ein geringerer Energieverbrauch und Lenkungscharakteristiken zu wählen.
damit eine Kraftstoffeinsparung möglich. Die bei der 3. Einfache Abstimmbarkeit: Diese Tatsache
hydraulischen Lenkunterstützung mit relativ hohen erleichtert natürlich auch die Entwicklungsarbeit.
Mehrkosten realisierte geschwindigkeitsabhängige Len- Der „Hardware-Aufwand“ bei der Lenkungs-
kung lässt sich durch elektronische Steuerung des E- Abstimmung für ein bestimmtes Fahrzeug kann
Motors relativ einfach und kostengünstiger realisieren. dadurch deutlich reduziert werden.
Nachteilig bei dieser Ausführung sind die derzeit 4. „Enabler-Funktion“: Für die Realisierung von
noch höher als bei einer konventionellen Hydrolen- Fahrerassistenzsystemen, die ein automatisches
kung liegenden Systemkosten und das durch den Fahren - z.B. beim Einparken - ermöglichen, bie-
zusätzlichen E-Motor bedingte Mehrgewicht, welches tet die elektrische Lenkung die besten Vorausset-
durch den Entfall der Saug- und Rücklaufleitungen zungen, da die hierfür erforderliche Aktuatorik
nur zum Teil kompensiert werden kann. Zudem ist (im Gegensatz zur Hydrolenkung) bereits mit der
der Einsatz der elektrohydraulischen Lenkung auf- Basislenkung zur Verfügung steht. Damit eröffnet
grund der erreichbaren Leistung derzeit noch nicht in die EPS auch prinzipiell die Möglichkeit zur Ver-
Fahrzeugen mit höherer Vorderachslast möglich. wirklichung von sog. „steer by wire“-Systemen,
Elektrische Lenkunterstützung bei denen die mechanische Verbindung zwischen
Bedienelement und gelenkten Rädern aufgehoben
Bei Personenkraftwagen kann die elektromechanische ist und die Umsetzung des fahrerseitigen Lenkbe-
Lenkung (Electric Power Steering) durchaus als die fehls nur noch auf elektronischem Weg erfolgt.
Lenkung der Zukunft betrachtet werden. Die wesent-
lichen Gründe hierfür sind: Bei den elektromechanischen Lenksystemen wird die
1. Optimaler Wirkungsgrad: Von allen heute erforderliche Lenkkraftunterstützung direkt von
bekannten Lösungen ist die EPS das Lenksystem einem E-Motor aufgebracht, der an verschiedenen
mit dem höchsten Wirkungsgrad. Im Gegensatz Stellen im Lenksystem angeordnet sein kann. Derzeit
zur herkömmlichen Hydrolenkung verbraucht sie kommen 4 Einbauorte in Betracht, die jeweils unter-
nur dann Energie, wenn dem System tatsächlich schiedliche Vor- und Nachteile haben:
Lenkleistung abgefordert wird. Damit liefert diese – Die Servoeinheit, bestehend aus E-Motor,
Lenkung einen nennenswerten Beitrag zur CO2- Schneckengetriebe, Elektronik und Sensorik ist in
bzw. Verbrauchsreduzierung der Fahrzeuge. die Lenksäule integriert, Bild 7.4-56a.
7.4 Fahrwerkauslegung 607

Vorteile: geringer Raumbedarf, Lenksäule und Der Einsatz elektrischer Lenksysteme ist natürlich
Servoeinheit einbaufertig montiert sehr stark von den Gegebenheiten des elektrischen
Nachteile: evtl. beim Crashverhalten; Geräusche, Bordnetzes abhängig. Das heute übliche 12 V-Bord-
wenn Servoeinheit im Fahrzeuginnen- netz wird in vielen Fällen – speziell im Oberklasse-
raum platziert ist; Unterstützungsmo- segment – für einen Einsatz der EPS nicht ausreichen.
ment geht über untere Lenkspindel, Zusätzliche Bordnetzmaßnahmen, die z.B. die Anhe-
deshalb nur für kleinere Fahrzeuge mit bung der am Aktuator verfügbaren Spannung bewir-
geringen Lenkkräften geeignet. ken, können hier jedoch Abhilfe schaffen.
– Die Servoeinheit wirkt auf das Ritzel, Bild 7.4-56b Generell lässt sich sagen, dass mit dem heutigen
Vorteile: Lenkgetriebe und Servoeinheit sind ein Stand der Elektrolenkungen aufgrund der begrenzten
Bauteil, die Unterstützungskraft wirkt Leistungsfähigkeit des 12 V-Bordnetzes noch keine
direkt auf das Ritzel, deshalb sind hö- Fahrzeuge der Oberklasse ausgerüstet werden kön-
here Lenkmomente möglich nen. Eine Umstellung auf ein Bordnetz mit höherer
Nachteile: größerer Platzbedarf im Motorraum, Spannung (z.B. 42 V) könnte hier einen deutlichen
höhere Temperatur-, Dichtheits- und Entwicklungsschub mit sich bringen (Kapitel 5.7).
Lebensdaueranforderungen bzgl. Ver- Der notwendige Engineering-Aufwand zur Errei-
schleiß chung des von der hydraulischen Lenkung her be-
– Eine Variante dieser Ausführung ist die Dop- kannten Lenkgefühls und die derzeit gegenüber einer
pelritzellösung, Bild 7.4-56c. Dabei sitzt beim konventionellen Hydrolenkung noch höheren Ge-
Linkslenkergetriebe die Servoeinheit an der Stelle, samtkosten stehen einer schnellen Verbreitung entge-
an der beim Rechtslenker die Lenksäule ans Lenk- gen. Andererseits bieten die Elektrolenkungen gegen-
getriebe montiert wird. Beim Rechtslenkerlenkge- über der elektrohydraulischen Lösung den Vorteil
triebe wird das Ganze spiegelbildlich ausgeführt. einer noch größeren Kraftstoffeinsparung durch
Vorteilhaft wirkt sich hier aus, dass üblicherweise bedarfsgerechte Regelung und eine hohe Wartungs-
der Platzbedarf für eine Rechtslenkerlenkgetriebe- freundlichkeit, da Ölstands- und Dichtheitskontrollen
variante vorgehalten ist, der dann für die Servo- wie bei Hydrolenkungen entfallen. Die Elektro-
einheit des Linkslenkers genutzt werden kann. lenkung bietet schnelle und vielfältige Variations-
Nachteilig sind die Kostenmehrung und evtl. möglichkeiten bezüglich der Lenkungsabstimmung
Toleranzprobleme durch die erforderlich werden- durch Softwareanpassungen statt durch Hardware-
den doppelten Ritzel und Zahnstangenverzahnun- änderungen. So kann z.B. die Unterstützungskraft
gen. geschwindigkeits-, last- oder auch lenkwinkelabhän-
– Die Servoeinheit wirkt direkt auf die Zahnstange. gig geregelt werden. Eine aktive Umschaltung der
Der E-Motor ist konzentrisch um die Zahnstange Lenkcharakteristik als Fahrerwunsch ist einfach über
oder achsparallel zu ihr angeordnet und überträgt die Software umsetzbar.
sein Moment mittels eines Reduktionsgetriebes, Die Elektrolenkung stellt weiterhin die bevorzugte
z.B. bestehend aus Zahnriemen und Kugelumlauf- Grundlage für zukünftige Entwicklungen hinsichtlich
getriebe. der Vernetzung von Regelsystemen dar.
Vorteil: Die Unterstützungskraft wird direkt an
der Stelle erzeugt, an der sie auch be-
nötigt wird. Damit sind auch höhere Literatur
Zahnstangenkräfte zu realisieren.
Nachteil: höherer Aufwand durch zusätzliches Ge- [1] Duminy, J.: Contribution of modern steering systems to improve
driving stability, 3. EAEC-Konferenz, Straßburg, 1991
triebe, höhere Temperatur- und Dicht- [2] Junker, H.: Moderne Lenkungstechnologie. Von den Anforde-
heitsanforderungen, Engstelle zu Öl- rungen zur technischen Realisierung, Automobil-Industrie, Heft
wanne oder Vorderachsträger. 4/90, S. 379 – 389
[3] Stoll, H.: Fahrwerktechnik: Lenkanlagen und Hilfskraftlenkun-
gen. Herausgeber Jörnsen Reimpell, 1. Auflage 1992, Vogel
Kugelgewindetrieb Buchverlag
[4] ZF-Kugelmutter-Hydrolenkungen für Pkw und leichte Nutzfahr-
Drehmomentsensor
zeuge. Veröffentlichung aus dem Geschäftsbereich Lenkungs-
technik der ZF Friedrichshafen AG, 1995
[5] Müller, S.: Zukünftige verbrauchsarme Servolenkungen für voll-
Zahnriemenantrieb ständige Steer-By-Wire-Funktionalität, ATZ 4/2004
[6] ZF-OCE-Lenksystem, Elektrohydraulisches Lenksystem für Pkw
und Transporter. Veröffentlichung aus dem Geschäftsbereich
Elektromotor Lenkungstechnik der ZF Friedrichshafen AG, 1997
Steuergerät [7] ZF-Servolectric, die elektrische Servolenkung. Veröffentlichung
aus dem Geschäftsbereich Lenkungstechnik der ZF Friedrichsha-
fen AG, 1998
[8] Ruck, G., ZFLS; Dominke, P., Robert Bosch GmbH: Electric
Bild 7.4-57 EPS mit achsparallelem Antrieb für die Power Steering – The First Step on the Way to “Steer-by-Wire”
BMW 1er- und 3er-Reihe der Fa. ZFLS [15] SAE 1999-01-0401
608 7 Fahrwerk

[9] Harnett, Philip: Objective Methods for the Assessment of Pas- Aktive Vorderachslenksysteme, die einen Lenkwin-
senger Car Steering Quality VDI Fortschritt – Berichte Reihe 12/
kel an den Vorderrädern ermöglichen, der von dem
Nr. 506
[10] Poestgens, Ulrich: Servolenksysteme für Pkw und Nutzfahr- vom Fahrer vorgegebenen Lenkradwinkel deutlich
zeuge Verlag Moderne Industrie, 2001 abweichen kann, wurden sehr früh für Forschungs-
[11] Bootz, A. et al.: Evolutionäre Energiesparkonzepte für die Hy- zwecke realisiert [1, 2]. Die Idee wurde jedoch für
drauliklenkung im PKW 5. Internationale Fluid Power Konfe-
renz Aachen, 2006
einen möglichen Einsatz in Serienfahrzeugen erst ab
[12] Müller, S. et al.: Analysis of a Closed-Center Hydraulic-Steer- Mitte der neunziger Jahre von Fahrzeugherstellern
ing-System for Full Steer-by-wire-functionality and low fuel und Zulieferern wieder aufgegriffen [3, 4], zur Se-
consumption. Proceedings of The Ninth Scandinavian Interna- rienreife entwickelt [5] und in 2003 von BMW erst-
tional Conference on FluidPower, SICFP05, June 1 – 3, Linkö-
ping, Schweden, 2005
mals in Serie gebracht. Seit dem Jahr 2007 bietet
[13] Brunschweiler, D.: Moderne Lenksysteme, ATZ 2/2005, auch AUDI mit der Dynamiklenkung im A4 ein
S. 104 – 109 aktives Lenksystem an [18]. Neben den fahrdynami-
[14] Harrer, M.; Schmitt, T.; Fleck R.: Elektromechanische Lenksys- schen Eingriffen des aktiven Lenksystems ist die
teme – Herausforderungen und Entwicklungstrends. 15. Aache-
ner Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik, 2005
signifikante Reduzierung des Lenkradwinkelbereichs
[15] Debusmann, C; Budaker, M.: Ein elektromechanisches Lenksys- – und damit der vom Fahrer während des Parkierens
tem der oberen Leistungsklasse am Beispiel der EPS-APA im aufzubringenden Lenkarbeit – ein maßgeblicher Fak-
3er-BMW. PKW-Lenksysteme – Vorbereitung auf die Technik tor, weshalb sich aktive Vorderradlenkungen im
von morgen, Haus der Technik, 24./25. 04. 2007
Markt etablieren.
Mit der aktiven Winkelüberlagerung, die einen un-
mittelbaren Eingriff in das Fahrgeschehen darstellt,
hat nach der Längsdynamik auch in der Querdynamik
die elektronische Regelung zur Verbesserung des
Fahrverhaltens vollends Einzug gehalten. Dies kann
7.4.6 Aktive Lenksysteme als ein wesentlicher Schritt hin zu einer höheren
Automatisierungsebene des Gesamtfahrzeugs ange-
7.4.6.1 Einleitung
sehen werden, d.h. die Voraussetzungen für ein
In Kapitel 7.1 wurden die verschiedenen Mechanis- automatisiertes oder auch teilautonomes Fahren sind
men des Aufbaus der Reifenseitenkräfte diskutiert somit auf der Seite der Aktuatorik geschaffen.
und die Möglichkeit dargestellt, diese Kräfte durch Im gleichen Zusammenhang sind sogenannte Spur-
Radlenkwinkeländerungen, die von einem Fahrdy- haltesysteme [6], zu nennen, welche durch aktive
namikregler berechnet werden, zu beeinflussen. Im Lenkradmomente das Einhalten der Fahrspur unter-
Gegensatz zu den konstruktiv vorgegebenen kinema- stützen und bereits Marktverbreitung gefunden haben.
tischen und elastischen Lenkwinkelkorrekturen wir- Die hierfür erforderliche Aktuatorik wurde mit den
ken diese nicht reaktiv als Folge von äußeren Kräften elektrischen Lenksystemen flächendeckend einge-
und Momenten, sondern aktiv und können als Funk- führt.
tion von mehreren fahrdynamischen Zustandsgrößen Neben grundsätzlichen Entwicklungszielen wie der
dargestellt werden. Auf diese Weise sind Regelungs- Reduzierung von Gewicht, Kosten und Energiebedarf
strategien möglich, die das querdynamische Verhal- sowie der Sicherstellung von Verfügbarkeit und
ten bis zu den physikalisch Grenzen deutlich optimie- funktionaler Sicherheit ist es eine der Hauptaufga-
ren. ben für den Entwickler, die aktiven Eingriffe des
Sieht man von einzelnen Weiterentwicklungen der Lenksystems so zu gestalten, dass sie vom Fahrer ent-
konventionellen Servolenkung ab, die der Kategorie weder nicht bemerkt oder als positiv empfunden
der Aktiven Lenksysteme zugeordnet werden können werden. Die Lenkung muss daher stets eine der
(Kapitel 7.4.6.2.1), waren es zunächst fahrdynami- Fahrererwartung entsprechende Rückmeldung und
sche Lenksysteme für die Hinterachse, die den Be- Fahrzeugreaktion auf eine Lenkwinkeleingabe ge-
ginn der Entwicklung aktiver Lenksysteme in den währleisten.
vergangenen zwei Jahrzehnten begründeten. Treiber Die gesetzlichen Vorschriften für Lenksysteme wur-
dieser Entwicklung war die Erkenntnis, dass durch den in Europa angepasst, so dass auch nachfolgend
die Beeinflussung des zeitlichen Aufbaus der Seiten- beschriebene by-wire-Lenksysteme zulassungsfähig
kräfte an der Hinterachse und durch die Reduzierung sind. Die europäische Vorschrift ECE R79 [19] stellt
des Fahrzeugschwimmwinkels bereits mit einer die konkreteste gesetzliche Vorgabe dar, die in vielen
Steuerung ohne Rückführung von fahrdynamischen Ländern anerkannt wird. Die Zulassungsfähigkeit
Zustandsgrößen oder sogar mit einer einfachen me- alleine ist allerdings kein ausreichendes Kriterium,
chanischen Ankoppelung der Hinterradlenkung an die auch Risiken der Produkthaftung sind im Zusammen-
Vorderradlenkung, gleichsinniges Einschlagen der hang mit aktiven Lenksystemen stets zu prüfen. Als
Hinterräder wie die Vorderräder, eine Verbesserung verbindlicher Sicherheitsstandard – auch für aktive
des instationären Fahrverhaltens bei höheren Ge- Lenksysteme – kann auf die Norm ISO/DIS 26262
schwindigkeiten erzielt werden konnte. [20] verwiesen werden, wo die Anforderungen an die
7.4 Fahrwerkauslegung 609

E/E-Regelsysteme in Straßenfahrzeugen beschrieben Lenkrad oder mit gerichteten Lenkmomenten vor


werden. dem Verlassen der Fahrspur und sind heute schon
in Serie.
7.4.6.2 Aktive Vorderradlenkungen
7.4.6.2.2 Lenkungen mit aktiv veränderlicher
Ursprünglich unter dem Begriff „steer by wire“ ge-
Übersetzung
rieten aktive Vorderradlenkungen ab Mitte der neun-
ziger Jahre verstärkt in den Focus der Entwicklungs- Unter diesen Begriff fallen Lenkungen, bei denen die
arbeit. Oft wird unter dem Begriff „steer by wire“ mechanische Übersetzung zwischen dem Lenkrad
nicht das Aufbrechen der mechanischen Verbindung und den Vorderrädern über einen Verstellmechanis-
zwischen Lenkrad und Rädern mit Hilfe einer elekt- mus verändert werden kann. Honda brachte im Jahr
ronischen Regelung verstanden, sondern der spezifi- 2000 eine derartige Lenkung auf den Markt [9]. Das
sche Lösungsansatz mit elektromechanischen Aktua- Konzept der einfachen Übersetzungsänderung hat
toren. Diese restriktive Interpretation steht jedoch im sich jedoch nicht im Markt durchgesetzt.
Widerspruch zum in der Luftfahrt üblichen Sprach-
gebrauch wo keine Einschränkungen bezüglich der 7.4.6.2.3 Überlagerungslenkungen
Art der Aktuatoren bestehen. Aus diesem Grund wird Überlagerungslenkungen sind dadurch charakterisiert,
hier der allgemeinere Begriff „aktive Vorderradlen- dass dem vom Fahrer vorgegebenen Lenkradwinkel
kung“ vorgezogen, der alle aktiven Lenksysteme ein zusätzlicher Lenkwinkel durch einen Aktuator
beinhaltet, die zur Verbesserung des Zusammenspiels überlagert werden kann. Der zusätzliche Winkel wird
Fahrer/Fahrzeug eingesetzt werden können. durch eine Berechnungsvorschrift vorgegeben und
Im Folgenden werden die bekannten Lösungsansätze dient der Erhöhung von Agilität und Stabilität des
für aktive Vorderradlenkungen nach ihrer Funktion Fahrzeugs sowie zur Kompensation von Störgrößen
klassifiziert. wie z.B. dem destabilisierenden Giermoment bei
einer μ-Split-Bremsung. Darüber hinaus kann der
7.4.6.2.1 Aktive Servolenkungen
Gradient des Radlenkwinkels über dem Lenkradwin-
Charakteristisch für diese Lenksysteme ist die Über- kel z.B. als Funktion der Fahrgeschwindigkeit und
lagerung des vom Fahrer aufgebrachten Momentes des Lenkradwinkels variabel gestaltet werden. Ge-
am Lenkrad mit einem geregelten Moment, das eine genüber der oben beschriebenen Lösung von Honda
Funktion zusätzlicher fahrdynamischer Zustandsgrö- mit einer effektiven Veränderung der mechanischen
ßen ist. Es kann die Aktion des Fahrers, situativ durch Übersetzung bietet das Überlagerungsprinzip insbe-
einen Regler moduliert, mehr oder weniger stark sondere den Vorteil, dass sich das Lenkkraftniveau
unterstützen, dem Fahrer entgegenwirken oder unab- nahezu unabhängig von der wahrgenommenen (Win-
hängig vom Fahrer die Lenkbewegung kontrollieren. kel-)Übersetzung verhält. Wegen der Möglichkeit,
Eine wie bei heutigen Lenkungen übliche, weitge- eine eigene rechnergeregelte Lenkwinkelkomponente
hend feste geometrische Relation zwischen dem zu erzeugen, sind die Anforderungen an das Sicher-
Winkel am Lenkrad und dem Lenkwinkel an den heitskonzept jedoch höher. Da bei der Überlagerungs-
Rädern bleibt dabei erhalten. lenkung eine direkte mechanische Verbindung zwi-
Zu dieser Kategorie von Lenkungen zählen: schen Lenkrad und gelenkten Rädern besteht, bleibt
• Lenkungen mit variablen, z.B. geschwindigkeits- nach Ausfall des Aktuators die herkömmliche Lenk-
abhängigen Betätigungskräften. Hierzu zählen die funktion erhalten. Durch diese Eigenschaft sind die
meisten elektrischen Servolenkungen, da sich bei Sicherheitsanforderungen wesentlich leichter zu er-
ihnen diese Funktion ohne konstruktiven Mehr- füllen als bei den nachfolgend beschriebenen reinen
aufwand realisieren lässt. Auch hydraulische Len- „steer by wire“-Systemen. Eine weitere, in der Regel
kungen bieten diese Funktionalität, wozu aber ein positiv bewertete Eigenschaft ist die direkte mechani-
elektrohydraulischer Aktuator wie z.B. in der ZF sche Übertragung des Rückstellmomentes der Räder
Servotronic [21] benötigt wird. auf das Lenkrad. Der Aufwand für die Erzeugung
• Lenkungen mit Erkennung des Freihand-Modus eines vollständig synthetischen Rückstellmomentes,
und aktivem Lenkungsrücklauf sowie Bedämp- wie bei reinen „steer by wire“-Systemen, ist nicht
fung der Lenkrad/Fahrzeugschwingungen. Waren erforderlich.
diese Funktionen früher Gegenstand einer auf- Neben der Differenzierung durch die Regelstrategie
wändigen technischen Lösung (z.B. in Citroen- unterscheidet man die heute im Markt befindlichen
Fahrzeugen), so sind sie heute in elektrischen Überlagerungslenkungen durch folgende konstruktive
Lenksystemen einfach darstellbar [8]. Ausführungsformen:
• Lenkungen mit situativ wirkenden, angepassten • Überlagerung der Rotationsbewegung mit Hilfe
Momenten im Sinne einer Assistenz für den Fah- eines durch ein Schneckenrad angetriebenes Pla-
rer [6]. Solche Spurhaltesysteme warnen den Fah- netengetriebe am Lenkgetriebe (s. Bild 7.4-58).
rer z.B. durch ein hochfrequentes Vibrieren im Das Planetengetriebe weist ein Übersetzungsver-
610 7 Fahrwerk

Lenkrad

Lenkgetriebe

Bild 7.4-59 Wirkprinzip der aktiven Winkelüberla-


gerung mittels Planetengetriebe

siert, das in Bild 7.4-60 und in Bild 7.4-61 darge-


stellt ist.
Kernelemente des Überlagerungsgetriebes sind
das Hohlrad (CS), der darin angeordnete Flextopf
Bild 7.4-58 Überlagerungsgetriebe von BMW (Quelle:
(FS) und eine innenliegende elliptische Antriebs-
BMW)
welle (WG). Die Hochachse der Ellipse reicht aus,
um die Außenverzahnung des Flextopfes und die
hältnis von ca. 1 : 1,3 auf, d.h. die Drehung der Innenverzahnung des Hohlrades in Eingriff zu
Eingangswelle wird auf die Ritzelwelle des Lenk- bringen. Das Hohlrad weist eine geringfügig klei-
getriebes ins Schnelle übersetzt. Der Zusatzlenk- nere Zähnezahl als der Flextopf auf. Dreht nun die
winkel wird gestellt, indem das Schneckenrad Antriebswelle, so wälzt sich der Flextopf gegen-
durch den außenliegenden elektrischen Motor an- über dem Hohlrad ab und das Hohlrad dreht sich
getrieben wird. Diese Lösung, deren Wirkprinzip mit einer der Übersetzung entsprechenden gering-
Bild 7.4-59 zeigt, wird seit 2003 von BMW in fügig kleineren Drehzahl als der Flextopf. Im pas-
vielen Fahrzeugen angeboten. In Fahrzeugen mit siven Betrieb der Überlagerungslenkung ist der
Frontantriebsarchitektur ist jedoch der Bauraum mechanische Durchtrieb des Fahrers zur Straße
an der Vorderachse begrenzt, so dass ggf. alter- über dem ruhenden Verzahnungseingriff gewähr-
native Lösungskonzepte erforderlich sind. leistet. Im aktiven Betrieb wird zusätzlich die
• Überlagerung der Rotationsbewegung durch ein in elliptische Welle über einen Elektromotor ange-
der Lenksäule integriertes koaxial angeordnetes trieben, der Zahneingriff dreht sich mit der An-
Wellgetriebe [18]. Sowohl Toyota (seit 2003) als triebsdrehzahl und die Drehbewegung wird dem
auch Audi (seit 2007) haben dieses Konzept reali- Übersetzungsverhältnis entsprechend in einen Zu-

Locking mechanism Spiral cable


Rubber Coupling
DC Brush-less motor

Differential Mechanism

VGRS-Actuator

Bild 7.4-60 Überlagerungs-


Wave aktuator des Toyota Land
Driven Gear Generator Housing Cruiser Cygnus (Quelle:
Flexible Gear Stator Gear DC Brush-less motor
Toyota)
7.4 Fahrwerkauslegung 611

Bild 7.4-61 Wirkprinzip des Überlagerungsstellers mit Wellgetriebe [18]

satzlenkwinkel umgesetzt. Der Vorteil dieses Alle vorgestellten Konzepte haben den Vorteil, dass
Überlagerungsgetriebes ist die modulare Bauweise der vom Fahrer aufgegebene Lenkradwinkel in wei-
in der Lenksäule, die es erlaubt, das Lenkgetriebe ten Grenzen von einem elektronisch geregelten An-
für die Überlagerungslenkung und für eine Basis- trieb überlagert werden kann. Darüber hinaus sind die
lenkung in einem baugleichen Gehäuse unterzu- Aktuatoren nicht im Kraftfluss zwischen Lenkunter-
bringen. stützung und Achse, so dass eine Überlagerung des
• Überlagerung einer Rotationsbewegung durch ein Fahrerlenkwinkels lediglich die Fahrereingabe und
Schneckenradgetriebe im Lenkrad: Dieses Kon- nicht die Lenkkräfte an der Vorderachse abstützen
zept der Fa. Takata [15] zeigt Bild 7.4-62. muss.
Wesentliches Merkmal des Systems ist das im Vergleicht man die Ausführungsformen von Überla-
Lenkrad angeordnete mitdrehende Schneckenrad- gerungslenkungen, so sind die beiden letztgenannten
getriebe, das gegenüber der Karosseriestruktur Konzepte aufgrund ihrer Modularität vorteilhaft. Das
nicht abgestützt werden muss. Der Vorteil dieses erstgenannte Konzept von BMW bietet den Vorteil
Getriebes ist der sehr einfache Aufbau. Die He- der kompakten Bauweise in einem Teilsystem Lenk-
rausforderung besteht in der Übertragung der getriebe.
elektrischen Stellerleistung über die drehbare Bezüglich der Möglichkeit, mittels eines Reglers
Schnittstelle zwischen Lenkrad und Lenksäule. einen von der Vorgabe des Fahrers unabhängigen
Radlenkwinkel zu stellen, unterscheiden sich die
Aktiven Lenksysteme nach dem Überlagerungsprin-
zip nur insoweit von den im Kapitel 7.4.6.2.5 behan-
delten „steer by wire“-Lenksystemen, als dass die an
den Rädern wirkenden Lenkmomente auf das Lenk-
rad übertragen werden.
7.4.6.2.4 Integration von Überlagerungslenkung
und geregelter Servolenkung
Der integrierte Betrieb einer Überlagerungslenkung
und einer regelbaren Servolenkung ermöglicht, beide
Zustandsgrößen einer Lenkung, die Winkelzuordnung
zwischen Lenkrad und Rädern sowie das Lenkrad-
moment, mit Hilfe eines Reglers in einem weiten
Bereich frei zu gestalten. Die vielfältigsten Freiheits-
grade bietet dabei eine elektrische Servolenkung in
Verbindung mit einer Überlagerungseinheit, da diese
im Unterschied zu den üblichen Bauformen der
hydraulischen Servolenkung in allen vier Quadranten
der durch Lenkmoment und Lenkradbewegung auf-
Bild 7.4-62 Lenkrad mit Überlagerungssteller (Quelle: gespannten Ebene auf die Fahrerrückmeldung ein-
Takata) wirken kann.
612 7 Fahrwerk

Theoretisch ist es sogar möglich, die aus Stellbe- sucht. Zu beachten sind die beim Kraftfahrzeug auf-
wegungen der Überlagerungseinheit resultierenden tretenden Störungen durch die Massenträgheit der
Lenkmomentanteile durch entsprechendes Ansteuern Arme und des gesamten Körpers als Folge der sehr
der elektrischen Lenkunterstützungseinheit zu kom- schnellen Änderung von Längs- und Querbeschleuni-
pensieren – und damit die vollständige steer-by-wire- gung. Aus diesem Grund wurde in [11] die Verwen-
Funktionalität zu erreichen. Tatsächlich ist dies eine dung eines hydraulisch bedämpften, auf Störkräfte
sehr anspruchsvolle Regelungsaufgabe, die die ge- unempfindlichen Drehknaufs einem „side stick“ vor-
naue Kenntnis der Regelstrecke zwischen den beiden gezogen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass das
Aktuatoren voraussetzt. Die heute mit denen im Lenkrad den Lenkhebel der ersten historischen Au-
Markt befindlichen aktiven Lenksystemen angebote- tomobile verdrängt hat, da es eine sinnvolle ergono-
nen Zusatzfunktionen erfordern diese aufwändige mische Alternative darstellte, um den Weg der durch
Mehrgrößenregelung nicht zwingend. den Fahrer ausgeübten Handkraft wesentlich über den
Wichtige Zusatzfunktionen, die heute mit den aktiven des Lenkhebels hinaus vergrößern zu können. So
Lenksystemen angeboten werden sind die geschwin- konnte bei ausreichend niedrigen Betätigungskräften
digkeitsabhängige Lenkübersetzung und Lenkmo- lange Zeit die erforderliche Lenkarbeit auch ohne
mentregelung sowie stabilisierende Lenkeingriffe zur Servosystem erbracht werden.
Beeinflussung der Gesamtfahrzeugdynamik. Diese Möglichkeit, die das Lenkrad bietet, hat einen
Zukünftig können mit der Weiterentwicklung von wichtigen Einfluss auf die Sicherheitsarchitektur von
Fahrerassistenzsystemen auch aktive Lenkeingriffe „steer by wire“-Systemen. Um den Sicherheitsanfor-
zur Störungskompensation, für automatisiertes oder derungen zu genügen, muss ein „fail functional“-
gar autonomes Fahren genutzt werden. Verhalten sichergestellt sein, das bis zu zwei Fehler
Als wesentlicher funktionaler Unterschied zu den im toleriert. Auch nach Auftreten des ersten Fehlers
folgenden Kapitel abgehandelten „steer by wire“- muss ein sicheres Weiterfahren gewährleistet sein.
Systemen bleibt bei der „Aktivlenkung“ die direkte Diese Anforderung, die auch eine zweifach redun-
mechanische Verbindung zu den Vorderrädern auch dante Energieversorgung erfordert, belastet Kosten,
im Normalbetrieb bestehen. Durch dieses Merkmal Gewicht, Bauraumbedarf, Komplexität und Verfüg-
wird ein „authentisches“ Lenkgefühl mit feinfühliger barkeit.
Rückmeldung des Fahrbahnzustandes gewährleistet, Bei Verwendung einer per se als sicher geltenden
wichtige Aspekte hierzu siehe [25]. Die direkte me- mechanischen oder hydraulischen Rückfallebene
chanische Verbindung stellt gleichzeitig eine mecha- reicht eine einfache Ausführung der Aktuatorik des
nische Rückfallebene dar, wodurch das Sicherheits- Lenksystems ausreichen, um den Sicherheitsanforde-
konzept vereinfacht wird. rungen zu genügen.
Die Anforderungen an Lenksysteme sind in der
7.4.6.2.5 „Steer by wire“-Lenksysteme ECE R79 [19] beschrieben. Die aktuelle Fassung
Bei den unter diesen Oberbegriff fallenden Systemen (Revision 2, 2006) schließt steer-by-wire-Systeme
ist keine direkte mechanische Verbindung zwischen grundsätzlich nicht aus. In allen Ländern, in denen
dem Lenkrad und den gelenkten Rädern im störungs- diese Regelung verbindlich anzuwenden ist, kann
freien Betrieb vorhanden und der Lenkwinkel der daher von einer Zulassungsfähigkeit ausgegangen
Räder wird mittels eines geregelten hydraulischen werden, wobei dies im Einzelfall natürlich zu prüfen
oder elektrischen Stellers erzeugt. Wie bei der Über- verbleibt.
lagerungslenkung ist der feste kinematische Zusam- Eine Differenzierung der verschiedenen Systeme lässt
menhang zwischen Lenkradwinkel und Radlenkwin- sich bei „steer by wire“-Lenkungen nach folgenden
kel aufgehoben. Darüber hinaus erfolgt keine un- Merkmalen durchführen:
mittelbare Übertragung des Rückstellmomentes der • Gemeinsamer Steller für beide Räder einer Achse
Räder, so dass das Lenkradmoment aktiv eingestellt oder radindividuelle Lenkung. Letzteres erscheint
werden muss und sich die Möglichkeit ergibt, das wegen des hohen Aufwandes nur in Sonderfällen
Lenkmoment rein nach ergonomischen und physio- vertretbar.
psychologischen Gesichtspunkten zu gestalten, wie • Elektromechanische, Bild 7.4-63, oder hydrostati-
sie z.B. durch [26] beschrieben werden. Diese Frei- sche Aktuatoren, Bild 7.4-64.
heit wird allerdings mit der Notwendigkeit eines • Vorhandensein und Ausführung einer manuellen
aktiven Lenkmomentenstellers mit der dazugehören- Rückfallebene. Ein Beispiel für eine mechanische
den Regelung erkauft. Rückfallebene mit Kupplung ist in Bild 7.4-64
Dient das Lenkrad nicht mehr dazu, zumindest einen schematisch dargestellt.
Teil der vom Fahrer aufzubringenden Lenkarbeit in • Steuerungs- und Regelungsalgorithmen für die
das Lenkungssystem einzuspeisen, kommen auch Übertragungsfunktionen von Winkeln und Mo-
andere Formen von Betätigungsorganen in Frage. So menten zwischen Lenkrad und Vorderrädern.
wurde in [10] die Übertragbarkeit der vom Flugzeug • Strategie der Stabilisierungs- und Störgrößenaus-
her bekannten Betätigungen auf das Automobil unter- regelungsfunktionen.
7.4 Fahrwerkauslegung 613

• Lenkradrückstellmomenten-Strategien sowohl im
2
Hinblick auf die Leistungsoptimierung des Sys-
30 tems Fahrer/Fahrzeug/Umfeld als auch auf eine
32
3 positive subjektive Bewertung durch den Fahrer.
Bisherige Bestrebungen, Steer-by-wire-Systeme in
3b
Strom- 33 Serie zu bringen, sind an den Kosten und der Beherr-
sensor schung der Komplexität gescheitert.
31
3a
7.4.6.3 Aktive Hinterradlenkungen
Antriebsschaltung
Aktive Hinterradlenksysteme bieten die Möglichkeit
4 sowohl die Größe des Schwimmwinkels als auch den
zeitlichen Verlauf des Aufbaus der Seitenkräfte an
6 Lenksteuer-
einheit der Hinterachse unmittelbar beeinflussen zu können.
Fahrzeuggeschwin- Ihr Potential kann jedoch nur in Verbindung mit einer
digkeitssensor
Überlagerungslenkung oder einer „by wire“-Lenkung
an der Vorderachse voll ausgeschöpft werden. Hier-
5a für gibt es mehrere Gründe:
Antriebsschaltung
• Der Einschlagwinkel der Hinterräder beeinflusst
den Einschlagwinkelbedarf der Vorderräder.
16 • Eine rechnergesteuerte Lenkung an der Vorderach-
15
se und an der Hinterachse ermöglicht die Freiheits-
grade Querbewegung und Gieren des Fahrzeugs
10
12
13 11 14 11 13 12 weitgehend unabhängig voneinander zu regeln.
5
1
10
• Die Hinterradlenkung ermöglicht eine vorbeugen-
de Stabilitätsregelung, während eine aktive Vor-
Bild 7.4-63 Prinzipdarstellung eines elektromechani- derradlenkung auch zur Gierstabilität beiträgt,
schen Lenksystems mit elektrischem Lenkmomenten- wenn die Hinterachse bereits in der Sättigung ist.
simulator [Koyo Seiko, DE 19806458 A1] Da für die Verbesserung der Fahrdynamik nur ein
relativ geringer Radeinschlagwinkel (2 – 3°) erforder-
lich ist und die Reduzierung des Schwimmwinkels
1 1 zur Agilitäts- und Stabilitätserhöhung auch ohne
Gierratenregelung möglich ist, werden fahrdynami-
2 2
sche Hinterradlenksysteme bereits seit längerem von
21 20 einigen Fahrzeugherstellern angeboten. Das hohe
Potenzial bei der Verringerung des Wendekreises
3 3
bei Fahrzeugen mit langem Radstand wie „mobile
15 4
16 homes“ und „light trucks“ hat zur Verstärkung der
Aktivitäten bei der Hinterradlenkung geführt. Der
19 durch den großen Einschlagwinkel der Hinterräder
23
5
benötigte Raumbedarf ist bei diesen Fahrzeugen nicht
so entscheidend wie bei üblichen Automobilen.
Vom Sicherheitsaspekt her sind aktive Hinterradlen-
14 kungen ähnlich zu bewerten wie Überlagerungslen-
6 kungen, da ein „fail silent“ Verhalten in der Regel als
17 18 ausreichend gesehen wird. Voraussetzung ist, dass die
13
Hinterräder in ihrer Position festgesetzt werden. Dies
12
7 kann bei hydraulischen Systemen vorzugsweise durch
22
11 vorgespannte Federn erfolgen [12]. Bei elektrome-
22 chanischen Aktuatoren bieten sich Getriebe mit
10 ausreichender Selbsthemmung an. Eine Rückführung
in Geradeaustellung ist bei Ausfall der Positionsrege-
9 lung oder der Energieversorgung nur mit kaum
vertretbarem Aufwand möglich.
Bild 7.4-64 Prinzipdarstellung eines elektrohydrauli- Die folgende Tabelle zeigt einen aktuellen Überblick
schen Lenksystems mit elektrischem Lenkmoment- der Allradlenksysteme, die in der jüngeren Vergan-
simulator und mechanischer manueller Rückfallebene genheit und aktuell von unterschiedlichen Herstellern
[DaimlerChrysler, Patentschrift DE 19755044 C1] angeboten wurden bzw. immer noch im Markt sind.
614 7 Fahrwerk

Tabelle 7.4-3 Übersicht aktiver Hinterachslenksysteme (Quelle: BMW)


Hersteller Bauweise Aufbau Funktionsziele Lenkwinkel [°] Fahrzeuge
Toyota mechanisch Verbindung zur WKR 4 Celica (1990),
Vorderradlenkung, Carina (1989)
Getriebe
elektro- Hydraulikpumpe, WKR 15 Mega Cruiser
hydraulisch Hydraulikventile, (1995),
Stellzylinder
elektro- Hydraulikpumpe, WKR, 5 Soarer (1991),
hydraulisch Hydraulikventile, FS (FDR) Crown (1992)
Stellzylinder
elektro- Elektromotor, FS (FDR) 2 Aristo (1997),
mechanisch Getriebe, Majesta (1997)
Spindeltrieb
Nissan hydraulisch Hydraulikpumpe, FS (VS) 1 Skyline (1985),
Hydraulikventile, Silvia (1988),
Stellzylinder 180SX (1989),
Fairlady Z (1989),
Cefiro (1992),
Laurel (1993)
elektro- Elektromotor, FS (FDR) 1 Skyline (1993),
mechanisch Getriebe, Silvia (1993),
Spindeltrieb Fairlady Z (1993),
Laurel (1997),
Cedric (1994),
Stagea (1998),
elektro- Elektromotor, FS (VS), ca. 1,5 Infinity FX50
mechanisch Getriebe, FS (FDR) (2008), G37
Spindeltrieb (2007), Stagea
(2002), Fuga
(2004)
Honda mechanisch Verbindung zur WKR 5 Prelude (1987),
Vorderradlenkung, Accord (1990)
Getriebe
elektro- Elektromotor, WKR, 8 Prelude (1991)
mechanisch Spindeltrieb FS (VS)
Mazda hydraulisch Hydraulikpumpe, FS (VS) 5 626 (1988),
Elektromotor, MX-6 (1987)
Getriebe
hydraulisch Hydraulikpumpe, FS (FDR) 7 Eunos800 (1992),
Elektromotor, RX-7 (1985)
Getriebe
Mitsubishi elektro- Hydraulikpumpe, FS (VS) 1,50 Galant (1988),
hydraulisch Hydraulikventile, Lancer/Eterna
Stellzylinder (1988),
GTO/3000GT
(1991)
elektro- Hydraulikpumpe, FS (VS) 0,8 Galant (1993),
hydraulisch Hydraulikventile, Emeraude (1994),
Stellzylinder Lancer/Eterna
(1994)
Subaru elektro- Elektromotor, FS (VS) 1,5 Alcyone (1991)
mechanisch Getriebe
7.4 Fahrwerkauslegung 615

Tabelle 7.4-3 (Fortsetzung)


Hersteller Bauweise Aufbau Funktionsziele Lenkwinkel [°] Fahrzeuge
Daihatsu mechanisch Verbindung zur WKR 7 Mira (1992)
Vorderradlenkung,
Getriebe
BMW elektro- Hydraulikpumpe, FS (VS) 1,7 850i, 850csi
hydraulisch Hydraulikventile, (ab 1990)
Stellzylinder
elektro- Elektromotor, WKR, FS (VS), 3 7er (2008),
mechanisch Spindeltrieb FS (FDR) 2,5 5er GT (2009),
5er (2010)
Renault elektro- Elektromotor, WKR, FS (VS), 3,5 Laguna GT (2008),
mechanisch Getriebe, FS (FDR) Laguna Coupe
Spindeltrieb (2008)
GM elektro- Elektromotor, WKR, FS (VS) 12 GMC Sierra
mechanisch Getriebe, (2002), Silverado
Spindeltrieb (2002)

7.4.6.3.1 Hinterradlenkungen ohne te an der Hinterachse bei instationären Fahrmanövern


fahrdynamische Regelung beeinflusst. Hierdurch erfolgt eine Verkürzung der
Ansprechzeit der Querbeschleunigung des Fahrzeugs
Erste Systeme (z.B. Honda 1987) begnügten sich mit auf Lenkwinkeländerungen bei gleichzeitiger Verrin-
einer mechanischen Ankopplung einer Hinterradlen- gerung des Schwimmwinkels und Erhöhung der
kung an die Lenkung der Vorderachse [13]. Streng Stabilität, da das Überschwingen der Giergeschwin-
genommen stellt diese nur eine spezielle Form der digkeit verringert wird.
schon lange bekannten Allradlenkungen für Sonder- Bei sehr niedriger Fahrgeschwindigkeit sollte die
fahrzeuge dar. Doch während letztere dazu dienen, Lenkbewegung der Hinterachse jedoch gegensinnig
den Wendekreis zu verringern und bei mehrachsigen zu den Vorderrädern erfolgen. Auf diese Weise wird
Fahrzeugen auch den Reifenverschleiß zu reduzieren, die Lenkbarkeit der Hinterachse auch zur Reduzie-
wurden mit dem erwähnten System von Honda be- rung des Wendekreises genutzt.
reits fahrdynamische Ziele verfolgt. In dem von Honda entwickelten System erfolgte die
Durch das gleichsinnige Einschlagen der Hinterräder Ansteuerung der Hinterachse noch durch eine Me-
zu den Vorderrädern wird der Aufbau der Seitenkräf- chanik, die mit zunehmendem Lenkradwinkel den

Steuergerät

Warnlampe Speicherladeeinheit

Dreikreispumpe

Stelleinheit

Tachogeber

Lenkradwinkelgeber
Raddrehzahlgeber

Bild 7.4-65 Hinteradlenkung BMW 850 CSI, 1990, Anordnung Gesamtsystem [22]
616 7 Fahrwerk

Übergang von einem gegensinnigen zu einem gleich- 7.4.6.3.2 Hinterradlenkungen mit


sinnigen Radeinschlag gewährleistet. Einen Fort- fahrdynamischer Regelung
schritt gegenüber mechanisch gekoppelten Systemen Eine Besonderheit stellt die in Bild 7.4-67 gezeigte
stellte die in Bild 7.4-65 gezeigte Ausführung einer Hinterradlenkung dar (Mitsubishi 1988), da sie eine
elektronisch geregelten hydromechanischen Hinter- rein hydromechanische Steuerung beinhaltet, bei der
radlenkung dar (BMW 1990). Der Hinterradlenkwin- jedoch der fahrdynamische Zustand über den in der
kel wird in diesem System mittels eines geschwin- Servolenkung aufgebauten Druck Berücksichtigung
digkeits- und lenkwinkelabhängigen Kennfeldes findet. Mit dem Druck in der Servolenkung an der
definiert [14]. Ein Zeitglied verzögert den Aufbau des Vorderachse wird ein hydraulisches Ventil der Hin-
Lenkwinkels an der Hinterachse, um das Fahrverhal- terradlenkung angesteuert, das die Richtung des
ten im unteren Geschwindigkeitsbereich agiler zu Lenkwinkels der Hinterachse in Richtung Untersteu-
gestalten. Da keine Rückführung von fahrdynami- ern sowie seinen Betrag bestimmt. Hierbei wird über
schen Zustandsgrößen erfolgt, stellt die BMW-Len- die Druckdifferenz im Servosystem sowohl die
kung bezüglich ihrer fahrdynamischen Funktion eine Lenkwinkelgeschwindigkeit als auch das Seitenkraft-
Steuerung dar. In Bild 7.4-66 ist die Auswirkung niveau an der Vorderachse erfasst. Eine von der
dieser aktiven Hinterradlenkung bei einem doppelten Hinterachse angetriebenen Pumpe versorgt mit einem
Fahrspurwechsel dargestellt. von der Fahrzeuggeschwindigkeit abhängigen Volu-
menstrom das Hydrauliksystem der Hinterradlen-
kung. Hierdurch wird die gewünschte Abhängigkeit
des Lenkwinkels der Hinterachse von der Fahrzeug-
100 geschwindigkeit erreicht.
Mit fortschreitender Entwicklung der Sensorik, insbe-
sondere des Gierratensensors, führten japanische
Lenkradwinkel

Hersteller in den 90er Jahren Hinterradlenkungen auf


(Grad)

dem japanischen Markt ein, die eine elektronische


fahrdynamische Regelung verwenden. Auf diese
100
1.0
HA-Lenkwinkel

Reservoir
(Grad)

Oil Pump

1.0
5.0
Steering
Schwimmwinkel b

Gear
and
Linkage
(Grad)

Power Steering
Pressure Steering
Wheel

Rear Steer Hydraulic


5.0 Pressure
500
Spool
Gierenergie

Control
(Nm)

Valve
Power
Cylinder

0
0.0 1.4 2.8 4.2 5.6 7.0
Zeit (s)

Bild 7.4-66 Beispiel eines doppelten Fahrspurwech- Rear Wheel


sels mit und ohne Hinterradlenkung. Die Reduzierung Steering Pump
von Lenkaufwand, Schwimmwinkel und Gierge-
schwindigkeit ist vor allem beim zweiten Fahrspur- Bild 7.4-67 Hinterradlenkung Mitsubishi (1988),
wechsel erkennbar [12] Prinzipdarstellung [23]
7.4 Fahrwerkauslegung 617

ker wird durch einen zentral angeordneten Linearan-


± 3°
trieb ausgelenkt, so dass ein Radeinschlag von bis zu
3° einstellbar ist.
Bild 7.4-69 zeigt eine schematische Darstellung des
Aktuator, der über einen bürstenlosen Hohlwellenmo-
tor und ein Kugelumlaufgetriebe eine lineare Stell-
bewegung einstellt.
7.4.6.4 Aktive geregelte Vorder- und
Hinterachslenksysteme
± 8 mm
Während in den 90er Jahren viele japanische Herstel-
ler Hinterachslenksysteme entwickelten, hat dieser
Bild 7.4-68 Hinterachse des BMW 5er (2010) mit Boom mittlerweile nachgelassen. Mit Nissan, Renault
aktivem Steller [17] und BMW setzen nunmehr drei Hersteller derzeit auf
den Einsatz solcher Systeme.
Weise werden auch Störungen von einem Regler BMW bietet dabei die aktive Hinterradlenkung aus-
ausgeregelt, der gezielt ein Sollverhalten einstellt. schließlich mit der aktiven Vorderachslenkung als
Eine Weiterentwicklung der Systeme der 90er Jahre Integral-Aktivlenkung an. Bild 7.4-70 zeigt die An-
stellt die von BMW im 7er (2008) eingeführte Hin- ordnung der beiden aktiven Lenksysteme an Vorder-
terachslenkung (HSR, Hinterachs-Schräglaufrege- und Hinterachse.
lung) dar, auf die im nächsten Kapitel noch näher Das Ziel dieser Anordnung ist die Zusammenführung
eingegangen wird. Bild 7.4-68 zeigt die Anordnung der positiven Eigenschaften beider Lenksysteme in
des Lenkaktuators an der Hinterachse. Der Spurlen- einem Fahrzeug. Beide Radlenkwinkel können nach

Bild 7.4-69 Darstellung des


Hinterachsaktuators am
BMW 5er (2010) [17]

AFS Active Front Steering


• Reduzierung der Lenkarbeit
• Stabilisierende Lenkeingriffe

IAS HA
Integral-
Aktivlenkung

Bild 7.4-70 Kombination


VA der Eigenschaften von
aktiver Vorderachs- und
Hinterachslenkung mit der
HSR Hinterachs-Schräglaufregelung Integral-Aktivlenkung im
• Reduzierung Wendekreis
• Hohe Fahrstabilität, gleichmäßiger Seitenkraftaufbau BMW 5er (2010)
(Quelle: BMW)
618 7 Fahrwerk

aber auch hervorgeht, dass der mit gleichem Lenk-


av = av^
radwinkel erzielte Kurvenradius gegenüber dem
av* konventionellen Fahrzeug größer ist. Das durch den
reduzierten Schwimmwinkelaufbau gewonnene Mehr
an Fahrstabilität muss mit einem stärkeren Lenkrad-
M ~ konventionelle Lenkung
M* ~ Allradlenkung einschlag erkauft werden.
M^ ~ Integral-Aktivlenkung Hier greift ein wesentlicher Gedanke der Integralak-
tivlenkung an. Durch ein aktives Zulenken an der
b^ Vorderachse kann der Zielkonflikt gelöst werden und
b*b
M bei gleichem Lenkradwinkel und gleichem Kurvenra-
M*
M^
dius ergibt sich ein Fahrverhalten mit deutlich redu-
ziertem Schwimmwinkel. Bild 7.4-72 zeigt dieses
S Verhalten über der Querbeschleunigung.
Ziel der Applikation des Fahrdynamikreglers für
stationäre Gierneutralität ist es, bei nahezu gleichem
Lenkwinkel und gleicher Gierrate einen deutlich
ah*
reduzierten Schwimmwinkel gegenüber einem Fahr-
zeug mit konventioneller Vorderachslenkung zu
erreichen. Der Schwimmwinkel des Fahrzeugs mit
ah = ah^
der Integral-Aktivlenkung weist einen um über 50 %
reduzierten Wert gegenüber dem konventionellen
Fahrzeug auf. Zudem verläuft der Anstieg über der
Querbeschleunigung gleichmäßiger, womit das Fahr-
Bild 7.4-71 Veränderung des Kurvenhalbmessers zeug signifikant besser beherrschbar ist.
und des Schwimmwinkels bei stationärer Kreisfahrt
mit unterschiedlichen Lenksystemen (gleichsinniges Literatur
Einschlagen der Hinterachse) [27] [1] Segel, L.: The Variable Stability Automobile – Vehicle Concept
and Design. SAE 650658
gewünschter fahrdynamischer Ausprägung frei einge- [2] Niemann, K. et al.: Entwicklungsmöglichkeiten an Lenksyste-
men für Kraftfahrzeuge und ihr Einfluß auf die Kurshaltung,
stellt werden. ATZ 82/1980, Heft 10, S. 525 – 532
Das Regelungsziel, das damit verfolgt werden soll, ist [3] Krämer, W.: Improved Driving Safety by Electronic Steering
th
die sog. stationäre Gierneutralität [17, 28]: Aus dem Assistance. EAEC 6 European Congress 1997
[4] Akita, T.; Yamazaki, M.; Kikkawa, T.; Yoshida, T.: User Benefits
stationären Verhalten eines Fahrzeugs mit Hinter-
of Active Front Steering Control System: Steer-By-Wire. ISATA
achslenkung geht hervor, dass bei gleichem Lenk- 1999
radwinkel (und damit Radlenkwinkel) der Schwimm- [5] Pauly, A.; Fleck, R.; Baumgarten, G.; Eckrich, M.; Köhn, P.: A
winkel im Fahrzeugschwerpunkt kleiner ist als der Steer by Wire Concept for Passenger Cars Designed for Func-
tion, Safety and Reliability. JSAE Paper, 2001, Nr. 20015329
eines Fahrzeugs mit konventioneller Lenkung – was
[6] Donges, E.; Naab, K.: Regelsysteme zur Fahrzeugführung und
zunächst ein wünschenswertes Regelungsziel sein -stabilisierung in der Automobiltechnik. AT Automatisations-
kann. Bild 7.4-71 zeigt diesen Umstand, aus dem technik 1996/5, S. 226 – 236

2,50 100
beta (Basis) beta (IAS)
2,25 STWA (Basis) STWA (IAS) 90
YAW (Basis) YAW (IAS)
2,00 80
steering wheel angle [°]

1,75 70
sideslip angle [°]

1,50 60
yaw rate [°/s]

1,49
1,25 50

1,00 40

0,75 30
0,67
0,50 20 Bild 7.4-72 Veränderung
0,25 10
des Schwimmwinkels mit
einer Allradlenkung und
0,00 0
einer Integral-Aktivlenkung
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
lateral acceleration av [m/s2] bei stationärer Kreisfahrt
[17]
7.5 Beurteilungskriterien 619

[7] Aerospace Recommended Practise 4754, Certification Consid-


erations for Highly-Integrated or Complex Aircraft Systems.
7.5 Beurteilungskriterien
SAE Dec. 1996
[8] Badawy, A.; Zuraski, J.; Bolourchi, F.; Chandy, A.: Modeling
7.5.1 Subjektive
and Analysis of an Electric Power Steering System. SAE Paper Fahreigenschaftsbeurteilung
1999-01-0399
[9] Kawai, T.; Shibahata, Y.; Shimizu, Y.; Kohno, F.; Sano, S.: Die subjektive Beurteilung ist auch in der Zeit hoch
Variable Gear Ratio Steering System. Tagung „Pkw-Lenk- entwickelter Messtechnik und CAE-Entwicklungs-
systeme im Jahr 2000“ in Essen methoden nach wie vor ein wesentliches Instrument
[10] Eckstein, L.: Entwicklung und Überprüfung eines Bedienkon-
zepts und von Algorithmen zum Fahren eines Kraftfahrzeugs mit
zur Feinabstimmung der Fahreigenschaften.
aktiven Sidesticks, VDI Fortschrittsbericht 12, Nr. 471, 2001 Grund hierfür ist die Fähigkeit versierter Versuchsin-
[11] Pauly, A.: Lenkmaschine zur Untersuchung des instationären genieure, komplexe Zusammenhänge wie das Fahr-
Fahrverhaltens von Kraftfahrzeugen. ATZ 79/1977, Heft 7, verhalten in vergleichsweise kurzer Zeit hinreichend
S. 307 – 310
[12] Schneider, R.: Konzipierung einer marktgerechten Stelleinheit
gut einordnen zu können. Zudem sind einige Krite-
als Aktuator einer aktiven Hinterradlenkung für Personenkraft- rien, wie z.B. die Komforteigenschaften aufgrund
wagen. 1995 Dissertation, RWTH Aachen ihrer Komplexität bisher nur unzureichend objektiv
[13] Shoichi, S.; Tateomi, M.; Yoshimi, F.: Operational and Design messbar [1, 21].
Features of Steer Angle Dependent Four Wheel Steering System.
11. ESV-Konferenz 1987
In der Regel gewinnt man gleichzeitig einen umfas-
[14] Donges, E.; Aufhammer, R.; Fehrer, P.; Seidenfuß, T.: Funktion senden Eindruck der Gesamtfahrzeugeigenschaften,
und Sicherheitskonzept der Aktiven Hinterachskinematik von wodurch auch die Sichtweise des sog. „Normal“-
BMW. ATZ 92/1990, Heft 10, S. 580 – 587 Fahrers, d.h. des späteren „Kunden“ mit betrachtet
[15] Hesseling, Roger: Das Lenkrad – Innovationsträger der Zukunft.
Tagungsbeitrag steering.tech 2008, ATZlive, München, 2008
wird.
[16] Kurz, G.: Das Fahrwerk des neuen 5er BMW, geprägt durch Die Durchführung der Bewertung erfolgt üblicher-
moderne Kundenanforderungen. Chassis.tech plus 2010 weise anhand von aneinander gereihten Fahrmanö-
[17] Herold, P.; Schuster, M.; Thalhammer, T.; Wallbrecher, M.: The vern auf speziellen Versuchsstrecken mit bekannten
new Steering System of BMW – Integral Active Steering, Syn-
thesis of Agility and Sovereignty. FISITA 2008 World Automo-
Kurvenverläufen, Reibwerten, usw.
tive Congress Zweckmäßig ist auch der Vergleich mit einem be-
[18] Kohoutek, P.: Der neue Audi A4 – Entwicklung und Technik, kannten Referenz- oder Wettbewerbs-Fahrzeug unter
ATZ/MTZ-Typenbuch. Vieweg Verlag, Wiesbaden, 2008. gleichen Voraussetzungen.
[19] ECE R79 – Regelung Nr. 79, Einheitliche Bedingungen für
die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich der Lenkanlage.
Ergänzt wird dies durch Beurteilungsfahrten unter
Revision 2 (2006), Deutschsprachige Fassung, Homepage des Kundenbedingungen auf öffentlichen Straßen.
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung So ergibt sich für den versierten Versuchsingenieur
(http://www.bmvbs.de) letztlich ein umfassender Eindruck über Quer-,
[20] ISO/DIS 26262, Road Vehicles – Functional Safety, Part 1 to 10,
International Organisation for Standardisation, 2009 Längs- und Vertikaldynamik und deren Kopplun-
[21] ZF-Servotronic 2 für PKW und leichte Nutzfahrzeuge, Produkt- gen.
information ZFLS 7831 P-WA 3/07 d, ZF Lenksysteme GmbH, Die Bewertung des weitläufigen Gebietes der Ge-
Schwäbisch Gmünd, 2007 samtfahreigenschaften erfolgt mittels Bewertungsbö-
[22] Donges, E.: Aktive Hinterachskinematik für den BMW 850i,
Automobil Revue Nr. 38, 1991 gen. Diese werden untergliedert, z.B. in
[23] Yamaguchi, J.: Global Viewpoints, Automotive Engineering, • Fahreigenschaften/Stabilität
April 1988, S.96 – 113
[24] Meitinger, T.: The electric Steering Systems of the BMW 5 • Lenkeigenschaften/Achskinematik
series. chassis.tech plus 2010, ATZlive, München, 08. Juni 2010 • Bremseigenschaften
[25] Braess, H.-H.: Chassis- und Fahrdynamik-Entwicklung nach • Regelsystemverhalten (längs/quer)
dem 2. Weltkrieg – Eine Erfolgsgeschichte. chassis.tech plus • Komforteigenschaften
2010, ATZlive, München, 08. Juni 2010
[26] Wolf, H.: Untersuchung des Lenkgefühls von Personenkraftwa- • Gespanneigenschaften
gen unter besonderer Berücksichtigung ergonomischer Erkennt- • Antrieb/Kraftübertragung
nisse und Methoden, Dissertation, TU München, 2008
[27] Pfeffer, P.; Harrer, M.: Lenkungshandbuch, Wiesbaden: Vie- Eine klare Zuordnung der zahlreichen Einzelkriterien
weg+Teubner Verlag, 2011 nach entsprechenden Themengebieten ist eine not-
[28] Herold, P.: Die Integral-Aktivlenkung, ATZ extra: Der neue wendige Voraussetzung für eine zielorientierte Be-
BMW 7er, ATZ, 11/2008
wertung und damit Weiterentwicklung der zu unter-
suchenden Entwicklungsstände von Fahrzeugen.
Für die subjektive Beurteilung der Fahrzeuge wird
entsprechend der zu bewertenden Teilbereiche ein
Fragebogen aufgestellt, in dem die Beurteiler die
Fahrzeuge nach einer bestimmten Skala bewerten
können.
Für die Bewertung der Einzelkriterien hat sich eine
offene unipolare Notenskala mit 10 Stufen (0 = un-
tauglich, 10 = herausragend) als zweckmäßig erwie-
sen. Hier bietet sich auch die Möglichkeit, über
620 7 Fahrwerk

mehrere Beurteilungskriterien oder auch Bewerter schrieben. Hauptsächlich handelt es sich hier um
einen Mittelwert bilden zu können. sogenannte „open-loop“- Testverfahren der Quer-
Um hierbei die Streuung der Ergebnisse einzuengen, dynamik. Vertikal-dynamische Verfahren sind bisher
sind an die Beurteiler hohe Anforderungen hinsicht- noch nicht so weit verbreitet bzw. vereinheitlicht. Die
lich ihrer Urteilsfähigkeit zu stellen. Sie müssen nachfolgenden Beschreibungen beziehen sich deshalb
ausreichend sachkundig sein, um die entsprechenden nur auf die querdynamischen Eigenschaften eines
Eigenschaften beurteilen und unterscheiden zu kön- Fahrzeugs.
nen. Des Weiteren ist ein ausgezeichnetes Wahrneh- „Open-loop“-Verfahren werden gewählt, um den
mungsgedächtnis erforderlich, um alle Empfindungen Fahrereinfluss aus den Meßergebnissen oder auch
bis zur Endbeurteilung präsent zu haben. Rechenergebnissen möglichst herauszuhalten, d.h. bei
Wird die Bewertung durch eine Gruppe von Beurtei- den Fahrmanövern ist die Fahreraktivität darauf
lern durchgeführt, so besteht die Möglichkeit sog. beschränkt, die Bedienelemente wie z.B. Lenkrad
„Ausreißer“ (große Abweichungen vom Mittelwert) oder Gaspedal während der Messung möglichst
zu erkennen und zu eliminieren. konstant zu halten oder auch loszulassen. Eine umfas-
Die subjektive Fahreigenschaftsbeurteilung ist auch sende Übersicht über die querdynamischen Testver-
ein wesentlicher Bestandteil bei der Entwicklung ob- fahren ist in [2] zu finden.
jektiver Messverfahren zur Beschreibung der Fahr- Grundlage für die Beurteilungen sind die Fahrzeug-
eigenschaften. Erst durch Korrelationsbetrachtung von bewegungen im Koordinatensystem nach Bild 7.5-1.
Subjektivurteilen und objektiv erfassten Daten (siehe Hauptsächlich werden gemessen und beurteilt:
Kap. 7.5.2) können die aussagekräftigsten Meß-/Kenn- – Längs- und Quergeschwindigkeit x , y , auch zur
größen für o.g. Einzelkriterien identifiziert werden.
Bestimmung des Schwimmwinkels
y
β = arctan ⎛⎜ ⎞⎟
7.5.2 Objektive
Fahreigenschaftsbeurteilung ⎝ x ⎠
Obwohl der Fahrer eines Kraftfahrzeugs die Fahrei- x, 
– Längs- und Querbeschleunigung  y
genschaften stets gesamthaft subjektiv beurteilen – Gierwinkel und Giergeschwindigkeit ψ , ψ
wird, gewinnt die objektive Beurteilung immer mehr – Wank- und Nickwinkel ϕ , θ
an Bedeutung. Im systematischen Entwicklungspro- sowie die Betätigungsgrößen des Fahrers:
zess eines Fahrzeugs sowie beim Vergleich verschie-
dener Fahrzeuge untereinander ist die Ermittlung – Lenkradwinkel und Lenkmoment δH, MH
– Gas- und Bremspedalwege, bzw. -kräfte
objektiver Kenngrößen ein nicht mehr wegzudenken-
– Bremsdruck
des Werkzeug. Diese Kenngrößen bzw. auch Kenn-
funktionen lassen sich aus Messungen, die während Als Messaufnehmer für die Fahrzeugbewegungs-
der Fahrt mit einem realen Fahrzeug aufgenommen größen (Beschleunigungen und Winkel) haben sich
werden, oder auch – neuerdings immer häufiger – aus kreiselstabilisierte Plattformen (oder ähnliche Mess-
Simulationsergebnissen mit einem Fahrzeugmodell verfahren) und für die Geschwindigkeiten korrelati-
am Computer, bestimmen. Die zugehörigen Fahrma- onsoptische Sensoren bewährt. Die Kreiselstabilisie-
növer sind weitgehends definiert und vereinheitlicht rung ist notwendig um die Ursprungsebenen des
und zum großen Teil auch in ISO/DIN-Normen be- Koordinatensystems erdfest festzuhalten und so die

f
O

x
y Bild 7.5-1 Fahrzeug im
Koordinatensystem
7.5 Beurteilungskriterien 621

translatorischen Beschleunigungen des Fahrzeugs un-


abhängig von Nick- und Wankwinkeln messen zu
können. Neuere Messgeräte (z.B. sog. VBoxen) nut-
zen die Ortung über Satelliten (GPS) und berechnen
daraus Geschwindigkeiten und Beschleunigungen.
Die Messung von Lenkraddrehwinkel und Lenk-
moment erfolgt meist durch spezielle Meßlenkräder,
die anstelle des ursprünglichen Lenkrads montiert
werden. Die Messdaten lassen sich über einen Mess-
aufbau im Fahrzeug on-line verarbeiten. Neuere
Testverfahren stellen immer höhere Anforderungen
hinsichtlich genauer Lenkwinkeleingaben, z.T. auch
abhängig von der Fahrzeugreaktion. Z.B. ist beim
sogenannten „Fish-hook“ Test (s. Kap. 7.5.2.4) die
Einleitung einer Lenkrichtungsumkehr abhängig vom
Wankwinkel bzw. von der Wankwinkelgeschwindig-
keit. Diese Tests können nur mit einer Lenkmaschine
gefahren werden. Die Anordnung im Fahrzeug zeigt
Bild 7.5-2. Das Lenkrad wird ersetzt durch ein Mess-
lenkrad mit Elektromotor und einer Abstützung für
das Reaktionsmoment.

Bild 7.5-3 Einrichtung zur Messung von Vorspur


und Sturz während der Fahrt

Messaufgaben kommen hier verschiedene Messsys-


teme zum Einsatz, die als kompakter Gesamtverbund
vorgestellt wird.
7.5.2.1 Geradeausfahrt
Bei der Beurteilung der Geradeausfahrt ist zwischen
Bild 7.5-2 Lenkmaschine im Fahrzeug zur genauen zwei verschiedenen Randbedingungen zu unterschei-
Vorgabe von Lenkwinkelfunktionen den:

Zusätzlich gibt es eine Menge von Messeinrichtun- a) die „ungestörte“ Geradeausfahrt mit konstanter
gen, die in der Fahrzeugentwicklung zur Beurteilung Geschwindigkeit, bei der nur Störungen durch die
und Optimierung der einzelnen Eigenschaften, vor (auch vermeintlich ebene) Fahrbahn ins Fahrzeug
allem auch der Bauteilkomponenten, Anwendung eingeleitet werden und
finden. So ist z.B. zur Beurteilung der Fahrdynamik b) die gestörte Geradeausfahrt, bei der Seitenwind-,
wichtig zu wissen, wie sich die einzelnen Räder am Brems- und Antriebskräfte oder auch Kräfte aus
Fahrzeug hinsichtlich ihrer Vorspur- und Sturzein- einem mitgeführten Anhänger auf das Fahrzeug
stellung in den verschiedenen Fahrmanövern, z.B. einwirken.
beim Bremsen in der Kurve, verhalten. Eine Messein- Zu a) gibt es nur wenig allgemein verbreitete Mess-
richtung für die Messung dieser Größen während der verfahren. Zum einen sind die Fahrzeugbewegungs-
Fahrt zeigt Bild 7.5-3. Laserstrahlen, deren Quellen größen sehr klein und damit nur erschwert interpre-
radseitig befestigt sind, treffen auf karosseriefeste tierbar und zum anderen ist bei einer längeren Gera-
Empfänger, die die Radwinkeländerungen registrie- deausfahrt immer der Fahrereinfluss vorhanden, so
ren. Über die zeitgleiche Darstellung des Fahrzeug- dass eine eindeutige Fahrzeugbeurteilung nicht ohne
bewegungsablaufs können so wichtige achselastoki- weiteres möglich wird. Lösungsansätze sind hier in
nematische Funktionen analysiert und in ihren Aus- der Aufnahme von Lenkradwinkelspektren bei Fahrt
wirkungen beurteilt werden. auf einer bestimmten Straße, in der Zeitbetrachtung
Eine Lösung zur synchronen Aufzeichnung nahezu bis zum Verlassen eines Spurkanals bei festgehalte-
aller fahrdynamischen Größen im fahrenden Fahr- nem Lenkrad oder in der Ermittlung des „Gierge-
zeug ist in [22] beschrieben. Für die komplexen schwindigkeitsfehlers“ zu finden. Nach [3] werden
622 7 Fahrwerk

Giergeschwindigkeitsmessungen während der Gera- j


ohne Fahrereinfluss
deausfahrt aufgeteilt in einen Anteil, der aus den tv res
2
mit Fahrereinfluss
Lenkradwinkeln stammt (ermittelt aus einem „Ein- 2,0

Amplitudenverhältnis [10–4 s/m2]


spurmodell“) und einen Restanteil. Dieser Restanteil 1,8
ist der sogenannte „Giergeschwindigkeitsfehler“, der 1,6
ein Maß für die Abweichung von der Geradeausfahrt 1,4 j
ist. In [4] wird ein enger Zusammenhang zwischen 1,2 tv res
2
max
1,0
dem Phasenverzug von Lenkeingabe zu Fahrzeug-
0,8
querbeschleunigung und der Geradeauslaufgüte 0,6 jtv res
2

beschrieben. Fahrzeuge mit kleinen Phasenverzügen 0,4 tv res


2
max
und damit schnellem Ansprechverhalten zeichnen 0,2
sich durch gute Regeleigenschaften aus und werden 0,0
dadurch auch im Geradeauslauf mit „gut“ beurteilt. 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0
Frequenz [Hz]
Zur Beurteilung des „Lenkgefühls“ bei Geradeaus-
fahrt eignet sich der „Weave Test“ nach ISO 13674, Bild 7.5-4 Fahrzeuggierreaktion (bezogen auf die
Part 1, bei dem mit einer Lenkfrequenz von 0,2 Hz Windstörung) bei Seitenwind mit und ohne Fahrer-
ein Sinuskurs gefahren wird und aus dem Verlauf des einfluss aus [13]
Lenkradmoments über dem Lenkradwinkel im Be-
reich der Lenkradmittelstellung auf die Lenkeigen-
schaften hinsichtlich Kurskorrigierbarkeit geschlos- auf der Karosserieoberfläche verteilten Sensoren
sen werden kann. In ISO 13674, Part 2 wird der gemessen wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass zur
„Transition Test“ beschrieben, bei dem aus der Gera- Beurteilung des Seitenwindverhaltens neben dem
deausfahrt bei langsamer Lenkwinkelzunahme die stationären Giermomentengradienten auch der insta-
Fahrzeugreaktionen Giergeschwindigkeit und Quer- tionäre Gradient betrachtet werden muss.
beschleunigung in Abhängigkeit von Lenkwinkel und Versuche zur Beurteilung der Bremseigenschaften bei
Lenkmoment aufgezeichnet werden. Geradeausfahrt beziehen sich in erster Linie auf die
Zu b) gibt es zahlreiche Testmanöver. Z.B. wird die erzielten Bremswege (vergl. DIN 70028) und die
Seitenwindempfindlichkeit eines Fahrzeugs häufig Fahrtrichtungshaltung (auftretende Giergeschwindig-
an einer Seitenwindanlage beurteilt. Gebläse erzeu- keit) auf unterschiedlichen Fahrbahnoberflächen und
gen dabei einen künstlichen Seitenwind von ca. 60 – -reibwerten. Zusätzlich wird bei diesen Versuchen
80 km/h, der meist rechtwinklig zur Fahrtrichtung und auch beim Beschleunigen der auftretende Nick-
wirkt. Die Gebläse haben meistens eine Gesamt- winkel gemessen, der ein Maß für die „Anti-Dive“-
länge von 15 – 40 m. Als Beurteilungsgrößen werden Eigenschaften des Fahrwerks ist. Gute Fahrwerke
hauptsächlich die während der Vorbeifahrt gemesse- reagieren hier im Normalfall mit Nickwinkeln ≤1°.
nen Gierwinkel, Giergeschwindigkeiten und Querab- Bei Kombination des Pkw mit einem Anhänger kann
weichungen herangezogen. Im Vergleich zum natür- es zu deutlichen Einbußen in der Fahrstabilität kom-
lichen Wind gibt es jedoch eine Reihe von Unzuläng- men. Mit dem Lenkwinkelimpulstest wird die Fahr-
lichkeiten (Anströmwinkel, Böen), die zur Entwick- stabilitätsgrenze ermittelt. Der Fahrzeugzug wird
lung von Messverfahren bei natürlichen Bedingungen dazu aus ungestörter Geradeausfahrt zu Gierschwin-
führten. In [5] wird die Windstörung nach Stärke und gungen mittels kurzem Lenkimpuls angeregt. Aus
Richtung mittels einer auf dem Fahrzeugdach mon- dem Verlauf der Differenz der Gierbewegungen zwi-
tierten „Windfahne“ gemessen und die auftretenden schen Pkw und Anhänger – dem sogenannten Knick-
Fahrzeugreaktionen (Giergeschwindigkeit) dazu ins winkel – lässt sich das Dämpfungsmaß bestimmen.
Verhältnis gesetzt. Die Untersuchung des Gesamtsys- Die Dämpfungsmaße bei verschiedenen Fahrge-
tems Fahrer/Fahrzeug unter natürlichen Windbedin- schwindigkeiten ergeben durch Inter- bzw. Extrapola-
gungen nach [13] kommt zu dem Ergebnis, dass ein tion die Fahrgeschwindigkeit, bei der die Stabilitäts-
Fahrer Windstörungen unter 0,5 Hz gut ausregeln grenze erreicht, die Dämpfung also 0 wird. Übliche
kann und die Seitenwindreaktionen des Fahrzeugs Stabilitätsgrenzen für Pkw mit etwa gleichschweren
dadurch geringer werden, Bild 7.5-4. Zwischen 0,5 Anhängern liegen je nach Anhängerbauart zwischen
und 2,0 Hz verstärkt der Fahrer eher die Gierreaktio- 80 und 140 km/h.
nen und ab 2 Hz ist kein Fahrereinfluss mehr fest- 7.5.2.2 Kurvenverhalten
stellbar, d.h. für die Beurteilung des Seitenwindver-
haltens sind auch die Lenkeigenschaften des Fahr- Zur Beurteilung des Kurvenverhaltens gibt es vor
zeugs von großer Bedeutung. allem die Fahrmanöver:
Die Erfassung von instationären aerodynamischen – stationäre Kreisfahrt
Kräften am Fahrzeug unter böigem Seitenwind und – Lastwechsel aus stationärer Kreisfahrt
beim Überholen von Lkw ist in [20] beschrieben. Die – Bremsen, Beschleunigen in der Kurve
Kräfte werden aus Druckverläufen berechnet, die mit – Aquaplaning
7.5 Beurteilungskriterien 623

70 5
Kreisradius R = 105 m 4
60

Wankwinkel [°]
Wankwinkel 3

50 2

Lenkwinkel 1
Lenkwinkel [°]

40
0

–1
30

Schwimmwinkel [°]
–2
Schwimmwinkel
20 –3
Messbereich
Bild 7.5-5 Lenk-, Schwimm-,
–4 und Wankwinkelverlauf in
10 üblicher PKW
–5 Abhängigkeit der Querbe-
0 –6 schleunigung bei stationärer
0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 5,5 6,0 6,5 7,0 7,5 8,0 8,5 Kreisfahrt mit einem Radius
Querbeschleunigung [m/s²] von 105 m
Bei der stationären Kreisfahrt wird das Fahrzeug mit moments eine Verzögerung ein, die durch Achslast-
unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf einer verlagerungen und auch achselastokinematischen
Kreisbahn mit gleichbleibendem Radius gefahren. Änderungen eine Kursabweichung zur Folge hat. Die
Die Messergebnisse werden üblicherweise über der Größe dieser Kursabweichung wird beurteilt anhand
Querbeschleunigung, s. Bild 7.5-5, aufgetragen. Der der gemessenen Giergeschwindigkeit und Querbe-
Lenkwinkelverlauf ist ein Maß für das Eigenlenk- schleunigung. Zur kompakten Darstellung und unter
verhalten. Die Zunahme mit der Querbeschleunigung Berücksichtigung der menschlichen Reaktionszeit
ist typisch für ein untersteuerndes Fahrzeug; der haben sich hier die 1-Sekundenwerte bewährt, d.h.
Grenzbereich (üblicherweise Querbeschleunigung ab es wird die Änderung der Fahrzeugbewegungsgröße
2
7 m/s ) wird dem Fahrer durch eine starke Zunahme 1 Sekunde nach Ereignisbeginn ( hier das Loslassen
des Lenkwinkels (und meistens auch Abnahme des des Gaspedals) betrachtet. Ein Ergebnisbeispiel dazu
Lenkmoments, hier nicht dargestellt) angekündigt. zeigt Bild 7.5-6. Die Änderung der Giergeschwindig-
Schwimm- und Wankwinkelverlauf sind ein Kom- keit nach 1 Sekunde ist über der Ausgangsquerbe-
fort- und Sicherheitsmaß und entsprechen in die- schleunigung aufgetragen. Bei niedrigen Ausgangs-
sem Beispiel den Anforderungen eines modernen querbeschleunigungen ist fast keine Kursabweichung
Pkw’s. feststellbar; die Giergeschwindigkeitsänderung ist ge-
Die Lastwechselreaktion bei Kurvenfahrt wird ge- ringfügig negativ aufgrund des langsamer werdenden
messen, indem bei stat. Fahrt auf einem bestimmten Fahrzeug. Erst bei höheren Querbeschleunigungen ist
Kreisradius plötzlich das Gaspedal losgelassen wird. eine Zunahme der Giergeschwindigkeit feststellbar,
Am Fahrzeug stellt sich aufgrund des Motorbrems- d.h. das Fahrzeug dreht in die Kurve hinein.

Lastwechsel aus stationärer Kurvenfahrt


10
Giergeschwindigkeitsänd. 1s nach Lastwechsel Grad/s

9 Kreisradius R = 40 m

6
Messbereich üblicher
5
PKW
4

0
Bild 7.5-6 1-Sekundenwerte
–1 der Giergeschwindigkeits-
–2 änderung beim Lastwechsel
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
aus stationärer Kreisfahrt
Querbeschleunigung m/s²
mit einem Radius von 40 m
624 7 Fahrwerk

Das Bremsen und Beschleunigen während der Kur- schwindigkeit und Querbeschleunigung sowie die
venfahrt wird in einem ähnlichen Fahrmanöver beur- zugehörigen Phasengänge geben Aufschluss über die
teilt. Zusätzlich wird nach der Freigabe des Gaspedals querdynamischen Eigenschaften des Fahrzeugs. Mög-
die Bremse mit unterschiedlichem Druck betätigt lichst bis zu einer Frequenz von 2 Hz gleichbleibende
bzw. das Gaspedal weiter betätigt um verschiedene Verstärkungen und geringe Phasenverzüge sind Kri-
Abbremsungen bzw. Beschleunigungen zu erzielen. terien für ein harmonisches Fahrverhalten im Über-
Die Darstellung der 1-Sekundewerte erfolgt ähnlich gangsbereich. Eine übersichtliche Darstellung der
wie beim Lastwechselversuch, die Längsverzögerung Ergebnisse in einem Diagramm nach Weir DiMarco
erscheint als zusätzliche Variable. [14] lässt den Zusammenhang zwischen Gierverstär-
Ein sehr spezielles Fahrmanöver ist die Untersuchung kung und Zeitverzug zwischen Fahrzeugeingabe und
des Aquaplaningverhaltens. Es ist dazu eine Kreis- Fahrzeugreaktion erkennen. Die Gierverstärkung ist
teststrecke notwendig, die segmentweise bewässerbar dabei das Verhältnis zwischen Giergeschwindigkeit
ist. Das Fahrzeug wird bei verschiedenen Geschwin- und Lenkwinkel im stationären Zustand. Der Zeitver-
digkeiten und damit auch verschiedenen Querbe- zug ist der Kehrwert der Frequenz bei der die Pha-
schleunigungen mit festgehaltenem Lenkrad und sennacheilung gerade 45 Grad beträgt.
konstanter Drosselklappenstellung durch das Segment Auch „closed-loop“-Verfahren finden hier Anwen-
gefahren. Die Änderungen von Giergeschwindigkeit dung. Der Fahrer hat die Aufgabe, bestimmte Kurse
und Querbeschleunigung sind wiederum ein Maß für möglichst schnell zu durchfahren. Am bekanntesten
die Kursabweichung. ist der doppelte Fahrspurwechsel nach ISO 3888 (nur
genormte Spurgasse, die Durchführung selbst ist zu
7.5.2.3 Übergangsverhalten sehr fahrerabhängig und deshalb nicht als Norm
Das Übergangsverhalten beschreibt die Fahreigen- geeignet). Geübte Fahrer durchfahren die ISO-Gasse
schaften eines Fahrzeugs, die beim Übergang von der mit modernen Pkw mit ca. 110 – 125 km/h (und
Geradeausfahrt in eine Kurve bzw. beim plötzlichen mehr). Daneben gibt es noch zahlreiche Slalomtests.
Kurswechsel in Erscheinung treten. Der Lenkwinkel- Die Pylonenabstände betragen meist 18, 30 oder
sprung ist hier ein typisches Beurteilungsverfahren. 36 m. Als objektive Beurteilungsgrößen dienen die
Aus der Geradeausstellung wird das Lenkrad schnell gemessene Durchfahrtzeit und die während der Fahrt
um einen bestimmten Winkel verdreht und anschlie- aufgezeichneten Fahrzeugbewegungsgrößen. Bei Be-
ßend festgehalten. Die Fahrzeugantwort, hauptsäch- trachtung der Slalomtests ist darauf zu achten, dass
lich gemessen in Giergeschwindigkeit, Querbe- das Ergebnis wesentlich von dem Zusammenspiel des
schleunigung und Schwimmwinkel ist ein Maß für Pylonenabstandes mit dem Radstand, der Länge und
die Schnelligkeit des Ansprechens, die Fahrstabilität der Giereigenfrequenz des Fahrzeug abhängig ist.
unter diesen Bedingungen und die „Direktheit“ der Eine umfassende Untersuchung zum Zusammenhang
Lenkung. Bei einem großen Zeitverzug zwischen verschiedener objektiver Kennwerte aus den Tests
Lenkeingabe und Anstieg der Giergeschwindigkeit zum Übergangsverhalten mit dem menschlichen
wirkt das Fahrzeug träge und kurvenunwillig. Sind Wahrnehmungsempfinden und der Gefallensbeurtei-
beim Übergang auf die stationären Giergeschwindig- lung ist in [10] beschrieben. Mit einem Versuchsfahr-
keits- und Querbeschleunigungswerte große Ampli- zeug mit mechatronischem Vorder- und Hinterachs-
tuden und lange Einschwingzeiten zu beobachten, ist lenksystem konnten Gier- und Querbeschleunigungs-
die Stabilität beeinträchtigt. Der „Verstärkungsfak- aufbau, sowie Direktheit, zeitliche Verzögerung und
tor“ des Fahrzeugs ist das Verhältnis aus Gierge- auch das Lenkmoment weitgehend unabhängig von-
schwindigkeit zu Lenkradwinkel und beschreibt, einander variiert und von den Probanden zeitnah be-
wieviel Lenkwinkel der Fahrer für eine bestimmte urteilt werden. Relativ gute Korrelationen zum Sub-
Gierreaktion des Fahrzeugs aufbringen muß. Eine jektivempfinden lassen sich durch Kombination von
sehr direkte Lenkung zeichnet sich danach durch objektiven Kennwerten erzielen, z.B. der Direktheit
einen großen Verstärkungsfaktor aus. und dem Zeitverzug. Bei der Einbeziehung der Regel-
Weitere „open-loop“-Verfahren sind durch andere kreisgrößen, z.B. im ISO-Spurwechsel, stellt sich
Eingabeformen des Lenkwinkels gekennzeichnet. heraus, dass die Ausprägung des Lenkmoments eine
Man unterscheidet eine Einzel-, Dauersinus-, Drei- wesentliche Rolle bei der Fahrzeugbeurteilung spielt.
eckimpuls- und regellose Lenkwinkeleingabe (vergl. Im Jahre 1997 ist der „Elchtest“ als Prüfung für die
ISO 7401). Beim Einzelsinus werden ähnlich wie Kippstabilität sehr populär geworden. Aufgrund der
beim Lenkwinkelsprung die Verzögerungszeiten sehr breiten Fahrgasse ist hier jedoch ein sehr großer
zwischen Lenkeingabe und Fahrzeugreaktion (Gier- Fahrereinflusss festzustellen, so dass der Test als ob-
geschwindigkeit und Querbeschleunigung) beurteilt, jektives und reproduzierbares Beurteilungsverfahren
bei den anderen Verfahren findet eine Auswertung keine Anerkennung gefunden hat. Eine zum Verband
der Fahrzeugbewegungsgrößen im Frequenzbereich der Deutschen Automobilindustrie gehörende Exper-
statt. Üblicherweise werden Frequenzen bis 4 Hz tenkommission hat den Elchtest überarbeitet und
ausgewertet. Die Verstärkungsfunktionen für Gierge- die Gassenbreite (abhängig von der Fahrzeugbreite)
7.5 Beurteilungskriterien 625

soweit eingeschränkt, dass der Fahrereinfluss mög- d


lichst klein gehalten wird [6]. Zudem gibt es eine
eindeutige Definition zur Gaspedalbetätigung. Der

Lenkwinkel
„VDA“-Test wird ab 10 m vor Ende der ersten Gasse
im Schubbetrieb gefahren. Diese Fahrsituation soll Zeit
dem realen Geschehen näherkommen, bei dem der
Fahrer in einer Notsituation wohl das Gaspedal frei- 500 ms

geben wird. Ähnlich wie die Gasse des doppelten


–d
Spurwechsels ist auch die VDA-Gasse in der ISO
3888, Teil 2, beschrieben.
7.5.2.4 Weitere Testverfahren jT0 +1 jT0 +1,75
≤ 0,35 ≤ 0,2

Giergeschwindigkeit
jPeak jPeak
Im Rahmen der Aktivitäten von Behörden und Ver-
braucherschutzorganisationen zur Entwicklung von
Beurteilungsverfahren zur Aktiven Sicherheit sind Zeit
einige sehr spezielle Testmanöver entstanden bzw. in
der Diskussion, die durch genau beschriebene Rand-
bedingungen möglichst reproduzierbar und revisions- jPeak
sicher gestaltet werden sollen. Z.B. wurde von der
amerikanischen Behörde NHTSA (National Highway
Traffic Safety Administration) der „Fish-hook“ Test
zur Bewertung der Kippsicherheit eines Fahrzeugs
eingeführt [11]. Über eine Lenkmaschine wird eine Querabweichung
Lenkwinkeleingabe nach Bild 7.5-7 vorgegeben. Das
„Gegenlenken“ findet dabei genau zu dem Zeitpunkt Zeit
statt, wenn der Wankwinkel sein Maximum erreicht y TD ≥ 1,83 m
hat. Dadurch soll möglichst der „worst case“ getestet
werden. Als Bewertungskriterium für „Kippen“ gilt
das gleichzeitige Abheben von 2 Rädern um mindes- TD T0 T0 + 1 T0 + 1,75
tens 50 mm von der Fahrbahn. Die Fahrgeschwindig-
keit wird ausgehend von ca. 50 km/h bis auf 80 km/h Bild 7.5-8 ESC-Nachweistest, Zeitverläufe von
stufenweise gesteigert, wenn kein „Kippen“ festge- Lenkradwinkeleingabe und Fahrzeugantwort (Gierge-
stellt wird. Im Fall des „Kippens“ wird der Test schwindigkeit und Querabweichung)
beendet. Ähnlich kipp-kritische Manöver und Zu-
sammenhänge sind auch in [16] beschrieben. des Gaspedals ein sinusförmiger Lenkradwinkel mit
Zum Nachweis der Wirksamkeit von Fahrzeugstabili- einer Haltezeit von 500 ms in der zweiten Halbwelle
sierungssystemen (ESP, DSC, ESC im Amerikani- aufgebracht und die Fahrzeugantwort über Gierge-
schen) wurde von der NHTSA in den USA der „sine schwindigkeit und Querbeschleunigung gemessen,
with dwell“-Test vorgeschrieben [12]. Bei einer Bild 7.5-8. Für die exakte Eingabe des Lenkradwin-
Fahrgeschwindigkeit von 80 km/h wird nach Freigabe kels ist wie beim Fish-hook-Test eine Lenkmaschine
notwendig. Die Amplitude des Lenkradwinkels wird
stufenweise gesteigert bis zu einem max. Wert von
A = F x (Lenkwinkel bei 0,3 g Querbeschleunigung)
F = 6,5 oder 5,5 270 Grad. Bewertet wird die Stabilität und das Aus-
T1
weichvermögen (Responsiveness) des Fahrzeugs. Die
Stabilität gilt als erfüllt, wenn die Giergeschwindig-
A keit 1 s, bzw. 1,75 s nach Beendigung des Lenk-
720 Grad/Sekunde
Lenkwinkel

manövers unter 35 bzw. 20 % ihres Maximalwertes


Zeit gesunken ist, s. Bild 7.5-8. Das Ausweichvermögen
–A
wird anhand des Querweges, integriert aus der ge-
messenen Querbeschleunigung, beurteilt. Hier ist ein
3 Sekunden
Mindestweg von 1,83 m zu Beginn der Haltezeit des
geschwindigkeit

Lenkradwinkels notwendig.
Wank-

Zeit
Inzwischen wurde der ESC-Nachweistest auch in die
Richtlinie ECE-13H [18] übernommen.
7.5.2.5 Ausblick
Bild 7.5-7 Lenkwinkeleingabe in Abhängigkeit der Wie beschrieben, gibt es schon eine Reihe von objek-
Wankbewegung beim Fish-hook Test tiven Testverfahren. Sie erlauben allerdings nur
626 7 Fahrwerk

Aussagen über spezielle Fahreigenschaften in „künst- menschlichen Urteilsfindung und der objektiven fahr-
lichen“ Fahrsituationen unter genau definierten Rand- dynamischen Größen zukünftig noch intensiver zu
bedingungen. Eine Beurteilung der Gesamtfahreigen- untersuchen. So wird es möglich werden, grundsätz-
schaften ist mit diesen bisher nur beschränkt gültigen lich einen großen Bereich der Fahreigenschaften
Ergebnissen nicht möglich. Es müssen vielmehr noch objektiv zu beschreiben und damit die systemati-
weitere Verfahren entwickelt werden, die zum einen schem Methoden in der Fahrwerksentwicklung stetig
auch die Vertikaldynamik mit einbeziehen und zum zu verbessern und den Erfordernissen nach immer
anderen auch den Fahrer bzw. die Fähigkeiten des mehr Fortschritt anzupassen. Nach heutigem Kennt-
Menschen als Regler berücksichtigen. nisstand wird letztendlich jedoch stets das Subjektiv-
Um hier herauszufinden, welche physikalische Be- urteil über die Gesamtfahreigenschaften eines Fahr-
wegungsgröße im Fahrbetrieb vom Menschen wahr- zeugs entscheiden.
genommen und in ihrer Intensität als mehr weniger Diese Zusammenhänge sind auch bei den z.Zt. lau-
gut bzw. schlecht empfunden wird, wurden bereits fenden Vorbereitungen eines EuroNCAP (New Car
einige Forschungsarbeiten durchgeführt. Dabei wurde Assessment Programe) zur Aktiven (unfallvorbeu-
stets versucht, eine möglichst gute Korrelation zwi- genden) Sicherheit zu beachten. Mögliche, re-
schen Fahrerurteilen und gemessenen Größen bei produzierbare Testmanöver auf trockenen Fahrbah-
bestimmten Fahrmanövern zu finden. In einer um- nen, z.B. Bremsen in der Kurve, Bremsweg gerade-
fassenden Studie [7], (FAT/BAST) in der zahlreiche aus, usw., sind reine open-loop Manöver bei denen
Normal- und Testfahrer die ISO-Spurwechselgasse nicht festgestellt werden kann, wie gut ein Fahrer zur
und einen Landstraßenkurs befuhren, wird berichtet, Vermeidung eines Unfalls mit dem Fahrzeug harmo-
dass der Zeitverzug zwischen Lenkwinkeleingabe niert bzw. schon in früher Phase durch Fahrzeug-
und Giergeschwindigkeits- und Querbeschleuni- oder Lenkmomentreaktionen einen kritischen Fahrzu-
gungsaufbau und die Größe des Schwimmwinkels stand wahrnehmen und ausregeln kann. Das EuroN-
wesentlich das Fahrerurteil prägen. CAP kann deshalb nur einen Teilaspekt der Unfall-
Der hier, wie bisher üblich, verwendete korrelative vorbeugung bewerten.
Ansatz wird in [8] kritisch hinterfragt und gerade
wegen der immer geringer werdenden Unterschiede Literatur
zwischen modernen Fahrzeugvarianten – zumindest
[1] Hennecke, D.: Zur Bewertung des Schwingungskomforts von
im üblichen Fahrbetrieb – nicht mehr ohne weiteres Pkw bei instationären Anregungen, Diss. TU Braunschweig,
als zielführendes Werkzeug angesehen. Eine verbes- 1994
serte Methode wird in einem handlungsorientierten [2] Zomotor, A.; Braess, H.-H.; Rönitz, R.: Verfahren und Kriterien
Ansatz gesehen [9], bei dem der Frage nach der Bean- zur Bewertung des Fahrverhaltens von Personenkraftwagen,
ATZ 12/97 und 3/98
spruchung des Fahrers durch fahrdynamische Zustän- [3] Dettki, F.: Methoden zur Bewertung des Geradeauslaufs von
de nachgegangen wird. Die Fahrerhandlung im ge- Pkw, VDI-Bericht 1335 (1997), S. 385 – 405
schlossenen Regelkreis rückt hier also mehr in den [4] Loth, S.: Fahrdynamische Einflußgrößen beim Geradeauslauf
Mittelpunkt. In individuell vorgegebenen Beanspru- von Pkw, Diss. TU Braunschweig, 1997
[5] Schaible, S.: Fahrzeugseitenwindempfindlichkeit unter natürli-
chungsstufen sollen die fahrdynamisch relevanten Be- chen Bedingungen, Diss. RWTH Aachen, 1998
dienhandlungen der Fahrer analysiert werden und vor [6] VDA-Pressemitteilung der ad hoc Arbeitsgruppe Fahrzeug-
allem auch die Fahr- und Handlungsfehler betrachtet sicherheit vom 1. 4. 98
werden. In [15] wird diesen Anforderungen weitge- [7] Riedel, A.; Arbinger, R.: Subjektive und objektive Beurteilung
des Fahrverhaltens von Pkw, FAT (Forschungsvereinigung
hend entsprochen und über Fahrsimulatorversuche Automobiltechnik e.V.), Schriftenreihe Nr. 139
eine gute Korrelation zwischen Fahrerkriterien (Vor- [8] Neukum, A.: Bewertung des Fahrverhaltens im Closed Loop –
ausschauzeit, Schnittfrequenzen, usw.) und Subjektiv- Zur Brauchbarkeit des korrelativen Ansatzes, Haus der Technik
urteilen gefunden. Die Fahrerkriterien werden ähnlich Fachbuch Band 12, 2002, S. 1 – 20
[9] Neukum, A.; Krüger, H.-P.; Schuller, J.: Der Fahrer als Mess-
wie auch in [13] aus dem gesamten Regelkreis Fah- instrument für fahrdynamische Eigenschaften?, VDI-Berichte
rer/Fahrzeug ermittelt. Eine weitere Studie der FAT/ Nr. 1613, 2001, S. 13 – 32
BAST [17] untersucht die Auswirkungen von Verti- [10] Decker, M.: Zur Beurteilung der Querdynamik von Personen-
kaldynamik-Störungen auf den Regelkreis Fahrer/ kraftwagen, Diss. TU München, 2009
[11] National Highway Traffic Safety Administration. A Demonstra-
Fahrzeug und kommt zu dem Ergebnis, dass haupt- tion of the Dynamic Tests Developed for NHTSA’s NCAP
sächlich Gier- und Wankbewegungen in die Störungs- Rollover Rating System DOT HS 809 705 August 2004
bewertung eingehen. Eine ganz wesentliche Größe des http://www-nrd.nhtsa.dot.gov/vrtc/ca/capubs/Rollover
Regelkreises, das Lenkmoment, wird in [19] hinsicht- PhaseVIIIReport_NCAPdemo081104.pdf
[12] National Highway Traffic Safety Administration Electronic
lich Wahrnehmung und Auswirkungen auf die Fahrer- Stability Control Systems, Control and Displays NHTSA-2007-
reaktionen näher untersucht. Dabei zeigte sich, dass 27662 http://www.nhtsa.gov/Laws+&+Regulations/Electronic+
hier starke Abhängigkeiten von der jeweiligen Fahr- Stability+Control+(ESC)
[13] Wagner, A.: Ein Verfahren zur Vorhersage und Bewertung der
situation feststellbar und zu beachten sind.
Fahrerreaktion bei Seitenwind, Diss. Universität Stuttgart, 2003
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen sind die Zu- [14] Weir, D. H.; DiMarco, R. J.: Correlation and Evaluation of Dri-
sammenhänge der menschlichen Wahrnehmung, der ver/Vehicle Directional Handling Data, SAE-Paper 780010, 1978
7.6 Kraftstoffsystem 627

[15] Henze, R.: Beurteilung von Fahrzeugen mit Hilfe eines Fahrer- Anforderungen an die einzelnen Fahrzeugsysteme
modells, Diss. TU Braunschweig, 2004
(wie z.B. Kraftstoffanlage, Emissionen, Bremsen, Ge-
[16] Baumann, F.: Untersuchungen zur dynamischen Rollstabilität
von Personenkraftwagen, Diss. TU Darmstadt, 2003 räuschentwicklung) auf EG-Richtlinien bzw. äquiva-
[17] Neukum, A. et al.: Fahrer – Fahrzeug – Wechselwirkungen bei lente ECE-Regelungen verwiesen, in denen sich dann
Fahrmanövern mit Querdynamikbeanspruchungen und zusätz- die jeweils einzuhaltenden Grenzwerte und Prüfan-
lichen Vertikaldynamikstörungen, FAT – Schriftenreihe Nr. 208,
2007
forderungen wieder finden.
[18] ECE-R13H, Anhang 9, Systeme zur elektronischen Stabilitäts- 70/221/EWG. Diese Richtlinie befasst sich unter
kontrolle, Ausgabe 2009-07-03 anderem mit den Anforderungen an Kraftstoffbehäl-
[19] Neukum, A.; Paulig, J.; Frömmig, L.; Henze, R.: Untersuchung ter und legt einige konstruktive Grundsätze fest. Der
zur Wahrnehmung von Lenkmomenten bei Pkw, FAT Schriften-
reihe Nr. 222, 2009
Tank muss korrosionsfest sein, einen Überdruck von
[20] Schrefl, M.: Instationäre Aerodynamik von Kraftfahrzeugen: 0,3 bar aushalten und ein Druckausgleichssystem
Aerodynamik bei Überholvorgang und böigem Seitenwind, Diss. besitzen. Der Kraftstoffbehälter darf nicht im Insas-
TU Darmstadt, 2008 senraum liegen, die Einfüllöffnung darüber hinaus
[21] Botev, S.: Digitale Gesamtfahrzeugabstimmung für Ride und
Handling, VDI Reihe 12 Nr. 684, Düsseldorf, VDIO Verlag,
nicht im Gepäck- oder Motorraum. Aus dem Tank
2008 oder Einfüllstutzen austretender Kraftstoff darf nicht
[22] Barz, D.; Drews, R.: Kompatible Messsysteme – Unterschied- in den Innenraum gelangen, entweichender Kraftstoff
liche Fahrdynamiksysteme synchron messen, ATZelektronik ist so abzuleiten, dass er sich nicht an heißen Bautei-
04/2008 Jahrgang 3
[23] Huneke, M.: Fahrverhaltensbewertung mit anwendungsspezifi-
len entzünden kann. Während eines normalen Be-
schen Fahrdynamikmodellen. Diss. TU Braunschweig, 2011 triebs des Fahrzeugs darf aus dem Tankverschluss
oder Entlüftungssystem kein Kraftstoff austreten, bei
einem Überschlag ist ein geringes Austropfen zu-
lässig. Der Kraftstoffbehälter muss so im Fahrzeug
verbaut sein, dass er bei einem Front- oder Heckauf-
prall geschützt ist. Am gesamten Tank und Einfüll-
7.6 Kraftstoffsystem stutzen darf es zu keiner elektrostatischen Aufladung
7.6.1 Gesetzliche und kundenspezifische kommen.
Vorschriften Für aus Kunststoff hergestellte Kraftstoffbehälter
existieren eine Reihe weiterer Prüfungen, bei denen
7.6.1.1 Gesetzliche Vorschriften die Dichtheit am Ende des Tests nachzuweisen ist.
Steigendes Umweltbewusstsein und damit einherge- 1. Aufprallversuch mit einem pyramidenförmigem
hende schärfere Emissionsgesetzgebungen sowie zu- Stahlpendel bei – 40 °C und 30 Nm
nehmende Anforderungen an die Sicherheit der 2. Mechanische Festigkeit: 5 Stunden mit 0,3 bar
Verkehrsteilnehmer stellen die Entwickler von Kraft- Überdruck bei 53 °C
stoffversorgungsanlagen laufend vor neue Herausfor- 3. Kraftstoffdurchlässigkeit eines im Permeations-
derungen. Die Einhaltung der Grenzwerte wird dar- gleichgewicht befindlichen Tanks bei einer 8-wö-
über hinaus über eine immer höhere Lebensdauer chigen Lagerung bei 40 °C (Grenzwert: Massen-
gefordert. verlust von 20 g/24 h)
Gesetzliche Vorschriften haben grundsätzlich einen 4. Kraftstoffbeständigkeit: Nach der Prüfung 3 müs-
nationalen oder einen mehrere zusammengeschlosse- sen die Prüfungen 1 und 2 wiederholt werden.
ne Staaten umfassenden Geltungsbereich. Allerdings 5. Brandtest: Der zu 50 % mit Kraftstoff befüllte
kann ein Erfüllungsnachweis gleicher oder ähnlicher Behälter wird für 2 Minuten einer definierten Be-
Anforderungen als Basis zur Zertifizierung in anderen flammung ausgesetzt
Ländern herangezogen werden, trotzdem bleibt eine 6. Formbeständigkeit des zu 50 % mit Wasser befüll-
Harmonisierung der gesetzlichen Anforderungen das ten Kraftstofftanks bei 95 °C für 1 Stunde
Ziel, um die derzeit wichtigsten Vorschriften aus den
USA, dem ECE-Raum und Japan zu vereinheitlichen. TRIAS 42. Diese japanische Verordnung entspricht
Die gesetzlichen Anforderungen in den meisten inhaltlich weitestgehend der europäischen Richtlinie
anderen Staaten orientieren sich heute an diesen drei 70/221/EWG.
Rechtskreisen. GB 18296. Zusätzlich zu den Anforderungen der
StVZO § 45 und § 46 (BRD). Diese nationale Vor- 70/221/EWG wird in dieser chinesischen Verordnung
schrift ist bei ausschließlich auf die Bundesrepublik eine Rüttelprüfung mit definierten Amplituden und
Deutschland beschränkten Zulassungen anwendbar. Beschleunigungen verlangt.
Für die Typgenehmigung in der Europäischen Union 49 CFR 571.301 (FMVSS 301). Diese US-Vorschrift
wird sie durch die entsprechende EU-Richtlinie behandelt die Unversehrtheit (Dichtheit) der Kraft-
ersetzt. stoffanlage nach definierten Crashversuchen. Die
70/156 EWG. Gemäß dieser Rahmenrichtline wird in Anforderungen beinhalten Frontalaufprall-Konfigu-
der europäischen Union die Betriebserlaubnis für rationen im Bereich von – 30° bis + 30° mit jeweils
Gesamtfahrzeuge erteilt. Darin wird hinsichtlich der 48 km/h gegen eine starre Barriere, einen Heckauf-
628 7 Fahrwerk

prall mit einer beweglichen deformierbaren Barriere mittlerweile von weiteren Bundesstaaten übernom-
mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h, sowie einen men worden (z.B. New York, Massachusetts, Maine,
Seitenaufprall mit beweglicher deformierbarer Bar- Vermont, …). Eine weitere Besonderheit an der
riere in Krebsgangkonfiguration mit einer Geschwin- amerikanischen Gesetzgebung ist der sog. ORVR-
digkeit von 53 km/h. Anschließend an jeden Auf- Test (On Board Refueling Vapour Recovery). Im
prallversuch muß ein statischer Roll-Over-Test (Dre- Gegensatz zu den europäischen Anforderungen muss
hung um die Fahrzeuglängsachse) absolviert werden. hier das Fahrzeug die bei der Betankung entstehenden
Der Kraftstoffbehälter ist bei jedem Test zu 90 % bis Kraftstoffdämpfe auffangen.
95 % mit Ersatzflüssigkeit gefüllt und darf nach Ende All diese Vorschriften reglementieren stets die Emis-
jedes Tests nur eine definierte Menge an Flüssigkeit sionen des gesamten Fahrzeuges. Für die Fahrzeug-,
verlieren. bzw. Komponentenentwicklung unterteilt man die
TRIAS 33. In dieser japanischen Vorschrift werden Emissionsquellen in zwei Gruppen.
ebenfalls Crash-Versuche zur Überprüfung der Kraft- Dies sind zum ersten die „Fuel-Emissionen“, also
stofftankdichtheit beschrieben. Allerdings stellt die Emissionen aus verdampfendem Kraftstoff. Kraft-
FMVSS 301 die härtere Anforderung dar. stoffdampf kann im Fahrzeug aus allen kraftstoff-
ECE R34. Diese Regelung (Insassenschutz im Fron- und kraftstoffdampfführenden Komponenten emittie-
talaufprall) enthält ebenfalls Anforderungen an die ren. Hierbei unterscheidet man drei Quellen:
Dichtheit der Kraftstoffanlage nach einem Frontal- – Mikroleckagen (aus den Verbindungsstellen)
aufprall mit 56 km/h gegen eine deformierbare Bar- – Permeation (durch die Wände der Bauteile)
riere mit nur 40 % Überdeckung. Eine Leckagemenge – Migration (z.B. über die Aktivkohle im Aktivkoh-
von mehr als 30 g/min ist nach dem Aufprall nicht lebehälter)
zulässig. Der zweite Teil sind die „Non-Fuel Emissionen“, also
Verdunstungs-Emissionen. Mittlerweile gelten Emissionen, die nicht vom Kraftstoff herrühren. Zu
nahezu weltweit Vorschriften zur Begrenzung der diesen zählen Kohlenwasserstoffe aus Betriebsmitteln
Verdunstungs-Emissionen von Kohlenwasserstoffen wie der Kühlflüssigkeit, dem Kältemittel der Klima-
aus Pkw. Diese Emissionen des Gesamtfahrzeuges anlage, Ölen und Schmierstoffen. Des Weiteren
werden im so genannten SHED-Test (Sealed Housing können neben Lacken, Klebstoffen und Konservie-
for Evaporative Determination) in einer gasdichten rungsstoffen auch Kunststoffe, wie z.B. Reifen, Inte-
Prüfkammer gemessen. Die Prüfabläufe dieser rieur-Bauteile, Dämmmaterialien und Verkleidungen,
SHED-Tests sind national unterschiedlich, bestehen Kohlenwasserstoffe emittieren, Bild 7.6-1.
jedoch immer aus einer Vorkonditionierung, die dazu Bei der Entwicklung von Teilsystemen werden von
dient, das Fahrzeug in einen reproduzierbaren Zu- den gesetzlich vorgeschriebenen Fahrzeug-Tests ab-
stand zu bringen und dem eigentlichen Emissionstest, geleitete Komponenten-Tests in Mini-SHEDs durch-
bei dem sowohl die Emissionen in einer einstündigen geführt. Die gesetzlichen Grenzwerte werden für
Heißabstellphase als auch in einem oder mehreren diese Tests in herstellerspezifische Komponenten-
24h-Abstellzyklen gemessen werden, Bild 7.6-2. Zur und Teilsystem-Zielwerte aufgeteilt.
Zeit sind die Vorschriften in den USA am umfang- OBD II (On-Board-Diagnosis, Stage II). Diese
reichsten und die Grenzwerte, besonders LEV II offiziell als „Section 1968.1 of Title 13, California
(0,5 g/Test) und PZEV (0,35 g/Test) in Kalifornien, Code of Regulations (CCR)“ bezeichnete Verordnung
die strengsten. Die kalifornischen Vorschriften sind

Motor
Klimaanlage
Interieur
Kühlmittel
AGB

AKF

Räder
Bild 7.6-1 Quellen von
Filter
Leitungen Kohlenwasserstoffemissio-
nen am Pkw (Quelle:
Lack, Kleber, Montagemittel Tank
BMW)
7.6 Kraftstoffsystem 629

Hubdach

Türdichtungen SHED FID


(aufblasbar)

Temp.-Einrichtung

Bild 7.6-2 VT-SHED


(VT = Variable Tempera-
ture) (Quelle: BMW)

ist in Kalifornien gültig ab Modelljahr 1994. Zweck Anforderungen sind allgemeiner Art in Lastenheften
dieser Verordnung ist die Reduzierung von Emis- (LH), in technischen Lieferbedingungen (TL), Quali-
sionen, indem Fehlfunktionen des Katalysators und tätsvorschriften (QV), Prüfvorschriften (PV) und
des Motors, Kraftstoffverdunstungsemissionen sowie Versuchsrichtlinien (VR), herstellerinternen Normen
andere, Emissionen verursachende Komponenten und Spezifikationen angeführt. Sie können grob in
ständig kontrolliert werden und dies im Versagensfall Funktions- und Werkstoffanforderungen unterteilt
schnellstmöglich über eine Warnlampe am Armatu- werden.
renbrett angezeigt wird. Es sollen also nicht nur
Totalausfälle von Bauteilen, sondern auch eine Über- 7.6.2 Anordnung im Fahrzeug
schreitung von Grenzwerten detektiert werden. Dabei Die Anordnung des Kraftstoff-Behälters im Fahrzeug
ist die OBD II-Regelung eine Fortsetzung der OBD I, (Bild 7.6-3) erfolgt unter Berücksichtigung folgender
in der Art, dass physikalische Systemfunktionen Punkte:
wie die Kraftstoffsystemdichtheit online kontrolliert
werden können. Die Umsetzung im Kraftstoffsystem – Lage Motor-Getriebeeinheit (Front-/Heck- bzw.
erfolgt über Unter- oder Überdrucksysteme im Fahr- Mittelmotor)
betrieb oder im Stand. – Karosserievariante (Limousine, Kombi, Roadster
usw.)
7.6.1.2 Kundenspezifische Anforderungen – Sicherheitsaspekte (z.B. Einbaulage außerhalb der
primären Knautschzonen usw.)
Neben den gesetzlichen Vorschriften haben natürlich
die Anforderungen des Kunden einen erheblichen Üblicherweise wird der Kraftstoff-Behälter außerhalb
Einfluss auf die Ausführung des Produktes. Diese des Fahrzeug-Innenraumes angeordnet. Bei Fahrzeu-

Tanklage unter Rücksitz Tanklage unter Gepäckraum

Tanklage hinter Rücksitz Tanklage unter Rücksitz über Hinterachse

Bild 7.6-3 Anordnung


Kraftstoff-Behälter in
Tanklage vor / über Vorderachse Tanklage unter Rücksitz und Fußraum
Limousinen
630 7 Fahrwerk

gen mit hochgesetzter Fahrgastzelle, Unterflurmotor- 7.6.3.2 Internes Ausgleichsvolumen


anordnung, (A-Klasse MB, Mini-Van’s usw.) sind
Diese Variante (Bild 7.6-5), erleichtert durch den Ent-
auch Anordnungen hinter der Vorderachse unter dem
fall von Bauteilen (Externer Ausgleichbehälter, Lei-
Bodenblech verwirklicht. Bei der Anordnung hinter
tungen und Verbindungen) die Einhaltung der gestie-
den Rücksitzen im Gepäckraum sind geeignete Si-
genen Emissionsanforderungen. Jedoch ist abhängig
cherheitsvorrichtungen, z.B. dichte Trennwand aus
von der Tankform ggf. ein etwas größeres Ausgleichs-
Stahlblech oder sonstige geeignete Materialien zum
volumen vorzuhalten. Die Volumenbereitstellung er-
Fahrzeug-Innenraum vorzusehen; die Kombination
folgt durch Steuern der Betankungsmenge im Krst.-
mit einer Durchladevorrichtung ist nicht realisierbar,
Behälter mit Ventilen, bzw. durch den Verschluss der
der Einsatz eines Skisacks ist erschwert.
Betankungsentlüftung über den Kraftstoff-Spiegel.
7.6.3 Systemvarianten
Großen Einfluss auf die Auslegung der Kraftstoff- Ver-
sorgungs-Anlage (KVA) haben die Emissionsanforde-
rungen, die Be- und Entlüftung im Betriebszustand,
sowie die Aufnahme der Kraftstoffvolumenerhöhung
durch Wärmeausdehnung. Größte Verbreitung haben
die beiden nachstehend beschriebenen Systeme.
Aufgrund der Hybridisierung der Fahrzeuge und der
damit einhergehenden Reduzierung der für den Aktiv-
kohlefilter (AKF) zur Verfügung stehenden Spülluft Bild 7.6-5 Kraftstoffsystem mit internem Aus-
rücken auch Systeme in den Focus, bei denen die Gas- gleichsvolumen, BMW 3er E90
entwicklung durch Druckbeaufschlagung minimiert
wird. Diese geschlossenen Systeme weisen Innendrücke Aus Emissionsgründen ist es heute auch üblich,
von –150 mbar bis +350 mbar auf. Dadurch wird die weitere Bauteile und Verbindungen, wie Kraftstoff-
Beladung des AKF sowohl während der Fahrt als auch pumpe, Ventile, Druckregler und Filter in den Kraft-
im Stillstand minimiert. Ein weiterer Vorteil eines stoffbehälter zu integrieren.
geschlossenen Systems ist die Möglichkeit, die erwei-
terten Fahrzyklen zur Regeneration des AKF, die sich 7.6.3.3 Auslegungskriterien
aus der ORVR-Testprozedur für ein non integrated Die Auslegung des Entlüftungssystems erfolgt unter
system (Quelle: 40 CFR § 86.98-2) ergeben, zu nutzen. Berücksichtigung eines statischen und eines dynami-
schen Prüfverfahrens. Im statischen Verfahren werden
7.6.3.1 Externes Ausgleichsvolumen die maximalen Schräglagen (Kenngrößen hersteller-
Diese Systemvariante ist auf einen zusätzlichen Kraft- spezifisch) des Fahrzeuges überprüft, wobei ein Aus-
stoff-Ausgleichsbehälter angewiesen (Bild 7.6-4), der tritt von Kraftstoff nicht zulässig ist. Das dynamische
im Idealfall mittig über dem Krst.-Behälter an- Verfahren entspricht dem kundentypischen Fahrzyklus
geordnet ist. Da eine solche Anordnung bei den auch unter extremen Randbedingungen (z.B. hohe
meisten Fahrzeugen nicht realisierbar ist (Beein- Außentemperaturen mit Winterkraftstoffen). Zur
trächtigung des Fahrzeuginnenraums), wird eine An- Vermeidung von Kraftstoff-Dampfaustritt erfolgt die
ordnung des Kraftstoff-Ausgleichs-Behälters im Be- Verbindung zur Atmosphäre über ein Aktivkohlefilter.
reich der hinteren Radhäuser realisiert. Als erforderli-
ches Ausgleichsvolumen werden 3 bis 5 % des Kraft-
7.6.4 Kraftstoff-Behälter
stoff-Behältervolumens vorgesehen. Über diesen Die heutigen Materialien des Kraftstoff-Behälters
Kraftstoff-Ausgleichsbehälter erfolgt auch die Be- werden unter verschiedenen Gesichtspunkten ausge-
triebsent-/belüftung des Systems. wählt. Einige davon sind:
– Stabilität unter Crash- u. Umwelteinflüssen
– Permeationsdichte (LEV II, Zero EVAP)
– Alterungsbeständigkeit
– Gute Verarbeitungseigenschaften [2]
– Herstellbarkeit von anspruchsvollen Geometrien
– Recycling.
Im Schema (Bild 7.6-6) werden die verwendeten Ver-
fahren dargestellt: Man unterscheidet grundsätzlich
zwei Kategorien:
Bild 7.6-4 Kraftstoffsystem mit externem Aus- 1. Metall-Kraftstoff-Behälter
gleichsvolumen, BMW 7er-Reihe E65 2. Kunststoff-Kraftstoff-Behälter
7.6 Kraftstoffsystem 631

Kraftstoff-Behälter-Varianten

geblasener rotationsgesinter- tiefgezogene


Hohlkörper ter Hohlkörper Herstellungsverfahren
Schalen

Edelstahl
HDPE-EV OH- HDPE-PA Zink-Nickel-Besch. HDPE-EV OH-
HDPE (Solar) LDPE Werkstoff
HDPE Stahlblech lackiert HDPE
+ Alu-Besch.

Monolayer Multilayer Multilayer- Multilayerplatten


Coextrusion platten Extrusion Variante

Fluorierung Plasmapoly- Anorganische Sulfonierung Fluorierung


merisation Beschichtung Sperrschicht

Inline Offline Offline Offline Verfahren


Sonderlösung für US

Bild 7.6-6 Kraftstoff-Behälter-Herstellungsverfahren

7.6.4.1 Metall-Kraftstoff-Behälter Durch die Verschärfung der Emissionsgesetzgebung


Der Metall-Kraftstoff-Behälter weist eine lange His- mussten zusätzlich Diffusionssperren entwickelt wer-
torie auf. Schon die ersten Autos und Motorräder den. Zuerst wurde die Tankblase mit Fluorgas (F2)
fuhren mit Metalltanks. Heute verwendet man für behandelt. Dies kann entweder im Extrusionsblas-
die sehr komplex gewordenen Geometrien primär prozess erfolgen – man spricht von Inline-Fluorieren
St14Zi/Ni, sowie hochlegierte Stähle, z.B. – oder nach dem Blas- und Schweißkomplettierungs-
X5CrNi1810 und legierte Aluminiumbleche (vorran- prozess, genannt Offline-Fluorieren. Beim Fluorieren
gig bei Motorrädern). Nach dem Umformungsprozess wird der Behälter nach einer Inertisierung mit einem
werden die Schalen durch ein automatisches F2/N2-Gasgemisch beaufschlagt. Dadurch entsteht
Schweißverfahren gasdicht miteinander verschweißt. eine polare Oberfläche, welche die Löslichkeit und
Die meistverbreiteten dieser Verfahren sind: damit die Permeation von unpolaren Medien im
– 2D-/3D-Rollnahtschweißen Basispolymer deutlich verringert. Im Vergleich zu
– Laserschweißen unbehandelten HDPE-Kraftstoff-Behältern werden
– Induktionsschweißen die Permeationsverluste bei Benzin um mehr als 99 %
– Löten. reduziert. In den 90er-Jahren wurde ein bis dahin nur
von der Verpackungsindustrie genutztes Verfahren,
7.6.4.2 Kunststoff-Kraftstoff-Behälter das Blasverfahren mit coextrudierten Kunststoffmate-
In den 70er-Jahren begann die Automobilindustrie rialien (siehe Bild 7.6-7 und Bild 7.6-8), für die Her-
mit der Entwicklung des Kunststofftanks. Aufgrund stellung von Kunststofftanks entwickelt. Hierbei wer-
der immer komplizierteren Geometrie wurden zu- den bis zu 7 Schichten unterschiedlicher Kunststoffe
sammen mit der kunststoffverarbeitenden Industrie während des Blasvorgangs miteinander verbunden.
und den Produzenten von Kunststoffmaterialien ein Eine spezielle Zwischenschicht aus polarem EVOH
Extrusionsblasverfahren [3] weiter- und entsprechen- (Ethylenvinylalkohol-Copolymer) bildet dabei eine
de Materialien neu entwickelt. Dabei handelt es sich Permeationssperre.
um ein Hochdruck-Polyethylen (HDPE), welches so Um den steigenden Komplexitätsgrad und der enor-
modifiziert wurde, das es gegen den Einfluss von men Reduktion der Emissionsgrenzwerte Rechnung
allen weltweit handelsüblichen Kraftstoffen resistent zu tragen, wurde das Extrusionsblas-Verfahren wei-
ist. Die meistverbreiteten Materialien sind: terentwickelt. Dabei wird der extrudierte Kunststoff-
Lupolen 4261 A (Fa. Basell) schlauch vor dem Formprozess in zwei Streifen
Hostalen GM 9350 C (Fa. Basell) aufgetrennt und diese in die beiden Formhälften
HDPE 201B (Fa. Total Petrochemicals) eingelegt. Mittels Vakuum werden die Kunststoffplat-
Eltex RSB 714 (Solvay) ten dann im noch plastischen Zustand tiefgezogen.
632 7 Fahrwerk

Behälter über die Einspritzleiste wieder zum Kraft-


stoff-Behälter gefördert, so sind heute fast nur noch
rücklauffreie Systeme im Einsatz.
HDPI
Haftvermittler
7.6.5.1 Förderung des Kraftstoffs
EVOH Um die Anforderungen an die Förderung des Kraft-
stoffs zu erläutern, muss speziell das Zusammenwirken
HDPI
Haftvermittler der Kraftstoff-Pumpe und des Schwalltopfes, bzw.
Kraftstoff-Behälters betrachtet werden. Die Kom-
bination hat erheblichen Einfluss auf das Absaugver-
Bild 7.6-7 Wandaufbau eines coextrudierten Kraft- halten und damit das nutzbare Kraftstoffvolumen.
stoff-Behälters
7.6.5.2 Elektro-Kraftstoff-Pumpe (EKP)
und deren Anordnung
Stand der Technik sind 1-stufige und 2-stufige elekt-
rische Kraftstoffpumpen mit unterschiedlichen Pum-
HDPE
pen (Zahnring-/Trochoiden-, Seitenkanal-, Periphe-
ralkanal-, Flügelzellen- bzw. Rollenzellen- und
Haftvermittler
Schrauben-Pumpen). Die Seitenkanal- und Periphe-
ralkanal-Pumpen zählen zur Gruppe der Strömungs-
EVOH
HDPE Pumpen, die anderen genannten gehören zur Gruppe
Haftvermittler der Verdrängerpumpen. Bei höheren Systemdrücken
von bis zu 7 bar haben sich in der Praxis die Trochoi-
Bild 7.6-8 Nahtaufbau eines coextrudierten Kraft- den-Pumpen bewährt. Seitenkanal- und Periphe-
stoff-Behälters ralkanal-Pumpen gibt es in verschiedenen Varianten.
Sie zeichnen sich durch ihren kontinuierlichen
In die noch heiße Kunststoffmasse der Halbschalen Druckaufbau mit sehr geringen Pulsationen und durch
werden dann die Intankkomponenten (Entlüftungs- große Laufruhe aus. Bezüglich ihres maximalen
system, Tankanzeige, Fördereiheit) eingebracht. Druckaufbaus und des Wirkungsgrades sind sie
Anschließend werden die Formhälften zusammenge- gegenüber Verdrängerpumpen jedoch im Nachteil.
fahren, die immer noch plastische Trennfuge ver- Diese Strömungs-Pumpen werden bei erhöhten An-
schweißt sich, und der Tank wird analog zum kon- forderungen an das Heißförderverhalten oft als Vor-
ventionellen Blasverfahren mit Innendruck beauf- stufe in Kombination mit den oben behandelten
schlagt, um die endgültige Geometrie zu erhalten. Trochoiden-Pumpen eingesetzt. Flügel- und Rollen-
Dieses Verfahren ermöglicht es, Kraftstofftanks mit zellen-Pumpen haben aufgrund des Herstellaufwan-
hochkomplexen Geometrien darzustellen, die gleich- des und der gestiegenen Geräuschanforderungen an
zeitig mit einer reduzierten Anzahl von Schnittstellen Bedeutung verloren. Zur Geräuschminimierung und
gefertigt werden können, da keine reinen Montage- Reduzierung der Abnutzung müssen Werkstoffe mit
öffnungen für diverse Tankeinbauten, wie Ventile sehr guten Gleiteigenschaften ausgewählt werden.
und Entlüftungsleitungen benötigt werden. Der derzeit weitverbreitetste elektrische Teil einer
Bei der Komplettierung des extrusionsgeblasenen Kraftstoffpumpe ist der kommutierte Gleichstrommo-
Tanks mit Bauteilen wie z.B. Stutzen, Halter usw. tor.
verwendet man verschiedene Schweißverfahren. Aufgrund der Empfindlichkeit von Kupferkommutato-
Einige der bekanntesten sind: ren haben sich aufgrund der wechselnden Kraftstoff-
zusammensetzungen und der steigenden biogenen
– Vibrationsschweißung
Anteile (Ethanol und FAME) Kohlekommutatoren
– Ultraschallschweißung
durchgesetzt.
– Heizelementschweißung
Da künftig immer mehr biogene Beimischungen
– Laserschweißung.
(E85, M15, M25, B20) und deren Sekundärprodukte
7.6.5 Fördersysteme in den Kraftstoffen zu finden sind, müssen vollstän-
dig medienunabhängige Motoren verwendet werden.
Die grundsätzliche Aufgabe der Fördersysteme ist es, Dies lässt sich durch elektrisch kommutierte Motoren
den Motor in allen Betriebszuständen mit einer aus- (Drehstrommotoren) erreichen. Dabei wird die An-
reichenden Kraftstoffmenge zu versorgen. Eine große triebsenergie rein über das elektrische Feld übertra-
Anzahl verschiedener Einflussgrößen führt zu ganz gen.
unterschiedlichen Ausführungen der Fördersysteme. Eine elektrisch kommutierte Kraftstoffpumpe ist im
Wurde z.B. in der Vergangenheit der Kraftstoff noch Gegensatz zu den Kraftstoffpumpen mit mechani-
in einem großen Kreislauf, sprich vom Kraftstoff- schem Kommutator nur mit einem Steuergerät zu
7.6 Kraftstoffsystem 633

betreiben. Um diese EC-Pumpen (electric commuta- Fällen mit Dämpfungselementen vom Behälter
ted) betreiben zu können, muss die Gleichspannung schwingungsentkoppelt. Der Abstand des saugseiti-
des Fahrzeug-Bordnetzes über ein Steuergerät zu gen Filters zum Behälterboden ist eine wichtige
einer dreiphasen-Wechselspannung umgerichtet Einflussgröße für das Ansaugverhalten. Für die ideale
werden. Ausnutzung des Tankvolumens muss der Abstand
Bei der Dimensionierung der Kraftstoff-Pumpe müs- zum Boden unabhängig von Behälterdeformationen
sen zwei Gesichtspunkte besonders beachtet werden: besonders gering gehalten werden. Dies kann durch
eine Teleskopausführung, d.h. durch eine federnde
a) Beim Kaltstart muss die EKP bei verminderter
Abstützung realisiert werden. Die vertikale Auslen-
Betriebsspannung, d.h. verminderte Drehzahl, ge-
kung der Tankeinbaueinheit kann durch Ausbuchtun-
nügend Kraftstoff bei vorgegebenem Systemdruck
gen am Behälterboden eingeschränkt werden.
(meist unterhalb Nenndruck) zum Verbrennungs-
motor fördern. 7.6.5.4 Anforderungen zur elektrischen/
b) Der maximale Volumenstrom einer EKP muss aus elektronischen Systemeinbindung
nachfolgenden Gründen immer höher als der ma-
ximale Kraftstoffbedarf des Motors sein: Stellvertretend für alle elektrischen Bauteile der
– über die Vor-/Rücklaufleitung wird häufig zu- Kraftstoff-Versorgungs-Anlage sollen hier Anforde-
mindest eine Saugstrahlpumpe betrieben, die, rungen zur elektrischen/elektronischen Einbindung
zur einwandfreien Funktion, eine Mindest- erläutert werden. Immer höhere Aufwendungen wer-
durchflussmenge von 15 – 25 l/h benötigt, den zur Absicherung der elektromagnetischen Ver-
– der Kraftstoffdruckregler benötigt bei Mittel- träglichkeit erforderlich (Kap. 8.4). Das Aussenden
klassefahrzeugen eine Mindestdurchflussmenge von Spannungsspitzen auf Stromversorgungs-, Sig-
von ca. 15 l/h, um in einen stabilen Regelbe- nal-, Daten- und Steuerleitungen darf demnach keine
reich zu gelangen, negativen Auswirkungen haben. Außerdem sollen
– Zuschläge für Bordnetzschwankungen, Heiß- elektrische Komponenten für alle üblichen Funk- und
förderabfall. Radiowellenbereiche hinreichend entstört sein. Neben
der angemessenen Isolation der elektrischen Leitun-
Druckbegrenzungs- und Systemdruckhalteventil gen darf keine Funktionsbeeinträchtigung entstehen,
die ihre Ursache in einem falschen Anschluss der
Im Pumpenkörper können ein Druckbegrenzungsven- elektrischen Leitungen hat (Verpolsicherheit).
til und ein Systemdruckhalteventil enthalten sein.
Wird die Kraftstoffleitung abgequetscht, so verhin- 7.6.5.5 Elektro-Kraftstoff-Pumpen-Regelung
dert das Druckbegrenzungsventil einen Druckaufbau Zur Senkung des Stromverbrauchs und damit des
über den zulässigen Berstdruck der Kraftstoffleitung CO2-Ausstoßes eines Fahrzeugs wird die hydrau-
hinaus. Das Systemdruckhalteventil soll nach dem lische Leistung der elektrischen Kraftstoffpumpe
Abstellen des heißen Fahrzeugs den Druck zwischen (EKP) bedarfsgerecht geregelt. Derzeit gibt es zwei
Pumpe und Druckregler für eine gewisse Zeit auf- Regelungsarten in Serie: Drehzahlregelung und
rechterhalten, in der der Kraftstoff wieder auf nor- Druckregelung. Bei der Drehzahlregelung wird die
male Temperaturen abfallen kann. Wird der Druck EKP-Drehzahl entsprechend der Solldrehzahl einge-
nicht beibehalten, wird ein Start nach kurzer Zeit regelt. Die Solldrehzahl ergibt sich aus der im EKP-
(Heißstart) erschwert. Steuergerät hinterlegten Kennlinie die abhängig ist
von der Charakteristik der EKP, der benötigten Kraft-
7.6.5.3 Pumpenanordnungen
stoffmenge des Verbrennungsmotors und der Saug-
Grundsätzlich gibt es für Elektro-Kraftstoff-Pumpen strahlpumpen im Tank. Bei der Druckregelung wird
zwei Einbaukonzepte, einmal als Inline-Version und der Kraftstoffdruck direkt vor der Kraftstoff-Hoch-
zum anderen als In-Tank-Version. Inline-Pumpen druckpumpe bzw. Einspritzleiste gemessen und mit
werden in einer geräuschdämpfenden Halterung dem Solldruck verglichen. Bei Abweichungen zu
außerhalb des Tanks an der Karosserie in die Kraft- diesem wird die EKP-Spannung vom EKP-Steuer-
stoffvorlaufleitung eingebaut. Zu den wichtigsten gerät entsprechend angepasst und somit die hydrauli-
Anforderungen zählt hier vor allem die Dichtheit der sche Leistung reguliert.
EKP sowie die Beständigkeit gegen Salzwasser, Neben dieser Konstantdruck-Regelung gibt es noch
Schmutz und diverse Betriebsstoffe wie Motoröl, die Möglichkeit, einen variablen Vorlaufdruck einzu-
Frostschutzmittel, Bremsflüssigkeit etc. Aufgrund der stellen. Dies ermöglicht eine weitere Steigerung des
Entfernung vom Kraftstoff-Behälter muss die EKP Wirkungsgrades der Kraftstoffversorgung, da der
ein gutes Ansaugverhalten besitzen. Ein großer Vor- Verbrennungsmotor mit den jeweils niedrigst mögli-
teil ist der einfachere Zugriff im Falle einer Repara- chen Druck versorgt wird. Der maximale System-
tur. druck wird nur angefordert, wenn der Verbrennungs-
Die In-Tank-Pumpe wird entweder am Verschluss- motor mit niedriger Last, bzw. im Leerlauf betrieben
flansch oder im Schwalltopf befestigt und in beiden wird. Der geringe Motorverbrauch verhindert in
634 7 Fahrwerk

diesem Fall die Innenkühlung der Einspritzventile ten des Fahrzeuges. Als Einbauort empfiehlt sich
oder Hochdruckpumpe, so dass mit dem hohen Sys- jeweils eine Stelle, an der sich der Kraftstoff leicht
temdruck einer Dampfblasenbildung entgegengewirkt sammeln kann. Dies muss bei der Konstruktion der
werden muss. Behälterkonturen berücksichtigt werden. Je nach
Mit zunehmender Motorlast und damit verbundenem Ausführung können noch zusätzliche Funktionen in
Kraftstoffverbrauch findet keine kritische Aufheizung den Schwalltopf integriert werden. Die Anforderungen
des Kraftstoffes in den Einspritzventile oder Hoch- an den Schwalltopf sind immer im Zusammenhang mit
druckpumpe statt und der Systemdruck kann entspre- der EKP und der jeweiligen Behälterbauform zu sehen.
chend abgesenkt werden. Der Schwalltopf kann auf folgende Art und Weise im
Kraftstoff-Behälter befestigt werden:
7.6.5.6 Saugstrahlpumpe
– Verschweißung des Schwalltopfes mit dem Behäl-
In Bild 7.6-9 ist der Aufbau einer Saugstrahlpumpe ter,
[4] prinzipiell dargestellt. Diese Ausführung ist eine – Nachträgliche Verbindung durch Bajonettver-
passive Pumpe ohne mechanische, bewegte Bauteile schluss, Schnappverbindung etc.
nach dem Venturi-Prinzip und wird durch den Kraft- – Andrücken des in der Tankeinbaueinheit integrier-
stoff der Vor- oder Rücklaufleitung angetrieben. Mit ten Schwalltopfes auf dem Tankboden mittels Fe-
ihr wird bei Mehrkammerbehältern der in entlegenen derelemente.
Kammern vorhandene Kraftstoff in den Haupt-
tankbereich mit Schwalltopf und EKP gefördert. 7.6.6 Filtrierung des Kraftstoffs
Oft ist eine weitere Saugstrahlpumpe zur aktiven
Befüllung des Schwalltopfes aus der Hauptkammer Zur Reduzierung von Verschleiß und zur Erhaltung
erforderlich. Bei Einkammerbehältern wird die Saug- der Funktion für Bauteile der Kraftstoffversorgung
strahlpumpe meist direkt am Schwalltopf befestigt und des Motors muss der Kraftstoff von Verunreini-
bzw. in die Konstruktion des Schwalltopfes ein- gungen getrennt werden. Der Schmutz kann unter-
bezogen. Die Dimensionierung variiert je nach An- schieden werden in „Urschmutz“, der fertigungsbe-
trieb über Vor- (Hochdruck) oder Rücklauf (Nieder- dingt während der Produktion in den Kraftstoffkreis-
druck). lauf gelangen kann, sowie in Staub, Lack- und Me-
tall-Partikel, Rost, ferner bei Dieselkraftstoffen Was-
Diffusor Düse ser, Teer und Paraffin. Die erste Filtrierung erfolgt
Treibstrahl normalerweise an der Saugseite der EKP. Hier sollte
(Rücklauf) die Maschenweite der Siebe nicht zu klein gewählt
werden, da sonst eine Beeinträchtigung des Ansaug-
verhaltens entstehen kann. Stützkörper verhindern
hier das Zusammenziehen des Filters. Die zweite und
Mischrohr
eigentliche Filtrierung erreicht man durch separate
Filter, die in die Kraftstoffvorlaufleitung eingesetzt
Saugstrahl sind. Diese unterscheiden sich in ihrer Auslegung
(aus Behälter)
deutlich nach den verwendeten Kraftstoffarten für
Bild 7.6-9 Saugstrahlpumpe rücklaufgetrieben Dieselmotoren und Ottomotoren. Die Standzeit und
die Filterfeinheit müssen auf die Umgebungseinflüsse
7.6.5.7 Schwalltopf abgestimmt werden. Filter für Ottomotoren sind auf-
grund der gestiegenen Emissionsanforderungen zu-
Die zurzeit technisch verwirklichten Schwalltöpfe nehmend im Kraftstofftank integriert (Reduktion von
sind aufgrund der Einbausituation und der Motoran- Schnittstellen).
forderungen von der Form her sehr verschieden. Filter für Dieselkraftstoff sind wesentlich aufwendi-
Gemeinsam ist ihnen das Ziel: Geringe, im Behälter ger. Bei tiefen Temperaturen, d.h. unterhalb des Trü-
verbliebene Kraftstoffmengen bei Extremsituationen bungspunktes, kann das im Kraftstoff enthaltene
am Absaugort der Pumpe bereitzustellen, so dass die Paraffin kristallisieren und so den Filter verstopfen.
einwandfreie Funktion des Motors gewährleistet ist. Dies wird durch Heizsysteme vermieden, die sich
Unter Extremsituationen versteht man z.B.: selbstständig in vorgegebenen Temperaturbereichen
– Steigungen und Gefälle in Fahrtrichtung, zuschalten. Nach Bedarf werden Wasserabscheider
– Schräglagen quer zur Fahrtrichtung, mit elektronisch arbeitenden Wasserstandsmeldern
– volle Beschleunigungen und maximale Verzöge- und Entlüftungssystemen für die Sicherung des guten
rungen des Fahrzeugs oder Startverhaltens nach Wartungsarbeiten eingesetzt.
– lange Kurvenfahrten mit hohen Querbeschleuni- Erwähnte Zusatzkomponenten können im Filter inte-
gungen. griert oder vor bzw. nach dem Filter eingebaut wer-
Die ersten beiden Punkte betreffen das Ansaugverhal- den. Um an den Einspritzventilen unabhängig von der
ten im Betrieb wie auch nach u.U. längeren Abstellzei- abgenommenen Kraftstoffmenge einen konstanten
7.6 Kraftstoffsystem 635

Systemdruck zu erhalten, werden Kraftstoffdruckreg- verschiedenen Verfahren (z.B. geblasen, geschäumt)


ler eingesetzt. Sie werden aus Stahl bzw. Edelstahl als auch durch unterschiedliche Materialien abge-
hergestellt und sind entweder in der Einspritzleiste deckt. Die Höhe des Schwimmers wird über ein
integriert oder zunehmend im Tank installiert. offenes, oder gekapseltes Potentiometer in ein elektri-
Aufgrund der elektrostatischen Aktivität von Kraft- sches Signal umgesetzt und zur Weiterverarbeitung
stoff müssen Kraftstofffilter zusätzlich leitfähig und ans Kombiinstrument weitergeleitet. Die Dämpfung
geerdet ausgeführt sein, damit das Ladungspotenzial des Signals bei Schwappbewegungen des Kraftstoffs
sicher abgeleitet werden kann. erfolgt elektronisch mittels der Software im Kombi-
instrument.
7.6.7 Volumen-Messeinrichtung Bei der Befestigung der Füllstandsgeber unterschei-
det man grundsätzlich zwischen der bodenabgestütz-
Zur Messung des Kraftstoffinhaltes sind grundsätz- ten und der deckelabgestützten Ausführung. Aus-
lich verschiedene physikalische Prinzipien mit ihren schlaggehend für die Auswahl ist neben der Form-
unterschiedlichsten Ausführungen denkbar: beständigkeit des Behälters auch die gewünschte
– direkte Füllhöhenmessung Erfassungsgenauigkeit des jeweiligen Füllstands-
– Ermittlung des Kraftstoffgewichtes bereichs.
– Kapazitive Messung
– Optische Messung 7.6.7.2 Tauchrohrgeber
– Ultraschallmessung. Bei diesen Gebern (Bild 7.6-11) gleitet der Schwim-
Unter der Bewertung von Genauigkeit und Auflö- mer in Form einer Ringscheibe in einem senkrecht
sung, Adaption an verschiedene Tankgeometrien, stehendem Rohr über einen Führungsstab. Am
Lebensdauer, Signalverarbeitung, Montage- und War- Schwimmer befestigte Kontakte greifen einen Wider-
tungsfreundlichkeit, Unabhängigkeit von verschiede- stand ab. Durch ein hydraulisches Labyrinth wird
nen Betriebszuständen und nicht zuletzt der Kosten eine Dämpfung der Schwimmerbewegung bzw. des
hat sich bis heute die direkte Füllhöhenmessung in abgegebenen Signals erreicht.
fast allen Fahrzeugen durchgesetzt.
7.6.7.1 Hebelgeber
Beim Hebelgeber (Bild 7.6-10) ist der Schwimmer
am Ende eines Drahthebels befestigt. Durch die
Konstruktion des Hebels als auch der verschiedenen
Schwimmer lässt sich der Messbereich entscheidend
beeinflussen. Die Schwimmer sind in unterschied-
licher Geometrie (z.B. quaderförmig, kugelig), in

Bild 7.6-11 Tauchrohrgeber (geschnitten), BMW


5er-Reihe E34

7.6.8 Aktivkohlefilter (AKF)


Um die gesetzlichen Verdunstungsemissions-Grenz-
werte und die Kundenanforderungen bezüglich Kraft-
stoffgeruch zu erfüllen, werden die Kohlenwasser-
stoff-Dämpfe aus der Tankentlüftung in einem Aktiv-
kohlefilter (AKF) aufgefangen. Zur Regenerierung
des AKF wird ein Teilstrom der Motoransaugluft
durch den Filter geleitet und die Kohlenwasserstoffe
somit der Verbrennung zugeführt.
Um diese Spülluft optimal nutzen zu können, kann
man den Aktivkohlefilter beheizen um dem Tempera-
turabfall bei der endothermen Desorption entgegen-
Bild 7.6-10 Hebelgeber mit Bodenabstützung, BMW zuwirken. Idealerweise geschieht dies über elektri-
3er-Reihe E90 sche Heizelemente, die direkt im Kohlebett liegen.
636 7 Fahrwerk

grenzten Spülluftmengen gut regenerieren und weisen


ein extrem niedriges Restemissionsniveau auf (sog.
Bleed Emissions).
Die US-Variante hat ein größeres Kohlevolumen, da
sie neben den Verdunstungsemissionen bei Fahrzeug-
stillstand auch die Benzindämpfe bei der Betankung
(ORVR; onboard refueling vapour recovering) auf-
nehmen muss.
Hierbei ist auf eine optimale Durchströmung des
Aktivkohlebetts zu achten, um vorzeitiges Abschal-
ten der Zapfpistole bei der Betankung durch zu
hohen Druckverlust im AKF zu verhindern (Bild
7.6-12).

7.6.9 Besondere Anforderungen an die


KVA bei hybridisierten Fahrzeugen
Um die Anforderungen eines Hybrid-Fahrzeuges an
das Kraftstoffversorgungssystem erfüllen zu können,
sind weitere Schritte zur Optimierung des Verduns-
Bild 7.6-12 Aktivkohlefilter 2 Kammer mit Doppel- tungskontroll-Systems und des Kraftstoffkreislaufes
honeycomb (Quelle: Fa. Kayser) notwendig.
Durch die elektrischen Fahranteile eines Hybrid-
Fahrzeuges kann vom Verbrennungsmotor nicht mehr
Die Vorteile dieser Technologie müssen jedoch mit genügend Spülluft zur Regeneration des AKF zur
den resultierenden Mehraufwänden aufgewogen wer- Verfügung gestellt werden. Damit ist es notwendig,
den. Da diese Heizung einen entscheidenden Einfluss entweder die Belastung des AKF durch Benzin-
auf das Emissionsverhalten des AKF und damit des dämpfe zu reduzieren, oder die verbleibende Spül-
Fahrzeuges hat, kann eine OBD-Überwachung dieses luftmenge optimal auszunutzen.
Systems erforderlich werden, je nachdem, welche Ersteres kann zum Beispiel dadurch erreicht werden,
Emissionsverschlechterung bei Versagen der Heiz- dass ein geschlossenes System realisiert wird. Dabei
elemente eintritt. handelt es sich um einen druckfesten Kraftstofftank
Es wird zwischen zwei verschiedenen Ausführungen (bis 350 mbar) mit einem Absperrventil im Entlüf-
des AKF unterschieden, der US- und der ECE-Aus- tungspfad. Hierdurch wird das Ausgasen des Kraft-
führung. Darüber hinaus sind die AKF oft als Mehr- stoffs in den meisten Betriebszuständen verhindert
kammersysteme aufgebaut. Diese können mit ver- und der AKF nicht beladen. Bei US-Systemen ist der
schiedenen Kohlesorten befüllt sein, um besonders AKF dann nur für die Betankungsemissionen nötig
niedrige Emissionswerte zu erreichen. Um die beson- (ORVR) (Bild 7.6-13). Damit lässt sich das in 7.6.2
ders niedrigen Emissionsgrenzwerte bei PZEV- beschriebene Non Integrated System darstellen. Bei
Systemen erreichen zu können, werden Aktivkole- sehr hohen Umgebungstemperaturen werden während
elemente verwendet, die aus wabenförmig extrudier- des Fahrbetriebs nur minimale Mengen Benzindämp-
ten Monolithen bestehen. Diese Monolithen haben fe bei Überschreiten des Betriebsdrucks des Tanks in
zwar eine niedrige absolute Aufnahmekapazität für den AKF geladen, die sofort wieder durch den Motor
Kohlenwasserstoffe, lassen sich aber auch mit be- herausgespült werden. Während der Abstellphasen

Bild 7.6-13 Kraftstoff-


versorgungsanlage X5
Hybrid E72
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen für alternative Energieträger 637

des Fahrzeugs wird durch den Überdruck im Tank weiter zu verbessern. So ist für USA die Grenzwert-
das Ausgasen des Kraftstoffs unterdrückt. stufe LEVIII ab 2018 geplant (Quelle: CARB’s Ad-
Für die optimale Ausnutzung der Spülluftmenge muss vanced Clean Cars’ Workshop 16. 11. 2010) und die
zum einen die Betriebsstragegie des Fahrzeugs so Bestrebungen für eine weltweite Angleichung der
ausgelegt werden, dass die elektrischen Fahranteile in Emissionsvorschriften sind deutlich zu erkennen.
Bereichen, die für die Ausgasung des Kraftstoffs
kritisch sind, eingeschränkt werden. So kann es Literatur
beispielsweise notwendig sein, das Abschalten des [1] Meinig, U.; Heinemann, J.: Neue Anforderungen für Tankentlüf-
Verbrennungsmotors bei hohen Umgebungstempera- tungssysteme. Automobiltechnische Zeitschrift Heft 03/99
turen und stark beladenem AKF zu unterdrücken, um [2] Saechtling, H.-J.: Verarbeitungsverfahren, Kunststoff Taschen-
buch 26. Auflage, Seite 305 – 317. Carl Hanser Verlag München
ein Durchschlagen des AKFs zu vermeiden, was zu 1995
einer Geruchsbelästigung führen würde. [3] Sievert, H.; Thielen, M.: Trends beim Coextrusionsblasformen,
Konstruktiv lässt sich eine optimale Spülluftausnut- Kunststoffe 88, Seite 1218 – 1221. Carl Hanser Verlag München
zung durch mehrere Maßnahmen am AKF errei- 1998
[4] Strahlpumpen, Techniker Handbuch, Seite 1184. Vieweg Verlag
chen. Braunschweig 1995
Zum einen ist es notwendig, die Durchflusswider- [5] Entwurf der „Economic Commission for Europe (ECE)“
stände im Spülluftpfad zu minimieren, da das zur TRANS/WP.29/1998/33, 1999
Verfügung stehende Druckgefälle zwischen Verbren- [6] California Environmental Protection Agency, Manufacturers
Advisory Correspondence MAC #99-01, 1999
nungsmotor und AKF ist aufgrund der Entdrosselung [7] Hämmerl, A.; Kramer, F.; Langen, P.; Schulz, G.; Schulz, T.:
moderner Motoren sehr gering ist. BMW-Automobile für den wahlweisen Benzin- oder Erdgasbe-
Zum Anderen muss der Bereich im Spülluftpfad des trieb. Automobiltechnische Zeitschrift Heft 12/95
Aktivkohlefilters zwischen Kraftstofftank und Ver- [8] Wozniak, J. J.: The John Hopkins University Applied Physics
Laboratory, Advanced Natural Gas Vehicle Project, 1998
brennungsmotor konstruktiv so gestaltet sein, dass ein [9] Gase Handbuch: Messer Griesheim, 3. Auflage, 1989
Puffer für Kraftstoffdämpfe entsteht. [10] Pehr, K.: Experimentelle Untersuchungen zum Worst-Case-
Durch die Dämpfung der Konzentrationsänderungen Verhalten von LH2-Tanksystemen. VDI-Berichte Nr. 1201
der Kohlenwasserstoffe in der Spülluft wird damit S. 57 – 72, VDI-Verlag Düsseldorf, 1995
[11] Klee, W.; et al.: Barrieretechnologien: Ein Beitrag zur Emissi-
das Spülluft-Regelverhalten des Verbrennungsmotors onsreduzierung von Kraftstoffanlagen, in: Kunststoffe im Auto-
schneller und das zur Verfügung stehende Spülluft- mobilbau, VDI-Gesellschaft Kunststofftechnik, 2000, S. 309 –
volumen steigt. 335
Schließlich kann der Aktivkohlefilter selbst für nied- [12] Berry, G. D., Martinez-Frias, J., Espinosa-Loza, F., Aceves,
S. M.: Hydrogen Storage and Transportation, Encyclopedia of
rige Spülluftmengen ausgelegt werden. Dazu wird Energy, Academic Press (in Vorbereitung)
neben den in 7.6.8 erwähnten Möglichkeiten die Rei- [13] „European Integrated Hydrogen Project“ EIHP
henschaltung mehrerer Aktivkohle-Monolithen reali- (http://www.eihp.org/)
siert. So lässt sich durch die Verwendung eines zwei- [14] „Automobiltechnische Zeitschrift“ – ATZ, Band 105 (2003) Heft
6, Seite 590 – 596; Visteon, Intelligente Tanksysteme der Zu-
ten Monolithen der Spülluftbedarf eines bestehenden kunft
AKF um bis zu 20 % reduzieren. [15] „Tanktech 2003“ – Plenarvortrag Hugo Kroiss BMW „Entwick-
lung der Anforderung an die Kraftstoffförderung“
7.6.10 Ausblick [16] „Automobiltechnische Zeitschrift“ – ATZ Band 112 (2011)
Heft 11 Seite 834 – 839, Kautex Textron GmbH & Co. KG, Das
Aufgrund der endlichen fossilen Energieträger wird Kraftstoffsystem der nächsten Generation
der weltweite Einsatz alternativer Kraftstoffe und [17] „Tanktech 2007“ – Plenarvortrag C. Colemann Jones and
neuer Additive in naher Zukunft eine weitere Heraus- Melissa Schulz GM Powertrain „GM Perspektive on Ethanol“
forderung für die Kraftstoffversorgungsanlagen dar-
stellen.
Weiterhin stellen die enorm wachsenden Märkte in
Schwellenländern besondere Herausforderungen be-
reit. Besonders in Brasilien, Russland, Indien und
China, hinkt die Versorgung mit hochwertigen Kraft-
stoffen der Nachfrage weit hinterher. Die Kraftstoffe
in diesen Ländern schwanken stark in ihren Eigen- 7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen
schaften (Dampfdruck, Klopffestigkeit), sind stellen- für alternative Energieträger
weise stark mit Feststoffen verunreinigt und enthalten
agressive Substanzen (Säure, Wasser, freier Schwefel),
7.7.1 Anforderungen
die Komponenten des Kraftstoffsystems angreifen. Das Spektrum der alternativen Energieträger und ihr
Viele der heutigen Komponenten (z.B. Kraftstoff- jeweiliges Potenzial für eine Verwendung als Kraft-
pumpen, Füllstandsgeber und Dichtungen) müssen stoff werden in Kapitel 5.9 behandelt. Im Hinblick
dafür neu ausgelegt werden. auf die Handhabung und Speicherung von alternati-
Auch die weitere Verschärfung der Emissionsvor- ven Kraftstoffen ist davon auszugehen, dass die
schriften wird es erforderlich machen, die Systeme Anforderungen der Kunden sich an den Gewohnhei-
638 7 Fahrwerk

ten im Umgang mit Benzin und Diesel orientieren europäischer Ebene seit 2009 eine Verordnung (EC
und Nachteile kaum akzeptiert werden. 79/2009) mit der sowohl Fahrzeuge mit Flüssig- als
Wie in vorstehenden Abschnitten ausgeführt, können auch mit Druckwasserstoffspeicherung typgenehmigt
Methanol und Rapsmethylester (RME, auch Biodiesel werden können.
genannt) grundsätzlich zu den alternativen Kraftstof- Im Rahmen der weltweiten Harmonisierung von
fen gezählt werden. Beimengungen, wie von 5 % bis Vorschriften für die Typgenehmigung von Fahrzeu-
zu 10 % RME im Dieselkraftstoff sind in Europa gen unter dem Dach der UNO wird momentan an
schon üblich bzw. geplant. In einigen Ländern, insbe- einer globalen technischen Regelung (GTR) für
sondere in Brasilien und in den USA, sind Kraftstoffe Wasserstoff Fahrzeuge gearbeitet.
mit hohen Anteilen von Ethanol am Markt. Da der
Ethanol-Anteil variiert („Flexible Fuel“) ist ein Sen- 7.7.3 Anordnung im Fahrzeug
sor notwendig, der das jeweilige Mischungsverhältnis Die im Fahrzeug verwendeten Druck- und Kryospei-
von Ethanol und Benzin ermittelt, um den Motorbe- cher sind von gleichartigen, stationären Speichern
trieb an das aktuelle Mischungsverhältnis anpassen zu oder Transportbehältern, wie sie in der Logistik von
können. Die Speicherung von Methanol, Ethanol und technischen Gasen verwendet werden, abgeleitet und
RME erfolgt in Kraftstoffversorgungsanlagen, wie sie weiterentwickelt. Neben dem erforderlichen Platzbe-
oben beschrieben wurden, wenn bei der Wahl der darf müssen die Anforderungen zur Crashsicherheit,
Werkstoffe die besonderen chemischen Eigenschaften Montierbarkeit und auch bezüglich der Gewichtsver-
von Methanol, Ethanol und RME berücksichtigt teilung im Fahrzeug berücksichtigt werden. Zudem
wurden. verbleibt bei vielen Konzepten mit Verbrennungsmo-
Wie Kapitel 5.9 weiterhin zeigt, sind Erdgas und toren der Benzintank im Fahrzeug, damit dieses als
langfristig auch Wasserstoff für den mobilen Einsatz Bi-Fuel-Fahrzeug, auch bei nur wenigen vorhandenen
geeignet. Die Speicherung dieser beiden Energieträ- Tankstellen für Erdgas oder Wasserstoff, alltagstaug-
ger erfolgt gasförmig in Druckspeichern oder verflüs- lich bleibt [2].
sigt bei tiefen Temperaturen in sogenannten Kryo- Sehr häufig wird der Speicher in den Gepäckraum
speichern. Beim Erdgas unterscheidet man daher eingebaut, wobei die Reduzierung des Gepäckraum-
zwischen CNG (Compressed Natural Gas, kompri- volumens in Kauf genommen werden muss. So wurde
miertes Erdgas) und LNG (Liquified Natural Gas, der BMW 316 g, das erste europaweit zugelassene
verflüssigtes Erdgas). Letzteres ist bei rund –160 °C Erdgasauto, eigens für den Einsatz in Fahrzeugflotten,
flüssig, während Wasserstoff (LH2 ) bei Temperatu- z.B. bei Energieversorgungsbetrieben konzipiert. Die
ren um –250 °C flüssig gespeichert werden kann. Rücksitzbank ist zugunsten eines größeren Gepäck-
Tiefkalter, überkritischer Wasserstoff (CcH2) lässt raumes für die Unterbringung des Druckspeichers
sich auch bei Temperaturen größer –240 °C und entfallen. Nur wenige Einschränkungen ergeben sich
Drücken oberhalb von 13 bar speichern. für den Kunden, wenn die Speicher „versteckt“ in der
Fahrzeugstruktur untergebracht werden können. Die-
7.7.2 Gesetzliche Vorschriften
ses ist z.B. beim Fiat Multipla Bipower (Bild 7.7-1)
Die bei der Speicherung von Erdgas und Wasserstoff der Fall, bei dem mehrere Druckspeicher im Wagen-
eingesetzte Technik muss dem heute gültigen Sicher- boden integriert sind.
heitsbedürfnis und den aktuellen Standards entspre- Bei Speicherung von kryogenem Erdgas oder Was-
chen. So sind die zu treffenden Maßnahmen umfang- serstoff können durch die erheblich höheren Dichten
reicher als bei Benzin- und Dieselkraftstoff, die die jeweiligen Speichergrößen im Vergleich zu
bereits vor etwa einem Jahrhundert eingeführt wurden Druckspeichern reduziert werden, was deren Integra-
und zu denen viele Erfahrungen vorliegen. Es exis- tion erleichtert. Wird die Speichergröße belassen,
tieren sowohl für die Speicherung in Druckbehältern ermöglichen Kryospeicher im Vergleich zur Druck-
als auch in Kryospeichern eine Vielzahl von Vor- speicherung eine bis doppelt so große Reichweite des
schriften. Fahrzeuges.
Es müssen, anders als bei einer Kraftstoffversor-
gungsanlage für Benzin oder Diesel, die wichtigen 7.7.4 Kraftstoffbehälter und
Bauteile der Druckbehälter oder Kryospeicher noch Kraftstoffsysteme für Druckgas
eine behördliche Zulassung besitzen.
7.7.4.1 Kraftstoffbehälter
Die Bestimmungen für die Zulassungen sind in den
verschiedenen Ländern unterschiedlich, aber zumin- Druckspeicher für Erdgas oder Wasserstoff werden in
dest im Bereich der Europäischen Union vereinheit- der Regel mit 200 bis 350 bar betrieben, es laufen
licht. weltweit Entwicklungen für Speichersysteme mit
Für mit komprimiertem Erdgas betriebene Fahrzeuge Drücken bis zu 700 bar. Ausgehend von Stahlbehäl-
wurde im Jahr 2000 eine ECE Regelung in Kraft tern, wurden in den letzten Jahren Speicher aus neuen
gesetzt, die die Typgenehmigung von CNG Fahrzeu- Werkstoffen entwickelt, die leichter und weniger
gen regelt [1] Für Wasserstofffahrzeuge gibt es auf korrosionsanfällig sind. So werden heute Speicher
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen für alternative Energieträger 639

1 Erdgas-Druckbegrenzer/-regler
2 Sammler Erdgas-Düsenhalter
3 Sammler Benzin-Düsenhalter
4 Ableitung Erwärmung
Druckminderventil
5 Steuergerät Einspritzung 9
6 Erdgas-Flaschen
7 Elektroventilsätze und
Sicherheitsvorrichtungen
8 Benzintank
9 Erdgas-/Benzin-Einfüllstutzen
10 Umschalter Erdgas/Benzin
11 Erdgasvorratsanzeige
12 Kontrollleuchte Benzinzufuhr 8

12
11
1
10 2 6
4
3
5

Bild 7.7-1 Fiat Multipla bipower mit Erdgasantrieb (Quelle: Fiat)

aus Verbundwerkstoffen mit Innenbehältern aus Alu- 6


minium oder PE entwickelt. Das Gewicht eines 1 4
Speichers aus kohlefaserverstärktem Verbundwerk- 2 5
3 7
stoff mit Aluminiuminnenbehälter beträgt nur noch
ein Drittel des Gewichtes eines reinen Stahlspeichers
8
[3] (Bild 7.7-2), (Tabelle 7.7-1).
Auch wenn es immer wieder Experimente mit unter-
schiedlichen Geometrien gibt [4], die den Anforde- Typ 3 Typ 4
rungen aus dem Package besser entsprechen würden,
werden heute nach wie vor ausschließlich zylinder-
förmige Speicher eingesetzt.
Bild 7.7-2 Aufbau Druckgasbehälter
Durch die Verwendung zäher Werkstoffe kann si-
1 Nahtloser Metall-Innentank, 2 Faserverbund,
chergestellt werden, dass der Druckspeicher nicht
3 Schutzschicht, 4 Faserverbund- Umwicklung, 5 An-
schlagartig bersten kann, auch wenn alle Sicherheits-
schlussstück aus Metall, 6 Kunststoffliner, 7 Stoss-
systeme versagen würden.
Schutz 8 Schweißnaht Liner

Tabelle 7.7-1 Druckgas Behältertypen

Behältertyp I II III IV

Material Metall Metall Metall Kunststoff


Innenbehälter
(Liner)

Material Metall Umfangbewickelt Vollständig Vollständig


Tankstruktur (Nur zylindri- bewickelt bewickelt
scher Bereich)
640 7 Fahrwerk

7.7.4.2 Kraftstoffsysteme Betankung mit maximalem Befüllgrad ermöglicht.


Der erreichbare Befüllgrad je nach Umgebungstem-
Als für den Betankungsvorgang von Wasserstoff-
peratur und Initialdruck für eine Betankung ohne
Druckgasspeichersystemen maßgebliche Vorschrift
Kommunikation liegt zwischen 84 % und 94 %.
hat sich der Surface Vehicle Technical Information
Eine Thermosicherung am Speicher verhindert, dass
Report SAE J 2601 etabliert. Er beschreibt die An-
der Druck im Speicher im Brandfall über das zuläs-
forderungen an eine Druckwasserstoff-Tankstelle und
sige Maß hinaus ansteigt, indem diese das Gas aus
das Verfahren, nach dem eine sichere und schnelle
dem Speicher entweichen lässt. Diese Sicherung kann
Betankung erfolgen soll.
punktuell durch Schmelzlotsicherungen, Glasampul-
Es wird hierbei zwischen 350 bar und 700 bar (letzte-
len oder umfassender durch eine lineare Thermosi-
re aufgeteilt in Tankgrößen 1 – 7 kg und 7 – 10 kg),
cherung dargestellt werden [5] (Bild 7.7-3).
sowie die jeweils zu erreichende Vorkühlungstempe-
Da die Dichte gasförmiger Kraftstoffe stark von
ratur des Wasserstoffs am Austritt des Betankungs-
deren Temperatur abhängt, reicht die einfache Druck-
stutzens unterschieden. Es werden Wasserstoff-Tem-
messung zur genauen Bestimmung des Füllstandes
peraturen von –40 … –33 °C (Kat. „A“), –22,5 …
bei Druckspeichern nicht aus. Neben dem Druck wird
–17,5 °C („B“), 0 °C („C“) und keine Vorkühlung
auch die Temperatur des Gases gemessen und daraus
(„D“) vorgeschlagen. Eine 700 bar-Betankung wird
der Kraftstoffinhalt im Speicher berechnet.
aufgrund der hohen Kompressionswärme und der
Um zu verhindern, dass große Mengen Gas aus dem
hieraus resultierenden sehr langen Befüllzeiten nur
Speicher austreten, falls die Leitung vom Speicher
als „A“ oder „B“-Betankung als sinnvoll erachtet.
abreißen sollte, sind die Druckspeicher mit einem
Eine weitere Unterteilung besteht darin, ob zwischen
Durchflussbegrenzer ausgestattet. Alle notwendigen
Fahrzeug und Tankstelle ein Datenaustausch stattfin-
Armaturen, also Sicherheitsventile sowie Betan-
det oder nicht. Mithilfe des Austauschs von Informa-
kungs-, Absperr- und Magnetventile und Druckregler
tionen während der Betankung kann ein höherer
werden in einem einzigen Ventilkopf (Bild 7.7-4),
Befüllgrad erreicht werden. Die Gewährleistung einer
der direkt an der Flasche angeordnet ist, integriert.
sicheren Betankung auch ohne Kommunikation soll
durch die Verwendung von Tabellen erfolgen, die in
Abhängigkeit von der aktuellen Außentemperatur 7.7.5 Kraftstoffbehälter und Kraftstoff-
sowie dem gemessenen Initialdruck und Füllstand des systeme für tiefkalt flüssige Gase
Tanks den zu verwendenden Druckgradienten für den
7.7.5.1 Kraftstoffbehälter
Betankungsvorgang liefern. Hierbei wird davon
ausgegangen, dass der Tank und sein Inhalt umge- Kryobehälter bestehen aus zwei Hüllen (siehe Bild
bungswarm sind. Da diese Annahme nicht unter allen 7.7-5), zwischen denen sich eine Vakuum-Superiso-
Umständen gültig ist, wird bei der Auswahl des lation befindet. Durch das Vakuum werden die Kon-
entsprechenden Betankungsdruckgradienten ein um vektion, durch die reflektierenden Aluminiumfolien
einen Sicherheitsabschlag niedrigerer Wert angesetzt und Glasfasermatten zur Abstandshaltung der Folien
und damit ein Überdrücken des Tanks verhindert. die Strahlung minimiert, dadurch können die Werte
Besteht ein Datenaustausch, so wird die tatsächliche des Wärmeeintrags auf unter 1 W begrenzt werden.
Tanktemperatur an die Tankstelle übermittelt und Über die Aufhängung des Innentanks und die Rohr-
automatisch ein Druckgradient gewählt, der eine leitungen werden zusätzlich jeweils ca. 1 Watt Wär-

2 3

1
Bild 7.7-3 Schema Lineare
Thermosicherung
CH4 1 Thermosensitiver Poly-
bzw. merschlauch mit charakte-
H2
ristischem Berstbild,
2/2 Wegeschaltventil,
3 Druckregler, 4 Rück-
schlagventil, 5 Drossel,
bis 700 bar
6 federbelastetes Sicher-
6
heitsventil
(Quelle: Rotarex)
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen für alternative Energieträger 641

me eingetragen. Auch bei diesem geringen Wärme-


einfall siedet das flüssige Erdgas bzw. der flüssige
Wasserstoff und der Druck im Kryobehälter steigt an.
Dasselbe gilt bei der Erwärmung von überkritischen
Wasserstoff. Bei Erreichen des maximal zulässigen
Betriebsdruckes entweicht das Gas über ein Über-
strömventil [6]. Das Gas kann dann primär in einer
Brennstoffzelle genutzt oder in einem Boil-off-
Managementsystem oxidiert oder in die Atmosphäre
abgegeben werden (Bild 7.7-6). Auch Kryobehälter
sind mit zwei voneinander unabhängigen Druckbe-
grenzungseinrichtungen ausgerüstet, die den Speicher
öffnen, falls der höchstzulässige Druck überschritten
werden sollte [7].
Bild 7.7-4 Absperreinheit für Druckgas (Quelle: 7.7.5.2 Kraftstoffsysteme
Rotarex)
Die Betankung von kryogenen Flüssig-Systemen
erfolgt mit unterkühltem Kraftstoff. Der Kraftstoff
wird in den Tank eingesprüht. Dadurch kommt es an
den unterkühlten Tröpfchen zur Kondensation des
Gases im Tank. Die Rückgasmenge wird dadurch
erheblich reduziert oder kann bei flüssigem Erdgas
sogar fast vollkommen verhindert werden. Die Be-
tankung erfolgt deshalb meist über zweiflutige Kupp-
lungen, die es zulassen, dass gleichzeitig flüssiger
Kraftstoff aufgenommen und Rückgas abgegeben
werden kann. In Rahmen eines internationalen Kon-
sortiums wurde eine nutzerfreundliche Kupplung für
Flüssigwasserstoff entwickelt, die weltweit standardi-
siert werden soll [8].
Die Messung der Füllhöhe erfolgt in Systemen mit
Flüssigkeiten über kapazitive Sonden oder über die
Änderung des temperaturabhängigen Widerstandes
einer Sonde. Baugruppen, bei denen Leckagen von
Kraftstoff möglich sind, wie zum Beispiel Ventile oder
Bild 7.7-5 Kryospeicher (Quelle: BMW AG) Sensoren, werden in einer gasdichten Nebensystem-

Bild 7.7-6 Wasserstoff-


Versorgungssystem in einem
Fahrzeug mit Brennstoff-
zellenantrieb (Quelle: Adam
Opel AG)
642 7 Fahrwerk

3 2 1

5
6
8
9 7

Bild 7.7-7 Wasserstoff-Versorgungssystem in einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor (Quelle: BMW AG)
1 Flüssigwasserstoff-Behälter, 2 Tankklappe Wasserstoff, 3 Tankkupplung, 4 Sicherheitsabblaseleitung, 5 Ne-
bensystemkapsel, 6 Bivalenter Verbrennungsmotor, 7 Sauganlage mit H2 Rail, 8 Boil-off-Management-System,
9 Benzintank, 10 Druckregler

kapsel untergebracht. So können Kraftstoffleckagen das Fahrzeug und die Entwicklung automobilgerech-
aufgefangen, detektiert und gezielt entsorgt werden. ter Komponenten [9]. Kraftstoffsysteme für unter
Die Förderung des Gases erfolgt bei Kryobehältern Normalbedingungen gasförmige Medien haben bezo-
in der Regel über das Druckgefälle zwischen dem gen auf den Energieinhalt einen mehrfachen Bau-
Speicher und dem Gemischaufbereitungssystem der raumbedarf, beispielsweise ca. 4-fachen Raumbedarf
Brennstoffzelle oder des Motors. Der Kraftstoff kann für Flüssigwasserstoff gegenüber Benzin. Für künfti-
dem Tank flüssig oder gasförmig entnommen werden. ge Fahrzeuggenerationen sind deshalb Konzepte zu
Der Druck im Kryobehälter kann aufgebaut oder entwickeln, die dem großen Raumbedarf des Tanks
aufrecht erhalten werden, indem durch eine Heizung Rechnung tragen, den Nutzwert des Fahrzeugs si-
der Kraftstoff kontrolliert verdampft und erwärmt wird. cherstellen und zugleich eine sichere Unterbringung
Dies kann als elektrische Heizung oder mit erwärmtem im Fahrzeug gewährleisten [10].
Kraftstoff indirekt über einen Wärmetauscher erfolgen. Aus Kostengründen werden Systeme mit einem
Für alle Systeme ist eine tanknahe Absperrvorrichtung Speicher bevorzugt, deshalb werden zunehmend Kon-
erforderlich. Dies bedeutet bei kryogenen Systemen, zepte mit einer Anordnung in einem zentralen Mittel-
dass Ventile im Bereich des tiefkalten Kraftstoffs tunnel verwirklicht.
anzuordnen sind. Derartige Ventile, deren Verschleiß- Sowohl für Systeme mit kryogener Speicherung als
teile austauschbar sind, wurden für niedrige Drücke auch für Drucksysteme mit Drücken über 350 bar
entwickelt und sind jetzt verfügbar. werden Bauteile entwickelt, die einen sicheren und
Die Kraftstoffsysteme sind für Fahrzeuge mit Brenn- uneingeschränkten Einsatz im Fahrzeug zulassen und
stoffzellenantrieb und verbrennungsmotorischem An- gleichzeitig kostengünstig sind. Weiter sind Betan-
trieb prinzipiell identisch. Beim BMW Hydrogen 7, kungseinrichtungen und -Verfahren zu entwickeln
dem ersten Serienfahrzeug mit Verbrennnungsmotor und weltweit zu standardisieren um einen reibungslo-
und Flüssigwasserstoffspeicher, ist die Kraftstoffver- sen Betrieb der neuen Technologie sicherzustellen.
sorgungsanlage in Heck des Fahrzeugs untergebracht. Die Kryodruckgasspeicherung bei Temperaturen
Der Tank befindet sich im crashgeschützten Bereich oberhalb der kritischen Temperatur (33 K) in einem
über oder vor der Hinterachse, die Kraftstoffaufberei- kohlefaserverstärkten superisolierten Drucktank weist
tungseinrichtungen (Ventile, Sensoren, Wärmetau- interessante Potenziale bzgl. einer hohen Speicher-
scher) in einer direkt am Tank integrierten Nebensys- kapazität (>1,2 kWh/L Systemvolumen, >2 kWh/kg
temkapsel (Bild 7.7-7). Systemgewicht) bei deutlich verlängerten verlust-
Zum Antrieb führt eine Wasserstoffleitung für gas- freien Druckaufbauzeiten (10 Tage), sowie einer
förmigen Wasserstoff mit etwa Umgebungstempera- schnellen verlustfreien Betankung auf [11 – 17]. Vo-
tur, sowie Kühlwasserleitungen, die über das Kühl- raussetzung für die schnelle verlustfreie Betankung
wasser die Energie zur Erwärmung des Wasserstoffs mit hochdichtem Kryodruckgas ist die Verfügbarkeit
bereitstellen. einer leistungsfähigen LH2-Hochdruckpumpe. Es
steht eine LH2-Hochdruckpumpe zur Verfügung, die
7.7.6 Entwicklungstendenzen bei 300 bar Ausgangsdruck kryogenes Druckgas mit
Grundsätzlich sind zwei Hauptgebiete der Entwick- einer Dichte von 80 g/L bei 100 kg/h Massenstrom
lung sichtbar, die Integration von Tankssystemen in bereitstellen kann und für die Kompression von 1 bar
7.7 Kraftstoffversorgungsanlagen für alternative Energieträger 643

auf 300 bar einen elektrischen Energiebedarf von [5] Andreas T. E.: Neues Sicherheitssystem für H2 Druckgasbehäl-
ter HZwei 04/06
weniger als 1 % des unteren Heizwerts aufweist [13]. [6] Gase Handbuch: Messer Griesheim, 3. Auflage, 1989
Die mögliche Auslegung des Kryodruck-Speicher- [7] Pehr, K.: Experimentelle Untersuchungen zum Worst-Case-Ver-
systems auf einen Betriebsdruck von bis zu 350 bar halten von LH2-Tanksystemen. VDI-Berichte Nr. 1201 S. 57–
würde es zudem erlauben, in einen Kryodruck- 72, VDI-Verlag Düsseldorf, 1995
[8] Danner, S.: Liquid Hydrogen Refueling Coupler – Series Pro-
Speicher CGH2-Druckgas bis 350 bar zu betanken duction Status as a Premise for Standardization, hydrogen.tech,
und somit in der Anfangsphase neben ersten Kryo- München 2006
druck-Tankstellen auch 350 bar Druckgastankstellen [9] Brunner, T.: Liquide Hydrogen Storage for Passenger Car
nutzen zu können. Application – Roadmap to Mass Market, Hyderogen Production
& Storage Forum, Vancouver, 2006
Die aktuell laufenden Entwicklungsschritte an Fahr- [10] Lapetz J.; Natkin R.; Zanardelli V.: The Design, Development,
zeugtanks sowie einer parallel entwickelten automo- Validation and Delivery of the Ford H2 ICE E-450 Shuttle Bus,
tiven Betankungsanlage werden in den kommenden International Symposium on Hydrogen Internal Combustion
Jahren belegen, in wieweit die Kryodruck-Speiche- Engines, Graz, 2006
[11] Aceves, S.; Berry, G.; Weisberg, A.; Perfect, S.; Espinosa, F.:
rung in Zukunft eine Ergänzung der 350 bar und Advanced Concepts for Vehicular containment of Compressed
700 bar Hochdruckspeicherung werden kann. th
and Cryogenic Hydrogen, 16 World Hydrogen Energy Confer-
ence, Lyon, 2006
[12] Brunner, T.; Kircher, O.: Herausforderung Wasserstoffspeicher
Literatur – Perspektiven kryogener H2-Speicher, Booklet zur Konferenz
„Erneuerbare Energien – Moderne Speichertechnologien als
[1] „Übereinkommen über die Annahme einheitlicher technischer Voraussetzung?“, Forum für Zukunftsenergien, Berlin, 2007.
Vorschriften für Radfahrzeuge, Ausrüstungsgegenstände und [13] Espinoza-Loza,F.; Aceves, S.; Ledesma-Orzco, E.; Ross, T.O.;
Teile, die in Radfahrzeuge eingebaut und/oder verwendet werden Weisberg, A. H.; Brunner, T.; Kircher, O.: High Density Auto-
können, und die Bedingungen für die gegenseitige Anerkennung motive Hydrogen Storage with Cryogenic Capable Pressure Ves-
von Genehmigungen, die nach diesen Vorschriften erteilt wer- sels, International Journal of Hydrogen Energy, Volume 35,
den, Regelung Nr. 110: Einheitliche Bedingungen für die Ge- Issue 3, Pages 1219 – 1226, 2010.
nehmigung der I. Speziellen Bauteile von Kraftfahrzeugen, in [14] Kircher, O.; Brunner, T.: Advances in Cryo-compressed Hydro-
deren Antriebssystem komprimiertes Erdgas (CNG) verwendet gen Vehicle Storage (CcH2), FISITA 2010 World Automotive
wird, II. Fahrzeuge hinsichtlich des Einbaus spezieller Bauteile Congress, Paper A018, 2010.
des genehmigten Typs für die Verwendung von komprimiertem [15] Kircher, O.; Derks, M.; Garth, I.; Brunner, T.: Hochleistungs-
Erdgas (CNG) in ihren Antriebssystemen“ (ECE-R-110) vom composites für kryogene Wasserstoff Druckspeicher, Tagungs-
28. Dezember 2000 band VDI Kongress Kunststoffe im Automobilbau, S. 347 – 362,
[2] Hämmerl, A.; Kramer, F.; Langen, P.; Schulz, G.; Schulz, T.: 2010.
BMW-Automobile für den wahlweisen Benzin- oder Erdgas- [16] Kircher, O.; Braess, H.: Challenges and Requirements for Car
betrieb. Automobiltechnische Zeitschrift Heft 12/95 Industry, Hydrogen Technology, herausgegeben von A. Léon,
[3] Sirosh, N.: High Pressure Hydrogen Storage: Lessons-Learned S. 187 – 205, Springer Verlag 2008.
and the Path Forward. The 2003 Hydrogen Production & Storage [17] Brunner, T.; Kircher, O.: Cryogenic Hydrogen Vehicle Storage
Forum – a Viable Option for Future Serial Application?, Conference
[4] Wozniak, J. J.: The John Hopkins University Applied Physics Proceedings JSAE Annual Congress, Paper 134, Yokohama,
Laboratory, Advanced Natural Gas Vehicle Project, 1998 Japan 2007.
644 8 Elektrik/Elektronik/Software

8 Elektrik/Elektronik/Software

8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/ verschiedene Bussysteme (z.B. CAN, LIN, MOST)


sind die Steuergeräte eng miteinander vernetzt.
Software für das Automobil Die gewachsenen Ansprüche der Kunden konnten im
8.1.1 Einleitung Wesentlichen durch den zunehmenden Einsatz von
Steigende Anforderungen hinsichtlich Sicherheit, Elektronik befriedigt werden, deren Technologie in
Umweltschutz und Komfort führten in den vergange- den letzten Jahren enorme Fortschritte zu verzeichnen
nen Jahren zu einem starken Anstieg der Fahrzeug- hatte (Bild 8.1-2). Rechenleistung und Speicherdichte
funktionen. Wesentliche Treiber dafür waren ver- stiegen in den vergangenen Dekaden exponentiell an,
schärfte Abgas- und Sicherheitsbestimmungen; in den während die relativen Hardwarekosten überproporti-
letzten Jahren kamen komplexe Infotainment- und onal sanken.
Assistenzsysteme hinzu, die nur durch ein Zusam- Die zunehmende Bedeutung der Elektronik hat die
menwirken mehrerer Steuergeräte realisiert werden Automobilindustrie in den letzten Jahren geradezu
konnten. Deren intuitive Bedienung sowie Personali- revolutioniert und verlief in mehreren Phasen [3]. In
sierung der Funktionen erforderte eine systemüber- der Anfangsphase wurden bei der Konstruktion neuer
greifende Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI – Systeme die Eigenschaften bewusst auf die mechani-
Human Machine Interfaces). Durch die massiv ge- schen und elektrischen/elektronischen Teilsysteme
stiegene Anzahl an elektrischen Verbrauchern nahm verteilt, um ein optimales Einzelsystem zu erhalten.
auch der Energiebedarf deutlich zu, sodass über Die Innovationsphase ist gekennzeichnet durch die
elektronische Energiemanagementsysteme ein aus- Einführung der Datenbussysteme, insbesondere des
geglichener Energiehaushalt sichergestellt werden CAN [4]. Die Vernetzung bildet die Grundlage der
musste. eigentlichen Revolution, da sie es ermöglicht, Funkti-
Die Integration zusätzlicher Funktionen führte dazu, onen auf mehrere Steuergeräte zu verteilen. Die
dass innerhalb kurzer Zeit die Zahl der Steuergeräte zunehmende Integration von Mobiltelefonen in das
in modernen Fahrzeugen um den Faktor 2 – 3 auf etwa System Fahrzeug bietet sogar die Möglichkeit, Daten
40 Steuergeräte gestiegen ist (Bild 8.1-1). Über mit der Umwelt auszutauschen.

80
Touareg 2
70
Anzahl vernetzter Steuergeräte (ECU)

60

50 Passat B7
Touareg
Passat B6 EOS
40
Phaeton D1
Golf A5
30

20
Polo A04 Passat B5GP
Passat B5
10
Bild 8.1-1 Entwicklung der
Golf A4
0 Steuergeräteanzahl in Kraft-
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 fahrzeugen, am Beispiel
vonVolkswagen

107

106 Speicherdichte

105 Instructions/s

104

103
Energieverbrauch/
102
Operation
101 Bild 8.1-2 Entwicklung
Kosten/
100 Instructions/s von Hardware-Performance
1980 1990 2000 2010
und -Kosten

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_8,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil 645

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60

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45
Anteilige Herstellungskosten in %


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40

35

30

25

20
Abgasgesetzgebung
15

10 Elektronik
Elektrik
5

0
0 1970 1980 1990 2000 2010 Jahre

Bild 8.1-3 Entwicklung der anteiligen Herstellkosten für Elektronik nach [3]

Der Anteil der Elektroniksysteme an den Herstellkos- xität geworden ist. Das vernetzte Gesamtsystem
ten des gesamten Fahrzeugs ist stetig gestiegen. Zur Fahrzeug hat vielstufige funktionale Wechselwirkun-
Zeit liegt er je nach Ausstattungsvariante bei ca. gen und dynamische Abhängigkeiten, die trotz um-
20 Prozent. Die Wertschöpfung hat sich von der fangreichen Wissens über Komponenten- oder Teil-
Mechanik zur Elektronik und Software verlagert systemverhalten nur schwer zu beherrschen sind.
[18]. Neuere Prognosen gehen davon aus, dass sich Hinzu kommt eine Heterogenität bei Bussen, Subbus-
dieser Verlagerungseffekt weiter fortsetzen wird sen, Protokollen und Gateways sowie bei den Prozes-
(Bild 8.1-3). sen [16].
Qualitätssichernde Maßnahmen haben dazu geführt, Von dieser Entwicklung ist nicht ein Kfz-Hersteller
dass die Ausfallsicherheit von Bauteilen und Teil- allein betroffen, sondern alle OEMs stehen vor der-
systemen deutlich erhöht werden konnte (Bild 8.1-4, selben Herausforderung. In jüngster Vergangenheit
links). Die gestiegene Anzahl von Steuergeräten bei sind die Auswirkungen besonders deutlich bei Fahr-
gleichzeitig starker Erhöhung der Funktionalität hat zeugen im Premiumsegment zu Tage getreten, da
zur Folge, dass Anzahl und Umfang der Funktionen diese Fahrzeuge eine sehr hohe Funktionsdichte und
pro Steuergerät deutlich zugenommen haben und Komplexität aufweisen, die nur noch mit großem
jedes Steuergerät zu einem Konstrukt hoher Komple- Aufwand zu beherrschen ist (Bild 8.1-4, rechts).

100 % 75
Feldausfälle Airbag-Steuergerät

Kundennennungen pro

80 %
100 Fahrzeuge

50
60 %
≈ konstante Zahl von
40 % Nennungen pro Funktion
25

20 %

0% 0
1999 2000 2001 2002 2003 2004 50 100 150 200 250 300
elektronische Funktionen
Normiert auf 1999 = 100 %

Bild 8.1-4 Ausfallsicherheit am Beispiel des Airbag-Steuergeräts (links) [2], Qualitätsprobleme in Abhängigkeit
der Zahl elektrischer Funktionen (rechts) [9]
646 8 Elektrik/Elektronik/Software

OEM-übergreifende Standardisierung Systems Engineering

Etablierung eines offenen Das Design


Stark & authentisch
Standards für E/E-Architekturen

Standardisierung und Wieder- Spezifikation


Funktions-
verwendung Endabnahme
anforderungen Erfahrungswerte

Skalierbarkeit
Systemarchi- Spezifikation
Systemtest
tekturdesign Ergebnisse
Verschiebbarkeit

Integrations- Integrations-
Wartbarkeit planung test

Steuergeräte-
Test
entwicklung

Bild 8.1-5 Unterstützung des Systems Engineering durch Standardisierung

Elektronik wird auch künftig als wesentlicher Innova- Zudem lassen sich die Softwaremodule flexibel
tionsmotor der Automobilindustrie gesehen. Auf sie einsetzen und wieder verwenden sowie Funktionsum-
entfallen in Zukunft ca. 90 Prozent aller Innovationen fänge an die Anforderungen der jeweiligen Fahrzeug-
im Automobil, von denen wiederum bis zu 80 Pro- klasse vom Kleinwagen bis hin zum Premiumfahr-
zent in Software realisiert werden [19]. Um die stei- zeug skalieren. Bisher fehlte allerdings noch eine
gende Komplexität weiterhin beherrschen zu können, geeignete, OEM-übergreifende und standardisierte
müssen neue Anforderungen an Entwicklungsprozess Architektur, Softwaremodule ohne Änderungen auf
und Technologie erfüllt werden. unterschiedliche Hardwareplattformen verschiedener
OEMs zu portieren.
8.1.2 Neue Anforderungen Konsequentes Systems Engineering [7] unterstützt
an Entwicklungsprozess durch Standardisierung ist die Voraussetzung, sowohl
und Technologie die Komplexität zu beherrschen als auch kürzeren
Technologielebenszyklen und steigenden Qualitäts-
Das Beherrschen der wachsenden Systemkomplexität
und Sicherheitsanforderungen gerecht zu werden.
wird für Fahrzeughersteller und Zulieferer wettbe-
Sowohl die Spezifikation als auch die Integration
werbsentscheidend, vor allem wenn Zeitbedarf, Kos-
softwarebestimmter Systeme muss damit zur Kern-
ten und Qualität des Entwicklungsprozesses betrach-
kompetenz der Automobilhersteller werden. Eine
tet werden. Eine ganzheitliche Entwicklung der
qualitätsgerechte Softwareentwicklung ist ohne struk-
Fahrzeugelektronik wird unter Fortführung der heuti-
turierte Entwicklungsabläufe nicht mehr möglich. Die
gen, komponentenorientierten Bauteilentwicklung nur
Herausforderung besteht darin, die linke und rechte
noch mit enormen Aufwand möglich sein, weil die
Seite des V-Diagramms über die Sprossen miteinan-
Funktionen zunehmend miteinander vernetzt und auf
der zu vernetzen und dies in der Organisation abzu-
mehrere Steuergeräte verteilt werden. Eine übergrei-
bilden (Bild 8.1-5).
fende Betrachtung des Systems Fahrzeug und seiner
Teilsysteme ist Voraussetzung für qualitäts- und
8.1.3 Systems Engineering
termingerechte Markteinführung zukünftiger Innova-
tionen auf Basis einer leistungsfähigen Systemarchi- Ziel des Systems Engineering ist es, sich künftigen
tektur und -integration. Dazu ist es notwendig, den technologischen Herausforderungen zu stellen und
Betrachtungshorizont von der Ebene der Bauteil- die Anforderungen weltweiter Märkte unter Berück-
schnittstellen auf die Ebene der Funktionsschnittstel- sichtigung der Unternehmensentwicklung zu erfüllen
len zu erweitern. (Bild 8.1-6).
Diese Vorgehensweise stellt die vom Kunden ge- Dabei verfolgt das Systems Engineering den interdis-
wünschte Funktion – unabhängig von der Hardware – ziplinären Ansatz, komplexe Systeme in ihrer Ge-
in den Mittelpunkt der Entwicklung und bildet die samtheit zu verstehen, deren Komplexität zu beherr-
Grundlage für die anschließende Umsetzung in Soft- schen und diese letztendlich in hoher Qualität umzu-
waremodule sowie deren Verteilung auf Steuergeräte. setzen. Systems Engineering fokussiert in einer
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil 647

– Verbindlichkeit
– Realisierungsunabhängigkeit
Kunde Technologie
– Eindeutigkeit und
– Wiederverwendbarkeit.
Die Funktionsbeschreibungen und -vorgaben können
Systems mit Hilfe des Requirements Engineering (s.u.) so
Engineering
verfasst werden, dass die ersten sechs Anforderungen
vollständig erfüllt werden. Die Beschreibung der für
Unternehmen Gesetzgebung den Kunden erlebbaren Funktionen steht im Mittel-
punkt. Durch Modellierung und Simulation von
Funktionen kann zusätzlich eine Eindeutigkeit der
Funktionsdarstellung sichergestellt werden. Erfolgt
Bild 8.1-6 Ganzheitliche Sicht der Produktentwick- die Beschreibung unabhängig von einer möglichen
lung beim Systems Engineering Implementierung, wird implizit deren Wiederver-
wendung ermöglicht; einmal erstellte Funktionsbe-
frühen Phase des Entwicklungsprozesses auf Kun- schreibungen lassen sich für Folgeprojekte verwen-
denwünsche und die daraus resultierenden Funktio- den, auch wenn die Technologie zur Umsetzung sich
nen. Diese Vorgehensweise erfordert eine ganzheitli- zwischenzeitlich geändert hat. Die Vorteile dieser
che, integrierte Sicht der Anforderungen an die Fahr- Methodik werden insbesondere sichtbar, wenn Funk-
zeugentwicklung, die den gesamten Produktlebens- tionen vom OEM spezifiziert und anschließend vom
zyklus, d.h. von der Fertigung eines Fahrzeugs über Zulieferer in Software umgesetzt werden. Anforde-
den Kundendienst bis hin zur Verwertung erfasst. rungsdokumente sind in standardisierter Form vor-
Insbesondere sind die möglichen Einflüsse der handen und lassen keinen Spielraum für mögliche
schnelllebigen Elektroniktechnologien bei den Fehlinterpretationen sowie für fehlerhafte und unvoll-
Schnittstellenanforderungen zu berücksichtigen, da ständige Funktionsumsetzungen.
eine Fahrzeugreihe bis zu 20 Jahre betreut werden In frühen Phasen der Fahrzeugentwicklung lassen
muss (Bild 8.1-7). Der dazugehörige Entwicklungs- sich zum einen, unterstützt durch Rapid Control
prozess wird im Folgenden vertieft. Prototyping Verfahren (s.u.) und auf Basis ausführba-
rer Beschreibungen, Funktionen bereits im Vorfeld
8.1.3.1 Eigenschaften des Entwicklungsprozesses erlebbar und entscheidbar präsentieren und dadurch
können stabile Konzeptentscheidungen herbeigeführt
Die Ziele des Systems Engineering können nur durch werden. Zum anderen lassen sich aus präzisen und
eine methodische Vorgehensweise erreicht werden. eindeutigen Funktionsbeschreibungen frühzeitig Test-
Zudem ist es erforderlich, dass Vorgaben und Be- szenarien ableiten, um später in der Integrations- und
schreibungen von Funktionen folgende Eigenschaften Testphase die Umsetzung der Kundenfunktionen ge-
aufweisen: nau überprüfen zu können. Darüber hinaus eröffnet
– Klarheit die Unabhängigkeit der Beschreibung neue wirt-
– Vollständigkeit schaftliche Möglichkeiten, insbesondere beim Liefe-
– Nachvollziehbarkeit rantenmanagement und bei der Förderung des Wett-
– Widerspruchsfreiheit/Konsistenz bewerbs.

Komponenten- Isolierende Sichtweise Integrierende Sichtweise


denken „Prozesskette“ „Prozessnetz“

Antrieb Antrieb

Fahrwerk Fahrwerk

Bild 8.1-7 Systems Engi-


Elektrik/ Elektrik/
neering bedingt einen
Elektronik Elektronik Wechsel von der komponen-
ten hin zur funktionsorien-
tierten, domänenübergrei-
fenden Fahrzeugentwick-
lung [16]
648 8 Elektrik/Elektronik/Software

Die Erstellung von Funktionsanforderungen wird Modellentwurf/Simulationstest


aber nur dann wirklich erfolgreich sein und den
Modelle bilden die Realität in abstrahierter Form
Reifegrad des zu entwickelnden Produkts deutlich
nach. Der Abstraktionsgrad der Modelle richtet sich
erhöhen, wenn angemessene Methoden, Prozesse und
nach den jeweiligen Ansprüchen. Für die Unterstüt-
am Ende auch geeignete Tools eingesetzt werden. Die
zung der Anforderungsspezifikation sind die Modelle
Präzision und Nachvollziehbarkeit der Anforderun-
sehr abstrakt gestaltet, um die Komplexität zu redu-
gen kann durch den Einsatz von Requirements Engi-
zieren und die allgemeinen Abhängigkeiten und
neering erreicht werden. Die Eindeutigkeit und auch
Abläufe verständlich darzustellen. Soll der Inhalt
die Beurteilbarkeit von Funktionskonzepten wird
der Modelle erlebbar sein, müssen die Modelle detail-
durch den Einsatz von Modellierungstechniken unter-
lierter und vor allem ausführbar gestaltet werden.
stützt, während die Erstellung von frühen Umsetzun-
Hier kommen grafische Beschreibungstechniken wie
gen mit Methoden des Rapid Control Prototypings
Blockdiagramme oder Zustandsautomaten zum Ein-
erreicht werden kann.
satz (Bild 8.1-8). Blockdiagramme, häufig auch als
Diese drei methodischen Ansätze werden im Fol-
Datenflussdiagramme bezeichnet, stellen kontinuier-
genden näher erläutert.
liche Daten- oder Signalflüsse dar. Beim Zustands-
Requirements Engineering automaten hingegen werden diskrete Zustände und
die jeweils klar definierten Zustandsübergänge abge-
Requirements Engineering (RE) ist eine Methodik bildet. Trotz der grafischen Beschreibung sind diese
mit dem Ziel, eine explizite mit allen Beteiligten Techniken als formal oder zumindest semiformal
abgestimmte Anforderungs- und Systemspezifikation anzusehen, da die verwendeten Modelle weitestge-
auszuarbeiten und zu dokumentieren, die als Basis für hend eine formale, eindeutige Semantik haben. Das
die weitere Entwicklung dient [6]. So lässt sich u.a. Verhalten ist exakt beschrieben und kann daher nicht
die Vollständigkeit und Konsistenz von Anforderun- falsch interpretiert werden.
gen erreichen. Die in der Folge reduzierte Anzahl von Die zu entwickelnden Funktionen lassen sich mit
Änderungen ermöglicht eine intensivere Bewertung diesen Beschreibungstechniken nach dem Baukasten-
jeder einzelnen Änderung. In Summe lässt sich durch prinzip zusammenstellen. Unter bestimmten Voraus-
diese Effekte der Reifegrad der Entwicklung beurtei- setzungen ist es auch möglich, die beiden Techniken
len und Ansatzpunkte identifizieren, wie der Reife- miteinander zu kombinieren. Für die Modellerstel-
grad erhöht werden kann. lung sind keine Programmierkenntnisse im herkömm-
Die Anforderungsspezifikation beschreibt sowohl die lichen Sinne erforderlich. Die modellierten Inhalte
geforderten funktionalen als auch nicht funktionalen lassen sich überprüfen, sobald die Modelle in aus-
Eigenschaften. Wesentliches Ziel ist dabei eine de- führbarer Form vorliegen.
taillierte Beschreibung des Verhaltens der zu entwi-
ckelnden Funktion im Fahrzeug auf Systemebene. Es Rapid Control Prototyping/Codegenerierung
wird dabei nur die Funktion beschrieben, die für den
Fahrer später auch erlebbar ist. Das Dokument selbst Simulationen im Labor können nicht alle relevanten
wird nach Themenfeldern untergliedert, insbesondere Testfälle abdecken. Insbesondere bei dynamischen
nach funktionalen und nicht funktionalen Anforde- Systemen ist eine Abarbeitung in Echtzeit am realen
rungen. Die Anforderungen sind semantisch zu ana- Prozess erforderlich. Die Interpretation der Modelle
lysieren, um Vollständigkeit, Konsistenz und Eindeu- selbst erlaubt keine Abarbeitung in Echtzeit. Dazu
tigkeit der Beschreibung zu gewährleisten. Die Er- müssen die grafischen Modelle in konkrete Pro-
weiterung der Anforderungen um Modelle ist in grammiersprachen übersetzt werden und in ein Echt-
vielen Fällen sinnvoll, um das Gesamtverständnis des zeitbetriebssystem eingebettet werden. Auf geeigne-
betrachteten Systems zu verbessern und die Nach- ten Rechnern können die übersetzten Modelle in der
vollziehbarkeit der Entwicklung sicherzustellen. Die realen Umgebung zuerst im Labor und anschließend
formalisierte Struktur der Anforderungsspezifikation im Fahrzeug erprobt werden. Diese Vorgehensweise
erlaubt es, Anforderungen zu priorisieren und ihre wird als Rapid Control Prototyping bezeichnet und
Umsetzung und Überprüfung zu verfolgen [11]. hat sich in den vergangenen Jahren etabliert, insbe-

Bild 8.1-8 Grafische


Blockdiagramme Erweiterte Zustandsautomaten Beschreibungstechniken [10]
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil 649

Implementierungsmodell Serien- Serien-Code


Codegenerierung

Bild 8.1-9 Automatisierte


Codegenerierung für den
Serieneinsatz [10]

sondere bei der Entwicklung von Fahrerassistenzsys- 8.1.3.2 Systemintegration


temen [21]. Dadurch können die zu entwickelnden
Funktionen schon in einer sehr frühen Phase im Kernaufgabe des Automobilherstellers bei der Integ-
realen Fahrzeug „erlebt“ werden. Die Validierung der ration ist es, die Funktionssicherheit des elektroni-
Modelle lässt sich realitätsnah durchführen. Zusam- schen Gesamtsystems und insbesondere der vernetz-
men mit der abstrakten Beschreibung können schnell ten Steuergeräte zu garantieren. Bis vor wenigen Jah-
alternative Ideen real getestet werden, sodass in der ren reichte es aus, lediglich einzelne Steuergeräte
Folge ein stabiles und abgesichertes Konzept entsteht. unabhängig voneinander zu erproben. Heute dagegen
Die Risiken und der Aufwand bei der nachfolgenden, sind in immer stärkerem Maße Erprobungen im Sys-
kostspieligen Realisierung der Modelle können so temverbund erforderlich. Offene Signalschnittstellen,
minimiert werden. die im realen System durch Sensoren bzw. Aktoren
Die Implementierung eines validierten Modells im bedient werden, werden durch Simulatoren nachge-
Seriensteuergerät wird automatisiert mit Hilfe von bildet. Zur Durchführung einer stufenweisen Integra-
Codegeneratoren durchgeführt ([10], Bild 8.1-9). tion der Elektronikkomponenten und deren Funk-
Hocheffizienter Seriencode kann automatisiert jedoch tionsabsicherung ist ein Prozess notwendig, der aus
nur dann generiert werden, wenn die Modelle in den vier einzelnen, in Bild 8.1-10 dargestellten und
einem angepassten Modellierungsstil erstellt sind. nachfolgend beschriebenen Testebenen besteht.
Dazu gehört die Beschränkung auf solche Modellie- Jede Ebene hat dabei ihre eigene Testschwerpunkte.
rungselemente, die vom Codegenerator in effizienten Folgende Erprobungsumfänge werden berücksichtigt:
Code umgesetzt werden können und mit den begrenz- – Simulation und Tests der Busphysik und -topologie
ten Ressourcen des Seriensteuergeräts auskommen. – Tests der Botschafts- und Signalebene
Die Verwendung und Einhaltung von Modellierungs- – Test des Transportprotokolls
richtlinien ist daher notwendig. Bei Verwendung – Entwicklung von Prüfständen und Teststrategien
eines seriennahen Prototyping-Systems oder des – Tests realer, vernetzter Steuergeräte im Verbund
Seriensteuergeräts selbst ist ein Test in der realen – Test der gesamten Vernetzung in einem realen
Umgebung am Prüfstand oder im Fahrzeug möglich Fahrzeug
[22]. – Test des Netzwerkverhaltens im Dauerlauf
– Einhaltung von Prüfnormen und -vorschriften

Prüfebenen
Einzelsteuergerät Breadboard (mit HIL) Referenzprüfplatz Dauerlauf
Vernetzung

Physikalische Ebene Physikalische Ebene Physikalische Ebene Physikalische Ebene


Botschaftsparameter NM-Kommunikation NM-Kommunikation Botschaftsparameter
Netzwerkdiagnose von Netzwerkdiagnose von Netzwerkdiagnose von Netzwerkübergreifende
Steuergeräten Steuergeräten Steuergeräten Kommunikation
Fehlverhalten Netzwerkübergreifende Netzwerkübergreifende Netzwerkdiagnose
NM-Verhalten Kommunikation Kommunikation Fahrerprobung
TP-Test, Spannungsimpulse, Dauerlaufmessungen
K-Leistungs-Test Unterspannung
Intensivtests
Umfänge
der Fokus: Fokus: Fokus: Fokus:
Prüfungen Das Steuergerät selbst Steuergeräteverbund & Netzwerk in realer Netzwerkbeurteilung in
Netzwerkvarianten Fahrzeugumgebung Dauerlauffahrszenarien

Prüfstand Prüfling
Diagnose
CAN

Spannung

Bild 8.1-10 Prüfebenen der Vernetzung [17]


650 8 Elektrik/Elektronik/Software

Testautomatisierung Integrationstests
Um die wachsende Menge der Aufgaben im Testum- Bei der nächsten Teststufe werden die Wechselwir-
feld bei zunehmender Reduzierung der Entwick- kungen zwischen Funktionen verschiedener Steuerge-
lungszeit und unter Berücksichtung der Kosten- und räte und deren Kommunikation im Verbund über-
Qualitätsanforderungen zu bewältigen, muss ein prüft, um festzustellen, ob sich das zusammengesetzte
immer größerer Teil der Tests automatisiert ablaufen. System den Vorgaben entsprechend verhält.
Dadurch können Tests auch während der Nacht und Der so genannte Breadboardtest stellt den ersten
am Wochenende durchgeführt werden („Lights-out- Steuergeräte-übergreifenden Test eines vernetzten
Tests“). Der Zeitgewinn kann wiederum dazu genutzt Systems oder Teilsystems innerhalb des Fahrzeugs
werden, Testtiefe und Testabdeckung zu steigern. In dar (Bild 8.1-11). Im Gegensatz zu den Komponen-
den späten Entwicklungsphasen hat sich das automa- tentests werden die Schnittstellen zwischen den
tisierte Testen bereits etabliert. Die Tests der Steuer- Steuergeräten in die Tests integriert. Dazu werden die
geräte werden mit Hilfe von Hardware-in-the-Loop Steuergeräte über die Bussysteme miteinander ver-
(HIL)-Simulation durchgeführt. Dazu werden die bunden und mit Sensoren und Aktoren so funktions-
realen elektronischen Steuergeräte in eine Simulati- nah wie möglich betrieben. Die Eingangsparameter
onsumgebung eingebunden. Die Generierung der werden über weite Bereiche variiert, die Reaktionen
Sensorsignale sowie die Erfassung und Verarbeitung erfasst und ausgewertet. Zusätzlich ist die Möglich-
der Aktorsignale erfolgen dabei in dem echten Zeit- keit der Fehlerinjektion gegeben. Der Prozess kann
und Werteverhalten. Komplexe Fahrzeugkomponen- mit HIL-Simulatoren unterstützt werden. Für jedes
ten wie Motor, Getriebe oder Fahrwerk werden im Bussystem werden getrennte Breadboardtests durch-
Simulator über spezielle mathematische Modelle geführt.
nachgebildet. Großer Vorteil dieser Simulatoren ist, Bei dem Referenzfahrzeugtest werden elektronische
dass die Tests jederzeit reproduzierbar sind. Der Funktionen an einem exemplarisch aufgebauten
Nutzen von HIL-Simulation und Testautomatisierung Fahrzeug überprüft, das aus einer Fahrzeugkarosse,
konnte bereits in vielen Projekten nachgewiesen einem kompletten Fahrzeugbordnetz, den zugehöri-
werden [15]. gen Steuergeräten sowie den Sensoren und Aktoren
eines Fahrzeugprojektes besteht. Motor und Getriebe
Einzelsteuergerätetest werden weiterhin mit einem eigenen Simulator nach-
Die einzelnen Steuergeräte werden bezüglich ihres gebildet. Ziel dieses Tests ist es, den Einsatz von
spezifischen funktionalen Verhaltens bis zur Schnitt- Steuergeräten mit neuen Hard- und/oder Softwarever-
stelle geprüft. Die Schnittstelle kann entweder ein sionen abzusichern. Die vernetzten Fahrzeuggrund-
Bussystem sein oder aber aus konventionellen Signal- funktionen werden dazu nach standardisierten Test-
leitungen bestehen. Für diese Tests werden HIL- umfängen anhand des Prüfkatalogs abgeprüft. Der
Simulatoren eingesetzt. Auf diese Weise lassen sich Schwerpunkt liegt besonders auf Funktionen, die
Funktionsfehler unter Echtzeitbedingungen aufde- Fahrer und Insassen wahrnehmen.
cken, die als Einzelfehler im späteren Fahrzeugnetz-
Gesamtsystemtest
werk nur schwer zu diagnostizieren sind.
Weiterhin wird die Grundkommunikation des Steuer- Die Dauerlauferprobung dient der Beobachtung und
geräts überprüft. Um das Verhalten des Steuergeräts Analyse von Vernetzungsproblemen in einem realen
im Fehlerfall, vor allem bei Leitungsfehlern, zu Fahrzeug im Dauereinsatz. Die Priorität liegt dabei
analysieren, werden bewusst Fehler injiziert, um die nicht auf den gefahrenen Kilometern, sondern auf der
Fehlertoleranz des Prüflings zu bestimmen. Betriebszeit der elektrischen Komponenten. Schwer-

Bild 8.1-11 Breadboard-


aufbau des CAN-Komfort-
systems (inklusive Sub-
systeme) [17]
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil 651

punktmäßig wird die Zuverlässigkeit dieser Kompo- Bussystemen (z.B. FlexRay, Most), Basis Software
nenten wie Scheibenwischer oder Fensterheber bei (z.B. HIS) und Funktionsschnittstellen (z.B. Cartro-
der Bedienung getestet. Dazu wird ein aus bekannten nic). Ein Großteil dieser Bestrebungen wird seit
Fahrszenarien zusammengesetzter Fahrzyklus ver- Mitte 2003 unter AUTOSAR zusammengeführt und
wendet. konzeptionell neu ausgerichtet. AUTOSAR, Auto-
Die Intensivtests stellen die letzte Station der Integra- motive Open System Architecture, ist eine Ent-
tion von Elektronik in ein Fahrzeug dar. Das Gesamt- wicklungspartnerschaft von Automobilherstellern und
systemverhalten aus Kundensicht wird in intensiven Zulieferern mit dem Ziel, gemeinsam ein standardi-
Prüfungen unter definierten Bedingungen getestet, die siertes Elektrik/Elektronik (E/E)-Architekturkonzept
die möglichen Einsatzszenarien des Fahrzeugs mög- zu entwickeln, mit dem die steigende Komplexität
lichst exakt widerspiegeln und auch Missbrauchtests der E/E-Systeme beherrscht werden kann [17].
enthalten. So werden die Fahrzeuge in Klimakammer Die AUTOSAR Partnerschaft hat eine dreigliedrige
auf ihr Verhalten in besonders heißen oder kalten Struktur. Sie ist unterteilt in Core Partners, Premium
Umgebungen getestet. Es werden aber auch Messun- Members sowie Associate Members. Bis auf Associa-
gen beispielsweise des Ruhestroms oder des EMV- te Members können sie im Rahmen verschiedener
Verhaltens vorgenommen. Grundlage für die Durch- Vereinbarungen mit spezifischen Rollen aktiv an den
führung dieses Tests sind elektrisch aktuelle Fahrzeu- Entwicklungen mitwirken.
ge. Durch eine kontinuierliche Baustandsaktualisie- AUTOSAR soll als grundlegende Infrastruktur für
rung wird die Verfügbarkeit solcher Fahrzeuge si- das Management von Funktionen innerhalb zukünfti-
chergestellt. ger Anwendungen und Standard-Software-Modulen
Als Abschluss dieses Tests sind die Erprobungsfahr- dienen. AUTOSAR berücksichtigt die Bereiche der
ten zu sehen, bei denen die fertigen Fahrzeuge in Karosserie-Elektronik, Antrieb, Fahrwerk, Sicherheit,
realer Umgebung auf ihre Funktionsfähigkeit über- Multimedia-Systeme, Telematik sowie die Mensch-
prüft werden. Auch hier werden Extremsituationen Maschine-Schnittstelle. Standardisierungen haben
ausgesucht, um das Grenzverhalten der Fahrzeuge bereits zu vielen positiven Effekten innerhalb der
festzustellen. Verlaufen diese Tests erfolgreich, steht Automobilindustrie geführt. AUTOSAR wird diesen
der Freigabe für die Produktion dieser Fahrzeuge von Nutzen für Automobilhersteller, Zulieferer sowie für
Seiten des Gesamtsystemverhaltens nichts mehr im Toolhersteller und neue Entwicklungspartner zur
Wege. Verfügung stellen.
Die AUTOSAR-Mitglieder wollen bei Automobil-
elektronik speziell den Grad an Austauschbarkeit von
8.1.4 Neues Technologiekonzept: Funktionssoftware erhöhen. Sogar zwischen den
AUTOSAR Fahrzeugplattformen der Anbieter soll sich eine
Das Potenzial von Systems Engineering kann nur gewisse Austauschbarkeit einstellen, wenn es sich um
dann voll ausgeschöpft werden, wenn unterstützende nicht wettbewerbsrelevante Funktionen, wie z.B. die
Maßnahmen wie Standardisierungen umgesetzt Lichtsteuerung, handelt. Komplexe Anwendungen
werden. Seit den 90er Jahren gibt es eine Reihe von wie Informations- und Assistenzsysteme und erhöhte
Standardisierungsbestrebungen hinsichtlich der Ver- Komfortstandards sind zentrale Treiber für die
einheitlichung von Betriebssystemen (z.B. OSEK), AUTOSAR-Partnerschaft.

Application Actuator Sensor Application


Software Software Software AUTOSAR Software
Component Component Component Component
AUTOSAR AUTOSAR AUTOSAR Software AUTOSAR
Interface Interface Interface Interface

AUTOSAR Runtime Environment (RTE)

Standardized Standardized Standardized AUTOSAR AUTOSAR


Interface AUTOSAR Interface Software Interface
Interface
ECU
Service Communication
Abstraction
Standardized Standardized Standardized
Standardized

Interface Interface Interface


Interface

Operating Complex
System Device
Standardized Drivers
Interface
Basic-Software
Microcontroller
Abstraction
Bild 8.1-12 AUTOSAR
ECU Hardware Architektur [17]
652 8 Elektrik/Elektronik/Software

Die Ziele von AUTOSAR sind klar definiert. Die Standarddienste wie Diagnose oder Speichermanage-
Implementierung und Standardisierung von Basis- ment. Aber auch die Bereitstellung der Kommunika-
funktionen soll als industrieweite Basic Software tion (CAN, LIN, FlexRay, I/O, etc.) wird durch die
etabliert werden. Die Skalierbarkeit über Fahrzeuge, Basic Software realisiert. Wichtig ist in diesem Zu-
Plattformen und Hersteller ist ebenso unabdingbar sammenhang auch die Abstraktion des Microcontrol-
wie die Integration von funktionellen Modulen ver- lers. Zusätzlich können komplexe proprietäre Geräte-
schiedener Zulieferer. Außerdem sollen Funktionen treiber notwendig sein, die parallel zur Basic Software
im Netzwerk verschiebbar sein. einen direkten Zugriff auf die Hardware ermöglichen.
Die AUTOSAR Steuergeräte-Software-Architektur Die AUTOSAR Methode definiert auch die Vor-
gliedert sich in die Ebenen Applikation, AUTOSAR gehensweise bei der Erstellung der Systemarchitek-
Run Time Environment (RTE) und Basic Software, tur, die aus der formalen Beschreibung von Software-
siehe Bild 8.1-12. Die Applikation wird immer funkti- und Hardware-Komponenten abgeleitet wird, siehe
onsorientiert spezifiziert und entwickelt. Die Imple- Bild 8.1-13. Das Zusammenwirken von AUTOSAR-
mentierung der Software-Komponenten ist unabhän- Softwaremodulen wird im Entwurfsstadium mit Hilfe
gig von der Infrastruktur. Die Kommunikation von des „Virtual Functional Bus“ überprüft. Für jedes
AUTOSAR Softwarekomponenten erfolgt über funk- Softwaremodul existiert eine Beschreibungsdatei, in
tionale Schnittstellen. der die Schnittstelleneigenschaften des Moduls for-
Das AUTOSAR RTE bildet die Kommunikations- mal beschrieben sind. Bevor das System generiert
schicht beim Datenaustausch zweier oder mehrerer und die Software implementiert wird, lässt sich auf
Applikationen. Aber auch der Datenaustausch mit der Basis der „Software Component Descriptions“ prü-
Basic Software wird durch das AUTOSAR RTE fen, in wie weit das Zusammenspiel aller Komponen-
übernommen, das jeweils für ein konkretes Steuerge- ten und Schnittstellen funktionieren kann. Für die
rät und die darin vorhandenen Softwarekomponenten Hardware der Steuergeräte existiert ebenfalls eine
generiert wird. formale Beschreibung. Die „ECU-Descriptions“ ent-
Die Basic Software repräsentiert die Schicht der hält Informationen zu den Schnittstellen und Ressour-
nichtfunktionalen Standardsoftware. Dazu gehören cen der Hardware. Die „System Constraint De-

SW-C SW-C SW-C SW-C


Description Description Description Description
AUTOSAR

AUTOSAR

AUTOSAR

AUTOSAR
SW-C

SW-C

SW-C

SW-C
1

Virtual Funktional Bus

System
ECU Tool supporting deployment Constraint
Description of SW components Description

ECU I ECU II ECU m


AUTOSAR

AUTOSAR

AUTOSAR

AUTOSAR
SW-C

SW-C

SW-C

SW-C
1

RTE RTE RTE

Basic Software Basic Software Basic Software

Gateway
Bild 8.1-13 AUTOSAR
Virtual Functional Bus [17]
8.1 Bedeutung Elektrik/Elektronik/Software für das Automobil 653

scription“ beinhaltet die Randbedingungen für das Ge- nische Universität, Institut für Elektrische Messtechnik, Dis-
sertation, 2003, ISBN 3-9808181-6-0, 2003
samtsystem. Auf Grundlage dieser formalen Beschrei-
[4] Etschberger, K.: „CAN Controller Area Network Grundlagen,
bungen der SW Komponenten, ECU-Ressourcen und Protokolle, Bausteine, Anwendungen“, Hanser Verlag, Mün-
des gesamten E/E-Systems kann die Verteilung der SW chen, Wien, 1994
Komponenten auf die einzelnen Steuergeräte durchge- [5] Fischer, P.: „Moore’s Law, die rasante Entwicklung der Tech-
nologie“, Vorlesungsunterlagen Digitale Schaltungstechnik,
führt werden. Die Generierung einer geeigneten Sys- Universität Mannheim, Institut für Technische Informatik,
temarchitektur kann durch den Einsatz entsprechender Mannheim 2004
Tools entscheidend unterstützt werden. [6] Fleischmann, A.; Geisberger, E.; Pister, M.: „Herausforderun-
In 2004 wurde das AUTOSAR Konzept erstellt. Mitte gen für das Requirements Engineering eingebetteter Systeme“,
TUM-INFO-09, Technische Universität München, 2004
2006 wurde die Spezifikationsphase abgeschlossen [7] INCOSE: ,Systems Engineering Handbook v2a‘, 2004,
und die AUTOSAR Methode endgültig definiert, so www.incose.org
dass nach erfolgreicher Integration und Validierung [8] Isaac, R.: „Influence of Technology Directions on System
Ende 2006 die Technologiereife von AUTOSAR Architecture“, Presentation IBM, IBM Research Division, 2004
[9] JD Power IQS ratings: defects per 100 vehicles, October 2003,
erreicht wurde. Autosar ist seit 2009 nunmehr in Summe von „Features and Controls“, „Sound System“, „HVAC“,
Serie, zunächst in einzelnen neuentwickelten Fahr- Quelle: JD Power & Associates; McKinsey and Company
zeugsteuergeräten. Da die E/E-Architektur der vor- [10] Klein, T.: „Modellbasierte Entwicklung von Fahrzeugsoftware in
handenen Fahrzeuge nicht schlagartig auf die neue der Automobilindustrie“, Vorlesung Institut Software Systems
Engineering, Technische Universität Braunschweig, Braun-
AUTOSAR-Architektur umgestellt werden kann, ist schweig, 2004
die parallele Verwendung von AUTOSAR-Modulen [11] Klein, T.; Fey, I.; Grochtmann, M.; Conrad, C.: „Modellbasierte
und bestehenden proprietären Komponenten von Entwicklung eingebetteter Fahrzeugsoftware bei DaimlerChrys-
vornherein vorgesehen. Seit Ende 2009 liegt die ler“, GI-Edition Lecture Notes In Informatics (Rumpe, B.; Hes-
se, W. Hrsg.): ,Proceedings Modellierung‘, Marburg, 2004
Version 4.0 vor [25] mit Spezifikationen nun auch für [12] Kurzweil, R.: „The Age of Spiritual Machines: When Computers
Ethernet und Konzepten für Sicherheitsanwendungen Exceed Human Intelligence“, Penguin USA, 2001
(ISO-26262) und Verschlüsselungsmechanismen [26] [13] Mercer Management Consulting: „Technologische Veränderun-
sowie Softwareaufteilungen bei Mehrprozessoran- gen und deren Konsequenzen für die Automobilzulieferer und
-ausrüster Industrie bis 2010“, Studie, Mercer Management Con-
wendungen. Bis Ende 2012 sind für ein Release 4.1 sulting, München, 2001
u.a. Spezifikationen für ein effektives Energiemana- [14] Moore, G.: „No exponential is forever“, International Solid State
gement zu erwarten. Circuits Conference (ISSCC), San Francisco, 2003
[15] Otterbach, R.; Schütte, F.: „Effiziente Funktions- und Software-
Entwicklung für mechatronische Systeme im Automobil“, Work-
8.1.5 Ausblick shop „Intelligente, mechatronische Systeme“, Paderborn, 2004
[16] Reichart, G.: „Systems Engineering – ein neues Entwicklungspa-
Wertigkeit und Charakter moderner Kraftfahrzeuge radigma für die Automobilindustrie?“ 9. EUROFORUM Tagung
werden zunehmend durch komplexe Softwarefunk- Elektronik-Systeme im Automobil, München, 2005
tionen bestimmt. Neue Funktionen bestehen häufig [17] Scharnhorst, T.: „Management of the E/E Complexity by
aus Teilfunktionen unterschiedlicher Zulieferer und Introducing a Software Development Process and the Open Sys-
th
tem Architecture“, 6 Braunschweig Conference AAET, Braun-
sind nur im Systemverbund realisierbar. Die hieraus schweig, 2005
resultierende, stark wachsende Komplexität der E/E- [18] Schernikau, J.: „Gestaltung von mechatronikgerechten Organisatio-
Architektur stellt für die Automobilindustrie eine nen in der Produktentwicklung“, Dissertation, Lehrstuhl für Produk-
Herausforderung dar, die wettbewerbsentscheidend tionssystematik des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH
Aachen, Shaker Verlag, 2001, Aachen, ISBN 3-8265-8522-4
wird. Systems Engineering ist ein ganzheitlicher An- [19] Schleuter, W.: „Herausforderungen der Automobil-Elektronik“,
satz, auf Basis einer funktionsorientierten Entwick- IKB Unternehmerforum, Köln, 2002
lung die E/E-Komplexität zu beherrschen. [20] Scott, S.: „Designing for the High End“, 10th International Sympo-
Hilfreich für das Komplexitätsmanagement ist die Ent- sium on High Performance Computer Architecture, Madrid, 2004
[21] Schwab, G.: „Untersuchungen zur Ansteuerung adaptiver
wicklungspartnerschaft AUTOSAR, im Wesentlichen Kraftfahrzeugscheinwerfer“, Dissertation, Technische Universi-
durch deren Standardisierung von Funktionsschnittstel- tät Ilmenau, Fachgebiet Lichttechnik, Der Andere Verlag, 2003,
len und nicht wettbewerbsrelevanter Basis Software. ISBN 3-8995-9047-3
Die Weichen sind gestellt, den Paradigmenwechsel von [22] Stroop, J.; Köhl, S.; Lamberg, K.; Otterbach, R.: „Simulation,
Implementierung und Test vernetzter, zeitgesteuerter Fahrzeug-
der steuergeräte- hin zur funktionsorientierten Entwick- systeme“, 4. Symposium „Steuerungssysteme für den Antriebs-
lung zu vollziehen und neue Geschäftsfelder zu eröff- strang von Kraftfahrzeugen“, Berlin, 2003
nen. Durch die klare Trennung von Hardware und [23] Scharnhorst, T. et al.: ,AUTOSAR – Challenges and Achieve-
ments 2005‘ VDI Konferenz „Elektronik im Fahrzeug“, Baden
Software und deren Wiederverwendbarkeit gewinnt
Baden, 2005
Software als Produkt an Bedeutung. [24] Fennel, H. et al.: Achievements and exploitation of the AUTO-
SAR development partnership Convergence 2006, Detroit, 2006
Literatur [25] Fürst, S. et al.: AUTOSAR – A Worldwide Standard is on the
Road. 14. Internationaler VDI Kongress „Elektronik im Fahr-
[1] Automotive Open System Architecture, www.AUTOSAR.org zeug“, Baden-Baden 2009
[2] Denner, V.: „Automobilelektronik der Zukunft“, Euroforum [26] Bunzel, S.; Fürst, S. et al.: „Safety- and security-related features
Kongress „Elektronik Systeme im Automobil“, München, 2005 in AUTOSAR“. Automotive-Safety & Security, Stuttgart 2010
[3] Ehlers, T.: „Verfahren zur Sicherstellung der Systemintegrität in
Fahrzeugen mit vernetzten Steuergeräten“, Braunschweig, Tech-
654 8 Elektrik/Elektronik/Software

8.2 Das Bordnetz Von den etwa 11.000 Teilen, die laut Stückliste eines
Fahrzeugmodells der Elektrik zugeordnet werden,
8.2.1 Bestandteile des Bordnetzes entfällt der weitaus größte Umfang auf das Bordnetz
aufgrund seiner vielen Ausführungsvarianten (Bild
8.2.1.1 Übersicht
8.2-1). In Tabelle 8.2-1 sind die wichtigsten Teile-
Unter Bordnetz versteht man einen Sammelbegriff für gruppen aufgeführt. Sie sind überwiegend in Kabel-
alle zur Verbindung und Versorgung der elektrischen sätzen als Fertigungsmodule zusammengefasst, kön-
Bauteile eines Fahrzeuges erforderlichen Komponen- nen aber auch, z.B. als Befestigungs- oder Schutzteile
ten, einschließlich der zu ihrer Integration (Befesti- an der Karosserie, Aggregaten oder anderen Monta-
gung, Einbau) ins Fahrzeug nötigen nichtelektrischen geeinheiten vor Einbau der Leitungssträngen im fahr-
Bauteile. Damit umfasst es wesentlich mehr als die zeugbauenden Werk vormontiert werden.
zur Signalübertragung und Energieversorgung erfor- Obwohl das Bordnetz scheinbar aus einfachen Kom-
derlichen Leitungen. ponenten in bewährten Technologien hergestellt wird,

Bild 8.2-1 Elektrikkompo-


nenten (blau) und Bordnetz
(braun) eines Oberklasse-
Fahrzeuges

Tabelle 8.2-1 Bestandteile des Bordnetzes und, in Klammern, typische Teilezahlen in einem Fahrzeug der unte-
ren Mittelklasse

Elektromechanik Mechanik

Einzelleitungen (~600)
Leitungen mit Aktuator/Sensor
Spezialleitungen
Bänder,
Steckgehäuse und Kontakte (~170/700) Schläuche, Wellrohre, Schaumrohr
Potentialverteiler Kabelkanäle, Schutzelemente
Splice (Crimps, US-Verbindungen) (~90) Befestigungselemente und Clipse
Massebolzen/Verbindungen Formteile, Umschäumungen
Andere Verbindungen Durchführungen, Tüllen
Relais, Halbleiterschalter, Unterbrecher Relais- und Sicherungsboxen (5)
Elektronische Leistungsmodule (1)
Sicherungselemente

Autarke Leitungssätze (Frontend, Cockpit, Himmel, Türen und Klappen, Sitze …)


Hauptleitungssätze
8.2 Das Bordnetz 655

hat seine Ausführung auf die Qualität des Endproduk- lichst einfache Struktur mit wenigen Abzweigungen
tes Automobil einen großen Einfluss. Infolge der und parallelen Zweigen vorteilhaft ist. Die typischen
hohen Teile- und Variantenzahl, seiner unhandlichen Kabeltrassen in einem Pkw sind in Bild 8.2-2 aufge-
Form und vieler manueller Fertigungsschritte ist die führt. Ihre Nutzung ist durch die Position der elektri-
Beherrschung jedes Details nicht nur in der Kon- schen Bauteile und die verfügbaren Trassenquer-
struktion, sondern stärker als bei allen anderen Elekt- schnitten, aber auch durch die E/E-Architektur vor-
rikkomponenten in der Logistik und den Fertigungs- gegeben. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur
abläufen von Bedeutung. unterschiedliche Fahrzeugvorgaben, z.B. Karosserie-
Die Vorgehensweise bei der Grundauslegung eines derivate oder Motorvarianten, sondern auch sehr
Bordnetzes hat sich über lange Zeit relativ geradlinig unterschiedliche elektrische Funktionsausstattungen.
dargestellt. Ausgehend von der in Schaltplänen do- Erschwerend kommt hinzu, dass die EMV Anforde-
kumentierten elektrischen Verschaltung vordefinier- rungen aufgrund neuer Leistungsverbraucher und
ter Komponenten wurde in den durch die Fahrzeug- sicherheitskritischer elektrischer Systeme weiter stei-
auslegung vorgegebenen Kabeltrassen eine Leitungs- gen und eine separate Verlegung bedingen können.
führung entwickelt, die man bei Bedarf durch Unter- Darüber hinaus gelten natürlich auch für das Bord-
teilung mittels Steckverbindungen an die Gegeben- netz die allgemeinen fahrzeugtypischen Spezifikatio-
heiten der Fahrzeugmontage angepasst hat. Diese nen.
Vorgehensweise führt aufgrund des stark angestiege-
nen Umfangs an elektrisch/elektronischen Systemen 8.2.1.3 Leitungen
in modernen Fahrzeugen nicht nur zu unwirtschaftli- Das Leitermaterial von Fahrzeugleitungen ist über-
chen, sondern auch zu nicht mehr verbaubaren Lö- wiegend Kupfer und wird als Litze ausgeführt, um
sungen. Besondere Anforderungen stellen in diesem eine flexible Verlegung und Robustheit gegen Vibra-
Zusammenhang die Einführung der elektrischen tion und mechanische Belastungen zu ermöglichen.
Traktion, z.B. in Hybridfahrzeugen, der Einsatz wei- Bei Kabelstrecken, die Biegewechselbelastungen un-
terer elektrischer Nebenaggregate und die damit terworfen sind, ist ggf. eine hochflexible Ausführung
verbundene Implementierung eines Hochleistungs- mit feineren Litzen erforderlich. In selteneren Fällen
bordnetzes. wird auch verzinntes Kupfer verwendet. Als Alterna-
tive für größere Querschnitte kommt zunehmend auch
8.2.1.2 Randbedingungen
Aluminium aufgrund seiner Gewichts- und Kosten-
Eine immer effizientere Ausnutzung des Innenraums vorteile zum Einsatz. Allerdings benötigt Aluminium
des Fahrzeuges und die wachsende Zahl an Leitungen ein größeres Volumen und erfordert aufgrund sei-
schränken die Freiheitsgrade des Entwicklers zuneh- nes Fließverhaltens und der Oberflächenoxidation
mend ein. Da das Bordnetz keine direkte Kundenre- aufwendigere Verbindungstechnologien, z.B. Reib-
levanz hat, müssen im Einzelfall immer Kompromis- schweißen oder ein modifiziertes Ultraschallschwei-
se zugunsten anderer Anforderungen eingegangen ßen.
werden. Eine gute Auslegung entsteht daher in der Signalleitungen müssen zur Verbesserung von Stör-
Regel in sehr vielen Iterationsschleifen. Darüber hi- ein- und Abstrahlung verdrillt (twisted-pair) oder als
naus muss das Packaging (d.h. die Positionierung und Koaxialleitung eingesetzt werden. Die koaxiale Aus-
Dimensionierung von Einbauräumen für Komponen- führung mit geflochtenem Schirm ist nur aufwändig
ten und Kabeltrassen) eng mit der Montagefolge des zu verarbeiten. Man strebt leicht zu kontaktierende
Fahrzeuges abgestimmt werden, für welche eine mög- Einzelleiter an, was sich z.B. durch einen beigelegten

Dach/Himmel Heckklappe

A-Säule

C/D-Säule
Schalttafel/
Cockpit

Kofferraum
Radhaus

Türen

Tunnel

Schweller

Motorrraum Fußraum
Bild 8.2-2 Typische Kabel-
trassen in einem Pkw
656 8 Elektrik/Elektronik/Software

zusätzlichen Leiter in einer leitfähiger Ummantelung Elastomere (Silikon, bis ca. 150 °C), vernetzte Kunst-
als Verbindung zum Schirm realisieren lässt Alterna- stoffe (z.B. XPE) oder PTFE (Teflon o.ä. bis
tiv kommen für Signalleitungen auch optische Me- >200 °C) verwendet werden. Neben Temperatur und
dien aus Kunststoff zum Einsatz, welche sehr breit- Umweltverhalten ist der Isolationswerkstoff noch
bandig sind und keine EMV Probleme aufweisen. nach Isolierfähigkeit, Flexibilität/Härte, mechanischer
Nachteilig sind aber der begrenzte Temperaturbereich Belastbarkeit, Abriebfestigkeit, Medienbeständigkeit
und der zusätzliche Aufwand für die Signalkonvertie- und Flammwidrigkeit den Einsatzbedingungen ent-
rung. sprechend auszuwählen.
Weiterhin sind Schirmungen in Form von Einzellei- Auch hier stellen Leitungen für Anwendungen mit
ter- oder Mantelschirmung erforderlich für die Ver- einigen 100 V besondere Anforderungen hinsichtlich
sorgungsleitungen von Hochleistungsverbraucher, da Isolierfähigkeit, Alterung durch Teilentladung und
sonst bei Wechselspannungen von bis zu einigen meist auch Temperaturbereich. Infolge der damit er-
100 V und Strömen von einigen 100 A nicht akzep- höhten Isolationsdicken, Schirmung und i.d.R. großen
table Störabstrahlungen und unkontrollierte Ableit- Querschnitte haben derartige Leitungen ein beträcht-
ströme auftreten. liches Gewicht, z.B. 656 g/m bei einem Querschnitt
Die Leitungsquerschnitte werden zunächst nach von 50 mm2 und sind nur sehr eingeschränkt flexibel.
elektrischen Kriterien bestimmt, und zwar nach dem Leitungen sind in der Regel mehrfarbig kodiert, um
Spannungsabfall, welcher für den angeschlossen Ver- Fertigung und Reparatur zu unterstützen. Eine stan-
braucher noch zulässig ist, und nach der maximalen dardisierte Zuordnung erfolgt i.A. für bestimmte
Temperatur, welche sich unter Strombelastung ein- Potenziale und Signale. Eine besondere Bedeutung
stellt. Diese darf die spezifizierte Arbeitstemperatur kommt aus Sicherheitsgründen den Farben Gelb für
des Isoliermaterials nicht überschreiten und ist natür- Airbagsysteme und Orange für Hochvoltleitungen zu.
lich auch von der Umgebungstemperatur abhängig. In Neben den beschriebenen Rundleitern existieren auch
einer heißen Umgebung ist die Stromtragfähigkeit unterschiedliche Formen von Flachleitern. In geeig-
folglich niedriger. Ein weiteres Kriterium sind die bei neten Geometrien, z.B. Himmel oder Tür, bieten sie
der Montage auf die Leiter wirkenden Zugkräfte, Möglichkeiten hinsichtlich Bauraum, Gewicht oder
welche den Einsatz von Einzelleiter mit Querschnit- Montage. Ausführungsformen sind das FFC (Flexible
ten kleiner 0,35 mm2 im Fahrzeugbau praktisch ver- Flat Cable) oder FEC (Flexible Extruded Cable) Bild
bieten. Der Querschnitt der meisten Signalleitungen 8.2-3, eine laminierte oder extrudierte und als Meter-
ist damit nicht durch ihre elektrische, sondern die ware verfügbare Flachleitung mit mehreren Leitern.
mechanische Beanspruchung bestimmt. Für spezielle Nachteilig sind zusätzliche Fertigungsschritte (Crim-
Punkt zu Punkt Verbindungen wie zwischen Geräten pen, Schweißen) für Verzweigungen. FPC (Flexible
im Infotainment Bereich werden mehradrige Spezial- Printed Circuit) sind hingegen mit einer aus der
kabel eingesetzt. Hier werden die Zugkräfte von dem Leiterplattenherstellung abgeleiteten Technologie her-
Leitungsverbund aufgenommen, so dass auch kleine- gestellt. Sie erlauben auf Basis flexibler Träger eine
re Querschnitte eingesetzt werden dürfen. beliebige Leiterführung in einer Ebene. Lediglich für
Als Isolationsmaterial wird im Fahrzeugbau nach wie elektrische Brücken werden zusätzliche Verbindun-
vor überwiegend PVC eingesetzt. Ersatzstoffe sind gen benötigt. Nachteilig ist der Aufwand für größere
aus Umweltschutzgründen seit langem in Untersu- Leitungslängen. Die Potenziale dieser noch jungen
chung, konnten sich aber wegen hoher Kosten oder Leitersysteme liegen in der möglichen Automatisie-
schlechterer Eigenschaften bisher nicht durchsetzen. rung und der Integration weiterer elektrischer/elektro-
PVC erreicht seine Grenzen bei hohen Umgebungs- nischer Komponenten, z.B. LEDs. Eine weitere Ent-
temperaturen über ca. 105 °C, wie sie zunehmend in wicklung sind massive Rechteckprofile als Leiter für
Aggregatenähe erreicht werden. Hier können nur hohe Ströme.

DI
A M I
C
J
GEHI DF B

DI Bild 8.2-3 Flachleiter FFC


(links) und FPC (rechts)
ADF
(Quelle: Coroplast)
8.2 Das Bordnetz 657

8.2.1.4 Knotenpunkte Durch den Aufbau auf Platinen lassen sich wesentlich
Die Topologie des Bordnetzes beinhaltet meist meh- kompaktere Baugruppen realisieren, da Sockel und
rere im Fahrzeug verteilte Knotenpunkte, in denen Kontakte entfallen, Signalverteilung im Layout statt
Leitungsmodule über Steckverbinder gekoppelt oder über Einzelleiter umgesetzt wird sowie die Steuerlo-
Energieleitungen verzweigt und erneut abgesichert gik in Form eines Mikrocontrollers und elektronische
werden. Auch sind häufig Schaltelemente oder Steu- Schaltelemente integriert werden können.
ereinheiten integriert. Dies führt auf Koppelstationen 8.2.1.5 Sicherungen
(Bild 8.2-4 oben), deren Volumen meist durch die
Steckverbinder, Sicherungselemente und Relais be- Sicherungselemente unterbrechen den Stromfluss im
stimmt wird. Zur internen Verschaltung werden Fehlerfall. Ihre Aufgabe muss immer mit Priorität der
neben Platinen, die schnell ihre Grenzen erreichen, Leitungsschutz sein, sodass sie nach elektrischer
wenn große Ströme zu verteilen sind, Stanzgitter ein- Belastung und thermischen Eigenschaften der nach-
gesetzt. Beide Technologien bringen den Nachteil geschalteten Leitungen zu dimensionieren sind. Wäh-
relativ hoher Investitionskosten und langer Werk- rend in früheren Fahrzeugen oft aus Kostengründen
zeuglaufzeiten mit sich, so dass dort, wo große Flexi- Kompromisse im Absicherungskonzept eingegangen
bilität von Bedeutung ist, häufig eine direkte Kontak- wurden und man sich auf die leistungsführenden
tierung und Verschaltung im Leitungssatz zum Ein- Leitungen beschränkte, hat das gestiegene Quali-
satz kommt. täts- und Sicherheitsbewusstsein dazu geführt, dass
Aus den Anfangszeiten der Fahrzeugelektrik mit rein ein – wie in anderen Bereichen der Elektrotechnik
mechanischen Schaltern hat das Relais als elektrome- üblich – konsequentes Absicherungskonzept allge-
chanisches Funktionselement überlebt. In einer mo- meiner Standard ist. Hierdurch bedingt hat die Zahl
dernen Ausführung aus optimierten und automatisier- der Sicherungselemente im Fahrzeug deutlich zuge-
ten Fertigungsprozessen erreicht es akzeptable Qua- nommen.
litätswerte und sehr kleine Übergangswiderstände. Schmelzsicherungen sind mit Abstand die preisgüns-
Vornehmlich bei größeren Strömen (>10 A) und Um- tigste Ausführung. Dort, wo nur die reine Sicherungs-
schaltern hat es noch Kostenvorteile gegenüber den funktion gegen Leitungsfehler (Kurzschluss o.ä.) zu
alternativ eingesetzten Halbleiterschaltern. Es wird in realisieren ist, werden sie fast ausschließlich verwen-
Relais-, Verteil- und Sicherungsboxen verbaut und det. Ihr Hauptnachteil, die irreversible Auslösefunk-
mit dem Leitungsstrang verbunden, allerdings infolge tion, ist wegen der niedrigen Auftretenswahrschein-
der Verbreitung elektronischer Steuerungen im klas- lichkeit meist akzeptabel. Es besteht nur die Ein-
sischen Energieverteilungsbereich zunehmend auch schränkung, dass sie in für den Nutzer einfach zu-
in elektronische Steuergeräte („Bordnetz-Steuer- gänglichen Bauräumen verbaut werden müssen. Ihre
geräte“, „intelligente Leistungsmodule“, „Schalt- Auslösecharakteristik kann gut der zu schützenden
und Auswerte-Modul“) integriert (Bild 8.2-4 unten). Leitung angepasst werden. Soll die Sicherung auch
Geräteschutzfunktionen übernehmen, z.B. den Schutz
eines Verstellmotors gegen Überlastung bei Blockie-
rung (festgefrorene Wischer, Fensterheber u.ä.),
werden reversible Elemente wie „Circuit Breaker“
mit thermischer Auslösung über Bimetallkontaktstrei-
fen verwendet. Für kleinere Ströme kommen auch
rücksetzbare Sicherungen aus leitfähigen Polymeren
(Markennamen „Polyswitch“, „Polyfuse“) zum Ein-
satz. Bei Überschreitung des Auslösestromes brechen
die Polymerketten auf, was zu einer drastischen
Erhöhung des Längswiderstands führt. Mit Rück-
nahme des Laststroms und nach Abkühlung des Ele-
mentes kehrt das Material in seinen Ausgangszustand
mit guter Leitfähigkeit zurück. Auch ein bereits
vorhandener Halbleiterschalter mit Stromsensorik
und entsprechender Ansteuerung kann mit der zusätz-
lichen Funktion Absicherung genutzt werden.
8.2.1.6 Steckverbindungen
Bild 8.2-4 Bordnetzkomponenten: einfache Relais-/ Man unterscheidet Steckverbindungen nach ihrem
Sicherungsbox (oben links), Bordnetzsteuergerät mit Verwendungszweck als Kupplungen und Gerätean-
Elektronik, Schmelzsicherungen, Relais und Stecker- schlüsse. Sie bestehen generell aus dem Gehäuse und
aufnahmen, geöffnet (unten links), verschiedene Bau- dem Kontaktteil, das den Strom führt. Das Gehäuse
formen elektromechanischer Relais (oben rechts) erfüllt folgende Aufgaben:
658 8 Elektrik/Elektronik/Software

• Elektrische Isolation zwischen den Kontakten: Bei Seals, zylindrische Silikonkörper mit radialen
hohen Spannungen bzw. hohen Eingangsimpedan- Dichtlippen und einer Bohrung, durch die die Lei-
zen der angeschlossenen Geräte müssen Kriech- tung geschossen und die dann in die rohrförmige
ströme unterbunden werden. Ursachen sind i.d.R. Gehäuseaufnahme gepresst werden. Bei hochpoli-
Feuchtigkeit oder leitfähige Stäube auf der Gehäu- gen Steckverbindern werden auch Silikonmatten
seoberfläche, welchen durch entsprechend dimen- oder Gele verwendet. Einzelne Hersteller setzen
sionierte Kontaktabstände oder zusätzliche Stege auch Gussmassen ein. Dichtungen sollten immer
zur Verlängerung der Kriechstrecke entgegen- innerhalb des Gehäuses liegen, um den Schutz der
gewirkt wird. empfindlichen Lippen gegen Außenwirkung zu
• Mechanischer Schutz der Kontakte: Das Gehäuse gewährleisten.
muss durch Materialwahl und Konstruktion allen • Dämpfung mechanischer Schwingungen: Beson-
bei Montage (Trittfestigkeit) und im Betrieb auf- ders Niederdruckkontakte sind empfindlich gegen
tretenden Krafteinwirkungen widerstehen können. Mikrobewegungen der Kontaktzone, wie sie bei
Eine wichtige Fehlermöglichkeit, die Verbiegung Einkopplung von Vibration vom Gehäuse oder
der Kontakte z.B. bei schrägem Zusammenführen von der Leitung entstehen können. Schwingungen
der Steckgehäuse (Kojiri-Test), lässt sich durch werden oft durch die o.g. Seals ausreichend ge-
lange Gehäuseführungen oder zusätzliche Nut- dämpft, reicht dies nicht aus, muss die Leitung
Steg-Führungen verhindern. Bei hohen Ansprü- fest an das Gehäuse gekoppelt werden (z.B. mit
chen (Airbag-Steckverbinder) wird u.U. auch der der Zugentlastung), dann allerdings ist auch auf
Schutz bei offenem Steckverbinder gefordert, eine feste Verbindung des Gehäuses mit dem Ge-
dann sind mit Scharnieren am Gehäuse angebun- genstück zu achten.
dene oder lose Schutzhauben sinnvoll. • Verbindung der Steckelemente: Im Fahrzeugbe-
• Führung und Fixierung des Kontaktes: Die Kon- reich am meisten verbreitet sind bei Kunststoffge-
taktkammern sind so zu dimensionieren, dass das häusen einfach aus dem Grundmaterial im Spritz-
Kontaktelement beim Steckvorgang gerade so viel vorgang hergestellte Verriegelungsarme oder sol-
Bewegungsfreiheit hat, dass es sein Gegenstück che aus Federstahl. Sie verrasten auf Nasen auf
findet, ein Stoß auf Kanten aber ausgeschlossen dem Gegenstück und sollten gegen Verhakeln im
ist. Zur Aufnahme der beim Fügevorgang oder bei Leitungsstrang durch Kammern oder Stege ge-
Zug an der Leitung entstehenden Kräfte stützt sich schützt sein. Bei hochpoligen Verbindungen wer-
das Kontaktelement mittels Rasthaken oder der den Hebelarme eingesetzt, die über eine Kulissen-
Kontaktschulter am Gehäuse ab („Wirkebene“ in führung oder einen Zahntrieb die Steckkräfte he-
Bild 8.2-5). Bei Einschubkontakten kann die rabsetzen. Speziell hochpolige Trennstellen im
Abstützung über die Kontaktschulter nur durch Feuchtraum werden auch mit Bajonettverschlüs-
ein parallel zur Wirkebene nach Kontaktmontage sen ausgeführt. Sie benötigen mehr Raum für
eingeführtes Teil realisiert werden. Diese sog. die Montage, sind aber gut abzudichten und zu
Sekundärverriegelung stellt zwar einen Zusatz- handhaben. Unabhängig vom Prinzip ist eine
aufwand dar, ist jedoch zur Realisierung hinrei- wirksame haptische, akustische und ggf. optische
chend großer Kontaktkräfte sinnvoll. Sie wird Rückmeldung über die korrekte Verriegelung ent-
gleichzeitig zur Absicherung des gesamten Mon- scheidend. Auch sollte eine stabile Halbsteckung
tagevorgangs der Steckverbindung genutzt. nicht möglich sein, z.B. indem durch geeignete
• Zugentlastung für den Kontakt: Um die Zugkräfte Rückstellkräfte eine solche Verbindung sich wie-
auf die Verbindung von Leitung und Kontakt oder der löst.
die Belastung der Kontaktverriegelung zu begren- • Codierung der Steckverbindung als Sicherheit
zen, kann eine Zugentlastung, z.B. einfach durch gegen Fehlsteckung. Eine einfache Farbcodierung
Anwickeln bzw. Kabelbinder zwischen Leitung ist hilfreich, aber nur als Montagehilfe geeignete.
und einer passenden Ausformung des Gehäuses Wesentlich prozesssicherer sind Formcodierun-
erforderlich sein. gen, bei welchen Gehäuseform oder Stege eindeu-
• Abdichtung der Kontaktelemente: Zu unterschei- tig auf das Gegenstück abgestimmt sind.
den sind die Dichtungen Stecker zu Gegenstecker • Gehäuse von Schneid-Klemm-Verbindern werden
und Leitung zu Steckergehäuse. Für Erstes stellt mehrteilig ausgeführt. Beim Fügen der Gehäuse-
das radial über mehrere Lippen wirkende elasti- hälften werden die Leiter in die Kontaktschneiden
sche Dichtelement das sicherstes Dichtprinzip dar. gedrückt.
Die früher meist verwendeten axial (in Steckrich-
Darüber hinausgehende Anforderungen werden an
tung) wirkenden Dichtungen sind empfindlich ge-
Hochvolt-Steckverbinder gestellt:
gen Fremdkörper, da diese die Dichtlippe anheben
und damit in kleinen Bereichen öffnen. Die Dich- • Die Schirmung von der Leitung bis zur anzu-
tung zwischen Leitung und Gehäuse erfolgt opti- schließender Komponente ist durch den Steck-
malerweise ebenfalls radial durch sogenannte verbinder sicherzustellen,
8.2 Das Bordnetz 659

• Der Berührschutz leitender Teile muss gewähr- 8.2.1.7 Kontakte


leistet sein (Bild 8.2-6 zeigt ein Ausführungsbei-
Eine Kontaktierung erfolgt über ein elastisches Sys-
spiel für Kontakte),
tem aus Stift und Hülse. Die Funktionselemente eines
• und die Montage unter Spannung muss verhindert
Kontaktteils sind, Bild 8.2-5
werden. Hierfür wird z.B. konstruktiv eine „Ver-
langsamung“ der Demontage sichergestellt und a) die Kontaktzone, auszulegen nach
mittels in den Steckverbindern zusätzlich einge- • dem Konstruktionsprinzip: verbreitet für nor-
bauten Interlock-Kreisen eine rechtzeitige Ab- male Signal- und Energieübertragung sind
schaltung eingeleitet. Rund- und Flachkontakte. Hohe Ströme
(>100 A) oder spezielle Anforderungen wie
Steckverbindungen werden im Bordnetz manuell ge- Schirmung führen zu Sonderaufbauformen.
fügt. Die Verbindungselemente sollten konstruktiv so Speziell am Aggregat und an Fahrwerksteilen
ausgeführt sein, dass alle infolge der Prozessunsi- sind Kontakte extrem durch Vibration bean-
cherheiten möglichen Fehler verhindert werden. Prak- sprucht. Mikrobewegungen der Kontaktzone
tisch lässt sich dies realisieren, indem alle Montage- erzeugen hohen Verschleiß und führen zu vor-
schritte so abgesichert werden, dass im Fehlerfall der zeitigem Ausfall. In solchen Fällen werden
nächste Arbeitsgang nicht vollzogen werden kann. vornehmlich Hochdruckkontakte eingesetzt.
Am Beispiel der Sekundärverriegelung (Bild 8.2-5) • dem Material und ggf. der Oberflächenbe-
lässt sich dies Prinzip gut darstellen: Wird der Kon- schichtung: üblich sind Messing, Bronze oder
takt nicht so weit in das Gehäuse eingeschoben, dass Speziallegierungen, mit Oberflächen aus Zinn
die Federn im Gehäuse verrasten, steht sein Kasten oder, speziell für niedrige Ströme, aus Gold,
über die Wirkebene der Sekundärverriegelung hinaus • den Federeigenschaften: bei guten Kontaktma-
und verhindert das Einschieben des Verriegelungs- terialien verändern sich die Federeigenschaften
teils. Dies ragt damit seitlich aus dem Gehäuse und durch Relaxation mit der Zeit, daher werden
blockiert das Aufsetzen des Steckers auf sein Gegen- bei hochwertigen Kontakten die Kontaktkräfte
stück. Sowohl eine einfache Sichtkontrolle als eine über ein unabhängiges Element, eine Stahl-
Durchgangsprüfung zeigen den Fehler auf. überfeder erzeugt. Sie werden so dimensio-
niert, dass bei gutem Übergangswiderstand die
Stahlüberfeder Steckkräfte noch akzeptabel sind,
• der Strombelastung: sie bestimmt die Kontakt-
größe, bei Flachkontakten wird sie durch die
Wirkebene für Breite des Messerteils gekennzeichnet. Ver-
Primärverrastung breitet sind die Größen 0,63 mm (< 3 A),
1,5 mm (< 10 A), 2,8 mm (< 20 A), 4,8 mm
l1

(< 35 A) und 9,5 mm (< 70 A).


Leitungs- b) dem Leitungsanschluss: Das früher verbreitete
crimp
a2

Löten wird nur noch geräteintern (Leiterplatten-


a1

anschluss) verwendet, da Crimpen (Bild 8.2-10/


Kap. 8.2.2.2) bei richtig ausgelegtem Fertigungs-
Wirkebene für Isolations- prozess, wie er mit modernen Anschlagautomaten
Sekundärverrriegelung crimp
gewährleistet ist, nicht nur preisgünstig, sondern
auch qualitativ ohne Einschränkungen einsetzbar
Bild 8.2-5 Funktionselemente eines Flachkontaktes
ist. Ein guter Crimpanschlag ist zweiteilig. Auch
Ultraschallschweißen wird vereinzelt eingesetzt.
Prüffinger Für die mechanische Sicherung der Leitung wird
∅ 12 mm i.d.R. noch eine Fixierung auf der Isolation, der
sogenannte Iso-Crimp, vorgenommen.
c) der Gehäuseaufnahme: Einschubkontakte benö-
tigen Rastfedern, die den Kontakt nach dem Ein-
schieben im Gehäuse fixieren. Bei Einsatz einer
Sekundärverriegelung muss das Kontaktgehäuse
möglicher Bauraum so gestaltet werden, dass das Verriegelungsele-
für Interlock
ment vorbeigeführt werden und Zugkräfte aufneh-
men kann (Bild 8.2-7). Schneid-/Klemm-Kontakte
werden unmittelbar formgebend im Gehäuse fi-
xiert.
Bild 8.2-6 Berührschutz für Kontakte durch Isolation Die genannten Stromwerte stellen nur Richtwerte bei
der Kontaktspitzen (Quelle: Tyco Electronics) normalen Umgebungsbedingungen dar. Wird der Kon-
660 8 Elektrik/Elektronik/Software

Bild 8.2-7 Kontaktausfüh-


rungen (Quelle: GHW)

Tabelle 8.2-2 Prüfplan für Kontaktsysteme nach DIN 46249

Mechanische Prüfung Elektrische Prüfung Thermische Prüfung Korrosions-Prüfung

Aufsteckkraft Kontaktspannungsabfall Stromerwärmung Spannungsabfall


1 Stunde
Abziehkraft Crimpspannungsabfall Feuchte Wärme Korrosion
2 Tage Salznebel
96 Stunden
Ausziehkraft Temperatur-/Strom- Korrosion
wechselprüfung Schadgas SO2
500 Stunden
Spannungsabfall Spannungsabfall

takt unter hohen Umgebungstemperaturen wie z.B. die sich entweder als Unterbrechung oder Kurz-
im Motorraum eingesetzt, muss er nach der Derating- schluss zeigen, sind
Kurve dimensioniert werden. Sie gibt die Stromtrag- • lockere Kontakte infolge nicht gesteckter oder
fähigkeit in Abhängigkeit von der Umgebungstempe- nicht verrasteter Steckverbindungen,
ratur wieder und ist abhängig vom Übergangswider- • mechanische Beschädigung der Isolation durch
stand, welcher die thermischen Verluste bestimmt, Scheuern: Besonders gefährlich sind Bewegungen
und der Wärmeableitung aus der kritischen Kontakt- an scharfen Blechkanten, oder – vornehmlich bei
zone. Da die Verlustleitung im Wesentlichen vom Verlegung im Außenraum wie z.B. im Radhaus –
Leiter aufgrund seiner guten Leitfähigkeit abgeführt durch Sand, Split u.ä.,
wird, lässt sich die zulässige Belastung eines Kon- • Bruch des Leiters durch Dauerbewegung: Kritisch
taktes durch Überdimensionierung der angeschlage- an Übergängen zu Türen und Klappen sowie zum
nen Leitung erhöhen. Größere Leitungsquerschnitte Aggregat und Fahrwerkteilen,
können auf diese Weise durchaus auch zur geziel- • Ausfall der Verbindung durch Überhitzung: Ent-
ten Kühlung der angeschlossenen Komponente bei- weder elektrisch durch zu hohe Strombelastung
tragen. oder durch Umgebungstemperaturen, die die Ma-
Das wichtigste elektrische Auslegungskriterium ist terialgrenzwerte überschreiten,
der Spannungsfall am Kontakt, dessen Rückwirkun- • Korrosion an Kontaktelementen: Wassereintritt ist
gen auf den Stromkreis zu bewerten sind. Der Wider- selbst bei abgedichteten Steckgehäusen z.B. durch
stand im Starterkreis beispielsweise darf Werte von Kapillarwirkung über mehrere Meter im Leiter
wenigen Milliohm nicht überschreiten, was einen beobachtet worden.
Strompfad über mehrere Kontakte praktisch verbietet.
Aus dem Prüfplan (Tabelle 8.2-2) sind weitere Krite- Gute Qualitätswerte lassen sich nur durch konsequen-
rien ersichtlich. te Detailarbeit erreichen. Die konstruktive Auslegung
muss nicht nur die Beanspruchungen im Betrieb,
8.2.2 Auslegungskriterien sondern gleichermaßen während Fertigung und Mon-
tage berücksichtigen. Infolge der vielen möglichen
8.2.2.1 Bestandteile einer qualitätsorientierten
Fehlerursachen sollte sie fehlertolerant sein.
Bordnetzauslegung
Fehlerquellen Leitungsverlegung
Aufgrund der hohen Teilezahl, verbunden mit vielen Im Bereich der Leitungsverlegung bedeutet dies, die
manuellen Fertigungsschritten sowohl bei der Her- Kabelstränge so präzise zu führen, dass Berührung
stellung des Kabelbaums als auch beim Einbau in das mit kritischen Teilen sicher ausgeschlossen werden
Fahrzeug, ist das Bordnetz eine der Hauptfehlerquel- kann und ein möglicher Schaden bei Fehlverbau
len in jeder Qualitätsstatistik. Ursachen für Schäden, trotzdem durch Schutzelemente wie Bandagierung,
8.2 Das Bordnetz 661

Schläuche, Wellrohre oder Kabelkanäle verhindert strangseitig unterschiedliche Bänder, Schläuche, Well-
wird. rohre und Kabelkanäle genutzt. Für spezielle Anwen-
Insbesondere der Hauptleitungsstrang muss aufgrund dungen, z.B. im Radbereich, kommen auch umspritz-
seiner Größe und vielen Verzweigungen eng toleriert te oder umschäumte Leitungen zum Einsatz. Karros-
werden. Hierzu muss er in Bereichen mit großen serieseitig lassen sich als Schutzmaßnahmen z.B.
Krümmungen und engen Platzverhältnissen dreidi- Sicken oder Wärmeschutzbleche vorsehen und, soweit
mensional vorgeformt sein. Dies erreicht man mit als möglich, scharfe Kanten vermeiden. Weitere
Kunststoff-Formteilen, die gleichzeitig die Einzellei- Elemente sind Tüllen und Faltenbälge, die Leitungen
tungen zusammenfassen und schützen. Zur exakten an Übergängen zwischen Bauräumen (Karosserie zu
Positionierung des Leitungssatzes im Fahrzeug müs- Türen, Deckeln …) gegen mechanische Beanspru-
sen Aufnahmepunkte an der Karosserie (Schweißbol- chung, Staub und Feuchtigkeitseintritt schützen.
zen, Löcher) und am Leitungssatz (Clipse, Aufnah- Ähnliche Funktionen erfüllen Durchführungen. Die
men an den Kabelführungen) eng toleriert gesetzt Löcher bzw. Ausschnitte in Karosserieblechen, die
werden. Freie Befestigungspunkte z.B. mit Kabelbin- zur Durchführung von Leitungen erforderlich sind,
dern, die früher üblich waren, dürfen nur an un- weisen oft die vielfache Fläche des Kabelquerschnitts
kritischen Stellen wie an Zwischenpunkten langer auf, um bei der Montage das Durchfädeln der Steck-
geradliniger Trassen (z.B. im Schwellerbereich) vor- verbinder zu ermöglichen. Kritischer Einsatzfall ist
gesehen werden, da sie keine Sicherheit gegen Fehl- aufgrund der hohen Leitungszahl die Durchführung
montage (ungenaue Position, „Vergessen“ des Mon- vom Innen- zum Motorraum. Neben der sicheren
tageschrittes) bieten. Abdichtung des Leitungssatzes zum Blech muss auch
Bild 8.2-8 zeigt anhand der Zunahme verschiedener der Feuchtigkeitseintritt durch Kapillarwirkung zwi-
Elemente der Leitungsverlegung eines Fahrzeugmo- schen den Einzelleitern verhindert werden. Dies
dells den dramatischen Anstieg der Anforderungen in erfolgt z.B. durch Bandagierung, elastische Massen,
diesem Bereich. Obwohl sich hier auch das Wachs- Verguss oder Umschäumung
tum des Umfangs an Fahrzeugelektrik abbildet,
überwiegt der Einfluss durch den in dieser Zeit vo- Weitere Qualitätsfaktoren
rangetrieben Qualitätsanspruch. Für eine hohe Produktqualität sind darüber hinaus
Für bestimmte Sonderleitungen wie Koaxialkabel und schon bei der Konstruktion des Bordnetzes folgende
insbesondere Lichtwellenleiter, die zur Vernetzung Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
der Infotainment-Komponenten eingesetzt werden, • Unterstützung der Fertigung: Zu verwenden sind
müssen Mindestbiegeradien eingehalten werden, da weitgehend standardisierte Komponenten nach
sie sonst entweder mechanisch geschädigt oder Sig- dem Stand der Technik (Haptik, Robustheit). Ein-
nale zu stark bedämpft werden. Erreicht wird dies deutige Codierungen von Steckern und Leitungen
durch geschickte Trassenwahl, meist ist der Einsatz sind vorzusehen. Prozessparameter der Verarbei-
von Formteilen unumgänglich, um auch beim Hand- tungsmaschinen sind zwingend zu beachten, we-
haben der Leitungssätze eine Beschädigung sicher niger robuste (z.B. Doppelanschläge) oder exoti-
auszuschließen. sche Prozesse sind zu vermeiden und Möglichkei-
Für den thermischen und mechanischen Schutz, die ten der Automatisierung sollten genutzt werden.
Vermeidung von Störgeräuschen und, im sichtbaren Die Topologie des Bordnetzes schließlich hat ei-
Bereich, auch aus Designgründen werden leitungs- nen wesentlichen Einfluss auf die Modularisierung

350
Kabelclips
300 Kabelbinder
Kabelführungen
250

200

150

100

50 Bild 8.2-8 Entwicklung der


Zahl der Befestigungsteile
0 des Bordnetzes über drei
1977 1982 1983 1990 1991 1996 2003 2006 2006 2011
Dekaden
662 8 Elektrik/Elektronik/Software

der Fertigung und damit auf die Darstellung der • Splice vorfertigen: Verbindungen innerhalb des
Produktvarianz und sollte daher nicht nur nach der Kabelbaums sollen nur wenig Bauraum beanspru-
Funktion ausgelegt werden. chen und besonders zuverlässig sein, da sie nach
• Absicherung der Montage: Diese Anforderung der Montage nicht mehr zugänglich sind. Bewährt
bedingt viele Detaillösungen; beispielhaft seien hat sich hier die Ultraschallverschweißung, die
einige allgemeine Maßnahmen aufgelistet: Ein- ebenfalls prozessoptimierte Automaten verlangt.
deutige und prozesssichere Verlegung sowie Co- Weiterhin eingesetzt werden Quetschverbinder.
dierung der Steckverbinder, robuste Komponen- • Konfektion: Das Zusammenlegen der Einzellei-
ten, sichere Erkennbarkeit von Fehlern, sinnvolle tungen zu Leitungssätzen geschieht fast aus-
Verpackung und Montagehilfen, Vorformung kri- schließlich manuell auf so genannten Legebrettern
tischer Bereiche und nicht zuletzt Absicherung der (Bild 8.2-11). Ansätze zu Automatisierung wur-
Variantensteuerung. den in den 1980er Jahren intensiv verfolgt, haben
aber zu sehr komplexen und teuren Maschinen ge-
8.2.2.2 Leitungsstrangfertigung führt. Parallel dazu setzte die Verlagerung der
Die Arbeitsschritte bei der Fertigung eines Fahrzeug- Produktionsstätten in Niedriglohnländer ein, so
Bordnetzes sind: dass aus überwiegend wirtschaftlichen Gründen
• Leitungen: Das Ablängen, Abisolieren und Crim- trotz aller Prozessrisiken die manuelle Fertigung
pen der Leitungen sowie das optionale Setzen von beibehalten wurde. Lediglich einfache Leitungs-
Dichtungen geschieht automatisiert (Bild 8.2-9). strangtopologien werden automatisiert hergestellt.
Bei der kritischen Crimpverbindung von Leiter Steckverbinder und Kabelführungen werden auf
und Kontakt muss eine robuste und gasdichte Ver- den Legebrettern fixiert, die Leiter in gabelför-
pressung aller Litzen mit dem Crimp (Bild 8.2-10) mige Aufnahmen eingelegt, Kontakte gesteckt
gewährleistet werden. Die notwendige Prozess- und Inline-Verbindungen hergestellt. Der Strang
sicherheit erfolgt i.d.R. durch eine Überwachung wird abschließend umwickelt bzw. mit weiteren
von Kraft und Weg der Crimpstempel, um so alle Schutzelementen versehen. Präzise Vorgaben auf
Fehler und Toleranzen ausschließen zu können. dem Legebrett sind die Voraussetzung für eine
Während der gesamten Verarbeitungskette ist eine eng tolerierte Formgebung, welche für Bereiche
Beschädigung der offenen Kontakte unbedingt zu mit komplizierter Leitungsverlegung auch dreidi-
vermeiden. mensionale sein kann. Das Ergebnis dieses Pro-

Bild 8.2-9 Ablängen von Einzelleitungen (Quelle: VW Bordnetze GmbH)


8.2 Das Bordnetz 663

• Weitere Fertigungsschritte seien, da vielfältig,


nur beispielhaft aufgeführt. Hierzu gehören die
Montage der Knotenpunkte und ihre Bestückung
mit Sicherungen und Relais, diverse Verguss,
Schäum- und Schrumpfprozesse und die Konfek-
tion von Sonderleitungen wie Batterie- und Hoch-
voltleitungen, Antennen oder Lichtwellenleiter.
• Prüfen: Um die in den manuellen Fertigungs-
schritten und der komplexen Logistik begrün-
deten Prozessunsicherheiten auszuschließen, wird
eine elektrische, rechner- und variantengesteuerte
100 %-Prüfung des Endproduktes vor Ausliefe-
rung vorgeschrieben. Weiterhin werden automati-
siert Typ, Vorhandensein und Position von Siche-
rungen und Relais sowie die Kontaktverrastung
und korrekte Position der Sekundärverrieglung
überprüft. Oft erlaubt der Aufbau der Prüftische
eine Plausibilisierung der Leitungssatzgeometrie.
Bild 8.2-10 Crimpen: Verbindung von Kontakt und Weitere Prüfungen sind anwendungs- und pro-
Leitung (Quelle: VW Bordnetze GmbH) duktspezifisch.
zesses sind fertige Leitungsstränge oder auch Vor- 8.2.2.3 Variantenbildung
produkte (Fertigungsmodule).
• Fertigung aus Modulen: Um den Konflikt zwi- Alle Variationsmöglichkeiten bei der Konfiguration
schen kostengünstiger Großserienfertigung und eines Fahrzeuges, die elektrische Komponenten be-
fahrzeugspezifischer Ausführung des Kabelbaums treffen, erhöhen die Variantenzahl im Bordnetz. In
zu lösen, teilt man diesen in mehrere Fertigungs- modernen Großserienfahrzeugen der Mittelklasse las-
module mit wenigen Ausführungsformen auf, aus sen sich in der Größenordnung von weit über 109
denen dann der fahrzeugspezifische Kabelbaum theoretische Varianten des Hauptkabelbaums ermit-
aufgebaut wird. Die Fertigungsschritte sind wie teln. Tabelle 8.2-3 zeigt einige Einflussfaktoren.
zuvor, ergänzt um die elektrische Verschaltung. Eine individuelle Fertigung des Komplettbordnetzes
Module können mit zeitlichem Vorlauf in großen für Großserienfahrzeuge wäre absolut unwirtschaft-
Losen gefertigt werden, aus Kostengründen er- lich. Da eine Senkung der Variantenzahl meist aus
folgt dies meist in weiter Entfernung von der vertrieblichen Gründen nicht akzeptabel ist, wurden
Fahrzeugmontage. Logistische Zwänge können zwei Lösungen entwickelt. Ein Ansatz ist, wie im
hingegen die Produktion des fertigen Fahrzeugka- vorangegangenen Abschnitt beschrieben, durch intel-
belbaums in der Nähe des Fahrzeugherstellers be- ligente Steuerung und Nutzung von Fertigungsmodu-
dingen. len kundenspezifische Hauptleitungssätze herstellen

Bild 8.2-11 Leitungsstrang-


fertigung auf dem Legebrett
(Quelle: VW Bordnetze
GmbH)
664 8 Elektrik/Elektronik/Software

Tabelle 8.2-3 Variantenbildende Faktoren mit Beispielen

Faktor Beispiele
Karosserieform & Limousine, Coupe, Kombi, Cabrio, Kurzheck, SUV, …
Fahrerposition 2/4 Türen, Schiebetüren, …
Linkslenker, Rechtslenker
Antriebsstrang Otto, Diesel, Gas, Mikro bis Full-Hybrid, E-Antrieb (Batterie, FC) …
Zylinderzahl, Motorsteuerung, Auslegung und Peripherie
Handschalter oder Automat (viele Varianten), 2 oder 4 Radantrieb
Assistenzsysteme ABS, ASR, ESP, Bremsassistent
Geschwindigkeits- und Abstandsregelanlage, Spurhaltung, Warnung,…
Elektrische Servo- oder Überlagerungslenkung, Wankstabilisierung, …
Ausstattung Licht Nebelscheinwerfer/-Schlussleuchte
Halogen oder Xenonlampen, LED, Niveauregelung
Coming Home, Kurvenlicht, …
Zugang Zentralverriegelung, Fensterheber, Schiebedach
Zugangskontrollsysteme, Diebstahlwarnanlage, …
Infotainment Radio, Navigation, TV, GSM, Telematik…
Komfort Klimaanlage, Zusatzheizung, beh. Frontscheibe,
el. Sitze, Spiegel, Lenksäule,
Andere
Sicherheit Diverse Rückhalte- und Sensorsysteme. …
Andere
Länder Gesetzliche oder marktspezifische Vorgaben, z.B. Frequenzbänder,
Tagesfahrlicht, Klima, Zugang, Sicherheit, …
Technik Unterschiedliche Software und Hardware-Stände (Produktänderungen)
Ausstattungsabhängige Umsetzung (z.B. Steuergerät/Direktschaltung)

zu können. Ein alternativer Ansatz ist das sogenannte Komponente Durchführung Steckverbindung
modulare Bordnetz gemäß der links in Bild 8.2-12
dargestellten Topologie. Es besteht aus vielen Lei-
tungssätzen, die räumlich begrenzt sind und demzu-
folge eine jeweils nur geringe Variantenzahl ni haben.
Die Gesamtzahl der zu verwaltenden und zu ferti-
genden Leitungsstrangvarianten wäre demnach die ZE Si

Summe der ni. Durch ihre Kombination kann dann,


und das ist der Vorteil, die erforderliche wesentlich
höhere Anzahl Varianten erzeugt werden, sie wäre
idealerweise das Produkt der ni. Dies ist nur ein
theoretischer Wert, der bei weitem nicht erreicht
wird, da räumliche und funktionale Aufteilung des
Bordnetzes nur teilweise übereinstimmen. Die Kon-
fektion erfolgt möglichst spät im Fertigungsfluss, also
bei der Montage des Fahrzeuges oder in einer vorge-
lagerten Fertigungsstätte des Systemlieferanten. In Bild 8.2-12 Mehrteiliges modulares Bordnetz (links)
Tabelle 8.2-4 sind Vor- und Nachteile beider Ansätze und einteiliger kundenspezifischer Kabelbaum
gegenübergestellt, aus strategischen Gründen (Ferti- (rechts)
gungstiefenreduzierung) und Qualitätsgesichtspunk-
ten (100 % Vorprüfbarkeit des Bordnetzes) hat sich Dach, Stoßfänger, …), kommen Teilleitungssätze
die zweite Variante durchgesetzt. zum Einsatz, die separat im Montagemodul verlegt
Überwiegend dort, wo der Fertigungsablauf des Fahr- und erst bei seiner Montage am Fahrzeug mit dem
zeuges ausgelagerte Montagen vorsieht (z.B. Türen, Bordnetz verbunden werden.
8.2 Das Bordnetz 665

Tabelle 8.2-4 Vor- und Nachteile verschiedener Modularisierungskonzepte

Konfektion bei der Fahrzeug- Konfektion in der Leitungssatz-


montage fertigung
+ wenig Leitungsstrangvarianten + Exakte Verlegung
+ 100 % Vorprüfung des Zusam-
menbaus möglich
+ minimale Montagezeit beim
Fahrzeughersteller
– Montageaufwand für Zusammen- – Aufwändige Logistikkette beim
bau im fahrzeugbauenden Werk Zulieferer
– ungenaue Verlegung – Fahrzeugspezifische Leitungs-
– fahrzeugfeste Befestigungsteile sätze mit hohen Variantenzahlen
bedeuten Zusatzaufwand erfordern Just-in-Time Anliefe-
– zusätzliche Steckverbindungen rung
– sehr große Hauptleitungssätze

8.2.2.4 Logistik und Fahrzeugmontage Der Einbau der Leitungsstränge in das Fahrzeug und
Die logistischen Abläufe bei der Bordnetzfertigung die Verbindung mit den elektrischen Komponenten
sind eng mit denen des Fahrzeugherstellers verknüpft geschieht im Montagewerk des Herstellers. Mit Blick
(Bild 8.2-13). auf die Produktqualität (Tabelle 8.2-5) muss hier
Die langen Herstellungs- und Transportzeiten bedin- jeder Schritt prozesssicher ausgeführt werden. Eine
gen, dass der Bordnetzlieferant, um Zwischenlager zu vollständige Prüfung des Bordnetzes ist unwirtschaft-
vermeiden, seine Modulstruktur und Fertigungsabläu- lich und nach erfolgter Vorprüfung beim Systemliefe-
fe auf die vom Fahrzeughersteller vorgegebenen Zeit- ranten auch unnötig. Solange der Fahrzeughersteller
punkte abstimmen muss. Hierzu existiert ein mehrstu- konsequent seine eigenen Wertschöpfungsumfänge
figer Informationsfluss, über den von einer Grobpla- prüft und die Qualitätssicherung des Lieferanten ent-
nung des Fahrzeugvolumens („Vorschau“) bis zum sprechend auditiert, ist eine vollständige Prüfab-
Just-in-Time Abruf des fahrzeugspezifischen Kabel- deckung gegeben.
baums Teileflüsse und Fertigungsschritte von Her- Die Verlegung des Hauptleitungssatzes erfolgt über-
steller und Lieferant synchronisiert werden. wiegend im Innenraum. In der Regel ist er so groß

Käufer Fahrzeughersteller Zulieferer Bordnetzhersteller

Bedarfsvorschau
ca. 35 Tage

bestellt Fahrzeug Vorschau


Auftrag/Fahrzeugdaten
Vormaterial
Rohbauauflage
Transport
Rohbauteile
Rohbau

Fahrzeug in Lack Fertigungsmodule


ca. 5 Tage

Lackierung Transport
Montagestart
Montageteile Konfektion
Montage Fahrzeugspezifisch
Fahrzeugspezifischer Leitungssatz

Fahrzeug fertig
ca. 30 Tage

Fahrzeugübergabe

Bild 8.2-13 Logistische


Verknüpfung von Bordnetz-
und Fahrzeugfertigung
666 8 Elektrik/Elektronik/Software

Tabelle 8.2-5 Prozesssicherheit bei der Montage des Bordnetzes

Montagegesichtspunkte Umsetzungsmöglichkeit
Fertigungsmodule Vorverkabelung von Fertigungsmodulen mit robusten Trennstellen:
Stoßfänger, Türen, Sitz, Motor, ggf. Dach.
Anlieferung vorverkabelter und vorgeprüfter Baugruppen: z.B.
Klimagerät, Türaggregateträger, Tank, …
Überprüfung der Montageschritte an Leitungsdurchgang über Onboard-Diagnose der Steuergeräte, vom
Zwischenstationen und am Bandende Prüfrechner der Fertigung abgefragt.
Befestigungselemente von Verkleidungsteilen so auslegen, dass
ihre Montage bei fehlerhafter Verlegung eines Kabelbaums
blockiert wird.
Sichere Befestigungspunkte Am Leitungsstrang fixierte Clipse/Kanäle verhindern das „Verges-
sen“ von Montageelementen.
Fehlerhafter Einbau blockiert die folgende Montage der Verklei-
dungsteile.
Reduzierung des Risikos von Halb- Steckung nur im zugänglichen Bereich, dafür ggf. Stecker mittels
steckungen „Kabelschwanz“ von der Komponente weg verlagern.
Sichtkontrolle.
Prozesssichere Beispiel Massebolzen: mit Rohbau verschweißt, Hutmutter hält
Schraubverbindungen Kontaktflächen lackfrei.
Verschraubungen automatisiert mit Drehwinkel- und Dreh-
momentkontrolle durchführen.

und stark verzweigt, dass er in einem Behälter ver- verbindung zu dieser Trennstelle kann fahrzeug- oder
packt angeliefert wird. Als Ausgangspunkt der Verle- modulseitig gewählt werden. Vorteile lassen sich
gung wählt man sinnvollerweise einen Knotenpunkt, erzielen, wenn existierende Steckverbindungen mit-
oft ist dies die Zentralelektrik oder eine entsprechen- genutzt werden. So kann das Türsteuergerät, wenn es
de Koppelstation im Schalttafelbereich. Andere Kon- in der Nähe des Leitungsübergangs zur Tür platziert
zepte gehen von einer den Innenraum abdeckenden wird und einen modularen Stecker besitzt, gleichzei-
Kabelführung aus, mit der der Leitungssatz in einem tig die Funktion der Koppelstelle übernehmen, so
Arbeitsgang eingesetzt und verlegt ist. Aufgrund der dass durch die Trennung keine zusätzliche Kontakt-
Größe der Teile lässt sich dies in einigen Fällen nur stelle entsteht.
mit Handhabungsautomaten (Robotern) durchführen. Der verbleibende Hauptleitungssatz muss im Fahr-
zeug verlegt werden. Schwierigkeiten entstehen bei
8.2.3 Architektur des Bordnetzes den Übergängen zu Vorder- und Hinterwagen, den
Radhäusern und anderen außerhalb der Fahrzeugzelle
8.2.3.1 Topologie, Koppel- und Trennstellen
liegenden Teilen. Hier müssen Durchführungen
Die Topologie, d.h. die räumliche Ausprägung des (Löcher) in Blechen vorgesehen und als Schutz gegen
Leitungsstranges, ist durch die vorgegebenen Kabel- Feuchtigkeit und Staub gedichtet und oft auch akus-
trassen begrenzt. Position und Verschaltung der tisch gedämmt werden. Wird der Leitungssatz nicht
elektrischen Komponenten geben die zu verlegenden getrennt, müssen Teile durch die Durchführungen ge-
Leitungen vor. Freiheitsgrade bestehen in Grenzen fädelt werden, was immer dann problematisch wird,
bei der Wahl der Trassen für die einzelne Leitung. wenn große oder viele Steckverbinder oder sogar
Der so entstehende Kabelbaum muss die schon be- Kabelführungen an diesen Zweigen montiert sind. Zu
schriebenen Randbedingungen der Leitungsstrangfer- wählen ist dann zwischen großen, die Festigkeit der
tigung sowie der Montage im Fahrzeug erfüllen. Blechteile schwächenden Löchern mit komplexen
Letztere sind im Wesentlichen durch das Montage- Dichtungsausführungen oder einer zusätzlichen Steck-
konzept bzw. die Produktionsanlagen des Fahrzeug- verbindung, mit der der Leitungssatz geteilt und da-
herstellers definiert. mit beidseitig montierbar wird.
Alle ausgelagerten Montagen – die so genannten Leitungssätze weisen immer eine baumähnliche
Fertigungsmodule (hier im Sinne des Fahrzeugs) – Struktur auf. Maschen sind in der Regel nicht verleg-
erfordern separate Leitungssätze und damit Trennstel- bar und müssen ggf. durch eine Steckverbindung
len zum restlichen Bordnetz. Die Position der Steck- aufgetrennt werden.
8.2 Das Bordnetz 667

Für Leitungen einiger Funktionen existieren Ein- Komponente Steckverbindung


schränkungen bezüglich der Trassenwahl, u.A. aus
EMV Bedingungen:
• Diebstahlschutz
• Sicherheitssysteme
• Antennen ZE

ZV+FH
ZV+FU:
H

ECU:
• Hochvoltleitungen ECU:FH ZE+ECU

EC
ECU:ZV
8.2.3.2 Ausstattungsvarianten
Eines der wesentlichen Ziele bei der Auslegung der Bild 8.2-14 Architekturvarianten: Einfluss der Ange-
Elektrik ist es, ein Kostenoptimum für den Gesamt- botsstruktur auf die Funktionsverteilung
umfang zu erreichen. Die Bewertung darf nicht auf
eine Fahrzeugvariante beschränkt sein, sondern muss
8.2.3.3 Systemarchitekturen
über die vollständige Angebotspalette erfolgen. Spe-
ziell die Mehrausstattungen und ihr geplanter Markt- Im traditionellen Entwicklungsprozess wurden die
anteil haben eine große Bedeutung. Da bei Fahrzeu- elektrischen Komponenten von den Systementwick-
gen mit einfacher Basisausstattung meist andere lern vorgegeben. Sie bilden damit feste Randbedin-
Gerätekonfigurationen wirtschaftlich sind als bei gungen für die Bordnetzauslegung, die höchstens in
hoch ausgestatteten Fahrzeugen, kann nur über eine ihrer Zuordnung zu Einbauräumen variiert werden
Mischkalkulation das Optimum berechnet werden. können.
Ein anderer Ansatz besteht darin, Gerätekonfiguration Sprengt man dieses Paradigma und ordnet in der
und Bordnetz ausstattungsabhängig zu steuern, so Konzeptphase den Einbauräumen universelle Steuer-
dass sich für jede Modellvariante die günstigste Kom- geräte zu, auf die die Funktionen frei verteilt werden
bination ergibt. können, öffnen sich neue Freiheitsgrade für die Op-
Bild 8.2-14 zeigt zwei Architekturvarianten für die timierung. Bild 8.2-15 zeigt die interne Architek-
Funktionen Zentralverriegelung und Fensterheber- tur eines Steuergerätes mit ihren Schnittstellen zum
steuerung. Bei niedriger Ausstattungsrate ist der Bordnetz. Die internen Ressourcen wie Rechenleis-
modulare Aufbau (links) optimal. Bei hochvolumiger tung, Speicher und die spezifische Ausprägung der
Ausstattung mit elektrischen Fensterhebern und Treiber hängen von den im Steuergerät zu verarbei-
Zentralverriegelung ist die rechte Variante vorteilhaft. tenden Funktionen ab. Mit der Zuordnung von Funk-
Zwar sind in jedem Fahrzeug zwei Steuergeräte in tionen zu Steuergeräten sind auch die Verschaltung
den Türen zu verbauen, diese decken aber beide und damit wesentliche Parameter des Bordnetzes fest-
Funktionen ab, haben eine gemeinsame Energiever- gelegt. Ein ganzheitlicher Optimierungsansatz vari-
sorgung und Signale können effektiv auf einem iert dementsprechend neben der Bordnetztopologie
Netzwerk mit einfacher Verkabelung ausgetauscht die Funktionsverteilung im Fahrzeug, Bild 8.2-16.
werden. Einer Vereinfachung des Kabelsatzes steht Auch horizontale Aufteilungen sind möglich, z.B. die
ein höherer Aufwand in der Elektronik gegenüber. Zusammenfassung aller Lese-, Steuer- und Regelfunk-

Applikation Diagnose-
routinen
Funktions-
Software

Software Basisfunktionen

Basis-
Betriebssystem Netzwerk- Treiber
Software manage-
(OSEK, OSEKtime, ...) Diagnose
ment

Rechner: Prozessor + Speicher


Basishardware:
Hard- Logik/Signalverarbeitung
Netzteil
ware Watchdog
Treiber Gehäuse
analog Bus

Bordnetz

Bild 8.2-15 Steuergeräte-


Komponenten Sensorik Aktorik Systemkopplung Energieversorgung architektur mit Schnittstellen
zum Bordnetz
668 8 Elektrik/Elektronik/Software

a1
b1 b2
c1 Schalter c2 Schalter c3 Schalter c4 Schalter
Leuchte Schalttafel Schalttafel Bremslicht
einlesen einlesen einlesen einlesen

Plausibilität Plausibilität Plausibilität Plausibilität


prüfen prüfen prüfen prüfen

Lichtlogik Logik Logik Logik


Innenlicht Außenlicht Außenlicht Bremslicht
Helligkeitswert Schalten Schalten Schalten
einstellen, Regeln Regeln Regeln
Diagnose Diagnose Diagnose Diagnose

Innenleuchten Nebellicht NS-Leuchte Bremslicht


Fahrlicht Schlusslicht Bild 8.2-16 Alternative
Fernlicht Rücklicht Funktionsaufteilungen auf
Standlicht vorn Standlicht hinten a) ein, b) zwei oder c) vier
Blinker vorn Blinker hinten Steuergeräte am Beispiel
einer vereinfachten Licht-
steuerung

tionen in einem Steuergerät und die der Schalt- und Vorgaben von Einbauräumen und Kabeltrassen flie-
Diagnosefunktionen in weiteren Einheiten. Die Kos- ßen die Funktionsanforderungen mit ein. Sie resultie-
ten setzen sich aus denen der Elektrik/Elektronik- ren aus der technischen Produktbeschreibung (Las-
Komponenten, der Bordnetzkomponenten, dem mög- tenheft) des Fahrzeuges. Ein gewisser Freiheitsgrad
lichen Mehraufwand für Kommunikation und der besteht bezüglich der Unterteilung der Funktionen.
Leitungsstränge einschließlich des Aufwandes für die Wie an dem Beispiel der Lichtsteuerung (Bild 8.2-16)
Leitungsverlegung zusammen. ersichtlich, kann man sie als monolithischen Funk-
Während auf Software- und Kommunikationsebene tionsblock oder als vernetzte Struktur von Funk-
u.A. die Funktionsaufteilung und deren Formalisie- tionsmodulen vorgeben. Die Granularität dieser Vor-
rung und Standardisierung über die Autosar Initiative gabe (Unterteilung bzw. Modularisierung der Funk-
adressiert werden, ist ein entsprechender Ansatz für tionen) gibt den Rahmen für die räumliche Verteilung
die zugehörige Signal- und Energieverteilung noch vor. Ein monolithischer Funktionsblock erzwingt
nicht vorhanden. Wohl aber existieren bereits Werk- automatisch ein einzelnes Steuergerät. Bei verteilten
zeuge für die Konzeptphase, welche eine durchgängi- Funktionen hingegen ergeben sich Steuergeräte aus
ge Verbindung zwischen Funktionalität, Hardware den in den verschiedenen Einbauräumen platzierten
und Bordnetzarchitektur herstellen. Funktionsumfängen. Zu beachten ist, dass die Soft-
Die Wechselwirkung der verschiedenen Parameter ware derart verteilter Systeme deutlich komplexer
und die Arbeitsabläufe bei der Konzeption der Sys- ausfällt, z.B. müssen Zustandsinformationen und das
temarchitektur sind in Bild 8.2-17 dargestellt. Zusätz- Zeitverhalten der verteilten Prozesse synchronisiert
lich zu den aus der Bordnetzentwicklung bekannten werden.

Modularisierung Funktions-
der Funktionen anforderungen

Verteilung der Platzierung von


Funktionen Sensorik und Aktorik
Hardware-
Ressourcen
Steuergeräte
Schaltplan bilden Einbauräume
Volumenbedarf

Gerätepackage
Kabeltrassen

Leitungsstrang- Routing der


Aufbau Einzelleitungen Legende Vorgabegrößen
Steuergeräte
Bild 8.2-17 Arbeitsablauf
Bordnetz bei der Architekturfest-
legung
8.2 Das Bordnetz 669

Neben den technischen Einflüssen unterliegen derar- Schaltern auf Basis von Pyroelektrik und Halblei-
tige Architekturoptimierungen starken organisatori- tern.
schen und kommerziellen Randbedingungen. Traditi- Auch hinsichtlich der Absicherung sind die Leitungen
onell werden Steuergeräte nach Funktionsumfängen zur Energieversorgung von sicherheitsrelevanten Sys-
abgegrenzt und von Systemlieferanten entwickelt und temen besonders zu behandeln. Um ihre Verfügbar-
gefertigt, die auf ein Anwendungsgebiet spezialisiert keit zu maximieren, sollten sie auf der obersten
sind. Im Fall der freien Funktionsverteilung muss der Ebene abgesichert werden, wie in Bild 8.2-18 für
Fahrzeughersteller die entsprechende Verantwortung Warnblinker, Airbag und Telematikeinheit (Notruf)
übernehmen und die Kompetenzen zur Integration dargestellt. Für Fahr- und Standlicht des Fahrzeuges
besitzen. wird eine Teilredundanz gefordert. Bei Ansprechen
einer Sicherung im Lichtstromkreis darf nur die
8.2.3.4 Energieversorgung und Absicherung Beleuchtung auf einer Fahrzeugseite betroffen sein,
Über das Bordnetz werden alle elektrischen Kompo- also sind die Leitungen doppelt zu verlegen und ab-
nenten mit Energie versorgt. Alle Leitungen sind zusichern. Vollständige Redundanz, wie sie für si-
gegen Kurzschluss abzusichern. Dabei ergibt sich cherheitskritische Systeme mit fail-operational Cha-
eine eindeutige Zuordnung von Sicherungswert zu rakteristik erforderlich wird, setzt eine andere als die
Leitungsquerschnitt und, zumindest prinzipiell, die in Bild 8.2-18 gezeigte konventionelle Energiever-
Vorgabe, nach einem Sicherungselement nur Leitun- sorgungsarchitektur voraus.
gen eines Querschnittes zu verwenden. Bei Abwei- Die Anforderungen an die elektrische Energieversor-
chungen muss entweder ein sehr geringes Risiko gung sind in Tabelle 8.2-6 zusammengestellt. Mit Ein-
vorliegen oder es sind konstruktive Maßnahmen vor- führung der Vernetzung und elektronischer Schalt-
zusehen, andernfalls ist ein weiteres Sicherungsele- elemente im Bordnetz bilden sich neue Strukturen
ment einzuführen. Die hohen Sicherheits- und Quali- heraus, ebenso führt der steigende Bedarf an elektri-
tätsanforderungen bedingen damit eine hohe Anzahl scher Energie zu neuen Spannungsebenen oder Mehr-
an Sicherungselementen mit einer entsprechend spannungsbordnetzen.
aufwendigen Verkabelung. 8.2.3.5 Bordnetzstabilisierung
Baumförmige Energieverteilungsstrukturen (Bild 8.2-18)
– wie sie bis heute überwiegend verwendet werden – Die Zunahme elektrischer Verbraucher stellt neue
sind flexibel und erweiterbar, bilden keine Maschen Anforderungen hinsichtlich Energie und Leistungs-
und sind optimal hinsichtlich Materialaufwand, ver- bilanz. Insbesondere Verbraucher mit kurzer, aber
langen aber ein hierarchisches Sicherungskonzept. hoher Stromaufnahme wie Start/Stopp-Systeme
Üblicherweise wird in der Nähe der Batterie eine können kritisch sein, da zum einen die hierfür not-
Hauptsicherungsbox untergebracht, von der die Haupt- wendige Leistung unter allen Umständen bereitge-
energieleitungen zu weiteren Verteilungsknoten in stellt werden muss und zum anderen die Qualität der
Schalttafel, Heck und ggf. Motorraum geführt und Versorgungsspannung sicherzustellen ist. Zu Letzte-
nahe liegende leistungsstarke Verbraucher gespeist rem gehören vor allem die Vermeidung von Span-
werden. Die Unterverteilung und deren Absicherung nungseinbrüchen unterhalb einer kritischen Grenze
finden in den Knoten statt. und die Unterdrückung von leitungsgebundenen
Die Sicherungselemente sind so zu dimensionieren, Pulsen.
dass nur der direkt von einem Fehler betroffene Die naheliegende Möglichkeit, das Bordnetz und die
Zweig abgetrennt wird (Selektivität), der übergeord- Batterie entsprechend höher zu dimensionieren, kann
nete dagegen funktionsfähig bleibt. Dies erreicht man sinnvoll sein, stößt aber schnell an Kosten- und Ge-
durch entsprechende Staffelung von Sicherungswert wichtsgrenzen. Ebenso wäre der Aufwand viel zu
und Auslösecharakteristik. groß, die Spezifikationen für die übrigen Verbraucher
Problematisch ist die Absicherung der Starterleitung. und Steuergeräte so anzuheben, dass eine geringere
Zum einen ist der zusätzliche Widerstand einer Stabilität der Versorgungsspannung akzeptabel wäre.
Schmelzsicherung unerwünscht, zum anderen über- Aus diesen Gründen sind weitergehende Maßnahmen
lappt der Bereich zulässiger Starterströme sich mit auf Komponenten-, System- und Architekturebene
dem der Kurzschlussströme, wenn man realistische notwendig:
Übergangswiderstände an der Fehlerstelle berück- • Einführung weiterer Batterien: Die Aufteilung auf
sichtigt. Die Lösung liegt in der Wahl eines anderen Starter- und Bordnetzbatterien führt zur Stabilisie-
Auslösekriteriums. Der praktisch relevante Fehler- rung des Bordnetz und kann auch weitere Vorteile
fall ist der Kurzschluss, der bei einem Fahrzeug- haben, da die Batterien nach Leistung und Energie
crash durch Blech- oder Motorteile, die die Leitungs- optimiert werden können und die Sicherheit durch
isolation durchschneiden, entsteht. Der Crashsensor die Redundanz der Speicher steigt. Der Aufwand
im Airbagsteuergerät liefert ein geeignetes Signal, für die Batterien, Bauräume und zusätzliche Schalt-
mit dem ein Trennschalter nahe der Batterie geöff- elemente ist allerdings erheblich und begrenzt die
net wird. Möglich sind hierfür Batterieklemmen mit Einsatzmöglichkeit.
670 8 Elektrik/Elektronik/Software

Ggf.
Batterietrennschalter Opt.
(absprengbar) Starterschalter Magnetschalter
M

Starter
Hochstrom-
verbraucher
Batterie räumlich Si/Relais Box
Haupt- naheliegend
Si Box Motorraum
Klemme 15
Generator Verbraucher
Verteiler
„Zündung
Motorraum an“

Verteiler
Heckbereich
Klemme 30
Verbraucher
Automat. rücksetzende
Sicherung
M

Si Box
Schalttafel ECU

Airbag

Telematik
Leitungsquerschnitt groß Z

Warnblinker Leitungsquerschnitt klein Z


Polyfuse
Direktanschluss
Sicherheitsrelevante
Verbraucher

Energiequellen Absicherung und Verteilung Verbraucher

Bild 8.2-18 Konventionelle Struktur der Energieversorgung

• Einsatz von DC/DC-Wandlern: Sensible oder zu Schaltungen mit DC/DC-Wandlern, Generato-


sicherheitskritische Verbraucher, aber auch direkt ren mit geänderter Spannungsregelung oder Ver-
für den Fahrer wahrnehmbare Funktionen wie Be- brauchern mit einem weiten Versorgungsspan-
leuchtung, werden an einen eigenen, mittels DC/ nungsbereich führen. Auch hier sind weitere Kom-
DC-Wandler stabilisierten Versorgungskreis an- ponenten, z.B. Leistungsschalter, notwendig.
geschlossen. Darüber hinaus lassen sich DC/DC- • Energiemanagement: Maßnahmen zur Verbesse-
Wandler allgemein zur Entkopplung von Span- rung der Energiebilanz bewirken i.d.R auch die
nungsebenen, zur Bereitstellung höherer Versor- Sicherstellung der Bordnetzleistung. Neben Last-
gungsspannungen und zum optimalen Laden von management und Generatoreingriff ist natürlich
Speichern, insbesondere von Doppelschichtkon- auch die Optimierung der Effizienz und Regelung
densatoren, einsetzen. der Leistungsverbraucher ein wichtiger Ansatz-
• Verwendung von Doppelschichtkondensatoren: punkt.
Aufgrund ihres sehr kleinen Innenwiderstandes • Bordnetztopologie und Absicherungsbaum: Auf
und der exzellenten Zyklisierbarkeit können Dop- konstruktiver Ebene sind kurze Wege, geringe
pelschichtkondensatoren (DSK) sowohl zentral Übergangswiderstände und eine möglichst weit-
wie auch dezentral, also komponentennah, als gehende Entkopplung der kritischen Versorgungs-
Leistungsbuffer eingesetzt werden. Allerdings ist kreise wichtig. Gleiches gilt für die Verbindung
ihr spezifischer Energieinhalt über Kosten und zur Fahrzeugmasse.
Gewicht noch vergleichsweise gering, was ihre
Anwendung zur Zeit eingrenzt. Will man sie effi- Die potenzielle Anzahl an Architekturen ist aufgrund
zienter nutzen, so muss man, da es sich ja um der vielen möglichen Kombinationen und Verschal-
Kondensatoren und nicht Batterien handelt, einen tungen der Komponenten sehr hoch. Wesentlich für
größeren Spannungsbereich zulassen. Dies kann die Dimensionierung sind der Aufwand, die Sicher-
8.2 Das Bordnetz 671

Tabelle 8.2-6 Anforderungen an die Energieverteilungsstruktur und ihre Elemente

Anforderung Umsetzung

Niedrige Spannungsabfälle zum Verbraucher Innere Widerstände minimieren


Höheres Spannungsniveau (42 V oder größer)

Möglichst konstante Versorgungsspannung Geregelter Generator


Speicher (Batterie) mit Stützfunktion

Robuste Energieleitungen Geschütze Leitungsverlegung mit Kabelführungen, Wellrohr,


Schutzschlauch
Sonderleitungen mit hochflexibler Litze, speziellen Isolie-
rungen

Absicherung gegen Bordnetzfehler Kurzschluss nach Masse: Sicherungselemente


Weitere Fehlerarten bei Mehrspannungsbordnetzen: Weiche
Kurzschlüsse zu anderen Spannungsebenen elektronisch
abgesichert

Komponentenschutz gegen Überlast Konflikt Leitungs-/Verbraucherschutz: Rücksetzbare


(blockierte Motoren) Sicherungen bzw. Halbleiterschalter

Ansprechen der Absicherung betrifft Hoher Absicherungsgrad: Leitungszweige fein strukturiert,


möglichst wenige Verbraucher hierarchische Absicherung

Selbstheilende Absicherung Rücksetzende Sicherungen, Halbleiter

Diagnose von Fehlern in allen Bordnetz- Strom/Spannungsmessungen mit Anbindung an Kommuni-


elementen (Leitungen, Sicherungen, Kontakte, kationsnetzwerke
Verteiler)

Hohe Verfügbarkeit, ggf. hohe Sicherheit Ausfallsicherheit durch redundante Strukturen

Eingriffsmöglichkeiten für Lastmanagement Abschaltung und Leistungssteuerung für Lastkreise durch


elektronische Schaltelemente

Eingriffsmöglichkeiten für Ruhestrom- Zwangsabschaltung von Zweigen durch aktive Lastschalter


begrenzung

Erfassung der Leistungsflüsse Ankopplung der Steuerungen mit Lastschaltern an ein


Energiemanagement
Ggf. Strommessung in Steuergeräten

Option auf mehrere Spannungsebenen 12 V, 12 V – 60 V, > 60 V: Kopplungselemente (DC/DC


Wandler zwischen Ebenen)

Minimale Störabstrahlung/keine Verlegung, Schirmung, Filterelemente


Störeinkopplung in Steuer/Medienleitungen

heit und das Anwendungsprofil. Bild 8.2-19 zeigt Eine andere Situation stellt sich in Hybridfahrzeugen,
beispielhaft eine Architekturvariante, in welcher in welchen zum einen bestimmte Hochleistungsver-
durch schnelles serielles Hinzuschalten von DSK der braucher an das Hochvoltbordnetz angeschlossen
Spannungseinbruch beim Starten für das gesamte werden können und es zum anderen die Möglichkeit
Bordnetz, also auch den Starter, kompensiert wird. gibt, über einen DC/DC-Wandler Leistung für das
Über den DC/DC-Wandler erfolgt Ladung und ggf. Niederspannungsnetz bereitzustellen. Für E-Fahrzeu-
Entladung der Kondensatoren. Hier wird mit modera- ge gilt darüber hinaus, dass leistungskritische Ver-
ten Kapazitäten eine hohe Wirkung erzielt, der Auf- braucher wie Start/Stopp-Systeme entfallen, dafür
wand entsteht dafür vermehrt auf der Seite der Leis- aber andere Funktionen, wie z.B. Klima und Heizung,
tungselektronik. elektrisch auszuführen sind.
672 8 Elektrik/Elektronik/Software

14 V PowerNet Stabilisiertes Sub-Netz


Kl.50

12 V
Blei-Batterie
G VSS
S Voltage
Stabilization
System M
Starter Generator K1 K2
DC
DLC
DC
Bild 8.2-19 Bordnetz-
architektur-Variante zur
Spannungsstabilisierung
und Start-Stopp Unterstüt-
zung (Quelle: Continental)

8.2.3.6 Hochvoltbordnetze – Übergangswiderstände müssen dauerhaft sehr


Nach VDE Vorschriften werden Spannungen kleiner gering sein, um Verluste und lokale Erwär-
als 1 kV als Niederspannung und größer 1 kV als mung zu vermeiden. Bei sehr hohen Strömen
Hochspannung bezeichnet, wobei in der Energietech- werden Verschraubungen statt Steckverbinder
nik auch die Einteilung in Mittelspannung bis 30 kV, eingesetzt. Leitungslängen sollten so kurz wie
Hochspannung bis 110 kV und Höchstspannung für möglich sein, die Querschnitte sind als Opti-
höhere Spannungen üblich ist. Hochvoltbordnetz ist mum zwischen elektrischen und thermischen
ein Begriff in der Automobiltechnik und bezeichnet Verlusten und Aufwand und Gewicht zu di-
den Bereich über dem konventionellen 12 V Bordnetz mensionieren. Eine Eliminierung von Verbin-
bis zu aktuell ungefähr 600 V. Die Auswirkungen dungen durch Integration, z.B. Umrichter an
und konstruktiven Maßnahmen auf Komponenten- Motor, kann sinnvoll sein.
und Bordnetzebene wurden schon in den Abschnitten – Die Spannungsquellen sind in der Lage, im
8.2.1 und 8.2.2 beschrieben. Hinsichtlich der Archi- Kurzschlussfall extrem hohe Ströme von eini-
tektur sind die folgenden, vom 12 V Bordnetz abwei- gen 1000 A zu liefern. Die Auslegung der
chenden Aspekte zu berücksichtigen: Bordnetzkomponenten und der Absicherung
muss dies berücksichtigen.
• Die Spannungen liegen meist weit über 100 V. – Die Karosserie kann nicht als Rückleiter und
Daraus ergibt sich: Masseanbindung eingesetzt werden. Die Mas-
– Für Personen muss unter allen Umständen, sen des Hochvoltbordnetzes und des 12 V
auch bei Reparatur, Verunfallung oder unsach- Bordnetzes sind also nicht identisch. Da es
gemäßen Gebrauch, ein möglichst weitgehen- Schnittstellen zwischen beiden Systemen gibt,
der Schutz gewährleistet sein. Dazu gehören sind Signal- und Energieübertragung mit ent-
konstruktive Schutzmaßnahmen, sichere Ver- sprechender Potenzialtrennung auszuführen.
legung und auch aktive Vorkehrungen wie In- • Neben Gleichspannung kommen auch Dreipha-
terlockschaltungen. Ebenso sind spannungs- sen-Wechselströme zum Einsatz:
führende Komponenten zu dokumentieren und – Die EMV Auslegung hinsichtlich Störausstrah-
farblich oder durch Warnhinweise zu kenn- lung muss konsistent sein.
zeichnen. – Ableitströme sind in einer nicht zu vernachläs-
– Lade- und Entladevorgänge benötigen Zeit und sigenden Größenordnung.
können aufgrund parasitärer Kapazitäten zu • Elektrische Energie und Leistung:
nicht vernachlässigbaren Strömen führen. – Ein DC/DC Wandler kann das 12 V Bordnetz
– Generell besteht die Gefahr von Lichtbögen, stützen und ein Downsizing der Bordnetzbatte-
vor allem natürlich bei der mechanischen Tren- rie ermöglichen. Zwischensspannungen sind
nung von Stromkreisen unter Spannung, also optional möglich.
z.B. bei Steckverbindern, Relais oder Siche- – Hochleistungsverbraucher, wie z.B. eine elekt-
rungen. Die Leistungsdichte kann beträchtlich rische Klimaanlage, können über das Hoch-
sein und zur Schädigung und Zerstörung der voltbordnetz versorgt werden.
Kontaktteile bis hin zu Brand und größeren – In Fahrzeugen mit Range Extender oder in E-
Folgefehlern führen. Fahrzeugen sind neue Steckverbinder zur
– Kriechströme, also oberflächengeleitete Strö- Netzverbindung und ggf. fahrzeugseitig ein
me, sind deutlich kritischer und führen ggf. zu Ladegerät vorzusehen. Hierzu gibt es nahelie-
nichtgewollten Potenzialen. genderweise erhebliche Bemühungen um Stan-
• Die Ströme liegen bei teilweise weit über 100 A. dardisierung, während alternative Entwicklun-
Dies hat zur Folge: gen die leitungslosen Energieübertragung zum
8.2 Das Bordnetz 673

U
S/G M/G

HV

G M

AC/DC DC/AC DC/DC DC/DC Neben-


aggregate
z.B. z.B.
220V→HV HV→220V HV→NV1 HV→NV2
Bild 8.2-20 Bordnetzarchi-
tektur-schematische Darstel-
AC AC NV2 V lung aller möglichen Kom-
ponenten
Netz (S: Starter, G: Generator,
M: Motor, U: Umrich-
S ter/Gleichrichter, V:
NV1 V V
Verbraucher, AC/DC,
U DC/DC und DC/AC:
S/G Wandler, NV1 = 12 V,
12 V < NV2 < 60 V,
HV > 60 V)

Ziel haben. Umgekehrt können auch Netz- Damit lassen sich sodann die Leitungsstränge kon-
spannungen, z.B. 220 VAC, mobil mit erhöhter struieren, hierzu werden im Wesentlichen die elektri-
Leistung zur Verfügung gestellt werden. schen Daten genutzt, allerdings sind die Stränge auf
• Topologie: Im Hochvoltbordnetz findet man fast Einhaltung der Trassenquerschnitte zu kontrollieren.
ausschließlich Punkt zu Punkt Verbindungen mit Gleichzeitig werden Absicherungs- und Massekon-
meist zwei oder drei Leitungen (Bild 8.2-20). zept entwickelt, dabei entstehen Sicherungs-dosen
Damit unterscheidet sich der Produktionsprozess und elektrische Verteil- und Schaltmodule, die eben-
erheblich von der Konfektion eines konventionel- falls im Package vorgehalten werden müssen.
len Bordnetzes, besitzt einen wesentlich höheren Für das Hochvoltbordnetz ist die zumeist einfache
Automatisierungsgrad und eine einfachere Logis- Verschaltung (mit Punkt zu Punkt Verbindungen)
tik. In einigen Fällen ist eine 3D-Formgebung vorgegeben. Allerdings ist hier eine deutlich stärkere
notwendig; auch Schutz- und Befestigungsele- Abstimmung mit der HV-System- und Komponen-
mente werden eingesetzt. Aufgrund des größeren tenentwicklung notwendig, um z.B. eine optimale
Volumens und der erhöhten Steifigkeit sind Hoch- elektrische und thermische Dimensionierung zu er-
voltkabelsätze sorgfältig zu dimensionieren und reichen. Wie schon in 8.2.3.6 beschrieben, sind zu-
zu packagen. sätzliche Randbedingungen für die Entwicklung zu
beachten.
8.2.4 Der Bordnetz-Entwicklungsprozess Serienentwicklung
8.2.4.1 Abläufe Der Prozess der Serienentwicklung umfasst die De-
tailkonstruktion aller Komponenten. Aufgrund der
Konzeptphase
umfangreichen Schnittstellen ist mehr als bei allen
Die Entwicklung eines Bordnetzes beginnt mit der anderen Fahrzeugteilen eine regelmäßige Abstim-
Zusammenstellung der Basisdaten (Tabelle 8.2-7). mung mit allen benachbarten Baugruppen (Kollisions-
Unter Berücksichtigung der vielfältigen Kriterien aus untersuchungen am Digital Mockup, in Referenzfahr-
Funktion, Package und Fertigung wird daraus das zeugen…) unumgänglich. Speziell die mit der Lei-
Konzept zur Platzierung aller Komponenten und zum tungsverlegung befassten Personen müssen in vielen
Routing der Kabelstränge abgeleitet. Trotz zuneh- bereichsübergreifenden Entwicklungsgruppen (SETs)
mender Werkzeugunterstützung erfolgt dieser Schritt mitarbeiten. Umfangreiche Ressourcen sind für die
noch weitgehend manuell und setzt viel Erfahrung Detailkonstruktion der Leitungsverlegung erforder-
voraus, um eine hinreichend optimierte Lösung zu lich. Diese beinhaltet:
erzielen.
674 8 Elektrik/Elektronik/Software

Tabelle 8.2-7 Basisdaten des Bordnetz-Entwicklungsprozesses

Elektrische Daten Mechanische Daten

Elektrische Komponenten im Fahrzeug

Schnittstellenbeschreibung Geometrische Modelle mit


– Steckerzahl und -typ – Abmaßen: Form, Oberflächen
– Signalbelegung – Befestigungsart
– Kontaktart – Spezifikation Temperatur,
– Strombelastung Feuchtigkeit

Integration zu Systemen im Fahrzeug

Anforderungen an Einbauräume für Komponenten


– Energieversorgung – Lage und Größe
– Masseverbindung – Umgebungsbedingungen
– elektromagnetische – Zugang für Montage und
Verträglichkeit Leitungsführung

Schaltpläne mit Informationen zur Kabeltrassen


– Verschaltung der Komponenten – Verlauf (Topologie)
zu Systemen – Querschnitt
– Anschluss an Netzwerke – Umgebungsbedingungen
– Fertigungsbedingte Trennstellen

• Bearbeitung der Bordnetz-Schnittstellen zu Karos- • Kabelschaltplan: elektrische Verschaltung der


serie-, Aufbau- und Aggregat-Teilen: Konstruk- Bauteile unter Einbeziehung der Topologie des
tion von Sicken, Löcher, Eindrückungen, Ent- Leitungssatzes. Fasst alle Leitungen verschiedener
schärfung von Blechkanten zur Gestaltung der Systeme, die entsprechend der Leitungsverlegung
Trassen einen einzelnen Leitungsstrang bilden, zusammen.
• Setzen von Bolzen und Löchern für Clipse zur Ergänzt werden Leitungsfarben, Querschnitte und
Befestigung der Kabelführungen Kabelsatz-interne Verbinder (Splices).
• Festlegung der Masseverbindungen unter EMV- • 3D-CAD-Datensätze und Zeichnungen aller Kom-
Gesichtspunkten ponenten sowie der Leitungsstrangverlegung und
• Detailkonstruktion und Einbau der Kabelführun- des Packagings der Bordnetzkomponenten.
gen und Befestigungsteile (in der Regel Kunst- • DMU (Digital Mockup): Geometriedaten aller
stoff-Spritzgussteile, teilweise Blechhalter) Fahrzeugteile in ihrer vorgesehenen Einbauposi-
• Veränderungen an Steuergeräte-Gehäusen oder tion. Während der Entwicklung des Bordnetzes
Konstruktion spezieller Halter für elektrische werden daraus die Informationen über die umge-
Komponenten zur Befestigung in den Einbauräu- benden Teile gezogen und im Gegenzug alle Teile
men des Bordnetzes eingestellt.
• Detailkonstruktion der projektspezifischen Siche- • Leitungssatzzeichnung: Zweidimensionale Zeich-
rungsdosen, Koppelstationen, Tüllen und Boxen nung eines Leitungssatzes als Produkt- und Ferti-
• Einbau aller Bordnetz-Umfänge, auch der aus gungsdokumentation. Entsteht aus dem Kabel-
anderen Projekten übernommenen Gleichteile. schaltplan, ergänzt um alle Details des Leitungs-
satzaufbaus (Befestigungsteile, Schutzelemente,
Da in Fahrzeugprojekten auch während der Entwick-
Umwicklung, usw.) und alle geometrischen Maße,
lungszeit häufig geändert wird und in Folge seiner
reduziert um Details der elektrischen Verschal-
Ausdehnung meist das Bordnetz betroffen ist, besteht
tung.
der Bordnetz-Entwicklungsprozess real aus vielen
• In der Stückliste werden die Produktdaten verwal-
Iterationsschleifen.
tet, Details für die Fertigung aufgeführt und, be-
In dieser Phase entstehen folgende Daten:
sonders wichtig, die Varianten definiert.
• Systemschaltplan: elektrische Verschaltung aller • Weitere Dokumente werden aus den oben Aufge-
zu einer Systemfunktion gehörigen Bauteile mit führten abgeleitet, z.B. Einbauskizzen für die Fer-
Detaillierung hinsichtlich Kontakt/Pinnummern tigung, Darstellungen für den Service oder Daten
und Potentialen für die Logistik.
8.2 Das Bordnetz 675

Fensterheber Zugangssteuerung Audiosystem Spiegelverstellung


Energie Energie Energie Energie
CAN CAN CAN CAN
TSG TSG TSG TSG Radio TSG TSG
Fahrer Beif. Fahrer Beif. Fahrer Beif.

M M M M M M M M

Fahrzeugpackage: Trassen und Einbauräume


Leitungssatz Tür li.

Hauptleitungssatz

Leitungssatz Tür re. Bild 8.2-21 Ableitung der


Kabelschaltpläne aus System-
schaltplänen und Package
Ltg. Tür links Hauptleitungsstrang Ltg. Tür links Oben: Schematische Darstel-
lung der Schaltpläne von den
TSG TSG
Fahrer Beif. 4 die Türleitungen bildenden
Radio Systemen
Unten: Schematische Darstel-
M M M M M M M M
lung der Topologie der Tür-
Energie
leitungssätze und eines Teils
des Hauptleitungsstranges

Erprobung im CAD-System nachbilden zu können, müssen die


umgebenden Teile dreidimensional mindestens in
Mit der Verfügbarkeit erster Prototypen beginnt die
ihrer Außengeometrie sehr genau und in der Regel
Erprobung in Laboraufbauten durch Zusammenschal-
das ganze Fahrzeug abdeckend modelliert werden.
ten von Bordnetz und elektrischen Komponenten.
Dadurch entstehen Datenvolumina, die erst seit den
Dies ermöglicht zwar nur das Auffinden einfacher
1990er Jahren mit einer für Arbeitsabläufe akzep-
Verschaltungsfehler, stellt aber einen schnellen und
tablen Geschwindigkeit von Arbeitsplatzrechnern be-
effektiven Test hinsichtlich der häufigsten Fehlerar-
wältigt werden.
ten dar. Gezielte Messungen werden dort vorgenom-
Die Arbeitsabläufe und damit auch die Verkettung
men, wo die entwicklungsbegleitenden Analysen wie
der dabei entstehenden Daten gliedern sich in zwei
FMEA oder FTA besondere Risiken ausweisen. Hil-
parallele Stränge (Bild 8.2-21). Beide gehen von
Tests im Systemverbund und der Dauerlauf im Fahr-
Datenbanken mit Komponenteninformationen aus.
zeug vervollständigen die elektrische Erprobung. Alle
Mit auf die elektrischen Parameter ausgelegter CAD-
mechanischen Eigenschaften der Bordnetzkomponen-
Software werden System- und Kabelschaltpläne
ten werden ähnlich dem Ablauf bei anderen Fahrzeug-
bearbeitet, während mit Mechanik-CAD-Werkzeugen
teilen Dichtigkeits-, Schwingungs-, Festigkeits- und
im DMU (Digital Mockup) Bauteile platziert, Lei-
Klima-Tests auf Prüfständen und im Fahrzeug unter-
tungsstränge, Befestigungs- und Formteile konstruiert
worfen. Wie alle Komponenten wird auch das Bord-
und dann unter Verwendung der Schaltplandaten eine
netz erst nach Erprobung im Fahrzeug freigegeben.
Zeichnung entwickelt wird (Bild 8.2-22). Die Kerne
8.2.4.2 CAE und CAD-Werkzeuge der Werkzeuge sind in der Regel verbreitete Pro-
gramme aus ähnlichen Anwendungsbereichen. Ein
Zur Steigerung der Effizienz und der Prozesssicher- echter Effizienzgewinn wird allerdings erst erzielt,
heit hat man schon früh versucht, in der Entwicklung wenn diese über Schnittstellen untereinander und mit
CAD-Werkzeuge einzusetzen. Zur Schaltplan- und den Stücklistensystemen, Teiledatenbanken und dem
Zeichnungserstellung war dies ab den 1960er Jahren DMU-System gekoppelt werden. Ebenso sollte eine
möglich. Die beim Bordnetz unerlässliche Einbezie- Schnittstelle zur Fertigungsvorbereitung des Lieferan-
hung der Geometriedaten des Fahrzeuges scheiterte ten vorhanden sein. Damit werden manuelle Übertra-
lange Zeit an der Leistungsfähigkeit der verfügbaren gungsvorgänge überflüssig und automatische Plausi-
Rechenanlagen. Um ein Bordnetz hinreichend genau bilitätsprüfungen wie
676 8 Elektrik/Elektronik/Software

• Beachtung von elektrischen, funktionalen, kon- • Korrekte Zuordnung von Leiterquerschnitten und
struktiven und formalen Regeln, Kontaktgrößen auf Basis der in den Komponen-
• Übereinstimmung und Konsistenz von Stücklisten tendaten enthaltenen Stromwerte, möglich.
und Variantensteuerung, Die Systeme bilden das reale Verhalten der biege-
• Konsistenz der Verschaltung in allen Dokumenten schlaffen Leitungsstränge so gut ab, dass das daraus
im Einklang mit einer Netzliste, entstehende virtuelle Bordnetz (Bild 8.2-23) für Kol-

Bauteil Bauteil
Bibliothek Bibliothek
Elektrische mechanische
Eigenschaften Eigenschaften
Digital Mock Up
(Fahrzeugpackage
System-
Schaltpläne mechanisch)

Kabeltrassen
Einbauräume

Kabel-
Schaltplan

Leitungstrangaufbau Leitungsverlegung

Leitungsstrang-
Konstruktion

Leitungsstrang-
Zeichnung
(Formboard)

Bild 8.2-22 Datenfluss in


einer CAD Werkzeugkette
zur Bordnetzentwicklung

Bild 8.2-23 CAD-Modell


eines Fahrzeug-Bordnetzes
(VW Phaeton)
8.2 Das Bordnetz 677

Fahrzeughersteller

Entwicklung Fertigungsplanung Beschaffung Qualitätssicherung

Entwicklung Rohbau Ausstattung Aggregat Fahrwerk


E/E

Elektronik Entwicklung
Entwicklung Bordnetz

Systemlieferant Lieferanten Lieferanten Lieferanten Ingenieur-


Bordnetz Kunststoffteile Komponenten Sonderleitungen Dienstleister

Lieferant
Kunststoffteile

Lieferant
Komponenten Bild 8.2-24 Organisatori-
Lieferant sche Einbindung der Liefe-
Sonderleitungen ranten in die Bordnetz-
Entwicklung

lisions- und Montageuntersuchungen im DMU ver- schaltpläne und Montageabläufe vor und koordiniert
wendet werden kann. In der Regel ist jedoch eine die Auslegung des Packagings. Die Detailkonstruk-
manuelle Korrektur der Leitungslängen über Prototy- tion wird bei Lieferanten durchgeführt. Je nach deren
penbau und Montage und Vermessung im Fahrzeug Produktspektrum kommen Leitungen, Komponenten
erforderlich, um aus den vielfältigen Toleranzeinflüs- und Kunststoffteile aus einer Hand oder werden wei-
sen ein für die Großserie optimiertes Produkt zu ter untervergeben. Da man anstrebt, möglichst viele
ermitteln. Gleichteile modellübergreifend einzusetzen und au-
In zunehmendem Maße werden auch CAE Werkzeu- ßerdem gewisse Teile erst in der Fahrzeugfertigung
ge eingesetzt. So unterstützen Simulationsrechnungen montiert werden, greift die Beschaffung des Herstel-
auf Basis der elektrischen Daten frühzeitig die Di- lers auch direkt auf Unterlieferanten zu. Ein großes
mensionierung und Validierung eines Bordnetzes, Fahrzeugprojekt bindet allein für die Bordnetzent-
Testvektoren können für die Verschaltungsprüfung wicklung etwa 50 bis 100 Personen, Bild 8.2-24 zeigt
realer Leitungsstränge generiert werden und regelba- die typische Organisationsstruktur und ihre Schnitt-
sierte oder interaktive Entwurfs- und Optimierungs- stellen in dieser Phase.
verfahren assistieren bei der konstruktiven Ausle-
gung. 8.2.5 Entwicklungstrends
8.2.4.3 Lieferantenstruktur Aufgrund der zunehmenden Anzahl elektrischer
Komponenten und den damit steigenden Anforderun-
Die große Zahl an Teilen in unterschiedlichen Tech- gen hinsichtlich Sicherheit, Funktionalität, Bauraum,
nologien, verbunden mit komplexen Fertigungsabläu- Gewicht und Effizienz, aber auch wegen des relativ
fen, bedingen ähnlich komplexe Organisationsstruk- großen Einflusses des Bordnetzes auf Kosten und
turen für Entwicklung und Fertigung eines Bordnet- Qualität des Fahrzeugs und der starken Wechselwir-
zes. Während bis in die 1970er Jahre viele Automo- kung mit anderen Bauteilen herrscht ständig Bedarf
bilhersteller ihre Kabelsätze selbst hergestellt haben, zur weiteren Optimierung. Generell resultiert daraus
ist heute die Entwicklung in Teilen und die Fertigung ein ständiger und kontinuierlicher Verbesserungspro-
vollständig an so genannte Systemlieferanten ausge- zess auf Komponenten- und Detailebene. Einige der
lagert. darüber hinausgehenden Trends sowohl technologi-
Der Fahrzeughersteller konzentriert sich auf die für scher wie methodischer Art sind in Tabelle 8.2-8
das Fahrzeug relevanten Eigenschaften des Bordnet- stichwortartig aufgeführt.
zes, er spezifiziert die Anforderungen, gibt System-
678 8 Elektrik/Elektronik/Software

Tabelle 8.2-8 Trends in der Bordnetzentwicklung


Bordnetz Trends
Leitungen und • Leitermaterialien: Aluminium für größere Querschnitte, Messing und Kupfer-
Stecker legierungen im Signalbereich und Einsatz von Lichtwellenleitern
• Querschnitte: Einsatz sehr kleiner Querschnitte im Signalbereich und generell
bessere Querschnittsanpassung
• Isolatoren: Wachsender Anteil von nicht PVC basierten Materialien, höhere Tem-
peraturfestigkeit
• Aufbau: Leitungen für den Hochvoltbereich, optimierte Schirmung, nichtflexible
Leiter, Flachleiter (FFC/FPC), andere 2D-Leitersysteme
• Optimierte und sichere Steckersysteme für hohe Ströme und Spannungen, elektri-
sche und mechanische Sicherungselemente
• Vermeidung von Verkabelung und Steckersystemen durch Integration
Schalter und • Neue Relais und Halbleiter im Hochvoltbereich
Sicherungen • Zunehmende Übernahme von Sicherungs-, Schalter- und Relaisfunktionen durch
Leistungshalbleiter.
• Erweiterte Diagnose-, Steuer- und Regelmöglichkeiten, Einsatz verteilter Bord-
netzsteuergeräte
Architektur und • Aktive Maßnahmen für die Spannungsstabilität durch Einsatz von Wandlern
Aufbau und/oder Speichern.
• Mehrspannungsnetze, zumindest mit jeweils einem Hochvolt- und Niedervolt-
potenzial.
• Eigene Masseführung im Hochvoltteil; ggf. auch im Niedervoltteil bei nicht-
leitenden Strukturelementen der Karosserie
• Vorformung zur Montageunterstützung
• Sowohl einteilige wie auch modulare Bordnetztopologien
Kommunikation • Weitere Vernetzung bzw. Busanbindung von Steuergeräten, Sensoren und Aktua-
toren sowie erhöhte Diagnosefähigkeiten
• Vermehrter Einsatz von deterministischen und fehlertoleranten Bussystemen;
Verbesserung der Erweiterbarkeit
• Weitere Schnittstellen für den Bereich Infotainment und für die externe Netz-
anbindung von Fahrzeugen (C2CC, C2IC)
Prozesse Trends
Entwicklung • Durchgängige, datenbankgestützte CAX Entwicklungswerkzeuge vom Entwurf
bis zur Fertigungsvorbereitung
• Zunehmender CAE Einsatz in den Bereichen Simulation, Regelkonformität,
Optimierung und Validierung sowie weitere Etablierung der 3D Werkzeuge und
Virtual Reality
• Weitere Standardisierung auf Komponentenebene zur Umsetzung von Skalie-
rungseffekten
• Ganzheitliche Entwicklung von Bordnetz- und Elektronikarchitektur
Fertigung • Automatisierung der Konfektion in Ansätzen
• Weitere Optimierung der Logistik und Variantensteuerung
• Kontaktierungsverfahren für Aluminium

Literatur Brabetz, L.: Energieeffiziente Bordnetzarchitekturen, VDE Kongress


„E-Mobility“, Leipzig (2010)
BOSCH: Schaltzeichen und Schaltpläne. In: Bosch Gelbe Reihe: Döring, M. et al.: Methoden zur Optimierung der Wirtschaftlichkeit
Elektrik und Elektronik für Kraftfahrzeuge (1999) von Komponenten und deren Verkabelung im Kfz bei gegebener
BOSCH: Hybridantriebe. In: Bosch Gelbe Reihe: Elektrik und Zuverlässigkeit und Topologie. In: VDI-Gesellschaft Fahrzeug-
Elektronik für Kraftfahrzeuge (2008) und Verkehrstechnik: Elektronik im Kraftfahrzeug. Bd. 1646,
Brabetz, L.; Jäschke, J.; Müller, D.: Elektrische Energieverteilung im Düsseldorf, 2001
Kfz – Optimierung der Bordnetztopologie. In: VDI-Gesellschaft Forum Bordnetz: Road vehicles – Conditions for electrical and
Fahrzeug- und Verkehrstechnik: Elektronik im Kraftfahrzeug. electronic equipment for a 42 V powernet – Part 1: General,
Bd. 1547, Düsseldorf, 2000 2000
8.3 Kommunikationsbordnetze 679

Forum Bordnetz: Road vehicles – Conditions for electrical and zum Einsatz. Das sind Leitungssysteme mit dazu
electronic equipment for a 42 V powernet – Part 2: Electrical
gehörigen Steuerungskomponenten, die zum Aus-
Loads, 2000
Friedrich, R. et al.: Technische Raffinesse: Die Elektrik und Elektro- tausch von Daten und/oder Energie zwischen ver-
nik der neuen BMW 3er Baureihe. In: ATZ/MTZ (1998) schiedenen Hardware- oder auch Software-Kompo-
Gemmerich, R. et al.: Ein ganzheitlicher Ansatz zur Generierung und nenten dienen.
Optimierung von Fahrzeugbordnetzen, 14. Internationaler Kon-
gress „Elektronik im Kraftfahrzeug“, VDI, Baden-Baden, (2005)
Dabei haben sich seit Beginn der siebziger Jahre
Ginsberg, T.; Brand, R.; Baus, A.; Eckel, M.: Sichere Leistungsüber- zahlreiche unterschiedliche Bussysteme etabliert, die
tragung in Hochspannungsbordnetzen, 4. VDI Tagung Baden sich vor allem hinsichtlich ihrer technischen Ausle-
Baden Spezial, 10 2010 gung, der Leistungsfähigkeit und ihrer Kosten unter-
Hofmann, P.E.H.; Thurner, Th.: Neue Elektrik/Elektronik Architek-
turansätze. In: VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik:
scheiden und deshalb im Fahrzeug für jeweils unter-
Elektronik im Kraftfahrzeug. Bd. 1646, Düsseldorf, 2001 schiedliche Aufgabenstellungen und Einsatzgebiete
Jung, C.; Melbert, J.; Koch, A.: Dynamische Wechselwirkungen im genutzt werden (siehe Bild 8.3-1).
42 V-Bordnetz. In: VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrs-
technik: Elektronik im Kraftfahrzeug. Bd. 1547, Düsseldorf, 2000
Kalb, H.: Bordnetz und Kabel im Umfeld der Elektromobilität, 4. VDI Multi-

Datenrate
Tagung Baden Baden Spezial, 10 2010 media
Knorr, R.; Gilch, M.; Auer, J.; Wieser, C.: Stabilisierung des 12 V
X-by-Wire
Bordnetzes, Ultrakondensatoren in Start-Stopp-Systemen, In:
ATZ Elektronik, (05, 2010) S. 48–53 Consumer Antriebssteuerung
Schnittstelle und
Leohold, J.: Auslegung und Optimierung von Fahrzeug-Bordnetzen.
Fahrzeugdynamik Safety Bus
In: VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik: Elektronik
Infotainment-
im Kraftfahrzeug. Bd. 1287, Düsseldorf, 1996 Control Karosserie-
Leohold, J. et al.: Das elektrische Bordnetz. In: ATZ/MTZ Sonderheft elektronik
Volkswagen Phaeton (2002)
Olk, J.; Rosenmayr, M.; Stich, U.: Vorsicherungs- und Bordnetz- Sub-Bus
steuergeräte für neue Bordnetzstrukturen. In: VDI-Gesellschaft
Fahrzeug- und Verkehrstechnik: Elektronik im Kraftfahrzeug. Sicherheit
Bd. 1646, Düsseldorf, 2001
Scheele, O.: Entwicklung von EE-Architekturen: Vom Entwurf bis zur
Bild 8.3-1 Funktionale Anwendungsprofile von BUS-
Konzepteinführung in der Serie, EE-Systems, Nürtingen, (2008)
Schöttle, R.; Threin, G.: Elektrisches Energiebordnetz: Gegenwart und Systemen
Zukunft. In: VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik:
Elektronik im Kraftfahrzeug. Bd. 1547, Düsseldorf, 2000 Die Kommunikation zwischen diesen einzelnen
Schramm, D.; Bouda, H.; Brand, R.: Zentralelektriken und Module Netzwerken erfolgt über spezielle Gateways und
zur Leistungsverteilung als integrale Bestandteile zukünftiger
Bordnetze. In: ATZ/MTZ Automotive Electronics September,
Schnittstellen. Obwohl damit viele Informations-
Sonderheft (2001) S. 56–60 stränge gebündelt werden können, haben die erforder-
Wieland-Werke: Wieland-Buch Kupferwerkstoffe, 5. Auflage: Ulm: lichen Netzwerke eine immense Größe: Während in
Wieland-Werke AG, 1986 den Fünfziger Jahren rund 30 Meter Kabel im Fahr-
zeug verlegt worden sind, machen etwa in der Mer-
cedes S-Klasse (W 220) rund 1 900 Leitungen, ca.
8.3 Kommunikationsbordnetze 3 800 Steckverbindungen und eine Gesamtlänge von
drei Kilometern den Kabelbaum zu einer der aufwän-
8.3.1 Einleitung digsten und teuersten Komponente. Diese in elektri-
Der Anteil der Elektronik im Fahrzeug hat in den sche und optische Systeme unterteilten Busse werden
letzten Jahren stetig zugenommen. Selbst in preiswer- im ersten Teil dieses Kapitels in ihren Grundzügen
ten Kleinwagen sind deshalb eine Vielzahl von Sen- erklärt und in Leistungsfähigkeit und Funktionsspek-
soren, Aktoren und Steuergeräten installiert. In Fahr- trum gegenüber gestellt.
zeugen der Oberklasse, wo zusätzlich auch noch Über diese Kommunikationsnetzwerke innerhalb des
Unterhaltungs-, Klima- und Navigationsgeräte sowie Fahrzeugs hinaus wächst in der Automobilindustrie
aufwändige Assistenzsysteme eingesetzt werden, die Bedeutung von Netzwerken, die das Fahrzeug-
summiert sich die Zahl der Steuergeräte auf mittler- system nach außen öffnen und den Wagen mit seiner
weile bis zu 30 – 50 Electronic Control Units (ECU). externen Umwelt verbinden. Statt Kabeln oder Licht-
Weil viele dieser Einheiten funktional voneinander leitern kommen dann Funknetzwerke zum Einsatz,
abhängig sind und zum Beispiel das Airbagsteuerge- die im zweiten Teil des Kapitels vorgestellt werden.
rät auf die Crashsensoren oder das ABS-Steuergerät
8.3.2 Kabelgebundene Bordnetze
und die Navigationseinheit auf die Radsensoren
angewiesen sind, müssen diese Komponenten mitei- Für die Vernetzung der fahrzeuginternen Systeme
nander kommunizieren können. Eine konventionelle werden heute ausschließlich kabelgebundene Daten-
Verkabelung einzelner Geräte über dezidierte Signal- busse eingesetzt. Sie übermitteln sämtliche Informa-
leitungen ist angesichts der Vielzahl der zu vernet- tionen und Befehle aus den Bereichen „Control“
zenden Steuergeräte kaum mehr möglich. Deshalb (Sensoren von der Außentemperatur bis zur Raddreh-
kommen im Fahrzeug zunehmend so genannte Busse zahl) und „Command“ (Steuerung vom Fensterheber
680 8 Elektrik/Elektronik/Software

bis zum Assistenzsystem) und sind auch die Basis für Bus Treiber
Entertainment-, Multimedia- und Video-Applikatio-
nen. Außerdem ersetzen sie unter dem Stichwort 1:1
Verbindung
„x-by-wire“ zunehmend mechanische Verbindungen
etwa beim „elektronischen Gaspedal“.
Active Star
Klassifiziert werden diese Netzwerke neben der
Datenkapazität und der Übertragungstechnik nach
ihrer Topologie, also dem Aufbau der Verbindung
[1]. Dabei gibt es drei Grundtypen:
• Punkt-zu-Punkt-Verbindung: Ein Netzwerk mit
nur zwei Teilnehmern (wird im weiteren nicht be-
trachtet). Redundanz
• Ring-Netzwerk: Ein Netzwerk, bei dem alle
Komponenten in einem Ring miteinander verbun-
Kommuniklations-
den werden (Bild 8.3-2). Größter Vorteil dieser Ar- Stern controller
chitektur ist der geringe Verkabelungsaufwand und
die schnelle Verbindung. Dafür jedoch ist die Da- Bild 8.3-3 Konfiguration mit aktivem Stern
tenübertragung zwischen allen Komponenten ge-
fährdet, wenn der Ring an einer Stelle unterbrochen
• Jede Fahrzeugkomponente muss nur einmal an den
ist. Deshalb müssen aufwändige Kontroll-Systeme
Bus angeschlossen werden. Die Verkabelung wird
und „Bypass“-Lösungen entwickelt werden.
einfacher, der benötigte Bauraum kleiner, das Ge-
• Sternverbindung: Sie verknüpft alle Komponenten
wicht geringer und die Kosten sinken. In der Mer-
über einen im Zentrum des Sterns installierten
cedes S-Klasse (W220) spart der Einsatz der Bus-
„Hub“, auch „Bus Guardian“ (Bus-Wächter) ge-
systeme bei Maximalausstattung etwa 17 Kilo-
nannt, der die reibungslose Kommunikation ge-
gramm Kabelsatzgewicht (39 kg statt 56 kg) und
währleistet (Bild 8.3-3). Weitere Kontrollsysteme
1000 Meter Kabelsatzlänge (2200 m statt 3200 m).
sind nicht nötig, so dass der Stern deutlich kosten-
• Sämtliche Geräte an einem Bus können miteinander
günstiger ist als der Ring. Außerdem kann auch
kommunizieren und aufeinander reagieren. Zum
beim Ausfall eines Strahls auf allen anderen Strah-
Beispiel startet dann bei eingeschaltetem Schei-
len weiter kommuniziert werden. Allerdings steigt
benwischer mit dem Einlegen des Rückwärtsgangs
beim Stern der Aufwand für die Verkabelung und
automatisch auch der Heckscheibenwischer. Diese
damit auch das Fahrzeuggewicht. Bei einem Ausfall
Verknüpfung nennt man „Multiplexing“.
des Hubs kommt es zum Totalausfall des Netzes.
• Mit redundanten Leitungen können Ausfälle bes-
Unabhängig von der Architektur bieten Bussysteme ser vermieden werden.
gegenüber der singulären Signalleitung zwischen ein- • Weil der Bus, seine Schnittstellen und die Kom-
zelnen Komponenten eine Reihe von Vorteilen: munikation standardisiert sind, steigt die Modula-
rität der Komponenten. So können viele Steuer-
geräte in unterschiedlicher Konfiguration in ver-
Kommuniklations- schiedenen Fahrzeugen verwendet werden, wobei
controller dann nur einzelne Module für zusätzliche Funk-
Bus Treiber tionen integriert oder entsprechend herausgenom-
Transmitter bzw. Receiver men werden müssen.
Grundsätzlich muss bei den kabelgebundenen Bord-
netzen zwischen zwei Übertragungstechniken unter-
schieden werden: Den elektrischen und den optischen
Datenbussen (Bild 8.3-4). Diese Systeme werden im
nachfolgenden Abschnitt vorgestellt.

8.3.2.1 Elektrische Kommunikationsbordnetze


Bei der elektrischen Kommunikation im Netzwerk
werden die Daten über konventionelle Kupferkabel
Knoten
als elektrische Impulse versendet. Diese Übertragung
ist grundsätzlich relativ preiswert und sehr robust
Ring gegenüber mechanischer Belastung. Allerdings sind
kabelgebundene Netzwerke anfällig für elektromag-
Bild 8.3-2 Ringschaltung eines optischen Systems netische Störungen und müssen deshalb aufwändig
8.3 Kommunikationsbordnetze 681

USB
> 150
MOST150
150

Ethernet
100
MOST50
50
Mbps

25 MOST25
10 Byteflight FlexRay

5 D2B Optical

CAN C
1

bis 1990 1995 2000 2005 2010 Jahr Bild 8.3-4 Ausgewählte
elektrisch optisch optisch/elektrisch
kabelgebundene Bussysteme
im Vergleich

abgeschirmt und isoliert werden (Kapitel 8.4), was Teilnehmer. Um den CAN-Bus vor den Einflüssen
die Kosten erhöht. Außerdem sind die Kabelbäume starker elektromagnetischer Felder zu schützen, ver-
verhältnismäßig schwer. Dennoch stellen sie den fügt das System über einen Mechanismus, der fehler-
Löwenanteil der Netzwerke im Fahrzeug. hafte Übertragungen erkennt und wiederholt. Außer-
Die wichtigsten BUS-Systeme im Einzelnen [2, 5]: dem können Fehler lokalisiert und entsprechende
LIN: Das Local Interconnect Network (LIN) ist der Controller vom Netzwerk getrennt werden.
einfachste und preiswerteste Bus im Fahrzeug. Er TTCAN: Vor allem in sicherheitsrelevanten Syste-
besteht aus einem einzigen 12 V-Kabel und ermöglicht men kommt als Weiterentwicklung des CAN-Busses
mit einem seriellen Datenformat die kostengünstige der so genannte Time Triggered CAN (TTCAN) zum
Kommunikation für Sensoren und Aktoren mit einer Einsatz. Dort erfolgt die Kommunikation nicht ereig-
geringen Bandbreite von 19,6 KBit/s. Der Bus hat nur nis-, sondern zeitgesteuert: Alle Knoten werden mit
einen Master (Sender) und bis zu 16 Slaves (Empfän- Referenznachrichten auf eine gemeinsame Systemzeit
ger) und vernetzt vor allem Temperatur- und Feuchtig- geeicht und kommunizieren danach in festgelegten
keitssensoren, Aktoren und Beleuchtungselemente. Um Zeitfenstern. Während auf dem normalen CAN die
Energie zu sparen, kann das LIN-Netzwerk auch in Laufzeit und die Sendezeit einer Nachricht nicht
einem „Schlaf-“ oder Standby-Modus betrieben wer- präzise bestimmt werden können, ist auf diese Weise
den, bis eine „wake-up“-Message die Slaves aktiviert. sichergestellt, dass die entsprechenden Informationen
CAN: Das Controller Area Network – kurz: CAN – nach einem genauen Zeitplan übermittelt werden.
findet seit Anfang der neunziger Jahre verstärkten DC-BUS: Während die zuvor beschriebenen BUS-
Einsatz im Fahrzeugbau und vernetzt mit einem Systeme zusätzliche Kabelbäume verlangen, benutzt
zweiadrigen Kabelstrang zum Beispiel das ABS- dieser Ansatz die im Fahrzeug bestehenden Gleich-
System oder die Motorsteuerung. Der serielle CAN- stromleitungen für den Datenaustausch. Diese „Power
Bus verfügt über eine Datenübertragungsgeschwin- Line Communication“ ist aber zahlreichen Störein-
digkeit von 10 KBit/s bis 1 MBit/s bei einer Buslänge flüssen ausgesetzt und deshalb bis heute noch in
bis zu einem Kilometer. Die maximale Anzahl der keinem Serienfahrzeug verwirklicht worden.
Teilnehmer („Knoten“) im Bus beträgt 32, weil die USB/Ethernet: Um den wachsenden Anforderungen
Netze jedoch intern aufgeteilt werden können, sind an die Übertragungskapazität Rechnung zu tragen,
deutlich höhere Gesamtzahlen möglich. Sämtliche werden für Telematik-, Assistenz- und Infotainment-
Teilnehmer im CAN können „Master“ oder „Slave“ systeme zunehmend die aus der Computerwelt ent-
sein und dann Informationen nicht nur empfangen, lehnten Busse USB und Ethernet eingesetzt. Sie
sondern auch versenden. Dieses Konzept nennt man erlauben Übertragungsraten von 100 bis 480 MBit/s.
„Multi-Master-Bus“. Gesteuert wird die Kommunika- Allerdings erfordert ihr Kommunikationsprotokoll
tion über die Ereignisse: Wann immer eine ECU eine mit der isochronen Übertragung schnelle Zwischen-
Informationen senden will, wird der entsprechende speicher an jedem Knoten. Im Bereich von Multime-
CAN-Controller beauftragt und bringt die Nachricht dia Anwendungen im Fahrzeug kommt USB als
auf den Weg, sobald der Kanal frei ist. Müssen Schnittstelle zu mobilen Datenträgern als auch bei
gleichzeitig mehre Informationen gesendet werden, der Vernetzung verteilter Infotainmentsysteme zum
regelt die vorgegebene Prioritätenliste die Reihenfol- Einsatz.
ge. Empfängeradressen gibt es auf dem CAN-Bus Ethernet hat im industriellen Bereich seine Zuverläs-
nicht; die jeweilige Information erreicht immer alle sigkeit und Qualität längst bewiesen und bietet sich
682 8 Elektrik/Elektronik/Software

als kostengünstige Lösung für den Einsatz im Fahr- Bedienung (Plug-and-Play) hin konzipiert worden ist,
zeug an. Verschiedene Automobilhersteller erwägen können einzelne Geräte mühelos entfernt oder hinzu-
daher seit geraumer Zeit den Einsatz von Ethernet- gefügt werden. In einem MOST-Netzwerk übernimmt
Netzwerken im Fahrzeug. Im ersten Schritt wird ein MOST-Gerät die Rolle eines Timing-Masters, der
Ethernet für die Fahrzeug-Diagnostik und den Soft- kontinuierlich MOST-Frames in den Ring einspeist.
ware-Download zu verschiedenen ECU (Engine Die zu Beginn der Übertragung eines MOST-Frames
Control Unit) im Fahrzeug genutzt. Im zweiten Ent- versendete Präambel dient den Timing-Slaves zur
wicklungsschritt folgt die Erweiterung um eine Da- Synchronisation. Über die der synchronen Übertra-
tenübertragung für Echtzeitanwendungen wie Spra- gung zugrunde gelegten Biphasen-Codierung können
che, Audio oder Video. Hierzu ist jedoch ein Netz- sich die Timing-Slaves ständig nachsynchronisieren.
werkpfad mit geringer Latenz erforderlich, da längere Insgesamt steht der Übertragung von Streaming-
oder diskontinuierliche Unterbrechungen im Daten- Daten (synchrone Datenübertragung) und von Paket-
fluss von zeitkritischen Anwendungen die Sprach- daten (asynchrone Datenübertragung) eine Bandbreite
und Bildqualität negativ beeinflussen. Um die Servi- von circa 23 MBit/s zur Verfügung. Diese ist in 60
cequalität zeitkritischer Dienste wie digitales Audio physikalische Kanäle gegliedert, die vom Anwender
oder Video über Ethernet garantieren zu können, hat selektiert und konfiguriert werden können. MOST
IEEE eine Arbeitsgruppe für Audio/Video-Bridging unterstützt bis zu 15 unkomprimierte Stereo-Audio-
(AVB) als Teil des Standards 802.1 gebildet. Der Kanäle in CD-Qualität oder bis zu 15 MPEG1-Kanäle
hieraus resultierende AVB-Standard wird den Auto- zur Audio-Video-Übertragung [3]. Die Übertragung
mobilherstellern als Basis für zukünftige Multime- von hochauflösenden, unkomprimierten Videodaten-
dianetzwerke über Ethernet in Fahrzeugen dienen. strömen ist mit MOST allerdings noch nicht möglich.
Gleichzeitig bietet MOST einen Kanal zur Übertra-
8.3.2.2 Optische Kommunikationsbordnetze gung von Kontrollbotschaften. Dazu steht eine Band-
breite von 768 kB zur Verfügung. Pro Sekunde kön-
Neben den elektrischen Bordnetzen haben sich im nen damit fast 3 000 Kontrollbotschaften übertragen
Fahrzeug für schnelle und volumenstarke Datenver- werden. Mit Hilfe der Kontrollbotschaften können
bindungen auch optische Systeme etabliert. Dort MOST-Geräte sowie die synchrone bzw. asynchrone
werden die Informationen von elektrischen in opti- Datenübertragung konfiguriert werden.
sche Impulse umgewandelt und dann mit Lichtleitern Die zweite Generation, MOST50, bietet eine Verdop-
aus Kunststoff POFs (Plastic Optical Fiber) übertra- pelung der Bandbreite von 25 auf 50 Mbit/s ver-
gen. Der Vorteil der Lichtleiter liegt vor allem in der bunden mit der Erweiterung um die MOST Specifica-
deutlich höheren Übertragungsrate und im geringeren tion of Electrical Physical Layer Rev. 1.1 [6]. Diese
Gewicht. Außerdem gibt es keine EMV-Störungen. ermöglicht eine Datenübertragung über ungeschirmte,
Allerdings sind derartige Netzwerke in der Herstel- verdrillte Kupferkabel (UTP; unshielded twisted pair)
lung etwas teurer und in der Produktion sehr viel unter Einhaltung der im Automobilsektor herrschen-
sensibler, weil sie mechanisch nicht stark beansprucht den strengen Vorgaben an die elektromagnetische
werden können. So dürfen zum Beispiel bei der Verträglichkeit.
Montage maximal zulässige Biegeradien von einigen Mit der dritten Generation, MOST150, wird die
Zentimetern nicht unterschritten werden. Zudem Übertragungsrate auf 150 Mbit/s erweitert werden.
müssen von den Werkstätten Spezialwerkzeuge für MOST150 unterstützt dabei weiterhin den Einsatz
Wartung und Reparatur vorhalten werden. von POFs (Plastic Optical Fiber) und LEDs als Licht-
Die wichtigsten optischen BUS-Systeme im Einzel- quellen und gewährleistet so den reibungslosen Über-
nen [2]: gang von MOST25. Zusätzlich zur höheren Übertra-
D2B Optical: Der Domestic Data Bus (D2B Optical) gungsrate bietet MOST150 einen isochronen Über-
war das erste in Serie eingesetzte optische Netzwerk. tragungsmechanismus zur Unterstützung komplexer
Mit einer Übertragungsrate von 5,6 MBit/s hat es mit Video-Anwendungen sowie einen Ethernet-Kanal für
einer Ringstruktur bis zu fünf Teilnehmer über eine die effiziente Übertragung von IP-Paketdaten. Der
0,98 Millimeter dicke Leitung aus Polymetylmethac- Ethernet-Kanal überträgt Ethernet-Frames gemäß
rylat (PMM) synchron vernetzt. Eingesetzt wurde es IEEE 802.3, so dass die Kommunikation von Stan-
ausschließlich für Multimedia-Komponenten. dard-TCP/IP-Software-Stacks ohne Änderungen mög-
MOST: 1998 wurde für die Multimedia-Umgebung lich ist. Damit bietet die neue Generation von MOST
im Fahrzeug der Bus für Media Oriented Sys- den einsatzbereiten Physical Layer für Ethernet
tems Transport (MOST-Bus, MOST25) eingeführt. typische Kommunikation im Auto. Eine Anpassung
MOST-Netzwerke werden als Ring ausgeführt, bei der Übertragungsraten-Aufteilung an die jeweiligen
sicherheitskritischen Anwendungen können auch Anforderungen von IP-Kommunikation einerseits und
Doppelringe zum Einsatz kommen. In einem solchen konventionellen Streaming-Verbindungen anderer-
MOST25 Ring können bis zu 64 MOST-Geräte seits ist dynamisch möglich. Zusätzlich unterstützt
eingebunden werden. Weil das System auf einfache MOST150 den bewährten asynchronen Kanal, um
8.3 Kommunikationsbordnetze 683

rückwärtskompatibel zu MOST25-Anwendungen zu Für die kabellose Verbindung stehen verschiedene


bleiben. Diverse Fahrzeughersteller sind mit ersten Techniken zur Wahl, die in den kommenden Ab-
Serienprojekten bereits in der Implementierungsphase schnitten vorgestellt werden (vgl. Bild 8.3-5):
und planen den Einsatz des MOST150-Netzwerks in Infrarot: Eine Möglichkeit zur kabellosen Systemin-
Fahrzeugen ab 2011. tegration bietet die Infrarot-Technik. Dafür haben vor
Byteflight/FlexRay: Für größere Datenmengen vor allem Unternehmen aus der Computerindustrie in den
allem in „x-by-wire“-Systemen und sicherheitsrele- neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Infrared
vanten Anwendungen werden seit einigen Jahren der Data Association (IrDA) gegründet und die physische
Byteflight-Bus und dessen Weiterentwicklung Flex- Spezifikationen sowie die Standards für Kommunika-
Ray eingesetzt. Sie ermöglichen eine frei konfigu- tionsprotokolle einer Schnittstelle definiert, die mit-
rierbare synchrone und asynchrone Übertragung mit tels infrarotem Licht den Austausch von Daten
einer hohen Bandbreite von maximal 10 MBit/s. Das ermöglicht. In der fortschrittlichsten Spezifikation
flexible und erweiterbare Netzwerk besteht aus ma- werden damit Datenraten von 16 MBit/s erreicht. Ein
ximal 64 Knoten, die entweder mit Punkt-zu-Punkt- Vorteil dieser Technik ist der preisgünstige Aufbau der
Verbindungen oder über eine klassische Bus-Strukur Systeme. Nachteilig sind aber die geringe Übertra-
miteinander verknüpft werden können. Als physikali- gungsentfernung, die in der Spezifikation mit 100 cm
sches Übertragungsmedium werden Kupferkabel oder festgelegt ist, sowie die zwingend benötigte Sichtver-
aber mehrheitlich Lichtleiter eingesetzt. In seiner bindung zwischen Sender und Empfänger. Aus diesen
Grundkonzeption ist FlexRay vergleichbar mit dem Gründen kommen Infrarot-Übertragungen im Fahrzeug
zeitgesteuerten CAN-Bus. Während der TTCAN allenfalls bei Fernbedienungen zum Einsatz.
allerdings die Fehlertoleranz und die Sicherheit in Zigbee: Zigbee ist ein drahtloses Netzwerk, das nur
den Vordergrund stellt, liegt hier der Schwerpunkt auf kurze Entfernungen arbeiten kann und vor allem
auf der Flexibilität der Kommunikation. Die Entwick- für die Kommunikation von und zu Sensoren einge-
lung von FlexRay wurde 1999 von BMW und Daim- setzt wird. Es bietet eine Datenübertragungsrate von
lerChrysler initiiert. Mittlerweile sind aber weitere 106 oder 212 KBit/s und wird in Zukunft auch
Automobilhersteller und alle namhaften Zulieferer 424 KBit/s übermitteln können. Im Auto überbrückt
am entsprechenden Konsortium beteiligt. Zigbee meist nur wenige Zentimeter und kommt
deshalb als Nischenanwendung zum Beispiel in der
8.3.3 Drahtlose Kommunikationsbordnetze Kommunikation mit den Luftdrucksensoren der Rei-
Die kabellose Vernetzung wird im Fahrzeug vor fen zum Einsatz.
allem für die Integration externer Systeme für Kom- Bluetooth: Eine Schlüsselrolle bei der Vernetzung
munikation oder Infotainment genutzt [4]. Zwar sind der internen und externen Komponenten im Fahrzeug
heute einzelne Komponenten wie das Mobiltelefon kommt dagegen der Bluetooth-Technologie zu. Defi-
oder der PDA mehrheitlich noch per Kabel mit dem niert und verwaltet wird dieser Standard von der
Fahrzeug verbunden. Doch wachsende Komfortan- Bluetooth Special Interest Group (SIG), in der bislang
sprüche, die schnellen Wechselintervalle der mobilen über 2 000 Unternehmen zusammen geschlossen sind.
Endgeräte und eine steigende Zahl der Systeme Dieser Standard für die kabellose Vernetzung von
machen eine Umstellung dringend erforderlich. Geräten über kurze Distanz definiert eine drahtlose

UMTS
HSDPA
GSM

WiMax

Near-Field
Comm.

Mobile-Fi,
MBWA
Blue- Bild 8.3-5 Mit drahtlosen
tooth
Netzwerken erfolgt der
WLAN
WiFi Ultra-Wide Datenaustausch zwischen
Band
Fahrzeug und Umwelt/
Infrastruktur
684 8 Elektrik/Elektronik/Software

Schnittstelle, über die sowohl mobile Kleingeräte wie Profile einarbeiten soll. Dabei steht Bluetooth für
Mobiltelefon und PDA als auch Computer oder Peri- zweierlei Anwendungen: den Datenaustausch zwi-
pheriegeräte in einem Netzwerk miteinander kommu- schen portablen Endgeräten und dem Fahrzeug sowie
nizieren können. Ein solches Netzwerk wird auch als den drahtlosen Transport von Audio- und Videosig-
„Wireless Personal Area Netzwerk“ (WPAN) bezeich- nalen für Unterhaltung und Information. Die erste
net. Die verfügbare Nutzer-Datenrate liegt bei derzeit Phase der Integration von Bluetooth in die Fahrzeuge
maximal 2,5 MBit/s (Bluetooth 2.0 plus Enhanced ist abgeschlossen. So verfügen einige Modelle vor
Data Rate (EDR)). Herzstück des Systems ist ein allem in der Mittel- und Oberklasse aber auch zu-
Mikrochip, das Bluetooth-Modul. Es benötigt wenig nehmend Kleinwagen über eine Bluetooth-Schnitt-
Energie, bietet integrierte Sicherheitsmechanismen stelle für Mobiltelefone, so dass die Gespräche über
und ist günstig herzustellen. Somit kann es in einer das Audiosystem des Fahrzeugs geführt werden
breiten Palette von elektronischen Geräten eingesetzt können. Für die Zukunft rechnen Experten mit einem
werden. Prinzipiell besteht ein Bluetooth-Modul aus erweiterten Funktionsumfang durch das Einbringen
einem HF-Teil und einem Basisband-Controller, der weiterer Bluetooth-Profile. Zum Beispiel:
die Schnittstelle zum Hostsystem, zum Beispiel
dem PC, Laptop oder Handy darstellt. In der Norm – Mobiltelefone werden weiter integriert und der
sind drei Sendeleistungsklassen mit 1 mW (0 dbm), SIM-Zugriff für kommerzielle Anwendungen ge-
2,4 mW (4 dBm) und 100 mW (20 dBm) definiert, öffnet
die Reichweiten von 10 m bis 100 m zulassen (vgl. – Location Based Services erweitern die Funktionen
Bild 8.3-6). Ein direkter Sichtkontakt zwischen des Navigationssystems
Sender und Empfänger ist nicht nötig. Beim Einsatz – Fahrzeugfunktionen wie die Schließanlage oder die
im Fahrzeug ist aber vor allem die Reflektion der Standheizung können universell ferngesteuert wer-
Funkwellen am Metall sowie die Absorption des den.
menschlichen Körpers zu berücksichtigen. Bluetooth- Eine Erweiterung von Bluetooth 2.0/2.1 stellt der im
Geräte dürfen weltweit zulassungsfrei betrieben April 2009 verabschiedete Bluetooth 3.0 Standard dar.
werden und senden im 2,4-GHZ-ISM-Funkband Bluetooth 3.0+HS sieht als Basis eine 3-MBit-Funk-
(ISM = Industrial, Scientific and Medical). Ein Blue- verbindung vor, über die Steuerdaten und Sitzungs-
tooth-Netzwerk kann aus bis zu 255 Teilnehmern schlüssel ausgetauscht werden. Wenn größere Da-
bestehen, wovon acht Geräte gleichzeitig aktiv sein tenmengen übertragen werden sollen, dann wird in
können. Ein Gerät übernimmt die Rolle des Masters den Highspeed-Modus gewechselt. Hierbei wird auf
und kann bis zu sieben weitere Teilnehmer (Slaves) die WLAN-Übertragungstechnik IEEE 802.11g
ansprechen. Der Master steuert die Kommunikation (54 MBit/s) zurückgegriffen die im gleichen Fre-
und vergibt Sende-Slots an die Slaves. quenzbereich wie die Bluetooth-Funktechnik arbeitet.
Da Bluetooth universell einsetzbar ist, hat die Blue- Dafür setzt Bluetooth einen Ad-hoc-Modus ein, der
tooth SIG etwa 20 so genannte Profile definiert, die eine Verbindung mit WLAN-Technik zwischen nur
als Bindeglied zwischen den Anwendungen und der zwei Geräten vorsieht.
Bluetooth-Hardware fungieren. Diese Profile werden Ultra Wide Band: Als eine künftige Übertragungs-
entwickelt und betreut von drei Expertengruppen technik für die Kommunikation im Fahrzeug sehen die
innerhalb der Bluetooth-Organisation, die eine zielge- Entwickler das Ultra Wide Band (UWB), das Daten-
richtete Applikationsentwicklung ermöglichen sollen. transferraten bis zu 480 MBit/s ermöglichen wird und
Den automobilen Bereich betreut die „Car Working sich damit zum Beispiel für die kabellose Übertragung
Group“ (CWG), die künftige Anwendungsszenarien auch von bewegten Bildern in Echtzeit eignet. So
im Automobil erkennen und in die Definition neuer könnte beispielsweise der nachträgliche Einbau von
Displays für ein Rear Seat Infotainment System
erheblich vereinfacht werden, aber auch bei der
Telephony World

GSM, HSDPA, UMTS Erstausstattung würden durch den Wegfall von Ka-
Country, World
Public Mobile

Worldwide Mobile Telephony


belbäumen erhebliche Ressourcen eingespart. Dabei
WiMax, MBWA setzt die Industrie auf den Anfang 2008 von der
802, 16 ...,
up to 35 km

802.20 Bundesnetzagentur freigegebenen Frequenzbereich


WLAN zwischen 30 MHz und 10,6 GHz. Ein weiterer Vorteil
Hot spot
up to 100 m

802.11 ... dieser Technologie ist der sehr geringe Energiebedarf,


Data Networking

der weit unterhalb der Bluetooth-Kommunikation liegt.


(IEEE) World

BT
Bluetooth Erste Anwendungen im Consumer-Bereich existieren
10–100 m

Ultra Wide Band


heute. Der Einsatz im Fahrzeug wird entsprechend
ZIGBEE verzögert erfolgen.
20cm

WLAN: Eine Alternative und Ergänzung zur Blue-


tooth-Kommunikation vor allem für den Datenexport
Bild 8.3-6 Reichweiten von Kommunikationsnetzen aus dem Fahrzeug heraus ist die WLAN-Tech-
8.3 Kommunikationsbordnetze 685

High speed MBWA (FlashOFDM)


Vehicle (Flarion/802.20)
Vehicular
rural

Vehicular WiMax/
urban IEEE802.16e
GSM 3G/UMTS
Pedestrian GPRS WiMax/
Walk

HSDPA IEEE802.16a,d
Nomadic
EDGE

Fixed urban
Fixed

Indoor DECT
WLAN/WiFi
Personal area (IEEE 802.11x)
Bluetooth Bild 8.3-7 Datenübertra-
0,1 1 10 100 gungsraten verschiedener
User data rate (Mbps) Einsatzfelder im Vergleich

nologie. Dieser Begriff steht für Wireless Local Area ben. Dann könnte der nachfolgende Verkehr rechtzei-
Network und bezeichnet ein drahtloses Funknetzwerk tig gewarnt werden und entsprechend auf die neue
verschiedener Rechner oder Steuereinheiten, dem in Situation reagieren. In der Vision der Entwickler kann
der Regel ein Standard der IEEE 802.11-Familie jedes Fahrzeug in diesen ad-hoc-Netzwerken die Rolle
zugrunde liegt. Auch WLAN-Netzwerke senden wie des Senders, Empfängers oder Vermittlers (Routers)
Bluetooth-Anwendungen auf dem weltweit verfügba- übernehmen. So baut sich ähnlich eines Staffellaufs
ren 2,4-GHz-Band oder auch auf dem ebenfalls lizenz- eine Informationskette auf, die auch weite Entfernun-
freien 5-GHz-Band und erreichen je nach Standard gen überbrücken kann. Parallel zum Kontakt von
eine Datenübertragungsrate von 11 MBit/s (Protokoll Fahrzeug zu Fahrzeug soll auf diesem Wege auch die
802.11b) bis 54 MBit/s (Protokoll 802.11g), wie Bild Kommunikation mit stationären Einrichtungen verbes-
8.3-7 zeigt. Im Vergleich zu WPANs haben WLANs sert werden. So würde die Werkstatt den Fehlerspei-
eine deutlich größere Sendeleistung und damit größere cher online auslesen, ohne auch nur die Motorhaube zu
Reichweiten. So können Daten im Idealfall über rund öffnen. Und statt ständig neue Navigationskarten zu
300 Meter übertragen werden. kaufen, könnten Autofahrer die aktuellsten Daten
Premiumhersteller statten derzeit ihre Fahrzeuge mit einfach an der Tankstelle downloaden.
einem mobilen Internet-Zugang aus. Dabei wird die Mobile Broadband Wireless Access: Die Mobile
Verbindung je nach Netzverfügbarkeit über GPRS Broadband Wireless Access-Technologie (MBWA)
und UMTS hergestellt und per WLAN an beliebige ist eine Weiterentwicklung von WLAN für mobile
Endgeräte im Fahrzeug weitergeleitet. Klienten. Während WLAN zwar kabellos aber prin-
Dem Nutzer bleibt es hierbei freigestellt eine eigene zipiell ortgebunden und statisch ist, wird diese Funk-
SIM-Karte zu verwenden oder per Bluetooth und verbindung eine Datentransferrate von 384 KBit/s bis
SIM Access Profile ein vorhandenes Handy mit der 4 MBit/s ermöglichen, auch wenn sich das Fahrzeug
im Auto fest eingebauten Modem-Router-Kombi- mit bis zu 250 km/h bewegt. Die Reichweite einer
nation verbinden. Funkzelle ist auf bis zu 35 Kilometer ausgelegt (Bild
WLAN für Car-to-Car-Kommunikation: Um die 8.3-6). Der Zeitpunkt wann mit ersten Einsätzen
Erforschung, Standardisierung und Einführung zu im Fahrzeug zu rechen ist bleibt aufgrund der erfor-
beschleunigen, haben namhafte Automobilhersteller derlichen Infrastruktur abzuwarten. Einen ähnlichen
und Zulieferer im Jahr 2005 das Car-2-Car Commu- Ansatz verfolgt die WiMAX-Technologie, die einen
nication Consortium (C2C CC) gegründet, das auf mobilen Internetzugang mit einer Datenrate von
Basis von WLAN auf europäischer Ebene möglichst maximal 10 MBit/s in Aussicht stellt. WiMAX wird
schnell einen offenen Industriestandard für die Kom- durch die CE-Industrie, z.B. Intel, massiv gefördert.
munikation zwischen Fahrzeugen und zwischen Ob diese Netzwerke allerdings auch für das Auto
Fahrzeugen und Infrastruktureinrichtungen erarbeiten relevant werden, ist derzeit noch nicht abzusehen.
soll. Diesen neuen Kommunikationspfad wollen die GSM, UMTS und HSDPA: Als Alternative zum
Hersteller vor allem zur Optimierung der Verkehrs- Download von Infotainment- oder Navigationsdaten
flüsse und zur Steigerung der Sicherheit nutzen: So wie WLAN oder MBWA gelten die klassischen
könnte zum Beispiel ein Fahrzeug, das plötzlich in Mobilfunkverbindungen. Mit einer Datenrate von
Stau, Nebel, Glatteis oder einen Unfall gerät, Infor- 14,4 Kbit/s ist GSM allerdings dafür nicht leistungs-
mationen an alle betroffenen Verkehrsteilnehmer im stark genug. Auch in UMTS-Netzen ist die Transfer-
unmittelbaren Umkreis der Gefahrenstelle weiterge- rate mit 384 Kbit/s noch relativ gering. Erst wenn der
686 8 Elektrik/Elektronik/Software

Standard High Speed Downlink Packet Access [2] Dohmke, T.: Bussysteme im Automobil: CAN, FlexRay und
Most, TU Berlin. März 2002
(HSDPA) Datenraten von bis zu 14,4 MBit/s ermög-
[3] Dudenbostel, D.: IBEC 2002 Conference Paris, France, 9 – 11
licht, wird man tatsächlich Spielfilme oder Kartenup- July 2002, „MPEG Compression used for in Car Mobile Multi-
dates ins Auto laden können. media Transmission (MOST)“
[4] Wallentowitz, H.; Reif, K.: Handbuch Kraftfahrzeugelektronik,
Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2. Aufl., 2011
8.3.4 Zusammenfassung und Ausblick [5] Wolf, M.; Weimerskirch, A.; Paar, Ch.: Security in Automotive
Bus Systems, ESCAR, Bochum 2004
Die stetig steigende Anzahl elektronisch geregelter [6] Tiehl, C.: MOST History, From Germany into the whole wide
Komfortfunktionen, die wachsende Zahl von Infotain- world, MOST Forum 2010
ment-Komponenten und vor allem eine Vielzahl
Weitere Informationen:
neuer Assistenz- und Sicherheitssysteme von der LIN: http://www.lin-subbus.org/
Umfeldüberwachung bis zum automatischen Eingriff CAN: http://www.can-cia.org/
in das Fahrzeuggeschehen in Grenzfällen, z.B. bei TTCAN: http://www.can-cia.org/
drohenden Unfällen, werden den Daten- und Informa- USB: http://www.usb.org/home
MOST: http://www.mostcooperation.com
tionsfluss im Fahrzeug weiter anschwellen lassen. BYTEFLYGHT: http://www.byteflight.com
Gleichzeitig wird die Vernetzung mit anderen Fahr- FLEXRAY: http://www.flexray.com
zeugen, mit Verkehrsleitzentralen und externen Da- INFRAROT: http://www.irda.org/
tenbanken für Infotainment-Inhalte oder sonstige ZIGBEE: http://www.zigbee.org/
BLUETOOTH: https://www.bluetooth.org/
Informationen zunehmen. UWB: http://www.palowireless.com/uwb/tutorials.asp
Innerhalb des Fahrzeugs benötigen die Entwickler IEEE: http://www.ieee.org
leistungsfähige Busse mit hoher Zuverlässigkeit und
großen Transferraten. Weil kabellose Verbindungen
dafür nicht genügend Sicherheit bieten, gehört die
Zukunft auf diesem Feld den leitergebundenen Bord- 8.4 Elektromagnetische Verträglichkeit
netzen wie MOST und Ethernet. Das gilt besonders für – EMV
die Multimedia-Anwendungen, deren fortschreitende
Entwicklungen einen stetig wachsenden Bedarf an Die Bedeutung der Sicherstellung der elektromagne-
steigenden Transferraten erwarten lässt. Aus Kosten- tischen Verträglichkeit (EMV) hat in den letzten
gründen allerdings werden auch konventionelle Busse Jahren weiter zugenommen. Während in der Vergan-
wie LIN, CAN oder FlexRay in spezialisierten Anwen- genheit die meisten Fahrzeugfunktionen überwiegend
dungen weiterhin zum Einsatz kommen. mechanisch/hydraulisch oder elektromechanisch vor-
Obwohl jeder Zentimeter Kabel oder Lichtleiter genommen wurden, erfolgen die Regel- und Steue-
zusätzliches Gewicht, zusätzlichen Platzbedarf und rungsfunktionen immer öfter über elektronische
zusätzliche Kosten bedeutet, werden sich die Fahr- Systeme mit mikroprozessorbestückten Steuergeräten
zeughersteller von der festen physikalischen Verbin- und elektronischen Sensoren und Aktuatoren, die in
dung der einzelnen Knoten zunächst nur dann lösen, der Regel über unterschiedliche Datenbus-Systeme,
wenn externe mit den internen Systemen vernetzt wie dem CAN oder LIN, miteinander vernetzt sind.
werden müssen. Also zum Beispiel bei der Integra- Zusätzlich wird die Situation dadurch verändert, dass
tion von Mobiltelefonen oder Handheld-Computern. zunehmend auch der Fahrzeugantrieb elektrifiziert
Ebenfalls kabellos muss selbstverständlich die Ver- werden wird, wodurch erheblich größere Ströme und
netzung mit anderen Fahrzeugen oder mit entspre- Spannungen im Fahrzeug zum Einsatz kommen.
chenden Steuerzentralen erfolgen. Allgemein versteht man unter EMV, dass ein elektro-
Bei diesen externen Verbindungen innerhalb des nisches Gerät eine angemessene Störfestigkeit auf-
Fahrzeugs wird sich Bluetooth als Standard weiter weist, also nicht unzulässig beeinflusst wird, und
etablieren, bevor sich die UWB-Technik mit höherer seine Störaussendung soweit begrenzt wird, dass in
Übertragungsrate und geringerem Energieverbrauch seiner Umgebung ein störungsfreier (Rund-)Funk-
durchsetzt. Für die Kommunikation zwischen Fahr- empfang ermöglicht wird. Für das Kraftfahrzeug
zeug und Umwelt dagegen sind die Perspektiven bedeutet das, dass sich die elektronischen Systeme
noch nicht so klar: Dort konkurrieren WLAN und nicht gegenseitig stören, nicht durch Sender beein-
MBWA bzw. WiMAX als Computernetzwerke mit flusst werden und störungsfreier (Rund-)Funkbetrieb
wachsender Reichweite und steigender Übertragungs- im Kraftfahrzeug und seiner Umgebung möglich ist
rate auf der einen und GSM, UMTS und HSDPA als (Bild 8.4-1).
leistungsstarke Mobilfunknetzwerke auf der anderen
Seite. 8.4.1 Eigenentstörung
Für das Kraftfahrzeug bedeutet dies zunächst, dass
Literatur durch die Auslegung der elektronischen Systeme
[1] Bärz, R.: Kommunikation in Mobilen Systemen, Seminar Mobile sichergestellt werden muss, dass die Systeme der
Systeme 2003, Universität Koblenz-Landau, 2003 Fahrzeugelektronik im selben Fahrzeug untereinander
8.4 Elektromagnetische Verträglichkeit – EMV 687

Stör- Störaus-
festigkeit sendung

Komponenten-
ebene

System-
ebene
Fahrzeug- Eigenent-
ebene störung
Bild 8.4-1 EMV im Kraft-
fahrzeug

störungsfrei funktionieren und sich nicht gegenseitig Das Thema Eigenentstörung schließt auch ein, dass
beeinflussen. Bei der Behandlung dieser EMV-Pro- in bordnetzeigenen (Rund-)Funkempfängern ein stö-
blematik muss eine Vielzahl von Störmechanismen rungsfreier Empfang möglich ist und durch im Fahr-
berücksichtigt werden. Unter diese Thematik fallen zeug betriebene Sender die Systeme der Fahrzeug-
die durch Schalthandlungen entstehenden impulsför- elektronik nicht beeinflusst werden. Die Bedeutung
migen Störspannungen, deren Amplituden ein Viel- der mobilen Kommunikation nimmt weiter zu. Neben
faches der 12-V-, 24-V-Bordnetzspannung betragen dem klassischen Rundfunkempfang, Navigation und
können. Diese Störimpulse, die durch benachbarte dem Mobiltelefon haben auch Fernsehempfang und
Komponenten der Bordnetzelektrik und -elektronik mobiles Internet wachsende Bedeutung. Alle im
hervorgerufen werden können, gelangen über die Bordnetz auftretenden Ströme und Spannungen wei-
Signal- und Versorgungsleitungen an die Ein- und sen ein von den Signalformen abhängiges Frequenz-
Ausgänge der anderen elektronischen Komponenten spektrum auf. Die Charakteristik der Spektren hängt
und können dort zu Beeinflussungen führen, wenn von den Eigenschaften der Komponenten ab. Gleich-
diese Komponenten nicht entsprechend störfest aus- strommotoren mit konventionellem Bürstenkommu-
gelegt sind. Durch geeignete Messverfahren (Labor- tator haben ein kontinuierliches Spektrum während
aufbauten) werden einerseits die elektrischen und getaktete Systeme von der Taktfrequenz charakteri-
elektronischen Komponenten als Störquellen cha- sierte Spektren aufweisen. Die Störsignale können bei
rakterisiert, andererseits wird über genormte Prüfim- unzureichender Entstörung als Störgrößen entweder
pulse ihre Störfestigkeit getestet. Durch die Abstim- leitungsgebunden über den Kabelbaum oder gestrahlt
mung der Anforderungen an die Komponenten be- über die Empfangsantennen im Fahrzeug an die Ein-
züglich ihres Verhaltens als Störquellen und Störsen- gänge der unterschiedlichen Funkempfänger gelan-
ken, kann der Gesamtaufwand optimiert werden. gen, wo diese Signale nicht von Nutzsignalen unter-
Dazu werden in den entsprechenden Standards geeig- schieden werden können. Das von den elektronischen
nete Entstörgrade definiert. Durch geeignete Wahl Komponenten ausgesandte Störspektrum muss des-
der Entstörklassen für die Störquellen und der Stör- halb soweit begrenzt werden, dass an den Antennen-
festigkeitsklassen für die Störsenken kann die EMV eingängen keine unzulässig hohen Störsignale auftre-
sichergestellt werden, ohne den Aufwand für die ten. Durch den Einsatz von elektrischen Antrieben
Entstörung unnötig in die Höhe zu treiben. Besonde- ergeben sich auch zusätzliche Herausforderungen für
rer Bedeutung wird hier zukünftig auch die Thematik den Schutz des Funkempfangs. Besonders die Aus-
der Elektromobilität bekommen. Es muss natürlich wirkung der gegenüber der konventionellen Automo-
auch bei der Auslegung der elektrischen Antriebs- bilelektronik höheren Ströme und Spannungen müs-
komponenten sichergestellt werden, dass durch deren sen durch geeignete Entstörmaßnahmen wie Schir-
vergleichsweise hohen Spannungen, die benachbarten mung und Filterung begrenzt werden. Zur Beur-
elektronischen Systeme nicht beeinflusst werden. Zur teilung des Störverhaltens der elektrischen und elekt-
Absicherung wird neben den genannten Labormes- ronischen Komponenten werden in der Prüftechnik
sungen generell durch abschließende Fahrzeugunter- verschiedene Messverfahren im Labor angewendet,
suchungen die Verträglichkeit der Systeme unterei- die die Beurteilung der Störaussendung dieser Kom-
nander überprüft, da letztendlich auch der Einbau im ponenten erlauben. Abhängig vom späteren Einsatz
Fahrzeug und die Fahrzeugverkabelung einen erheb- im Fahrzeug müssen dabei bestimmte Grenzwerte
lichen Einfluss auf das Störverhalten haben können. eingehalten werden. Abschließend wird das gesamte
688 8 Elektrik/Elektronik/Software

Störverhalten im Serienfahrzeug mit fest eingebauten 8.4.3 Fernentstörung


Empfängern und den eingebauten Antennensystemen
überprüft. Neben den Anforderungen an die Störfestigkeit
werden in der UN ECE R10 auch Anforderungen
zum Schutz des ortsfesten (Rund-)Funkempfangs ge-
8.4.2 Störfestigkeit gegen externe elektro- stellt. Die Störaussendung des gesamten Fahrzeugs
magnetische Felder muss soweit begrenzt werden, dass in einer festgeleg-
ten Entfernung die vorgegebenen Störfeldstärken
Da Kraftfahrzeuge sich in einer unbekannten elekt-
nicht überschritten werden. Besonderes Augenmerk
romagnetischen Umgebung bewegen, muss sicherge-
muss dabei auf die richtige Auslegung der Hochspan-
stellt werden, dass zum Beispiel durch leistungsstarke
nungszündanlage und der Komponenten der Leis-
Rundfunksender keine Beeinflussung der Fahrzeug-
tungselektronik gelegt werden, da diese in der Regel
funktionen auftritt. Bei seinem Betrieb können das
die höchsten Störfeldstärken außerhalb des Fahrzeugs
Kraftfahrzeug und damit seine elektronischen Kom-
hervorrufen.
ponenten wie auch bei der Verwendung von Sendern
im Fahrzeug erheblichen elektromagnetischen Fel- 8.4.4 Normen und Richtlinien
dern ausgesetzt sein. Die Sendersignale werden von
den Fahrzeugstrukturen, z.B. vom Kabelbaum, aufge- Die einschlägigen EMV-Messverfahren sind in natio-
fangen und gelangen dadurch an die Ein- und Aus- nalen und internationalen Normen beschrieben. In der
gänge der elektronischen Geräte. Besonders für hohe folgenden Tabelle 8.4-1 sind die wichtigsten interna-
Frequenzen im Gigahertz-Bereich koppeln die elekt- tionalen Normen für die EMV von Kraftfahrzeugen
romagnetischen Felder auch direkt in die Strukturen zusammengestellt. In Deutschland ist für die Fahr-
der elektronischen Geräte ein. In den Halbleiterbau- zeugzulassung (Typgenehmigung) in Bezug auf EMV
elementen können diese Signale, ähnlich wie in den der § 55a der StVZO relevant, in dem die Einhaltung
Empfängerschaltungen der Funkempfänger, demodu- der in der internationalen Richtlinie UN ECE R10
liert werden und zu ungewollten Pegelverschiebun- beschriebenen Anforderungen festgelegt ist. In der
gen führen. Werden in den elektronischen Schaltun- UN ECE R10 werden für die Typgenehmigung von
gen die dadurch veränderten Signalspannungen als Fahrzeugen Anforderungen für die Störaussendung
vermeintliche Nutzsignale interpretiert, kann dies zu und Störfestigkeit festgelegt. Daneben kann man aber
Funktionsstörungen führen, z.B. zum Abschalten von auch elektronische Komponenten und Systeme einer
Sicherheitssystemen, wie ABS, ASR oder ESP, zu Typgenehmigungsprozedur unterziehen. Dafür sind
Leistungsverlusten im Motor oder auch zu fehlerhaf- ebenfalls Anforderungen bezüglich der Störaussen-
ten Anzeigen, die den Fahrer irritieren. Daher muss dung von Funkstörungen und der Störfestigkeit ge-
durch eine geeignete Auslegung der elektronischen genüber elektromagnetischen Feldern angegeben,
Komponenten eine entsprechende Störfestigkeit si- aber auch Anforderungen bezüglich der Auswirkun-
cher gestellt werden. Durch geeignete Messverfahren, gen von Schalthandlungen im Bordnetz (siehe Ab-
z.B. durch Bestrahlung mit Antennen oder andere schnitt 8.4.1).
Verfahren, mit denen hochfrequente Signale in die
Prüflinge eingekoppelt werden können, wird zunächst
8.4.5 Sicherstellung der EMV
im Labor an den Komponenten und später am Serien- Während in früheren Jahren die notwendigen Ent-
fahrzeug die Störfestigkeit überprüft. Für Fahrzeug- störmaßnahmen häufig nachträglich, außerhalb der zu
messungen werden dazu große Schirmhallen, ausge- entstörenden Komponente in Form eines Entstörfil-
kleidet mit Hochfrequenzabsorbern, und mit Rollen- ters oder einer zusätzlichen Schirmung, vorgenom-
prüfstand eingesetzt, um das Fahrzeug realistisch men wurden, ist eine derartige Vorgehensweise bei
betreiben zu können. modernen Serienfahrzeug nicht mehr wirtschaftlich
Das Kraftfahrzeug nimmt, wegen seiner Betriebsart, einsetzbar.
und dass bei einer Fehlfunktion infolge einer eventu- Eine angemessene Störfestigkeit und eine Begren-
ellen Beeinflussung durch externe Sender eine Ge- zung der Störaussendung muss wie andere Produkt-
fährdung von Leib und Leben auftreten kann, gegen- eigenschaften als Anforderung in den Entwicklungs-
über anderen Produkten in Bezug auf die Anforde- prozess integriert werden und hat häufig einen erheb-
rungen (Feldstärke) eine Sonderstellung ein. Daher lichen Einfluss auf die Auslegung der elektronischen
müssen die Störfestigkeit der Fahrzeuge und ihrer Komponenten. Bei elektronischen Komponenten
Komponenten für entsprechend hohe Feldstärken müssen die EMV-Anforderungen beim Schaltungs-
ausgelegt werden. In der zulassungsrelevanten Richt- konzept, bei der Auswahl der Bauelemente, bei der
linie UN ECE R10 wird für die Typgenehmigung von Gestaltung des Gehäuses und beim Layout der Lei-
Fahrzeugen eine Störfestigkeit von 30 V/m gefordert. terplatte berücksichtigt werden. Bei Elektromotoren
In der Praxis haben die Fahrzeugherstellern meistens und elektromechanischen Stellern wird durch die
noch deutlich höhere Anforderungen an die Stör- konstruktive Gestaltung und ggf. durch eine geeigne-
festigkeit ihrer Fahrzeugmodelle. te interne Beschaltung mit Entstörelementen die Stör-
8.4 Elektromagnetische Verträglichkeit – EMV 689

Tabelle 8.4-1 Internationale EMV-Normen für Kraftfahrzeuge

Bezeichnung Titel
Störaussendung
IEC/CISPR 12 Vehicles, boats, and internal combustion engines – Radio disturbance characteristics –
Limits and methods of measurement for the protection of off-board receivers
IEC/CISPR 25 Vehicles, boats and internal combustion engines – Radio disturbance characteristics –
Limits and methods of measurement for the protection of on-board receivers
Störfestigkeit
ISO 7637 Road vehicles – Electrical disturbances by conduction and coupling
Part 1: Definitions and general considerations
Part 2: Electrical transient conduction along supply lines only
Part 3: Electrical transient transmission by capacitive and inductive coupling via lines
other than supply lines
ISO 10605 Road vehicles – Test methods for electrical disturbances from electrostatic discharge
ISO 11451 Road vehicles – Vehicle test methods for electrical disturbances from narrowband radi-
ated electromagnetic energy –
Part 1: General principles and terminology
Part 2: Off-vehicle radiation sources
Part 3: On-board transmitter simulation
Part 4: Bulk current injection (BCI)
ISO 11452 Road vehicles – Component test methods for electrical disturbances from narrowband
radiated electromagnetic energy –
Part 1: General principles and terminology
Part 2: Absorber-lined shielded enclosure
Part 3: Transverse electromagnetic (TEM) cell
Part 4: Bulk current injection (BCI)
Part 5: Stripline
Part 7: Direct radio frequency (RF) power injection
Part 8: Immunity to magnetic fields
Part 9: Portable transmitters
Part 10: Immunity to conducted disturbances in the extended audio frequency range
Part 11: Reverberation chamber
IEC/CISPR: Commission Électrotechnique Internationale/Comité International Spécial des Pertubations Radioélectriques International Electro-
technical Commission/International Special Committee on Radio Interference
ISO: International Organisation for Standardisation

aussendung minimiert. Durch den Einsatz geeigneter [2] Lindl. B.; Scheyhing, J.: EMV – die Entstörung von Kraftfahr-
zeugen, ATZ (1999) S. 292 – 301
Berechnungsverfahren zur Schaltungssimulation und
[3] Pfaff, W. R.; Bauer H.: Elektromagnetische Verträglichkeit
zur numerischen Berechnung elektromagnetischer (EMV) und Funkentstörung, S. 542 – 555, in Reif (Hrsg.): Bosch
Felder begleitet durch Entwicklungsmessungen kann Autoelektrik und Autoelektronik. Wiesbaden: Vieweg+Teubner
die Wirkung der vorgesehenen Maßnahmen zur Verlag, 2011
[4] Pfaff, W. R.: Bewertung von „EMV-Prüfkonzepten für Kraft-
Sicherstellung der EMV bereits frühzeitig überprüft fahrzeuge“, EMV’94, Karlsruhe 1994
werden. Die Erfüllung der Anforderungen wird dann [5] Ludwig, A.; Ehrhard, R.; Mäurer, C.: Einsatz der numerischen
in abschließenden Freigabemessungen nach den Feldsimulation in der EMV GMM-Fachbericht Elektromagneti-
standardisierten Messverfahren überprüft. sche Verträglichkeit, S. 85 – 92, VDE-Verlag, Berlin, Offenbach
2002
[6] Automotive Electromagnetic Compatibility (EMC) Rybak,
Literatur Terence, Steffka, Mark, 2004
[1] Gonschorek, K.-H.; Neu, H. (Hrsg.): Die elektromagnetische
Umwelt des Kraftfahrzeugs, FAT-Bericht Nr. 101, 1993
690 8 Elektrik/Elektronik/Software

8.5 Funktionsdomänen Tabelle 8.5-1 Lichttechnische Einheiten

8.5.1 Einleitung Lichttechnische Einheiten


Die Elektrifizierung des Automobils begann schon Größe SI-Einheit
vor dem 1. Weltkrieg, mit Lichtmaschine, Zündung,
T Lichtstrom lm (Lumen)
Beleuchtung und Anlasser.
Heute gibt es kaum noch eine Funktion am Fahrzeug, I Lichtstärke cd (Candela)
an der Elektrik, Elektronik und Software nicht betei- 2
ligt sind. Deren Teilfunktionen und Zusammenwirken L Leuchtdichte cd/m
mit Antrieb, Fahrwerk und Karosserie sind in den Q Lichtmenge lm · s
entsprechenenden Teilkapiteln dargestellt.
Im Folgenden sollen noch wichtige eigenständige P Leistung W (Watt)
Funktionsdomänen erläutert werden. J Lichtausbeute lm/W
8.5.2 Beleuchtung E Beleuchtungsstärke l lx = lm/m2 (Lux)
Ausgehend von der Glühlampentechnologie des
20ten Jahrhunderts hat sich die Fahrzeugbeleuchtung Die nationalen Zulassungsbehörden im ECE-Bereich
in den vergangenen 20 Jahren mit der Einführung der vergeben Prüfzeichen, die aus einem E und einer Zahl
Gasentladungstechnik, der LED Technologie und in bestehen. Beispielsweise ist E1 = Deutschland (ECE)
Kombination mit moderner Sensorik ihrem Ziel und e1 = Deutschland (EG). Für die USA sind
optimale Ausleuchtung, Sicherheit und Komfort bei DOT-Zeichen erforderlich. Zulassungszeichen sollten
minimaler Blendung zu ermöglichen erheblich genä- möglichst auf der Außenseite von Scheinwerfern und
hert. Trotzdem ist die Unfallhäufigkeit bei Dunkelheit Leuchten angebracht werden [4].
immer noch doppelt so hoch wie bei Tageslicht, so
dass die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung be- 8.5.2.2 Lichttechnische Begriffe
steht [5], [8], [9], [12].
Die Herausforderungen liegen dabei in einer Umset- Einheiten – Sichtbares Licht stellt einen kleinen Teil
zung des technisch Möglichen zu, für den Massen- des elektromagnetischen Spektrums dar und reicht
markt, akzeptablen Kosten und der Optimierung der von 380 bis 700 nm Wellenlänge.
Wechselwirkungen unterschiedlicher Systeme im Messverfahren – Für Scheinwerfer ist die Messent-
Verkehrsraum unter physiologischen Aspekten auch fernung in Europa oft 25 m, dann besteht der Zu-
durch die Weiterentwicklung einschlägigen Vor- sammenhang 1 lx Ⳏ 625 cd. Für die Messung müssen
schriften [24]. die Messeinrichtungen entsprechend der Farbemp-
findlichkeit des menschlichen Auges V (λ) korrigiert
8.5.2.1 Zulassung sein. Am besten sehen wir bei Tageslicht im hellen
Lichttechnische Einrichtungen an der Fahrzeug- Grün (555 nm) bei Dunkelheit besser im Blauen.
außenseite müssen zugelassen sein. Die entspre- Reichweite – Üblich ist die Definition eines Abstan-
chenden Regelungen bestehen aus Anbau- und Be- des, in dem die Beleuchtungsstärke einen definierten
triebsvorschriften. Zunehmend werden nationale Re- Wert erreicht. Für Abblendlicht wird oft der Punkt
gelungen durch internationale ersetzt. Die weltweite am eigenen Straßenrand genannt, an dem die Be-
Anwendung gliedert sich in leuchtungsstärke 1 Lux ist.
lsolux-Darstellungen – Zur Lichtbeurteilung können
• ECE-Anwendungen (für Rechts- und Linksver-
Darstellungen gleicher Beleuchtungsstärke (Isolux)
kehr)
oder Lichtstärke (Isocandela) dienen, sowohl als
• Länder, die im Wesentlichen ECE-Regelungen
Wanddarstellung (meist nur für einen Scheinwerfer)
anwenden, aber diese Regelungen noch nicht
oder als umgerechnete Straßendarstellung.
voll (z.B. Japan) oder nur teilweise übernommen
Sichtweite – Subjektive und von vielen Faktoren ab-
haben (z.B. China, Australien). Die Richtlinie
hängige Entfernung, in der ein Gegenstand noch
E76/756/EWG [1] regelt den Anbau.
erkannt werden kann.
• SAE-Anwendungen gelten für die USA und mit
Blendung – Physiologische Blendung ist messbar als
Modifikationen in Kanada [2].
Beleuchtungsstärke im Gegenverkehr, psychologische
Manche Länder erkennen sowohl ECE- als auch Blendung stellt den subjektiven Grad der Störung dar
SAE-Regelungen an. und kann von Lichtfarbe und Größe der leuchtenden
Speziell zwischen den ECE- und SAE-Regelungen Fläche abhängen. Zunehmend bekommt die Leucht-
wird eine Harmonisierung versucht, um gleiche dichte und ihre Messung Relevanz in Bezug auf die
lichttechnische Einrichtungen weltweit einsetzen zu physiologische Beurteilung.
können [3]; allerdings bleibt die Unterscheidung nach
Rechts- und Linksverkehr.
8.5 Funktionsdomänen 691

8.5.2.3 Scheinwerfer der LED Technologie werden noch smartere Lösun-


gen für adaptive Lichtsysteme möglich (Bild 8.5-1).
Scheinwerfer dienen zur Ausleuchtung der Fahrzeug-
umgebung. Zugelassene Scheinwerfer sind heute bei 8.5.2.3.2 Scheinwerferarten
mehrspurigen Fahrzeugen stets paarweise angeordnet.
• Abblendlichtscheinwerfer – bei der heutigen Ver-
8.5.2.3.1 Historische Entwicklung kehrsdichte das am meisten (95 bis 97 %) benutzte
Acethylenscheinwerfer versorgt über einen mitge- Fahrlicht.
führten Karbid-Gaserzeuger erlaubten bereits um • Fern- und Zusatzfernscheinwerfer – allein oder
1905 eine als ausreichend und von manchen als zu zusammen mit dem Abblendlicht betrieben.
grell empfundene Illumination bei Nachtfahrten. • Nebelscheinwerfer – dürfen in D nur bei Nebel,
Acethylensysteme wurden allerdings bald vollständig Regen oder Schnee und geringen Sichtweiten be-
durch elektrische Systeme ersetzt. trieben werden (in CH und N auch als „Kur-
Ab 1957 wurde dann asymmetrisches Abblendlicht ven-Scheinwerfer“).
eingeführt, welches den eigenen Fahrbahnrand weiter • Rückfahrscheinwerfer – sind eigentlich Leuchten,
ausleuchtet, ohne den Gegenverkehr zu blenden, auch wenn speziell bei NKW oft Nebelscheinwer-
womit auch unterschiedliche Scheinwerfer für fer dafür eingesetzt werden.
Rechts- und Linksverkehr notwendig wurden. • Arbeits- und Suchscheinwerfer – dürfen nicht zur
Während in den USA zeitweise nur sealed beam Fahrbahnbeleuchtung während der Fahrt verwen-
Scheinwerfer zulässig waren arbeitete man in Europa det werden.
mit genormten Lampentypen und ab 1960 dann Zwei-/Vier-Scheinwerfer-System
weltweit mit Halogenlampen, die gegenüber konven-
tionellen Glühlampen etwa den doppelte Lichtstrom Wird derselbe Reflektor für Abblend- und Fernlicht
erzeugen können. verwendet, so handelt es sich um ein Zwei-
Seit der Einführung der Xenonscheinwerfer 1991 mit Scheinwerfer-System. Sind dagegen Abblend- und
3200 lm pro Lichtquelle konzentriert sich die Ent- Fernlichtfunktion getrennt, so ergibt sich ein Vier-
wicklung mehr darauf mit dem verfügbaren Licht- Scheinwerfer-System das sich insgesamt durchgesetzt
strom den Verkehrsraum optimal auszuleuchten ohne hat.
andere Verkehrsteilnehmer zu blenden.
Rechts-/Linksverkehr
Seit 2002 sind mechatronische Lichtsysteme im
Markt die durch Bewegung von Modulen und Blen- Für Europa werden für Großbritannien und Irland
den ihre Lichtverteilung der jeweiligen Straßen und linksasymmetrische Scheinwerfer benötigt, ansonsten
Verkehrssituation anpassen und mit der Einführung rechtsasymmetrische. Für Fahrten vom Kontinent

erster
elektri- erste
scher Anwen-
Schein- dung Abblend-
werfer Abblend- licht und
licht Fernlicht
und aus asymme- Leistungs-
Fernlicht einem trische sprung
Schein- Lichtver- mit H4- Licht aus
werfer teilung Halogen- der Linse:
licht DE
Schein-
werfer
Advanced
Neues Statisches/ Frontlighting, LED-
(HID) Stylingelement: dynamisches Tagfahrlicht Adaptives Schein-
Xenonlicht Bixenon Lichtleitertechnologie Kurvenlicht mit LED Licht werfer
um 1908 1915 1924 1957 1971 1983 1992 1999 2000 2002–2003 2003 2003 2010

Bild 8.5-1 Historie der Scheinwerfertechnik


692 8 Elektrik/Elektronik/Software

nach Großbritannien und umgekehrt sollte die Mög- dem kompakten und modularen Aufbau die beliebige
lichkeit bestehen, den asymmetrischen „Lichtfinger“ Gestaltung der Hell-Dunkel-Grenze durch die Form
des Abblendlichtes abzuschatten. Bei Reflexions- der im Inneren befindlichen Blende, deren Abbild
scheinwerfern geschieht dies durch Abkleben der von der Linse auf die Straße projiziert wird [8, 9].
Streuscheibe, bei Projektionsscheinwerfern müssen Im Zusammenhang mit LED Scheinwerfern kommen
interne Abschatter betätigt werden. weitere Optiksysteme in die Diskussion. Insbesonde-
re, durch das „kalte“ Licht der LED (den geringen
8.5.2.3.3 Reflektortechnologie Infrarotanteil der Strahlung), lassen sich Freiformlin-
Scheinwerfer bestehen im Wesentlichen aus der sen und transmissive Optiken aus Kunststoff einset-
Lichtquelle und einem Reflektor, der das Licht sam- zen die neben lichttechnischen auch neue stilistische
melt und richtet. Zusätzlich können transparente opti- Möglichkeiten bieten [23], [26].
sche Elemente wie Linsen oder Prismen die Lichtver- Reflektormaterialien und Oberflächen
teilung bewirken und eventuell mit der transparenten
Abschlussscheibe kombiniert sein. Zwei grund- Traditionelle Reflektoren waren aus Blech, überwie-
sätzlich verschiedene Systeme lassen sich unterschei- gend Stahl, seltener Messing oder Aluminium ge-
den: presst [3]. Die Oberfläche ist durch Lack eingeebnet
und mit Reinaluminium im Vakuum metallisiert.
Reflektionssystem Einschließlich einer zusätzlichen Korrosionsschutz-
schicht beträgt der Reflexionsgrad etwa 87 %. Re-
Licht aus dem Brennpunkt einer Rotationsparabel
flektoren aus Metallguss (Magnesium, Aluminium
(Paraboloid) wird parallel gerichtet und stellt damit
und früher Zink) werden bei kleinen Abmessungen
eine gute Basis für Fernlicht dar. Eine Lichtquelle
und hohen Temperaturen (speziell Projektionssyste-
außerhalb des Brennpunktes erzeugt ein konvergie-
men) benutzt. Bei größeren Reflektionssystemen wird
rendes Lichtbündel (Bild 8.5-2). Der obere geneigte
heute allerdings am häufigsten Duroplast (BMC)
Teil des Bündels ergibt Abblendlicht, der untere Teil
verwendet (z.B. LPP – Low Profile Polyester), das
muss für europäische Lichtverteilungen abgeschattet
gute Wärmebeständigkeit und Formtreue vereinigt,
werden. Bei zwei Wendeln – wie z.B. in der H4
aber eine Grundlackierung benötigt.
Lampe – kann aus demselben Paraboloidreflektor
An die Reflektorfläche werden hohe Ansprüche ge-
Abblend- und Fernlicht erzeugt werden. Die eigent-
stellt. Die Rauigkeit darf nur etwa 1/10.000 mm
liche Lichtverteilung wird durch Prismen und Zylin-
betragen. Kondensierte Flüssigkeit im Scheinwerfer
derlinsen auf der Streuscheibe erzeugt [4]. Heute
zerstört die Reflektoren; deshalb ist auf eine geeigne-
werden Freiflächen-Reflektoren eingesetzt, die mit
te Durchlüftung von Scheinwerfern und Korrosions-
Computerprogrammen so berechnet werden, dass die
schutz zu achten.
gewünschte Lichtverteilung direkt ohne zusätzliche
Profile erzeugt wird. Sinnvoll ist eine Strahlenblende, 8.5.2.3.4 Abschlussscheibe
die innen matt sein sollte, um direkt austretendes
Abschlussscheiben mit optischen Profilen (sog. Streu-
Licht abzuschatten und außen aus dekorativen Grün-
scheiben) können nur max. 25° aus der Senkrechten
den meist glänzend erscheint.
gekippt werden. Bei Freiflächen-Reflektoren sind
Projektionssystem „optikfreie“ Abschlussscheiben möglich, die erheb-
lich stärker geneigt und „gepfeilt“ sein können. Sum-
Während das Reflektionssystem großflächige Reflek- menwinkel von 60° und mehr sind keine Seltenheit,
toren benötigt, kann das Projektionssystem bei ge- dabei ist aber zu beachten, dass die Lichtverluste in
steigertem Lichtstrom mit einer kleinen (ca. 70 mm Abhängigkeit vom resultierenden Auftreffwinkel der
Durchmesser) asphärischen Linse auskommen. Seit Lichtstrahlen stark zunehmen (Bild 5.5-3). Bei 0 °C
Mitte der achtziger Jahre haben sich Projektionssys- beträgt die Transmission bei Glas etwa 92 % und bei
teme zunächst mit Ellipsoid- dann mit Freiflächen- Kunststoff etwa 88 %. Gepresste Glasscheiben wer-
Reflektoren durchgesetzt und dominieren die auto- den nur noch bei Zusatzscheinwerfern verwendet wo
mobile Mittel- und Oberklasse. Vorteile sind neben ihre gute Wärmebeständigkeit von Vorteil ist.

Paraboloid Abblendlicht Paraboloid Fernlicht Freiflächen-Abblendlicht Paraboloid Projektionssystem


Abblend-/Fernlicht

Bild 8.5-2 Strahlengänge in Scheinwerfersystemen


8.5 Funktionsdomänen 693

100 % wichtiges Sicherheitselement dar und waren z.B. bis


a zur Übernahme der EG-Regelungen in Skandinavien
Transmission t r
80 % Vorschrift. Für die Reinigung von Kunststoffscheiben
können nur Strahlwasseranlagen und keine Wischer
60 %
mehr eingesetzt werden [6 – 8]. Neben feststehenden
40 % t
Düsen werden vorzugsweise Teleskope eingesetzt,
die am einfachsten durch den Wasserdruck ausgefah-
20 % ren werden. Betätigung erfolgt in Verbindung mit der
Reflexion r Windschutzscheibenreinigung, wenn das Licht einge-
0%
0° 20° 40° 60° 80° schaltet ist [3, 4, 8]. Bei Verwendung von Hochleis-
Auftreffwinkel a tungshalogenlampen und speziell Xenonlampen für
das Abblendlicht ist in der ECE-Regelung die Instal-
Bild 8.5-3 Reflexionsgrad und Transmissionsgrad in lation einer Scheinwerfer-Reinigungsanlage vorge-
Abhängigkeit vom Auftreffwinkel schrieben.
8.5.2.3.5 Scheinwerfer-Einstellung
In Europa wurden ausschließlich gepresste (seltener Die korrekte Ausrichtung des Lichtbündels muss bei
gewalzte) Glasscheiben verwendet. Der Pressvorgang der Erstmontage, nach Reparaturen und eventuell
legt der Gestaltung enge Grenzen auf und ergibt nach dem Lampenwechsel hergestellt werden.
durch schnellen Werkzeugverschleiß grobe Toleran- Beim Abblendlicht richtet sich die Vertikaleinstel-
zen. Positiv ist die Kratzfestigkeit und die relativ gute lung nach der waagerechten Hell-Dunkel-Grenze, die
Temperaturbeständigkeit, die durch chemische oder horizontale nach dem Knickpunkt des (meist) 15°
thermische Härtung gesteigert werden kann. Winkels. Dazu kann eine Markierung auf einer Tafel,
1993 wurde erstmalig eine Kunststoffscheibe nach ein optisches oder ein elektronisches Einstellgerät
der neuen ECE-Regelung zugelassen [7, 8]. In USA dienen. Fernscheinwerfer werden – wenn sie nicht
und Japan wurden schon etwas früher Kunststoff- mit dem Abblendlichtteil verbunden sind – nach dem
scheiben erfolgreich eingesetzt [6]. Die Vorteile Maximum eingestellt. Die Grundeinstellung beim
gegenüber Glas sind das geringe Gewicht und die Abblendlicht kann zwischen 1,0 % und 1,6 % betra-
Designfreiheit. Überwiegend ist das Basismaterial gen und wird am Scheinwerfer angegeben [1].
Polycarbonat, geschützt durch eine äußere Hartbe- In Nordamerika wurde aus Anlagepunkten auf der
schichtung, die unter Reinraumbedingungen aufge- Streuscheibe der lange Zeit allein zulässigen Sealed
bracht werden muss. Eine maximale Temperatur von Beam (SB) Einsätze eine rein mechanische Einstellung
145 °C darf auch bei verschmutzter Scheibe nicht abgeleitet, die mit sogenannten „Aimern“ erfolgt [2].
überschritten werden, das erfordert speziell bei Halo- Seit 1990 ist es zulässig, vertikale (meist Wasser-
genlicht besondere Berechnungs- und Simulations- waagen) und horizontale Aimer in jeden amerikani-
programme. schen Scheinwerfer einzubauen. Damit wurde der
Bei leichter Verschmutzung der Abschlussscheiben Einsatz von „Gehäuse-Scheinwerfern“ mit feststehen-
erhöht sich zunächst die Blendung, bei zunehmender der Frontscheibe auch in Nordamerika möglich [2].
Verschmutzung sinkt dann die Lichtleistung. Schein- Seit 1997 ist in Nordamerika auch ein dem europä-
werfer-Reinigungsanlagen (Bild 8.5-4) stellen ein ischen Verfahren ähnliches „visual aiming“ wahlweise

Aerodynamisch stylistisch
günstige Ruheposition

Das Waschwasser treibt


einen Hohlkolben im Zylinder
gegen eine Rückholfeder

Während des Hubes kein


Wasseraustritt

Bild 8.5-4 Scheinwerfer-


Reinigungsanlage
694 8 Elektrik/Elektronik/Software

für eine rechte oder linke waagerechte Hell-Dunkel- verwendet werden. Durch „Deregulation“ in Ame-
Grenze zulässig [2]. Ist die horizontale Ausrichtung – rika und die Übernahme von amerikanischen Glüh-
wie in Nordamerika häufig – nicht genau definiert, lampen in die europäischen Regelungen ist für viele
kann auf eine horizontale Einstellung ganz verzichtet Lichtquellen ein weltweiter Einsatz möglich gewor-
werden. den.
Die Scheinwerfer-Einstellung ist auf das unbeladene Glühlampen strahlen vor allem unsichtbares lnfrarot-
Fahrzeug ausgelegt. Beladung bewirkt ein Absenken licht (also Wärme) ab, daneben sichtbares Licht, das
des Fahrzeug-Hecks und zum Teil erhebliche Blen- im Vergleich zum Tageslicht gelblich-weiß erscheint.
dung des Gegenverkehrs. Bis 1992 war in einigen Ländern (speziell Frank-
Eine vom Fahrersitz bedienbare vertikale Leucht- reich) gelbes Licht vorgeschrieben und ist dort auch
weitenregelung (LWR) der Scheinwerferneigung ist noch zulässig. Die Anforderungen an Fahrzeug-Glüh-
seit 1991 in Deutschland und seit 1998 europaweit lampen sind bedingt durch Erschütterungen und
Vorschrift [1]. Das elektrische System hat sich ge- Spannungsschwankungen erheblich höher als an
genüber mechanischen, hydraulischen und pneumati- Haushaltslampen. Glühlampen gibt es für 6, 12 und
schen durchgesetzt. 24 V Anwendungen.
Die korrekte Bedienung der LWR ist nicht immer Der Halogenprozess verhindert das Schwärzen des
gegeben. Für Xenonlicht und andere intensive Licht- Lampenkolbens und regeneriert die Glühwendel, so
quellen schreibt die ECE-Regelung 48 daher eine dass im Vergleich zu normalen Glühlampen eine
automatische LWR vor, die selbsttätig Beladungs- etwa doppelte Lichtmenge, eine höhere Lichttempe-
änderungen ausgleicht. Nicht vorgeschrieben, aber ratur und doppelte Lebensdauer erzielt werden kön-
sehr wirksam, ist eine Erweiterung zur dynamischen nen [10, 11]. Die Halogenlampen sind in Regelung 37
LWR, durch die auch Fahrzeugbewegungen beim für die Einwendellampen und Regelung 8 für die H4
scharfen Bremsen und Beschleunigen ausgeglichen Doppelwendellampe zusammengefasst [23], [27].
werden. Diese LWR müssen in Sekundenbruchteilen Bedeutung haben:
reagieren und erfordern sehr viel größere Verstellwe-
• H1für Abblendlicht, Nebellicht und Fernlicht
ge der Reflektoren. Es werden meist Schrittmotoren
• H3 vorzugsweise für Nebelscheinwerfer
eingesetzt [8].
• H4 für Abblend- und Fernlicht aus demselben Re-
Zur Ansteuerung der automatischen LWR muss die
flektor
Lage der Fahrzeugkarosserie relativ zur Fahrbahn
• H7 alternativ zu H1
erkannt werden, dazu dienen Drehwinkelsensoren,
die über ein Gestänge die Einfederung der Vorder- Neuer sind Halogenlampen mit Dichtsockel: H8
und/oder Hinterachse feststellen. (vorzugsweise für Nebellicht), H9 (Fernlicht) und
H11 (Abblendlicht). Der Bajonett-Sockel erleichtert
8.5.2.3.6 Scheinwerfer-Lichtquellen den Austausch besonders bei der Sonderform der H7
Nur die in den internationalen Regelungen genormten Lampe als „One-Touch“, die neben dem Bajonett
Lichtquellen dürfen als austauschbare Lichtquellen noch Schleifkontakte zur elektrischen Verbindung

Beleuchtungsstärke (in 25 m Entfernung)

100 lx Fokus auf Adaption,


nicht Beleuchtungsstärke
90 lx Erhöhte Werte beim
AFS-Schlechtwetterlicht
80 lx
Erlaubtes Max. für
70 lx XENON-Scheinwerfer

60 lx
Erste Anwendung von
XENON-Scheinwerfern
50 lx (nationale Zulassung)

40 lx

30 lx
Einführung
Projektionsscheinwerfer
20 lx
Einführung von
Halogen-Lampen
10 lx
keine exakten Werte bekannt asymmetrisches Licht
symmetrisches Licht
1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2011 Jahr

Bild 8.5-5 Anstieg der Beleuchtungsstärke bei Kraftfahrzeug-Scheinwerfern


8.5 Funktionsdomänen 695

Tabelle 8.5-2 Lebensdauerwerte verschiedener Halogen-Lampen, Spezifizierte und tatsächliche Lebensdauer

Spezifizierte Realistische
Lebensdauer Tc Lebensdauer
(DIN 60810) Tc
(in Stunden) (in Stunden)
H1 400 960
H3 400 990
H4 (Abblendlicht) 700 1.050
H7 550 630
H7LL = long life 930 1.000
H11 2.000 2.100

hat. In Nordamerika sind als Ein-Wendel-Lampen 8.5.2.3.7 Xenonlicht


HB(Halogen Bulb)3 für Fernlicht und HB4 für Ab-
blendlicht üblich. Dort hat bei den Zwei-Wendel- Neben den Halogenlampen werden seit 1992 erstmals
Lampen die HB5 die HB1 ersetzt und ist ihrerseits in in Serie die als Xenonlicht bekannten Gasentladungs-
den letzten Jahren durch die H13 ersetzt werden. lampen (GDL = gas discharge lamp oder HID = high
Wegen einer anderen Gewährleistungspraxis sind in intensity discharge) für Abblendlichtscheinwerfer im
Nordamerika vorwiegend Lampen im Einsatz, die bei Kfz eingesetzt.
Verzicht auf hohe Lichtleistung eine hohe Lebens- Die Lebensdauer einer Xenonlichtquelle hängt von
dauer aufweisen. der Anzahl der Einschaltvorgänge nicht von der
Zur Angabe der Lampenlebensdauer dienen ver- Brenndauer ab. Im Normalfall übertrifft die Lebens-
schiedene Kennzahlen (Tabelle 8.5-2): dauer diejenige des Fahrzeugs.
Tc bezeichnet die Anzahl von Stunden bis 63,6 % Die hohe Leuchtdichte der anfangs relativ kleinen
und B3 die Zeit, bis 3 % der Prüflinge ausgefallen Projektionslinsen (Durchmesser 60 mm) wurde von
sind. Glühlampen sind extrem empfindlich gegen vielen Verkehrsteilnehmern als störend, die überra-
Überspannung, andererseits ist die tatsächliche Le- gende Lichtleistung dagegen als entscheidender Si-
bensdauer von Qualitätslampen höher als die Spezifi- cherheitsgewinn empfunden.
kation. Wenn auf langes Lampenleben Wert gelegt Heute beträgt die Neuausstattungsquote mit Xenon-
wird, sind bei gleicher oder nur geringfügig schwä- licht in Deutschland etwa 30 %, weltweit dürfte sie
cherer Lichtleistung unter verschiedenen Hersteller- nur bei etwa 15 % liegen.
bezeichnungen Lampen mit optimierter Lebensdauer, Das Xenonlicht ist etwa 2,5-mal intensiver und ta-
sogenannte LL (Longlife) Typen erhältlich. geslichtähnlicher als Halogenlicht (Bild 8.5-6). Er-

mW/m2/nm mW/m2/nm V(l)


12 12 in%
reduzierte
UV-Strahlung Halogen
100
D1 V(l)
8 8 80
D1S (D1R)
D2S (D2R)
60
D3S (D3R)
D4S (D4R)
4 4 40

20

0 0 0
UV IR UV IR
200 nm 380 nm 780 nm 1000 nm 200 nm 380 nm 780 nm 1000 nm

Xenon Halogen

„bläulich weiß“ ähnlich dem Tageslicht „gelblich weiß“ (Glühlampenlicht)

Bild 8.5-6 Spektrum einer Xenon- und einer Halogenlampe im Vergleich


696 8 Elektrik/Elektronik/Software

D1/D3S D2/D4S D2R H13 H11 H9 H8 H7 H4 H2 H3 H1 HB3 HB4 R2

Bild 8.5-7 Halogen und Xenonlampen (R2, sog. Bilux Nicht-Halogen-Lampe zum Vergleich)

zeugt wird es durch einen etwa 4 mm langen Licht- D1R Lampentypen mit integriertem Hochspannungs-
bogen in einem erbsengroßen Entladungsgefäß, in teil zur Verfügung (Bild 8.5-7). Hinsichtlich der
dem sich in kleinen Mengen Salze von seltenen Erden Integration weiterer Funktionen variiert der Nieder-
befinden. Während bei der Halogenlampe ein konti- spannungsteil, beispielsweise kann die Ansteuerung
nuierliches Spektrum abgestrahlt wird mit wenig UV- dynamischer Lichtfunktionen wie Kurvenlicht in den
und viel IR-Licht, enthält Xenonlicht fast nur sichtba- Niederspannungsteil der Xenonelektronik integriert
res Licht und sehr wenig IR. Bei der ersten Genera- sein. Im Markt findet man aber auch Lösungen bei
tion der Xenonlampen entstand ein hoher UV-Licht- denen eine Funktionstrennung zwischen Xenon
anteil. Bei der zweiten Generation seit 1995 wird Ballast und einem zusätzlichen Scheinwerfersteuerge-
durch einen zusätzlichen Filterkolben der UV-Licht- rät für Kurvenlicht und z.B. die Ansteuerung von
anteil reduziert [7, 10, 11]. LED Modulen realisiert ist.
Im Gegensatz zu Halogenlampen benötigt Xenonlicht Die, aufgrund des geringen Quecksilberanteils (ca.
eine Ansteuerelektronik (ballast) zum Betrieb am 0,5 mg) in den D2 und D1 Lampen, über Jahre ge-
12 V oder 24 V Bordnetz. Die Funktionen dieser führte Diskussion der Umweltverträglichkeit dürfte
Elektronik sind: seit der Einführung leistungsfähiger quecksilberfreier
Gasentladungslampen unter den Bezeichnungen D3
• Erzeugen einer Zündspannung von 18.000 bis
(mit integriertem Zündteil) und D4 (ohne Zündteil)
28.000 V
und ihren ersten Anwendungen in Serienfahrzeugen
• Verdampfen der Halide durch kurzzeitig hohe
nun obsolet sein.
Energiezufuhr (bis 17 Ampere)
• Konstanter Betrieb mit nur ca. 35 Watt Leistungs- 8.5.2.4 Bi-Xenon
aufnahme (also deutlich weniger als den 60 Watt
Der Einsatz von zwei Xenonlichtquellen für Fern-
einer Halogenlampe)
und Abblendlicht in einer Lampe ist prinzipiell un-
• Automatisches Wiederzünden z.B. bei Erlöschen
möglich. Die Verwendung von zwei Xenonsystemen
durch starke Erschütterung
für Fern- und Abblendlicht ist sehr aufwändig. Des-
• Spannungsstabilisierung für Versorgungsspannun-
halb war zunächst das Hinzuschalten einer Halogen-
gen zwischen 9 und 18 Volt
lichtquelle zum Xenon-Abblendlicht die Lösung für
• Kurzschluss- und Nebenschlussüberwachung zum
das Fernlicht. Eine konsequente Weiterentwicklung
Schutz gegen Berührung.
der Xenon Technologie stellen jedoch seit 1999 die
Bedingt durch das komplizierte Startverfahren er- Bi-Xenon-Systeme dar, Bild 8.5-8. Bei diesen wird ein
reicht Xenonlicht bei Kaltstart erst nach etwa 3 Se- Umschalter eingesetzt, der angetrieben durch einen
kunden die volle Leistungsfähigkeit. Um sofort beim Zugmagneten eine Blende so bewegt, dass wahlweise
Einschalten des Lichtes eine ausreichende Beleuch- Abblend- und Fernlicht aus derselben Xenonlicht-
tungsstärke zu haben, enthält das Entladungsgefäß quelle entsteht. Die Umschaltung erfolgt dabei so
eine Xenongasfüllung. schnell (< 0,3 Sekunden), dass auch eine effektive
Seit 1996 ist mit den ECE Regelungen 98 und 99 ein Lichthupenwirkung erzielt werden kann. Bei Ausfall
weltweiter Einsatz von Xenonscheinwerfern möglich, geht das System durch Federzug in die Abblendlicht-
für das ECE-Gebiet in Verbindung mit Scheinwerfer- stellung. Wegen des einfachen und betriebssicheren
reinigungsanlage und automatischer LWR. Eben so- Aufbaus und der überragenden Lichtleistung hat sich
lange ist die zweite Lampengeneration D2R für das System in Projektionstechnik schnell durchge-
Reflexions- und D2S für Projektionssysteme auf setzt, während entsprechende Reflektionssysteme mit
dem Markt. Diese Lampen weisen eine konzentrische bewegter Lampe, verschobenem Reflektor oder be-
Steckverbindung auf. Sie sind damit auswechselbar, wegter Strahlenblende nur vereinzelt eingesetzt wer-
was aber wegen des empfindlichen Aufbaus und der den [13, 15, 18].
möglichen elektrischen Gefährdung nur in einer
Fachwerkstatt erfolgen sollte. Der Aufbau der An- 8.5.2.5 Lichtbewertung
steuerelektronik kann variieren, gängig ist eine Tren- Der überproportionale Anteil von Unfällen bei Nacht
nung von Hochspannungs- und Niederspannungsteil. zeigt, dass hier ein erhöhtes Risiko herrscht. Die Sicht
Dabei stehen seit einigen Jahren mit der D1S oder bei Scheinwerferlicht ist daher als wichtiges Sicher-
8.5 Funktionsdomänen 697

Erster Prototyp – 1989 Projektionsmodul 1. Generation – 1999 Projektionsmodul 2. Generation – 2004

Bild 8.5-8 Projektionsmodule (Quelle: Hella KgaA)

heitselement erkannt und bewertet [3] wird aber auch unter anderem die skandinavischen Länder, Kanada
in Kombination mit moderner Sensortechnik im und die Schweiz durchgängig Tagfahrlicht. 2008
Sinne von Lichttechnischen Fahrerassistenzsystemen wurde für Europa mit der Richtlinie 2008/89/EG der
weiter optimiert werden können [24], [25]. Rahmen geschaffen, nach dem ab Februar 2011 alle
Allgemein sollte ein gutes Scheinwerfer-Abblendlicht neuen PKW mit Tagfahrlicht und ab Februar 2012
• die Straße gleichmäßig und fleckenlos ausleuchten alle neuen Fahrzeuge mit Tagfahrleuchten ausgestat-
• eine gute Sichtweite am eigenen Fahrbahnrand tet sein müssen, während in USA und Kanada weiter-
haben hin dass Fahren mit Abblendlicht oder spezielle
• die eigene Fahrbahn betonen (Führungslicht) Fernlichtern möglich sein wird.
• ausreichende Streubreite haben Die Lösung mit speziellen Tagfahrleuchten wird in
• den Gegenverkehr nicht blenden Europa deshalb favorisiert, da beim ständigen Fahren
• bei Nebel nur geringe Eigenblendung erzeugen mit Abblendlicht relativ viel elektrische Energie und
• die eigene Fahrbahn bis etwa 40 m nicht zu stark damit Kraftstoff verbraucht würde (120 W Leis-
ausleuchten, da bei nasser Straße dies durch Re- tung Ⳏ etwa 0,12 Liter pro 100 km) während spezielle
flexion zu extremer Blendung des Gegenverkehrs Tagfahrleuchten typisch nur etwa 12 Watt, beim Ein-
führt. satz von weißen LED’s noch weniger Leistung ver-
Gegenüber dem Abblendlicht ist in Mitteleuropa Fern- brauchen. Ein zukunftsweisender Ansatz ist hier die
licht von untergeordneter Bedeutung, wird in Nordeu- Integration der Tagfahrleuchten in den Scheinwerfer
ropa aber sehr viel höher bewertet (Elche!). und die Kombination mit der Positionslichtfunktion,
Die Lichtleistung wird durch die Eigenschaften der speziell wenn diese als Stylingelement geformt ist.
Scheinwerfer und durch fahrzeuggebundene Einflüsse 2003 stellte der Einsatz von weißen LED für Tag-
bestimmt. Beim Scheinwerfer spielen Reflektorgröße fahrlicht/Positionslicht die erste LED-Anwendung
oder die Auslegung und Linsengröße des Projektions- für Scheinwerferfunktionen überhaupt dar [16, 18],
systems sowie Neigung und Pfeilung der Abschluss- Bild 8.5-9. Inzwischen nutzen viele Fahrzeugherstel-
scheibe eine entscheidende Rolle, außerdem Lampen- ler die stilistischen Optionen die diese Funktion bietet
typ und speziell die tatsächliche Versorgungsspan- um ihr Nachtdesign markenspezifisch zu definieren.
nung. Fahrzeuggebunden sind Anbauhöhe, Sitzposi- 8.5.2.7 Zusatzscheinwerfer
tion, Neigung der Windschutzscheibe und eventuelle
Tönung oder Metallisierung der Scheibe. Nach ECE-Regelung 19 ist ein Paar Nebelscheinwer-
Vergleichende Lichttests von Zeitschriften sind um- fer zulässig, die bei schlechter Sicht das Abblendlicht
stritten aber populär. Fair durchgeführt können sie
das Bewusstsein für gutes Scheinwerferlicht schärfen
und fortschrittlichen Lichttechniken zum Durchbruch
verhelfen. Ein guter Lichttest umfasst einen stati-
schen Test, vorzugsweise in einem „Lichtkanal“ und
Fahrtests unter unterschiedlichen Umgebungsbedin-
gungen. Durch „Virtual Reality Methoden“ lässt sich
in der Entwicklungsphase die spätere Scheinwerfer-
leistung heute sowohl statisch, als auch dynamisch
(Virtuelle Nachtfahrt) bereits ausreichend genau si-
mulieren und optimieren [7].
8.5.2.6 Tagfahrlicht und Positionslicht BiXenon Abblendlicht LED Tagfahrlicht/
Positionslicht (max. 8 W)
Um bewegte Fahrzeuge auch bei Tage auffällig zu
gestalten und damit Unfälle zu vermeiden forderten Bild 8.5-9 Scheinwerfer mit LED-Tagfahrleuchte
698 8 Elektrik/Elektronik/Software

unterstützen oder zusammen mit dem Positionslicht Alle diese neuen Lichtverteilungen lassen sich mit
allein betrieben werden können. Große Streubreite einem Kurvenlicht kombinieren, Bild 8.5-11. Beim
zur Ausleuchtung der Fahrbahnränder und eine schar- statischen Kurvenlicht oder Abbiegelicht wird zur
fe waagerechte Hell-Dunkel-Grenze sind Kennzei- Kurveninnenseite Licht aus einem separatem Reflek-
chen guter Nebelscheinwerfer [3]. tor oder Projektor hinzugeschaltet. Beim dynami-
Eine Verstärkung des Fernlichts kann durch fest schen Kurvenlicht schwenken die Scheinwerfer eben-
zugeschaltete oder wahlweise betriebene Fernschein- falls zur Kurveninnenseite in Abhängigkeit vom Kur-
werfer bewirkt werden. Die regionalen Regelungen venradius. Während für statisches Kurvenlicht Halo-
sind unterschiedlich. In Mitteleuropa darf eine ge- genlicht verwendet wird, kann dynamisches oder
samte Referenzzahl (bezieht sich auf das Maximum) „mitlenkendes“ Kurvenlicht sowohl durch Halogen-
von 37,5 nicht überschritten werden. licht als auch besonders vorteilhaft durch schwenken-
de Bi-Xenon Projektionssysteme realisiert werden. In
8.5.2.8 Intelligente Scheinwerfer der Ober- und Mittelklasse ist dies bereits die bevor-
zugte Ausführung. Ihr Vorteil ist eine drastische
Im Prozess der internationalen Normung wurde in
Verbesserung der Sichtweite um 60 % bis 90 % in
den letzten Jahren AFS (Adaptive Frontlighting Sys-
engen Kurven sowohl beim Abblendlicht als auch
tem), ein Scheinwerfersystem, das sich selbsttätig und
beim Xenonfernlicht. Durch modularen Aufbau lässt
optimal an die jeweiligen Verkehrsverhältnisse an-
sich eine solche kompakte Schwenkeinheit mit Bi-
passt intensiv diskutiert und mit ECE Regelung R123
Xenon-Projektions-Modul und Schrittmotor mit Ge-
verabschiedet, Bild 8.5-10.
triebe und gegebenenfalls Rückmeldung leicht im
Im Einzelnen sind statt des bisherigen Abblendlichtes
Scheinwerferdesign integrieren.
eine Vielfalt von Lichtverteilungen für spezifische
Der modulare Aufbau kann so erweitert werden, dass
Fahrsituationen vorgesehen:
an Stelle der beweglichen Blende des Bi-Xenon-
• Town light für niedrige Geschwindigkeiten Systems entweder mehrere Blenden oder eine drehba-
• Cross country wie heutiges Abblendlicht re Freiform-Walze die unterschiedlichen Lichtvertei-
• Motorway light als weitreichendes Licht lungen erzeugen. Zusätzlich sind speziell beim Auto-
• Adverse weather light Schlechtwetterlicht mit bahnlicht (motorway light) einfache aber wirksame
Reduktion der Blendung des Gegenverkehrs bei Maßnahmen wie das Anheben des Scheinwerfers
gleichzeitiger kräftiger Ausleuchtung des eigenen durch den Leuchtweitesteller sowie eine elektrische
Fahrbahnrandes Leistungssteigerung des Xenonlichtes möglich.

Ohne AFS Mit AFS

Autobahnlicht
Motorway light

Stadtlicht – Town light


Landstraßenlicht
Cross country light

Stadtlicht
Town light
Autobahnlicht – Motorway light
statisches
Kurvenlicht
Static bending light

Schlechtwetterlicht –
Adverse weather light

Bild 8.5-10 AFS-Prinzip


8.5 Funktionsdomänen 699

11

10
1 6
2 4
7
8
9
3
5
12

1 Schwenkendes BiXenon Projektionsmodul 5 Steuergerät 9 Schrittmotor


2 Statisches Kurvenlicht mit Halogenlampe 6 Bewegliche Blende 10 Xenon D2S Lampe Bild 8.5-11 Kurvenlicht-
3 Steuergerät 7 Zugmagnet 11 Schwenklager Scheinwerfer (Quellen:
4 Xenon Controller 8 Schwenkgetriebe 12 Rückmeldung
Opel AG, Hella KgaA)

Seit 2006 sind die ersten AFS-Scheinwerfersysteme Reine Nachtsichtsysteme für Kfz haben sich dagegen
im Markt [22], Bild 8.5-12. bisher nur in Nischen etabliert. Während die passiven
Zur Ansteuerung der „intelligenten“ Scheinwerfer Nachtsichtsysteme nur die vorhandene Wärmestrah-
können neben Geschwindigkeitssignal, Lenkwinkel- lung aufnehmen, wird bei den leistungsfähigeren
sensor und Querbeschleunigungssensor alle weiteren aktiven Systemen gezielt für den Menschen nicht
Informationen über die Verkehrssituation vorzugs- sichtbares Infrarotlicht in den Fernbereich zur Unter-
weise über Kameras und Bildverarbeitung sowie das stützung des sichtbaren Abblendlichtes ausgestrahlt.
Navigationssystem herangezogen werden [15–18, 25, Die über eine Kamera aufgenommenen Infrarotbilder
26]. Werden Informationen aus dem Verkehrsraum werden für den Fahrer dann in einem Display darge-
für die prädiktive Lichtsteuerung eingesetzt so spricht stellt [18] (siehe auch Bild 8.5-5).
man von assistierenden Lichtsystemen. Diese können
neben Witterungsbedingungen und der Infrastruktur 8.5.2.9 LED Scheinwerfer
vor dem Fahrzeug auch andere Verkehrsteilnehmer LEDs (Light-Emitting-Diodes) sind Halbleiterdioden
identifizieren und bei der Auswahl der Lichtvertei- in denen die Energie des elektrischen Stroms bei
lung berücksichtigen. Ein erstes System dieser Art geringer Wärmeentwicklung an sogenannten p-n-
wurde 2005 als Fernlichtassistent in den Markt ge- Übergängen in Licht umgewandelt wird. Dabei wird
bracht und schaltet automatisch zwischen den klassi- Licht eines sehr schmalen Spektrums ausgesendet
schen Fern- und Abblendlichtverteilungen. Seit 2008 (Lichtfarben wie rot, gelb, blau oder grün werden
gibt es auch Systeme, die kamera- und bildverarbei- direkt durch den eingesetzten Halbleiter erzeugt). Zur
tungsbasiert die Lichtfunktionen innerhalb der AFS Realisierung weißer LEDs können entweder das Licht
Regelungen variieren. Die Kameras werden dabei mit verschiedener Farb-LEDs überlagert oder das Licht
Spurhaltesystemen, Schildererkennung, ACC Funk- blauer LEDs mittels eines fluoreszierenden Leucht-
tionen oder Nachtsichtsystemen gemeinsam genutzt. stoffes in weißes Licht transformiert werden. Da ein-
Die Kurvenlichtsteuerung wird neben Kameras auch zelne LEDs, aufgrund begrenzter Chip Größe, einen
durch GPS Signale unterstützt. relativ geringen Lichtstrom erzeugen werden meist

Bi-Halogen

Halogen H7 Xenon

Schwenk-
mechanismus

Bi-Xenon 2. Generation Vario-Xenon


Bild 8.5-12 Produktfamilie
Halogen H11
AFS-Projektionsmodule
(Quelle: Hella KgaA)
700 8 Elektrik/Elektronik/Software

und der LED basierten AFS Funktionen in die GRE


erreicht.
8.5.2.10 Signalleuchten
Im Gegensatz zu Scheinwerfern dienen Signalleuch-
ten nicht zur Fahrbahnausleuchtung (Ausnahme
Rückfahrlicht), sondern um die Fahrzeugabmessun-
gen, das Kennzeichen und die Absichten des Fahrers
darzustellen. Auch hier dürfen nur in den Regelungen
enthaltene Funktionen und zulässige Lichtquellen
verwendet werden. Signalleuchten tauchten erst spät
an Fahrzeugen auf und beschränkten sich oft auf eine
kombinierte Rück-/Kennzeichenleuchte. Fahrtrich-
Bild 8.5-13 LED-Scheinwerfer (Quelle: Hella KgaA) tungsänderungen wurden zunächst freiwillig durch
drehbare Pfeile, Armzeichen und später durch be-
mehrere LEDs in Modulen oder mehrere Chips in leuchtete Winker dargestellt.
Arrays zusammengefasst wobei jeder LED eine eige- Signalleuchten sind heute großflächige Gestaltungs-
ne Optik oder gemeinsame Optiken für ein Array ein- elemente, die bei homogener oder „brillianter“ Aus-
gesetzt werden. leuchtung eine große Vielfalt von Erscheinungsbil-
Erste Voll-LED-Scheinwerfer, d.h. Geräte bei denen dern darstellen und zudem im „kalten“ Zustand fast
neben den heute schon vielfach realisierten Signal- beliebige Farben aufweisen können, Bild 8.5-14.
funktionen erstmals auch Abblendlicht und Fernlicht Die Fahrzeugabmessungen werden vorn durch zwei
mit Leuchtdioden als Lichtquellen realisiert sind, wur- weiße Positionslichter, hinten durch zwei rote Posi-
den ab 2006 in Fahrzeugen der Luxusklasse in den tionslichter (Schlusslichter) dargestellt. Fahrtrichtungs-
Markt eingeführt (Bild 8.5-13). Seit 2010 erstmals änderungen und Warnblinken werden durch vordere,
auch in der Kombination Voll-LED-Scheinwerfer hintere und seitliche Blinkleuchten, Bremsen durch
und intelligentes Lichtsystem (AFS Funktionen) [26]. hintere und mittlere hochgesetzte Bremsleuchten an-
Dabei erreichen diese LED Scheinwerfer auf der Straße gezeigt.
gemessen Lichtleistungen von 1.100 lm und mehr, Hintere Kennzeichenbeleuchtung oder selbstleuch-
wie sie bisher Xenon Systemen vorbehalten waren. tende Schilder und gegebenenfalls seitliche Markie-
Treibende Kraft der Entwicklung sind stilistische und rungsleuchten komplettieren die bei Dunkelheit stän-
technologische Motive, da die Aufwendungen für das dig zu betreibenden Signalleuchten.
Optiksystem – insbesondere auch die Abstimmung Das Rückfahrlicht dient der Ausleuchtung der rück-
der einzelnen Elemente aufeinander –, die LEDs und wärtigen Fahrbahn, zeigt aber auch die Absicht des
ihre elektronische Beschaltung sowie die Klimatisie- Rückwärtsfahrens an. In Schweden sind zudem vor-
rung der Geräte, zunächst noch weit über denen dere Rückfahrleuchten zulässig.
etablierter Lösungen liegen. Die Nebelschlussleuchte(n) ist (sind) bei neuen Fahr-
Für die Zukunft erhofft man sich von LED Schein- zeugen vorgeschrieben, in USA geduldet. Rückstrah-
werfern, einhergehend mit komplett neuen Geräte- ler sind aus praktischen Gründen oft mit Heckleuch-
konzepten und Leistungssteigerungen bei den Halb- ten zusammengebaut, dreieckige Rückstrahler sind
leitern, jedoch eine ganze Reihe an Vorteilen: Anhängern vorbehalten.
Vordere Fahrtrichtungsanzeiger richten sich in ihrer
• Helleres Licht (Farbtemperatur über 4.000 K) Intensität nach dem Abstand zum Abblend- oder
• Geringerer Energieverbrauch Nebellicht. Für vordere Blinkleuchten wird aus Sty-
• Kein Lampenwechsel (da LED’s eine sehr hohe linggründen im ausgeschalteten Zustand oft ein „wei-
Lebensdauer aufweisen) ßes“ oder ein brillantes Erscheinungsbild gewünscht,
• Kleinere Gerätevolumen und neue Integrations- ihr Licht ist gelb (amber).
konzepte Rückwärtige Fahrtrichtungsanzeiger sind ebenfalls
• Freie Programmierbarkeit der Lichtverteilung. gelb, in USA auch oft rot. Die lichttechnischen An-
Gerade der letzte Punkt motiviert Forschungsarbeiten forderungen sind geringer als bei den vorderen. Das
in denen es unter Verwendung frei programmierbarer gilt auch für die für Neufahrzeuge geforderten seit-
LED-Arrays darum geht quasi permanent mit Fern- lichen Zusatzblinkleuchten.
licht zu fahren und nur ganz gezielt die Sichtbereiche Die vorderen Begrenzungsleuchten (Positionsleuchten)
anderer Verkehrsteilnehmer auszublenden oder Licht sind oft in einem der Scheinwerferreflektoren angeord-
gezielt einzusetzen um Gefahrenstellen im Verkehrs- net. Zusammen mit dem Abblendlicht stellen sie das
raum zu markieren. „Nachtdesign“ des Fahrzeuges dar. Eine viel beachtete
Wesentliche Etappenziele sind mit der Einführung Alternative stellt die Gestaltung des Positionslichtes
der LED-Funktionalitäten in die ECE-Regelung 112 als beleuchtetes Designelement dar. In 2000 wurden
8.5 Funktionsdomänen 701

Sichtbarkeitswinkel
ECE SAE
10000
20° 20°
TFL

45° 45° 80°


80° 1000
BL
PO

Lichtstärke I [cd]
100
45°

SML 10
45°

1
ZBL
60°
0
5° S B ZB BL ZR NES PO BL TFL ZBL SML
hinten vorne seitlich

S = Schlusslicht
B = Bremslicht
ZB = Zusatz-Bremslicht
ZB
BL = Blinklicht
ZBL = Zusatzblinklicht
ZR = Rückfahrlicht
10° 10° NES = Nebelschlusslicht
PO = Positionslicht
TFL = Tagfahrlicht
S BL SML = Sidemarkerlicht
B ZR
80° 80° K = Kennzeichenleuchte
45° 45° 45° 45° 45° 45°
K
NES
30° 30° 25° 25°

Bild 8.5-14 Signalleuchten Anforderungen

erstmalig leuchtende Ringe eingesetzt, die ein „Mar- ter Sicht das Fahrzeug sichtbar machen. Zum Brems-
kenzeichen“ geworden sind. Ursprünglich mit flexiblen licht muss ein Abstand von 100 mm eingehalten
Lichtleitern beleuchtet, eignen sich heute besonders werden.
weiße LEDs zur direkten Einkopplung und ermögli- Parkleuchten sind optional und strahlen nach vorn
chen die Kombination mit Tagfahrlicht die von unter- weiß, nach hinten rot. Häufig werden ein vorderes
schiedlichen Herstellern genutzt wird, um die Identität Positionslicht und eine Schlussleuchte als Parkleuchte
ihrer Fahrzeuge zu erhöhen. verwendet.
In USA können Schlussleuchten in Mehrfachfunktion
als Bremsleuchten und auch als Fahrtrichtungsanzei- 8.5.2.11 Lichtquellen für Signalleuchten
ger dienen [2]. In Europa sind Doppelfunktionen von Normale Glühlampen dominierten die Signalleuch-
Schluss-Bremslicht mit Zweiwendellampen zulässig, ten-Anwendung werden jedoch zunehmend durch
allerdings sind Einzelfunktionen vorzuziehen. trotz des höheren Preises der Lichtquellen LEDs
Zunächst in Deutschland wurde ab 1980 ein Paar ersetzt. Für Glühlampen in Signalleuchten üblich sind
hochgesetzte Bremsleuchten zulässig. Von Vorteil Bajonettsockel und Wedgebase. Kodierung der Bajo-
war die Sichtbarkeit durch die Rückfenster und Front- nette verhindert Fehlbestückung. Solange die Licht-
scheiben mehrerer Fahrzeuge und damit eine frühere quellen wechselbar sind, dürfen nur solche verwendet
Bremsbereitschaft [3, 4]. Durch zu hohe Lichtwerte, werden, die in der ECE-Regelung verankert sind. Zur
Abstrahlung ins Fahrzeuginnere und fragwürdige me- Erleichterung des Lampenwechsels werden speziell
chanische Befestigung geriet das Konzept in Europa bei Heckleuchten die Lampen auf Lampenträgern
in Misskredit. In USA wurden mit einer einzelnen zusammengefasst.
hochgesetzten Bremsleuchte erfolgreiche Feldversu- Halogenlampen finden nur gelegentlich Anwendung
che gemacht [6]. 1985 wurde in den USA die hoch- bei Signalleuchten, obwohl sie Vorteile hinsichtlich
gesetzte Bremsleuchte Vorschrift [2], seit 1991 wird Lichtfarbe (weiß), Energieverbrauch und Intensität
sie in Europa geduldet, seit 1998 ist sie Vorschrift haben. Ein Beispiel für Halogenlampen ist die H6W,
(EG). die im vorderen Positionslicht eingesetzt wird.
Eine oder zwei rote Nebelschlussleuchten mit Licht- LEDs bieten im Vergleich zu Glühlampen viele Vor-
stärken höher als beim Bremslicht sollen bei schlech- teile für Signalfunktionen, insbesondere
702 8 Elektrik/Elektronik/Software

• Schnelles Einschaltverhalten, ca. 170 ms kürzere verteilung ohne irgendwelche optischen Profile auf
Reaktionszeit der Lichtscheibe.
• Neue Optiksysteme und Gestaltungsmöglichkeiten Leuchtenfunktionen lassen sich auch mit Lichtleitern
• Geringer Energieverbrauch, es wird direkt Licht darstellen, wobei farbiges Licht in transparente Stäbe
im roten Spektrum erzeugt eingespeist und durch Prismen quer zur Stabachse
• Lange Lebensdauer abgestrahlt wird [8].
• Geringer Raumbedarf
8.5.2.13 Dynamisches Bremslicht
Die beste Anwendung für LEDs ist die Bremslicht- und Leuchten-Zukunftsentwicklungen
funktion speziell bei hochgesetzten Bremsleuchten
[6 – 8]. Aber auch Schluss-, Bremslichtkombinationen Zur Anzeige von starker Verzögerung ist ein zweistu-
und gelegentlich Blinklichter mit LEDs kommen zum figes Bremslicht bereits im Einsatz, hierbei wird die
Einsatz. leuchtende Fläche oder die Intensität des Bremslich-
Neonröhren haben ähnliche Eigenschaften wie LEDs, tes vergrößert (Bild 8.5-15). Eine andere Lösung ist
erfordern aber wegen der Ansteuerelektronik und der es, die hochgesetzte Bremsleuchte oder alle Brems-
schwierigen EMV (elektromagnetische Verträglich- leuchten mit einer Frequenz von 7 Hz blinken zu
keit) hohen Aufwand und werden bei Neuentwick- lassen. Ebenfalls realisiert wurde die automatische
lungen nicht mehr eingesetzt [6], [7]. Einschaltung der Warnblinkanlage bei besonders
starker Verzögerung.
8.5.2.12 Bauformen In Untersuchung sind weitere Verfeinerungen der
Signalbeleuchtung wie Anpassung der Leuchtstärke
Signalleuchten können sowohl als Einzelfunktionen, an die Umgebungsbedingungen wie Helligkeit, Sicht-
als auch zusammengebaut ausgeführt werden. Im weite oder Verschmutzung, wozu auch der sinnvolle
Frontbereich werden die Signalfunktionen Positions- Ersatz der Nebelschlussleuchte(n) gehört. Denkbar
licht, Fahrtrichtungsanzeiger und für die USA be- wäre es auch, bei Verwendung eines rückwärtigen
leuchteter sidemarker (sowie der passive side reflec- Näherungssensors zu schnell herankommende z.B.
tor) meist mit dem Scheinwerfer zu einer Lichteinheit am Stauende durch die Signalleuchten automatisch zu
vereinigt. Im Seitenbereich dominieren Einzelfunk- warnen.
tionen für Zusatzblinkleuchte und – wenn vorhanden Bisher konnten diese adaptiven sicherheitsverbes-
– Seitenmarkierungsleuchten. Im Heckbereich sind sernden Lösungen allerdings noch nicht in Vorschrif-
die Funktionen meist in einer gemeinsamen Heck- ten überführt werden.
leuchte pro Seite vereinigt, gelegentlich auf zwei
8.5.2.14 Innenbeleuchtung und Einstiegsleuchten
Teilbereiche verteilt. Bei Heckleuchten werden häu-
fig komplizierte Spritzgusstechniken in Mehrfarben- Den gestiegenen Komfort-Erwartungen wird eine
maschinen (bis 4 Farben) angewendet. Die farbigen einfache Innenleuchte nicht mehr gerecht, in Ober-
Signalfunktionen können betont oder kaschiert wer- klassenfahrzeugen sind bereits mehr als hundert
den, in letzter Zeit sind ähnlich wie bei Scheinwer- Lichtaustritte im Innenraum installiert worden
fern brillante Aufbauten mit klarer Abschlussscheibe (Bild 8.5-16). Neben Bedarfslichtquellen wie Lese-
populär geworden. leuchten ist das Bestreben der ambienten Innenbe-
Früher wurden die Leuchten in zwei Kategorien leuchtung Orientierung und Raumgefühl zu vermit-
eingeteilt: Leuchten mit (Paraboloid-)Reflektor, die teln. Fortschritte in der LED Technologie haben dazu
sowohl das direkte Licht als auch das vom Reflektor geführt, dass bevorzugt wartungsfreie LED statt Glüh-
gerichtete Licht ausnutzen und Leuchten ohne Re- lampen (z.T. mit Lichtleitern) eingesetzt werden. Das
flektor, die das direkt abgestrahlte Licht über Prismen gilt auch für spezielle Einstiegsleuchten im Außenbe-
in der Abschlussscheibe verteilen [4]. Inzwischen sind reich wie Vorfeld- und Handgriffleuchten [14].
weitere Prinzipien wie Ellipsoidreflektoren, Facet- Zukünftig könnten gerade im Innenraum erste An-
tenreflektoren und Freiformreflektoren entstanden. wendungen für den Einsatz organischer LED’s in der
Bei den Streuoptiken gibt es verschiedene Muster, die Fahrzeugbeleuchtung liegen.
ein homogeneres Erscheinungsbild erlauben [8]. Die
nach dem französischen Physiker benannte Fres-
nel-Optik stellt eine Stufenlinse mit guten Richteigen-
schaften dar. Bei flachem Aufbau erfasst sie einen
großen Raumwinkel [4].
Ähnlich der Fresnellinse kann ein Leuchtenreflektor
aus konzentrischen Reflektorsegmenten zusammen-
gesetzt werden. Eine zukünftige Weiterentwicklung
geringe Verzögerung < 5 m/s2 starke Verzögerung > 5 m/s2
stellen holographische Reflektorstrukturen dar [8 – 11].
Ähnlich der Anwendung beim Scheinwerfer erlaubt Bild 8.5-15 Dynamisches Bremssignal (Quelle:
der Freiflächenreflektor eine kontinuierliche Licht- BMW AG)
8.5 Funktionsdomänen 703

Innenleuchte vorne
Türinnenbetätigungsbeleuchtung
Auflicht Mittelkonsole
Leseleuchte
Fußraumbeleuchtung Innenleuchte hinten
Auflicht Mittelkonsole
Vorderfeldbeleuchtung Leseleuchte

Türverkleidungs-
auflicht

Aktiver Einstiegsbeleuchtung
Rückstrahler
Türtaschenbeleuchtung

Türgriffbeleuchtung Bild 8.5-16 Innenbeleuch-


Fussraumbeleuchtung tung (Quelle: Audi AG)

8.5.2.15 Beleuchtungsstyling [16] Hendrischk, Grimm, Kalze, Adaptive Scheinwerfer, ATZ,


2002-11
Die Beleuchtungseinrichtungen am und im Fahrzeug [17] Thiemann, Seuss, Bertram, Opgen, Rein, Mechatronik im
Scheinwerfer, ATZ, 2002-1
haben sowohl im „kalten“ wie im eingeschalteten [18] Kesseler, Kleinkes, Könnig, Nachtsichtsysteme kurz vor der
Zustand einen dominierenden Styling-Effekt bekom- Serienreife, ATZ, 2005-1
men. Beim Tag- wie Nachtdesign wird eine eigen- [19] Pressemitteilungen Audi, BMW, Mercedes, Opel 2003 – 2011
ständige Erscheinung bei gleichzeitigem Behalten [20] Lachmayer, Amsel, Light-based Driver Assistance, Vision
Kongress, Rouen 2006
einer „Familienähnlichkeit“ angestrebt. Zusätzlich [21] Lachmayer, Götz, Kleinkes, Pohlmann, LED-Technik im Schein-
gilt es, Modetrends zu berücksichtigen. Darüber hi- werfer, ATZ, 2006-11
naus eignen sich die Beleuchtungseinrichtungen dazu, [22] Kalze, Lichttechnik in Kraftfahrzeugscheinwerfern, ATZ 2008-
bei Sondermodellen und „Facelifts“ ein geändertes 12
[23] Schug, LED-Scheinwerfer und HiPerVision-Lampen, ATZ,
oder frischeres Aussehen ohne grundlegende Ände- 2009-03
rung des Fahrzeugblechkleides zu realisieren. [24] Wördenweber, Wallaschek, Boyce, Automotive Lighting and
Moderne Berechnungs- und Entwicklungsverfahren Human Vision, Springer, 2007
sowie Fortschritte bei den Lichtquellen ermöglichen [25] Amsel, Pietzonka, u.a., Die nächste Generation Lichtbasierter
Fahrerassistenz, ATZ, 2010-10
die Berücksichtigung von Stylingwünschen ohne [26] Neumann u.a., LED-Vollscheinwerfer mit adaptivem Fernlicht,
Einbuße oder sogar bei Steigerung der lichttechni- ATZ, 2011-01
schen Funktionalität. [27] Hamm, Innovative Lichtquellen für Fahrzeuge, ATZ, 2011-01

Literatur
[1] Europäische Gemeinschaft Richtlinie E 76/756 EWG
[2] NHTSA, FMVSS 108
[3] Bockelmann, Werner: Auge – Brille – Auto, Springer Verlag 8.5.3 Cockpit-Instrumentierung
ISBN 3-540-16429-4
[4] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Kraftfahrtechnisches Taschen- 8.5.3.1 Einleitung
buch. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
[5] PAL Symposium, Proceedings, TU Darmstadt, 1997/1999/ Unter dem Begriff Instrumentierung fasst man die
2001/2003/2005/2007/2009 Anzeigen und Bediengeräte im Fahrzeug-Cockpit
[6] SAE conference, jährliche Vorträge auch zu lichttechnischen zusammen, mit deren Hilfe der Fahrer unmittelbar auf
Themen
[7] Lachmayer, u.a., Intelligente Frontbeleuchtung, ATZ, 1996
die Fahraufgabe bezogene Aufgaben des Beobachten
[8] Hella KGaA, Automotive Lighting, Valeo, Visteon Firmen- und Bedienens ausführt. Somit ist die Instrumentie-
schriften und Internet rung eine zentrale Schnittstelle zwischen Mensch und
[9] Bosch, Veröffentlichungen des früheren K2-Bereiches Maschine (engl. Human Machine Interface HMI) im
[10] Philips, Forschungsberichte
[11] Osram, Firmenschriften
Fahrzeug. Bedingt durch immer mehr Fahrerassis-
[12] Eichhorn ,Labahn, Decker, Adaptive Lichtsteuerung, Adaptronic tenz- und Informationssysteme hat das HMI als Teil
Congress 2000 des Fahrerarbeitsplatzes stark an Bedeutung gewon-
[13] Lachmayer u.a., Synergien von Licht und Mechatronik, Elektro- nen. Zwischen Instrumentierung und Infotainment
nik im Kfz, Baden Baden, 1998
[14] Abel, Labahn, Pietzonka, Systementwurf für situationsgerechte
(d.h. Radio, Navigation, Multimedia und Connectivi-
Innenbeleuchtung, SIP 2000 ty) hat sich aus ergonomischen Gründen eine räum-
[15] Hendrischk, Lachmayer, Bi-Xenon, VDI, 2000 liche Trennung etabliert, Bild 8.5-17 (Kapitel 6.4.1).
704 8 Elektrik/Elektronik/Software

Kombi-
instrument Mitteldisplay

Lautsprecher

Lenkradschalter

Schalter
Mittelkonsole Bild 8.5-17 Typische
Struktur der Instrumen-
CD-Laufwerk
tierung im Cockpit
(Quelle: Daimler AG)

Wegen ihrer Bedeutung für die unmittelbare Fahrauf- teme (z.B. Wegfahrsperre, Map Matching als Teil des
gabe befindet sich nur die Instrumentierung innerhalb Navigationssystems) haben den Softwareanteil an der
eines 30 Grad umfassenden Blickfeldes in Sehrich- Instrumentierung stark gesteigert.
tung des Fahrers. Die Instrumentierung trägt erheb-
lich zur stilistischen Gestaltung des Cockpits bei. Zeigerantrieb für Instrumente

8.5.3.2 Informationsdarstellung Als Antrieb von Rundanzeigen im Kombinations-


Instrument haben sich Schrittmotoren wegen ihrer
Die Hauptaufgabe der Instrumentierung besteht unter höheren Genauigkeit und Maßhaltigkeit sowie ihren
anderem darin, Fahrzeugzustände (z.B. Geschwin- geringeren Abmessungen etabliert. Anzeigeschrittmo-
digkeit und Drehzahl sowie wichtige Zustands- und toren, die technisch auf einem zweipoligen Drehmag-
Warnmeldungen) unter allen Lichtverhältnissen in neten innerhalb einer Kreuzspulanordnung sowie
erfassbarer Form darzustellen. Als visuelle Schnitt- einem Untersetzungsgetriebe basieren, erlauben eine
stelle dafür dient das Kombinations-Instrument, des- hohe Schrittauflösung und verhältnismäßig hohe
sen Größe vom Lenkradauschnitt bei Geradeauslauf Zeigermassen. Für spezielle Anwendungen wird der
begrenzt wird. Um auf dieser Fläche möglichst viele Schrittmotor auch in Kombination mit einem Getrie-
Informationen darstellen zu können, werden die be als Ringzeigersystem eingesetzt. Die Ansteuerung
Kontrolllampen und dedizierten (Rund-)Anzeigen der erfolgt entweder mit einem IC oder einem modularen
Hauptinstrumente zunehmend durch multifunktional Controller.
genutzte Displays ergänzt.
Beleuchtung
8.5.3.2.1 Kombinations-Instrument
Für die Beleuchtung der Instrumentierung besteht ein
Kombinationsinstrumente werden heute in ihrer Funk- sehr großer Dynamikbereich in Bezug auf die Um-
tionsvielfalt für low-, mid- und high-Varianten ska- gebungslichtverhältnisse im Straßenverkehr. Stand
liert. Integrierte Kombinations-Instrumente der geho- der Technik ist heute der Einsatz von LEDs zur
benen Klasse sind de facto grafikfähige Controller, Beleuchtung von der Unterseite der Instrumenten-
die teilweise in Master-Slave-Architektur ausgeführt oberfläche her (Backlight). Dank des schnellen Ent-
werden. Als Beispiel kann hier ein leistungsfähiges wicklungsfortschritts bei der LED-Technik lässt sich
Kombinations-Instrument mit einem 5 – 6″ Farb TFT- inzwischen nahezu das gesamte Lichtfarbspektrum
LCD (Auflösung QVGA, VGA), zwei 32-bit-RISC- im Fahrzeug nutzen. Die steigende Lichtausbeute
Prozessoren 64 – 300 MHz, 8 – 256 MB Flash, SRAM macht LEDs auch zukünftig zu einer Lösung für den
und Grafik-Beschleuniger dienen [1]. Integrierte Ersatz von quecksilberhaltigen Kaltkathodenlampen
Kombinations-Instrumente beruhen vielfach auf der (Cold-Cathode Fluorescence Lamps, CCFL), Bild
Verbindung aus einer starren Multilayer-Funktions- 8.5-18.
leiterplatte und einer flexiblen Leiterplatte. Die Be-
stückung mit oberflächenmontierbaren Bauelementen 8.5.3.2.2 LC-Displays
(SMD-Komponenten) in hoher Packungsdichte sowie im Kombinations-Instrument
mit Leuchtdioden (LEDs bzw. SideLEDs) ist charakte-
ristisch für den heutigen Kompaktaufbau. Die geforder- Durch die Integration von Punktmatrix-Displays in
te Grafikfähigkeit sowie neue Funktionen und das hohe Kombinations-Instrumenten ist es möglich, die Kom-
Maß an Vernetzung einzelner Funktionen und Subsys- plexität des HMI variabel zu gestalten, während ihr
8.5 Funktionsdomänen 705

Bild 8.5-18 Kombinations-Instrument mit Ringzei-


ger und LED Skalenringbeleuchtung (Quelle: Daim- Bild 8.5-19 Kombinations-Instrument mit den Rund-
ler AG) instrumenten integrierter Farb-TFT-Anzeige (Quelle:
Daimler AG)

Leistungsumfang tatsächlich steigt. Durch die hohe Zur Realisierung des Systems befindet sich ein Mo-
Variabilität besteht die Möglichkeit, Informationen dul, bestehend aus einem Spiegelsystem, ein trans-
alphanumerisch bis hin zu videobasierten, bildhaften missives TFT-Display und eine sehr leuchtstarke
Darstellungen auf konfigurierbaren Anzeigeflächen LED-Lichtquelle im Inneren der Armaturentafel [2,
zu ermöglichen. Unterschiedliche Flüssigkristallan- 3]. Bedingt durch den optischen Strahlengang nimmt
zeigearten (Liquid Crystal Display, LCD) erleichtern der Fahrer die Anzeige in einer scheinbaren Entfer-
es zudem, dem Fahrer situationsbezogen so viel In- nung von 2 bis 2,5 m wahr, Bild 8.5-20.
formation wie nötig und doch so wenig wie möglich Durch den Abstand des virtuellen Bildes im unteren
anzubieten. Weil die grafische Darstellung von In- Teil der Windschutzscheibe reduziert sich die Akko-
formationen und die farbliche Informationspriorisie- modation der Augen erheblich beim Ablesen der
rung eine wachsende Rolle spielt, ersetzen vollfarb- Anzeige. Dies führt zur Reduzierung der Ablesezeit
fähige Aktivmatrix-Displays in Dünnschichttechnik im Vergleich zum Ablesen des Kombinationsinstru-
(Thin Film Transistor LCD, TFT-LCDs) teilweise mentes. Durch permanente Nachregelung der Leucht-
bereits die in der Fahrzeug-Instrumentierung insge- intensität in Abhängigkeit von der Helligkeit des
samt vorherrschenden Passivmatrix-LCDs. Üblich ist Hintergrunds bleibt die Anzeige bei wechselnden
die mechanische Integration eines Displays im Kom- Umgebungslichtbedingungen immer gut ablesbar.
binations-Instrument entweder zwischen den Rundin- Zusätzliche Relevanz gewinnt das HUD, weil es neue
strumenten oder als Bestandteil der Rundanzeige(n), Möglichkeiten bietet, etwa um die Anzeige eines
Bild 8.5-19. Nachtsichtsystems zu integrieren.

8.5.3.2.3 Weitere Display-Arten im Cockpit 8.5.3.3 Eingabeelemente

Während Vakuum Fluoreszenzanzeigen (Vacuum Neben den etablierten elektromechanischen Bedien-


Fluorescence Display, VFD) im Vergleich zur domi- elementen (Lenkstockschalter, Schalter, Taster) be-
nierenden LCD-Technik vor allem in Europa immer dingt die Funktionsfülle in höher ausgestatteten Fahr-
seltener eine Rolle spielen, zeichnet sich mit der zeugen neue Bedienkonzepte [4].
Organischen Licht Emittierenden Diode (Organic Im zentralen Cockpitbereich, wie z.B. Radio, Naviga-
Light Emitting Diode, OLED) eine neue Displaytech- tion und Klimaanlage, gibt es die Möglichkeit die
nologie mit Potenzial als Ergänzung zur LCD- bezie- einzelnen Eingabegeräte sowohl designerisch als auch
hungsweise TFT-Technologie ab. Mit einem verbrei- elektrisch in ein Gesamtsystem zu integrieren, den
teten Einsatz im Fahrzeug ist zu rechnen, sobald z.B. sogenannten Integrated Center Stack, Bild 8.5-21.
die Lebensdauer von OLEDs für bestimmte Farben Weiterhin werden alternativ zu den bekannten me-
weiter verbessert ist. chanischen Tastern und Drehstellern die aus der
Unterhaltungselektronik bekannten berührungssensi-
tiven Oberflächen (z.B: kapazitiv, resistiv) in die
8.5.3.2.4 Head-up-Display (HUD)
Bedienoberflächen der Fahrzeuge integriert.
Das aus der Luftfahrttechnik bekannte und in Mono- Vorteile ergeben sich aus den in der Elektronik ent-
chromausführung vereinzelt schon länger im Fahr- stehenden Synergien sowie einer erhöhten Vielfalt
zeug genutzte Head-up-Display (HUD) ist in voll- beim Oberflächendesign.
farbfähiger Ausführung im Automobil inzwischen Zentrale Eingabeelemente, ausgeführt meist als Dreh-,
etabliert. Bei dieser Darstellungsform werden Fahr- Drücksteller mit umliegend angeordneten Funktions-
zeug- und verkehrsbezogene Informationen direkt in tasten, sind ab der gehobenen Mittelklasse mittlerwei-
den Bereich der Windschutzscheibe eingeblendet. le bei den meisten Fahrzeugherstellern etabliert.
706 8 Elektrik/Elektronik/Software

Beobachtungsstand

Windschutzscheibe mit Keilfolie Fahrer


Virtuelles Bild

Eyebox

Strahlvolumen

Deckglas
Lichtquelle
Display
Spiegel
Schwenkbarer Spiegel

Head-up Display

Bild 8.5-20 HUD-Strahlengang und HUD-Modul (Quelle: Continental Automotive GmbH)

der Fahrer einfach mit dem Finger auf eine ergono-


misch angeordnete Oberfläche eingibt (analog einem
Touchpad eines Laptops) sind damit unter anderem
bereits heute technisch realisierbar, Bild 8.5-21.
Teilweise geben zentrale Bedienelemente dem Fah-
rer eine programmierbare haptische Rückmeldung,
werden also zusätzlich als Ausgabeelement genutzt [5].
Im Vorserienstadium befinden sich Bedienelemente-
Lösungen mit berührungsempfindlicher Oberfläche
(Touchpad), die dem Fahrer Eingaben in Form von
Buchstaben und Symbolen erlauben [6].
8.5.3.4 Ausblick
Vor allem die Bedeutung der Displaytechnik (Größe,
Darstellungsqualität und Anzeigeort) in der automo-
bilen Mensch-Maschine-Schnittstelle wird weiter stei-
gen. Im Hinblick auf eine drohende Überforderung
des Fahrers durch die steigende Zahl elektronischer
Systeme im Fahrzeug werden multimodale HMI-
Lösungen einschließlich Sprachbedienung und takti-
lem Kommunikationskanal an Bedeutung gewinnen.
Die Rechen- und Speicherkapazitäten der Elektronik-
systeme werden zunehmen, da aufgrund der zu erwar-
tenden, steigenden Funktionsvielfalt der Software-
anteil weiter wächst. Mechanische Anforderungen be-
Bild 8.5-21 Darstellung eines Center Stacks mit un- stehen darin, die Instrumente kompakter (vor allem
terschiedlichen Bedienelementen für ein Fahrzeug- flacher) werden zu lassen.
informationssystem (Quelle: www.cars.about.com)
Literatur
Eine weitere Funktionsintegration basierend auf ka- [1] Weber, M.; Päger, B.; Roppel, M.; Abel, H.-B.: Industrialising
pazitiver Sensortechnologie wird zukünftig in diesen IPS-Technologes for Automotive Applications, SiD-ME Chapter,
Fall Meeting 2010, Automotive Displays – Applications, Chances
zentralen Eingabeelementen Einzug halten. and Challenges, September 23 – 24, Sindelfingen, Germany
Funktionen wie die Erkennung von Multitouch- [2] Richter, P.: Head-up Display und Nachtsicht, Fachkongress
Gesten sowie die Eingabe von Schriftzeichen die Innenraum, 6. Fachkongress Fortschritte im Automobil, Der
8.5 Funktionsdomänen 707

Fahrzeuginnenraum: Von der Idee zur Realisierung, Ludwigs- den ‚Offenen Systemen‘ (Segmente 4–6). Die ge-
burg, 6 – 7. November 2007
schlossenen Systeme stellen derzeit noch den Stan-
[3] Richter, P.: Anforderungen an die Beleuchtung für Head-up
Display, Opto-NET, Join-Workshop, Moderne Beleuchtungskon- dard auf dem Markt dar. Sie sind nicht offen für sog.
zepte, Jena, 31. 01. 2008 ‚Apps‘ (→ Applikationen wie sie in sog. ‚App Sto-
[4] Abel, H.-B., Meier-Arendt, G., Willnauer, B.: Ergonomische Be- res‘ erworben werden können) was bedeutet, dass die
dienelemente für elektronische Fahrzeugsysteme. ATZ (Jg. 107)
Ausg. 5, Mai 2005
Funktionalität des Gerätes über die Lebensdauer nicht
[5] Hautnah am Geschehen – Automobil Produktion, Sonderheft erweitert werden kann. Im Gegensatz dazu können
Innenraum, März 2003 die offenen Systeme mit Hilfe von Apps bei Bedarf in
[6] Jungmann, Th.: Auto erkennt Handschrift des Fahrers, ihrem Funktionsumfang erweitert werden. Für diese
www.all4engineers.com, 12. 9. 2003
Art von Infotainmentsystemen ist für die nächsten
8.5.4 Infotainment/Multimedia Jahre ein rasantes Wachstum vorhergesagt, getrieben
durch das Bedürfnis im Fahrzeug eine ähnliche Funk-
8.5.4.1 Einleitung tionalität zur Verfügung gestellt zu bekommen wie es
Unter einem Infotainmentsystem versteht man im bei Mobiltelefonen bzw. Smartphones der Fall ist.
Automobilbereich ein System von Komponenten, In den folgenden Unterkapiteln werden nun zunächst
welches verschiedene Funktionen im Bereich Kom- die wichtigsten Funktionen bzw. Einzelkomponenten
fort oder Sicherheit bereitstellt, wobei in den folgen- der Infotainmentsysteme betrachtet.
den Kapiteln der Schwerpunkt auf die Komfortberei-
che gelegt wird. Dazu gehören in erster Linie Multi- 8.5.4.2 Broadcasting
media und Navigation. Das Infotainmentsystem er- 8.5.4.2.1 Audio Broadcasting
möglicht die zentrale Steuerung dieser Bereiche mit
AM/FM Radio
den jeweiligen Unterfunktionen und zeigt weiterhin
verschiedene Status-, Fahrzeug- und Statistikinforma- Neben dem traditionellen Rundfunk auf UKW, Mit-
tionen an. Infotainmentsysteme werden etwa seit dem telwelle und Kurzwelle entwickeln sich weltweit
Jahr 2000 für Fahrzeuge der Luxus- und oberen Mit- mehrere digitale Standards. Sie zeichnen sich durch
telklasse angeboten. Aufgrund der inzwischen gesun- eine verbesserte Klangqualität und zusätzliche Da-
kenen Preise sind sie auch verstärkt in niedrigeren tendienste aus.
Fahrzeugkategorien anzutreffen. Digital Radio
Bild 8.5-22 gibt einen Überblick über die wichtigsten
Marktsegmente im Bereich Infotainment sowie eine Digital Audio Broadcasting (DAB)
Zusammenstellung der wichtigsten Funktionen die in Die Verbreitung von Radioprogrammen über UKW
den einzelnen Segmenten angeboten werden. stößt an ihre Grenzen, da die Frequenzen angesichts
Erwähnenswert ist hierbei die Abgrenzung zwischen der Vielzahl von Veranstaltern knapp werden. Wei-
den ‚geschlossenen Systemen‘ (Segmente 1–3) sowie terhin unterliegen analoge Funksignale unterschiedli-

• Single Tuner Base Radio + Premium Radio + • Single Tuner CE Device Terminal + Base Infotainment +
• ASP • Dual Tuner • Data Tuner • Advanced Media • Dual Tuner • Multiple HMIs
Features

• Segmented Display • Phase Diversity • TFT Display • TFT Display • TFT Touchscreen • Embeded Modem
Main

• USB/iPod • DSP • optional Touchscreen • Single HMI • Dual View • Premium Navigation
• Base BT Functions • Dot Matrix Display • Navigation • BT/Wi-Fi • Run Downloades Apps • e-Call
• Video Decoding • Screen Replication • Mobile Web Browser • ADAS Algorithms
• Smart Phone Nav. • Embeded Nav. opt.

Premium
5 Infotainment
3
Base
Price

Navigation 4 Infotainment

2 Radio
CE Device
1 Terminal
Premium
Radio
Base
Radio
Diversity, Navigation, CE Apps brought Capability Multi user
DSP Video, TFT to the driver to run Apps capability

Feature Content

Traditional Reception & Media Sources, closed systems Dig. Reception Sources & new media, open systems, high
limited focus on integrating CE Devices focus on integrating CE Devices, bring Apps into the vehicle

Bild 8.5-22 Übersicht Infotainmentsegmente


708 8 Elektrik/Elektronik/Software

Freq R
Info Source Channel De- Multiple
Format Decrypt DeMod De- C
Sink Decode Decode Multiplx Access
Spread V

Data to other applications

Bild 8.5-23 Signalpfad bei HD Radio

chen Arten von Störungen wie z.B. Reflektionen, die 1.710 kHz) verwendet. Moduliert wird im Coded Or-
u.a. durch Berge, Gebäude und Witterungseinflüsse thogonal Frequency Division Multiplex (COFDM)-
verursacht werden. DAB ist ein digitales System zur Verfahren. Hierbei wird das kodierte Signal mit einer
terrestrischen Übertragung von Daten aller Art. Es Fehlerkorrektur versehen und dann über mehrere mo-
wurde im Rahmen des Eureka 147 Projektes entwi- dulierte Trägerfrequenzen verteilt gesendet. Das Ver-
ckelt und bietet nahezu CD Qualität, sowie zusätz- fahren sorgt dafür, dass die sonst üblichen Störgeräu-
liche Radio- und Datendienste. Die Codierung der sche und Signalschwankungen, so genannte Kanalfa-
Audiodaten erfolgt über MP2 (DAB), AAC (DAB+) dings und Überlagerungen, nicht mehr auftreten. Der
und AAC bzw. BSAC (DMB). komplette Daten/Signalpfad ist in Bild 8.5-23 gezeigt.
DAB verwendet die folgenden beiden Frequenzbän- Satellite Digital Audio Radio Services (SDARS)
der:
Das digitale Satellitenradio ist in den USA mittler-
1. Das Band III (174 – 240 MHZ) weile sehr erfolgreich. Dem Zuhörer stehen etwa
2. Das L-Band (1.452 – 1.492 MHZ). 150 Kanäle zur Verfügung, angefangen vom Musik-
In Deutschland wird in beiden Frequenzbereichen spartensender über Informationssendungen bis hin zu
gesendet, während in Großbritannien nur im Band III Verkehrsinformationen. Alle Kanäle werden in den
und in Kanada nur im L-Band gesendet wird. Das L- gesamten USA in annähernd CD-Qualität ausge-
Band wird in Deutschland für lokale Ausstrahlungen strahlt. Die Empfänger werden durch Bezahlung
genutzt während das Band III landesweit zu empfan- einer monatlichen Gebühr freigeschaltet. Der Anbie-
gen ist. ter Sirius/XM verwendet ein Hybrid-Übertragungs-
Beim Digitalradio muss der Hörer keine Frequenz system aus Satelliten und terrestrischen Sendern. Das
mehr einstellen. Mehrere Programme, dessen Namen Modulationsverfahren der terrestrischen Transmitter
auf dem Display angezeigt werden, sind in sog. ist COFDM, die Satelliten benutzen QPSK (Quadra-
Ensembles zusammengefasst. Ensembles werden re- ture Phase Shift Keying). Die Satellitenträgerfrequenz
gional unterschiedlich angeboten. Die Rundfunksta- beträgt 2,3 GHz.
tionen strahlen in der Regel programmbegleitende In-
formationen wie z.B. Liedtitel, Komponist oder Al- Digital Radio Mondiale – DRM
bumname aus, die vom Empfänger angezeigt werden Eine interessante Alternative zum konventionellen
können. Die Betriebskosten von DAB sind verglichen Rundfunk ist DRM. Hierbei werden digitale Audio-
mit UKW geringer, obwohl mehr Sender notwendig daten und Informationen über Kurz-, Mittel-, und
sind um eine gleichgroße Fläche abzudecken. Langwelle versendet. Die sehr schmalen Kanalbreiten
Beim Einsatz im Automobilbereich geht der Trend erfordern eine leistungsstarke Komprimierung der
zum Doppeltuner wobei der zweite Tuner folgende Audiodaten. Hierfür wurde der MPEG4 AAC Codec
Funktionen haben kann: in Kombination mit einem Spectral Band Replication
• Aktualisierung der Senderlisten (SBR) Verfahren ausgewählt. SBR ermöglicht eine
• Empfang von Datendiensten außerhalb des aktuel- weitere Datenreduktion um 40 %. Als Modulations-
len Ensembles verfahren wurde ebenfalls das COFDM-Verfahren
• Diversity Empfang (ähnlich wie beim verbreiteten verwendet. Somit ergibt sich eine quasi-UKW Klang-
AM/FM Doppeltuner) qualität mit großer Reichweite. Außerdem lassen sich
Zusatzinformationen wie Programmnamen und Text-
HD Radio meldungen übertragen. DRM wird seit 2003 ausge-
Eine effiziente Möglichkeit, die Klangqualität zu strahlt.
verbessern und gleichzeitig die bestehende FM Infra- Beim etwas neueren DRM+ handelt es sich um eine
struktur zu erhalten ist HD-Radio. Hierbei werden die Weiterentwicklung von DRM, die ebenfalls einen
200 kHz Abstände zwischen den Sendern benutzt, um Übertragungsmodus für das FM-Band vorsieht.
zusätzliche digitale Informationen zu versenden. Das
Verfahren nennt sich In-Band-On-Channel (IBOC) 8.5.4.2.2 Video Broadcasting
und findet in den USA immer mehr Anklang. Es wird Ebenso wie der digitale Radioempfang wird auch der
im FM-Band (88–108 MHz) und AM-Band (520– digitale Fernsehempfang als Funktion in Infotain-
8.5 Funktionsdomänen 709

Europe Korea
DVB-T T-DMB
DVB-H
DVB-SH
DMB-T Japan
ISDB-T (1-Seg)
ISDB-T (Full Seg)
USA
ATSC-M/H
MediaFLO
China
CMMB
DMB-T

South
America Australia
ISDB-T Africa DVB-T
DVB-H DVB-T DVB-H
Bild 8.5-24 Übersicht
digitaler Fernsehstandards

mentsystemen angeboten. Üblicherweise wird dieser kann so den vielfältigen Inhalten bei der Medienüber-
deaktiviert sobald sich das Fahrzeug in Bewegung tragung gerecht werden. Bei Bedarf können mobile
setzt. Wie im Heimbereich gibt es weltweit eine Viel- Endgeräte (z.B. Mobiltelefone) Daten in reduzierter
zahl unterschiedlicher Standards, die in Bild 8.5-24 Qualität mit geringerer Bandbreite empfangen.
dargestellt sind.
8.5.4.3 Medien
Digital Video Broadcasting-Terrestrial (DVB-T)
8.5.4.3.1 Interne Medienquellen
Das im Heimbereich schon sehr weit verbreitete
DVB-T wird zunehmend auch für den digitalen Emp- Aktuelle Infotainmentsystemen werden mit CD oder
fang von Fernsehprogrammen im Fahrzeug genutzt. DVD Laufwerken, teilweise auch mit zusätzlicher
Da DVB-T ursprünglich nicht für bewegte Empfän- Festplatte als Massenspeicher ausgestattet. CD Lauf-
ger entwickelt wurde, wird im Fahrzeug ein (im Ver- werke befinden sich bereits auf dem Rückzug, einer-
gleich zum Heimempfänger) aufwendigerer Dop- seits aus Kostengründen, andererseits weil sie aus
peltuner benötigt. Dieser garantiert einen weitgehend Speicherplatzgründen nicht mehr das bevorzugte Me-
störungsfreien Empfang auch oberhalb von 80 Km/h. dium für die Musikbibliothek sind. Deutlich beliebter
DVB-T arbeitet mit MPEG2 codierten Fernsehsigna- sind hierfür USB Stick und Mediaplayer die noch in
len. Als Modulationsverfahren kommt COFDM zum den nachfolgenden Kapiteln behandelt werden. DVD
Einsatz (siehe auch Kap. 8.5.4.1.1). Der Nachfolge- Laufwerke wurden in Europa und Nordamerika als
standard DVB-T2 zeichnet sich durch eine höhere Ef- Speichermedium für die Navigationskarten verwen-
fizienz aus und verwendet MPEG-4 codierte Signale. det, sind jedoch auch rückläufig und wurden in die-
Eine weitere Variante ist DVB-H, wobei H für sem Bereich von der deutlich günstigeren SD Karte
‚Handheld‘ steht. Es handelt sich um einen Übertra- verdrängt (siehe auch Kap. 8.5.4.1.1). In Asien und
gungsstandard mit dem digitale Multimediadienste Südamerika werden DVD Laufwerke noch etwas
(insb. Fernsehen) über kleine und/oder mobile Geräte länger eingesetzt werden, da hier ein Fokus auf dem
empfangen werden können. Abspielen von Videos liegt. Festplatten mit Kapazitä-
ten von bis zu 80 GB werden verwendet zum Aufbau
Advanced Television Systems Committee (ATSC) einer Musikbibliothek im Fahrzeug sowie dem spei-
Bei ATSC handelt es sich um eine amerikanische Or- chern der Navigationskarten.
ganisation die Standards für digitales Fernsehen fest-
8.5.4.3.2 Connectivity
legt. Sie wurde 1982 gegründet und hat ihren Sitz in
Washington, D.C. Die Bedeutung von Connectivity hat in den letzten
Der ATSC Standard soll das bisherige amerikanische Jahren stark zugenommen. Während Infotainment-
NTSC-Fernsehsystem ersetzen und bietet Vorteile in systeme in der Vergangenheit in erster Linie auf
der Auflösung der Bilder. ATSC unterstützt Bilder im interne Medienquellen zugegriffen haben (siehe Kap.
16 : 9 Format mit bis zu 1920 × 1080 Pixel was in 8.5.4.1.1), gewinnt die Vernetzung mit mobilen
etwa der sechsfachen Auflösung des NTSC Standards Geräten (z.B. USB Stick, MP3-Player, Mobiltelefon)
entspricht. sowie Infrastrukturen außerhalb des Fahrzeuges
zunehmend an Bedeutung. Die Insassen eines Fahr-
Integrated Services Digital Broadcasting – zeuges erwarten inzwischen, dass o.g. mobile Geräte
Terrestrial (ISDB-T) aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik mit
Dieser Standard für digitale Medienübertragung ba- dem Fahrzeug vernetzt werden können, so dass ihre
siert auf MPEG-2 und wurde 1999 in Tokio einge- Funktionen in das Infotainmentsystem des Fahrzeu-
führt. Er erlaubt mehrere Modulationsverfahren und ges integriert sind. Für den Fahrer spielt hier die
710 8 Elektrik/Elektronik/Software

Internet IPv6
Satellite

Wide Area
Network

WLAN
802.16
Local Area
Network
WLAN
802.11
Personal Area
Network

Discrete Short
Range Communications V2V and V2I
Near Field 5.8 GHz allocated by CEPT/ECC
802.11p Communications

Bild 8.5-25 Übersicht Connectivity Technologien

Sicherheit eine große Rolle da aus den zusätzlichen gehend eliminiert. Zwei weitere Leitungen dienen zur
Funktionen keine Ablenkung resultieren darf. Stromversorgung der angeschlossenen Geräte.
Bild 8.5-25 zeigt eine Übersicht der wichtigsten Tech- USB wird in der Unterhaltungselektronik für eine
nologien, die zur Vernetzung innerhalb des Fahrzeu- Vielzahl von Geräten eingesetzt, im Fahrzeug kon-
ges bzw. zur Herstellung einer Verbindung mit einer zentriert sich die Anwendung im Infotainmentbereich
Infrastruktur außerhalb des Fahrzeuges dienen. Diese derzeit auf reine Massenspeicher (USB Sticks),
Technologien werden anschließend näher beschrie- Media Player (z.B. iPOD) sowie Mobiltelefone.
ben.
Bluetooth (BT)
Nomadic Device Connectivity Bluetooth ist ein offener Standard zur drahtlosen
Kommunikation zwischen Desktop- und Laptop-
Hierbei wird eine Verbindung innerhalb des Fahrzeu-
Computern, PDA’s, Mobiltelefonen, Druckern, Scan-
ges zwischen einem sog. ‚Nomadic Device‘ (z.B.
nern und sogar Haushaltsgeräten. Eine weltweite
iPOD, USB Stick, Mobiltelefon, Smartphone etc.)
Kompatibilität ist über die Benutzung des global ver-
und dem Infotainmentsystem hergestellt. Diese Ver-
fügbaren Frequenzbandes von 2,4 GHz gewährleistet.
bindung kann entweder drahtlos oder drahtgebunden
Bluetooth wurde ursprünglich von Ericsson entwi-
erfolgen. Wird eine Verbindung zu einem Mobiltele-
ckelt und nun von der Special Interest Group (SIG)
fon bzw. Smartphone hergestellt, besteht die Mög-
vorangetrieben. Die SIG ist eine Interessengemein-
lichkeit dieses als Zugangspunkt zum Internet zu
schaft von mehr als 8.000 Firmen, die an der Wei-
verwenden.
terentwicklung und Verbreitung der Technologie
Die hierfür derzeit gängigsten Technologien werden
interessiert sind. Sie ist Eigentümer des Bluetooth-
nachfolgend beschrieben.
Warenzeichens und Herausgeber der Bluetooth-Spe-
USB zifikation. Diese beinhaltet den Link Layer und den
Application Layer, diese unterstützen Daten, Sprache
USB ist ein serieller Bus was bedeutet dass die ein- und Applikationen.
zelnen Bits eines Datenpaketes nacheinander übertra- Da verschiedene Anwendungen unterschiedliche An-
gen werden. Hierbei erfolgt die Datenübertragung forderungen haben, wurden diese in sogenannten Pro-
symmetrisch über verdrillte Leitungen. Übertragen filen zusammengefasst, die im Bluetooth Standard
wird das Datensignal auf der einen und das invertierte definiert werden. Die Profile regeln den Austausch
Datensignal auf der anderen Leitung. Durch die Ver- der Daten zwischen den kommunizierenden Blue-
dopplung des Spannungsunterschiedes zwischen den tooth Geräten. Nach dem Aufbau der Bluetooth Ver-
0- und 1-Pegeln werden eingestrahlte Störungen weit- bindung tauschen die Geräte ihre Profile aus und
8.5 Funktionsdomänen 711

Bluetooth Software Stack OSI Referenzmodell

Application Anwendungsschicht

Commands
OBEX

WAP

AT
TCS SDP Darstellungsschicht

RFCOMM

Logic Link Control and Adaption Sitzungsschicht

Host Controller Interface (HCI) Transportschicht

Link Manager Vermittlungsschicht

Baseband / Link Controller Sicherungsschicht


Bild 8.5-26 Vergleich des
BT Funkanbindung Bitübertragungsschicht BT Software Stacks mit dem
OSI Referenzmodell

legen dadurch fest, welche Dienste sie für das jeweils können. D.h. dass Fahrzeuginsassen eine Wi-Fi Ver-
andere Gerät zur Verfügung stellen können bzw. bindung von ihrem Notebook zum Infotainmentsys-
welche Daten und Befehle sie für die Kommunikation tem aufbauen können, worüber wiederum eine Inter-
benötigen. netverbindung aufgebaut werden kann.
Beim Kauf von Geräten muss unbedingt auf die
Kompatibilität der Profile geachtet werden da ansons- SD Memory Card
ten keine fehlerfrei Kommunikation gewährleistet ist.
Die unterstützten Profile werden üblicherweise auf Eine SD Memory Card (Kurzform für Digital Secure
der Verpackung bzw. Bedienungsanleitung der Gerä- Memory Card) ist ein Digitales Speichermedium
te angegeben. was nach dem Prinzip der Flash-Speicherung (Flash-
Die Liste der freigegebenen bzw. in der Entwicklung EEPROM) arbeitet. Die Bezeichnung ‚Secure Digi-
befindlichen Profile ist mittlerweile lang, es wird tal‘ resultiert aus zusätzlich implementierten Hard-
deshalb an dieser Stelle auf eine detaillierte Auflis- ware Funktionen die das sog. Digital Rights Mana-
tung verzichtet. In Bild 8.5-26 ist der für Bluetooth gement‘ (DRM) unterstützen. Hierdurch wird das
notwendige Software Stack im Vergleich zum OSI unrechtmäßige Abspielen geschützter Mediendateien
Referenzmodell dargestellt. verhindert.
SD Karten gibt es in unterschiedlichen Bauformen
Wi-Fi (SDHC, miniSD, microSD) wobei in Infotainmensys-
In einigen Ländern wird Wi-Fi als Synonym für tem üblicherweise SDHC Karten mit maximal 64 GB
WLAN (Wireless Local Area Network) verwendet. Speicherkapazität eingesetzt werden. Sie werden be-
Es handelt sich um einen für Marketingzwecke er- vorzugt zur Speicherung der Navigationskarten ein-
fundenen Kunstbegriff, der auch ein Firmenkonsor- gesetzt und haben in diesem Bereich in den letzten
tium (das Geräte mit Funkschnittstellen zertifiziert) Jahren die CD und DVD verdrängt.
bezeichnet. Diesem gehören mehr als 300 Unterneh- Obwohl heutige Infotainmentsystem bevorzugt USB
men an, die Produkte verschiedener Hersteller auf der Ports im Bereich der Nomadic Device Connectivity
Basis des IEEE-802.11 Standards zertifiziert. Hier- zur Verfügung stellen, haben SD Karten einen we-
durch soll die fehlerfreie Kommunikation zwischen sentlichen Vorteil in der Bauform. Während USB
den Geräten, die das Wi-Fi Logo tragen gewährleistet Sticks je nach Anbringung der Schnittstelle einige
werden. Zentimeter abstehen (was bei der Crashsicherheit ein
Im Infotainmentbereich ist Wi-Fi noch nicht sehr weit Problem darstellen kann) lassen sich SD Karten ein-
verbreitet jedoch zeigen Marktprognosen einen lang- facher im Gerät versenken wobei sie bündig mit der
samen Anstieg. Vorteil gegenüber dem weit verbrei- Frontblende abschließen.
teten Bluetooth 2.0 ist die deutlich höhere Übertra-
Infrastructure Connectivity
gungsgeschwindigkeit, die jedoch vom neuen Blue-
tooth 3.0 Standard auch erreich wird. Im Gegensatz Hierunter versteht man eine drahtlose Datenübertra-
zu Bluetooth gibt es keine definierten Profile zur gung zwischen dem Infotainmentsystem und einer
Regelung der Datenübertragung für die gebräuch- Infrastruktur außerhalb des Fahrzeuges (z.B. Server).
lichsten Anwendungsfälle. Diese Verbindung kann entweder bidirektional (GSM,
Bereits im Fahrzeug erhältlich sind Infotainmentsys- Wi-Fi) oder unidirektional (AM/FM Radio, Digital-
teme die Wi-Fi unterstützen und als Hot-Spot agieren radio, Digitalfernsehen) bestehen.
712 8 Elektrik/Elektronik/Software

Global System for Mobile Communications (GSM) Wertebereich annehmen können. Beispielhaft sei die
Zieleingabe bei der Navigation genannt: die Auswahl
Dieser weit verbreitetet Standard für Mobilfunknetze einer Adresse, bestehend aus Land, dazu passend
wurde in seinen Anfängen hauptsächlich für Telefo- Stadt, Straße und Hausnummer, mit möglichst weni-
nie, inzwischen aber verstärkt für leitungs- und pa- gen Eingaben und zudem tolerant gegen abweichende
ketvermittelte Datenübertragung sowie Kurzmittei- Schreibweisen und Zuordnungen kann durchaus eine
lungen (SMS) genutzt. Es handelt sich um einen Herausforderung sein. Ähnliches kann für die Aus-
Telefonstandard der zweiten Generation (2G), da die wahl eines bestimmten Musiktitels aus einer Auswahl
Übertragung im Gegensatz zur ersten Generation (A-, von einigen tausend auf der Festplatte des ange-
B- und C-Netz) komplett digital erfolgt. In Europa schlossenen iPods gelten.
verwendet der GSM-Standard die Frequenzbereiche Gleichzeitig soll die Bedienung während der Fahrt
900 MHz und 1.800 MHz, in den USA wird der Fre- ohne allzu große Ablenkung des Fahrers möglich
quenzbereich 1.900 MHz verwendet. sein; das setzt eine intuitive und effektive Bediener-
Universal Mobile Telecommunications System führung in Verbindung mit übersichtlicher Bild-
(UMTS) schirmgestaltung und gut zugänglichen Anzeige- und
Bedienelementen voraus.
Hierbei handelt es sich um einen Mobilfunkstandard Außerdem stellt die für den Benutzer sehr sichtbare
der dritten Generation (3G), mit dem im Vergleich zu Benutzerschnittstelle das größte Potential dar, ein
GSM deutlich höhere Datenübertragungsraten mög- Fahrzeug in Punkto Infotainment von anderen zu
lich sind (bis zu 14,4 MBit/s). UMTS ermöglicht unterscheiden. Die Benutzerschnittstelle mit all ihren
erweiterte multimediale Dienste wie z.B. Audio- und Gestaltungsmöglichkeiten wird von den Fahrzeugher-
Videotelefonie, Nachrichtendienste und Internetzu- stellern bewusst zur Unterscheidung zwischen Fahr-
gang. zeugen verschiedener Modelle und Marken herange-
zogen.
Long Term Evolution (LTE)
Bei der Gestaltung der HMI wirken sich beschrän-
Hierunter versteht man einen Mobilfunkstandard, der kend die Kosten aus: hochauflösende Displays, die
als UMTS Nachfolger vom ‚3rd Generation Partner- Rechenleistung zur Erzeugung komplexer graphi-
ship Project‘ (3 GPP) definiert wird. LTE wird übli- scher Animationen mit hohen Bildwiederholfrequen-
cherweise als Mobilfunkstandard der vierten Genera- zen sowie Speicherplatz für unterstützende Daten wie
tion (4 G) angesehen. Bei einer Bandbreite von Kartenmaterial, Coverart oder die Photos der Kontak-
20 MHz sollen Datenraten von bis zu 300 MBit/s im te im Telefonbuch tragen spürbar zu den Gesamtkos-
Downlink und bis zu 75 MBit/s im Uplink erreichbar ten des Systems bei.
sein.
8.5.4.4.1 Anzeigeelemente
8.5.4.4 HMI
Die Anzeigeelemente und die damit verbundenen
Klassisch ist das Autoradio im Centerstack der Vor- Schnittstellenkonzepte wachsen mit der Ausbaustufe
gänger eines modernen Infotainment-Steuergerätes. des Infotainmentsystems.
Während jedoch das Autoradio noch eine Benutzer- Nach wie vor kommen bei einfachen Radios mono-
oberfläche ähnlicher Komplexität wie das in der chrome segmentierte Anzeigen zum Einsatz. Ein- bis
Regel direkt darunter befindliche Klimasteuergerät zweizeilige Displays reichen im einfachsten Falle
aufweist, erfordern erweiterte moderne Infotainment- aus. Sobald jedoch auch Medien aus potentiell vielen
funktionen weitaus mehr an Benutzerinteraktion. Da- vorhandenen Titeln selektiert werden müssen, sind
mit erhält dann ein modernes Infotainmentsteuergerät zur Handhabung der Listen mindestens vier Zeilen
eine graphische Bedienoberfläche mit einem hochauf- erforderlich.
lösenden Farbdisplay sowie dazu passende Eingabe- Mit monochromen Dotmatrixdisplays mit einigen hun-
geräte, entweder einen Touchscreen oder ein Steuer- dert Pixel lassen sich dann auch einfache Graphiken
gerät das es erlaubt, den Cursor auf dem Bildschirm und Symbole sowie unterschiedliche Schriftgrößen
in beiden Achsen zu positionieren. Damit ist dann umsetzen. Frühere Implementationen die mit sol-
auch die Benutzerschnittstelle für Infotainment so chen Displays auch eine einfache Turn-by-Turn Navi-
komplett ausgestattet dass sie durchaus auch die gation umgesetzt haben sind jedoch nicht mehr üb-
Bedienung anderer Fahrzeugfunktionen wie z.B. Kli- lich.
matisierung ersetzen und mit übernehmen kann. Kleine TFT Farbdisplays haben häufig eine QVGA
Die Benutzerschnittstelle (HMI, „Human-Machine (320 × 240) Auflösung und 5 – 7 Zoll Bildschirmdia-
Interface“) für Infotainment hat viele Anforderungen gonale, was durchaus die Umsetzung einer vollwerti-
zu erfüllen. gen GUI (Graphical User Interface) ermöglicht. Bei
Zum einen bedingen es die Funktionen von Infotain- den größeren Bildschirmdiagonalen helfen höhere
ment, dass sehr viele Parameter erreichbar sein müs- Auflösungen für eine klarere Darstellung ohne dass
sen, von denen einige wiederum einen sehr großen einzelne Pixel sichtbar werden – die größten derzeit
8.5 Funktionsdomänen 713

eingesetzten Displays reichen bis zu 12 inch Diago- man beispielsweise die Funktion der Zieleingabe bei
nale und WXGA (1.280 × 800) Auflösung. Größere einem Navigationssystem, so muss das Spracherken-
Bildschirmdiagonalen sind im Fahrzeug räumlich nungssystem in diesem Fall alle in Frage kommenden
kaum unterzubringen, und höhere Auflösung bei glei- Zielorte erkennen können, wobei es sich um einige
cher Diagonale bringt kaum noch sichtbaren Quali- tausend verschiedene Worte handeln kann. Damit
tätsgewinn. wird klar, dass man bei der Spracherkennung zur
Auf Graphikdisplays werden auch Animationen ein- Steuerung eines Navigationssystems nicht mit einem
gesetzt; hier bestimmt die erreichbare Bildwieder- Spracherkennungssystem arbeiten kann, welches die
holfrequenz die Flüssigkeit des Bildes; Frequenzen Erkennung auf der Basis von ganzen Worten durch-
zwischen 4 und 20 fps (frames per second) sind üb- führt. Vielmehr setzt man in diesem Fall heute übli-
lich. cherweise so genannte phonembasierte Spracherken-
nungssysteme ein, die auf der Basis der verschiede-
8.5.4.4.2 Bedienelemente nen lautsprachlichen Einheiten aus denen eine Spra-
che aufgebaut ist, den Phonemen, arbeiten. Die deut-
Verschiedene Bedienelemente werden eingesetzt um
sche Sprache besteht zum Beispiel aus etwa 40 ver-
eine bestimmte Funktion (z.B. „Radio hören“) mit
schiedenen Phonemen. Eine Voraussetzung für den
bestimmten Parametern (Lautstärke, Senderfrequenz)
Einsatz eines phonembasierten Spracherkennungssys-
erreichen zu können.
tems ist, dass für jedes zu erkennende Wort die ent-
Naturgemäß können auf einfachen Displays keine
sprechende Phonemfolge aus der es besteht, die
großen Auswahlmenüs dargestellt werden; deshalb
phonetische Transkription, bekannt ist. Falls sich die
haben solche Geräte in der Regel eine größere Anzahl
vom Spracherkennungssystem zu erkennenden Worte
von Bedienelementen, die direkt einer Funktion
im Laufe der Zeit dynamisch ändern können, wie dies
zugeordnet sind (z.B. Lautstärke, Sendereinstellung,
zum Beispiel bei Telefonbucheinträgen der Fall ist, so
Stationstasten).
muss das System selbstständig in der Lage sein, aus
Mit zunehmender Systemkomplexität würde diese
der geschriebenen Form des zu erkennenden Wortes
Strategie sehr schnell sehr viel dedizierte Bedienele-
die phonetische Transkription zu ermitteln. Dies
mente erforderlich machen – statt dessen werden die
geschieht mittels eines „Grapheme to Phoneme“
Auswahlmöglichkeiten auf der dann größeren Anzei-
(G2P) Konverters.
ge dargestellt und mittels weniger Mehrzweck-Be-
Neben der durch den Funktionsumfang bedingten
dienelemente (Softkeys, Cursortasten, Pointerdevice
Fähigkeit eine große Anzahl verschiedener Worte und
etc.) ausgewählt. Ein berührungsempfindliches Dis-
einen sich dynamisch ändernden Wortschatz erken-
play erlaubt die direkte Wahl der angezeigten Ele-
nen zu können, stellt die automatische Spracher-
mente auf dem Bildschirm.
kennung im Fahrzeug die folgenden generellen An-
Schließlich sind moderne HMIs zunehmend „multi-
forderungen an das verwendete Spracherkennungs-
modal“, d.h. sie erlauben Ein- und Ausgaben mit
system:
verschiedenen redundanten Geräten, je nach Situation
und Präferenz des Benutzers. So können Menupunkte • Robustheit gegenüber einer geräuschvollen Um-
über den Touchscreen oder alternativ über Cursortas- gebung: Die in einem Fahrzeug vorherrschenden
ten am Lenkrad oder ein Pointerdevice in der Mittel- Fahrgeräusche können sich in Abhängigkeit von
konsole angesteuert werden. Die Eingabe z.B. einer verschiedenen Faktoren wie Fahrgeschwindigkeit,
Telefonnummer kann über Auswahl von Zeichen auf Wetterbedingungen, Öffnungszustand der Fenster
dem Bildschirm mittels Pointerdevice, direkt auf usw. stark ändern.
einer Tastatur oder auch in einem Stück als Sprach- • Sprecherunabhängige Spracherkennung und Ab-
eingabe erfolgen. deckung von Dialekten, Einstellbarkeit auf die je-
weilige Landessprache
8.5.4.4.3 Spracherkennung • Guter Sprachdialog: Die Qualität einer Sprachan-
wendung hängt neben der reinen Erkennungsleis-
Die Kommunikation mittels Sprache ist für den
tung des Spracherkenners in sehr hohem Maße
Menschen die natürlichste Form der Kommunikation.
vom guten Design des Sprachdialogs, der soge-
Insbesondere für den Fahrer eines Kraftfahrzeuges
nannten Grammatik, ab. So hat z.B. die Art und
bietet die automatische Spracherkennung daher die
Weise, wie der Dialog im Falle einer Fehlerken-
Möglichkeit bestimmte Funktionen innerhalb des
nung fortfährt einen großen Einfluss auf die vom
Fahrzeuges unter minimaler Ablenkung vom Straßen-
Benutzer „gefühlte“ Qualität der Sprachanwen-
verkehr auszuführen.
dung.
Während der Funktionsumfang und damit auch die
Anzahl der Kommandos, die das Spracherkennungs- Bild 8.5-27 zeigt ein Blockdiagramm eines modernen
system erkennen muss für die Bereiche Klima und Spracherkenners, welcher die oben genannten Anfor-
Audio recht beschränkt ist, ist für die Bereiche Navi- derungen zur Anwendung in einem Kraftfahrzeug er-
gation und Telefon das Gegenteil der Fall. Nimmt füllt.
714 8 Elektrik/Elektronik/Software

Microphone Grammar Audio Speakers


Speech Input Speech Feedback
Noise Input Context dependant PTT Beep
Microphone Array Help Messages
Grammar
G2P Processing
Phoneme Data Input

Signal Processing
Gain Control HMI
FFT/Cepstrum
Recognizer
Spectral Subtraction State Machine
Spectral Normalization Phoneme based Speech Dialogues
Speaker Adaptation PTT Processing
Noise/ Echo Cancellation
Application Interface
Beam Forming

Climate
Navigation Radio Phone Control Bild 8.5-27 Sprach-
erkennung

8.5.4.5 Architektur der Mittelkonsole der Fall ist. Anzeigeelemente müs-


sen vom Fahrer gesehen werden können, ohne dass
8.5.4.5.1 Hardwarearchitektur im Fahrzeug
der Blick weit oder lange von der Straße genommen
Das Infotainment Gesamtsystem im Fahrzeug war wird – das wird am besten im oberen Teil des Cock-
historisch als ein einziges Gerät implementiert: bei pits der Fall sein. Zusammen mit anderen Bauraum-
den ersten Autoradios war außer zu Stromversorgung, beschränkungen im Bereich von Mittelkonsole und
Antennen und Lautsprechern keine weitere Verbin- Cockpit führt dies immer öfter zu einer Trennung
dung zu anderen Geräten gegeben. Eine solche Einge- auch der Anzeige vom eigentlichen Infotainmentsteu-
rätekonstellation findet sich auch heute noch bei ergerät. Solange an die Anzeige nur Zustandsinfor-
Ausstattungen am unteren Ende des Preis- und damit mationen übertragen werden kann dies noch mit
Komplexitätsspektrums. einem CAN-Bus erfolgen. Sobald aber eine hochauf-
Allerdings haben im Laufe der Zeit die wachsenden lösende Graphik vom Steuergerät erzeugt wird ist
Funktionsumfänge zu komplexeren Systemen ge- mehr Bandbreite erforderlich: Bildwiederholfrequenz
führt. (10 – 25 Hz) × Auflösung (400 × 240 bis 1280 ×
Schon bei ansonsten sehr einfachen Systemen verfü- 800 Pixel) × Farbtiefe (16 – 24 Bit/Pixel) ergibt bis zu
gen die Geräte meist über eine Datenverbindung zum über 600 MBit/s Nettodatenraten, die im allgemeinen
Fahrzeug. Hierüber werden Zustandsinformationen durch eine Punkt-zu-Punkt LVDS (Low Voltage Dif-
des Fahrzeuges bereitgestellt, wie z.B. die Geschwin- ferential Signal) Datenverbindung umgesetzt werden.
digkeit für eine geschwindigkeitsabhängige Lautstär- Mit wachsender Funktionalität des Gesamtsystems ist
keeinstellung. Darüber hinaus werden über diese auch die Eingerätelösung für das Infotainment-
Datenverbindung auch im Fahrzeug verteilte Bedien- Steuergerät bei höherwertigen Systemen die Aus-
und Anzeigeelemente angeschlossen (z.B. Bedien- nahme. So werden häufig Zusatzgeräte als Optionen
elemente am Lenkrad oder in der Mittelkonsole, oder angeboten, die dann nur im Bedarfsfall installiert
Anzeige von Infotainmentinformationen im Instru- und mit dem Basisgerät verbunden werden. Solche
mentencluster), sowie im Wartungsfall Diagnoseda- sind heute zum Beispiel CD-Wechsler, TV-Tuner,
ten und Softwareupdates ausgetauscht. Eine solche Rückfahrkamera, digitale Radioempfänger, externe
Datenverbindung wird meist als CAN-Bus ausge- Schnittstellen zum Anschluss von vom Benutzer mit-
führt. Dieser Infotainment-CAN-Bus wird in der gebrachten Geräten wie Telefonen und Audio- oder
Regel von anderen Fahrzeugnetzwerken mit höherer Video-Abspielgeräten. Neben der Forderung, solche
Betriebssicherheitsanforderung zur Karosserie oder zum Teil unterschiedlichen Funktionen als Optionen
Antriebsstrangsteuerung getrennt und nur über ein in unterschiedlichen Märkten anbieten zu können,
Gateway verbunden. führt auch die rasante Entwicklung in der Unterhal-
Im Fahrzeug sind bezüglich der Einbausituation des tungselektronik häufiger dazu, dass neue Peripherie-
Infotainmentsystems besondere Anforderungen zu er- geräte eher als separates Modul angeboten werden,
füllen. So müssen natürlich die Bedienelemente vom als sie effizient in das zentrale Steuergerät integriert
Fahrer und teilweise auch vom Beifahrer leicht zu werden können. Diese externen Geräte müssen so mit
erreichen sein, was im unteren und mittleren Bereich dem zentralen Steuergerät verbunden werden, dass
8.5 Funktionsdomänen 715

AM/FM/HD/RDS-1/TMC

DAB Band III & L


or AM/FM/HD/RDS-1
satellite radio

microphone (2) line audio (2) LVDS Cluster Aux Display


functions:
line audio (2*2) GUI (4) LVDS
Aux A/V-in (2) voice control Driver Main Display
CVBS (2)
audio playback
infotainment CAN Touch Screen
audio broadcast reception
Exterior Camera (4) CVBS (4) video playback
navigation
LVDS 2nd Main Display IR Headphones
nomadic device connectivity
CD IP connectivity
e-call support infotainment CAN Touch Screen
SATA (fix)
mobile applications
DVD rear Rear Main IR (2) Headphones (2)
LVDS panel Display (2)
(de-
hardware: interleaf) Touch Screen (2) IR (2) Remote Control (2)
fix Buttons, Pointer Devices, infotainment CAN
Steering Wheel controls AM/FM radio; dual antenna
HD radio
Satellite radio
DAB radio MOST
nomadic device RDS data tuner
(MSC, iPod, MTP(z)) (user) USB (4) Audio Amplifier (6) or line out
removable keyboard, mouse, Headphone amplifier (1)
game controller GPS
audio power (6) 5.1 Speakers
Gyro
Bluetooth transmitter & audio power (n)
High-end Amplifier
interior camera and antenna
(fix) USB
microphone (3) USB (4)
non-volatile mass storage
SD card reader (1) other audio I/O devices

cellular phone/data modem MOST master


Ethernet CAN (2)
regional, 2.5G/3G/4G) MOST
Ethernet CVBS TV tuner (regional)
WiFi access point
Bluetooth

user phone
2.5G/3G/4G vehicle CAN

link (count)
vehicle interface
alternative link

Bild 8.5-28 Infotainment Fahrzeugarchitektur

sie sowohl von dort gesteuert werden können, als Während optionale, regional unterschiedliche oder
auch Multimediadaten wie Audio oder Video austau- neue Peripheriegeräte meist als externe Module an
schen können. Bild 8.5-28 zeigt ein Beispiel der das Infotainmentsteuergerät angeschlossen werden, so
resultierenden Architektur des Infotainmentsystems wächst dennoch die in das Steuergerät integrierte
im Fahrzeug. Funktionalität stetig. So waren z.B. Bluetooth-Schnitt-
Häufig findet man zur Kommunikation zwischen stelle, Sprachsteuerung oder USB-Schnittstelle an-
Steuergerät und Peripheriegeräten eine Kombination fangs als externe Module implementiert, sind aber
von CAN für Steuerdaten und analogen Schnittstellen mittlerweile im Standardumfang des Infotainment-
für A/V Signale, oder auch einen MOST-Bus. Letzte- steuergerätes enthalten.
rer kann mit einer Bandbreite von 25 – 150 MBit/s
ausreichend viele unkomprimierte Audiosignale über- 8.5.4.5.2 Infotainment-Hardwarearchitekturen
tragen; komprimierte Videoübertragung ist nur be- Innerhalb des Infotainmentsystems existiert immer
schränkt möglich, während unkomprimierte Video- ein zentrales Steuergerät, dass innerhalb des jeweili-
übertragung mit dieser Bandbreite nicht möglich ist. gen Austattungsniveaus die Basisfunktionen imple-
Ein Vorteil der MOST-Technologie ist es, dass neben mentiert, während optionale Funktionen in den peri-
synchroner Übertragung der abgetasteten Audiosigna- pheren Geräten umgesetzt werden.
le auch asynchrone Daten und Steuersignale übertra- Generell ist ein Trend zur Integration von mehr Funk-
gen werden können. Bei den Steuersignalen defi- tionalität in das Infotainment Steuergerät zu erkennen
nieren standardisierte MOST-Funktionsblöcke den – neue Funktionen werden oft erst als separates Gerät
Datenaustausch bis zur Präsentationsebene des OSI umgesetzt, bevor sie dann zum Standard geworden in
Referenzmodells. Dennoch wird Kompatibilität zwi- das Basisgerät mit integriert werden.
schen Geräten verschiedener Automobilhersteller Ebenfalls gibt es einen Trend, Anzeige und Bedien-
wegen Unterschieden in den Funktionsblöcken leider einheiten als externe Geräte an günstigen Positionen
nicht erreicht wird. im Fahrerumfeld zu positionieren, und das Infotain-
Wegen der hohen Kosten und beschränkten Bandbrei- ment Steuergerät als „silver box“ nicht direkt sichtbar
te des MOST-Busses wird derzeit die alternative Ver- zu verbauen.
wendung von Ethernet AVB bis zu 1 GBit/s geprüft. Bild 8.5-29 zeigt einen typischen Aufbau eines Info-
Außerdem wäre für diesen Zweck ein Bus nach tainment Steuergerätes am unteren Ende der Skala,
IEEE1394 „Firewire“ schon seit langem verfügbar; mit integrierten HMI Ein- und Ausgabegeräten.
dieser hat sich aber nicht für die Verwendung im Bild 8.5-30 zeigt zum Vergleich den inneren Aufbau
Kraftfahrzeug durchsetzen können. eines Infotainmentgerätes am oberen Ende der Aus-
716 8 Elektrik/Elektronik/Software

Audio Main Board

AM/FM Antenna Speakers


AM/FM-Tuner Power Amplifier
Audio
Analog Inputs DSP

Bluetooth Antenna
Bluetooth

Battery Switched
Micro- CAN
Vehicle Network
Linear
Regulators
controller Tranceiver
Audio

Front Board
Bezel Buttons
NaviCard
HMI Graphics
Camera/ A/V Decoder
External Video Switch HMI 7’’ Digital TFT
Video Inputs and Decoder WVGA
800 x 480
DVD mech

iPod Touchpanel
USB
SD Graphics and Video Board

Bild 8.5-29 Low End Infotainmentgerät

TMC I2C2
Tuner
ASL
Aux Stereo Input
Tuner High Common Mode
FM tuner
AM/FM tuner Audio
Microphone
Signal Line Driver

L Band Prozessor LF
dual DAB tuner module Power RF
Band III SPI Amplifier LR
RR
satelite radio module
12C1 GPS-
I2S I2S Gyro GPS
I2S I2S Antenna
Rear Connector

Rear Connector

Audio UART UART3


SDIO SD-Card
Apple
Schnittstellen-Baustein

Blue Auth.
Ray DVD HDD CD MLB
?MLB
I2C2 I2C RSE
Bluetooth Sata Sata Sata
SATA ADVx
D/A CVBS Display
LPC Display
UART0 LVDS LVDS RSE
Controller
WiFi UART1 UART Display
UART2
Connector Connector

USB Data Video A/S SW


USB/Ethernet USB

Video inputs BT656 ADV718x CAM1


USB Data USB
USB Data
SPI2 SPI Video TS TS
TV-Tuner
Ethernet Ethernet AVP
Flash
SDIO UART
Wake-up, 8 GByte
Interrupts
A/D, CAN, SPI1 SPI PCIe SPI
vehicle AD’s micro

High Def
switch bezel CAN CAN TJA1041 PCIe
Audio Touch
Touch
Screen I/F
Screen
steering wheel Battery Switched Graphics APIX/ Display
Power Supply LVDS LVDS
Protection Supplies & Video
controls Hauptprozessor
Signal to Memory
& Grafik Controller
DDR2RAM

Frontend BIOS BOOT Flash

Bild 8.5-30 High End Infotainmentgerät


8.5 Funktionsdomänen 717

stattungsskala, wie dort weitgehend üblich mit abge- zunehmend unmöglich. Bild 8.5-31 zeigt beispielhaft
setztem Display und Bedienelementen. eine Infotainment Softwarearchitektur, wie sie in der
Genivi Initiative zugrunde gelegt wird.
8.5.4.5.3 Infotainment-Softwarearchitekturen Ganz neue Herausforderungen and die Software
Auch bei der Softwarearchitektur des Infotainment- werden in naher Zukunft diejenigen Systeme bringen,
Steuergeräts ist eine Entwicklung erkennbar, die den die eine Verbindung zum Internet dazu nutzen, um
rapide wachsenden Funktionalitäten bei high-end ständig neue Dienste in das Fahrzeug zu bringen.
Geräten Rechnung trägt. Dies können zum einen vom Fahrzeughersteller ver-
Einfache Autoradios haben historisch den Großteil mittelte Telematikdienste sein, zum anderen aber
der Signalverarbeitung in Hardware oder fest pro- auch von Drittanbietern im Internet generell angebo-
grammierten Signalprozessoren oder Modulen umge- tene Dienste aller Art sein. All diesen Diensten ge-
setzt. Die Benutzerschnittstelle ist mit der Verwen- meinsam ist, dass das Infotainment-Steuergerät einen
dung von segmentierten oder kleinen Matrix-Displays Dienste-Client enthalten muss, der über eine IP (In-
ebenso wie die verbleibende Steuersoftware relativ ternet Protocol)-Verbindung mit einem Dienste-Ser-
einfach und wird deshalb oft noch mit proprietären ver im Internet kommuniziert. Da aber die angebote-
Betriebssystemen umgesetzt. nen und auch vom Endverbraucher gewünschten
Bei komplexeren Geräten neuerer Bauart sind zum Dienste sehr vielfältig sind und sich sehr schnell ver-
einen weit mehr Funktionen enthalten (z.B. graphi- ändern und weiterentwickeln, kann eine feste Pro-
sche animierte Bedienoberfläche, Navigation, Sprach grammierung der Clients im Infotainment-Steuergerät
ein- und Ausgabe). Zudem sollen immer mehr Funk- keine adäquate Lösung bieten. Vielmehr bietet es sich
tionen über die Lebensdauer des Fahrzeuges upgrade- hier analog zur Entwicklung bei Smartphone „Apps“
fähig bleiben – dies trifft insbesondere für die an, eine standardisierte Laufzeitumgebung für Clients
Schnittstellen-Softwarestacks bei Bluetooth, USB anzubieten, sodass der Endbenutzer jederzeit selbst
und WiFi, die Audio- und Video-Codecs, sowie auf neue oder verbesserte Clients von einem „AppStore“
komplexere Funktionen wie Navigation zu. Damit herunterladen, installieren und ausführen kann (Bild
wird dann die Verwendung kommerzieller Standard- 8.5-32).
betriebssysteme wie QNX, WinCE oder Linux schon Grundsätzlich werden Infotainmentsysteme wie auch
deshalb erforderlich, um auch für die Anwendungen andere Systeme im Fahrzeug zum Serienanlauf voll-
Graphik, Navigation, Spracherkennung, Kommunika- ständig und im Fahrzeugumfeld validiert, so dass von
tion usw. auf für diese Betriebssysteme kommerziell einer bekannten und hohen Qualität des ausgeliefer-
verfügbare Software zurückgreifen zu können. Eine ten Produktes ausgegangen werden kann. Wenn aber
proprietäre Eigenentwicklung des gesamten Software- nun zukünftig vom Endbenutzer Teile der Software
paketes wird aus Kosten- Zeit- und Qualitätsgründen aus möglicherweise unbekannter Quelle nachgeladen

Software Architecture
HMI User Interface
Genivi Extensions

MeeGo IVI Extensions

MeeGo Foundations

Layer HMI Interface HMI Logic


Qt/Flash Qt/Flash

Application
User Interface Services
Layer HMI Abstraction
Graphics API
Layer

Framework/ Application Services


Communikation
D-Bus

Layer Application Framework QT Framework Utilities


AutoSar/
OSEK/
RTOS

Navigation Voice Tuner (...)

Platform Audio Manager Connection Bluetooth Audio Framework


Manager Manager Stack GStreamer

Nomadic Device Configuration/ Diagnostics/ (...)


Graphics/Video Power Manager
Connectivity Persistence Loading

OS Linux and Kernel Drivers


Layer Drivers BSP

Virtualization Virtualization Services


Layer Virtualization Micro OS

Hardware
Boot Loader FPGA Support Hardware Services
Layer

Bild 8.5-31 Infotainment Software Architektur


718 8 Elektrik/Elektronik/Software

Fahrzeug überhaupt nicht sinnvoll umgesetzt wer-


den kann.
1. • Zunehmend sind viele der Funktionen die der
2. Endverbraucher in der Konsumelektronik wahr-
nimmt und dementsprechend auch im Fahrzeug
erwartet, gar nicht mehr in der Gerätetechnik an-
3.
gelegt. Stattdessen sind Funktionen weitgehend
4. durch austauschbare Software im Gerät, und im-
mer mehr auch durch ständig sich erneuernde
Dienste meist von Internetservern bestimmt.
1. Zugriff auf den AppStore Diese beiden Entwicklungen bedingen Folgen, die in
2. Laden der Client Application den nächsten Jahren sehr stark die Entwicklung von
3. Client Application fordert Infotainmentsystemen im Kraftfahrzeug bestimmen
Daten vom Internet Server an werden:
4. Daten werden für den
Benutzer durch die Client • Neue gerätetechnische Entwicklungen werden
Application sichtbar zunehmend den Weg nehmen, wie heute schon bei
Mobiltelefonen sichtbar: anstatt dass es nach eini-
Bild 8.5-32 Prinzip der „Downloadable Apps“ ger Zeit zu einer physischen Übernahme in das
Fahrzeug-Infotainmentsystem kommt, werden viel-
werden können, ergeben sich nachträglich unvorher- mehr die Konsumelektronikgeräte selbst ins Fahr-
sehbare und damit unvalidierbare Konfigurationen. zeug importiert. Die Herausforderung wird es hier
Um hier noch eine akzeptable Gesamtfunktion sicher- sein, die vom Benutzer mitgebrachten Geräte mit
stellen zu können wird versucht, die a priori unbe- ihren Funktionen sinnvoll im Fahrzeugkontext
kannten Applikationen in ihrer Laufzeitumgebung so darzustellen – das Konsumelektronikgerät selbst
zu isolieren, dass sie zwar im Falle ungenügender wird weiterhin für die Benutzung durch den Fah-
Qualität vielleicht selbst nicht einwandfrei funktio- rer weitgehend ungeeignet bleiben.
nieren, in keinem Falle aber die vorinstallierten • „Off-board“ Dienste von Internetservern werden
Grundfunktionen des Gerätes beeinflussen können auch im Fahrzeug angeboten werden müssen. Hier
(„Sandboxing“). Damit wird auch die Gewährleistung wird die Integration des Smartphones mit dem
für solche Fehlfunktionen von der Gewährleistung für Dienste-Client in das Infotainmentsystem mittels
das Grundgerät getrennt und dem jeweiligen Liefe- Terminalmode stattfinden. Auch bleibt aber hier
ranten zugeordnet. die Umsetzung der Clients für das Smartphone in
der Regel ungeeignet für den Fahrer eines Fahr-
8.5.4.6 Ausblick zeuges – Abhilfe werden auf das Fahrerumfeld
Schon immer ist Infotainment im Kraftfahrzeug der abgestimmte Clients sein, die dann entweder wei-
Entwicklung im Konsumerbereich gefolgt – wenn terhin auf einem mitgebrachten Smartphone, oder
eine neue Entwicklung als Consumer Electronics in auch direkt in der Infotainment Headunit ausge-
den Regalen auftauchte und sich durchsetzte, so war führt werden. Wichtig wird es in jedem Fall sein,
diese Entwicklung stets mit einiger Verzögerung auch dass die Bereitstellung der Funktion der Entwick-
im Fahrzeug erhältlich. Diese grundsätzliche Ent- lung der Dienste und Funktionen zeitnah folgen
wicklung wird sich auch in der Zukunft fortsetzen, kann – das bedingt die Notwendigkeit, dem End-
wenn auch in stark beschleunigter Form: verbraucher einen einfachen Weg zur Hand zu ge-
ben, selbst seine Clients im Fahrzeug auszuwählen
• Die Innovationsrate bei Geräten der Konsumelekt-
und aufzufrischen.
ronik steigt stetig an. Während die Zyklen für eine
Technologie früher Jahrzehnte dauerten (z.B. die Literatur
Lebensdauer der analogen Radioübertragung), so
halten heute neue Technologien nur wenige Jahre Layer, David, Digital Radio Takes to the Road, http://www.spec-
trum.ieee.org/WEBONLY/publicfeature/jul01/dig.html
(die Ära der CD im Fahrzeug erreicht bereits jetzt Susen, Axel, Spracherkennung, VDE-Verlag, Februar 1999, ISBN:
ihr Ende), während andere Technologieumsetzun- 3800723239
gen noch nicht einmal die Lebensdauer des Fahr- Labiod, H., Afifi, H., de Santis, C.: Wi-Fi, Bluetooth, Zigbee and
zeuges erreichen (Fahrzeuge mit frühen Navigati- WiMax, Springer Verlag, November 2010
onssystemen sind durchaus noch straßentauglich,
8.5.4.7 Fahrzeugantennen
während die Navigation im Vergleich zu Konsum-
elektronikangeboten deutlich veraltet ist). Wieder Während noch vor wenigen Jahrzehnten Fahrzeuge
andere Geräte (z.B. Mobiltelefone) haben eine so nur zur Versorgung des Radios mit einer Antenne
kurze Lebensdauer, dass eine physische Integra- ausgestattet wurden, hat heutzutage die Anzahl der
tion der Funktion in das Infotainmentsystem im Dienste, die im Fahrzeug empfangen werden, stark zu-
8.5 Funktionsdomänen 719

Tabelle 8.5-3 Im Fahrzeug empfangbare Dienste und ihre Frequenzen


Dienst Frequenzbereich
Langwelle 153 ... 279 kHz
Mittelwelle 531 ... 1.611 kHz
DRM (Digital Radio Mondiale) unterhalb 30 MHz
Ultrakurzwelle 87,5 ... 108 MHz (76 ... 90 MHz in Japan)
Fernsehen, analog oder digital (DVB-T: Digital Video Broadcast 48 ... 68 MHz (Band I)
– terrestrial) 90 … 108 MHz (nur Japan)
174 ... 230 MHz (Band III)
470 ... 850 MHz (Band IV/V)
DAB (Digital Audio Broadcast): digitaler Radioempfang in 174 ... 240 MHz (Band III)
Europa 1.452 ... 1.491 MHz (L-Band)
Funkfernbedienungen für Zentralverriegelung, Standheizung 315 MHz in Nordamerika
und/oder heimisches Garagentor 433 MHz in Europa oder
Aktive Sensoren zur Reifenfülldrucküberwachung 868 MHz, je nach OEM
Telefon 880 ... 960 MHz (GSM900)
824 ... 894 MHz (AMPS USA)
810 ... 956 MHz (PDC Japan)
1.710 ... 1.880 MHz (GSM1800)
1.850 ... 1.990 MHz (PCS USA/Japan)
1.920 ... 2.170 MHz (UMTS)
GPS (Global Positioning System) 1.575,42 MHz
SDARS (Satellite Digital Audio Radio Services): digitales 2.320 ... 2.345 MHz
Satellitenradio in Nordamerika
WLAN, WiFi 2.400 … 2.485 MHz
5.850 … 5.925 MHz
DSRC (Digital Short Range Communication), z.B. ETC 5,8 GHz
(Electronic Toll Collect): elektronische Mauterfassung

genommen. Tabelle 8.5-3 zeigt eine Aufstellung der parallel zur Dipolachse. Der Dipol und seine Ausrich-
in modernen Fahrzeugen vorhandenen Dienste mit tung im Raum wird durch den Pfeil gekennzeichnet.
ihren Frequenzen. Ein Hertzscher Dipol besteht aus einem sehr kurzen,
Die Aufgabe aller Antennen besteht darin, die Ener- sehr dünnen elektrischen Leiter und soll hier stell-
gie aus dem elektromagnetischen Feld einer Frei- vertretend für kurze lineare Antennen, wie sie als
raumwelle in das elektromagnetische Feld einer Kotflügel- oder Dachstabantennen häufig für Rund-
Leitungswelle zu überführen, d.h., die Feldwellenim- funkempfang eingesetzt werden, betrachtet werden.
pedanz des freien Raums von ZFreiraum = 120 π Ω ≈ Sein Richtdiagramm in der horizontalen Ebene (links)
377 Ω [1] auf die Impedanz der im Fahrzeug verleg- über dem Azimutwinkel ist kreisrund, d.h., der Dipol
ten Leitung – typ. 50 Ω, selten 75 Ω – zu transfor- empfängt aus allen Richtungen gleich gut. In der
mieren. Eine wichtige Kenngröße von Antennen für vertikalen Ebene im Bild rechts zeigt sich in der
den Einsatz im Fahrzeug ist daher die Fußpunkt- Längsrichtung des Dipols eine Nullstelle, d.h., aus
impedanz, eine weitere das Richtdiagramm, das die dieser Richtung ist mit einer solchen Antenne kein
Strahlungsleistung Sr einer Antenne in Abhängigkeit Empfang möglich. Da die Ausrichtung eines Auto-
der Raumwinkel angibt. mobils zu einem zu empfangenen terrestrischen
Bild 8.5-33 zeigt links das Richtdiagramm eines Sender im Alltagsbetrieb rein zufällig ist, ist für
vertikal ausgerichteten Hertzschen Dipols [1, 2] der praktisch alle Fahrzeugantennen ein kreisrundes
Länge h, der von einem konstanten Strom I0 durch- Richtdiagramm in der horizontalen Ebene notwendig.
flossen wird, in logarithmischer Darstellung in der Prinzipiell eignen sich daher Dipolantennen bzw.
Ebene senkrecht zur Dipolachse, rechts in der Ebene kurze lineare Antennen oder auch λ/4-Monopole über
720 8 Elektrik/Elektronik/Software

0 dB 0 dB da sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens eine


SR Antenne außerhalb solch einer Mehrwegestörung
– 20 dB – 20 dB
befindet.
Dieses sog. Antennendiversity, das vorwiegend bei
l0 l0 UKW-Rundfunk- und Fernsehempfang zum Einsatz
kommt, lässt sich durch einen Schalter realisieren,
der, sobald die Qualität des Empfangssignals unter
eine definierte Grenze sinkt, eine andere Antenne
zum Empfänger durchschaltet. Dabei sind Zeit-
konstanten von 25 μs für die Erkennung der Störung
Bild 8.5-33 Richtdiagramm eines Hertzschen Dipols und die Umschaltung der Antenne einzuhalten [3],
um zu verhindern, dass die Mehrwegestörung im
Audiosignal hörbar bzw. im Bildsignal sichtbar wird.
leitenden Ebenen besonders gut für Anwendungen im Sinkt die Signalqualität erneut unter die definierte
Automobil. Grenze, wird auf die nächste Antenne umgeschaltet
Eine weitere wichtige Anforderung an Fahrzeugan- usw. Prinzipiell ist die Anzahl der Antennen bei
tennen liegt in der Breitbandigkeit. So lautet z. B. die diesem System nicht beschränkt, praktisch werden
Fußpunktimpedanz Rs einer kurzen linearen Antenne jedoch nicht mehr als vier Antennen im Fahrzeug
mit h Ⰶ λ [1] im Freiraum integriert. Seit einigen Jahren kommen vermehrt sog.
2 2
Phasendiversity-Systeme insbesondere bei UKW-
⎛ hf ⎞
Z Freiraum π ⎛⎜ ⎞⎟ = Z Freiraum π ⎜ ⎟
2 h 2 Rundfunk zum Einsatz. Diese zunächst auf zwei
Rs = (1)
3 ⎝λ⎠ 3 ⎝ c ⎠ Antennen beschränkten Systeme stellen jeder Anten-
ne einen eigenen Empfänger zur Verfügung. Ein Sig-
mit der Wellenlänge λ, der Ausbreitungsgeschwin- nalprozessor verknüpft digital [4] die Empfangssigna-
digkeit c und der Frequenz f. Rs hängt quadratisch le beider Empfänger und kann so das Signal-zu-
von der Frequenz f ab und ist damit nicht breitbandig, Rausch-Verhältnis des resultierenden Signals auch
sondern nur für eine einzige Frequenz an das o.g. außerhalb von Mehrwegeempfangsstörungen um bis
50-Ω-Niveau des Fahrzeugbordnetzes anpassbar. zu 3 dB im Vergleich zur Einzelantenne steigern.
Durch einen nachgeschalteten breitbandigen Verstär- Digitale Rundfunksysteme wie DAB (Digital Audio
ker kann die Bandbreite der Antenne in engen Gren- Broadcast) oder DVB-T (Digital Video Broadcast
zen erhöht werden. Solche Antennenverstärker wer- terrestrial) können durch die speziellen Vorteile ihres
den in direkter Nähe zur Antennenstruktur, z.B. bei digitalen Modulationsverfahrens COFDM (Coded
Stabantennen im Antennenfuß, verbaut. Die Span- Orthogonal Frequency Division Multiplexing) [5] als
nungsversorgung der Verstärker erfolgt über eine sog. Gleichwellennetze aufgebaut werden. Alle Sen-
separat verlegte Leitung oder aber über den Innenlei- der im Sendegebiet der jeweiligen Radiostation ar-
ter der Antennenleitung vom Empfänger aus (sog. beiten bei derselben Frequenz. Es ist sogar vorteilhaft
Phantomspeisung). Gleichung (1) verdeutlicht insbe- und gewünscht, dass am jeweiligen Empfangsort
sondere die Notwendigkeit, für jeden Dienst nach Signale von mehreren Sendern empfangen werden
Tabelle 8.5-3 eine eigene Antenne ins Fahrzeug zu können und sich überlagern. Diese Systeme sind sehr
integrieren. So ist es nicht möglich, über eine einzige unempfindlich gegen Störungen durch Mehrwege-
Antenne alle Dienste bei den verschiedensten Fre- empfang.
quenzen zu empfangen. Neben den bereits erwähnten Stabantennen kommen
Viele Störungen insbesondere im UKW- und TV- für Radio-, Fernseh- und die Funkfernbedienungsan-
Empfang werden durch Mehrwegeausbreitung verur- wendungen im Fahrzeug häufig integrierte Antennen
sacht. Von der Fahrzeugantenne werden neben dem zum Einsatz. Diese bieten den Vorteil, dass das Fahr-
direkten Empfangspfad vom Sender zum Empfänger zeugdesign nicht durch sichtbare Anbauteile einge-
auch Reflektionen beispielsweise an Gebäuden, Ber- schränkt wird, und einen Schutz vor Vandalismus
gen oder Bäumen empfangen, die sich dem Signal sowie einen Komfortgewinn z.B. in Waschanlagen
des direkten Pfades überlagern. Falls die zeitliche oder Garagen mit niedriger Raumhöhe, da das Ab-
Verzögerung des „Umwegs“ gegenüber dem direkten montieren eines Antennenstabes entfällt. Metallische
Pfad gerade einer halben Wellenlänge bei der Nutz- Strukturen, die in dielektrische Teile der Karosserie
frequenz entspricht, interferieren die verschiedenen integriert werden, dienen als passive Strahlerelemen-
Pfade destruktiv und die Empfangsfeldstärke bricht te. Als Dielektrikum wird vorwiegend Glas verwen-
ein. Diese Punkte minimaler Feldstärke sind örtlich det. Somit bieten sich alle nicht versenkbaren Schei-
sehr stark begrenzt. Durch Verwendung mehrerer ben als Träger für Antennenstrukturen an, die z.B.
voneinander unabhängiger Antennen im Fahrzeug durch Silberdruck aufgebracht werden. Häufig ver-
lässt sich die Qualität des Empfangssignals insbeson- wendete Scheiben sind – falls vorhanden – Seiten-
dere in stark gestörten Umgebungen verbessern [3], scheiben im Bereich des Kofferraums oder auch die
8.5 Funktionsdomänen 721

Windschutz- oder die Heckscheibe. In der Heck- schiedensten Ausführungsformen und Designs oder
scheibe kann eine eigene Struktur als optische Erwei- gedruckte Strukturen auf stehenden Platinen in passi-
terung des Heizfeldes der Heckscheibenheizung oder ven Dachantennen durchgesetzt. Unter schwarz
aber das Heizfeld selbst sehr unauffällig als Antenne gefärbten Randbereichen von flach stehenden Schei-
verwendet werden. ben, vorzugsweise Windschutz- oder Heckscheiben,
Bild 8.5-34 zeigt das Heizfeld in einer geöffneten lassen sich Schlitzstrahler nicht sichtbar integrieren.
Heckklappe eines Kompaktklassefahrzeugs mit integ- Weitere Bauräume für integrierte Telefonantennen
rierter Antennenstruktur für Rundfunk und Fernse- bieten ggf. vorhandene Kunststoffkarosserieteile. Da
hen. Bei dieser Lösung deuten nur die senkrechten die zur Verfügung stehenden Bauräume durch die
Leiter (s. Ellipsen) im Heizfeld, die zur Abstimmung Karosserie und das Fahrzeugdesign in ihren Abmes-
der Antenne eingefügt wurden und keine Heizwir- sungen vorgegeben sind, können hier sog. Faltdipo-
kung haben, darauf hin, dass hier Antennen in das le [6] in verschiedensten fahrzeugmodellspezifischen
Fahrzeug integriert worden sind. In der Maximalaus- Ausführungsformen zum Einsatz kommen.
stattung befinden sich je zwei Antennen für UKW Während Rundfunk- und Telefonantennen vorwie-
und Fernsehen in der Heckscheibe. Zusätzlich befin- gend auf Empfang in der horizontalen Ebene hin
den sich die o.g. Verstärker zur Verstärkung der optimiert werden, wird von Empfangsantennen für
empfangenen Signale und zur breitbandigen Anpas- die satellitenbasierten Systeme GPS und SDARS eine
sung der Impedanz an das Fahrzeugbordnetz nicht nahezu halbkugelförmige Richtcharakteristik gefor-
sichtbar hinter den Verkleidungselementen der Heck- dert. An jedem Ort der Welt sind immer mindestens
klappe. Wird wie in Bild 8.5-34 das Heizfeld selbst 4 GPS-Satelliten empfangbar. Diese können relativ
als Antennenstruktur verwendet, ist für einen ein- zum Fahrzeug unter beliebigen Azimut- und Elevati-
wandfreien Empfang durch geeignete elektrische onswinkeln am Himmel positioniert sein. Dahingegen
Filter sicherzustellen, dass die empfangenen, hochfre- lassen sich für den Empfang der Satellitensignale der
quenten Ströme auf dem Heizfeld nicht über die SDARS Betreiber XM Satellite Radio und Sirius
Spannungsversorgung des Heizfeldes gegen die Fahr- Satellite Radio aufgrund der Satellitenbahnen und des
zeugmasse kurzgeschlossen werden, sondern in die auf die USA und Kanada begrenzten Empfangs-
Antennenleitung zum Empfänger eingekoppelt wer- gebiets Vorzugselevationswinkel zwischen 50 und
den können. Die zweite Aufgabe der Filter besteht 70 Grad gegen den Horizont angeben. Dennoch kann
darin, hochfrequente Störungen im Empfangsfre- abhängig von der Fahrzeugausrichtung, dem Fahr-
quenzbereich der Antennen, die sich verursacht durch zeugneigungswinkel und der jeweils aktuellen Satelli-
nicht vollständig entstörte Steuergeräte im Fahrzeug tenposition auch Empfang aus allen anderen Eleva-
in den Bordnetzleitungen ausbreiten, von der Anten- tionswinkeln notwendig sein. Hinzu kommt, dass
nenstruktur zu entkoppeln. insbesondere in urbanen Gebieten, wo durch bauliche
Weitere mögliche Einbauorte für integrierte Anten- Gegebenheiten die Wahrscheinlichkeit einer Abschat-
nen sind – falls im Fahrzeug vorhanden – Kunststoff- tung der Satellitensignale sehr hoch ist, zusätzliche
karosserieteile oder beispielsweise Kunststoffspoiler. terrestrische Antennen zur Verbreitung des Pro-
Diese Integration kann z.B. durch Einclipsen von gramms eingesetzt werden. Die Signale dieser terres-
Drähten, die als Antennenstrukturen fungieren, erfol- trischen Antennen werden unter einem sehr kleinen
gen oder auch durch Verbau von Kunststofffolien, die Elevationswinkel von unter 10° zum Horizont emp-
mit Antennenstrukturen bedruckt sind. fangen. Solche nahezu halbkugelförmigen Richtdia-
Für Telefon- bzw. Datenanwendungen über WiFi/ gramme lassen sich mit Mikrostreifenantennen, sog.
WLAN haben sich kurze lineare Antennen in ver- Patch-Antennen [1], realisieren.

Bild 8.5-34 Blick auf die


geöffnete Heckklappe eines
Kompaktklassefahrzeugs mit
integrierter AM/FM/TV-
Antennenstruktur
722 8 Elektrik/Elektronik/Software

Patch 8.5.5 Fahrerassistenzsysteme


Zuleitung Dielektrikum
Bereits Ende der 1980er Jahre wurden im europä-
ischen Forschungsprogramm PROMETHEUS (PRO-
graMme for a European Traffic with Highest Effi-
Metall
ciency and Unlimited Safety) die Visionen für einen
Straßenverkehr mit höchster Effizienz und mit höchs-
tem Sicherheitsniveau entwickelt [1]. Allerdings
Bild 8.5-35 Schematische Darstellung einer Patch- waren damals die notwendigen Komponenten (wie
Antenne z.B. Sensoren zur Umfelderfassung und kompakte
Hochleistungsrechner) und Systeme nicht verfügbar.
Heute sind sie da und rücken die Vision vom „sensi-
Bild 8.5-35 zeigt die schematische Darstellung einer tiven Fahrzeug“, das sein Umfeld erfasst und aus der
Patch-Antenne. Eine durch seine Abmessungen auf Lage und der Relativgeschwindigkeit von Objekten
die Arbeitsfrequenz abgestimmte metallische Fläche zum eigenen Fahrzeug Warnungen und Fahrzeugein-
(„Patch“) ist auf ein auf der Rückseite ebenfalls griffe zur Vermeidung von Unfällen ableitet, immer
metallisiertes Dielektrikum, z.B. eine Keramik oder näher. Ultraschall – Einparkhilfesysteme erfreuen
ein Platinenmaterial, aufgebracht. Die Kantenlänge sich zunehmender Kundenakzeptanz, ACC (Adaptive
des Patches entspricht in etwa einer halben Wellen- Cruise Control) – Systeme und videobasierte Systeme
länge bei der Arbeitsfrequenz. Als Empfangsantenne sind in der Hochlaufphase. Weitere Sensoren und
verwendet ist es in der Lage, Signale aus nahezu allen Systeme befinden sich in einem raschen Entwick-
Raumwinkeln oberhalb der Ebene des Dielektrikums lungsprozess. Auf ihrer Basis werden neue Funktio-
zu empfangen. Das Patch wird z.B. über eine eben- nen mit hoher Relevanz für Sicherheit und Komfort
falls auf das Dielektrikum aufgebrachte Zuleitung wie entwickelt.
im Bild oder über eine rückseitig angeschlossene Die Wirkung aktueller aktiver und passiver Sicher-
Koaxialleitung kontaktiert. Antennen dieser Art wer- heitssysteme kann weiter verbessert werden, wenn
den meist in Dachantennen, vereinzelt auch unter zuverlässige Informationen über die Umgebung des
Kunststoff oder Glas integriert. Durch die hohe Dämp- Fahrzeugs einbezogen werden. Denn je früher die
fung auf der langen Übertragungsstrecke vom Satelli- Systeme einen möglichen Autounfall erkennen, desto
ten zur Empfangsantenne sind die Empfangsfeldstär- wirkungsvoller können sie ihre Aufgabe erfüllen.
ken an den Satellitenantennen sehr gering. Deshalb Durch frühzeitige Warnung des Fahrers kann eine
ist es notwendig, das Empfangssignal direkt an der Vorverlegung der Fahrerreaktion herbeigeführt wer-
Empfangsantenne mit sehr rauscharmen Vorver- den. Bei „aktiven“ Fahrerassistenzsystemen, bei
stärkern mit Rauschzahlen im Bereich von 0,5 bis denen vom Rechner in die Fahrzeugdynamik einge-
1,5 dB und hohen Verstärkungen von ca. 22 bis griffen wird, erfolgt eine schnellere Fahrzeugreaktion
30 dB zu verstärken, bevor es dem Empfänger zuge- als dies mit der normalen Reaktion des Fahrers auf
führt wird. einen erkannten Gefahrenzustand möglich wäre.

Literatur 8.5.5.1 Unfallursachen


[1] Bächtold, W.: Mikrowellentechnik. Wiesbaden: Vieweg Verlag, und Fahrerassistenzsysteme
1999 zu ihrer Vermeidung
[2] Pozar, D. M.: Microwave and RF Design of Wireless Systems,
John Wiley & Sons, Inc. 2000, ISBN 0-471-32282-2 Nach einem ersten Programm zur Reduzierung der
[3] Lindenmeier, H. K.; Reiter, L. M.; Hopf, J. F.; Schwab, A. J.: Unfalltoten in Europa, USA und Japan im Zeitraum
Multiple FM window antenna system for scanning diversity with
th
an integrated processor. 40 IEEE VTC, S. 1 – 6, Mai 1990. zwischen 2000 und 2010 haben aufgrund der immer
[4] Litva, J.; Lo, T. K.-Y.: Digital Beamforming in Wireless Commu- noch hohen Anzahl der Verkehrstoten (in 2009 welt-
nications. Mobile Communications Series. Artech House Publish- weit mehr als 1,4 Millionen) zahlreiche Regierungen
ers, 1996, ISBN 0890067120. ihre Ziele verschärft, um die Sicherheit auf den Stra-
[5] Scott, J. H.: The how and why of COFDM, EBU Technical
Review, Winter 1998. ßen weiter zu erhöhen. In Europa hat die EU-Kom-
[6] Meinke, H.; Gundlach, F. W.: Taschenbuch der Hochfrequenz- mission sich im Jahr 2010 das Ziel gesetzt, die Ver-
technik, Band 2: Komponenten, 5. überarb. Auflage, Springer- kehrstoten bis 2020 zu halbieren.
Verlag, 2008, ISBN 3-540-54715-0. Entscheidend bei der Entwicklung aktiver und pas-
siver Fahrerassistenzsysteme ist die Fähigkeit des
Fahrzeugs, seine Umgebung wahrzunehmen und zu
interpretieren, gefährliche Situationen vorausschau-
end zu erkennen und den Fahrer bei seinen Fahrma-
növern bestmöglich zu unterstützen. In kritischen
Fahrsituationen entscheiden häufig lediglich Bruch-
8.5 Funktionsdomänen 723

sonstige
9% Auffahrunfall
Spurwechsel 21 %
4%

Spurverlassen
19 % Frontalkollision
8%
Kollision mit Hindernis
1% Bild 8.5-36 Unfälle in
Deutschland innerhalb und
Fußgängerkollision
Kreuzungskollision außerhalb geschlossener
7%
31 %
Ortschaften [14]

teile von Sekunden, ob es zu einem Unfall kommt • Systemen zur Erkennung des Fahrerzustands zur
oder nicht. So haben frühere Studien von Enke [2] adaptiven Gestaltung von Warnungen und Fahr-
ergeben, dass rund 65 Prozent der Auffahrunfälle, zeugeingriffen.
fast ein Drittel der Frontalzusammenstöße und die
Schon während des eingangs erwähnten PROME-
Hälfte der Kreuzungsunfälle gar nicht passieren wür-
THEUS-Programms wurde eine Struktur zur Fahrer-
den, wenn der Fahrer nur eine halbe Sekunde früher
assistenz entwickelt, s. Bild 8.5-37 [1].
reagieren könnte.
Je nach Situation erhält der Fahrer aus den Informa-
Um Schwerpunkte bei der Entwicklung solcher Sys-
tionen dieser Systeme erzeugte, situationsgerechte
teme setzen zu können, die das höchste Unfallver-
Warnungen über den optischen, den akustischen und
meidungspotenzial besitzen, wurde und wird weiter-
den haptischen Sinneskanal. Situationsgerechte Fahr-
hin die Unfallstatistik beobachtet, s. Bild 8.5-36 [14].
zeugeingriffe durch ein Fahrerassistenzsystem müssen
Nach dieser bis heute nahezu unveränderten Statistik
für den Fahrer jederzeit transparent und nachvollzieh-
der BASt (Bundesanstalt für Straßenwesen) aus dem
bar sein, damit er nicht erschrickt und möglicherwei-
Jahre 2004 sind etwa 30 % aller Unfälle durch Auf-
se falsch reagiert. Die Bedienung von Assistenzsys-
fahren und Frontalzusammenstöße zurückzuführen.
temen sollte weitestgehend intuitiv und ohne lange
Weitere 25 % werden durch Spurwechsel und durch
Blickabwendungen möglich sein.
unbeabsichtigtes Verlassen der Fahrspur verursacht.
Durch die ständige Zunahme von Assistenzsystemen
Bei den restlichen handelt es sich um relativ komple-
im Fahrzeug kommt der Ausgestaltung des HMI (Hu-
xe Unfallhergänge wie Kreuzungsunfälle und Kolli-
man Machine Interface bzw. Human Machine Inter-
sionen mit Fußgängern.
action) hohe Bedeutung zu.
8.5.5.2 Fahrerassistenz
8.5.5.3 Fahrzeugkommunikationssysteme
Was versteht man unter Fahrerassistenz? Fahrerassis-
Die rasche Verbreitung von Funksystemen im Heim-
tenzsysteme sollen den Fahrer in allen Verkehrssitu-
und Bürobereich (WLAN = Wireless LAN) macht
ationen unterstützen und ihm ein entspanntes, stress-
solche Systeme auch für die Fahrzeugapplikation
und unfallfreies Fahren ermöglichen. Der Begriff
interessant. Für Fahrzeuganwendungen wurde der Fre-
wird vielfach genutzt. Je nach Anwendung ist zu
quenzbereich zwischen 5,8 und 5,9 GHz reserviert.
unterscheiden zwischen:
Anwendungen liegen im Bereich der Fahrzeug-Fahr-
• Fahrerinformationssystemen; Beispiele: Naviga- zeug-Kommunikation (C2CC = Car to Car Commu-
tion, Verkehrszustandsmeldungen (TMC = Traffic nication) und der Kommunikation zwischen Fahrzeu-
Message Channel, DAB = Digital Audio Broad- gen und Infrastruktureinrichtungen (C2IC). Im Be-
cast, das Mobilfunknetz GSM), reich der Fahrerassistenzsysteme sind neben dem
• Fahrzeugkommunikationssystemen; Beispiele: Sys- Unterhaltungsbereich vor allem Sicherheitsanwen-
teme zur Fahrzeug-Fahrzeug-Kommunikation und dungen von hohem Interesse. Für telematische und
zur Kommunikation zwischen Fahrzeugen und sicherheitskritische Dienste wurde der IEEE802.11p-
Infrastruktureinrichtungen Standard definiert. Die C2CC-Anwendungen liegen
• Fahrerassistenzsystemen zur Fahrzeugstabilisie- im Bereich der Übermittlung von akuten Warnungen
rung; Beispiele: ABS (Antiblockiersystem), ESP bei Unfällen und Staumeldungen. Im C2IC-Bereich
(Elektronisches Stabilisierungs-Programm), ASR wird an Kommunikation mit Ampeln, Verkehrsschil-
(Automatische Schlupfregelung) u.a. dern oder Schranken gedacht, aber auch der Down-
• Prädiktiven Fahrerassistenzsystemen, die mit load von aktuellen Verkehrsinformationen ist vorge-
Hilfe von Rundumsichtsensoren die Fahrzeugum- sehen [4].
gebung abtasten; Beispiele: Einparkhilfe, ACC Hierzu werden zwischen den Fahrzeugen und den
(Adaptive Cruise Control), Spurverlassenswarner, Infrastruktureinrichtungen hochdynamische ad hoc-
724 8 Elektrik/Elektronik/Software

Bewertung und Ableitung situationsgerechter Korrekturen


Erfassung des Erfassung von Fahrsituation Erfassung des
Fahrerzustandes und Fahrumgebung Fahrzeugzustandes

Fahrerassistenz unterstützt Aktionen des Fahrers


Fahrerassistenz interpretiert Reaktionen des Fahrers
Fahrerassistenz weist auf mögliche Fehler hin
Kompetenz und Kontrolle ständig beim Fahrer
Kompatibilität von Aktion und Rückmeldung Bild 8.5-37 Konzept der
Fahrerassistenz [1]

Netzwerke aufgebaut. Voraussetzung für die Schaf- Berechnung von Unfall vermeidenden und Unfall
fung eines solchen Systems ist zunächst ein Standard mildernden Maßnahmen einbezogen werden.
für die Kommunikation, der mittlerweile in einem
Konsortium erarbeitet wurde, dem die großen deut- 8.5.5.5 Prädiktive Fahrerassistenzsysteme
schen Automobilhersteller und Zulieferer angehören. Durch eine elektronische „Rundumsicht“ lassen sich
Ständige Verfügbarkeit des Netzes und die Sicherheit zahlreiche Fahrerassistenzsysteme realisieren. Heute
gegen das Eindringen von Hackern ist von großer sind die für solche Systeme notwendigen elektroni-
Bedeutung. schen Komponenten – hochempfindliche Sensoren
und Hochleistungs-Mikrorechner – verfügbar und
8.5.5.4 Fahrerassistenzsysteme werden ständig weiterentwickelt.
zur Fahrzeugstabilisierung 8.5.5.5.1 Sensoren für Fahrerassistenzsysteme
Ende 2001 wurde eine Erhebung des Statistischen Für die Erkennung von Objekten im Fahrzeugumfeld
Bundesamtes [3] veröffentlicht, aus der hervorgeht, ist eine Reihe von Sensoren erforderlich. Ultraschall-
dass die Häufigkeit für Schleuderunfälle bei Fahrzeu- sensoren befinden sich seit etwa 1993 für Einparkhil-
gen, die mit dem Elektronischen Stabilitäts-Pro- fen im Einsatz, Radarsensoren für den „Intelligenten
gramm (ESP) ausgerüstet sind, signifikant gesunken Tempomaten“ seit 1999/2000. Die Videotechnik hat
ist. Diese, bisher einmalige Einführung eines Fahrer- beim Nachtsichtassistenten Ende 2005 im Fahrzeug-
assistenzsystems zu einem definierten Zeitpunkt, er- Premiumsegment Einzug gehalten zeitgleich mit Mik-
laubte eine klare statistische Zuordnung und bestätig- robolometer-Sensoren zur Erfassung von Wärmebil-
te damit die These, dass Fahrerassistenzsysteme ein dern. Weitere, neue Sensoren befinden sich in Ent-
hohes Unfallvermeidungspotenzial besitzen. Mittler- wicklung. Mit all diesen Sensoren werden Objekte
weile wurde aufgrund des großen Erfolgs dieses Sys- erfasst und ihre Position und Relativgeschwindigkeit
tems von der EU die Einführung von ESP bei allen zum eigenen Fahrzeug errechnet. Hieraus lassen sich
Neufahrzeugen ab 01.11.2014 vorgeschrieben. Gefahrenzustände ermitteln. Die Detektionsbereiche
Zusätzliche Verbesserungen werden von Systemen sind in Bild 8.5-38 dargestellt.
wie PRE-SAFE erreicht, s. Kapitel 9. PRE-SAFE löst
z.B. präventive Sicherheitsmaßnahmen aus, um die 8.5.5.5.2 Ultranahbereichssensoren
Fahrzeuginsassen und Systeme auf einen eventuell in Ultraschalltechnik
bevorstehenden Unfall vorzubereiten (reversible Gurt- Heutige Einparkhilfen nutzen Ultranahbereichs-Sen-
straffer, Lehnen senkrecht stellen, Schiebedach schlie- soren in Ultraschalltechnik. Sie besitzen eine Reich-
ßen, Bremsdruck optimieren). weite von mehr als 2,5 Meter. Die Sensoren werden
Das schon hohe Unfallvermeidungspotenzial ist in im Stoßfänger angebracht. Beim Annähern an ein
noch höherem Maße auf prädiktive Fahrerassistenz- Hindernis erhält der Fahrer eine akustische und/oder
systeme übertragbar, da diese vorausschauend auf optische Anzeige.
eine gefährliche Situation reagieren können. Sie er- Bild 8.5-39 zeigt einen Ultraschallsensor der 4. Ge-
weitern den Detektionshorizont des Fahrzeugs durch neration mit unterschiedlichen Steckerabgängen. Die
Einsatz von Umfeldsensoren. Damit können Objekte Ansteuerelektronik und die Signalauswertung sind im
und Situationen im Umfeld des Fahrzeugs in die Sensor integriert [5, 6].
8.5 Funktionsdomänen 725

77 GHz Long Infrarot Video Ultraschall Video


Range Radar
Fernbereich Nachtsicht- Mittelbereich Ultranahbereich Heckbereich
≥ 150 m bereich ≤ 150 m ≤ 80 m ≤3m
horiz Öffnungs- horiz Öffnungs- horiz Öffnungs- horiz Öffnungs- horiz Öffnungs- Bild 8.5-38 Erfassungs-
winkel: ± 8° winkel: ± 10° winkel: ± 22° winkel: ± 60° winkel: ± 60° bereiche von Umfeld-
Einzelsensor
sensoren

Bild 8.5-39 Ultraschallsensor der 4. Generation Bild 8.5-40 77 GHz-Radar der dritten Generation mit
integriertem Steuergerät. Obere Platine: HF-Teil,
Diese Sensoren wurden baugleich mit einer noch untere Platine: Steuergerät
höheren Reichweite von 4,5 m zum Einsatz in Park-
assistenzsystemen weiterentwickelt. Die Radarkeule mit einem Öffnungswinkel von ± 16°
tastet den Raum vor dem Fahrzeug ab und ermittelt
8.5.5.5.3 Fernbereichsradar 77 GHz den Abstand sowie die Relativgeschwindigkeit zu
Der mehrzielfähige Fernbereichs-Sensor mit einer vorausfahrenden Fahrzeugen. Die Winkelinformation
Reichweite von bis zu 250 m basiert auf dem Radar- gewinnt der Radarsensor aus der Auswertung von
prinzip. Der Begriff Radar steht für Radio Detection vier Radarstrahlen, die von 4 Polyrods (s. obere Pla-
and Ranging. Bild 8.5-40 zeigt den Fernbereichs- tine) emittiert werden. Die zur Vermeidung von
Radarsensor der dritten Generation (Serienanlauf Vereisung heizbare Linse am Vorderteil des Sensors
2007). Er zeichnet sich gegenüber der 1. und 2. Gene- dient zur Bündelung der Radarstrahlen auf den Öff-
ration durch einen größeren Öffnungswinkel der nungswinkel [5 – 8].
Radarkeule aus. Beim Bosch-Radar sind Hochfre-
quenzteil und Steuergerät in einem Gehäuse integriert 8.5.5.5.4 Fernbereichslidar
Beim Hochfrequenzteil wurde die diskrete Gunn- Lidarsensoren für ACC – Anwendung sind in Ja-
Oszillator-Technik durch integrierte MMICs (Mono- pan seit einigen Jahren im Einsatz, wenngleich mit
lithic Microwave Integrated Circuits) in SiGe-Tech- gegenüber Radar reduziertem Leistungsvermögen.
nologie ersetzt. Die führt zu Verbesserungen bei den Lidar (Light Detection and Ranging) benutzt elekt-
Kosten, der Qualität, weiterem Integrationspotenzial romagnetische Wellen im infraroten Wellenlängen-
und den Abmessungen. Die Elektronik greift über bereich zwischen 800 und 1.000 nm. Lidarstrahlen
CAN direkt auf Bremse und Motronic zu. werden durch Nebel und schlechte Sichtverhältnisse,
726 8 Elektrik/Elektronik/Software

vor allem Gischt, mitunter erheblich gedämpft, die


Messreichweite wird dadurch entsprechend reduziert.

8.5.5.5.5 Nahbereichssensoren
Für den Nahbereich kommen neben Ultraschallsenso-
ren mit erweitertem Entfernungsmessbereich (bis
etwa 4,5 m) Short-Range-Radar – Sensoren auf Basis
24 GHz oder Lidar infrage. Sie können einen „virtu-
ellen Sicherheitsgürtel“ um das Fahrzeug bilden, die
beiden letztgenannten mit einer Reichweite bis zu
50 m.
Für das 24 GHz Ultra Wide Band (UWB) liegt seit
Anfang 2005 eine EC-Richtlinie vor, die einen zeit-
lich begrenzten Einsatz bis Mitte 2013 regelt. In Bild 8.5-41 CMOS-Kamera für Automobilanwen-
diesem Zeitraum darf zum Schutz der etablierten dungen
Dienste (Radioastronomie, Erderkundungs-Satelliten-
Service) eine Penetrationsrate von 7 % je europä- 8.5.5.6.1 Einparkhilfe-Systeme
isches Land nicht überschritten werden. Die mögliche Durch konsequentes Windkanal-Design moderner
Nachfolgefrequenz (79 GHz UWB) wurde bereits Fahrzeugkarosserien ist die Sicht beim Rangieren mit-
2004 in Europa ohne Einschränkungen freigegeben. unter stark eingeschränkt. Vorhandene Hindernisse
Bis die 79 GHz-Technik für diese Anwendung serien- rund um das Fahrzeug sind somit häufig nur schlecht
tauglich sein wird, muss der Interimszeitraum mit oder überhaupt nicht erkennbar. So sieht der Durch-
dem 26,5 GHz-Band abgedeckt werden. schnittsfahrer beim Blick durch die Heckscheibe die
Straßenoberfläche erst in einem Abstand von 8 bis
8.5.5.5.6 Video Sensor 10 m. Auch direkt vor dem Fahrzeug befindliche
Hindernisse entziehen sich dem Blick des Fahrers, da
Bild 9.5-41 zeigt eine automobiltaugliche Videoka-
sie durch den Fahrzeugvorbau verdeckt werden.
mera, die speziell für Nahinfrarot-basierte Nacht-
Um die Sicht des Fahrers um eine „elektronische
sichtsysteme entwickelt wurde. Der Kamerakopf ent-
Sicht“ zu erweitern, sind Einparkhilfen auf Basis der
hält den Bildaufnehmer – Chip (Imager) mit der
in Abschnitt 8.5.5.5.2 beschriebenen Ultraschallsen-
Optik und einer Elektronik zur Ansteuerung der
soren sehr gut geeignet. Sie haben mittlerweile hohe
Kamera. Die Bildverarbeitung erfolgt in einem sepa-
Akzeptanz beim Endkunden, dem Fahrzeugführer,
raten Hochleistungsrechner.
gefunden.
Da die Helligkeit von Bildszenen im automotiven
Einparkhilfen überwachen einen Bereich von ca. 20 …
Umfeld nicht kontrollierbar ist, reicht der Dynamik-
250 cm hinter oder vor dem Fahrzeug, s. Bild 8.5-43.
bereich herkömmlicher Bildsensoren (CCD) nicht
Andere Fahrzeuge und Hindernisse werden erkannt und
aus. Es werden daher hochdynamische Imager benö-
durch optische und/oder akustische Mittel angezeigt.
tigt. CMOS-Technologie mit nichtlinearer Lumi-
Es gibt verschiedene Ausführungsformen der Einpark-
nanzkonversion deckt heute einen sehr großen Hel-
hilfe. Einfachere Systeme nutzen 3 bis 4 Sensoren am
ligkeits-Dynamikbereich (bis max. 150 dB) ab und ist
Fahrzeugheck, aufwändigere Lösungen nutzen bis zu
damit für die typischen Automobilanwendungen her-
12 Sensoren am Fahrzeug (6 an der Fahrzeugfront, 6
kömmlichen CCD-Sensoren weit überlegen.
am Fahrzeugheck). Hierbei kann durch Anbringung
Da mit der Videotechnik auch andere, vor allem Tag-
von Sensoren an den Fahrzeugecken auch eine wir-
funktionen realisiert werden, wurde diese Kamera zu
kungsvolle Eckenabsicherung realisiert werden [6].
einer für mehrere Funktionen gleichzeitig nutzbare
„Multipurpose-Kamera weiter entwickelt [27, 28].
Sie besitzt etwa die gleiche Baugröße wie die in Bild
8.5-41 dargestellte Kamera, hat aber einen integrier-
ten Hochleistungsrechner für die Bildauswertung und
Bildverarbeitung integriert. Bild 8.5-42 zeigt diese
Kamera.

8.5.5.6 Fahrerassistenzsysteme
für Komfort und Sicherheit
Auf Basis der beschriebenen einzelnen Sensoren und
deren Kombination (Sensordatenfusion) lässt sich
eine Vielzahl von Fahrerassistenzsystemen realisieren Bild 8.5-42 Multipurpose-Kamera für mehrere Funk-
[28, 29]. tionen gleichzeitig
8.5 Funktionsdomänen 727

Ultraschallsensor

Steuergerät

Display/Lautsprecher

Bild 8.5-43 Einparkhilfe-


system

Neben den Ultraschallsensoren besteht das Gesamt- net: Auch die Längsführung (beschleunigen, Brem-
system noch aus den Komponenten Steuergerät und sen) wird dann vom System übernommen. Autonome
Warnelement. Die Aktivierung des Systems erfolgt Einparksysteme werden dann auch ein vollautomati-
beim Einlegen des Rückwärtsgangs bzw. bei Syste- sches Einparken erlauben, bei denen sich der Fahrer
men mit zusätzlicher Frontabsicherung mit dem außerhalb des Fahrzeugs befindet. Prototypen-Fahr-
Unterschreiten einer Geschwindigkeitsschwelle von zeuge wurden bereits präsentiert [23].
ca. 15 km/h. Während des Betriebes gewährleistet die Von weiterem Nutzen kann die Ultraschallsensorik
Selbsttestfunktionalität eine permanente Überwa- bei Rangieren erbringen. Der Rechner speichert
chung aller Systemkomponenten. während des Fahrens die Lage der Hindernisse rund
Die an der Fahrzeugfront seitlich angebrachten Sen- um das Fahrzeug und warnt den Fahrer wenn z.B. die
soren eignen sich gleichzeitig für die Parklückenver- Gefahr besteht, dass er mit einem Betonpfeiler kolli-
messung. Sie messen während des Vorbeifahrens an diert.
einer Parklücke deren Länge und Tiefe aus und geben
dem Fahrer eine Information ob sie für das eigene 8.5.5.6.2 Adaptive Cruise Control (ACC)
Fahrzeug ausreichend groß ist. Hindernisse in der ACC in seiner heutigen Ausprägung misst den Ab-
Parklücke werden erkannt und dem Fahrer signali- stand zum vorausfahrenden Fahrzeug und regelt den
siert. Sicherheitsabstand zum Vordermann. Bild 8.5-44
In einem zweiten Schritt errechnet das System aus zeigt die prinzipielle Funktion des ACC.
den Signalen der beiden seitlich angebrachter Ultra- Bei freier Fahrbahn fährt das Fahrzeug mit der vor-
schallsensoren eine optimalen Einparktrajektorie. Der gewählten Geschwindigkeit (Tempomat-Modus, Bild
Fahrer erhält Hinweise zum optimalen Einparken 8.5-44, oben). Bei Erfassung eines vorausfahrenden
über ein Display im Kombiinstrument. Fahrzeugs passt ACC die Fahrgeschwindigkeit auto-
Der dritte Schritt wurde mit sog. Aktiven Einparksys- matisch an und folgt im festgelegten Sicherheitsab-
temen gegangen. Sie interagieren direkt mit dem stand (Bild 8.5-44, Mitte).
Fahrzeug in der Art, dass das System das Fahrzeug in Die gesetzte Wunschgeschwindigkeit und der Sicher-
die Parklücke lenkt während der Fahrer nur noch die heitsabstand werden durch Eingriff in Gas und Brem-
Kontrolle über die Längsführung des Fahrzeugs über- se eingehalten. Bei zu hoher Annäherungsgeschwin-
nehmen muss (Semiautonomer Parkassistent). digkeit wird der Fahrer gewarnt.
Der vierte Schritt, die Weiterentwicklung zum vollau- Verlässt das langsamer vorausfahrende Fahrzeug die
tomatischen Einparkassistenten, ist klar vorgezeich- eigene Spur (Bild 8.5-44, unten) so beschleunigt das

Bild 8.5-44 Funktions-


weise des ACC-Systems
728 8 Elektrik/Elektronik/Software

eigene Fahrzeug wieder auf die zuvor eingestellte 60


Wunschgeschwindigkeit. %
50
Um Kurvenfahrten mit zu hoher Geschwindigkeit
auszuschließen, werden zusätzlich die Signale der 40
ESP-Sensorik einbezogen. ACC reduziert dann auto-
matisch die Geschwindigkeit. Das ACC-System kann 30

vom Fahrer jederzeit durch Betätigung des Gaspedals 20


überstimmt oder durch ein kurzes Antippen des
Bremspedals abgeschaltet werden [9]. ACC in der 10

heutigen Ausprägung funktioniert bei Geschwindig- 0


keiten oberhalb 30 km/h bis etwa 200 km/h. 0 ≤ BV < 2 2 ≤ BV < 4 4 ≤ BV < 6 6 ≤ BV < 8 8 ≤ BV < 10
Die nächste Stufe der Funktionserweiterung ist mit Bremsverzögerung [m/sec2]

der Funktion ACCplus in 2006 in Serie eingeführt.


Diese Funktion erlaubt es, das Fahrzeug bis zum Bild 8.5-45 Bremsverhalten bei Unfällen
Stillstand abzubremsen.
Ein weiterer Entwicklungsschritt wurde mit der Funk- Eine echte Notbremsung erfolgt nur in etwa 2 % aller
tionserweiterung Staufolgefahren (Low Speed Fol- Fahrzeug-Fahrzeug-Unfälle bzw. in 45 % der Unfälle,
lowing, LSF) beschritten, bei der eine Fusion der Da- bei denen zu zaghaft gebremst wurde (Bremsverzöge-
ten des Long Range Radar und eines Mittelbereichs- rung zwischen 2 und 8 m/sec2). In nahezu der Hälfte
sensors oder eines Nahbereichssensors vorgenommen aller Kollisionen wird überhaupt nicht oder nur sehr
wurde. Die Überlappung der Bereiche der einzelnen zaghaft gebremst (Bremsverzögerung < 2 m/s2) ge-
Sensortypen gestattet eine Steigerung der Detektions- bremst. Diese Analyse bestätigt, dass prädiktive Fah-
zuverlässigkeit. Diese Funktion erlaubt es, das Fahr- rerassistenzsysteme einen hohen Beitrag zur Unfall-
zeug bis zum Stillstand abzubremsen aber nach dem vermeidung und Unfallfolgenmilderung leisten kön-
Abbremsen des Fahrzeugs in den Stillstand reicht es nen, wenn es gelingt, mit ihnen das Bremsverhalten
aus, beim wieder Anfahren das Gaspedal zu betätigen des Fahrers zu unterstützen, zu beschleunigen oder
um ACC bei freier Fahrt wieder zu aktivieren. durch einen Rechnereingriff vornehmen zu lassen.
In einem noch weiteren Entwicklungsschritt wurde der Für die Weiterentwicklung von prädiktiven Sicher-
Funktionsumfang auf ACC FSR (Full Speed Range) heitssystemen wurde schrittweise vorgegangen:
erweitert. Nach dem Abbremsen des Fahrzeugs in den • 1. Stufe: Unterstützung bei der optimalen Voll-
Stillstand fährt es innerhalb eines vorgegebenen Zeit- bremsung
intervalls selbständig wieder an und nimmt damit dem In der ersten Stufe bereitet das System die Brems-
Fahrer das lästige Stop- and Go-Fahren im Kolonnen- anlage auf eine mögliche Notbremsung vor. In un-
verkehr ab. Durch Kombination von ACC FSR mit fallkritischen Situationen baut es dazu Brems-
einer Videosensorik wird es dann wegen der Möglich- druck auf, legt die Bremsbeläge unmerklich an die
keit, Objekte zu klassifizieren, möglich sein, eine Scheiben an und passt den hydraulischen Brems-
vollständige Längsführung in allen Geschwindigkeits- assistenten an. Der Fahrer gewinnt so wichtige
bereichen und auch im Stadtverkehr vorzunehmen. Sekundenbruchteile bis die volle Bremswirkung
eintritt. Macht er nun eine Notbremsung, erhält er
8.5.5.6.3 Prädiktive Sicherheitssysteme die schnellstmögliche Bremsreaktion bei optima-
(Predictive Safety Systems, PSS) len Verzögerungswerten und damit den kürzest-
Das heutige ACC ist als Komfortfunktion ausgelegt, möglichen Anhalteweg. Kommt es zu einem Un-
das den Fahrer bei seiner Arbeit entlastet. Von 2005 fall, kann das System die Folgen mildern und da-
an wurde ACC als Bestandteil des „Predictive Safety bei auch Leben retten.
Systems“ zum Sicherheitssystem erweitert. In ungefähr der Hälfte aller Kollisionen prallen
Da in 68 % aller Auffahrunfälle Unachtsamkeit die die Fahrer ungebremst auf das Hindernis auf. Für
Ursache für den Unfall ist, besitzt PSS ein hohes Un- diese Art von Unfällen werden die zwei Folgege-
fallvermeidungspotenzial. In weiteren 11 % kommt nerationen des Predictive Safety Systems entwi-
zur Unaufmerksamkeit noch zu dichtes Auffahren ckelt. Serieneinführung erfolgte in 2005.
hinzu, in 9 % aller Auffahrunfälle ist zu dichtes Auf- • 2. Stufe: Warnung bei drohenden Auffahrunfällen
fahren die alleinige Ursache [11]. Diesem hohen Das Predictive Safety System der 2. Generation
Anteil an Auffahrunfällen kann durch prädiktive Fah- bereitet nicht nur die Bremsanlage vor, es warnt
rerassistenzsysteme zur Längsführung entgegenge- den Fahrer zudem rechtzeitig vor kritischen Ver-
wirkt werden, den beiden letztgenannten bereits kehrssituationen und kann damit in vielen Fällen
durch die normale ACC-Funktion. Unfälle verhindern. Dazu warnt das System op-
Bild 8.5-45 zeigt eine Analyse des Bremsverhaltens tisch und akustisch und löst einen kurzen, starken
bei Unfällen [12], die später durch eine Analyse auf Bremsruck aus wenn der Fahrer nicht auf die
Basis der GIDAS-Datenbank aktualisiert wurde [30]. Warnung reagiert hat. Wie Fahrerstudien gezeigt
8.5 Funktionsdomänen 729

haben, lenkt eine solche kinästhetische Warnung Rückfahr- und Manövrierhilfen


die Aufmerksamkeit des Fahrers mit der kürzesten Einfache Kameras für Rückfahr- und Rangiersysteme
Reaktionszeit auf das Fahrgeschehen. Alternativ sind vor allem in japanischen Fahrzeugen schon seit
oder zusätzlich kann das System den Fahrer durch geraumer Zeit zu finden. Solche Systeme zeigen dem
ein kurzes Anziehen der Sicherheitsgurte alarmie- Fahrer das Bild der Videokamera auf einem Bild-
ren. Durch diese Systemausprägung lassen sich schirm in der Mittelkonsole. Erste Systeme besitzen
somit zusätzlich zu den Unfallsituationen, in de- eine starke Bildverzerrung des Weitwinkel-Objektivs,
nen die 1. Stufe wirkt, auch die, in Bild 8.5-45 was die Abschätzung zu Hindernissen stark erschwert
dargestellten Fälle adressieren, bei denen haupt- hat. Mittlerweile werden die Kamerabilder entzerrt
sächlich wegen Unaufmerksamkeit gar nicht oder und z.T. wird auch Zusatzinformation, z.B. Entfer-
nur mit geringer Bremsverzögerung gebremst nungsmarkierungen zum besseren Abschätzen der
wird. Die Serieneinführung ist Ende 2006 erfolgt. Entfernung oder die aus dem momentanen Lenkwin-
• 3. Stufe: Bremsung und Notbremsung bei unver- kel errechnete Trajektorie beim Zurücksetzen des
meidbaren Kollisionen Fahrzeugs dargestellt.
Hat der Fahrer auf diese Warnung immer noch Bild 8.5-46 zeigt ein Beispiel.
nicht reagiert, so beginnt das System mit mittlerer
Bremskraft zu bremsen. Bei immer noch ausblei-
bendem Eingriff des Fahrers in die Bremse ver-
stärkt das System die Bremskraft weiter. Erst
dann, wenn das System erkennt, dass eine Kolli-
sion mit dem vorausfahrenden Fahrzeug nicht
mehr vermeidbar ist, wird eine automatische Not-
bremsung mit maximaler Fahrzeugverzögerung
ausgelöst. Damit wird die Schwere des Unfalls re-
duziert. Die automatische Steuerung der Fahr-
zeugfunktion verlangt eine sehr hohe Sicherheit
bei der Erkennung von Objekten und der Abschät-
zung des Unfallrisikos, beispielsweise durch Kom-
bination der Radarsensorik mit Videosensoren zur
Objektklassifizierung unterstützen [10]. Die durch Bild 8.5-46 Bild einer Rückfahrkamera mit Hilfs-
das Wiener Weltabkommen von 1968 auferlegten linien und Entfernungsangaben
Beschränkungen für den Einsatz solcher Systeme
im öffentlichen Straßenverkehr werden momentan Seit kurzem werden von verschiedenen Fahrzeugher-
innerhalb der EU-Mitgliedstaaten heftig diskutiert stellern auch videobasierte Manövrierhilfen angebo-
mit dem Ziel, Rechnereingriffe in Situationen, in ten. Ein System, der „Side-View-Assistent“ unter-
denen der Fahrer aufgrund seiner langsamen Re- stützt den Fahrer beim Ausfahren aus engen Einfahr-
aktionsfähigkeit selbst nicht mehr reagieren kann, ten. Eine Kamera ist hinter 2 um 45° gegen die Fahr-
auch gegen den Fahrerwillen zuzulassen. zeugachse gekippte Spiegel angeordnet und gestattet
den Blick nach rechts und nach links. Bild 8.5-47
8.5.5.6.4 Bildgebende Video Systeme zeigt den Blick auf das Display [24]. In der Mitte
Die Videotechnik kam zunächst bei bildgebenden unten ist der Blickbereich dargestellt.
Assistenzsystemen zum Einsatz wurde dann aber Das „Top-View-System gestattet gar einen Blick auf
rasch zu warnenden Systemen weiterentwickelt. das eigene Fahrzeug und die Umgebung aus der Vo-

Bild 8.5-47 Side-View-


Assistent
730 8 Elektrik/Elektronik/Software

Windschutzscheibe

Kamera ECU
HMI
HMI

Kamera ECU
IR Fahrzeug
Externe Kamera
Infrarot-Scheinwerfer

Bild 8.5-48 Nahinfrarotsystem (links) und Ferninfrarotsystem (rechts)

gelperspektive. Hierzu werden die Bilder von 4 Ultra- • Nahinfrarot (NIR) Systeme
Weitwinkelkameras zu einem 360°-Rundumsichtbild Nahinfrarotsysteme verwenden Infrarotstrahlung
verrechnet. im nahen Spektralbereich zwischen 800 nm und
1.000 nm, nahe dem sichtbaren Spektrum. Da Ge-
Nachtsichtsysteme
genstände keine Strahlung in diesem Wellenlän-
Systeme zur Verbesserung der Nachtsicht können genbereich aussenden, müssen sie mit speziellen
einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion von Unfäl- Scheinwerfern bestrahlt werden, damit sie von
len leisten, da sich fast 50 % aller tödlichen Unfälle einer infrarotempfindlichen Videokamera aufge-
bei Nacht ereignen obwohl nur rund ein Fünftel aller nommen werden können. Bildsensoren aus Silizi-
Fahrten bei Nacht stattfinden [14]. Neben schlechten um sind in diesem Wellenlängenbereich sensibel
Wetterverhältnissen kommt beschränkte Sicht bei und damit für Taganwendungen ebenso geeignet
Nacht vor allem bei Gegenverkehr vor. Es sind be- wie für Nachtsichtsysteme.
reits Scheinwerfer in Serie, die ihre Lichtverteilung Halogenlampen für Automobilscheinwerfer besit-
an bestimmte Verkehrsverhältnisse anpassen, sie kön- zen einen hohen Infrarotanteil, der von der Grenze
nen jedoch das Problem der Blendung, von der vor- des sichtbaren Spektrums (380 – 780 nm) bis zu
nehmlich ältere Fahrer betroffen sind, nicht eliminie- Wellenlängen jenseits 2.000 nm reicht, mit einem
ren. Maximum zwischen 900 and 1.000 nm. In Praxis
Derzeit sind zwei verschiedene Verfahren zur Nacht- werden zur Realisierung des NIR-Systems zusätz-
sichtverbesserung in Serie, nämlich ferninfrarot liche IR-Leuchtmodule in die Frontscheinwerfer
(FIR)-basierte Systeme und nahinfrarot (NIR)-ba- integriert. Durch die Nähe des NIR-Spektrums
sierte Systeme. Bild 8.5-48 zeigt den prinzipiellen zum sichtbaren Spektrum reflektieren natürliche
Unterschied zwischen den beiden Verfahren [15]. Objekte NIR ähnlich wie sichtbares Licht, d.h. das
• Ferninfrarot (FIR) Systeme Bild gleicht weitgehend dem normalen Sehein-
FIR-Nachtsicht-Verbesserungssysteme empfangen druck bei Fernlicht und erscheint dem Fahrer ver-
Wärmestrahlung im sog. „fernen“ Infrarot-Wellen- traut.
längenbereich zwischen 7 und 12 μm, die von Ge- Um ein kontrastreiches, brillantes Bild zu erhalten
genständen ausgestrahlt wird. Es handelt sich um und um Objekte gut erkennen zu können, wird bei
passive Systeme, die keine zusätzlichen Strahlungs- hochwertigen Systemen das Videobild nachbear-
quellen zur Beleuchtung der Objekte benötigen. beitet. Damit können Fußgänger in einer Entfer-
Die pyroelektrische Wärmebildkamera oder Mik- nung von bis zu 150 m sicher detektiert werden.
robolometerkamera zur Aufnahme des Wärmebil- Heute verfügbare Videosensoren haben eine Auf-
des ist nur im oben angegebenen Wellenlängenbe- lösung von 640 × 480 Bildpunkten und mehr.
reich sensibel. Sie benötigen eine Temperatur- Bild 8.5-49 zeigt die Ansichten eines NIR-
regelung. Da Windschutzscheibenglas diese Wel- Systems (links) und eines FIR-Systems (rechts).
lenlängen nicht durchlässt, muss die Kamera im Im linken Bild ist deutlich zu erkennen, dass nur
Außenbereich des Fahrzeugs verbaut werden. Die Objekte erkennbar sind, die von den IR-Schein-
Auflösung aktuell verfügbarer Kameras reicht bis werfern angestrahlt werden. Das Bild erscheint
VGA (640 × 480 Bildpunkte). Die Signale der dem Betrachter so vertraut wie ein Schwarzweiß-
Kamera werden über ein Steuergerät (ECU) auf Fernsehbild. Spurmarkierungen zeichnen sich im
ein Display (HMI) gegeben. Bild deutlich ab.
Warme Gegenstände zeichnen sich im Bild als Beim rechten FIR-Bild fällt vor allem die große
helle Konturen im dunklen (kälteren) Umfeld ab. Reichweite auf. Es werden alle Gegenstände er-
Die Bilddarstellung ist jedoch für den Fahrer eher fasst, deren Temperatur höher als die Umgebungs-
ungewohnt, da das Erscheinungsbild nicht dem temperatur ist. Spurmarkierungen sind hingegen
eines normalen Reflexionsbildes entspricht. Nach- nur andeutungsweise sichtbar. Ein Vergleich der
teilig ist auch, dass sich Objekte, bei tiefen Au- Eigenschaften der beiden Systeme ist in [15 – 17]
ßentemperaturen kontrastreich, bei warmem Um- und [19 – 20] zu finden und weist Vorteile für das
feld hingegen nur noch schwach abzeichnen. NIR-System auf.
8.5 Funktionsdomänen 731

Bild 8.5-49 Erscheinungsbild eines NIR-Systems


(oben) und eines FIR-Systems (unten) Bild 8.5-50 Betriebsmodi des Kombiinstruments,
oben: Tachometer-Anzeige, unten: Nachtsicht-Modus
• Darstellung von Nachtsichtinformation
Das Kamerabild kann an verschiedenen Orten im 8.5.5.6.5 Videosysteme mit Bildverarbeitung
Fahrzeug platziert werden, nämlich in der Wind- Während die bisher vorgestellten videobasierten Sys-
schutzscheibe als Head-up Display (HUD), in der teme entweder eine direkte Bilddarstellung oder
Mittelkonsole oder im Kombiinstrument. Wissen- eine Bilddarstellung mit vorheriger Bildbearbeitung
schaftler der Universitäten Berlin und Chemnitz durchführen, benötigen anspruchsvollere Fahrerassis-
haben in einer Studie [21] festgestellt, dass das
tenzsysteme auf Basis der oben beschriebenen Video-
Kombiinstrument vom Endverbraucher am besten
technik einen leistungsfähigen Rechner zur Bildver-
akzeptiert wird. Dieser Einbauort wurde bei der S-
arbeitung. Bild 8.5-51 zeigt den prinzipiellen Aufbau
Klasse (Einführung in 2005) gewählt. Bild 8.5-50 eines solchen Videosystems.
zeigt die beiden Betriebsmodi.
Die im Bild aufgelisteten Punkte zeigen beispielhaft
Im Nachtsichtmodus wird die Geschwindigkeitsan- auf, welche Informationen von einem Bildverarbei-
zeige in Form eines horizontalen Balkens realisiert. tungssystem extrahiert werden können. Das Video-

Bildaufnehmer Bildverarbeitung Kommunikation/Aktorik

Kamera ECU Bus HMI

Umgebungsbild
Eigenposition
in der Fahrbahn,
Fahrbahnkrümmung,
Abstand zu Objekten,
relative Geschwindig-
keit von Objekten,
Objektklassifikation,
Verkehrszeichen Beispiel:
Fahrerinformation
• optisch
• akustisch
Umweltmodell
• haptisch

Bild 8.5-51 Prinzip eines Videosystems mit Funktionsbeispielen


732 8 Elektrik/Elektronik/Software

system ist i.a. multifunktional als Plattform ausgelegt,


d.h. mit einer Kamera kann eine Vielzahl von war-
nenden und Fahrzeug eingreifenden Funktionen reali-
siert werden. Die extrahierten Bildmerkmale werden
in Form von Objektlisten über einen Datenbus ande-
ren Komponenten im Fahrzeug zur Verfügung ge-
stellt. Im gezeichneten Beispiel wird die vom Bild-
verarbeitungsrechner erkannte und als solches inter-
pretierte Geschwindigkeitsbeschränkung vom Kom-
biinstrument übernommen und als Symbol im Gra-
phikdisplay des Kombiinstruments angezeigt. Beach-
tet der Fahrer die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht,
so warnt ihn das System zusätzlich akustisch oder
haptisch, beispielsweise durch Erschweren der Gas- Bild 8.5-52 Darstellung einer Warnung vor Fußgän-
pedalbetätigung [10]. gern im Head-up Display [24]
Auf Basis dieser Komponenten und Informationen
sind anzeigende, warnende und Fahrzeug eingreifen-
de Funktionen möglich. Die Frontkamera kann neben warnt, wenn die Gefahr besteht, dass eine Begren-
einer rein anzeigenden Nachtsichtfunktion andere zungslinie überfahren wird, ohne dass der Blinker
Funktionen wie z.B. Spurerkennung mit Spurverlas- gesetzt wurde.
senswarnung oder eine Verkehrszeichenerkennung Systeme zur Spurverlassenswarnung (LDW = Lane
einschließen. Daneben kann sie, wie oben beschrie- Departure Warning) können sowohl in Mono- wie
ben, als Unterstützung des ACC-Sensors dienen, um auch in Stereotechnik aufgebaut werden. Die Reich-
neben der Entfernungsmessung eine Objekterkennung weite eines Monosystems liegt, bei VGA-Auflösung
und -klassifikation durchzuführen. des Imagers, bei guten Wetterverhältnissen und guten
Spurmarkierungen im Bereich knapp über 40 m, beim
Nachtsichtsysteme der 2. Generation
Stereosystem sind es etwa 10 – 20 % mehr. Bis-
In Weiterentwicklung dieser ersten Generation von her konnten sich nur Monosysteme am Markt etablie-
Nachtsichtsystemen werden neuerdings Bildverarbei- ren. Bild 8.5-53 zeigt das Prinzip der Fahrspurerken-
tungsverfahren für die Erkennung von Fußgängern nung.
eingesetzt. Der Fußgänger wird durch die typische Wie in Bild 8.5-53 dargestellt, sucht das Bildverar-
Kopf-Schulterpartie sicher erkannt und der Fahrer beitungssystem nach Fahrspurmarkierungen vor dem
wird situationsgerecht durch eine optische Anzeige Fahrzeug, indem Kontrastunterschiede zwischen As-
und/oder einen Warnton gewarnt. Durch weitere phalt und Linie ausgewertet werden. Lücken in den
Objektklassifizierungsalgorithmen kann die Warnung Spurmarkierungen werden durch Kalman-Filterung
auch auf Tiere und andere Objekte erweitert werden. überbrückt. Das obere Bild zeigt das Kamera-Bild mit
Für eine Warnung ist es dann natürlich wichtig zu Suchlinien (siehe Detail im zweiten Bild von oben)
wissen, ob sich das erkannte Objekt auf oder neben und die Kreuze im oberen Bild markieren den Spur-
dem eigenen Fahrstreifen befindet, was die NIR- verlauf, der vom Bildverarbeitungsrechner berechnet
Technik wiederum überlegen macht. Solche System- wird. Um eine Linie zu detektieren, wird das Lumi-
ausprägungen beschleunigen die Erkennung relevan- nanzsignal innerhalb der Suchlinie analysiert. Durch
ter Objekte und wirken einer eventuellen, längeren Hochpassfilterung werden die Grenzen der Fahr-
Blickabwendung zum Ablesen des Bildschirms ent- spurmarkierung detektiert.
gegen. Aus diesen Signalen kann eine Warnung für den
In der oben genannten Studie [21] wurde festgestellt, Fahrer abgeleitet werden wenn er die Fahrspur über-
dass die Einblendung eines Warnsymbols in der fährt. Verschiedene Warnmodalitäten sind hierbei
Windschutzscheibe auf hohe Akzeptanz bei den Test- denkbar: Eine akustische Warnung in Form eines
personen gestoßen ist. Bild 8.5-52 zeigt ein Beispiel Warntons aus dem Fahrzeuglautsprecher (Stereoton
eines von BMW im Jahre 2008 eingeführten FIR- vermittelt zusätzlich eine Richtung) oder ein sog.
Systems. „Nagelbandrattern“ haben sich als wirksame War-
nung erwiesen. Neuerdings erschließt man für diese
Spurverlassenswarner/Spurwechselassistent
Warnung den haptischen Sinneskanal. Ein Vibrieren
Unbeabsichtigte Spurwechsel gehören zu den häu- des Sitzes (mit Richtungsinformation) wurde Ende
figsten Unfallursachen. Sie sind zumeist durch Mü- 2004 auf den Markt gebracht. Vibrieren des Lenkrads
digkeit (Sekundenschlaf) oder durch Ablenkung ver- (Vorteil: direkte Assoziation mit der Lenkung) oder
ursacht. Ein Spurwechselassistent wirkt dieser Un- Beaufschlagung der Lenkung mit einem leichten
fallursache entgegen, indem er die voraus liegen- Gegenmoment werden derzeit auf ihre Signifikanz
den Fahrbahnbegrenzungen detektiert und den Fahrer untersucht.
8.5 Funktionsdomänen 733

++ ++++
++++ ++++
+++++
+ ++++
++ + ++
Originalbild mit Suchlinien
++ +

Detail mit Suchlinie

Luminanzsignal innerhalb
der Suchlinie

Kanteninformation durch
Hochpassfilterung
Bild 8.5-53 Details des
Spurerkennungsalgorithmus

Verkehrszeichenerkennung bei Fahrerassistenzsystemen mit maschineller Wahr-


nehmung Situationen interpretiert und als zutreffend
Wie in Bild 8.5-54 [25] dargestellt, kann ein Bildver-
angenommen werden. Während das System warnt
arbeitungssystem auch Verkehrszeichen erkennen
oder automatisch agiert, überwacht der Mensch die
und interpretieren. Vorbedingung ist, dass die zu er-
Systemgrenzen.
kennenden Verkehrsschilder dem System zuvor ein-
Heutige Systeme arbeiten mit starren Algorithmen,
gelernt wurden. Während der Fahrt sucht der Rechner
die den Zustand des Fahrers außer acht lassen. Be-
permanent nach Objekten, welche die Form von
kanntlich reagieren und handeln nicht alle Menschen
Verkehrsschildern haben.
gleich, da sie sich individuell unterscheiden und
Ist ein solches Objekt erkannt worden, wird es zu-
unterschiedliche Fahrpraxis besitzen. Das Reaktions-
nächst so lange verfolgt („getrackt“) bis das Schild
und Handlungsvermögen unterliegt zudem während
nahe genug ist, um es mit der dem Imager eigenen
einer Fahrt Schwankungen; der Mensch wird müde,
Auflösung lesen zu können. Dann kann die Ge-
wird abgelenkt oder unterliegt Stimmungsschwan-
schwindigkeitsbegrenzung im Kombiinstrument an-
kungen, die seine Fähigkeiten zur Führung des Fahr-
gezeigt werden. Das Zeichen bleibt gespeichert so
zeugs beeinträchtigen und einschränken [31].
lange es aktuell ist und kann den Fahrer vor Bußgel-
Daher besteht die nächste Aufgabe darin, Fahrerassis-
dern bewahren wenn z.B. gerade seine Aufmerksam-
tenzsysteme adaptiv auszugestalten, d.h. die Warnung
keit in eine andere Blickrichtung gelenkt war.
oder der Fahrzeugeingriff wird dem Fahrerzustand
8.5.5.7 Adaptive Systeme angepasst. Diese Adaptivität kann sich auf mehrere
Parameter (z.B. Fahrpraxis, Reaktionsvermögen, Er-
Während konventionelle Fahrerassistenzsysteme wie müdungszustand, Termindruck, Verkehrsdichte, u.a.)
ABS oder ESP den Fahrer in Situationen unterstüt- erstrecken. Als Eingangsgrößen zur Ermittlung dieser
zen, die sensoriell einfach zu ermitteln sind, müssen Parameter stehen Fahrzeugsignale (Geschwindigkeit,
Beschleunigung, Lenkverhalten, Bremsverhalten, …),
Lenkzeiten, Lidschlagverhalten u.a.m. zur Verfügung.
Zunächst gilt es, Fahrertyp, Fahrerzustand und Fah-
rerabsicht zu erkennen. Dies lässt sich durch intel-
ligente Verknüpfung der Größen: Fahrgeschwin-
digkeit, Beschleunigungsverhalten, Bremsverhalten,
Lenkverhalten etwa mithilfe eines neuronalen Netzes
erreichen.
• Fahrertyp: Der unerfahrene oder ängstliche Fahrer
kann z.B. durch niedrige gefahrene Durch-
schnittsgeschwindigkeit, durch zahlreiche Brems-
manöver und durch zaghaftes Beschleunigen er-
mittelt werden, der routinierte Fahrer durch zügige
Fahrweise.
• Der Fahrerzustand ist vor allem durch das Lenk-
Bild 8.5-54 Verkehrszeichenerkennung und Beschleunigungsverhalten zu ermitteln. Ein
734 8 Elektrik/Elektronik/Software

müder Fahrer fährt zunächst Schlangenlinien, Zeitlücke eingehalten werden und/oder eine Ge-
wenn er schließlich keine Lenkbewegungen mehr schwindigkeitsbegrenzung erfolgen.
ausführt, so schläft er. Damit einher geht eine ge- • Termindruck: Das ACC erkennt die Situation
ringere Beschleunigungsdynamik. Daimler wendet durch Analyse eines aggressiveren Fahrverhaltens,
diese Methode beim „Attention Assist“-System hält eine kurze Zeitlücke ein und unterdrückt War-
an, der den müden Fahrer nach längerer Lenkzeit nungen z.B. bei absichtlichem Überfahren einer
und erkannter Müdigkeit zu einer Kaffeepause durchgezogenen Fahrspurbegrenzung
animiert indem das Symbol einer Kaffeetasse im • Müdigkeit: Mit zunehmender, vom System er-
Kombiinstrument erscheint. kannten Müdigkeit des Fahrers kann die Warnung
• Auch die Fahrerabsicht lässt sich durch Verknüp- vor einer gefährlichen Situation früher und/oder
fung von Lenk- und Beschleunigungsverhalten intensiver (z.B. durch einen kurzen Bremsruck)
ermitteln. So wird in [26] aufgezeigt, dass eine erfolgen und somit der verlängerten Reaktionszeit
Überholabsicht auch ohne gesetzten Blinker mit des Fahrers angepasst werden.
einer Signifikanz >90 % ermittelt werden kann. Die Aufzählung zeigt eine Auswahl aus dem reichen
Auch für den Fahrerzustand werden in der Arbeit Potenzial zur adaptiven Ausgestaltung von Fahreras-
sehr gute Werte erreicht. sistenzsystemen.
Sind diese Informationen gewonnen, lassen sich War-
8.5.5.8 Zusammenfassung und Ausblick
nungen, Dialoge und Fahrzeugeingriffe adaptiv ge-
stalten, d.h. der jeweiligen Situation anpassen. Idealer- Bild 8.5-55 zeigt das vielfältige Einsatzgebiet von
weise geschieht das dann, wenn der Fahrer die War- Fahrerassistenzsystemen auf dem Weg zum „Safety
nung oder den Eingriff erwartet und nicht dann, wenn Vehicle“ mit weitgehender Unfallvermeidung. Sie
er zu spät gewarnt wird oder wenn er gerade keine lassen sich untergliedern in:
Warnung erhalten möchte. Hierzu einige Beispiele: • Komfortsysteme mit dem Fernziel „Semiautono-
• Parklückenvermessung: Der unerfahrene Fahrer mes Autofahren“ und in
erwartet die Empfehlung einer längeren Parklücke • Sicherheitssysteme mit dem Ziel der Unfallver-
als der routinierter Fahrer. meidung.
• ACC: Die Zeitlücke kann abhängig von der Ver- Fahrerunterstützende Systeme warnen den Fahrer vor
kehrsdichte eingestellt werden. Hiermit kommt Gefahren im Fahrzeugumfeld oder schlagen Fahrma-
das System dem Fahrerwunsch entgegen, kürzere növer vor. Beispiele hierfür sind die Einparkhilfe
Sicherheitsabstände einzuhalten um das Einsche- oder Systeme zur Verbesserung der Nachtsicht. Auch
ren anderer Verkehrsteilnehmer zu verhindern. Spurverlassenswarmer und Systeme zur Detektion
Umgekehrt kann bei entspannter Fahrweise oder von Objekten im toten Winkel können einen hohen
bei schlechten Sichtverhältnissen eine größere Beitrag zur Unfallvermeidung leisten.

Fahrzeugführung
Spurhaltung

ACC Full Speed Range


Safety Vehicle
(Unfall-
Vermeidung)
ACCStop Parkassistent Tote Winkel-Detektion

Verkehrszeichenerkennung
ACC
Spurverlassenswarner
Komfort

Automat.
Nachtsicht-Unterstützung Ausweichen

Rückfahrkamera Fußgänger-/Objekt- Automat.


Detektion und Notbremsung
Parkhilfe Klassifikation
Fahrer- Heftiges
unter- Anbremsen
PreCrash-Sensierung Prefill
stützung
Kollisionswarnung Fußgänger-/Objekt-
Schutz
Parkstop

Passive Sicherheit Aktive Sicherheit

Sicherheit

Bild 8.5-55 Fahrerassistenzsysteme ebnen den Weg zum Unfall vermeidenden Fahrzeug
8.5 Funktionsdomänen 735

Die Systeme zur Fahrzeugführung führen vom ACC- fort- und Sicherheitssystemen, die maßgeblich zum
System bis zur vollständigen Längsführung auch in entspannteren Fahren, zur Milderung von Unfallfol-
urbanen Bereichen und bei hohen Fahrzeugge- gen und zur Vermeidung von Unfällen beitragen
schwindigkeiten. Hierbei geht man von einer kom- können. Die EU hat mit dem e-Safety-Programm die
plexen Datenfusion von Radar- und Videodaten aus. richtige Initiative ergriffen. Fahrzeughersteller und
Ergänzt man die Längsführung um ein – ebenfalls Zulieferer haben die Aufgabe aufgegriffen und tragen
videobasiertes – System zur Querführung (Spurhalte- ihren Beitrag zur Erreichung dieses Ziels bei.
assistent), ist eine autonome Fahrzeugführung im
Prinzip denkbar. Literatur
Passive Sicherheitssysteme beinhalten die voraus-
schauende Erkennung möglicher Crash-Situationen [1] Braess, H. H.: „Das intelligente Auto auf der intelligenten Straße
(Precrash) und die Funktionen zum Fußgängerschutz. – Was hat PROMETHEUS gebracht?“, 5. Stuttgarter Symposi-
um Kraftfahrzeuge und Verbrennungsmotoren, 18. – 20.02.2003
An die Funktionen der aktiven Sicherheit werden die [2] Enke, K.: „Possibilities for Improving Safety Within the Driver
höchsten Anforderungen bezüglich Funktionalität und Vehicle Environment Loop“, 7th Intl. Technical Conf. on Ex-
Zuverlässigkeit gestellt. Sie reichen vom einfachen perimental Safety Vehicle, Paris (1979)
Parkstop, der das Fahrzeug beim Einparken vor [3] Anonymisierte Stichproben aus Unfalldaten des Statistischen
Bundesamtes (1998 – 2001)
einem Hindernis automatisch abbremst, bis hin zu [4] Lübke, L.: „Car-to-Car Communication – Technologische He-
den prädiktiven Sicherheitssystemen. An dieser Stelle rausforderungen, Tagungsband VDE-Kongress, Berlin, 18. –
geht die Perspektive bis hin zum Unfall vermeiden- 20.10.2004
den Fahrzeug, mit rechnergestützter Durchführung [5] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Sicherheits- und Komfortsysteme.
Wiesbaden: Vieweg Verlag, 2004
von Fahrmanövern zur Kollisionsvermeidung. [6] Robert Bosch GmbH (Hrsg.): Kraftfahrtechnisches Taschen-
Dennoch: Der Funktionalität der genannten Systeme buch, 27. Aufl. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011
sind heute noch Grenzen gesetzt, die im Wesentlichen [7] Kühnle, G. et al.: „Low-Cost Long-Range-Radar für zukünftige
durch Unzulänglichkeiten der Sensorik bedingt sind. Fahrerassistenzsysteme“, 11. Aachener Kolloquium Fahrzeug-
und Motorentechnik, Aachen (2002)
Ein erster Schritt ist die Datenfusion, z.B. Radar mit [8] Olbrich, H. et al.: „A Small, Light Radar Sensor and Control
Video. Radar erlaubt eine exzellente und schnelle Unit for Adaptive Cruise Control“, SAE Technical Paper Series
Messung von Entfernung und Geschwindigkeit, kann 980607 (1998)
aber nur sehr eingeschränkt eine Aussage über Größe [9] Winner, H. et al.: „Adaptive Fahrgeschwindigkeitsregelung
ACC“, Bosch Technische Unterrichtung, 1. Ausgabe, April
und Art eines Hindernisses machen. Hier ergänzt die 2002, ISBN 3-7782-2034-9
Videosensorik in idealer Weise. Sie ist in der Lage, [10] Knoll, P.M.: „Vorausschauende Sicherheitssysteme – die
eine Größenabschätzung des Hindernisses vorzuneh- Schritte zur Unfallvermeidung“, VDA Technischer Kongress,
men. Kombiniert mit den Signalen des Radars ist eine Rüsselsheim (2004)
[11] NHTSA – Report (2001)
recht gute Aussage über Art und Relevanz eines [12] Langwieder, XX.: „Analyse des Bremsverhaltens bei Verkehrs-
erkannten Objekts möglich. Weitere Entwicklungen, unfällen“, Gesamtverband der deutschen Versicherungswirt-
insbesondere im Bereich der Videotechnik und Bild- schaft (2001)
[13] Frank, R.: „Sensing in the Ultimate Vehicle“, Proceedings Con-
verarbeitung werden immer weiter führende Aussa-
vergence 2004/21/0055 (2004)
gen über die Art der Objekte zulassen (Objektklassi- [14] Unfallstatistik Deutschland des Statistischen Bundesamts (2002)
fikation). Eine Szeneninterpretation mit Vorhersage [15] Knoll, P. M.: „Nachtsichtsysteme im Kraftfahrzeug – Status und
der Bewegung anderer Verkehrsteilnehmer wird dann Entwicklungstrends“ VDI-Tagung „Optische Technologien“
(2010)
in den Bereich der komplexen Unfallvermeidung
[16] Frost & Sullivan: Marktstudie Fahrerassistenzsysteme „FAS
führen [13]. 2005-15 in Europa“, (09/2005)
Die Anpassung von Warnschwellen und Eingriffen an [17] Tauner, A.: „Ansätze zur Fahrbahnerkennung in Wärmebildern
die physischen und psychischen Eigenschaften des bei der Orientierung in einem passiven NightVision-Bild“, VDI-
Berichte Nr. 1907 (2005)
Fahrers kommt in Zukunft bei adaptiven Systemen
[18] Tsimoni, O. et al.: „Pedestrian Detection with Night Vision
den Erwartungen der Fahrer an die Performanz der Systems Enhanced by Automatic Warnings“, Studie der Univer-
Assistenzsysteme entgegen. sity of Michigan, UMTRI-2005-23 (2005)
Auch komplexe Fahrerassistenzsysteme dürfen den [19] Knoll, P. M.: „Nachtsichtverbesserung im Kraftfahrzeug“, ATZ
01/2006
Fahrer nicht dazu verleiten, die Kontrolle über das
[20] Locher, J.: „Mensch-Maschine Interaktion in der automobilen
Fahrzeug einem Rechner zu überlassen. Heutige Displaytechnik, Vortrag Lichttechnik-Tage in Karlsruhe (LTiK),
Systeme sind so konzipiert, dass die Kontrolle und 08.11.2005
die Verantwortung über das Fahrzeug jederzeit beim [21] Mahlke, S. et al.: Evaluation of six night vision enhancement
systems: Qualitative and quantitative support for intelligent im-
Fahrer liegen. Der Fahrerwunsch hat immer Vorrang. age processing, Human Factors, Vol. 49, no. 3, 518 – 531 (2007)
Eingriffe in das Fahrzeug gegen den Fahrerwillen [22] Seiffert, U. et. al.: Automotive Safety Handbook 2nd Edition
sind nach dem Wiener Weltabkommen nicht zulässig. SAE Intl., Warrendale, ISBN 978-0-7680-1798-4
Trotz aller technischen Fortschritte wird der unfall- [23] Oertel, K.: „Garagenparker von BMW“ Garage Parking Device),
Hanser automotive, Heft 5 – 6/2006, Carl Hanser Verlag Mün-
freie Straßenverkehr nach Einschätzung des Verfas- chen
sers eine Vision bleiben. Aber es gibt zahlreiche [24] www.bmw.de; Homepage der BMW AG, Side-View-Assist,
Maßnahmen zur schrittweisen Einführung von Kom- Top-View, Night Vision
736 8 Elektrik/Elektronik/Software

[25] Daimler Media-Center 04/2009 sicher, zeitnah und kostengünstig zu übertragen,


[26] Schmitz, C.: „Adaptiver Spurverlassenswarner – Entwicklung
werden die Telematik in Form des „Ctx“ im Bereich
eines Systems mit fahrerabsichts- und fahrerzustandsabhängiger
Warnstrategie“, Dissertation Universität Karlsruhe, Shaker- „Car to Car“ und „Car to Infrastructure“ Kommuni-
Verlag (2004) kation in eine neue Dimension führen.
[27] Pirkl, B.: „Ganzheitliche Vernetzung von Systemen und Senso-
ren – ein smarter Ansatz zur effizienten Unfallvermeidung,
13. Euroforum-Jahrestagung „Elektronik-Systeme im Automo-
bil, 10. – 12. 02. 2009
[28] Knoll, P.M.: „Video-Sensorik – erste Erfahrungen und Aus-
blick“, VDA-Technischer Kongress (2007)
[29] Winner/Hakuli/Wolf (Hrsg.): „Fahrerassistenzsysteme“. Wiesba-
den: Vieweg+ Teubner Verlag, 2009
[30] Bosch: Analyse des Bremsverhaltens bei Unfällen auf Basis der
GIDAS-Datenbank, Interne Studie (2008)
[31] Holzmann, F.: „Adaptive Cooperation between Driver and
Assistant System“, Springer-Verlag, Berlin (2007)

8.5.6 Telematik
Bild 8.5-56 Städtisches Verkehrschaos bei Nacht
Um Mobilität nachhaltig zu sichern, bedarf es der
Nutzung neuer Informations-, Kommunikations- und
Leittechnologien im Verkehr. Die Verkehrstelema- Ein wichtiger Baustein für europaweite Telematik-
tik bezeichnet als Zusammenfassung von Telekom- anwendungen ist ein hochgenaues und zuverlässiges
munikation und Informatik den Einsatz modernster Ortungs- und Navigationssystem. Daher hat die Euro-
Technologien zur Effizienzsteigerung von Verkehrs- päische Union den Aufbau eines globalen, zivilen
und Transportprozessen, zur Erhöhung der Sicherheit, Satellitennavigationssystems einschließlich terrestri-
des Reisekomforts sowie der Umweltschonung. Die scher Infrastruktur beschlossen. GALILEO wird vo-
rasante Entwicklung im Bereich der mobilen Kom- raussichtlich ab 2014 einsatzbereit sein, Tabelle
munikation und die Möglichkeit, große Datenmengen 8.5-4, Bild 8.5-56.

Tabelle 8.5-4 Galileo-Dienste


8.5 Funktionsdomänen 737

8.5.6.1 Grundlagen und Technologien


der Verkehrstelematik
Vorausschauende Kollisionserkennung –
Frühwarnsysteme Die zentrale Aufgabe der Verkehrstelematik ist eine
Verkehrsbeeinflussung durch Information, Kommu-
nikation, Steuerung und Regelung, aber auch Über-
wachung mit dem Ziel einer Minderung der Negativ-
wirkung des Verkehrs in allen seinen Teilbereichen.
Zum Einsatz kommen terrestrische und satellitenge-
stützte mobile Kommunikationssysteme, zunehmend
wird auch die Internet-Technologie in Fahrzeugen
genutzt. Transportiert werden Daten zur Verkehrs-
lage, zu Routenempfehlungen, zu Aufträgen und
Ladungen. Das Informatik-Element beschreibt die
Verarbeitung eingehender Verkehrs- oder Dispositi-
onsdaten in Planungs- und Simulationstools. Die
Ausgabedaten werden entweder betriebsintern ver-
wendet oder im Rahmen von Mehrwertdiensten (z.B.
Flottenmanagement) angeboten.
Die Positionsbestimmung mobiler Objekte ist ein
zentrales Element der Verkehrstelematik, sie ermög-
Bild 8.5.-57 Einsatz von Galileo licht die Zielführung von Fahrzeugen und die Abbil-
dung der Verkehrssituation durch z.B. Floating Cars.

Tabelle 8.5-5 Vergleich Galileo – GPS

Galileo Navstar GPS


Beginn Entwicklung 2001 1973
1. Satellitenstart (Testsatellit) 12 / 2005 27.06.1977
Gesamtanzahl Satelliten 27 + 3 Ersatz 21 + 3 Ersatz
Umlaufbahnen 3 6
Höhe 23616 km 20180 km
Inklination der Bahnen 56 Grad 55 Grad
Umlaufzeit 13 h 45 min 11 h 58 min
Frequenzen E5, E5a, E5b, E6, E1 L1, L2
geodätisches Datum GTRF WGS 84
Zeitsystem (GST) GALILEO Zeit GPS Zeit
Zeitkorrektur GPS/UTC UTC (USNO)
Signalcharakteristik Code Identifikation Code Identifikation
Codes für jeden Satelliten verschieden für jeden Satelliten verschieden
künstliche Systembeeinflussung PRS Signale verschlüsselt S / A bis 05/2001, AS
Integrity-Information ja nein

GALILEO
E5a 1176,45 MHZ
E5b 1207,14 MHz
E6 1278,75 MHz
E1 1575,42 MHz
E5 1191,795 MHz
Navstar GPS
L1 1575,42 MHz
L2 1227,6 MHz

Quellen
Deutscher Funknavigationsplan Band 2, Schlussbericht, GALILEO Open Service (OS SIS ICD) Signal in
Space Interlace Control Document.
738 8 Elektrik/Elektronik/Software

An Verfahren stehen derzeit Map-Matching, die – Verringerung der Fahrzeugbestände durch bessere
Koppel- und Satellitennavigation (GPS/DGPS/Gali- Auslastungsquoten,
leo) und die Ortung mit Hilfe der Mobilfunksysteme – weniger Kilometerleistung und Zeiteinsparung
einzeln und in Kombination zur Verfügung. Einen durch individuelle Zielführungssysteme, Umge-
Vergleich zwischen Galileo und Navstar GPS zeigt hung von Staus,
Tabelle 8.5-5. – bessere Abstimmung der Verbindungen zwischen
Intermodale Telematikansätze versuchen, die ver- verschiedenen Verkehrsträgern (Modal Split),
schiedenen Verkehrsträger in einem einheitlichen – schnellere Abwicklung von Grenzformalitäten,
Konzept zu integrieren, um so z.B. die Verfolgung – geringere Lagerhaltungskosten (Just-In-Time-
eines Containers während des Transports auf Schiene, Steuerung).
Schiff oder Straße (besonders auch im grenzüber- Der Austausch von Informationen zwischen mobilen
schreitenden Verkehr) zu ermöglichen, eine optimale Objekten und Dienstleistungszentralen erfolgt derzeit
Transportroute mittels verschiedener Verkehrsträger mit Hilfe unterschiedlicher Telekommunikationsmittel.
zu ermitteln oder einem Verkehrsteilnehmer Informa- Dabei spielt der Ortsbezug für viele Dienste eine
tionen über die Anschlussmöglichkeiten zu anderen wichtige Rolle. Die „Location based services“ werden
Verkehrsmitteln zur Verfügung zu stellen. u.a. als Motor für die Einführung dieser Technologien
Neben den technischen Aspekten beschäftigt sich die in einem breiten Marktsegment gesehen. Die Navigati-
Verkehrstelematik auch mit den sozialen, ökonomi- onssysteme in Fahrzeugen sind schon weit verbreitet
schen und ökologischen Auswirkungen der Verkehrs- und werden durch neue Technologien zum mobilen
steuerung durch IuK (Informations- und Kommunika- Internet, dem Wireless World Wide Web, ausgebaut.
tions-) Technologien. Dazu gehören die Verringerung Derzeit benötigt man noch verschiedenste Einheiten für
der negativen Auswirkungen des Verkehrs auf die die Aufgaben der Kommunikation, Ortung und Organi-
Umwelt, der Wandel des Mobilitätsverhaltens inner- sation der Abläufe. Diese Einheiten entwickeln sich zu
halb der Gesellschaft und die Verbesserung der einem persönlichen, digitalen Assistenten. Sprachein-
Wirtschaftlichkeit im Personen- und Güterverkehr gaben, Nahfeld-Sensoren und Nahfeld-Kommunika-
durch die Optimierung der Kapazitätsauslastung der tion (WLAN, Bluetooth) werden unsere Welt verän-
vorhandenen Transport- und Verkehrsinfrastruktur. dern. Die Zeitabstände der technologischen Sprünge
Vorteile, die Verkehrstelematikanwendungen für den werden ständig verkürzt. Dieses ist bereits jetzt bei
Umweltschutz bieten, können in folgende Punkte den Nutzern von Mobiltelefonen Realität, denn nach
zusammengefasst werden: zwei Jahren nach Ende der normalen Vertragslaufzeit
– Energieeinsparung durch Stauvermeidung und werden in der Regel die Geräte durch neue und wei-
verstärkte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, terentwickelte Geräte ersetzt. Die Kunden haben sich
– Verringerung der Abgasemissionen durch Verkür- bereits auf diese Marktentwicklung eingestellt. Da-
zung des Stop-and-Go-Verkehrs und Vermeidung durch werden Dienstleistungen möglich, die noch vor
von Umwegen, Jahren völlig utopisch waren. Auch das, was man
– weniger Autofahrten durch zuverlässigere und heute als Telematik bezeichnet, wird hierin aufgehen.
damit attraktivere öffentliche Verkehrsmittel,
– Verringerung weiterer Straßenbaumaßnahmen und 8.5.6.2 Endgeräte
damit geringerer Landschaftsverbrauch. Die eigentlichen Endgeräte werden sich dahingehend
Verkehrstelematikdienste sorgen für einen besseren entwickeln, dass neue Technologien und neue For-
Ablauf des Verkehrs und unterstützen die Mobilität men der sog. Mensch-Maschine-Schnittstelle völlig
im Individual- und öffentlichen Verkehr z.B. neuartige Gerätetypen auf den Markt bringen werden,
aufgrund folgender Wirkungen: die z.T. eigene Standards setzen. Die Kommunikati-
onstechnologie und deren rasante Entwicklung in den
– Geringere Wartezeiten beim ÖPNV durch Fahr-
letzten Jahren haben gezeigt, dass der Abstand der
planauskunftssysteme und sichere Anschlüsse,
Quantensprünge innerhalb dieser Technologien im-
– optimale Kombination öffentlicher und privater
mer kürzer wird. Das Handy hat sich vom eigent-
Verkehrsmittel,
lichen Gerät der Sprachkommunikation mehr und mehr
– Beschleunigung des Bus-, Straßenbahn- und Zug-
zu einem Gerät der Datenkommunikation entwickelt.
verkehrs durch Betriebsleitsysteme,
Die klassischen Bereiche, die gestern auch hardware-
– Verringerung der Irrfahrten in unbekannten Städten
mäßig und softwaremäßig getrennt voneinander exis-
durch automatisierte, dynamische Zielführungs-
tieren, also die Ortung, die Kommunikation und die
und Parkleitsysteme,
Datenverarbeitung, sind miteinander verschmolzen.
– schnelleres Eintreffen der Rettungsdienste (e-call).
Hierzu wird es neue Formen der Kommunikation
Einsparungen, die durch den Einsatz von Verkehrste- zwischen dem Menschen und den Geräten bzw. den
lematikdiensten erreicht werden können, sind z.B. Geräten untereinander geben. Die Spracheingabe ist
– Weniger Leerfahrten durch Fracht- und Flottenma- bereits ein wesentliches Element der Mensch-Maschine
nagement, Schnittstelle darstellen. WLAN und Bluetooth haben
8.5 Funktionsdomänen 739

die Kommunikation zwischen den Geräten revolutio- Ein immer wieder diskutiertes Thema im Bereich der
niert. Die Hardwaretechnologie hat dazu geführt, dass Verkehrstelematik ist die Gebührenerfassung. Die
Rechnersysteme und Kommunikationssysteme inklusi- Einführung der Lkw-Maut wurde mit erheblicher
ve Ortungskomponenten in einem Gerät verschmelzen. Verzögerung im Jahr 2005 in Deutschland realisiert
Nicht nur die Berufswelt, sondern insbesondere unser und hat im Jahr 2009 4,41 Milliarden Euro einge-
tägliches Leben hat sich weiter entwickelt, so dass bracht. Die Mauterfassungssysteme werden sicherlich
viele bereits mit einem PDA, einem Persönlichen Di- die Diskussion neu beleben, ob auch andere Ver-
gitalen Assistenten, ausgestattet sind. Dieser Assistent kehrsteilnehmer auf besonderen Autobahnen (privat
organisiert für uns wesentliche Aufgaben des täglichen finanziert) zur Finanzierung beitragen sollen. Der
Lebens. Er stellt einfachste Kommunikationsverbin- Aspekt des Datenschutzes und der Integrität der
dungen her, er führt uns, wenn wir es wünschen, zu Datenerfassung muss dabei allerdings immer berück-
bestimmten Orten, er kann auch unsere logistischen sichtigt werden. Heute ist es jedoch mehr ein politi-
Probleme organisieren, uns Hilfestellung geben bei sches als ein technisches Problem. Die Dienstleistun-
Navigationsaufgaben, nicht nur im Auto, sondern in gen der Zukunft werden auch die Gebührenerfassung
allen Verkehrsträgern, er wird bei Notfällen schnell im Verkehrsgeschehen flexibel und mobil realisieren.
und zielgenau Hilfe organisieren und noch vieles mehr. Hierzu zählt nicht nur das Thema Autobahngebühren,
hierzu zählt auch das Thema Electronic Ticketing,
8.5.6.3 Dienstleistungen der Zukunft das sicherlich eine weitere interessante Ergänzung im
Bei den Dienstleistungen der Zukunft im Bereich der Dienstleistungsbereich darstellen wird. Wir werden in
Verkehrstelematik spielen zunächst alle Dinge eine Zukunft mit unserem mobilen Endgerät, wie immer
große Rolle, die mit der Vernetzung der Verkehrsträ- das letztendlich aussehen wird, auch den Zahlungs-
ger zu tun haben, Bild 8.5-58. Dies ist die eigentliche verkehr nicht nur im Bereich ÖPNV oder anderer
zentrale Aufgabe, um einen Verkehrskollaps, wie er Verkehrsträger realisieren.
ja schon prognostiziert worden ist, für die Zukunft Kraftfahrzeugbezogen bieten die neuen Technologien
durch intelligente Systemlösungen in der Wirkung der Verkehrstelematik eine Reihe von Ansatzmög-
abzuschwächen. Die Mobilität der Bevölkerung wird lichkeiten, um die Verkehrssicherheit zu verbessern.
mehr und mehr zunehmen und hierauf müssen sich So sind sowohl elektronische Abstandswarnsysteme
auch die entsprechenden Dienstleister einstellen. (Bild 8.5-59), die Auffahrunfälle verhindern, als auch
Studien belegen, dass bis zum Jahr 2015 durch den Systeme, die den Fahrer bei Abbiege- und Fahrstrei-
Einsatz der Telekommunikation das Verkehrsauf- fenwechselvorgängen unterstützen (optisch und/oder
kommen um etwa 5 % zurückgehen wird. In dieser akustisch) oder auch in Kurven über die Fahrzeug-
Zeit wird sich aber das Mobilitätsverhalten der Men- Fahrzeug-Kommunikation vor Staus warnen, entwi-
schen wesentlich verändern. Junge Menschen werden ckelt. Als weitere Telematikanwendungen werden
früher und ältere Menschen länger als heute individu- von der Industrie derzeit für Kraftfahrzeuge fahreru-
ell mobil sein. Die Zahl der Teilnehmer am Ver- nabängige Hilfen zur automatischen Steuerung des
kehrsgeschehen wird wachsen. Verkehrsströme wer- Fahrzeugabstandes und der Geschwindigkeit bis hin
den sich verlagern, Berufsverkehr und Freizeitverkehr zur Koppelung mehrerer Lkw im Konvoi entwickelt.
werden andere Gewichtungen erhalten. Auch in die- Diese technischen Möglichkeiten, die eine Vielzahl
sem Bereich wird die Ortung eine immer größere Rol- von Rechtsfragen berühren, müssen frühzeitig im
le spielen, da z.B. Übergänge von einem Verkehrssys- Dialog mit der Industrie unter ordnungs- und rechts-
tem auf das andere damit zusammenhängen, wo man politischen Gesichtspunkten abgeklärt werden, um
sich befindet und wie lange man noch benötigt, um zu den Nutzen zu optimieren und Fehlentwicklungen zu
einem Verkehrsübergabepunkt zu gelangen. vermeiden.

UKW RDS-Sender
ÖPNV Pocket-
Terminal
Parken

Verkehrslage Daten-
zentrale Dynamische Daten
Logistik

Freizeit

Bürger-Info
Statische
Daten Bild 8.5-58 Mögliche
Kultur
Infothek Dienstleistungen durch
Telematiksysteme
740 8 Elektrik/Elektronik/Software

ITS Assistenzsysteme
Vernetzte Autonome
Technologien Technologien

TMC-basierte
ABS ESP ANB
dynamische
Navigation
Automatisches
Reiseinfo- Einparken
dienste
Brems-
Geschwindigkeits- assistent
anzeige/-regelung
ADR
Kreuzungsassistent

Lichtsignal- Verkehrs- und Point of Interest


TMC-Dienst Bild 8.5-59 ITS Assistenz-
anlagen Wechselzeichen Parkleitsysteme
systeme

Mit dem europäischen zivilen Satellitennavigations- • 72 % der verkehrsbedingten CO2-Emissionen


system Galileo soll die Unabhängigkeit von national entstehen im Straßenverkehr, der zwischen 1990
kontrollierten Systemen und Anwendungsmöglich- und 2005 um 32 % zugenommen hat.
keiten in sicherheitskritischen und hoheitlichen An- • Trotz eines Rückgangs der Zahl der Verkehrstoten
wendungsbereichen eröffnet werden. Die Wettbe- (–24 % seit 2000 in der EU27) liegt die Zahl mit
werbsfähigkeit der europäischen Industrie soll in 42.953 Todesopfern im Jahr 2006 noch immer um
zukunftsgerichteten Aufgabenfeldern gestärkt wer- 6.000 über dem angestrebten Ziel, die Zahl der im
den. Dazu gehören u.a. alle Bereiche, die eine präzise Verkehr getöteten Menschen im Zeitraum 2001 –
Ortsbestimmung und/oder Zeitangaben benötigen, wie 2010 um die Hälfte zu verringern.
Finanzdienstleistungen, Flottenmanagement, Fracht- Angesichts einer erwarteten Zunahme des Güterver-
verfolgung, Geodäsie und Landwirtschaft sowie kehrs um 50 % und des Personenverkehrs um 35 %
Anwendungsbereiche mit hohen Grundanforderungen zwischen 2006 und 2020 ist es umso dringender, sich
nach Kontinuität, Integrität und Präzision der Syste- diesen Herausforderungen zu stellen [6].
me, wie z.B. vollautomatischer Präzisionsanflug im
Luftfahrtbereich, Zugleit- und Überwachungssysteme Literatur
im Schienenverkehr, weltweite Verfolgung von Con- [1] Delphi’98-Umfrage. Studie zur globalen Entwicklung von Wis-
tainern oder Kollisionswarnsysteme in Flugzeugen. senschaft und Technik, Karlsruhe 1998 (BMBF)
Die meisten Anwendungen von Galileo liegen im [2] Telematik im Verkehr – Entwicklungen und Erfolge in Deutsch-
land, Stand: August 2004 (BMVBW)
Verkehrsbereich. Deshalb wird das Bundesministeri- [3] Kasties, Günther: Vortrag Euroforum – 8. Jahrestagung Elektro-
um für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen im Rah- nik Systeme im Automobil, Fachtag „Umsetzung von Telematik
men der Aktivitäten der Europäischen Kommission und Multimedia im Automobil“, Februar 2004
an diesem Projekt weiterhin mitarbeiten. [4] Kasties, Günther: Vortrag Euroforum – 9. Jahrestagung Elektro-
nik Systeme im Automobil, Fachtag „Telematik und Multimedia
Die Altersstruktur der Bevölkerung wird dazu führen, im Automobil“, Februar 2005
dass der Bedarf an sicheren Informations- und Not- [5] Evers, Harry-H.; Kasties, Günther: Kompendium der Verkehrs-
rufsystemen wachsen wird. Dadurch wird eine deutli- telematik, TÜV-Verlag, ISBN 3-8249-0421-7
che Steigerung der Qualität, insbesondere auch für [6] Aktionsplan zur Einführung intelligenter Verkehrssysteme in
Europa, KOM (2008) 886
ältere Mitbewohner im Bereich der Mobilität erreicht
werden. Mobilität und Sicherheit werden einen
großen Bereich von zukünftigen Dienstleistungsan- 8.6 Mensch-Maschine-Interaktion
geboten darstellen.
In diesem Zusammenhang müssen eine Reihe erheb- Das Führen eines Kraftfahrzeuges kann als eine
licher Schwierigkeiten überwunden werden, damit klassische Domäne der Mensch-Maschine-Interaktion
das europäische Verkehrssystem seiner Aufgabe, dem bezeichnet werden. Gerade hier ist das Zusammen-
Mobilitätsbedarf der europäischen Wirtschaft und wirken eines Menschen mit einem technischen Sys-
Gesellschaft zu entsprechen, in vollem Umfang ge- tem von essenzieller Bedeutung. Verbindend ist hier-
recht werden kann: bei die gemeinsame Aufgabenstellung bzw. Zielstel-
lung für das Mensch-Maschine-System. Der Ausge-
• Rund 10 % des Straßennetzes gelten als überlastet, staltung der Schnittstelle kommt dabei eine besondere
und die dadurch jährlich verursachten Kosten ma- Bedeutung für die realisierbare Interaktion zwischen
chen ca. 0,9 – 1,5 % des BIP der EU aus. dem Menschen und der Maschine zu. Dieses kann
8.6 Mensch-Maschine-Interaktion 741

Fahrer Automatisierung

manuell assistiert semi hoch voll


automatisiert automatisiert automatisiert

Bild 8.6-1 Spektrum vom manuellen zum autonomen Fahren

sich auch in dem Realisierungsgrad der Aufgabenstel- Elementare Anforderungen an das Gesamtsystem
lung bzw. dem Erfüllungsgrad zur Zielerreichung sind auf abstraktem Level die Fragen der Sicherheit,
spiegeln. der Wirtschaftlichkeit und der Effizienz. Eine funk-
Die Allokation der Aufgabenstellung auf der mensch- tionale Unterteilung kann im Wesentlichen unter den
lichen oder auf der maschinellen Seite soll an dieser Aspekten der Erhöhung der Sicherheit sowie der
Stelle genauer betrachtet werden. Aus der schon in Erhöhung des Komforts erfolgen.
der Antike dokumentierten Motivation, durch den Im Bereich der Sicherheit sind zum einen die Aspekte
Einsatz von Hilfsmitteln sich die Arbeit zu vereinfa- der Beherrschbarkeit des technischen Systems als
chen, leiten sich die Ziele einer Automatisierung ab. herausragende Systemeigenschaft zu unterstreichen,
Im Sinne der Rationalisierung von Prozessen, Ver- andererseits jedoch auch die Leistungsfähigkeit des
besserung der Qualität oder der Erhöhung der Sicher- Systems, die Menschen adäquat zu unterstützen und
heit bilden Lösungen zum Messen, Steuern, Regeln so die Sicherheit des Gesamtsystems zu erhöhen. Auf
und Überwachen hier die Grundlage. Allgemein lässt der Komfortseite ist die Fragestellung der Entlastung
sich festhalten, dass aufgrund von unterschiedlichen sowie der Nutzenerhöhung im Sinne der Gebrauchs-
Randbedingungen in unterschiedlichen Domänen dif- wertsteigerung besonders zu betrachten. Gleichzeitig
ferenzierte Lösungsansätze zur Automatisierung exis- ist jedoch das Risiko der Monotonie und Unaufmerk-
tieren. Ein wichtiger Aspekt ist hier insbesondere die samkeit bei zu starker Entlastung zu bedenken.
Aufgabenallokation auf der menschlichen bzw. ma- Für die Gestaltung einer effizienten Mensch-Ma-
schinellen Seite. Dies spiegelt sich in unterschiedli- schine-Interaktion sind Fragestellungen aus multidis-
chen Automatisierungsgraden von assistiert über ziplinären Arbeitsfeldern zu beantworten. Hierbei
semi-automatisiert und hoch-automatisiert bis hin zur sind Aspekte der Ergonomie und Anthropotech-
Vollautomatisierung wider (Bild 8.6-1). nik sowie der kognitiven Wissenschaften auf der
Der Mensch bleibt auch – oder gerade – bei steigen- menschbezogenen Seite sowie Aspekte der System-
der Automatisierung ein wichtiger Bestandteil im technik auf der technischen Seite von besonderer
Prozess. Die Bedienbarkeit, das Prozessverständnis Bedeutung. Die Frage der Bedienbarkeit und der
und ein gutes Störfallmanagement durch den Bedie- Beherrschbarkeit steht dabei besonders im Vorder-
ner spielen zur Gewährleistung eines effizienten Pro- grund (siehe auch Kap. 6.4.1).
zessablaufes sowie zur Reduktion von Störungen Neue technische Systeme im Kraftfahrzeug eröffnen
und Ausfallzeiten eine wesentliche Rolle. Frühzeitige neue Potenziale, wobei der Vernetzung einzelner Sys-
Usability Untersuchungen können die Gebrauchs- teme ebenso wie der ergonomischen Gestaltung der
tauglichkeit der Gesamtlösung nicht nur bewerten, Ein-/Ausgabemedien eine besondere Rolle zukommt.
sondern zu einer signifikanten Optimierung führen. Durch die im Fahrzeug mittlerweile vorhandene
Weiterhin ist die Frage der Sicherheitsverantwortung (Rechner-)Infrastruktur ergeben sich bei der Vernet-
nicht nur aus Gründen der Produkthaftung klar zu zung neue Realisierungsmöglichkeiten. So kann z.B.
beantworten. Diese Verantwortung wird man, außer der Monitor des Navigationssystems als Anzeigeme-
beim vollautomatischen Fahren, sicher gern beim dium beim Einparken dienen, der Rechner kann für
Fahrer belassen, dennoch ist die Frage der Beherrsch- die Ermittlung der optimalen Einparktrajektorie ge-
barkeit, der „Controlability“ vor der Einführung sol- nutzt werden. Hier kann dann eine symbolisch aus-
cher Systeme zu beantworten. Insbesondere die Frage gewertete Darstellung des Sensorsignals erfolgen
und Organisation des Wechsels von der menschlichen oder möglicherweise ein Kamerabild mit idealer
Verantwortung und Handlung zur (teil-)automati- Fahrtrajektorie angezeigt werden. Wird der Einpark-
schen Übernahme und vice versa kommt hier eine vorgang auch noch motorisch durch eine direkte
besondere Bedeutung zu. Ansteuerung der Lenkung unterstützt, so wird der
742 8 Elektrik/Elektronik/Software

Fahrer hier stark entlastet – ihm verbleibt die motori- Für das Fahren von einem Startpunkt zu einem Ziel-
sche Handlung in Form von Gasgeben und Bremsen ort sind im Rahmen der Navigation wichtige Aufga-
und die Überwachungsaufgabe. Gleichzeitig ist damit benstellungen zu lösen. Hierbei geht es im Wesentli-
gewährleistet, dass die Aufmerksamkeit des Fahrers chen auch um die planerischen Aufgaben der Aus-
erhalten wird, da er zwar von Teilaufgaben entlastet wahl einer dedizierten Route, auf der das Ziel erreicht
wurde, jedoch aktive Teilaufgaben noch immer bei werden soll. Im Rahmen der Längsführung sind
ihm verbleiben. neben der primären Fragestellung, z.B. der Ge-
schwindigkeitsregelung, auch die Aufgaben der
8.6.1 Das System Fahrer–Fahrzeug Abstandshaltung zum Vordermann im Kontext des
Verkehrsflusses zu betrachten. Bei der Querführung
Neben der Tatsache, dass eine Vernetzung der im
geht es insbesondere um die Fragestellung der Spur-
Fahrzeug verbauten technischen Komponenten wirt-
haltung bzw. des Spurwechsels. Sowohl Längs- als
schaftliche Vorteile bietet, kommt unter dem Blick-
auch Querführung erfüllen stabilisierende Aufgaben,
winkel der Mensch-Maschine-Interaktion auch der
die in ihrer Kombination entsprechende Fahrmanöver
funktionalen Vernetzung eine besondere Bedeutung
ermöglichen. Gleichzeitig muss die Ausführung da-
zu. Bei der funktionalen Vernetzung geht es um die
zugehöriger Sekundäraufgaben für eine sichere Fahr-
Gestaltung eines Gesamtsystems, das die intuitive
zeugführung gewährleistet werden. Neben dem Ein-
Nutzung erlaubt. Hierbei geht es nicht um punktuelle
schalten der Beleuchtung, dem Betätigen des Schei-
Schnittstellen zum Fahrzeug oder um die Erfassung
benwischers und dem Anzeigen der Fahrtrichtung
der Umgebung, sondern um eine konsistente Darstel-
werden häufig weitere Aufgaben gelöst. Dieses kann
lung und um ein konsistentes Erleben seitens des
Funktionen der Klimatisierung und Lüftungssteue-
Fahrers für das Verhalten des Fahrzeugs, des Assis-
rung ebenso wie das Überwachen bei Systemstörun-
tenzsystems in Bezug zur Fahrsituation und der
gen oder auch der Realisierung von Nebenaufgaben,
aktuellen Umgebungssituation. Dieses erfordert ein
wie z.B. Radiohören, Telefonieren etc., beinhalten.
Management der realisierten Funktionen, um wider-
Bei der Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion
sprüchliche Aussagen zu vermeiden oder eine Über-
im Kraftfahrzeug ist es wichtig, die Erfüllung der
beanspruchung, gerade in für den Fahrer belasten-
primären Aufgabenstellung sicherzustellen und zu
den/kritischen Situationen, zu unterbinden. Hierfür ist
unterstützen. Aber auch die Ausführung der Sekun-
die technische Vernetzung der Informationen eine
däraufgaben ist für eine sichere, effiziente Fahrzeug-
notwendige Voraussetzung, jedoch noch nicht ausrei-
führung von herausragender Bedeutung. Einen deut-
chend für eine situationsadaptive Systemrealisierung.
lichen Mehrwert stellt jedoch auch die Unterstützung
Grundsätzlich bilden jedoch die kombinierte techni-
und Ermöglichung der Wahrnehmung spezifischer
sche als auch die funktionale Vernetzung der entspre-
Tertiäraufgaben ohne negative Einflüsse auf die
chenden Unterstützungsfunktionen einen Schlüssel
Sicherheit dar. Um eine entsprechende Steigerung im
für die Systemakzeptanz.
Bereich der Sicherheit und des Komforts zu ermögli-
Bei dem Mensch-Maschine-System „Fahrer – Fahr-
chen, wurden und werden nach wie vor zahlreiche
zeug“ und der hierfür notwendigen Interaktion han-
Unterstützungs- und Assistenzsysteme erforscht und
delt es sich auf abstraktem Niveau um eine Aufga-
entwickelt. Hierfür sollen im Folgenden die Grund-
benteilung innerhalb definierter Grenzen des Gesamt-
aufgaben und die entsprechenden Grundfunktionen
systems. Hierbei geht es um die Aufnahme und
betrachtet werden.
Bewertung der Umgebungs- und Prozessinformatio-
Mit dem Ziel, leistungsfähige Assistenzsysteme zu
nen und der daraus abgeleiteten Reaktion in dem
realisieren, (Bild 8.6-2) kommt der Frage nach der
Zusammenspiel des technischen Systems mit dem
individuellen Assistenz eine besondere Bedeutung zu.
Fahrer. Dabei gilt es schon im Systemdesign stetig
Aufbauend auf einem (kognitiven) Fahrermodell sind
einen optimalen Informationsfluss herzustellen. Aus
die Aspekte
diesem Grund sollen im Folgenden zunächst die
Grundaufgaben des Fahrers bei der Fahrzeugführung • der Situationsanalyse,
und in einem zweiten Schritt das System „Fahrer – • der Aufgabenanalyse,
Fahrzeug – Umwelt“ unter dem Blickwinkel der je- • des Fahrermonitorings und
weiligen Interaktionspotenziale betrachtet werden. Die- • der Reaktion (Information, Unterstützung, Über-
se Potenziale bieten auch Ansatzpunkte für den Einsatz nahme)
möglicher Assistenzsysteme in Kraftfahrzeugen.
Elementare Aufgaben der Fahrzeugführung spiegeln zu betrachten. Ein langfristiges Ziel könnte in diesem
sich im Wesentlichen in den drei Kernaufgaben Zusammenhang auch die Entwicklung eines „Auto-
Bewusstseins“ darstellen mit dem „Selbstverständ-
• Navigation nis“, den Fahrer adäquat zu unterstützen.
• Längsführung Als gängige Einteilung in der vielfältigen Literatur
• Querführung wird häufig in Situationserfassung, Situationsanalyse,
wider. Situationsbewertung, Aktionsauswahl und Aktionsaus-
8.6 Mensch-Maschine-Interaktion 743

Ziel Mensch-Maschine System


• individuelle Assistenz
Vorgehensweise Verkehrs- Erfahrung
• Fahrermodell situation Wissen
– z. B. Wahrnehmung Ziele
• Situationsanalyse
– z. B. Straßenzustand Fahrzeug-
verhalten Empfindung
• Aufgabenanalyse
– z. B. Routenplanung
• Fahrermonitoring
– z. B. Blickbewegung Wahrnehmung
• Auswahl, Rat, Aktion
– z. B. Spurführung

Aktion

„Autobewusstsein“
Fahrzeug- Bild 8.6-2 Zukünftige Assis-
dynamik Menschlicher Fahrer
tenzsysteme zur Unfallver-
meidung

führung unterteilt. Im Bereich der Situationserfassung zwischen System und Fahrzeug das Assistenzsystem
und -analyse nimmt die Erfassung der Umgebungssi- die Funktion der Einbindung des Fahrers gewährleis-
tuation eine besondere Stellung ein. Diese kann ten muss. Das kann sehr wohl eine dynamische
sowohl technisch über eine entsprechende Sensorik Kopplung sein, die eine engere Einbindung des Fah-
als aber auch über den Menschen realisiert werden. rers oder auch eine losere Einbindung mit einer
Über eine entsprechende sensorische oder menschli- höheren Automatisierungsfunktion verkoppelt. Dabei
che Wahrnehmung entsteht ein – im Idealfall adäqua- darf der Aspekt der Risikohomöostase, d.h. die Kom-
tes – Situationsbewusstsein. Die entsprechende Situa- pensation der sichernden und unterstützenden Funkti-
tionsbewertung und die sich daraus ergebende situati- on durch eine zunehmende Risikobereitschaft, nicht
ve Reaktion kann wiederum sowohl durch ein techni- unberücksichtigt bleiben.
sches System (z.B. Pre-crash-detection, Collision Grundsätzlich und allgemein aufgebaut lässt sich die
mitigation) als auch direkt durch den Menschen Fragestellung nach der Allokation der entsprechenden
erfolgen. Bei der Aktionsausführung kann dies so- Aktivitäten aus den Arbeiten von Rasmussen [3, 4]
wohl automatisch oder teilautomatisch als aber auch ableiten. Standen bei Rasmussen die kognitiven Ver-
im Sinne einer sensomotorischen Unterstützung, wie haltens- oder Fertigkeitsebenen beim Menschen wie
z.B. eine entsprechende Kraftverstärkung (Servolen- • sensomotorische Fähigkeiten,
kung), umgesetzt werden. • regelbasiertes Verhalten und
Bei der Realisierung von Assistenzsystemen bzw. • wissensbasiertes Verhalten
automatischen oder teilautomatischen Eingriffen gilt im Vordergrund, so können diese Ebenen nicht nur
es, die adäquate Einbeziehung des Fahrers sicherzu- als eine Basis für deren Zuordnung zum Menschen
stellen. Hierbei ist es wichtig, dass das Systemverhal- verstanden werden, sondern auch – ggf. in Teilen –
ten für den Fahrer erwartungsgemäß erfolgt. Bei allen von einem technischen System übernommen werden.
Aktivitäten und Systemreaktionen ist zu gewährleis- Hierbei kommt jedoch der Frage des „Situationsbe-
ten, dass der Fahrer grundsätzlich im Loop bleibt. wusstseins“ ebenso eine starke Bedeutung zu wie der
Hierfür ist es nicht notwendig, dass diese Einbindung der adäquaten Interaktion. So müssen zum Beispiel
starr erfolgt, vielmehr ist auch eine dynamische die mittels eines „Night Vision Systems“ technisch
Verteilung zwischen technischem System und Fahrer sensierten Parameter und die daraus abgeleiteten
denkbar. Hieraus können sich abgestufte Reaktionen, Informationen auch dem Fahrer, entsprechend seiner
je nach der aktuellen Einbindungsintensität des Fah- sensorischen Fähigkeiten, vermittelt werden.
rers, ableiten. Die Schwierigkeit ist es dabei aller- Die Vermittlung der relevanten Information ist insbe-
dings, sicherzustellen, dass die Einbindung des Fah- sondere auch unter dem Blickwinkel der verwendeten
rers gerade in kritischen Situationen nicht nur schnell, Technologien zu betrachten. Hierbei soll im Folgen-
sondern auch korrekt und adäquat erfolgt. Wie bei den exemplarisch die Ein-/Ausgabe über Monitorsys-
allen Automatisierungen besteht die Gefahr des teme und Sprachsysteme genannt werden.
abnehmenden Situationsbewusstseins, gerade bei
komplexen Aufgabenstellungen. Dies kann sich in 8.6.2 Informationsvermittlung
dem Unvermögen, die aktive Kontrolle in kritischen
Situationen übernehmen zu können, äußern, da ein Weit verbreitet sind inzwischen auch Multifunktions-
Verständnis für den aktuellen Prozesszustand nicht anzeigen im Cockpit, die auf der Basis von LCD-
mehr gegeben ist. Vorausgegangen ist hier oftmals Anzeigen oder LED-Arrays Informationen über Uhr-
„ein Abschalten“ des Fahrers aufgrund von „Lange- zeit, Außentemperatur, Verbrauch, Reichweite etc.
weile“. Dies bedeutet, dass im Rahmen der Kopplung darstellen. Diese Informationen sind häufig in einer
744 8 Elektrik/Elektronik/Software

sequentiellen Folge abrufbar. Dieser Abruf erfolgt mindestens signifikante (Teil-)Reaktionen sicherzu-
häufig über entsprechende Wippschalter, die in der stellen.
Nähe des Lenkrades oder am Lenkrad selbst ange- Sprachsteuersysteme können konzeptionell eine sinn-
bracht sind. Ebenso werden bestimmte Informationen volle Alternative darstellen. Hier ist jedoch auf der
für den Fahrer über diese Anzeigen besonders her- Nutzerseite qualitativ eine sehr hohe Erwartungshal-
vorgehoben. Dieses erfolgt durch Blinken der Anzei- tung zu verzeichnen. Neben einer hohen Erkennungs-
gen, zum Beispiel beim Unterschreiten einer be- rate mit kurzen Reaktionszeiten bildet eine einfach
stimmten Temperaturgrenze. Gleichzeitig wird die strukturierte Schnittstelle die Basis. „Information on
Aufmerksamkeit des Fahrers durch einen akustischen demand“, kontextabhängige Hilfen etc. bilden hier
Warnton auf diese Besonderheit gezogen. Zusätzlich einen zukünftig Applikationspool.
zu den Multifunktionsanzeigen werden nach wie vor Ein weiteres Element mit einer starken Auswirkung
spezifische Informationen, einzelne symbolische für die Mensch-Maschine-Interaktion ist für den
Anzeigen, in den Instrumenten eingesetzt. Eine logi- Infotainment-Bereich zu erwähnen. Neben den klassi-
sche Selektion der einzelnen Anzeigen in einer koor- schen Elementen wie Radio, CD-Spieler, Kassetten-
dinierenden Art und Weise erfolgt in den seltensten deck etc. halten hier auch zunehmend Video und DV-
Fällen. Hier wäre es wichtig, zum einen Anzeigen Systeme Einzug. Ziel dieser Systeme ist es, Unterhal-
adäquat zu priorisieren, zum anderen diese Anzeigen tungsmedien, zum Beispiel für Fond-Passagiere zu
situationsspezifisch darzustellen. bieten. Aus Sicherheitsgründen ist zu gewährleisten,
Ein weiteres Medium zur Anzeige von Informationen dass der Fahrer während der Fahrt nicht durch diese
ist das sogenannte Head-up-Display. Hiermit werden Systeme übermäßig abgelenkt wird.
bestimmte Informationen in die Scheibe eingespie-
gelt, wobei die eingespiegelte Information für den 8.6.3 Ein einfaches kognitives
Fahrer virtuell vor dem Auto liegt. Dieses hat den Fahrermodell
Vorteil, dass Ablenkungen vom Verkehrsgeschehen Bei der Betrachtung des Fahrzeugführers und dessen
minimiert werden können. Andererseits ist jedoch zu notwendiger Interaktion ist ein kognitives Fahrer-
beachten, dass im Einzelfall bei besonderen Sichtver- modell nützlich. Die Interaktion zwischen Fahrer,
hältnissen (zum Beispiel Nebel) es auch hier zu Fahrzeug und Umwelt ist schematisch in Bild 8.6-3
Ablenkungseffekten kommen kann. dargestellt. Der Fahrer wirkt dabei durch seine Be-
Bei der Ausgabe von Informationen ist zukünftig eine dienhandlungen auf das Fahrzeug ein (1), was wie-
verstärkte 3D-Darstellung zu erwarten. Die derzei- derum zu Wirkungen in der Umwelt führt (2). Ent-
tigen Probleme hinsichtlich der Anforderungen an sprechend ergibt sich ein Rückzweig mit Reaktionen
Prozessor und Speicherkapazität werden durch neue, der Umwelt (3) über das Fahrzeug zum Fahrer (4).
Ressourcen sparende Subsets, z.B. auf der Basis von Ebenso gibt es direkte Wechselwirkungen zwischen
OpenGL, gelöst [5]. Offene Systeme bilden die Basis Fahrer und Umwelt (5, 6). In einem einfachen kogni-
zur Gestaltung neuer Funktionalitäten. Über OSGI tiven Fahrermodell (Bild 8.6-4) sind einzelne Instan-
(Open Services Gateway Initiative) und den dahinter zen ebenso wie unterschiedliche Interaktionsschnitt-
stehenden Zusammenschluss von Industriepartnern stellen zu identifizieren. Anzeigen und Reaktionen
eröffnen sich Vernetzungsmöglichkeiten von bisher seitens des Fahrzeugs und der Umwelt müssen vom
isoliert ausgeführten Applikationen. Infotainment- Fahrer wahrgenommen werden. Hier sind mindestens
und Telematikanwendungen stehen dabei primär im die Stufen der sensorischen Verarbeitung und die
Fokus. Ähnliches gilt für die Initiative AUTOSAR Reizidentifikation zu unterscheiden. Die folgende
(Automotive Open System Architecture). Ebenfalls Verarbeitung, Reaktionsauswahl und Reaktion bis hin
wird hier die Widerverwendbarkeit, Kompatibilität zur motorischen Umsetzung schließt sich an.
und Erweiterbarkeit durch Standardisierung von Sys- Setzen Fahrerassistenzsysteme an den unterschied-
temfunktionen und Schnittstellen erreicht. lichen Stellen an (Bild 8.6-5), so gilt es auch hier, die
Die Möglichkeit, Eingaben über Touch Screen Moni- Interaktionsschnittstellen entsprechend zu gestalten.
tore im Fahrzeug zu realisieren, ist unter Ablen- Eine Unterteilung in Sicherheitsrelevante- und Kom-
kungsgesichtspunkten zu betrachten. Hier ist der fortsysteme ist nur beschränkt sinnvoll. Bei den meis-
Blickkontakt zur Positionierung der Eingabe auf dem ten Systemen können aus Sicht der Mensch-Maschi-
Schirm notwendig, wobei zum Beispiel bei rastenden
Drehwählern – nach einiger Übung – ein Blickkon-
6
takt kaum noch notwendig erscheint bzw. sich dessen
Dauer entsprechend verkürzt. Ähnliches gilt u.a. auch 1 2
für fest positionierte Druckschalter. Fahrer Fahrzeug Umwelt
Insgesamt ist die erzielte Reaktionszeit des Systems 4 3

von besonderer Bedeutung. Längere Latenzzeiten, 5


eine mehr als drei Sekunden dauernde Wartezeit
(„Sanduhr“), erscheint nicht akzeptabel. Hier sind Bild 8.6-3 Das System Fahrer – Fahrzeug – Umwelt
8.6 Mensch-Maschine-Interaktion 745

Wo sind die Eingriffsmöglichkeiten für Assistenzsysteme?


Fahrer

Eigenschaften, Zustände, Absichten

Motorik Fahrzeug
Reaktionsauswahl
Verarbeitung/

Bedienelemente
Umwelt
Maschine
Anzeigen

Wahrnehmung

Bild 8.6-4 Ein einfaches Fahrer-Fahrzeugmodell

Fahrer

FAS
Fahrzeug Umwelt

FAS

FAS

FAS

Bild 8.6-5 Eingriffsmöglichkeiten für Fahrerassistenzsysteme (FAS)

ne-Interaktion diese Aspekte nicht vollständig sepa- kommt hier dem Zusammenspiel von Mensch und
riert werden. Die Ausprägung der Assistenzfunktio- Maschine eine steigende Bedeutung zu. Durch die
nen liegt hier zum einen in der Funktion selber, auf stärkere Einbeziehung von Assistenzfunktionen in die
der anderen Seite jedoch sehr stark in der Realisie- bewussten kognitiven Prozesse des Fahrers ändert
rung der entsprechenden Mensch-Maschine-Inter- sich die Anforderung an die Assistenzsysteme für den
aktion und der damit einhergehenden Auslegung der Fahrer und das Fahren signifikant.
Benutzerschnittstelle. Daher wird im Folgenden die Mit steigender Komplexität der Systeme und der
Klassifikation nach Art des Eingriffs bevorzugt. gelieferten Unterstützungsleistung gilt es, die durch
Hierbei ist es sinnvoll, die assistierenden Systeme in die Assistenz erreichte Änderung der Fahraufgabe,
informierende, handlungsunterstützende und über- frühzeitig bei der Entwicklung von Assistenzsyste-
nehmende, automatische Systeme zu unterscheiden. men zu berücksichtigen, und dieses für den Bedarf
Durch den Einsatz der Systeme verändern sich die des Fahrers stimmig zu gestalten.
kognitiven Prozesse. In Verbindung mit den indivi-
duellen Zielen und Zuständen des Fahrers wird die
8.6.4 Messung der Leistung, Belastung
individuelle Bewertung und Akzeptanz durch die und Beanspruchung
subjektive Bewertung der Mensch-Maschine-Inter- Den Fragestellungen der Leistung, Belastung und
aktion und auch von Fahrerassistenzsystemen insbe- Beanspruchung bei der Mensch-Maschine-Interaktion
sondere dann positiv ausfallen, wenn der individuelle kommt eine besondere Bedeutung zu. Im Folgenden
Handlungsspielraum den Eigenschaften des Fahrers soll in Anlehnung an Johannsen dieser Aspekt kurz
entspricht und die Wahrnehmung der kognitiven beleuchtet werden [1]. Die Belastungsgrößen der
Assistenz als adäquat empfunden wird. Mensch-Maschine-Interaktion bedingt durch Verfah-
Stand bislang die notwendige Technik bei der Ent- ren, Aufgabe, Situation und Umgebung sowie die
wicklung von Assistenzsystemen im Vordergrund, entsprechenden Leistungsgrößen im Sinne von kon-
746 8 Elektrik/Elektronik/Software

kreten Ergebnissen der Aufgabenerfüllung, haben für werden sowohl Festsitzsimulatoren als auch dyna-
einen objektivierbaren Charakter und sind den direk- mische Simulatoren, die einen realistischeren Fahr-
ten Messungen zugänglich. Hierbei können auch eindruck vermitteln, eingesetzt.
simulative Einrichtungen oder Forschungsfahrzeuge, Wesentliche Vorteile des Einsatzes von Simulatoren
®
wie z.B. das ViewCar , eingesetzt werden. für die Untersuchung dieser Schnittstellen liegt in der
Hierbei handelt es sich um ein Fahrzeug, dass mit Möglichkeit der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse
einer besonderen Sensorik zur Untersuchung der bei konstanten bzw. gezielt veränderbaren Umwelt-
Mensch-Maschine-Interaktion ausgerüstet ist. Sechs bedingungen. Die Möglichkeit der korrekten Wieder-
Videokameras zeichnen dabei die Umgebungssituati- holbarkeit ermöglicht überhaupt erst die Aussage auf
on um das Fahrzeug herum auf. Gleichzeitig werden der Basis von repräsentativen Gruppen in der Nut-
über spezielle Sensorik, wie z.B. Laserscanner oder zung und im Umgang bestimmter Systeme. Ebenso
Radar, Umgebungsparameter sowie die Relation zu lassen sich auch Extremsituationen, die in der Realität
umgebenden Objekten erfasst und aufgezeichnet. eine Gefährdung der Probanden darstellen würden,
Über weitere Videosysteme ist das Verhalten des systematisch untersuchen. Hiermit ergibt sich die
Fahrers erfassbar und über ein entsprechendes Blick- Chance, insbesondere auch frühzeitig mit einer defi-
Bewegungs-System wird die Blickrichtung und die nierten Variabilität, eine realitätsnahe Untersuchung
Blickverweildauer entsprechend sensiert. Ebenfalls von kritischen Variablen von Assistenzsystemen in
lassen sich weitere Parameter des Fahrers wie z.B. der Relation zum Menschen durchzuführen.
Lidschluss, Puls, Frequenzänderungen der Stimme, Ein leistungsfähiges Untersuchungskonzept ergibt
Muskelspannungen etc. zeitsynchron mit anderen sich damit in mehreren Schritten. Zunächst können
Daten aufzeichnen. Längs- und Querführungsaufga- mit Versuchsfahrzeugen in Realfahrten grundsätz-
ben können anhand eines integrierten Spurerken- liche Untersuchungen durchgeführt werden. Die Ver-
nungssystems sowie einer hochauflösenden Ortungs- suchsfahrten liefern Ergebnisse mit einem nur be-
plattform erkannt werden. Diese Ortungsplattform schränkt detailliert wiederholbaren Charakter der
besteht aus einem Differenzial-GPS in Verbindung Fahrtindikatoren für belastende und beanspruchende
mit einer Odometrie und einer eigenen Inertialplatt- Situationen und dem Potenzial für Assistenzuntersu-
form. Selbstverständlich werden alle Informationen chungen. Diese ersten Ergebnisse können reprodu-
des internen Fahrzeugbusses auch zeitsynchron zu zierbar in einer simulativen Umgebung mit zunächst
den übrigen Daten aufgezeichnet. Damit kann das einfacheren Systemen, wie Festsitz-Simulatoren oder
Zusammenwirken von Belastung, Beanspruchung in Virtual Reality Laboren, untersucht werden. Eine
und Leistung bei Realfahrten untersucht werden. deutliche Verfeinerung dieser Ergebnisse erreicht
man durch den Einsatz von dynamischen Fahrsimula-
8.6.5 Simulation toren (Bild 8.6-6), wo die Realitätstreue von Umge-
Für eine adäquate Systementwicklung und ein ent- bungseindrücken durch entsprechende Bewegungen
sprechendes Design der Mensch-Maschine-Schnitt- bzw. Beschleunigungen abgebildet werden kann. Hier
stelle gilt es, die Fahrerbedürfnisse frühzeitig im lassen sich vielfältige Aussagen schon sehr realitäts-
Entwicklungsprozess zu berücksichtigen. Neben dem nah, aber dennoch unter dediziert reproduzierbaren
Test der Konzepte für die Assistenz gilt es, auch hier Bedingungen darstellen. Aufbauend auf diesen Er-
die Akzeptanz und das Verhalten/den Umgang mit gebnissen sind dann die Ergebnisse wieder in Form
den Systemen systematisch zu untersuchen. Diesem von Realfahrten zu validieren, wobei dieses insbe-
Aspekt kommt vor dem Hintergrund einer emotiona- sondere mit flexiblen Versuchsträgern, wie z.B. dem
len Ablehnung von Produkten gerade an der Schnitt- FASCar realisiert werden können. Hierbei ist es
stelle zum Käufer zukünftig eine besondere Bedeu- möglich, entsprechende Assistenzeingriffe kraft- und
tung zu. Neben der Untersuchung in Realfahrten, wie
oben beschrieben, kommt, auf diesen Erfahrungen
aufbauend, dem Einsatz von Simulatoren eine zu-
nehmende Bedeutung zu. Neben der subjektiven
Bewertung solcher Systemausprägungen ergibt sich
hiermit auch die Möglichkeit, den Umgang des Men-
schen mit diesen technischen Systemen zu objektivie-
ren. Aufbauend auf den Ergebnissen der Kognitions-
wissenschaften, kann die Ergonomie aus dem Lern-
und Interaktionsverhalten der Fahrer Ansätze für eine
optimale und transparente Bedienlogik und Ausprä-
gung des Systems entwickeln.
Mittlerweile werden vielfach Fahrsimulatoren zur
Bewertung der Potenziale und der Untersuchung von
Bedien- und Anzeigenkonzepten herangezogen. Hier- Bild 8.6-6 DLR Fahrsimulator
8.7 Software 747

zeitmäßig limitiert im Realverkehr oder auch unlimi- Literatur


tiert auf dem Testgelände einzusetzen. [1] Johannsen, G.: Mensch-Maschine-Systeme, Springer, 1993
Mit diesem integrierten Zyklus lassen sich sowohl die [2] Jürgensohn, Th; Timpe, K.-P.(Hrsg.): Kraftfahrzeugführung,
Fragen des objektivierbaren Nutzens als auch der Springer, 2001
notwendigen Akzeptanz durch den potenziellen Kun- [3] Rasmussen, J.: Skills, rules and knowledge; signals, signs and
symbols and other distinctions in human performance models.
den evaluieren. Diese Vorgehensweise ist im Bild IEEE Transactions on Systems, man and Cybernetics, Vol. 13,
8.6-7 nochmals schematisch dargestellt. pp. 139 – 193, 1983
Anders als bei körperlichen Belastungen, wo in der [4] Rasmussen, J.: Information Processing and Human Machine
Regel die Minimierung von Belastungen angestrebt Interaction, North-Holland, 1986
[5] Struck, N. : „Fahrzeuginnovation und Infotainment in 3D“,
wird, ist die mentale Belastung zu optimieren. Gerade Elektronik Automotive, Heft 1/2005, S. 100 – 103, 2005
im Zusammenwirken mit automatisierenden Syste- [6] Vollrath, M., Lemmer, K.: Wahrnehmung von Assistenzsyste-
men sind für die Mensch-Maschine-Interaktion die men, Symposium Automatisierungs- und Assistenzsysteme für
folgenden Aspekte zu betrachten. Transportmittel, 2003
[7] Suikat, R., Rataj, J., Schäfer, H. und Reulke, R.: ViewCar – den
Durch die Automatisierung kann sich für den Men- Fahrer verstehen, VDI-Tagung „Optische Technologien in der
schen eine primäre Reduktion der Beanspruchung Fahrzeugtechnik“, Baden-Baden, 18./19. Juni 2003
bis hin zur vollständigen Entlastung ergeben. Hier [8] bast, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Fahrzeug-
kommt der notwendigen Aufgabengestaltung eine technik, Heft F 60, Ableitung von Anforderungen an Fahrerassis-
tenzsysteme aus Sicht der Verkehrssicherheit, 2006
besondere Bedeutung zu, da von einer entsprechen- [9] Birbaumer, N., Frey, D., Kuhl, J., Zimolong, B. et al.: Enzyklo-
den Verminderung der Aufmerksamkeit ausgegangen pädie der Psychologie: Ingenieurpsychologie 2. Wirtschafts-,
werden muss. Eine angepasste Reaktion bei einem Organisations- und Arbeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe,
Ausfall des technischen Systems ist unter Umständen 2006
[10] Lee, J.D.: Human Factors and Ergonomics in Automation
unmöglich oder zumindest kritisch. Design. In: G. Salvendy (Ed.), Human Factors and Ergonomics,
Andererseits kann sich für den Menschen auch eine New Jersey: Wiley, 2006
deutliche Erhöhung der Beanspruchung ergeben. Die [11] Sheridan, T. B. & Parasuraman, R.: Human-automation interac-
Informationen zur Systemüberwachung durch den tion. In R. S. Nickerson (Ed.), Reviews of Human Factors and
Ergonomics, Santa Monica: Human Factors and Ergonomics So-
Menschen können für diesen eine besondere und ciety, 2006
möglicherweise eine stärkere kognitive Anforderung [12] Stanton, N.a., Salmon, P.M., Walker, G.H., Baber, C. & Jenkins,
darstellen. Insbesondere die Informationsvermittlung D.P.: Human Factors Methods, Aldershot: Ashgate, 2006
nur über einen Kanal (z.B. nur Visualisierung) kann [13] Shneiderman, B.: Designing the User Interface: Strategies for
Effective Human-Computer Interaction, Amsterdam: Addison-
dabei eine besondere Herausforderung bedeuten. Wesley, 2009
Generell stellt der teilweise extrem kurzfristige, [14] „Der Fahrer im 21. Jahrhundert“, Tagungsbände erschienen beim
aufgabenbedingte Wechsel zwischen den oben ge- VDI, VDI-Berichte Nr. 2085, 2009
nannten Verhaltens- oder Fertigkeitsebenen herausra-
gende Anforderungen an den Menschen. Die Bean-
spruchungsgrößen für den Menschen spiegeln sich 8.7 Software
zum einen in dem subjektiven Empfinden des Fah-
rers, sind aber auch teilweise über physiologische Wie im Mooreschen Gesetz vorhergesagt, steigt die
Messmethoden und subjektive Bewertungen und Leistungsfähigkeit der Halbleiter und der Steuergerä-
Befragungsmethoden zugänglich. Auch diese Ansätze te bei konstanten Preisen exponentiell. Mit der billi-
®
sind in dem oben genannten ViewCar realisierbar. geren und höheren Hardwareleistung können IT-Sys-
Real

Unfallanalysen
Prototyp
Analyse von Fahrer-
verhalten in bestimmten
Situationen Erprobung von
Assistenz im
Realverkehr

FAS-Car

ViewCar Virtual Reality Lab Erprobung von


Assistenz-
funktionen in der
Erprobung
realitätsnahen
von
Simulation
Assistenz-
Virtuell

funktionen in
flexibler Dynamischer Fahrsimulator Bild 8.6-7 Integrierter
Simulation Systementwurf von Assis-
Virtual Reality Lab
tenzsystemen
748 8 Elektrik/Elektronik/Software

Speicherplatzvolumen und bestimmt damit die Per-


formanz, mit der die Software ausgeführt wird, die
Software wird durch ihre Funktionalität und ihren
Ressourcenbedarf gekennzeichnet.
Software benötigt im Gegensatz zu den Erzeugnissen
des Maschinenbaus keine eigentliche Produktion. In
der Produktion eines Fahrzeuges muss die Software
• Fahrwerk lediglich in die Steuergeräte eingebracht werden, so-
• Antrieb weit das nicht bereits durch den Zulieferer erfolgt, der
• Fahrerassistenzsysteme
• Infotainment für das Steuergerät verantwortlich ist. Damit ergeben
• Karosserie- und Komfortfunktionen sich für Software völlig andere Kostenstrukturen.
• Man Machine Interface
• IT System Services Hauptkostenfaktor sind die Entwicklungskosten und
• Modellbildung • Prozess Kosten für die Wartung. Hinzu kommen noch Folge-
• Architektur • Entkopplung von kosten für Gewährleistung und Betriebsrisiken.
• Qualitätssicherung Infrastrukturen
Die Unterschiede zwischen Software, elektronischer
Hardware und klassischer Mechanik des Maschinen-
Bild 8.7-1 Überblick Software im Automobil
baus erfordern bei der schnell wachsenden Bedeutung
von Software neue Fachkompetenzen in der Auto-
teme wirtschaftlich sinnvoll in neue Anwendungs- mobilindustrie. Das schnelle Umsetzen innovativer
bereiche vordringen. Dies eröffnet immer weitere Funktionen im Automobil, basierend auf Software,
Möglichkeiten für den Einsatz von elektronik- und verspricht hohes Potenzial, erfordert aber Lernprozes-
softwarebasierten Funktionen in Fahrzeugen. se und birgt naturgemäß Risiken. Entwicklungs- und
Vor diesem Hintergrund nimmt der Anteil an Software Wartungsprozesse müssen auf die schnell wachsende
in Fahrzeugen durch die anhaltenden Wünsche nach Bedeutung von Software ausgerichtet werden.
höherer und differenzierter Funktionalität schnell zu.
Die Folge ist eine immer umfassendere Funktionali- 8.7.2 Softwareentwicklungsprozess
tät, die erhebliche Beiträge zur Beherrschbarkeit der
Die Entwicklung von Software erfordert darauf ge-
Fahrzeuge, zur Unfallsicherheit sowie zum Komfort
zielt zugeschnittene Entwicklungsprozesse. Der Ent-
leistet. Die Kehrseite ist aber auch eine erhebliche
wicklungsprozess wird typischerweise in Phasen auf-
Zunahme der Komplexität der Softwaresysteme in
geteilt (Bild 8.7-2). In jeder Phase werden spezifische
den Fahrzeugen. Dies führt auf zahlreiche Heraus-
Zwischenergebnisse erarbeitet, die in den folgenden
forderungen in Hinblick auf die Beherrschbarkeit der
Phasen genutzt werden. Nachstehend werden die
Entwicklung und des Einsatzes von Software (Bild
Phasen grob beschrieben.
8.7-1).
Dabei ist zu beachten, dass die Entwicklung von
Softwaresystemen für Fahrzeuge in aller Regel ver-
8.7.1 Vorbemerkungen teilt und arbeitsteilig erfolgt. Neben dem Automobil-
zum Thema Software hersteller, der vornehmlich für die frühen Phasen zu-
ständig ist, sind Zulieferer für den Entwurf und die
Mit Software kommt ein technisches Konzept in die Implementierung der Software, oft auch für eine Teil-
Fahrzeuge, das sich radikal von den hergebrachten integration in Baugruppen zuständig. Die Integration
Denkweisen und Konzepten des Maschinenbaues un-
terscheidet und entsprechend grundlegend andere
Entwicklungs- und Logistikmethoden erfordert. Zu lösende Aufgabe
Software benötigt zwar zur Ausführung Hardware.
Die Software selbst aber ist immateriell. Sie besteht Anforderungsanalyse
aus Programmen („Algorithmen“) und Daten, die auf und- spezifikation

der Hardware ausgeführt werden. Die Hardware be-


Design und Architektur
steht aus programmierbaren integrierten Schaltungen
Verifikation

(Sensoren, Aktuatoren, Prozessoren und Steuergeräte


und deren Vernetzung), auf die die Software geladen Implementierung
und zur Ausführung gebracht wird.
Hardware ist dabei meist uniform, weitgehend an-
Integration
wendungsunspezifisch und folglich für unterschied-
liche Anwendungen einsetzbar. Die Software be-
stimmt in der Regel die eigentliche Verhaltensweise Produktion und Wartung
(die „Funktionalität“) eines Hardware-/Softwaresys-
tems. Die Hardware ist charakterisiert durch ihre
Leistung wie Verarbeitungsgeschwindigkeit und ihr Bild 8.7-2 Entwicklungsphasen
8.7 Software 749

ins Fahrzeug als Gesamtsystem erfolgt dann in der Dabei sind im Wesentlichen zwei Schwierigkeiten zu
Regel wieder durch den Automobilhersteller. Diese bewältigen. Es ist bei einer Vielzahl konkurrierender
Arbeitsteilung erfordert eine besonders systematische Zielvorgaben zu ermitteln, welche funktionalen und
Festlegung der Anforderungen und der Architektur, nichtfunktionalen Anforderungen an das Zielsystem
da beides für die Beherrschung der Integrationsphase tatsächlich bestehen bleiben. Funktionale Anforderun-
entscheidend ist. gen richten sich auf das Verhalten eines Softwaresys-
tems, nichtfunktionale Anforderungen betreffen Ei-
8.7.2.1 Einbettung in den Systementwicklungs-
genschaften der Realisierung oder des Entwicklungs-
prozess
prozesses. Ferner sind die Anforderungen unmissver-
Da die Softwarefunktionen eng in die unterschied- ständlich zu dokumentieren, so dass sie als verbind-
lichsten Funktionen eines Fahrzeugs eingreifen und liche Vorgaben für die weitere Entwicklung dienen
damit das Verhalten und die Charakteristik entschei- können.
dend mitprägen, ist die Softwareentwicklung von der Die Festlegung der Anforderungen ist weniger ein-
Entwicklung des Gesamtsystems Fahrzeug nicht zu fach, als es im ersten Moment klingen mag, da Soft-
trennen. Das „Software Engineering“ ist somit in das waresysteme große Entscheidungsspielräume für die
„Systems Engineering“ zu integrieren. Festlegung ihres Verhaltens lassen. Hinzu kommt,
Besonders bedeutsam ist diese Verzahnung in der dass das Verhalten der zu erstellenden Systeme in al-
Anforderungsfestlegung. Im Systems Engineering len Konsequenzen zum Zeitpunkt der Anforderungs-
werden die Fahrzeugfunktionen festgeschrieben. Auf spezifikation nur schwer vorstellbar ist. Ferner ist die
dieser Grundlage werden dann die softwarebasierten unmissverständliche, präzise Beschreibung von An-
Funktionen spezifiziert. Dabei ist zu beachten, dass forderungen ein nicht zu unterschätzendes Problem.
keine andere Technik so viel Freiheitsgrade für Spe- Besonders kritisch sind die Vielzahl von Gesichts-
zifikation und Entwurf bietet wie die Software. punkten und die große Zahl unterschiedlicher Interes-
Die Entwicklung softwarebasierter Systeme im Fahr- sengruppen, die alle bei der Erstellung einer Anforde-
zeug verläuft, wie in Bild 8.7-3 schematisch dar- rung zu berücksichtigen sind.
gestellt, von der Festlegung der Anforderungen und Dabei sollte eine Anforderungsfestlegung weitgehend
Funktionen (Nutzungsebene) über die logische Archi- unabhängig von der späteren Realisierung erfolgen.
tektur und die Clusterebene, in der logische Kompo- Generell sollte die Anforderungserhebung ohne Rück-
nenten zu Softwareeinheiten zusammengefasst wer- sicht auf die später stattfindende Partitionierung in
den, die dann in Steuergeräten abgebildet werden Hard- und Software erfolgen, um Entwurfsentschei-
können, bis hin zur Plattformebene, die aus der Hard- dungen nicht zu früh festzulegen.
warearchitektur mit der Laufzeitumgebung wie Be-
triebssystem, Bus- und Gerätetreibern besteht. 8.7.2.3 Design und Architektur
8.7.2.2 Anforderungsanalyse und -spezifikation In der Architektur eines Softwaresystems wird die
Untergliederung eines Systems in seine Bestandteile
Eine gerade in Hinblick auf die Neuartigkeit vieler
(„Softwarekomponenten“) festgelegt. Die Architektur
Funktionen und die verteilte Entwicklung in ihrer
ist für die arbeitsteilige Entwicklung eines Systems
Bedeutung oft unterschätzte Phase der Software-
von entscheidender Bedeutung und erfordert deshalb
entwicklung ist die Anforderungsphase. Dabei wird
besondere Sorgfalt in der Festlegung. Hier sind Me-
zunächst in einer Analysephase die zu lösende Auf-
thoden des Top-Down-Entwurfs, bei dem ein System
gabe analysiert. Auf Basis dieser Analyse werden
ausgehend von einer Nutzungssicht schrittweise in
dann die Anforderungen an das System spezifiziert.
Teilsysteme zerlegt wird, mit Methoden des Bottom-
Up-Entwurfs zu kombinieren, wobei aus bestehenden
Nutzungsebene Systemkomponenten schrittweise das Gesamtsystem
aufgebaut wird. Hier kann sich insbesondere der Ein-
satz von Modellen (siehe 8.7.3.1) vorteilhaft aus-
wirken, die die Funktionsweise der Komponenten
Logische Architekturebene
über ihre Systemgrenzen (die „Schnittstellen“) un-
missverständlich beschreiben.
Für die Architektur unterscheiden wir zwischen der
Clusterebene Hardwarearchitektur und der Softwarearchitektur. Für
die Software ist dabei die eigentliche Anwendungs-
software von der Systemsoftware, insbesondere dem
Betriebssystem, zu unterscheiden (Bild 8.7-4). Das Be-
Plattformebene triebssystem setzt auf dem Steuergerät („CPU“) auf.
Die Hardwarearchitektur besteht aus den Hardware-
Bild 8.7-3 Abstraktionsebenen im Entwicklungspro- komponenten wie Prozessoren (Steuergeräte, CPU),
zess Sensoren, Aktuatoren sowie den sie verbindenden
750 8 Elektrik/Elektronik/Software

richtige System wird entwickelt“) entsprechen. Veri-


Anwendung SW
fikation beschreibt die Konsistenzsicherung zwischen
Artefakten der Entwicklung („das System wird kor-
rekt gemäß den formulierten Anforderungen entwi-
ckelt“). Beides ist wesentlicher Teil der Qualitätssi-
cherung.
Netzwerk- OS
Die Durchführung der Implementierung und Integra-
I/O- management Betriebs- tion erfordert eine sorgfältige Qualitätssicherung. Ziel
Treiber system
ist der Nachweis, dass die realisierte Software den
Anforderungen genügt. Dazu bieten sich Techniken
des Reviews, der Inspektion, des Testens und auch
der maschinengestützten Modellprüfung oder logi-
schen Verifikation an.
Kommunikation CPU HW
Dabei ist darauf zu achten, dass durch Validierung
und Verifikation die in jeder Phase der Entwicklung
unvermeidlich auftretenden Fehler möglichst früh
Bild 8.7-4 Systemarchitektur entdeckt und beseitigt werden. Verschleppte Fehler
bergen enorme Risiken, verursachen in den späteren
Netzwerken. Die Softwarearchitektur besteht in der Entwicklungsphasen und erst recht im Feld überpro-
Regel aus Betriebssystemanteilen sowie System- portionale Kosten und Zeitverzögerungen.
diensten und den sich darauf abstützenden Anwen-
dungsprogrammen. Diese können zweckmäßigerwei- 8.7.2.7 Produktion und Wartung
se in Schichten aufgebaut sein. In der Fahrzeugproduktion ist die Software in die
8.7.2.4 Implementierung und Modultest Hardware des Fahrzeugs einzubringen. Im Laufe der
Nutzung des Fahrzeuges werden neue verbesserte
In der Implementierung werden die in der Software-
(„Update“), in Hinblick auf die Funktion erweiterte
architektur festgelegten Bestandteile durch Program-
(„Upgrade“) Versionen der Software erzeugt und
me realisiert. Wir sprechen von Codierung. Dies kann
nachgeladen.
händisch durch die Programmierer erfolgen oder
Besonders kritisch wird dadurch die Wartung von
durch Generierung des Codes durch ein Werkzeug
Software im Fahrzeug, da neue Versionen kompatibel
aus Modellen. Letzteres setzt voraus, dass das Ver-
in die Hardware im Fahrzeug eingebracht werden
halten so präzise in Modellen erfasst wird dass der
müssen. Dies erfordert sorgfältige logistische Über-
Code daraus automatisch abgeleitet werden kann.
legungen in Hinsicht auf Kompatibilität, Konfigu-
Ein wesentlicher Bestandteil der Codierung ist die
ration und Versionsbildung.
Qualitätssicherung durch Maßnahmen der Verifika-
tion wie etwa Codeinspektion und Modultest. Nur 8.7.3 Erfolgsfaktoren
wenn die Softwaremodule weitgehend fehlerfrei sind,
ist die Voraussetzung für eine Beherrschung der In- Der enorme Zuwachs von Software im Fahrzeug an
tegration gegeben. Umfang und Funktionalität stellt die Automobilin-
dustrie vor neue Herausforderungen. Besonderes Au-
8.7.2.5 Integration genmerk kommt der Komplexitätsbewältigung in
Die realisierten Programme sind in der Regel in Modu- Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Software zu und
le gegliedert. Diese werden in der Integration schritt- der Erhöhung der Produktivität in Hinblick auf die
weise zu größeren Softwareeinheiten zusammengefügt. dramatisch steigenden Aufwände bei der Entwick-
Die Software ist schließlich in die Zielhardware ein- lung der Software.
zubringen und mit ihrer technischen Umgebung zu Hier ist die Avionik mit der Zuverlässigkeit von
integrieren. Dann ist aus den so entstehenden System- Software in Verkehrsflugzeugen weiter. Moderne Ver-
teilen in Schritten („inkrementell“) das Gesamtsystem kehrsflugzeuge fliegen „by-Wire“. Die Zuverlässig-
aufzubauen. Kritisch ist bei der Integration die Si- keit ist beeindruckend hoch. Allerdings sind die Kos-
cherstellung des korrekten Zusammenspiels der Sys- tenmodelle unterschiedlich zu denen in der Fahrzeug-
temteile und unterschiedlicher Teilfunktionen. Um entwicklung.
dieses zu gewährleisten, sind umfangreiche Tests er-
8.7.3.1 Modellbildung
forderlich. Im ungünstigen Fall werden Fehler im Ar-
chitekturkonzept oder in der Realisierung der Module Wie kaum ein anderes Gebiet ist die Softwaretechnik
erst zu diesem Zeitpunkt entdeckt. auf angemessene Techniken zur Modellbildung ange-
wiesen. Eine besondere Rolle spielt bei der Software
8.7.2.6 Validierung und Verifikation im Fahrzeug das Thema Reaktivität und Echtzeit. Die
Validierung hat zum Ziel zu überprüfen, ob die For- Software muss auf Ereignisse aus der Umgebung an-
mulierungen den tatsächlichen Anforderungen („das gemessen werden und zur richtigen Zeit reagieren.
8.7 Software 751

lung gegeben werden. Die bisher im Fahrzeug vor-


idle herrschenden Techniken durch Schieber, Knöpfe und
Anzeigeinstrumente kommen dabei schnell an ihre
Normal Grenzen. Neue Bedien- und Anzeigekonzepte sind
gefragt, die einfach und selbsterklärend sind und
trotzdem dem Fahrer die volle Verfügung über alle
:KS?False:key!Blinking:
OFF
vorhandenen Funktionen geben und ihm auch die ent-
ON sprechenden Informationen über den Zustand seines
Fahrzeugs zurückspiegeln. Neuartige Konzepte der
Blinking
Interaktion zwischen Nutzern und Fahrzeug kombi-
nieren akustische Signale, Sprache und visuelle sowie
blink taktile Möglichkeiten. Es entsteht eine multimodale
Mensch-Maschine-Interaktion
Dabei ist bemerkenswert, dass auch die Mensch-
Bild 8.7-5 Zustandsübergangsdiagramm Maschine-Schnittstelle durch Software selbst flexibel
und programmierbar wird. Die Nutzung von Anzeige-
Da Software immateriell ist und dabei komplexe dy- instrumenten aus der Computertechnik, also von
namische Vorgänge mit statischen Mitteln beschreibt Bildschirmen und programmierbaren Anzeigen (wie
und bis ins letzte Detail festlegt, kommt Techniken, „Menue“-Techniken, etc.), erlaubt es, eine Vielzahl
die es erlauben, das Verhalten der Software nachvoll- von unterschiedlichen Konzepten im gleichen Fahr-
ziehbar und überprüfbar zu beschreiben, eine beson- zeug zu realisieren. Die angemessene Gestaltung und
dere Bedeutung zu. Nutzung dieser Möglichkeiten ist eine der großen
Die Informatik hat eine ganze Reihe von Modellen Herausforderungen der Zukunft.
entwickelt, um Software zu beschreiben und anschau-
lich darzustellen. Inzwischen existieren auch Model- 8.7.3.3 Qualitätssicherung
lierungssprachen und Werkzeuge, die das Erstellen Die enorme Komplexität der Software in Fahrzeugen
von Modellen unterstützen. Reaktionen von Systemen stellt die Entwicklung vor große Herausforderungen.
lassen sich anschaulich durch Zustandsübergangs- Durch die hohe Kombinatorik des Systemverhaltens
diagramme darstellen (siehe Bild 8.7-5). sowie die Vernetzung und dadurch oft bedingten ver-
Die Bildung von Modellen für Software schafft die deckten logischen Abhängigkeiten gibt es viele Feh-
Möglichkeit, frühzeitig ohne die Betrachtung stören- lerquellen, wie beispielsweise logische Fehler der
der technischer Details, die Softwarefunktionalität Software und auch Integrationsfehler, die oft nur
fachlich unmissverständlich festzulegen und zu über- schwer zu ermitteln sind. Auch Fehler in der Infra-
prüfen. Dies führt auf den modellgetriebenen Ansatz struktur können zu erheblichen Störungen führen. Be-
der Softwareentwicklung. sonders kritisch ist, dass das Auftreten unerwarteter
Fehler oft Folgefehler verursacht, die folgenschwere
8.7.3.2 Mensch-Maschine-Interaktion
Beeinträchtigungen der Funktionen nach sich ziehen,
Die auf Basis von Software geschaffene umfangrei- aber auch schwer zu diagnostizieren sind.
che, neuartige Funktionalität in Fahrzeugen erfordert Entscheidend ist es, die Fehler vor Anlaufen der Pro-
neue Konzepte, um diese Funktionalität dem Fahrer duktion zu finden und zu beseitigen. Dazu sind um-
und Nutzer in angemessener Weise zur Verfügung zu fangreiche Inspektionen, Reviews, Tests und Erpro-
stellen. Allein die hohe Zahl der Funktionen und die bungen erforderlich. Spontane Ausfälle der Fahrzeug-
Schwierigkeit, ihre Wirkungsweise unmissverständ- software („transiente“ Fehler) im Feld rühren immer
lich zu verstehen, führt auf große Herausforderungen. von der Hardware her, Softwarefehler sind hingegen
Wir sprechen bei der Aufgabe, den Nutzern (Fahrer, stets systematische, logische Fehler, also Versäum-
Beifahrer, aber auch Wartungspersonal) die elektro- nisse in der Entwicklung. In Hinblick auf Hardware-
nisch basierten Funktionen durch Dialog mit der Ma- fehler kann Software jedoch mit geeigneten Metho-
schine transparent für den Zugriff zur Verfügung zu den fehlertolerant gestaltet werden. Dies führt jedoch
stellen, von der Mensch-Maschine-Interaktion (kurz in der Regel auf höhere Kosten.
MMI). Insbesondere der Umfang an Funktionen be- Da die Funktionen immer stärker vernetzt werden,
reitet hier zunehmend Schwierigkeiten, wie auch die aber gleichzeitig im Baukastenprinzip unterschied-
vielfältigen Einstellungsmöglichkeiten der Funktionen liche Teile des Fahrzeugs und damit auch Funktionen
eines Fahrzeugs, die die Software dadurch bietet. von unterschiedlichen Herstellern geschaffen werden,
Durch die Softwaresysteme können Fahrzeuge in ei- kommt der Integration und der Integrationsfähigkeit
ner völlig neuen Weise auf die Bedürfnisse eines Fah- im Zusammenhang mit Software im Fahrzeug eine
rers zugeschnitten werden. Wir sprechen von „Perso- herausragende Bedeutung zu. So müssen die Soft-
nalisierung“. Dazu ist es jedoch erforderlich, dass waresysteme, die von Zulieferern geschaffen werden
dem Fahrer entsprechende Möglichkeiten der Einstel- und Schnittstellen zu anderen Softwaresystemen im
752 8 Elektrik/Elektronik/Software

Fahrzeug haben, im Hinblick auf ihre Schnittstellen Komponentenarchitektur (Bild 8.7-7) für das Fahr-
genau beschrieben werden, so dass sie dann in einen zeug zu entwerfen, auch Systemarchitektur oder logi-
Integrationsrahmen, der durch die Softwarearchitek- sche Architektur genannt, in der zur Realisierung der
tur gegeben ist, eingepasst werden können (siehe Ka- Funktionen das Softwaresystem in einzelne Kompo-
pitel 8.1 zum Thema Dienstleister und Zulieferer). nenten zergliedert wird. Aus dieser Architektur wird
Zur Bewältigung der angesprochenen Probleme wird dann schließlich die Softwarearchitektur gewonnen,
es in Zukunft erforderlich sein, die Softwaresysteme die zeigt, wie die Bestandteile der Software sich glie-
im Fahrzeug viel stärker aus einer Gesamtsystemsicht dern, und ferner die Hardwarearchitektur, die die Be-
zu sehen und zu entwickeln. Frühzeitig ist eine Funk- standteile des Hardwaresystems umfasst. Die Idee des
tions- und Softwarearchitektur festzulegen mit genau Produktlinienansatzes ist es, alle diese Architekturen
abgegrenzten Schnittstellen, wie das in der Software- in verallgemeinerter Form zu entwickeln, so dass aus
technik üblich ist. Auf dieser Basis ergibt sich ein ihnen durch Spezialisierung die Lösungen für die ein-
systematisches Top-Down-Vorgehen, in das sich rea- zelnen Baureihen abgeleitet werden können.
lisierte Softwaresysteme mit ihrer Vernetzung syste-
matisch einfügen müssen. Controller Timer Manual Switch

8.7.4 Entkopplung von Infrastruktur Req.Present


und Plattformen
key.Normal
Die Software wird auf der Hardware des Fahrzeugs
ausgeführt. Da die Hardware (Steuergeräte) starke KS.true
Unterschiede aufweist, ist es für die Übertragbarkeit
der Software zwischen unterschiedlichen Hardware-
key.Normal
plattformen sinnvoll, einheitliche Softwarestrukturen
(„Softwareplattform“) zu verwenden, auf denen dann
key.Normal
die Anwendungssoftware aufsetzen kann. Wichtigster
Bestandteil ist dabei das Betriebssystem.
key.Normal
Langfristig ist zu erwarten, dass einheitliche Platt-
formen, zumindest bei den einzelnen Herstellern, ent- KS.false
stehen, die es erlauben, Lösungen von Fahrzeugrei-
hen auf andere Fahrzeugreihen zu übertragen und key.Blinking
auch innerhalb der einzelnen Fahrzeugreihen unter-
schiedliche Hardwarelösungen einzusetzen, ohne dass CS.Yellow
die Software massiv dafür geändert werden muss. set.1
Dies ist eines der wesentlichen Ziele von Autosar, ei-
nes gemeinsamen Projektes von Automobilherstellern key.Blinking

und Zulieferern zur Vereinheitlichung und Standardi-


sierung der Plattformen im Fahrzeug.
Bild 8.7-6 Interaktionsdiagramm
8.7.5 Produktlinien
Typischerweise sind in den Fahrzeugen immer wieder A
Timer
ähnliche Funktionen durch Software realisiert. Des-
halb empfiehlt sich der Produktlinienansatz, der der
systematischen Entwicklung immer wieder neuen set:int
Versionen eines Produkts Rechnung trägt. timeout:Signal
Der Produktlinienansatz ist ein inzwischen in vielen CS:CarColor
A
Details beschriebener Ansatz für die Entwicklung von PS.PedColor
Softwaresystemen mit immer wieder ähnlichen Funk- Req.Signal
tionsmerkmalen. Wichtigster Bestandteil des Pro- Controler Ind:Signal

duktlinienansatzes sind das so genannte Domänen- Ind:Signal


modell und auch die Domänenarchitektur, in der die
Funktionen eines Fahrzeuges strukturiert dargestellt
werden („Featurebaum“). Dieser kann am günstigsten key:KeyMode

nach dem Prinzip der Nutzungsfälle (modelliert durch A


Manual Switch
Szenarien; Bild 8.7-6) aufgebaut werden, in denen
dargestellt wird, für welche Aufgaben die einzelnen
KS:Bool
Softwaresysteme und im Überblick das gesamte Soft-
waresystem im Fahrzeug gedacht ist. Zweiter wesent-
licher Bestandteil der Produktlinien ist es dann, eine Bild 8.7-7 Strukturdiagramm
8.7 Software 753

8.7.6 Anwendungsfelder Schlussfolgerungen zu ziehen, wie das Fahrzeug stär-


ker auf die Bedürfnisse des Fahrers eingestellt wer-
Die Anwendungsfelder der Software in Fahrzeugen
den kann und zusätzliche Hilfen und Informations-
werden immer vielfältiger. Die Software erlaubt es,
dienste zur Verfügung gestellt werden können. Nur
umfangreich differenzierte Funktionen ins Fahrzeug
langsam klären sich in diesem Bereich die Fragen,
einzubringen.
welche Form der Unterstützung der Fahrer benötigt
Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Gründen
und wünscht, wie man sicherstellen kann, dass man
für die Implementierung von Funktionen im Fahrzeug
den Fahrer nicht entmündigt, dass er sich über das
durch Steuergeräte und Software unterscheiden. Zum
Potential seines Fahrzeuges noch bewusst ist und die-
einen wird diese Technik eingesetzt, um neuartige
ses realistisch einschätzen kann und wie man den
Funktionen im Fahrzeug zu realisieren. Typisches
Fahrer in die Lage versetzt, die Charakteristika seines
Beispiel ist die elektronisch unterstützte Fahrstabili-
Fahrzeugs so weit wie möglich nach seinen eigenen
tät, die in ihrer ausgeprägten Form ohne Steuergeräte
Vorstellungen zu bestimmen.
und zugeschnittene Software nicht denkbar wäre.
Weitere Beispiele sind Navigationsgeräte oder For- 8.7.6.2 Infotainment
men der Personalisierung im Fahrzeug durch die Ein-
stellung von Komfortfunktionen und Fahrzeugcha- Neben der Unterstützung der primären Funktionen im
rakteristika auf die Bedürfnisse einzelner Fahrer. Fahrzeug steigt der Bedarf an Information und Unter-
Ein zweiter wichtiger Komplex der Anwendung von haltung im Fahrzeug. Über längst verbreitete Funk-
Software ist die Realisierung bekannter Funktionen, tionen hinaus, wie dem Autoradio, sind drahtlose Te-
die bisher mechanisch und hydraulisch durch elektro- lefone, Fernsehen, Navigationsgeräte und die Einbin-
nische und elektrische Bauteile realisiert worden sind. dung typischer Informatiktechnologie bis hin zu Spie-
Das wichtigste Gebiet in diesem Zusammenhang ist len und Informationsdiensten verstärkt in Fahrzeugen
wohl das Gebiet des „Drive by Wire“. Dabei werden zu finden. Gerade die drahtlose Kommunikation er-
klassische Funktionen des Fahrzeugs, wie etwa öffnet eine Vielzahl neuer Möglichkeiten.
Bremsen durch Hydraulik oder Lenkung mit Lenkge- Nahezu grenzenlose Möglichkeiten bietet die Integra-
stänge, durch Elektromotoren und Steuergeräte sowie tion von übergreifenden Verkehrsleitsystemen und
Software ersetzt. Man verspricht sich dabei Vorteile Kommunikationssystemen zwischen den Fahrzeugen
im Hinblick auf das Packaging, auf kostengünstigere mit dem Fahrzeug selbst. Dadurch wird es beispiels-
Produktionslösungen, aber auch im Hinblick auf neu- weise möglich, dass hintereinander fahrende oder in
artige Funktionalität, die Potential für weitere Innova- eine Kreuzung einfahrende Fahrzeuge Informationen
tionen aufweist. austauschen. So kann beispielsweise auf eine Voll-
Damit treffen sich beim „Drive by Wire“ beide Be- bremsung des Vordermannes elektronisch reagiert
weggründe für den Einsatz von Software im Fahr- werden. Weiter wird es auch möglich, Informationen
zeug. Zunächst werden herkömmliche Funktionen aus den Fahrzeugen zu sammeln und diese an zentrale
durch Hardware-/Softwarerealisierungen ersetzt, was Verkehrsleitstände zu geben. Somit wäre eine zuver-
Vorteile für die technische Realisierung – die Kosten lässige Gewinnung von Daten über die Verkehrssitua-
der Produktion oder das Packaging – hat. Durch den tion gegeben. Gleichzeitig könnten spezifische Daten
Umstand, dass nun diese Funktionen elektronisch an- in die Fahrzeuge zurück übertragen werden.
gesteuert werden, ist es möglich, im Fahrzeug zu- Diese Beispiele zeigen bereits auf, wie umfangreich
sätzlich Funktionalitäten zu schaffen und dem Fahrer die Möglichkeiten durch die Vernetzung von Kom-
zur Verfügung zu stellen. munikation und Software im Fahrzeug bereits heute
Allerdings erfordert der Einsatz umfassender „By- sind. Nur langsam klären sich die Geschäftsmodelle,
Wire“-Lösungen in den Fahrzeugen eine deutliche nach denen diese Möglichkeiten genutzt werden, aber
Erhöhung der Zuverlässigkeit der Systeme. Gerade in auch die Wünsche der Kunden und ihre Akzeptanz
sicherheitskritischen Anwendungen ist ein Einsatz gegenüber entsprechenden Lösungen.
nur dann zu verantworten. 8.7.6.3 Karosserie- und Komfortfunktionen
8.7.6.1 Fahrerassistenzsysteme Die Funktionen in und um den Innenraum bieten eine
Ein wichtiges Anwendungsfeld von Software sind Fülle von Möglichkeiten für eine Unterstützung von
Fahrerassistenzsysteme, die den Fahrer unterstützen, Fahrern und Passagieren. Beispiele sind Schließung,
seine Aufgaben vereinfachen, ihn warnen und zusätz- Steuerung der Fenster, der Spiegel, des Lichts, der
liche Informationen geben (siehe auch 8.5). Auch auf Scheibenwischer, Klimatisierung, Sitze und vieles
diesem Gebiet sind die technischen Möglichkeiten bei mehr. Gerade hier kann ein hoher Komfort durch eine
weitem nicht ausgeschöpft. Bisher werden schon heu- starke Personalisierung erreicht werden.
te verfügbare Techniken nur in Ansätzen genutzt,
durch Beobachtungen des Fahrers und seiner Aktivi- 8.7.6.4 Sicherheitsfunktionen
täten, Informationen über seine Befindlichkeiten, Ab- Eine Fülle von Möglichkeiten bieten Funktionen zur
sichten und seine Ziele zu sammeln und daraus passiven und aktiven Sicherheit in Hinblick auf Un-
754 8 Elektrik/Elektronik/Software

fälle. Dies beginnt mit Funktionen zur Unfallvermei- Greifen Systeme stark in die Autonomie des Fahrers
dung („aktive Sicherheit“) bis hin zum Eingriff in die ein, indem sie seine Fahrmanöver korrigieren, sind
Reaktionen des Fahrers. Dies führt auf kritische tech- bisher ungelöste Haftungsfragen zu klären (siehe
nische und konzeptionelle Fragen für die Mensch- H. Winner et al: Handbuch Fahrerassistenzsysteme
Maschine-Schnittstelle. Auch schwierige rechtliche Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive
Fragen sind hierbei zu klären. Sicherheit und Komfort. Vieweg+Teubner 2009).
Im Falle eines Unfalls können Systeme der passiven Dies führt dazu, dass bestimmte Funktionen, die
Sicherheit die Insassen oder Unfallgegner vor schwe- durchaus im statistischen Mittel einer Unfallvermei-
ren Verletzungen schützen. Beispiele sind Gurtstraf- dung dienen könnten, nicht zum Einsatz kommen.
fer, adaptive Airbagsteuerung und vielfältige Pre-
crashfunktionen, durch die ein Fahrzeug auf einen als 8.7.7.2 Wartung und Logistik
unvermeidlich erkannten Unfall so vorbereitet wird, Nicht nur die Erstellung der Software, auch die Ein-
dass das Verletzungsrisiko gemindert wird. bringung der Software in die Fahrzeuge während der
Produktion, die Wartung der Software und das Erset-
8.7.7 Technische Herausforderungen zen der Software im Fahrzeug durch neue Soft-
zur Software im Fahrzeug warestände bringen eine Vielzahl von Schwierigkei-
ten mit sich. Insbesondere ist Software in diesem Zu-
Besondere Probleme der Software ergeben sich aus sammenhang kaum mit den üblichen Prozessen der
der Festlegung der Anforderungen, der Beherrschung Automobilindustrie angemessen zu behandeln.
der Komplexität der Realisierung und der Qualität Eine Schwierigkeit ist dabei beispielsweise, dass, be-
und der Softwarelogistik (Wartung und Fehlerbe- dingt durch die großen Unterschiede bei den Sonder-
seitigung). Kritisch sind auch der ständig steigende ausstattungen, kaum ein Softwaresystem in einem
Entwicklungsaufwand und die Beherrschung der Fahrzeug einer Baureihe einem anderen gleicht.
Entwicklungsprozesse. Zugleich werden die Softwaremodule im Rahmen
von Fehlerkorrektur, Funktionserweiterung und An-
8.7.7.1 Zuverlässigkeit
passung an neue Hardware weiterentwickelt. Es ent-
Unter der Zuverlässigkeit von Software verstehen wir stehen unterschiedliche Versionen der Softwaremo-
die Fehlerfreiheit, Verfügbarkeit und angemessene dule. Dieses Problem der Versionierung von Soft-
Reaktion auch in Grenzsituationen im Sinne der An- waresystemen erfordert eine hohe Modularität und
forderungen. In bestimmten Anwendungsfeldern ist weitgehende Kompatibilität der Software.
die garantierte Zuverlässigkeit der Software absolutes Heute wird bei der Wartung von Fahrzeugen mit so
Muss. Beispiele sind Softwaresysteme, deren Zuver- genannten Softwareständen gearbeitet. Ein Software-
lässigkeit für die Unfallvermeidung, die Fahrzeug- stand definiert eine Konfiguration, die sich aus einer
funktionen oder die Verhinderung von technischen Familie von untereinander verträglichen Software-
Defekten zwingend Voraussetzung ist. versionen zusammensetzt.
Allerdings unterscheiden sich die Methoden zur Mes- Macht man sich klar, dass für die Software immer
sung, Steigerung und Sicherung der Zuverlässigkeit wieder neue, verbesserte Softwarestände produziert
von Software stark von denen der Ermittlung und Be- und freigegeben werden, so ist eine der großen
wertung der Zuverlässigkeit mechanischer Systeme. Schwierigkeiten, in den individuellen Fahrzeugen die
Für Software gibt es keinerlei Schwierigkeiten in Hin- genaue Information über den aktuellen Softwarestand
blick auf Fragen wie etwa Materialermüdung. Soft- zu haben und über die Möglichkeiten, diesen Soft-
ware kann aber logische Fehler durch eine inkorrekte warestand insgesamt oder in Teilen zu verändern.
Realisierung oder Konzeptfehler in Folge einer feh- Die Inkompatibilität zwischen unterschiedlichen Soft-
lerhaften Festlegung der Anforderungen aufweisen. wareteilen und die Inkompatibilität zwischen gewis-
Die Zuverlässigkeit softwarebasierter Funktionen im sen Hardware- und Softwarekomponenten führen
Fahrzeug hat noch nicht den hohen Standard erreicht, letztlich auf schwer beherrschbare Probleme. Werk-
wie er in der zivilen Luftfahrt heute anzutreffen ist. stätten müssen den aktuellen Softwarestand eines
Die Gründe dafür sind vielfältig. Die unterschied- Fahrzeugs feststellen können und bei Wartungs- und
lichen Stückzahlen und Stückkosten erlauben für vie- Reparaturarbeiten darauf achten, das wieder konsis-
le bewährte Ansätze der zivilen Luftfahrt, wie der re- tente Softwarestände im Fahrzeug sichergestellt
dundanten Auslegung von Steuergeräten, ein Über- sind.
tragen auf den Automobilbereich nicht. Auch sind die Im Gegensatz zu der üblichen Schnelllebigkeit in der
Vorschriften und Zulassungsprozesse in der zivilen Computerindustrie, wo typischerweise Hardware
Luftfahrt rigider. Im Automobilbereich sind die Ver- nach drei bis fünf Jahren ausgemustert wird, müssen
fahren des TÜV noch zu wenig auf die Besonderhei- wir im Automobil Voraussetzungen dafür schaffen,
ten softwareintensiver Systeme zugeschnitten. dass Fahrzeuge zwanzig Jahre und länger im Markt
Problematisch sind nicht zuletzt die rechtlichen Ge- sind. Sie müssen über diese ganze Zeit auch im Hin-
sichtspunkte bei der Freigabe innovativer Systeme. blick auf ihre Softwarestände gepflegt und gewartet
8.7 Software 755

werden. Dies bringt völlig neue Herausforderungen Dieser Nichtdeterminismus ist für sicherheits- und
mit sich. zeitkritische Anwendungen nicht akzeptabel. Abhilfe
schaffen Methoden der Zeitsteuerung, bei denen das
8.7.7.3 Vernetzung Scheduling auf Steuergeräten und Bussen nicht über
Waren die ersten Softwaresysteme in Fahrzeugen im Ereignisse, sondern über fest vergebene Zeitintervalle
Wesentlichen bestimmt von regelungstechnischen erfolgt. Flexray ist ein Bussystem, das das Konzept
Aspekten und liefen diese Systeme weitgehend iso- der Zeitsteuerung unterstützt und zurzeit in erste Se-
liert, ohne mit anderen Funktionen in Interaktion zu rienfahrzeuge eingebaut wird.
treten, so beobachten wir heute eine immer stärkere
8.7.7.5 IT-Security
Vernetzung der einzelnen Funktionen. Traditionell
funktional völlig unabhängige Bestandteile des Fahr- Die Vernetzung der Fahrzeuge nach innen und außen
zeugs werden durch die Vernetzung ihrer Steuerge- schafft Anforderungen in Hinblick auf die IT-Si-
räte plötzlich voneinander abhängig. Beispiele sind cherheit (engl. Security) der Informationen und Funk-
Fahrstabilitätssysteme oder die komfortable elektro- tionen im Fahrzeug. Hinzu kommen wichtige Fragen
nische Feststellbremse. Durch angepasste Bremsan- der so genannten Privacy, das heißt, der Sicherstel-
lagen werden heute funktionale Abhängigkeiten zwi- lung, dass vertrauliche Daten über den Fahrer nicht
schen Fahrzeugteilen, wie Motor, Bremsen und Fahr- unzulässig gesammelt und unbefugt genutzt werden.
werk geschaffen, die bisher nicht vorhanden waren. Insgesamt nimmt das ganze Thema der IT-Zugriffs-
Diese Abhängigkeiten sind typischerweise „Bottom sicherheit (engl. Security im Fahrzeug) einen immer
up“ entstanden. Dies heißt, dass unsystematisch die höheren Stellenwert ein. Die Sicherung der Infor-
Vernetzung einzelner Funktionen stattgefunden hat. mationen im Fahrzeug gegen unbefugte Nutzung und
Inzwischen sind die funktionalen Abhängigkeiten so Manipulation wird eine der kritischen Fragestel-
vielfältig, dass im Entwicklungsprozess leicht die lungen für moderne Hardware-/Softwaresysteme in
Übersicht verloren geht. Dies führt dazu, dass gele- Fahrzeugen.
gentlich überraschende, unbeabsichtigte Abhängigkei-
ten auftauchen, die in ungewollten fehlerhaften Ver- 8.7.8 Potenzial
halten resultieren („Feature Interactions“). Dieses Phä- Software bietet enormes Potenzial für Kraftfahrzeuge.
nomen, das aus Softwaresystemen, beispielsweise der Sie erweist sich als der dominante Innovationstreiber.
Telekommunikation, wohl bekannt ist, erzwingt, dass Wie bereits erwähnt, wird auf das Thema „Drive by
in Zukunft der Entwurf der Funktionen im Fahrzeug Wire“ in der Automobilindustrie mit besonderen Er-
viel stärker systematisch „Top down“ erfolgt und dass wartungen geblickt. Bisher gibt es zwar nur vereinzelt
das Fahrzeug und seine Softwaresysteme grundsätzlich Lösungen in dieser Hinsicht (siehe Kap. 5 und 7), aber
von vornherein als Gesamtsystem gesehen werden. langfristig erwarten sich die Automobilhersteller um-
fassende Lösungen, bei denen beispielsweise die Len-
8.7.7.4 Multiplexing, Zeitbeherrschung
kung eines Fahrzeugs völlig durch Elektronik ersetzt
und Determinismus
wird. Versuchsträger dazu existieren bereits. Dies er-
Die Hardwarestrukturen werden aus Kostengründen fordert Stellmotoren zur Steuerung der Räder und
gemeinsam für unterschiedliche Funktionen genutzt. gleichzeitig Aktuatoren und Sensoren in der Lenkung,
So laufen auf den Steuergeräten Programme zeitlich mit denen die Lenkbewegungen des Fahrers erfasst
versetzt ab, die die unterschiedlichen Funktionen rea- werden. Damit der Fahrer auch noch das Gefühl für
lisieren. Wir sprechen von Multiplexing. Die Festle- die Straße hat, ist dabei ein so genanntes haptisches
gung, welche Funktion wann zur Ausführung kommt, Feedback erforderlich. Die auf das Fahrzeug wirken-
wird durch das „Scheduling“ bestimmt. Auch auf den den Kräfte werden so ebenfalls auf elektronischem
Bussystemen werden Nachrichten und Signale für un- Weg auf die Lenkung des Fahrers rückübertragen.
terschiedliche Anwendungen zeitlich versetzt über- Drive by Wire bedingt hohe Anforderungen im Hin-
tragen. blick auf die Zuverlässigkeit der Systeme. Insbeson-
Die zeitlich verschränkte Ausführung führt dazu, dass dere die Frage, wie man die Systeme ausfallsicher
die Reaktionszeiten bei den einzelnen Funktionen macht, sobald keine mechanischen Notsysteme mehr
nicht nur durch die Geschwindigkeit der Steuergeräte, vorhanden sind, steht hierbei im Vordergrund.
sondern auch durch die Reihenfolge der Ausführung Gelingt es „Steer by Wire“ zu realisieren, so sind die
bestimmt werden. Durch zufällige Verdrängung der Möglichkeiten für weitere Innovationen nahezu un-
Ausführung einzelner Funktionen können unerwartete beschränkt. Beispielsweise ist keine Notwendigkeit
Verzögerungen auftreten, wenn die Steuerung der mehr für ein Lenkrad gegeben. Das Fahrzeug kann
Steuergeräte und der Bussysteme jeweils auf die auf- möglicherweise ebenso gut durch einen „Joystick“
tretenden Ereignisse reagiert. Bei dieser Vorgehens- gelenkt werden, wobei die damit verbundenen ergo-
weise spricht man von Ereignissteuerung. Das zeit- nomischen Fragen noch zu klären sind (siehe auch
liche Verhalten einzelner Funktionen erscheint dann 6.4.1). Dies erlaubt wiederum völlig andere Lösungen
nicht vorhersagbar und nichtdeterministisch. im Bereich der Armaturen und der Gestaltung des
756 8 Elektrik/Elektronik/Software

Fahrgastraums. Sind die Steuersignale der Lenkung Bremsen, die dazugehörigen Sensoren und Aktuato-
erst mal elektronisch erfasst, so gibt es vielfältige ren, die Stellmotoren, die Steuergeräte und schließ-
Möglichkeiten, auch hier zusätzliche Funktionen auf- lich die Software in der Regel in einem Bauteil. Mit-
zusetzen. Dies geht von der automatischen Einpark- tel- bis längerfristig ist jedoch zu erwarten, dass die
funktion über die Korrektur der Lenkvorgänge bei In- Anzahl der Prozessoren in den Fahrzeugen eher wie-
stabilitäten bis hin zu Fragen einer dynamisch beein- der abnimmt und dass eine Vielzahl von Funktionen
flussten Lenkung, bei der der Lenkeinschlag ge- auf einzelnen Prozessoren und Steuergeräten zusam-
schwindigkeitsabhängig gewählt wird. mengefasst wird. Dies bedeutet, dass die Software für
Das Beispiel „Drive by Wire“ zeigt das riesige Poten- unterschiedliche Funktionen nicht mehr in den ent-
tial von Softwarelösungen im Fahrzeug, aber gleich- sprechenden Geräten verkapselt in dafür gewidmeten
zeitig die bisher nicht vollständig bewältigten Heraus- Steuergeräten läuft, sondern, wie in klassischen Infor-
forderungen für die Entwicklungsingenieure. matiksystemen, im Multiplexbetrieb auf einem Pro-
zessor. Dies führt unweigerlich dazu, dass die Soft-
8.7.9 Organisatorische Heraus- ware getrennt von den Geräten gesehen und integriert
forderungen werden muss. Der nächste Schritt liegt auf der Hand.
Die starke Zunahme von Software in Fahrzeugen hat Damit kann die Software auch unabhängig von der
nicht nur tiefgreifende technische Auswirkungen auf Mechanik der Sensorik und Aktuatorik erstellt werden.
das Fahrzeug und seine Entwicklung, sondern auch Damit sind langfristig neue Formen der Zuliefer- und
tiefwirkende organisatorische Auswirkungen auf Au- Softwareindustrie zu erwarten, die die Bedürfnisse
tomobilunternehmen und die Zulieferindustrie. Zum der Automobilindustrie in dieser Hinsicht befriedi-
einen müssen Kompetenzen in dieser Hinsicht aufge- gen. Software wird auch im Fahrzeug zum eigenstän-
baut werden, des Weiteren müssen die Prozesse auf digen Teilprodukt. Letztlich kann Software auch
die neuen Techniken zugeschnitten werden. nachträglich den Funktionsumfang eines Fahrzeugs
Eine Vielzahl fortgeschrittener Prozesse and Verfah- erweitern.
ren der Informatik findet in der Praxis der Software- 8.7.9.2 Auswirkungen und langfristige
entwicklung für Automobile noch nicht hinreichend Perspektiven
Berücksichtigung. Eine Erhöhung ihres Softwarerei-
Software im Fahrzeug stellt schon heute, aber stärker
fegrads ist für viele Hersteller und Zulieferer deshalb
noch für die Zukunft, eine der Herausforderungen
ein Ziel hoher Priorität. Dazu werden standardisierte
schlechthin für die Automobilindustrie dar. Dramati-
Verfahren zur Bewertung des Softwarereifegrades
sche Änderungen im Produkt, in den Entwicklungs-,
von Unternehmen verwendet wie CMMI und SPICE.
aber auch Produktionsprozessen, in den Geschäfts-
8.7.9.1 Prozesse modellen und im Markt sind zu erwarten.
Besonders gravierend wirkt sich dabei aus, dass die Software-basierte Funktionen sind für die Zukunft
Lebenszyklen in der Softwareindustrie typischerweise entscheidende Innovationstreiber. Das Thema zeigt
deutlich kürzer sind als üblicherweise im Automobil- damit hohes Potential, aber auch Risken. Alle betei-
bereich. Ein eindringliches Beispiel in diesem Zu- ligten Unternehmen der Automobilindustrie sind
sammenhang sind die mobilen Telefone in Fahrzeu- heutzutage organisatorisch, personell und technisch
gen. Neue Generationen mobiler Telefone erscheinen auf diese Herausforderungen noch nicht hinreichend
in der Regel alle ein- bis eineinhalb Jahre. Eine neue eingestellt. Die Fähigkeit, sich schnell und flexibel
Fahrzeuggeneration wird alle sechs bis acht Jahre an- auf die angesprochenen Themen auszurichten und
gegangen. Diese Unterschiede zeigen schon, dass bei einzustellen, diese zu bewältigen und beherrschen,
konsequentem Einbau aktueller Technologie in Fahr- und dabei die Marktführerschaft zu behalten, wird ei-
zeuge in einem Serienmodell alle ein- bis eineinhalb ne der entscheidenden Fähigkeiten im Wettbewerb
Jahre neue Telefontypen eingebaut werden sollten, der Zukunft sein.
was bedeutet, dass während der Lebensdauer der Literatur
Fahrzeugproduktion drei- bis viermal das Konzept
[1] Bauer, A.; Broy, M.; Romberg, J.; Schätz, B.; Braun, P.; Freund,
des mobilen Telefons erneuert werden muss. Diese U.; Mata, N.; Sandner, R.; Ziegenbein, D.: Auto-MoDe-No-
unterschiedlichen Zyklen, auch bei der Entwicklung tations, Methods, and Tools for Model-Based Development of
von Software vor Anlauf der Produktion, sind auf die Automotive Software. In: Proceedings of the SAE 2005 World
klassischen Automobilprozesse heute völlig unzu- Congress, Detroit, MI, Apr. 2005. Society of Automotive Engi-
neers
reichend abgestimmt. [2] Broy, M.: Challenges in Automotive Software Engineering. Key
Langfristig stellt sich auch die Frage, ob im Gegen- Note 28th International Conference on Software Engineering
satz zur heutigen Situation Software im Automobil- (ICSE 2006)
umfeld nicht immer stärker auch ein eigenständiges [3] Broy, M.: The ‚Grand Challenge‘ in Informatics: Engineering
Software-Intensive Systems. IEEE Computer, Oktober 2006,
Produkt wird. Heute werden Softwarelösungen in der 72 – 80
Regel verkapselt in Hardwarelösungen vertrieben. So [4] Broy, M.; Pretschner, A.; Salzmann, Ch.; Stauner, Th.: Soft-
produzieren Zulieferer die mechanischen Geräte wie ware-intensive systems in the automotive domain: challenges for
8.8 Moderne Methoden der Regelungstechnik 757

research and education. In: Proceedings of the SAE 2006 World


Congress, Detroit, MI, Apr. 2006. Society of Automotive Engi-
8.8 Moderne Methoden
neers der Regelungstechnik
[5] Broy, M.; Rausch, A.: Das neue V-Modell XT – Ein anpassbares
Vorgehensmodell für Software und System Engineering. Infor- Moderne Regelsysteme sind eine wichtige Grundlage
matik Spectrum, Juni 2005
für die Innovationen im Automobil der vergangenen
[6] Bühne, S., Lauenroth, K.; Pohl, K.; Weber, M.: “Modeling Fea-
tures for Multi-Criteria Product-Lines in the Automotive Indus- Jahre und werden zukünftig für weitere wesentliche
st
try”, Proc. 1 Intl. Workshop of Software Engineering for Auto- Veränderungen im Bereich der individuellen Mobili-
motive Systems, pp. 9 – 16, 2004 tät verantwortlich zeichnen. Die eingesetzten Rege-
[7] Decomsys: “Designer Pro”, http://www.decomsys.
lungsverfahren sind für die Leistungsfähigkeit mo-
com/htm/frs/3_flexraydesign_pro.htm, 2006
[8] Douglass, B. P.: Real-Time UML – Developing Efficient Ob- derner Fahrerassistenz-, Antriebs- und Sicherheitssys-
jects for Embedded Systems. Addison-Wesley, 1999 teme im Kraftfahrzeug von großer Bedeutung.
[9] Clements, P.; Northrop, L. M.: Software Product Lines – Prac- In diesem Abschnitt wird ein Überblick über die mo-
tices and Patterns. Addison-Wesley, 2001
dernen Methoden der Regelungstechnik gegeben und
[10] Kneuper, R.: CMMI – Verbesserung von Softwareprozessen mit
Capability Maturity Model Integration. Heidelberg: dpunkt.verlag, eine Bewertung der einzelnen Verfahren vorgenom-
November 2002 men. Dieses Instrumentarium kann unterstützend für
[11] Hardung, B., Kölzow, T.; Krüger, A.: “Reuse of Software in Dis- die Auswahl eines passenden Entwurfsverfahrens für
tributed Embedded Automotive Systems”, in Proc. EMSOFT’04,
203 – 210, 2004
die jeweils vorliegende Regelungsaufgabe herange-
[12] Hindel, B., Hörmann, K.; Müller, M.; Schmied, J.: Basiswissen zogen werden.
Software-Projektmanagement – Aus- und Weiterbildung zum
Certified Project Manager nach dem iSQI-Standard. iSQI-Reihe
Heidelberg: dpunkt.verlag, 2006 8.8.1 Anforderungen an Regelsysteme
[13] Jackson, M. A.: Software Requirements & Specifications – a im Kraftfahrzeug
lexicon of practice, principles and prejudices, Addison-Wesley
Press, 1995
[14] Liggesmeyer, P.: „Software-Qualität“. Heidelberg: Spektrum
Trotz der unterschiedlichen übergeordneten Ziele (Si-
Verlag, 2002 cherheit, Umweltschutz, etc.) lassen sich die Anfor-
[15] Leveson, N. G.: Safeware – System Safety and Computers, Addi- derungen an Regelungssysteme im Kraftfahrzeug zu-
son-Wesley, 1995 sammenfassen zu:
[16] Mores, R.; Hay, G.; Belschner, R.; Berwanger, J.; Ebner, C.;
Fluhrer, S.; Fuchs, E.; Hedenetz, B.; Kuffner, W.; Krüger, A.; – Der Regler muss das System stabilisieren.
Lormann, P.; Millinger, D.; Peller, M.; Ruh, J.; Schedl, A.; – Das System hat im geregelten Zustand neben der
Sprachmann, M.: “FlexRay – The Communication System for Stabilität zusätzliche definierte Güteeigenschaften
Advanced Automotive Control Systems”. Doc. No. SAE 2001-
01-0676, SAE, 2001
zu erfüllen (z.B. schnelles Einschwingen und Ein-
[17] Peled, D. A.: Software Reliability Methods. Berlin/Heidelberg/ halten einer max. zulässigen Abweichung vom
New York: Springer-Verlag, 2001 Sollwert).
[18] Scharnhorst, Th.: Systementwurf für Elektronikarchitekturen im – Das für den Reglerentwurf oftmals benötigte Mo-
Fahrzeug. 4. Braunschweiger Symposium Automatisierungs- und
Assistenzsysteme für Transportmittel. VDI Reihe 12, 525, 2003
dell des Systems kann resultierend aus Abwei-
[19] Sommerville, I.: Software Engineering, Addison-Wesley, 2001 chungen zwischen System- und Modellverhalten
[20] Spillner, A.; Linz, T.: Basiswissen Softwaretest: Aus- und Weiter- Unsicherheiten besitzen, die im Entwurf berück-
bildung zum Certified-Tester. Heidelberg: dpunkt.verlag, 2003 sichtigt werden müssen.
[21] Weber, M.; Weisbrod, J.: “Requirements engineering in auto-
motive development: Experiences and challenges”. IEEE Soft-
– Stabilität und Güteeigenschaften müssen erfüllt
ware 20 (2003) 16 – 24 werden, auch wenn das zu regelnde System wäh-
[22] X-by-Wire Consortium, “X-by-wire – Safety related fault tole- rend der Laufzeit Parameterschwankungen unter-
rant systems in vehicles – final report”. Project BE95/1329, Con- liegt, die nicht genauer ermittelt werden können
tract BRPR-CT95-0032, 1998
[23] VDI/VW Gemeinschaftstagung „Integrierte Sicherheit und Fah-
(z.B. Reifengriffigkeit oder Zuladung).
rerassistenzsysteme“, Wolfsburg, Germany, Oct. 12 – 13, 2006 Da Regelungssysteme zunehmend in sicherheitsrele-
]24] Broy, M.; Reichart, G.; Rothhardt, L.: Architekturen softwareba-
sierter Funktionen im Fahrzeug: Von den Anforderungen zur
vanten Bereichen eingesetzt werden, müssen diese
Umsetzung. GI Informatik Spektrum, erscheint 2011 unter den gegebenen Randbedingungen einer kriti-
[25] Pretschner, A.; Broy, M.; Krüger, I. H.; Stauner, T.: Software schen Fahrsituation sicher und zuverlässig funktionie-
engineering for automotive systems: A roadmap. In Proc. 2007 ren. Andernfalls könnten kostenintensive und image-
IEEE Future Software Eng. (FOSE ’07), Washington, DC, Mai
2007, pp. 55 – 71
schädigende Rückrufaktionen die Folge sein.
[26] Schäuffele, J.; Zurawka, Th.: Automotive Software Engineering: Entsprechend Bild 8.8-1 müssen moderne Regelun-
Grundlagen, Prozesse, Methoden und Werkzeuge. Vieweg+ gen ausreichende Robustheit gegenüber Modellunsi-
Teubner; 4. überarbeitete und erweiterte Auflage, Januar 2010 cherheiten und Parametervariationen aufweisen, um
[27] Wallin, P.; Axelsson, J.: A case study of issues related to auto-
motive E/E system architecture development. In Proc. 15th
Stabilität und Güteeigenschaften auch unter realen
Annu. IEEE Int. Conf. Eng. Comput. Based Syst. (ECBS ’08), Einsatzbedingungen erfüllen zu können. Hierzu müs-
Washington, DC, März 2008, pp. 87 – 95. sen die Modellunsicherheiten, verrauschten Signale
[28] AUTOSAR on the Way to Becoming a Global Standard und Parameterschwankungen bereits während des
http://www.autosar.org/
[29] Broy, M.: Mit welcher Software fährt das Auto der Zukunft?
Entwurfs berücksichtigt werden. Dafür sind sehr gute
ATZextra 04/2011, S. 92 – 97 Kenntnisse der klassischen Regelungstechnik und ein
758 8 Elektrik/Elektronik/Software

Adaption
Fahrer

ngssyst Regler Strecke


lu e
ge Sollgröße Regel-

m
Re
größe

e
Stabilität
Regelgüte
Modellunsicherheit Bild 8.8-2 Struktur einer adaptiven Regelung
Parametervariation
etc.
Voraussetzung für den Einsatz adaptiver Regelungs-
Fa

t
el
h

w
systeme sind solide Kenntnisse in klassischer Rege-
rz

m
eu

U
g

lungstechnik, nichtlinearen und digitalen Systemen


sowie im Bereich der Systemidentifikation. Ein Deri-
vat adaptiver Regler sind selbsteinstellende Regler,
Bild 8.8-1 Anforderungen an moderne Regelungs- vorzugsweise PID-Regler [16]. Sie sind industriell
verfahren im Kraftfahrzeug-Umfeld beliebt, da sie sich per Knopfdruck selbst einstellen.
Populär ist das sogenannte Gain- oder auch Parame-
intensives Verständnis des zu regelnden Prozesses ter-Scheduling. Die Reglerparameter werden vorab
notwendig. Werden diese Anforderungen bereits im für verschiedene Betriebspunkte, zwischen denen
Entwurf des Regelungssystems eingebracht, so kön- während des laufenden Betriebes umgeschaltet wird,
nen hervorragende Robustheits- und Performance- ausgelegt. Bei der höchstwertigen Form der adaptiven
Eigenschaften erzielt werden. Regler, den modellbasierten adaptiven Reglern, wer-
den die Parameter kontinuierlich aufgrund des aktuel-
8.8.2 Moderne Reglerentwurfsverfahren len Streckenverhaltens nachgeführt [2]. Im Kfz-
Die im Fahrzeugsektor am weitesten verbreitete PID- Bereich werden adaptive Regelungen z.B. bei der
Regelung [4] umfasst die einfachste, vom Auf- adaptiven Dämpferregelung eingesetzt, mit der un-
wand/Nutzen-Verhältnis allerdings sehr attraktive terschiedliche Fahrwerkscharakteristiken bei einem
Klasse von Reglern. Der Regelfehler wird proportio- Fahrzeug realisiert werden können.
nal, integral und differenzial gewichtet. Sämtliche
Kombinationen dieser Gewichtung sind möglich. 8.8.2.2 Fuzzy-Regelung
Viele Anwender besitzen grundlegende Kenntnisse Bei Fuzzy-Regelungen wird das Regelgesetz intuitiv
der PID-Regelung, da diese Regelungen Bestandteil mit vorhandenem Wissen über die Prozessregelung in
der überwiegenden Anzahl technisch-orientierter sprachlich formulierten Wenn-Dann-Regeln aufge-
Ausbildungskurse sind. Brauchbare Regler können stellt. Die Einbettung dieser sogenannten Inferenz in
für viele Anwendungen ohne explizites Modellwissen die Reglerstruktur ist in Bild 8.8-3 dargestellt. Zum
durch einfaches Anpassen der Parameter oder durch Design einer Fuzzy-Regelung ist kein mathemati-
automatisierte Parametrierung erzielt werden. Aussa- sches Modell der Regelstrecke und damit auch keine
gen bzgl. Robustheit sind jedoch nicht explizit mög- Linearisierung notwendig. Soll der Reglerentwurf
lich, weshalb dieses Verfahren für eine Vielzahl von einer Simulation begleitet werden, so wird dieser
anspruchsvoller Anwendungen nicht ausreichend ist. Vorteil hinfällig, da für Simulationszwecke zwangs-
Nachfolgend wird eine Auswahl von modernen Reg- läufig ein Modell der Regelstrecke vorliegen muss.
lerentwurfsverfahren unter anwendungsorientierten Wichtigste Voraussetzung zum Entwurf einer Fuzzy-
Gesichtspunkten erörtert. Es kann keine generelle Regelung ist das Vorhandensein von Wissen über die
Aussage darüber getroffen werden welches der Ver- Regelung des Prozesses. Mit einfachem Verständnis
fahren zu favorisieren ist, da die verfahrenspezifi- der Fuzzy-Entwurfsmethodik können schnell brauch-
schen Vor- und Nachteile mit den aus dem jeweils bare Regler realisiert werden. Höherwertige Fuzzy-
individuell vorliegenden Anwendungsfall resultieren- Regler gestalten sich aufgrund der extrem hohen
den Anforderungen abzugleichen sind. Anzahl an verfügbaren Parametern als aufwändig.
Für gute Lösungen ist eine solide Kenntnis der Fuz-
8.8.2.1 Adaptive Regelung
zy-Theorie unumgänglich. Bei der schnell unüber-
Mit adaptiven Reglern können Systeme mit Modell- schaubar werdenden Anzahl an potenziellen Regeln
unsicherheiten bzw. mit zeitlich veränderlicher Dy- wirkt sich eine fehlende Systematik zur Erstellung
namik gehandhabt werden. Veränderungen im Ver- des Regelwerks nachteilig aus. Außerdem gibt es
halten der Regelstrecke werden detektiert und der keine Möglichkeit sich widersprechende Regeln zu
Regler in Folge dessen an das neue dynamische Ver- erkennen. Nichtlinearitäten können bei Fuzzy-Reg-
halten angepasst (Bild 8.8-2). Die Adaption kann lern einfach integriert werden. Häufig wird durch das
sowohl offline als auch online durchgeführt werden. intuitive Vorgehen gute Robustheit erzielt, im Ent-
8.8 Moderne Methoden der Regelungstechnik 759

Fuzzy-Regler gen wie Beschränkung der Bandbreite können so


vorgegeben werden. Das aus einfachen geometri-
schen Elementen zusammengesetzte zulässige Polge-

Defuzzifizierung
biet wird als Γ-Gebiet bezeichnet. Liegen alle Eigen-

Fuzzifizierung

Inferenz
werte des mit Unsicherheiten behafteten geschlosse-
Eingangs- Stell- nen Kreises in dem gewünschten Gebiet Γ, so wird
größen größen
dies in der Γ-Synthese als robuste Performance be-
zeichnet. Darüber hinaus müssen wichtige Vorgaben
wie z.B. die Struktur des gewünschten Reglers vor
Bild 8.8-3 Struktur eines Fuzzy-Reglers Beginn des Entwurfs vom Anwender festgelegt wer-
den. Die Γ-Synthese zeigt dann in grafischer Form
wurf kann dies aber nicht quantitativ berücksichtigt die zulässigen Koeffizientenbereiche auf, aus denen
werden [5]. Eine exemplarische Anwendung ist ein der Entwurfsingenieur nach eigenem Ermessen die
Fuzzy-ABS-System, bei dem sowohl der eigentliche günstigsten auswählen kann. Diese Reglerentwurfs-
Regler als auch eine Schätzung der Geschwindigkeit methodik wurde bei der Stabilisierungsfunktion der
des Fahrzeugschwerpunktes auf Methoden der Fuzzy- BMW-Aktivlenkung, die sich heute in den Baureihen
Logik beruht [11]. 3, 5 und 6 im Serieneinsatz befindet, angewendet [3].

8.8.2.3 Γ-Synthese 8.8.2.4 Neuronale Regelung


Die Γ-Synthese kann als konsequente Weiterentwick- Als Vorbild für künstliche neuronale Netze dient das
lung des klassischen Polvorgabe-Entwurfs mit einer biologische Nervensystem. Ein neuronales Netz wird
Erweiterung auf unsichere Regelstrecken verstanden darauf trainiert, eine bestimmte Funktion auszufüh-
werden. Die Lage sämtlicher Eigenwerte des ge- ren. Aufgrund dieser Eigenschaft werden neuronale
schlossenen Kreises soll trotz Anwesenheit von Un- Netze für adaptive Regler und schwerpunktmäßig zur
sicherheiten auf ein definiertes Polgebiet beschränkt Systemidentifikation, teilweise auch für prädiktive
werden [1]. Das Verfahren beschränkt sich im We- Regelungen eingesetzt. Neuronale Netze können aber
sentlichen auf die Modellierung von Unsicherheiten auch als Regler verwendet werden [13]. Der Ansatz
in physikalischen Parametern, also strukturierte Un- der Verhaltensnachbildung verbindet die neuronalen
sicherheiten. Nicht nachgebildetes dynamisches Ver- Regelungen mit den Fuzzy-Regelungen. Beide wer-
halten oder Modellvereinfachungen können nicht den häufig unter dem Begriff Soft Computing zu-
über unstrukturierte Unsicherheiten abgefangen wer- sammengefasst. Für neuronale Regelungen muss sich
den. Die Modellierung der Unsicherheiten, wie auch der Anwender intensiv mit der spezifischen Funkti-
alle weiteren Betrachtungen im Rahmen der Γ- onsweise neuronaler Netze auseinandersetzen und
Synthese, erfolgen ausschließlich anhand des charak- gute Kenntnisse in der Systemidentifikation besitzen.
teristischen Polynoms des geschlossenen Kreises. Mit Allgemeine regelungstechnische Kenntnisse sind
dieser Fokussierung wird zwar a priori das Potenzial sekundär. Da neuronale Netze erst ihre eigentliche
vergeben, auch Zeit- und Frequenzbereichs-Einflüsse Funktion antrainiert bekommen müssen, sind um-
von Nullstellen in den Reglerentwurf zu integrieren, fangreiche Lerndaten erforderlich. In Fällen von
dafür kann aber auf das gesamte Wissen der klassi- schwierig durchzuführender Modellbildung können
schen Regelungstechnik aufgebaut werden. Die Γ- so Messdaten über das Systemverhalten aufgenom-
Synthese bietet ein breites Spektrum an Hilfsmitteln men und als Lerndaten zur Systemidentifikation
zum Reglerentwurf – aber es ist auch ein intensives mittels neuronaler Netze verwendet werden. Neuro-
Verständnis der Regelstrecke notwendig. nale Netze werden aber auch als Modellfolgeregler
Die Performance-Anforderungen werden über Polge- verwendet. Die Komplexität eines neuronalen Netzes
biete formuliert (Bild 8.8-4). Zeitbereichs-Anforde- bestimmt der Anwender durch die Vorgabe der An-
rungen wie minimale Einschwingzeit oder minimale zahl an Schichten des Netzes (Bild 8.8-5). Transpa-
Dämpfung aber auch Frequenzbereichs-Anforderun- renz ist bei neuronalen Netzen aufgrund der Black

Im Im Im Im

G
G
G G
Re Re Re Re

Bild 8.8-4 Polgebiete zur


a b c d
Performance-Spezifikation
760 8 Elektrik/Elektronik/Software

da der resultierende Regler die geforderten Robust-


Eingangs- Verborgene Ausgangs-
schicht Schichten schicht
heitseigenschaften garantiert einhält.
Da die Reglerübertragungsfunktion Ergebnis eines
automatisch ablaufenden Iterationsprozesses ist, muss
der Regler als Black Box betrachtet werden – aus
welchen Komponenten sich der Regler zusammen-
setzt, kann nicht transparent nachvollzogen werden.
Damit besteht auch keinerlei Möglichkeit einer nach-
träglichen „manuellen Optimierung“. Ein mögliches
Anwendungsgebiet norm-optimaler Regler im Kfz-
Bereich sind Spurführungsassistenten [10].

8.8.2.6 Prädiktive Regelung


Bild 8.8-5 Struktur eines neuronalen Netzes
Regelungen, die auf Basis eines Streckenmodells das
Box Struktur nicht gegeben. Typisches Einsatzgebiet zukünftige Verhalten der Regelstrecke über einen
neuronaler Netze ist z.B. das momentenbasierte Mo- definierten Zeithorizont berücksichtigen und anhand
tormanagement [8]. einer Optimierung in die Stellgrößenberechnung in-
tegrieren, werden als prädiktive Regelungen bezeich-
8.8.2.5 Norm-optimale Regelung net (Bild 8.8-7). Anwender prädiktiver Regelungen
Bei den norm-optimalen Entwurfsverfahren handelt benötigen allgemeine Kenntnisse in digitaler Rege-
es sich um sehr junge Verfahren bei denen zum ersten lung und Handhabung von Gütekriterien. Der Zeit-
Mal die Definition einer Norm für regelungstechni- aufwand für den Entwurf konzentriert sich vor allem
sche Fragestellungen herangezogen wird. Diese Ent- auf die Erstellung eines exakten Streckenmodells.
wurfsverfahren sind eine konsequente Fortentwick- Der Entwurf eines ersten Reglers ist relativ einfach,
lung der optimalen Zustandsregelung kombiniert mit beim Entwurf höherwertiger Regler besteht die größte
einem optimalen Beobachter. Zu den norm-optimalen Schwierigkeit in der hohen Anzahl an zu berechnen-
Entwurfsverfahren zählen die H2- und H∞-Regelung den Parameter. Das Umsetzen von Anforderungen in
[15], die μ-Synthese [17] sowie die lediglich im die Syntax des Verfahrens über individuell definier-
diskreten lösbare L1-optimale Regelung [14]. bare Gütekriterien ist gut realisierbar. Stabilität ist bei
In den Reglerentwurf können bereits Modellun- prädiktiven Reglern nicht garantierbar, dafür können
sicherheiten integriert werden (Bild 8.8-6). Für die Stellgrößenbegrenzungen berücksichtigt werden und
Modellierung von Unsicherheiten werden zumeist eine Erweiterung auf nichtlineare Prozesse ist möglich
frequenzabhängige Wichtungsfunktionen verwendet. [12]. Prädiktive Regler werden z.B. bei der Gierraten-
Mit ihnen kann abgestimmt nach Frequenzbereichen regelung eingesetzt, um einem Über- bzw. Untersteu-
eine prozentuale (multiplikative Unsicherheit) oder ern des Fahrzeugs frühzeitig entgegenzuwirken.
absolute Abweichung (additive Unsicherheit) vom
nominellen Modell beschrieben werden. Die Perfor- 8.8.2.7 Quantitative Feedback Theory (QFT)
mance-Anforderungen werden ebenfalls anhand von Der Entwurf für robuste Regelungen mit der Quanti-
Wichtungsfunktionen formuliert. Die gebräuchlichste tative Feedback Theory (QFT) ist ein Verfahren im
Struktur mit drei Wichtungsfunktionen ist der Mixed- Frequenzbereich und ist anwendbar auf ein breites
Sensitivity-Entwurf, der die gezielte Modellierung Spektrum von Systemen: zeitinvariant und zeitvari-
frequenzabhängiger Eigenschaften ermöglicht. Wäh- ant, linear und nichtlinear, kontinuierlich und zeitdis-
rend der Reglersynthese wird ein Gütefunktional kret, Ein- und Mehrgrößensysteme [15]. Ziel der
minimiert, woraus ein für die gestellten Anforderun- QFT-Synthese ist es, einen Regler mit möglichst
gen optimaler Regler resultiert. Eine Analyse im An- niedriger Ordnung und minimaler Bandbreite zu
schluss an den Entwurfsvorgang ist nicht erforderlich, entwerfen, der trotz Unsicherheiten in der Regelstre-
cke sowohl robuste Stabilität als auch robuste Per-
Unsicher.- formance gewährleistet. Als roter Faden entlang des
heiten gesamten Entwurfsprozesses zieht sich dabei das ge-
zielte Nutzfrequenzbereichs-orientierte Formulieren
erweiterte
Regelstrecke
Eingangs- zu minimierende
größen Ausgangsgrößen Optimierung Strecke
Sollgröße Regel-
größe
Regler
Prädiktion

Bild 8.8-6 Struktur einer norm-optimalen Regelung Bild 8.8-7 Struktur einer prädiktiven Regelung
8.8 Moderne Methoden der Regelungstechnik 761

z2 z3 z4

w
Vorfilter
e
Regler
u Regel- y Bild 8.8-8 Regelkreis-
strecke
struktur für QFT-Entwurf
(w – Sollgröße, y – Regel-
z1 größe, z1 bis z4 – Störgrößen,
Sensor e – Regelabweichung,
u – Stellgröße)

von sowohl den Unsicherheiten als auch den Perfor- Evaluierung der vorgestellten Verfahren vorgenom-
mance-Anforderungen. Als grafisches Hilfsmittel men. Zur Bewertung der Reglerentwurfsverfahren wur-
wird das Nicholsdiagramm verwendet, das die Vor- den praxisorientierte Gesichtspunkte entsprechend
teile von Bode-Diagramm und Polardarstellung in den Kategorien Entwurfsvorgang und Entwurfser-
sich vereint. Die strukturierten Unsicherheiten wer- gebnis ausgewählt. Anhand von 7 Kriterien wird die
den mit den in die Übertragungsfunktion eingehenden Leistungsfähigkeit der Reglerentwurfsverfahren beur-
Parameterintervallen festgelegt. Die unstrukturierten teilt und eingestuft. Dies entspricht dem Versuch
Unsicherheiten können am einfachsten auf die gleiche einer objektiven und transparenten Bewertung der
Art und Weise beschrieben oder bei der Beschreibung betrachteten Entwurfsverfahren für moderne Regler
der Performance-Anforderungen in den Entwurf inte- in dem sonst aufgrund heterogener Vorgehensweisen
griert werden. und verfahrensspezifischer Nomenklaturen schwer zu
Zur Formulierung der Performance-Anforderungen vergleichenden Feld. Ein Anspruch auf Vollständig-
steht dem Anwender ein breites Spektrum an Mög- keit wird bei dieser Übersicht nicht erhoben.
lichkeiten zur Verfügung: Sowohl im Zeitbereich mit In der ersten Kategorie wird der Entwurfsvorgang
Toleranzschläuchen als auch im Frequenzbereich mit bewertet. Die Reglertypen werden an Fragen gemes-
Begrenzungsfunktionen können Anforderungen an sen, welcher Anspruch von dem Verfahren an den
jede im System auftretende Übertragungsfunktion notwendigen regelungstechnischen Verständnisgrad
formuliert werden (Bild 8.8-8). Anforderungen an die gestellt wird und welcher Engineering-Aufwand mit
Performance des geschlossenen Kreises können damit dem Entwurf verbunden ist. Außerdem wird bewertet,
äußerst flexibel und gleichzeitig sehr gezielt in den wie die gestellten Anforderungen im Rahmen des
Entwurf eingebracht werden. Entwurfs eingebracht werden können und inwieweit
Der Entwurfsvorgang besteht darin, durch das geziel- eine Toolunterstützung notwendig und gegeben ist.
te Ergänzen von Reglerelementen den Phasen- und Die zweite Kategorie beurteilt die Leistungsfähigkeit
Betragsverlauf des Frequenzganges so zu verändern, des entstandenen Reglers. Kriterien wie die erzielbare
dass die über die Grenzkurven definierten Anforde- Performance und die Robustheit der synthetisierten
rungen nicht verletzt werden. In diesem Loop Sha- Regler werden ebenso analysiert wie deren Transpa-
ping stehen dem Anwender alle bekannten Übertra- renz.
gungsfunktionselemente zur Verfügung. Mit wie Ziel dieser Evaluierung ist es, dem Anwender ein
vielen bzw. wie wenigen Elementen im Regler die Instrumentarium zur zielsicheren Auswahl geeigneter
Anforderungen erfüllt werden, hängt wesentlich vom Regelungssysteme für effiziente Anwendungen be-
Know-How des Entwurfsingenieurs ab. Mit solider reitzustellen. Die in Tabelle 8.8-1 zusammengefass-
Erfahrung in der klassischen Regelungstechnik kön- ten Beurteilungen können allerdings nur als Anhalt
nen auf einfache Art und Weise robuste Regler mit für den jeweiligen Reglertyp gewertet werden. Für
sehr niedriger Ordnung und geringer Bandbreite eine detailliertere Bewertung ist eine intensive Analy-
erzeugt werden. Bei weniger Erfahrung besteht die se der einzelnen Entwurfsverfahren für die jeweiligen
Gefahr, dass durch das Hinzufügen zu vieler Elemen- Reglertypen unerlässlich.
te Regler mit zu hoher Ordnung erzeugt werden.
Seine Leistungsfähigkeit hat das QFT-Entwurfs- 8.8.4 Ausblick
verfahren z.B. bei der automatischen Spurführung Moderne Reglerentwurfsverfahren setzen sich ver-
von Pkw unter Beweis gestellt [7]. stärkt insbesondere in anspruchsvollen und sicher-
heitsrelevanten Bereichen auch in der Kraftfahr-
8.8.3 Evaluierung zeugtechnik durch. Die dargestellten modernen Ent-
moderner Regelungsverfahren wurfsverfahren bringen zahlreiche Vorteile und eine
erhebliche Leistungssteigerung gegenüber den übli-
Nachdem die grundlegenden modernen Reglerent- chen klassischen Regelungen mit sich. Allerdings
wurfsverfahren mit ihren spezifischen Eigenschaften können bei Systemen mit hochgradig nichtlinearem
erläutert wurden, die Entwurfsmethoden und die Verhalten, wie beispielsweise der Fahrzeuglängsfüh-
synthetisierten Regler je nach Betrachtungsweise je- rung, selbst diese Verfahren nicht die gestellten An-
doch große Unterschiede aufweisen, wird nun eine forderungen erfüllen. Für derartige Anwendungsfälle
762 8 Elektrik/Elektronik/Software

Tabelle 8.8-1 Reglerentwurfsverfahren im Vergleich


Entwurfsvorgang Entwurfsergebnis

rungen in Entwurfsmethodik
notw. regelungs-technischer

Umsetzung von Anforde-


Entwurfsaufwand2

Toolunterstützung
Verständnisgrad1

Performance

Transparenz
Robustheit
Adaptive
– – – 0 + + +
Regelung
Fuzzy-
+ + – + 0 0 +
Regelung
Γ-Synthese – –– 0 + + + +
Neuronale
– –– –– + – 0 ––
Regelung
Norm-optimale
–– – + + + ++ ––
Regelung
Prädiktive
– 0 + + + – 0
Regelung
QFT –– – ++ + + ++ ++
1 +: niedriger Verständnisgrad, –: hoher Verständnisgrad
2 +: wenig Aufwand, –: hoher Aufwand

kann auf nichtlineare Regelungen, bei denen das [5] Driankov, D., Hellendoorn, H. und Reinfrank, M.: An Introduction
to Fuzzy Control. Springer-Verlag, New York, 2nd Ed., 1996
Verhalten der Regelstrecke mit einem nichtlinearen
[6] Ganzelmeier, L.: Nichtlineare H∞-Regelung der Fahrzeuglängs-
Modell abgebildet wird, zurückgegriffen werden [6]. dynamik. Fortschritt-Berichte VDI: Reihe 8, Nr. 1069, Düssel-
Eine Linearisierung des Modells entfällt hierbei kom- dorf, 2005
plett. Spezifika nichtlinearer Systeme sind mehrere [7] Helbig, J.: Robuste Regelungsstrategien am Beispiel der PKW-
Spurführung. Fortschritt-Berichte VDI: Reihe 8, Nr. 1025, Düs-
mögliche Gleichgewichtspunkte und das Auftreten seldorf, 2004
von Grenzzyklen. Der Entwurf von Regelungen für [8] Isermann, R., Hafner, M. und Schüler, M.: Einsatz schneller
nichtlineare Systeme ist stark mathematikorientiert neuronaler Netze zur modellbasierten Optimierung von Verbren-
[9], was fundierte Kenntnisse in Mathematik für den nungsmotoren. MTZ Motortechnische Zeitschrift 61 (2000),
S. 704 – 711
Anwender unabdingbar macht. Die Modellierung [9] Isidori, A.: Nonlinear control systems. Springer-Verlag, Berlin,
dynamischer Prozesse in nichtlinearer Form ist in den 1996
meisten Fällen realitätsnaher als eine linearisierte und [10] Jaschke, K. P.: Lenkregler für Fahrzeuge mit hoher Schwer-
damit nur für einen begrenzten Bereich um einen punktlage. Dissertation, TU Braunschweig, 2002
[11] Kiencke, U. und Nielsen, L.: Automotive Control Systems.
Arbeitspunkt herum gültige Betrachtungsweise. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 2000
Inwieweit sich dieser Vorteil lohnt, muss aufgrund [12] Levine ,W. S.: The Control Handbook. CRC-Press, Boca Raton,
des extrem hohen Aufwandes für den Entwurf im 1996
Einzelfall abgeschätzt werden. [13] Liu, G. P.: Nonlinear identification and control: a neural network
approach. Springer-Verlag, London, 2001
Literatur [14] Müller, K.: L1-optimale Abtastregelungen mit minimaler Stell-
größe. Fortschritt-Berichte VDI: Reihe 8, Nr. 844, Düsseldorf,
[1] Ackermann, J.: Robust Control – The Parameter Space Ap- 2000
proach. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, 2nd Ed., 2002 [15] Sidi, M.: Design of Robust Control Systems. Krieger Publishing,
[2] Åström, K. J., Wittenmark, B.: Adaptive Control. Addison- Malabar, 2001
Wesley, Reading, MA, 2nd Ed., 1995 [16] Yu, C.-C.: Autotuning of PID Controllers. Springer, Berlin,
[3] Bünte, T., Schweiger, C., Odenthal, D. und Baumgarten, G.: Heidelberg, New York, 1999
Modellierung, Regelung, Simulation und Bewertung der Fahr- [17] Zhou, K. und Doyle, J. C.: Essentials of Robust Control. Pren-
dynamik. Erster Verkehrstechnischer Tag, Braunschweig, 2004 tice-Hall, London, 1998
[4] Dorf, R. C. und Bishop, R. H.: Modern Control Systems. Pren-
th
tice-Hall, Upper Saddle River, 10 Ed., 2005
9 Fahrzeugsicherheit

9.1 Allgemein z.B. Prof. Koeßler, TU Braunschweig mit der Defini-


tion: „Fahrzeuge müssen so konstruiert und gebaut
Die Sicherheit des Transports hat weltweit einen ho- werden, dass der Transport von A nach B möglichst
hen Stellenwert. Obwohl in den Industrieländern er- schnell, sicher und komfortabel ist“; der Entwickler
hebliche Fortschritte erzielt wurden, waren 2009 Barenyi mit seinem grundlegenden Patent „Das Prin-
weltweit mehr als 1,4 Millionen Verkehrstote pro zip des gestaltfesten Fahrerraums“ aus dem Jahr 1952
Jahr zu verzeichnen. Die UN hat daher beschlossen, [2] und der Verbraucheranwalt Ralph Nader, der in
weltweit Programme zu initiieren, um den negativen den USA Mitte der 60er Jahre wesentlich dazu bei-
Trend umzukehren, siehe auch FISITA summit 2010 trug, dass die NHTSA (National Highway Traffic Sa-
(www.fisita.com). In den Industrieländern wurden fety Administration) schnell mit der Sicherheitsge-
die Erfolge durch Verbesserung der Verkehrsinfra- setzgebung voranschritt. Inzwischen gibt es weltweit
struktur, der Verkehrsinformation, der Ausbildung Sicherheitsgesetze, die durch Verbraucherinformatio-
der Verkehrsteilnehmer und deutliche Fortschritte bei nen und Produkthaftung ergänzt werden. Die Ver-
Fahrzeugen erreicht. In den Entwicklungsländern braucherinformation wird durch Gesetzgeber, inzwi-
spielt in diesem Zusammenhang die Verkehrsinfra- schen auch für unfallvorbeugende Systeme, Versiche-
struktur eine besonders große Rolle. Zunehmend wird rungen, Verbraucherschutzorganisationen und Auto-
auch die Automotive Security, d.h. der Schutz des In- mobilfachzeitschriften erarbeitet. Der Impuls der
sassen und des Fahrzeugs sowie seiner Teile und Produkthaftung ist immens. Der Hersteller übernimmt
Funktionen vor Angriffen wie Diebstahl, unberechtig- die Verantwortung für einwandfreie Technik und
tem Zugriff und Manipulation wichtiger. stellt sicher, dass das Fahrzeug mindestens dem Stand
Nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Wissen- der Sicherheitstechnik entspricht. Ein sicherheitstech-
schaft und Industrie sowie Verbraucherschutzorgani- nisch positiv bewertetes Fahrzeug ist ein wesentliches
sationen sind aktiv [1]. Personen der 1. Stunde waren Kaufargument.

Automobilsicherheit

Unfallvorbeugende Sicherheit Unfallfolgenmindernde Sicherheit

Nach dem
Mensch Fahrzeug Umwelt PreCrash Während des Unfalls
Unfall

Komfort, Selbstschutz Partnerschutz


Kondition (Akustik.
Wetter-
(körperlich, Klima,
verhältnisse
seelisch) Federung/ Bremse Bergungs-
Dämpfung) (Not- Schutz der Schutz der
Schutz der möglichkeit/
bremse) anderen Zweiradfahrer und
eigenen Insassen Fußgänger Notruf
Insassen
Signalgebung
ärztliche
Sicht, Versorgung
Wahrnehmung Verhinderung von
Beleuchtung Insassenschutz
Verkehrs- scharfkantigen
dichte (Stau) Aktive Bauteilen
Verhinderung von
Strukturen Bränden (Batterie-
Stoßfänger- absprengung etc.)
Bremsen/ anordnung,
Beschleunigen Informations- klappbare Spiegel
Längs- und systeme etc.
Rückhalte Struktur Rettungs-
Querdynamik Vor-
-systeme
Insassen-
freundliche
Handhabung kondition- zelle (Kompatibilität; Aktive Systeme
(Gurt, Deformations- (Haubenairbag, Strukturen
(Fahrer, Handhabungs- ierung (Interieur:
Airbag, verhalten bei (Schnitt-
Fahrzeug, eigenschaften Verkehrs- (Airbag Schalttafel, anhebende
Gurtkraft- frontalen, Motorhaube) markierungen etc.)
Umfeld) führung/ reversibler
be-
Lenkrad,
seitlichen,
Infrastruktur Gurtstraffer, etc., rückwärtigen
grenzer Deformations-
Fahrer- Sitz
adaptive
Struktur: Kollisionen und
Fenster Zellen- zonen (Haube, Notbeleuchtung
Assistenz- Umwelt- RHS, Fahrzeug-
etc.) steifigkeit) überschlag) Stoßfänger- (Spannungs-
Systeme bedingungen etc.) schaum, etc.) versorgung)

Bild 9.2-1 Gebiete der Fahrzeugsicherheit

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_9,


© Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
764 9 Fahrzeugsicherheit

Automatisches Fahren ?

Elektronischer Beifahrer

Steer by wire, Querführungsassistent

Automatische Distanzregelung (ADR)

Giermomentregelung Mechanik
4-Lenker-Vorderachse
Regelbarer Allradantrieb permanenter Allradantrieb
Mehr-Lenker-Hinterachse
Aktive Federung Servolenkung
negativer Lenkrollradius

elektr. Servolenkung Bremskraftverstärker


Radialreifen
Brake-by-wire Scheibenbremse
Hydraulische Stoßdämpfer

ABS – EDS – ASC – FSR Frontantrieb


Einzelradaufhängung
Elektronik Vierrad-Bremse

Bild 9.2-2 Maßnahmen zur Unfallvorbeugung im Bereich Fahrdynamik

Inzwischen gibt es kaum ein Fahrzeugteil, welches zahlreiche Assistenzsysteme speziell im Bereich des
nicht durch Vorschriften beeinflusst wird. Details da- Fahrverhaltens (Bremsen, Antriebe, ABS, Giermo-
zu sind in den Kapiteln 2.2.1–2.2.7 zu finden. mentregelung, Bremsassistenten, siehe Kapitel 7),
In keinem anderen Gebiet ist die Kooperation der hohe Fahrstabilität, Windunempfindlichkeit sowie In-
Fahrzeughersteller so groß wie die ESV-Experimen- formations- und Kommunikationssysteme werden die
tiersicherheitskonferenzen [3] und die Aktivitäten zur Unfallhäufigkeit weiter reduzieren. Bild 9.2-2 zeigt
Biomechanik u.a. das Forschungsnetzwerk Trauma- den Weg der Veränderung auf einem Teilgebiet der
Biomechanik (www.hs-regensburg.de) sowie die Un- Unfallvorbeugung [5].
fallforschung zeigen.

9.3 Ergebnisse aus der Unfallforschung


9.2 Gebiete der Fahrzeugsicherheit
9.3.1 Einleitung
Die Fahrzeugsicherheit lässt sich in die im Bild 9.2-1
dargestellten Bereiche unterteilen. Erste grundlegen- Durch die kontinuierliche Entwicklung der Fahrzeug-
de Definitionen wurden von Wilfert und Seiffert er- sicherheit wurde in der Vergangenheit bereits ein er-
arbeitet [4, 5]. heblicher Beitrag zur Verbesserung der Verkehrssi-
Zeitgerecht sind folgende Begriffe: cherheit geleistet. Viele konstruktive Beispiele die
dazu beitrugen, werden in diesem Buch beschrieben.
• Integrale Sicherheit: Kombination aus Unfallvor- Nachweisen lässt sich diese Verbesserung auch an-
beugung und Unfallfolgenmilderung hand der Verkehrsunfallzahlen der vergangenen Jah-
• Unfallvorbeugung: alle Maßnahmen mit dem re. Im Jahr 2008 gab es 50.947 Millionen zugelassene
Zweck Unfälle zu verhindern Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik (2008: Umstel-
• Unfallfolgenmilderung: alle Maßnahmen zur Re- lung der Zählung, neu ohne vorübergehend stillgeleg-
duzierung der Unfallfolgen te Fahrzeuge). Davon waren 41.321 Millionen Per-
• PreCrash – Der Unfall ist unvermeidbar, Eingriff sonenkraftwagen [6, 10]. Mit steigendem Bestand
von reversiblen und irreversiblen Maßnahmen zur nimmt auch die Gesamtfahrleistung dieser Fahrzeuge
Verminderung der Unfallfolgen. zu. Erfreulicherweise ist die Anzahl der Verkehrsun-
Hauptverursacher von Unfällen ist nach wie vor der fälle nicht im gleichen Maße gestiegen.
Mensch. Allerdings ist die Schwankungsbreite der Bild 9.3-1 gibt einen Überblick über die Entwicklung
Ursachenzuordnung sehr groß. Der gleiche Fahrer des Pkw-Unfallgeschehens in der Bundesrepublik
kann bei unterschiedlichen Fahrzeug-Modellen auch Deutschland. Die Zahl der im Straßenverkehr getöte-
ein unterschiedliches Unfallverhalten zeigen. Alko- ten Pkw-Insassen war von 1980 bis 1985 rückläufig
hol- und drogenfreies Fahren, guter Komfort und Er- und blieb dann bis 1989 etwa gleich hoch. Einen star-
gonomie, ausreichende Beleuchtung und gute Sicht, ken Einfluss hatte dabei 1984 die Einführung des
9.3 Ergebnisse aus der Unfallforschung 765

600 12

500 10
Fahrleistungen aller Pkw in Mrd. km Gesamtbestand Pkw in 100.000
Gesamtbestand, Fahrleistungen

Anzahl der Getöteten, Verlezten


* *
400 8

300 6

Getötete Pkw-Insassen in 1000


200 4

100 2

Verletzte Pkw-Insassen in 100.000


0 0
80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09
Jahr 19../20.. *Erfassungsverfahren geändert

Bild 9.3-1 Getötete und verletzte Pkw-Insassen sowie Pkw-Bestand und -Fahrleistungen in der Bundesrepublik
Deutschland [6, 10]

Bußgeldes bei nicht Einhalten der bereits seit 1976 fer, Gurtkraftbegrenzer und vielfältigen Airbagsyste-
bestehenden Gurtanlegepflicht. Der kurzzeitige An- men. Dies war nur durch die konsequente Nutzung
stieg von 1989 bis 1991 resultiert aus dem Hinzu- der Erkenntnisse der Unfallforschung möglich. Der
kommen der Pkw-Fahrer aus den neuen Bundeslän- Nachweis über die erreichten Verbesserungen und
dern und deren Fahrleistungen. Seit 1991 reduziert insbesondere die Identifikation weiterer möglicher
sich die Zahl der getöteten Verkehrsteilnehmer in Verbesserungsbereiche erfordert die Unfallforschung.
Pkw wieder. Der seit 1980 festzustellende Trend setzt
sich fort. Die Zahl der verletzten Pkw-Insassen ist in Datenbasis
den letzten fünf Jahren leicht rückläufig. Das Risiko, Für die Analyse von Verkehrsunfällen werden von
in Deutschland bei einem Straßenverkehrsunfall getö- unterschiedlichen Organisationen Unfälle untersucht
tet oder verletzt zu werden, ist wegen der gestiegenen und die Erkenntnisse in Unfalldatenbanken zusam-
Fahrleistungen deutlich gesunken. Das Risiko ist die mengefasst. Da diese Erhebungen verschiedenen Zie-
Anzahl der unerwünschten Ereignisse bezogen auf len dienen, unterscheiden sie sich auch erheblich in
eine Bezugsgröße, hier werden die Straßenverkehrs- der Datenmenge, Datenqualität und Erhebungstiefe.
unfälle durch die Fahrleistungen dividiert. Klanner Die wichtigsten Datenbanken in Europa werden im
weist ebenfalls auf den Rückgang des Risikos in den Folgenden kurz beschrieben und Erkenntnisse aus ih-
EU Staaten hin. Das Risiko ist stark unterschiedlich nen gezogen.
für die einzelnen Länder (besonders niedrig Großbri-
tannien, Schweden, besonders hoch Griechenland, 9.3.2 Amtliche Straßenverkehrs-
Spanien) [7]. unfallstatistik
In einigen Ländern ist die Zahl der Getöteten im Jahr
2007 gegenüber 2001 gestiegen: Rumänien, Slowe- Das Statistische Bundesamt erfasst alle Straßenver-
nien, Litauen, Slowakei, Polen. Einen wesentlichen kehrsunfälle von der die Polizei Kenntnis erhält. Von
Einfluss haben die stark gestiegenen Fahrleistungen den Beamten werden an der Unfallstelle Daten zum
auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung [10]. Unfallort, Unfallhergang und personenbezogene Da-
Der Rückgang des Risikos ist auf die Verbesserung ten der Beteiligten in der Verkehrsunfallanzeige er-
des Straßenwesens, des Rettungswesens und der Not- fasst und den statistischen Landesämtern zugeführt.
fallmedizin, aber auch auf die Maßnahmen der Fahr- Dabei entsteht eine recht große Datenmenge die
zeughersteller zur Erhöhung der Automobilsicherheit ein relativ gutes Bild der Verkehrsunfallsituation in
zurückzuführen. Dabei wurden in den vergangenen Deutschland gibt. Der Polizei sind jedoch längst nicht
Jahren die größten Fortschritte im Bereich der unfall- alle Straßenverkehrsunfälle bekannt, so dass man ins-
folgenmildernden Sicherheit erreicht [8]. Ein Beispiel besondere bei den Bagatelleunfällen von einer hohen
dafür ist die kontinuierliche Entwicklung der Rück- Dunkelziffer ausgehen muss. Des Weiteren sind die
haltesysteme vom einfachen Sicherheitsgurt zu auf- Genauigkeit und die Datentiefe dieser Erhebungen
wendigen Mehrkomponentensystemen mit Gurtstraf- begrenzt. Beispielsweise werden viele für die Unfall-
766 9 Fahrzeugsicherheit

forschung sehr wichtige Merkmale wie z.B. Gurtbe- 9.3.4 „In-Depth“ Unfallerhebungen
nutzung, Sitzpositionen, Fahrzeugdeformationen, Ver-
Der sicherlich größte Wissenszuwachs lässt sich
letzungen nicht oder ungenau erfasst [9].
durch die sogenannten „In-Depth“ Verkehrsunfall-
Die in der amtlichen Statistik der europäischen Län-
datenerhebungen erzielen. Bereits 1973 wurde an der
der und den USA aufgenommenen Daten werden in
Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in Ko-
der International Road Traffic and Accident Database
operation mit der Technischen Universität Berlin
(IRTAD) zusammengefasst [10]. Mit dieser Datenba-
(TUB) ein unabhängig arbeitendes Team, bestehend
sis lässt sich das Unfallgeschehen der Länder verglei-
aus Ingenieuren und Medizinern, zur detaillierten Un-
chen.
falldatenerhebung im Auftrag der Bundesanstalt für
Straßenwesen (BASt) installiert. 1984 wurden die Er-
9.3.3 Verkehrsunfalldaten hebungsziele und ein Erhebungsgebiet im Großraum
der Versicherungen Hannover langfristig definiert um eine repräsentative
Datenbasis zu erfassen. Seitdem nimmt man in Han-
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungs-
nover ca. 1.000 Verkehrsunfälle pro Jahr mit bis
wirtschaft e.V. (GDV) erfasst die Verkehrsunfallda-
3.000 Parametern auf.
ten aus den Versicherungsakten der in diesem Verein
1999 wurde diese Erhebung zum Gemeinschaftspro-
zusammengeschlossenen Einzelversicherungen. Aus
jekt GIDAS (German In-Depth Accident Study) zwi-
den Gerichtsakten, Obduktionsberichten, Sachver-
schen der Forschungsvereinigung Automobiltechnik
ständigen-Gutachten und den Versicherungsfragebö-
e.V. (FAT) und der BASt erweitert. Dabei wurde ein
gen werden nachträglich bis zu 500 Einzelparameter
zweites Erhebungsteam an der TU Dresden (TUD)
je Unfall erhoben. Durch die große Fallzahl dieser
aufgebaut, das nach dem gleichen Schema wie an der
Datenbank und die größere Datentiefe gegenüber der
MHH ebenfalls ca. 1.000 Unfälle jährlich erhebt [13,
amtlichen Statistik lassen sich mit diesen Daten de-
20]. Das Projekt wird durch einen Lenkungsaus-
tailliertere Auswertungen erstellen (z.B. Einzelverlet-
schuss mit Vertretern von BASt und FAT koordiniert
zungen, technischer Zustand der Fahrzeuge, Gurtbe-
und weiterentwickelt.
nutzung).
Die Erhebungsteams werden von Polizei, Rettungs-
Mit vielen Untersuchungen auf der Basis dieser Un-
diensten und Feuerwehr über die Unfälle im Erhe-
falldaten haben Danner und Langwieder vom GDV in
bungsgebiet informiert und wählen nach einem fest-
Deutschland zur Steigerung der Fahrzeugsicherheit
gelegten Zufallsverfahren Unfälle aus. Die Erhe-
beigetragen [z.B. 11]. In [12] wird der hohe Nutzen
bungskriterien sind:
von Fahrdynamikregelsystemen prognostiziert. Lang-
wieder zeigt den hohen Anteil der „Risikosituation • Straßenverkehrsunfall,
Schleudern in der PreCrash-Phase“. Insbesondere in • Unfall im Großraum Hannover bzw. Dresden,
diesen kritischen Situationen unterstützen Fahrdyna- • mindestens eine verletzte Person, unabhängig von
mikregelsysteme, wie ESP, den Fahrer bei der Fahr- der Verletzungsschwere.
zeugstabilisierung und reduzieren die Unfallhäufig- Durch die Unfallaufnahme vor Ort lassen sich detail-
keit oder mindern die Unfallschwere. lierte Informationen zum Unfallort, den Umweltbe-

VW Golf III
Cabrio
VW Golf IV

Unfallskizze

Dokumentation Rekonstruktion Bewertung

Bild 9.3-2 Prinzipielle Vorgehensweise der VW Unfallforschung [15]


9.3 Ergebnisse aus der Unfallforschung 767

Tabelle 9.3-1 Internationale Studien zu ESP zeigen hohe Effektivität [16]

dingungen sowie den beteiligten Fahrzeugen erheben,


Anwendung
die nachträglich eine genaue Rekonstruktion des Un-
falls ermöglichen. Informationen, die am Unfallort Um das Sicherheitsniveau von Fahrzeugen überprü-
nicht erhoben werden können, werden nachträglich fen und miteinander vergleichen zu können, werden
ermittelt, wie z.B. genaue Vermessung der Fahrzeug- von verschiedenen Organisationen eine Vielzahl von
deformationen, weitere Behandlung, Art und Schwere Tests durchgeführt. Ziel ist es, mit diesen Tests einen
der Verletzungen der Unfallbeteiligten [14]. möglichst großen Teil des realen Unfallgeschehens
Ergänzt werden diese „In-Depth“-Unfallerhebungen abzudecken, und durch die Auslegung der Fahrzeug-
durch eigene Unfallerhebungen verschiedener Fahr- sicherheitssysteme auf diese Bedingungen einen
zeughersteller, die sich in der Regel auf Unfälle mit möglichst optimalen und effektiven Schutz der Insas-
beteiligten Fahrzeugen der aktuellen, eigenen Produk- sen, aber auch der äußeren Verkehrsteilnehmer zu er-
tion beschränken (Audi, BMW, Daimler, Volkswa- reichen. Die durchgeführten gesetzlichen Crashtests
gen). (die einen gewissen Mindeststandard an Sicherheit
Bild 9.3-2 zeigt die prinzipielle Vorgehensweise bei garantieren) und die Verbraucherinformationstests
der Volkswagen Unfallforschung. versuchen diesen Schutz zu garantieren und unterlie-
Durch diese zusätzlichen Erhebungen ist es möglich, gen deshalb auch einem kontinuierlichen Entwick-
schneller Informationen über das Verhalten neuer lungsprozess [18].
Fahrzeuge im realen Unfallgeschehen zu gewinnen, Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass eine al-
bereits bevor diese in ausreichender Zahl den Ge- leinige Auslegung auf solche Labortests bestimmte
samtmarkt durchdrungen haben. Möglichkeiten der unfallvermeidenden Sicherheit
In Tabelle 9.3-1 ist der Nutzen des Elektronischen ausblenden würde. Darüber hinaus muss überprüft
Stabilitätsprogramms (ESP) anhand verschiedener in- werden, ob eine Verbesserung der Testergebnisse
ternationaler Studien belegt [16]. auch zu einer Verbesserung im realen Unfallgesche-
Systeme der Unfallschwereminderung lassen den hen führt. Das sinkende Verletzungsrisiko durch ver-
größten Sicherheitsgewinn für die Zukunft erwarten. besserte Strukturmaßnahmen und neuartige Rückhal-
Dabei ist jedoch eine Unterscheidung zwischen dem tesysteme mit Hilfe von Daten des GIDAS- Projektes
Nutzen von Systemen der Unfallfolgenmilderung und ist in [19] dargestellt, siehe Bild 9.3-3.
der Unfallschwereminderung schwierig, da diese Sys- Auf Basis der Unfallzahlen kann auch eine Bewer-
teme zunehmend verschmelzen. Zurückblickend kann tung der Effektivität von Sicherheitssystemen vorge-
man feststellen, dass der größte Nutzen durch den Si- nommen werden. Eine Reihung verschiedener Fahrer-
cherheitsgurt erzielt wurde, gefolgt von Strukturmaß- assistenzsysteme und Systeme der unfallfolgenmil-
nahmen an der Fahrgastzelle, dem elektronischen dernden Sicherheit nach erwarteter oder auch bereits
Stabilitätsprogramm (ESP) und den Airbagsystemen erwiesener Effektivität zeigt Bild 9.3-4 [17].
[vgl. auch 17]. Diese Überprüfung der Nachbildung der realen Un-
Vergleichbar zu GIDAS in Deutschland gibt es ähn- fallwelt durch Testverfahren und die Findung von
liche „In-Depth“-Unfallerhebungsprojekte auch in neuen Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicherheit
anderen Ländern (z.B. Frankreich, Großbritannien, der Fahrzeuge ist ein ständiger Prozess. Dazu ist es
Schweden, USA, Japan, China). Derzeit ist es jedoch permanent nötig, die Unfallwelt in Form von Daten-
noch nicht gelungen eine identische Datenstruktur banken aufzunehmen und auszuwerten.
aufzubauen um einen Vergleich dieser Daten unter- Des Weiteren unterliegt die Unfalldatenaufnahme
einander zu ermöglichen. Europäische Forschungs- selbst ständigen Veränderungen. Durch die Einfüh-
projekte widmen sich dieser Problematik. rung von neuen Sicherheitssystemen wie z.B. ABS
768 9 Fahrzeugsicherheit

18 %
16.7%

16 %
Anteil der Verletzungsschwereklassen an allen

MAIS2+ MAIS3+
14 %

11.7%
Verunfallten der Klasse

12 %

10 % 9.1%
8.0%
8%
6.7%
5.9%
6%

3.8%
4%
2.9% 2.6% Bild 9.3-3 Entwicklung der
1.6% Gesamtverletzungsschwere
2%
nach Fahrzeugbaujahr für
0% gegurtete Fahrer, alle Kolli-
vor 1980 ohne 1981–1990 ohne 1991–1996 ohne 1991–1996 mit 1997–2002 mit
FAB n = 985 FAB n = 4640 FAB n = 2074 FAB n = 698 FAB n = 625 sionsarten
Fahrzeugbaujahr bzw. Ausstattung mit Frontairbag (FAB)
(MAIS = Maximaler AIS je
Person, AIS Skala s.9.5.1.2)

wird die Analyse und Bewertung von Verzögerungs- fälle für das deutsche Unfallgeschehen als repräsenta-
spuren in der Pre-Kollisions-Phase immer schwieri- tiv gelten können. Man wird annehmen können, dass
ger. Die Entwicklung von unfallvermeidenden Si- in Ländern, die eine mit Deutschland vergleichbare
cherheitssystemen ist auf Informationen zur Fahr- Motorisierung haben, ähnliche Verhältnisse herrschen
zeuggeschwindigkeit und der Fahrerreaktion ange- und die Ergebnisse damit übertragbar sind. Bereits für
wiesen. Diese Daten könnten durch einen Unfallda- die östlichen Mitgliedsstaaten der EU stellt sich aber
tenspeicher, der die wichtigsten Daten wie Fahrzeug- die Frage, ob eine für Deutschland abgeleitete Priori-
geschwindigkeit, -verzögerung usw. aufzeichnet, ge- sierung übertragbar ist. In diesen Ländern gibt es eine
wonnen werden. Derzeit wird eine Einführung sol- andere Durchmischung des Verkehrs mit Pkw, Lkw,
cher Unfalldatenspeicher durch die Automobilherstel- Zweirädern und Fußgängern. Es gibt einen höheren
ler und den Gesetzgeber überprüft. Dadurch könnten Anteil von Führerscheinneulingen und es gibt eine
für die Unfallforschung zusätzliche Informationen ge- andere Verteilung des Verkehrs auf Landstraßen, Au-
wonnen werden und damit zu einem besseren Ver- tobahnen und Stadtverkehr.
ständnis des Unfallablaufes und letztlich zu einer Erhebliche Unterschiede ergeben sich, wenn man in
Weiterentwicklung unfallvermeidender Systeme füh- die sich entwickelnden Staaten schaut, wie z.B. Chi-
ren [15]. na. Dort stehen Maßnahmen zur Erhöhung der Gurt-
Der in Bild 9.3-4 vorgelegte Katalog von Sicher- anlegequote, Verkehrserziehung und Durchsetzung
heitsmaßnahmen wurde auf Basis deutscher Zahlen der Verkehrsregeln durch Bußgelder ganz oben in der
ermittelt. Er ist – streng genommen – nur für die Priorisierung. Die Entwicklung der Infrastruktur be-
Städte Hannover und Dresden gültig, in denen die Un- sitzt dort eine sehr hohe Priorität, damit sie mit dem
falldaten erhoben werden. Die Erhebung ist aber so allgemeinen Wachstum des Wohlstandes Schritt hält.
gestaltet, dass die in der GIDAS dokumentierten Un- Erst wenn z.B. eine Gurtanlegung durchgesetzt wor-
den ist, ergeben die klassischen Maßnahmen der pas-
Safety belts and safety belt pretensioners for the front seat
siven Sicherheit: Steife Zelle und Airbag einen nen-
Safety belts for the rear seats, child seats nenswerten Nutzen. Ein Autofahrer, der hauptsäch-
Safety cells Lane Departure Alert lich im Stadtverkehr fährt, hat andere Anforderungen
ESP Automatic Emergency Brake
Head airbag Drowsiness Monitoring
an sein Fahrzeug als ein Autofahrer, der auf kurven-
Driver airbag reichen Außerortsstraßen einem höheren Schleuderri-
ABS, Brake Assist
Front passenger airbag
siko ausgesetzt ist.
Side and knee airbags Lane Change Assist Diese Erkenntnisse müssen bei der Bewertung der
Pre-Safe Aussagen von Bild 9.3-4 berücksichtigt werden. Ein
Night Vision, Active Front Lighting
wichtiges Ergebnis der vergleichenden internationa-
Bild 9.3-4 Reihung verschiedener Fahrerassistenzsys- len Unfallforschung ist, dass es die eine weltweit
teme und Systeme bezüglich der Sicherheit nach er- überall effiziente Sicherheitsmaßnahme nicht gibt,
wiesener (links) oder erwarteter (rechts) Effektivität sondern dass den regionalen Unterschieden Rechnung
im Unfallgeschehen getragen werden muss. Die von Volkswagen initiierte
9.4 Unfallvermeidende Sicherheit 769

Schutzpotenzial Integrale Fahrzeugsicherheit


Unfallfreies
Sprechen und hören: Vernetzte Assistenz und Kommunikation
CarToX Fahren

Sicherheit
PreCrash

Aktive
FrontAssist
Sehen: Fahrer-Assistenz SideAssist HC
ACC Parkassist
ESP
ABS BAS AFS
Fühlen: Fzg.-Assistenz
Airbag
Gurt adaptiver

Sicherh.
Passive
Steife Fahrgastzelle Insassenschutz
Fahrzeugstruktur

Zeit
Heute

Bild 9.4-1 Schutzpotenzial Integrale Fahrzeugsicherheit [26]

Unfallforschung in Shanghai/China, die heute von kontrollierbar. Damit das nicht geschieht, überwacht
einem größeren Konsortium von Herstellern getragen das ABS-Steuergerät mittels Raddrehzahlsensoren die
wird, ist ein Schritt in diese Richtung. Drehzahlen aller Räder des Fahrzeuges. Droht eines
zu blockieren, reduziert ein Magnetventil in der
Steuereinheit des Antiblockiersystems den Brems-
9.4 Unfallvermeidende Sicherheit druck für das entsprechende Rad, bis es wieder frei
läuft. Danach wird der Druck bis zur Blockiergrenze
Zur unfallvermeidenden Sicherheit tragen neben wieder erhöht. Das Fahrzeug bleibt stabil und die
den nachfolgenden beschriebenen Assistenzsystemen Lenkbarkeit erhalten. Der Fahrer spürt den Einsatz des
grundlegend auch die komfortsteigernden Maßnah- Antiblockiersystems an einem leichten Pulsieren des
men bei, die einen positiven Einfluss auf die Leis- Bremspedals. Im Regelbereich des Antiblockiersys-
tungsfähigkeit des Fahrers ausüben. Dazu zählen bei- tems kann das Fahrzeug trotz maximaler Verzögerung
spielsweise Klimaanlagen, eine gute Sichtbarkeit und problemlos gelenkt werden. ABS hilft so Hindernissen
Ausleuchtung durch Licht, die Verbesserung der ei- auszuweichen und eine Kollision zu verhindern.
gene Sicht (Spiegel, Scheiben) oder auch ein ausge- Der Bremsassistent (BAS) unterstützt den Fahrer bei
wogenes Fahrwerk. einer Not- oder Panikbremsung. Es erkennt anhand
Den aktuellen Entwicklungsstand der aktiven und der Betätigungsgeschwindigkeit des Bremspedals, ob
passiven Systeme und deren Schutzpotenzial zeigt der Fahrer eine Vollbremsung wünscht und erhöht
Bild 9.4-1. Die aktive Sicherheit lässt sich dabei den Bremsdruck automatisch bis in den ABS-Regel-
in Fahrzeugassistenz (Sensoren detektieren den Fahr- bereich, solange der Fahrer das Bremspedal betätigt.
zeugzustand), Fahrerassistenz (Umfelderkennung) Bei nachlassender Bremsdruckvorgabe durch den
und vernetzte Assistenz (Kommunikation) untertei- Fahrer verringert das System den Bremsdruck wieder
len. Während sich die Fahrzeugassistenz auf assistie- auf den Vorgabewert. Mit dem Bremsassistenten
rende Systeme der Fahrzeugebene beziehen (s. Kap. kann der Anhalteweg deutlich verkürzt werden. Das
9.4.1), lassen sich die Systeme der Fahrerassistenz System arbeitet kaum spürbar für den Fahrer.
mit einer Umfelderkennung in Systeme der Längsfüh- Das elektronische Stabilisierungsprogramm (ESP) er-
rung, der Querführung und der Nachtassistenz unter- kennt kritische Fahrsituationen, zum Beispiel Schleu-
teilen (s. Kap. 9.4.2). Die Analogie der menschlichen dergefahr, und beugt einem Ausbrechen des Fahrzeu-
Sinne wird zukünftig mit der Kommunikation der ges gezielt vor. Damit ESP auf kritische Fahrsituatio-
Fahrzeuge untereinander komplettiert. Dadurch wird nen reagieren kann, muss das System ständig Infor-
sich das Schutzpotenzial weiter erhöhen. Durch die mationen erhalten. Beispielsweise: Wohin der Fahrer
innovative Weiterentwicklung der Elektronik und die lenkt und wohin das Fahrzeug fährt. Die Antwort auf
integrale Vernetzung der Sicherheitssysteme (Integra- die erste Frage erhält das System vom Lenkwin-
le Sicherheit) rückt die Vision vom unfallfreien Fah- kelsensor und den Raddrehzahlsensoren. Aus diesen
ren näher. beiden Informationen errechnet das Steuergerät die
Soll-Lenkrichtung und ein Soll-Fahrverhalten des
9.4.1 Assistenzsysteme der Fahrzeugebene Fahrzeuges. Weiterhin wichtige Daten sind die Gier-
Das Antiblockiersystem (ABS) verhindert bei einer rate und die Querbeschleunigung des Fahrzeuges. Mit
Vollbremsung oder bei glatter Fahrbahn das Blockie- Hilfe dieser Informationen errechnet das Steuergerät
ren der Räder und erhält die Lenkfähigkeit des Fahr- den Ist-Zustand des Fahrzeuges. ESP verhindert eine
zeugs. Blockierende Räder können keine Seitenfüh- Instabilität des Fahrzeuges bei Kurvenfahrt, die ent-
rungskräfte mehr übertragen, das Fahrzeug wird un- weder bei unangepasster Geschwindigkeit, bei unvor-
770 9 Fahrzeugsicherheit

Dynamisches Kurvenlicht normales Abblendlicht


verdoppelte Sichtweite

Bild 9.4-2 Kurvenlicht [22, 23]

hersehbarer Änderung der Fahrbahnoberfläche (Näs-


se, Glätte, Verschmutzung) oder bei einem plötzlich
erforderlichen Ausweichmanöver eintreten kann. Da-
bei spielt es keine Rolle, ob das Fahrzeug untersteuert
(Fahrzeug schiebt trotz eingeschlagener Räder zum
Kurvenaußenrand) oder übersteuert (Ausbrechen des
Hecks). Die Rechnereinheit des elektronischen Stabi-
lisierungsprogrammes erkennt die Art der Instabilität
anhand der von der Sensorik gelieferten Daten und
steuert die Korrektur über den Eingriff in das Brems-
system und das Motormanagement. Beim Unter-
steuern verzögert ESP das kurveninnere Hinterrad.
Gleichzeitig reduziert es die Motorleistung, bis sich
das Fahrzeug wieder stabilisiert hat. Übersteuern ver-
hindert ESP durch gezieltes Ansprechen der kurven- Bild 9.4-3 ACC [24]
äußeren vorderen Bremse und Eingriff in das Motor-
und Getriebemanagement. Zunehmende Erfahrung
und eine deutlich feinfühligere Sensorik erlauben eine Cruise-Control (ACC), Bild 9.4-3. Mit diesem radar-
ständige Weiterentwicklung dieses komplexen Regel- basierten System ist es dem Fahrer zu einem be-
systems, z.B. Torque Vectoring. stimmten Grad möglich, in dem fließenden Verkehr
Die Xenon-Scheinwerfer mit dynamischem und sta- mitzuschwimmen, ohne manuelle Geschwindigkeits-
tischem Kurvenfahrlicht sorgen für eine um bis zu anpassungen durchführen zu müssen. Nach Auswahl
90 Prozent verbesserte Ausleuchtung von Kurven be- einer gewünschten Geschwindigkeit und Zeitlücke,
ziehungsweise des Abbiegebereichs. Die Lichtvertei- die zu einem möglich Vorausfahrenden gewünscht
lung wird dabei stets an die Geschwindigkeit ange- wird, passt sich das Fahrzeug, automatisch daran an.
passt. Beim dynamischen Kurvenfahrlicht folgen die Das geschieht allerdings nur, wenn sich das andere
Lichtkegel ab einer Fahrgeschwindigkeit von mehr Fahrzeug unterhalb der eingestellten Wunschge-
als 10 km/h dem Lenkradeinschlag. Stellmotoren in schwindigkeit bewegt. Die Erkennung relevanter Ob-
den Scheinwerfereinheiten schwenken – anhand des jekte geschieht dabei über ein Radar-System, sowie
Lenkradwinkels und der Fahrzeuggeschwindigkeit – über den Fahrspurverlauf des eigenen Fahrzeuges an-
die Scheinwerfer, um den Kurvenverlauf ideal auszu- hand von Dynamikdaten. Je nach Ausführung des
leuchten. Um eine Blendung des Gegenverkehrs zu ACC gibt es verschiedene Modi zum Folgeverhalten
vermeiden, ist der Schwenkwinkel des dynamischen und eine automatische Anpassung des Beschleuni-
Kurvenfahrlichts auf 15 Grad begrenzt. Auf diese gungsverhaltens durch die vom Radarsystem erkannte
Weise sind der Kurvenverlauf sowie Hindernisse, Per- Fahrzeugumgebung.
sonen oder Tiere bei einer Kurvenfahrt für den Fahrer Die Komfortfunktion ACC wird mittlerweile durch
früher wahrnehmbar. Der Fahrer gewinnt zusätzliche Elemente der Fahrzeugsicherheit ergänzt. Wenn
Reaktionszeit, das Unfallrisiko sinkt erheblich. durch das Umfeldbeobachtungssystem eine kritische
Annäherungssituation erkannt wird, dann wird das
9.4.2 Assistenzsysteme mit Umfeldsensorik Fahrzeug durch das Vorbefüllen der Bremsen (Pre-
Fill) und durch die Sensibilisierung des hydraulischen
9.4.2.1 Systeme der Längsführung
Bremsassistenten auf eine bevorstehende Fahrernot-
Möchte ein Fahrer derzeit entspannt fahren, so nutzt bremsung vorkonditioniert. Beides erhöht die Wirk-
er in den neueren Modellen das sogenannte Adaptive- samkeit einer Fahrerbremsung.
9.4 Unfallvermeidende Sicherheit 771

Bild 9.4-4 Side Assist [25]

Zusätzlich wird eine 2-stufige Warnung ausgegeben, und im toten Winkel. So können Fahrsituationen bes-
bestehend aus einer optisch-akustischen Warnung ser eingeschätzt und eine Gefährdung vermieden
und einem Bremsruck. In eindeutig erkannten Situa- werden. Das System ist so ausgelegt, dass es den Fah-
tionen, in denen der Fahrer nicht eingreift, wird dann rer nur in relevanten Situationen warnt: So erfolgt kei-
eine automatische Notbremsung eingeleitet. Die Fahr- ne Warnung für stehende Objekte oder entgegen-
zeug-Eingriffe sollen dabei, je nach Situation, einen kommende Fahrzeuge. Ebenso werden Fahrzeuge, die
Unfall aktiv vermeiden bzw. die Folgen einer Kolli- mehr als eine Fahrspur entfernt sind, ignoriert. Da-
sion mildern. durch wird eine unnötige Irritation des Fahrers durch
zu häufiges Ansprechen vermieden. Side Assist
9.4.2.2 Systeme der Querführung schafft vor allem einen Zugewinn an Komfort. Als
Der Side Assist, Bild 9.4-4, unterstützt den Fahrer, Fahrerassistenzsystem vereint das System leichte
indem er ihn vor oder bei einem Spurwechsel auf sich Handhabung und Komfort. Es kann und soll jedoch
nähernde Fahrzeuge aufmerksam macht. Eine intuitiv den Fahrer nicht bei einem Überholvorgang von sei-
verständliche Rückmeldung über Warnlampen in den ner Sorgfaltspflicht und dem Blick in den Rückspie-
Außenspiegeln informiert oder warnt den Fahrer in- gel entheben.
nerhalb der Systemgrenzen vor Fahrzeugen in einem Ein weiteres System zur Erhöhung der Sicherheit ist
Bereich von 50 Metern hinter dem eigenen Fahrzeug der Spurhalteassistent (Lane Assist), Bild 9.4-5 das

Bild 9.4-5 Lane Assist [26]

Bild 9.4-6 Nachtsichtassistent mit Fußgängermarkierung [27]


772 9 Fahrzeugsicherheit

auf Wunsch des Fahrers aktiviert werden kann. Gera-


de bei langen eintönigen Fahrten kann die Konzentra-
tion des Fahrers nachlassen. Ein Abkommen von der
Fahrbahn kann die Folge sein. Durch einen leichten
korrigierenden Lenkeingriff des Lane Assist kann das
vermieden werden. Grundlage dafür ist die über Ka-
merasensorik erfasste Fahrbahnmarkierung. Sollte
diese erkennbar sein und sich die Geschwindigkeit
oberhalb von 65 km/h befinden, so ist das System ak-
tiv und wird dem Fahrer im Kombiinstrument ange-
zeigt. Weicht der Wagen nun von seiner Spur ab,
lenkt der Spurhalteassistent leicht gegen. Dass ein Bild 9.4-8b Kamera für Fernlichtassistenz
Fahrer bei aktivem System die Hände vom Lenkrad
nimmt, ist aufgrund des Aufmerksamkeitverlustes des wird ein – im Gegensatz zum passiven System – voll-
Fahrers nicht wünschenswert. In diesem Fall gibt das ständig aufgehelltes Bild seiner Umgebung auf einer
Fahrzeug eine Übernahmeaufforderung an den Fahrer Anzeige zur Verfügung gestellt.
und schaltet sich ab. Das frühzeitige Erkennen von relevanten Objekten
kann auch durch die Fernlicht-Assistenzsysteme un-
9.4.2.3 Nachtassistenz terstützt werden. Diese beobachten, mit Hilfe einer
Bei Nachtassistenzsystemen, Bild 9.4-6 unterscheidet Kamera, den entgegenkommenden und vorausfahren-
man zwischen Systemen, die das Fahrzeugvorfeld in den Verkehr, und passen die Lichtverteilung der
einem Display anzeigen, und Fernlicht-Assistenz- Scheinwerfer dementsprechend an. Die einfachste
systemen. Diese passen die Lichtverteilung so an, Variante ist der Fernlichtassistent (FLA), bei dem das
dass immer maximale Sicht für den Fahrer bei gleich- Fernlicht im Falle entgegenkommender oder voraus-
zeitig minimierter Blendung entsteht. fahrender Fahrzeuge abgeschaltet wird. Ist das Vor-
Die Nightvision-Systeme erfassen den Bereich vor feld wieder frei, wird es automatisch reaktiviert [28].
dem Fahrzeug mit einer Kamera. Hierbei kommen Eine Weiterentwicklung des FLA ist die gleitende
entweder passive oder aktive Systeme zum Einsatz. Leuchtweitenregulierung, Bild 9.4-7. Hier wird nicht
Die passiven Systeme zeichnen sich durch den Ein-
satz einer Wärmebildkamera aus. Diese reagiert emp-
findlich auf sämtliche Wärmequellen in ihrem Sicht-
bereich (z.B. Fußgänger, Fahrzeuge) und zeigt diese
deutlich aufgehellt in einem Display im Cockpit an.
Zusätzlich können über eine intelligente Bildverarbei-
tung Fußgänger klassifiziert, und bei Bedarf in der
Anzeige markiert werden. Dies ist zum Beispiel hilf-
reich, wenn ein Fußgänger die Straße überquert.
Bei aktiven Nachtsicht-Assistenzsystemen wird das
Vorfeld mittels eines Infrarotscheinwerfers ausge-
leuchtet. Die Reichweite beträgt etwa 150 m. Mit ei-
ner normalen Fahrzeugkamera, die auch im infraroten
(IR) Bereich empfindlich ist, wird das von der Um-
gebung reflektierte IR-Licht sensiert. Dem Fahrer Bild 9.4-7 Gleitende Leuchtweitenregulierung [29]

Bild 9.4-8a Blendfreies Fernlicht [30,31]


9.5 Biomechanik und Schutzkriterien 773

nur bestimmt ob, sondern auch in welcher Position die Biomechanik ein Mittel zur Beschreibung der
sich andere Fahrzeuge im Vorfeld befinden. Mit die- Verletzungsmechanismen und ein Instrument zur Er-
sen Informationen ist es nun möglich, die Hell- mittlung der mechanischen Belastbarkeit des mensch-
Dunkel-Grenze (HDG) der Frontscheinwerfer stufen- lichen Körpers. Die Resultate der biomechanischen
los zwischen Abblend- und Fernlichtverteilung zu Forschung führen zur Festlegung von Belastungs-
adaptieren, je nach Entfernung der entgegenkommen- grenzen. Daraus werden die Schutzkriterien abgelei-
den oder vorausfahrenden Fahrzeuge. tet, die als physikalische Größen mit Versuchsein-
Eine weitere Entwicklungsstufe stellt das blendfreie richtungen gemessen werden und deren direkter
Fernlicht, auch Dynamic Light Assist, Bild 9.4- Messwert oder daraus abgeleitete Grenzen nicht über-
8a + b genannt, dar. Hier wird die Lichtverteilung schritten werden dürfen.
nicht nur in vertikaler Richtung adaptiert, sondern
kann auch horizontal geschwenkt werden. Das er- 9.5.1.2 Belastungsgrenzen
möglicht ein Aussparen der anderen Verkehrsteil-
Die Belastungsgrenzen beschreiben u.a. Knochenbrü-
nehmer im Fernlicht und maximiert somit die Sicht
che, Organschädigungen und andere Verletzungen.
des Fahrers, da nur dort das Licht abgeschattet wird,
Eine Klassifizierung wird durch den „Abbreviated In-
wo es entgegenkommende und vorausfahrende Fahr-
jury Scale“ (AIS) bzw. „Overall Abbreviated Injury
zeuge blenden würde.
Scale“ (OAIS) vorgenommen. AIS und OAIS beur-
teilen eine Einzel- bzw. die Gesamtverletzungen und
reichen von 0 bis 6 [34], Tabelle 9.5-1.
9.5 Biomechanik und Schutzkriterien
Tabelle 9.5-1 AIS-Skala (Abbreviated Injury Scale)
9.5.1 Biomechanik
9.5.1.1 Grundlagen AIS-Stufe Verletzungsschwere

Beginnend in den USA, später in Europa und dem 1 Leichte Verletzung, z.B.
Rest der Welt wird die Biomechanik verstärkt er- – Schürf- und Schnittwunden
forscht. Wesentlichen Anteil an der Untersuchung der – Prellungen
menschlichen Widerstandsfähigkeit gegen stoßartige 2 Mittelschwere Verletzung, z.B.
Belastungen hatte der amerikanische Colonel Stapp, – tiefe Fleischwunden
der im Selbstversuch als erster Mensch aus einer Ge- – Gehirnerschütterung mit Be-
schwindigkeit von 632 mph (rd. 1.000 km/h) in 1,4 s wusstlosigkeit (unter 15 min)
bis zum Stillstand verzögert wurde. Eine Würdigung 3 Schwere Verletzung, z.B.
findet man in [32]: – Gehirnerschütterung mit Be-
“The Stapp Car Crash Conferences are named in wusstlosigkeit (unter 1 h)
honor of Colonel John Stapp, USA (MC), who pio- – Zwerchfellriss
neered (and is still pioneering) in establishing human – Verlust eines Auges
impact tolerance levels. His historic rocket sled rides 4 Sehr schwere Verletzung (lebens-
at Holloman Air Force Base, New Mexico, in 1954, gefährlich), z.B.
in which he voluntarily subjected himself to up to – Hirnquetschung mit Bewusst-
40 G accelerations while stopping from a speed of losigkeit (unter 24 h)
632 miles per hour in 1,4 seconds still represent the – Magenriss
best basis for quantitating human tolerance to accel- – Beinverlust, oberhalb des Knies
eration. In addition to his own dangerous volunteers 5 Sehr schwere Verletzung (niedrige
work, he has directed countless other safety research Überlebenschance), z.B.
programs involving human volunteers, animals and – Hirnquetschung mit Bewusst-
cadavers. The equipment and techniques developed losigkeit (über 24 h)
under his guidance habe contributed much to the ad- – Herzmuskelriss
vancement of safety. The naming of these conferences – Rückenmarksverletzung mit
after Colonel STAPP is a fitting tribute to a man who Querschnittslähmung
has dedicated his life – even to the point of risking it 6 Sehr schwere Verletzung (sehr
– to research aimed at ancreasing man’s chances of niedrige Überlebenschance, nicht
survival in adverse crash environments.” behandelbar), z.B.
Neben der Stapp-Conferences sind IRCOBI [33] = – Schädelzertrümmerung
International Research Council on the Biomechanics – Brustkorbzerquetschung
of Impacts und das EEVC = European Experimental – Abriss des Rückenmarks in
Vehicle Commitee weitere wichtige Institutionen zur Höhe des 3. Halswirbels oder
Erarbeitung und zum Austausch biomechanischer darüber
Forschungsergebnisse. Für die Fahrzeugsicherheit ist
774 9 Fahrzeugsicherheit

Die Belastungsgrenzen werden beeinflusst durch das Verzögerung [m/s2]


Alter, Geschlecht, Anthropometrie, Masse und Mas- 2400
severteilung. Deshalb ist es schwierig, in Unfallsimu- 2000
lationsversuchen alle vom Unfall Betroffenen (Fahr-
1600
zeuginsassen, Fußgänger) darzustellen. Mit Hilfe von
Versuchspuppen soll ein möglichst großes Spektrum 1200

erfasst werden. 800


Im Folgenden werden einige Belastungswerte für den 400
Menschen näher beschrieben.
0
0 10 20 30 40 50
Äußere Verletzungen Zeit [ms]

Schnittverletzungen im Gesicht und am Hals konnten Bild 9.5-1 Patrick-Kurve (Maßstab zur Beurteilung
bei früheren Fahrzeugkonstruktionen durch Auf- der Belastungen des menschlichen Gehirns)
schlag gegen die Windschutzscheibe entstehen. Eine
Bewertung dieser Verletzungen ist von Prof. Patrick, Belastung ausgesetzt. Das betrifft insbesondere den
Wayne State University, USA, vorgenommen wor- aus sieben Halswirbeln bestehenden Nacken, der bei
den. Die eingeklebte Verbundglasscheibe hat ganz einer relativen Vorwärtsbewegung des Kopfes zum
wesentlich zur Reduzierung von Schnittverletzungen Rumpf (Flexion) und bei einer relativen Rückwärts-
beigetragen und hält den Fahrer- und Beifahrer- bewegung zum Rumpf (Extension) hoch belastet ist.
Airbag zurück. Bei diesen Bewegungen entstehen Zug-, Druck- und
Schädelbrüche durch das Aufschlagen auf Teile des Scherkräfte sowie Drehmomente. Je nach Muskula-
Fahrzeuginnenraums werden nach Swearingen [35] tur und Verhaltensweise des Insassen können dabei
wie folgt begrenzt: Die Verzögerung an der Schädel- schwere Verletzungen auftreten. besonders kritisch
partie, multipliziert mit der Kopfmasse, ergibt eine kann ein zu hohes Moment am okzipitalen Condylus
Kraft, die ein Brechen der Schädelpartie bei flächen- (Hinterhauptgelenkknochen) sein.
hafter Lasteinleitung hervorruft. Beschleunigungs- Verletzungen der Halswirbelsäule rücken zunehmend
grenzwerte betragen z.B. für die Stirn 200 g, die Nase in den Vordergrund, nachdem durch den Sicherheits-
30 g und das Kinn 40 g. Brustverletzungen können gurt und Airbag Kopf und Körper schon gut geschützt
durch das Aufschlagen auf Lenkrad und Armaturen- sind. Der Airbag hat insbesondere die Kopfverlet-
brett entstehen. Deshalb soll die Aufprallreaktions- zung, der Gurtkraftbegrenzer die Brustverletzung re-
kraft möglichst kleiner als 8.000 N sein. Die Brustde- duziert. Für die unterschiedlichen Fahrzeuginsassen
formation sollte 5 cm nicht überschreiten. ist ein adaptiver Insassenschutz erforderlich [38].
Ein Bruch des Oberschenkels kann bei Längskräften
von mehr als 11.000 N eintreten. Nachdem Kopf und 9.5.2 Schutzkriterien
Körper inzwischen gut geschützt sind, rücken Verlet-
Da man Versuche bei denen Verletzungen auftreten
zungen der unteren Extremitäten (Fußgelenke) stärker
können, nicht mit lebenden Personen durchführen
in den Vordergrund.
kann, stehen Nachbildungen von Körperteilen z.B.
Innere Verletzungen Kopfformen oder Ganzkörperversuchspuppen zur
Verfügung. Im Gegensatz zu den biomechanischen
Sehr viel schwieriger sind die inneren Verletzungen Grenzwerten benötigt man auf diese Versuchseinrich-
des Menschen zu erfassen. Die größten Probleme sind tungen bezogene Grenzwerte. Logischerweise sind
zweifelsohne die Beanspruchung des Gehirns und der sie auch von der Art der eingesetzten Versuchspupe
Halswirbelsäule. Für den Kopf gilt die Aussage, dass abhängig.
in anterior-posterior-Richtung eine Beschleunigung Für den Frontalaufprall gelten die im Bild 9.5-2 dar-
von 80 g über einen Zeitraum von 3 ms nicht über- gestellten Werte, wobei sich die länderspezifischen
schritten werden soll. Bewusstlosigkeit und schwere Anforderungen zum Teil vermischen. Das HIC, HPC
Beschädigungen des Gehirns werden nach der Patrick = head injury criteria bzw. head protection criteria ist
Kurve [36] beurteilt, Bild 9.5-1 Sie zeigt den Zu- wie folgt definiert:
sammenhang zwischen Verzögerungshöhe und Ein-
2 ,5
wirkdauer. Aus der Patrick-Kurve wurde auch das ⎡ 1 t2 ⎤
Head Injury Criterion (HIC) abgeleitet. HIC ≤ 1.000 ≈ ⎢ ∫ ares dt ⎥ ( t2 − t1 )
Über die Grenzbelastung durch die Rotationsbeschleu- ⎣⎢ t2 − t1 t1 ⎥⎦
nigung gibt Fiala in [37] Auskunft. Er hat bei einer Die betrachteten Zeitabschnitte betragen 15 ms bzw.
Gehirnmasse von 1.300 g eine Drehbeschleunigung 36 (ms).
von weniger als 7.500 rad/s2 als zulässig ermittelt. Die meisten Werte sind aus dem Bild 8.5.2 ersicht-
Ebenso kritisch wie der Kopf ist der Hals. Als ver- lich, einige sollen noch näher erläutert werden.
bindendes Element zwischen Rumpf und Kopf wird Oberschenkelkraft <9,07 KN bei 0 ms und <7,56 KN
er bei allen Unfällen einer mehr oder weniger großen nach 10 ms
9.5 Biomechanik und Schutzkriterien 775

USA Europa
5 %-Frau 50 %-Mann HPC < 1000

HIC < 700 HIC < 700 ares < 80 g

FZ < 4,17 kN Halsverletzungskriterium


NJ < 1 FD < 4,0 kN Kraft-Zeit-Verlauf
FZ < 2,62 kN
FD < 2,52 kN ares < 60 g Halsbiegemoment < 57 Nm
Brustdeformation < 50 mm
ares < 60 g Deformation
Brustbein Brusteindringgeschw. < 1m/sec
< 63 mm
Deformation
Brustbein
< 52 mm Knieverschiebung < 15 mm

F < 10 kN Oberschenkel Kraft- Zeit-Verlauf


F < 6,805 kN

Unterschenkel < 8 kN

Unterschenkelindex
oben u. unten < 1,3

Bild 9.5-2 Anforderungen für Versuchspuppen (Frontalaufprall)

Schienbeinindex: = Tibiaindex, gemessen oben und Bezüglich der möglichen Fußverletzungen gibt es
unten noch keine präzisen Kriterien. Auf jeden Fall soll ei-
soll ≤ 1,3 sein ne zu große Drehung und ein direkter Bauteilkontakt
Der Tibia-Index ist: TI = ⎜MR/(MC)R⎥ + ⎜FZ/(FC)Z⎥ vermieden werden.
mit MX = Biegemoment um die x-Achse, mit MY = Für den Seitenaufprall gelten die im Bild 9.5-3 darge-
Biegemoment um die y-Achse stellten Werte, dabei ist zu berücksichtigen, dass der
(MC)R = Kritisches Biegemoment <225 Nm Euro SID 2 auch für den amerikanischen Test einge-
(FC)Z = Kritische Kompressionskraft in Z-Richtung setzt werden kann.
mit < 35,9 KN Die Bezeichnungen bedeuten
MR = ( Mx )2 + ( My )2 RDC = Rip Deflection Criteria
APF = Abdomen Belastung
Nacken: PSP = Schambeinfügenbelastung
Das Nackenverletzungskriterium Neck Injury Criteria
(NIC) darf die Zug- und Scherkräfte (KN als f(t)) Bei der Auslegung der Fahrzeuge und Rückhaltesys-
nicht überschreiten. Das Biegemoment um die y- teme muss man die Toleranzen des gesamten Systems
Achse bei der Rückwärtsbewegung soll <57 Nm sein, berücksichtigen. D.h., um gesichert mit allen Fahr-
bei der Vorwärtsbewegung <190 Nm. zeugen z.B. einen Grenzwert für das HIC von 1.000
zu unterschreiten, muss das Entwicklungsziel deutlich
Weitere Forderungen: niedriger sein.
Nach wie vor gilt, dass die Lenkradverlagerung der
Lenkradmitte < 80 mm vertikal und <100 mm hori-
zontal (rückwärts) beim Frontalcrash sein soll.

ES-2 SID-IIs
HPC < 1000
HIC36 < 1000
Viscous Criteria
< 1,0 m/s

Rip. Deflection
RDC < 42 mm
Lower Spine < 82 g
Abdomen
APF < 2,5 kN Becken < 5,525 kN
Becken Bild 9.5-3 Anforderungen
PSP < 6 kN
für Versuchspuppen
(Seitenaufprall)
776 9 Fahrzeugsicherheit

9.5.3 Simulationseinrichtungen
9.5.3.1 Kopf
Der Kopf wird für mehrere Tests simuliert. Der nach
J 921 [39 ] spezifizierte Kopf hat eine reduzierte Pen-
delmasse von 6,8 kg. Er kann Beschleunigungen und
Flächenpressungen (Folie) bewerten. Für den „con-
tainment test“ wird ein Linearimpaktor mit 18 kg und
für den Fußgängertest eine Kinderkopfform mit
3,5 kg und eine Erwachsenenkopfform mit 4,5 kg
eingesetzt.
9.5.3.2 Bein, Hüfte
Für den Fußgängerschutz sind in der europäischen
Gesetzgebung Bein – und Hüftaufprallsimulatoren
spezifiziert.
9.5.3.3 Rumpf
Für das Messen der Kraft in horizontaler Richtung
beim Aufprall auf die Lenkanlage wird als Belastung
ein Körperblock nach SAE 944a verwendet. Dieser Bild 9.5-5 Unterschiede von den Versuchspuppen im
Körperblock repräsentiert den Rumpf eines 50 %- Seitenaufprall (links, Euro SID 2re, rechts, US – SID
Mannes und wiegt 36 kg. Allerdings wird der Rumpf IIs)
nach der Installation von Airbags und Dreipunktgur-
ten nicht mehr als Entwicklungstool eingesetzt. sive der Überprüfung der gesetzlichen Vorschriften
werden die 5 % Frau, der 50 % Mann, Bild 9.5-4 und
9.5.3.4 Gesamtkörper der 95 % Mann sowie die Kinderversuchspuppen ver-
Für die Simulation des gesamten Körpers gibt es wandt. Grundsätzliche Vorträge zu den Versuchspup-
zahlreiche Versuchspuppen. Sie reichen von Kinder- pen wurden unter anderem bei der FISITA-Konferenz
puppen (verschiedene Altersstufen) über die 5 % 2010 gehalten.
Frau, den 50 % Mann bis zum 95 % Mann. Die Pro- Für die Seitenaufprallsimulation sind in den USA der
zentangabe schließt immer den entsprechenden Grö- SID und in Europa der Euro-SID vorgeschrieben.
ßenbereich ein. Für die Unfallsimulationstests, inklu- Bild 9.5-5 demonstriert die Unterschiede im Aufbau
der Versuchspuppen.
Bezüglich der Weiterentwicklung der Seitenaufprall-
Versuchspuppen gibt es zahlreiche Aktivitäten. Der
Euro-SID 2 wird für die NCAP-Tests eingesetzt. Dies
gilt auch für den durch eine Rippenerweiterung ver-
änderten Dummy Euro-SID-2re. Für den US-Stan-
dard FMVSS 201 wird die SID-2re Versuchspuppe
verwandt. Dies ist eine Kombination des US-SID und
der Hybrid III-Version. Zukünftig soll weltweit eine
einheitliche Versuchspuppe, der World-SID, benutzt
werden.
Bei allen Versuchspuppen sind Messwertaufnehmer
im Kopf, im Nacken, in der Brust, im Becken und in
den Oberschenkeln installiert.

9.6 Quasistatische Anforderungen


an die Karosserie
9.6.1 Sitz- und Sicherheitsgurt-
verankerungspunkttests
Für den Fall, dass das innenliegende Sicherheitsgurt-
schloss am Sitz befestigt ist, werden Sitz und Veran-
Bild 9.5-4 Hybrid III 50 %-Mann Versuchspuppe [40] kerungspunkte gleichzeitig geprüft. Über Körperblö-
9.7 Dynamische Fahrzeugkollision 777

Eindrückkraft F mit Biegeträger K1 ohne Biegeträger K2


42000

N Fmax K1
33900 N
K1
31200 N K2
30000 Fmax K2

24000
F12′′ K1
18000 18700 N
F6′′ K1
12900 N
12000 12000 N
F12′′ K2
F6′′ K2
6000
5600 N
6″ 12″ Bild 9.6-1 Versuchsergeb-
2000
0 60 120 180 240 300 360 420
nisse (für eine Tür mit und
Weg [mm] ohne Biegeträger) eines
Türeindrückversuches

cke wird mit Zugbändern die Kraft gleichmäßig ent- Tür mit und ohne Biegeträger geprüft wurde. Bei
sprechend FMVSS 210 aufgebracht. Je Körperblock derartigen Versuchen wird die erreichbare Höchst-
müssen mehr als 14.000 N Widerstand geleistet wer- kraft durch die Fähigkeit zur Kraftübertragung über
den. Die Verstärkung im Bereich der oberen Befesti- Schloss und Scharniere auf die A- und B-Säulen be-
gungspunkte in den B-Säulen muss so ausgeführt grenzt, so dass in beiden Fällen (mit und ohne Biege-
sein, dass ein Einreißen der B-Säule infolge zu großer träger) etwa die gleiche Höchstkraft erreicht wird.
örtlicher Steifigkeit vermieden wird. Deutliche Unterschiede bestehen in dem erreichten
Die Sitze selbst können im Regelfall die am Gurtver- Niveau bei 6 inches (= 15,2 cm) und bei 12 inches
ankerungspunkt auftretenden Kräfte nicht aufnehmen, (= 30,5 cm). Besonders zu Beginn der Deformation
da der Sitz nur das 20fache seines Eigengewichts als bietet eine Tür mit Biegeträger erheblich mehr Wi-
Kraft über einen Zeitraum von 30 ms aushalten muss. derstand gegen das Eindringen eines Stoßkörpers.
Für den innenliegenden Verankerungspunkt bedient
man sich des steifen Fahrzeugmitteltunnels, an dem
eine zackenförmige Sitzführungsschiene befestigt ist. 9.7 Dynamische Fahrzeugkollision
Bei einer Belastung durch einen entsprechend schwe-
ren Unfall rastet der Verankerungspunkt fest ein. Sit- 9.7.1 Frontale Kollision
ze, an denen auch der obere Gurtverankerungspunkt Zur Überprüfung einer eventuellen Beschädigung der
angebracht ist, müssen über die Lehne die Kräfte und Scheinwerfer, Leuchten und weiterer, für die Sicher-
Momente abstützen und sind wegen der notwendigen heit wichtiger Bauteile (z.B. bewegliche Fahrwerks-
Steifigkeit relativ schwer gebaut. teile) werden Aufprallversuche mit niedrigem v gegen
eine feste Wand und Pendelaufschlagversuche gegen
9.6.2 Dachfestigkeit
den Stoßfänger durchgeführt. Während es in den
Zur Überprüfung der Dachfestigkeit entsprechend des USA hierzu ein Gesetz gibt, ist in Europa diese An-
FMVSS 216 wird z.B. für Fahrzeuge mit einem Leer- forderung nur in einigen Ländern zwingend. Der
gewicht von bis zu 2.727 kg eine quasistatische Prüf- Schadenumfang am Fahrzeug bei niedrigen Aufprall-
kraft entsprechend dem 3-fachen Fahrzeuggewicht geschwindigkeiten wird indirekt über die Einstufung
aufgebracht. Diese Gesetzverschärfung wurde ab dem in die Kfz-Versicherungsklassen abgedeckt, wodurch
Jahr 2010 stufenweise in den USA eingeführt. weniger die Sicherheit, sondern vielmehr die Repara-
turkosten berücksichtigt werden. Bis zu Aufprallge-
9.6.3 Seitenstruktur schwindigkeiten von 8 km/h sollen keine bleibenden
Neben den Erprobungen durch dynamische Versuche, Beschädigungen auftreten. Für die Beurteilung von
gibt es nach FMVSS 214 auch einen quasistatischen Reparaturschäden wird bis zu 16 km/h Aufprallge-
Test. Bei diesem Versuch wird ein Zylinder senkrecht schwindigkeit geprüft.
zur Fahrzeuglängsachse in die Tür gedrückt. Die Un- Bei höheren Aufprallgeschwindigkeiten muss die Be-
terkante des Zylinders ist dabei 5 inches (= 12,7 cm) wegungsenergie der Kollisionspartner zum größten
über dem untersten Punkt der Tür. Der Prüfkörper hat Teil durch die Deformation von Fahrzeugbauteilen
einen Durchmesser von 12 inches (= 30,5 cm). Seine abgebaut werden. bei einer Frontalkollision gegen ein
Höhe muss mindestens so bemessen sein, dass er die festes Hindernis, das 90° zur Fahrzeuglängsrichtung
Unterkante des Fensterausschnittes um mindestens steht, ergeben sich die im Bild 9.7-1 dargestellten
1/2 inch (= 1,27 cm) überragt. Bild 9.6-1 zeigt die Verzögerungs-, Geschwindigkeits- und Deformati-
Widerstandsfähigkeit einer Karosserie, wobei eine ons-Zeit-Verläufe. Der Rückprall, erkenntlich an der
778 9 Fahrzeugsicherheit

Aufprallgeschwindigkeit vi

verformungssteife
Fahrgastzelle

vi = Aufprallgeschwindigkeit
Δv Geschwindigkeitsänderung
Weg, .
Geschwindigkeit s = f(t ) Geschwindigkeit

s = f(t ) Deformationsweg

Zeit
Bild 9.7-1 Prinzipielle
Verläufe von Verzögerung,
Verzögerung
.. Geschwindigkeit und
s = f(t ) Verzögerung
Deformationsweg bei einem
Frontalaufprall
negativen Geschwindigkeit, zeigt, dass auch für die- sFZ Weg des Fahrzeuges während des Aufpralles
sen Fall ein elastischer Anteil des Fahrzeugs von rd. als f(t),
10 % vorhanden ist, so dass beim Aufprall gegen eine F, F Deformationskraft, mittlere Deformationskraft,
feste Wand mit 50 km/h die gesamte Geschwindig- vi Aufprallgeschwindigkeit, Δv Geschwindigkeits-
keitsänderung rd. 55 km/h beträgt. Die von dem auf- änderung,
prallenden Fahrzeug auf die Barriere übertragenen Nimmt man an, dass die Deformationskraft konstant
.
Kräfte erreichen bis zu 300 KN bei einem Aufprall ist, und SFZ = –a, s FZ(t=0) = vi,
mit 50 km/h eines 1.000 kg schweren Fahrzeugs ge-
gen eine feste Barriere. sFZ (t=0) = 0
Im Bild 9.7-2 sind die Anteile eines Fahrzeugvorder- s
mFZ 2 2
baus während des Frontcrashes bezüglich der Ener- 
sFZ ( t ) = − a und ( vi − s ) = ∫ F ⋅ ds = F ⋅ sFZ ,
gieabsorption dargestellt. 2 0
Der Aufprall gegen eine feste Wand lässt sich unter .
sFZ(t) = –a ⋅ t + vi,
Annahme eines plastischen Stoßes mit folgenden
Größen beschreiben: a ⋅ t2
sFZ(t) = – + vi ⋅ t ,

sFZ Verzögerung des Fahrzeuges während des Auf- 2
pralles als f(t),
sFZ Geschwindigkeit des Fahrzeuges während des vi2 − s2
sFZ(s) = .
Aufpralles als f(t), 2a

Stirnwand

Längsträger

5% 10 % 20 % 10 % 5%

zweite Hälfte Motor


erste Hälfte
7,5 % 7,5 %
5% 5%
7,5 % 7,5 %

5% 5%
Frontend
Bild 9.7-2 Energie-
absorptionsverteilung beim
Frontalaufprall [41]
9.7 Dynamische Fahrzeugkollision 779

Ersetzt man die mittlere Deformationskraft durch m2 m1


Δv2 = vi 2 − u = ( vi 2 − vi 1 ) ⋅ = vr ⋅ .
F = mFZ ⋅ a oder vi2 = 2 a ⋅ sFZ , m1 + m2 m1 + m2
Für die häufig diskutierte Frage, welche Geschwin-
dann ergibt sich:
digkeiten bei einem Frontalaufprall gegen eine feste
mFZ Wand gewählt werden muss, um eine frontale Kolli-
⋅ vi2 = mFZ ⋅ a ⋅ sFZ oder vi2 = 2 a ⋅ sFZ .
2 sion zweier identischer Fahrzeuge mit jeweils glei-
chen Anfangsgeschwindigkeiten vi1 = vi2 zu simulie-
Daraus folgt, dass sich beim frontalen Aufprall die ren, gilt, dass dann auch die Geschwindigkeitsände-
Deformationskräfte unterscheiden können. Je größer rung der betrachteten Fahrzeuge gleich sein muss, al-
die Fahrzeugmasse ist, desto größer ist der Wert so Δv1B beim Aufprall gegen eine feste Barriere
F = m ⋅ a. Es gilt aber auch, dass wegen der Insassen- gleich Δv1FZ bei der Fahrzeug-Fahrzeug-Kollision.
beanspruchung – gleiche Verzögerung vorausgesetzt Für den plastischen Stoß ergeben sich dann folgende
– die Deformationswege beim Aufprall gegen ein fes- Zusammenhänge:
tes Hindernis aufprallgeschwindigkeitsabhängig und
nicht masseabhängig sind. Bei einer Aufprallge- Fall I. Aufprall gegen eine feste Barriere
schwindigkeit von ca. 50 km/h haben der Großteil der m2
Fahrzeuge Deformationswege von 450 bis 750 mm. Δv1 B = ( vi 1 − vi 2 ) ⋅
m1 + m2
Diese steigen bei Aufprallgeschwindigkeiten von
35 mph (≅ 56 km/h) um rd. 100 bis 150 mm. mit m2 = Barriere = ∞ und vi2 = Barriere = 0
Das Verhalten beim 30°-Aufprall ähnelt sehr stark ei- Δv1 B = vi 1 .
nem frontalen Fahrzeug-Fahrzeug-Zusammenstoß;
durch die Abgleitphase im Vergleich zum Frontalauf- Fall II. Aufprall gegen ein zweites Fahrzeug
prall führt dies eher zu einer schwächeren Belastung m2
Δv1 FZ = ( vi 1 − vi 2 ) ⋅
der Insassen. Im Gegensatz dazu ist der Offset- m1 + m2
Aufprall eine extrem starke Beanspruchung für die
mit m2 = m1 = m und vi2 = – vi1
Fahrzeugstruktur. Der größte Teil der zu absorbieren-
den Energie muss von einer Fahrzeugseite aufge- Δv1 FZ = vi 1 .
nommen werden. Die jeweiligen Geschwindigkeits-
änderungen (im Schwerpunkt) Δvx und Δvy betragen, Somit entspricht der Barriereaufprall eines Fahrzeu-
auf die Fahrzeugmitte bezogen, ges mit vi1 einem Fahrzeug-Fahrzeug Aufprall, bei
dem jedes Fahrzeug eine Geschwindigkeit von vi1, al-
30°-Aufprall vi ≈ 50 Δvx ≈ 57,6 Δvy ≈ 14,4 km/h. lerdings entgegengesetzt hat, oder dem Aufprall eines
40% -Offset- vi ≈ 50 Δvx ≈ 52,2 Δvy ≈ 13,7 km/h. Fahrzeuges mit 2 ⋅ vi1 auf ein stehendes Fahrzeug. Ein
Aufprall 50-km/h-Aufprall gegen eine feste Barriere hat damit,
Beim frontalen Zusammenstoß zweier Fahrzeuge mit einen plastischen Stoß vorausgesetzt, die gleichen
den Massen m1 und m2 gelten folgende Zusammen- Folgen wie ein Zusammenstoß zweier Fahrzeuge
hänge: gleicher Masse bei einer Relativgeschwindigkeit von
100 km/h. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache,
m1 ⋅ vi22 m ⋅ v2 1 dass das elastische Verhalten bei einem Barrierenauf-
+ 2 i 2 = ( m1 + m2 ) ⋅ u2 + F ⋅ ( Δs1 + Δs2 )
2 2 2 prall ausgeprägter ist, dann entspricht dies einer Ge-
schwindigkeit von rd. 110 km/h. Bei der normaler-
mit u ist die gemeinsame Geschwindigkeit nach dem
weise eintretenden Reboundphase durch die Teilelas-
Stoß:
tizität ist die äquivalente Testgeschwindigkeit beim
m1 ⋅ vi 1 + m2 ⋅ vi 2 Aufprall gegen eine feste Barriere ca. 10 % niedriger
u= . als im echten Unfallgeschehen.
m1 + m2
Die Sicherheitsuntersuchungen des Frontalaufpralls
Beim Einsetzen der Anfangsrelativgeschwindigkeit sind sehr zahlreich, allein für USA gelten die im Bild
vr = vi1 – vi2 9.7-3 dargestellten Anforderungen.

beider Fahrzeuge ergibt sich: 9.7.2 Seitliche Kollisionen


m + m2
vr2 = 2 F ⋅ ( Δs1 + Δs2 ) ⋅ 1 . Auch für seitliche Kollisionen sind über die Gesetz-
m1 ⋅ m2 gebung und die Verbrauchertests zahlreiche Simula-
Damit sind die Geschwindigkeitsänderungen für die tionstests im Einsatz, z. B:
Fahrzeuge 1 und 2: • Der FMVSS 214, hier fährt eine Barriere mit
1.368 kg Masse im „Krebsgang“ mit 54 km/h in die
m2 m2
Δv1 = vi 1 − u = ( vi 1 − vi 2 ) ⋅ = vr ⋅ , Seite des zu prüfenden Fahrzeugs, als Versuchspup-
m1 + m2 m1 + m2 pe werden der ES-2re oder der SID IIs verwendet.
780 9 Fahrzeugsicherheit

FMVSS 208: Anforderungen Frontaufprall In-Position


Versuchskonstellationen zur Überprüfung des
Insassenschutzes in In-Position – Konfigurationen

50 % Dummy Mann 5 % Dummy Frau

ohne Gurt mit Gurt ohne Gurt mit Gurt mit Gurt

20 bis 25 mph 35 mph 20 bis 25 mph 35 mph 25 mph

starre Barriere starre Barriere starre Barriere starre Barriere ODB


0°/± 30° 0° 0°/± 5° 0°/± 5° 0°/40 %

FMVSS 208: Anforderungen Frontaufprall Out of Position


Vordersitz Dummy Testkonfiguration
Kinn auf Airbagmodul im Lenkrad
Fahrerseite HIII 5 % female
Kinn am Lenkradkreuz oben
1 jähriger Kinderdummy in 23 definierten Kindersitzen/Positionen
Brust auf Instrumententafel
3-jähriger CRABI-Dummy
Beifahrerseite Kopf an Instrumententafel

Brust auf Instrumententafel


6-jähriger CRABI-Dummy
Kopf an Instrumententafel

Bild 9.7-3 Beispiele für Frontalaufprallsimulation für den US-Standard FMVSS 208 [42]

• Für Europa, die ECE R95 und Euro NCAP sowie • Die Beurteilung von Sitzen und Kopfstützen bei
US-IIHS fährt eine Barriere mit 950 kg (IIHS Heckkollisionen und
1.500 kg) unter 90° Grad Aufprallwinkel mit • die Sicherstellung der Dichtigkeit der gesamten
50 km/h in die Seite des zu prüfenden Fahrzeugs Kraftstoffanlage.
• Für EURO + US NCAP, den FMVSS 201 und den Als Simulationstools sind die verschiedenen bewegli-
FMVSS 214 gibt es außerdem einen Pfahlseiten- chen Barrieren (s. Seitenaufprall) im Einsatz. Neu ist
aufprall Pfahl ∅ 254 mm mit Aufprallgeschwin- der Offsetaufprall der 1.368 kg schweren deformier-
digkeiten von 29 km/h bzw. 32 km/h. Je nach baren Barriere mit 80 km/h auf das Heck des zu prü-
Testverfahren sind der ES-2, SID-H3, ES-2re und fenden Fahrzeugs (FMVSS 301) [43].
SID IIs im Einsatz.
9.7.4 Fahrzeugüberschlag
9.7.3 Heckkollision
Der Fahrzeugüberschlag rückt speziell in den USA
Die Simulation der Heckkollision dient im Wesent- wieder stärker in den Vordergrund. Folgende Testver-
lichen zwei Aufgaben: fahren sind relevant: Fish-Hook-Test (NHTSA) zur
9.8 Insassenschutz 781

Dach Dach Dach Dach Dach


Fahrerseite Beifahrerseite Beifahrerseite Fahrerseite Fahrerseite Beifahrerseite
600 ms 850 ms 1350 ms 1750 ms 2400 ms 2900 ms 4000 ms

Bild 9.7-4 Bewegungsablauf eines Fahrzeuges im Überschlagtest

Kippsicherheit, Kap.7.5. Die Dichtheit der Kraftstoff- gungsniveaus. Einen besonderen Schwerpunkt bilden
anlage wird mittels eines „Rhönrades“ vor und nach auch die Lenksäulen mit den Airbag-Lenkrädern. Im
der frontalen, seitlichen und Heckkollision durch das Zusammenwirken mit dem Sicherheitsgurt und Sitz
Drehen des Fahrzeuges in 90°-Schritten getestet sind sie ein wesentliches Element für den Insassen-
(Verweildauer in jeder Position: 5 min). Gegen das schutz. Damit die Lenksäule mit Lenkrad nicht zu
Auslaufen des Kraftstoffes sind Schwerkraftventile in weit in den Innenraum eindringt, obwohl durch den
der Leitung zwischen Kraftstofftank und Aktivkohle- FMVSS 208 technisch überholt, ist auch bei einem
behälter eingebaut, die bereits bei Schräglage sperren Aufprall mit ca. 50 km/h das Eindringen der Lenk-
(Kap. 7.6). radmitte in horizontaler und vertikaler Richtung be-
Im Zusammenhang mit der Überprüfung des Insas- grenzt. Die definierte Bewegung des Lenkgetriebes
senverhaltens wird das gesamte Fahrzeug einem dy- erlaubt ein teleskopartiges Zusammenschieben der
namischen Überschlagtest unterzogen. Hierzu wird Lenksäule. Auch beim „steer-by-wire“ wird das
das Fahrzeug unter 23° auf einen Schlitten gestellt, Lenkrad den Airbag aufnehmen, zumal der Einsatz
der mittels einer genau definierten Verzögerung aus der Joystick-Lenkung im Pkw sehr unsicher ist. Einen
einer Geschwindigkeit von 30 mph (= 48,3 km/h) ab- Überblick über Sicherheitslenkungen findet man
gebremst wird. Das Fahrzeug führt dann mehrfache [45,,46].
Rotationsbewegung aus, wie im Bild 9.7-4 darge- Ebenso darf das Fußhebelwerk während einer Fron-
stellt. Interessant sind die im Vergleich zur frontalen talkollision nicht zu weit in den Innenraum eindrin-
und seitlichen Kollision zeitlich viel längeren Abläufe gen und scharfkantig splittern.
von bis zu mehreren Sekunden. Sie garantieren den Auch alle übrigen Fahrzeuginnenteile haben direkt
angegurteten Insassen eine höhere Überlebenschance oder indirekt etwas mit der Fahrzeugsicherheit zu tun.
ohne große Verletzungen, wenn der Überlebungs- Speziell für den Seitenschutz ist die Gestaltung der
raum erhalten bleibt. Türinnenseite von Bedeutung, da sie dazu beitragen
Aufgrund der Situation in den USA hat die NHTSA kann, die Belastungen des Insassen abzubauen.
eine Verschärfung verschiedener existierender Geset-
ze vorgenommen, z.B. die FMVSS 206, 214 und 216. 9.8.2 Rückhaltesysteme
Neu definiert ist ein „containment-Test“, welcher un-
Bei den Rückhaltesystemen wird unterschieden zwi-
ter dem Standard 226 zu finden ist. Hier wird defi-
schen Einrichtungen, die aktiviert werden müssen
niert, dass eine Kopfform von 18 kg mit 24 km/h seit-
damit ihre Schutzwirkung erreicht wird – Sicher-
lich gegen Seitenairbag und Scheiben geschossen
heitsgurt anlegen oder Kinderrückhaltesysteme sind
wird, begrenzt ist der Auspendelweg [44].
hierfür gute Beispiele –, und Einrichtungen, deren
Schutzwirkung ohne Zutun der Insassen automatisch
beim Unfall aktiviert wird, z.B. Gurtwegbegrenzung,
9.8 Insassenschutz Gurtstrammer, Airbag.
Moderne Gurtsysteme besonders in Kombination mit
9.8.1 Fahrzeuginnenraum dem Airbag sind äußerst leistungsfähig und garantie-
Neben den klassischen Rückhaltesystemen (Sicher- ren den Insassen einen hervorragenden Schutz im
heitsgurte) unterliegt der gesamte Fahrzeuginnenraum Kollisionsfall.
speziellen Anforderungen. Es darf z.B. in möglichen Ein entscheidendes Kriterium für die Güte und Wirk-
Kopfaufschlagsbereichen (Prüfung mit einer Kugel samkeit eines Gurtrückhaltesystems ist die Abstim-
von 165 mm Durchmesser) ein Bauteilradius von 2,5 mung der Einzelkomponenten aufeinander, d.h. nur
bis 3,2 mm (je nach Lage) nicht unterschritten wer- das perfekte Zusammenspiel von Fahrzeugstruktur,
den. Lenkradbewegung, Sitzverhalten, Innenraumgestal-
Die FMVSS 201 erfordert bei zahlreichen Aufschlag- tung, Gurtcharakteristik und Airbagverhalten garan-
gebieten im Fahrzeuginnenraum mit einer Kopfform tiert einen optimalen Insassenschutz. Adaptive Rück-
die Unterschreitung eines vorgegebenen Beschleuni- haltesysteme können dabei in Abhängigkeit der un-
782 9 Fahrzeugsicherheit

terschiedlichen Unfallschwere und Insassen ange-


steuert werden [47].

9.8.2.1 Sicherheitsgurte
Weltweit hat sich der Dreipunktgurt mit Aufrollau-
tomatik durchgesetzt. Der Dreipunktgurt ist inzwi-
schen im Regelfall bei allen außen liegenden Sitzen
und immer häufiger auch bei dem Mittelsitz eines 5-
Sitzers der hinteren Sitzreihe eingebaut. Das Schloss
ist bei verstellbaren Sitzen direkt am Sitz befestigt,
die außen liegende Seite des Gurtes an der B- oder C-
Säule.
Das zulässige Feld der Gurtverankerungspunkte ist
durch gesetzliche Regelungen exakt vorgeschrieben,
Bild 9.8-1. Der außen obenliegende Punkt ist bei den
meisten Fahrzeugen höhenverstellbar. Das Komfort-
empfinden des Menschen für die Lage des Gurtes und
dessen Schutzwirkung gehen konform.
Für das Sperren der Gurte beim Unfall sorgen zwei
voneinander unabhängige mechanische Systeme. Ein Bild 9.8-2 Ausführung eines pyrotechnischen Gurt-
System nutzt die Fahrzeugbeschleunigung oder -ver- straffers [48]
zögerung (Pendelprinzip). Bei einem Impuls von
mehr als 0,7 g wird die Sperrung ausgelöst. Eine
zeigt eine Ausführung eines pyrotechnischen Gurt-
zweite Sperre reagiert auf die Gurtauszugsbeschleu-
straffers.
nigung, wobei oberhalb eines festgelegten Wertes ge-
Beim pyrotechnischen Gurtstraffer wird in Abhän-
sperrt wird, d.h. bei Auszugsbeschleunigungen von
gigkeit von der Unfallschwere, sensorgesteuert nach
mehr als 1 g tritt die Sperrung innerhalb von 20 mm
Überschreiten einer Verzögerungsschwelle das Gurt-
Auszugslänge ein.
band gestrafft. Innerhalb von 20 ms wird der Gurt bei
Für das optimale Zusammenwirken von Sicherheits-
einem entsprechend schweren Unfall dynamisch bis
gurten und der Fahrzeugstruktur hat sich der Einsatz
2 KN vorgespannt (bleibend 500 N).
der pyrotechnischen Gurtstraffer und teilweise von
Bei PreSafe-Systemen werden die Gurte durch elekt-
zusätzlichen Kraftbegrenzern durchgesetzt. Bild 9.8-2
rische Stellmotoren vor dem Unfall gestrafft.
Es gibt zusätzlich noch eine Reihe von Kraftbegren-
zern, damit der Brustkorb nicht über Gebühr belastet
wird. Welche Art der Zusatzeinrichtung verwendet
USA FMVSS 210 eff. Verankerungspunkte wird ist abhängig vom Zusammenwirken aller für den
Unfallablauf wichtigen Komponenten: Fahrzeugde-
4-Tür. 2-Tür. formationscharakteristik, Sitz, Rückhaltesysteme und
AUSTRALIEN ADR 5B
Zulässiger
Bereich geometrische Anordnung.
EG 76/115 Für die Bereitschaft zum Anlegen des Gurtes ist der
ECE 14/01 Komfort ebenfalls eine wichtige Größe. Die Anord-
nung des Gurtschlosses am Sitz und die Gurthöhen-
verstellung haben hierzu bereits sehr positive Beiträ-
ge geleistet. Eine weitere Maßnahme zur Minimie-
rung der Gurtlose beim Dreipunktgurt ist die Opti-
mierung der Rückzugskraft durch den Gurtautomaten,
um ein einwandfreies Aufrollen zu garantieren, ohne
dass im angelegten Bereich die Kraft übermäßig hoch
ist. Teilweise werden auch zwei Automaten pro Gurt
R-Punkt angeboten, um den Komfort auch im Beckengurt zu
steigern.
9.8.2.2 Kinderrückhaltesysteme
Es gibt kein singuläres Kinderrückhaltesystem, dass
Bild 9.8-1 Gesetzlich vorgeschriebene Bereiche für allen Alters- und Entwicklungsstufen gerecht werden
die geometrische Lage des oberen Gurtverankerungs- kann. Bei der Auslegung von Kinderrückhaltesyste-
punktes men muss insbesondere die im Vergleich zu Erwach-
9.8 Insassenschutz 783

Ausgleichsstück für Kinder- Bobsy G0 Plus ISOFIX, Bobsy G0 Plus,


sitzsystem Bobsy G2-3 Pro 0 bis 15 Monate, bis 13 kg 0 bis 15 Monate, bis 13 kg

Bobsy G0-1 ISOFIX, Bobsy G0-1 ISOFIX, Bobsy G1 ISOFIX Duo Plus,
bis 4 Jahre, 9 bis 18 kg bis 4 Jahre, 9 bis 18 kg 8 M, bis 4 Jahre, 9 bis 18 kg

Bild 9.8-3 Volkswagen


Bobsy G1 ISOFIX Top Tether, Bobsy G2-3 Pro GTI, Bobsy G2-3 Pro,
8 M, bis 4 Jahre, 9 bis 18 kg 3 bis 12 Jahre, 15 bis 36 kg 3 bis 12 Jahre, 15 bis 36 kg Kindersitze für den Golf
[50 ]

senen unterschiedliche Massenverteilung heranwach- wird derselbe beim Einbau des Kindersitzes deak-
sender Menschen berücksichtigt werden. tiviert. Ältere Kinder mit entsprechend entwickelter
Einige Hersteller bieten Kindersitze an, die auch für Halsmuskulatur können ohne Bedenken Kindersitze
die Befestigung im Fahrzeug optimal ausgelegt sind. benutzen, die in Fahrtrichtung angebracht sind [51].
Innerhalb der Europäischen Union sind mit der ECE-
Regelung ECE-R44 die Anforderungen definiert [49]. 9.8.2.3 Airbag-Systeme
Klasse 0 für Kinder mit einem Körpergewicht von Auch beim Airbag gibt es teilweise unterschiedliche
weniger als 10 kg; Ausführungen, was auf die amerikanische Gesetzge-
Klasse 0+ für Kinder mit einem Körpergewicht klei- bung zurückzuführen ist.
ner 13 kg, Durch die in den USA erhobene, nicht ganz glückli-
Klasse I für Kinder mit einem Körpergewicht von che Forderung nach „passive restraints“ ergibt sich
9 kg bis 18 kg, bei den Airbag-Kunden eine sinkende Bereitschaft,
Klasse II für Kinder mit einem Körpergewicht von die Gurte anzulegen. Das ist aber geradezu eine Per-
15 kg bis 25 kg, vertierung des Sicherheitsgedankens. Das Airbag-
Klasse III für Kinder mit einem Körpergewicht von System sollte und darf nur eine Ergänzung zum Gurt
22 kg bis 36 kg. sein. Die unterschiedliche Insassenkinematik, ange-
Dies gilt auch für ISOFIX-Kinderrückhaltesysteme gurtet oder nicht angegurtet, erfordert unterschied-
bei denen die Befestigung im Fahrzeug vorgesehen liche Airbag-Systeme, die jeweils optimal auf das
ist. Der ISOFIX Tether Kindersitz hat darüber hinaus gleichzeitig eingebaute Rückhaltesystem abgestimmt
noch eine obere Befestigung. sein müssen.
Die Fahrzeughersteller haben zusätzlich zu den Zu- Bei Systemen mit Dreipunktgurt bewegt sich der In-
behörlieferanten reagiert und bieten, wie Bild 9.8-3 sasse zunächst relativ zum Fahrzeug nach vorn, bis
zeigt eine komplette Palette von Kinderrückhaltesys- der Gurt sperrt. Danach setzt sich die Relativbewe-
temen an. gung verzögert nach vorn fort. Diese wird durch den
Für den Einbau gibt es zwei grundsätzlich unter- Beckengurt in Verbindung mit einer Sitzrampe mit
schiedliche Möglichkeiten: einer vertikalen Kraft nach unten beeinflusst. In
Rückwärts gerichtete Kindersitzsysteme und in Fahrt- der Schlussphase des Aufpralls entsteht eine stärkere
richtung eingesetzte Systeme. Beim Rebound-System Kopfrotation, die durch die zusätzlichen Fahrer- und
sitzt das Kind entgegen der Fahrtrichtung. Diese An- Beifahrer-Airbag-Systeme deutlich reduziert werden
ordnung ist für Babys und Kleinkinder besonders kann.
empfehlenswert, da diese Position die Gefahr schwe- Die Airbag-Systeme bestehen aus kompakten Einhei-
rer Halswirbelverletzungen besonders bei Frontkolli- ten. Ein bzw. mehrere Sensoren bewerten den Verzö-
sionen minimiert. Gerade in dieser Altersklasse ist gerungs-Zeit-Verlauf, also die Unfallschwere. Hat der
der Kopf, bezogen auf die entwickelte Halsmuskula- Sensor ausgelöst, wird ein Zünder in einem pyrotech-
tur, zu schwer. Bei Fahrzeugen mit Beifahrerairbag nischen Behälter aktiviert, der seinerseits die Verbren-
784 9 Fahrzeugsicherheit

Fahrer

Zeit in Millisekunden

Beifahrer

Unfallbeginn Airbagzündung Kissenentfaltung Eintauchphase Unfallende

Bild 9.8-4 Zeitlicher Ablauf und Schutzwirkung eines Rückhaltesystems aus Dreipunktgurt und Airbag im
Frontalaufprall (Fahrer und Beifahrerseite)

nung des pyrotechnischen Materials auslöst. Mit dem gezündet und in ihrem Aufblasdruck/Zeitverlauf vari-
erzeugten Gas wird der Bag gefüllt. Die Sensorauslö- iert.
sezeit bei einem 50-km/h-Wandaufprall beträgt bis zu In der Anfangsphase des Airbageinsatzes wurden in
30 ms, die Zeit für das anschließende Aufblasen des den USA mehr als 100 Personen tödlich verletzt [52]
Bags rd. 25 ms. Der zunächst herrschende Bag-Innen- und das Gesetz musste komplett überarbeitet werden,
druck beträgt etwa 1,3 – 1,8 bar. Der prinzipielle Ab- um zum Beispiel „out of position“ und Insassen unter-
lauf nach der Sensorauslösung ist für Fahrer- und schiedlicher Größe zu berücksichtigen. Die Tabelle
Beifahrerseite in Bild 9.8-4 dargestellt. 9.8-1 zeigt eine Übersicht über diese Forderungen [53].
In den Ländern mit geringer Sicherheitsgurtanlege- Auch die Anforderungen an die „Advanced Airbags“
quote, z.B. in den USA, müssen die zulässigen Insas- wurden für die USA-Fahrzeuge in zwei Stufen (die
senbelastungswerte auch mit Systemen ohne Sicher- erste bis 2007 und die zweite bis 2009) eingeführt.
heitsgurte erreicht werden. Das erfordert eine ent- Die Stufe zwei erhöht die Aufprallgeschwindigkeit
sprechende Gestaltung des Bereiches unterhalb des für die angegurteten Insassen frontal gegen die Bar-
Armaturenbrettes, z.B. durch den Einbau eines ener- riere von 48 auf 56 km/h.
gieabsorbierenden Kniepolsters, ähnlich wie in Fahr- Airbag-Systeme werden inzwischen auch für andere
zeugen mit einem passiven Gurtsystem. Das Sensor- Sitzpositionen und Unfallarten, z.B. für Fondpassa-
system muss bei dieser Auslegung (Airbag als einzi- giere und für den Seitenschutz, eingesetzt. Dabei
ges Rückhaltesystem) wesentlich präziser arbeiten stellt sich beim Seitenaufprall das Erkennen eines
und auch bei schräger Stoßrichtung (–30° bis +30° schweren Unfalls als besonders schwierig heraus. Die
zur Fahrzeuglängsrichtung) noch sicher auslösen. Das Zeit für das Erkennen des Unfalles und für das Auf-
System ist so ausgelegt, dass es allein die gesamte blasen eines Airbags muss sehr kurz sein, da der
Rückhaltefunktion des Insassen übernehmen kann. Insasse bei einem 50-km/h-Seitenaufprall nach rd.
Das Fahrerbagvolumen beträgt bei solchen Systemen 25 ms bereits Kontakt mit der Türinnenseite haben
rd. 80 l, das Beifahrervolumen rd. 150 l. Die Ab- kann. Für den Seitenschutz wurden zunächst Airbags
stimmung des Bags darf nicht nur für den 50 %-Mann angeboten, die den Brust- und Beckenbereich schüt-
vorgenommen werden. Sie muss auch kleine Perso- zen. Bei zahlreichen Fahrzeugen wurde dies in Rich-
nen (im Extremfall vor dem Armaturenbrett stehende tung Kopfairbag für beide Fahrzeuginnenseiten er-
Kinder) und sehr große und schwere Insassen berück- weitert, Bild 9.8-9. Diese Kopfairbags können bei
sichtigen. Öffnungen im Bag sorgen für ein gesteuer- entsprechender Sensorik auch für den Schutz bei
tes Kraft-Weg-Verhalten. Durch das schnelle Aufbla- Überschlagunfällen eingesetzt werden, um Kopfver-
sen des Airbags wird entsprechend der Unfallsituati- letzungen zu reduzieren und das Herausschleudern zu
on und der Größe des Insassen und der Sitzposition verhindern.
9.8 Insassenschutz 785

Tabelle 9.8-1 Prüfanforderungen für Airbag-Systeme, FMVSS 208


Dummy 50% er- 5% er- 6 Jahre 3 Jahre 12 Monate altes
wachsener wachsene altes altes Baby
Testanforderungen Mann Frau Kind Kind
Feste Barriere, angegurtet, X X N/A N/A N/A
48 km/h, senkrecht

Feste Barriere, angegurtet, X N/A N/A N/A N/A


56 km/h, senkrecht

Feste Barriere, angegurtet, X N/A N/A N/A N/A


32 – 40 km/h, senkrecht und (nur
30° Offset senkrecht)
Offset deformierbare Barriere Crash- X
test (Fahrerseite) angegurtet, 40 km/h
Automatische Unterdrückung N/A N/A X X X
(Statischer Test um zu bestimmen,
wann der Airbag automatisch
deaktiviert wird, wenn ein Kind in
einem Fahrzeugsitz ist oder falls ein
Kind im Beifahrersitz in den Positio-
nen ist, die im Standard definiert sind.)
Option Aufblasen mit geringem N/A X X X X
Risiko (Das Fahrzeug muss die Ver-
letzungskriterien erfüllen, wenn der
Fahrer- oder Beifahrerairbag aufge-
blasen wird wie im Standard
definiert.)
Option „Out of Position“; auto- N/A X X X N/A
matische Airbag-Unterdrückung

lision und eine einwandfreie Funktion der Kopfstütze


gelegt. Die Halswirbelverletzungen verursachen häu-
fig sehr langwierige Erholungsprozesse, so dass neue
Lösungen erarbeitet wurden. Daher wird die Kopf-
stütze, falls ein schwerer Unfall vorliegt, näher an den
Kopf geführt. Die Aktivierung erfolgt pyrotechnisch,
federbasiert oder auch elektrisch mit einem Heckauf-
prallsensor oder durch die Rückwärtsbewegung des
Insassen.
Auch Airbag-Lösungen gibt es. Das Bild 9.8-5 zeigt
bei einem Saab wie sich die Kopfstütze nach oben
und näher an den Kopf bewegt.

9.8.3 Zusammenwirken von Rück-


haltesystemen und Fahrzeug
Bild 9.8-5 Kopfstütze (SAAB) 9.8.3.1 Unangegurteter Insasse
Beim frontalen Aufprall eines Fahrzeuges gegen eine
feste Barriere oder ein anderes Fahrzeug bewegt sich
9.8.2.4 Sitze, Sitzlehne und Kopfstütze
der Insasse aufgrund seiner Trägheit relativ zum
Die Verbesserungen in der Frontal- und Seitenkolli- Fahrzeug in Richtung Armaturenbrett und/oder Lenk-
sion hat zunehmend den Fokus auch auf die Heckkol- rad. In erster Näherung gilt:
786 9 Fahrzeugsicherheit

0 Der Relativweg zwischen Insasse und Fahrzeug ist:


0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
a ⋅ t2
–100 Δs = sI − sFZ =
Beschleunigung [m/s2]

–200
2
Bei einem 50-km/h-Aufprall, einer mittleren Fahr-
–300 zeugverzögerung von 15 g und einem Abstand Insas-
–400 se-Lenkrad von 0,30 m schlägt der Insasse nach
–500
rd. 64 ms auf. Die Differenzgeschwindigkeit beträgt
dann noch rd. 33,9 km/h. Ohne Rückhaltesystem
–600 muss die kinetische Energie des Insassen von Lenk-
Zeit [ms]
Fahrzeug Insasse rad, Armaturenbrett und Windschutzscheibe aufge-
14 nommen werden, so dass die mittlere Verzögerung
12 des Insassen ca. 58 g beträgt.
Geschwindigkeit [m/s]

10
9.8.3.2 Angelegter Dreipunktgurt
8
6
Beim Dreipunktgurt ohne Gurtstraffer wird der Insas-
4
se nach dem Blockieren der Automaten zunächst so
2
weit nach vorne bewegt, bis das Gurtband auf der Au-
0
tomatikrolle zusammengezogen ist. Durch den Be-
–2
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 ckengurtteil und den Oberkörpergurt wird der Körper
Zeit [ms] des Insassen relativ zum Fahrzeug zurückgehalten.
1,2 Der Beckengurt erzeugt mit wachsender Kraftbean-
spruchung auch eine vertikale Kraft nach unten, so
1
dass auch die Sitzschalenkonstruktion und deren Ab-
0,8 stützung in das Insassenschutzsystem mit einbezogen
Weg [m]

0,6
werden muss. Bild 9.8-7 zeigt typische Kopf-Ver-
zögerungs-Zeit und Brust-Verzögerungs-Zeit-Funk-
0,4 tionen und den Verlauf der Gurtkräfte für eine mit ei-
0,2 nem Dreipunktgurt angeschnallte Versuchspuppe
beim 50-km/h-Barrierenaufprall.
0 Um die relative Vorwärtsverlagerung des Insassen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Zeit [ms] speziell auf der Fahrerseite zu begrenzen, werden
Gurtstraffer eingesetzt. Nach dem Erreichen einer
Bild 9.8-6 Verzögerung-Zeit-, Geschwindigkeit-Zeit- fahrzeugtypischen Aufprallschwere wird der pyro-
und Weg-Zeit-Verläufe für Fahrzeuginsasse bei ei- technische Strammer über einen Sensor aktiviert.
nem 50-km/h-Aufprall auf ein festes Hindernis Es ergeben sich zwei Effekte: Der Anstieg der Gurt-
kraft beginnt früher und das Kraftniveau ist im Ver-
Fahrzeug Insasse bis Aufschlag
gleich zu einem normalen Dreipunktgurt bei gleichem

sFZ = − a 
s1 = 0 Verzögerungs-Zeit-Verlauf kleiner.
sFZ = − a ⋅ t + vI s1 = vI 9.8.3.3 Airbag-Systeme
a⋅t 2
Die beiden unterschiedlichen Auslegungen „Airbag
sFZ = + vI ⋅ t + s0 sI = vI ⋅ t + s0
2 plus Dreipunktgurt“ und „Airbag ohne Gurtsystem“

Verzögerung a Kraft F
1000 10
m/s2 FSchulter (außen) kN

800 8

600 6
aKopf
aBrust
400 4
Bild 9.8-7 Beispiel für
Verzögerungs-Zeit- und
FBecken (außen)
200 2 Gurtkraft-Zeit-Funktion für
eine mit einem Dreipunkt-
0 0 gurt angeschnallte Ver-
0 20 40 60 80 100 120 140 160 ms 180 suchspuppe bei einem
Zeit
50-km/h-Barrierenaufprall
9.8 Insassenschutz 787

führen zu unterschiedlicher Insassenbewegung. Zu- bezeichnet. Dabei werden unterschiedliche Air-


nächst zum System mit Dreipunktgurt. Der Insasse baghärten und Gurtkräfte zur Verfügung gestellt
macht am Anfang eine ähnliche Bewegung wie bei [47, 54].
konventionellen Rückhaltesystemen. Nach dem Auf-
blasen des Bags wird die Kopfrotation deutlich redu- 9.8.4 Seitenkollisionen
ziert, und auch die Brustverzögerungswerte verbes-
Die Möglichkeiten des Einsatzes besonderer Rück-
sern sich. In speziellen Versuchen wird auch die Flä-
haltesysteme zum Schutz der Insassen bei seitlichen
chenpressung gemessen, die beim Aufschlag auf ein
Kollisionen sind wegen der örtlichen Nähe des Insas-
energieabsorbierendes Lenkrad im Vergleich zu ei-
sen zur Tür begrenzt. Die beeinflussbare Größe ist die
nem Airbag-Lenkrad entsteht. Beim Airbag-Lenkrad
Steifigkeit der Karosserie gegen das Eindringen des
ist die Flächenpressung deutlich geringer.
stoßenden Fahrzeuges, z.B. durch eine kollisionsge-
Beim Airbag-System, das im Wesentlichen für den
rechte Konstruktion des Schwellers oder durch Tür-
Fall des unangeschnallten Insassen ausgelegt ist, wird
biegeträger und Türverstärkungen in Schulterhöhe.
die Verzögerung des Insassen auf der Fahrerseite
Auch innerhalb der Fahrgastzelle sind Querverstär-
über den Airbag, die Lenksäule und das energieab-
kungen unter dem Armaturenbrett, Sitzquerträger,
sorbierende Kniepolster aufgebracht. Auf der Beifah-
Sitzkonstruktion und Querverstärkungen im hinteren
rerseite muss die Energie durch den Airbag und das
Fahrzeugbereich für den Insassenschutz hilfreich.
Kniepolster bzw. kneebag absorbiert werden. Beson-
Die zweite Größe ist die Gestaltung des Fahrzeug-
ders kritisch sind bei nicht angelegtem Gurt die „Out-
innenraums. Besondere Bedeutung haben die Form
of-position“ Probleme, z.B. das Nicht-mittig zum
und das Material der Tür- und Seitenteilverkleidun-
Airbag-Sitzen. Schon deshalb ist es notwendig, dass
gen. Das Airbag-System für die Fahrzeugseite ist ab-
der Dreipunktgurt angelegt wird. Inzwischen sind bei
hängig von einem funktionsfähigen Sensorsystem,
den meisten Fahrzeugen zumindest die Sensorik-
das so frühzeitig das Eintreten eines schweren Unfal-
hardwarekomponenten und die Airbaggrößen länder-
les erkennen muss, dass der Bag gefüllt werden kann,
unabhängig einheitlich ausgelegt. Über Softwarean-
bevor der Kopf des Insassen die Seitenscheibe be-
passung werden spezielle Wünsche berücksichtigt.
rührt.
Funktionen der Airbag-Technik
9.8.4.1 Theoretische Betrachtung
– Das Crashsignal wird ausgewertet, entsprechend
der Schwere wird die erste oder zweite Stufe ge- Im Vergleich zum Frontalaufprall ist beim Seitenauf-
zündet bzw. gar kein Airbag wird ausgelöst. prall die Variationsbreite des möglichen Unfallvor-
– Die Gurtanlegung wird überprüft. Darüber hinaus ganges noch größer (z.B. Stoßrichtung, Anstoßpunkt).
kann der Beifahrersitz mit Ultraschall, Video, Außerdem steht den Fahrzeuginsassen nur wenig De-
Sitzmatte und über Infrarot-Sensoren überwacht formationsweg zur Verfügung.
werden, um Informationen über die Sitzbelegung, Wesentliche Faktoren sind: Beteiligte Kollisionspart-
„Out of Position“ oder das Vorhandensein eines ner (Masse, Struktursteifigkeit, Strukturgeometrie),
Kindersitzes zu erhalten. Aufprallort und -winkel, Aufprallgeschwindigkeiten
– Die situative Airbagzündung ist im Grunde ge- und Insassenplatzierung, Fahrzeuginnenraumgestal-
nommen bereits eine adaptive Auslegung. Die tung, Benutzung von Rückhaltesystemen.
Berücksichtigung unterschiedlicher Insassen und In Bild 9.8-8 wird der Fahrzeug-Fahrzeug-Seiten-
Unfallschweren wird als adaptiver Insassenschutz aufprall prinzipiell erklärt. Dargestellt sind das sto-

Geschwindigkeit Deformation Fahrzeug 2


Fahr- Deformation Tür Fahrzeug 1
zeug 1 5,6 Deformation Türpolster/Seitenairbag
Fahrzeug 2
Deformation Insasse
Fahrzeug 2 4,5,6
6 7
1,2
5

4 0,3,4,5,6,7
2,3 3,4,5,6
1
3,4
2 0

Fahrzeug 1 Zeit
tA tT tR tF tges
0 12 3 4 5 6 7

Bild 9.8-8 Schematische Geschwindigkeit-Zeit-Darstellung für Fahrzeugstruktur und Insassen bei einer recht-
winkligen Seitenkollision
788 9 Fahrzeugsicherheit

ßende und das gestoßene Fahrzeug mit einem Insas- Beckenkraft < 5,525 KN
sen an der Stoßseite, das abgeleitete mechanische Er- ES-2re: HIC36 < 1.000 [–], Brusteindrückung < 44 mm,
satzmodell und der vereinfachte Bewegungsablauf Abdomenkraft < 2,5 KN, PSPF < 6 KN
des Stoßvorganges am Beispiel eines Geschwindig- Für Europa gelten die Bedingungen ECE R95 und
keits-Zeit-Diagrammes. 96/27/EG
Die Ziffern 1 bis 7 kennzeichnen die Geschwindig-
keit-Zeit-Verläufe der fahrzeugbezogenen indizierten Barriere: 950 kg Masse, 300 mm Bodenfreiheit, Bar-
Bauteile und des Insassen. Die von diesen „Ge- rierefront 800 mm hoch, 1.500 mm breit
schwindigkeitsbahnen“ eingegrenzten Flächen ent- Aufprallgeschwindigkeit: 50 km/h
sprechen den Relativwegen (Deformationswegen) Versuchspuppe: ES-2 vorn
zwischen den indizierten Bauteilen bzw. zwischen Kriterien: HPC < 1.000, Viscosekriterium < 1 m/sec
den Bauteilen und den Insassen. Brusteindrückung < 42 mm
Die Kraft-Weg-Kennungen der Strukturen und des Abdomenkraft < 2,5 KN, PSPF < 6 KN
seitlichen Rückhaltesystems (Polster) werden zwecks Leider wirken die länderspezifischen Verfahren sich
einfacher Darstellung als rechteckförmig angenom- auch unterschiedlich bezüglich der Seitenschutzmaß-
men. Schwingungen des mechanischen Ersatzsystems nahmen aus.
werden nicht berücksichtig. Die daraus resultierenden Zunächst wurde der Schutz bei seitlicher Kollision
Funktionen a = f(t) und s = f(t) weichen damit von durch das Fahrzeug selbst – widerstandsfähige Karos-
denen eines realen Unfalles ab. Aufgrund dieser se und energieabsorbierender Innenraum – erzielt.
Randbedingungen und des Einmassen-Insassen-Sys- Nach Einsatz eines Brust-Airbag, der aus der Sitzleh-
tems ist nur ein qualitativer Vergleich des im Folgen- ne oder Armbrüstung kommt, werden immer mehr
den diskutierten Kollisionsmodells mit den realen Oberkörper- und Kopfairbags, wie Bild 9.8-9 zeigt,
Gegebenheiten möglich. Das stoßende Fahrzeug fährt eingesetzt [55]. Das Bild zeigt den „Fenster-Airbag“,
mit der Geschwindigkeit vst unter 90° in die Seite ei- welcher in diesem Fall 2 m lang, 250 Millimeter breit
nes stehenden Fahrzeuges. Die Türaußenseite 5 hat und 60 Millimeter dick ist. Mit 9 Kammern hat er ein
nach kurzer Zeit die gleiche Geschwindigkeit wie der Volumen von 12 Litern. Innerhalb von 25 Millisekun-
Stoßfänger 6. Die Türinnenseite 3 hat bei tT die glei- den ist er „aufgeblasen“. Wegen der schnellen Zeitab-
che Geschwindigkeit wie der Stoßfänger. Der Kon- läufe im Seitencrash werden an die Crashsensorik er-
takt zwischen Insasse und Rückhaltesystem 3 beginnt höhte Anforderungen gestellt.
zum Zeitpunkt tA. Bei tT ist die Relativgeschwindig- Aufgrund der amerikanischen Forderung des „con-
keit zwischen Insassen und Tür am größten. Sie ist tainment test“ ist der Seitenfensterairbag zur Zeit in
größer als die Geschwindigkeitsänderung des gesto- intensiver Weiterentwicklung.
ßenen Fahrzeuges. Der Insasse wird vom Polster ver- Dies gilt auch für die Kompatibilität der Kollisions-
zögert. Der Deformationsweg ist SR. Insasse 1 und partner im Seitencrash.
Stoßfänger 6 haben bei tR die gleiche Geschwindig-
keit. Bis tges werden Insasse und Stoßfänger gleichzei-
tig verzögert. Die Deformation der Seitenstruktur ist 9.8.5 Kompatibilität
bei tF beendet (Sitze gehen z.B. auf Block, d.h. es
9.8.5.1 Allgemeine Aussage
steht kein weiterer Deformationsweg mehr zur Ver-
fügung). Die Frontstruktur des stoßenden Fahrzeuges Da mit dem Gebiet der Unfallfolgenmilderung bereits
hat sich um sF deformiert. Die Deformation der Sei- erhebliche Fortschritte erreicht wurden, findet die
tenstruktur wird durch die Relativbewegung der Tür 3 Verträglichkeit bzw. Kompatibilität der Verkehrsteil-
zu einem unverformten Punkt des Fahrzeuges be- nehmer untereinander zunehmende Bedeutung bei si-
stimmt. cherheitsrelevanten Maßnahmen. Die ersten Arbeiten
9.8.4.2 In den USA und Europa definierte zu diesem Thema reichen bereits in die frühen 70er-
Seitenaufpralltests Jahre [56 – 58] zurück.
Im Unfallgeschehen des Straßenverkehrs sind beson-
Für die Simulation der dynamischen Fahrzeug-Fahr- ders folgende Teilnehmergruppen zu berücksichtigen:
zeug Kollision setzt in den USA stufenweise der neue Fußgänger, Zweiradfahrer, Pkw-, Lkw- und Busin-
Barrieretest ein. Die Bedingungen sind wie folgt: sassen. Verletzungen können bei Unfällen mit ande-
Barriere: 1.368 kg Masse, 279 mm Bodenfreiheit, ren Kollisionspartnern oder beim Alleinunfall auftre-
Barrierefront 1.976 mm Breite ten. Bei Kompatibilitätsuntersuchungen hat sich ge-
Aufprallgeschwindigkeit 54 km/h zeigt, dass ein globaler Ansatz, der alle Kollisions-
Aufprallrichtung: seitlich 90° mit 27° Krebsgang gruppen einschließt, außerordentlich komplex ist und
Versuchspuppen: ES-2re vorn/SID-IIs hinten, Stoß- die Lösungsmöglichkeiten sehr erschwert. Für die
seite Auslegung von Fahrzeugen gehen unter Kompatibili-
Kriterien: SID IIs ⋅ HiC36 < 1.000 [–], Beschleunigung tätsaspekten folgende Kriterien in den Kollisionsab-
lower Spine < 82 g lauf ein:
9.8 Insassenschutz 789

Bild 9.8-9 Kopf-Airbag


beim Seitenaufprall [55]

– Massenverhältnis, Geometrie der Fahrzeugstruk- [59]. In den letzten Jahren haben sich Wissenschaftler
tur, Kraft-Weg-Kennung der Fahrzeugstruktur, und Automobilunternehmen [60] wieder verstärkt
Anordnung und Masse der Antriebsaggregate, diesem Thema gewidmet.
– Rückhaltesysteme, Geometrie der Fahrgastzelle Neuere Untersuchungen [61] bestätigen die Notwen-
(Überlebensraum), digkeit der mathematischen Versuchspuppenmodelle
– Verhalten von Lenkung, Armaturenbrett, Aufpols- um eine präzisere Aussage über das Kompatibili-
terung usw. tätsverhalten von Fahrzeugen zu definieren. Örtliche
Bei Kompatibilitätsbetrachtungen muss die Verrin- Kraftspitzen bedeuten automatisch ein reduziertes
gerung der Unfallfolgekosten, allen daraus relevan- Kompatibilitätsverhalten. Man kann daher mit FEM-
ten Folgen, wie evtl. verringerter Komfort, erhöhter Modellen und/oder der Kraftmessung beim Frontal-
Energie- und Rohstoffverbrauch, gegenübergestellt aufprall die Kraftverteilungsgüte als ein Maß für die
werden. Allerdings wird von den heutigen Fahrzeug- Kompatibilität einsetzen. Besonders das erarbeitete
besitzern vorausgesetzt, dass der Selbstschutz, d.h. „bulk head concept“ ist eine interessante Lösung [62].
der Schutz als Insasse im eigenen Fahrzeug, nicht Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass
verringert wird. Neben der Beschreibung der Unfall- bei genügender Steifigkeit der Fahrgastzelle die Mög-
art muss daher auch eine Information über die Verlet- lichkeiten der heutigen Rückhaltesysteme ausreichen,
zungsart und – schwere vorliegen. Zwischen der Ver- um eine Überlebenschance auch bei sehr schweren
letzungsschwere, die nach der „AIS“-Skala eingestuft Fahrzeug-/Fahrzeugunfällen zu garantieren. Nach
wird und dem Verletzungskriterium, das mittels Ver- mehr als 30 Jahren Forschungs- und Entwicklungsar-
suchspuppe gemessen und berechnet wird, muss eine beiten werden die gesetzlichen Anforderungen spe-
Beziehung gefunden werden, um die jeweilige Maß- ziell in den USA konkreter. Die von IIHS definierte
nahme bewerten zu können. Barriere von 1.500 kg mit dem hochgesetzten Defor-
Für verschiedene Masseklassen und Rückhaltesyste- mationselement fährt mit 50 km/h unter 90° in die
me können die Kraft-Deformations-Kennlinien so Seite des zu prüfenden Fahrzeuges. Für die Front zu
verändert werden, dass ein Minimum der Gesamtkos- Front Kompatibilität werden geometrische Forderun-
ten (Unfallfolgekosten, Herstell- und Betriebskosten) gen an die absorbierende Struktur gestellt. Auch die
erreicht wird. Kennt man Höhe der Deformationskraft und ein Höhengewich-
tung sind in Diskussion [63, 64]. Diese Anforderun-
• das Unfallgeschehen in Korrelation zur „AIS“- gen schließen „Light Duty Trucks“ und SUV = Sport
Verletzungsschwere, Utility Vehicles“ mit ein. Erste positive Ergebnisse
• die Korrelation der „AIS“-Insassenverletzung zu durch geometrische Optimierungen sind bereits er-
den Messdaten der Versuchspuppe, kennbar [85].
• die finanzielle Bewertung der Insassenverletzung
und der durch den Konstruktionsaufwand entste-
henden Kosten, 9.8.5.2 Pkw/Lkw-Kollision
so kann man Fahrzeuge und Rückhaltesysteme im Ein besonderes Kompatibilitätsproblem ist die Kolli-
Hinblick auf minimale Gesamtkosten optimieren sion zwischen einem Lkw und einem Pkw, da nicht
790 9 Fahrzeugsicherheit

Tabelle 9.8-2 Integration aktiver und passiver Sicherheitssysteme beim Fußgängerschutz


Gesetze: EU Fußgängerschutzverordnung vom 4.2.2009
• Aus der Veröffentlichung der VO (EG) Nr. 78/2009 am 4. Februar 2009 ergeben sich folgende Einsatzdaten:
(NT = Neue Modelle Bremsassistent Phase 1 Neue Phase 2
NR = Erstzulassungen)
M1 ≤ 2.500 kg zGG NT 24. Nov. 2009 NT (seit 1. Okt, 2005*)) NT 24. Feb. 2013
NR 24. Feb. 2011 NR 31. Dez. 2012 NR 24. Feb. 2018
N1(M1)**) ≤ 2.500 kg zGG NT 24. Nov. 2009 NT (seit 1. Okt. 2005*)) NT 24. Feb. 2013
NR 24. Feb. 2011 NR 31. Dez. 2012 NR 24. Feb. 2018
Alle M1 NT 24. Nov. 2009 NT 24. Feb. 2015
NR 24. Feb. 2011 NR 24. Feb. 2019
Alle N1 NT 24. Feb. 2015 NT 24. Feb. 2015
NR 24. Aug. 2015 NR 24. Feb. 2019

nur das Massenverhältnis, sondern vor allen Dingen • die geometrische Gestaltung von Fußgängerüber-
die geometrischen Verhältnisse kritisch sind. Auch in wegen, die automatisch den Blick der Fußgänger
den USA wird die Inkompatibilität zwischen den in Richtung ankommenden Verkehr wenden,
„light duty trucks“ und den Pkw als sehr bedenklich • die getrennte Signalisierung von Abbiegern und
eingestuft. Fußgängern,
Für den Lkw-Bereich wird in [65] eine zukunftswei- • das Bewusstsein wecken beim Kraftfahrer für den
sende Lösung aufgezeigt: der Plankenrahmen, der Geschwindigkeitseinfluss beim Bremsen,
den gesamten Lkw und Hänger umgibt und somit ein • Verkehrserziehung insbesondere Kindergarten/
Unterfahren verhindert. Schule, Erscheinungsbild, Aufmerksammachen auf
die Gefahrensituation: Abbiegen.
9.8.5.3 Fußgängerkollision In zahlreichen Staaten hat der Fußgängerschutz eine
hohe Priorität. So hat Europa in das Gesetz zum Fuß-
Eine weitere Inkompatibilität ist bei der Kollision von
gängerschutz (EG 78/2009) auch unfallvorbeugende
Fußgängern und Pkw’s vorhanden. Sowohl die Mas-
Elemente mit aufgenommen (66), siehe Tabelle 9.8-2.
senverhältnisse als auch die unterschiedlichen Kör-
Einen weiteren wichtigen Schub hat der Fußgänger-
pergrößen und Widerstandsfähigkeit der Fußgänger
schutz dadurch erreicht, dass er nun fester Bestandteil
lassen nur geringen Spielraum für eine Verbesserung
der Euro NCAP – Beurteilung (www.euroncap.com)
der Situation. Allgemein gilt, dass folgende Maßnah-
ist. Neben der nationalen Gesetzgebung gibt es auch
men positiv sind:
im Rahmen der Global Technical Regulation eine
• die reduzierte Wartezeit an Lichtsignalanlagen weitere Möglichkeit der Vereinheitlichung der natio-
< 40 s, nalen Gesetzgebung, Bild 9.8-10.

Gesetze: Global Technical Regulation (GTR)

ISO Child ISO Adult ISO Child ISO Adult


Headform Headform Headform Headform
3,5 km/h 3,5 km/h 3,5 km/h 3,5 km/h
3,5 kg 4,5 kg 3,5 kg 4,5 kg
HPC = 1000–1700 HPC = 1000–1700 HPC = 1000–1700 HPC = 1000–1700

EEVC a
EEVC Beinprüfkörper**
Hüftprüfkörper** v = 40 km/h a = 65°
v = 40 km/h a = 50°
SUV
LBR*
LBR*
h ≥ 500 mm h ≥ 425 mm

Verabschiedung der GTR zur Fußgängersicherheit Nov. 2008 *) LBR = Lower Bumper Ref.-line
Übernahme in eigene Gesetzgebung obliegt den Unterzeichnerstaaten **) optional zwischen 425 und 500 mm LBR-Höhe

Bild 9.8-10 Gesetzgebung Fußgängerschutz


9.9 Integrale Sicherheit 791

Die Anzahl der Komponenten für den Fußgänger-


schutz im Vorderbereich umfasst zahlreiche Bauteile:
Stoßfänger, Spoiler, Kühler, Scheinwerfer und Front- Integrale
end, Fronthaube samt Verriegelung und Scharnieren, Sicherheit
Kotflügel, A-Säulen und Windschutzscheibe, Schei-

Nutzen Effizienz
benwischerachsen sowie die Bauteile im Motorraum
direkt unter der Frontklappe. Bei einer aktiven Hau- Passive
Sicherheit
benverstellung um den notwendigen Freiraum für die
Energieabsorption des Kopfaufschlags zu erreichen
benötigt man eine entsprechende Sensorik. Aktive
Sicherheit

9.9 Integrale Sicherheit


In der Vergangenheit wurde die Sicherheit in zwei Zeit
wesentlichen Bereichen weitgehend unabhängig von-
einander mit Erfolg weiterentwickelt. Durch die In- Bild 9.9-1 Potenzial der Integralen Sicherheit
tegration der aktiven und passiven Sicherheit zur In-
tegralen Sicherheit lassen sich zukünftig weitere Po- tionsstufen wird in 9.9.3 beispielhaft anhand des inte-
tenziale zur Steigerung der Fahrzeugsicherheit erzie- gralen Fußgängerschutzes dargestellt. Zukünftig wird
len, Bild 9.9-1 [67, 68]. Durch die Vernetzung der der ganzheitliche Ansatz von Sicherheitsfunktionen
Systeme der unterschiedlichen Systemebenen ergeben über den gesamten Unfallablauf notwendig, um die un-
sich neue Funktionsausprägungen, die bestehende terschiedlichen Einzelfunktionen über einen Entschei-
Systeme adaptiv verbessern und ganz neue Systeme der in einer Gesamtfunktion darstellen zu können.
ermöglichen. Durch die Vernetzung können unter
9.9.1 Fahrer, Fahrzeug und Umfeld
Nutzung einer gemeinsamen Sensorik unterschiedli-
che Systeme wirtschaftlicher dargestellt werden. Im Zur Erkennung von kritischen Fahrsituationen wer-
Ergebnis steigt damit die Funktionsgüte und Verfüg- den unterschiedliche Informationen vom Fahrzeug
barkeit der Systeme. und dem Umfeld benötigt. Fahrzeuginterne Informa-
Bild 9.9-2 zeigt die Teilbereiche der Integralen Si- tionen wie z.B. Eigengeschwindigkeit, oder fahrdy-
cherheit. Die Einordnung erfolgt über die zeitliche namische Informationen wie Querbeschleunigung,
Abfolge der Funktionen vom Beginn des Systemein- ESP- und ABS-Einsatz können direkt vom Bussystem
griffs bis zum Crash und der anschließenden Unter- (Can, Flexray) entnommen werden. Fahrzeuginteg-
stützung bei der Rettung. Dies stellt die Reihenfolge rierte Umfeldsensorik bietet die Möglichkeit Informa-
eines typischen Unfallablaufs dar. Das Ziel muss tionen über das Umfeld zu erhalten. Darin können
sein, zunächst über die Warnung (visuell, haptisch, andere bewegte Objekte, aber auch statische Hinder-
auditiv) den Fahrer zu einer Handlung zu bringen, nisse und die Seitenraumgestaltung detektiert werden.
damit der Unfall noch vermieden werden kann. Der Darüber hinaus benötigt die Auslegung des HMI des
Fahrer ist dabei mit seiner Erfahrung und visuellen Systems zunehmend die Berücksichtigung des Fah-
Fähigkeiten und der Interpretation der Situation heu- rers. Dabei ist insbesondere das funktionelle Design
tiger Sensorik noch in vielen Situationen überlegen. zwischen System und Fahrer (HMI) auszulegen, da-
Damit werden Fehlauslösungen und mögliche Pro- mit der Fahrer die Funktion und die Systembedienung
dukthaftungen vermieden. Bei einer Nichtreaktion intuitiv versteht. Mit der Fahrermodellierung (Leis-
des Fahrers erfolgt ein fahrzeugseitiger Eingriff durch tungsfähigkeit, Fahrertyp, Risikobereitschaft, aktuelle
Bremsen und ggf. Lenken. Im Zeitbereich kurz vor Verfassung) ist ein Systemeingriff adaptiv auf den
der Kollision, bei dem der Unfall nicht mehr ver- Fahrer abstimmbar. Damit steigt prinzipiell die Ak-
meidbar ist, greifen zusätzlich PreCrash-Maßnahmen. zeptanz des Fahrerassistenz- und Sicherheitssystems.
Der systemseitige Eingriff erfordert hohe Auslösegü- Jeder der oben erwähnten Bereiche stellt unterschied-
ten bei einem sehr geringen Grad an möglichen Fehl- liche Möglichkeiten der Modellierung des Fahrers
interpretationen [69, 70]. dar. Die Leistungsfähigkeit beschreibt das aktuelle
Die Integration der unterschiedlichen Systeme zu Leistungsvermögen des Fahrers. Geringes Leistungs-
einem Gesamtsystem mit unterschiedlichen Eskala- vermögen bedeutet, dass der Fahrer nicht in der Lage

Konditions- Unfallvermeidung Unfallfolgenminderung Retten &


sicherheit Bergen

Normaler Kritischer Instabiler Crash


Fahrzustand Fahrzustand Fahrzustand unvermeidbar Crash Nach Crash

Bild 9.9-2 Teilbereiche der Integralen Sicherheit


792 9 Fahrzeugsicherheit

T0 = Aufprallzeit

Warnende Systeme Aktiv eingreifende Systeme

Passive Systeme
Reversible PC-Systeme

Irrevers. PC-Systeme
Aufprall
unvermeidbar Precrash-Phase
Bild 9.9-3 Definition der
PreCrash-Phase [71]

ist, gefährliche Situationen zu erkennen oder rechtzei- und Wankbewegung mit hoher Auflösung und Up-
tig bzw. richtig darauf zu reagieren, z.B. auf Grund daterate ermittelt. Sowohl die Komponenten der Um-
von Müdigkeit oder Ablenkung. Die Prädiktion von feldwahrnehmung als auch die Module, die die Prä-
Fahrmanövern liefert eine Aussage über die aktuelle diktion kritischer Situationen umsetzen, benötigen
Verfassung des Fahrers. Wenn aktuell gefahrene diese Daten um ein für vorausschauende Sicherheits-
Fahrmanöver nicht in der bekannten Form durchge- funktionen notwendiges Abbild der Situation zu be-
führt werden, können möglicherweise Rückschlüsse stimmen. Es können jedoch zusätzliche Informa-
auf Stress oder aggressives Fahrverhalten gezogen tionen hinzugezogen werden, wie beispielweise Kar-
werden. Der Fahrertyp beschreibt die Grenzen, inner- tendaten und Erkenntnisse aus der Fahrermodellie-
halb derer sich der Fahrer sicher fühlt und sein Fahr- rung. Je komplexer sich eine Situation darstellt, umso
zeug und die Fahrsituation unter Kontrolle hat. Unter mehr Informationen werden für einen sicheren Ein-
Risikobereitschaft wird verstanden, wie stark der griff benötigt.
Fahrer durch sein Fahrverhalten sich und seine Um-
welt gefährdet. Diese unterschiedlichen Modelle des 9.9.2 PreCrash
Fahrers können unterschiedliche Aspekte von Assis- Da den aktuellen Sicherheitssystemen aus techni-
tenz- und Sicherheitssystemen verbessern. schen Gründen nicht immer und überall alle relevan-
Grundlage eines systemseitigen Eingriffs ist die Be- ten Informationen zur Verfügung stehen, erfolgt ein
stimmung der Gefährlichkeit der aktuellen Fahrsitu- Eingriff erst nach einer sicher prädizierten Kollision.
ation. Diese wird üblicherweise aus dem Zustand des Erst in diesem Zeitraum ist eine Kollision unabhängig
eigenen Fahrzeugs und dem anderer Verkehrsteilneh- von der Fahrsituation durch den Fahrer nicht mehr
mer ermittelt, die mit Hilfe von Sensoren erfasst wer- vermeidbar. Dieser Zeitbereich vor der Kollision wird
den können. Für eine hinreichend genaue Umfeld- als PreCrash-Phase beschrieben (vgl. Bild 9.9-3).
wahrnehmung und deren Interpretation mit dem eige- Die Auswertung des Unfallgeschehens zeigt, dass
nen Fahrzeug ist eine präzise Bestimmung verschie- eine fahrdynamische Unvermeidbarkeit erst sehr
dener Größen während der Fahrt zwingend erforder- kurz vor der Kollision erreicht wird. Damit verblei-
lich. Aus diesem Grund liefern intelligente Sensoren ben in der PreCrash-Phase nur wenige hundert Milli-
zyklisch ihre Daten auf dem Bussystem. Insbesondere sekunden bis zum Zeitpunkt der Kollision (Bild 9.9-4).
die Messung von fahrwerkrelevanten Signalen wird Dieser Zeitbereich könnte genutzt werden, um die
von vielen Teilfunktionen benötigt. So werden die Kollisionsgeschwindigkeit durch Bremseingriffe zu ver-
Geschwindigkeit, die Gierrate oder auch die Nick- ringern, Rückhaltesysteme zu adaptieren oder die In-

50
%
40

30

20

10

Bild 9.9-4 Zeitbereiche


0
0 0,05 0,1 0,15 0,2 0,25 0,3 0,35 0,4 0,45 0,5 0,55 0,6 0,65 0,7
der fahrdynamischen
Zeit bis zur unvermeidbaren Kollision (TTC) in s
Unvermeidbarkeit bei
Pkw-Frontalunfällen [72]
9.9 Integrale Sicherheit 793

sassen frühzeitig anzukoppeln. Zukünftige PreCrash- Fußgänger/Radfahrer-Unfälle


Systeme könnten mit zusätzlichen Informationen aus
der Umfeld- und Fahrermodellierung tendenziell frü-
her eingreifen ohne die Sicherheit zu beeinträchtigen.
Außerdem ist eine sehr hohe Präzision in der Objekt-
repräsentation gefordert. Seitens der Funktion wird
eine möglichst frühe Erstdetektion, eine stabile Ziel-
verfolgung und geringe Prädiktionsdauer gefordert. Gegenverkehrsunfälle
Für die bei einer PreCrash-Funktion verwendeten Ak-
toren sollte die Aktivierungszeit kleiner sein als die
bis zum Crash prädizierte verbleibende Zeit, um ei-
nen optimalen Schutz für die Insassen zu erreichen.
9.9.2.1 Automatischer Bremseingriff
Querverkehrsunfälle
Aus der GIDAS Unfalldatenbank wird ersichtlich,
das nur etwas mehr als die Hälfte der Pkw-Fahrer bei
Frontalunfällen (zumeist noch zu schwach) bremsen.
In diesen Fällen unterstützt der Bremsassistent. In den
verbleibenden Unfällen, in dem der Fahrer keine Re-
aktion zeigt, verbleiben aufgrund des Unvermeidbar-
keitsansatzes nur wenige hundert Millisekunden Ein-
griffzeit bis zum Zeitpunkt der Kollision, Bild 9.9-3. Bild 9.9-6 Beispiele typischer Situationen für den
Einige dieser Unfälle können teilweise mit einer au- Einsatz einer schnellen Bremsaktuatorik
tomatischen Notbremse auf ESP Basis angesprochen
werden (Kap. 7). Aufgrund der Ansprechzeit der ESP Für die Auslösung einer schnellen Bremse, ist es er-
Einheit ist der Bremsdruckaufbau bis zum Voll- forderlich eine sichere Funktionalität des Systems zu
bremsdruck mit bis zu 0,6 Sekunden allerdings zu gewährleisten. Die Erfüllung des gleichzeitigen An-
langsam, so dass in der PreCrash-Phase schnelle spruchs einer sehr hohen Auslösegüte und einer sehr
Bremsaktoren erforderlich werden. Zukünftige schnel- geringen Falschalarmwahrscheinlichkeit stellt eine
le elektrische oder pyrotechnische Bremsaktoren kön- große Herausforderung dar.
nen dabei Bremsgradienten von bis zu 1.000 bar in
9.9.2.2 Präventiv wirkender Insassenschutz
der Sekunde realisieren, Bild 9.9-5.
Damit können in einer Notsituation innerhalb 100 bis Reversible Rückhaltesysteme werden vor einer mög-
300ms vor dem Crash Geschwindigkeiten von 3 bis lichen Kollision ausgelöst um die Fahrzeuginsassen
zu 8 km/h abgebaut werden, um die Unfallschwere zu schon vor einer möglichen Kollision bestmöglich
verringern. Der schnelle Bremsdruckanstieg ist be- vorzubereiten. Das präventiv wirkende Insassen-
sonders in Fahrsituationen von Vorteil, wo eine schutzsystem erhöht dabei das bereits hohe, passive
schnelle Zielerkennung und -verfolgung durch die Schutzpotenzial nochmals.
Sensoren erforderlich sind, wie z.B. beim Ein- und Erkennt das System eine potenzielle Unfallsituation,
Abbiegen, in Kreuzungsbereichen sowie beim Über- erfolgt eine elektrische Straffung der Sicherheitsgur-
schreiten der Fahrbahn von Fußgängern oder Radfah- te. Dadurch werden Fahrer und Beifahrer im Sitz fi-
ren (Bild 9.9-6). xiert, um so das bestmögliche Schutzpotenzial durch
das Airbag- und Gurtsystem zu erreichen. Bei hoher
Querdynamik werden zusätzlich die Seitenscheiben
Vollbremsung
100 %

ABS/ESP-Einheit
Bremsdruck [%]

Schnelle Bremse

0 0,2 0,4 0,6


Zeit [s]

Bild 9.9-5 Zeitbereiche der fahrdynamischen Unfall-


Unvermeidbarkeit bei Pkw Bild 9.9-7 Präventiv wirkender Insassenschutz [73]
794 9 Fahrzeugsicherheit

und das Schiebedach bis auf einen Restspalt ge- 9.9.2.3 Irreversible Rückhaltesysteme
schlossen. Durch das Schließen der Scheiben können
Für den Fall einer PreCrash Auslösung des Rückhal-
sich die Kopf-/Seitenairbags optimal abstützen sowie
tesystems ergeben sich vor allem neue Möglichkeiten
die Gefahr des Herauspendelns von Körperteilen re-
bei der Auslegung der Airbags im Vergleich zu den
duzieren.
heutigen Standardairbags. Eine PreCrash Auslösung
Wesentliches Merkmal des Insassenschutzsystems ist
des Airbags vor einer Kollision ermöglicht eine Ver-
die Verbindung von aktiven und passiven Sicher-
besserung der Anpassung des Airbags an den zeitli-
heitselementen. Die technische Basis bilden dabei die
chen Verlauf der Insassenkinematik.
Sensoren der fahrdynamischen Regelsysteme (zum
Bei entsprechender Auslegung ist der Airbag bereits
Beispiel Bremsassistent und ESP). Sie helfen, kriti-
zu dem Zeitpunkt voll befüllt, wenn die Vorverlage-
sche Situationen mit erhöhtem Unfallpotenzial früh-
rung des Insassen beginnt. Durch die längere Auf-
zeitig zu erkennen und zu entschärfen. Die Aktivie-
blaszeit des Airbags kann außerdem das Volumen des
rung des Systems erfolgt bei einer Not- oder Gefah-
PreCrash Airbags gegenüber dem Standardairbag ver-
renbremsungen mit sehr schneller Bremspedalbetäti-
größert werden. Für den Insassen ergeben sich damit
gung, die in der Regel einhergeht mit einer Aktivie-
folgende Vorteile:
rung des Bremsassistenten, oder bei starkem Unter-
oder Übersteuern mit ESP-Eingriff. • frühes Ankoppeln an den Airbag und damit früh-
Einem integralen Sicherheitsansatz folgend, ist das zeitige Teilnahme an der Fahrzeugverzögerung
präventiv wirkende Insassenschutzsystem mit der (insbesondere ohne Gurt),
Umfeld-Sensorik der Automatischen Distanzregelung • Verlagerung der Rückhaltewirkung vom Gurt auf
(ACC) zu einem gemeinsamen System verbunden. den Airbag (großflächige Abstützung),
Basierend auf Radar-Sensorik und Kameratechnik, • Fixierung des Insassen im Sitz wird durch den
die weit vorausschaut und die Umgebung des Fahr- größeren Airbag verbessert,
zeugs überwacht, kann der Fahrer bei einem drohen- • verbesserte Performance beim Schrägaufprall durch
den Auffahrunfall gewarnt und durch Bremseingriffe größeren Abdeckbereich des Airbags,
bis hin zur autonomen Notbremsung unterstützt wer- • reduzierte Aggressivität des Airbags durch längere
den. Insbesondere in Verbindung mit einem Not- Aufblaszeit,
bremssystem verringert der Einsatz des reversiblen • evtl. ist ein sanftes Zurückdrücken eines nach vorn
Gurtstraffers die Vorverlagerung der Insassen wir- gebeugten Insassen möglich.
kungsvoll. Während der Fahrer sich am Lenkrad ab- Die durch die längere Aufblaszeit reduzierte Airbag-
stützt, kann der Beifahrer bei Bremsverzögerungen aggressivität wird auch zur Erfüllung der Out-of-Po-
eine Vorverlagerung erfahren. sition-Anforderungen mit dem größeren PreCrash Air-

Deployment Time
Standard Airbag

In-Crash Standard Airbag


Signal Fully Inflated
Standard Airbag

Crash Phase

–100 –80 –60 –40 –20 T0 20 40 60 t [ms]


Start of Forw.
PreCrash Phase Displacement
PreCrash Airbag

PreCrash Airbag
PreCrash Signal Fully Inflated

Deployment Time
PreCrash Airbag

Bild 9.9-8 Phasen des Standard- und PreCrash-Airbags [71]


9.9 Integrale Sicherheit 795

100
90
80
70
60
% 50
Standard Airbag 40
PreCrash
Airbag 30
20
10
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80
vk [km/h]

Reaktionszeitverzögerung von 430 ms

Bild 9.9-10 Fußgänger Verletzungsrisikofunktion


Bild 9.9-9 Volumen Standard und PreCrash-Airbag
MAIS 2+ mit Pkw sowie kleine Nutzfahrzeuge als
[71]
Kollisionsgegner
bag benötigt. Zur Umsetzung der verbesserten An-
kopplung des Insassen an den Airbag kann das Vo- Aufgrund der möglichen Fußgängerbewegung sind
lumen des Standardairbags um circa 30 % erhöht Unfälle zwischen Fahrzeugen und Fußgängern durch
werden, Bild 9.9-9 [71]. einfaches Stehenbleiben der Fußgänger bis kurz vor
Da aus heutiger Sicht eine PreCrash Sensorik noch der Kollision noch vermeidbar. Dadurch ergeben sich
keine ausreichende Detektionsrate hat, muss im Kon- die Anforderungen an schnell eingreifende Systeme.
zept eines irreversiblen PreCrash Rückhaltesystems Eine Vorausschau einer Fußgängerbewegung ist
die Möglichkeit einer In-Crash Auslösung als Rück- komplex. Während Fahrzeuge durch die höhere Ge-
fallebene vorgehalten werden. Der PreCrash Airbag schwindigkeit, ihre hohe Masse und die geringe Auf-
besteht daher aus einem Bi-Volume Bag. Das Entfal- standsfläche in ihrer weiteren Bewegung träge und
tungsverhalten des Luftsackes kann dann über zwei damit gut physikalisch beschreibbar sind, sind Bewe-
Fangbänder im Bag gesteuert werden. gungen von Fußgänger deutlich dynamischer. Daher
Eine Abschätzung des Wirkfeldes eines PreCrash ist ein spezieller Fußgänger-Algorithmus mit variab-
Rückhaltesystems für Fahrer und Beifahrer ergibt un- lem Sicherheitsbereich erforderlich, der die Bewe-
ter der Einbeziehung der Tatsache, dass nicht alle Un- gung des Fußgängers abbildet, Bild 9.9-11.
fallkonstellationen ausreichend sicher detektiert wer- Aufgrund der hohen Dynamik des Fußgängers ist ei-
den können, einen für 1/3 aller Pkw-Insassen mögli- ne Unfallvermeidung durch den Einsatz von eingrei-
chen Nutzen. fenden Systemen im Bereich der Unvermeidbarkeit
9.9.3 Integraler Fußgängerschutz (wie z.B. eine Notbremse) nicht immer möglich. Da-
her ist ein integrales Fußgängerschutzkonzept erfor-
Die Motivation für einen integralen Fußgängerschutz derlich, das den Fahrer in kritischen Situationen in-
ergibt sich aus dem hohen Anteil getöteter und formierend und warnend unterstützt und erst nachge-
schwerverletzter Fußgänger, die im Straßenverkehr schaltet durch eine automatische Bremse eingreift
zu beklagen sind (Deutschland 2009: 591 getötete (Bild 9.9-12).
Fußgänger). Die Ursachen der tödlichen Unfälle sind
in über 80 % der Fälle Fehleinschätzung der Fußgän-
ger und eine zu späte Reaktion der Fahrzeugführer. variabler
Passive Fußgängerschutzmaßnahmen tragen zu einer Sicherheitsbereich
Fahrzeug
Verringerung der Verletzungen der Fußgänger beim
Anprall bei. Die Maßnahmen sind im Frontbereich
des Fahrzeugs untergebracht (z.B. Fußgängerschutz-
Schaum im Frontbereich und deformierbare Hauben).
Passive Maßnahmen sind allerdings begrenzt. Ein
nicht unerhebliches Verletzungsrisiko, insbesondere
für Kopfverletzungen, entsteht durch den sekundären
variabler
Aufprall des Fußgängers auf der Straßenoberfläche. Sicherheitsbereich
Das zukünftige Ziel die Kollisionsgeschwindigkeit Fußgänger
durch aktive Bremsung des Fahrzeugs nennenswert
zu verringern, verspricht daher ein größeres Potenzial Bild 9.9-11 Bewegungsbereich für Algorithmus mit
(Bild 9.9-10). variablem Sicherheitsbereich
796 9 Fahrzeugsicherheit

TTC –2500 ms –2000 ms –1500 ms –1000 ms –500 ms

Keine Gefahr Kollision vermeidbar Kollision teilweise vermeidbar Kollision unvermeidbar


Information Warnung schnelle Bremse*

Lenkempfehlung
*alternativ Außenairbag

Bild 9.9-12 Zeitlicher Ablauf Aktionskonzept Fußgängerschutz

Die Integration der unterschiedlichen Systeme zu ei- Entwicklungsprozesses. Dabei wachsen die Kompe-
nem Gesamtsystem mit unterschiedlichen Eskalati- tenzen aus Fahrwerk, Elektronik, Aufbau und Sicher-
onsstufen wird zukünftig über den gesamten Unfall- heit immer weiter zusammen.
ablauf notwendig. Die unterschiedlichen Einzelfunk- Die parallele Entwicklung vernetzter Funktionen und
tionen werden dabei über einen Entscheider in eine Systeme erfordert eine besondere Strukturierung
Gesamtfunktion überführt. der Entwicklungsaufgaben und -prozesse. Ausgehend
So kann dem Fahrer zunächst eine richtungsbezogene von der Funktionsspezifikation sind Systeme und
Information auf die Fußgänger gegeben werden, die Komponenten in einem gemeinsamen Architektur-
sich im Fahrschlauch befinden bzw. so darauf zu be- prozess zu entwickeln. Dabei ist eine definierte Rol-
wegen, dass eine Kollision möglich werden könnte. lenverteilung der am Entwicklungsprozess Beteiligten
Parallel wird ein PreFill der Bremsen durchgeführt. einzuhalten, sowie eine durchgängige und transparen-
Aufgrund der möglichen Fußgängerbewegung kann te Dokumentation der für die Funktion notwendigen
erst unterhalb einer TTC (TimeToCollision) von 2 s Spezifikationen und Schnittstellen sicherzustellen.
Informiert werden, um Fehlwarnungen zu vermeiden. Nicht zuletzt ist die exakte und abgestimmte Durch-
In Abhängigkeit der vorhergesagten Anprallposition führung der Tests und Erprobungen maßgeblich für
des Fußgängers am Fahrzeug aktiviert der vorge- den Erfolg der Entwicklung.
schaltete Entscheider eine haptische Lenkempfeh-
lung, wenn bereits eine geringe Lenkreaktion zum 9.9.4.1 Simulation vorausschauender
Ausweichen ausreichen sollte. In den anderen Fällen Sicherheitssysteme
wird eine Bremswarnung bestehend aus Bremsruck, Im Entwicklungsprozess wird bereits frühzeitig auf
visuell-akustischer Warnung erzeugt, auf die der Fah- die Simulation zurückgegriffen, um die Zuverlässig-
rer möglichst intuitiv reagiert. keit einer Sicherheitsfunktion zu gewährleisten. Hier-
Ein automatischer Notbremseingriff könnte nachge- zu ist vor allem eine Quantisierung der Detektions-
schaltet erfolgen, wenn der Fahrer nicht reagiert hat und der Falschalarmrate auf Basis repräsentativer Da-
und die mögliche Kollision bis zu diesem Zeitpunkt ten und eine darauf basierende Extrapolation des
(ca. <500 ms) nicht entschärft werden konnte. In die- Nutzens erforderlich. Aufgrund der Vielzahl der not-
ser PreCrash-Phase wäre eine schnelle eingreifende wendigen Messdaten und der Komplexität des Absi-
Bremse vorteilhaft, um die verbleibende Unfallschwe- cherungsvorgangs ist ein rechnergestützter Entwick-
re möglichst gering zu halten, Bild 9.9-13. lungsprozess notwendig. In mehrfachen Iterations-
schleifen werden reale Messdaten aufgenommen,
9.9.4 Entwicklungsprozess integraler ausgewertet und parallel Algorithmen zur Funktions-
Funktionen applikation entwickelt. Die Funktionsentwicklung er-
folgt meist Modell- oder auch Software-in-the-Loop
Die Entwicklung von integralen Sicherheitsfunktio- (MiL, SiL) basiert. Außerdem werden auf der Basis
nen erfordert aufgrund der bereichsübergreifenden synthetisch erstellter oder simulierter Daten die für
Disziplinen eine sehr große Vernetzung innerhalb des die Funktion notwendigen logischen Berechnungs-

nein nein schnelle


Lenkempfehlung
Bremse
Visuelle Information Kollision
Anprallpunkt
Prefill vermeidbar
y < 0,5 m
?
Bremsruck, visuelle Warnung Kollision
ja akustische Warnung ja vermeiden

Bild 9.9-13 Aktionskonzept Fußgängerschutz


9.9 Integrale Sicherheit 797

PreCrash Basis PreCrash Front


Fahrzeug
E/E Konzeptleiter
Funktionskonzept Funktionsliste MQB

Funktionsauslegung PreCrash:
Spezifikation Funktions- (reversible Gurtstraffung bei F/BF
Fahrzeugfunktionen verantwortlicher in kritischen Situationen)

System PreCrash
Grobarchitektur Fahrzeugarchitekt

Airbagsystem Gurtsystem

Feinarchitektur
System- ESP System ACC System
verantwortlicher

Airbag Reversibler Bild 9.9-14 Entwicklung


Spezifikation Bauteil- MMI
der E/E Bauteile verantwortlicher steuergerät Gurtstraffer vernetzter elektrisch/elektro-
Beispieldarstellung, nicht vollständig
nischer Systeme (Beispiel
PreCrash-Insassenschutz)

vorschriften erstellt. Der Vorteil bei diesem Entwick- Schwere des Unfalls und der Unfalltyp, den Ret-
lungsschritt ist, dass die logische Komponente von tungskräften schon vor Ihrem Eintreffen mitgeteilt
der zeitlichen nahezu entkoppelt ist und sich große werden, um eine zielgerichtete Rettung zu organisie-
Datenmengen in kürzester Zeit untersuchen lassen. ren.
In dem darauf folgenden Entwicklungsschritt wird Verkehrsunfälle treten zu allen Tages- und Nachtzei-
der Einfluss von real angebundenen Steuergeräten ten sowie in allen Gegenden, in der Stadt, auf dem
und realem (Echt-)Zeitverhalten im Hardware-in-the- Land oder auf der Autobahn auf. Nicht immer sind
Loop (HiL) Test festgestellt. Komponenten wie die mehrere Parteien an einem Unfall beteiligt. Daraus
Buskommunikation, das Prototypensteuergeräte- oder resultierend ist in Unfallsituationen gegebenenfalls
auch das Aktuatorikverhalten werden analysiert und niemand vor Ort, der schnell Hilfe für mögliche Ver-
Teilfunktionen abgeprüft. Für die Echtzeitfähigkeit letzte herbeirufen kann. Oftmals kann der Verletzte
einer Systemfunktion muss das zeitliche Jitterverhal- selbst auch nicht für Hilfe sorgen, da er beispielswei-
ten bestimmbar sein. Die Funktion wird dementspre- se eingeklemmt ist, bewusstlos ist oder sein Handy
chend tolerant ausgelegt. beim Unfall zerstört wurde.
Für den finalen Applikationsschritt der Gesamtfunk- Die schnelle bzw. rechtzeitige medizinische Versor-
tion im Fahrzeug steht nach den erfolgten MiL/SiL/ gung ist jedoch der Schlüssel zum Überleben. Bei ei-
HiL-Tests eine flexible, bereits ausgereifte System- nem Unfall-bedingten Herz-Kreislauf-Stillstand sinkt
software zur Verfügung. Über verschiedene Parame- beispielsweise die Überlebenschance pro Minute um
tersätze kann konservatives, neutrales oder pro-akti- 10 % (Quelle: http://www.avd.de/startseite/service-
ves System- und Funktionsverhalten direkt in der Ge- news/news/alle-news/2009/oktober/avd/avd-und-kvda-
samtfahrzeugumgebung in realen Fahrszenarien ein- fordern-warnsystem-fuer-einsatzfahrten-der-rettungs-
gestellt werden. kraefte).
eCall soll hierbei Abhilfe schaffen. Ziel dieses Sys-
9.9.5 Retten und Bergen tems ist im Falle eines Unfalls die automatische Be-
Der integrale Sicherheitsansatz betrachtet neben nachrichtigung von Rettungsstellen bzw. die Sicher-
den unfallvermeidenden und unfallfolgenmindernden stellung einer Kommunikationsmöglichkeit für den
Systemen auch die Unterstützung der Fahrzeuginsas- Verletzten. eCall ist daher an die Airbagauslösung
sen nach dem Crash. Die Systeme werden unter dem gekoppelt, kann aber auch manuell vom Fahrer akti-
Begriff Retten und Bergen zusammengefasst. Darun- viert werden.
ter sind z.B. die Erhaltung der Beleuchtungseinrich- Technisch wird eCall durch eine crashsichere Box re-
tungen oder auch rettungsfreundliche Strukturen zu alisiert, die mit einem GPS-Empfänger sowie einem
nennen, die es den rettenden Feuerwehren erleichtern GSM-Modul ausgestattet ist. Im Falle einer Aktivie-
ihr Rettungsgerät an der Karosserie optimal anzuset- rung werden dann diverse Daten (genannt Minimum
zen. Set of Data (MSD)) an die Rettungsstelle übermittelt.
Integrale Systeme können zukünftig die Rettung Zu diesen Daten gehören beispielsweise Ortungs-
verbessern, indem Sie Daten aus der Vorunfall- und daten, Fahrgestellnummer, Zeitstempel usw., die eine
Unfall-Phase nutzen. So könnten wichtige Informati- schnelle Einschätzung sowie Erreichung der Unfall-
onen, wie zum Beispiel die Anzahl der Insassen, die situation für die Rettungskräfte erleichtern.
798 9 Fahrzeugsicherheit

11011010

11011010

11011010

Bild 9.9-15 Gefahren-


warnung mit Car2X

Die Umsetzung von eCall orientiert sich an vielen eu- zungsassistenzsysteme könnten von einem Datenaus-
ropäischen Normen und Standards (unter anderen tausch profitieren, besonders wenn die Umfeldsenso-
ETSI, CEN). Die Spezifikation eines einheitlichen ren der sich kreuzenden Fahrzeuge das jeweilige an-
eCall-Systems mitsamt der dazugehörigen Infra- und dere Fahrzeug nicht detektieren können, weil eine
Serverstruktur ist auf europäischer Ebene noch nicht Sichtbehinderung vorherrscht. Für zeitkritische Funk-
abgeschlossen. tionen mit automatischen Eingriffen, ist es notwen-
dig, Car2X Informationen mit Daten der Umfeldsen-
9.9.6 Car2X Safety – Ausblick sorik zu fusionieren. Die Vorteile der Fusion sind ei-
Die zukünftige Entwicklung von aktiven Sicherheits- ne zusätzliche Validierung der Umfeldsensordaten
systemen basierend auf Fahrzeugkommunikations- und ein frühzeitiger Systemeingriff aufgrund einer Re-
technologien werden als Car2X Safety bezeichnet duzierung der Track-Zeit der Umfeldsensoren. Durch
und bilden in der Fusion mit der Integralen Sicherheit die Fusion entsteht ein erweitertes Umfeldmodell.
die Basis für eine Vision vom unfallfreien Fahren. Ein Beispielszenario für eine Fusion von Car2X
Mit einer Fahrzeug zu Fahrzeug Kommunikation oder Informationen mit Daten der Umfeldsensorik ist in
einer Fahrzeug zu Infrastruktur Kommunikation ist es Bild 9.9-16 gegeben. Ohne die Nutzung von Fahr-
möglich, das Potenzial der Fahrzeugsicherheit weiter zeugkommunikation detektiert der Umfeldsensor das
zu erhöhen. Es können damit zum Beispiel Funk- kreuzende Fahrzeug erst bei direktem Sichtkontakt.
tionen zur Gefahrenwarnung vor Glätte, Stauenden, Danach erfolgt die Trackzeit. In Szene B (mit Fahr-
Unfällen, Pannenfahrzeugen und Einsatzfahrzeugen, zeugkommunikation) erfolgt der erste Datenaustausch
welche zur Einsatzstelle fahren oder eine Einsatzstel- per Kommunikation bereits viel früher. Es kann eine
le absichern, entwickelt werden (Bild 9.9-15). Kreu- Pre-Konditionierung der Umfeldsensoren und des Si-

Erster Vorkonditionierung von Trackzeit Erster möglicher Input


Kommunikations- Sicherheitssystem und (Umfeldsensor) von Daten in Sicher-
kontakt Umfeldsensor heitssystem

Zeit

Datenverkehr per
Car2Car Kommunikation
Bild 9.9-16 Beispiel-
szenario Fusion von Car2X
Gebäude Informationen mit Daten
der Umfeldsensorik [74]
9.10 Rechnerunterstützung bei der Entwicklung von Sicherheitskomponenten 799

cherheitssystems erfolgen. Die Trackzeit verkürzt es manchmal notwendig, eine relative Bewegung von
sich. Deswegen können zu einer früheren Zeit Daten Fahrzeugbauteilen (Lenksäule, Pedalerie, Instrumen-
in das Sicherheitssystem einfließen, wobei dieser In- tentafel und Spritzwand) abzubilden. Für Aufgaben
put auch zusätzliche Daten, wie zum Beispiel die mit höherem Detaillierungsgrad werden die MKS
Fahrzeugmasse enthalten kann. Versuchspuppenmodelle durch FEM-Insassenmodelle
Inzwischen hat sich ein Konsortium vFSS-Group ge- ersetzt. Dies ist z.B. unterhalb der Schalttafel und im
bildet, welches die Bewertung der integrierten Si- Bereich des Fußraums notwendig.
cherheit im Sinne eines weltweit harmonisierten An- Im Seitenaufprall kommt es schon bei mittelschweren
satzes vornimmt [86], [88]. Kollisionen sehr schnell zum Kontakt zwischen
Struktur und Insassen, so dass der Seitenaufprall im
Wesentlichen komplett mit FEM berechnet wird. Das
9.10 Rechnerunterstützung bei der heißt, es findet eine Gesamt-FEM-Simulation für die
Entwicklung von Sicherheits- Struktur, für die Rückhaltesysteme und die Insassen
komponenten statt.
Mit wachsender Rechnerleistung und immer höheren
9.10.1 Grundlagen Anforderungen an die Modellierungsgüte wird auch
der Frontalaufprall zunehmend komplett mit FEM be-
Schon in der Vorentwicklungsphase eines Kraftfahr- rechnet.
zeuges muss anhand der geometrischen Vorgaben ein Die Rückkopplung mit Versuchsergebnissen hat sich
Optimierungsprozess zwischen Unfallverhalten, Mas- ebenfalls wesentlich beschleunigt, dies gilt nicht nur
se, Innenraumakustik und Schwingungsverhalten ge- für die Erfassung und Auswertung der Beschleuni-
funden werden. Der Durchbruch auf dem Gebiet der gungssignale sondern auch für den Vergleich mit den
Berechnung wurde durch Entwicklung von stabilen Highspeed-Videoaufnahmen.
Softwareprogrammen und die Weiterentwicklung der Die CAD-Daten (CAD = Computer Aided Design)
Rechnersysteme erreicht. Wenn auch viele Parameter bilden die Basis für das FEM-Modell (FEM = Finite
die Ergebnisse bei Unfallsimulationsversuchen beein- Element-Methode). Hiermit wird das Fahrzeugstruk-
flussen, so ist doch die Berechnung ein wichtiger Bei- turverhalten untersucht; von den einzelnen Kompo-
trag zur Verbesserung der gesamten Entwicklungsab- nenten bis hin zur Gesamtfahrzeugstruktur. Dabei ist
läufe. Beim Produktentstehungsprozess spielt die Be- die bei den meisten Automobilherstellern auf Super-
rechnung für das Zusammenwirken von Entwicklung, computern installierte Software ein wesentliches Ele-
Produktion, Marketing, Finanzen sowie Qualitätssi- ment.
cherung und -planung eine immer größere Rolle
(Kap. 10.3) 9.10.3 Komponentenberechnung
Wichtige Bauteile für die Energieabsorption bei vie-
9.10.2 Beschreibung der numerischen len Unfällen sind die vorderen Längsträger. Zahlrei-
Werkzeuge che Theorien haben sich mit dem Phänomen des Fal-
tenbeulens als Mittel zur optimalen Energieumset-
Die wichtigste Aufgabe bei jeder rechnergestützten
zung beschäftigt. Es gilt folgende Beziehung für die
Ingenieurarbeit ist die Erstellung und Anwendung
mittlere Faltenbeulkraft F [77]:
physikalisch-mathematischer Modelle [75].
Der wesentliche Aspekt für den Automobilingenieur sx2 ⋅ Ux
ist nicht die Entwicklung neuer Software, sondern die F = s F ⋅ dF ⋅ aF ;
Ua
kreative Anwendung zur Lösung einer Fragestellung
unter Beachtung der Modellgrenzen (Validierung und sF = Formbeiwert, dF = Fließgrenze des Werkstoffes,
Aussagegenauigkeiten) [76]. aF = 1,0 bis 1,5 geschwindigkeitsabhängiger Erhö-
Im Frontalaufprall kommt es nicht immer zum direk- hungsfaktor, sx = Blechdicke, Ux = Profilumfang mit
ten Kontakt zwischen Insassen und Fahrzeuginnen- Blechdicke sx, Ua = Gesamtumfang des Profiles.
raum. Daher ist häufig eine getrennte Struktur- und Mit den Programmbausteinen DYNA3D und PAM-
Rückhaltesystemauslegung möglich. Für die Berech- Crash können derartige Probleme heute auch nach der
nung der Fahrzeugstruktur beim Frontalaufprall wer- Finite-Element-Methode gelöst werden. Besonders
den die Massen der Insassen durch einfache FEM- wichtig sind die Längs- und die Querabstützung, z.B.
Versuchspuppenmodelle simuliert. Für die Insassen die vorderen Querträger, die die Kräfte in die Karos-
und Rückhaltesimulation wird der im Aufprall ge- serie einleiten. Der Beginn des Faltenbeulens ist deut-
messene Beschleunigungsimpuls zu Grunde gelegt. lich zu erkennen. Beim Faltenbeulen wird je Defor-
Dieser Beschleunigungsimpuls wird der Fahrgastzelle mationslänge die größte Energie umgesetzt. Am ge-
vorgegeben und dient zur Überprüfung der MKS ringsten ist die Energieaufnahme bei einer Knickung
(Mehrkörpersimulation)-Insassenmodelle zusammen durch hohe Biegemomente Bild 9.10-1 zeigt die
mit den Rückhaltesystemen und Sitzen. Zusätzlich ist rechnerische Simulation eines Längsträgers [78].
800 9 Fahrzeugsicherheit

Bild 9.10-1 Finite-Element-


Modell eines Längsträger
(Verhalten während der
Deformation)

Bild 9.10-2 Fahrzeug/Fahrzeug-Kollisionssimulation


9.10 Rechnerunterstützung bei der Entwicklung von Sicherheitskomponenten 801

Auch andere Herstellverfahren, wie Kleben, Clin- 9.10.4.3 Insassensimulation


chen, Laserschweißen, andere Werkstoffe wie faser-
verstärkte Kunststoffe etc. werden untersucht [78]. Mittels Insassensimulation über MKS-Programme
Natürlich können noch sehr viele weitere Einzelkom- können Insassenrückhaltesysteme optimiert werden.
ponenten wie Details des Fahrzeuginnenraums, der Für die Modelbildung werden exakte Eingabedaten
Airbags, der Sicherheitsgurte, der Lenkanlage, des insbesondere der Versuchspuppen benötigt. Bei der
Kopfaufschlaggebiets etc. simuliert werden. Simulation der Versuchspuppen wird bezüglich der
Modellbildung intensiv zwischen den Automobilher-
9.10.4 Gesamtfahrzeugauslegung stellern zusammengearbeitet [81]. Die MKS-Simula-
tion erlaubt, die Sicherheitsentwicklung in drei we-
Schon in der Konzeptionsphase kann der Konstruk- sentlichen Bereichen weiterzuführen:
teur mit den vorgegebenen Eckdaten der grundsätzli-
– Prinzip- und Trendanalyse,
chen Auslegung wie Radstand, Spurweite, Aggregat-
– Plausibilitätsprüfung des Systems,
lage, Aggregatgröße und sonstigen Dimensionie-
– Bauteil-Datenentwicklung.
rungsdaten erste Berechnungsläufe durchführen, die
als Prinzipstudien allerdings noch keine quantifizier- Bei der Optimierung von Sicherheitsgurten (z.B.
bare Aussage liefern. Sie ermöglichen aber den Bau Analyse des Einflusses von Gurtklemmer, Gurtstraf-
von Prototypen, deren Sicherheitsverhalten gut vor- fer, Sitzverhalten, Lage der Gurtverankerungspunkte)
ausgesagt werden kann. In der späteren Entwick- und Airbags kann die MKS-Methode angewendet
lungsphase werden schon wesentlich präzisere Aus- werden.
sagen sowohl aus Berechnung als auch aus den Ver- Es können auch die Relativbewegungen der Ver-
suchen erwartet. suchspuppe zur Karosserie oder einzelnen Bauteilen,
Dank gestiegener Rechenkapazität (Parallel-Rechner) aber auch die Verzögerungs-Zeit-, Kraft-Zeit und
können detaillierte FEM-Modell eingesetzt werden, Weg-Zeit-Verläufe dargestellt werden. Durch die
so dass auch Fahrzeug-Fahrzeug-Kollisionen im Be- Kopplung von Struktur- und Insassenverhalten ergibt
reich akzeptabler Rechenzeiten liegen. Bild 9.10.2 sich die Möglichkeit, das Gesamtsystem (Fahrzeug
zeigt als Beispiel eine Fahrzeug-Fahrzeug-Kollision und Insasse) rechnerisch zu bewerten.
[79]. Bild 9.10-3 enthält zwei Hybrid III-Dummies, einen
Fahrzeuginnenraum, eine Lenkanlage, einen Fahrer-
9.10.4.1 Gesamtfahrzeugmodell airbag.
Im Gegensatz zu den meisten Insassenmodellen wer-
Es ist notwendig, dass sowohl das Fahrzeug als auch
den die Dummies des Modells nicht von einem Be-
das Insassenverhalten in einer gesamten Berechnung
schleunigungsfeld belastet. Vielmehr wird der In-
ermittelt werden können. Wie bereits erwähnt, ist der
nenraum, also die Umgebung der Insassen, mit der
Einsatz der Methodik sehr von der Aufgabenstellung
Fahrgastzelle des Fahrzeugmodells gekoppelt. Diese
abhängig. Inzwischen gibt es Lösungen, die eine erste
Kopplung ist interaktiv. Deshalb ist eine Rückwir-
Auslegung in einer sehr frühen Phase des Produktent-
kung der Insassen auf das Fahrzeug möglich. Durch
stehungsprozesses ermöglichen [80].
die Kopplung wird (ohne den Aufwand einer nach-
9.10.4.2 Fahrzeugmodell geschalteten Berechnung) den Insassen die dreidimen-

Das im FEM-Programm definierte Fahrzeugmodell


kann z.B. bestehen aus
• einem Vorderwagen mit 72 Balkenelementen,
• einem Motorblock,
• einer flachen Shellstruktur (220 Shellelemente) als
Kontaktfläche,
• einer starren Fahrgastzelle.
Der Vorderbau aus Balkenelementen ermöglicht eine
variable Steifigkeitsverteilung sowohl in Längs-,
Quer- als auch in Höhenrichtung, so dass (mit weni-
ger Aufwand und Rechenzeit als bei den komplexe-
ren FEM-Modellen) Modellvarianten untersucht wer-
den können. Die Deformationskräfte der Balkenele-
mente werden vom Benutzer vorgegeben. Die Kraft-
Weg-Kennungen dieser Balkenelemente können be-
liebig definiert, aber auch zur „Abbildung“ von Ver-
suchen mit wirklichen Fahrzeugen bzw. konventio-
nellen FEM-Rechnungen verwendet werden. Bild 9.10-3 Insassensimulation
802 9 Fahrzeugsicherheit

biet der unfallfolgenmildernden Maßnahmen mehr als


90 % der denkbaren und sinnvollen Systemverbes-
serungen eingesetzt haben (aktuell sind die weiteren
Verbesserungen zum Fußgängerschutz, zu smart
restraints und zur Kompatibilität), kommt der Unfall-
vorbeugung eine wesentlich größere Bedeutung zu.
Wo immer die dabei eingesetzte Sensorik, z.B. Pre-
Crash-Erkennung vorhanden ist, kann sie auch bei der
weiteren Systemverbesserung bezüglich des Insassen-
schutzes helfen. In Position bringen des Sitzes, der
Sitzlehne, der Kopfstütze, das Schiebedach und Sei-
tenscheiben schließen, die Gurtstraffer teilweise vor-
spannen etc. Lösungen haben als erste in Serienfahr-
zeugen eingesetzt. Auch die Vereinbarung der Euro-
päischen Kommission und der Automobilindustrie,
Bild 9.10-4 Simulation Beinimpaktor ein automatisches Notrufsystem einzusetzen, welches
bei schweren Unfällen aktiviert wird, ist sehr positiv
sionale Bewegung des Fahrzeugs aufgeprägt. Um in zu sehen [83]. Es ist daher schon fast als selbstver-
einer Rechnerwelt zu bleiben und speziell für die Si- ständlich anzusehen, dass auch die Hybrid- und
mulation des Seitenaufpralls gibt es inzwischen FEM- Elektrofahrzeuge, insbesondere die Batterien den
Ausführungen der verschiedenen Versuchspuppen. gleichen Sicherheitsmaßstäben unterworfen werden
Diese erfordern zwar einen höheren Rechenaufwand, müssen [84], [87]. Die Vision, den Straßenverkehr so
erzielen aber praxisnähere Ergebnisse [80, 81]. sicher wie den Schienenverkehr zu machen ist reali-
Die Simulation des Aufprallverhaltens einschließlich sierbar.
des Rückhaltesystems unter Berücksichtigung der
Versuchspuppen ist ein wichtiges Hilfsmittel im Ent- Literatur
wicklungsprozess. Der Aufwand für die Modellerstel-
[1] Braess, H.-H.: Aktive und passive Sicherheit im Straßenverkehr,
lung kann dann als gerechtfertigt bezeichnet werden, Zeitschrift für Verkehrssicherheit 42 (1996)
wenn das Modell die Basis für eine ganze Modellrei- [2] Barény, I. B.: Das Prinzip des gestaltfesten Fahrerraums, Deut-
he ist. Aufgrund der vielfältigen Motor- und Getrie- sches Bundespatent 854.157 (1952)
bekombination ist die Berechnung auch hilfreich für [3] Wilfert, K.: Entwicklungsmöglichkeiten im Automobilbau, ATZ
1973, S.273–278
eine „Worst-case“-Betrachtung, d.h. die Betrachtung [4] Seiffert, U.: Fahrzeugsicherheit Personenwagen, VDI-Verlag
der denkbar schlechtesten Konfiguration. Allerdings Düsseldorf 1992, ISBN 3-18-401264-6
wird auch in Zukunft auf Entwicklungs- und Bestäti- [5] Seiffert, U.: Die Automobiltechnik nach der Jahrtausendwende,
gungsversuche nicht verzichtet werden können. Euroforum München 25. und 26. Mai 1998
[6] Statistisches Bundesamt Deutschland, Verkehr, 2009
Die rechnerische Simulation von Unfällen beschränkt [7] Klanner, W.: Status Report and Future Development of the Euro
sich nicht auf die unterschiedlichen Frontal- und th
NCAP Programme, 17 International Technical Conference on
Seitenkollisionen, sondern wurde um den Fahrzeug- the Enhanced Safety of Vehicles, Amsterdam, 2001
überschlag und den Fußgängerschutz erweitert. Bild [8] Seiffert, U. et al.: Automotive Safety Handbook, SAE Interna-
tional, PA, USA: Professional Engineering Publishing, 2003,
9.10-4 zeigt ein entsprechendes Bild einer Testkonfi- ISBN: 0-7680-0912-X
guration für die Simulation eines Beinaufschlags ge- [9] Appel, H.; Krabbel, G.: Unfallforschung und Unfallmechanik,
gen die Fahrzeugkarosserie [82]. TU Berlin, ISS Fahrzeugtechnik, Vorlesungsskript, 1994
[10] International Road Traffic and Accident Database, 2006
Die Fortschritte auf dem Gebiet der Berechnung er-
[11] Danner, M.; Langwieder, K.; Hummel, T.: Experience from the
lauben eine deutliche Entlastung der Versuchsarbeit analysis of accidents with a high belt usage rate and aspects of
th
pro Modell. Die frei werdende Kapazität wird für die continued increase in passenger safety, 11 International Tech-
vergrößerte Anzahl der Modellvarianten und die Er- nical Conference on the Enhanced Safety of Vehicles, Washing-
ton, DC, 1987
höhung der Zahl der Versuche dringend benötigt.
[12] Langwieder, K.: Perspektiven der aktiven und passiven Fahr-
zeugsicherheit, Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, Heft 1, Ja-
9.11 Zusammenfassung nuar 2003
[13] Brunner, H.; Georgi, A.: Drei Jahre Verkehrsunfallforschung an
Die Fahrzeugsicherheit ist ein integraler Bestandteil der TU Dresden, ATZ 2/2003 Jahrgang 105
[14] Scheunert, D.; Sferco, R.; Becker, H.: Unfallforschung – Wo lie-
des Produktentstehungsprozesses. Die Möglichkeiten, gen Potenziale?, Verband der Automobilindustrie: Technischer
das Fahrzeug als Transportmittel noch sicherer zu Kongress, Stuttgart, 2002
machen, sind durch den Einsatz von moderner Tech- [15] Jungmichel, M.; Stanzel, M.; Zobel, R.: Special Aspects in Acci-
nik weiter gestiegen. Die Initiativen einzelner Her- dent Reconstruction in the Accident Investigation Department of
Volkswagen, EVU Tagung 2002, Portoroz, Slovenija
steller haben – unabhängig von den sicherlich not- [16] Langwieder, K.: 2te Tagung Aktive Sicherheit, München, 2006
wendigen gesetzlichen Regelungen – wieder Bewe- [17] Zobel, R.: Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen der ak-
gung in dieses Fachgebiet gebracht. Da auf dem Ge- tiven und passiven Sicherheit/Evaluation of Effectiveness of
9.11 Zusammenfassung 803

Measures of Primary and Secondary Safety, 15. Aachener Kol- [43] US-FMVSS – No. 301: Fuel System Integrity, National High-
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804 9 Fahrzeugsicherheit

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Braunschweig, ISBN: 937655-03-4 ESV – Experimental Safety Conferences
[83] Europäische Kommission IP/05/134 Notrufnummer „112“ von VDA, Frankfurt, Berlin: Tagungsbände zu den Technischen Kongres-
Auto, Brüssel, 03.02.2005 sen
[84] Michael, V.: Integrale Sicherheit in der Elektromobilität, GZVB e.V./ITS Niedersachsen e.V. Braunschweig. Tagungsbände zu
www.sgs-tuev.de, Hanser Automotive 11.2010 AAET
Kolumnentitel 805

10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

10.1 Ein Blick zurück rig zu halten. Dieses führte unter anderem zu einem
verstärkten Einsatz von Aluminium, z.B. für Kurbel-
Die Werkstoffe und Technologien, die in den Auto- gehäuse, Getriebegehäuse und Karosseriekomponen-
mobilen zum Einsatz kommen, spiegeln den jeweils ten. Schon vorher begann man primär in Amerika
vorhandenen Stand der Technik wider. Der für die damit, Aluminium-Druckgussteile, zum Beispiel zur
gegebenen Anforderungen bestgeeignete Werkstoff Verbindung von Rahmen, für den Automobilbau zu
bzw. das bestgeeignete Fertigungsverfahren kommt verwenden. Die dortige Automobilindustrie wurde
zum Einsatz. Somit ist ein Exkurs in die Werkstoffe sehr schnell der größte Anwender von Druckgusstei-
der frühen Automobile zugleich ein Blick zurück in len. Mit Sandgussformen wurden vereinzelt sogar
die Werkstofftechnik der damaligen Zeit, siehe auch großflächige und dünnwandige Teile wie Dächer oder
Tabellen 10.1-1 und 10.1-2. Türen produziert.
Die Automobile des 19. Jahrhunderts mussten mit Es gab jedoch auch Probleme, wie das Beispiel der
einer aus heutiger Sicht „überschaubaren“ Werkstoff- Zink-Druckgusstechnik zeigt.
Vielfalt auskommen. Die Materialien aus dem Kut- Verunreinigungen der Zinklegierungen mit Kupfer,
schenbau für Fahrwerk und Aufbau sowie die Eisen- Blei und Zinn führten in Kombination mit Feuchtig-
und Buntmetalle aus dem Stationär-Motorenbau für keit zu elektrolytischen Vorgängen, die zu einem
das Antriebsaggregat bildeten den Ausgangspunkt Zerfall des Bauteils führen konnten (sog. „Zinkpest“).
einer dann auch durch das Automobil getriebenen Erst durch Einführung hochreiner Legierungen konn-
Werkstoff-Neu- und Weiterentwicklung. te dieses Problem beseitigt werden.
Die Aufbauten boten zunächst keinen Wetterschutz, Für die Firmen Dodge und Pontiac fand 1913 bzw.
eine Innenausstattung im heutigen Sinne gab es nicht. 1915 die Ganzstahlkarosserie zum ersten Mal Einzug
Als Werkstoff für Bremsbeläge an Klotzbremsen kam in den Serienwagenbau. Biege- und Torsionssteifig-
Leder zum Einsatz. Die Rahmen bestanden aus Stahl- keit waren höher als bei der bis dahin verwendeten
rohren und wurden in den ersten Jahren des 20. Jahr- Mischbauweise aus Holz und Blech. Um die Karosse-
hunderts durch kombinierte Holz- und Eisenrahmen und rien zu bauen, die auf einem Patent von Edward G.
dann gepresste Stahlrahmen, die eine erhöhte Trag- Budd basierten und aus bis zu 300 Blechteilen bestan-
fähigkeit bei niedrigem Gewicht aufwiesen, ersetzt. den, wurden aus Frankreich neu entwickelte Acetylen-
Als Material für Karosserien wurde zunächst vorwie- Schweißanlagen nach Amerika importiert. Auch
gend Holz verwandt, wobei vereinzelt auch Alumi- Punktschweißmaschinen existierten zu dieser Zeit
nium, Holz- oder Blechkombinationen vorkamen. bereits. Zu einer entsprechenden Automobilkarosserie
Motorhauben zum Beispiel waren häufig aus Alumi- gehörten damals ungefähr 1.100 Schweißpunkte.
niumblech in einem Stück gefertigt. Die Umformung der Bleche war Handarbeit für Spe-
Holz blieb bis in die 30er-Jahre das wichtigste Material zialisten und entsprechend teuer. Dieses kann auch als
für die Karosserieaufbauten. Es brauchte je nach ver- Grund dafür angesehen werden, warum sich die Ganz-
wendeter Holzart eine entsprechende aufgespachtelte, stahlkarosserie erst in den 20er und 30er-Jahren immer
mehrlagige Grundierung, die dann über Tage austrock- weiter bei Serienfertigungen durchsetzte. Vorausset-
nen musste. Darauf wurde dann ebenfalls in mehreren zung dafür war die Entwicklung leistungsstarker Pres-
Lagen der Decklack aufgebracht. Für das Armaturen- sen für Karosseriebleche, um eine Serienfertigung von
brett wurden Holzbretter verwendet; sie leben im entsprechenden Blechteilen in größerer Stückzahl zu
Namen des Bauteils auch heute noch weiter. Die Räder ermöglichen. Ford zum Beispiel baute sein T-Modell
hatten, wie im Kutschenbau, Holzspeichen. mit Holzgerippe-Karosserie bis zur Produktionsumstel-
Das vielfach auftretende Versagen von Teilen auf- lung 1927. Ebenfalls in jenem Jahr präsentierte Krupp
grund von Ermüdung (z.B. Kurbelwellen oder Fe- ein speziell für Karosserieteile geeignetes Tiefzieh-
dern) führte zu starken Überdimensionierungen der Feinblech.
Fahrzeugkomponenten. General Motors gründete im Weiterhin dominierte die Bauweise eines fahrfähigen
Jahr 1911 sein erstes Werkstofflabor, um ein besseres Leiterrahmens, auf den anschließend die Karosserie
Verständnis für Metalle zu erarbeiten. montiert wurde.
Für die Vorderachse seines ‚Model T‘ verwendete Es gab Ausnahmen, wie zum Beispiel der im Oktober
Ford 1907 einen teuren, mit Vanadium legierten 1922 präsentierte Lancia Lambda, der einen kastenför-
Stahl, der eine höhere Festigkeit als die herkömmli- mig hochgezogenen Rahmen besaß und damit als das
chen Stähle aufwies. erste Fahrzeug mit einer teilweise selbsttragenden Ka-
Bereits nach dem ersten Weltkrieg waren die Kon- rosserie angesehen werden kann. Lancia besaß das Pa-
strukteure bemüht, das Gewicht der Fahrzeuge nied- tent für ein Fahrzeug ohne herkömmliches Fahrgestell.

H.-H. Braess, U. Seiffert (Hrsg.), Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik, DOI 10.1007/978-3-8348-8298-1_10,


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806 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Tabelle 10.1-1 Beispiele für Innovationserfolge und Fehlversuche


Jahr Firma/Fahrzeug Bemerkung
1922 Weymann-Karosserie Lederbespannte Karosserie zur Reduzierung der ↓
Klappergeräusche
1924 du Pont Pyroxylin Lack, der die notwendige Lackierzeit von etwa ↑
3 Wochen auf 2 Tage reduzierte und eine Oberflächenqualität
garantierte, die um einiges über der bis dahin
üblichen Lacke lag.
1926 Safety Stutz Splitterfreies Sicherheitsglas mittels einer in der Mitte des ↑
Glases eingelegten Drahteinlage.
1936 Volkswagen Magnesium Gussteile, im Wesentlichen für Getriebe- und ↑
Kurbelgehäuse mit der Folge einer großen Gewichtsersparnis
40er/50er Crosley-Kleinwagen Motor aus gepresstem und gestanztem Stahlblech ↓

1941 Opel Tauchgrundierung ↑

1945 Grégoire AF Aluminium-Karosserie mit Aluminiumgussteilen für die tra- ↓


gende Struktur
Ende 40er Michelin Stahlgürtelreifen ↑

50er Lloyd 300 Hartholz-Fachwerk-Gerippe mit Sperrholzverkleidung und ↓


(‚Leukoplastbomber‘) Kunstlederbezug
1954 Panhard Dyna 54 Selbsttragende Karosserie aus punktgeschweißten Aluminium- ↓
blechen
1954 GM Corvette Stahl-Karosserie mit faserverstärkten Kunststoffaußenteilen →

1957 Lotus Elite Coupé Karosserie aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Drei groß- →
flächige Teile, die miteinander verklebt werden.
1962 Glas Kunststoff-Zahnriemen zum Nockenwellenantrieb ↑

1977 Porsche Feuerverzinktes Stahlblech für die Rohkarosserie ↑


ermöglicht 6-, später 10-jährige Korrosionsschutzgarantie
1980 GM Corvette Glasfaserverstärkte Blattfeder →

1981 DMC (DeLorean Motor Stahl-Zentralrahmen, faserverstärkte Kunststoffstruktur mit ↓


Company) daran angeschraubten Edelstahl-Außenhautteilen
1983 Polimotor Research Inc. Vierzylinder-Ottomotor, bei dem die ruhenden Teile, wie zum ↓
Beispiel der Motorblock, aus Phenol-Verbundwerkstoff beste-
hen.
1994 Audi A8 Voll-Aluminium-Karosserie in „Aluminium Space Frame“- ↑
Bauweise
1997 Bosch Hochdruck Dieseleinspritzung Common Rail ↑

1997 Toyota Prius Erstes serienreifes Hybridfahrzeug ↑

2000 US-Marine Ziviler Einsatz von GPS wird ermöglicht ↑

2003 Porsche Carrera GT Erstes Serienfahrzeug mit Chassis und Aggregateträger voll- ↑
ständig aus CFK
2008 Tesla Roadster Erstes serienreifes Elektrofahrzeug der Neuzeit →

↑ – Konnte sich in dieser oder abgewandelter Form durchsetzen


→ – Wurde zumindest partiell weiterverfolgt
↓ – Konnte sich nicht durchsetzen
10.1 Ein Blick zurück 807

Tabelle 10.1-2 Der Motorsport als Schrittmacher für neue Werkstoffe und Technologien
Jahr Firma/Fahrzeug Bemerkung
1895 Michelin Fahrzeug mit Luftbereifung im Rennen Paris-Bordeaux-Paris
1899 Dürrkopp Entwicklung eines kleinen Sportwagens, der zur Gewichtsredu-
zierung eine Aluminium-Karosserie besaß.
1900 Maybach/Daimler Für Jellinek gelieferter Daimler, den dieser dann nach seiner
Tochter ‚Mercedes‘ nannte, hatte einen weitgehend aus Alumi-
nium und Magnesium hergestellten Motor sowie einen Bienen-
wabenkühler aus Messing.
1934 Auto-Union Kurbelgehäuse und Zylinderköpfe aus Aluminiumguss gefertigt
beim 16-Zylinder Motor
1962 Porsche Titan für die Pleuel des Formel 1-Motors
1963 Porsche 904 GTS Erstes deutsches Serienfahrzeug mit GFK-Außenhaut
1967 Porsche 910/8 Verwendung eines Aluminium-Gitter-Rohrrahmens mit part.
Sekundärfunktion der Rohre als Ölleitung
1971 Porsche 917 Verwendung von Magnesium für Gitter-Rohrrahmen
1981 Hercules/McLaren/Lotus Tragende Struktur von Formel 1-Fahrzeugen erstmals aus kohle-
faserverstärkten Kunststoffen
1982 Hohlspeichenfelge (Mg- Guss) Hohlgegossene und reibgeschweißte Felge für den Porsche 956
mit Reifendrucküberwachung
1986 Stabi aus CFK Einsatz im Porsche 956
1986 Kevlar-Kohlefaser-Verbund als Einsatz im Porsche 959 (Ralley- Version) mit wesentlich geringe-
Unterbodenschleifschutz ren Gewicht bei verbesserter Verschleißfestigkeit als eine Metal-
lausführung
1994 Mg- Schmiedefelge, BBS Einsatz bei Ferrari

In den dreißiger Jahren ersetzte Aluminium als Werk- Die Einführung der Kunststoffe in das Fahrzeug verlief
stoff für Kolben das Gusseisen in den meisten Moto- eingangs nicht reibungslos. Sie wurde zwischendurch
ren. Zylinderköpfe aus Aluminium dagegen waren zu getrübt durch ‚billig‘ und unfertig wirkende Anwen-
diesem Zeitpunkt aus Gründen der Haltbarkeit weni- dungen. Erst in den sechziger Jahren wurde Kunststoff
ger erfolgreich. generell akzeptiert und verlor zunehmend sein Image
Ebenfalls in den 30er-Jahren stiegen die Anwendun- des preiswerten Ersatzwerkstoffes.
gen für Elastomere. Chrysler zum Beispiel verwende- Mehrere Gründe haben dazu geführt, dass sich Faser-
te zur Steigerung des Akustik-/Schwingungskomforts verbundkunststoffe bis heute noch nicht in größerer
Gummilager für seinen 4-Zylinder Motor. Weiterhin Stückzahl im Automobilbau durchgesetzt haben.
wurden Elastomere erstmals zur Abdichtung der Diese sind z.B. gegenüber Aluminium und Stahl
Karosserie eingesetzt. höhere Werkstoffkosten, aufwändigere Fertigungs-
Da auch das Design der Fahrzeuge immer mehr zu verfahren mit zum Teil langen Zykluszeiten und
einem Verkaufsargument wurde, fing man an, diese aufwändige Prüf- und Qualitätssicherungsverfahren.
äußerlich zu verzieren. So verwendete Ford rostfreie
Stähle für Kühlergehäuse, Türgriffe und Haubenab- Weiterführende Literatur
deckungen. Mit dem gleichen Ziel wurden in den [1] Bott, H.: Fortschritte im Automobilbau am Beispiel der Rennwa-
30er-Jahren ebenfalls vermehrt verchromte Bauteile gentechnik, 100 Jahre Automobil, VDI-Berichte Nr. 595, VDI-
als Stilelement verwendet. Verlag, Düsseldorf, 1986
[2] Hediger, F.; Fersen, H.-H. v.; Sedgwick, M.: Klassische Wagen:
Das durchschnittliche Automobil verwendete 1955 1919 – 1939, Hallwag AG, Bern und Stuttgart, 1988
ungefähr 5 kg an Kunststoffen mehrheitlich für deko- [3] Gloor, R.: Nachkriegswagen: 1945 – 1960 Personenautos, Hallwag
rative Teile, wie z.B. Raddeckelembleme oder Hu- AG, Bern und Stuttgart, 1980
penknöpfe. Zwischen 1960 und 1970 stieg der durch- [4] Gloor, R.: Personenwagen der 60er-Jahre, Hallwag AG, Bern und
Stuttgart, 1984
schnittliche Anteil an Kunststoffen von 11 kg auf [5] ATZextra: Werkstoffe im Automobil 01/2007
45 kg. Der größte Anteil davon entfiel auf nichttra- [6] Kunststoffe im Automobilbau, VDI-Gesellschaft 2002–2011,
gende Interieurbauteile. Kunststofftechnik
808 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

10.2 Werkstoffe moderner Kunststoffe spielen vor allem im Interieur eine domi-
nierende Rolle. Im Exterieurbereich findet man sie
Kraftfahrzeuge hauptsächlich im Bug- und Heckverkleidungen.
Das folgende Kapitel gibt einen Gesamtüberblick Kunststoff wird auch in Kombination mit metalli-
zum umfangreichen Thema „Werkstoffe und Ferti- schen Werkstoffen in Form von Hybridbauteilen
gungsverfahren“ sowie zu den damit eng verknüpften eingesetzt, wobei die positiven Eigenschaften der
Fertigungs-, Füge-, und Recylingverfahren im Auto- unterschiedlichen Werkstoffe miteinander kombiniert
mobilbereich. werden.
Faserverbundwerkstoffe spielen für Großserienfahr-
10.2.1 Materialanteile im Automobilbau zeuge bislang keine oder nur eine untergeordnete
Bild 10.2-1 zeigt die Anteile von unterschiedlichen Rolle. Aufgrund der aufwändigen Verarbeitung und
Werkstoffen in Pkws für das Jahr 2007 und als Aus- der schwierigen Qualitätssicherung ist ein breiter
blick für das Jahr 2015. Einsatz bislang ausgeblieben. Womöglich kann das
Entgegen früherer Aussagen hat sich der Anteil der Joint Venture von SGL Carbon und der BMW AG
Stahlwerkstoffe in den vergangenen 30 Jahren nicht zum Bau von Karosseriebauteilen aus kohlefaserver-
so stark reduziert, wie dies in der Vergangenheit stärkten Kunststoffen für das „Mega City Vehicle“
angekündigt worden ist. Auch für die Zukunft wird neue Wege aufzeigen [3].
mit einer weiteren geringfügigen Reduzierung des Eine zunehmende Anzahl von Karosserien weist
Stahlanteils gerechnet, der von Werkstoffen aus dem einen sog. Werkstoffmischbau mit unterschiedlichen
Bereich der Nicht-Eisenmetalle (Leichtmetalle) und Anteilen von Stahl, Aluminium, Magnesium oder
modernen Kunststoffen substituiert wird. Kunststoffen im Rohbau auf. Dabei ist es das Ziel,
den für den jeweiligen Bereich am besten geeigneten
Karosserie Werkstoff einzusetzen. Beispiele für Karosserien in
Der nach wie vor dominierende Werkstoff in der Mischbauweise sind die Fahrzeuge von Aston Martin,
Karosserie ist Stahl. Unter dem Fokus des Leichtbaus der Audi TT, oder der Porsche Panamera.
werden verstärkt hoch- und höchstfeste Stähle mit
Fahrwerk
einer Streckgrenze Rp0,2 von 180 MPa bis sogar
>1.800 MPa (Bor-legierte Stähle) ausgewählt [2]. Auch im Fahrwerk stellen Leichtmetalle, speziell
Aluminiumintensive Karosseriekonzepte sind im Aluminium als Guss- oder Knetlegierung, einen
Wesentlichen auf Fahrzeuge der Oberklasse be- immer größeren Werkstoffanteil. Der Anteil an Stahl-
schränkt, hatten zwischenzeitlich in Verbindung mit und Eisenwerkstoffen nimmt dementsprechend auch
dem „3-Liter-Auto“ aber auch in der Kompakt- und im Fahrwerk kontinuierlich ab.
Kleinwagenklasse Einzug gehalten (z.B. der frühere Magnesium wird in den typischen Fahrwerksberei-
Audi A2). chen (Schwenklager, Lenker, etc.) aufgrund der
Magnesium kommt bereits in vielen Bereichen der Korrosionsrisiken und der niedrigen mechanischen
Karosserie moderner Kraftfahrzeuge zum Einsatz. Kennwerte dagegen nicht eingesetzt.
Z.B. für Sitzrahmen, Türrahmen, Instrumententafel- Magnesiumräder sind zwar technisch machbar, blieben
träger oder Verdeckkomponenten. jedoch auf Kleinserienanwendungen im Sportwagenbe-

70,00%
66,3%
61,4%
60,00%

50,00%
2007
2015
40,00%

30,00%

20,00%
16,0%
13,8%
11,6%
10,00% 7,8%
5,0% 5,2%
2,7% 2,6% 2,0%
1,2% 2,4% 2,0%
0,00%
Stahlwerk- Nicht- Kunst- Elastomere Glas Flüssig- Sonstige Bild 10.2-1 Werkstoff-
stoffe Eisenmetalle stoffe keiten Werkstoffe anteile [%] im Pkw [1]
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 809

reich (z.B. Porsche Carrera GT) oder den Zubehörhan- 10.2.2 Fortschritte
del beschränkt [5]. in den Leistungsmerkmalen
Antrieb 10.2.2.1 Festigkeit und Verarbeitung
Im Antrieb kommt heute schon eine Vielzahl von
10.2.2.1.1 Stahlwerkstoffe
Werkstoffen zum Einsatz, so dass hier der Begriff
„Multi-Material-Design“ am ehesten gerechtfertigt ist Karosseriestrukturen sind heute immer noch geprägt
[6]. durch die klassische Stahl-Schalenbauweise. Ein
Kurbelgehäuse aus hochsiliziumhaltigem Aluminium weiteres Leichtbaupotenzial wird durch die Weiter-
(z.B. AlSi17Cu4) oder Grauguss finden sich ebenso entwicklung von Stahlwerkstoffen und -halbzeugen
wie Ansaugrohre aus glasfaserverstärktem Kunststoff gehoben, die zu kostenoptimierten Karosserien in
oder Kurbelwellen aus geschmiedeten Stahlwerkstof- Stahl-Schalenbauweise mit deutlichen Gewichtsein-
fen. Keramikmaterialen in Katalysatoren sind heute sparungen gegenüber aktuellen Karosserien führen
ebenso Stand der Technik wie sog. Keramik-Pre- werden [1].
forms für verschleißarme Zylinderlaufflächen als Im Folgenden werden speziell Entwicklungen im
Einlegeteile in Aluminiumkurbelgehäusen. Im Rei- Bereich der Stahl-Feinbleche betrachtet (Tabelle
hensechszylinder Ottomotor von BMW wurde der 10.2-1). Nach den früher ausschließlich eingesetzten
Werkstoff Magnesium zum ersten Mal als Mg/Al- weichen Stählen wurden im ersten Schritt zunächst
Verbundkurbelgehäuse in Serie gebracht. Gegenüber höherfeste Bleche (Mindestdehngrenze >180 MPa)
einem vergleichbaren Aluminium Kurbelgehäuse entwickelt. In jüngster Zeit sind durch intensive
wurden hierdurch ca. 10 kg Gewicht eingespart. Weiterentwicklung höchstfeste Stahlbleche, teilweise
Neben dem Kurbelgehäuse besteht die Zylinderkopf- mit Zugfestigkeiten von bis zu 1.200 MPa, im Ein-
haube aus Magnesium. satz.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Ver-
wendung von Stahl anteilig zwar gesunken ist, Stahl- Weiche Stähle
werkstoffe aber nach wie vor eine dominierende Aufgrund der gestiegenen Anforderungen an die
Rolle im Automobilbau spielen. Die Steigerungsraten Tiefzieh- bzw. Streckziehbarkeit der Werkstoffe wur-
der Kunststoffe haben sich in den letzten Jahren den neben den seit längerem bekannten weichen
abgeschwächt, doch werden sie in innovativen Fahr- Stahlfeinblechen die Stahlsorten DX56 und DX57 mit
zeugkonzepten zukünftig weiter eine wichtige Rolle einer extrem hohen Bruchdehnung entwickelt. Hier-
spielen. Leichtmetalle, und hier liegt der Fokus be- bei ist es gelungen, durch eine Optimierung der
sonders auf Aluminium, werden bei der Auslegung Vakuumbehandlung immer niedrigere Kohlenstoff-
zukünftiger, gewichtsoptimierter Fahrzeuge weiter an und Stickstoffgehalte einzustellen bzw. Kohlenstoff
Bedeutung gewinnen. Mit zunehmender Verkehrs- und Stickstoff durch entsprechende Legierungsele-
dichte und durch gesellschaftliche und ökologische mente abzubinden.
Veränderungen wurden und werden die Anforderun-
gen an Automobile immer komplexer und anspruchs- Höherfeste Stähle
voller. Nicht durch alleinige Werkstoffsubstitution,
sondern erst durch eine integrale Betrachtungsweise Mikrolegierte Stähle (Index LA)
von Werkstoff + Bauweise + Verfahren werden neue Zu den mittlerweile bewährten und bereits seit länge-
Lösungsansätze zur Bewältigung zukünftiger Aufga- rem bei vielen Fahrzeugherstellern eingeführten Stäh-
ben entwickelt. len gehören mikrolegierte Stähle (Legierungselemen-
te Niob, Vanadium und Titan). Diese Stähle wurden
Literatur Mitte der 70er-Jahre konzipiert und seit dem kontinu-
th
[1] Ir. Dave Balelaar: ELV Treatment in the Netherlands, 10 ierlich weiterentwickelt. Bereits heute wird im Roh-
International Conference, Florence ATA 2007
[2] Lüdke, B.: Funktionaler Rohkarosserie-Leichtbau – Von den An-
bau häufig ein (gewichtsbezogener) Anteil an hoch-
forderungen an die Rohkarosserie zu den Anforderungen an die und höchstfesten Blechen von über 50 % realisiert.
Rohkarosseriewerkstoffe, Verein Deutscher Ingenieure, VDI/FVT Seit Beginn der Entwicklung dieser Stahlsorten war
Jahrbuch 2001, Fahrzeug- und Verkehrstechnik, Düsseldorf, eine stetige Festigkeitssteigerung gegenüber unlegier-
2001, S. 90 ff.
[3] N.N.: http://www.project-i.com
ten Stählen bei gleichzeitig besseren Verarbeitungs-
[4] Gotzmann, G.: Hybridtechnologie für den Automobil-Leichtbau, eigenschaften möglich. Heute können diese Stähle bis
mobiles 28, Fachzeitschrift für Konstukteure, Ausgabe 2002/ zu einer Mindestdehngrenze von 500 MPa geliefert
2003, Hamburg, S. 92 f. werden.
[5] Steinhauser, D.: Der Porsche Carrera GT – ein innovatives
Fahrzeugkonzept, mobiles 30, Fachzeitschrift für Konstrukteure,
Ausgabe 2004/2005, Hamburg, S. 6 ff.
Bake Hardening Stähle (Index B)
[6] Friedrich, H. E.: Leichtbautechnologien im Pkw – die Konkur- Unter der Bezeichnung Bake Hardening Stähle wer-
renz von Werkstoffen und Bauweisen nimmt zu, 5. Euroforum-
Werkstofftagung für die Automobilindustrie, Bonn, 17./18. Feb- den Kaltbandstähle geliefert, die bei Raumtemperatur
ruar 1997 alterungsbeständig sind und im Anlieferungszustand
810 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Tabelle 10.2-1 Auszug aus der DIN-EN 10346 „Kontinuierlich schmelztauchveredelte Flacherzeugnisse aus
Stahl“ [4]
Dehngrenze Zugfestigkeit Bruch- Senkrechte Verfestigungs-
Rp0,2 Rm dehnung Anisotropie exponent
MPa MPa A80 r90 n90
%
min. min. min.
Weiche Stähle
DX54D+Z 120 – 220 260 – 350 36 1,6 0,18
DX56D+Z 120 – 180 260 – 350 39 1,9 0,21
DX57D+Z 120 – 170 260 – 350 41 2,1 0,22
Mikrolegierte Stähle
HX260LAD+Z 260 – 330 350 – 430 26 k.A. k.A.
HX340LAD+Z 340 – 420 410 – 510 21 k.A. k.A.
HX420LAD+Z 420 – 520 470 – 590 17 k.A. k.A.
Bake-Hardening Stähle
HX180BD+Z 180 – 240 2 9 0 – 360 34 1,5 0,16
HX260BD+Z 260 – 320 360 – 440 28 k.A. k.A.
HX300BD+Z 300 – 360 400 – 480 26 k.A. k.A.
IF-Stähle
HX180YD+Z 180 – 240 330 – 390 34 1,7 0,18
HX220YD+Z 220 – 280 320 – 400 32 1,2 0,15
HX300YD+Z 300 – 360 390 – 470 27 1,3 0,15
Dualphasen-Stähle
HCT500X+Z 300 – 380 ≥ 500 23 k.A. 0,15
HCT600X+Z 340 – 420 ≥ 600 20 k.A. 0,14
HCT780X+Z 450 – 560 ≥ 780 14 k.A. k.A.
HCT980X+Z 600 – 750 ≥ 980 10 k.A. k.A.
TRIP-Stähle
HCT690T+Z 430 – 550 ≥ 690 23 k.A. 0,18
HCT780T+Z 470 – 600 ≥ 780 21 k.A. 0,16
Complexphasen-Stähle
HCT780C+Z 500 – 700 ≥ 780 10 k.A. k.A.
HCT980C+Z 700 – 900 ≥ 980 7 k.A. k.A.
Martensitphasen-Stähle
(warmgewalzt)
HDT1200M+Z 900 – 1.150 ≥ 1.200 5 k.A. k.A.

eine gute Kaltumformbarkeit infolge einer niedrigen zenerhöhung, der sog. „Bake-Hardening Effekt“
Dehngrenze aufweisen. Sie werden nach einem Ver- (BH), beträgt ca. 40 MPa. Die Mindestdehngrenzen
fahren hergestellt und behandelt, welches eine bedeu- im Anlieferungszustand liegen zwischen 180 und
tende Dehngrenzensteigerung durch eine Warmbe- 340 MPa.
handlung im Niedrigtemperaturbereich (z.B. durch
den Lackeinbrennprozess) zur Folge hat. Es kann also IF-Stähle (Index Y)
bei gleichzeitiger Beibehaltung guter Umformeigen- IF-Stähle werden nach einem Verfahren erzeugt, das
schaften ein erheblich höheres Festigkeitsniveau am eine interstitielle Einlagerung von Legierungselemen-
Fertigteil erreicht werden. Die so erzielte Dehngren- ten verhindert (IF: Interstitial Free). Die Steigerung
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 811

der Festigkeit wird durch Zulegieren von Mangan, müssen möglichst gleichmäßig in die weiche Ferrit-
Silizium und Phosphor zur Ferritmatrix während der matrix eingebettet sein (Bild 10.2-2). Ausgehend von
Stahlerzeugung erreicht. So wird die Tiefziehfähig- einem Austenit-Ferrit Zweiphasengefüge, das beim
keit optimiert. Ein niedriges Re/Rm-Verhältnis und Warmband nach dem Walzende bzw. beim Kaltband
einer hoher Verfestigungsexponent n sorgen für im Durchlaufglühprozess während des Glühens
ausgezeichnete Tiefzieheigenschaften und eine eingestellt wird, erfolgt eine rasche Abkühlung, mit
gleichmäßige Verteilung der Verformung. der die sonst übliche Perlitumwandlung so weit wie
möglich unterdrückt und eine Martensitbildung des
Mehrphasenstähle (Index X, T, C, M) verbliebenen C-angereicherten Austenits erreicht
Für Konstruktionselemente und crashrelevante Struk- wird. So lässt sich bspw. beim DP-Stahl ein Marten-
turteile im Fahrzeugbau sind zunehmend hoch- und sitgehalt von ca. 10 – 20 % mit Zugfestigkeiten von
höchstfeste Stähle von Interesse. Das grundsätzliche 500 – 1.000 MPa erzielen. Weitere Entwicklungen
Problem einer steigenden Werkstofffestigkeit ist da- deuten noch höhere Festigkeiten dieser Werkstoffva-
bei eine naturgemäße Verminderung des Umform- riante an.
vermögens. Hierdurch können die Einsatzmöglichkei- Bei TRIP- und CP-Stählen findet die Austenitum-
ten des Werkstoffes begrenzt sein. wandlung gezielt bei höheren Temperaturen im Be-
Dies führte zu neuen Konzepten, den sog. Mehrpha- reich des Bainits statt. Daher setzt sich das Gefüge
senstählen. Die Festigkeitssteigerung beruht hier auf bei einem Trip-Stahl neben dem Hauptbestandteil
einer Gefügehärtung (structural hardening). In eine Ferrit aus einem Anteil an eingelagertem Bainit und
Matrix bestehend aus weichen, ferritischen Anteilen einem geringen Anteil metastabilen Restaustenits
wird möglichst gleichmäßig verteilt ein härterer zusammen. Dieser Restaustenit wandelt sich erst bei
Gefügeanteil aus einer oder mehreren anderen Phasen einer nachfolgenden Verformung, z.B. dem Tiefzie-
eingebracht. hen, in Martensit um. Bild 10.2-3 zeigt eine schema-
Begonnen hat diese Entwicklung mit den Dualpha- tische Darstellung der Glühbehandlung eines kaltge-
senstählen (DP, Index X), gefolgt von Rest-Austenit/ walzten TRIP-Stahls mit den jeweils entstehenden
TRIP Stählen (TRIP = Transformation Induced Phasen. TRIP-Stähle sind derzeit mit Festigkeiten
Plasticity, Index T). Hinzugekommen sind in jüngster von 700 – 800 MPa verfügbar. Sie weisen gegenüber
Zeit höchstfeste Complexphasenstähle (CP, Index C) DP-Stählen bei vergleichbaren Festigkeiten höhere
und Martensitphasenstähle (MS, Index M). Diese Dehnungen und damit eine bessere Umformbarkeit
decken einen Festigkeitsbereich von ca. 750 – auf, sind jedoch aufgrund der oben beschriebenen
1.200 MPa ab. Erfolgreich eingesetzt werden die CP- anspruchsvollen Prozessführung bei der Erzeugung
und MS-Stähle bereits bei Türaufprallträgern, Stoß- deutlich teurer.
fängerquerträgern, Sitzquerträgern und anderen, CP-Stähle weisen ebenfalls eine sehr feine Gefüge-
crash-relevanten Bauteilen (z.B. Verstärkungen, Säu- struktur gemäß obigem Muster auf. Zusätzlich findet
len). jedoch durch feine Karbid- und/oder Nitridausschei-
dungen eine Ausscheidungshärtung statt. Der Festig-
Herstellung und Gefüge von Mehrphasenstählen
keitsbereich dieser Stähle liegt zwischen 800 und
Wie bereits einleitend erwähnt, basieren die besonde- 1.000 MPa. Aufgrund der vergleichsweise geringen
ren Eigenschaften der Mehrphasenstähle auf ihrer Dehnung ist die Umformbarkeit dieser Werkstoffe
Mikrostruktur. Eine oder mehrere Härtungsphasen allerdings eingeschränkt, so dass hier häufig das Roll-

Zunehmende Festigkeit/Increasing strenght

DP RA CP MS

Ferrit met. Austenit Bainit Martensit Bild 10.2-2 Gefügehärtung


Ferrite met. Austenite Bainite Martensite
bei Mehrphasen-Stählen [3]
812 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Interkritische Glühung
T1 = 770 °C ÷ 830 °C
A F

t1 = 2 ÷ 5 min 25 ÷ 100 K/s


Temperatur

Bainitumwandlung
T2 = 350 °C ÷ 480°C
t2 = 1 ÷ 15 min
ca. 10 K/s A Bild 10.2-3 Schematische
F Darstellung der Glühbehand-
B
lung von kaltgewalzten
ca. 100K/s
TRIP-Stählen mit Angabe
der entstehenden Phasen:
Zeit A = Restaustenit, F = Ferrit,
B = Bainit [2]

formen als formgebendes Verfahren eingesetzt wird nung von 5 %. Daher werden Bauteile aus solchen
(z.B. für Stoßfänger- und Türaufprallträger). Güten, die derzeit nur als Warmband verfügbar sind,
ausschließlich mittels Rollformen hergestellt (z.B.
Eigenschaften von Mehrphasenstählen Türaufprallträger).
Das gute Verformungsverhalten dieser Stähle beruht Der bereits oben beschriebene Bake-Hardening Ef-
auf der überwiegenden Konzentration der plastischen fekt kann auch bei den Mehrphasenstählen beobachtet
Verformung auf die weichere Matrix, speziell zu werden. Eine (Feuer-)Verzinkung im Herstellprozess,
Beginn des Umformprozesses. Im klassischen Zug- also direkt am Coil, der hier beschriebenen Werkstof-
versuch drückt sich ein gutes Verfestigungsvermögen fe ist möglich und aus Korrosionschutzgesichtspunk-
in einem hohen n-Wert (Verfestigungsexponent) bzw. ten, speziell bei reduzierten Blechdicken, auch sinn-
einem niedrigen Streckgrenzenverhältnis Re/Rm aus. voll.
Bei konventionellen höherfesten mikrolegierten Gü- Generell ist festzuhalten: Die Auswahl der einzu-
ten kann die Streckgrenze mehr als 90 % der Zugfes- setzenden Feinblechsorte für ein bestimmtes Festig-
tigkeit betragen. Bei DP-Stählen weist sie dagegen keitsniveau soll mit besonderem Blick auf die
nur ca. 70 % der Zugfestigkeit auf. Dies erleichtert hauptsächlich zu erwartende Umformbeanspruchung
den Umformprozess erheblich. Das Risiko für ein (Streck- oder Tiefziehbeanspruchung) getroffen wer-
partielles Ausdünnen oder gar des Reißens bei den. In einer Kombination von Streck- und Tiefzieh-
schwierigen Umformprozessen wird durch das hohe beanspruchungen haben Stähle mit gleichermaßen
Verfestigungsvermögen dieser Stähle verringert. hohen r- und n-Werten Vorteile [5].
Durch die starke Verfestigung werden trotz niedriger
Ausgangsstreckgrenzen nach der Umformung hohe Literatur
Bauteilfestigkeiten erzielt. [1] Adam, H.; Osburg, B.; Ramm, St.: Die Zukunft der Stahlkarosse-
Noch niedrigere Streckgrenzenverhältnisse und rie – Evolution und Revolution, mobiles 28, Fachzeitschrift für
Konstukteure, Ausgabe 2002/2003, Hamburg, S. 16 ff.
gleichzeitig gute Verfestigungswerte werden mit [2] Bleck, W.: „TRIP-Stähle – Eine neue Klasse hochfester, kaltum-
TRIP-Stählen erreicht. Die mit diesen Stahlsorten, formbarer Stähle“ Studiengesellschaft Stahlanwendung, 30 Jahre
gemessen an ihren Festigkeiten im Bereich von 700 – Forschung für die Stahlanwendung, Düsseldorf, 1998, S. 18
800 MPa, erreichbare Umformbarkeit ist bislang un- [3] Warmband. Qualität in großer Bandbreite, Thyssen Krupp Stahl
AG, Duisburg, April 2002, http://www.thyssen-krupp-stahl.com
übertroffen. [4] DIN EN 10346 Kontinuierlich schmelztauchveredelte Flacher-
CP-Stähle wurden zunächst nur als Warmband mit zeugnisse aus Stahl, Technische Lieferbedingungen, Ausgabe Juli
einer minimalen Dicke von ca. 1,5 mm hergestellt, 2009
mittlerweile sind auch kaltgewalzte Güten verfügbar.
Bislang bekannte Werkstoffe dieser Festigkeitsklasse Weiterführende Literatur
mussten in der Regel warmumgeformt und danach [5] ATZ Special: Karosserie und Bleche 09/2010
vergütet werden. Der Vorteil der CP-Stähle liegt
darin, dass eine Kaltumformung (ohne anschließende
Vergütung) und damit ein erhebliches Kosteneinspa-
rungspotenzial möglich ist.
Wegen des nochmals erhöhten Martensitanteils bieten
MS-Stähle Zugfestigkeiten von ca. 1.200 MPa, aller-
dings bei einer vergleichsweise geringen Bruchdeh-
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 813

Erwärmen auf Umformen und Presshärten Blanke Bauteile: Bauteilbeschnitt mittels


850–950 °C im gekühlten Werkzeug Strahlen Schneidwerkzeug bzw. Laser

Bild 10.2-4 Schematischer Ablauf des direkten Warmumformens [2]

Formhärtbare Stahlwerkstoffe Härteprozess, bestehend aus Erwärmen (Austenitisie-


ren) und Presshärten (Umwandlung in das oben
Die kontinuierlich steigenden Anforderungen an die
beschriebene martensitisch- bainitische Gefüge) im
passive Sicherheit und der damit steigende Bedarf an
gekühlten Werkzeug anschließt. Metallurgisch laufen
höchstfesten Stahlwerkstoffen in crashrelevanten
die gleichen Prozesse ab, wie beim direkten Warm-
Bereichen der Karosserie (z.B. für Seitenaufprallträ-
umformen. Auch beim indirekten Fomhärten müssen
ger, A- und B-Säulen, Schweller, Dachrahmen oder
blanke Bauteile nach dem Härteprozess durch Strah-
Querträger) hat zu einem verstärkten Einsatz von sog.
len von Zunder befreit werden. In der Regel werden
formhärtbaren Stählen und zur Entwicklung eines
beim indirekten Formhärten Halbzeuge mit feuerver-
geeigneten Herstellungsprozesses geführt. Bei den als
zinkten oder galvannealed beschichteten Oberflächen
„Formhärten“ bzw. „Presshärten“ genannten Verfah-
verwendet, die das unkontrollierte Verzundern ver-
ren unterscheidet man prinzipiell zwei mögliche
hindern.
Herstellungswege:
Die durch Formhärten hergestellten Bauteile sind
1. das direkte Warmumformen und aufgrund des Herstellungsprozesses nahezu frei von
2. das indirekte Formhärten. Eigenspannungen, was zu einer hohen Maßhaltig-
Beim direkten Warmumformen (vergl. Bild 10.2-4) keit führt. Folgende Anhaltswerte der mechanischen
wird das ferritisch-perlitische Halbzeug (typischer- Kennwerte für einen 22MnB5 im vollständig gehärte-
weise ein Mangan-Bor-legierter Stahl, z.B. 22 MnB5) ten Zustand können genannt werden:
in einem Durchlaufofen vollständig austenitisiert (T =
Dehngrenze Rp0,2: 950 bis 1.300 MPa
850 – 950 °C). Im nächsten Schritt wird die noch im
Zugfestigkeit Rm: 1.400 bis 1.800 MPa
austenitischen Zustand befindliche Platine in einem
Bruchdehnung A80: ≥ 4,5 %.
gekühlten Werkzeug umgeformt und gleichzeitig
durch den Abkühlvorgang gehärtet (Abkühlgeschwin- Neben einer hohen Festigkeit werden in crashrelevan-
digkeit ca. 30 K/s). Dabei wandelt sich der Austenit ten Bauteilen auch Zonen benötigt, die bei mechani-
in ein Gefüge, bestehend aus angelassenem Martensit, scher Belastung durch plastische Verformung Energie
durchsetzt mit bainitischen Phasenanteilen um. Bei aufnehmen. Daher können neben den vollständig
blanken Bauteilen ist im Anschluss ein Strahlen zur gehärteten Bauteilen auch partiell gehärtete Bautei-
Entfernung des Zunders erforderlich, bevor der Be- le/tailored Tempering Bauteile oder Bauteile als
schnitt erfolgen kann. Bei feueraluminierten Oberflä- tailored welded Blanks (z.B. die Kombination aus
chen bzw. Oberflächen mit einer Nano-X Beschich- einem härtbaren Stahl mit einem Tiefziehstahl) her-
tung ist kein Strahlen erforderlich [1]. Der Beschnitt gestellt werden. Beim partiellen Formhärten wird das
kann bei dünnen Bauteilen bis 1 mm Dicke durch ein Werkzeug je nach gewünschten Eigenschaften so-
Schneidwerkzeug oder bei dickeren Bauteilen mit wohl gekühlt, als auch temperiert. Dadurch kommt es
einem Laser erfolgen. beim Presshärten in den wärmeren Bereichen des
Beim indirekten Formhärten (vgl. Bild 10.2-5) wird Werkzeugs zu einer langsameren Abkühlung, so dass
die Platine im weichen Ausgangszustand zunächst die Umwandlung in Martensit nicht vollständig
kaltumgeformt. Dann erfolgt bereits der Beschnitt der erfolgt und das Bauteil entsprechend duktile Zonen
Bauteile auf Endkontur, bevor sich der eigentliche aufweist.

Kaltumformung Bauteilbeschnitt mittels Erwärmen auf Presshärten Strahlen


Schneidwerkzeug bzw. Laser 850–950 °C im gekühlten Werkzeug

Bild 10.2-5 Schematischer Ablauf des indirekten Formhärtens [2]


814 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Neben Platinen können auch Rohre oder Profile ent- ten mit Zugfestigkeiten größer 350 MPa (EN-GJS-
sprechend der oben genannten Verfahrensprinzipien 350-22) bis zu Zugfestigkeiten größer 900 MPa (EN-
hergestellt werden. GJS-900-2) zum Einsatz. Verwendung findet Sphäro-
Die Verfahrenstechnik ist bereits bei einer Vielzahl guss im Kraftfahrzeug bei Ausgleichsgetriebegehäu-
von Bauteilen im Einsatz. sen, Pleueln, Achsschenkeln, Schwungrädern, Aus-
rückhebeln und Kurbelwellen.
Literatur Bainitisches Gusseisen unterscheidet sich in die
[1] Winkel, J.: Die Gesamtbilanz zählt beim Presshärten, Blech Gruppen
InForm, Varl Hanser Verlag München 2006 − Bainitisch-austenitisches Gusseisen mit Kugelgra-
[2] Lenze: Herstellung von Karosseriebauteilen aus warmgeformten
höchstfesten Stahlwerkoffen, Präsentation der ThyssenKrupp phit
Steel, Erlangen 2006 − Bainitisches Gusseisen mit Kugelgraphit
[3] Geiger, M.; Merklein, M.: 1. Erlanger Workshop Warmblechum- − Austempered Ductile Iron, ADI (Bezeichnung
formung 2006, Berichts- u. Industriekolloquium der DFG-
nach dem Warmbehandlungsverfahren, angelsäch-
Forschergruppe FOR 552
[4] Goppelt: Gusseisen mit ausgezeichneten Materialeigenschaften sischer Sprachgebrauch)
für Leichtbau. ATZ/MTZ-Sonderausg. 107 (2005) 11, Werkstof- − Austenitisch-ferritisches Gusseisen mit Kugelgra-
fe im Automobilbau phit (Bezeichnung nach dem Gefüge der metalli-
[5] Radebach: Moderne Gusseisen Werkstoffe für leichte und
schen Grundmasse „Ausferrite“) [1].
effiziente Downsizing Motoren. MTZ 70 (2009) 2
Im Folgenden wird auf die Qualität ADI bzw. Aus-
tenitisch-ferritisches Gusseisen mit Kugelgraphit ein-
gegangen, eine neue Entwicklung im Bereich bainiti-
sches Gusseisen. Diese neue Gusseisensorte zeichnet
Gusseisen sich durch eine günstige Kombination von Festigkeit,
Zähigkeit, Dämpfungsfähigkeit und Verschleißbestän-
Bei Gusseisen handelt es sich um Eisen-Kohlenstoff- digkeit aus. ADI wird durch eine Vergütungsbehand-
Legierungen mit mindestens 2 % Kohlenstoff sowie lung von hochwertigen Gussstücken aus Gusseisen
weiteren Legierungselementen, vor allem Silizium. mit Kugelgraphit hergestellt. Das Gussstück wird auf
Man unterscheidet: eine Temperatur von 840 bis 950 °C erhitzt, zur
− Gusseisen mit Lamellengraphit (DIN EN 1561) Austenitisierung auf dieser Temperatur gehalten und
− Gusseisen mit Kugelgraphit (DIN EN 1563) dann auf die Umwandlungstemperatur in der Bai-
− Gusseisen mit Vermiculargraphit nitstufe von 230 bis 450 °C rasch abgekühlt [2]. Die
− Tempergusseisen (DIN EN 1562) Grundmasse von ADI besteht aus nadligem Ferrit in
− Austenitisches Gusseisen (DIN EN 1564) einer Matrix aus hochgekohltem, stabilisiertem Auste-
− Hartguss nit, auch als Ausferrit bezeichnet. Dieses Gefüge hat
− Verschleißbeständiges legiertes Gusseisen mit dem bei Stahl vorliegenden Bainit nur entfernte
(DIN 1695) Ähnlichkeit.
− Bainitisches Gusseisen (DIN EN 1564) Es wird in vier Qualitäten mit mindestens 800 MPa
Zugfestigkeit (EN-GJS-800-8) bis mindestens 1.400
Gusseisen mit Lamellengraphit, auch als Grauguss
MPa Zugfestigkeit (EN-GJS-1400-1) unterschieden.
bezeichnet, ist mit Abstand der am meisten vergosse-
Typische Bauteile für diesen Werkstoff sind Achsge-
ne Gusswerkstoff. Es kommen verschiedene Qualitä-
häuse, Radnaben, Zahnkränze und Kurbelwellen.
ten mit Zugfestigkeiten von 100 – 200 MPa (EN-GJL
100) bis zu Zugfestigkeiten von 350 – 450 MPa (EN- Literatur
GJL-350) zur Anwendung.
[1] Konstruieren + Gießen 22 (1997) Nr. 3
Einige Gründe, den Werkstoff Grauguss zu wählen,
[2] Gießerei Praxis Nr. 3/4-1996, Bainitisches Gusseisen mit Ku-
sind der relativ niedrige Kilopreis, die leichte Her- gelgraphit im Vergleich zu anderen Konstruktionswerkstoffen,
stellbarkeit, die guten gießtechnischen Eigenschaften, S. 71 f.
die gute Bearbeitbarkeit, eine im Verhältnis zur Zug-
festigkeit hohe Druck- und Biegewechselfestigkeit, die
Unempfindlichkeit gegen höhere und tiefere Tempera-
turen sowie gegen Temperaturwechsel, die Unempfind-
lichkeit gegen Kerben, das gute Dämpfungsverhalten
und die guten Notlaufeigenschaften. Einsatz im Kraft-
fahrzeug u.a. bei Bremsscheiben, Motorblöcken und als 10.2.2.1.2 Leichtmetalle
Schalenhartguss bei Nockenwellen.
Hochfeste Aluminiumlegierungen
Gusseisen mit Kugelgraphit, auch als Sphäroguss
bekannt, hat gegenüber Gusseisen mit Lamellengra- Insbesondere im Fahrwerk konzentriert sich die
phit den Vorzug einer höheren Zugfestigkeit und vor Entwicklung auf hochfeste und gleichzeitig hochzähe
allem einer höheren Duktilität. Es kommen Qualitä- Legierungen. Im Folgenden sollen zwei typische
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 815

Tabelle 10.2-2 Chemische Zusammensetzung der Legierung AlMg5Si2Mn (Massenanteil in %)

Si Fe Cu Mn Mg Zn Ti andere

einzeln gesamt

min. 1,8 0,4 4,7

max. 2,6 0,25 0,05 0,8 6,0 0,07 0,25 0,05 0,15

Vertreter dieser Legierungen kurz vorgestellt und Karosserien, Naben für Speichenräder mit eingegos-
charakterisiert werden. senem Stahl und Bremsringe.
„Magsimal-59“, chemische Bezeichnung ENAC- „Silafont 36“ (Fa. Rheinfelden), chemische Bezeich-
AlMg5Si2Mn, ist ein von der Fa. Rheinfelden entwi- nung AlSi9MgMnSr, ist eine duktile Druckgusslegie-
ckelter innovativer Gusswerkstoff für Druckguss und rung mit geringem Eisengehalt, eine Weiterentwick-
Squeeze Casting, (siehe Kap. 10.2.5), der im Gusszu- lung auf Basis des bekannten Werkstoffs AlSi9Mg,
stand (Bezeichnung F) hohe Festigkeit bei höchster Tabelle 10.2-3.
Bruchdehnung besitzt. In Tabelle 10.2-2 ist die Werk- Der Richtwert für Silizium wird mit 10,5 % angege-
stoffzusammensetzung nach DIN EN 1706:2010-06 ben, womit die Legierung gut gießbar ist und ein
wiedergegeben [1]. gutes Formfüllungsvermögen aufweist. Der Eisen-
In vielen Fällen ist eine Wärmebehandlung der Guss- Gehalt wurde so niedrig wie möglich eingestellt, um
stücke nicht mehr notwendig. Trotzdem werden den Anteil der meist plattenförmig vorliegenden
nahezu die gleichen Festigkeitseigenschaften einer AlFeSi-Phasen möglichst gering zu halten. Diese
vergleichbaren Warmaushärtung T6, bei gleichzeitig Phasen sind wesentliche Ursache für niedrige Festig-
hervorragenden Dehnungswerten, erreicht. keits- und Dehnungswerte.
Die mechanischen Eigenschaften der Druckguss- und Zur Erhöhung der Gestaltfestigkeit und zur Verringe-
Squeeze Casting-Bauteile hängen von den Abküh- rung der Klebeneigung des Bauteils in der Form
lungsgeschwindigkeiten und den erzielbaren Dendri- wurde der Mangangehalt auf rund 0,65 % angeho-
tenabständen in den einzelnen Bauteilabschnitten und ben. Mangan besitzt bei der Herabsetzung der
damit von den Wandstärken und der Werkzeugtempe- Klebeneigung die gleiche Wirkung wie Eisen. Da-
ratur ab. Bis 4 mm Wandstärke liegen im Gusszustand mit die Siliziumphase bereits im Gusszustand fein
gute Streckgrenzen- (Rp 0,2), Zugfestigkeits- (Rm) und verteilt vorliegt, ist die Legierung mit Strontium
Dehnungswerte (A5) vor. Mit zunehmenden Wandstär- dauerveredelt. Die mechanischen Eigenschaften wer-
ken bis 12 mm ist neben Zugfestigkeit und Dehnung vor den durch die Höhe des Magnesiumgehaltes einge-
allem die Streckgrenze von einem Abfall betroffen. stellt [3].
Bei 5 % Bruchwahrscheinlichkeit beträgt die Dauer- Niedriger Magnesiumgehalt bedeutet hohe Dehnung
festigkeit für den Zustand „F“ 100 MPa (Bild 10.2-6). bei geringer Festigkeit, und umgekehrt bedeutet
Im Vergleich dazu hat AlSi7MgT6 Kokillenguss hoher Magnesiumgehalt hohe Festigkeit, bei geringe-
warmausgehärtet, unter gleichen Prüfbedingungen rer Dehnung.
geprüft, 93 MPa Dauerfestigkeit. Da auf eine Wär- Die mechanischen Eigenschaften für die verschiede-
mebehandlung bei der Verwendung von „Magsimal- nen Behandlungszustände sind in Tabelle 10.2-3 dar-
59“ verzichtet werden kann, können diese Teile gestellt [4].
kostengünstig hergestellt werden. Durch Variieren der Auslagerungstemperatur und der
Mögliche Anwendungsbeispiele sind Lenkradske- Auslagerungszeit können Dehnungs- und Festigkeits-
lette, Fahrwerksträger, Gussknoten für Space Frame werte gezielt beeinflusst werden (Bild 10.2-7) [2].

Tabelle 10.2-3 Mechanische Eigenschaften von „Silafont 36“ in Abhängigkeit vom Behandlungszustand

Werkstoff- Rp0,2 Rm A5 HB 5/250-30


zustand [MPa] [MPa] [%]
F 120 – 150 250 – 290 5 – 10 75 – 95
T4 95 – 140 210 – 260 15 – 22 60 – 75
T5 155 – 245 275 – 340 4–9 90 – 110
T6 210 – 280 290 – 340 7 – 12 100 – 110
T7 120 – 170 200 – 240 15 – 20 60 – 75
816 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

200 Belastungsfall R = –1

175
5% 50% 95% Bruchwahrscheinlichkeit
150
Spannung in MPa

125

100
Bild 10.2-6 Wöhlerkurven
75 für die Legierung
50 AlMg5Si2Mn (Magismal-
59) im Gusszustand.
25 Bem.: Idealisiert dargestellt!
0 In der Praxis erkennt man
104 105 106 107 108 einen leichten Abfall der
Belastungszyklen
Dauerfestigkeit

320 Die Unterschiede sind allerdings nicht sehr groß, was


Rm zeigt, dass die Dauerfestigkeit nicht vom
16
Warmbehandlungszustand abhängt. Im Zustand F
280
wird eine Dauerfestigkeit von 89 MPa erreicht [2].
Bruchdehnung A5 in %
Festigkeit in MPa

Rp0,2 12 Die neue Legierung wird bereits für eine Vielzahl von
240 Gussteilen (z.B. Lenkradskelette, Gussknoten für
„Space-Frame“, Integralträger und Fahrzeugtürrah-
8
200 A5 men) eingesetzt [2].
Die Entwicklung duktilerer Aluminium-Legierungen
160 4 ist bereits soweit fortgeschritten, dass ganze Bauteile
(wie z.B. B-Säule im Audi A8) komplett aus Alumi-
nium in Serie druckgegossen werden können. Durch
120 0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 Absenken des Silizium-Gehaltes auf 4 % in Kombina-
Auslagerungszeit in h tion mit einem Magnesium-Gehalt zwischen 0,1 und
0,2 % können Bruchdehnungswerte von 16 – 20 % bei
Bild 10.2-7 Mechanische Eigenschaften als Funktion einer Dehngrenze von 100 – 220 MPa erreicht werden
der Auslagerungszeit. Mg-Gehalt 0,3 %, Wärmebe- (AlSi4Mg2Mn). Durch Zugabe von Kupfer konnte
handlung: 490 °C/3 h; Abschreckung in Wasser; Aus- die Dehngrenze zusätzlich gesteigert werden. Höhere
lagerungstemperatur: 170 °C Anforderungen an die Festigkeit im Gusszustand
wurden durch Anhebung des Magnesium-Gehaltes
Bei 5 % Bruchwahrscheinlichkeit liegt die höchste erreicht.
Dauerfestigkeit im Gusszustand F vor, gefolgt von
den Zuständen T4 und T6 (Bild 10.2-8). Magnesium-Legierungen
Magnesium ist mit einer Dichte von etwa 1,74 kg/
400 Belastungsfall R = –1 dm3 der leichteste aller metallischen Werkstoffe.
5% Bruchwahrscheinlichkeit Magnesium wurde bereits vor 80 Jahren erfolgreich
Spannungsamplitude in MPa

Silafont-36 als Konstruktionswerkstoff im Fahrzeug- und Flug-


300
zeugbau eingesetzt. Bereits im VW Käfer steckten
über 17 Kilogramm Magnesiumlegierungen – für
200 F
T4
Kurbelgehäuse, Getriebegehäuse, Lichtmaschinenarm
T6 und andere Bauteile. Wegen der geringen Wärme-
100 und Korrosionsbeständigkeit wurde lange Zeit der
Einsatz von Magnesium im Automobilbereich be-
0 grenzt. Erst als es Mitte der 80er-Jahre gelang, reinere
104 105 106 107 108
Belastungszyklen in n und damit korrosionsbeständigere Legierungen her-
zustellen, gewann Magnesium, auch aufgrund eines
Bild 10.2-8 Wöhlerkurven von „Silafont 36“ unter fallenden Material- bzw. Halbzeugpreises und inte-
Berücksichtigung der Wärmebehandlung; Bem.: ressanter Eigenschaften, wie hoher spezifischer Ener-
Idealisiert dargestellt! In der Praxis erkennt man gieaufnahmefähigkeit und wirtschaftlichen Recyc-
einen leichten Abfall der Dauerfestigkeit lingpotenzials, wieder an Bedeutung.
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 817

Ergänzend muss jedoch erwähnt werden, dass das HP – high purity (hochrein) bedeutet eine starke
Problem der Kontaktkorrosion dieser Legierungen Absenkung der Schwermetallanteile Eisen, Nickel
nicht gelöst wurde und durch einen entsprechenden und Kupfer und eine damit im Vergleich zu her-
Oberflächenschutz und eine abgestimmte Verbin- kömmlichen Magnesiumlegierungen verbesserte
dungstechnik berücksichtigt werden muss. Korrosionsbeständigkeit.
Komplexe Bauteile mit unterschiedlichen, variablen Beide Legierungen sind mit der Bezeichnung EN-
Wanddicken werden heute aus Magnesium-Walzplat- MCMgAl9Zn1(A) und EN-MCMgAl8Zn1 in der
ten durch spanende Bearbeitung mit geringen Schnitt- DIN EN 1753:1997-08 aufgeführt. In Abhängigkeit
kräften und -momenten gefertigt. Hierbei sind aller- vom Gießverfahren und vom Behandlungszustand
dings besondere Arbeitsvorschriften zu berücksichti- werden für die Legierungen MgAl9Zn1(A) und
gen, um der leichten Entflammbarkeit der Magnesium- MgAl8Zn1 die in Tabelle 10.2-4 aufgeführten, me-
Stäube und -Späne entgegen zu wirken [5, 6]. chanischen Werkstoffeigenschaften erzielt.
Rund 90 % aller Magnesiumbauteile werden wegen Diese Legierungen kommen vor allem bei Druck-
der hervorragenden Gießeigenschaften von Magne- gussteilen, wie z.B. Deckeln und Zylinderkopfhau-
sium als Gussbauteile hergestellt. Aber auch als ben, zum Einsatz.
Schmiede-, Strangpress- oder Blechbauteil hält Mag- AM60HP (MgAl6HP) und AM50HP (MgAl5HP) sind
nesium in der Karosserie Einzug und kann gegenüber ebenfalls High Purity Mg-Legierungen. Sie zeichnen
einer bereits gewichtsoptimierten Al-Bauweise das sich durch hohe Festigkeit und Dehnung, verbunden
Gewicht der Komponenten um weitere 15 – 20 % mit guter Gießbarkeit aus. Beide Legierungen sind
reduzieren [7]. mit der Bezeichnung EN-MCMgAl5Mn und EN-
MCMgAl6Mn in der DIN EN 1753:1997-08 aufge-
Magnesium für Gussbauteile führt.
AZ91HP (MgAl9Zn1HP) und AZ81HP In Tabelle 10.2-5 sind die in Abhängigkeit von
(MgAl8Zn1HP) sind Magnesiumgusswerkstoffe mit Gießverfahren und Behandlungszustand erzielbaren
guten Festigkeitseigenschaften, guter Korrosionsbe- mechanischen Werkstoffeigenschaften aufgeführt.
ständigkeit und sehr guter Gießbarkeit. Der Zusatz Diese Legierungen eignen sich sehr gut zur Herstel-

Tabelle 10.2-4 Mechanische Werkstoffeigenschaften von Magnesium-Gusslegierungen


Legierung Gieß- Zustands- Zugfestigkeit 0,2 %-Grenze Bruchdehnung Brinellhärte
verfahren bezeichnung [MPa] [MPa] [%] [HB-5/250] 2
min. min. min.
MgAl9Zn1(A)1 Druckguss –F 200 – 260 140 – 170 1–6 65 – 85
Kokillen- –F 160 110 2 55 – 70
guss
– T4 240 120 6 55 – 70
– T6 240 150 2 60 – 90
Sandguss –F 160 90 2 50 – 65
– T4 240 110 6 55– 70
– T6 240 150 2 60 – 90
MgAl8Zn11 Druckguss –F 200 – 250 140 – 160 1–7 60 – 85
Kokillen- –F 160 90 2 50 – 65
guss
– T4 240 90 8 50 – 65
Sandguss –F 160 90 2 50 – 65
– T4 240 90 8 50 – 65
1
Übereinstimmung nach DIN EN 1753:1997-08; die angegebenen Werte gelten für gesondert gegossene Proben; bei Druckguss handelt es sich nur
um Anhaltswerte
2
Anhaltswerte nach DIN EN 1753:1997-08
818 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Tabelle 10.2-5 Mechanische Werkstoffeigenschaften von Mg-Gusslegierungen in Abhängigkeit von Gießver-


fahren und Behandlungszustand

Legierung Gieß- Zustands- Zugfestigkeit 0,2 %- Grenze Bruchdehnung Brinellhärte


verfahren bezeichnung [MPa] [MPa] [%] [HB-5/250] 2
MgAl6Mn1 Druckguss –F 190 – 250 120 – 150 4 – 14 55 – 70
1
MgAl5Mn Druckguss –F 180 – 230 110 – 130 5 – 15 50 – 65
1
Übereinstimmung nach DIN EN 1753:1997-08; die angegebenen Werte gelten für gesondert gegossene Proben; bei Druckguss handelt es sich nur
um Anhaltswerte
2
Anhaltswerte nach DIN EN 1753:1997-08

lung von Sitzteilen (z.B. DaimlerChrysler), Instru-


mententafelträger, Räder, Cabrio-Verdeckgestellen
(Porsche: Boxster und 911 Carrera) und Lenkradske-
letten, die in Druckguss gefertigt werden.
Im Antriebsbereich ist neben guten mechanischen
Eigenschaften oft eine hohe Kriechfestigkeit gefor-
dert. Diese wird durch Zugabe von Metallen der
seltenen Erden zur Magnesiumlegierung erzielt. Bei
AE44 (MgAl4RE4) beispielsweise handelt es sich um
eine höher kriechfeste, von Hydro Magnesium entwi-
ckelte, Druckgusslegierung. Die Legierung zeichnet
sich weiter durch eine hohe Duktilität und eine gute
Korrosionsbeständigkeit aus und kommt bei ther-
misch höher beanspruchten Bauteilen, wie Ölfüh-
rungsgehäusen, Ölwannen und Ventildeckeln, zum
Einsatz.
Faser- bzw. partikelverstärkte Aluminium- und Mag-
nesiumverbundwerkstoffe, deren Hauptvorteile in der Bild 10.2-9 Felge des Porsche Carrera GT
Erhöhung von Zugfestigkeit, Streckgrenze, E-Modul
und Warmfestigkeit erwartet werden, sind in Ent- Literatur
wicklung, kommen aber derzeit aus Kostengründen in
[1] DIN EN 1706 Ausg. Juni 2010 Aluminium und Aluminiumlegie-
Großserie noch nicht zum Einsatz. rungen – Gussstücke – Chemische Zusammensetzung und me-
chanische Eigenschaften
Magnesium für Schmiedebauteile [2] Hielscher, U.; Sternau, H.; Koch, H.; Franke, A. J.: Duktile
Im Porsche Carrera GT kamen zum ersten Mal in Druckgusslegierung mit geringem Eisengehalt, Gießerei 82
(1995) Nr. 15, S. 517 – 523
einem Serienfahrzeug Felgen aus Magnesium (Bild [3] Hielscher, U. u.a.: Gießerbrief Nr. 5, (1997) S. 1
10.2-9) [8] zum Einsatz, die als Rohlinge im Schmie- [4] Verarbeitungsmerkblatt Silafont-36, Fa. Rheinfelden
deverfahren hergestellt wurden. Das spezielle Verfah- [5] Miller, F.: Leichtbau, Fraunhofer Magazin 4.2002, Fraunhofer-
ren verbessert das Dauerfestigkeitsverhalten des Gesellschaft, München, 2002, S. 8 ff., http://www.fraunhofer.de/
magazin.
Werkstoffs und ermöglicht eine 25 prozentige Ge- [6] Hausberg, K.; Götzinger, B.; Friesenbichler, Th.: Entwicklung
wichtseinsparung gegenüber Rädern in Aluminium- eines Stoßfängerquerträgers mit Crashboxen aus Magnesium,
Gusstechnik. Allerdings sind bedingt durch das mobiles 28, Fachzeitschrift für Konstrukteure, Ausgabe 2002/
Fertigungsverfahren im Vergleich zu Gussbauteilen 2003, Hamburg, S. 58 ff.
[7] Friedrich, H. E.: Leichtbau und Werkstoffinnovationen im Fahr-
Designmöglichkeiten – wie z.B. Hinterschnitte – zeugbau, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, S. 258 ff., 03/2002
eingeschränkt. [8] Steinhauser, D.: Der Porsche Carrera GT – ein innovatives
Verwendet wird die Magnesium-Knetlegierung Fahrzeugkonzept, mobiles 30, Fachzeitschrift für Konstrukteure,
AZ80A (MgAl8Zn) mit einer Zugfestigkeit im Bereich Ausgabe 2004/2005, Hamburg, S. 6 ff.
von 290–320 MPa und einer Bruchdehnung A5 von Weiterführende Literatur
etwa 5–12 %. Zur Reduzierung der Korrosionsemp-
[9] Eibisch, H.; Hartmann, M.; Singer, R.: Herstellung und Eigen-
findlichkeit wird das Rad zuerst geschliffen, anodisiert,
schaften von Kohlenstofflangfaserverstärktem Magnesium im
KTL-beschichtet und anschließend lackiert. Bei der Druckguss, 3. Ranshofener Leichtmetalltage 2004, 23. – 25. Juni
Auslegung des Bauteils ist besonders durch Vermei- 2004, Ranshofen (Österreich), veröffentlicht in Druckguss-
dung scharfer Kerben und Kanten der Kerbempfind- Praxis, Vol. 6, S. 255 – 260, Schiele & Schön Verlag, 2004
[10] Mordike, B., Wiesner, P.: Fügen von Magnesiumwerkstoffen,
lichkeit des Werkstoffs entgegenzuwirken. Auch zur
Fachbuchreihe Schweißtechnik 147, 2005
Vermeidung der Kontaktkorrosion ist eine galvanische [11] Lerch: Leicht und fest: Leichtmetalle im Auto Autotech. 4
Trennung zu verschiedenen Anbauteilen notwendig. (2004) 9
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 819

[12] Innovativer Werkstoffleichtbau in der Rohkarosserie. ATZ/ beträgt 2.000 mm. Magnesiumblech ist aktuell in
MTZ-Sonderausgabe 110 (2008) 11 Der neue BMW 7er
einer Stärke ab 0,4 mm erhältlich.
[13] Eigenschaften und Verarbeitung hochfester Aluminiumbleche.
ATZ/MTZ-Sonderausgabe 68 (2007) 1 Werkstoffe im Automo- Die Blechfertigungsroute über die Herstellung von
bilbau Rohren und das anschließende Aufspalten zu Blechen
ist gerade in der Entwicklung.
Magnesium für Blechbauteile Bei der Weiterverarbeitung der Bleche müssen die
Die Leichtbau- und Verbrauchsdiskussion hatte in Eigenschaften des Magnesiums beachtet werden.
den letzten Jahren auch die konsequente Weiterent- Aufgrund der hexagonalen Gitterstruktur verfügt
wicklung der Magnesium-Blechherstellung zur Folge. Magnesium – wie Titan auch – nur über eine Gleit-
Das Potenzial lässt sich besonders bei großformatigen ebene und bietet daher bei 3 Gleitrichtungen nur
dünnwandigen Blechbauteilen entfalten. Betrachtet 3 Gleitsysteme (im Vergleich dazu hat Aluminium
man die dichteabhängigen Leichtbaufaktoren, so hat 12 Gleitsysteme). Dies bedeutet, dass Magnesium
Magnesium-Blech bei gleichem Bauteilgewicht eine grundsätzlich bei Raumtemperatur ein geringes
1,35-fache Biege- und Beulsteifigkeit im Vergleich Formänderungsvermögen und eine hohe Kerbemp-
zu Aluminium. Eine Gewichtseinsparung von 20 – findlichkeit hat. Erst durch ein temperiertes Tiefzieh-
30 % ist somit prinzipiell möglich [9]. verfahren können in dem hexagonalen Kristallaufbau
Aktuell werden drei Fertigungsrouten für Magnesi- weitere Gleitsysteme aktiviert und so die Umform-
umblech verfolgt: barkeit deutlich verbessert werden. Abhängig von
der Legierung, der Gefügestruktur und -morphologie
1) Gießwalzen liegt die Umformtemperatur zwischen 150 °C und
2) Warmwalzen aus der Bramme 250 °C.
3) Herstellung von Rohren und Aufspalten zu Blech Im Carrera GT setzte Porsche als erster Hersteller
Das Verfahren des Gießwalzens ist schon vom Werk- Magnesiumblech im Sichtbereich des Fahrers in der
stoffen Stahl und Aluminium bekannt. Das Produk- Mittelkonsole ein [11]. Als zweischalige Bauweise
tionsverfahren auf Magnesiumbleche und Bänder zu mit Laserlötung wurde zum einen der Gewichtsanfor-
übertragen, bietet die Möglichkeit, Flachprodukte für derung, zum anderen den optischen und haptischen
Umformanwendungen zukünftig noch wirtschaftli- Qualitätsansprüchen durch Einsatz von Magnesium
cher zu machen. Dabei liegt der wesentliche Vorteil Rechnung getragen. Verwendet wird die Legierung
gegenüber dem konventionellen Warmwalzen im AZ 31 mit einer Zugfestigkeit zwischen 240 und
Einsatz von kostengünstigerem Rohmaterial und dem 260 MPa.
Wegfall der Walzschritte von der Bramme bis zur Die Entwicklung von Magnesium-Blechen wird
Platine. Die aktuell verfügbare Blechbreite liegt bei ferner seit Oktober 1998 durch das BMBF gefördert.
700 mm, die auch als Coil verfügbar ist [10]. Groß- An dieser Stelle werden einige wichtige Verbundvor-
formatige Tafeln können durch Längs- und Querwal- haben kurz erwähnt: Im Vorhaben „Entwicklung von
zen oder durch das Zusammenschweißen zu Tailored Umformtechnologien für die Verarbeitung von Walz-
Blanks gefertigt werden. produkten aus Magnesiumlegierungen“ wurden die
Beim konventionellen Warmwalzen wird das Magne- ersten Grundlagen zum Umformen von Magnesium
siumblech aus stranggegossenen Brammen erzeugt. gelegt. Im Jahre 2001 folgte dann das Projekt „Ein-
Die Ausgangsbramme der Stärke 120 mm wird in fluss thermomechanischer Behandlungen auf die
etwa 15 Walzvorgängen auf eine Dicke von 2 mm Entwicklung von Mikrostrukturen und Texturen
heruntergewalzt. Die aktuell verfügbare Blechbreite sowie auf das Ermüdungsverhalten von Magnesium-

Weight SLC BIW: 180 kg Materials


Aluminium sheet
Aluminium cast
Aluminium extrusion
Steel
Hot-formed steel
Magnesium
Glasfibre thermoplastic

Percent by weight
Aluminum 96 kg (53 %)
Steel 66 kg (36 %)
Magnesium 11 kg (7 %)
Plastics 7 kg (4 %)

Bild 10.2-10 Magnesiumeinsatz im SLC-Projekt [12]


820 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

knetlegierungen“. Im folgenden Vorhaben ULM Weiterführende Literatur


(Ultra-Leichtbauteile aus Magnesium) wird eine [13] Eibisch, H.; Hartmann, M.; Singer, R.: Herstellung und Eigen-
Magnesiumblechstruktur für die Verkehrstechnik ent- schaften von Kohlenstofflangfaserverstärktem Magnesium im
wickelt. Im Projekt MIA (Magnesium im Automobil) Druckguss, 3. Ranshofener Leichtmetalltage 2004, 23. – 25. Juni
konzentriert sich die Entwicklung auf die Herstellung 2004, Ranshofen (Österreich), veröffentlich in Druckguss-Praxis,
Vol. 6, S. 255 – 260, Schiele & Schön Verlag, 2004
von Fahrzeugkomponenten aus Mg-Knetlegierungen [14] Mordike, B.; Wiesner, P.: Fügen von Magnesiumwerkstoffen,
als Schmiede-, Strangpress- oder Blechbauteile. Den Fachbuchreihe Schweißtechnik 147, 2005
Abschluss der Reihe bildet das Projekt M³ (Mobil mit
Magnesium), in dem die neuen Werkstoffkonzepte
und Fertigungsrouten auf der Magnesiumblech-Halb-
zeugseite mit anwendungsbezogenen Weiterverarbei-
Zink im Kraftfahrzeug
tungsstrategien zusammenzuführen wurden, um die
Darstellung von Hochleistungsprodukten mit Magne- Laut einer Studie der International Zinc Association
siumblech innerhalb technisch gesicherter Prozessket- enthalten Pkws aus Japan, Europa und den USA im
ten mit nachhaltiger Einsatzperspektive zu ermög- Schnitt 10,2 kg Zink. Davon entfällt mit 4,9 kg der
lichen. Parallel dazu wurde 2005 das von der EU größte Teil auf Zinkdruckgussbauteile, etwa 3 kg
geförderte Projekt SLC (Super Light Car) gestartet, in befinden sich als Korrosionsschutzschicht auf Stahl-
dem ein Magnesium-Dach entwickelt wurde (Bild bauteilen und ein geringer Anteil (ca. 0,5 kg) als
10.2-10). Aktivator in dem für Reifen eingesetzten Gummi
Die vorhandenen Herausforderungen im Bereich der (siehe Bild 10.2-11). Zink bietet aufgrund seiner
Fügetechnik und Korrosion konnten durch anwen- Vielseitigkeit ein breites Spektrum von Einsatzmög-
dungsspezifisch differenzierte Konzepte im Rahmen lichkeiten im Kraftfahrzeug. Darüber hinaus kann
der geförderten Forschungsprojekte gelöst werden. Zink problemlos rezykliert werden.
Aufgrund der aktuellen Preisentwicklung von Mag-
nesium-Blech (bis 700 mm unter 10 Euro pro Kilo- Verzinkte Stahlbleche
gramm Blech) wird ein steigender Einsatz im Fahr- Bereits seit Anfang der 70er Jahre wird Zink als
zeug erwartet. Korrosionsschutz bei Stahlblechen im Kraftfahrzeug-
bau eingesetzt. Seit dieser Zeit wurde das Spektrum
Literatur an verfügbaren Stählen enorm erweitert, so dass heute
[1] Hielscher, U.; Sternau, H.; Koch, H.; Klos, R.: Neuentwickelte weiche und gut umformbare Güten bis hin zu höher-
Druckgusslegierung mit ausgezeichneten mechanischen Eigen- und höchstfesten Stählen in Kraftfahrzeugen zum
schaften im Gusszustand, Gießerei 85 (1998) Nr. 3, S. 62 – 65 Einsatz kommen. In gleichem Maße wurde auch der
[2] Hielscher, U.; Sternau, H.; Koch, H.; Franke, A. J.: Duktile
Druckgusslegierung mit geringem Eisengehalt, Gießerei 82 Einsatz von Zink als Schutzschicht auf diesen Stählen
(1995) Nr. 15, S. 517 – 523 weiterentwickelt, so dass heute nahezu jede Stahlsor-
[3] Hielscher, U., u.a.: Gießerbrief Nr. 5 (1997) S. 1 te mit einer Zinkschutzschicht verfügbar ist. Die
[4] Verarbeitungsmerkblatt Silafont-36, Fa. Rheinfelden Schutzwirkung ist dabei auf den kathodischen Korro-
[5] Miller, F.: Leichtbau, Fraunhofer Magazin 4.2002, Fraunhofer-
Gesellschaft, München, 2002, S. 8 ff., http://www.fraunhofer.de/ sionsschutz des Zinks auf dem Stahl zurückzuführen.
magazin. Das unedlere Zink geht bei korrosiver Belastung in
[6] Hausberg, K.; Götzinger, B.; Friesenbichler, Th.: Entwicklung Lösung und schützt so das darunter liegende Stahl-
eines Stoßfängerquerträgers mit Crashboxen aus Magnesium, blech vor Korrosion.
mobiles 28, Fachzeitschrift für Konstrukteure, Ausgabe 2002/
2003, Hamburg, S. 58ff. Bei Stahlblechen für die Kraftfahrzeugindustrie
[7] Friedrich, H. E.: Leichtbau und Werkstoffinnovationen im unterscheidet man in der Regel zwischen feuerver-
Fahrzeugbau, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, S. 258 ff., zinkten und elektrolytisch abgeschiedenen Zinkbe-
03/2002 schichtungen:
[8] Enß, J.; Evertz, T.; Reier, T.; Juchmann, P.; Schumann, S.;
Sebastian, W.: Neue Magnesium-Blechprodukte für den Auto- Bei den feuerverzinkten Güten wird das Stahlblech
mobilbau, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, Ausgabe nach dem Walzprozess durch ein flüssiges Zinkbad
02/2001, S. 142 – 145 geführt. Dabei bleibt das Zink an der Oberfläche
[9] Bernhard Engl; Nguyen Duc Cuong: Erweiterte Anwendungspo- haften und bildet mit dem Eisen des Stahls eine
tenziale für Magnesiumbleche durch eine neue Herstellungstech-
nologie In: Zunkunftsorientierter Einsatz von Magnesium im Legierungsschicht aus. Überschüssiges Zink wird
Verkehrswesen, Prof. Dr. Dr. Elsbeth Wendler- Kalsch und 11 durch starke Düsen (Air Knifes) von der Oberfläche
Mitautoren, expert Verlag, S. 34 ff. entfernt, so dass die gewünschte normgerechte
[10] Vollrath, K.: Magnesiumbleche werden billiger, in ke – 05/2005,
Schichtdicke des Zinks im μm-Bereich eingestellt
S. 46
[11] Steinhauser, D.: Der Porsche Carrera GT – ein innovatives werden kann.
Fahrzeugkonzept, mobiles 30, Fachzeitschrift für Konstrukteure, Bei der elektrolytischen (galvanischen Verzinkung)
Ausgabe 2004/2005, Hamburg, S. 6 ff. durchläuft das Stahlblech keine Schmelze, sondern
[12] Volkswagen Group Research: Multi-material Lightweight Vehicle
ein Zinkelektrolyt. Das Zink wird dabei galvanisch
Structure, Status Final SLC-Body Concept, May 2008, S. 4,
http://www.superlightcar.com/public/index.php?option=com_ auf dem Stahl aufgebracht. Durch Kontrolle der
content&task=view&id=28&Itemid=107 Prozessgrößen pH-Wert, Stromdichte und Tempera-
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 821

19 18
21
20
17
22
26
12 16
27
25 23 14 15
28 7 11
29 24
9 10
6
4 5
1
2 8
3 13

1 Scheinwerfer (Gehäuse) 11 Autositz (Baugruppen) 22 Innenspiegel (Gehäuse)


2 Kühlergrill 12 Gurt (Baugruppen) 23 Lenksäule
3 Symbole und Embleme 13 Vulkanisator im Gummi 24 Schließzylinder
4 Elektronische Baugruppen 14 Tankabdeckung (Diebstahlsicherung)
(Airbagsensoren) 15 Heckleuchte (Gehäuse) 25 Radio/RF/CD-Player/GPS/
5 Pumpengehäuse 16 Zierleiste, Heck Navigation (Rahmen)
6 Lüftungsklappen 17 Verschlussmechanismus 26 Außenspiegel (Gehäuse)
7 Instrumenteinfassung 18 Antenne 27 Kindersicherung
8 Pedale 19 Dachkomponenten 28 Scheibenwischanlage
9 Teile des Türöffnungssystems 20 Sonnendach (Einfassung) (Wischarm)
10 Innenausstattung 21 Fensterheber 29 Scheibenwischanlage Bild 10.2-11 Bauteile aus
(z. B. Aschenbecher) (Gehäuse, Mechanismus) (Motorengehäuse)
Zink in einem Pkw [1]

tur lassen sich die gewünschten Schichtdicken auf der Blechen, so dass entsprechend geschützte Bauteile
Stahloberfläche genau abscheiden. Ein Abstreifen wie stärkeren korrosiven Belastungen ausgesetzt werden
beim Feuerverzinken ist so nicht nötig. Im Gegensatz können. Die Schichten sind zudem so hart und ab-
zur Feuerverzinkung kann die elektrolytische Verzin- riebfest, dass sie auch bei starken mechanischen
kung beidseitig oder nur auf einer Seite erfolgen. Belastungen z.B. bei Transport oder in der Nutzungs-
Gängige Zinkschichtdicken bei Karosserieblechen phase nicht beschädigt werden.
liegen im unverformten Zustand zwischen 5 und
20 μm. Auch bei nachfolgenden Umformschritten Zinkdruckguss
bleibt die Zinkschicht erhalten. Thermische Fügever- Ein Großteil des in PKWs zum Einsatz kommenden
fahren (Schweißen und Löten) führen – eng begrenzt Zinks entfällt auf Druckgussbauteile. Zinkdruckguss-
– zu einer Entfernung der Zinkschicht im Bereich der legierungen sind in den Normen EN 1774 (Gusslegie-
Wärmeeinflusszone der Fügestelle. Aufgrund der rungen) und EN 12844 (Gussstücke) genormt. Haupt-
Fernwirkung des Zinks bleiben diese Stellen bei legierungselemente sind Aluminium, Kupfer und
korrosiver Belastung vor einem Angriff geschützt. Magnesium. Hauptsächlich kommen für Druckguss-
bauteile die wenig legierten Legierungen ZP0400,
Stückverzinken ZP0410 und ZP0430 zum Einsatz, die auch als
Einzelne kompakte Bauteile, z.B. Fahrwerkskompo- ZAMAK bezeichnet werden.
nenten, wie Querlenker oder Spurstangen, können Die wichtigste physikalische Eigenschaft der Zink-
durch das so genannte Stück- oder Feuerverzinken legierungen für den Druckguss ist das hervorra-
sicher vor der Korrosion geschützt werden. Dazu gende Fließverhalten. Mit den gebräuchlichen Le-
wird das Bauteil in eine flüssige Zinkschmelze ge- gierungen sind so Wandstärken von 0,5 bis 0,8 mm
taucht, in der sich je nach Höhe der Temperatur und möglich [1]. Dies ermöglicht im Druckgussprozess
der Zeit wie bei den bandverzinkten Stählen eine hochkomplexe dünnwandige Bauteile. Zusätzlich
kristalline Zinkschicht bildet, die durch eine Über- können Anschraubpunkte nachbearbeitungsfrei mit
gangszone fest mit dem Substrat verbunden ist. Wäh- gegossen werden, was die benötigte mechanische
rend des Tauchvorgangs wandern Metallatome vom Nacharbeit auf ein Minimum reduziert. Aufgrund
Zink in den Stahl und umgekehrt Eisenatome in die des niedrigen Schmelzpunktes unter 400 °C werden
Zinkschicht, so dass Eisen- Zink-Legierungsschichten die für den Druckguss benötigten Stahlformen we-
entstehen. sentlich weniger belastet, was den Verschleiß redu-
Die Schichtdicke beim Feuerverzinken ist mit 35 bis ziert und damit die Formstandzeit deutlich verbes-
80 μm deutlich höher als bei bandbeschichteten sert.
822 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

Tabelle 10.2-6 Mechanische Kennwerte der gebräuchlichsten Zink-Druckgusslegierungen (Quelle: EN 1774)

Werkstoff Kurz- E-Modul Dehngrenze Zugfestig- Bruch- Kerbschlag- Härte HBS


Nr. zeichen Rp0,2 keit Rm dehnung A5 arbeit 10-500-30
[GPa] [MPa] [MPa] [%] [J]
ZP 0400 ZP3 85 200 280 10 57 83
ZP 0410 ZP5 85 250 330 5 9.258 92
ZP 0430 ZP2 85 270 335 5 10.259 102

Zink im Interieur
Neben der bereits erwähnten guten Gießbarkeit und
der damit verbundenen großen Gestaltungsfreiheit
kommt bei Interieurbauteilen noch eine weitere
positive Eigenschaft des Zinks zum Tragen. Zink
kann mit verschiedenen galvanisch abgeschiedenen
Oberflächen versehen werden. So können für den
Kunden attraktive optische und haptische Dekore
dargestellt werden. Die Bandbreite ist nahezu unend-
lich groß und reicht von matten Beschichtungen mit
Anti-Fingerprintausrüstung bis hin zu hochglänzen-
den polierten Chromoberflächen in zahlreichen Me-
tallfarbnuancen. Die durch Gießen hergestellten
Schalter, Türgriffe oder Zierteile (siehe Bild 10.2-12)
werden nach dem Entformen und Entgraten zunächst
einer mechanischen Bearbeitung in Form von Schlei-
fen und Polieren unterzogen, um so die Oberfläche

Bild 10.2-13 Beispiel für Schalter aus Zink [1]

für die Beschichtung vorzubereiten. Dann wird in


einem mehrstufigen Beschichtungsprozess die ge-
wünschte Oberfläche appliziert. Schalter können
durch einen Laserschnitt mit Piktogrammen versehen
werden, die dann mit einem speziellen Harz transpa-
rent ausgegossen werden, so dass die Schalter illumi-
niert werden können (siehe Bild 10.2-13 und [2]).
Zink in weiteren Fahrzeugkomponenten
Neben der primären Verwendung von Zink für Bau-
teile im Fahrzeug, spielt das Metall als Zinkoxid auch
bei der Herstellung von Reifen eine große Rolle.
Zinkoxid ist als Aktivator ein unverzichtbarer Teil
des Vulkanisationsprozesses. Der so hergestellte
Gummi wird beständig gegen Temperatur, Druck,
chemische und mechanische Beanspruchungen und
erhält die notwendigen dauerelastischen Eigenschaf-
ten. Pro Pkw-Reifen werden etwa 100 g Zinkoxid
benötigt.
Auch in Lacken kommt Zinkoxid zum Einsatz: Da-
bei macht man sich die Eigenschaft des Zinkoxids
zunutze, die durch das Sonnenlicht einfallende Strah-
lungsenergie in Wärme umzuwandeln. Zinkoxid ver-
hindert so die Alterung der Lacke durch UV-Strah-
Bild 10.2-12 Mittelkonsole des Mercedes SLS [2] lung.
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 823

Literatur
[1] Grund, S.: Werkstoff Zink im Automobilbau, Sonderausgabe
ATZ/MTZ 2006
[2] N.N.: Zinkdruckguss für höchste Ansprüche: Initiative Zink kürt
Preisträger, Druckguss 03/2010
[3] Vollrath, K.: Automobil: Metalldesign für echtes Premium-
Feeling, Druckgusspraxis 4/2006

Bild 10.2-15 Rohrprofile mit Aluminiumschaum

Metallschäume im Automobilbau ses bestimmt und für die jeweiligen Anforderungen


angepasst werden [6].
In Anlehnung an die Bionik wird versucht, „metalli- Neben den bekannten Aluminiumschäumen lassen sich
sche Knochen“ zu entwickeln. Metallschäume sind weitere Metalle und Legierungen aufschäumen, so z.B.
vergleichbar porös wie Knochen (Bild 10.2-14) und Zink, Zinn, Bronze, Messing und Blei. Titan- und
können das Gewicht um 90 % reduzieren. Eisenschäume [5] befinden sich noch in der Entwick-
lung. Zurzeit werden fast ausschließlich geschlossen-
porige Schäume hergestellt. Metallschäume erlauben
die Herstellung einer Vielzahl von Formenvarianten,
wie z.B. ausgeschäumte Hohlformen (Bild 10.2-15)
oder Werkstoffverbunde und Platten. Die Platten
können vor dem Aufschäumen tiefgezogen werden,
was die Formvarianz noch erhöht (Bild 10.2-16). Das
Fügen von Metallschäumen kann mit Hilfe von
Laserschweißprozessen, aber auch durch Kleben,
Verschrauben oder Nieten erfolgen. Das Löten eignet
sich nicht, da es hierbei zu Korrosionsproblemen
aufgrund von Kontaktkorrosion in den Poren kom-
men kann [1 – 3].
Die mechanischen Eigenschaften (Festigkeit, E-Mo-
dul) steigen mit zunehmender Schaumdichte stark an.
Die elektrische und thermische Leitfähigkeit der
Schäume ist gegenüber den massiven Legierungen
Bild 10.2-14 Knochenaufbau des Humerus
deutlich reduziert, während der thermische Ausdeh-
nungskoeffizient unverändert bleibt. Bei der plasti-
Metallschäume sind bereits seit den 50er-Jahren
schen Verformung von Metallschäumen bleibt das
bekannt, jedoch war es bislang nicht möglich, ge-
Spannungsniveau über einen großen Verformungs-
schäumte Metalle in ausreichender Menge und gleich
weg hin nahezu konstant und ähnelt dabei stark einem
bleibender Qualität herzustellen.
idealen Absorber. Gängige Aluminiumschäume kön-
Man unterscheidet zwischen pulvermetallurgischen,
nen bei Stauchung etwa 80 bis 90 % der Energie des
schmelzmetallurgischen und speziellen Herstellungs-
verfahren (z.B. Abscheide-Technik), wobei die pul-
vermetallurgischen Varianten als die geeignetsten
angesehen werden. Hierbei wird ein Treibmittel mit
dem Metallpulver vermischt und konsolidiert (HIP,
Strangpressen, etc.). Danach kann dieses Halbzeug
durch Erwärmung auf Temperaturen nahe dem
Schmelzpunkt reproduzierbar aufgeschäumt werden.
Um qualitativ einen guten Schaum zu erhalten, ist im
Aufschäumprozess die Degradation des Schaumes
einzuschränken. Aufgrund der Schwerkraft und der
Oberflächenspannung strebt die Schmelze aus den
Stegen in die Knoten. Risse und zu große Poren sind
die Folge. Mit Hilfe der numerischen Simulation Bild 10.2-16 Tiefgezogenes und anschließend ge-
können die Randbedingungen des Aufschäumprozes- schäumtes Blech
824 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

idealen Absorbers aufnehmen. Aus diesem Grund Titan-Legierungen


lassen sich Metallschäume z.B. für energieabsorbie- Titan-Legierungen werden derzeit vor allem in der
rende Front-, Seiten- und Heckaufprallelemente ein- Luft- und Raumfahrt sowie im Fahrzeugrennsport
setzen. Eine weitere Anwendung der metallischen eingesetzt. Der Hauptbeweggrund für den Einsatz
Schäume ergibt sich aus der Tatsache, dass diese das von Titan ist die Reduzierung des Gewichtes.
Knick- und Stauchverhalten von Hohlprofilen deut- Das größte Potenzial für die Anwendung von Titan
lich steigern und deshalb z.B. als Versteifungen im Fahrzeug bietet sicherlich der Antriebsbereich, da
eingesetzt werden können. Das Korrosionsverhalten hier durch eine Gewichtseinsparung, d.h. eine Ver-
von Metallschäumen hängt stark von den verwende- ringerung der bewegten Massen, der Kraftstoffver-
ten Metallen und ihrer Lage im Fahrzeug ab. Die für brauch im besonderen Maße reduziert werden kann.
die Verwendung im Kraftfahrzeug in Frage kommen- Mögliche Serienanwendungen von Titanlegierungen
den Aluminiumschäume können als eher unkritisch sind z.B. Pleuel, Tassenstößel, Zahnräder, Ventile,
angesehen werden, da sie über eine geschlossene Ventilsitzringe, Ventilfederteller, Schrauben, Diffe-
Oxidschicht verfügen, die bei unterschiedlichen Me- rentialgehäuse, diverse Antriebswellen etc.
tallkombinationen eine genügende Isolation bietet. Die Vorteile von Titanlegierungen sind eine hohe
statische und dynamische Festigkeit in Verbindung
Literatur mit einer geringen Dichte, eine gute Warm- und
[1] Banhart, J.; Baumeister, J.; Weber, M.: Metallschaum – ein Zeitstandfestigkeit und sehr gute Korrosionseigen-
Werkstoff mit Perspektiven; ALUMINIUM 70, Jahrgang 1994, schaften.
S. 209
[2] Aluminiumschäume – Konstruktionswerkstoffe mit großem Poten-
Nachteilig sind die schwierige Umformbarkeit (wie
tial; ALUMINIUM 73, Jahrgang 1997, S. 336 – 339 Mg-Legierungen), die schwierige mechanische Bear-
[3] Banhart, J.; Baumeister, J.; Weber, M.; Melzer, A.: Aluminium- beitung, eine höhere Kerbempfindlichkeit als Stahl
schaum – Entwicklungen und Anwendungsmöglichkeiten, Ingeni- sowie ein ungünstiges Tribologieverhalten.
eur Werkstoffe 7 (1998), S. 43 – 45
[4] Baumeister, J.: Verfahren zur Herstellung von Metallschäumen in
Zur Verbesserung der Verschleiß- und Dauerfestigkeit
Banhart, J.: Metallschäume, Beiträge zum Symposium Metall- werden Bauteile aus Titanlegierungen häufig nitriert.
schäume Bremen, 06. – 07. 03. 1997, MIT-Verlag, S. 10 Eine weitere Möglichkeit, die tribologischen Eigen-
[5] Entwicklung von Technologien zur Herstellung von Stahlschäu- schaften von Titanlegierungen zu verbessern, ist die
men (Projekt 431), Berichte aus der Anwendungsforschung, Aus-
gabe 2/2003, Forschungsvereinigung Stahlanwendung e. V., Düs- Oberflächenbeschichtung. Neben den bekannten klas-
seldorf November 2003, http://www.stahl-online.de/stahlfor- sischen elektrochemischen oder chemischen Verfahren
schung/1/Aktuelles/Aktuelles.htm finden die plasma- und ionengestützten Hochvakuum-
[6] Singer, R. F.: Visionen in Metall – leichter, fester, billiger, Beiträge verfahren (CVD, PVD) in Kombination mit den galva-
zum Symposium Material Innovativ, 10. März 2005, Nürnberg.
nischen Verfahren immer breitere Anwendung [1].
Man unterscheidet zwischen verschiedenen Titanle-
gierungen (Bild 10.2-17). In der Entwicklung befin-
den sich neue intermetallische γ-TiAl(Cr,Mo,Si)-

Ti-Legierungen

metastabile
a-Legierungen + near-a-Leg. (a + b)-Legierungen b-Legierungen

• gute Warmfestigkeit • hohe Festigkeiten bei RT • sehr hohe Festigkeiten bei RT


• gute Schweißbarkeit • etwas geringere E-Moduli • niedrigste E-Moduli aller Ti-Leg.
• hohe thermische Stabilität als a-Legierungen • nur begrenzte Einsetzbarkeit in
• geringes Kaltumformverhalten aufgrund • im geschweißten Zustand der Wärme (T < 250 °C)
hdp-Gitterstruktur kann das Formänderungs- • z.T. nur begrenzte Schweißbarkeit
• höchste E-Moduli aller Ti-Legierungen vermögen herabgesetzt • höchstes spez. Gewicht aller
• geringere Festigkeiten bei RT als z.B. sein Ti-Legierungen aufgrund der
b-Legierungen • bester Kompromiss zw. Legierungselementzusammen-
• durch Aushärtung Festigkeits- spez. Festigkeiten/Gewicht setzung (V, Mo, Cr)
steigerung nur bei near-a-Legierungen • Festigkeitssteigerung über • für Ti-Legierungen gute Kalt-
• gute Kriechbeständigkeit bis T ≈ 550 °C Aushärtung machbar umformbarkeit aufgrund
krz-Gitterstruktur
• Festigkeitssteigerung über Aus-
härtung möglich

z.B. z.B. z.B.


TiAl5Sn2,5 TiAl6V4 TiV13Cr11Al3
TiAl8Mo1V1 TiAl6V6Sn2
TiAl7Mo4
Bild 10.2-17 Titan-Legierungen
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 825

Tabelle 10.2-7 Eigenschaften verschiedener Titanlegierungen

Eigenschaft Einheit a-TiAl a+b g-Ti


(Ti48Al2Cr) (TiAl6V4)
Dichte [g/cm3] 3,7 – 3,9 4,5 4,6 – 4,9
E-Modul [GPa] 155 – 180 105 – 115 90 – 105
Streckgrenze [MPa] 400 – 750 850 – 950 1.200 – 1.350
Zugfestigkeit [MPa] 400 – 850 900 – 1.100 1.200 – 1.600
Bruchdehnung RT [A%] 1–4 10 – 16 12 – 25

Legierungen für hochwarmfeste Anwendungen wie bei anderen Metallen angelegte spezifische Eigen-
z.B. Ventile, Turbolader, Pleuel, Kolbenbolzen [2]. schaften zu ergänzen. Dies können beispielsweise
In Tabelle 10.2-7 sind die mechanischen Kennwerte elektrische Leitfähigkeit, Wärmereflexion bzw.
von α-, und α + β-Legierungen im Vergleich zur -leitung, Hitzebeständigkeit, Korrosionsbeständigkeit
γ-TiAl-Legierung (Ti48Al2Cr) aufgeführt [1]. sein.
Die hohen Kosten zur Gewinnung von Titan und die Beim Plattieren wird zunächst durch hohe Press- und
hohen Verarbeitungskosten lassen trotz moderner Reibungskräfte ein mechanischer Verbund erzeugt,
Herstellungstechnologien einen Serieneinsatz im bei dem der Auflagewerkstoff durch Adhäsion mit
Pkw-/Lkw-Bereich in naher Zukunft unwahrschein- dem Stahl verbunden wird. Bei der anschließenden
lich erscheinen. Als Konzept wurde eine Abgasanlage Wärmebehandlung geht die Adhäsionshaftung in
aus Titan im Audi A2 ÖKO untersucht. Diffusionshaftung über, die Metalle sind untrennbar
Für den Porsche Carrera GT2 (2007) kam serienmä- miteinander verbunden. Die so produzierten Bänder
ßig eine Abgasanlage mit einem Endschalldämpfer bzw. Bleche bestehen aus zwei, drei oder noch mehr
sowie Endrohren aus Titan zum Einsatz. Gegenüber Lagen, wobei große Freiheit bei der Kombination von
einem vergleichbaren Endschalldämpfer aus Edel- Werkstoffen und der Dicke ihrer Auflage gegeben ist.
stahl konnte so das Gewicht um etwa 50 Prozent Nahezu täglich werden plattierte Werkstoffe in die
reduziert werden. Hand genommen. Sie kommen im Automobil als
Eine Weiterentwicklung bei der Titangewinnung und Bestandteil von Schalldämpferanlagen, Hitzeschil-
fortschrittliche Verarbeitungstechniken sollten jedoch den, Schutzblechen, Kugellagerkäfigen, Schlauch-
mittel- bis langfristig den Einsatz von Titan auch in kupplungen und Zylinderkopfdichtungen vor.
der Großserie ermöglichen.
Metall-Kunststoff-Metall Verbunde
Literatur Eine interessante Neuentwicklung für Anwendungen
im Karosseriebereich stellen Metall-Kunststoff-Me-
[1] Repenning: Titan – ein Werkstoff für tribologische Beanspruchun-
gen; Ingenieur Werkstoffe 2/98, S. 14 ff. tall Verbunde dar (Bild 10.2-18). In diesem Fall
[2] Knippscheer; Frommeyer: Intermetallische Leichtbaulegierungen wurden die jeweiligen Werkstoffgrenzen durchbro-
für Motorkomponenten; Ingenieur-Werkstoffe 3/98, S. 32 ff. chen und durch Kombination von bekannten Materia-
lien und deren positiven Eigenschaften ein in Bezug
auf Steifigkeit, Gewicht und Akustik optimierter
Werkstoffverbund entwickelt [2].
Im Vergleich zu Stahlblechen mit gleicher Biegefes-
tigkeit oder Aluminiumblechen (1 mm) sind diese
Sandwichbleche (0,2 mm Al/0,8 mm Polypropylen/
0,2 mm Al), ca. 60 % bzw. 35 % leichter. Durch
Sandwichverbunde Verwendung von unterschiedlichen Deckschichtma-
Plattierte Bleche
Beim Plattieren wird ein stählerner Kern aus Band
Metall (Al, St): 0,2–0,3 mm
oder Blech mit Auflagen aus anderen Metallen un-
trennbar verbunden. Als Auflage kommen beispiels-
weise NE-Metalle wie Aluminium, Bronze, Kupfer,
Messing, Nickel und Titan, aber auch spezielle Edel-
stähle zum Einsatz.
Mit diesem Verfahren ist es möglich, die guten Ge- Kunststoff (z.B. Polypropylen): 0,5–2,1 mm
brauchseigenschaften von Stahl, wie Festigkeit, Fede-
rungs-, Umform- und Tiefziehvermögen, um weitere, Bild 10.2-18 Metall-Kunststoff-Metall Verbund
826 10 Werkstoffe und Fertigungsverfahren

terialien und Kernschichtwerkstoffen, zusammen mit Elektronikkomponenten


angepassten Wandstärken, lassen sich die Eigenschaf- Edelmetalle, insbesondere Gold- und Silberlegierun-
ten den Anforderungen anpassen. In der Regel wird gen, finden Anwendung in verschiedenen elektroni-
als Kernschicht Polypropylen in einer Dicke von ca. schen Komponenten im Fahrzeugbau.
0,8 mm verwendet, das beidseitig mit ca. 0,2 mm Gold- und Silberlegierungen werden primär in Berei-
starken Aluminium- oder Stahlfolien verklebt ist. chen eingesetzt, in denen
Erste Untersuchungen in Form einer Reserveradmul-
de im ULSAB-Projekt (Stahl-Kunststoff-Stahl) und − niedrige elektrische Ströme fließen (< 5 mA),
einer Fronthaubenstudie des VW Lupo (Al-Kunst- − niedrige Übergangswiderstände gefordert sind,
stoff-Al) untermauern das hohe Leichtbaupotenzial − die Kontakte vor Korrosion geschützt werden
dieses Verbundes. müssen,
Wie bei jedem neuen Werkstoff müssen aber auch − Kontakte vor Abrieb (hervorgerufen durch Rela-
hier die materialspezifischen Besonderheiten bei der tivbewegungen im Mikrobereich) geschützt wer-
Verarbeitung berücksichtigt werden. den müssen,
So sind die im Karosseriebereich überwiegend einge- − eine sehr hohe Kontaktsicherheit elektronischer
setzten Schweißverfahren mit der damit verbundenen Sicherheitsbauteile gefordert ist.
Temperaturbelastung aufgrund der thermoplastischen Beispiele für den Edelmetalleinsatz in der Automobil-
Kernschicht nicht als Fügeverfahren geeignet. industrie:
Mögliche Fügeverfahren sind dagegen die mechani- − vergoldete Kontakte in Airbagmodulen
schen Fügeverfahren (Stanznieten, Bördeln, Durch- − Bonddrähte aus Gold zur Kontaktierung auf Lei-
setzfügen) und das Kleben. terplatten in Integrated Circuits (IC)
Auch beim Tiefziehen müssen die Prozessparameter − Silberlegierungen werden aufgrund ihrer niedrigen
den im Vergleich zu herkömmlichen Stahl- oder Durchgangswiderstände und der niedrigen Ströme
Aluminiumblechen geänderten Werkstoffeigenschaf- sowohl in den leitenden Schichten der Leiterbah-
ten angepasst werden. nen als auch in Relais verwendet
Gleiches gilt für das gesamte Fertigungslayout, wo die − Sensortechnik (Raddrehzahlaufnehmer, Außen-
heute üblichen KTL- bzw. Decklacktemperaturen der luftkühler, Lambdasonden, . . .)
Karosserielackierung eine On-Line-Lackierung dieser − Katalysatoren für Verbrennungsmotoren (Platin,
Sandwichbleche unter Umständen unmöglich machen Palladium und Rhodium).
(Schmelztemperatur der Polypropylen Kernschicht:
ca. 163 °C, KTL-Temperatur ca. 160 – 185 °C). Literatur
Die ersten Ansätze sind jedoch Erfolg versprechend [1] Beck, G.: Edelmetall-Taschenbuch, Hrsg.: Degussa AG, 3. Auf-
und lassen auf weitere Fortschritte hoffen. lage, Giesel, 2001

Literatur
[1] Stahl-Informations-Zentrum: Plattierte Werkstoffe – Clever kom-
binieren macht Stahl leistungsfähiger; http://www.stahl-info.de/
10.2.2.1.4 Kunststoffe
aktuelles/pm_plattierte_werkstoffe.htm
Aus der Reihe der vielen Weiterentwicklungen inner-
[2] Friedrich, H. E.: Leichtbau und Werkstoffinnovationen im Fahr-
zeugbau; ATZ 3/02 Jahrgang 104, S. 258 ff. halb der Kunststoffe (Hochkristallines Polypropylen,
[3] Kopp, G.; Kuppinger, J.; Friedrich, H. E.: DLR, Stuttgart, PPO/PA-Blends, etc.) ist vor allem die Entwicklung
Fraunhofer Inst. f. Chemische Technologie, Pfinztal: Innovative von endlosfaserverstärkten Thermoplasten und die
Sandwichstrukturen für den funktionsintegrierten Leichtbau. Au-
Langglasfaser-Technologie hervorzuheben.
tomobiltech. Z.; 111 (2009) 4
[4] Loesch; Giese, Goeckl; Kleinschmidt, O.: ThyssenKrupp, Duis-
Flächige, gewebeverstärkte Thermoplaste
burg: Motorhaube aus steifigkeitsoptimiertem Sandwichwerkstoff.
Automobiltech. Z. 111 (2009) 11 Extra Das InCar Projekt von Diese Werkstofffamilie, konsolidiert in der Praxis des
ThyssenKrupp
Öfteren auch als „Organoblech“ [3] bezeichnet,
schließt die Lücke zwischen den kurz- und langglas-
faserverstärkten Spritzgusstypen und den glasmatten-
verstärkten Thermoplasten (GMT) und SMC (Sheet-
moulding-Compound)-Materialien.
10.2.2.1.3 Edelmetalle Als Matrixwerkstoffe kommen hauptsächlich Poly-
Als Edelmetalle werden die Elemente Silber (Ag) und propylen (PP), Polyester (PET) und Polyamide (PA)
Gold (Au), sowie Ruthenium (Ru), Rhodium (Rh), zum Einsatz. Als Gewebe- bzw. Gestrickwerkstoff
Palladium (Pd), Osmium (Os), Iridium (Ir) und Platin sind Glasfasern, synthetische Fasern (z.B. Aramid),
(Pt) bezeichnet. Da sie elektrochemisch sehr edel Carbonfasern oder Kombinationen aus diesen mög-
sind, d.h. eine hohe Korrosions- und Oxidationsbe- lich. Durch mehrlagige Gewebeaufbauten lassen sich
ständigkeit aufweisen, werden sie vor allem in der darüber hinaus verschiedene Faserrichtungen fest-
Chemie- und Elektronikindustrie eingesetzt. legen (z.B. +45°/– 45°, 0°/90°).
10.2 Werkstoffe moderner Kraftfahrzeuge 827

900
GF (0°-UD)-PA 12 CF-PPs Materialkosten
800
GF-PA 6.6
700 > 25 /kg
Biegefestigkeit [MPa]

GF-PET CF-PA 6.6


600
15–25 /kg
500
GF-PA 12 5–15 /kg
CF-PC
400 < 5 /kg
300 GF-PP 60 wt.-%
Al HDT (1.8 MPa):
200 GMT-PP 50 wt.-%
GMT-PP 30 wt.-% Mg > 200 °C
100
< 180 °C
0 Bild 10.2-19 Eigenschafts-
0 10 20 30 40 50 60 70 spektrum thermoplastischer
Biegesteifigkeit [GPa]
Composites

Imprägnierung und
Aufheizen Formgebung

Prepreg

Dünnwandiges
Strukturbauteil
Bild 10.2-20 Gebräuchliche
Produktionsvarianten zur
Imprägnierung Aufheizen Umformung
Herstellung dünnwandiger
Strukturbauteile

Aus Kostengesichtspunkten konzentrieren sich die Auch unter Recyclinggesichtspunkten lassen sich
derzeitigen Überlegungen hauptsächlich auf die diese Werkstoffe gut wiederverwerten, indem sie
Glasfaser. Abhängig von Matrixmaterial, Fasertyp, gemahlen und dann als kurzglasfaserverstärktes
Fasergehalt und Gewebetyp lassen sich die mechani- Spritzgussmaterial weiterverarbeitet werden bzw. als
schen Eigenschaften dieser Prepregs leicht variieren Kernschicht in Sandwichverbundwerkstoffen Ver-
und den gegebenen Anforderungen anpassen (Bild wendung finden.
10.2-19) [1]. Als Nachteile müssen jedoch die immer noch zu hohen
Die Eigenschaften dieser Werkstoffe können unter Halbzeugkosten und die Aufwendungen zur Qualitäts-
folgenden Schlagworten zusammengefasst werden: sicherung genannt werden.
− geringe Dichte
− hohe mechanische Kennwerte (Festigkeit, E-Mo- Literatur
dul) [1] Mayer, C.: Wirtschaftliche Herstellung von textilverstärkten ther-
− Korrosionsbeständigkeit moplastischen Halbzeugen, 28. Internationale AVK-Tagung
01./02. Oktober 1997, AVK Frankfurt 1997, S. 3
− hohe Energieabsorption/Zähigkeit [2] Neitzel, M. u.a.: Gewebeverstärkte Thermoplaste im Karosserie-
− schweißbar

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